Transit-Orte in der Literatur: Eisenbahn - Hotel - Hafen - Flughafen [1. Aufl.] 9783839429990

Free to change, caught in between, or completely placeless? The passenger in transit is all of the above. An analysis of

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German Pages 344 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Transit-Theorie
Sozial- und kulturwissenschaftliche Raumtheorie
All the world’s a stage? Raumvorstellungen im Wandel
Vom sozialen Raum zum Ort
Vom Ort zum Transit-Ort
Vom Transit-Ort zum Nicht-Ort?
Vom Transit-Ort zum Transit-Raum
Exkurs: Transit-Räume als Heterotopien
Literaturwissenschaftliche Raumtheorie
Die Ebenen literarischer Raumwirklichkeit
Ein relationaler Raumbegriff für die Literatur
Transit-Texte
Dynamik und Gradlinigkeit: Auf eisernen Bahnen
Vom sehenden Reisenden zum blinden Passagier
Werkzeug des Zeitgeistes: Eine Winternacht auf der Lokomotive
»Ein rasendes Toben erfüllte den Raum«: Bahnwärter Thiel
Paradoxie und Entgrenzung: Fünf-Uhr-Tee in der Hotelhalle
»Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein Ende«
Gefangen im Dazwischen: Hotel Savoy
Geschichte einer Transitverweigerin: Die Hoteltreppe
Flüchtigkeit: Im unsicheren Hafen
Kap der letzten Hoffnung
Fragwürdig, windig, transitär: Transit
»Das Meer war Amerika«: Die Nacht von Lissabon
Leere? Im Flughafentransit
Künstliche Einöden
»Was aber geschah hier, wo nichts geschah?«: Flughafenfische
Spätmoderne Raumkritik: Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen
Zusammenfassung und Ausblick
Literatur|321
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Transit-Orte in der Literatur: Eisenbahn - Hotel - Hafen - Flughafen [1. Aufl.]
 9783839429990

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Lars Wilhelmer Transit-Orte in der Literatur

Lettre

Für meine Eltern

Lars Wilhelmer (Dr. phil.) lehrte Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Raumtheorie und Narratologie.

Lars Wilhelmer

Transit-Orte in der Literatur Eisenbahn – Hotel – Hafen – Flughafen

Gefördert von der Stiftung Bildung und Wissenschaft.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: emmanuel elliah – Fotolia.com Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2999-6 PDF-ISBN 978-3-8394-2999-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 7

TRANSIT -THEORIE Sozial- und kulturwissenschaftliche Raumtheorie | 19

All the world’s a stage? Raumvorstellungen im Wandel | 19 Vom sozialen Raum zum Ort | 27 Vom Ort zum Transit-Ort | 33 Vom Transit-Ort zum Nicht-Ort? | 40 Vom Transit-Ort zum Transit-Raum | 49 Exkurs: Transit-Räume als Heterotopien | 52 Literaturwissenschaftliche Raumtheorie | 59

Die Ebenen literarischer Raumwirklichkeit | 61 Ein relationaler Raumbegriff für die Literatur | 88

TRANSIT -TEXTE Dynamik und Gradlinigkeit: Auf eisernen Bahnen | 95

Vom sehenden Reisenden zum blinden Passagier | 95 Werkzeug des Zeitgeistes: Eine Winternacht auf der Lokomotive | 104 »Ein rasendes Toben erfüllte den Raum«: Bahnwärter Thiel | 112 Paradoxie und Entgrenzung: Fünf-Uhr-Tee in der Hotelhalle | 125

»Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein Ende« | 125 Gefangen im Dazwischen: Hotel Savoy | 143 Geschichte einer Transitverweigerin: Die Hoteltreppe | 161 Flüchtigkeit: Im unsicheren Hafen | 173

Kap der letzten Hoffnung | 173 Fragwürdig, windig, transitär: Transit | 186 »Das Meer war Amerika«: Die Nacht von Lissabon | 218

Leere? Im Flughafentransit | 239

Künstliche Einöden | 239 »Was aber geschah hier, wo nichts geschah?«: Flughafenfische | 263 Spätmoderne Raumkritik: Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen | 283 Zusammenfassung und Ausblick | 305 Literatur | 321

Einleitung

»Der Schnellzug stand vor dem breiten, stattlichen Perron, die Türen der wenigen eleganten Wagen erster und zweiter Klasse [...] waren geöffnet und ließen in dem matt beleuchteten Innern der Kupees die wunderlichen Pelz- und Faltenmassen halb erkennen, [...] aus denen nur hier und da [...] das verschlafene, um sich blinzelnde Gesicht eines erwachenden, verdrossenen Passagiers sich erhebt, der im Zweifel, ob er sich in Prag, Dresden oder Hannover befinde, den Schaffner nach Zeit, Ort und dem Grunde fragt, ›warum so lange gehalten werde?‹«1 »Sie stand alleine in der Vorhalle. Neue Reisende kamen, die wohl abfliegen wollten. Sie drehte sich in alle Richtungen. [...] Stimmte der Ort? Stimmte die Zeit? Stimmte der Tag? Stimmte vor allem der Ort! [...] Sie stand in der Vorhalle des Flughafens von Kunming: wenn das denn stimmte! Sie stand in einer kurzen, existenzlosen Ewigkeit.«2

Zwischen der Reise des müden Passagiers im Nachtschnellzug und derjenigen der Reporterin Elis von Hongkong nach China liegen eineinhalb Jahrhunderte. Die zeitliche und phänomenale Differenz zwischen beiden Erzähltexten markiert die Entfaltung einer bewegten und bewegenden Geschichte: die der modernen Transit-Orte.3 Diese Transit-Orte – Orte, an denen sich Menschen aufhalten, ohne zu bleiben – sind nicht nur ein Teil dessen, was die Moderne genannt wird und was als

1

Weber 1926, 76.

2

Overath 2009a, 87 f.

3

Ähnlich leitet Hans Magnus Enzensberger eine Gegenüberstellung von Reisetexten in seinem Essay Eine Theorie des Tourismus ein (vgl. Enzensberger 1962, 181 f.).

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Spätmoderne4 bis heute andauert. Die Moderne ist ohne Transit-Orte kaum denkbar. Sie ist das Zeitalter der Bewegung, des Dazwischen, des Entgrenzten, des Flüchtigen: Neue politische Ordnungen entstehen, feste Weltbilder lösen sich auf, soziale Grenzen und individuelle Freiheiten werden neu verhandelt.5 Industrialisierung, Urbanisierung, Globalisierung, Migrationsbewegungen, aber auch Deportation, Flucht und ›Mobilmachung‹ für den Krieg – all diese Prozesse des 19. bis 21. Jahrhunderts werden erst möglich durch jene unscheinbaren Orte, die längst Teil unseres Alltags geworden sind: Bahnsteige, Zugabteile, Hotelzimmer oder Flughafenterminals. Ihre Atmosphäre ist eine spannungsgeladene Mischung aus Vielfalt und Monotonie, Offenheit und Exklusivität, Kontaktfreudigkeit und Anonymität, Bewegung und Trägheit, Autonomie und Regulierung, Tempo und Temporalität. Einerseits als »Nicht-Orte«, »Niemandsorte« und »Transit-Wüsten« charakterisiert6, wird andererseits etwa Amerikas berühmte Transitstätte Ellis Island zum »symbol of freedom and hope«7. Wie eng die Verbindung zwischen dem Modernen und dem Transitorischen auch in der Literatur ist, zeigt ein Blick auf die Anfänge der literarischen Moderne in Deutschland. Es ist vielleicht kein Zufall, dass diese 1866 ausgerechnet von einer »freien litterarischen Vereinigung« mit dem Namen »Durch!« ausgerufen wurde8, und sich ebenjenes ›Durch‹ im Transitorischen wiederfindet.9 Eugen Wolff, Mitbegründer der Vereinigung, erwähnt in einem weiteren Proklamati4

In dieser Untersuchung wird der Begriff der Spätmoderne dem Begriff der Postmoderne vorgezogen. Der Stadt- und Sozialgeograf Thomas Pohl hält fest: »Während der Begriff der Postmoderne [...] einen weitgehenden Abschluss mit der Moderne mit unklarer Folge behauptet, verweist der Begriff der Spätmoderne auf eine fortschreitende Ablösung von Integrationsschemata der Moderne, ohne dass diese vollkommen überwunden wären« (Pohl 2009, 18). Ähnlich wird sich auch die Entwicklung der Transitliteratur vom 19. bis 21. Jahrhundert als ein eher kontinuierlicher Prozess präsentieren.

5

Vgl. Geisthövel/Knoch 2005, 15. Der Sammelband Orte der Moderne von Alexa Geisthövel und Habbo Knoch bietet einen Einblick in diese Entwicklungen und zeigt die kulturelle Bedeutung einzelner Orte auf, ohne sich jedoch dabei auf Transit-Orte zu konzentrieren.

6

Vgl. Augé 2010 (»Nicht-Orte«), Sloterdijk 2001, 1000 (»Niemandsorte«, »TransitWüsten«).

7

DeGezelle 2003, 6.

8

Vgl. Kiesel 2004, 13.

9

›Transit‹ setzt sich aus lat. trans (›durch‹) und it (›er/sie/es geht‹) zusammen.

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onstext zur literarischen Moderne bereits zentrale Aspekte des Transitorischen, so etwa die unbedingte Dynamik: »Alles ist in Gährung und Bewegung. [...] Und alle Entdeckungen und Erfindungen unseres Jahrhunderts gründen sich auf das Gesetz der Bewegung«.10 Ähnlich stellt Max Burckhard 1899 fest, der moderne Mensch repräsentiere »das eine der zwei welterhaltenden Prinzipien: die Bewegungstendenz gegenüber der Beharrungstendenz. Darum ist er ein Revolutionär auf dem Gebiete, auf das er sich wirft, sei dies nun die Politik, das soziale Leben oder die Kunst«.11 Das soziale Leben und die Kunst: Für beide sind Transit-Orte seit über 150 Jahren bewegte und verdichtete Orte des Modernen. So siedelt sich diese Untersuchung ebenfalls in einem Interimsbereich zwischen Kultur-, Sozial- und Literaturwissenschaft an, auch wenn sie vor allem literaturwissenschaftlich orientiert ist. Herausgebildet und entwickelt haben sich die Transit-Orte zunächst als alltagsweltliche Orte, als Gesellschaftsorte par excellence. Als weitgehend öffentliche und massenhaft aufgesuchte Orte werden diese maßgeblich durch die sozialen Beziehungen und Handlungen ihrer Akteure12 bestimmt. Die Literatur der Moderne fungiert in vielfacher Hinsicht als Reflexionsinstanz dieser Prozesse. Sie nimmt die Transit-Orte auf, konstruiert sie – als literarische Orte oder Schauplätze – nach ihren eigenen Regeln neu und verhandelt so zentrale Fragen der Moderne. Die vielschichtigen Entwicklungen in den literarischen Darstellungsformen solcher Transit-Schauplätze zwischen dem 19. und dem 21. Jahrhundert lassen 10 Wolff 1998, 68. Die Texte von Eugen Wolff und weitere Dokumente aus den Anfängen der literarischen Moderne haben Gotthart Wunberg und Stephan Dietrich zusammengetragen (Wunberg/Dietrich 1998). Auch Helmuth Kiesel weist in seiner Geschichte der literarischen Moderne auf den Proklamationstext von Eugen Wolff hin und erklärt daran anknüpfend die Entgrenzung mit ihrer »inneren Nötigung zum unablässigen Erkunden von immer Neuem« zum »Inbegriff modernen Dichtertums« (Kiesel 2004, 108). 11 Burckhard 1998, 217. Damit spielt Burckhard wahrscheinlich auf Wilhelm Heinrich Riehls Werk Die bürgerliche Gesellschaft von 1851 an (Riehl 1976). Riehl untergliedert darin die Gesellschaftsstruktur des 19. Jahrhunderts in Mächte des Beharrens (Stände des Adels und der Bauern) und Mächte der Bewegung (Arbeiterschicht und Bürgertum). 12 Aus Gründen der Lesbarkeit verwendet diese Arbeit vorwiegend die männliche Sprachform. Bei allen männlichen Funktionsbezeichnungen sind – sofern nicht anders gekennzeichnet – stets die weiblichen mitgemeint.

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die einleitenden Reiseeindrücke aus Moorstedt und Kunming erahnen: Schon diese kurzen Textpassagen tragen eindeutige Zeichen ihrer jeweiligen Entstehungszeit. Deutlich treten die Unterschiede nicht nur im Sprachduktus, sondern auch in der erzählten Welt hervor. Hier der spärlich beheizte, mit Dampfkraft betriebene Zug am »stattlichen Perron«, dort die Vorhalle eines internationalen Großflughafens. Zugleich gibt es bemerkenswerte Parallelen. An beiden literarischen Orten geraten die Passagiere in eine eigentümliche Verstörung, in eine Irritation: Wo bin ich? Dabei handelt es sich offenbar vor allem um eine räumliche Irritation, um den Verlust einer lokalen Ordnung, um die Erfahrung einer Ortlosigkeit. Literarische Transit-Orte sind also offenbar Orte, an denen etwas Ungewöhnliches, etwas Bedeutsames passiert – Orte, »mit denen man etwas macht«.13 Dieses bedeutsame Etwas, das Wesen des Transitorischen in der Literatur der Moderne zu bestimmen, ist ein wesentliches Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung. Dabei sollen sowohl die unterschiedlichen literarischen Spielarten des Transitorischen in Bezug auf gesellschaftliche und kulturelle Eigenheiten der Zeit herausgearbeitet als auch die verbindenden Merkmale transitorischen Erzählens ermittelt werden. Bei diesem Vorhaben können weder alle Transit-Orte, noch sämtliche Entwicklungen der kulturellen und literarischen Moderne berücksichtigt werden. Es lassen sich jedoch bestimmte Transit-Orte identifizieren, die jeweils für einen Zeitabschnitt der Moderne von herausragender Bedeutung sind, vor allem im Hinblick auf die literarische Produktion im deutschsprachigen Raum. So hat Wolfgang Schivelbuschs ›bahnbrechendes‹ Werk Geschichte der Eisenbahnreise bereits 1977 gezeigt, dass es im mittleren und späten 19. Jahrhundert vor allem die Eisenbahn ist, die mit ihrer rasenden Geschwindigkeit und ihrer imposanten Erscheinung die Menschen in ganz Europa fasziniert und ihr Bewusstsein verändert. Die Bahn ist nicht nur der Motor der Industrialisierung, mit ihrem Ausbau steigen auch Zahl und Dauer der Aufenthalte im Transit mit öffentlichen Verkehrsmitteln sprunghaft an. Dass die ›rasenden Maschinen‹ zudem die Literatur der beginnenden Moderne maßgeblich beeinflusst haben, deutet etwa Johannes Mahrs Untersuchung Eisenbahnen in der deutschen Dichtung (1982) im Hinblick auf lyrische Texte an.

13 Der Kulturwissenschaftler Michel de Certeau definiert den Raum als »Ort, mit dem man etwas macht« (Certeau 1988, 218). Dies wird im Kapitel ›Vom sozialen Raum zum Ort‹ diskutiert.

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In der Arbeit Die Überwindung der Distanz (2004) hat Wolfgang Kaschuba die Beobachtungen Schivelbuschs weiterverfolgt. Im beginnenden 20. Jahrhunderts weicht demnach die Faszination für den Transit-Ort Eisenbahn einer allgemeinen Reizüberflutung, die vor allem den modernen Großstädter betrifft – Georg Simmels Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben von 1903 ist ein erster wichtiger Hinweis darauf. Zudem beginnt einige Jahre später, am 9. November 1918, eine Epoche deutscher Geschichte, die nicht nur aus heutiger Sicht als ›Durchgangsepoche‹ zwischen zwei Weltkriegen gilt, sondern schon von ihren Zeitgenossen als provisorisch – und damit immer auch als transitorisch – empfunden wurde: Die Weimarer Republik. In dieser allgemeinen Durchgangszeit hat vor allem der Mikrokosmos Hotel das Potenzial, zum literarischen Transit-Ort der Zeit zu werden. Überlegungen hierzu finden sich insbesondere in der 2005 erschienenen Monografie Grand Hotel – Schauplatz der Literatur von Cordula Seger. Dass mit der Machtübertragung an die Nationalsozialisten im Jahr 1933 zugleich ein neues Kapitel in der Geschichte der Transit-Orte beginnt, deutet sich in Segers Hotelstudie an, wenn dargestellt wird, wie zahlreiche Grand Hotels deutscher Großstädte geschlossen oder zu Parteizentralen umfunktioniert werden. Der offene, kosmopolitische Transit-Ort Hotel hat im geschlossenen Denksystem der Nationalsozialisten keinen Platz. Wenn es überhaupt noch einen Transit-Ort gibt, der sinnbildlich für die Zeit der 1930er und 1940er Jahre stehen kann, so muss man ihn an den Rändern des diktatorischen Systems und an den Rändern Europas suchen: In verschiedenen Forschungsarbeiten zur deutschen Exilliteratur, insbesondere in Hans-Albert Walters Hauptwerk Deutsche Exilliteratur 1933-1950, kristallisiert sich der Hafen als wichtiger Transit-Ort heraus. Die Häfen und die Schiffspassagen über den Ozean haben für zahlreiche Exilanten – und nicht selten auch für die Schriftsteller selbst – eine existenzielle Bedeutung, die in Verbindung mit dem jahrhundertealten Topos der Seefahrt eine komplexe Neubewertung des Transitorischen vermuten lässt. Sucht man schließlich den Transit-Ort der globalisierten Gegenwart, fällt die Wahl schnell auf den Flughafen, jenen Ort, der in Literatur, Film und Werbung immer wieder bedient wird, wenn es um hypermoderne bis ›sinnentleerte‹ Existenzen im Transit geht. Der Vorwurf der Leere oder ›Nichtigkeit‹ dieses Orts lässt sich in wissenschaftlicher Hinsicht insbesondere auf den 1995 erschienenen Essay Nicht-Orte des Anthropologen Marc Augé zurückführen, in dem der Flughafen als ein Prototyp des ›Nicht-Orts‹ konzipiert wird. Alastair Gordon hat in Naked Airport: A Cultural History of the World’s Most Revolutionary Structure von 2008 einen weiteren, differenzierten Blick auf diesen Ort geworfen. Eine fundierte literaturwissenschaftliche Analyse des Schauplatzes Flughafen steht

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dagegen noch aus, auch wenn einige Arbeiten dessen Bedeutung für die Literatur der Spätmoderne bereits hervorgehoben haben.14 Eisenbahn, Hotel, Hafen und Flughafen – jeder dieser Orte ist also bereits zum Gegenstand kultur- oder literaturwissenschaftlicher Untersuchungen geworden, jedoch meist in der Form, wie die Orte alltagsweltlich erlebt werden: en passant. Die Verbindungen zwischen den Transit-Orten sind dabei ebenfalls wenig beachtet worden. Diese Arbeit ist deshalb angelegt als eine chronologisch und topologisch zugleich fortschreitende Untersuchung transitorischer Orte in der Literatur der Moderne – von Moorstedt bis Kunming, von einer Eisenbahnnovelle aus dem Jahr 1865 bis zu einem Flughafenroman von 2011. Damit geht die Untersuchung bewusst über den ›klassischen‹ Zeitraum der literarischen Moderne hinaus. So wie die soziale und industrielle Moderne bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnt, so kündigt sich auch die literarische Moderne bereits lange vor ihrer Proklamation im Jahr 1886 an. Zudem wird die Diskussion über das vermeintliche Ende der Moderne in den Sozial-, Kultur- und Literaturwissenschaften nach wie vor kontrovers geführt.15 Deshalb werden auch Texte aus der frühen Moderne und der Spätmoderne Berücksichtigung finden. Bevor die Untersuchung dieser Texte beginnen kann, müssen methodische Fragen geklärt werden. Wenn transitorische Orte zum zentralen Untersuchungsgegenstand einer literaturwissenschaftlichen Arbeit gemacht werden, und räumliche Irritationen zu den vermeintlichen Charakteristika dieser Orte gehören, ist damit ein Terrain der literaturwissenschaftlichen Forschung betreten, das sich einerseits eines großen Interesses erfreut – die räumliche Wende, der spatial turn, wurde längst zum Paradigma erhoben –, das aber zugleich von einer begrifflichen Unschärfe geprägt ist. Was sind Orte, was sind Räume in der Literatur? In dieser Untersuchung soll versucht werden, diese Begriffe klar zu definieren und voneinander abzugrenzen. 14 Dazu zählen etwa die Studien von Elke Sturm-Trigonakis (2007) und Christopher Schaberg (2012), die sich allerdings nicht primär mit deutschsprachiger Literatur beschäftigen. 15 Die Fragen, ob und wann die Moderne als beendet gelten kann und welcher Begriff die Epoche nach der Moderne am besten erfasst, werden seit Beginn der 1980er Jahre in den Geisteswissenschaften intensiv diskutiert. Aus der Fülle an Publikationen sollen hier die Arbeiten Postmoderne Literaturen von Hanns-Josef Ortheil (1995) und Unsere postmoderne Moderne von Wolfgang Welsch (2008) hervorgehoben werden.

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Einen vielversprechenden raumtheoretischen Zugang bietet das relationale Raumkonzept der Soziologin Martina Löw. In ihrer Arbeit Raumsoziologie nimmt die kategorische Unterscheidung von Raum und Ort eine Schlüsselrolle ein. Martina Löws Erkenntnisse müssen jedoch für die spezifischen Eigenschaften literarischer Raumkonstruktionen modifiziert werden. Die Heterogenität literarischer Orte und Räume wird dabei im Mittelpunkt stehen: Räume in der Literatur sind multidimensionale Räume und literarische Orte sind selbst verortet, in der Räumlichkeit der Schrift oder der Bücher, in denen sie publiziert werden. Es ist also notwendig, die Raumebenen herauszuarbeiten, auf denen literarische Texte wirksam werden. Auf der Grundlage eines geeigneten Raum- und insbesondere Ortsbegriffs ist es im Anschluss möglich, sich dem Wesen des Transit-Orts zu nähern. Was macht einen Ort zum Transit-Ort? Welche Eigenschaften und Funktionen haben Transit-Orte in der deutschsprachigen Literatur der Moderne? Im Laufe dieser Untersuchung wird ein Set von Merkmalen herausgearbeitet, mit dem sich die literarischen Transit-Orte übergreifend beschreiben lassen. Zugleich werden damit die Unterschiede in den literarischen Darstellungen aufgezeigt – denn die Ausprägung der Merkmale, so die Annahme, ist ähnlich wie die Transit-Orte selbst ständig in Bewegung; abhängig von gesellschaftlichen und kulturellen Eigenheiten der Zeit setzen sich die Autoren des 19., 20. und 21. Jahrhunderts mit einzelnen Merkmalen des Transitorischen besonders intensiv auseinander. Dabei können sie zudem auf die vielfältigen Raumebenen zurückgreifen, die das Medium Literatur bereithält. Gattungsspezifisch beschränkt sich diese Untersuchung auf die Erzählliteratur. Dramatische und lyrische Transit-Texte bieten zwar ebenfalls ein komplexes Forschungsfeld – die Gedichte von Albert Ostermaier oder Stationendramen wie Peter Handkes Untertagblues machen dies deutlich16 –, dabei werden jedoch ganz neue Problembereiche wie die Räumlichkeit der Bühne berührt, die aufgrund ihrer eigenen Komplexität gesondert betrachtet werden sollten. Ein ausschließlich episches Textkorpus ermöglicht zudem eine hohe Vergleichbarkeit

16 Peter Handkes Untertagblues von 2003 ist ein Stationendrama im doppelten Sinne: Die Stationen einer U-Bahn werden hier zu den Stationen des Monologs eines Fahrgastes. Mit den Transitgedichten von Albert Ostermaier haben sich Andrea Bartl und Isabel Nündel auseinandergesetzt (Bartl 2009a, Nündel 2009). Beide Aufsätze finden sich in dem Sammelband Transit(t)räume (2009b), in dem lyrische, epische und dramatische Texte aus den Themenfeldern Mobilität und Bewegung untersucht werden.

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der Werke auf der Grundlage der Erzähltheorie, ergänzt um raumtheoretische Konzepte. Das Korpus besteht aus insgesamt acht deutschsprachigen Erzähltexten – zwei zu jedem untersuchten Transit-Ort. Dabei werden sowohl Erzähltexte der literarischen Moderne berücksichtigt, die bereits vielfach Eingang in die literaturwissenschaftliche Forschung gefunden haben – teilweise auch schon im Hinblick auf Aspekte des Transitorischen –, als auch Texte, deren Bedeutung für die Literatur der Moderne bislang nur angedeutet oder unterschätzt wurde. Zu den vielrezipierten Texten lassen sich sicherlich Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel, Joseph Roths Hotel Savoy und Anna Seghers Transit rechnen; weniger bekannt sind dagegen Max Maria von Webers Eine Winternacht auf der Lokomotive, Franz Werfels Die Hoteltreppe und Erich Maria Remarques Die Nacht von Lissabon. Im Hinblick auf die Literatur der Spätmoderne wurden Angelika Overaths Flughafenfische und Xaver Bayers Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen in mehreren Rezensionen als komplexe Transit-Texte identifiziert, jedoch noch nicht eingehend untersucht. In all diesen Texten wird das Leben im Transit nicht nur zum Gegenstand intensiver Reflexionen. Vielmehr nimmt das Transitorische darin eine so wesentliche Rolle ein, dass es weit über die erzählte Welt hinausreichend das poetische Konzept des Textes bestimmt. Dabei konzentrieren sich alle Texte deutlich auf jeweils einen transitorischen Schauplatz.17 Die Analysen dieser Erzähltexte bilden den Hauptteil der Arbeit. Dieser ist nach Zeiten und Räumen geordnet – chronologisch nach dem Erscheinungsjahr der Texte, topologisch nach dem Transit-Ort, der im Zentrum der Erzählung steht. Die literaturwissenschaftlichen Untersuchungen der Eisenbahn-, Hotel-, Hafen- und Flughafentexte werden jeweils eingeleitet von einem kulturwissen17 Dies unterscheidet die Transit- von der traditionellen Reiseliteratur, die hier nur am Rande berücksichtigt wird. Mit der Reiseliteratur der Moderne hat sich Ottmar Ette in seiner Arbeit Literatur in Bewegung intensiv auseinandergesetzt. Charakteristisch für diese Literatur ist gerade ihre Multilokalität: »Der Reisebericht ist eine Gattung [...] des Ortswechsels und der ständig neuen Ortsbestimmung« (Ette 2001, 48, Hervorhebung L.W.). So entwirft Ette eine reiseliterarische Ortstypologie des Abschieds, des Höhepunkts und der Ankunft (vgl. Ette 2001, 49 ff.). Die Erzählungen der Transitliteratur können sich hingegen auch auf einen einzelnen Reiseort beschränken, an dem die Figuren permanent ›im Dazwischen‹ verharren. Wie sich zeigen wird, kann diese paradoxe Spannung zwischen Platzierung und Deplatzierung sogar zu einem bestimmenden Merkmal der Transitliteratur werden.

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schaftlich orientierten Kapitel. Darin soll die kulturelle Bedeutung der TransitOrte in ihrer jeweiligen ›Blütezeit‹ dargestellt werden, um im Anschluss Aussagen darüber treffen zu können, inwiefern die literarischen Darstellungen diese Entwicklungen reflektieren, darstellen oder konterkarieren. Als selbst räumlich komplexes Medium ist die Literatur in der Lage, Alltagsorte und -räume aufzunehmen und ihnen neue Bedeutungen zuzuschreiben, um eine neue Raumwirklichkeit zu entwickeln, die zu refigurierten Vorstellungen in der empirischen Wirklichkeit führen kann. So wird die Literatur zu einem raumepistemologischen Medium.18 Inwiefern davon Gebrauch gemacht wird und mit welchen erzählerischen, textlichen und medialen Mitteln dies geschieht – welche Raumebenen der Literatur also wie genutzt werden und welche Merkmale des Transitorischen dabei dominieren – diese Fragen sind für die Textanalysen erkenntnisleitend. Mein Dank gilt der Stiftung Bildung und Wissenschaft, die diese Arbeit mit einem Stipendium großzügig gefördert hat. Ich danke außerdem Prof. Karl-Gert Kribben für das große Vertrauen, das er von Beginn an in mich und mein Forschungsprojekt setzte, und für seine immer konstruktive Kritik bei der Konzipierung der Fragestellung, bei der Planung der Arbeit sowie bei der Durchführung der Untersuchung.

18 Diese Überlegungen schließen an die Gedanken von Wolfgang Hallet und Ansgar Nünning an (vgl. Hallet 2009, Nünning 2007) und werden im Kapitel ›Raum der erzählten Welt‹ weiter ausgeführt.

Transit-Theorie

Sozial- und kulturwissenschaftliche Raumtheorie

A LL THE WORLD ’ S A STAGE ? R AUMVORSTELLUNGEN IM W ANDEL In den Kultur- und Sozialwissenschaften vollzieht sich seit Ende der 1980er Jahre ein Paradigmenwechsel, der sogenannte spatial turn, der den Raum als kulturellen Bedeutungsträger verstärkt und mit einem neuen Raumverständnis zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen machen will. Durch die nationalsozialistische Geopolitik war der Raumbegriff in Deutschland lange diskreditiert1; in der Forschung wurde der Faktor Raum gegenüber dem Faktor Zeit vernachlässigt oder als selbstverständlich vorausgesetzt. Erst jüngere gesellschaftliche Entwicklungen wie das Auseinanderbrechen der politischen Blöcke und die Grenzöffnungen nach dem Kalten Krieg, der Prozess der Globalisierung sowie das Aufkommen translokaler Kommunikationstechnologien wie E-Mail und World Wide Web haben zu einer Fülle von Publikationen geführt, die nicht nur über eine Neubewertung, sondern auch über eine Neumodellierung des Raumbegriffs nachdenken lassen. Im Zentrum der Neumodellierung steht die Abkehr von einer territorialen, physisch-materiell geprägten Vorstellung von Raum hin zu einem dynamisierten Raumbegriff, der Raum primär als Ergebnis sozialer Beziehungen und Handlungen auffasst. Die meisten wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Thema Raum lassen sich um dieses Spannungsfeld herum ordnen, das bis heute existiert und kurz skizziert werden soll. Eine geeignete Grundlage hierfür bietet die Ar1

So wurde im Nationalsozialismus versucht, mit der Parole ›Volk ohne Raum‹ den Eroberungsfeldzug in Osteuropa zu rechtfertigen (vgl. Mai 2002). Der Ausdruck geht auf den gleichnamigen, 1926 veröffentlichten Roman von Hans Grimm zurück.

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beit Raumsoziologie von Martina Löw, die sich mittlerweile als »Basismonographie des spatial turn in der deutschsprachigen Soziologie«2 etabliert hat. Löw unternimmt darin den Versuch, die konkurrierenden Raumvorstellungen historisch einzuordnen und für die Soziologie fruchtbar zu machen. Sie teilt die Raumdebatte – angelehnt an den Physiker und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker3 – in »absolutistische« und »relativistische« Positionen ein4, um diese Spaltung schließlich mit einem relationalen Raumbegriff zu überwinden. Diese Abfolge ist eher systematisch als chronologisch zu verstehen, denn zum einen gab es schon lange vor Martina Löws Raumsoziologie relationale Raumvorstellungen in der Soziologie5, zum anderen haben relativistische Ansätze nie den Charakter einer eigenständigen Gegenposition eingenommen6. Zum Verständnis der aktuellen Raumdebatte ist die Einteilung jedoch nützlich, da das relationale Raumkonzept aus den koexistierenden und konkurrierenden Positionen dialektisch hervorgeht. Die absolutistische ist die traditionelle Raumvorstellung und bis heute im Alltagsverständnis von Raum präsent. Der Raum wird dabei als Behälter oder Container von Dingen und Menschen betrachtet (etwas befindet sich im Raum, engl.: it contains sth.) und weitgehend synonym zu Begriffen wie Ort, Gebäude, Zimmer, Schauplatz oder Territorium gebraucht. Die Ausmaße und die Einheiten des Raums beziehen sich auf die zwei- und dreidimensionale euklidische7 Elementargeometrie: Ein Zimmer hat einige Kubikmeter Rauminhalt oder ein Land eine bestimmte Bevölkerungsdichte. Der Raum lässt sich damit unabhängig von den Körpern und Menschen sowie insbesondere ihren Handlungen innerhalb des 2

Döring 2010, 97. Auch Laura Kajetzke und Markus Schroer konstatieren, der Raumbegriff Löws werde inzwischen »von den neueren Ansätzen konsensual geteilt« (Kajetzke/Schroer 2010, 201).

3

Vgl. Weizsäcker 1985, 237 ff.

4

»Alle Versuche, heute wissenschaftlich Raum zu bestimmen, [...] bauen auf der einen oder der anderen Auffassung auf« (Löw 2001, 269).

5

Deutlich werden relationale Positionen bereits in früheren Studien von Michel de Certeau (1988), Dieter Läpple (1991) oder Michel Foucault (1992).

6

Auch Martina Löw stellt fest: »Relativistische Raumbegriffe werden [in der Soziologie, L.W.] nur von Spezialistinnen vertreten und gehen in die allgemeine Rezeption geringfügig ein« (Löw 2001, 63). Löw verwendet hier das generische Femininum, es sind also auch Spezialisten gemeint.

7

Die euklidische Elementargeometrie ist nach dem griechischen Mathematiker Euklid von Alexandria (ca. 360 v. Chr. bis ca. 280 v. Chr.) benannt.

S OZIAL - UND KULTURWISSENSCHAFTLICHE R AUMTHEORIE

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Raums mathematisch präzise erfassen. Raum existiert unabhängig vom Handeln. Dieses euklidisch-substantialistische Raumkonzept, das unter anderem von Aristoteles, Ptolemäus, Kopernikus, Newton und in Ansätzen noch von Kant8 postuliert wurde, ist aus nachvollziehbaren Gründen bis heute populär: »Das euklidische Denken, welches in Sozialisations- und Bildungsprozessen vermittelt wird, ist für die Konstitution vieler Räume ohne Zweifel eine kulturell notwendige Leistung, um Gegenstände, sich selbst oder andere Menschen in ein Raster einordnen zu können. Diese ordnende Aktivität wird unterlegt und stärkt die Vorstellung, ›im Raum zu leben‹.«9

Die Vorstellung des Shakespearschen All the world’s a stage / And all the men and women merely players, nach der die Welt eine von den Menschen trennbare ›Bühne‹ ist, auf der die Protagonisten täglich ihre Alltagsrollen spielen, ist eine klare, leicht erfassbare und unmittelbar strukturierende Vorstellung. Sie ist jedoch nicht in jedem Fall praktikabel. Erstmals in Bewegung gerät das Konzept des Bühnen-, Behälter- oder Containerraums um 1830, als die Mathematiker Carl Friedrich Gauß, János Bolyai und Nikolai Iwanowitsch Lobatschewski unabhängig voneinander das Parallelenpostulat Euklids widerlegen.10 Damit ist die Möglichkeit einer nichteuklidischen Geometrie aufgezeigt. Die Thesen der Physiker und Philosophen, die den Raum über die euklidische Mathematik definieren, werden entsprechend grundlegend in Frage gestellt. Wenig später zeigt Albert Einstein in seiner Relativitätstheorie nicht nur, dass die Geometrie des Universums nicht euklidisch ist, sondern dass Raum und Zeit generell nicht absolut bestimmbar sind. Der dreidimensionale Raum verschmilzt mit der Zeit zu einer vierdimensionalen Raumzeit, und alle Formen von Energie ›krümmen‹ diese Raumzeit: Uhren blieben dem8

Kant distanziert sich zwar von der antiken, insbesondere der kopernikanischen Mathematik als Erkenntnisgrundlage, verabsolutiert das Subjekt jedoch als neues ›Zentralgestirn‹, dessen euklidische Raumvorstellung a priori allen anderen Anschauungen vorausgeht (vgl. Günzel 2010). »Kant sah sich denn auch als Newton der Philosophie, der dessen Naturlehre nochmals durch eine Kritik der epistemischen Werkzeuge bestätigt« (Günzel 2010, 78).

9

Löw 2001, 63.

10 Das Parallelenpostulat Euklids trifft Aussagen über die Anzahl von Parallelen zu Geraden auf einer Ebene. In bestimmten Geometrien – etwa in der von Lobatschewski vorgestellten hyperbolischen Geometrie – gilt dieses Postulat nicht.

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nach bei annähernder Lichtgeschwindigkeit fast stehen, und ein beschleunigter Gegenstand – etwa eine Theaterbühne, um im Bild zu bleiben – zöge sich immer weiter zusammen.11 Diese Erkenntnisse aus der Physik laufen der Alltagserfahrung entgegen und entziehen sich weitgehend der menschlichen Vorstellungskraft, weshalb sich einwenden ließe, sie besäßen keine Relevanz für das gesellschaftliche Leben auf der Erde. Entscheidend ist jedoch die Erkenntnis, dass Raum das Ergebnis einer menschlichen Konstruktionsleistung ist und immer schon war, generiert aus der Perspektive einer relativen Beobachterposition und unter den Bedingungen eines spezifischen Bezugssystems. Raum ist keinesfalls a priori gegeben, wie es Kant formuliert hat. Räumlichkeit entsteht, so auch Martina Löw, in der Bewegung: »Der Raum ist die Beziehungsstruktur zwischen Körpern, welche ständig in Bewegung sind. Raum ist demnach nicht [...] der starre Behälter, der unabhängig von den materiellen Verhältnissen existiert, sondern Raum und Körperwelt sind verwoben.«12

Nur unter diesen Voraussetzungen lassen sich die fundamentalen Veränderungen beschreiben und erklären, die die Moderne und die Spätmoderne maßgeblich geprägt haben. Betrachtet man Raum allein aus der absolutistischen Perspektive, so scheint dieser mit dem Aufkommen beschleunigter Verkehrsmittel im 19. und 20. Jahrhundert immer weiter zu schrumpfen, bis er sich durch die digitalen Netztechnologien wie World Wide Web und E-Mail im 21. Jahrhundert praktisch auflöst: Brauchte ein Brief mit der Postkutsche ursprünglich Wochen und mit dem Flugzeug zuletzt noch Stunden, um den – absolut gedachten – Raum zwischen Sender und Empfänger, zwischen ›Heimat‹13 und Ziel zu durchqueren, erreicht eine E-Mail innerhalb von Millisekunden ihr Ziel, und zwar nahezu unabhängig davon, ob sich der Empfänger nebenan oder auf der anderen Seite des 11 Zu den Zusammenhängen zwischen euklidischer Raumvorstellung, dem Parallelenpostulat und der Relativitätstheorie vgl. ausführlicher Löw 2001, 30 ff. 12 Löw 2001, 34. 13 Auf den so komplexen wie problematischen Begriff der Heimat wird in dieser Untersuchung weitgehend verzichtet. Hinter dem Ausdruck können sich je nach individueller Disposition territoriale oder deterritoriale Bedeutungen verbergen. Die Frage nach dem Inhalt des Heimatbegriffs ist »nur individuell und nicht allgemeingültig zu beantworten«, stellt auch Andrea Bastian in ihrer Studie Der Heimat-Begriff fest (Bastian 1995, 24). Der Band informiert umfassend über die Geschichte und die Problematik des Begriffs.

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Erdballs befindet. Dasselbe gilt für Informationen im Internet, deren Zugänglichkeit prinzipiell nur marginal von der geografischen Distanz beeinflusst wird.14 Auch abseits technologischer Neuerungen findet mit der Globalisierung bis heute ein Prozess statt, der wesentliche Kategorien des Raumempfindens wie Nähe/Distanz oder Zentralität/Marginalität in Frage stellt. Informationen, Kulturen, Kapital und Waren – immer mehr steht zumindest theoretisch unmittelbar und weltweit zur Verfügung. Im Zuge dieser Veränderungen, die den Lebensalltag eines Großteils der westlichen Bevölkerung inzwischen ganz wesentlich prägen, wird in den Medien tatsächlich häufig von einer Auflösung des Raums gesprochen.15 Dieser These steht die Beobachtung paradox gegenüber, dass sich an der leiblichen Existenz der Menschen, die doch im Raum leben sollen, bei alledem wenig geändert hat. Wieso existieren die Menschen weiter, wenn ihr ›Behälter‹, ihre ›Bühne‹ zu verschwinden scheint? Und wie lässt es sich erklären, dass gerade im Zeitalter der proklamierten Auflösung des Raums ganz neue Räume entstehen, etwa durch neue Kommunikationsformen im Internet? Wie können sich Diskussionspartner rund um den Globus in sogenannten Chaträumen treffen, ohne sich leiblich von der Stelle zu bewegen? Die absolutistische Denkweise lässt hier buchstäblich keinen Raum für Antworten. Martina Löw konstatiert: »Wenn Räume als Territorien oder konkrete Orte verdinglicht werden, wird die Konstitution von Räumen im Cyberspace systematisch ausgeschlossen.«16 Demgegenüber erweist sich eine relativistische Raumvorstellung als geeigneter, die Raumstrukturen einer globalisierten Moderne zu erfassen. Schon zu Lebzeiten Isaac Newtons, also im 17. Jahrhundert, wandte sich Gottfried Wilhelm Leibniz gegen dessen Vorstellung eines absoluten, selbstständigen Raums. In Leibniz’ Metaphysik werden Raum und Zeit allein als Ordnungsbeziehungen zwischen materiellen Entitäten verstanden: »Alle existierenden Elemente lassen sich [...] nach dem Verhältnis der Gleichzeitigkeit oder des Vor- und Nacheinander ordnen. Die Zeit ist die Ordnung des nicht zugleich Existierenden. [...] Der Raum ist die Ordnung des Koexistierenden.«17 14 Eine typische Informationsanfrage von Deutschland nach Japan oder in die USA via TCP/IP ist lediglich einige Hundert Millisekunden langsamer als eine innerdeutsche Anfrage. 15 Vgl. Löw 2001, 10 f. 16 Löw 2001, 100. 17 Leibniz 1996, 35 f. Leibniz formuliert dies in seiner Initia rerum mathematicarum metaphysica von 1715. Löw zitiert einen wenig später geschriebenen Brief Leibniz’

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Ähnlich wandte sich Ernst Mach im 19. Jahrhundert gegen die Newtonsche Mechanik. Das sogenannte Machsche Prinzip legte die Grundlage für Einsteins Relativitätstheorie: »Statt nun einen bewegten Körper K auf den Raum (auf ein Koordinatensystem) zu beziehen, wollen wir direkt sein Verhalten zu den Körpern des Weltraumes betrachten, durch welches jenes Koordinatensystem allein bestimmt werden kann.«18

Das Koordinatensystem Raum ergibt sich hiernach also ausschließlich aus den relativen Verhältnissen von Körper zu Körper. Außerhalb der Lageverhältnisse und Körper gibt es keinen Raum. Kein Raum existiert für sich, Räume existieren immer nur im Verhältnis zueinander. Allein die Anordnung generiert Räume. Auf soziale Prozesse bezogen bedeutet dies, dass Räume erst im Handeln hervorgebracht werden. Das bedeutet einen erheblichen Fortschritt in der theoretischen Annäherung an die neuen Technologien: Erst durch das computergestützte Handeln treten Menschen im digitalen Netz miteinander in Beziehung und sind etwa auf einer gemeinsamen Chatplattform einander zugänglich. Aus den dortigen kommunikativen Handlungen und den kurzfristigen Beziehungsverhältnissen konstituiert sich ein Chatraum. Ohne Handlungen und Beziehungsverhältnisse und ohne verbundene Nutzer verflüchtigt sich der Raum.19 So enträtselt sich das vermeintliche Paradoxon von der Auflösung des Raums: Das virtuelle Netz löst den Raum nicht auf, das virtuelle Netz ist selbst der Raum. Genauso bedeutet die weltweite an den Philosophen Samuel Clarke: »Ich habe mehrfach betont, daß ich den Raum ebenso wie die Zeit für etwas rein Relatives halte; für eine Ordnung der Existenzen im Beisammen, wie die Zeit eine Ordnung des Nebeneinander ist« (Leibniz 1996, 93). 18 Mach 1988, 227 f. Ernst Machs bekanntestes Werk, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, wurde 1883 erstmals veröffentlicht. Das darin vertretene Prinzip wurde 1918 von Albert Einstein nach Ernst Mach benannt. Neben der Physik beschäftigte sich Mach mit der Philosophie; seine philosophischen Schriften hatten großen Einfluss auf die Literaten seiner Zeit. Ernst Machs Bemerkung »Das Ich ist unrettbar« (Mach 1922, 20) wurde zu einem Schlagwort der Wiener Moderne; Robert Musil promovierte 1908 über Mach. 19 Der Chatraum ist eigentlich kein Raum, sondern ein Ort. Es verflüchtigt sich also zunächst der Ort und erst daraufhin die dort angesiedelten Raumkonstruktionen. Hierzu mehr im folgenden Kapitel.

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Verflechtung in den Bereichen der Wirtschaft, der Politik oder der Kultur keine Raumauflösung, es ändert sich lediglich die Struktur der Verflechtung, die »Organisation des Nebeneinander«20. Auch Martina Löw zufolge ist die relativistische Vorstellung deshalb eine sinnvolle Ausgangsüberlegung für einen neuen Raumbegriff.21 Der Schwachpunkt dieser Perspektive ist jedoch, dass dabei die Raumstrukturen allein aus menschlichen Konstruktionsleistungen abgeleitet und die strukturierenden Momente langfristig bestehender räumlicher Ordnungen vernachlässigt werden. So ist ein Hafen beispielsweise das Resultat einer zielgerichteten Anordnung von Gütern – etwa von Baustoffen oder Waren –, seine Wirkung entfaltet der Hafen jedoch mittels seiner materiellen Ordnung weit über individuelles Handeln hinaus, meist sogar über Generationen hinweg. Selbst die immateriellen Räume im Internet basieren auf einer persistenten digitalen Infrastruktur und sind damit teilweise erheblich institutionalisiert. Zudem sind sie an den physischen Raum zurückgebunden, wie der Stadtforscher Jan Wehrheim anmerkt: »Selbst der Internetchat im nur virtuellen Raum ist nicht derselbe Chat, je nachdem er vom Bett aus, im öffentlichen Internetcafé, vom Computer am Arbeitsplatz oder mobil während eines Waldspaziergangs stattfindet.«22

Wird das Physisch-Materielle in der absolutistischen Tradition überbewertet, wird es hier also in seiner Wirkungsmacht unterschätzt: »So mag sich beispielsweise – angesichts der Souveränitätseinbußen des Nationalstaats im Zuge der Globalisierung – das Bild des Nationalstaats als Behälter zwar als Illusion entlarven lassen, doch es handelt sich dabei um eine offenbar äußerst wirkungsmächtige Illusion mit durchaus realen Folgen. So sehr die These von der Verabschiedung des Raums übertrieben und voreilig ist, so kurzsichtig verfährt auch die Idee, die glaubt, dass es [...] in Zukunft auf Territorien nicht mehr ankäme, man zwar über soziale, nicht mehr aber über physische Räume reden solle.«23

20 Löw 2001, 11. 21 Vgl. Löw 2001, 269. 22 Wehrheim 2007, 19. 23 Schroer 2007, 43.

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Daran anknüpfend kritisiert Markus Schroer die Raumtheorie Martina Löws und kommt zu dem Schluss, es gälte »vor der Verabsolutierung des relationalen Raumverständnisses zu warnen«24. Diese Einwände wären in Bezug auf die relativistische Position berechtigt; in Bezug auf die relationale Position sind sie es nicht. Schließlich entwirft Löw ihren Raumbegriff gerade als Weiterentwicklung des relativistischen Modells, um neben den Anordnungen (Handlungsdimension) auch bestehende Ordnungen wie physische Räume (Strukturdimension) zu berücksichtigen. Sie vereint die beiden Begriffe in der Schreibweise (An)Ordnung.25 Damit soll verdeutlicht werden, dass Menschen zwar durch ihr Handeln als soziale Akteure Räume herstellen (anordnen), dieses Handeln aber gleichzeitig abhängig von bestehenden politischen, ökonomischen, rechtlichen, kulturellen oder architektonischen Strukturen (Ordnungen) ist. Die Strukturen können auf die Handlungen zurückwirken, sie erst ermöglichen oder einschränken. Ein Bahnhof wird erst durch die Zuschreibungen und menschlichen Aktivitäten zu einem Bahnhof, andererseits bringt der gebaute Bahnhof auch permanent ganz bestimmte Alltagshandlungen hervor, die das Gebäude dann wieder funktional und strukturell bestätigen. In diesem Konzept einer »Wechselwirkung von Handeln und Strukturen«26 zeigt sich die Nähe zur Sozialtheorie von Anthony Giddens, deren Dualität von Struktur von Löw auf eine »Dualität des Raums«27 übertragen wird. Sie bricht das statische Behälterkonzept auf und dynamisiert den Raumbegriff, ohne die kulturell tradierte Vorstellung, im Raum zu leben, aus dem Blick zu verlieren. Demnach ist Raum schließlich eine »relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten«28. Diesem Raumbegriff schließt sich die vor24 Schroer 2007, 42. Eine ähnliche Kritik findet sich in Schroers Studie Räume, Orte, Grenzen, in der er von der »Gefahr eines Raumvoluntarismus« schreibt (vgl. Schroer 2006, 175). 25 Eine ›(An)Ordnung‹ unterscheidet sich inhaltlich nicht von einer ›Anordnung‹. Die Schreibweise wird von Löw lediglich verwendet, um die Dualität von Handeln und Strukturen hervorzuheben, die aber prinzipiell jeder Anordnung innewohnt. Nachfolgend wird aus Gründen der Lesbarkeit auf die Klammern verzichtet, sofern es sich nicht um Zitate oder direkte Ableitungen aus der Theorie Löws handelt. 26 Vgl. Löw 2001, 158 ff. 27 Löw 2001, 172. Im Speziellen bezieht sich Löw damit auf Anthony Giddens’ Strukturationstheorie, die in dessen Hauptwerk Die Konstitution der Gesellschaft formuliert wird (Giddens 1992). 28 Löw 2001, 271.

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liegende Arbeit an, wobei er für speziell literarische Raumkonfigurationen wie denen des erzählten oder textuellen Raums modifiziert werden muss. Zunächst wirft jedoch der Zusatz ›an Orten‹ Fragen auf, die bislang nicht diskutiert wurden: Was sind überhaupt Orte? Wie unterscheiden sie sich funktional von Räumen? Und inwiefern stellen Bahnhöfe, Hotels, Häfen und Flughäfen, die als Transit-Orte bezeichnet wurden, Spezialfälle dar?

V OM

SOZIALEN

R AUM

ZUM

O RT »Immer war mir das Feld und der Wald, und der Fels und die Gärten / Nur ein Raum, und du machst sie, Geliebte, zum Ort. / Raum und Zeit, ich empfind’ es, sind bloße Formen des Anschauns, / Da das Eckchen mit dir, Liebchen, unendlich mir scheint.«29 JOHANN WOLFGANG VON GOETHE, VIER JAHRESZEITEN

Eine fundamentale Neuerung des relationalen Raumbegriffs ist die kategorische Unterscheidbarkeit von Ort und Raum. Sowohl absolutistische als auch relativistische Raumvorstellungen können Ort und Raum nur ungenau differenzieren. Im absolutistischen Behälterraum ist alles Territoriale oder geografisch Markierte gleichermaßen Raum und Ort, wie Löw bemerkt und dabei auf Schriften von Martin Heidegger, Anthony Giddens und den schwedischen Geografen Törsten Hägerstrand verweist.30 Im alltäglichen Sprachgebrauch ist die Differenzierung ebenfalls nur schwach ausgeprägt; in deutschen Wörterbüchern findet sich ›Raum‹ durchweg als Synonym zu ›Ort‹. Dem Ort wird durch seine Nähe zu ›Ortschaft, Siedlung, Stadt‹ allenfalls eine Sammelfunktion von räumlichen Konfigurationen zugestanden, umgekehrt ist aber auch der Raum als eine Sammlung von Orten denkbar, was sich in Ausdrücken wie ›Raum Hannover‹, ›Weltraum‹ oder ›Lebensraum‹ zeigt. Raum und Ort werden also allenfalls innerhalb der Containervorstellung hierarchisch angeordnet und zu einer Binnendifferenzierung genutzt, die aber diffus bleibt.

29 Goethe 2007b, 188. Vier Jahreszeiten erschien erstmals 1827. 30 Vgl. Löw 2001, 36 f.

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Auch in der relativistischen Raumvorstellung gibt es keine eindeutige Trennung von Raum und Ort: Wenn sich der Raum ausschließlich aus den Körpern, ihren Beziehungsverhältnissen und Handlungen definiert, kann er selbst nirgends platziert oder verortet werden – es gibt kein Außerhalb. Es fehlen die langfristigen, institutionalisierten Strukturen, die über das Handeln der Individuen hinaus wirksam bleiben. Eben diese Strukturen fügt das relationale Verständnis dem Raumbegriff hinzu. Nun ist es erstmals denkbar, dass Räume selbst platziert werden, und zwar an Orten. Der relativ stabile Ort wird zum »kongenialen Schatten«31 des Raums: Er gibt den dynamischen, flexiblen und diskontinuierlichen Raumkonstruktionen einen Fixpunkt, an dem sie sich lokalisieren lassen. Orte sind einzigartig, meist geografisch markiert, in der Regel physisch-materiell manifestiert und konkret benennbar32 – beispielsweise als ›Hotel Adlon‹ oder als ›Hauptbahnhof Hamburg‹, aber auch als deren Untereinheiten ›Zimmer 201‹ oder ›Gleis 14‹. Das Hotelzimmer bleibt als Ort langfristig existent, während der zugehörige Raum mit jedem Hotelgast neu konstituiert werden kann. Michel de Certeau entwirft in seinem Hauptwerk Kunst des Handelns, in dem er alltägliche Praktiken von Konsumenten und Verbrauchern untersucht, bereits 1980 eine derartige Vorstellung von Ort und Raum: »Ein Ort ist die Ordnung (egal, welcher Art), nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden. [...] Ein Ort ist also eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität. Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. Er ist also ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben [...]. Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht. So wird zum Beispiel die Straße, die der Urbanismus geometrisch festlegt, durch die Gehenden in einen Raum verwandelt.«33

31 Diese Formulierung wählt die Geografin Judith Miggelbrink, um die Beziehung von Ort und Raum für ihre Studie Die (Un-)Ordnung des Raumes zu erfassen (vgl. Miggelbrink 2005, 79). 32 Vgl. Löw 2001, 199, 228. 33 Certeau 1988, 217 f. Zur besseren Lesbarkeit wurde die letzte Hervorhebung gemäß der französischen Originalausgabe korrigiert. In der Ausgabe des Merve-Verlags heißt es: »Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht«, im Original

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Diese Definition kommt den Vorstellungen von Löw bereits ziemlich nahe, weshalb es verwundert, dass sie sich in Raumsoziologie nicht auf Certeau bezieht. Während Certeau den Ort voraussetzt, in Bewegung setzt und damit verräumlicht, verläuft Löws Denkrichtung eher vom Raum zum Ort, wie ihr Beispiel von einem Flussufer zeigt: »Auch das Flußufer ist ein Raum durch die Synthese von Wasser, Steinen, Parkbänken, einer Eisdiele etc. Dieser für viele Flußufer typische Raum ist dann ein spezieller Ort, wenn er einzigartig wird, zum Beispiel in der Benennung (Rosa-Luxemburg-Ufer etc.) oder in der Erinnerung.«34

Dennoch ist das relationale Konzept bei beiden erkennbar. Löw erwähnt später selbst, dass analog zur Wechselwirkung zwischen Handeln und Struktur eine Wechselwirkung zwischen Raum und Ort existiert: »Die Konstitution von Raum bringt systematisch Orte hervor, so wie Orte die Entstehung von Raum erst möglich machen.«35 Der Motor dieser Wechselwirkung ist nach Löw die Platzierung. Die Platzierung ermöglicht die Konstitution von Räumen an Orten. Den Prozess des Platzierens bezeichnet sie in Anlehnung an Giddens36 auch als Spacing: »Spacing bezeichnet also das Errichten, Bauen oder Positionieren. Als Beispiele können hier das Aufstellen von Waren im Supermarkt, das Sich-Positionieren von Menschen gegenüber anderen Menschen, das Bauen von Häusern, das Vermessen von Landesgrenzen, das Vernetzen von Computern zu Räumen genannt werden. Es ist ein Positionieren in Relation zu anderen Plazierungen.«37

Im Spacing werden soziale Güter und Lebewesen angeordnet. Diese Anordnung setzt Orte voraus, generiert aber auch neue Orte, an denen wiederum Räume lautet die Passage jedoch »en somme, l’espace est un lieu pratiqué« (Certeau 1990, 173). 34 Löw 2001, 200. 35 Löw 2001, 272. 36 Der Begriff findet sich schon in Giddens’ Die Konstitution der Gesellschaft, in der deutschen Ausgabe mehrdeutig übersetzt als »Organisieren des Raums« und »räumliche Ordnung« (Giddens 1992, 129, 199 f.). 37 Löw 2001, 158. Löw verwendet hier die alte Schreibweise ›Plazierung‹, in ihren späteren Werken die der neuen Rechtschreibung.

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hervorgebracht werden können. »Der Ort ist somit Ziel und Resultat der Plazierung.«38 Indem beispielsweise Güter wie Beton, Fensterglas oder Gleise im Bauen zielgerichtet zu einem Bahnhof zusammengesetzt werden, und sich dieser Bahnhof in ein bestehendes Netz aus Orten (in das Bahnnetz) einfügt, entsteht sowohl ein neuer einzigartiger Ort – etwa der 2006 eröffnete Berliner Hauptbahnhof – als auch die Möglichkeit, dort Räume zu konstituieren. Die von Löw genannten Beispiele zeigen, dass das Spacing zwar meist auf materiellen Konfigurationen basiert, diese aber nicht materiell sein müssen. Auch das virtuelle Vernetzen lässt Räume und Orte entstehen. Entscheidend ist letztlich nicht, was platziert wird – Gegenstände, Menschen, Daten – sondern wie platziert wird, dass Räume also prozessual im Spacing generiert werden. Das Spacing allein genügt jedoch nicht zur Verknüpfung von Raum und Ort. Löw stellt fest: »Zweitens [...] bedarf es zur Konstitution von Raum [...] einer Syntheseleistung, das heißt, über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse werden Güter und Menschen zu Räumen zusammengefasst.«39

Im Spacing ist lediglich die Möglichkeit der Raumkonstitution an Orten angelegt. Als Raum wirksam wird eine relationale Anordnung jedoch erst in der aktiven Verknüpfung ihrer Elemente durch Menschen. Im Beispiel des Bahnhofbaus schafft das Zusammensetzen der Baustoffe zwar die Grundlage für die Nutzung, der Bahnhof muss jedoch auch als solcher wahrgenommen, vorgestellt oder erinnert werden, um die Konstitution von Räumen zu ermöglichen.40 Die Einbeziehung von Vorstellungs- und Erinnerungsprozessen in die Syntheseleistung ist für die Analyse von Räumen in der Literaturwissenschaft von besonderer Relevanz, wie sich später zeigen wird. Orte können so auch in ihrer symbolischen Repräsentation in Bildern und Erzählungen wirksam sein, selbst wenn das Platzierte längst verschwunden oder unerreichbar geworden ist. 38 Löw 2001, 198. 39 Löw 2001, 159. 40 Im alltäglichen Handeln finden Spacing und Syntheseleistung gleichzeitig statt; das Bauen eines Gebäudes ist nicht möglich, ohne dabei das architektonische Konzept mitzudenken und das Gebäude so schon im Bau permanent zu synthetisieren. »Ein ›Haus‹ wird als solches nur erfaßt, wenn der Beobachter erkennt, dass es sich um eine ›Wohnung‹ mit einer Reihe anderer Eigenschaften handelt, die sich aus dem jeweils spezifischen Gebrauch im menschlichen Handeln ergeben« (Giddens 1992, 170).

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Die Beispiele Spacing und Syntheseleistung machen deutlich, welche Erkenntnisgewinne die analytische Trennung von Raum und Ort liefern kann. Doch nicht nur für die 1:1-Beziehung von Raum und Ort, auch für die Ordnungsrelation mehrerer Räume und Orte hat die Differenzierung weitreichende Folgen. Drei Aspekte können dabei unterschieden werden: Erstens können verschiedene Räume an ein und demselben Ort entstehen.41 Ein konkreter Ort, etwa ein Hotel, kann zu unterschiedlichen Räumen synthetisiert werden. So wird das Hotelgebäude zu einem ganz anderen Hotelraum, je nachdem, ob es aus der Gäste- oder Personalperspektive wahrgenommen wird. Das Personal konstituiert durch seine Arbeit einen eigenen Hotelraum, der sich teilweise mit dem der Gäste überschneiden, aber auch in Konkurrenz zu ihm treten kann, wie Cordula Seger in Bezug auf kulturelle und literarische GrandHotel-Räume nachgewiesen hat: »Das Grand Hotel teilt sich in zwei Welten, die bediente Welt der Gäste, gedämpft, mondän und jeder Anstrengung in Muße enthoben, und die dienende der Angestellten, laut, hektisch und in ihrer beständigen Unruhe Schlaf raubend. Während die Angestellten stumm und gleichsam unsichtbar [...] in den Gesellschaftsräumen präsent sind und diese Welt sehnsuchtsvoll betrachten, bleibt den Gästen alles, was hinter den Kulissen stattfindet, verborgen.«42

Auch innerhalb des Gästeraums sind mehrere konkurrierende Räume denkbar, etwa nach sozialem Status oder Geschlecht differenziert. Die meisten Orte bestehen aus mehreren Räumen – an Transit-Orten wird diese Eigenart aber besonders bedeutsam, da Transit-Orte kulturell und sozial besonders heterogen sind und den konkurrierenden Raumkonstitutionen eine zentrale Rolle zukommt. Zweitens kann sich ein Raum über verschiedene Orte erstrecken. Die Konstitution von Raum ist zwar ortsgebunden, kann in ihrer Reichweite aber weit über einen konkreten Ort hinausgehen. Im Rahmen der Globalisierung formen beispielsweise Großstädte wie New York, London und Tokio einen gemeinsamen Raum der global cities, die »so eng verknüpft sind, daß diese Städte untereinander mehr Gemeinsamkeiten aufweisen, als sie zu anderen Regionen ihres jewei-

41 Löw stellt fest: »An einem Ort können verschiedene Räume entstehen, die nebeneinander sowie in Konkurrenz zueinander existieren bzw. in klassen- und geschlechtsspezifischen Kämpfen ausgehandelt werden« (Löw 2001, 273). 42 Seger 2005, 411.

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ligen Nationalstaates entwickeln«43. Mit dieser Entwicklung geht häufig der Vorwurf einer übermäßigen Homogenisierung bis zur Austauschbarkeit ganzer innerstädtischer Areale einher. Speziell Transit-Orte spielen dabei eine Rolle. So schreibt der Politikwissenschaftler Jörg auf dem Hövel über den globalen Flughafenraum: »Wer heute seinen Gepäckwagen durch die Kunstlicht-Gänge eines beliebigen deutschen oder europäischen Flughafens rollt, der hat Probleme, anhand der Umgebung zu sagen, in welcher Stadt er sich befindet. Die Welt der Terminals ist eine globale Banalität, aufgebaut aus den immer gleichen Modulen. Ob München, Paris, Los Angeles: Airports sind eigene Städte, deren Interieur austauschbar ist.«44

In dieser Irritation deutet sich an, wie unzureichend der Flughafenraum beschrieben wäre, wenn man sich dabei auf einen Einzelort beschränkte. Der Flughafenraum erhält seine spezifische Qualität erst in der globalen Vernetzung über konkrete Orte hinweg, eingebunden in ein translokales Geflecht aus einer Vielzahl von Flughäfen. Drittens können sich Räume und Orte ineinander verschachteln. Auf diese Weise entsteht ein multidimensionales Netzwerk aus Räumen und Orten. Dies zeigt sich etwa in der Lektüre von Literatur: Jeder Rezipient eines Textes befindet sich, während er lesend literarische Räume an Orten synthetisiert, selbst an einem anderen Ort, etwa in seinem Wohnzimmer.45 Dieses Wohnzimmer würde von einem zweiten Menschen, der sich dort erstmalig zu Besuch aufhält, wiederum zu einem anderen Raum synthetisiert. Der Besucher könnte zudem den Fernseher einschalten und damit das Fenster zu einem weiteren synthetisierbaren Raum öffnen. Hier deutet sich an, welche Möglichkeiten das relationale Modell bietet, was für die Analyse der komplexen Konfiguration von Transit-Räumen in der Literatur wichtig ist.

43 Löw 2001, 105. Vgl. hierzu auch Löw 2001, 9 ff. 44 Auf dem Hövel 2006, Abs. 3. 45 Die Vielfalt der Räume bei der Produktion und Rezeption von Literatur wird im Kapitel ›Die Ebenen literarischer Raumwirklichkeit‹ ausführlicher diskutiert.

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T RANSIT -O RT »Gehen bedeutet, den Ort zu verfehlen.«46 MICHEL DE CERTEAU, KUNST DES HANDELNS

Anders als bei Raum und Ort kann zwischen Ort und Transit-Ort nicht kategorisch unterschieden werden. In Anlehnung an Marc Augé lässt sich sagen: Ort und Transit-Ort sind fliehende Pole; der Ort verschwindet niemals vollständig, und der Transit-Ort stellt sich niemals vollständig her.47 Ein Bahnhof, ein Hotel oder auch ein ganzes Stadtviertel können transitorisch genutzt werden, dennoch sind diese Orte langfristig existent und strukturell wiedererkennbar. So ist beispielsweise der Bahnhof in Atlanta das älteste Gebäude der Stadt und hat alle vermeintlich statischen Bauwerke überdauert.48 Auch finden sich innerhalb der Transit-Orte weitere Unterorte oder Personengruppen, die einer eindeutig transitorischen Zuschreibung entgegenwirken. Am Bahnhof gibt es Restaurants, die zum Bleiben einladen, im Hotel ›Wellnessoasen‹, die den Gästen Ruhepausen versprechen. Die Angestellten eines Flughafens nutzen ihren Arbeitsort vermutlich wenig transitorisch, sondern als verlässliche Struktur, um für ein geregeltes Einkommen zu sorgen. Umgekehrt gibt es auch an Orten, die wenig transitorisch genutzt werden, einzelne Bereiche mit erhöhtem ›Durchgangsverkehr‹, wie etwa im Flur eines Wohnhauses. So wie Räume erst im Handeln generiert werden, entscheidet auch erst die Nutzung über das Transitorische eines Ortes. »Die Orte können flüchtig sein oder fixiert«49, stellt Martina Löw fest, und dieser Faktor kann etwa stadtplanerisch beeinflusst werden, wie der Raumplaner Robert Müller in Bezug auf ein Stadtviertel in Luzern anmerkt: »Die Fluktuation in diesem Quartier ist extrem hoch, die Leute identifizieren sich wenig mit diesem Ort, sondern erleben es eher als Durchgangsort. Es gibt günstige Wohnmöglichkeiten, deswegen kommt man hierher, und sobald sich dann irgendetwas anderes ergibt, zieht man wieder weg. Von daher hat man schon probiert, Impulse zu schaffen, wo dieses all zu schnelle Durchgehen ein bisschen gestoppt wird. 46 Certeau 1988, 197. 47 Augé formuliert dies analog zu Orten und ›Nicht-Orten‹ (vgl. Augé 2010, 83 f.). Der Begriff des Nicht-Orts wird im nächsten Kapitel diskutiert. 48 Der Bahnhof wurde 1869 gebaut und steht bis heute. Vgl. Storey o. J., Abs. 1. 49 Löw 2001, 203.

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[...] Ich glaube schon, es gibt verschiedene Gruppen von Leuten, die da leben. Die einen versuchen, sich da zu verorten, und dann gibt es schon den größeren Teil, der wirklich das nur so als Durchgangsort nutzt.«50

In dieser Diagnose deutet sich an, wie veränderlich und vielschichtig der Begriff des Transit-Orts ist, der letztlich auf jeden Bereich des vergänglichen menschlichen Lebens gedehnt werden kann.51 Im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen deshalb weniger die Kriterien zur exakten Lokalisierung und Quantifizierung der Transit-Orte als die Fragen, was das Transitorische eigentlich ausmacht und wie das Transitorische, wenn es denn mehrheitlich in Bezug auf Orte erlebt wird, die Orte verändert und dynamisiert. Die Orte, die in den später untersuchten literarischen Texten eine zentrale Rolle spielen – Eisenbahn, Hotel, Hafen und Flughafen –, sind weder die einzigen noch die einzig bedeutsamen Transit-Orte. Autobahnraststätten, Warenhäuser, Stadien oder Strände lassen sich ebenfalls als wichtige Transit-Orte der Moderne identifizieren.52 Dennoch gehören die hier behandelten Orte auch alltagsweltlich zu den wichtigsten Transit-Orten im deutschsprachigen Raum, weil hier nicht nur mehrheitlich, sondern auch massenhaft Platzierungen stattfinden, die auf den Durchgang von Personen und Gütern ausgerichtet sind. Die Auswahl zeigt auch, dass Transit-Orte im Verständnis dieser Untersuchung nicht auf ihre Erscheinungsform als Verkehrsgebäude beschränkt sind. Auch die Verkehrsmittel und sogar Verkehrsstrecken, also Bahnschienen oder Flugstrecken, können Transit-Orte sein, wenn sie zum Teil einer Passage werden und somit auf den Durchgang des Platzierten ausgerichtet sind. Auch wenn es zunächst ungewöhnlich erscheint, eine Eisenbahn ebenso wie ihre Schienen und einen Flughafen ebenso wie die Flugstrecken als Orte zu defi50 Gemeint ist das sogenannte BaBeL-Stadtviertel (Basel-/Bernstraße Luzern). Das Zitat stammt aus einem Interview für das Architekturprojekt Stadtlabor Luzern (Blum 2008, 00:01:22-00:02:15). 51 Auf jeden Bereich des Lebens – und darüber hinaus: Transitus meint im Kirchenlatein den Übergang in eine andere Welt nach dem Tod. Anna Seghers hat diese Bedeutungsebene in ihren Roman Transit einfließen lassen. Siehe Kapitel ›Fragwürdig, windig, transitär: Transit‹. 52 Forschungsansätze hierzu finden sich in dem Sammelband Orte der Moderne von Alexa Geisthövel und Habbo Knoch (2005). Darin werden unter anderem die genannten Orte behandelt, allerdings nicht primär im Hinblick auf Aspekte des Transitorischen.

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nieren, ist dies ist aus relationaler Perspektive folgerichtig, da sich Raum- und Ortszusammenhänge primär über gemeinsame Handlungen herstellen und nicht über tradierte Gebäude- oder Containervorstellungen. Wenn ein Reisender am Flughafenterminal eincheckt, das Flugzeug besteigt, dieses Flugzeug einer festgelegten Flugstrecke folgt53, an einem anderen Flughafen zwischenlandet und weiterfliegt, so sind dies alles Orte, die gleichberechtigt als Teil des TransitRaums wahrgenommen, vorgestellt oder erinnert werden können. Die Reise endet nicht mit dem Betreten des Flugzeugs und wird ortlos, bis der nächste Flughafen erreicht ist; vielmehr bilden die Verkehrsmittel und Verkehrsstrecken der Welt gemeinsam mit ihren angeschlossenen Gebäuden ein translokales Netzwerk von Orten. Was aber genau macht diese ausgewählten Orte zu Transit-Orten? Was passiert mit Orten, wenn sie als transitorisch erlebt werden? Diese zentrale Fragen differenziert zu beantworten – sowohl in kulturwissenschaftlicher als auch speziell in literaturwissenschaftlicher Hinsicht –, wird erst nach der eingehenden Untersuchung einzelner Transit-Orte möglich sein. Dennoch lassen sich einige theoretische Vorüberlegungen anstellen. Das Wort ›Transit‹ setzt sich aus dem lateinischen trans (›durch‹) und ire (›gehen‹)54 zusammen. Transit-Orte sind demnach in direkter Übersetzung Durchgangsorte. Ihre bestimmende Eigenschaft ist, dass durch sie hindurch gegangen wird55 oder dass sie zumindest Teil eines Durchgangs sind56. TransitOrte sind für Individuen mit dem Status des Durchgehenden, des Passagiers, konzipiert. Damit sind sie erstens notwendigerweise dynamisch. Zwar prägen auch Orte der Statik und Verhinderung das Bild der Transit-Orte, etwa Raststätten, Ruhezonen und Wartehallen. Doch so faszinierend das Motiv des verhinderten Reisenden insbesondere für die Literatur ist – ihre Wirkungsmacht entfalten Transit-Orte letztlich immer in der mehrheitlich erlebten Praxis des Durchge53 Die schienenähnliche Bewegung von Flugzeugen entlang streng reglementierter airways wird im Kapitel ›Künstliche Einöden‹ ausführlicher thematisiert. 54 it = 2. Person Singular Indikativ Präsens (›er/sie/es geht‹). 55 ›Gehen‹ meint im Folgenden auch die anderen unmittelbaren und mittelbaren menschlichen Fortbewegungsmodi (Laufen, Fahren, Fliegen etc.), so wie der Durchgang im heutigen Sprachgebrauch nicht auf das Gehen beschränkt ist. Auch ein Passagier ist heute selten ein Fußgänger, obwohl sich das Wort Passage vom Gehen ableitet (lat. passus = ›Schritt‹). 56 Durch Automobile wird beispielsweise nicht hindurchgegangen, sie lassen sich jedoch ebenfalls den Transit-Orten zurechnen, da sie Teil einer Passage sind.

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hens, in der massenhaft vollzogenen An- und Abreise, kurz: in der Dynamik des Geschehens. Zweitens deutet das Präfix trans-, das ›Durch‹ des Orts, auf eine Zielgerichtetheit der Bewegung hin, auf ein möglichst effizientes, direktes Passieren des Orts. Transit-Orte sind selten Orte des verschlungenen ›Entlang‹, ›Herum‹ oder ›Umher‹, sie sind als Orte des zielgerichteten Hindurch in der Regel gradlinig angelegt. Die Transportwege sind schon ihrem etymologischen Ursprung nach Wege, die nach einer unbedingten Optimierung verlangen – der Optimierung hin zum Ideal der geraden Linie, der kürzesten Verbindung zwischen zwei Punkten.57 Tatsächlich ist die Gradlinigkeit des modernen Transportwesens – und des Transitorischen im Allgemeinen – ein Phänomen, das von fundamentaler Bedeutung für die Entwicklung der westlichen Kultur ist. Diese Zusammenhänge hat der britische Anthropologe Tim Ingold in seiner Monografie Lines: A Brief History umfassend dargelegt. Er unterscheidet darin die Bewegungsmodi nichtwestlicher Kulturen, etwa der jagenden Inuit, grundlegend von denen der westlichen, etwa der Briten zur Kolonialzeit. Bezeichnenderweise verwendet er für den ersten, eher in Schnörkeln und Kurven ausgeführten Bewegungsmodus den Begriff wayfaring, während die westliche Variante der gradlinige transport ist: »In brief, whereas the Inuit moved through the world along paths of travel, the British sailed across what they saw as the surface of the globe. Both kinds of movement, along and across, may be described by lines, but they are lines of fundamentally different kinds. [...] In what follows I shall link this difference to one between two modalities of travel that I shall call, respectively, wayfaring and transport. [...] Unlike wayfaring [...], transport is destination-oriented. It is not so much a development along a way of life as a carrying across, from location to location [...]. For the transported

57 Diese Überlegungen setzen voraus, dass es sich bei Transit-Orten immer auch um Transport-Orte handelt, also Orte, die Menschen oder Güter transportieren (wie die Eisenbahn) oder Teil einer Transportroute sind (wie das Hotel und der Hafen). Dies bedeutet, dass etwa die Kneipe oder das Kaffeehaus – beides vielfach literarisch bespielte Orte – keine Transit-Orte im Sinne dieser Untersuchung sind. Auch das allein zu Urlaubs- und Erholungszwecken aufgesuchte Hotel (das residential hotel, vgl. Denby 1998, 26 f.) ist in dieser Hinsicht problematisch, stellt aber durch seinen Transportort im Inneren, den Lift, immerhin eine Mischform dar (siehe Kapitel ›Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein Ende‹). Ob bestimmte Nicht-Transport-Orte dennoch als dezidiert transitorische Orte angesehen werden können, ist eine interessante weitergehende Forschungsfrage.

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traveller and his baggage, [...] every port [is] a point of re-entry into a world from which he has been temporarily exiled whilst in transit.«58

Die Linien des Transports, so bilanziert Ingold, »are typically straight and regular, and intersect only at nodal points of power«.59 Die Implikationen und Auswirkungen dieser ›Ideologie der geraden Linien‹ sind außerordentlich vielschichtig; die Argumentation Ingolds soll hier nur angedeutet werden, um die latenten Beziehungen zwischen dem Transitorischen und dem Gradlinigen zu verdeutlichen. Das bedeutet nicht, dass jede Bewegung im Transit eine gradlinige sein muss; gerade aus der Differenz zwischen dem orientierten Ort und den desorientierten Passagieren können Spannungen entstehen, die auch für die literarische Darstellung reizvoll sind. Diese Spannungen sind ein Hinweis auf ein drittes Merkmal von TransitOrten: Sie sind paradoxe Orte. Die Paradoxie ist in der Wortzusammensetzung aus ›Durchgang‹ und ›Ort‹ bereits angelegt. Zuvor wurden Orte als relativ stabile Konfigurationen beschrieben, die den flüchtigen Räumen Halt geben, um sich zu ver-orten. Der Durchgang zeichnet sich jedoch gerade dadurch aus, dass er nicht zum Verweilen einlädt, sondern zum möglichst reibungslosen Passieren, zu einer permanenten Instabilität. Das Eingangszitat des Kapitels bringt dieses Problem auf den Punkt: Wenn Michel de Certeau anmerkt, Gehen bedeute, den Ort zu verfehlen60, dann ist ein Ort, der aus Gehenden besteht, ein Widerspruch in sich. Oder, um es in raumsoziologischer Terminologie zu formulieren: Wenn Orte durch Platzierungen entstehen, dann ist ein Ort, der sich aus Deplatzierten zusammensetzt, ein paradoxer Ort. Präzisieren lässt sich dieser Konflikt als Spannung zwischen dem Ort als Ziel von Platzierungen und der ebenfalls zielgerichteten Ausrichtung auf den Durchgang. Es gibt hier also mehrere konkurrierende Ziele: Einerseits haben die Platzierungen ein erstes, unmittelbares Ziel – ein Reisender platziert sich beispielsweise am Bahnsteig in einer wartenden Menschenmenge. Diese Platzierung stellt eine in sich abgeschlossene Handlung dar, die den Transit-Ort funktional und strukturell bestätigt. Andererseits wird dieses Ziel überlagert von einem zweiten, ebenfalls geografisch markierten Ziel, dem Ziel der Reise. Die Akteure am Transit-Ort platzieren sich zwar im Hier, jedoch nur, um an ein fernes, perspektivisches Dort zu 58 Ingold 2007, 75 ff. 59 Ingold 2007, 81. 60 Vgl. Certeau 1988, 197.

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gelangen: »Alle sind jederzeit auf dem Weg an einen Ort, der wichtiger ist als der Derzeitige«61, stellt Jörg auf dem Hövel im Hinblick auf den Flughafen fest. Angesichts dieses zweiten, übergeordneten Ziels wird der Durchgangsort zu einem bloßen Zwischenziel für Platzierungen degradiert und die Ergebnisse der Platzierungen zu Zwischenergebnissen. Die Reise, die den Transit-Ort überhaupt erst hervorbringt, legitimiert und stabilisiert, ist gleichzeitig die Ursache für dessen Destabilisierung. Über die Beschreibung der konkurrierenden Ziele lässt sich der Konflikt näher bestimmen – auflösen lässt er sich letztlich nicht. Das eigenwillige Changieren zwischen struktureller Bestätigung und Auflösung kennzeichnet den TransitOrt maßgeblich und hat weitreichende Folgen auch für die literarische Repräsentation von Transiterfahrungen. Den Transit-Ort literarisch darstellen zu wollen, bedeutet immer auch, sich mit seinen Ambivalenzen, Konflikten und seiner inneren Widersprüchlichkeit auseinanderzusetzen. Viertens ist der Transit-Ort – die Ausführungen über die Zwischenziele und -ergebnisse haben es bereits angedeutet – ein Ort des Dazwischen und damit der Entgrenzung. Der Reisende ist nicht mehr an seinem Ursprungsort, aber auch noch nicht an seinem Zielort; er befindet sich in einem Schwebezustand des Noch-Nicht und Nicht-Mehr. Damit fügt er dem Hier und dem Dort eine dritte Dimension hinzu, die sich aus der relativen Lage von Ursprung und Ziel ergibt, die aber selbst relativ unbestimmt bleibt: Der Reisende im Transit befindet sich irgendwo zwischen hier und dort. Diese relative Positionslosigkeit ist zunächst einmal ein geografisches Phänomen, das sich besonders stark im deterritorialisierten Niemandsland zwischen Nationalstaaten oder in den staatenlosen Transitbereichen moderner Flughäfen beobachten lässt. Es lässt sich aber auch noch weiter deuten, im Sinne einer Auflösung fester Positionen im Hinblick auf politische, soziale oder kulturelle Differenzen. Sich im Transit zu treffen heißt, sich in jeder Hinsicht ›auf neutralem Gebiet‹ zu treffen, fernab gewohnter Positionsbestimmungen. So können Transit-Orte den Raum für das Andere öffnen. Sie sind nicht nur entgrenzte Orte – also Orte zwischen territorialen oder nationalstaatlichen Grenzen – sondern auch entgrenzende Orte, die Ordnungen in Frage stellen und Strukturen neu verhandelbar machen können.62 61 Auf dem Hövel 2006, Abs. 4. 62 Dass Phasen des Übergangs und der Schwelle Grunderfahrungen der menschlichen Existenz darstellen, die wichtig sind, um Ordnungen und Strukturen kritisch zu hinterfragen, hat der Ethnologe Victor Turner in seiner Studie Betwixt and Between

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Fünftens sind Transit-Orte flüchtige Orte – ein Aspekt, der sich vorwiegend auf die zeitliche Dimension bezieht, auf die Kurzzeitigkeit von Begegnungen und Zuständen an den Transit-Orten. Die Flüchtigkeit wirkt sich aber auch räumlich aus, in der bereits angesprochenen Instabilität räumlicher Konfigurationen. Dieses Merkmal ist mit den bisher genannten eng verbunden, folgt jedoch nicht notwendigerweise aus ihnen. So ließen sich etwa Wallfahrtsorte durchaus als dynamische, gradlinig bereiste, entgrenzende und vielleicht auch paradoxe Orte beschreiben; sie definieren sich allerdings gerade aus ihrer bleibenden Konfiguration über die Jahrtausende hinweg und widerstreben damit einer eindeutigen Auslegung als Transit-Orte. Erst der Eindruck des Flüchtigen, des NichtBleibenden, macht den Ort vollständig zum Transit-Ort. Das Flüchtige steht also in direkter Opposition zum Bleibenden. Spricht man vom Transit-Ort als Ort, an dem man sich aufhält, ohne zu bleiben, ist damit vor allem das Flüchtige angesprochen. Die Entscheidung gegen das Bleiben kann eine frei gewählte sein, sie kann aber auch durch die äußeren Bedingungen gefördert bis erzwungen werden. In letzterem Fall würde man nicht mehr von einem flüchtigen, sondern vom Extrem eines Fluchtorts sprechen, einem Ort, der während einer Flucht kurzzeitig aufgesucht wird. Die touristische Reiseroute wird hierbei durch die Fluchtroute ersetzt, der Reisende wird zum Flüchtling. Dass Flüchtigkeit von Flucht kommt63, und dass Transit- und Flüchtlingsbewegungen artverwandt sind – diese Überlegungen werden vermutlich insbesondere bei der Untersuchung der Texte aus den 1930er und 40er Jahren bedeutsam werden. Wenn der Transit-Ort nun also ein Ort ist, der darauf ausgerichtet ist, ihn möglichst direkt und schnell wieder zu verlassen, wenn er ein Ort ist, der sich im Nirgendwo zu befinden scheint, und wenn er ein Ort ist, der von seinen Akteuren permanent verfehlt wird – ist er dann überhaupt noch ein Ort? Zumindest scheint mit den Orten etwas zu passieren, das sich mit Entleerung umschreiben lässt. Dies wäre ein mögliches sechstes Merkmal: Wenn hier alle auf dem Weg an ei-

(1967) aufgezeigt. Er knüpft darin an den Begriff der Liminalität von Arnold van Gennep an. Liminalität beschreibt den typischen Schwellenzustand eines Individuums zwischen Ablösung und Integration. Auch das Konzept des third space von Homi K. Bhaba und Edward Soja lässt sich auf die raumöffnende Wirkung transitorischer Orte beziehen (vgl. Soja 1996, Bhabha 2004). 63 Ursprünglich bezeichnet ›flüchtig‹ ausschließlich das Fliehen vor etwas (mhd. vlühtec, ahd. fluhtīc »fliehend«). Die Bedeutung von ›flüchtig‹ als ›oberflächlich‹ oder ›vergänglich‹ ist erst seit dem 18. Jahrhundert verbreitet (vgl. Kluge 2002, 304 f.).

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nen Ort sind, der »wichtiger ist als der Derzeitige«64, ist dann nicht im Umkehrschluss der Transit-Ort der unwichtige, der unbedeutende, der semantisch entleerte Ort?

V OM T RANSIT -O RT

ZUM

N ICHT -O RT ?

Einen radikalen Schluss haben Michel de Certeau und – daran anknüpfend – der Ethnologe Marc Augé aus der semantischen Leere der Transit-Orte gezogen. Da das Transitorische das Wesen des Orts gewissermaßen negiert, haben sie Schauplätzen wie dem Flughafen ihren Ortscharakter gänzlich abgesprochen und diese als ›Nicht-Orte‹ (non-lieux) bezeichnet. Ist dieser Begriff für die Analyse von Transit-Orten hilfreich? Michel de Certeaus Hauptwerk Kunst des Handelns zufolge sind Nicht-Orte überall in der Stadt zu finden. Sie entstehen in der Alltagspraxis des Gehens: Indem der Gehende den Ort verfehlt und an ihm nur vorübergeht, verwandelt er den statischen, einzigartigen Ort in eine neue, dynamische Form. Eine Wegstrecke, Route oder Passage von der eigenen Wohnung vorbei an einem Theater, über einen Marktplatz hin zu einem Bahnhof konstituiert demnach einen Raum, bei dem der einzelne Wegpunkt ›Theater‹ eine ganz andere Qualität hat als das Theater selbst mit seinen Spielplänen, Schauspielern und Sälen. Man muss über das Theater nichts wissen, um es zum Teil einer Route zu machen; es wird semantisch entleert.65 Damit verliert es seinen Ortscharakter und wird en passant zum Nicht-Ort, so wie der Mensch zum Passanten wird. Nach Certeau können also praktisch alle Orte zu Nicht-Orten werden, nicht allein die klassischen Transit-Orte des Massenverkehrs. Letzteren kommt allerdings eine besondere Rolle zu, weil sie fundamental auf die Passage ausgerichtet sind. Sie sind die Hauptschauplätze des Gehens. Deshalb bezieht sich Certeau in seiner Abhandlung Kunst des Handelns häufig auf Orte wie Zugabteil, Waggon, Schiff oder Flugzeug.66 64 Auf dem Hövel 2006, Abs. 4. 65 Diese »seltsame Toponymie, die von den Orten abgelöst ist und über der Stadt wie eine ›Bedeutungs‹-Geographie in den Wolken schwebt« (Certeau 1988, 200) zeigt sich heute besonders deutlich in den elektronischen GPS-Navigationsgeräten, deren – über den Wolken schwebende – Satellitensender ein ganz auf die Passage optimiertes, virtuelles Routenerlebnis ermöglichen. 66 Vgl. Certeau 1988, 209 ff.

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Mit der Praxis des Gehens konzentriert sich Certeau bei der Entstehung von Orten stark auf das individuelle Handeln – ebenjene Kunst des Handelns – und vernachlässigt die gesellschaftliche Strukturdimension. Das Gehen als prozessuale Handlung des Einzelnen steht im Mittelpunkt der Ortskonstitution, sein Ablauf allein verwandelt »den Ort, von dem er ausgeht (ein Ursprung)« in den »Nicht-Ort, den er erzeugt (eine Art des ›Vorübergehens‹)«67. Der Nicht-Ort existiert sozusagen nur ›vorübergehend‹ im Kopf des Gehenden, während er auf der Suche nach einem Ort ist: »[Gehen] ist der unendliche Prozeß, abwesend zu sein und nach einem Eigenen zu suchen. Das Herumirren, das die Stadt vervielfacht und verstärkt, macht daraus eine ungeheure gesellschaftliche Erfahrung des Fehlens eines Ortes.«68

Setzt man gesellschaftliche Erfahrung ausschließlich aus herumirrenden Subjekten zusammen, kann man tatsächlich zu dem Urteil kommen, dass der Ort im Gehen aufhört zu existieren. Die Flughäfen, Hotels und Häfen dieser Welt tun dies aber offensichtlich nicht – sie sind auch persistente Gebäudekonstruktionen und gesellschaftliche Strukturen, die über individuelles Handeln hinaus eine relevante Wirkung ausüben. Auch wenn Certeaus Ortsbegriff bereits Züge der relationalen Raumtheorie trägt, ist sein Begriff des Nicht-Orts ein tendenziell relativistischer. Dennoch sind die Beobachtungen aufschlussreich, die Michel de Certeau innerhalb der Handlungsdimension macht – wie das Gehen den Raum belebt, wie die Passagiere den Ort verändern. Bemerkenswert ist vor allem, dass sich durch das Gehen entlang von Wegpunkten neue Möglichkeiten der Bedeutungszuschreibung ergeben: »[Die Eigennamen der Wegpunkte, L.W.] bieten den Passanten vielerlei Bedeutungen (Polysemien) an; sie lösen sich von den Stellen, die sie definieren sollten, und dienen als imaginäre Treffpunkte für Reisen [...]. Sie werden dadurch zu befreiten Räumen, die besetzt werden können. Ihre weitestgehende Unbestimmtheit, die zu einer semantischen Verknappung führt, gibt ihnen die Möglichkeit, über der Geographie der verbotenen oder erlaubten buchstäblichen Bedeutung eine zweite, poetische Geographie zu formulieren.«69

67 Certeau 1988, 197. 68 Certeau 1988, 197. 69 Certeau 1988, 199 f.

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So ermöglicht das Gehen, den städtischen Raum zu flexibilisieren und institutionalisierte Strukturen zu überwinden. Diese raumöffnende Andersartigkeit wurde bereits in Bezug auf das Merkmal Entgrenzung theoretisiert; auch nach Certeau ist sie charakteristisch für Orte des Reisens und des Transits: »[Die Eigennamen der Wegpunkte, L.W.] ermöglichen andere Reisen innerhalb der funktionalistischen und historischen Verkehrsordnung. Das Gehen folgt ihnen: ›Ich fülle diesen großen leeren Raum mit einem schönen Namen‹.« »Die körperliche Fortbewegung hat die Funktion des herumwandernden ›Aberglaubens‹ von früher und heute. Die Reise ist (wie das Gehen) ein Ersatz für die Legenden, die den Raum für das Andere öffneten.«70

Auch wenn der Begriff ›Nicht-Ort‹ den Transit-Ort nur ungenau erfasst, hat seine ›Nichtigkeit‹ im Sinne von Nicht-Bestimmtheit also Auswirkungen, die für die Beschreibung von Transit-Orten von Bedeutung sind. Gerade weil TransitOrte nur Zwischenziele und Zwischenergebnisse darstellen, also funktional in sich weniger geschlossen sind, öffnen sie den Raum für das Andere. Statt von Nicht-Orten könnte man also von Transit-Orten als den nicht bestimmten Orten sprechen, die – zumindest auf der Handlungsebene – permanent in einem Zustand des Provisorischen verharren, und denen gerade deshalb die Möglichkeit offen steht, zu anderen Orten der Gesellschaft zu werden.71 Neben Certeau hat insbesondere der 1992 erschienene Essay Non-Lieux: Introduction à une anthropologie de la surmodernité von Marc Augé die Diskussion um die Nicht-Orte der modernen Gesellschaft geprägt. Augé beruft sich zwar auf Certeau, doch seine Definition des Nicht-Orts weicht von seinem Vordenker ab. Ist sie damit für die relationale Analyse von Transit-Räumen geeigneter? Das Flächenmaß für seine Zeitdiagnose bestimmt Marc Augé wie folgt: »Nicht-Orte [sind] das Maß unserer Zeit, ein Maß, das sich quantifizieren lässt und das man nehmen könnte, indem man [...] die Summe bildete aus den Flugstrecken, den Bahnlinien und den Autobahnen, den mobilen Behausungen, die man als ›Verkehrsmittel‹ bezeichnet (Flugzeuge, Eisenbahnen, Automobile), den Flughäfen, Bahnhöfen und Raumsta-

70 Certeau 1988, 200, 203, Hervorhebungen L.W. 71 Damit stehen sie den Heterotopien Foucaults nahe, die im Kapitel ›Exkurs: TransitRäume als Heterotopien‹ diskutiert werden.

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tionen, den großen Hotelketten, den Freizeitparks, den Einkaufszentren und schließlich dem komplizierten Gewirr der verkabelten oder drahtlosen Netze [...].«72

Damit bezieht sich Augé stärker als Certeau auf die Struktur der Nicht-Orte, die sich als transitorisches Netzwerk von Orten beschreiben lässt. Sogar die Verknüpfung von Verkehrsmitteln, Verkehrsgebäuden und Verkehrsstrecken wird bei Augé bereits berücksichtigt, wenn er sowohl von Flugzeugen als auch von Flughäfen und Flugstrecken spricht.73 Zu den Nicht-Orten zählt Augé also quantitativ ziemlich genau das, was auch in dieser Untersuchung zu den Transit-Orten gerechnet wird. Der Unterschied liegt in der qualitativen Bewertung dieser Orte: Im Gegensatz zu Certeau, der die Nicht-Orte zwar als Negation formuliert, aber keineswegs negativ bewertet, beschreibt Augé die Nicht-Orte als tatsächlich abwertend gemeinte negative Orte. Das gegenkulturelle Potenzial der Nicht-Orte bleibt wenig beachtet; stattdessen wird ihre ›Unzurechnungsfähigkeit‹ hervorgehoben: So bilanziert Augé etwas verkürzt, Michel de Certeau wolle mit dem Begriff des Nicht-Orts vor allem auf eine »negative Qualität des Ortes aufmerksam machen, auf den Umstand nämlich, dass der Ort aufgrund des Namens, den man ihm gibt, nicht ganz bei sich ist«74. Augés Essay ist also in erster Linie eine Kulturkritik, die die funktionale Schwäche der Nicht-Orte hervorhebt und ihre Ausbreitung in der Spätmoderne problematisiert.75 Den Nicht-Ort definiert Augé schließlich wie folgt: »So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort. Unsere Hypothese lautet nun, dass die ›Übermoderne‹

72 Augé 2010, 84. 73 An anderer Stelle hebt Augé dies noch einmal hervor: »Zu den Nicht-Orten gehören die für den beschleunigten Verkehr von Personen und Gütern erforderlichen Einrichtungen (Schnellstraßen, Autobahnkreuze, Flughäfen) ebenso wie die Verkehrsmittel selbst« (Augé 2010, 42). 74 Augé 2010, 89. 75 Zu Augés Essay stellt auch Heiko Christians in seiner kulturwissenschaftlichen Studie Landschaftlicher Raum fest: »Unübersehbar findet hier eine ›Kritik des Raumes‹ bzw. der Raumerfahrung – und damit des Subjekts – als Kulturkritik statt« (Christians 2010, 251).

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Nicht-Orte hervorbringt, also Räume, die selbst keine anthropologischen Orte sind und [...] die alten Orte nicht integrieren [...].«76

Abgesehen davon, dass Marc Augé – auch im französischen Original – Raum und Ort nur unscharf trennt77, lässt sich hier bereits sein ›defizitärer‹ Zugang erkennen: Er betrachtet den Nicht-Ort ausschließlich über den Mangel. Dem Nicht-Ort mangelt es an allem, was der anthropologische Ort78 bereithält: Identität, Relation, Geschichte. Identität meint dabei, dass die traditionellen Orte noch ›ganz bei sich sind‹. Sie haben genau einen spezifischen Eigennamen – eine Identität – und sind als solche lokalisier- und benennbar. Ein Restaurant mit einem spezifischen Eigennamen, etwa ›Restaurant Blaue Blume‹, ist damit in seinem lokalen Kontext eindeutig identifizierbar. Dem standardisierten Nicht-Ort-Restaurant einer FastFood-Kette fehlt diese Qualität. Man geht ›zu McDonald’s‹ und meint damit eher das netzwerkartig über den Globus verteilte, nur schwach verortbare Franchiseunternehmen als die konkrete Filiale. Für die Menschen bedeutet das auch, sich weniger mit dem Ort identifizieren zu können, wie der für seine McDonaldisierungs-These bekannte Soziologe George Ritzer ergänzt: »Die Menschen nennen ihr Lieblings-Diner vielleicht ›ihr‹ Diner, aber es ist kaum vorstellbar, dass besonders viele Menschen ein beliebiges Fastfood-Restaurant als das ›Ihre‹ betrachten. [...] Sie entwickeln vielleicht ein Maß an Identität mit der Kette an sich (z.B. Pizza Hut), aber es ist unwahrscheinlich, dass sie sich mit einer bestimmten Niederlassung identifizieren, die sich immerhin kaum von den anderen Filialen unterscheiden lässt.«79

So wird über die Identität der Orte auch die Identität ihrer Bewohner problematisiert. Die Nicht-Orte sind »Orte ohne Selbst«, hebt Peter Sloterdijk hervor, »Orte, an denen Menschen zusammenkommen, ohne jedoch ihre Identität an die Lo76 Augé 2010, 83. 77 Dies zeigt sich etwa in den Textstellen »so definiert ein Raum [...] einen Nicht-Ort« oder »Räume, die selbst keine anthropologischen Orte sind« (Augé 2010, 83) und ihren Entsprechungen im Original: »un espace [...] definera un non-lieu« / »d’espaces qui ne sont pas eux-mêmes des lieux anthropologiques« (Augé 1992, 100). 78 Die Bezeichnung ›anthropologischer Ort‹ verwendet Augé aufgrund seiner Forschungsperspektive; da die bisherige Ortsdefinition menschliches Handeln ohnehin voraussetzt, wird der Zusatz ›anthropologisch‹ hier vernachlässigt. 79 Ritzer 2005, 101.

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kalität binden zu wollen oder zu können. [...] Es ist ihnen eigentümlich, ihre Bewohner und Passanten nicht zu halten«80. Mit der Relation meint Augé zweitens die Einbettung in bestehende lokale Bindungen, also die Verwurzelung des Orts. Wurde Spacing am traditionellen Ort als ein »Positionieren in Relation zu anderen Plazierungen«81 bezeichnet, ist diese Relation am Nicht-Ort geschwächt, er orientiert sich vorwiegend an sich selbst und integriert sich nur wenig in seine Umgebung. Die Autobahnen durchstoßen die Landschaft nur noch, statt sie dem Reisenden nahezubringen, und die Eisenbahngleise sind im Vergleich zu den alten Stadt- und Dorfstraßen geradezu taktlos: »Der Zug [...] war schon immer indiskreter und ist es heute noch. Die Eisenbahn, deren Trasse häufig hinter den Häusern der Ortschaften verläuft, überrascht Städter und Dörfler in der Intimität ihres Alltags, nicht auf ihrer Fassadenseite, sondern ihrer Gartenseite, nicht in der Küche, sondern im Schlafzimmer [...].«82

Gemeint ist also die bereits diskutierte Gradlinigkeit von Transit-Orten, das kompromisslose Durch des Transits, das hier allerdings wiederum negativ gefärbt erscheint.83 Bezeichnet die Relation bei Augé vor allem eine räumliche Bindung, ist mit der dritten Eigenschaft ›Geschichte‹ eine zeitliche Bindung gemeint, also die Wirksamkeit des Ortes über die Zeit hinweg. »Der Bewohner des anthropologischen Ortes lebt in der Geschichte«84: Sein Ort kann sich zwar wandeln, ist aber 80 Sloterdijk 2001, 1000. Wie Augé bezieht sich Sloterdijk dabei konkret auf »TransitRäume im engeren und weiteren Sinne des Wortes, seien es Örtlichkeiten, die für den Verkehr bestimmt sind wie Bahnhöfe, Häfen und Flughäfen, Straßen, Plätze und Einkaufszentren, seien es Anlagen, die für limitierte Aufenthalte entworfen sind wie Feriendörfer oder Tourismusstädte, Werksgelände oder Nachtasyle«. Dies seien Orte, »zu denen für die Menschen, die sie frequentieren, kein wohnendes Verhältnis möglich ist« (Sloterdijk 2001, 1000 f.). 81 Löw 2001, 158. 82 Augé 2010, 100. 83 So erscheint die direkte Linienführung der modernen Transportwege bei Augé vornehmlich als ruhestörendes Ärgernis, während Tim Ingold die gerade Linie als komplexes kulturelles Phänomen identifiziert und ihr auch positives Potenzial zuschreibt (siehe Kapitel ›Vom Ort zum Transit-Ort‹). 84 Augé 2010, 61.

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immer als Resultat historischer Ereignisse erkennbar. Die Vergangenheit ist am Ort ständig präsent, etwa in den traditionellen Festen der französischen Dorfbevölkerung.85 Dem Nicht-Ort mangelt es nach Augé auch an diesem Gewachsensein – hier erinnert nichts an die Vergangenheit, der Passagier lebt ganz in der Gegenwart: »Insgesamt macht das den Eindruck, als hätte die Zeit den Raum eingefangen, als gäbe es keine andere Geschichte als die Nachrichten des Tages oder des Vortages, als schöpfte jede individuelle Geschichte ihre Motive, Worte und Bilder aus dem unerschöpflichen Vorrat einer unversiegbaren Geschichte in der Gegenwart. [...] Unter dem Ansturm der Bilder [...] macht der Passagier der Nicht-Orte die Erfahrung der ewigen Gegenwart [...].«86

Über die drei Merkmale Identität, Relation und Geschichte beschreibt Augé präzise die Probleme moderner transitorischer Orte. Es wird sich zeigen, dass die literarische Beschreibung von Transit-Orten häufig mit einer Problematisierung ähnlicher Merkmale einhergeht. Auch die Beschreibung der Nicht-Ort-Fläche als translokales Netzwerk zeigt die Aktualität des Essays Orte und Nicht-Orte. Der Nachteil von Augés Perspektive ist jedoch, dass sie das Transitorische ausschließlich über den Mangel definiert und die spezifischen kulturellen und sozialen Prozesse am Transit-Ort aus dem Blick verliert. So kommt Augé letztlich zu dem Schluss: »Das soziale Spiel scheint anderswo als an den Vorposten der Gegenwart stattzufinden. [...] Der Nicht-Ort ist das Gegenteil der Utopie; er existiert, und er beherbergt keinerlei organische Gesellschaft.«87 Ausgerechnet den Orten, an denen die moderne Gesellschaft massenhaft zusammenkommt, spricht Augé also die Gesellschaftlichkeit ab. »Der Raum der Übermoderne [...] hat es stets nur mit Individuen zu tun (mit Kunden, Passagieren, Benutzern, Zuhörern), doch er identifiziert, sozialisiert und lokalisiert diese Individuen lediglich am Eingang oder am Ausgang.«88 Zwischen Ein- und Ausgang, also im eigentlichen Kern des Transit-Orts, entsteht aus dieser Perspektive eine räumliche Leerstelle, ein Nichts, in dem sich jegliche kultur- oder literaturwissenschaftliche Analyse von vornherein zu erüb85 Augé nennt die Fronleichnamsprozession, die Betwoche und das »Jahresfest eines örtlichen Schutzpatrons« als Beispiele, bei denen der besondere Bezug zur Geschichte für Franzosen seines Alters »noch spürbar« sei (vgl. Augé 2010, 61). 86 Augé 2010, 105. 87 Augé 2010, 110 f. 88 Augé 2010, 110.

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rigen scheint: ›Bitte weitergehen, hier gibt es nichts zu sehen und auch nichts zu erzählen‹.89 Der Nicht-Ort in der Interpretation von Augé lässt sich nur von Außen – also vom Rand des vermeintlichen Etwas her – diagnostizieren, aber ihrer inneren Konstitution wird jede Bedeutung abgesprochen. Hier kann es auch keine Transit-Räume geben, denn Räume entstehen an Orten, nicht aus dem Nichts heraus. Marc Augés Zeitdiagnose ist deshalb nicht überflüssig; so kann man durchaus kritisieren, dass Flughafenterminals überall auf der Welt ähnlich aussehen. Das heißt jedoch nicht, dass sie von der Landkarte der Orte verschwinden. Sie werden aus ganz bestimmten Gründen homogen gestaltet und homogen wahrgenommen.90 Ihnen wird eine andere Identität verliehen. Zudem entstehen durch die Homogenisierung neue, globale Bindungen – andere Relationen. Auch ihre Geschichte muss anders erzählt werden. Mitunter werden die Transit-Orte überhaupt nicht homogen erlebt, sondern gerade als einzigartige Orte der Vielfalt. Auch sind individuelle Handlungen denkbar, die sich den Prozessen der VerNichtung entgegenstellen. So berichtet der Pächter einer Autobahnraststätte in einem Interview mit dem SZ Magazin von seinen Stammgästen, die »bewusst rausfahren« und den Transit-Ort als Ort »mit eigener Atmosphäre und Identität« erleben.91 All diese Prozesse sind gesellschaftlich relevant und können wissenschaftlich untersucht werden. 89 Ihren Höhepunkt findet diese Tendenz zum Nichts in George Ritzers Die Globalisierung des Nichts, in dem die Welt in »Nicht-Orte«, »Nicht-Dinge«, »Nicht-Personen« und weitere Nichtigkeiten aufgeteilt wird, um jene anschließend in Kapiteln wie »Der Aufstieg des Nichts! Der Abstieg des Etwas?« oder »Eine Menge Nichts ist immer noch Nichts« zu erörtern (vgl. Ritzer 2005). 90 In Soziologie der Städte nennt Martina Löw beispielsweise »das aufklärerische Denken mit seinem Anspruch auf universelle Anerkennung«, den »Siegeszug des Kapitalismus« oder die »Ausweitung des rationalen Lebensstils« als ursächlich für die Homogenisierung: »So ist es die Moderne selbst und damit die Verstädterung [...], welche in ihrem konzeptionellen Rückgrat ein Streben nach Homogenisierung trägt« (Löw 2008, 124 f.). 91 »[SZ-Magazin:] Raststätte und Stammgast – das klingt wie ein Widerspruch. [Willy Habermeyer:] Kommt darauf an, wen man als Stammgast bezeichnet. Wenn ein Pharmavertreter in einem Jahr drei- oder viermal nach München fährt und dabei immer an derselben Raststätte stoppt, ist er ein Stammgast. Er hat sein Lieblingsgericht, kennt die Bedienung und weiß, wo die Toiletten sind. Wenn er dann noch gefragt wird, ob er wieder die Bratwürste mit Kraut will, ist er glücklich und kommt wieder.

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In dieser Untersuchung finden Augés Überlegungen deshalb zwar Beachtung, seine Mangelperspektive wird jedoch durch eine Differenzperspektive ersetzt. Zumindest in diesem Punkt lässt sich an Matthias Horx und dessen Aufruf anschließen: »Betrachten wir Flughäfen, Bahnhöfe, Terminals aller Art einmal nicht als ›Nicht-Orte‹, sondern als Lebenslandschaften. Mit ihrem multikulturellen Gewusel, ihrer radikalen Mehrsprachigkeit, ihrer Topografie aus ›Icons‹ und den universalen Codes ihrer Mischung aus Kommerz, Konsum und Sozialdrama sind sie längst eine Lebensform.«92

Transit-Orte sind Orte mit einer anderen, spezifischen Form von Identität, Relation und Geschichte. Diese Andersartigkeit kann sich als Mangel äußern, aber auch als Chance, gegenkulturell wirksam zu werden. Entscheidend dafür sind die spezifischen Konstruktionsleistungen am Transit-Ort, die in das Zentrum des wissenschaftlichen Interesses rücken sollten. Hierzu gehört auch die Dechiffrierung von Verschleierungstaktiken, die den Transit-Ort gewollt als ›nichtigen‹ Ort stilisieren – als einen Ort, an dem der Mensch lediglich als Konsument en passant auftreten soll, ohne als Produzent seiner eigenen Räumlichkeit wirksam zu werden.93 Die spezifische Konstruktion von Identität, Relation und Geschichte am Transit-Ort in literarischen Texten zu untersuchen, ist eine Aufgabe dieser Untersuchung. Die Bezeichnung Nicht-Ort soll dabei jedoch weitgehend vermieden werden. Falls die von Augé beschriebenen Prozesse tatsächlich Eingang in die literarische Darstellung finden, werden diese dem bereits genannten Aspekt der semantischen Leere zugeordnet. Mit dem Begriff der Entleerung wird einerseits eine absolute Setzung vermieden – kein Ort ist ganz leer, so wie kein Ort ganz nichtig ist –, andererseits wird der prozessuale Charakter des Leerens in den Vordergrund gestellt.

Es gibt viele Menschen, die bewusst rausfahren, für die ist die Raststätte kein anonymer Ort, sondern einer mit eigener Atmosphäre und Identität« (Haberl/Heidtmann 2011, 16). 92 Horx 2008, 311. 93 Zur Atmosphäre des Raums als Verschleierung der Platzierungspraxis vgl. Löw 2001, 204 ff.

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ZUM

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Die Diskussion um die Nicht-Orte hat gezeigt, dass transitorische Orte vor allem von einer hohen Potenzialität gekennzeichnet sind und eine Vielzahl von Interpretationen zulassen – von mangelhaften, verwahrlosten »Transit-Wüsten«94 bis zu gegenkulturellen, anderen Orten. Die Transit-Räume sind demgegenüber die konkrete Umsetzung dieser Potenzialität. Ist der Raum »ein Ort, mit dem man etwas macht«95, so ist der Transit-Raum das, was entsteht, wenn man die Transit-Orte tatsächlich nutzt: Um in den Urlaub oder zur Arbeit zu fahren, Bekannte zu besuchen, vor einem Regime zu flüchten oder schlicht um sich Reiselektüre an einem Bahnhofskiosk zu kaufen, muss man die Transit-Orte aufsuchen, ihre Potenzialität in Handlungen umsetzen und sich ihren strukturellen Bedingungen aussetzen. All diese Vorgänge generieren Transit-Räume, also relationale Anordnungen von Lebewesen und sozialen Gütern an Transit-Orten. Diese Transit-Räume sind in hohem Maße heterogen, dynamisch und instabil. So kann ein und dasselbe Hotelzimmer täglich wechselnde, divergierende Anordnungen und Lageverhältnisse, Beziehungen und Beziehungskrisen, Zweiund Einsamkeiten – kurz: Hotelzimmerräume entstehen lassen, sobald sich Menschen darin platzieren. Der Ort Hotelzimmer kann einen Raum der Übereinkunft schaffen und in derselben Nacht lautstarke Auseinandersetzungen mit dem Raum des Nachbarzimmers provozieren. Umgekehrt bestätigen die Transit-Räume permanent die Transit-Orte; erst der Bedarf zur sicheren Übernachtung in der Fremde ließ Herbergen entstehen, und bis heute können Hotels nur fortbestehen, wenn sie durch Übernachtungen ökonomisch, kulturell und sozial permanent legitimiert werden. Wie Ort und Transit-Ort sind auch Raum und Transit-Raum fliehende Pole und nicht eindeutig trennbar. Gerade für Räume gilt, dass sie häufig als flüchtig erlebt werden. Räume sind »unaufhörlich in Bewegung [...], wodurch sich die (An)Ordnung selbst ständig verändert«96. Somit ist gewissermaßen jeder Raum als transitorischer Raum denkbar. Die Einsicht, »dass ›Raum‹ ohne ›Bewegung‹ nicht denkbar ist«97, wird am Transit-Raum als dem Raum der organisierten Bewegung jedoch besonders deutlich. Weil sich Transit-Räume immer an Orten konstituieren, die mehrheitlich auf den Durchgang ihrer Platzierungen ausgerich94 Sloterdijk 2001, 1000. 95 Certeau 1988, 218. 96 Löw 2001, 131. 97 Hallet/Neumann 2009b, 20.

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tet sind, lässt sich die Dynamik von Räumen hier anschaulich beobachten. Wie sich diese Dynamik äußert, vor allem übertragen auf literarische Raumkonzepte, wird genauer noch zu bestimmen sein; zumindest bieten die Transit-Räume und orte eine hochkomplexe Projektionsfläche, da an ihnen »Momente der Statik (der Einkapselung), Momente des Bewegtwerdens (der Reise) und Momente der Bewegung (des Umherstreifens im Vehikel der Bewegung)«98 zusammenkommen können, beispielsweise im Zugabteil. Als besondere Eigenschaft der Transit-Orte wurde außerdem ihre hohe Anschlussfähigkeit an Nachbarorte genannt, die ein translokales Netzwerk aus Verkehrsgebäuden, Verkehrsstrecken und Verkehrsmitteln entstehen lassen kann. Diese Eigenschaft wirkt sich auch maßgeblich auf die Transit-Räume aus: Sie erstrecken sich fast immer über mehrere Orte. Zwar kann man auch einen einzelnen Bahnhof kurzzeitig aufsuchen, sich seiner Wirkung aussetzen und ihn dann wieder verlassen. Sobald man einen Transit-Ort jedoch als Teil einer Route nutzt, weitet sich der Transit-Raum unweigerlich über mehrere Orte aus, die eng miteinander verknüpft sind. Bei einer Route beispielsweise von Berlin über Frankfurt am Main nach New York erstreckt sich der Transit-Raum als ein Raum über die Orte hinweg. Er könnte dabei etwa die konkreten Transit-Orte ›Hauptbahnhof Berlin‹, ›ICE 693‹, ›Hauptbahnhof Frankfurt‹, ›S-Bahn 8‹, ›Frankfurt Airport‹, ›Boeing 747-400‹ und ›JFK International Airport New York‹ einschließen. Mit dem Erleben, Planen oder Erinnern einer solchen Route synthetisiert jeder Reisende den TransitRaum über die Einzelorte hinweg. Er ordnet dabei die Orte nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich an.99 98 Christians 2010, 256. 99 Dies lässt vermuten, dass Transit-Räume nicht nur als relationale Anordnungen von Lebewesen und sozialen Gütern definiert werden können, sondern auch als relationale Anordnungen von Orten. Dies ist jedoch irreführend. Es gibt einen kategorischen Unterschied zwischen der Route, die tatsächlich eine Anordnung von Orten darstellt, und dem Transit-Raum. Die Route ist zwar ein wesentlicher Bestandteil jeder Reise, aber letztlich nur ein gedankliches Konstrukt. Michel de Certeau stellt fest: Die Elemente der Route »können nicht lokalisiert werden, denn sie schaffen erst den Raum. Sie sind ebensowenig faßbar wie die chinesischen Buchstaben, deren Umrisse die Sprecher mit einem Finger auf ihrer Hand skizzieren. Sicher, die Prozesse des Gehens können auf Stadtplänen eingetragen werden, indem man die [...] Spuren und die Wegbahnen [...] überträgt. Aber diese dicken oder dünnen Linien verweisen [...] lediglich auf die Abwesenheit dessen, was gewesen ist. Bei der Aufzeichnung von

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Ein weiterer Vorteil der engen Bindung von Transit-Räumen und -orten liegt in der Überwindung des Gegensatzes von Globalem und Lokalem. Im Globalisierungsdiskurs wird das Globale häufig mit »Fortschritt, Zivilisation und freien Räumen verschweißt [...], während das Lokale auf Tradition, Territorialität und Orte verweist«100, wie der Soziologe Helmuth Berking kritisch bemerkt. Die Globalisierung vollzieht sich dann als Kampf zwischen den rückständigen Orten und den modernen, globalen Räumen. Doch wie sollen diese globalen Räume aussehen, wenn man sie von den Orten trennt? Die Problematik dieser Sichtweise veranschaulicht Berking passenderweise am Beispiel des Transit-Raums der Eisenbahn: »Begriffliche Konfusionen ergeben sich immer dann, wenn das Globale und das Lokale als interne Gegensätze und als Synonyme für Raum und Ort und vice versa verwendet werden. [...] Ein kleines Gedankenexperiment mag das Dilemma verdeutlichen [...]. Das eurasische Eisenbahnnetz ist ein Verkehrssystem von nicht gerade globalen, gleichwohl beachtlichen geografischen Ausmaßen, das den Reisenden von der Südspitze Europas bis Wladiwostock, von Bergen bis Hanoi zu befördern vermag. An jedem Punkt dieser Reise finden sich Menschen, Bahnwärterhäuschen, Dörfer, Städte und Fahrkartenverkäufer. Doch niemand, nicht der Reisende und nicht der Lokführer, überquert jemals jene magische Grenze, die das Lokale vom Globalen trennt.«101

Die magische Grenze kann nicht überquert werden, weil es sie nicht gibt. Jeder globale Raum beruht auf Lokalisierungen, und umgekehrt können Orte auch global wirksam werden (wie im Beispiel der translokalen Transit-Orte). TransitOrt und Transit-Raum, Lokales und Globales bedingen einander: Fußwegen geht genau das verloren, was gewesen ist [...]« (Certeau 1988, 188). Die Route ist eine Anordnung von Orten, aber diese Anordnung ist nur metaphorisch, sie lässt sich selbst nicht lokalisieren. Zur Raumkonstitution gehört dagegen immer die Lokalisierung an Orten. Deshalb sind Transit-Raum und Route zwei zu unterscheidende Begriffe. 100 Berking 2006, 13. 101 Berking 2006, 12. Nach der Eisenbahn hat sich Helmuth Berking mit einem weiteren Transit-Ort der Moderne aus soziologischer Perspektive befasst: In Hafenstädte untersucht Berking zusammen mit Jochen Schwenk die lokalen Besonderheiten der Häfen von Bremerhaven und Rostock (Berking/Schwenk 2011). Ihre Beobachtungen zur neueren Kulturgeschichte des Hafens werden im Kapitel ›Kap der letzten Hoffnung‹ diskutiert.

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»So wenig wie das Globale als Opposition zum Lokalen, ist Raum als Opposition zu Ort hinreichend analytisch zu fassen. Raumproduktion und place-making gehören zusammen: Sie bilden ebenso wie Globalisierung und Lokalisierung, wie Re- und Deterritorialisierung keine Gegensätze, sondern zwei Seiten derselben Medaille.«102

E XKURS : T RANSIT -R ÄUME

ALS

H ETEROTOPIEN

In den bisherigen Überlegungen wurden Transit-Orte unter anderem als ›andere‹ Orte und Transit-Räume als heterogene Räume charakterisiert. Ganz ähnliche Orts- und Raumkonstruktionen hat Michel Foucault schon 1967 in seinem Essay Andere Räume beschrieben und diese als Heterotopien bezeichnet (aus gr. hetero = ›anders‹ und topos = ›Ort‹).103 Diese Heterotopien stellen Ausnahmeregionen der Gesellschaft dar, die Ähnlichkeiten mit den Transit-Orten aufweisen. Foucault stellt zunächst fest: »Es gibt gleichfalls – und das wohl in jeder Kultur, in jeder Zivilisation – wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.«104

Zu diesen tatsächlich realisierten Utopien zählen etwa die Psychiatrie, das Gefängnis, das Theater oder das Kino. Diese Einrichtungen sind Teil der Gesellschaft und existieren real, stehen jedoch zugleich außerhalb der Gesellschaft, funktionieren nach eigenen Regeln und widersprechen ihnen. So sind die Psychiatrie oder das Gefängnis sowohl innerhalb der Gesellschaft verortet (sie sind Institutionen) als auch außerhalb (in ihnen leben Menschen, die von der akzeptierten Norm abweichen). So problematisieren und reflektieren sie gesellschaftliche Normen. Kino und Theater haben eine ähnliche Doppelbelegung durch den Publikumssaal einerseits und die Leinwand oder die Bühne andererseits, die mit anderen, abweichenden Konstruktionen bespielt werden kann. 102 Berking 2006, 13. 103 Foucault 1992. Der Essay Andere Räume wurde 1967 geschrieben und 1984 erstmals veröffentlicht. 104 Foucault 1992, 39.

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Foucault unterscheidet zunächst zwischen Abweichungs- und Krisenheterotopien. Zu den Abweichungsheterotopien zählen Einrichtungen, in denen abweichendes Verhalten ritualisiert und lokalisiert wird. »In sie steckt man die Individuen, deren Verhalten abweichend ist im Verhältnis zur Norm.«105 Die Psychiatrie und das Gefängnis wurden bereits als typische Beispiele dieses Typs genannt. Auch Friedhöfe können dazu gerechnet werden – der Tod ist die Extremform der Abweichung vom Leben. Krisenheterotopien dagegen sind Individuen vorbehalten, die sich in einer krisenhaften Übergangssituation befinden und deshalb ausgelagert werden, allerdings nur zwischenzeitlich. Als Beispiele nennt Foucault den Militärdienst im 19. Jahrhundert, bei dem die heranwachsenden Männer ihre ersten sexuellen Erfahrungen ›anderswo‹ sammeln sollten, aber auch das Hotel der Hochzeitsreise im frühen 20. Jahrhundert als Ort des Nirgendwo, in dem die Entjungferung stattfand.106 Es geht bei den Heterotopien also um die Andersartigkeit von Orten – oder doch von Räumen? Bleiben die Orte nicht gleich, während sich die Art ihrer Nutzung – also die Raumkonstitution – gegenübersteht: einerseits im Einklang mit den herrschenden Normen, anderseits im Widerspruch zu ihnen? Tatsächlich bringt das Konzept der Heterotopien einige begriffliche Schwierigkeiten mit sich. Foucault unterscheidet nicht konsequent zwischen Räumen und Orten. Einerseits ist hetero topos der andere Ort, und es sind vornehmlich die Orte, die Foucault als widersprüchlich beschreibt. Andererseits heißt sein Essay Andere Räume107 und die widersprechenden Konfigurationen sind »Gegenräume« oder »Gegenplatzierungen«108. Martina Löw hat darauf hingewiesen109 , und Michael C. Frank hat den Foucaultschen topos im Lexikon der Kultur- und Literaturtheorie folgerichtig, aber unscharf mit »Ort/Raum« 110 übersetzt. Mit heutigen raumtheoretischen Überlegungen ist das Konzept der Heterotopie am ehesten in Einklang zu bringen, wenn man es als räumliches Phänomen betrachtet, das zwar Auswirkungen auf die Orte hat, sich in seiner Doppelbelegung jedoch ausschließlich auf die Raumkonstruktionen bezieht. Die »Gegen-

105 Foucault 1992, 40. 106 Vgl. Foucault 1992, 40. 107 Im Original: Des espaces autres. 108 Foucault 1992, 10, 39. 109 »Der Begriff der Heterotopien ist irreführend, weil er ein räumliches Phänomen als topisch bezeichnet« (Löw 2001, 165). 110 Frank 2008, 286.

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platzierungen oder Widerlager«111 sind räumlich, es sind Gegenräume, keine Gegenorte. Raum und Gegenraum beziehen sich jedoch auf denselben Ort. Das erst macht die besondere Spannung der Heterotopien aus: Jede Heterotopie ermöglicht Raum und Gegenraum an ein und demselben Ort.112 Damit kommentiert und spiegelt sie zugleich gesellschaftliche Verhältnisse. Um der Frage nachzugehen, ob Transit-Orte und -Räume als Heterotopien bezeichnet werden können, muss man folglich prüfen, ob Transit-Orte ebenfalls Räume und Gegenräume zugleich hervorbringen. Es wurde bereits erwähnt, dass der transitorische Schwebezustand des entgrenzten Noch-Nicht und Nicht-Mehr, in dem sich die Besucher dieser Orte tendenziell befinden, den Raum für das Andere – und somit auch für Normabweichungen – öffnen kann. Das heterogene Publikum aus »sozial Deklassierten und Stigmatisierten«113 wie Obdachlosen, Bettlern und Drogensüchtigen, das insbesondere im ausgehenden 20. Jahrhundert an den Bahnhöfen Europas zu beobachten war114 , ist ein Indiz dafür. Aber auch der gewöhnliche Reisende kann den Bahnhof als Heterotopie bestätigen, wenn er sich in seinem Zustand zwischen Platzierung und Deplatzierung gleichzeitig innerhalb und außerhalb der dominanten gesellschaftlichen Strukturen verortet fühlt. Nicht nur der Bahnhof, auch die Straße kann als »Schauplatz kurzfristiger Begegnungen und des schnellen, motorisierten Verkehrs«115 und damit als Transit-Ort für gegenkulturelle Räume sinnstiftend sein. Dies hat Martina Löw am Beispiel der Straßenkultur von Jungen aus der Arbeiterklasse (lads) in Großbritannien gezeigt.116 Die dort beobachteten Jugendlichen rebellieren gegen das Autoritätssystem der Schule, indem sie zwischen den Stunden, aber auch während der Stunden immer wieder auf die Straße vor der Schule überwechseln, um zu rauchen und sich der Kontrolle der Lehrer zu entziehen. Gerade die Flüchtigkeit und Dynamik des Straßenraums erlaubt es ihnen, ihrer Andersartigkeit Ausdruck zu verleihen – in Opposition zum fest institutionalisierten Raum der Schule: 111 Foucault 1992, 39. 112 An einer Stelle formuliert Foucault dies auch der hier verwendeten Terminologie entsprechend: »Die Heterotopie vermag an einem einzigen Ort mehrere Räume [...] zusammenzulegen, die an sich unvereinbar sind« (Foucault 1992, 42). 113 Wucherpfennig 2006, 152. 114 Vgl. Wucherpfennig 2006, 151 f. 115 Löw 2001, 242. 116 Löw 2001, 231 ff. Sie bezieht sich dabei auf eine Studie von Paul Willis aus den Jahren 1972 bis 1975.

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»Wenn Jungen aus der Arbeiterklasse den Raum ihrer Schule um den Straßenraum erweitern, dann integrieren sie ein Element ihrer Kultur in die traditionell (klein)bürgerliche Schulkultur. [...] Die symbolische Bedeutung des Straßenraums ist ›schnell/mobil‹, ›unkontrolliert‹ und ›männlich‹. Dem genau entsprechend läßt sich das Spacing der Lads charakterisieren. Sie legen Wert darauf, immer mobil zu bleiben, sich schnell zwischen Schulgebäude und Straße hin und her zu bewegen [...]. Das ›Ständig-in-Bewegung-Sein‹ ist notwendig, um die Konstitution der Straße als Teil des Schulraums aufrechtzuerhalten.«117

Die Straße wird so zur Abweichungsheterotopie. Sie ermöglicht den normgerechten Verkehrsraum – die reguläre Nutzung durch Verkehrsteilnehmer – und den Gegenraum – die abweichende, gegenkulturelle Nutzung durch die lads – an ein und demselben Ort. Auch Krisenheterotopien sind an Transit-Orten denkbar, etwa der Hafen als Exilort oder die Bahnhofsmission. Das Hotel wurde im Zusammenhang mit der Hochzeitsreise bereits genannt. Diese Überlegungen zu Transit- und Gegenräumen zu vertiefen, wäre Aufgabe einer soziologischen Forschungsarbeit; es erscheint jedoch vielversprechend, das gegenkulturelle Potenzial der Transit-Orte und -Räume auch für ihre literarischen Repräsentationen zu prüfen. Dennoch können Transit-Orte und -Räume nicht uneingeschränkt als heterotop bezeichnet werden. Im Vergleich zu Gefängnissen oder Altersheimen sind Transit-Orte funktional weniger darauf ausgerichtet, Gegenräume bereitzustellen. Das Gefängnis wurde dafür gebaut, Abweichler zu beherbergen – am Bahnhof ist ihr Aufenthalt ein von den Betreibern zunehmend unerwünschter Nebeneffekt.118 An den streng kontrollierten Flughafenterminals der Neuzeit, die eher eine »aseptische Kultur des ortlosen Immergleichen«119 schaffen, scheint eine gegenkulturelle Deutung noch weniger plausibel. Passagiere können sich am Transit-Ort eben auch innerhalb der bereits vorhandenen »funktionalistischen und historischen Verkehrsordnung«120 bewegen oder bewegen lassen. Die Konstitution von Gegenräumen bleibt in diesem Fall aus.

117 Löw 2001, 244. 118 Die entsprechenden Gegenmaßnahmen der Deutschen Bahn hat Claudia Wucherpfennig ausführlich dokumentiert und diskutiert. Vgl. Wucherpfennig 2006, 165 ff. 119 Auf dem Hövel 2006, Abs. 7. 120 Certeau 1988, 199. Siehe Anmerkung 70.

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Es gibt jedoch eine zweite, weiter gefasste Lesart der Heterotopien Foucaults. Demnach sind alle Orte heterotop, an denen sich die räumliche Fantasie in besonderer Weise entfalten und neue Räume entstehen lassen kann. Diese neuen Räume heben sich zwar von den alltäglichen Raumvorstellungen ab, müssen ihnen aber nicht zwingend entgegenwirken. Sie können auch strukturimmanent sein und Normen lediglich abbilden.121 Diese Lesart deutet sich in den Beispielen Kino und Theater an – Filme bringen zwar eine andere Räumlichkeit auf der Leinwand hervor, können aber dennoch Normen bestätigen. In einem Radiointerview, das ein Jahr vor dem Essay Andere Räume aufgezeichnet wurde, hat Foucault dies am Beispiel von Orten, an denen Kinder spielen, eindrücklich beschrieben. Er nennt in diesem Zusammenhang den Garten, den Dachboden, das Indianerzelt und das Ehebett der Eltern: »Auf diesem Bett entdeckt man das Meer, weil man zwischen den Decken schwimmen kann. Aber das Bett ist auch der Himmel, weil man auf den Federn springen kann. Es ist der Wald, weil man sich darin versteckt. Es ist die Nacht, weil man unter den Laken zum Geist wird. Und es ist schließlich die Lust, denn wenn die Eltern zurückkommen, wird man bestraft werden.«122

Später findet Foucault für solche Phänomene einen Begriff – die Illusionsheterotopie.123 Die frühen orientalischen Gärten, die in ihrem Aufbau als Mikrokosmos die ganze Welt symbolhaft abbilden sollten, erfüllten eine ähnliche Funktion: ein Ort, viele imaginäre Räume.124 Nach dieser Lesart fällt es nicht schwer, Transit-Orte und -Räume als Heterotopien zu identifizieren. So vielfältig die Menschen sind, die die Transit-Orte aufsuchen, so vielfältig sind ihre Hoffnungen, Erfahrungen und Erinnerungen,

121 Aus diesem Grund grenzt Löw die Heterotopien scharf von den gegenkulturellen Räumen ab, welche immer aus einem widerständigen Handeln hervorgehen (vgl. Löw 2001, 186). 122 Foucault 2005, 10. 123 Vgl. Foucault 1992, 45. Als letzten Typ nennt Foucault die Kompensationsheterotopie, die die Unordnung der Welt mit einem sorgfältig geordneten Ort zu kompensieren versucht. Das Kaufhaus etwa erschafft eine perfekte Konsumwelt, die der Unvollkommenheit der restlichen Welt gegenübersteht. Das Grand Hotel ließe sich in seiner Eigenschaft als luxuriöser Mikrokosmos ebenfalls dieser Kategorie zurechnen. 124 Vgl. Foucault 2005, 42 f.

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die sie mit dem Ort verbinden. Der Journalist Hans Kafka schreibt 1928 im Berliner Tageblatt über das Hotel als Mikrokosmos: »Man sieht mit eigenen Augen das kleine Modell so einer utopistischen Weltstadt, in der für Leute aus aller Herren Länder Speise, Trank, Erotik, Schlaf, Toilette, Arbeitsmöglichkeit, Lektüre und Vergnügen bereitgestellt ist [...]. Eine kleine Stadt inmitten der Großstadt, isoliert und selbstständig [...]; inmitten des lokalen Alltagslebens ein eingesprengtes Miniaturstück jener großen exterritorialen kosmopolitischen Welt, die, wenn man genau zusieht, eigentlich nur eine Fiktion ist und in Wirklichkeit gar nicht existiert. Es existiert nur das Modell en miniature: das Hotel.«125

Besser könnte auch Foucault kaum beschreiben, was mit einer Illusionsheterotopie gemeint ist. Den besonderen Stellenwert der Transit-Orte für die Heterotopien erkennt Foucault selbst, wenn er das Schiff als die »Heterotopie par excellence« bezeichnet, weil es schon seit Urzeiten die Orte der Welt verbindet: »Und bedenkt man, dass Schiffe [...] ein Stück schwimmender Raum sind, Orte ohne Ort, ganz auf sich selbst angewiesen, in sich geschlossen und zugleich dem endlosen Meer ausgeliefert, die von Hafen zu Hafen [...] fahren [...], dann wird deutlich, warum das Schiff für unsere Zivilisation zumindest seit dem 16. Jahrhundert nicht nur das wichtigste Instrument zur wirtschaftlichen Entwicklung gewesen ist, sondern auch das größte Reservoir für die Fantasie. Das Schiff ist die Heterotopie par excellence. Zivilisationen, die keine Schiffe besitzen, sind wie Kinder, deren Eltern kein Ehebett haben, auf dem sie spielen können. Dann versiegen ihre Träume.«126

Die Frage ist nun, welches Verständnis der Heterotopie man heranzieht, um sie mit Transit-Orten und -Räumen in Beziehung zu setzen: Im engeren Verständnis, nach dem Heterotopien Gegenräume hervorbringen müssen, können TransitRäume nicht grundsätzlich als heterotop angesehen werden. Nach dem zuletzt genannten, weiter gefassten Verständnis sind Transit-Räume geradezu Musterbeispiele für Heterotopien, allerdings wird der Begriff dadurch unscharf. Die Konstitution von mehreren Räumen an einem Ort ist im relationalen Raumkonzept ohnehin angelegt. Es ist also fraglich, ob der Begriff Heterotopie in diesem Zusammenhang noch einen zusätzlichen Nutzen bringt. 125 Hans Kafka 1994, 41. Das Sinnbild des Hotels als Mikrokosmos wird im Kapitel ›Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein Ende‹ ausführlicher diskutiert. 126 Foucault 2005, 21 f.

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In der Analyse transitorischer Erzähltexte wird deshalb das enger gefasste, gegenkulturelle Verständnis der Heterotopie verwendet, ohne jedoch alle Transit-Orte und Transit-Räume pauschal als heterotop zu bezeichnen. Vielmehr wird Foucaults Theorie punktuell eingesetzt, um einzelne Aspekte transitorischer Konstruktionen zu untersuchen, die über das inhärente Konzept des ›anderen‹ Orts hinausgehen.

Literaturwissenschaftliche Raumtheorie

In jüngerer Zeit haben sich die Bestrebungen verstärkt, raumtheoretische Konzepte des spatial turn in die Literaturwissenschaft zu überführen. Zu der noch relativ jungen Forschungsrichtung einer ›raumorientierten‹ Literaturwissenschaft tragen zahlreiche Sammelbände1 bei, aber auch Monografien, die das Werk einzelner Autoren im Hinblick auf die jeweilige Raumkonstruktion neu bewerten2. Hier hat sich bereits gezeigt, dass die Konzentration auf räumliche Aspekte Ergebnisse liefert, die mit klassischen Analysemethoden nur wenig erfassbar sind. Wenn im Folgenden von literarischen Räumen, Raumwirklichkeiten oder -ebenen gesprochen wird, beziehen sich die Überlegungen in erster Linie auf Erzähltexte und deren Materialisierung, etwa in Buchform. Es ist wahrscheinlich, dass diese weitgehend auch auf ihre lyrischen und dramatischen Entsprechungen zutreffen; dies zu erforschen, wäre jedoch die Aufgabe weiterer Forschungsarbeiten.3

1

Hervorzuheben sind die Sammelbände von Sigrid Lange (2001), Hartmut Böhme (2005), Andrea Bartl (2009b), Wolfgang Hallet und Birgit Neumann (2009a) sowie Tim Mehigan und Alan Corkhill (2013).

2

Hierzu zählen etwa die Monografien von Elisabeth Bronfen (1986, zu Dorothy M. Richardson), Nicola Westphal (2007, zu Uwe Johnson), Claire Horst (2007, zu Irena Brežna, Emine S. Özdamar und Libuše Moníková) oder Anja K. Johannsen (2008, zu W.G. Sebald, Anne Duden und Herta Müller).

3

Einen ersten Ansatz bietet Kaspar H. Spinners Aufsatz Literatur und Raum, in dem lyrische, epische und dramatische Texte – unter anderem Eichendorffs Gedicht Weihnachten sowie Goethes Die Leiden des jungen Werthers und Faust I – untersucht werden (Spinner 2009). Ansgar Nünning stellt in seinem Beitrag zur literarischen Raumdarstellung im Hinblick auf die »Darstellungsverfahren, mit denen Vorstellungen einer räumlichen und gegenständlichen Wirklichkeit in der Lit. evoziert werden«

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Viele Standardwerke der Erzähltheorie beinhalten bis heute entweder kein eigenes Kapitel zum Raum4, vernachlässigen den Faktor Raum gegenüber temporalen Analysekategorien5 oder basieren auf denselben absolutistischen Raumvorstellungen, die auch die Sozial- und Kulturwissenschaften teilweise geprägt haben. Literarische Figuren befinden sich demnach in statischen Räumen, die der Erzähler entwirft und lediglich als Hintergrundfolie seiner Erzählung benutzt. Raum bleibt dabei weitgehend unabhängig vom Handeln der Figuren. Die Nachteile dieser Perspektive wurden im Bezug auf soziale Räume bereits diskutiert; auch die unscharfe Trennung zwischen Ort und Raum findet ihre Entsprechung in der Literatur, wenn Unterschiede zwischen Schauplätzen und Räumen weitgehend ungeklärt bleiben.6 Raum in der Literatur ist jedoch weder eine Größe, die sich aus der Addition von Schauplätzen wie »Landschaften, Innenräume[n], Gärten, Städte[n] etc.«7 deutliche Unterschiede zwischen lyrischen, dramatischen und narrativen Texten fest (vgl. Nünning 2008, 605). 4

Katrin Dennerlein nennt in ihrer Monografie zur Narratologie des Raums neunzehn Klassiker der Erzähltheorie, die allesamt kein Kapitel zum Raum enthalten (vgl. Dennerlein 2009, 3).

5

Standardwerke wie die Einführung in die Erzähltheorie von Matias Martinez und Michael Scheffel (2005) oder die Einführung in die Erzähltextanalyse von Silke Lahn und Jan Christoph Meister (2008) besprechen die räumliche Konfiguration als Unterkategorie der Handlung; der Faktor Zeit fällt hingegen unter das ›Wie‹ des Erzählens.

6

Ein solcher Umgang mit dem literarischen Raum zeigt sich etwa im Einführungswerk Erzähltextanalyse (Kahrmann u.a. 1996). Darin widmen Cordula Kahrmann, Gunter Reiß und Manfred Schluchter dem »Raum als Begriff der Erzähltextanalyse« zwar ein eigenes Kapitel, übernehmen dabei jedoch ebenjene Raumkonzepte für die Literatur, die Martina Löw auf soziologischer Ebene kritisiert hat. Erstens drückt sich in der Formulierung »Im Erzähltext ist Raum Voraussetzung für das erzählte Geschehen« die Kantsche a priori-Vorstellung von Raum aus. Zweitens gehen die Autoren von einem Containerraum-Konzept aus, bei dem Handeln und Raum getrennt sind: »Die dargestellten Figuren, Gegenstände, Aktivitäten und Ereignisse [...] haben ihre fiktionale Wirklichkeit [...] dadurch, daß sie als in bestimmten Räumen befindlich bzw. vor sich gehend dargestellt werden«. Drittens werden Raum und Ort beziehungsweise Schauplatz gleichgesetzt: »Dieser Raum [der Kirchhof in einem Text von Friedrich Hebbel, L.W.] bleibt unverändert bis zum Schluß Schauplatz des erzählten Geschehens« (Kahrmann u.a. 1996, 158 ff., Hervorhebungen L.W.).

7

Kahrmann u.a. 1996, 158.

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ermitteln lässt, noch beschränkt er sich überhaupt auf die Dimension der erzählten Welt. Man muss nur ein Buch aufschlagen und dessen Gewicht spüren, um festzustellen, dass alles Geschriebene selbst eine lokale Ausdehnung hat, die über erzähltheoretisch ermittelbare Aspekte hinausgeht. Zunächst muss also geklärt werden, was überhaupt zum Raum der Literatur gerechnet werden kann, um anschließend prüfen zu können, wie sich das relationale Raumkonzept der Sozial- und Kulturwissenschaften auf die literaturwissenschaftliche Raumtheorie übertragen lässt.

D IE E BENEN

LITERARISCHER

R AUMWIRKLICHKEIT

Der Übergang von der sozial- und kulturwissenschaftlichen zur literaturwissenschaftlichen Raumtheorie vereinfacht und verkompliziert die Untersuchung zugleich. Er vereinfacht sie, weil der literarische Transit-Ort leichter fassbar ist als die flüchtigen, wechselhaften Transit-Orte der Alltagswirklichkeit. So heterogen ein Hotel auch in der Literatur sein kann – der literarische Text bietet durch seine schriftliche Fixiertheit eine Momentaufnahme, wie sie sich dem sozial- oder kulturwissenschaftlichen Blick selten bietet. Andererseits verkompliziert sich die Analyse, weil sich ein literarischer Text in vielfacher Hinsicht räumlich lesen lässt. Räume in der Literatur sind multidimensionale Räume und literarische Orte sind selbst verortet, eingeschrieben in die Seiten der Taschenbücher, Sammelbände und E-Books, die ihrerseits eine ganz unterschiedliche Materialität und Räumlichkeit aufweisen können. Man hat es also mit einer Vielzahl räumlicher Ebenen zu tun, die allesamt bei der Konstruktion von Räumlichkeit in der Literatur mitgedacht werden müssen. Diese erhöhte Komplexität deutet sich an, wenn Markus Schroer für die Soziologie bilanziert: »Was immer unter Raum auch sonst noch verstanden werden kann: für die Soziologie ist Raum vor allem als Sozialraum relevant. Im Mittelpunkt soziologischer Raumverständnisse steht weder der Raum als bloße Anschauungsform noch der Raum [...] im Sinne einer vorsozialen Kategorie.«8

8

Schroer 2009, 354.

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In der Literaturwissenschaft hingegen kommt ebenjenes ›Sonst-Noch‹ des Raums zusätzlich zum Tragen, also Raum in seiner ästhetischen und symbolischen Konstitution sowie als Repräsentation empirischer Raumwirklichkeiten.9 Kulturelle und soziale Aspekte des Raums verlieren dabei nicht an Bedeutung, sondern werden integriert. Die Vielschichtigkeit des literarischen Raums und seiner wissenschaftlichen Analysekategorien waren möglicherweise der Grund für das Fazit von Ansgar Nünning, die Literaturtheorie habe »für die Beschreibung der RD. [Raumdarstellung, L.W.] zwar recht differenzierte, aber keine so systematischen Kategorien entwickelt wie für die Analyse der Zeitdarstellung« – gefolgt von der Einschätzung: »Aufgrund der typologischen Vielfalt möglicher Räume entzieht sich die RD. einer umfassenden lit.theoretischen Systematik«10. Dabei wird übersehen, dass bereits mehrere Systematiken entwickelt und erprobt worden sind, die die scheinbar grenzenlose Vielfalt möglicher Räume auf eine konkrete Zahl von Raumebenen begrenzen. Dabei hat sich herausgestellt, dass die typologische Vielfalt durchaus überschaubar ist und sich einzelne literarische Raumphänomene den verschiedenen Raumebenen relativ trennscharf zuordnen lassen. Auch auf das komplexe Zusammenwirken der Raumebenen wurde dabei hingewiesen. Den Anfang dazu hat Gérard Genette mit seinem 1969 erschienenen Essay La littérature et l’espace gemacht, in dem Genette ein erstes Mehr-EbenenModell für den Raum in der Literatur entwirft.11 Weitere Hinweise liefert die 1986 veröffentlichte Arbeit Der literarische Raum von Elisabeth Bronfen, die das Werk der britischen Autorin Dorothy Miller Richardson untersucht und dabei ebenfalls ein Zusammenwirken mehrerer räumlicher Ebenen feststellt.12

9

Vgl. Hallet/Neumann 2009b, 22.

10 Nünning 2008, 605. 11 Vgl. Genette 1969. Mit den Ebenen »spatialité du langage« (Räumlichkeit der Sprache), »l’espace écrit« (Raum der Schrift), »l’espace sémantique« (Raum der Semantik) und der »spatialité concerne la littérature prise dans son ensemble« (Räumlichkeit der Literatur als Gesamtheit) berührt Genette einige Aspekte der in den folgenden Kapiteln behandelten Raumebenen. Der Aufsatz La littérature et l’espace wurde bislang nicht auf Deutsch veröffentlicht, weshalb ich Katrin Hoffmann von der Universität Hamburg für die Bereitstellung ihres Manuskripts einer Übersetzung (Literatur und Raum, Genette 2012) besonders dankbar bin. 12 Vgl. Bronfen 1986.

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Bis heute nähern sich Literaturwissenschaftler dem literarischen Raum bevorzugt über mehrere Ebenen, wenn sie ihn in ihrer Gesamtheit zu erfassen versuchen13. Ulrich Meurer beschreibt die »postmodernen Annährungen an den Raum« insgesamt als »mit Fäden des Schreibens, des Narrativen, der Semiotik durchwoben«: »Die Darstellung eines realen Raums sieht sich ergänzt, wenn nicht ersetzt, durch die Diskussion der Bedingungen einer solchen Darstellung; im Mittelpunkt steht nunmehr die Frage, ob und wie eine (mindestens) dreidimensionale Wirklichkeit in den zweidimensionalen Raum einer Buchseite, den eindimensionalen Sequenzraum der Schrift oder den undimensionalen Raum des Fiktiven zu übersetzen sei.«14

Nachfolgend soll versucht werden, die Fäden zumindest analytisch zu entwirren und die Ebenendifferenzierungen zu überarbeiten, von denen sich bislang keine konsensual durchgesetzt hat. Trägerraum Sofern ein literarischer Text schriftlich fixiert ist15, muss es einen Träger geben, auf den er geschrieben wird, und von dem er abgelesen werden kann. Heute sind es meistens Buchseiten, früher waren es Papyrusrollen oder Steintafeln, zukünftig sind es vielleicht mehrheitlich mobile elektronische Lesegeräte (E-BookReader), die als Grundlage für die Produktion und Rezeption literarischer Werke dienen. Diese materielle Grundlage weist eine eigene literarische Räumlichkeit 13 Sylvia Sasse schließt lose an die Ebenendifferenzierung Genettes an, um in ihrem Beitrag zum Sammelband Raumwissenschaften die literaturwissenschaftliche Forschung zum Raum zusammenzufassen (Sasse 2009). Marie-Laure Ryan versucht Vergleichbares für die Narratologie im Living Handbook of Narratology mithilfe einer eigenen Terminologie (Ryan 2009). Ihre Differenzierung in »Narrative Space«, »Spatial Extension of the Text«, »Space that Serves as Context and Container for the Text« und »Spatial Form of the Text« kommt den hier verwendeten Raumebenen sehr nahe, basiert aber auf einem Containerraum-Konzept (vgl. Ryan 2009, Abs. 8). 14 Meurer 2007, 15. 15 Nicht alle Literatur ist schriftlich fixiert. Im Mittelalter wurden große Teile der Literatur mündlich tradiert. Besonders in der afrikanischen Literatur gibt es eine große Tradition mündlich vorgetragener Texte (Oralliteratur oder ›Oratur‹). Ob bei diesen Texten der Trägerraum entfällt oder inwiefern das kulturelle Gedächtnis als Trägerraum fungiert, kann hier nur als Forschungsfrage formuliert werden.

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auf, die außerhalb der Editionswissenschaft16 bislang wenig beachtet wurde – möglicherweise, weil es jahrhundertelang selbstverständlich schien, dass Literatur mehrheitlich in Buchform veröffentlicht wird. In Zeiten des Aufschwungs elektronischer Bücher wird der grundlegenden Raumebene des Schriftträgers vermutlich verstärkt Bedeutung zukommen. So weist Lothar Müller in der Süddeutschen Zeitung darauf hin, es trete nun »im Kontrast, am alten, analogen Buch hervor, wie sehr es nicht lediglich eine Addition von zweidimensionalen Seiten ist, sondern ein dreidimensionaler Raum, der jede einzelne Seite imprägniert. [...] Die Zeigerstellung ›zehn vor zwölf‹ sagt mir nicht nur 11.50 Uhr, sondern wieviel Zeit mir bis zum ›High Noon‹ noch bleibt. Im Buch ist es ähnlich mit den Seiten: sie sagen nicht nur durch die Paginierung, wo ich gerade bin, sondern auch durch den Raum, der sie umgibt. Seite 150 hat in einem Buch von 152 Seiten sichtbar einen anderen Ort als in einem Buch von 1520 Seiten.«17

Auch wenn Müllers Argumentation von der Vorstellung eines Containerraums geprägt ist, liefert sein Artikel wichtige Hinweise für die räumlichen Eigenschaften des Schriftträgers. Aus relationaler Perspektive lässt sich sagen: Der Leser konstituiert während seiner Lektüre einen Trägerraum, indem er etwa die einzelnen Buchseiten der Reihe nach umblättert (Spacing) und als zusammenhängende Anordnung wahrnimmt (Syntheseleistung). Sofern er die Buchseiten nacheinander liest, ist es ihm mithilfe der Dimensionalität der gelesenen Buchseiten jederzeit möglich, seinen Lesefortschritt festzustellen. Er muss jedoch der Buchordnung nicht folgen; er kann auch einen individuellen Trägerraum konstituieren, indem er etwa während der Lektüre das Medium wechselt. So beginnen heute einige Leser ihre Lektüre mit einer Leseprobe im Internet, die nach einigen Seiten abbricht und erst mit dem gekauften Buch oder E-Book fortgesetzt werden kann. Auch technische Fehler wie Fehldrucke können die ›ordentliche‹ Lektüre erschweren bis verhindern. Italo Calvino hat derartige Irritationen des Schriftträ-

16 Aufschlussreiche Beiträge aus jüngerer Zeit finden sich beispielsweise im Sammelband Materialität in der Editionswissenschaft von Martin Schubert. Darin untersucht etwa Luigi Rentani die »vielschichtigen Entwürfe von Hölderlins Homburger Folioheft, das sich mit [...] seiner auffälligen Raumdisposition nicht ohne Bedeutungsverlust auf die inhaltliche Textebene reduzieren lässt« (Schubert 2010, 7). 17 Müller 2009, Abs. 6 f.

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gers bereits 1979 in seinem Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht humorvoll erzählerisch umgesetzt.18 Eine insbesondere im frühen und mittleren 20. Jahrhundert verbreitete Form, die Lektüre von Erzählliteratur über den Schriftträger zu steuern, sind Fortsetzungsromane. Die über Dutzende von Zeitungs- und Zeitschriftenausgaben verteilten Texte wurden teilweise bewusst im Hinblick auf ihre Publikationsform verfasst: So tritt mitunter am Ende jeder Folge ein Spannungshöhepunkt auf, der zum Lesen der Fortsetzung verleiten soll. Der zergliederte Schriftträger beeinflusst hier also ganz unmittelbar die Erzählung. Auch im Korpus dieser Untersuchung finden sich einige Werke, die zuerst als Fortsetzungsroman veröffentlicht wurden; die Ebene des Trägerraums wird in der Analyse dieser Texte besondere Beachtung finden. Der Umgang mit Literatur ist so schon auf der ersten, grundlegenden Ebene eine räumliche Erfahrung. Der Schriftsteller häuft beim Schreiben Manuskriptseiten an, dem Leser präsentieren sie sich später als dicker Wälzer oder schmale Lektüre. Im elektronischen Dokument verschwinden diese Informationen nicht, sie werden aber anders codiert: Die Länge eines Textes lässt sich hier über die Größe der Textdatei in Bytes erahnen und der Seitenfortschritt wird in der Regel auf dem Display angezeigt. Textraum Die zweite Ebene ergibt sich aus der Auseinandersetzung mit der Linearität der Schrift; sie ist die »formale Ebene, die den Text in und durch eine räumliche Ausdehnung durchführt«19. Gemeint ist der Text unabhängig von seiner materiellen Grundlage. Druckt man ein am Computer verfasstes oder digital erworbenes literarisches Werk aus, verändert sich sein Träger, der Textraum bleibt jedoch in der Regel bestehen. Der Begriff des Textraums ist schwer zu fassen, weil schon der Begriff des Texts ein problematischer ist. Präzisiert man ihn jedoch hinreichend, kann er eine wichtige Funktion an der Grenze zwischen Materialität und Narrativität erfüllen. Nachfolgend wird Text im engeren Sinne verstanden als abgegrenzte, zu18 Calvino 2005. In Italo Calvinos Roman bricht die Handlung immer wieder aufgrund von – allerdings fiktiven, narrativ vermittelten – Störungen des Trägerraums ab: Mal handelt es sich bei dem Lektüreexemplar angeblich um einen Fehldruck, mal um eine falsche Übersetzung. So muss sich der Leser durch insgesamt zehn grundverschiedene Romananfänge hangeln, die allesamt unvollständig bleiben. 19 Bronfen 1986, 318.

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sammenhängende Äußerung in geschriebener Sprache; die weitergehenden Versuche, auch nichtgeschriebene Informationen als Texte zu begreifen – Film als Text, Musik als Text, Kultur als Text –, die sich häufig mit dem Diskursbegriff überschneiden20, werden dabei ausgeklammert. Für diese Untersuchung ist Text raumtheoretisch vor allem interessant durch seine Ausgestaltung als Gewebe (lat. textus) auf dem Papier, dem Bildschirm oder anderen Trägern, das entweder linear gelesen werden kann, oder einer solchen gewohnten Lesart bewusst entgegenwirkt. Diese Auseinandersetzung ist bei geschriebenen Texten eine besonders augenscheinliche: Die raumkonstituierende Bewegung durch den Text lässt sich hier auch physiologisch durch die Bewegungsrichtung der Augen des Lesers nachvollziehen. Bei der Frage nach strukturierenden Elementen des Textraums liegen zunächst typografische Aspekte nahe. »Die Typographie betont mit ihren diversen Schriftarten und -größen, Lücken, Einschüben und Diagrammen sowie durch diagonale oder vertikale Bedruckung die Verteilung der Zeichen in der Fläche«, stellt Ulrich Meurer zum »Sequenzraum der Schrift« fest.21 Auch Überschriften, Kapiteleinteilungen, Absätze, Farben sowie spezielle Aspekte des Layouts – etwa die Verwendung von Fußnoten in wissenschaftlichen Texten oder Marginalien am Rand von Buchseiten – koordinieren die Bewegung durch den Text. Ein jüngeres und populäres Beispiel für den kreativen Umgang mit der Typografie zur Erzeugung einer eigenen Räumlichkeit ist Jonathan Safran Foers Extremely Loud and Incredibly Close.22 In diesem engeren Sinne könnte man auch von einem Experimentieren mit dem Schriftraum sprechen. Die »Räumlichkeit der Schrift« sowie das »visuelle Potenzial der Graphie und der Seitengestaltung« hat bereits Gérard Genette als Teile der Räumlichkeit von Literatur identifiziert.23 Der Textraum schließt den 20 Auch Dieter Stein kritisiert das »begriffliche Durcheinander im Umkreis der T. [Textlinguistik, L.W.] als Disziplin und erst recht in den nachrangigen Anwendungen des Begriffs in den Nachbar- und Schwesterdisziplinen als Folge der mehrfachen konzeptionellen Häutungen von Gegenstand und Erkenntnisinteresse«, das mit der »Problematisierung des Begriffs Text [...] korrespondiert« (Stein 2008, 707). 21 Meurer 2007, 15 f. 22 Foer 2006. In Foers Roman finden sich zahlreiche typografische Experimente wie ›umkringelte‹ Sätze und Zeilen, farbige Hervorhebungen oder durchgestrichene Wörter; auf einigen Seiten wird der Zeichenabstand immer weiter verringert, bis der Text unlesbar wird. 23 Vgl. Genette 2012, 2.

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Schriftraum mit ein, meint jedoch noch mehr. Genette weist weiter darauf hin, der Symbolist Stepháne Mallarmé habe die Literaturwissenschaft sensibilisiert »für die atemporale und verkehrbare Disposition der Zeichen, der Wörter, der Sätze, der Rede in der Simultaneität dessen, was man gemeinhin einen Text nennt. Die Lektüre ist nicht nur dieser kontinuierliche zeitliche Ablauf, von dem Proust [...] sprach, [...] [er forderte] von seinem Leser Aufmerksamkeit für etwas [...], das er den ›teleskopischen‹ Charakter seines Werkes nannte, das heißt für die weitreichenden Relationen, welche sich zwischen Episoden entspinnen, die in der zeitlichen Kontinuität einer linearen Lektüre weit voneinander entfernt liegen (jedoch, dies sei hier angemerkt, einzigartig nah im geschriebenen Raum, in der Dichte der Buchseiten) und für deren Berücksichtigung eine Art simultaner Wahrnehmung der Gesamteinheit des Werkes erforderlich ist, eine Einheit, die nicht nur in horizontalen Beziehungen der Nachbarschaft und der Aufeinanderfolge besteht, sondern auch in Zusammenhängen, die man als vertikal oder transversal bezeichnen kann, Erwartungseffekte, Erinnerungs- und Echoeffekte, Symmetrie- und Perspektiveffekte, derenthalben Proust selbst sein Werk mit einer Kathedrale verglich.«24

Genette spricht hier räumliche Effekte an, die über das rein Typografische des Textes hinausgehen; Effekte, die unmittelbar durch den Erzähler gesteuert werden können, ohne bereits zur ›erzählten Welt‹ zu gehören, die im nachfolgenden Kapitel thematisiert wird. Elisabeth Bronfen merkt zum Textraum 25 ganz ähnlich an, dass »der Leseprozeß nicht nur eine sukzessive Abfolge von Zeit, innerhalb derer der Text ursprünglich chronologisch gelesen wird, beinhaltet, sondern auch die abschließende Betrachtung des Textes, die diesen als eine räumliche Gesamteinheit begreift. [...] So muß der Leser nicht nur die chronologische Entwicklung der narrativen Abfolge begreifen, er muß auch die vom Text hergestellten Parallelitäten, die bedeutungsträchtige Symmetrie verschiedener Erzählstränge, die Querverweise und Anspielungen, die sich unabhängig von der narrativen Chronologie über hunderte von Seiten erstrecken können, erkennen und miteinander verbinden, um an die textuelle Bedeutung zu gelangen. Eingeschobene Be-

24 Genette 2012, 2 f. 25 Elisabeth Bronfen verwendet ersatzweise den Begriff »räumliche Textualität« (Bronfen 1986, 315 ff.), womit der Eindruck erweckt wird, die Eigenschaft, ein Text zu sein (eben die Textualität), könnte räumlich wirksam werden. Es ist jedoch der Text selbst, der sich räumlich entfaltet, weshalb hier die Bezeichnung Textraum bevorzugt wird.

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schreibungen von Erinnerungen, Verweise und Anknüpfungen an vergangene Episoden, Andeutungen für zukünftige Ereignisse unterbrechen die Chronologie und bewirken beim Leser, daß er immer wieder das sequentielle Lesen kurzfristig aufgibt und ersetzt durch ein Verstehen, das ein simultanes Erfassen getrennter Episoden [...] fordert [...].«26

Die Narratologie hat die Ordnung des Texts lange als zeitliches Nacheinander begriffen, das etwa durch Analepsen, Prolepsen oder Achronien beeinflusst werden kann. Ursächlich hierfür war vermutlich Gérard Genettes Grundlagentext Discours du récit von 197227, in dem Genette unter dem Stichwort der narrativen Ordnung vorwiegend zeitliche (Un-)Ordnungen untersucht und klassifiziert hat28, bekanntermaßen am Beispiel von Marcel Prousts Recherche de la temps perdu. Spätere Werke der Erzähltheorie haben diese Ausrichtung übernommen29, dabei aber womöglich übersehen, dass Genette zwar häufig von zeitlichen Ordnungen spricht, den Text aber durchaus auch als räumliche Anordnung denkt.30 Die Analepsen und Prolepsen, mit denen sich Genette umfassend beschäftigt, lassen sich durchaus auch als räumliche Verweise verstehen, als ›Vor- und Zurückspringen‹ im Text. Ob ein Verweis vorwiegend zeitlich oder texträumlich 26 Bronfen 1986, 319. 27 Discours du récit erschien 1972 als Teil der Textsammlung Figures III (Genette 1972). Erst 1994 wurde der Text zusammen mit dem Nouveau Discours du récit (1982) unter dem Titel Die Erzählung ins Deutsche übersetzt (Genette 2010). 28 Vgl. Genette 2010, 17 ff. 29 So setzen sich Matias Martinez und Michael Scheffel ebenfalls unter der Überschrift »Ordnung« ihrer Einführung in die Erzähltheorie nahezu ausschließlich mit Aspekten der zeitlichen Ordnung narrativer Texte auseinander (vgl. Martinez/Scheffel 2005, 32 ff.). 30 Deutlich wird dies etwa, wenn Genette im Zusammenhang mit den Analepsen davon spricht, der Leser müsse »mehr als tausend Seiten lang warten« (Genette 2010, 33), ehe er den Fortgang der Geschichte erfahre, wenn eine Ellipse als »Sprung nach vorn« (Genette 2010, 36) bezeichnet wird, oder wenn der Proustsche Erzähler beschrieben wird als solcher, »der all ihre Orte und Augenblicke gleichzeitig überschaut, zwischen denen er ständig eine Vielzahl ›teleskopischer‹ Beziehungen herzustellen imstande ist: räumliche, aber auch zeitliche Ubiquität« (Genette 2010, 47). Genettes Bestreben, den Text auch räumlich zu denken, das in La littérature et l’espace besonders deutlich wird, ist im wenige Jahre später erschienenen Discours du récit nachspürbar; der von Proust übernommene Begriff des ›Teleskopischen‹ findet sich in beiden Texten (vgl. Genette 2012, 2).

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wahrgenommen wird – wann also der ›Zeitsprung‹ zum ›Textsprung‹ wird –, ist abhängig von der narrativen Gestaltung. Ein stark texträumlich wirksamer Verweis ist beispielsweise dann gegeben, wenn sich der Erzähler unmittelbar auf die schriftliche Ausarbeitung seiner Erzählung bezieht, beispielsweise: ›Über diese Begegnung werde ich im übernächsten Kapitel mehr erzählen‹. Dass jedoch auch subtilere erzählerische Mittel zu einer räumlichen Lesart des Textes führen können, sowohl mikro- als auch makrotextuell, hat Elisabeth Bronfens Untersuchung des über 2 000 Seiten umfassenden Romanzyklus Pilgrimage gezeigt.31 Was sich in den Ausführungen von Genette und Bronfen andeutet, ist die Möglichkeit einer räumlichen Orientierung im Text, ein Lesen des Texts als Ort, den man durchqueren muss, um die Gesamtstruktur des Textes zu begreifen. Diese Orientierung im Text erfordert eine räumliche Kompetenz, die erzählerisch genutzt, gesteuert und auch gestört32 werden kann. Michel de Certeau meint auch das, wenn er über die Geschichten der Menschheit sagt: »Jeden Tag durchqueren und organisieren sie die Orte; sie wählen bestimmte Orte aus und verbinden sie miteinander; sie machen aus ihnen Sätze und Wegstrecken. Sie sind Durchquerungen des Raumes.«33

So gewinnt das Wort Textpassage eine ganz neue Qualität; jede Lektüre ist tatsächlich eine Passage durch den Text. »Jeder Bericht ist ein Reisebericht – ein Umgang mit dem Raum«34, ergänzt Certeau. Dieser Aspekt verspricht gerade im Zusammenhang mit dem Transitorischen interessant zu werden. In Anknüpfung an einen relationalen Raumbegriff ist es wichtig festzuhalten, dass die Räumlichkeit auf dieser Ebene – wie auf allen literarischen Raumebenen – erst in der Lektüre prozessual hergestellt wird.35 Den textuellen Raum 31 Vgl. Bronfen 1986, 335 ff. 32 Ein Beispiel für eine gezielte texträumliche Desorientierung – und überhaupt für ein enorm vielseitiges Spielen mit der texträumlichen Gestaltung – , ist der amerikanische Roman House of Leaves von Mark Z. Danielewski (2000). Während sich die Hauptfigur des Romans in einem Labyrinth inmitten eines Hauses verirrt, verweisen zahlreiche Fußnoten teilweise auf reale, teilweise auf fiktive Quellen; der Leser verliert sich beim Nachverfolgen dieser erzählerischen Textspuren ebenso wie der Protagonist. 33 Certeau 1988, 215. 34 Certeau 1988, 216. 35 »Die Lektüre [ist] ein Raum, der durch den praktischen Umgang mit einem Ort entsteht, den ein Zeichensystem – etwas Geschriebenes – bildet« (Certeau 1988, 218).

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als statische Fläche zu begreifen, die sich vom ersten bis zum letzten Wort des Textes spannt, hieße an die absolutistische Vorstellung von Raum anzuknüpfen. Die gedruckten, geschriebenen oder digitalisierten Anhäufungen von Wörtern, Sätzen, Absätzen oder Kapiteln sind nur Potenzialitäten, sie sind Hinweise auf eine mögliche Räumlichkeit. Sie sind die Platzierungen, die der Leser für die Synthese seines Textraums verwenden kann. Er kann aber auch Abschnitte überspringen, andere dafür gleich mehrfach lesen oder – wie bei der Lektüre von Kriminalromanen häufig praktiziert – den Schluss zuerst lesen. So formt jeder Leser seinen eigenen Textraum. Der Textraum ist jedoch nicht allein abhängig von der individuellen Rezeption. Wie das Beispiel der räumlichen Analepsen und Prolepsen zeigt, kann die Textorientierung und -desorientierung auch gezielt als narrative Strategie eingesetzt werden. In ihrer Arbeit nennt Elisabeth Bronfen Simultaneität und Reversibilität als die zentralen Eigenschaften des Texts, über die die Konstitution des Textraums narrativ gesteuert werden kann. Bronfen fasst zusammen: »Die Simultaneität besteht aus den im Text enthaltenen nichtchronologischen Verweisbeziehungen und Anspielungen, so daß innerhalb der narrativen Sequenzialität vom Leser immer wieder ein simultanes Begreifen getrennter Ereignisse nachvollzogen werden kann. Zugleich erlaubt die Reversibilität der räumlichen Textualität, daß jede Episode unabhängig von einer Referenzialität auf vorhergehende oder nachfolgende Sequenzen bedeutsam ist.«36

Obwohl die beiden Begriffe als Gegenstrategien zur narrativen Chronologie nachvollziehbar sind, werden sie hier nicht weiter verwendet.37 Geeigneter er-

36 Bronfen 1986, 321. 37 Zum einen ist die Bezeichnung Simultaneität problematisch, da sie eine zeitliche Beziehung (lat. simul = ›gleichzeitig‹) und weniger eine räumliche impliziert. Geeigneter erscheint daher die Beobachtung von im Text hergestellten Parallelitäten, also der Gleichgerichtetheit von textuellen Einheiten. Hierzu können neben makrotextuellen Strategien wie Symmetrien im Kapitelaufbau auch kleinere Figuren wie Wortwiederholungen oder Parallelismen gezählt werden. Zum anderen ist auch die Reversibilität eine problematische Kategorie: Zunächst macht Bronfen Verweisbeziehungen für das Hervortreten der Räumlichkeit eines Textes ausfindig, anschließend soll jedoch gerade die Abwesenheit solcher Verweise – als Reversibilität – die Räumlichkeit fördern. An anderer Stelle werden die Verweise wieder zu den Eigenschaften der Reversibili-

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scheint der Begriff der Referenzialität als Oberbegriff für die räumliche Wirkung von Verweisen.38 Neben der innertextlichen Referenzialität gibt es ein weiteres Phänomen, das bei der narrativ gesteuerten Konstitution des Textraums eine wichtige Rolle spielen kann. Es handelt sich dabei um ein Phänomen, mit dem sich die Literaturwissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten intensiv beschäftigt hat: die Intertextualität. Es erscheint naheliegend, dass auch die Bezüge und Verweise von Text zu Text eine eigene Räumlichkeit aufweisen. Spätestens seit der Verbreitung des World Wide Web mit seiner dominanten Hypertextstruktur gehört die Auseinandersetzung mit Texten, die zwar in sich linear lesbar sind, sich aber mit anderen Texten netzwerkartig verknüpfen, zum Alltag vieler Leser. Doch nicht erst diese spätmodernen, sondern überhaupt alle Texte sind – den richtungsweisenden Aufsätzen von Julia Kristeva aus den 1960er und 70er Jahren39 folgend – »Mosaik[e] von Zitaten«: »Jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes«.40 In Probleme der Textstrukturation stellt Kristeva fest: »In dem Raum eines Textes überlagern sich mehrere Aussagen, die aus anderen Texten stammen und interferieren«.41 Ist nun die Intertextualität in ihrer räumlichen Wirkung eine Eigenschaft des Textraums, oder sollte sie als separate Ebene literarischer Raumwirklichkeit betrachtet werden, als eigenständige Ebene eines ›intertextuellen Raums‹? Die Ausführungen Kristevas sprechen eher für die erste Option. Schon dass sie von Vorgängen »in dem Raum eines Textes« spricht, ist ein Hinweis darauf; in demselben Aufsatz heißt es später noch deutlicher: »Wir nennen Intertextualität dieses textuelle Zusammenspiel, das im Innern eines einzigen Textes abläuft«.42 In

tät gezählt (vgl. Bronfen 1986, 336, 321, 328), so dass die Definition insgesamt uneinheitlich bleibt. 38 Referenzialität, Referenz und Referent sind bereits etablierte Ausdrücke zur Beschreibung innersprachlicher Beziehungen. Auch die von Bronfen genannten Parallelitäten können zur Referenzialität gerechnet werden. 39 Gemeint sind die Aufsätze Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman und Probleme der Textstrukturation (Kristeva 1972a, Kristeva 1972b). Beide Aufsätze wurden zuerst 1969 in Frankreich veröffentlicht. 40 Kristeva 1972a, 348. 41 Kristeva 1972b, 245. 42 Kristeva 1972b, 255.

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der Regel ist mit Intertextualität also ein Phänomen gemeint, das bei aller übertextlichen Reichweite immer zuerst im konkreten Einzeltext angelegt und nachweisbar ist. Die intertextuellen Verweise von Text zu Text sind zwar durchaus als räumliche Anordnung denkbar – auch Kristeva denkt in diese Richtung, wenn sie Strukturen diskutiert, die »in einem intertextuellen Raum verknüpft«43 sind –, und in bestimmten Zusammenhängen kann es sinnvoll sein, von einem solchen intertextuellen Raum zu sprechen. Es handelt sich dabei jedoch um ein weitgehend abstraktes Konzept. Für die Analyse konkreter Einzeltexte ist es dagegen hilfreich, Intertextualität als eine grundlegende Eigenschaft aller Texte zu begreifen, die bei einer gewissen Ausprägung dazu beiträgt, den einzelnen Textraum durchlässig für andere Texte zu machen. Dies ist ein Aspekt, der insbesondere im Rahmen einer Untersuchung von Transit-, also Durchgangsorten überaus bedeutsam werden kann. Raum der erzählten Welt »Hier war es. Da stand sie.«44 CHRISTA WOLF, KASSANDRA

Dass diese beiden Sätze zu den berühmtesten Romananfängen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zählen, liegt nicht zuletzt an der besonderen räumlichen Spannung, die Christa Wolf mit ihnen heraufbeschwört. Es ist die Spannung der erzählten Welt: »Hier«, das ist nicht das Papier, auf dem das Wort steht, auch nicht die Position im Text, an der es sich befindet – es ist aber eben auch nicht das reale Löwentor in Mykene, von dem der Leser auf den 3 000 Jahre alten Mythos der Kassandra blickt. Es ist das erzählte Hier, angesiedelt im Zwischenbereich von Kultur und Text, von Empirie und Symbolik. Dieser Raumebene ist bislang von der Forschung die meiste Aufmerksamkeit gewidmet worden, sowohl von der Literaturwissenschaft selbst – insbesondere von der Narratologie – als auch von anschlussfähigen Disziplinen wie der Sozial- und Kulturwissenschaft. Je nach Zugang, Reichweite und Perspektive sind

43 »Wir nennen Ideologem die gemeinsame Funktion, die eine bestimmte Struktur (sagen wir, den Roman) mit anderen Strukturen (sagen wir, mit dem Diskurs der Wissenschaft) in einem intertextuellen Raum verknüpft« (Kristeva 1972b, 256). 44 Wolf 2009, 7. Die Erzählung Kassandra wurde 1983 erstmals veröffentlicht.

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unterschiedliche Bezeichnungen für diese Ebene gewählt worden. Ein »erzählter Raum«45 beziehungsweise »narrative space«46 greift im Hinblick auf die bisher genannten Ebenen zu weit, da gezeigt wurde, dass auch die Ebene des Textraums narrativ gesteuert werden kann. Auch der Textraum ist somit ein Raum des Erzählers. Elisabeth Bronfens Kategorie der »physisch begehbaren Räume«47 ist enger gefasst, jedoch nicht mit einem relationalen Raumbegriff vereinbar, nach dem Räume nicht begehbar sein können, sondern erst im Gehen entstehen. Ein »Raum des Fiktiven«48 schlösse alle nicht-fiktiven Erzählungen unnötigerweise aus und bedingte die schwierige Unterscheidung zwischen fiktionalen und faktualen Texten. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ist die hier besprochene Raumebene insbesondere als Repräsentation empirischer Raumwirklichkeiten relevant, als Oberbegriff wäre diese Bezeichnung jedoch irreführend, da eine narrativ-literarische Raumebene mehr umfasst als die bloße Repräsentation. Stattdessen wird die Bezeichnung ›Raum der erzählten Welt‹ (alternativ: erzählweltlicher Raum) aus Katrin Dennerleins Arbeit Narratologie des Raumes übernommen.49 ›Erzählte Welt‹ ist ein etablierter Begriff der Erzähltheorie, der die »Sachverhalte, die von einem narrativen Text als existent behauptet oder impliziert werden«50, umfasst. Hierzu gehören alle Figuren, Lebewesen, Objekte und Schauplätze, die der Text narrativ entwirft und vermittelt. Der Raum der erzählten Welt ist demzufolge der Raum, der sich aus der Ausgestaltung dieser

45 Diesen Begriff benutzt etwa Nicola Westphal in ihrer Johnson-Raumstudie (vgl. Westphal 2007, 10 ff.). 46 Ryan 2009, Abs. 7. 47 Bronfen 1986, 25. 48 Meurer 2007, 15. 49 Dennerlein spricht genau genommen vom konkreten Raum der erzählten Welt »im Sinne von ›sinnlich, anschaulich gegeben‹« (Dennerlein 2009, 48). Dieser Zusatz ist aufgrund ihres Raumkonzepts, das auf kognitiven Containervorstellungen basiert (vgl. Dennerlein 2009, 66), folgerichtig. Im Rahmen der hier vertretenen relationalen Raumauffassung wird er jedoch ausgespart. 50 Martinez/Scheffel 2005, 192. In ihrem Kapitel »Erzählte Welten« erläutern Martinez und Scheffel den Begriff ausführlich und differenzieren ihn in die Komplexitätsformen homogen vs. heterogen, uniregional vs. pluriregional, stabil vs. instabil und möglich vs. unmöglich aus (vgl. Martinez/Scheffel 2005, 123 ff.).

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Sachverhalte ergibt.51 Damit ist eine klare Abgrenzung von der Ausgestaltung des Sequenzraums der Schrift gegeben. Sowohl Dennerlein als auch Matias Martinez und Michael Scheffel weisen darauf hin, dass sich die erzählte Welt – zusammen mit ihrer räumlichen Gestaltung – nicht ausschließlich aus explizit Genanntem zusammensetzt.52 Sie ist vielmehr hochgradig auf Implikationen und das Weltwissen des Lesers angewiesen. Dennerlein nennt ein amüsantes Beispiel aus Wolfgang Koeppens Tauben im Gras: »›Frau Behrend hatte es sich gemütlich gemacht. Ein Scheit prasselte im Ofen.‹ [...] Genannt ist nur der Ofen und durch seine Erwähnung kann man aufgrund von Weltwissen auf das Vorhandensein einer Wohnung schließen. Der Text setzt offenbar voraus, dass man diesen Schluss zieht und nicht etwa annimmt, Frau Behrend würde mit ihrem Ofen in der Luft schweben. [...] Die Erzeugung von Raum durch raumreferenzielle Ausdrücke muss folglich um Schlussprozesse des Lesers ergänzt werden, der eine Alltagsvorstellung von Raum hat und diese zur Ergänzung der textuellen Informationen heranzieht.«53

Dies ist nur ein erster Hinweis auf die komplexe Wechselwirkung zwischen der erzählten Welt und den alltagsweltlichen Räumen und Orten. Da sich diese Untersuchung schwerpunktmäßig mit Orten beschäftigt, die auch alltagsweltlich existieren, kommt dieser Wechselwirkung hier eine Schlüsselrolle zu. Die erzählweltliche Raumebene ist dabei die entscheidende Schnittstelle: Hotels, Häfen, Bahnhöfe und Flughäfen finden in erster Linie als Schauplätze – den erzählten Orten – Eingang in die Literatur. Dabei bietet sich an, auf Denkmodelle zurückzugreifen, die sich der Literatur aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive nähern. Die angesprochene Wechselwirkung haben zuletzt Wolfgang Hallet und Birgit Neumann unter Mitarbeit von Doris Bachmann-Medick in der Einleitung zu ihrem Sammelband Raum und Bewegung in der Literatur zusammengefasst:

51 Michel de Certeau stellt hierzu fest: »Die Erzählungen führen [...] eine Arbeit aus, die unaufhörlich Orte in Räume und Räume in Orte verwandelt« (Certeau 1988, 220). 52 Vgl. Dennerlein 2009, 83 f. und Martinez/Scheffel 2005, 123 ff. 53 Dennerlein 2009, 83.

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»Raum ist in literarischen Texten [...] stets auch kultureller Bedeutungsträger. Kulturell vorherrschende Normen, Werthierarchien, kursierende Kollektivvorstellungen von Zentralität und Marginalität, von Eigenem und Fremdem sowie Verortungen des Individuums zwischen Vertrautem und Fremdem erfahren im Raum eine konkret anschauliche Manifestation. Räume in der Literatur, das sind menschlich erlebte Räume, in denen räumliche Gegebenheiten, kulturelle Bedeutungszuschreibungen und individuelle Erfahrungsweisen zusammenwirken.«54

Bislang steht die Entwicklung einer Raumtheorie, die dieses Zusammenwirken erfasst, erst am Anfang, wie Hallet und Neumann mit Verweis auf Michael C. Frank bestätigen.55 Sie schlagen dabei jedoch ein Modell vor, das an Paul Ricœurs dreistufige Mimesistheorie in Zeit und Erzählung56 angelehnt ist. Paul Ricœurs Modell übernimmt den Begriff der mimêsis aus Aristoteles’ Poetik.57 Gemeint ist das Prinzip der Nachahmung, das allen künstlerischen Werken innewohnt, insbesondere den dichterischen Werken oder Fabeln, wie sie Ricœur nennt. Durch die Mimesis wird etwas neu erschaffen, was Ähnlichkeit zu etwas Anderem besitzt, diesem aber nicht gleicht. Mimetisch produzierte Werke sind also nicht einfach eine Abbildung oder Kopie – sie verändern die Wirklichkeit: »Die Nachahmung oder Darstellung ist eine mimetische Tätigkeit, sofern sie etwas schafft, nämlich gerade den Handlungsaufbau durch die Fabelkomposition.«58

Während sich Aristoteles mit der einseitigen Umsetzung von außersprachlicher ›Wirklichkeit‹ in sprachliche Repräsentation beschäftigt, stellt Ricœur die Mi54 Hallet/Neumann 2009b, 11. 55 Vgl. Hallet/Neumann 2009b, 22. 56 Ricœur 2007. Wie der Titel des Werks (Originaltitel: Temps et récit) andeutet, entwirft Paul Ricœur mit der Mimesistheorie keine allgemeine literaturwissenschaftliche, sondern eine narratologische Theorie. Das Vorhaben Hallets und Neumanns, über eine abgewandelte Theorie der Mimesis das Verhältnis der gesamten literarischen Raumphänomene zur empirischen Wirklichkeit zu erfassen (vgl. Hallet/Neumann 2009b, 22), ist deshalb nicht unproblematisch; für narratologische Analysen ist der Ansatz dennoch aussichtsreich. 57 Vgl. Aristoteles 2008, 4 ff. Die überlieferten Teile der Poetik wurden um 335 v. Chr. verfasst. 58 Ricœur 2007, 59.

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mesis als komplexe Wechselwirkung von erzählter und kultureller Wirklichkeit dar. Er bricht die Mimesis in drei Stufen auf59: Die Mimesis I, also der erste Teil der Nachahmung, bezeichnet die Fähigkeit, in unserer Lebenswelt Handlungen und Geschichten zu erkennen, aus unserem ständigen »Verstricktsein in Geschichten«60 eine Struktur abzuleiten, die narrativ verwertet werden kann. »Wenn es zutrifft, daß die Fabel eine Handlungsnachahmung ist, wird zunächst eine vorgängige Kompetenz erfordert: die Fähigkeit, die Handlung überhaupt an ihren Strukturmerkmalen zu erkennen [...]. Daß nämlich die Handlung erzählbar ist, beruht darauf, daß sie schon in Zeichen, Regeln und Normen artikuliert: immer schon symbolisch vermittelt ist.«61

Literatur stützt sich also immer auf etwas, das in der Alltagswelt schon angelegt ist. Ohne diese Ausgangswelt – Ricœur nennt sie die »Welt des Handelns« – wäre Literatur nicht begreifbar: »Welches immer die Innovationskraft der dichterischen Komposition [...] sei, so ist doch die Fabelkomposition in einem Vorverständnis der Welt des Handelns verwurzelt: ihrer Sinnstrukturen, ihrer symbolischen Repräsentation und ihres zeitlichen Charakters. [...] Trotz des von ihr gesetzten Bruches wäre [...] die Literatur unrettbar unverständlich, wenn sie nicht etwas gestaltete, was in der menschlichen Handlung bereits Gestalt hat.«62

Das Vorverständnis wird nun über den Akt des Erzählens mit der Mimesis II verbunden, der eigentlichen Komposition der Fabel mit ihrer ›Welt der Erzählung‹. Aus der Vielzahl von möglichen Ereignissen, Handlungen oder Interaktionen – der Präfiguration – wählt die Fabel eine Gestaltung aus und konfiguriert sie. Diese Konfiguration kann schließlich über den Akt des Lesens aufgenommen werden und auf die außersprachliche Welt rückwirken. Diesen Prozess der Refiguration – die Aneignung der erzählten Welt durch Lektüre – bezeichnet Ricœur schließlich als Mimesis III. Literatur konfiguriert also nicht nur die außer-

59 Siehe Abbildung 1. 60 Ricœur 2007, 119. 61 Ricœur 2007, 90, 94. 62 Ricœur 2007, 90, 104.

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sprachliche Welt, sie kann auch performativ auf sie zurückwirken.63 Damit nimmt sie in Ricœurs Mimesismodell eine vermittelnde, mediierende Position ein. Abbildung 1: Das Mimesismodell von Paul Ricœur

Quelle: Eigene Darstellung

Für Ricœur sind die drei Stufen der Mimesis vor allem in ihrer zeitlichen Dimension bedeutsam; für ihn sind sie »der Schlüssel zu dem Problem der Beziehung zwischen Zeit und Erzählung«64. Das zeitliche Sein ist demnach durch die unaufhörliche Wiederholung der Mimesis-Spirale bestimmt, die mit jedem Durchlauf eine Veränderung der Lebenswelt (Mimesis III) bewirkt, die wiederum Voraussetzung für neuere Erzählungen ist (neue Mimesis I). »Wir gehen somit dem Schicksal einer präfigurierten Zeit bis hin zur refigurierten Zeit durch die Vermittlung einer konfigurierten Zeit nach.«65 Es stellt sich die Frage, ob dieses zeitorientierte Modell für die Untersuchung von räumlichen Aspekten der Literatur geeignet ist. Auch wenn Ansgar Nünning bereits in einem früheren Aufsatz die grundsätzliche Eignung des Ricœurschen Modells auch für die Analyse nicht-zeitlicher Aspekte hervorgehoben hat66, stellt Michael C. Frank in seiner Diagnose des spatial turn in den Literaturwissenschaften fest: »Das raumbezogene Gegenstück zu Paul Ricœurs dreibändiger Studie Temps et récit ist mit anderen Worten noch zu schreiben.«67 Immerhin

63 Ricœur verwendet auch den Begriff Transfiguration, um zu betonen, dass es sich um eine Neuzusammensetzung »in anderer Höhenlage« (Ricœur 2007, 115) handelt und nicht einfach um eine Wieder-Zusammensetzung. 64 Ricœur 2007, 89. 65 Ricœur 2007, 89. 66 Vgl. Nünning 2007, 55. Ansgar Nünning bezieht sich dabei auf die Themenkomplexe Erinnerung und Identität in den Kultur- und Literaturwissenschaften. 67 Frank 2009, 65.

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skizzieren Hallet und Neumann im gleichen Band, wie ein solches Gegenstück aussehen könnte: »Wenngleich Analogien stets die Gefahr der Simplifizierung bergen, so scheint es doch plausibel, dass die von Ricœur angenommene mediierende Position der Literatur auch für Raumpraktiken und -vorstellungen gilt. Räumliche Konfigurationen des Textes vermitteln zwischen kulturell präfigurierten Raumpraktiken [...] und deren Refiguration in der kulturellen Wirklichkeit der Leser/innen [...].«68

Analog zu Ricœur gäbe es also eine Art Mimesis des Raums I, II und III; die Räume der erzählten Welt (Mimesis des Raums II) beziehen ihre Spannungen aus dem Reservoir der kulturellen Räume (Mimesis des Raums I) und wirken raumpoietisch darauf zurück (Mimesis des Raums III). Für die Analyse von Transit-Räumen ist damit dreierlei gewonnen: Erstens gibt es eine sinnvolle Verbindung zwischen den empirischen und den literarischen Transit-Räumen. Die Räume, die sich im Hotel konstituieren, sind nicht völlig unabhängig von den Räumen, die ein Erzähler im literarischen Hotel konstituieren kann. Um von einem Hotel zu erzählen, muss es Prozesse der soziokulturellen Wahrnehmung, Vorstellung oder Erinnerung von Hotels geben. Narrative Raumsymbolisierungen und -repräsentationen beziehen sich immer auf diese Syntheseleistungen. Zweitens bewahren sich die literarischen Transit-Räume trotz ihrer Anschlussfähigkeit an kulturelle Prozesse ihre Eigenheiten. Transit-Räume in der Literatur, das sind eben nicht nur Abbildungen kultureller Schauplätze – sie sind eigene Räumlichkeiten mit einzigartigen Möglichkeiten. Texte können phantastische Orte jenseits physikalischer Begrenzungen entwerfen, Reisende in Sekundenbruchteilen über den Globus bewegen, kulturell Unvereinbares zusammenbringen und so eine eigene, komplexe, hochkomprimierte Welt der Transiterfahrungen entstehen lassen. Raum in der Literatur wird hier deshalb verstanden als »narratives Element (und damit als artikulatorische Instanz) des Werks, das sowohl von den Strukturen des gelebten Raums der Empirie wie von den Gestaltungsbedingungen des literarischen Textes abhängig ist«69, wie es Gerhard Hoffmann in seiner Analyse von Raumstrukturen in englischsprachigen Romanen formuliert hat.

68 Hallet/Neumann 2009b, 22. 69 Hoffmann 1978, 2.

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Drittens werden die Transit-Räume der erzählten Welt rückgebunden an die kulturelle (Transit-)Wirklichkeit der Leser. Schon die bloße Konzentration auf das Lesen kann zu einer Veränderung des Reisens führen, wie es Wolfgang Schivelbusch für das 19. Jahrhundert beobachtet hat: »Die Reisenden im 18. Jahrhundert bildeten, wofür wiederum der Reiseroman dieser Zeit eine beredte Illustration bietet, eine lebhaft aufeinander bezogene Reisegesellschaft. Die Reisenden im Eisenbahnabteil [des 19. Jahrhunderts, L.W.] wissen nichts miteinander anzufangen. Die Lektüre ersetzt ihnen die Kommunikation, zu der es nicht mehr kommt.«70

Das Reisen bringt den Reiseroman hervor, und der Reiseroman verändert das Reisen: so kann sich der mimetische Zirkel schließen. Die Möglichkeiten der räumlichen Rückbindung gehen aber über die konkrete Lektüresituation während der Reise weit hinaus. Auch ohne selbst dort zu sein, kann Literatur die TransitOrte verändern, stellt Wolfgang Hallet in Bezug auf englischsprachige Romane fest: »Nach der Lektüre der Romane sind der Londoner Bahnhof in der Liverpool Street (W.G. Sebald, Austerlitz), London als Hauptstadt des Empire (Andrea Levy, Small Island) oder New York als Metropole (Paul Auster, City of Glass) andere Orte als vor der Lektüre, denn die Bedeutung dieser sozialen Räume hat sich durch deren Modellierung verändert, auch wenn diese zuvorderst der Konstruktion einer fiktionalen textuellen Welt dient.«71

Literatur kann so auch als kulturkritischer Gegenentwurf wirksam werden. Durch den Akt des Lesens und den Anschluss an den Raum des Lesers wird es möglich, kulturell vorherrschende Raumordnungen auf einzigartige Weise zu reflektieren und zu hinterfragen. Hallet und Neumann vermuten deshalb, die »raumpoietische Kraft der Literatur« sei »weitaus größer [...] als bisher angenommen«72. Die Mimesistheorie Ricœurs und die daran anschließenden raumtheoretischen Überlegungen können Aufschluss über das spezielle Verhältnis von kultureller und erzählter Raumwirklichkeit liefern. Im Mittelpunkt stehen dabei die Übergänge von der Mimesis I zu II und von der Mimesis II zu III. Was geschieht 70 Schivelbusch 2007, 65. In der Folge entwickelt sich ein ausgeprägter Bahnhofsbuchhandel für Reiseliteratur. Siehe Anmerkung 99. 71 Hallet 2009, 85. 72 Hallet/Neumann 2009b, 23.

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jedoch innerhalb der Mimesis II? Was sind die spezifischen Eigenschaften der Räume der erzählten Welt, die sie zu ihrer mediierenden Position befähigen? Der Übergang von den empirischen zu den literarischen Raumwirklichkeiten und zurück kann als Prozess der Übersetzung oder Umcodierung verstanden werden: »Literatur hat die Möglichkeit, die kulturellen Normen- und Wertehierarchien, die sich in Raummodellen materialisieren, umzucodieren.«73 Es gibt also einen spezifischen räumlichen Code der Literatur, der sich von den sozialen und kulturellen Räumen unterscheidet und über den sich die Eigenheiten der erzählten Räume erfassen lassen. Während sich die meisten sozialen Räume nach Löw durch eine dominante »materielle Komponente« auszeichnen, welche »in der Regel die Voraussetzung für die symbolische Komponente«74 ist, lässt sich vermuten, dass bei den literarischen Räumen die symbolische Komponente in den Vordergrund tritt. Aus semiotischer Perspektive lässt sich jedoch einwenden, dass ohnehin jedes Denken ein Denken in Zeichen oder Symbolen ist75 und damit jeder Raum als Resultat eines semiotischen Erkenntnis- und Interpretationsprozesses gelten kann. Die symbolische Komponente ist also keinesfalls ein Primat der literarischen Räume. Deutlicher als das Verhältnis von Materialität und Symbolik bestimmt die Art der symbolischen Codierung, also die sprachliche Semiotisierung die Eigenheit der erzählten Welt. Die räumliche Enge eines überfüllten Zuges ist auch in der sozialen Wirklichkeit semiotisiert76, lässt sich jedoch unmittelbar physischsensorisch wahrnehmen. In der Beschreibung eines vollen Zugs in der Literatur müssen die Raumkonstituierungsprozesse in das Medium der Literatur transformiert werden, womit sie, »im Sinne Cassirers, allein schon aufgrund ihrer ästhetischen symbolischen Form eine neue Wirklichkeit konstituieren«, wie Wolfgang Hallet seiner Analyse von Fictions of Space bemerkt.77 In dieser Eigenschaft der 73 Hallet/Neumann 2009b, 17. 74 Löw 2001, 193. 75 Charles Sanders Peirce, Begründer der modernen Semiotik, formuliert in einer Aufsatzserie von 1868 bis 1869 seine semiotische Erkenntnistheorie mit dem bekannten Zitat: »If we seek the light of external facts, the only cases of thought which we can find are of thought in signs« (Peirce 1960, CP 5.251). Ähnliche Ansätze finden sich in der zwischen 1923 und 1929 veröffentlichten Philosophie der symbolischen Formen von Ernst Cassirer, der von Symbolen statt Zeichen spricht (Cassirer 2010). 76 So ist etwa die dichte Platzierung von Zugpassagieren ein Hinweis auf einen überfüllten Zug (Index-Beziehung). 77 Hallet 2009, 108 f.

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Literatur als »Semiotisierung zweiter Ordnung«78 sieht Hallet eine Brücke zwischen raumtheoretischer Literatur-, Sozial- und Kulturwissenschaft: »Daher lässt sich [...] der literarische Text als ein komplexer semiotischer Akt betrachten, der Deutungsvorschläge macht und eine kulturelle Rauminterpretationsleistung vollbringt. Wenn es sich beim literarischen Text um eine raumsemiotische Übersetzung aus dem ›Feld der Praxis‹ in das symbolische Feld der Literatur handelt, dann zeichnet sich auch ab, dass eine Raumprozessen interessierte Literaturwissenschaft auch an raumtheoretische Konzepte anschließen kann, die in den Sozial- und Kulturwissenschaften eben dieses ›Feld der Praxis‹ bestellen.«79

Wie die Semiotisierungen im Detail aussehen können, haben Heinz Vater in Einführung in die Raum-Linguistik und darauf aufbauend Katrin Dennerlein in Narratologie des Raumes bereits anschaulich geschildert; speziell Dennerleins Arbeit bietet einen Einblick in die vielfältigen Möglichkeiten zur Ausgestaltung der erzählten Welt und ihrer Räume.80 Die Palette »reicht von Nichterwähnung über generische Angaben über die Determination von Geschehnissen, Lebensbedingungen und Figureneigenschaften durch den Raum bis zu symbolisierender Verdoppelung einzelner Aspekte der erzählten Welt. In dieser Vielfalt lässt sich der Raum der erzählten Welt wesentlich schwieriger systematisieren als die Zeit.«81 Das Mimesismodell Ricœurs und die Systematik raumreferenzieller Ausdrücke Dennerleins sind hilfreiche Ansätze, um den Aufbau des Raums der erzählten Welt und dessen Beziehung zu alltagsweltlichen Räumen zu verstehen. Auch wenn diese literaturtheoretisch beziehungsweise linguistisch orientierten Ansätze 78 Hallet 2009, 109. 79 Hallet 2009, 109. 80 Dennerlein 2009, Vater 1991. Dennerlein unterscheidet zwischen impliziten räumlichen Gegebenheiten, die sich aus Inferenzen des Lesers ergeben – so wie im Beispiel des Ofens in der Wohnung –, und explizit raumreferenziellen Ausdrücken. Zur Klassifizierung raumreferenzieller Ausdrücke zitiert sie Heinz Vater und erweitert dessen Modell um eigene Kategorien wie Eigennamen (»Blaues Schloss, Dörrsche Gärtnerei, Boeing 747, Papamobil«), Toponymika (geografische Ortsangaben wie »Preußen, Asien, Berlin«), Gattungsbezeichnungen (»Speisezimmer, Auto, Kiste«) sowie metrische (»hundert Meter weiter«) oder intrinsische Ortsangaben (»an der Vorderseite des Hauses«). Diese Kategorisierung bezeichnet sie ausdrücklich als »ersten Versuch« ohne Anspruch auf Vollständigkeit (vgl. Dennerlein 2009, 75 ff., 209). 81 Dennerlein 2009, 4.

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in den nachfolgenden Erzähltextanalysen keine konkrete Verwendung finden, sind sie sowohl für die Verschränkung von kultur-, sozial- und literaturwissenschaftlicher Raumtheorie als auch für die Berücksichtigung mikrotextueller Aspekte bei der Analyse erzählweltlicher Raumkonstruktionen erkenntnisleitend. Metaphorischer Raum Die vierte Raumebene, die des metaphorischen Raums, ist die am wenigsten ›greifbare‹ Ebene – zum einen, weil sie von der Materialität des Trägers und der Schrift weitgehend enthoben ist, zum anderen, weil sie sich auch nicht auf konkrete Orte innerhalb der erzählten Welt bezieht. Dennoch können metaphorische Raumkonstruktionen gerade in der Literatur bedeutsam werden, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens können innerhalb der Erzählung Metaphern auftauchen, die räumlich wirksam werden und sich in einen größeren Sinnzusammenhang einordnen lassen. In Elisabeth Bronfens Studie Der literarische Raum findet sich auch eine Untersuchung solcher Strukturen. Im Kapitel »Die metaphorischen Räume« beobachtet sie Raumbeschreibungen, »die nicht unmittelbar auf konkret begehbare Räume verweisen, sondern als Raummetaphern [...] jene vorgestellten (entmaterialisierten) Räume darstellen, denen jegliche Verweisfunktion auf begehbare Räume fehlt.«82

Auch wenn man im relationalen Verständnis wie erwähnt von Orten statt begehbaren Räumen sprechen müsste, sind die von Bronfen herausgearbeiteten Beschreibungen aufschlussreich. So spricht etwa die Protagonistin in den von Bronfen untersuchten Romanen von sich selbst und anderen Figuren immer wieder als ›Welt‹: »Miriam – und ebenso alle anderen Figuren – wird in ihrem Selbstverständnis als world oder territory begriffen. Sie setzt die Begegnung mit anderen Menschen oft einem Zusammentreffen verschiedener Welten gleich [...]. Hierbei bleibt die räumliche Beschaffenheit dieser Raumbegriffe auf der metaphorischen Sinnebene; nur manchmal lässt sich eine Korrelation zum begehbaren gelebten Raum Miriams herstellen.«83

82 Bronfen 1986, 168. 83 Bronfen 1986, 170.

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Jede Interaktion wird in den Romanen also auch metaphorisch verstanden als »Beziehung zwischen zwei worlds«.84 Die Komplexität dieser Metaphorik kann hier nur angedeutet werden; aus ihrer Entfaltung geht tatsächlich eine eigene räumliche Sinnebene hervor. Beispielsweise wird ein Streit zwischen zwei Figuren folgerichtig als »trennende Wand« beschrieben oder ein Kuss als Reise zu einem verbindenden Ort.85 Weder die worlds, noch die trennende Wand, noch der Ort der romantischen Verbindung sind als konkrete Objekte oder Orte innerhalb der erzählten Welt nachweisbar. Dennoch eröffnen diese metaphorischen Orte eine eigene literarische Raumwirklichkeit, deren Untersuchung im Falle Bronfens sogar so ergiebig ist, dass sie den umfangreichsten Teil ihrer Arbeit bildet. Einleitend zitiert sie Ralph Freedman, der schon in den 1960er Jahren die Koexistenz von metaphorischer und objektivierter Welt als besonderes Merkmal der Erzählliteratur hervorgehoben hat: »The metaphor for the novel, more than for any genre, is spatial, because its action unfolds literally in places, i.e., in a world where selves move and experience one another. [...] For the novel always indicates distances between consciousness and object which create space. In the lyric, the distance between self and other is practically eliminated as the world becomes part of the poet’s consciousness. In the novel, distances between them widen and shorten at the novelist’s discretion […] It appears to be a unique quality of the novel that its worlds exist both outside and within consciousness, both in past time and its transcendence or negation.«86

Diese Unterscheidung ist bereits ein Hinweis auf die zweite mögliche Form metaphorischer Raumkonstruktionen: Neben den Einzelmetaphern gibt in der Literatur übergeordnete Raumfiguren, die sich nicht unmittelbar innerhalb der erzählten Welt abspielen, sondern in der Reflexion derselben. Sie wirken also auf einer Metaebene, die selbst räumlich wirksam werden kann. Es handelt sich dabei um ein poetisches Raumkonzept – oder, konkret in Bezug auf Erzählliteratur: um ein übergeordnetes, räumliches Erzählprinzip.87 84 Bronfen 1986, 184. 85 Bronfen 1986, 275, 283. 86 Freedman 1968, 72 f. Elisabeth Bronfen zitiert Freedman in ihrem Kapitel »Die metaphorischen Räume« (vgl. Bronfen 1986, 167). 87 Dieses Raumkonzept bezeichnet auch Cordula Kahrmann als eigene Dimension von Räumlichkeit in der Literatur (vgl. Kahrmann u.a. 1996, 159 f.).

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Abbildung 2: Die Ebenen literarischer Raumwirklichkeit

Quelle: Eigene Darstellung

So können die Topografien, die ein Roman entwirft, auf einem ›labyrinthischen‹ Weltmodell basieren, in dem sich die Figuren immer weiter verlieren und orientierungslos herumirren – Franz Kafkas Texte sind hierfür Paradebeispiele. Entscheidend dabei ist, dass hierfür kein ›reales‹ Labyrinth in der erzählten Welt auftauchen muss, weder als konkreter noch als metaphorischer Ort. Anja Johannsen Raumstudie Kisten, Krypten, Labyrinthe basiert auf der Beobachtung, dass auch die Topografien bei W.G. Sebald auf ein solches labyrinthisches Weltmodell zurückführbar sind, während Herta Müllers Texte die Welt als Kiste entwerfen und Anne Dudens Texte unter anderem an die Raumfiguration einer Krypta erinnern.88 Obwohl in den erzählten Welten dieser Autoren nirgends Kisten, Krypten oder Labyrinthe auftauchen, ist es doch möglich, solche Raumfigurationen aus den Werken herauszulesen. Die These Johannsens, die Texte »entwürfen anhand dieser Räume nicht nur ein Weltmodell, sondern auch ein Modell ihrer selbst«89, bestätigt sich bei allen von ihr untersuchten Prosawerken. Der metaphorische

88 Vgl. Johannsen 2008, 217 ff. 89 Johannsen 2008, 217.

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Raum kann somit zu einem bedeutenden Teil der poetischen Konstruktion literarischer Werke werden. Der Begriff des metaphorischen Raums ließe sich auch noch weiter fassen. In der Forschung zum literarischen Raum ist auch die »Spannung zwischen der wörtlichen und der übertragenen Bedeutung«90 einer Metapher als Raum verstanden worden oder die »bedeutungsstiftende Spannung zwischen denotativer oder referenzieller Sprachfunktion [...] und der konnotativen, emotiven Sprachfunktion, durch die ein Spielraum für Assoziationsmöglichkeiten geöffnet [...] wird«91. Angeregt wurden solche Konzepte durch Roland Barthes, der von drei räumlichen Beziehungen des Zeichens ausgeht92, oder Gérard Genette, der auf den Raum hinweist, den mehrdeutige sprachliche Ausdrücke eröffnen93. Somit wäre jede Metapher und in gewisser Hinsicht sogar jeder sprachliche Ausdruck Teil des metaphorischen Spiel-Raums. Ein derartig weit gefasstes Verständnis der Räumlichkeit von Sprache kann in bestimmten Forschungszusammenhängen sinnvoll sein, wird hier jedoch nicht mit einbezogen. Spannungen wie die zwischen konnotativer und denotativer Sprachebene lassen sich auch beschreiben und beobachten, ohne ihnen räumliche Attribute zuzuweisen, die ohnehin vorwiegend abstrakt bleiben müssen. Mit der Abstraktheit ist schließlich ein generelles Problem dieser Raumebene angesprochen. Während sich die bei Bronfen genannten räumlichen Metaphern noch zumindest in Ansätzen verorten lassen – auch eine als Metapher verwendete Wand ist schließlich noch ein Ort, der bestimmte Handlungen hervorbringt –, scheint den poetischen Raumkonzepten jegliche konkrete Lokalisierbarkeit zu fehlen. Der Grundsatz Löws, dass »alle Raumkonstruktionen mittelbar oder un90 Bronfen 1986, 325. 91 Bronfen 1986, 326. 92 Barthes 1969, 38 ff., Sylvia Sasse fasst die drei Beziehungen prägnant zusammen: »Einmal als Symbol in einer Tiefendimension, die aus der Übereinanderlagerung von Bezeichnendem und Bezeichnetem entsteht, dann als Paradigma, indem es [...] das Bezeichnende mit anderen Bezeichneten [...] vergleicht, und drittens als Syntagma, indem das Zeichen ›in seiner Ausdehnung‹ erfasst wird, in Bezug zum folgenden und vorherigen Zeichen« (Sasse 2009, 226 f.). 93 »[Das] bedeutet, dass ein Wort beispielsweise zwei Bedeutungen auf einmal beinhalten kann, wovon die Rhetorik die eine als literale und die andere als figurative Bedeutung bezeichnete, wobei der semantische Raum, der sich zwischen dem sichtbaren Signifikat und dem realen Signifikat auftut, zugleich die Linearität des Diskurses aufhebt« (Genette 2012, 3).

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mittelbar auf Lokalisierungen basieren, durch die Orte entstehen«94, scheint hier verletzt. Inwiefern sich der metaphorische Raum dennoch an die relationale Raumtheorie anschließen lässt, wird noch diskutiert.95 Weitere Raumebenen Neben den bisher genannten Raumebenen werden in einigen literaturtheoretischen Arbeiten weitere Ebenen genannt, die für die Untersuchung spezifischer Aspekte der Räumlichkeit von Literatur relevant sein können. So wurde bereits erwähnt, dass die Lektüresituation einen Einfluss auf die Textrezeption haben kann; der empirische Leseraum kann also in Wechselwirkung mit dem Text treten. Die Untersuchung dieses Raums ist eigentlich Aufgabe der Sozial- und Kulturwissenschaften, kann jedoch auch literaturwissenschaftlich interessant werden, wie Marie-Laure Ryan an Beispielen deutlich macht. Die Audioguides, die einen Besucher durch ein Museum oder eine Ausstellung führen, knüpfen den gehörten Text eng an den Raum der Ausstellung: »Each part of the text relates to a certain object, and users must coordinate playing the tape with their own progression through the space of the exhibit.«96 Ähnliches ließe sich auch für schriftlich fixierte Ausstellungskataloge oder Stadtführer feststellen. Neue Technologien machen es außerdem möglich, geografische Informationen mit der Literatur zu verschmelzen. Ein Beispiel hierfür ist der mobile-storytelling-Roman The 21 Steps von Charles Cumming, der Satellitenaufnahmen und Erzähltext zu einem digitalen mashup vermengt.97 Ryan hebt auch hier die räumliche Wechselwirkung hervor: »The new digital technologies reconnect stories with physical space by creating texts that must be read in the presence of their referent.«98 Auch im Hinblick auf Transit-Orte ist bereits auf Besonderheiten des Leseraums hingewiesen worden: Insbesondere im 19. Jahrhundert ist es üblich, wäh94 Löw 2001, 201. 95 Siehe Kapitel ›Ein relationaler Raumbegriff für die Literatur‹. 96 Ryan 2009, Abs. 19. 97 Charles Cummings Roman (2008), der nur online verfügbar ist, besteht aus einer Abfolge von Satellitenaufnahmen des Anbieters Google Maps, auf denen Text- und Bildelemente platziert sind. Auf diese Weise folgt der Leser den Romanfiguren durch die Straßen von London bis Edinburgh. Inhaltlich lehnt sich die Erzählung an John Buchans Agententhriller The 39 Steps an, der 1935 von Alfred Hitchcock verfilmt wurde. 98 Ryan 2009, Abs. 18.

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rend des Bahnreisens spezielle Reiseliteratur zu lesen, um sich so in eine »imaginäre Ersatzlandschaft«99 zu begeben. Im Kontext einer Untersuchung derartiger Wechselwirkungen wäre es sinnvoll, die Ebene des Lese- oder Lektüreraums verstärkt einzubeziehen. Zudem ließen sich alle Texte einer kulturellen Struktur zu einem ›Raum der Werke‹ rechnen, innerhalb dessen die Texte aufeinander Bezug nehmen. Der Begriff stammt aus der Literatursoziologie Pierre Bourdieus und bezeichnet dort die diskursive Anordnung aller zu einem bestimmten Zeitpunkt existierenden literarischen Werke sowie der Äußerungen über diese Werke.100 Auch Gérard Genette meint einen ähnlich universalen Raum, wenn er von der »Literatur als Ganzes« als »letzte Art der Räumlichkeit« spricht.101 Eine solche Räumlichkeit ergibt sich, wie Katrin Dennerlein bestätigt, »wenn man sich die literarische Produktion in ihrer Gesamtheit als Menge simultan vorliegender und anonymer Werke vorstellt«.102 Es handelt sich hierbei um ein abstraktes Konzept, das aber auch konkret wirksam werden kann, etwa in der Anordnung von Bücherregalen. »Die Bibliothek: dies ist sicherlich das klarste und wahrheitsgetreuste Symbol für die Räumlichkeit der Literatur«103, bilanziert Genette. Solche textexternen und supertextuellen Aspekte der Räumlichkeit von Literatur werden hier nicht weiter behandelt. Sie zeigen jedoch, dass der literarische Raum auch über den Einzeltext hinaus einen komplexen Forschungsgegenstand bietet.

99 Schivelbusch 2007, 62. »In England entsteht Ende der 1840er Jahre ein organisierter Bahnhofsbuchhandel und ein merkwürdiger Leihverkehr zur Befriedigung des allgemeinen Bedürfnisses nach Reiselektüre«, wie Wolfgang Schivelbusch bemerkt. Dabei handelt es sich um »gutbürgerliche Bildungs- und Romanliteratur, Reiseführer etc.«, die die »Verflüchtigung [...] der Außenwelt« während der Bahnfahrt kompensieren sollen (vgl. Schivelbusch 2007, 63 ff.). 100 Vgl. Bourdieu 2001, 283 ff. 101 »Die letzte Art der Räumlichkeit, die man erwähnen kann, betrifft die Literatur als Ganzes, im Sinne einer immensen zeitlosen und anonymen Produktion. [...] Die ganze Literatur wird präsentiert und vergegenwärtigt, ist vollständig in der Gegenwart präsent, in alle Richtungen durchlaufbar, umkehrbar, Schwindel erregend, insgeheim unendlich« (Genette 2012, 4). 102 Dennerlein 2009, 49. 103 Genette 2012, 4.

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RELATIONALER

R AUMBEGRIFF

FÜR DIE

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Literatur lässt in jedem Moment ihrer Wirksamkeit mehrere Räume gleichzeitig entstehen, die nicht nur unterschiedlicher Ausprägung sind, sondern sich auch unterschiedlich kategorisieren und typologisieren lassen: Dies ist die Besonderheit der literarischen gegenüber den sozialen Raumkonstruktionen. Trotz dieser Komplexität soll hier versucht werden, die Räume und Raumebenen der Literatur mit einem gemeinsamen Raumbegriff zu erfassen. Der relationale Raumbegriff Martina Löws bietet in vielfacher Hinsicht Vorteile für dieses Vorhaben. Zum einen ist die Multidimensionalität und Heterogenität von Räumen im relationalen Raumkonzept bereits fundamental angelegt. Durch das dynamische, prozessuale Verständnis von Raum ergeben sich unmittelbar Möglichkeiten der Verschachtelung und des Ineinandergreifens mehrerer gleichzeitig wirksamer Raumebenen. Eine Ausdifferenzierung von Ebenen wie im Fall der literarischen Räume ist also kein Konstrukt, das dem relationalen Raumkonzept nachträglich übergestülpt werden müsste. Zum anderen sorgt auch das Prinzip der Syntheseleistung für die Anschlussfähigkeit des soziologischen Raumkonzepts an die Literaturwissenschaft. Martina Löw bezieht neben der Wahrnehmung ausdrücklich auch Prozesse der Erinnerung und Vorstellung in ihre Definition der Syntheseleistung ein. Während die Materialität des Trägers und die Linearität der Schrift hauptsächlich in der Wahrnehmung zu Räumen synthetisiert werden, wäre die Entstehung des Raums der erzählten Welt und der metaphorischen Räume ohne Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse undenkbar. Dass Orte wie der Flughafen über ihre materielle Platzierung und ihre geografische Lokalisierung hinaus in den Vorstellungen und Erinnerungen der Menschen weiterbestehen und gerade dort komplexe Raumkonstruktionen hervorbringen können, ist eine der Grundvoraussetzungen von Erzählen und Erzählliteratur überhaupt. Martina Löw beschäftigt sich nur beiläufig mit diesem – aus ihrer Perspektive – »Sonderfall der Konstitution von Raum auf [...] dem weißen Papier«104 . Sie deutet die besonderen Eigenschaften und Möglichkeiten der künstlerischen Räume dennoch an: »Im wissenschaftlichen Arbeiten, Entwerfen, Planen, in der Kunst etc. können Räume konstituiert werden, die nicht bzw. noch nicht mit dem praktischen Spacing abgestimmt

104 Löw 2001, 160.

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sind. Diese Konstitution von Raum ist in erster Linie von Vorstellungen und Erinnerungen geprägt.«105

»Nicht mit dem praktischen Spacing abgestimmt« verweist auf die Fähigkeit, Räume hervorzubringen, die in der empirischen Praxis noch nicht umgesetzt oder nicht umsetzbar sind – eine Fähigkeit der Literatur, die bereits im Zusammenhang mit dem Mimesismodell von Ricœur diskutiert wurde. Auch an dieses Modell lässt sich das Konzept der Syntheseleistungen sinnvoll anschließen, da die Mimesis des Raums ihre Dynamik ebenfalls aus prozessualem Handeln bezieht. Der Akt des Lesens und der Akt des Erzählens bilden die Übergänge von der räumlichen Mimesis I zu II und von II zu III. Beide Akte können als Syntheseleistungen verstanden werden. Ein weiteres grundlegendes Konzept der relationalen Raumtheorie ist die Trennung von Raum und Ort. Diese Unterscheidung kann für literarische Raumkonstruktionen ebenso erkenntnisleitend werden. Auf der Ebene des Schriftträgers lässt sich etwa das Buch mit seinen Seiten als der konkrete Ort bezeichnen, an dem im Verlauf der Lektüre ein Trägerraum synthetisiert wird. In der erzählten Welt sind die Schauplätze Orte und die Räume das, was literarisch ›mit ihnen gemacht wird‹. Auf der Textebene lässt sich der Text selbst als Ort beschreiben, den der Leser sequentiell durchqueren kann, den er aber auch über Vor- und Rückwärtssprünge erschließen kann, um Räumlichkeit herzustellen. »Diese aktive schöpferische Tätigkeit des Lesers kann [...] als die Herstellung eines für jeden Leser eigenen Textes verstanden werden, wodurch der gelesene Roman nicht nur als dynamischer, sondern auch als generativer Raum verstanden werden kann.«106

Jeder Leser bringt im Handeln (in der Lektüre) seinen Roman hervor107 und stellt dabei Räume her – sein Handeln hängt jedoch von den räumlichen Strukturen ab, 105 Löw 2001, 225. 106 Bronfen 1986, 331. 107 Mit der Analyse dieser Prozesse und der Rolle des Lesers im Allgemeinen beschäftigt sich die Rezeptionsästhetik seit den späten 1960er Jahren. Hervorzuheben ist dabei Wolfgang Isers Grundlagentext Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa (1972). Iser versteht den Text als Appell an den Leser, der fortwährend Unbestimmtheitsstellen des Textes füllen oder aktualisieren muss. So kommt es zu vielfältigen individuellen Konkretisationen und Sinnkonstitutionen.

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die Autor, Erzähler oder Verleger108 zur Verfügung stellen. Die räumlichen Strukturen setzen sich zum Beispiel aus den gewählten Orten und Platzierungen sowie ihren Eigenschaften zusammen, aber auch aus den offenen Leerstellen und Ambivalenzen, an die der Leser wiederum individuell anknüpfen kann. Die vermeintliche Statik des Niedergeschriebenen wird durch dieses Konzept einer Wechselwirkung zwischen Handeln und Strukturen dynamisiert, ohne die strukturellen Aspekte der Literatur zu vernachlässigen. Es wird erklärbar, warum ein Werk für jeden Leser etwas anderes bedeuten kann, ohne in der Ausgestaltung und Interpretierbarkeit völlig beliebig zu sein. Zudem macht das Konzept eine Binnendifferenzierung in »Aktionsraum«, »Anschauungsraum« und »gestimmten Raum«, die etwa Seger, Bronfen oder Hoffmann von der Philosophin Elisabeth Ströker für die Literatur übernehmen109, überflüssig. Nach Ströker gibt es für jedes Individuum einen Aktionsraum, in dem zielgerichtete Handlungen im Vordergrund stehen, sowie einen Anschauungsraum, in dem Beziehungen aus der Perspektive des Subjekts bewertet werden – zum Beispiel als nah oder fern, dahinter oder davor. Über den gestimmten Raum lässt sich schließlich ermitteln, welche Stimmungen – etwa dunkel oder hell, laut oder leise – die Umgebung kennzeichnen.110 Diese Differenzierung auf das Raumerleben von literarischen Subjekten zu übertragen hat zur Folge, dass nun innerhalb der erzählten Welt nochmals drei Raumebenen unterschieden werden müssen. Mit dem Raumbegriff Löws lässt sich dies vermeiden, da er die drei genannten Aspekte integriert: dem Aktionsraum entspricht die Handlungsdimension, dem Anschauungsraum die Strukturdimension und dem gestimmten Raum die Atmosphäre von Räumen.111 Diese Dimensionen zusammenzufassen, vereinfacht die Untersuchung und betont das fließende, repetitive Zusammenspiel von Handeln und Strukturen im Alltag. Die Erscheinungsformen Buch, Text oder Schauplatz zeigen, dass die Definition des Orts als Ziel und Resultat von Platzierungen nicht verändert werden muss, um den Bedingungen von Erzähltexten gerecht zu werden. Im Buch werden Buchseiten platziert, im Text werden sprachliche Mittel platziert und an den 108 Der Verleger könnte etwa über die Veröffentlichung als Buch, Fortsetzungsroman oder E-Book entscheiden und so die Eigenschaften des Trägers beeinflussen. 109 Vgl. Seger 2005, 274 ff., Bronfen 1986, 77 ff. und Hoffmann 1978, 55 ff. 110 Vgl. Ströker 1965, 17 ff. 111 Die Atmosphäre von Räumen ist als »in der Wahrnehmung realisierte Außenwirkung sozialer Güter und Menschen in ihrer räumlichen (An)Ordnung« (Löw 2001, 204) integraler Bestandteil von Löws Raumtheorie.

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literarischen Schauplätzen werden Lebewesen und soziale Güter platziert, vermittelt durch die Mimesis des Raums. Die Ebenen unterscheiden sich also lediglich darin, was platziert wird, und wohin platziert wird. Der Raumbegriff Martina Löws sieht ausschließlich die Platzierung von Lebewesen und sozialen Gütern vor. Löw formuliert in ihrer Raumsoziologie jedoch zunächst die Arbeitshypothese, dass »Raum eine relationale (An)Ordnung von Körpern«112 ist, und modifiziert diese Hypothese erst später »im soziologischen Nachdenken über Raum«113 . Für die Literaturwissenschaft wäre es sinnvoll, dieses soziologische Nachdenken wieder zurückzunehmen und zu der weiter gefassten Ursprungsdefinition zurückzukehren. ›Körper‹ ist gegenüber den ›sozialen Gütern‹ der neutralere Begriff; über ihn lassen sich Menschen und Gegenstände gleichermaßen als Objekte mit einer definierten Ausdehnung erfassen. Phänomene wie die sprachlichen Mittel eines Textes als Körper zu bezeichnen, scheint dennoch das Wesen der Sprache nur unzureichend zu erfassen. Darüber hinaus sind Fragen des Körperlichen und des Körpers in der Literatur vielfach auf den erzählten menschlichen Leib bezogen worden, so dass es hier zu einer Vermischung mit bereits etablierten Begrifflichkeiten kommen würde. Alternativ kann man die Definition je nach Raumebene neu formulieren und an das jeweils Platzierte sowie den Ort anpassen. Der Trägerraum ist demnach eine relationale Anordnung von Buchseiten in Büchern114, der Textraum ist eine relationale Anordnung von sprachlichen Einheiten in Texten und der Raum der erzählten Welt ist eine (erzählte, mimetisch vermittelte) relationale Anordnung von Figuren, Lebewesen, Objekten etc. an Schauplätzen. Auch ohne die eine, allgemein gültige Raumformel zu liefern, schließen diese Definitionen erkennbar und unmittelbar an die Theorie Löws an. Lediglich für die Ebene des metaphorischen Raums ist eine solche Definition nicht vollständig möglich. Der Grund hierfür wurde bereits genannt: Löws Konzept ist ortsgebunden und sieht Räume ohne Lokalisierungen nicht vor. Dennoch schließt Löw den metaphorischen Gebrauch von Raum nicht vollkommen aus. Sie fügt hinzu: »Läßt sich keine Lokalisierung bestimmen, dann wird der Raumbegriff nur metaphorisch benutzt«115. So könnte man die fehlende Verortbarkeit gerade als wesentliche Eigenschaft des metaphorischen Raums be112 Löw 2001, 131, Hervorhebung L.W. 113 Löw 2001, 153. 114 Für andere Schriftträger muss diese Definition entsprechend der Bedingungen des Trägers modifiziert werden. 115 Löw 2001, 201.

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schreiben. Er konstituiert sich im Nachdenken über Orte, nicht an Orten. Damit ist er jedoch grundverschieden von den anderen Räumen, weshalb auch MarieLaure Ryan vorschlägt, metaphorische Verwendungsweisen des Raumbegriffs generell von anderen abzuheben.116 Als Annäherung lässt sich die Hypothese festhalten, dass sich der metaphorische Raum im engeren Sinne immer dann konstituiert, wenn das Nachdenken über den Raum selbst räumlich-poetisch wirksam wird.

116 »When speaking of space in narratology and other fields, a distinction should be made between literal and metaphorical uses of the concept« (Ryan 2009, Abs. 3).

Transit-Texte

Dynamik und Gradlinigkeit: Auf eisernen Bahnen

V OM

SEHENDEN

R EISENDEN

ZUM BLINDEN

P ASSAGIER

Am 5. Mai 1843 berichtet ein Augenzeuge über einen der ersten Transit-Orte der Moderne. Gefeiert wird die Eröffnung der französischen Eisenbahnlinien in Paris. Der Augenzeuge ist Heinrich Heine: »Die Eröffnung der beiden neuen Eisenbahnen, wovon die eine nach Orleans, die andere nach Rouen fährt, verursacht hier eine Erschütterung, die jeder mitempfindet, wenn er nicht etwa auf einem socialen Isolirschemel steht. [...] Während [...] die große Menge verdutzt und betäubt die äußere Erscheinung der großen Bewegungsmächte anstarrt, erfaßt den Denker ein unheimliches Grauen, wie wir es immer empfinden, wenn das Ungeheuerste, das Unerhörteste geschieht, dessen Folgen unabsehbar und unberechenbar sind. [...] Die Eisenbahnen sind [...] ein providenzielles Ereigniß, das der Menschheit einen neuen Umschwung giebt, das die Farbe und Gestalt des Lebens verändert; es beginnt ein neuer Abschnitt in der Weltgeschichte, und unsre Generazion darf sich rühmen, daß sie dabey gewesen.«1

In Heines Bericht wird deutlich, dass die Beschleunigung vom gemächlichen Reisetempo der Postkutsche hin zu den »großen Bewegungsmächte[n]« der Eisenbahn keine bloß graduelle Veränderung ist. Die Eisenbahn ist nicht nur Mittel, um den beschleunigten Ereignissen der Moderne beizuwohnen, sondern wird selbst zum beschleunigenden Ereignis, das Menschen in ganz Europa fasziniert. 1

Heine 1990, 57 f. Der Zeitungsartikel für die Augsburgische Allgemeine Zeitung wird auch bei Wolfgang Kaschuba und Wolfgang Schivelbusch zitiert (vgl. Kaschuba 2004, 90 und Schivelbusch 2007, 38 f.).

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Dem Literatur- und Kulturwissenschaftler Wolfgang Schivelbusch und seiner Monografie Geschichte der Eisenbahnreise ist es zu verdanken, dass die Faszination dieses kulturellen Wandels bis heute nachvollziehbar ist.2 In Die Überwindung der Distanz hat Wolfgang Kaschuba die Beobachtungen Schivelbuschs ergänzt und die Auswirkungen von Technik und Tempo bis in die heutige Zeit verfolgt.3 Auch ein Teil der literarischen Zeugnisse des Eisenbahnzeitalters ist in Anthologien und Monografien dokumentiert und interpretiert worden.4 Die Eisenbahn sowie ihre Bahnhöfe gelten inzwischen nicht mehr als ein, sondern als das bestimmende Merkmal der beginnenden europäischen Moderne. Johannes Mahr bilanziert: »Im 19. Jahrhundert läßt sich die Bedeutung der Bahn für die Industrialisierung, für die Veränderung im Charakter der Städte, für den Umbau der bisher fast unberührten Landschaft, für die Form des Zusammenlebens kaum überschätzen.«5 War die Eisenbahn im frühen 19. Jahrhundert noch praktisch unbekannt – die erste öffentliche Eisenbahn fuhr 1825 in England –, entfallen um 1900 bereits über 80 Prozent des mitteleuropäischen Verkehrsaufkommens auf die Bahn.6 Die Anzahl der Personenkilometer steigt dabei allein zwischen 1866 und 1913 von 3,14 Milliarden auf 41,4 Milliarden und das Schienennetz vergrößert sich von 14 787 km (1886) auf 63 378 km (1913)7, während sich die Bevölkerungszahl Europas nur um den Faktor 1,5 erhöht8. Im 19. Jahrhundert steigen also Zahl und Dauer der Aufenthalte im Transit mit öffentlichen Verkehrsmitteln rasant an. Die klar dominanten Verkehrsmittel und Verkehrsorte sind die Eisenbahnen und die Bahnhöfe. Über die Transit-Orte des 19. Jahrhunderts zu sprechen bedeutet in erster Linie, über die Eisenbahn zu sprechen. 2

Schivelbusch 2007.

3

Kaschuba 2004.

4

Hervorzuheben sind die Monografien von Johannes Mahr, der sich dem Phänomen Eisenbahn in der Literatur des 19. Jahrhunderts vor allem über lyrische Texte nähert, sowie von Alfred Heinimann, der deutschsprachige und englische Eisenbahntexte des 19. Jahrhunderts gegenüberstellt (Mahr 1982, Heinimann 1992). Zu den bekanntesten Anthologien zählen die von Wolfgang Minaty, Mario Leis und Liz Künzli (Minaty 1984, Leis 2003, Künzli 2007a).

5

Mahr 1982, 11.

6

Vgl. Mahr 1982, 17.

7

Vgl. Nipperdey 1991, 260.

8

Die Bevölkerungszahl Europas beträgt im Jahr 1850 etwa 276 Millionen, im Jahr 1900 etwa 408 Millionen. Vgl. Birg 2004, 50.

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Zugleich ist die Geschichte der Eisenbahn die Geschichte einer räumlichen Irritation, die von den Autoren der Zeit aufgeregt verfolgt und literarisch dargestellt wird. Heinrich Heine berichtet weiter: »Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unserer Anschauungsweise und in unsern Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getödtet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. [...] Mir ist als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Thüre brandet die Nordsee.«9

Die Irritation basiert auf einem absoluten, territorial gedachten Raumbegriff. Aus heutiger Sicht lässt sich der Annahme einer Raumtötung leicht widersprechen; dennoch ist sie ein gutes Beispiel für die allgemeine Beunruhigung, die die Ausbreitung der rasenden Dampfmaschinen in Europa auslöst. »Vernichtung von Raum und Zeit, so lautet der Topos, mit dem das frühe 19. Jahrhundert die Wirkung der Eisenbahn beschreibt«10, fasst Wolfgang Schivelbusch zusammen. Gemeint sein kann damit nicht die Vernichtung der Möglichkeiten, raumgreifend zu handeln. Im Gegenteil: Das territorial zugängliche Gebiet der Menschen wird durch die Eisenbahnen sogar erweitert, wie sich in Heines »nur halb ironischer Beobachtung«11 andeutet, die Nordsee brande nun bereits vor seiner Pariser Haustür. Als vernichtet erlebt werden vielmehr das überlieferte RaumZeit-Kontinuum und dessen Darstellungsformen. Zwei Faktoren spielen dabei eine entscheidende Rolle. Erstens ist die Eisenbahn ein Verkehrsmittel der berauschenden Dynamik. Es ist das erste von Menschen entwickelte Verkehrsmittel, das eine wirklich enorme Beschleunigung in der Geschwindigkeit zu Land ermöglicht. Definiert die Physik Dynamik als Bewegung von Körpern unter Einwirkung von Kräften, so sorgt die dramatische Steigerung jener Kräfte für eine ganz neue Erfahrung von Be9

Heine 1990, 58.

10 Schivelbusch 2007, 35. 11 Rosa 2008, 77. Hartmut Rosa untersucht in seiner Studie Beschleunigung die Zeitstrukturen der Moderne und berührt dabei auch Aspekte der veränderten Raumwahrnehmung. Im Zusammenhang mit Heines Artikel nennt Rosa weitere Autoren der Zeit und stellt fest: »In der Literatur der Moderne [...] sind die Erfahrungen jenes ›sozialen Wirbelsturms‹, der fortwährenden und beschleunigten Umwälzung des Bestehenden und das traumatische, schockartige Erleben der durch Technisierung veränderten Lebenswelten geradezu ubiquitär« (Rosa 2008, 77 f.).

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wegung. Zwischen den frühen Wanderungsbewegungen zu Fuß und den Postkutschenfahrten des 18. Jahrhunderts liegen zwar etliche Jahrhunderte, in denen die Infrastruktur stark ausgebaut wurde, um die Reisezeiten zu verkürzen. Die Reisegeschwindigkeiten haben sich aber in diesem Zeitraum nicht wesentlich verändert. Schivelbusch bemerkt: »Der Grund dafür ist, daß die animalische Energie, auf der der Landverkehr basiert, über eine bestimmte, und zwar niedrige, Schwelle hinaus nicht zu steigern ist.«12 Mit der Mechanisierung des Landverkehrs sind hingegen gewaltige Steigerungen der Energie möglich; bereits die ersten englischen Eisenbahnen fahren im Durchschnitt dreimal so schnell wie die Postkutschen.13 1832 wird in den USA die erste Lok fertiggestellt, die die zuvor unvorstellbare Geschwindigkeit von 100 km/h erreicht, 1893 sind bereits 181 km/h möglich.14 Zweitens dringt die tonnenschwere Maschine mit ungewohnter Gradlinigkeit in die Landschaft. Diese Gradlinigkeit zeigt sich vor allem beim Bau der neuen Schienenwege durch Europa und im Kontrast zu den alten Verkehrswegen. »Vorindustrielle Verkehrsbewegung ist Mimesis an die äußere Natur. Schiffe treiben mit Wasser- und Windströmungen, Bewegung zu Lande folgt den natürlichen Unebenheiten der Landschaft und ist eingebunden in die physische Leistungskraft der Zugtiere.«15 Für die Eisenbahn hingegen werden Gelände begradigt, Unebenheiten aufgeschüttet, Tunnel in die Berge gebohrt und Brücken gebaut, um die Strecke »wie ein Lineal durch die Landschaft«16 zu legen und strikt »mechanische Regelmäßigkeit gegen natürliche Unregelmäßigkeit«17 durchzusetzen. Straßen können sich der Umgebung anpassen, das Eisen der Schienenwege fordert Gradlinigkeit und Präzision.18 12 Schivelbusch 2007, 13. 13 Vgl. Schivelbusch 2007, 35. 14 Vgl. Reuter 1978. Dies entspricht etwa 60 beziehungsweise 112 Meilen pro Stunde. 15 Schivelbusch 2007, 15. 16 Schivelbusch 2007, 27. Ein Musterbeispiel eines solchen Streckenverlaufs in der Spätmoderne ist die Eisenbahn-Hochgeschwindigkeitsstrecke Frankfurt-Köln, die zwischen 1995 und 2002 gebaut wurde. Auf 180 Kilometern gibt es 38 Tunnel (vgl. Brill 2014). 17 Schivelbusch 2007, 27. 18 Ein frühes literarisches Zeugnis dieser Entwicklung ist Jules Vernes Die Reise zum Mittelpunkt der Erde von 1864. Auf der Reise von Hamburg-Altona nach Kiel stellt der Ich-Erzähler fest: »Es war eine lange Abfolge von wenig Aufsehen erregenden Ebenen, eintönig, schlammig und recht fruchtbar: ein Land, das wie geschaffen war

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Eine beliebte Metapher der Zeit ist die Eisenbahn als Projektil, das durch die Landschaft schießt19, womit die Dynamik und die Gradlinigkeit des neuen Verkehrsmittels zugleich angesprochen sind. Vor allem aber zeigt sich damit, dass die Eisenbahn auch negativ gedeutet wird, als ein Objekt, das mit tödlicher Gewalt in die Landschaft eindringt. Der Zug als rasendes Geschoss der Industrialisierung nimmt von Anfang an keine Rücksicht auf seine Umgebung, er »war schon immer indiskreter und ist es heute noch«20, wie Marc Augé beklagt. Die Reise mit der Eisenbahn findet nun »durch die Landschaft, nicht mehr in der Landschaft statt«21, fasst Wolfgang Kaschuba zusammen und stellt damit eine Transitdiagnose: Das ›Durch‹, die Passage wird zum zentralen Moment. Die Folge ist eine kategorisch veränderte Raum- und Reisewahrnehmung. Schivelbusch hat im Blick auf eine Eintragung in Goethes Tagebuch seiner dritten Schweizer Reise von 1797 gezeigt, wie detailliert die Beschreibung einer Reise, die noch bei dem bedächtigen Tempo und den verschlungenen Wegen einer Kutschenfahrt gemacht wird, sein kann. Einzelne Personen bei der Arbeit, Tiere am Wegesrand, Weinanbaugebiete und die Qualität der Straßenbeläge werden ausführlich und minutiös beschrieben.22 Es handelt sich gewissermaßen um ein Schreiben von Moment zu Moment – und von Ort zu Ort: Die Reise verläuft so langsam und unmittelbar, dass der Reisende noch in der Lage ist, die wahrgenommenen Güter und Lebewesen präzise an den geografischen Ort zu binden, an dem sie platziert sind. Es ist möglich, einen Reiseraum zu konstituieren, der eng an die durchreisten Orte gebunden ist. Mit der Dynamik und Gradlinigkeit der Eisenbahn wird diese Fähigkeit grundlegend in Frage gestellt. »Jene exakte Wahrnehmung des konkreten Ortes und Moments des Reisens, die sich zuvor in gleichmäßiger Intensität aufbaute, gibt es mit der Eisenbahn nicht mehr.«23 Dörfer, Menschen, Landschaften jagen am Abteilfenster vorüber, und die Reisenden sind zu Beginn des Eisenbahnzeitalters nicht in der Lage, die in ungewohnter Schnelligkeit präsentierten Wahrnehmungen sinnvoll zu ordnen. Die »Angehörigen des 19. Jahrhunderts, die noch am vorindustriellen Reisen orientiert sind«, sind zunächst nicht fähig, »eine zum Bau von Eisenbahnen und hervorragend geeignet für die schnurgeraden Linien, die den Eisenbahngesellschaften so sehr am Herzen liegen« (Verne 2005, 57). 19 Vgl. Schivelbusch 2007, 52 f. 20 Augé 2010, 100. Siehe Kapitel ›Vom Transit-Ort zum Nicht-Ort?‹. 21 Kaschuba 2004, 95. 22 Vgl. Schivelbusch 2007, 51. 23 Kaschuba 2004, 95.

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dem neuen Transport entsprechende Wahrnehmung zu entwickeln«.24 Der Feuilletonist Benjamin Gastineau beschreibt die Probleme, den Blick zu fixieren: »Die Dampfkraft, dieser machtvolle Maschinist, verschlingt einen Raum von 15 Meilen pro Stunde und reißt dabei die Kulissen und Dekorationen mit sich; sie verändert in jedem Augenblick den Blickpunkt, sie konfrontiert den verblüfften Reisenden hintereinander mit fröhlichen und traurigen Szenen, burlesken Zwischenspielen, mit Blumen, die wie Feuerwerk erscheinen, mit Ausblicken, die, kaum daß sie erschienen sind, schon wieder verschwinden [...].«25

Noch zugespitzter formuliert es Victor Hugo am 22. August 1837 in einem Brief an seine Frau Adèle: »Die Blumen am Feldrain sind keine Blumen mehr, sondern Farbflecken, oder vielmehr rote oder weiße Streifen; es gibt keinen Punkt mehr, alles wird Streifen; die Getreidefelder werden zu langen gelben Strähnen; die Kleefelder erscheinen wie lange grüne Zöpfe; die Städte, die Kirchtürme und die Bäume führen einen Tanz auf und vermischen sich auf eine verrückte Weise mit dem Horizont [...].«26

Die Unfähigkeit, angesichts des Geschwindigkeitsrauschs die durchfahrenen Orte geordnet wahrzunehmen und zu Reiseräumen zu synthetisieren, konfrontiert die Reisenden somit erstmals mit einem Kernproblem des Transitorischen, dem Eindruck der Ortlosigkeit. Wenn draußen jeder feste Punkt zum Streifen verschwimmt, stellt sich im Abteil das Gefühl ein, überhaupt keinen Ort mehr ausmachen zu können und durch das bloße Nirgendwo zu reisen. Der sehende Reisende gerät zum blinden Passagier: »Die Eisenbahn kennt nur noch Start und Ziel.«27 Schivelbusch zitiert den Psychologen Erwin Straus:

24 Schivelbusch 2007, 56. 25 Gastineau 1861, 31. Das Zitat folgt der Übersetzung von Schivelbusch, der auf Gastineaus Reisebericht hinweist (Schivelbusch 2007, 59). Nach der Raumverschlingung – »dévorant un espace de quinze lieues à l’heure« – spricht Gastineau später auch explizit von der Raumtötung: »Le chemin de fer, supprimant l’espace« (Gastineau 1861, 31, 41). 26 Hugo 1974, 281. Der Hinweis auf diesen Brief findet sich bei Schivelbusch, von dem auch die Übersetzung übernommen wurde (Schivelbusch 2007, 54). 27 Schivelbusch 2007, 39.

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»Vor der Erfindung der Eisenbahn entwickelte sich für den Reisenden der geographische Zusammenhang aus dem Wechsel der Landschaften; der Reisende gelangte noch von Ort zu Ort; während wir am Morgen einen Zug besteigen können, uns dann 12 Stunden im Zug, also gleichsam nirgendwo befinden und am Abend in Paris aussteigen.«28

Zwar entstehen durch die Eisenbahnen auch neue, hochkomplexe Orte im Unterwegs – das Abteil, der Speisewagen, der Seitengang oder das Führerhaus29 –, diese Orte werden aber offenbar zunächst als nur wenig stabile und identitätsstiftende Strukturen angesehen. Mehr Stabilität versprechen die Eisen- und Steinkonstruktionen der überall in Europa entstehenden Bahnhöfe. Sie werden außerhalb des Geschwindigkeitsrauschs erlebt, etwa im langsamen Ein- und Ausfahren der Bahn, und können daher als geografisch eindeutig markierte Orte wahrgenommen werden. Allerdings stellen sie auch den unmittelbaren Anschluss an das rasante Nirgendwo der Bahnreise dar. Insofern kennzeichnet das Changieren zwischen Stabilisierung und Destabilisierung den Transit-Ort Bahnhof von Beginn an. Diese Doppelbelegung lässt sich an der Architektur der frühen Bahnhöfe ablesen: Sie bestehen einerseits aus der Bahnhalle für die ein- und ausfahrenden Züge, andererseits aus dem Empfangsgebäude mit den Wartehallen, in denen die Reisenden Platz nehmen können, bis sie zu ihrem Zug gebracht werden – ähnlich wie es heute in Flughäfen üblich ist. Bis 1860 waren die Wartehallen der einzige Zugang zu den Bahnsteigen, und noch bis in die 1960er Jahre hinein war es üblich, sich in den Wartehallen auf die Zugfahrt vorzubereiten.30 Schivelbusch argumentiert, die Wartehallen hätten nicht nur eine infrastrukturelle Funktion erfüllt, sondern auch als »Reizschutz« gedient: »Die steinernen Fronten der Bahnhöfe [erfüllen] [...] die Reizschutz-Funktion, die so grundverschiedenen Bereiche von Stadt-Raum und Eisenbahn-Raum miteinander zu vermitteln. Das steinerne Empfangsgebäude, das die Bahnhalle verdeckt, ist notwendig, so-

28 Straus 1956, 320, Hervorhebung L.W. 29 Zur kulturwissenschaftlichen Bedeutung dieser Orte sowie den engen Zusammenhang zwischen der europäischen Kultur und der inneren Aufteilung der Waggons (Abteile, Klassen usw.), auch in Abgrenzung zur amerikanischen Eisenbahn, vgl. Schivelbusch 2007, Kap. 5 und 6. 30 Vgl. Schivelbusch 2007, 152 ff. (für das 19. Jahrhundert) und Wucherpfennig 2006, 119 ff. (für das 20. Jahrhundert). Zur Veranschaulichung findet sich bei Wucherpfennig auch ein Grundriss des Mainzer Hauptbahnhofs von 1911.

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lange die Stadt noch wesentlich vorindustriell in ihrem Charakter ist. Ein abrupter, nicht durch die Steinarchitektur ›abgebremster‹ bzw. gefilterter Eintritt der industriellen Apparatur Eisenbahn in die Stadt wäre zu diesem Zeitpunkt zu schockierend.«31

Die Wartehalle fungiert als Schleuse zwischen dem beschleunigten Transitverkehr in der Bahnhalle und dem noch nicht im gleichen Maße beschleunigten Lebenstempo der Städte.32 So teilt sich die frühe Welt des Eisenbahnreisens ein in den Aufenthalt am Startbahnhof, einen unverortbaren Zwischenraum im Transit und die Ankunft am Zielbahnhof. Joseph von Eichendorff entwirft um 1850 das Bild einer unüberschaubaren Welt aus Bahnhöfen: »Diese Dampffahrten rütteln die Welt, die eigentlich nur noch aus Bahnhöfen besteht, unermüdlich durcheinander wie ein Kaleidoskop, wo die vorüberjagenden Landschaften, ehe man noch irgendeine Physiognomie gefaßt, immer neue Gesichter schneiden, der fliegende Salon immer andere Sozietäten bildet, bevor man noch die alten recht überwunden.«33

Erst allmählich bildet sich ein neues Wahrnehmungsschema heraus, das den Einzelorten an der Wegstrecke weniger Beachtung schenkt und die vorbeiziehende Landschaft als kontinuierliches und bewegtes Panorama inszeniert. Es entsteht der panoramatische Blick aus dem Abteilfenster. Diesen Begriff entwickelt Schivelbusch in Anlehnung an Dolf Sternberger, der in Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert auch die veränderte Wahrnehmung durch die Eisenbahnen beschrieben hat:

31 Schivelbusch 2007, 155. 32 Dass diese Schleuse in den folgenden Jahrzehnten immer weiter geöffnet und schließlich obsolet wird, ist ein Hinweis auf den Einfluss, den die Transit-Orte auf den modernen Menschen gehabt haben – und umgekehrt. Der ganze Bahnhof wird nun zum Transit-Ort: »Der moderne Mensch hat es stets eilig, und die Romantik der Eisenbahnfahrt ist längst überwunden. Statt sich im Wartesaal auszuruhen, kommt der Reisende meistens erst in den letzten Minuten am Bahnhof an, durchschreitet rasch die Schalterhalle und begibt sich gleich zum Bahnsteig. [...] Bei der allmählichen Verringerung der Warteräume werden die Schalterhallen immer mehr zu Durchgangshallen« (Kubinszky 1969, 123). Auf das Zitat weist Claudia Wucherpfennig in ihrer Studie hin (vgl. Wucherpfennig 2006, 123). 33 Eichendorff 1993, 381.

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»Die Eisenbahn bildete die neu erfahrbare Welt der Länder und Meere selber zum Panorama aus. Sie verband nicht bloß zuvor entfernte Orte miteinander [...], sie wendete vielmehr die Blicke der Reisenden [...] nach außen und bot ihnen die reiche Nahrung wechselnder Bilder dar, welche während der Fahrt die einzig mögliche Erfahrung ausmachten.«34

Die panoramatische Perspektive ist aus raumtheoretischer Sicht interessant, weil sie die Geschwindigkeit nicht mehr als Feind der Wahrnehmung begreift, sondern sich überhaupt erst in der Bewegung entwickeln kann. Die neuinszenierte Landschaft des Eisenbahnzeitalters ist »eine durch die Bewegung konstituierte Szenerie, deren Flüchtigkeit die Erfassung des Ganzen, d.h. einen Überblick möglich macht«35. Kein Panorama ohne Bewegung, keine Landschaft ohne Transit. Die Einsicht, dass Raum erst in der Bewegung möglich ist, präsentiert sich den Reisenden an den Abteilfenstern klarer als je zuvor. Die dynamisierte Wahrnehmung erhält auch Eingang die literarischen Werke der Zeit. Zusammenfassend lässt sich mit Wolfgang Kaschuba für das 19. Jahrhundert feststellen: »Mit der modernen Reisekultur entwickelt sich [...] ein Wahrnehmungsschema, das Ausgangspunkt und Zielpunkt der Reise als Koordinaten nimmt, zwischen denen sich die Abfolge von Tagen und Stationen als ein eher unkonturierter Zwischen-Raum darstellen. Erst die Unterbrechung, die Pause macht diesen Zwischen-Raum zum ›Ort‹. Es ist also die Bewegung des Reisenden selbst, die räumliche Zusammenhänge produziert und strukturiert, nicht der amorphe Raum. Und da das Reisen eine passagenhafte Bewegung verkörpert, linear, aber nicht gleichförmig, voller Wechsel und Übergänge, produziert diese Bewegungsform nun auch eine passagenförmige Schreib- und Erinnerungskultur: die des Episodischen, des Narrativen, des Tagebuchhaften.«36

Kaschuba weist weiterhin darauf hin, dass die »passagenförmige Schreib- und Erinnerungskultur« den kulturellen Wandel durch die Eisenbahn nicht einfach nur abbildet. Die Literatur und die Presse sorgen vielmehr selbst erst dafür, dass die Revolution der Wahrnehmung tatsächlich als revolutionär empfunden wird. Die veröffentlichten Texte regen zu einer Debatte über Schnelligkeit an, bauen 34 Sternberger 1974, 46. Aus diesen und weiteren Überlegungen Sternbergers entwickelt Schivelbusch den Begriff des panoramatischen Blicks (vgl. Schivelbusch 2007, 60 f.). 35 Schivelbusch 2007, 59. 36 Kaschuba 2004, 75.

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ein radikalisiertes Vorher-nachher-Modell auf und sorgen durch die Eisenbahnlektüre für eine kommunikativ-mediale Verdichtung: »Man liest gleichsam während der Zugfahrt, wie wahrnehmungsrevolutionierend das Zugfahren doch ist. [...] So entsteht die viel beschworene Kompression der Wahrnehmung eben nicht nur durch das Eisenbahnreisen selbst, also durch technische Innovation plus empirischen Eindruck, sondern auch durch ästhetisch-kulturelle Deutungsmuster, die bereits in den zeitgenössischen Blicken und Quellen angelegt sind.«37

Zwei dieser Texte markieren besonders aufschlussreich die Schnittstelle zwischen dem neuen, panoramatischen Wahrnehmungsschema und dem alten, das durch die Eisenbahn irritiert wird.

W ERKZEUG DES Z EITGEISTES : E INE W INTERNACHT DER L OKOMOTIVE

AUF

Die Werke Max Maria von Webers38 sind heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Für einen Einblick in die Pionierzeit der Eisenbahn sind sie dennoch bemerkenswert, da Weber schon früh detailliert über das neue Transportmittel berichten konnte. Er war geradezu ein Universaltalent des Eisenbahnwesens: Während seines Studiums arbeitete er als Konstrukteur in einer Lokomotivfabrik und in verschiedenen Eisenbahnwerkstätten, um später als Lokomotivführer zwischen Berlin und Jüterbog eingesetzt zu werden. Im Staatsdienst war Weber schließlich Direktor der Erzgebirgischen Eisenbahn. Unterdessen war er immer wieder publizistisch tätig. Seine Werke handeln fast ausschließlich von Eisenbahnen, Bahnhöfen, Bahnreisenden oder Bahnangestellten und waren zu ihrer Zeit außerordentlich populär.39 Alfred Heinimann erwähnt Weber in seiner Studie zur frühen englischen und deutschen Eisenbahnliteratur nur kurz, stellt jedoch fest: »Er ist der einzige schreibende Eisenbahner des 19. Jahrhunderts von Rang, der neben einer grossen Zahl von Fachschriften und dem Entwurf einer Philosophie der Technik nach den Worten eines zeitgenössischen Kritikers einen

37 Kaschuba 2004, 97 f. 38 Max Maria von Weber war ein Sohn des Komponisten Carl Maria von Weber und lebte von 1822 bis 1881. 39 Vgl. Mahr 1982, 47.

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völlig neuen Zweig der Belletristik begründet hat, ›[...] die technische Novelle [...]. Er hat die Poesie der Schiene entdeckt.‹«40 Auch die 1865 veröffentlichte Erzählung Eine Winternacht auf der Lokomotive ist eine solche technische Novelle. In ihrem Mittelpunkt steht der Nachtschnellzug ›Greif‹, der von einem Lokomotivführer und seinem Heizer bei minus 15 Grad Celsius durch nächtliche Schneestürme gefahren wird. In der Art und Weise, wie die Reise des Schnellzugs beschrieben wird, klingen bereits deutlich die veränderten Wahrnehmungsmodi der frühen Eisenbahnzeit an. Zu Beginn der Erzählung steht der Schnellzug erst einmal, und zwar am Bahnhof der fiktiven Ortschaft Moorstedt. Diese Station ist nicht die erste des Zugs, und es wird auch nicht die letzte sein – der Zug und seine Passagiere befinden sich also mitten im Transit. Sie sind auf ihrer Fahrt bereits orientierungsund ortlos geworden: Einer der Passagiere fragt »im Zweifel, ob er sich in Prag, Dresden oder Hannover befinde, den Schaffner nach Zeit, Ort und dem Grunde [...], ›warum so lange gehalten werde?‹«41 Nicht die Dynamik, sondern der Stillstand erscheint den bereits an das moderne Tempo angepassten Reisenden bemerkenswert. Ort und Zeit lassen sich nicht selbstständig ermitteln, sondern müssen beim Personal erfragt werden. Die räumliche Konfiguration der Abfahrtshalle im Bahnhof gestaltet sich entsprechend transitorisch: Aus seinem »behaglichen Kabinett« tritt der Bahnhofsvorsteher heraus in die Halle, »in die ein schneidender Nordostwind feines Schneegestöber hereinwehte und die lange Perspektive der Gasflammenreihen bald aufflackern ließ, bald halb verlöschte«42. Über die Lichterreihe wird die an die horizontale Perspektive der Schienenwege erinnert, die aus der offenen Hallenkonstruktion hinaus ins Nirgendwo führen. Andererseits gibt es ebenjenes behagliche Kabinett, über das sich das Personal dem Transitorischen entziehen kann. Dieses Mittel der Kontrastierung wird im Laufe der Erzählung immer wieder angewendet. In die temporeich erzählte Bahnfahrt werden kurze Episoden eingeflochten, die eine noch unbeschleunigte Welt außerhalb der Eisenbahnwelt skizzieren. Der Lokomotivführer Zimmermann ist durch seine Fahrten auf einem »Weg [...], der zwanzigmal um den Erd-

40 Heinimann 1992, 220. Der zeitgenössische Kritiker, den er dabei zitiert, ist Fritz Schliebusch (Schliebusch 1928, 287). 41 Weber 1926, 76. 42 Weber 1926, 76.

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ball reicht«, bereits in jungen Jahren alt und gebrechlich geworden43 – dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die bekannten Raum- und Zeitstrukturen im Transit aufgebrochen werden. Analog zum behaglichen Kabinett des Vorstehers hat aber auch er ein behagliches Zuhause. Während er den Zug in Moorstedt übernimmt und schon auf dem Führerstand steht, reicht ihm seine Ehefrau Luise noch einmal die Hände, quer zur horizontalen Flucht der Schienen und als letzte Bindung vor der entfesselten Reise. Sein Abschiedsgruß steht im räumlichen Gegensatz zu der bitterkalten Fahrt im Stehen, die ihm bevorsteht: »Denkt an mich, wenn Ihr warm liegt.«44 Auch sein Heizer »Gärtner«45 hat eine Frau, auch sie »liegt zu Hause«46, wenn auch weniger behaglich, sondern hochschwanger, weshalb die Gedanken des Heizers unterwegs immer wieder abschweifen. Dass die Männer mit ihren heimeligen Familienentwürfen nicht allein sind, wird auf der Fahrt angedeutet, wenn »Lichter aus Hütten nahegelegener Dörfer« wie »freundliche Sterne« herüber leuchten: »Wie warm und sicher und traulich muß es um diese herum sein!«47 Zwei Räume werden also gegenübergestellt: der dynamische Transit-Raum der Eisenbahn und der Raum des traditionellen, behaglichen und eher statischen Alltagslebens. Während der Alltagsraum eben »sicher und traulich« erscheint, ist der von der Eisenbahn und ihren Insassen konstituierte Raum unsicher und unbehaglich, aber auch aufregend und abenteuerlich.48 Ein Teil dieser Wirkung ist 43 Dabei werden die Arbeitsverhältnisse wiederum mit dem ›gemütlichen‹ Alltagsleben kontrastiert: »In Wetter und Sturm, Hitze und Kälte und Regen einen Weg zurückzulegen, der zwanzigmal um den Erdball reicht, das ist eine Arbeit, die schneller zum Greise macht, als mit der Feder hinterm Ohr am warmen Ofen Akten lesen« (Weber 1926, 77). 44 Weber 1926, 79, Hervorhebung L.W. 45 Die Namen Zimmermann und Gärtner erinnern an das vorindustrielle Handwerk und die Agrarwirtschaft und bilden damit einen Kontrast zu dem technischen Gehalt der Novelle. Gärtners Name kontrastiert darüber hinaus zu seiner Tätigkeit auf der Lokomotive: Ein Gärtner lässt die Bäume wachsen, der Heizer vernichtet sie. 46 Weber 1926, 83. 47 Weber 1926, 81. Erkennbar ist hier auch ein Bezug zur biblischen Heiligen Nacht und dem Stern von Bethlehem, zumal Josef von Nazareth in der christlichen Tradition als ›der Zimmermann‹ bezeichnet wird. 48 Eine solche Gegenüberstellung – oder Verknüpfung – von unbeschleunigten und beschleunigten, idyllischen und mondänen, ›vormodernen‹ und modernen Raumvorstel-

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den beschriebenen Wetterumständen zuzuschreiben – bei minus 15 Grad und Schneestürmen die Nacht im Freien zu verbringen, war schon vor der Erfindung der Eisenbahn eine extreme Erfahrung. Doch auch die wohlhabenden Reisenden der ersten und zweiten Klasse, die in »gepolsterten, warmen« und wiederum »behaglichen« Kupees reisen, spüren den Nervenkitzel, der von der Geschwindigkeit ausgeht, mit der die Eisenbahn in die Landschaft »hineinjagt, schneller und schneller, bis ihre dröhnenden Räder kaum mehr die Schienen zu berühren scheinen«.49 Im Bild von den schwebenden Rädern und vom »Flug« der Eisenbahn, die folgerichtig »Greif« heißt und sich mit »Adlerschnelligkeit« fortbewegt50, zeigt sich die Entkoppelung vom umgebenden Landschaftsraum; mit der Formulierung »eilender noch schießt der Zug in die Nacht hinein«51 wird die Projektilmetapher aufgenommen. So schläft die Baronesse im Luxusabteil trotz aller Bequemlichkeiten unruhig, gerät in »reizende Unordnung« und stellt später fest: »Mir ist zumute [...] als hätte ich die ganze Nacht getanzt«52. Der mitreisende Graf spricht die Ängste der Insassen aus: »Wenn die Burschen vorn auf der Maschine nur tüchtig aufpassen, sonst kann bei solchem Wetter, weiß Gott, Malheur passieren! [...] Es passiert [...] doch immer noch Teufelei genug auf diesem verdammten ›Werkzeuge des Zeitgeistes‹, wie es irgend so ein infamer Skribifax nennt.«53

lungen findet sich auch in anderen Erzählungen des 19. Jahrhunderts. Ein markantes Beispiel hierfür ist die Gärtnerei in Theodor Fontanes Roman Irrungen, Wirrungen (1888) mit ihrem beschaulichen Vorgartenwohnhaus mitten in Berlin. Karl-Gert Kribben hebt die Bedeutung solcher ambivalenter Schauplätze und der damit verbundenen Handlungen für Fontanes polyperspektivisches Erzählen hervor und stellt fest: »[Der Roman, L.W.] gewinnt seine entscheidenden Impulse aus der Verknüpfung von Großstadt- und Vorstadtschauplätzen und der Verbindung von Alltags- und Sonntagshandlungen« (Kribben 1979, 243). 49 Weber 1926, 81. 50 Weber 1926, 82, 78, 79. 51 Weber 1926, 82. 52 Weber 1926, 87. 53 Weber 1926, 87. Mit dem »Skribifax« hat sich Max Maria von Weber vermutlich selbst ironisch in Szene gesetzt; die Formulierung »Werkzeug des Zeitgeistes« taucht in einem seiner eigenen früheren Werke auf (Weber 1862, 26).

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Die Darstellung der dekadenten Gesellschaft im Erstklasskupee ist in erster Linie als Gesellschaftskritik zu lesen. Die Ängste der Passagiere werden jedoch vom Personal auf dem Führerstand geteilt. Dem Lokomotivführer mögen »sein Mut, seine Wachsamkeit und seine Entschlossenheit«54 heldenhaft zur Seite stehen, die Kontrolle über die über 2 000 Zentner schwere Maschine hat er jedoch offenbar nicht. Schon vor der Fahrt alkoholisiert, ist die Beschreibung seiner nächtlichen Arbeit eher die Beschreibung eines Kontrollverlustes als die eines technischen Sieges-Zugs. Seine Ohren sind verbunden, seine Augen entzündet, und während der Fahrt auf dem offenen Führerstand55 gefriert seine Kleidung zu einem »starren Eispanzer«56, mit der er der gewaltigen Bewegungsenergie seiner Lokomotive immer weniger entgegensetzen kann. Die Maschine rollt, und selbst ihr Fahrer muss sich ihr ergeben. Sollte sich ihr auf dem starren Schienenweg irgendetwas entgegenstellen, gibt es keinen Ausweg – dies ist der unheimliche Nebeneffekt der Indiskretion der Eisenbahn gegenüber ihrem Umgebungsraum. In erlebter Rede malen Erzähler und Figur die Gefahren einer solchen Konfrontation aus: »Welche Gefahren birgt diese Finsternis für ihn! Hat ein Arbeiter eine Hacke auf der Bahn liegen lassen? Hat der Sturm einen Signalbaum umgelegt, oder einen Wagen von einer Station auf die Bahn hinausgetrieben? Hat der Druck der Schneewehen die Telegraphenleitung gestürzt? [...] In allen diesen Fällen ist er in höchster Gefahr des Leibes und Lebens, und wenn er jetzt den Regulator weiter öffnet [...], so rast er der Gefahr blindlings entgegen.«57

Weder die Passagiere noch die Angestellten auf dem Führerstand können außerhalb des Schnellzugs einen Raum synthetisieren, der ihnen in gewohnter Weise Sicherheit über den Fahrtverlauf geben würde. Die schlechte Sicht durch Sturm, Schnee und Dunkelheit trägt zu der gestörten Raumwahrnehmung bei, maßgeblich verantwortlich dafür sind jedoch die Dynamik und die Gradlinigkeit der Ei54 Weber 1926, 81. 55 Die Führerstände in den frühen Eisenbahnen waren weder mit einem Dach noch mit Schutzwänden ausgestattet. Max Maria von Weber selbst führte als sächsischer Eisenbahndirektor den geschlossenen Führerstand in Deutschland ein. Die Novelle kann somit auch als Plädoyer für bessere Arbeitsbedingungen der Lokomotivführer gelesen werden. 56 Weber 1926, 85 f. 57 Weber 1926, 80 f.

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senbahn. Eine Kutsche könnte unter schlechten Wetterumständen ihr Fahrttempo reduzieren und im Gefahrfall ausweichen – die Dampfmaschine hingegen arbeitet unermüdlich und gleichförmig. So zwingt der ›Greif‹ seinen Insassen eine neue, transitorische Raumwahrnehmung auf, mit der die Strecke nicht mehr als Ganzes, sondern nur noch punktuell begreifbar ist, dem »eng begrenzten Schein« folgend, »den die Laternen der Lokomotive mit zitterndem, blau hingezogenen Strahl auf die Bahn werfen«58. Später kommt es dann tatsächlich zu mehreren Zusammenstößen mit Schneewehen auf der Strecke, aus denen die Bahn jedoch siegreich hervorgeht: Schnee ist kein echtes Hindernis für die gradlinig rasende Dampfmaschine. Dennoch ist auffällig, wie stark dabei wiederum mit räumlichen Kontrasten gearbeitet wird. Der Raum der Eisenbahn erstreckt sich in der fließenden Horizontalen, sein Feind ist die Vertikale. Der Sturm treibt den Schnee wie einen »von unten nach oben stürzenden« Wasserfall »empor«, wirbelt ihn »hoch« über den Schornstein der Lokomotive und türmt ihn auf zu Schneewehen, die »wie weiße, über der Bahn [gemeint ist die Schiene, L.W.] liegende Mauern gespenstisch aus der Nacht empor« schnellen; »hoch bäumen sie sich vor der wilddurchbrechenden Maschine auf«. Die Eisenbahn hingegen fährt auf der »Fläche der Bahn«, »im voraneilenden Lichte der Lokomotivlaternen«, und der Lokomotivführer kann nur schaudernd zusehen, wie sie horizontal in die »weiche, unheimliche Masse hineinstürmt«.59 In dieser Häufung von disparaten raumreferenziellen Ausdrücken wird deutlich, dass die ›bahnbrechende‹ neue Technik vor allem als Raumphänomen semantisiert wird und der Natur diametral gegenübersteht. Dass der Mensch mit der von ihm geschaffenen Technik letztlich dennoch über die Natur und all ihre Gefahren triumphiert60, zeigt die grundsätzliche Begeisterung des Erzählers für die Eisenbahn. Wenn der Graf das Eisenbahnwesen als »Teufelei« bezeichnet, spiegelt sich dies zwar zunächst in der Beschreibung des Kohlenofens auf der Lokomotive wider, welcher beim Öffnen der Tür eine 58 Weber 1926, 81. 59 Weber 1926, 84, alle Hervorhebungen L.W. 60 In anderen Novellen des Sammelbands Aus dem Reich der Technik, in dem Eine Winternacht auf der Lokomotive erscheint, beschreibt Max Maria von Weber auch Zusammenstöße, die weniger glimpflich verlaufen, doch letztlich nehmen diese immer ein glückliches Ende. In Dampf und Schnee bleibt ein Zug aufgrund einer Schneewehe auf der Strecke liegen, die Insassen werden jedoch lebend geborgen. Eine Katastrophe erzählt vom Zusammenstoß eines Zugs mit einem Bahnmeisterwagen auf der Strecke, das Motiv der glücklichen Bergung wiederholt sich.

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»rotglühende Jagd der Hölle« entfesselt und den Heizer im »Glutlichte« in eine »dunkle Gestalt« verwandelt.61 Die Eisenbahn als Höllenmaschine im Wortsinn, die dörfliche Heimat als himmlischer Gegenentwurf – diese Deutung flackert kurz auf, wird jedoch gleich wieder konterkariert, wenn der Funkenflug positiv umgedeutet wird, als »prachtvolle Funkenmasse, wie die schönste FeuerwerksGirandole«62. Ähnlich euphorisch sind die wiederholten Ausrufe des Erzählers, die die Textlektüre und die Fahrt der Eisenbahn gleichermaßen vorantreiben, womit sie auf der Ebene des Textraums und des Raums der erzählten Welt zugleich wirksam werden: »Vorbei! Vorbei! Vorwärts!«, »Vorwärts! Vorwärts!«63. Doch auch abseits der unmittelbar geäußerten Euphorie wird in der Erzählung deutlich, mit welcher Geschwindigkeit die Eisenbahn die alltägliche, noch unbeschleunigte Raumordnung durchstößt. Die Orte, die der Zug durchfährt, bleiben nicht nur weitgehend geografisch unmarkiert, sondern auch ansonsten merkwürdig unscharf. Die Telegrafenmasten an der Strecke werden durch die Geschwindigkeit als »gerade herabschießende Blitze« imaginiert, »Bahnhäuser, Wasserkrane, Gebüsch, Felswände, Brücken« werden vom Erzähler als Akkumulation erfasst, können aber nicht näher identifiziert werden; sie verschmelzen zu »Phantasmagorien«, die – und damit ist ganz explizit das Transitorische der Raumwahrnehmung angesprochen – »aus der Nacht emportauchen und eilends wieder versinken«.64 Gleich darauf tauchen Dörfer an der Strecke auf, »doch da sie sind schon wieder verschwunden«.65 Auch die anderen Dörfer bleiben weitgehend identitätslos: »Da ist Wolfsberg«, ruft Zimmermann, und sieht doch nur ein paar rote und weiße Lichter des Bahnhofs.66 Eichendorffs ironischer Entwurf der »Welt, die eigentlich nur noch aus Bahnhöfen besteht«, scheint hier seine literarische Entsprechung zu finden. Die Endstation Hochfeld besteht nur aus den »Gebäuden der großen Station [...] mit hier und da noch in den Fenstern glimmenden Lichtern«.67 Da sich der Strecken-

61 Weber 1926, 82. 62 Weber 1926, 82. 63 Weber 1926, 82, 84. 64 Weber 1926, 81. 65 Weber 1926, 81. 66 Weber 1926, 83. 67 Weber 1926, 88.

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verlauf an keiner alltagsweltlichen Entsprechung orientiert68, kann der Erzähler hier zudem nicht darauf spekulieren, an das Weltwissen des Lesers anzuknüpfen. Selbst die Bahnhöfe, in denen die Eisenbahn Zwischenhalt macht, werden nur in einigen Details beschrieben (»das überhängende Dach des Perrons«, »Eiszapfen an den Dächern«, »spärlich erleuchtete Halle«69). Ihre erzählerische Entfaltung bleibt ganz auf die Durchreise der Eisenbahn beschränkt. Schon bei der Einfahrt zählt das Personal die Minuten, bis der Zug weiterfahren muss; im Mittelpunkt steht die Wartung der Lokomotive, die in höchster Eile durchgeführt wird (»Eilend umschreitet er [...] seine Lokomotive«, »ich komme nicht durch damit in den vier Minuten Aufenthalt!«, »Station Rodenkirchen! Zwei Minuten«70). Der Bahnhof, das deutet sich in dieser Erzählung von 1865 bereits an, ist kein Ort, der der Dynamik der vermeintlich raumverschlingenden Eisenbahn einen hinreichend stabilen Widerpart bieten kann. Er verschmilzt vielmehr zusammen mit den angeschlossenen Verkehrsmitteln und Verkehrswegen zu einem netzwerkartig erlebten Transit-Raum. Die anderen Bahnhöfe, die der Zug auf seiner Reise ansteuert, versinken gänzlich im Transit, ihre Entfernungen voneinander sind nicht absolut bestimmbar, sondern abhängig von der Wahrnehmung der Passagiere: »Die Stationen spinnen sich langsam ab, die Entfernungen scheinen mit der Ermüdung zu wachsen.«71 Die ortlose Fahrt, der unsichere Raum, die Flüchtigkeit der Eindrücke – in all diesen Motiven klingen bereits Aspekte eines modernen, transitorischen Erzählens an. Dennoch wäre es überhöht, die Novelle insgesamt einer völlig neuartigen Schreibform zuzurechnen. Ihr Stil folgt weitgehend dem des »TechnikRealismus«72, den Heinimann für die Prosa des mittleren 19. Jahrhunderts ausgemacht hat. Das Transitorische bleibt auf die Ebene des Raums der erzählten Welt begrenzt, lediglich die »Vorwärts! Vorwärts!«-Ausrufe des Erzählers können als Spiel mit dem Textraum interpretiert werden. Auch wenn die Eisenbahn die Raum- und Zeitwahrnehmung der Insassen kurzzeitig durcheinanderbringt, 68 Die alltagsweltlichen Ortschaften oder Stadtbezirke Wolfsberg, Rodenkirchen und Hochfeld existieren zwar, lassen sich aber zumindest aus heutiger Sicht nicht zu einer innereuropäischen Bahnstrecke zusammenfügen. Eine Ortschaft namens Moorstedt existiert nicht oder nicht mehr. 69 Weber 1926, 83, 88. 70 Weber 1926, 83, 86. 71 Weber 1926, 86. 72 Heinimann 1992, 220.

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präsentiert sich der Text stets als lineares Protokoll einer Nachtfahrt. Und auch wenn die Zugführer nicht immer die Kontrolle über ihre Maschine haben, behält der Erzähler seinen souveränen Blick auf das Geschehen bis zum Schluss, wo er mit großer Geste zusammenfasst: »Das ist Lokomotivführerdienst im Winter!«73 Ein großes Abenteuer ist das, zwar mit allerlei Gefahren und Merkwürdigkeiten verbunden, letztlich aber doch überschaubar, vor allem aus der Perspektive des technikversierten Literaten. Außerhalb der neuen Transitwelt »mit all ihrer Öde und Unbehaglichkeit« gibt es eben immer noch die behagliche, strukturierte Welt des Alltags.74 Dass die Entwicklung der Eisenbahn und ihr Einfluss auf die Moderne allerdings noch lange nicht am Ende sind, ist ein weiteres Resümee, das man aus dieser technischen Novelle ziehen kann. Der Schnellzug, gerade erst in Hochfeld angekommen, muss zum Schluss überraschend weiterfahren. »Todmüde, durchfroren, sofort den ganzen Weg zurück, und der Schneesturm tobt nach wie vor!«75 Das Leben im Transit nimmt kein Ende.

»E IN RASENDES T OBEN B AHNWÄRTER T HIEL

ERFÜLLTE DEN

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Die »novellistische Studie«76 Bahnwärter Thiel von Gerhart Hauptmann ist im deutlichen Gegensatz zu Webers technischer Novelle in der Literaturwissenschaft bis heute keineswegs vergessen oder vernachlässigt worden. Die Erzählung zählt nicht nur zu den bekanntesten literarischen Werken ihrer Zeit, Alfred Heinimann erklärt sie sogar zur »bedeutendsten Ausprägung der Aneignung der Eisenbahn durch die deutsche Prosa«77 überhaupt. Johannes Mahr zufolge ist es das einzige Werk der deutschen Literatur, das es mit den großen europäischen Romanen des 19. Jahrhunderts aufnehmen kann, »in denen die Eisenbahn zur Metapher wird für die psychischen und gesellschaftlichen Prozesse, denen die Menschen unterlagen«78, also etwa Anna Karenina von Leo Tolstoi oder La Bête Humaine von Émile Zola. 73 Weber 1926, 88. 74 Weber 1926, 88. 75 Weber 1926, 88. 76 »Novellistische Studie« ist der Untertitel der Originalfassung von 1888. 77 Heinimann 1992, 244. 78 Mahr 1982, 46.

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Auch wenn Hauptmann nicht so umfassend wie Weber mit dem Eisenbahnwesen in Berührung kam – er war nie bei der Bahn angestellt oder stand gar selbst auf dem Führerstand einer Lokomotive –, haben Eisenbahnen und insbesondere Bahnhöfe doch eine wichtige Rolle in Hauptmanns Leben gespielt. Klaus Dieter Post hat in seinen Kommentaren zu Bahnwärter Thiel darauf hingewiesen, welchen Eindruck es auf den jungen Gerhart Hauptmann gemacht haben muss, dass er vom elterlichen Hotel ›Preußische Krone‹ aus finanziellen Gründen ausgerechnet in eine Bahnhofswirtschaft ziehen musste, die fortan zum »Inbegriff für den Verlust der beseligenden Gemeinschaft mit den Eltern« wurde. An die Stelle der »geheiligten Räume des alten Hauses«, so Hauptmanns eigene Beschreibung, trat das »alle Wärme und Geborgenheit entbehrende Bild eines hektischen Bahnhofsbetriebes«.79 Als Erwachsener zog er mit seiner Ehefrau Marie in eine Berliner Stadtwohnung, wiederum »mit freier Aussicht auf die Stadtbahn und den ausgedehnten Güterbahnhof«80, floh jedoch wenig später in den Berliner Vorort Erkner, wo auch Bahnwärter Thiel entstand. Post hat hieraus eine autobiografische Begründung des Eisenbahn-Motivs abgeleitet, nach der das Schreiben über Eisenbahn und Schiene zu lesen sei als eine »elegische Klage, seine in dichterische Einbildungskraft transponierte Erfahrung, daß die Verbindung zu den errettenden mütterlichen Kräften abgerissen ist«.81 Diese Hypothese soll hier nicht weiter verfolgt werden, zumal Hauptmann durchaus auch euphorisch von den Zügen und Bahnhofsgebäuden berichtet hat – was von Post jedoch als Selbstverleugnung und »Trotzreaktion« gedeutet wird.82 Dass Hauptmann seine Kindheit in einem Hotel verbracht hat, könnte ebenso gut als Zeichen einer prinzipiellen Affinität zu den modernen Transit-Orten gewertet werden; der Umzug in das Bahnhofsgebäude wäre dann weniger ein Bruch als eine Kontinuität. Festzuhalten bleibt, dass sich Hauptmann intensiv mit den Auswirkungen der Eisenbahn beschäftigt hat, bevor sie in seinem ersten erfolgreichen Werk zum 79 Post 1979, 96 f. 80 Post 1979, 99. 81 Post 1979, 97. 82 Vgl. Post 1979, 98 f. Zu den euphorischen Beschreibungen zählt etwa die folgende Passage aus Hauptmanns autobiografischen Schriften, die auch bei Post zitiert wird: »Die Züge donnerten aus der Ferne vor das Bahnhofsgebäude und schwanden mit ohrenzerreißendem Kreischen und Zischen wiederum in die lockende Ferne davon. Die Mauern erbebten, die Wartesäle erzitterten. Diese Geräusche gingen ins Blut, diese Bewegungen waren Kraftquellen« (Hauptmann 1962, 760 f.).

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»zentralen Dingsymbol« wird, »das im Mittelpunkt des ganzen Geschehens steht«83, wie es in der Erzähltextanalyse von Benno von Wiese heißt. Ob dabei Technikfurcht oder Technikbegeisterung überwiegen, ist weder aus Hauptmanns Biografie noch aus dem Werk eindeutig ermittelbar; vielmehr macht gerade die Ambivalenz der Darstellung ihren bis heute nachfühlbaren Reiz aus. Schon der bekannte erste Absatz der Novelle enthält eine ganze Reihe vor allem raumtheoretisch interessanter Aspekte: »Allsonntäglich saß der Bahnwärter Thiel in der Kirche zu Neu-Zittau, ausgenommen die Tage, an denen er Dienst hatte oder krank war und zu Bette lag. Im Verlaufe von zehn Jahren war er zweimal krank gewesen; das eine Mal infolge eines vom Tender einer Maschine während des Vorbeifahrens herabgefallenen Stückes Kohle, welches ihn getroffen und mit zerschmettertem Bein in den Bahngraben geschleudert hatte; das andere Mal einer Weinflasche wegen, die aus dem vorüberrasenden Schnellzuge mitten auf seine Brust geflogen war. Außer diesen beiden Unglücksfällen hatte nichts vermocht, ihn, sobald er frei war, von der Kirche fernzuhalten.«84

Mit diesen drei Sätzen sind das ganze Raummodell und der ganze Konflikt der Erzählung bereits vorweggenommen. Die Ausgangssituation der Hauptfigur Thiel ähnelt der »sicheren und trauten« Situation der Familien in Webers Winternacht auf der Lokomotive, vermittelt wird sie auch hier über das Spacing: Man sitzt in der Kirche oder liegt zu Bette. Diese räumliche Ordnung strukturiert und stabilisiert das Leben Thiels zehn Jahre lang. Zwischen sie drängt sich jedoch gewaltsam die »Maschine«, wie die Eisenbahn bemerkenswerterweise zuerst genannt wird. Thiels alltägliches Leben ist repetitiv, beständig und planbar85, die Konfrontation mit der Maschine ist dagegen singulär, kurzfristig und überraschend. Sie vermag ihn fernzuhalten vom Nahbereich der Kirche und wird auch ansonsten von Anfang an als das räumliche Gegenbild zu seiner alltäglichen Lebenswirklichkeit gestaltet. Dieses Raumbild ist ganz erheblich von Dynamik gekennzeichnet. Im Herabfallen des Kohlestücks während des Vorbeifahrens der Maschine sind zwei Bewegungen zugleich angesprochen, die zudem mit einer solchen Wucht ausge83 Wiese 1967, 271. 84 Hauptmann 1963, 39. 85 Auch Thiels Arbeitsalltag ist ritualisiert: »Thiel begann wie immer so auch heute damit, das enge, viereckige Steingebauer der Wärterbude auf seine Art für die Nacht herzurichten. Er tat es mechanisch [...]« (Hauptmann 1963, 48).

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führt sind, dass der Aufprall das Bein des Bahnwärters nicht nur verletzt, sondern zerschmettert und ihn in den Graben schleudert. Die von Schivelbusch erwähnte Projektilmetapher, in der sich Dynamik und Gradlinigkeit der Eisenbahn gewaltsam verbinden, wird hier auf das herabfallende Objekt übertragen und verweist auf seinen Ursprungsort zurück: Wenn schon ein einziges Kohlestück eine solche Gewalt ausüben kann, welche Gewalt muss dann erst in der ganzen Maschine mit ihren Tonnen von Kohle stecken? Dass die problematische Differenz zwischen der statischen Alltagswelt Thiels und der Dynamik der Maschine auch eine soziale Differenz ist, verdeutlicht die zweite Konfrontation: Diesmal ist es eine Weinflasche, die von den Insassen offenbar achtlos aus dem Abteil geworfen wurde und vom wieder mehrfach dynamisch in Szene gesetzten »vorüberrasenden Schnellzuge« auf seine Brust fliegt. Weder zu den Gütern noch zu den Insassen des Zugs kann Thiel eine Beziehung aufbauen – dies wird sich noch mehrmals zeigen, und auch die Weinflasche wird nicht die einzige bleiben.86 In der überwältigenden Dominanz der Eisenbahn wird zudem schon zu Beginn klar, dass Thiel ebenso wenig ein echter Bahnwärter sein kann wie Webers Zimmermann ein Lokomotivführer ist, weil sich die gradlinig rasende Maschine weder bewachen noch führen lässt. Zugleich wird die Perspektive der Erzählung entworfen. Dass diese Erzählung nicht im Zug spielt, sondern an der Zugstrecke, dass es hier also nicht um den panoramatisch-problematischen Blick aus dem Abteilfenster geht, sondern umgekehrt um den Blick eines ›auf der Strecke Gebliebenen‹ auf die vorbeirasende Eisenbahn, ist keine Nebensächlichkeit; dieser Umstand gibt die Grundstruktur der gesamten Novelle vor. Während bei Weber die ganze Landschaft in Bewegung gerät und dem Betrachter die Suche nach neuen Fixpunkten aufzwingt, erscheint bei Hauptmann die Landschaft als zunächst intakt, wird dann jedoch durch die rätselhafte und unerbittliche Macht der Eisenbahn in immer stärkere Unordnung gebracht. Während bei Weber die Landschaft in die Bewegung hineingezeichnet wird, dringt bei Hauptmann die Bewegung gradlinig in 86 Thiel findet später eine weitere Weinflasche neben der Strecke (vgl. Hauptmann 1963, 41). Dass diese zunächst glühend heiß ist und von Thiel abgekühlt werden muss, daraufhin aber gleich abhanden kommt (also permanent unzugänglich bleibt), ist ein weiterer Beleg für die Distanz zu der Welt der Eisenbahn. Nach dem Unfall seines Sohnes wird Thiels Haltung unmittelbar angesprochen: »Er sieht nicht die todbleichen erschreckten Gesichter der Reisenden in den Zugfenstern. [...] Was geht’s ihn an? Er hat sich nie um den Inhalt dieser Polterkasten gekümmert« (Hauptmann 1963, 59).

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die Landschaft. Ein eindrückliches Beispiel für die erzählerische Umsetzung dieses Prinzips ist das erste ausführlich beschriebene Vorbeiziehen eines Zugs: »Ein dunkler Punkt am Horizonte, da wo die Geleise sich trafen, vergrößerte sich. Von Sekunde zu Sekunde wachsend, schien er doch auf einer Stelle zu stehen. Plötzlich bekam er Bewegung und näherte sich. [...] Ein Keuchen und Brausen schwoll stoßweise fernher durch die Luft. Dann plötzlich zerriss die Stille. Ein rasendes Tosen und Toben erfüllte den Raum, die Geleise bogen sich, die Erde zitterte – ein starker Luftdruck – eine Wolke von Staub, Dampf und Qualm, und das schwarze, schnaubende Ungetüm war vorüber. [...] Zum Punkte eingeschrumpft, schwand der Zug in der Ferne, und das alte heil’ge Schweigen schlug über dem Waldwinkel zusammen.«87

Die ganze Szene ist streng aus der Perspektive eines statischen Beobachters entworfen. Einleitend heißt es entsprechend: »Der Wärter stand noch immer regungslos an der Barriere«.88 Obwohl Thiel als Bahnangestellter weiß, dass sich die Gleise in ihrem Verlauf weder treffen noch biegen – er kennt sogar die genaue Anzahl der Schrauben in jeder Bahnschiene89 –, wird beides als faktisch gesetzt und nicht einmal durch Modalwörter wie ›scheinbar‹ oder ›vermeintlich‹ abgemildert. Dasselbe gilt für die Metamorphose der Eisenbahn vom Punkt zum Ungetüm und zurück zum Punkt, die nur aus der externen Perspektive begreifbar ist. Auch wenn anschließend der Urzustand wiederhergestellt scheint – für die Dauer ihrer Vorbeifahrt berührt die Maschine den stillen Naturraum nicht nur, sie erfüllt den Raum gänzlich und bringt all seine Elemente in Bewegung: die Erde zittert, die Luft drückt, Wasserdampf und Feuerqualm ziehen vorüber. Bemerkenswert dabei ist, dass die so elementar erschütternde Bahn geografisch nur einen kleinen, klar begrenzten Teil der erzählten Welt einnimmt, während die märkische Landschaft so großflächig erscheint, dass man vom Wärterhäuschen »nach allen vier Windrichtungen mindestens [...] einen dreiviertelstündigen Weg« gehen muss, um Anzeichen einer »menschlichen Wohnung« zu sehen.90

87 Hauptmann 1963, 49 f. 88 Hauptmann 1963, 49, Hervorhebungen L.W. 89 Vgl. Hauptmann 1963, 58. 90 Hauptmann 1963, 40.

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Abbildung 3: Umschlag der Erstausgabe (1892) von ›Bahnwärter Thiel‹, gestaltet von Hans Baluschek

Quelle: Minaty 1984, 100

In absoluten Raumdimensionen gedacht, sprechen also die Machtverhältnisse klar für den Naturraum, in dem das Häuschen mit seiner Bahnstrecke nur ein »einsamer Posten inmitten des märkischen Kiefernforstes«91 ist. Hauptmanns Text ist ein Musterbeispiel dafür, dass sich räumliche Machtverhältnisse – gerade in der durch die Eisenbahn repräsentierten Moderne – nicht durch euklidische Parameter allein erfassen lassen. In der Raumkonstitution Thiels bilden das Bahnwärterhäuschen, die schmalen Gleise und die vorbeifahrenden Eisenbahnen trotz ihrer geringen Ausdehnung einen mächtigen Widerpart zu Thiels Alltagsle91 Hauptmann 1963, 39. Auch in der Umschlagsgestaltung der ersten Einzelausgabe von Bahnwärter Thiel zeigt sich die unmittelbare Nähe von Bahnwärterhäuschen und Wald. Siehe Abbildung 3.

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ben, der sich bis zum Schluss zur Übermacht steigert. Der kleine Bahnübergang mit seiner geringen Sichtweite ist nur der Ausschnitt eines Ganzen von schwer erfassbarer Größe – eines sich überall in Europa ausbreitenden transitorischen Netzwerks aus Orten, das Thiels Vorstellungen von Raum und Zeit entgegenwirkt, von dem er jedoch beruflich abhängig ist. Der moderne, transitorische Reiseraum der Eisenbahn hat also trotz seiner begrenzten lokalen Ausdehnung einen weitreichenden Einfluss, der zudem nicht auf die reisende Bevölkerung beschränkt ist. Thiel ist kein Reisender. Seine Alltagswelt beschränkt sich auf das Wärterhäuschen, sein Zuhause und das nahegelegene Dorf Neu-Zittau. Die weiteste Fahrt führt ihn in das alltagsweltlich etwa 30 Kilometer entfernte Berlin.92 Dennoch erlebt der Nicht-Reisende Thiel unter dem Einfluss der Eisenbahn dieselben verstörenden Wahrnehmungsmuster wie die Reisenden beim Blick in die transitorisch verzerrte Landschaft: »Vor seinen Augen schwimmt es durcheinander, gelbe Punkte, Glühwürmchen gleich, unzählig«93, heißt es, während Thiel an dem Schnellzug vorbeiläuft, der gerade seinen Sohn Tobias angefahren hat. Als der schwerverletzte Tobias später noch einmal an Thiel vorbeifährt, wird diese Wahrnehmungsstörung erneut aktiviert: »Der Personenzug kam heran. Tobias mußte darin sein. Je näher er rückte, umso mehr verschwammen die Bilder vor Thiels Augen.«94 Hier zeigt sich, dass die Eisenbahn die Grenzen des Raums und des Verstandes gleichermaßen zu sprengen droht, dass die räumliche Entgrenzung also auch eine geistige Entgrenzung zur Folge haben kann. Die Entgrenzung Thiels ist viel weitreichender als die lokale Desorientierung in Webers Schnellzug, sie betrifft alle Orte und alle Sinne: »Alles war ihm neu, alles fremd. Er wußte nicht, was das war, worauf er ging, oder das, was ihn umgab.«95 Die Bahn kommt, und die Welt verändert sich – nicht nur für ihre Insassen, sondern auch für die Menschen, die fassungslos an der Strecke stehen. Die Eindringlichkeit, mit der in Bahnwärter Thiel die Gewalt und die Gradlinigkeit der Eisenbahn sowie ihrer Schienenwege mit dem psychischen Zustand Thiels verknüpft werden, hat dazu geführt, das Eisenbahnmotiv über seine zeitgeschichtliche Relevanz hinaus metaphorisch zu deuten. Die Unausweichlichkeit

92 Zuletzt wird Thiel in die »Irrenabteilung der Charité« (Hauptmann 1963, 67) überführt, gemeint ist vermutlich das Berliner Krankenhaus. 93 Hauptmann 1963, 59. 94 Hauptmann 1963, 61. 95 Hauptmann 1963, 62 f., Hervorhebungen L.W.

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der Schienenwege steht demnach sinnbildlich für die Unausweichlichkeit des Thielschen Schicksals und die Gewalt der Maschine für dessen Vollstreckung: »Die Geleise neben dem Wärterhäuschen werden zur Metapher des gradlinigen, an einen festgelegten Weg gebundenen Schicksals, die Züge zur Metapher des Unaufhaltsamen, Zerstörerischen, im Grunde – obwohl von Menschen gelenkt – dem menschlichen Einflussbereich bereits Entzogenen. Alle Schlüsselszenen der Novelle spielen sich längs, auf oder zwischen diesen unverrückbaren Geleisen [...] ab und sind von Anfang an in ihrer Struktur eher dramatisch als episch auf das Ende hin angelegt, bzw. vom Ende her bestimmt [...].«96

Heinimann nennt anschließend acht Passagen aus der Erzählung, die seine These von der frühzeitigen Vorwegnahme des Handlungsverlaufs stützen. Benno von Wiese kommt bei seiner Analyse anderer Textpassagen zu einem ähnlichen Schluss: »Die ganze Novelle macht [...] sichtbar, wie die menschliche Kreatur überwältigt und entmächtigt wird durch etwas, das stärker ist als sie selbst und sich ihrem Begreifen entzieht.«97 So unübersehbar diese grundsätzliche Anlage der Novelle ist, soll hier zunächst auf eine Episode eingegangen werden, die der Annahme eines streng linearen ›Schicksalswegs‹ entgegensteht. Hauptmanns Novelle zeigt nämlich auch auf, dass die Verbindung von Raum und Mensch positiv gewendet werden kann, zur Konstitution eines individuellen Frei-Raums, der die eigenen Handlungsoptionen erweitert. Eine typische Ausgangslage für die Veränderung räumlicher Strukturen ist nach Martina Löw eine Situation, »für deren Bewältigung keine alltäglichen Handlungsformen zur Verfügung stehen«98. In einer solchen Situation befindet sich Thiel wenige Jahre nach dem Tod seiner ersten Frau Minna und der Eheschließung mit Lene: Thiel möchte weiterhin seiner verstorbenen Frau gedenken, doch die Alltagsräume der Kirche und der Wohnung sind bereits von seiner neuen Frau besetzt, die den Bahnwärter körperlich und psychisch dominiert.99 Das einsame Wärterhäuschen im märkischen Wald entzieht sich zwar dem Einfluss Lenes und ist deshalb zu96 Heinimann 1992, 246. 97 Wiese 1967, 279. 98 Löw 2001, 184. 99 Vgl. Hauptmann 1963, 38 f. Thiel betritt die Kirche ausschließlich in Begleitung seiner Frau. Auch zu Hause wird er durch die »harte, herrschsüchtige Gemütsart, Zanksucht und brutale Leidenschaftlichkeit« (Hauptmann 1963, 38) seiner Frau kontrolliert.

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nächst Thiels »liebster Aufenthalt«100 . Letztlich bietet jedoch auch dieser Ort keine Möglichkeit zu einer alternativen Raumkonstitution, da ebenso wenig Strukturen existieren, die den Posten mit seiner verstorbenen Frau in Verbindung bringen. Mit wachsendem Einfluss Lenes auf die Psyche Thiels fällt es ihm deshalb schwerer, die Andacht an Minna in sein Leben zu integrieren: »Die stillen, hingebenden Gedanken an sein verstorbenes Weib wurden von denen an die Lebende durchkreuzt.«101 Doch zumindest kurzzeitig gelingt es Thiel tatsächlich, den »Umschwung der Dinge«102, der im ganzen Verlauf der Novelle so unweigerlich über Thiel hineinbricht, zu stoppen. Er fasst den überraschend kreativen Entschluss, die ihn dominierenden räumlichen Strukturen aktiv umzugestalten: »So erklärte er sein Wärterhäuschen und die Bahnstrecke, die er zu besorgen hatte, insgeheim gleichsam für geheiligtes Land, welches ausschließlich den Manen der Toten gewidmet sein sollte.«103

Wie im Transit-Raum verschmelzen also hier mehrere Orte – Wärterhäuschen und Bahnstrecke – jenseits physisch-materieller Grenzen zu einem neuen Raum, der neue Handlungsoptionen eröffnet; in diesem Fall jene, die Thiel zum Gedenken an die Tote benötigt. Konsequenterweise wählt er dafür Orte, die dem Transit gewidmet sind: Diese Orte sind ohnehin als dynamisch und veränderlich markiert und somit leichter umzudeuten als etwa die allsonntäglich besuchte Kirche. Durch seine positive Umdeutung des Eisenbahnraums kann Thiel zu einem neuen Gleichgewicht finden, das sein Gewissen beruhigt, auch wenn ihn die Beziehung zu seiner neuen Frau nun bisweilen anekelt.104 Tagsüber ist die Umdeutung hauptsächlich ein innerer Prozess; über die Syntheseleistung wird »eine Menge lieber Erinnerungen«105 an den neuen Raum aus Wärterhäuschen und Bahnstrecke geknüpft. Hat Thiel jedoch Nachtdienst, hilft auch das Spacing von konkreten Gegenständen bei der Absicherung der Raumkonstitution. Nun erst wird der neu gestaltete Raum intensiv erlebbar, und auch seine Lokalisierung erscheint in einem neuen Licht: 100 Hauptmann 1963, 39. 101 Hauptmann 1963, 39. 102 Hauptmann 1963, 40. 103 Hauptmann 1963, 40. 104 Vgl. Hauptmann 1963, 40. 105 Hauptmann 1963, 40.

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»Im Dunkel [...], in tiefer Mitternacht beim Scheine seiner Laterne, da wurde das Wärterhäuschen zur Kapelle. Eine verblichene Photographie der Verstorbenen vor sich auf dem Tisch, Gesangbuch und Bibel aufgeschlagen, las und sang er abwechselnd die lange Nacht hindurch, nur von in den Zwischenräumen vorbeitobenden Bahnzügen unterbrochen, und geriet hierbei in eine Ekstase, die sich zu Gesichten steigerte, in denen er die Tote leibhaftig vor sich sah.«106

Die zuletzt angedeutete übersteigerte Wahrnehmung kündigt bereits an, dass die Umgestaltung letztlich nicht von Dauer sein wird. Die Raumkonstruktion ist von vornherein höchst instabil, da sie nur »insgeheim«107 erfolgt, also ohne Absicherung durch ein Kollektiv108. Auch scheint die Gewalt der Bahnzüge zu groß, um sie in den selbst erdachten Raum integrieren zu können; sie unterbrechen die Gebete und den Gesang, statt sich einzufügen. Endgültig zerbricht die Raumphantasie vom ›geheiligten Land‹, als Thiel aus finanzieller Not seiner Frau anbietet, einen Kartoffelacker »längs des Bahndammes in unmittelbarer Nähe des Wärterhauses«109 zu bestellen. Dass dieser Acker mitten in Thiels Heiligraum liegt und durch die Präsenz Lenes »die hergebrachte Lebensweise in bedenkliche Schwankungen geraten mußte«110, wird Thiel erst bewusst, als es schon zu spät ist. Schon der Gedanke an die veränderte Raumsituation erscheint ihm wie ein körperlicher Übergriff, auf den er auch körperlich reagiert: »Es kam ihm vor, [...] als versuchte jemand, sein Heiligstes anzutasten, und unwillkürlich spannten sich seine Muskeln in gelindem Krampfe«111. Der Zusammenbruch des gerade erst mühsam hergestellten räumlichen Gleichgewichts ist zugleich der Wendepunkt der Novelle. Die rohe Gewalt Lenes und die ebenso rohe Gewalt der Maschine haben über die vergeistigte, innerliche Raumkonstruktion gesiegt. Thiel gleitet von nun an immer mehr in Wahnvorstellungen 106 Hauptmann 1963, 40, Hervorhebung L.W. Mit den »Zwischenräumen« sind keine Räume oder gar Transit-Räume im Sinne dieser Untersuchung gemeint, sondern zeitliche Abstände (vgl. Hauptmann 1963, 56 f.). 107 Hauptmann 1963, 40. 108 Nur wenn »die Abweichungen und Neuschöpfungen regelmäßig werden und nicht individuell, sondern auch kollektiv im Rückgriff auf relevante Regeln und Ressourcen verlaufen, dann sind Veränderungen institutionalisierter Räume bis hin zu Strukturveränderungen möglich« (Löw 2001, 185). 109 Hauptmann 1963, 42. 110 Hauptmann 1963, 50. 111 Hauptmann 1963, 51.

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ab. Die tatsächliche Entweihung des Heiligraums durch Lene während eines gemeinsamen Ausflugs leitet zugleich die Katastrophe ein, bei der Thiels Sohn ums Leben kommt. Erst jetzt, da die Konstitution eines eigenen Frei-Raums gescheitert ist, vollzieht sich das Schicksal Thiels tatsächlich mit der Unerbittlichkeit und Unausweichlichkeit einer Maschine. Die daraus resultierende, bereits angesprochene Interpretierbarkeit des Eisenbahnmotivs als Metapher ist raumtheoretisch vor allem deshalb interessant, weil durch sie das Transitorische auf einer zweiten räumlichen Ebene erfahrbar wird, und zwar auf der Ebene des metaphorischen Raums. Die Novelle erzählt nicht nur von einer Eisenbahn, auch ihr Erzählprinzip ist bestimmt von der Raumfiguration Bahn. Das kompromisslose Durch des Transits, das sich weder um Orte noch um Menschen am Wegesrand kümmert, weitet sich von einer Konfrontation mit Kohlestücken und Weinflaschen zu einem allumfassenden Konflikt aus. So sind Bahn und Maschine nicht nur die Dingsymbole, sondern vor allem die zentralen Denkfiguren der Erzählung. Ihre räumlichen Eigenschaften bestimmen die Narration auch dann, wenn die Eisenbahn als Schauplatz gar nicht präsent ist. Wenn Lene den Kartoffelacker umgräbt, wird auch sie zur Dampfmaschine112 , wenn sie Thiel vereinnahmt, spinnt sie dasselbe »Netz von Eisen«, das er auch in der Bahnstrecke sieht113. Nachdem sich der katastrophale Unfall seines Sohnes ereignet hat, wird Thiel selbst zu einer Maschine114 und kann nur durch eine »Übermacht«115 von den Bahnschienen entfernt werden. Umgekehrt

112 »Die Frau [...] begann zu graben, mit der Geschwindigkeit und Ausdauer einer Maschine. In bestimmten Zwischenräumen richtete sie sich auf und holte in tiefen Zügen Luft, aber es war jeweilig nur ein Augenblick, wenn nicht etwa das Kleine gestillt werden mußte, was mit keuchender, schweißtropfender Brust hastig geschah« (Hauptmann 1963, 56). 113 »Fest wie ein Netz von Eisen legte es sich um ihn, fesselnd, überwindend, erschlaffend« (Hauptmann 1963, 47). Später heißt es ähnlich: »Die schwarzen, parallellaufenden Geleise darauf glichen in ihrer Gesamtheit einer ungeheuren eisernen Netzmasche« (Hauptmann 1963, 49). 114 »Zwar waren seine Füße bleischwer, zwar kreiste um ihn die Strecke wie die Speiche eines ungeheuren Rades, dessen Achse sein Kopf war; aber er gewann doch wenigstens so viel Kraft, sich für einige Zeit aufrecht zu erhalten« (Hauptmann 1963, 61). 115 Hauptmann 1963, 67.

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erhält die Lokomotive Eigenschaften der Mutter Lene, wenn »milchweiße Dampfstrahlen« aus ihr quellen und sie ihre »eisernen Sehnen« streckt.116 In diesen Beispielen wird deutlich, wie stark sich erzählter und metaphorischer Raum im Text verschränken. Für Benno von Wiese wird der Text überhaupt erst durch diese Doppelfunktion zur Novelle: Zum einen erhalte der Text durch die Eisenbahn das novellentypische Dingsymbol, zum anderen füge erst die metaphorische Verdichtung dem erzählten Geschehen das »Erhabene und Großartige« hinzu, das zum tragischen Konflikt der Novelle gehöre.117 »Die dichterische Darstellung [gewinnt] in der zum Symbolischen verdichteten Bahnstrecke eine novellistische Silhouette [...], durch die das Schicksal des Bahnwärters dann doch zum einmaligen Fall, zur ›sich ereigneten unerhörten Begebenheit‹ im Goetheschen Sinne zu werden vermag.«118 Die Doppelfunktion des transitorischen Eisenbahnmotivs ist jedoch nicht nur für die literarische Gattungszuordnung von Bedeutung. »Zum ersten Mal in der Geschichte der deutschen Fiktionalisierungen der Eisenbahn«, stellt Heinimann fest, »ist sie [...] bei Hauptmann zum auslösenden Moment psychischer Vorgänge und zur sichtbaren Verkörperung unsichtbarer zerstörerischer Mächte geworden«.119 Damit habe Hauptmann »dem technischen Thema eine Seite abgewonnen, die [sic] bis dahin allzu lange von volkstümlicher Beschaulichkeit und der undifferenzierten Tendenz der Verteufelung oder Heroisierung dominiert war«120. Das Erzählen vom Transitorischen geht damit weit über die bloße Abbildung des Diskurses um die modernen Verkehrsmittel und ihrer Auswirkungen hinaus. Bahnwärter Thiel zu lesen heißt nicht, eine Antwort zu finden auf die Frage, ob die Eisenbahn gut oder schlecht für den Menschen ist. Selbst Thiel, für den die Konfrontation mit der Bahnmaschinerie so katastrophal endet, begegnet der Technik keinesfalls mit reiner Antipathie. Die Begeisterung für den Aufbau der Bahnschienen oder den Gesang der Telegrafenstangen, der ihn an »sonore Choräle aus dem Innern einer Kirche«121 erinnert, sowie sein Wunsch von einer Zukunft seines Sohnes als Bahnmeister122 stehen einer solchen Deutung entge116 Hauptmann 1963, 58, 60. 117 Vgl. Wiese 1967, 270 f. 118 Wiese 1967, 283. 119 Heinimann 1992, 248. 120 Heinimann 1992, 248. Zu den heroisierenden Werken zählt Heinimann unter anderem die Novellen Max Maria von Webers. 121 Hauptmann 1963, 56. 122 Vgl. Hauptmann 1963, 43.

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gen. Die Bahn erscheint vielmehr als zentrales Symbol einer sich radikal wandelnden Moderne, der man skeptisch oder euphorisch gegenüberstehen kann, deren Auswirkungen aber unentrinnbar und allumfassend sind. Paradoxerweise ist damit Hauptmanns Novelle, die den Transit-Ort Eisenbahn eigentlich aus einer Außenperspektive betrachtet, weitaus radikaler als Webers Innenansicht des nächtlichen Schnellzugs – ein weiterer Beleg für die Flexibilität relationaler Raumkonstruktionen. Die durch den Transit veränderte Raum- und Reisewahrnehmung erfordert von allen Beteiligten – und das sind neben den Passagieren auch die ›auf der Strecke Gebliebenen‹ – neue Kompetenzen im Umgang mit dem Raum. Die Hochgeschwindigkeit der Bahn durchbricht gewaltsam die alten Raumvorstellungen und verlangt nach Modernität und Flexibilität. Thiel, jahrelang einem statischen und geordneten Leben verhaftet, macht von diesen Kompetenzen ansatzweise Gebrauch, als er das Wärterhäuschen zu seinem privaten Heiligraum umfunktioniert, scheitert jedoch letztlich, weil sich seine neuen Raumvorstellungen nicht in den Alltag integrieren lassen. Sowohl die leibliche Präsenz Lenes als auch die vorbeitobenden Züge stehen seiner fragilen Raumkonstruktion feindselig gegenüber. Der Bahnwärter gerät dadurch psychisch, sein Nachkomme Tobias auch physisch ›unter die Räder‹. Thiels letzter Entschluss, auf den doppelten Einbruch der Gewalt mit doppelter Gegengewalt zu antworten, bringt erst recht keine positive Wendung – der Mord an Frau und Kind führt ihn endgültig in den Wahn und in die Vereinzelung. Eine geeignete Strategie für ein neues Raumbewusstsein kann hier nicht mehr aufgezeigt werden, es mangelt an Überlebenden. Literarisch jedoch hat Hauptmann eine Novelle hinterlassen, die das Transitorische mit einer bis dahin nicht gekannten Radikalität zum Strukturprinzip erhebt, und die aufzeigt, dass Literatur in einer Art und Weise mit dem Raum umgehen kann, die ihr allein vorbehalten bleibt.

Paradoxie und Entgrenzung: Fünf-Uhr-Tee in der Hotelhalle »Die halbe Menschheit wohnt jetzt in Hotels; und es ist schön, im Hotel zu wohnen, weil das einmal etwas anderes ist und nicht so wie zu Hause. [...] Ich ziehe immer von einem Häuschen zum andern, und ganze Bücher könnte ich zusammenschreiben.«1 VICTOR AUBURTIN, ERLEBT ETWAS!

»W IR LEBEN PROVISORISCH , DIE K RISE NIMMT KEIN E NDE « Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zählt die Eisenbahn weiterhin zu den meistgenutzten Verkehrsmitteln, ist im kollektiven Bewusstsein jedoch längst etabliert. Dies hat auch Auswirkungen auf die Transitliteratur: »Als integraler Bestandteil des hochindustrialisierten Alltags ist die Eisenbahn der neuen Dichtergeneration [...] schon zu selbstverständlich, als daß von ihr als Motiv oder Thema fundamental neue Anregungen ausgehen können«, so Peter Sprengel über die Autoren des frühen 20. Jahrhunderts.2 Weitere technische Innovationen kommen hinzu, die die Wahrnehmung von Raum und Zeit erneut verändern und die Mobilität der Menschen erhöhen, doch: »Ob elektrischer Telegraf oder Telefon, ob Auto oder Flugzeug: Alles erregt nicht mehr so viel Aufsehen, nimmt nicht mehr in dieser Weise den Atem. Es hat

1

Auburtin 1989, 84. Victor Auburtin war Schriftsteller und Journalist für das Berliner Tageblatt; sein Kurztext Erlebt etwas! erschien 1928.

2

Sprengel 2004, 23 f.

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nicht mehr jene symbolische und imaginative Kraft, die den Eisenbahnauftritt zu einem derart ›totalen‹, alle Sinne fesselnden Eindruck und Topos werden ließ«.3 Der singuläre Schock durch die Eisenbahn ist längst einer allgemeinen Reizüberflutung gewichen, die vor allem den Großstädter betrifft. Georg Simmel hat jene allgemeine »Steigerung des Nervenlebens«4 in seinem berühmten Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben bereits 1903 geschildert und damit die Grundlagen der Stadtsoziologie geschaffen. Die Differenz zwischen diesem Phänomen und speziell der Wahrnehmung der Eisenbahn zeigt sich in dem dreißig Jahre später erschienenen Essay Lokomotive über der Friedrichstrasse von Siegfried Kracauer: »Wenn man über die Friedrichstraße in der Richtung auf den Bahnhof zu geht, sieht man oft eine mächtige D-Zugslokomotive in der Höhe halten. [...] Erregt sie das Aufsehen der Menge? Niemand blickt zu ihr hin. Cafés, Schaufensterauslagen, Frauen, Automatenbüfetts, Schlagzeilen, Lichtreklamen, Schupos, Omnibusse, Varietéphotos, Bettler – alle diese Eindrücke zu ebener Erde beschlagnahmen den Passanten viel zu sehr, als daß er die Erscheinung am Horizont richtig zu fassen vermöchte.«5

Die Faszination der Züge schwindet angesichts der blendenden Lichter der Großstadt – und dennoch deutet sich in dieser Momentaufnahme an, dass der Windschatten des Eisenbahn-Schocks6 keineswegs eine Ruhepause für die Auseinandersetzung mit dem Transitorischen bedeutet. Der räumliche Brennpunkt des neuen Transitdiskurses ist die Großstadt, ihre Zeit ist die Weimarer Republik. Zwar sind Beschleunigung, Nervosität, Mobilität und Technisierung schon vor 1918 Grunderfahrungen der Moderne, und es hieße, »eine der fruchtbarsten Phasen, die die Geschichte der deutschsprachigen Literatur überhaupt aufzuweisen hat«7, zu ignorieren, würde man die Zeit des frühen 20. Jahrhunderts aus der Geschichte der Transitliteratur völlig ausklammern. Die Arbeit wird sich dennoch im Folgenden auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg konzentrieren, da hier den Veränderungen durch die technischen In3

Kaschuba 2004, 102.

4

Simmel 1995, 116.

5

Kracauer 2009b, 43.

6

Schivelbusch stellt zum Eisenbahnzeitalter fest: »Was danach an technischen Neuerungen kommt, die künstliche Beleuchtung und das Auto, wird gleichsam im Windschatten dieses ersten Schocks erlebt« (Schivelbusch 2007, 50).

7

Sprengel 2004, XI.

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novationen ein entscheidender Aspekt hinzugefügt wird: Mit der Ausrufung der Republik am 9. November 1918 beginnt eine Epoche deutscher Geschichte, die heute als Durchgangsepoche zwischen zwei Weltkriegen gilt und schon von ihren Zeitgenossen als provisorisch empfunden wurde. »Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein Ende«, heißt es noch 1931 in Erich Kästners Fabian.8 Wurde der entgrenzende Schwebezustand zwischen Noch-Nicht und NichtMehr als ein Charakteristikum des Transitorischen beschrieben, so ist die Weimarer Republik die Verzeitlichung und Verräumlichung dieses Schwebezustands: Die alte Ordnung gilt nicht mehr, eine neue ist noch nicht etabliert. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg hinterlässt nach dem ›Hurra-Patriotismus‹ der Kriegsjahre eine weit reichende Orientierungslosigkeit in der Bevölkerung. Zwar führt die Weimarer Republik zur »Errichtung eines Rahmens, innerhalb dessen sich alle politischen Ideologien frei bewegen«9, sie führt damit aber auch in eine Zeit der Ungewissheit und Ziellosigkeit. Klaus Mann beschreibt in seiner Autobiografie Der Wendepunkt sein Erwachsenwerden in der frühen Weimarer Republik: »Unser bewusstes Leben begann in einer Zeit beklemmender Ungewißheit. Da um uns herum alles barst und schwankte, woran hätten wir uns halten, nach welchem Gesetz uns orientieren sollen? Die Zivilisation, deren Bekanntschaft wir in den zwanziger Jahren machten, schien ohne Balance, ohne Ziel, ohne Lebenswillen, reif zum Ruin, bereit zum Untergang. [...] Wir konnten nicht von einer sittlichen Norm abweichen: Es gab keine solche Norm. Die moralischen Clichés der bourgeoisen Ära, diese atavistischen Tabus einer zugleich selbstgefällig satten und neurotisch inhibierten Gesellschaft, hatten in den Kriegs- und Revolutionsjahren ihre Autorität und Überzeugungskraft verloren, endgültig, wie wir damals glauben wollten.«10

Schon in ihren Anfängen präsentiert sich die Weimarer Republik als das »Zeitalter der Paradoxien und Widersprüche«11, als das sie Stephen Lamb charakterisiert hat. Im Durcheinander der politischen Strömungen werden schon die Um-

8

Kästner 2002, 62.

9

Lamb 1978, 6.

10 Klaus Mann 1976, 137 f. Der Wendepunkt: Ein Lebensbericht, Klaus Manns zweite Autobiografie nach Kind dieser Zeit, erschien erstmals 1952 in deutscher Sprache. 11 Lamb 1978, 3.

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stände der Kriegsniederlage zur Ungewissheit, ja zur Legende.12 Einig ist man sich von Beginn an nur darüber, dass die Weimarer Republik nicht mehr als eine Durchgangsphase sein würde. Lamb bemerkt die Paradoxie dieser Haltung in der gerade etablierten Demokratie als »Konsensus über die Notwendigkeit der Zerstörung einer Gesellschaftsform, die zum ersten Mal in der deutschen Geschichte den Konsensus als Strukturelement institutionalisieren wollte«.13 Ein weiteres Ereignis, das dieses Gefühl der Ungewissheit maßgeblich verstärkt, ist die Hyperinflation von 1923: »Nach der blutigen Ausschweifung des Krieges kam der makabre Jux der Inflation! Welch atembeklemmende Lustbarkeit, die Welt aus den Fugen gehen zu sehen! Haben einsame Denker einst von einer ›Umwertung aller Werte‹ geträumt? Statt dessen erleben wir nun die totale Entwertung des einzigen Wertes, an den eine entgötterte Epoche wahrhaft geglaubt hatte, des Geldes. Das Geld verflüchtigte sich, löste sich auf in astronomische Ziffern. Siebeneinhalb Milliarden Reichsmark für einen amerikanischen Dollar! [...] Der Dollar steigt: Lassen wir uns fallen! Warum sollen wir stabiler sein als unsere Währung? Die deutsche Reichsmark tanzt: Wir tanzen mit!«14

So humorvoll die Frage formuliert ist, warum die Gesellschaft stabiler sein sollte als ihre Währung, so ernst fällt die Antwort für viele aus, die mit dem Glauben an Gott, die Nation und schließlich das Geld offenbar jeglichen Glauben verloren haben. Schon seit der Jahrhundertwende hatten Künstler wie Wissenschaftler gesicherte Vorstellungen von Zeit, Raum, Sprache oder Erfahrung hinterfragt bis

12 Berühmt geworden ist die Dolchstoßlegende, die übrigens auch eine räumliche Verunsicherung in sich trägt: Die militaristische, territoriale Raumkonstruktion von ›vorderster Front‹ und Heimat, also von ›Vorder- und Hinterland‹ sowie eines Angriffs in den ›Rücken‹ des Heers stand der damaligen alltäglichen Raumwahrnehmung spiegelverkehrt gegenüber. Für den Großteil der Deutschen waren die Schützengräben schließlich nicht das Vorder-, sondern das ferne Hinterland, dessen Legitimation durch immer höhere Kriegsopfer brüchig wurde, und das sich von den Interessen der Bevölkerung immer weiter entfernte. Man sah sich hierin also vermutlich stark widersprüchlichen Raumbildern ausgesetzt. Die Untersuchung dieser suggestiven Kraft der Dolchstoßlegende ist ein spannender weitergehender Forschungsaspekt. 13 Lamb 1978, 8. 14 Klaus Mann 1976, 142 f.

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aufgekündigt15, nun bestätigt die tagespolitische Realität offenbar diese Erkenntnisse. Sicher ist nur, dass nichts sicher ist, oder »das Natürliche ... ist das Chaos«16, wie es ein Hoteldirektor in Arthur Schnitzlers Drama Das weite Land bereits 1911 formuliert hat. Diese Einstellung teilen auch viele Autoren der Weimarer Republik. Zu den Jahren nach 1923 stellt Klaus Mann fest: »Der Spuk der Inflation war vorüber [...]. Das deutsche Volk wußte nun doch, woran es war. Man hatte gar nichts mehr, keinen Kaiser, kein Geld, kein Elsaß, keine Flotte, keine Kolonien. Bei so allgemeinem Ausverkauf war man immerhin auch so manchen Ballast losgeworden, zum Beispiel die Illusionen.«17

Welcher Ort bietet sich literarisch an für eine derart illusionslose, provisorische und chaotische Durchgangszeit, in der nicht einmal mehr die Eisenbahnen besondere Aufmerksamkeit erregen? Kann es im allumfassenden Transit der Weimarer Republik überhaupt noch den einen transitorischen Ort geben, der die Zeit symbolisch repräsentiert? Siegfried Kracauer bezweifelt dies; in einem Zeitungsartikel von 1930 nimmt er nicht nur Abschied von der Lindenpassage, sondern gleich von allen Passagen. Die lebendige Berliner Einkaufsmeile, die nach einer Renovierung nur noch »kalte, glatte Marmorplatten« sowie ein »Glasdach, wie es deren Dutzende gibt«18 zu bieten hat, ist für Kracauer faktisch gestorben, zusammen mit ihren Pendants: »Die Zeit der Passagen ist abgelaufen. Ihre Eigentümlichkeit war, Durchgänge zu sein, Gänge durchs bürgerliche Leben, das vor ihren Mündungen und über ihnen wohnte. Alles, was von ihm abgeschieden wurde, weil es nicht repräsentationsfähig war oder gar der of15 So beispielsweise Einstein mit seiner Relativitätstheorie, Schönbergs Atonalität, Machs Empiriokritizismus, die expressionistischen Künstlergruppen oder die Dadaisten. 16 Schnitzler 2002, 639. Weiter heißt es: »Die Seele ... ist ein weites Land, wie ein Dichter es einmal ausdrückte ... Es kann übrigens auch ein Hoteldirektor gewesen sein.« Der dritte Akt von Das weite Land spielt vollständig in der Halle eines österreichischen Hotels. Mit der ungewöhnlich hohen Zahl an auftretenden Personen (mindestens 18), der hohen Frequenz an Auf- und Abtritten (jeweils 27) sowie der fragmentarischen Gesprächsführung (zu letzterer vgl. Söhnlein 1986, 64 ff.) ist dieser Akt ein frühes Beispiel moderner literarischer Hoteldarstellungen. 17 Klaus Mann 1976, 169. 18 Kracauer 2009a, 32.

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fiziellen Weltanschauung zuwiderlief, nistete sich in den Passagen ein. [...] Dies: daß die Lindenpassage eine Daseinsform desavouierte, der sie noch angehörte, verlieh ihr die Macht, von der Vergänglichkeit zu zeugen.«19

Die Faszination der Passage20 besteht also in der Kommentarfunktion in Bezug auf das bürgerliche Alltagsleben, im räumlichen Kontrast zwischen innen und außen, so wie es Foucault später für die Heterotopien beschrieben hat. Wenn sich jedoch Außerhalb und Innerhalb immer mehr ähneln, verschwindet dieser Kontrast, und die Passage verliert ihre Funktion als ›anderer‹ Ort. Genauso ergeht es den transitorischen Orten in einer transitorischen Zeit: Sie verlieren ihre Besonderheit. Kracauers Fazit bringt das Problem aller Transit-Orte der Epoche auf den Punkt: »Was sollte noch eine Passage in einer Gesellschaft, die selber nur eine Passage ist?«21 Doch auch wenn Kracauer das Ende der Passage betrauert – es gibt ihn noch, den passageren Ort, der als Symbol der Zeit Eingang in die Literatur der Weimarer Republik gefunden hat, mehr noch als alle Autos, Flugzeugen, Eisenbahnen, Straßen, Flughäfen und Bahnhöfe, die nun das Bild der Großstadt auch in der Literatur prägen. Es ist der Ort, an dem man nicht nur reist, sondern auch isst und schläft, schreibt und bleibt: das Hotel. »[...] bald war ich wieder an meinem geliebten Kurfürstendamm. Dort etablierte ich mich in einem ziemlich teuren Hotel und beschloß, ein Buch zu schreiben. [...] Während draußen vor meinem Fenster die Trambahnen klingelten [...], saß ich an meinem wackeligen Hotelschreibtisch und kritzelte [...] emsig vor mich hin.«22

Die Bahn zieht vorbei, Klaus Mann bleibt im Hotel. Er ist in guter Gesellschaft: Eine ganze Reihe von Autoren entdeckt in den Jahren der Weimarer Republik das Hotel als Schreib- und Lebensort, darunter Ernest Hemingway, Marcel Proust, Vicki Baum, Thomas Mann, Agatha Christie, Stefan Zweig und Joseph Roth. Sie sind »nur die literarische Avantgarde einer langen Reihe von Autoren, 19 Kracauer 2009a, 32 ff. 20 Die ›Glanzzeit‹ der Passage ist das 19. Jahrhundert; einen Einblick in diese Epoche bietet der Bildband Passagen von Wolfgang Lauter (1996). Neben Fotografien berühmter europäischer Passagen finden sich dort auch Auszüge literarischer Passagentexte, etwa von Balzac oder Zola. 21 Kracauer 2009a, 39. 22 Klaus Mann 1976, 170 f.

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die sich mit dem Hotelthema über die gewandelten Lebensbedingungen in der Moderne«23 verständigen und dabei selbst Hotelgäste werden. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Cordula Seger hat diese Entwicklung in ihrer Arbeit Grand Hotel – Schauplatz der Literatur ausführlich dokumentiert; die Literatur der Weimarer Republik bildet das Kernstück ihrer Arbeit.24 Dabei ist das Hotel auch abseits literarischer Betätigung längst ein place to be: Es gilt als schick, sich in Hotels zu treffen, auch ohne dort zu übernachten oder sich eine Übernachtung überhaupt leisten zu können. Man tanzt, plaudert, trinkt und flirtet in den Hallen und Salons der großstädtischen Hotels, vorzugsweise beim Fünf-Uhr-Tee, einer »Institution zur Förderung der bürgerlichen Geselligkeit«25, wie Joseph Roth feststellt. Schon 1909 fängt ein Journalist die Stimmung in den Berliner Hotels ein: »Der Fünfuhrtee ist als solcher im Hotelbetrieb eine neue Erscheinung. Und wenn er nicht vorhanden wäre, müßte er schleunigst erfunden werden. Denn er ist für die Hotels eine höchst willkommene Einnahme-Bereicherung, und er ist eine allseitig willkommene Erweiterung des geselligen Großstadtlebens. [...] Der weite Raum faßt kaum die Zahl der Gäste. Ein buntes Bild: An den Tischen der Halle, auf der Estrade kleine geschlossene Kreise, zwischen denen doch tausend Berührungspunkte bestehen. [...] Ein leises Raunen, ein verstecktes Kichern – viel, viel, sehr viel Flirt. Dazu die prickelnden Klänge der Hauskapelle.«26

Auch wenn Joseph Roth für das leichte Leben der Fünf-Uhr-Hotelbewohner nicht viel übrig hat27, kann auch er sich der Faszination des Orts nicht entziehen und wird zum selbsternannten »Hotelpatrioten«28. 23 Gruber 2007, 104. Einen Einblick in die literarische Produktion zum Thema Hotel bietet Lis Künzlis Anthologie Hotels – Ein literarischer Führer (Künzli 2007). 24 Vgl. Seger 2005, 257 ff. (»Zweiter Teil: Imaginäres Grand Hotel«). Aus Cordula Segers Arbeit ist die Literaturausstellung Grand Hotel – Bühne der Literatur hervorgegangen, die zwischen 2007 und 2008 in München, Meran und St. Moritz präsentiert wurde. Diese Ausstellung war wiederum die Grundlage für den gleichnamigen Sammelband, der sich mit den provisorischen Hotelexistenzen einzelner Autoren auseinandersetzt (Seger/Wittmann 2007). 25 Roth 1990, 42. 26 Noorden 1994, 19. 27 So schreibt er in einem Artikel in der Wochenzeitung Lachen links vom 01.02.1924 über den Fünf-Uhr-Tee: »Er kommt nur für jene Menschen in Betracht, die für die

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Von dieser allgemeinen Euphorie abgesehen, machen zwei Eigenschaften den Transit-Ort für die Autoren der Zeit besonders interessant. Erstens funktioniert das Hotel, wie bereits angedeutet wurde, als universelles und entgrenztes Bild des Transitorischen. Wurde die Eisenbahn des 19. Jahrhunderts zwar als weitreichende, aber örtlich begrenzte Metapher eingesetzt, erfasst die Metapher Hotel nahezu alle Lebensbereiche einer transitorischen Moderne. Diese Metaphorik ist keine, die von der Literaturwissenschaft nachträglich konstruiert werden muss. Überlegungen hierzu finden sich bereits bei den Autoren der Weimarer Republik. In Oskar Bies Kurzdrama Hotel von 1908 stellt ein Hotelgast seinem Kellner die rhetorische Frage: »Der Gast: [...] Ist Berlin nicht das Hotel der Hotels? Eine grandiose Technik, ein Zukunftsdrang, ein Luxus aller Gefühle und Ideen, ein Laufen in Gängen und Gleiten in Fahrstühlen und ein Warenhaus aller Bequemlichkeiten und Künste. Und doch heimatlos, heimatlos. Hier sitze ich ohne Haus, ohne Beruf, ohne Familie neben meinen schlechten Koffern.«29

Hans Kafka benutzt 1928 die gleiche Metapher umgekehrt – nicht die Großstadt wird zum Hotel, sondern das Hotel zur Großstadt – in seinem Essay Die Stadt und die Welt: »Man sieht mit eigenen Augen das kleine Modell so einer utopistischen Weltstadt, in der für Leute aus aller Herren Länder Speise, Trank, Erotik, Schlaf, Toilette, Arbeitsmöglichkeit, Lektüre und Vergnügen bereitgestellt ist [...]. Eine kleine Stadt inmitten der Großstadt, isoliert und selbstständig [...]; inmitten des lokalen Alltagslebens ein eingesprengtes Miniaturstück jener großen exterritorialen kosmopolitischen Welt, die, wenn man genau

Aufhebung des Achtstundentags sind, weil sie selbst keinen haben. Der Fünf-Uhr-Tee versammelt Männer und Frauen in einem Privatsalon oder in der eleganten Halle eines Hotels an mehreren kleinen Tischen, während auf einer Estrade ein Quartett musizieren muß. [...] Der Liebesgenuß ist lediglich den Frauen vorbehalten, die auch zum Fünf-Uhr-Tee dürfen. Man könnte sagen: Ohne Five-o-clock kein Geschlechtsverkehr!« (Roth 1990, 42). 28 Roth 1991, 6. Joseph Roths besondere Affinität zum Hotelleben wird im Kapitel ›Gefangen im Dazwischen: Hotel Savoy‹ ausführlicher diskutiert. 29 Bie 1994, 106 f.

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zusieht, eigentlich nur eine Fiktion ist und in Wirklichkeit gar nicht existiert. Es existiert nur das Modell en miniature: das Hotel.«30

Als Großstadt en miniature ist das Hotel noch mehr als eine Figur. Es ist vor allem eine Figur, die über ihre räumliche Qualität wirksam wird – eben in der Miniatur. Es ist eine Raumfigur: Das Hotel verdichtet die Eigenschaften des großstädtischen Raums und schafft als Mikro-Raum oder Mikrokosmos die Möglichkeit, die Konflikte der Zeit an einem Schauplatz gebündelt zu diskutieren. Michel de Certeau hat die Synekdoche als eine typische Raumfigur der Moderne identifiziert, die »ein Raumelement aus[dehnt], damit es die Rolle eines ›Mehr‹ (eines Ganzen) spielen und sich an die Stelle des ganzen Raumes setzen kann«31. So werden »vergrößerte Singularitäten«32 geschaffen, die das unbegreiflich gewordene Ganze zumindest kurzzeitig wieder überschaubar machen. Genauer muss man hier vom Pars pro toto sprechen, das den räumlichen Spezialfall der Synekdoche darstellt.33 Das Hotel als literarischer Schauplatz ist ein solches Pars pro toto, das dabei hilft, die unüberschaubar gewordene Welt in nuce zu bündeln34, und gleichzeitig auf die universelle Transitproblematik rückverweist: »Das Grand Hotel wird, unabhängig davon, ob es in der Stadt oder auf dem Land angesiedelt ist, als bewegter und bewegender Raum beschrieben, wo die Fahrstühle in ihrem ständigen Hoch und Nieder den Rhythmus bestimmen und die Jazzband den Ton angibt. [...] 30 Hans Kafka 1994, 41. Die Passage wurde bereits im Kapitel ›Exkurs: Transit-Räume als Heterotopien‹ zitiert. 31 Certeau 1988, 195. 32 Certeau 1988, 195. 33 Die Synekdoche umfasst neben Teil-Ganzes-Beziehungen (pars pro toto / totum pro parte) auch Gattung-Art-Beziehungen (›Brot‹ für Nahrungsmittel), zeitliche Beziehungen (›Traubensaft‹ für Wein) oder grammatisch-numerische Beziehungen (›der Deutsche‹ für die Deutschen). Nur die Teil-Ganzes-Beziehung hat jedoch eine ausnehmend räumliche Qualität, und de Certeau nennt auch nur diese in seinen Beispielen für Raumpraktiken (vgl. Certeau 1988, 194 ff.). 34 Zu diesem Schluss kommt auch Bettina Matthias in ihrem Aufsatz zum literarischen Hotel des frühen 20. Jahrhunderts: »Als ein ›Rettungsversuch‹ im Bemühen, gewisse über feste Bezugspunkte definierte Erzählhaltungen und Literaturformen auch in einer veränderten Realität beizubehalten und gleichzeitig diese Veränderungen adäquat einzubeziehen, lässt sich die [...] Tendenz verstehen, Texte der bürgerlichen Moderne (ab etwa 1880) in Hotels spielen zu lassen« (Matthias 2005, 119).

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Die Formel ›Das Hotel ist wie das Leben‹ [...] ist desto prägnanter für die Stimmung der Zwanzigerjahre, als sie deren Mehrdeutigkeiten umfasst. Das Grand Hotel ist der ephemere Aufenthaltsort des Weltbürgers, der die unterschwellige Anonymität sucht, existenziell braucht und sie findet im jederzeit aufkündbaren Dasein an frei gewähltem Ort und Raum.«35

Das Hotel erscheint so auch in der Literatur der Weimarer Republik vor allem als entgrenzter Ort, der nicht mehr ein singuläres Phänomen, sondern die ganze (Durchgangs-)Epoche symbolisch zu repräsentieren versucht. Das zweite Merkmal, das die Hoteldarstellungen der Zeit maßgeblich prägt, ist die Paradoxie. Cordula Seger stellt weiter fest: »Wenn das Grand Hotel als Sinnbild, als Mikrokosmos oder Modell verstanden wird, verlagert sich alles Interesse auf den Innenraum [...]. Die Hotelliteratur der Zwanzigerjahre schöpft ihre Aussagekraft aus den Entgegensetzungen, die das Innere des Grand Hotels strukturieren. [...] Das Engführen des Unvereinbaren konstituiert exemplarisch den widerspenstigen Kern räumlicher Unruhe im Grandhotel, womit einerseits die Vielschichtigkeit möglicher Lebensumstände und der damit verbundenen Raumentwürfe zum Ausdruck kommt, andererseits die starke Verankerung der Raumwahrnehmung in nach wie vor unausgesprochenen [...] gesellschaftlichen Übereinkünften.«36

Um die Hintergründe dieser Entgegensetzungen und Übereinkünfte zu verstehen, muss man den Blick auf die Entstehungsgeschichte der europäischen Hotels richten. Schon aufgrund der historischen Dimension ist das Hotel ein Ort mit einer besonderen Raumkonstellation. Es ist ein Ort der strukturellen Überlagerung, der buchstäblichen Vielschichtigkeit: »Im Grand Hotel konstituieren sich eine Vielzahl von Räumen, die sich überlagern, überschneiden und scheinbar aus35 Seger 2005, 269. Allerdings konnte der Anspruch des Hotels, die Welt zu repräsentieren, nicht immer erfüllt werden; mitunter wurde das Bild vom Aufenthaltsorts des Weltbürgers in der Weimarer Republik glanzvoller gezeichnet, als es die ›schmutzige‹ Großstadt jenseits der Drehtür hergab. Dies merkt auch Marc Katz aus kulturtheoretischer Perspektive an: »The privatized space of the metropolitan hotel could be said to have turned its back on the city. And yet at the same time, the hotel recuperated urban life on terms that extended its own ability to manufacture desire. The hotel was not just an airbrushed city within the city; it also sold the city outside, the dirty city, a distinctly cosmopolitan self-image« (Katz 1999, 137). 36 Seger 2005, 271 f., Hervorhebung L.W.

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schließen«37 – dies gilt nicht nur synchron für die Raumkonstruktionen der wechselnden Bewohner und Angestellten in den diversen Stockwerken der Gebäude, sondern auch diachron für die kulturelle Entwicklung des Grand Hotels im 19. und 20. Jahrhundert. Die luxuriösen Hotelbauten, die im 19. Jahrhundert im Zuge der Industrialisierung und des Aufstrebens des Großbürgertums entstehen, sind nämlich schon bei ihrer Grundsteinlegung vor allem eins: eine Imitation – eine Imitation des aristokratischen Lebensstils. Weil der bürgerliche Alltag wenig Orte bereithält, die es mit den Anwesen des Adels aufnehmen können, werden überdimensionale Hotelbauten zur Projektionsfläche der Träume von Glanz und Ruhm. Das Grand Hotel des 19. Jahrhunderts ist das »Schloss des Großbürgertums«38, wie Hans Magnus Enzensberger in seinem Aufsatz Eine Theorie des Tourismus feststellt. »In ihm usurpiert die neue Klasse demonstrativ die Lebensformen der Aristokratie. Sein Milieu ist der unbewältigte Luxus«.39 Die Hotels tragen entsprechend Namen wie ›Royal‹, ›Palace‹, ›Majestic‹, ›Kaiserhof‹, ›Residenz‹, ›Imperial‹, ›Königshof‹, ›Fürstenlager‹, ›Régence‹ oder verweisen im Falle von ›Savoy‹ oder ›(Queen) Victoria‹ auf konkrete Königshäuser.40 Der Kunsthistoriker Peter Meyer hält fest: »Und nun schiessen die geheimsten Wunschträume des Kleinbürgers ins Kraut: Einmal in einem richtigen Palast wohnen! [...] Sich von Kellnern im Frack bedienen lassen – im gleichen Saal wie ein richtiger Graf oder Millionär – welch Wonne für den Parvenü! [...] Was man sich zu Hause nicht leisten kann, oder aus einem Rest gesellschaftlichen Taktes nicht leisten will, das darf man im Hotel: einmal Fürst sein, einmal Krösus spielen!«41

Wie jeder Ort ermöglicht auch das Grand Hotel ein Wechselspiel aus Handlungen und Strukturen, und so spiegelt sich die Imitation des adeligen Lebens in den baulichen Strukturen der Hotels. Die zweckmäßige Architektur früherer Unterkünfte weicht großzügig angelegten Bauten mit unzähligen Gesellschaftszimmern und Salons für den Müßiggang. Im Grundriss des 1864 fertiggestellten schweizerischen Kurhauses Bad Tarasp hat die Hotelhalle, zentraler Ort der Zu37 Seger 2005, 267. 38 Enzensberger 1962, 165. 39 Enzensberger 1962, 165. 40 Vgl. Rösch 2007, 27. 41 Meyer 1942, 181 ff. Auf Peter Meyers Schweizerische Stilkunde weist Cordula Seger in ihrer Grand-Hotel-Studie hin (vgl. Seger 2005, 169).

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sammenkunft, neben dem Speisesaal bereits die größten Ausmaße und erstreckt sich vertikal bis in den 1. Stock.42 Auffällig ist zudem die Zahl der Salons; es gibt neben dem Musiksalon, dem Damensalon und dem Billardsalon zehn weitere, nur mit ›Salon‹ bezeichnete Räume. Dasselbe Bild zeigt sich in einem Kurhaus in Brighton, England: Hier gibt es neben der Halle einen ›Ausruher‹, also eine Art Lounge, einen Lesesaal, einen Rauchsaal, einen Konversationssaal und einen Empfangssaal.43 »Das ideale Luxushotel spiegelt somit das Raumprogramm bürgerlicher, aber auch adliger Wohnstile wider, die sich schon ab dem 18. Jahrhundert wechselseitig zu beeinflussen begannen«, stellt Norbert Wichard fest.44 Der Journalist Jens Jessen blickt in seinem Essay Ein Hoch auf die Verschwendung! auf die Blütezeit der Luxushotels zurück und bilanziert: »Das Grandhotel war nicht der Ort der guten Gesellschaft, sondern der halbguten, nicht der Hautemonde, sondern der Demimonde. [...] Die Architektur der Grandhotels hat Schlösser nur imitiert – für jene, die keine haben.«45

Die Vorstellung vom Inszenierten, Halbwahren, Künstlichen der Grand-HotelWelt ist nicht etwas, was diesen Gebäuden erst nachträglich hinzugefügt wird. Eine heile Grand-Hotel-Welt gab es nie. Der Schein ist die Voraussetzung und das Fundament für die meisten Hotelneubauten des 19. Jahrhunderts.

42 Siehe Abbildung 4, dort Vestibül genannt. Die Kunsthistorikerin Isabelle Rucki bemerkt in ihrer Studie Das Hotel in den Alpen: »Die zunehmende Bedeutung der Hotelhalle macht sich um die Jahrhundertwende auch in den Kurhäusern von Bad Tarasp und St. Moritz bemerkbar: In beiden Gebäuden wird um 1900 das Entrée vergrössert und mit neuen Ausstattungsstücken bereichert. Auf den Grundrissplänen erscheint es ab jetzt unter der Bezeichnung ›Vestibül‹« (Rucki 1989, 81). 43 Siehe Abbildung 5. Weitere Beispiele und ein umfangreicher Vergleich der Grundrisse im schweizerischen Hotelbau des 19. Jahrhunderts finden sich in Roland Flückiger-Seilers Bildband Hotelpaläste zwischen Traum und Wirklichkeit (Flückiger-Seiler 2005, 56 ff.). 44 Wichard 2007, 72. Norbert Wichard beschäftigt sich in seinem Aufsatz neben kulturgeschichtlichen Aspekten auch mit den Hotelerzählungen von Theodor Fontane, Franz Werfel und Vicky Baum. 45 Jessen 2006, 42.

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Abbildung 4: Grundriss des Kurhaus Tarasp, Schweiz, 1860-1864 erbaut

Quelle: Archiv der kantonalen Denkmalpflege Graubünden, Chur

Trotz seiner Scheinatmosphäre ist das Hotel zumindest im 19. Jahrhundert ein Ort der Übereinkunft, weil das Großbürgertum in den eigens geschaffenen Hotelbauten gewissermaßen bei sich selbst einkehrt: Statistiken aus Gästebüchern zeigen, dass nur noch ein verschwindend geringer Teil der Hotelkundschaft im 19. Jahrhundert aus der Aristokratie stammt – etwa ein bis drei Prozent.46 Der verbleibende Teil schafft sich durch Geld, Etikette, Tagesrituale – dazu zählt der bereits genannte Fünf-Uhr-Tee – sowie andere Ordnungs- und Sanktionsmechanismen ein in sich geschlossenes Weltbild.47 Thomas Mann notiert noch 1916 auf einer Postkarte, die ein Hotelfoyer zeigt: »Hotel-Halle. Moderne ›Aristokra-

46 Vgl. Rucki 1989, 15 und Grob 1956, 78. 47 Mit den kulturellen Codes dieser Gemeinschaft und dem Aufstieg des Geldes als neuem Hauptkriterium gesellschaftlichen Rangs setzt sich Bettina Matthias kritisch auseinander (vgl. Matthias 2005, 126 ff.).

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tie‹. Der Kellner könnte ebenso gut ›Herrschaft‹ sein und jemand von der Herrschaft Kellner. Es ist der reine Zufall, daß es umgekehrt ist.«48 Auch die Hotelromane, die um 1900 entstehen, erzählen das Grand Hotel als »vitalen, gesellschaftlich relevanten und akzeptierten Ort«49, als intakten Mikrokosmos. Die Romane sind sogar Teil des Mikrokosmos, weil sie in den Lesesälen der Hotels ausliegen, in der lokalen Presse rezensiert werden und ihre Autoren häufig selbst Grand-Hotel-Stammgäste sind – ein in der Literaturgeschichte seltenes Zusammentreffen von Produktions-, Handlungs- und Rezeptionsort50, das verdeutlicht, wie selbstbezüglich das Grand Hotel im 19. Jahrhundert ist. Konflikte werden, sofern sie in der frühen Hotelliteratur überhaupt stattfinden, allenfalls zwischen dem Außen und Innen des Hotels ausgetragen. Es wird durchaus problematisiert, wie die Hotelbauten als Fremdkörper in die Natur eindringen – vor allem in den Schweizer Alpen –, und wie die Landschaft für die Touristen künstlich hergerichtet wird51, aber was innerhalb der Hotelmauern geschieht, bleibt wenig beachtet. Der Erste Weltkrieg stellt eine Zäsur in dieser Entwicklung dar. Während der Kriegsjahre verwaisen viele Hotelbauten, Neubauten werden in Europa kaum noch in Auftrag gegeben, selbst in der neutralen Schweiz wird ein offizieller Baustopp verordnet, der bis 1925 in Kraft bleibt.52 Nach dem Krieg ist ein Großteil der Grand Hotels noch intakt und kann wieder in Besitz genommen werden, ohne architektonisch verändert werden zu müssen.53

48 Auf die Postkarte verweisen Silke Behl und Eva Gerberding mit dem bibliografischen Hinweis auf Thomas Manns Tagebücher (Behl/Gerberding 1998, 237). 49 Seger 2005, 124. Dazu zählen unter anderem die Romane The Story of an Alpine Winter von Elizabeth Main (1907), Die Sonne von St. Moritz von Paul Oskar Höcker (1908), Evviva la vita! von Matilde Serao (1908) und Alpentragödie von Richard Voss (1909), die Cordula Seger untersucht (vgl. Seger 2005, 114 ff.). 50 Vgl. Seger 2005, 114. 51 Vgl. Seger 2005, 134 ff. 52 Vgl. Seger 2005, 167. 53 Auch das Hotel Adlon präsentiert sich bereits kurz nach Kriegsende wie zuvor. Das Hotel hat »seinen Charakter bewahrt: Seine Halle, seine Gesellschaftsräume, seine Küche bildeten auch in jenen schwierigen Zeiten ein Spiegelbild und Spektrum internationalen Lebens«, schreibt Hedda Adlon in ihrer Autobiografie (Adlon 2004, 108). Während der Unruhen in Berlin zum Kriegsende werden lediglich ein paar Fenster zerschossen (vgl. Adlon 2004, 81 ff.).

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Abbildung 5: Grundriss des Hotel Metropole, Brighton, 1890 erbaut

Quelle: Schmitt 1904, 322

Damit tritt in den Hotels ein Missverhältnis zwischen Bewohnern und Bewohntem auf: Die Gebäude sind dieselben, aber ihre Gesellschaft ist eine völlig andere geworden. Während weite Teile der Bevölkerung – inklusive vieler Hotelbesucher – noch an den Folgen des Krieges leiden, spielen in den Grand Hotels Europas bereits wieder die Musikkapellen auf. Siegfried Kracauer berichtet in einem Zeitungsartikel von 1927:

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»Die Herrschaften lustwandelten im Vestibül [...]. Aber ich blieb sitzen, ich klebte am Sessel. Der Krieg stieg vor mir auf und all das hinterher. Glitzernde Lappen, Gestelle aus Fleisch und geblähte Hemden – jetzt waren sie wieder beisammen, als sei nichts geschehen. Kein Schleier mehr, die Figuren blank und entblößt.«54

Stefan Zweig, der dem Militärdienst 1917 vorzeitig entfliehen und in die Schweiz übersiedeln konnte, attestiert schon zu Kriegszeiten den wenigen noch betriebenen Hotels Ähnliches. In der Wiener Neuen Freien Presse schreibt er im Februar 1918 unter dem Titel Bei den Sorglosen: »Maskenball in einem der Luxushotels. Nein, die Sorglosen, sie langweilen sich nicht. [...] Diamanten blitzen und die Blicke dazwischen, auf den Tischen lockt, was im Kriegsland der Verwegenste nicht mehr erträumt. Noch immer sitzen sie wie einst und spielen ihre Kinderspiele: Gesellschaft, Vornehmheit, Eleganz, Flirt. Europa stürzt in Trümmer. Die Zigeunerkapelle fiedelt. Zehntausend Menschen sterben jeden Tag. Das Diner ist zu Ende, der Maskenball beginnt. [...] Süße weiche Takte, indes irgendwo jetzt Schiffe in die Tiefe fahren und Gräben gestürmt werden. Die Sorglosen tanzen den Mummenschanz der Nationen.«55

Der ohnehin als Scheinwelt entworfene Gesellschaftsort Hotelhalle ist vor der Folie der Kriegsgräuel zusätzlich ein antiquierter, längst der Dekadenz und Formelhaftigkeit überführter Ort, also als Scheinformel in doppelter Hinsicht entlarvt. In der Öffentlichkeit der Halle präsentieren sich die Gäste weiter herrschaftlich lustwandelnd, und Personal wie Gäste setzen das Spiel vom mondänen Großbürgerpalast fort, doch die innere Sicherheit, die Vitalität der kollektiven bürgerlichen Gesellschaft ist verloren gegangen. Über diese offensichtlichen Paradoxien und Widersprüche des Grand-HotelLebens können viele Autoren der Zwanzigerjahre nicht hinwegsehen. Nicht die architektonische, aber die literarische Konstruktion der Hotels ändert sich damit; »das Grand Hotel ist immer noch Gesellschaftsort, aber die Gesellschaft ist eine andere geworden. [...] Der Gemeinplatz kann nicht mehr unhinterfragt wiedergegeben werden«56. Für eine zusätzliche räumliche Irritation sorgt die Installation des Lifts. In den meisten Hotels befinden sich die billigsten Zimmer und die Schlafräume der 54 Kracauer 1994, 121. Der Artikel erschien am 15.12.1927 in der Frankfurter Zeitung. 55 Zweig 1990, 110 f. 56 Seger 2005, 305.

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Angestellten in den oberen Etagen57, während die wohlhabenden Hotelgäste nahe des Erdgeschosses untergebracht sind, damit sie einen möglichst kurzen Treppenweg zurückzulegen haben. In dieser Architektur wird die kulturell dominante Logik eines positiv konnotierten Oben58 ins Gegenteil verkehrt. »Was oben stand, lag unten«59, so fasst der Erzähler in Joseph Roths Hotel Savoy die räumliche Paradoxie der sozialen und architektonischen Schichten zusammen. Diese paradoxe Schichtung war zur Zeit der Weimarer Republik ein altbekanntes Phänomen; schon in den Grand Hotels und Stadthäusern des 19. Jahrhunderts lässt sich eine ähnliche Ordnung der Vertikalen beobachten.60 Durch den Lift wird die Verkehrung nun jedoch nochmals verkehrt: Indem der Lift die Stockwerke fast aller modernen Hotels61 in rasender Geschwindigkeit verbindet, entkräftet er das Argument der kürzeren Treppenwege und die architektonische Logik der Etagenordnung. Der Aufzug beendet die Ära der Bel Etage und begründet die des Penthouse, stellt Andreas Bernard in seiner Arbeit zur Kulturgeschichte des Fahrstuhls fest.62 Dieser Wandel vollzieht sich jedoch wie bei vielen technischen Innovationen nicht schlagartig, sondern ist von einem cultural lag63 begleitet. Der technische 57 »Die Schlafräume der Arbeiter, Diener und Kellner sind unten im Keller neben dem Heizraum oder oben am Dachboden neben den Wäschereien«, bemerkt Hans Kafka in seinem Zeitungsartikel Die Stadt und die Welt von 1928 (Hans Kafka 1994, 44). 58 So gilt das Oben beispielsweise von jeher als Sitz des Göttlichen, hohe Berge sind Schauplätze zahlreicher Mythen, und die Entwicklung des modernen Menschen ergibt sich aus dem aufrecht gehenden, nach oben strebenden homo erectus. Auf diese Zusammenhänge hat Hartmut Böhme in seinem Vortrag Raumordnungen und Raumwissen: Zur phänomenologischen und kulturellen Konstitution von Räumlichkeit am 21.9.2010 in Freiburg hingewiesen. 59 Roth 1989, 168. 60 Vgl. Seger 2005, 410. 61 Andreas Bernard schreibt zu den Reiseführern in Europa um 1911: »Als erwähnenswerte Besonderheit eines durchschnittlichen Hotels gilt nicht mehr das Vorhandensein des Fahrstuhls, sondern sein Fehlen. Ein weiteres Jahrzehnt später schließlich ist die Frage, ob das moderne Transportmittel zur Ausstattung eins Hotels gehört, völlig aus dem Diskurs der Reiseführer verschwunden« (Bernard 2006, 82 f.). 62 Vgl. Bernard 2006, 122 ff. »Das Penthouse ist die Beletage des 20. Jahrhunderts« (Bernard 2006, 144). 63 Gemeint ist das Phänomen, das der Soziologe William Ogburn in seiner Theorie der kulturellen Phasenverschiebung ( 1969) erstmals beschrieben hat.

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Wandel vollzieht sich also schneller als der kulturelle – eine Phasenverschiebung findet statt, deren Höhepunkt in die Jahre der Weimarer Republik fällt. So sind um 1920 zwar schon in vielen Hotels Fahrstühle installiert, die Ordnung der Etagen bleibt jedoch weiterhin bestehen.64 Die Annahme, die doppelte Verkehrung des Oben und Unten würde die ursprüngliche Orientierung gleich einer doppelten Verneinung wiederherstellen, ist also für die Weimarer Republik nicht zutreffend: Vielmehr hat man es in der Schichtung der Hotels der 1920er Jahre mit einer doppelten und unaufgelösten Raumirritation zu tun. Im Hotel jener Zeit von ›denen da oben‹ zu erzählen, verweist zugleich auf die ärmsten und die reichsten Bewohner des Hauses, vor allem aber auf die Mehrdeutigkeit, die das ganze Gebäude erfasst hat.65 Dies ist das Besondere an der Raumkonfiguration des Hotels in der Weimarer Republik: dass hier gegenwärtig wie historisch Räume ineinanderfließen, die sich eigentlich ausschließen, die sich widersprechen und doch bedingen, die gewohnte Ordnungen gleich mehrfach auf den Kopf stellen, die den schönen Schein bewahren und sich dabei doch ständig entlarven, die in höchstem Maße provisorisch sind und damit doch dauerhaft die Epoche symbolisieren. Eben weil diese entgrenzte und paradoxe Raumkonstellation in der nicht minder entgrenzten und paradoxen Weimarer Republik ein ideales Terrain darstellt, entsteht zum Schauplatz Hotel zwischen 1919 und 1933 »wie zu kaum einem anderen Schauplatz eine Vielzahl von Reportagen, Feuilletons, Erzählungen, Romanen und

64 »Denn auch wenn die Umschichtung der vertikalen Ordnung als Effekt des Fahrstuhls zu bezeichnen ist, sorgt der bautechnische Aufwand in traditionellen Grandhotels dafür, dass die Installation des Transportmittels erst nach und nach zu einer Neuorganisation der Raumordnung führt. Im Gegensatz zu amerikanischen Hotelgebäuden Anfang des 20. Jahrhunderts [...] gibt es in Europa deshalb eine Zeit des Übergangs« (Bernard 2006, 78). 65 Die Paradoxie dieser vertikalen Übergangszeit spiegelt sich literarisch insbesondere in Joseph Roths Hotelroman wider, der im folgenden Kapitel untersucht wird. In Maria Leitners Hotel Amerika von 1930 lässt sich der Übergang ebenfalls beobachten: Hier befinden sich die spärlich eingerichteten Personalzimmer noch in den obersten Etagen des Hotels, während nebenan bereits die Reichen auf der Dachterrasse lustwandeln. »Das Zimmer ist sehr hell, hier im höchsten Stockwerk des Hotels Amerika. Der Trakt des Personals befindet sich in einem abseits gelegenen Teil des Dachgeschosses, fern vom pompösen Dachgarten« (Leitner 1974, 6). Inzwischen gehören Dachgärten, oft sogar mit Swimmingpools, zum Standard eines Luxushotels.

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Gedichten«66. Aus dieser Vielzahl werden im Folgenden zwei Texte untersucht, in denen sich die beschriebenen Strömungen und Prozesse in besonderer Weise widerspiegeln.

G EFANGEN

IM

D AZWISCHEN : H OTEL S AVOY

Auch wenn Joseph Roths Roman Hotel Savoy von 1924 hinter dem übergroßen Erfolg von Vicky Baums Weltbeststeller Menschen im Hotel zurückstehen muss, gehört Roths Erzählung zu den bekanntesten und vor allem zu den komplexesten jener Werke der 1920er Jahre, die sich mit dem Hotel und dem Transitorischen auseinandersetzen. Den Autor Roth mit dem Transit-Ort Hotel in Verbindung zu bringen, fällt nicht schwer. Seine Biografie ist untrennbar verknüpft mit der prekären, provisorischen und ausschweifenden Welt der Hotels. »Joseph Roth lebte die meiste Zeit seines Lebens im Hotel«, fassen Victoria Lunzer-Talos und Heinz Lunzer in ihrem Aufsatz zu Roths rastlosem Leben zusammen. »Das entsprach seinem Lebensgefühl: Er sehnte sich nicht nach der Geborgenheit einer Wohnung oder eines ständigen Wohnsitzes, weder, um dort zu arbeiten, schon gar nicht, um ein gesetztes Familienleben zu führen.«67 Selbst nach seiner Hochzeit wird Roth nicht sesshaft; ein einziges Mal unternimmt er den Versuch, mit seiner Frau Friedl eine Wohnung in Berlin-Schöneberg zu beziehen, das Experiment scheitert jedoch nach kurzer Zeit. Roths Verleger erinnert sich und entwirft dabei Bilder des Transitorischen: »Für kurze Zeit hatte er einmal eine Wohnung gemietet, und ich sah ihn in dem düstern, riesigen Berliner Zimmer, die Hände in den Manteltaschen, wie in einem Wartesaal aufund abgehen, als lauere er auf das Abfahrtszeichen seines Zuges.«68

Im Hotel hingegen findet Roth, der »ewige Nomade und unstete Bohemien [...], der immer Angst vor dem Gefühl des Festgehaltenwerdens und der Umklammerung hatte und nirgends zur Ruhe kommen konnte«, eine Ersatzwohnung und macht das »Hotelpersonal zur provisorischen Ersatzfamilie«69, wie der Roth66 Gruber 1994, 149. 67 Lunzer-Talos/Lunzer 2007, 125. 68 David Bronsen zitiert den Verleger in seiner Roth-Biografie (Bronsen 1974, 222 f.). 69 Bronsen 1974, 516.

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Biograf David Bronsen festhält. In dem Essay Ankunft im Hotel von 1929 bekennt Roth: »Wie andere Männer zu Heim und Herd, zu Weib und Kind heimkehren, so komme ich zurück zu Licht und Halle, Zimmermädchen und Portier« – »ich bin ein Hotelbürger, ein Hotelpatriot«.70 Ist das Hotel der Zwanzigerjahre die Großstadt en miniature, so liefert sich Roth sowohl dem Miniaturstück als auch dessen Originalvorlage exzessiv aus: Wien, Berlin und Paris werden zu den wichtigsten Stationen seines Lebens. Besonders prägend ist der Wechsel nach Berlin im Jahr 1920. Die »MolochGroßstadt«71 erlebt er als räumliche Verstörung: »Die Resultate – denn diese Stadt hat so viele und so schnell wachsende Physiognomien, daß man nicht von einem Resultat sprechen kann – sind ein penibles Konglomerat von Plätzen, Straßen, Mietskasernenwürfeln, Kirchen und Palästen. Eine ordentliche Verworrenheit; eine planmäßig exakte Willkür; eine Ziellosigkeit von zweckhaft scheinendem Aspekt. Noch nie ward so viel Ordnung auf Unordnung verwandt [...].«72

Die Ordnung der Unordnung ist auch das verbindende Thema von Roths ersten drei Romanen, die in Berlin entstehen: Ob Spinnennetz, Hotel Savoy oder Die Rebellion – immer geht es um die vergebliche Suche nach einer höheren Ordnung in einer allgegenwärtigen Unordnung, um die Darstellung geheimnisvoller, übermächtiger Strukturen, die sich jedoch allesamt als trügerisch erweisen.73 Diese Strukturen sind in hohem Maße flüchtig; sie werden nur entworfen, um sie wenig später zu zerstören oder des Betrugs zu überführen. Die Konzeptualisierung der ersten Romane Roths ist damit von Grund auf transitorisch. Dies gilt in besonderem Maße für den Roman Hotel Savoy, in dem Roth den idealen Schauplatz für die Verräumlichung der flüchtigen Strukturen gefunden hat – und auch für deren Vernichtung, wenn am Ende des Romans das ›Savoy‹ in Flammen steht. In seinem Aufsatz zur Publikationsgeschichte von Roths Hotelroman kommt Volker Mergenthaler zu dem Schluss: »Man geht daher wohl nicht fehl, wenn man als leitendes Problem der Rothschen Erzählung [Hotel Savoy, L.W.] die Struktur des Transitorischen bestimmt und das durch den Ti-

70 Roth 1991, 3, 6. 71 Roth 1991, 210. 72 Roth 1991, 229. 73 Vgl. Bronsen 1974, 252 ff.

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tel zum ›Romanhelden‹ ausgelobte Hotel als denjenigen Ort ins Auge faßt, an dem die besagte Struktur paradigmatisch analysiert und verhandelt wird [...].«74

Mergenthaler bilanziert weiter, dass »auf allen analytisch zugänglichen Ebenen des Rothschen Romans das Prinzip des Transitorischen vorherrscht.«75 Tatsächlich ist die Tragweite des Transitorischen in Roths Hotel Savoy außerordentlich. Zunächst einmal ist schon der Entstehungsort des Romans ein Transit-Ort: David Bronsen hat nachgewiesen, dass Hotel Savoy zusammen mit Die Rebellion 1924 »in einem schöpferischen Moment« im Berliner Hotel am Zoo entstanden ist.76 Reales Vorbild des Romanschauplatzes ist ein gleichnamiges Hotel im polnischen Lodz77, einer jahrhundertealten »Etappenstadt«, die Roth während seines Kriegsdienstes »nur streifen«78 konnte. Schon in der Entstehungsgeschichte des Romans finden sich also Spuren transitorischer Bewegungen. Auch in der Rezeptions- und in der Publikationsgeschichte des Romans lassen sich Strukturen des Transitorischen aufspüren. Hotel Savoy wird nicht zuerst als Buch veröffentlicht, sondern als Fortsetzungsroman in einer Zeitung – was in der Weimarer Republik angesichts der blühenden Presselandschaft keine Selten-

74 Mergenthaler 2011, 57, Hervorhebung L.W. 75 Mergenthaler 2011, 57. 76 Vgl. Bronsen 1974, 249. Das Hotel am Zoo wurde zu Roths Stammquartier in Berlin. 77 »Roths polnischer Freund Józef Wittlin weiß zu berichten, [...] daß der Autor an das dortige gleichnamige Hotel gedacht hatte« (Bronsen 1974, 250). 78 Dies berichtet Roth einige Jahre nach der Veröffentlichung des Romans, als er sich erneut in Lodz befindet. In Russische Überreste, einem der Briefe aus Polen, die 1928 in der Frankfurter Zeitung erscheinen, schreibt er: »Ich wohne hier in einem großen Hotel [...]. Ich kannte sie [die Stadt Lodz, L.W.] noch aus dem Krieg. Ich durfte sie damals nur flüchtig streifen, aber ich erinnere mich, daß sie stärker als alle anderen Städte des Ostens und des Krieges ihre eigene Atmosphäre bewahrt hatte. Sie war nämlich schon früher – und seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts, eine Etappenstadt« (Roth 1990c, 950 f.). Roths Aussagen speziell zu seinem Kriegsdienst sind allerdings nicht immer zuverlässig. So berichtet Roth an mehreren Stellen über seine Leiden in der Kriegsgefangenschaft; später wurde jedoch nachgewiesen, dass Roth nie Kriegsgefangener war. Er war auch kein österreichischer Offizier, sondern lediglich Freiwilliger für ein Jahr. Der Mystifikator Roth vermengt hier teilweise seine eigenen Erlebnisse mit Erlebnissen seiner Romanfiguren.

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heit ist79, jedoch in den meisten aktuellen Ausgaben des Romans unerwähnt bleibt. Der Roman erscheint vom 9. Februar bis 16. März 1924 in der Frankfurter Zeitung, für die Roth auch als Korrespondent arbeitet. Der Text ist hier also eingebettet in eine Zeitungsseite mit zahlreichen weiteren Texten. Dass dieser von der Literaturwissenschaft vernachlässigte Sachverhalt »für eine Lektüre des Roth’schen Romans alles andere als nebensächlich«80 ist, hat Volker Mergenthaler nachdrücklich betont. Anspielend auf die im Roman gestellte Frage »Weiß man, was morgen sein wird?«81 stellt er fest: »Die [...] Konditionierung des Lesers erfolgt auch hier gleichsam transitorisch, da sie im Modus der Fortsetzung dargeboten wird, sodass man als zeitgenössischer Rezipient am Übergang von der einen, mit dem Hinweis ›(Fortsetzung folgt.)‹ versehenen Lieferung zur in Aussicht gestellten nächsten nicht ›weiß [...], was morgen sein wird‹.«82

Die Zeitung von gestern ist vielleicht schon weggeworfen, die nächste Ausgabe noch nicht erhältlich, vielleicht erscheint sie auch gar nicht mehr angesichts der wirtschaftlichen Turbulenzen – und schon ist der Leser mitten im PublikationsTransit. Da die angesehene Frankfurter Zeitung83 im Jahr 1924 gleich dreimal täglich erscheint – es gibt das Erste Morgenblatt, das Zweite Morgenblatt und 79 Der Fortsetzungs- oder Feuilletonroman ist in der Weimarer Republik bereits ein etabliertes literarisches Genre. Schon im 19. Jahrhundert sichern Zeitungs- und Zeitschriftenverlage die Existenzen vieler Schriftsteller, da sie meist höhere Honorare zahlen als die Buchverlage. So wurden die Werke von Wilhelm Raabe fast ausschließlich als Fortsetzungsromane veröffentlicht, insbesondere in der Kulturzeitschrift Westermanns Monatshefte. Auch Theodor Fontane, Friedrich Hebbel oder Theodor Storm publizierten ihre Texte in solchen Monatsheften und in der Vossischen Zeitung. Einen Einblick in die presse- und literaturgeschichtliche Entwicklung des deutschen Feuilletonromans bietet Norbert Bachleitners Studie Fiktive Nachrichten (Bachleitner 2012). 80 Mergenthaler 2011, 53. 81 Roth 1989, 173. 82 Mergenthaler 2011, 58. 83 Die Frankfurter Zeitung war zur Zeit der Weimarer Republik nicht nur auflagenstark, sondern auch für ihren Feuilleton berühmt, in dem die bekanntesten Intellektuellen des Landes publizierten, darunter Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno. Almut Todorow hat sich mit dieser Entwicklung eingehend beschäftigt (vgl. Todorow 1996).

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das Abendblatt, die sich redaktionell weitgehend unterscheiden –, und Roths Roman ausschließlich in den zweiten Morgenausgaben abgedruckt wird, muss der Leser beim Kauf sogar die Tageszeit beachten, um die Lektüre ordnungsgemäß fortsetzen zu können. Raumtheoretisch gesprochen handelt es sich hier um ein Problem des Trägerraums; die materielle Grundlage der Schrift wird zergliedert und ihre Verfügbarkeit verunsichert. Abbildung 6: Der erste Fortsetzungsteil von ›Hotel Savoy‹ in der Frankfurter Zeitung, darüber Kurznachrichten

Quelle: Frankfurter Zeitung (09.02.1924), Zweites Morgenblatt, Nr. 107, S. 1

Abbildung 7: Links der Romantext von ›Hotel Savoy‹, rechts der Nachrichtentext ›Zur Aufhebung des Ausnahmezustands‹

Quelle: Frankfurter Zeitung (17.02.1924), Zweites Morgenblatt, Nr. 129, S. 1 f.

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Auch der Textraum erhält durch die Publikationsart Strukturen des Transitorischen: Die Textteile treten inhaltlich, aber auch räumlich in Beziehung zu ihrer Nachrichtenumgebung; der Leser kann zwischen den Texten hin- und herspringen und Bezüge herstellen. Mergenthaler spricht von »narrativen Zwischenräume[n]« in der Frankfurter Zeitung, die gefüllt sind mit »anderen Texten, mit weiteren Feuilletonbeiträgen, ferner mit einer Vielzahl von Meldungen, Kommentaren, Berichten, Werbeannoncen und Stellenanzeigen, die der Leser der jeweiligen Fortsetzung des Roth’schen Romans ignorieren oder zur Kenntnis nehmen konnte.«84

Auch wenn die erzählte Gegenwart von Hotel Savoy etwa fünf Jahre früher angesiedelt ist als die Gegenwart des Lesers, lassen sich interessante Verschränkungen des Romantexts und der Nachrichtentexte finden: Im Romantext, der den unteren Teil der Titelseite einnimmt, wird erzählt, wie der arbeitslose Kriegsheimkehrer Gabriel Dan das Hotel Savoy betritt – gleich darüber vermeldet ein Nachrichtentext, dass die Zahl der Arbeitslosen in England in der letzten Woche um 68 019 gestiegen ist.85 Eine Woche später ist zu lesen, wie der Valutahändler Abel Glanz verkündet: »Morgen ist Revolution« – und der Leser muss nur die Zeitungsseite umschlagen, um die Diskussion um den Ausnahmezustand in der Weimarer Republik zu verfolgen.86 Und wer den Anzeigenteil in der Ausgabe vom 9. Februar 1924 aufschlägt, weiß um die schwierige Lage der Hotels zwischen Schein und Sein: »Herrliche Südlage« und »erstklass. Verpflegung« preist das »Park Hotel Sanssouci« an; dass es nicht immer ganz so sorglos zuging, lässt der Zusatz »Friedenspreise« erahnen. Daneben kündigt eine großflächige Anzeige der Schifffahrtsgesellschaften »White Star Line« und »American Line« ähnlich hoffnungsvoll von der Chiffre Amerika wie Gabriel Dans Freund Zwonimir in Hotel Savoy.87 84 Mergenthaler 2011, 58. 85 Siehe Abbildung 6. 86 Siehe Abbildung 7. Als Reaktion auf den Hitler-Ludendorff-Putsch verhängte Reichspräsident Friedrich Ebert 1923 den Ausnahmezustand über das Deutsche Reich; im Februar 1924 wird vielfach über die Aufhebung dieses Zustands diskutiert. Mit der Berichterstattung zum Ausnahmezustand hat sich Volker Mergenthaler in seinem Roth-Aufsatz eingehend auseinandergesetzt (vgl. Mergenthaler 2011, 58 ff.). 87 Im Roman heißt es über Zwonimir: »Er liebte Amerika. Wenn eine Menage gut war, sagte er: Amerika! Wenn eine Stellung schön ausgebaut war, sagte er: Amerika! Von

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Dies sind nur einige Beispiele eines dialogischen Verhältnisses, das hier wie in Volker Mergenthalers Aufsatz nur skizziert werden kann und einer weitergehenden Forschungsarbeit bedarf.88 Es zeichnet sich jedoch bereits ab, dass der Textraum des Romans auf diese Weise durchlässig wird für aktuelle Ereignisse aus dem Jahr 1924; die Orte, die der Leser während der Lektüre der Romanteile im Sequenzraum der Schrift durchwandert, sind Orte, an denen er nur vorübergehend verweilt, ehe er mit dem nächsten Text auf den Zeitungsseiten fortfährt. So lässt sich der transitorische Charakter des Textraums von Hotel Savoy skizzieren, der sich im Kontext der Erstveröffentlichung offenbart. Doch selbst wenn man statt der Frankfurter Zeitung die Buchausgabe von Roths Roman in den Händen hält und weder von der Entstehungsgeschichte noch von Roths Vorliebe für Hotels etwas ahnt, lässt sich Hotel Savoy als transitorischer Roman lesen – transitorisch wie das Hotel, von dem er erzählt. Das Hotel Savoy ist nicht der einzige Transit-Ort der Erzählung, aber es ist ihr wichtigster. Zwar findet auch der Bahnhof als Schauplatz Eingang in den Raum der erzählten Welt und wird transitorisch entworfen. Während die Hauptfigur Gabriel Dan am Bahnhof Arbeit als Tagelöhner sucht, macht er Beobachtungen wie: »Der Pfiff eines Zuges kommt gellend herüber, Menschen fahren in die Welt«, »Menschen kommen an und fahren weiter«, »hier darf man Schienenstränge hinauslaufen sehn« oder »Arbeiter saßen und vertranken ihre Streikgelder in den Wartesälen des Bahnhofs«.89 Auch ein Modell der Welt als Bahnhof wird entworfen: »Der Wind kommt aus der Gegend der Fabriken, es riecht nach Steinkohle, grauer Dunst lagert über den Häusern – das Ganze ist wie ein Bahnhof, man muß weiterfahren«.90 einem ›feinen‹ Oberleutnant sagte er: Amerika. Und weil ich gut schoß, nannte er meine Treffer: Amerika« (Roth 1989, 192). Die Diskussion um den vermeintlichen Hoffnungsort Amerika wird bereits im 19. Jahrhundert rege geführt, unter den Schlagwörtern ›europamüde‹ und ›amerikamüde‹: Heinrich Heine nannte sich in einem Artikel von 1828 erstmals ›europamüde‹; Ernst Willkomm übernahm den Ausdruck für seinen Roman Die Europamüden (1838). Ferdinand Kürnberger entwickelte hierzu eine Gegendarstellung: In seinem Roman Der Amerikamüde von 1855 wird ein durchweg enttäuschendes Bild Amerikas gezeichnet. 88 Die Untersuchung ließe sich auch auf die Ausgaben der sozialdemokratischen Zeitung Vorwärts ausweiten, in denen der Roman ein zweites Mal erschien (Juli bis August 1924, vgl. Faber 2004, 113). 89 Roth 1989, 187, 191, 235. 90 Roth 1989, 187.

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Das eigentliche Modell, dem sich der Roman verschreibt, ist jedoch das des Hotels als Mikrokosmos. »Wie die Welt war dieses Hotel Savoy«91, heißt es schon zu Beginn des Romans, und diese Welt ist vor allem eine Welt des Paradoxen und des Entgrenzten. Das Paradoxe zeigt sich in den häufigen, irritierenden Tempuswechseln des Texts92, aber auch in räumlichen Verunsicherungen. Besonders betroffen davon ist die Vertikale. Im Vergleich des Hotels mit der Welt heißt es weiter: »Wie die Welt war dieses Hotel Savoy, mächtigen Glanz strahlte es nach außen, Pracht sprühte aus sieben Stockwerken, aber Armut wohnte drin in Gottesnähe, was oben stand, lag unten, begraben in luftigen Gräbern, und die Gräber schichteten sich auf den behaglichen Zimmern der Satten, die unten saßen, in Ruhe und Wohligkeit, unbeschwert von den leichtgezimmerten Särgen. Ich gehöre zu den hoch Begrabenen. [...] Gibt es sieben Stockwerke nur? Nicht acht, nicht zwanzig? Wie hoch kann man noch fallen?«93

Im Mittelpunkt des Raumbilds, das in dieser Passage entworfen wird, steht die Verunsicherung der Vertikalen durch die bereits genannte Verkehrung von Oben und Unten in der traditionellen Etagenaufteilung der Hotels. Eigentliche Gegensatzpaare der Vertikalen (oben/unten, Gottesnähe/Gräber, luftig/begraben, stei91 Roth 1989, 168. 92 So beginnt der Roman schon mit: »Ich komme um zehn Uhr vormittags im Hotel Savoy an. Ich war entschlossen, ein paar Tage oder eine Woche auszuruhen« (Roth 1989, 149, Hervorhebung L.W.). Auch mitten im Satz tauchen Tempuswechsel auf: »Toni [...] kam hinunter wie aus Wolken, sie verbreitet einen starken Parfüm- und Likörgeruch« (Roth 1989, 174). Auf der Erzählebene findet Gabriel Dan heraus, dass die Uhren des Hotels auf den Stockwerken völlig unterschiedlich gehen; im obersten Stock fehlen die Uhren ganz. Wollten sich alle Bewohner des Savoy im immerhin elfmal erwähnten »Fünf-Uhr-Saal« (Roth 1989, 177, 183, 190, 198, 212 etc.) treffen, würden sie also vermutlich scheitern. Diese Verunsicherung der Zeitstrukturen auf der Ebene der Narration und der Diegese lässt sich mit der ›unsicheren‹ Zeit der Weimarer Republik in Beziehung setzen. Ansätze hierzu finden sich in der narratologischen Analyse von Irene Schroeder (1998). Schroeder stellt einleitend fest: »Eine genaue Zählung der Tempuswechsel ist in diesem Roman unmöglich. Grob geschätzt ist es etwa einer alle zwei Seiten, wobei eine Häufung in der zweiten Hälfte des Romans festzustellen ist« (Schroeder 1998, 137). 93 Roth 1989, 168.

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gen/fallen) werden vermengt und durch weitere Kontrastierungen (außen/innen, Pracht/Armut, stehen/liegen, leicht/schwer, lebendig/tot) ergänzt, womit insgesamt ein höchst uneinheitliches und widersprüchliches Bild des Hotels gezeichnet wird.94 Mit »in Gottesnähe« ist unmittelbar auf die kulturell dominante Vorstellung eines positiven Oben verwiesen, die dann jedoch durch die surreale Imagination der Hotelzimmer als geschichtete Gräber konterkariert wird. Zuletzt wird die Überschaubarkeit der Vertikalen ganz aufgegeben (sieben, acht, zwanzig Stockwerke?), zugunsten einer Gebäudekonstruktion, die wie das Elend keine Grenzen mehr kennt. Gerade in dieser Uneinheitlichkeit kann Gabriel Dan das Hotel jedoch präziser erfassen, als es ihm beim ersten Betreten des Savoy möglich war. Dort erliegt er noch den trügerischen Raumbildern des Hotels, was vor allem der doppelten Verkehrung von Oben und Unten durch den modernen Lift geschuldet ist: »Ein Lift nimmt mich auf, Spiegel zieren seine Wände, der Liftboy, ein älterer Mann, läßt das Drahtseil durch seine Fäuste gleiten, der Kasten hebt sich, ich schwebe – und es kommt mir vor, als würde ich so noch eine geraume Weile in die Höhe fliegen. Ich genieße das Schweben, berechne, wieviel Stufen ich mühsam erklimmen müßte, wenn ich nicht in diesem Prachtlift säße, und werfe Bitterkeit, Armut, Wanderung, Heimatlosigkeit, Hunger, Vergangenheit des Bettlers hinunter –, tief, woher es mich, den Emporschwebenden, nimmermehr erreichen kann.«95

Hier sind Oben und Unten noch eindeutig verortbar, doch die Verortbarkeit erweist sich als Irrtum. Als Gabriel sein Zimmer im sechsten Stockwerk verlässt und statt des Lifts die Treppe benutzt, ermöglicht ihm dies erstmals einen anderen Blick, »eine räumliche Aneignung des Grand Hotels und eine wachsende Vertrautheit mit dessen vertikaler Organisation«96. Die Zimmer der Reichen erscheinen sauberer, größer, bequemer, hier gibt es Teppiche, Kachelöfen und parfümierte Damen.97 94 Der Grafiker Georg Salter hat dieses Raumbild in der Umschlagsgestaltung der Erstauflage von Hotel Savoy künstlerisch umgesetzt (siehe Abbildung 8). Er gestaltet »das Bild einer fragmentierten Nachkriegswelt aus architektonischen Versatzstücken, die nicht zu einer übersichtlichen Fassade, sondern vexierbildhaft zu einer Fratze zusammengefügt sind« (Seger 2005, 364). 95 Roth 1989, 150. 96 Seger 2005, 367. 97 Vgl. Roth 1989, 152.

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Die entsprechende Textstelle erwähnt auch Andreas Bernard in seiner eigentlich kultur- und architekturgeschichtlich orientierten Geschichte des Fahrstuhls und kommt zu dem Schluss: »Es gibt in der europäischen Literatur dieser Zeit vielleicht keine andere Passage, die den vertikalen Aufbau des traditionellen Grandhotels auf ähnlich pointierte Weise beschreibt. Wie in einem Querschnitt offenbart sich die Struktur des Gebäudes; Stockwerk für Stockwerk registriert Gabriel Dan auf seinem Weg von oben nach unten die feinen Veränderungen der Ausstattung [...]. Nicht umsonst wird der Streifzug des neuen Gastes durch das Hotel derart ausführlich geschildert, denn in der hierarchischen Ordnung der Etagen bildet sich jene gespaltene Gesellschaftsstruktur nach dem großen Krieg ab, um deren Beschreibung es Joseph Roth geht.«98

Die eigentliche Faszination des Raumbilds liegt jedoch weniger in der präzisen Darstellung einer hierarchischen Ordnung; auch etwa in Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull wird die Schichtung des Grand Hotels präzise nachgezeichnet.99 Es ist die gleichzeitige und fortlaufende Verunsicherung ebenjenes Raumbilds, die Darstellung einer paradoxen Ordnung der Unordnung, die den Roman zu einem beispielhaften Dokument seiner Zeit macht. So lässt sich auch die paradoxe Doppelfigur Kaleguropulos / Ignatz deuten: Gegen Ende des Romans stellt sich heraus, dass der Hotelbesitzer zugleich Liftjunge des Hotel Savoy ist. Er bekleidet also zwei Positionen, die »bezüglich der hotelinternen Hierarchie am weitesten auseinander liegen«100, wie Cordula Seger bemerkt. Doch dieser Eindruck täuscht, denn beide Positionen machen ihn zum Herrscher über den Raum – die des Hotelbesitzers in ökonomischer, die des Liftjungen in soziokultureller Hinsicht. Erst in dieser Verbindung wird er zum mächtigsten Mann des Hauses.101 Der paradoxe Raum kann in einer paradoxen Zeit nur von einer paradoxen Figur beherrscht werden.

98 Bernard 2006, 73. 99 Vgl. Mann 1955, 168. Darauf weist auch Andreas Bernard hin (Bernard 2006, 78 ff.). 100 Seger 2005, 368. 101 Dasselbe Prinzip wiederholt sich auf der zeitlichen Ebene, wenn Ignatz/Kaleguropulos als Knabe und Greis, als »fünfzigjähriger livrierter Mensch, ein alter Liftknabe« (Roth 1989, 155) beschrieben wird. Erst die paradoxe Verbindung von Anfang und Ende macht ihn zu einer plausiblen Figur der Zeit: »Ignatz war wie ein lebendiges Gesetz dieses Hauses, Tod und Liftknabe« (Roth 1989, 183).

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Abbildung 8: Umschlag der Erstauflage (1924) von ›Hotel Savoy‹, gestaltet von Georg Salter

Quelle: Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur, Wien

Das Paradoxon als Gestaltungsmittel ist insofern für das Transitorische interessant, als es ein Spannungsverhältnis hervorbringt, das zwar ständig nach Auflösung drängt, aber nicht aufgelöst wird. Das von ihm Bezeichnete ist nicht mehr einheitlich, aber auch noch nicht klar erkennbar kontradiktorisch und befindet sich damit genau in dem Schwebezustand des Dazwischen, der bereits im Zusammenhang mit transitorischen Platzierungen genannt wurde. Wenn Gabriel Dan sich fragt: »Wie hoch kann man noch fallen?«, so gelten weder die klassischen Gesetze der Schwerkraft noch gilt ihre Umkehrung – die Frage bleibt in der Schwebe. Insofern ist das Paradoxe eng verbunden mit dem Entgrenzten, dem zweiten Prinzip der Raumgestaltung in Hotel Savoy. Es zeigt sich in einer Vielzahl von

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Motiven und Orten des Übergangs, des Schwebens, der Schwelle und des Dazwischen. Das ›Savoy‹ steht in einer osteuropäischen Stadt zwischen Russland und Österreich, zwischen Osten und Westen. Es ist »europäischer als alle anderen Gasthöfe des Ostens«102 und liegt doch nur an der Schwelle, »an den Toren Europas«103 . Es liegt zudem in einem Territorium, dessen damalige alltagsweltliche Entsprechung nur schwer zu definieren und zu begrenzen ist.104 Dieses Hotel im prototypischen Nirgendwo oder Dazwischen hat Gabriel Dan zu Beginn des Romans nach seiner Wanderung durch Russland erreicht, am Ende befindet er sich immer noch in derselben »Etappenstadt«105 . Auch die Jahreszeit verharrt in einem Zwischenzustand: »Der Herbst meldet sich allerorten, obwohl die Kastanien noch tiefgrün sind«.106 Als Dan im Hotel ankommt, regnet es, während er im Hotel wohnt, regnet es, und als das Hotel abbrennt, regnet es noch immer. Es ist kein Platzregen, der sich da über das Hotel Savoy und die Stadt ergießt, sondern ein beständiges Nieseln, monoton und grau: »Es war ein dauerhafter Regen, er hing über der Welt wie ein ewiger Vorhang«.107 Überhaupt ist Grau, die Zwischenfarbe108 , die Farbe des Romans. Ganze 32 Mal färbt sie Schauplätze, Menschen, Kleidungsstücke, den Dunst der ärmlichen Waschküche und die Stadt als

102 Roth 1989, 149. 103 Roth 1989, 149. 104 Gemeint ist das polnische Territorium um 1919, auf das sich der Roman indirekt bezieht. Vor allem die Ostgrenze Polens ist im einsetzenden polnisch-sowjetischen Krieg Gegenstand militärischer Auseinandersetzungen und wird dabei ständig verschoben. Die im Dezember 1919 von den Westalliierten vorgeschlagene CurzonLinie wird weder von Polen noch von Sowjetrussland als Grenze akzeptiert. 105 So bezeichnet Roths das alltagsweltliche Lodz in einem Zeitungsartikel. Siehe Anmerkung 78. 106 Roth 1989, 187. 107 Roth 1989, 213. Der Regen löscht auch am Ende »verborgene Gluten« (Roth 1989, 242) innerhalb der Hotelruine, die für einen radikalen Umsturz der Ordnung stehen könnten. 108 Grau ist weder Schwarz noch Weiß und wird deshalb häufig als Zwischenfarbe semantisiert: Das Morgengrauen ist der Zustand zwischen Tag und Nacht; Geister haben in vielen Darstellungen die Farbe Grau, weil sie sich in einem Zustand zwischen Leben und Tod befinden; in der Grauzone befindet sich, was sich zwischen illegal und legal bewegt.

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Ganzes: »Sie strömen Grau aus, unendliches Grau über diese graue Stadt.«109 Für nahezu alles, was der Roman auf der Ebene des Raums der erzählten Welt entwirft, gilt das Prinzip des Dazwischen und der unklaren Grenzen. Die Hauptfigur Gabriel Dan bilanziert: »Es ist kein Ende da, kein Abbruch – immer Fortsetzung und Anknüpfung.«110 So bleibt auch er gefangen im Dazwischen, obwohl er sich vor allem durch den Bezug auf sein ›Daheim‹ definiert: »›Wir sind Heimkehrer‹, sage ich, ›und halten uns nur zum Spaß hier auf. Wir wollen weiterfahren, mein Freund Zwonimir und ich.‹ ›Sie sind schon lange unterwegs‹, fiel der höfliche Bondy ein. [...] ›Sechs Monate‹, sage ich, ›sind wir unterwegs. Und wer weiß, wie lange noch.‹«111

Dabei weiß er, dass ihn bei seiner Heimkehr nichts erwartet und er an nichts anknüpfen kann: »Ich habe keine Eile. Keine Mutter, kein Weib, kein Kind. Niemand erwartet mich. Niemand sehnt sich nach mir.«112 Diese widersprüchliche Einstellung, diese Zerrissenheit zwischen Hier und Dort kennzeichnet die Hauptfigur im ganzen Roman. Die Dynamik, die Gabriels »wir wollen weiterfahren« vorgibt, entfaltet sich nicht, weil er »keine Eile« hat. Vielmehr »ist der Roman die Darstellung einer Verhinderung: verhinderter Heimkehr, verhinderten Handelns überhaupt und vergeblichen Wartens. Das aber wird äußerst differenziert dargeboten«113, wie Gotthart Wunberg in seiner Textanalyse feststellt. Der ideale Schauplatz dieser Darbietung ist das Hotel Savoy. Hier treffen sich die verhinderten Reisenden des Romans. Ein Hotelgast trägt die vergebliche Fahrt schon im Namen – der Friseur Christoph Kolumbus, dessen Namensvetter sein eigentliches Ziel ebenfalls nie erreicht hat. Damit passt er immerhin besser zu seinem Aufenthaltsort als sein Tischnachbar Alexander, der an den »Welteroberer« Alexander den Großen erinnert: »›Und wer war Alexander?‹ fragte Zwonimir weiter. ›Alexander war ein mazedonischer König und ein großer Welteroberer.‹ 109 Roth 1989, 234. Zur Farbe Grau vgl. Roth 1989, 151, 152, 153, 155, 156, 157, 162, 164, 168, 171, 187 etc. Auch Gelb ist eine dominante Farbe des Romans, wird jedoch etwas seltener verwendet. 110 Roth 1989, 227. 111 Roth 1989, 216. 112 Roth 1989, 188. 113 Wunberg 1990, 449.

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›So, so‹, sagte Zwonimir. Am Abend kamen wir mit Alexanderl im Fünf-Uhr-Saal zusammen. ›Was sagen Sie zu diesem Friseur Kolumbus?‹ lachte Alexander. ›Ausgerechnet Kolumbus heißt er!‹ Zwonimir schickt mir einen schnellen Blick zu und sagt: ›Wenn ein Friseur Christoph Kolumbus heißt, ist es noch lange nicht so schlimm. Aber Sie heißen Alexander! ...‹ Das war ein gutes Wort, und Alexander schwieg.«114

Nach einem orientierungslosen Seefahrer benannt zu sein, ist am Ort des Scheiterns aller Orientierung zumindest angemessener als den Namen eines Eroberers zu tragen. Andererseits flirtet Alexander mit der Varietékünstlerin Stasia, die das griechische Wort für Stillstand im Namen trägt, und in der paradoxen Verbindung eines stillstehenden Eroberers findet er doch Platz im Hotel Savoy.115 Zudem steht auch der König Alexander für eine letztlich gescheiterte Reise nach Indien, in seinem Fall Richtung Osten. So sind schon die Namen der Hotelbewohner sprechend für den widersprüchlichen Umgang mit Weiterfahrt und Bleiben, aber auch mit den Vorstellungen von Westen und Osten. Die territoriale Achse Ost-West nimmt im Raummodell des Romans eine bestimmende Rolle ein. Dies ist schon durch das von Roth häufig aufgegriffene Thema der Ostjuden bedingt116, beschränkt sich jedoch nicht darauf. Während Gabriel Dan das Hotel von Osten erreicht, gibt es auch Besucher, die aus dem Westen kommen; die wichtigste dieser Westfiguren ist der Milliardär Henry Bloomfield, der aus Amerika anreist. An ihn knüpfen sich – wie überhaupt an alles Amerikanische – die Hoffnungen der Hotelbewohner, er soll allen Glück und

114 Roth 1989, 217. 115 Auch Gabriel Dan verliebt sich in ›die Stillstehende‹, seine »erste liebliche Begegnung im Hotel Savoy« (Roth 1989, 230). Doch je weniger das Hotel im Laufe seines Aufenthalts das Versprechen eines dauerhaften Orts einzulösen vermag, desto deutlicher wird Gabriel, dass er sich nicht auf Stasia einlassen kann; zu sehr ist er ein Reisender: »Ich werde mich nicht durch Stasia verlocken lassen hierzubleiben« (Roth 1989, 183). 116 Vgl. Lunzer/Lunzer-Talos 2009, 154 ff. Roth war selbst galizischer Jude. Den Höhepunkt seiner Auseinandersetzung mit der ostjüdischen Lebens- und Denkweise markiert der 1927 erschienene Essay Juden auf Wanderschaft.

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Wohlstand bringen. »Man wartete also auf Bloomfield – nicht nur im Hotel Savoy. In der ganzen Stadt wartete man auf Bloomfield«.117 Im Vergleich zum Warten auf Kaleguropulos, auf einen Lotteriegewinn, auf die Weiterreise nach Wien, auf die Liebe oder auf besseres Wetter ist dieses Warten unerwartet erfolgreich: Bloomfield kommt tatsächlich, und von seinem Ruf angelockt füllt sich das Hotel mit Besuchern, auch aus dem Westen.118 Sie alle hoffen auf finanzielle Unterstützung durch Bloomfield. Gabriel muss als Bloomfields neuer zweiter Sekretär feststellen, dass die angereisten Westfiguren im Grunde nicht anders sind als die Heimkehrer aus dem Osten: Auch sie sind Durchgangscharaktere mit angefangenen Schicksalen, die darauf hoffen, fortgeführt zu werden. Es sind Menschen, die ihr Leben lang umherirren und weiterziehen, bis zum Tod und darüber hinaus: »Sie waren gefangen in Überlieferungen, ihr Herz hing an tausend Fäden, und ihre Hände spannen sich selbst die Fäden. [...] Hier durften sie nicht weitergehen und dort nicht bleiben. Und nachdem sie so ein paar Jahrzehnte gezappelt, geirrt hatten und ratlos gewesen, starben sie im Bett und hinterließen ihr Elend ihren Nachkommen.«119

Als Hoffnungsfigur bleibt also nur Bloomfield. Dem reichen Gast aus Amerika kommen geradezu »messianische Qualitäten« zu, stellt Wunberg fest, doch »er ist ein falscher Messias. [...] Plötzlich ist er bei Nacht genauso schnell und still verschwunden, wie er gekommen ist.«120 Warum aber ist er überhaupt gekommen? Die Erklärung dafür findet Gabriel Dan am jüdischen Friedhof. Dort besucht Bloomfield das Grab seines Vaters, und Gabriel erkennt: »Es war eine Heimkehr«.121 Auch diese Heimkehr ist nur eine provisorische – gleich darauf reist Bloomfield ab, um nie wieder zu kommen.122 Selbst der reiche Bloomfield ist also dem Gesetz des Transitorischen unterworfen, auch er ist nur ein Durchgangscharakter, zufällig begünstigt durch 117 Roth 1989, 207. 118 »Es kommen mit jedem Zug Fremde aus Berlin. Kaufleute und Agenten und Nichtstuer« (Roth 1989, 217). 119 Roth 1989, 220. 120 Wunberg 1990, 452 f. 121 Roth 1989, 227. 122 »Mit abgeblendeten Scheinwerfern, auf lautlosen Rädern, ohne Hupenschrei, im Dunkel der Nacht floh Bloomfield vor dem Typhus, vor der Revolution. Er hat seinen toten Vater besucht, er wird nie mehr in seine Heimat kommen« (Roth 1989, 238).

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Erbfolge. Sein eigentlicher Name ist Blumenfeld, das Amerikanische ist nur ein Etikett. Halb ist er noch Ostjude wie sein Vater Jechiel, halb schon Amerikaner – er ist gefangen zwischen Osten und Westen, wie jeder im Hotel Savoy. Es gibt also zwei territorial orientierte Dynamiken in Roths Roman: die OstWest-Dynamik der Heimkehrer, die herbeigesehnt wird, sich jedoch nicht vollzieht, und die schwächer ausgeprägte West-Ost-Dynamik, die sich zwar vollzieht, aber den verhinderten Heimkehrern nur aufzeigt, dass es im Westen nicht anders ist als im Osten. Im Hotel Savoy treffen diese Bewegungen aufeinander und versetzen die Bewohner in einen Zustand, in dem sowohl Osten als auch Westen diskreditiert sind und jegliche zielgerichtete Bewegung123, jede Platzierung in Frage gestellt wird. Das Transitorische ist damit nicht mehr örtlich begrenzt; vielmehr weitet sich der gesamte Raum der erzählten Welt zum TransitRaum – er wird entgrenzt. Zeigt das Paradoxe in Hotel Savoy vor allem die Vielschichtigkeit des historisch wie zeitgenössisch widersprüchlichen Transit-Orts Hotel auf, steht das Prinzip der Entgrenzung für dessen Universalität. In den frühen Eisenbahnerzählungen ist das Transitorische noch ein singuläres, eingrenzbares Phänomen, das den vormals als geordnet erlebten Raum vereinnahmt und verunsichert. Demgegenüber zeigt Roths Hotelroman eindrücklich, dass die Verunsicherung des Raums – insbesondere im Kontext der Weimarer Republik – inzwischen universelle Gültigkeit hat.124 Die besondere Konfiguration des Transit-Orts Hotel macht es zwar noch möglich, das provisorische Leben literarisch an einem Schauplatz zu bündeln. Durch die metaphorische Aufladung – »wie die Welt war das Hotel Savoy« – und die grundsätzliche Infragestellung gesicherter, geordneter, territorial orientierter Kategorien wie Oben und Unten, Osten und Westen wird jedoch gleichzeitig deutlich gemacht, dass es den einen Transit-Ort eigent123 Dass auch ein Verlassen der dominanten Ost-West-Achse keinen Ausweg und keine sinnstiftende Bewegung verspricht, zeigt der Umgang mit dem Süden: Zwar erscheint auch dieser als verheißungsvoll – »Nur der Süden kann Sie retten«, sagt der Doktor am Sterbebett Santschins –, entpuppt sich jedoch als ebenso illusionär wie Bloomfields Amerika: ›Der Süden‹ ist eine Flasche südspanischen Weins, der Santschin selig ins Grab befördern soll (vgl. Roth 1989, 177 f.). Später wird ein Reisender erwähnt, der nach Süden will, aber ebenfalls ein »Heimatloser« bleibt (vgl. Roth 1989, 235). 124 Erscheint die Bahn in den Texten des 19. Jahrhunderts noch als dominanter TransitOrt, wird sie hier nur nebensächlich erwähnt. »Wir fahren in einem langsamen Zug mit südslawischen Heimkehrern«, heißt es am Ende des Romans (Roth 1989, 242).

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lich nicht mehr gibt. An seine Stelle rückt das Pars pro toto, das ausschnitthaft auf das umfassende, translokale Konzept eines Transit-Raums rückverweist. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass der Roman zwar vom Verlust der Standpunkte handelt, aber dennoch einen Standpunkt hat, auch auf der Ebene der Narration. Hierauf weist auch Volker Mergenthaler hin125 und spielt dabei insbesondere auf eine Textpassage an, an der Gabriel seine Beziehung zu Stasia reflektiert. Hier finden sich deutliche Signale eines narrativen Referenzpunkts: »Ich verstand damals nicht – ich war lange einsam gewesen und ohne Frauen –, weshalb die Mädchen so heimlich tun und soviel Geduld haben und so stolz sind. [...] Heute verstehe ich, daß es der Natur der Frauen ansteht zu zögern und daß ihre Lügen vergeben werden, noch ehe sie geschehn. [...] Nun weiß ich, daß die Frauen alles ahnen, was in uns vorgeht, aber dennoch auf Worte warten. [...] Heute weiß ich, daß die Begleitung des Polizeioffiziers ein Zufall war, ihre Frage eigentlich ein Geständnis. Damals aber war ich einsam und verbittert und benahm mich so, als wäre ich das Mädchen und Stasia der Mann.«126

Hier spricht der Erzähler von einem »Heute«, einem »Nun« und einem »Damals«, das sich kategorisch von allen anderen Zeitangaben der Erzählung unterscheidet. Der Standpunkt, den der Erzähler hier einnimmt, ist zeitlich hinter dem Erzählten angesiedelt. Dass dieser Standpunkt auch ein lokal anderer ist, zeigt sich wenig später, wenn Gabriel an den Hof des Hotels zurückdenkt: »Mein Hof aber war so, als gehöre er gar nicht zum Hotel Savoy. Er barg sich hinter dem riesigen Gemäuer. Ich wüßte gerne, was mit dem Hof geschehn ist.«127 Gabriel Dan befindet sich inzwischen also auch an einem anderen Ort; die Raumstrukturen des Savoy sind nur noch in der Erinnerung präsent. Diese wie nebensächlich eingestreuten Bemerkungen haben weitreichende Folgen für die Erzählung, wie Mergenthaler feststellt:

125 Vgl. Mergenthaler 2011, 62 f. 126 Roth 1989, 231, Hervorhebungen L.W. 127 Roth 1989, 233.

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»Damit aber fällt ein völlig anderes Licht auf die Identitätsproblematik Gabriel Dans. Die Phase des Übergangs erweist sich nämlich als hinter ihm liegend und abgeschlossen. Und er ist in der Lage zu differenzieren.«128

Folgerichtig spricht Mergenthaler vom Konzept des »Schriftstellers als Souverän«129 . Gabriel Dan, der sich als Sekretär Bloomfields bereits mit der Rolle des Schriftstellers anfreundet130 , ist als Figur des Romans zwar mitten im Transit, als Autor und Erzähler jedoch die letzte Instanz, die noch von einem festen Standpunkt aus über den verunsicherten Raum und die verunsicherte Zeit zu berichten weiß. Diese Einstellung lässt sich mit Joseph Roths Selbstverständnis als Berichterstatter aus einer ansonsten ›unsouverän‹ gewordenen Zeit in Beziehung setzen.131 Hotel Savoy ist ein Roman, der zwar selbst in hohem Maße von Verunsicherungen, Spannungen und Widersprüchen gekennzeichnet ist, jedoch auch einen Versuch darstellt, die Verunsicherungen der Zeit in einen Rahmen zu setzen und verhandelbar zu machen. Damit übernimmt der Roman als Ganzes eine ähnliche Funktion wie das Hotel als Großstadtmetapher; er versucht, die unüberschaubar gewordene Welt von einem letzten Stand-Punkt aus und an einem letzten SchauPlatz zu bündeln und zu verdichten. Ist das Hotel die ›Großstadt en miniature‹, so ist der Roman das ›Hotel en littérature‹. So wie die Novelle Bahnwärter Thiel 128 Mergenthaler 2011, 63. 129 Mergenthaler 2011, 64. 130 »Es war meine Aufgabe, die Leute anzuhören, sie und ihre Projekte zu beurteilen und Bloomfield über die Gäste jedes Tags schriftlichen Bericht zu erstatten. Ich notierte mir Aussehen, Stellung, Geschäft, Vorschlag jedes Besuchers und beschrieb alles. Ich diktierte einem Mädchen in die Maschine und gab mir sehr viel Mühe. [...] So lange hatte ich nichts mehr gearbeitet — ich freute mich. Es war eine Beschäftigung, die mir behagte, denn ich war auf mich angewiesen und trug die Verantwortung für alles, was ich berichtete. Ich hütete mich, mehr zu berichten, als nötig war. Dennoch lieferte ich manchmal einen Roman« (Roth 1989, 219). 131 Volker Mergenthaler verweist in diesem Zusammenhang auf die Erwähnung der »in den 1920er Jahren poetologisch enorm umstellten Begriffe ›Roman‹ und ›Bericht‹« (Mergenthaler 2011, 64 ff.). Joseph Roth war an der Debatte um Dichtkunst und Beobachtetes in der Weimarer Republik unmittelbar beteiligt. Als »Manifest der Neuen Sachlichkeit« (Wild 1995, 27) gilt das Vorwort zu Joseph Roths Roman Die Flucht ohne Ende mit dem Satz: »Es handelt sich nicht mehr darum zu ›dichten‹. Das wichtigste ist das Beobachtete«.

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nicht nur von Eisenbahnen erzählt, sondern auch konzeptuell von der Raumfiguration Bahn bestimmt wird, ist Roths Erzählprinzip insgesamt von der Raumfiguration Hotel durchdrungen. Auch auf der vierten Ebene, der Ebene des metaphorischen Raums, lässt sich also das Transitorische als leitendes Konzept feststellen. Dieses Zusammenwirken aller vier im Theorieteil herausgearbeiteten Raumebenen ist es, das Hotel Savoy zu einem außergewöhnlichen Text seiner Zeit werden lässt.

G ESCHICHTE EINER T RANSITVERWEIGERIN : D IE H OTELTREPPE Die Erzählung Die Hoteltreppe, erstmals 1927 in Franz Werfels Erzählband Geheimnis eines Menschen veröffentlicht, gehört wie Max Maria von Webers Novelle zu den weniger bekannten Transiterzählungen. Nur gelegentlich wird sie in Hotelanthologien neu aufgelegt, zuletzt 1989.132 Dass Werfels Erzählung dennoch wichtige Erkenntnisse für die Untersuchung des literarischen Transit-Orts Hotel liefern kann, auch im Hinblick auf Aspekte des Räumlichen, haben die Arbeiten von Cordula Seger und Norbert Wichard bereits gezeigt.133 Die gesamte Erzählung entfaltet sich während eines Treppengangs der Hauptfigur Francine und endet mit ihrem tödlichen Sturz aus dem fünften Stockwerk. Damit deutet sich an, dass räumliche Strukturen und Konflikte den Kern dieser Hotelerzählung ausmachen. Für die literarische Geschichte des Transitorischen ist Werfels Erzählung besonders interessant, weil sie von einer ›Transitverweigerin‹ am Transit-Ort handelt. Dies ist ein Aspekt, der in den genannten Forschungsarbeiten bislang nur beiläufig beachtet worden ist. Anders als Gabriel Dan, der als verarmter Kriegsflüchtling das Prinzip des Provisorischen schon beim ersten Betreten des Hotel Savoy verinnerlicht hat, durchquert Francine das Hotel zunächst »in ihrem besten Abendkleid«134 , in Übereinkunft mit der »Sittenstrenge« der Eltern und »jeder

132 Im Sammelband Hotelgeschichten von Ronald Glomb und Hans Ulrich Hirschfelder (Glomb/Hirschfelder 1989). 133 Vgl. Seger 2005, 359 ff. und Wichard 2007, 80 f. 134 Werfel 1952, 171. Demgegenüber bei Roth: »Ich trage eine russische Bluse, die mir jemand geschenkt hat, eine kurze Hose, die ich von einem verstorbenen Kameraden

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Festlegung und Erschwerung des Lebens«135. Dominieren bei Joseph Roth schon zu Beginn Unordnung und Paradoxie, versucht Werfels Figur, mit »klarem und wohlgeordnetem Geiste«136 ihr Leben zu strukturieren, auch in Bezug auf ihre zukünftige Partnerschaft. Schon früh deutet sich an, dass Francine im Hotel eine Liebesaffäre mit einem Tänzer namens Guido hatte; später stellt sich heraus, dass sie sogar schwanger von ihm war und abtreiben musste. Dieses »Erlebnis« versucht sie jedoch zu verdrängen und vor ihrem Verlobten zu verheimlichen.137 Aus ihrer Überzeugung heraus, sich den Erschwernissen des Lebens mit unbedingter Disziplin stellen zu müssen, trifft sie zu Beginn der Erzählung eine auf den ersten Blick banale, letztlich jedoch gravierende Entscheidung. Es handelt sich um eine überaus körperliche Form der Transitverweigerung: »Vielleicht ist es [...] dem Wunsche nach deutlicheren Gefühlen zuzuschreiben, daß Francine die Rückkunft des Fahrstuhles nicht abwartete, sondern sich der breiten, rot und dickbelegten Treppe zuwandte, die den riesigen Schacht des Prunkhotels in sanft ansteigenden Rechtecken hoheitsvoll umzirkte.«138

Schon bald zeigt sich, dass die Wahl der Treppe anstelle des Fahrstuhls von entscheidender Bedeutung für die narrative Entfaltung und die Struktur der Erzählung sein wird. Dass es sich um keine Verlegenheitsentscheidung, sondern um einen bewussten und bedeutsamen Entschluss handelt, zeigt die Vermutung des Erzählers vom »Wunsche nach deutlicheren Gefühlen«; wenig später rückt seine Stimme näher an die Figur heran und reflektiert deutlicher: »Francine stand am Fuße der Treppe. Sie sah, daß man in der Halle schon die Tische für die Abendmusik und den Tanz rückte. Es war höchste Zeit zur Flucht. [...] Sie dachte an den Wallfahrtsort, wohin die Mutter sie einmal, noch als Kind, mitgenommen hatte. Hundert und mehr Stufen führten zur hohen, felsumpanzerten Kirche. Und die Mutter war all die hundert Stufen in Leistung einer Buße, zerknirscht, auf den Knien emporgerutscht. [...]

geerbt habe, und Stiefel, immer noch brauchbare, an deren Herkunft ich mich selbst nicht mehr erinnere.« (Roth 1989, 149). 135 Werfel 1952, 170. 136 Werfel 1952, 169. 137 Vgl. Werfel 1952, 176. 138 Werfel 1952, 169.

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Sie, Francine, würde nicht die hundert Stufen zu einer hohen Kirche hinanknien, aber immerhin den bequemen Fahrstuhl verschmähen und die teppichrote Treppe dieses Prunkhotels [...] bußfertig emporwandern.«139

Um diesen Entschluss näher zu deuten, ist es hilfreich, die Unterschiede in den Bewegungsmodi Treppensteigen und Fahrstuhlfahren herauszuarbeiten. Cordula Seger stellt in ihrer Analyse der Erzählung fest: »Francine flieht vor einer orientierungslosen Bewegung, wie sie der Tanz in der Halle provoziert, in eine gerichtete, absichtsvolle«.140 Sowohl Treppe als auch Fahrstuhl bieten ihr jedoch eine zielgerichtete Bewegung. Der eigentliche Kern ihrer Entscheidung für die Treppe ist der Wunsch nach aktiver Bewegung, die der als bequem bezeichnete Fahrstuhl mit seinem passiven Bewegtwerden in der Kabine nicht bieten kann. Im Falle der Eisenbahn hat sich bereits gezeigt, dass die körperliche Auslieferung an die Dynamik der Maschine die Bindung an einen konkreten Ort erschweren und damit die transitorische Raumwahrnehmung befördern kann. Ein zweiter Aspekt des Treppensteigens ist die Kontinuität der Bewegung. Andreas Bernard hebt in seiner Geschichte des Fahrstuhls das kontinuierliche Prinzip der Treppe gegenüber dem diskontinuierlichen Prinzip des Fahrstuhls hervor: »Die diskontinuierlichen Haltepunkte des Fahrstuhls, die Limitierung des zugänglichen Raums auf den ›ersten Stock‹, ›zweiten Stock‹ usf. verwandeln die Ebenen des Hauses in diskrete Einheiten; was zwischen diesen Einheiten liegt, gibt es gewissermaßen nicht mehr. [...] Der Aufstieg im offenen Treppenhaus erscheint als kontinuierlicher Prozess. Im Fahrstuhlgebäude [...] ist der Bereich zwischen den Stockwerken vergessener Raum.«141

Während der Fahrstuhl also längst begonnen hat, die Imagination vom mehrstöckigen Gebäude des 20. Jahrhunderts vom »grollenden Organismus« in einen

139 Werfel 1952, 170 f., Hervorhebungen L.W. Die Form der Buße, von der Francine berichtet, ist tatsächlich eine praktizierte Bußform in der katholischen Kirche. Der Büßende erklimmt dabei die Treppe zur Kirche oder innerhalb der Kirche und spricht dabei auf jeder Treppenstufe das Vaterunser. Die bekannteste dieser ›Bußtreppen‹ ist die Scala Santa (Heilige Treppe) in Rom. Jedem Pilger, der die 28 Stufen dieser Treppe kniend und betend besteigt, wird ein Ablass seiner Sünden gewährt. 140 Seger 2005, 362. 141 Bernard 2006, 65.

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»Stapel unzusammenhängender Ebenen« umzuwandeln142, ist der Komplex über den Treppenweg noch kontinuierlich erfahrbar. Auch dieser Aspekt erinnert an Veränderungen, die in Bezug auf die Transit-Orte Eisenbahn und Bahnhof bereits genannt wurden: So wie die Reise mit der Postkutsche gegenüber der Eisenbahnfahrt die kontinuierlichere Reiseform war, bei der die durchreisten Orte noch einzeln und geordnet wahrgenommen werden konnten, so ist auch das Treppensteigen gegenüber dem Fahrstuhlfahren der kontinuierlichere und weniger transitorische Fortbewegungsmodus. Passivität und Diskontinuität – gegen diese beiden Strategien entscheidet sich Francine am Fuß der Treppe. Ihr Emporwandern ist ein aktiver und kontinuierlicher Akt – und damit ein Akt, der sich dem Transit in doppelter Hinsicht verweigert.143 Das Konflikthafte der Erzählung ergibt sich nun daraus, dass sich Francine eben nicht vor einer Kirche dem Transitorischen verweigert, sondern am TransitOrt Grand Hotel. An diesem Ort ist die Handlung, eine Treppe »bußfertig empor[zu]wandern«144, nicht institutionalisiert. Vielmehr ist die Hoteltreppe selbst ein Ort, der funktional auf den Durchgang zu den Gastzimmern ausgerichtet ist, also eher transitorisch markiert ist. Francines Handlung dagegen bleibt ein Einzelfall, ihre Aufstiegsraum-Konstruktion bleibt ohne Absicherung. So sehr die Treppe aus geometrisch exakten, »sanft ansteigenden Rechtecken«145 mit Francines Wunsch zur Festlegung des Lebens korrespondiert, so fremdartig und

142 Bernard 2006, 70. »Man kann diesen Bruch im Erscheinungsbild des Hauses auch in der Geschichte der Literatur rekonstruieren«, ergänzt Bernard und demonstriert dies am Beispiel der Romane Der Totschläger und Ein feines Haus von Émile Zola (Bernard 2006, 67 ff.). 143 Dies bedeutet jedoch nicht im Umkehrschluss, dass jede Bewegung im Transit ungerichtet, passiv und diskontinuierlich sein muss. So zeigt das Genre des road movie, dass auch aktive Bewegungsmodi höchst transitorisch wirksam werden können. Das Autofahren ist außerdem ein Beispiel dafür, dass eine eindeutige Differenzierung der Bewegungsart nicht immer möglich ist. Eine Autofahrt kann unterschiedlich erlebt oder umgesetzt werden (aktiv: Kontrolle über Gaspedal und Bremse, passiv: Maschinelle Fortbewegung, Einordnen in den Verkehrsfluss). Auch das Treppensteigen ist nicht per se ›untransitorisch‹, sondern erhält seine Wirkung im Kontrast zu den anderen in der Erzählung entworfenen Bewegungsarten. 144 Werfel 1952, 171. 145 Werfel 1952, 169.

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fragwürdig erscheint ihr Wunsch angesichts der Umgebung, die die Erzählung entwirft. Zu dieser Umgebung zählt nicht nur das Hotel. Die gesamten Lebensumstände Francines sind längst provisorisch und ihre sozialen Kontakte sind bereits entgrenzt: Die Eltern sind auf Reisen in Sizilien, der Verlobte Philipp arbeitet in New York. Weder Francine, noch ihr Vater, noch ihre Mutter, noch Philipp sind zur Gegenwart der Erzählung an einem Ort, an dem sie vorhaben zu bleiben. Während die Eltern im Zug sitzen, um ihre Tochter abzuholen, reist Philipp auf einem Dampfer Richtung Hamburg, um zukünftig in Genf zu arbeiten. Francines »liminaler Zustand als Braut«146 verortet sie zwischen der Ablösung vom Elternhaus und dem noch nicht erreichten ›Hafen der Ehe‹. So verbringt sie die Zeit des Dazwischen in den Tanzsälen des Grand Hotels, folgenschwere Affären inklusive. Einer der wenigen Orte dieser Erzählung, der nicht dem Durchgang gewidmet ist, ist der Erinnerungsort des »häuslichen Tische[s]«, an dem ihr Vater jährlich ein Gedenkfest für den verstorbenen Kaiser von Österreich zelebriert – womit er jedoch »die Gegenwart ignorierte«147 , wie Francine rückblickend erkennt. Die Gegenwart, das ist das Zeitalter des Provisorischen; die Zustände im Innern des Hotels stehen auch hier längst als Pars pro toto für das Außen. Angesichts dessen erscheint Francines selbstauferlegte Sittenstrenge, mit der sie laut Cordula Seger versucht, »das Grand Hotel mit allen Mitteln aus der Atmosphäre der Leichtlebigkeit zu reißen und dieselbe mit der harten Ernsthaftigkeit ihrer eigenen Erziehung zu belasten«148 , von vornherein brüchig. So sehr Francine gewillt ist, ihren Gang zum Bußgang zu stilisieren, so sehr ist ihr Äußeres bereits an das leichte und laszive Leben im Grand Hotel angepasst. Mit ihrem Kleid »mit bloßen Schultern und Armen«149 , das auf alle Männer Eindruck macht, die

146 Seger 2005, 360. Cordula Seger bezieht sich mit dem Begriff der Liminalität auf Arnold van Genneps ethnologische Theorie der Übergangsriten von 1909 (Gennep 2005, siehe auch Kapitel ›Vom Ort zum Transit-Ort‹, Anmerkung 62). Außerdem bestätigt sich hier die Funktion der Hotels als Krisenheterotopie, speziell im Bezug auf die bei Foucault erwähnte Hochzeitssituation (siehe Kapitel ›Exkurs: Transit-Räume als Heterotopien‹). 147 Werfel 1952, 170. 148 Seger 2005, 362. 149 Werfel 1952, 171.

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ihr begegnen150, wäre sie zu ihrer Zeit vermutlich nur schwer in eine Kirche eingelassen worden. Inmitten dieser äußerst provisorischen und instabilen Umgebung wählt Francine also den Treppenweg, und es ist bemerkenswert, dass sich Francines Wunsch nach Stabilität zunächst tatsächlich erfüllt – sogar über die Ebene der erzählten Welt hinaus. Die Treppenform wird zum strukturierenden Moment des Textes. Zumindest an ihrer Oberfläche ist Werfels Erzählung die exakt komponierte Darstellung eines kontinuierlichen Gangs durch die fünf Stockwerke eines Grand Hotels. Während des Gangs übermittelt der Erzähler in bestimmten Abständen die aktuelle Position der Hauptfigur auf ihrem Treppenweg nach oben. Diese Positionsbestimmungen sind dem Leser bei der Orientierung behilflich, und sie erfolgen so regelmäßig, dass sich der Text über sie in fünf etwa gleich große Abschnitte einteilen lässt.151 An seiner Oberfläche ist der Text also ausgesprochen kontinuierlich und klar strukturiert. Ein erster Bruch mit dieser Kontinuität ergibt sich jedoch dadurch, dass die fünf Positionsbestimmungen nicht synchron mit den fünf Stockwerkwechseln der Hauptfigur sind. Dies wird durch eine Beschleunigung in der Bewegung Francines verursacht. In der erzählten Gegenwart des ersten Abschnitts befindet sich Francine im Erdgeschoss, im zweiten Abschnitt auf ihrem gemächlichen Weg vom Erdgeschoss zum ersten Stock. Auch der Schritt »über den teppichdumpfen Treppenabsatz des ersten Stockwerks«152 wird noch explizit genannt. Im dritten und vierten Abschnitt beschleunigt Francine, nimmt mehrere Stufen auf einmal und springt die Treppen empor.153 Dabei werden die verbleibenden vier Stockwerke und Treppenabsätze mit einer nur ungenauen Wegbeschreibung zurückgelegt.154 Im letzten Abschnitt ist Francine im fünften Stock angekommen und verbleibt dort, bis sie schließlich über das Geländer stürzt.

150 Vgl. Werfel 1952, 168, 174 f. 151 Diese Abschnitte entsprechen in der verwendeten Ausgabe den Seiten 169-171 (bis »bußfertig emporwandern«), 171-173 (bis »Guido gelebt hatte«), 173-175 (bis »weitergehn zu müssen«), 175-178 (bis »zehnte Stufenreihe empor«) und 178-180. 152 Werfel 1952, 173. 153 Vgl. Werfel 1952, 174, 176, 178. 154 Lediglich implizit lässt sich entnehmen, dass sich Francine am Ende des dritten Abschnitts auf dem Treppenabsatz des 2. oder 3. Stockwerks befindet. Der Kronleuchter ist »noch immer unendlich hoch«, also weit entfernt, und sie überlegt, »nach dem Lift

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Dieser Bewegung passt sich das Erzähltempo an. Wenn Francine ihren Schritt beschleunigt, beschleunigt auch das Erzähltempo. Im Erdgeschoss und im ersten Stock ist die Erzählzeit gedehnt, im Durchhetzen der oberen Stockwerke wechselt die Erzählung in den zeitdeckenden bis zeitraffenden Modus. Als Francine innehält, weil ihr ein »Herr im Frack« auf der Treppe entgegenkommt – »plötzlich schrak sie zusammen und verlangsamte ihre Bewegung« – wird auch das Erzähltempo erheblich langsamer. Dies deckt sich mit der Wahrnehmung der Hauptfigur: »Der für Francine höchst unangenehme Augenblick der Begegnung schien ihr endlos«155. Zeit und Raum sind also ganz auf die Darstellung des Treppenaufstiegs ausgerichtet. Die Kontinuität, die diese Komposition vorgibt, wird jedoch immer wieder von Einschüben und Rückblenden gestört. Der Aufstieg Francines wird nicht erst zum Schluss ad absurdum geführt, wenn sie den ganzen Weg wieder zurück ins Erdgeschoss fällt. Schon die Perspektive vom Erdgeschoss aus ist von räumlichen Verunsicherungen durchzogen, die an Roths Hotelroman erinnern: »Sie hob den Kopf und maß den Abstand, der sie von ihrem Zimmer im letzten Stockwerk trennte. Der kathedralenhohe Raum wuchs schwindelnd über ihr. Und in der Höhe des Abgrunds hing der gewaltige Kronenlüster mit seinen mattblitzenden, leisklirrenden Prismen und schien in einem geheimnisvollen Luftzug zu schwanken.«156

Der Anfang dieser Textpassage erweckt wiederum zunächst den Anschein von Klarheit und Orientierung. Wie eine Architektin vermisst Francine das Hotel; auch syntaktisch ist der erste Hauptsatz klar strukturiert.157 Das Zimmer wird präzise im obersten Stockwerk verortet, das Gebäude erscheint damit vertikal begrenzt. Gleich darauf verschwimmt jedoch diese Grenze: Der Raum wächst, ist nicht mehr messbar und wendet sich gegen Francine. Der unklare Bezug des »schwindelnd« (schwankt der Raum oder wird ihr schwindelig?) erschwert die Zuordnung von Ich und Welt. Schließlich folgt mit der »Höhe des Abgrunds« ein Raumbild, das ganz ähnlich wie in Hotel Savoy die Vorstellungen von Oben zu schellen«, was nur zwischen den Treppenwegen möglich ist. Das anschließende »Weitersteigen« deutet eine vorherige Unterbrechung an (vgl. Werfel 1952, 175). 155 Werfel 1952, 170. 156 Werfel 1952, 177. 157 Sie – hob – den Kopf – und – maß – den Abstand: Auf das Subjekt folgen zweimal Prädikat und Akkusativobjekt, die Anzahl der Wörter in den Satzgliedern ist dabei regelmäßig.

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und Unten in einer paradoxen Schwebe hält. Ob Francine hier noch von unten in die Höhe schaut oder schon von oben in den Abgrund, ist nicht mehr ermittelbar. Sie nimmt nur noch die optisch und akustisch gedämpften Reize des Kronleuchters wahr, dessen bedrohliche Schwankungen das Ende der Erzählung bereits vorwegnehmen. Neben den Verunsicherungen von Oben und Unten stellen auch die Einschübe und Rückblenden den Aufstieg Francines von Beginn an in Frage. Der Erzähler entwirft darin fortlaufend Nebenschauplätze, etwa die bereits erwähnte Wallfahrtskirche, Francines zukünftige Wohnung am Genfer See oder die Apotheke, in der sie Medikamente gegen ihre ungewollte Schwangerschaft besorgt. Das Geschehen, das in diesen Passagen erzählt wird, ist von einer zweiten Dynamik geprägt, die der Treppenbewegung entgegensteht. Es ist die von außen nach innen gerichtete Dynamik der Belagerung: »Sie spürte es körperlich, wie die Lieben von allen Seiten aufbrachen, sie zu entsetzen wie eine Belagerte«158 – dies ist die wohl dichteste Zusammenfassung jener Dynamik. Sie macht sich in der Erzählung mehrfach durch Formulierungen bemerkbar, die eigentlich zeitlich oder emotional konnotiert sind, aber räumlich-dynamisch besetzt werden. So heißt es über den Brief, den Francine anfangs in der Hand hält, dass »er ihr Philipps Herz ungetrübt entgegenbrachte«, und dass sie diesen Moment »so heiß herbeigebetet hatte«, »nachdem am Ende der Woche die Grenze der Ungewissheit fast erreicht war«.159 Sie hofft, dass sich »der braune Nebel, der sie sieben Tage lang umlastet hatte«, verzieht.160 Noch deutlicher wird das Stilmittel im Brief Philipps, wenn es heißt: »Ich habe für uns beide die schönste Zukunft gezimmert«.161 Damit steht für Francine fest: »In ihrer Zukunft klaffte kein Riß mehr«.162 Deutlich wird hierbei nicht nur wiederum die Dominanz räumlicher Strukturen in der Narration, vielmehr auch das Bedrohungspotenzial dieser zweiten Dynamik, die dem Aufstieg entgegenwirkt. Francines Körper ist dabei das Zentrum, das von außen permanent belagert wird. Zu den Belagerern gehören auch die Hotelbewohner, so etwa der Herr im Frack, der sie mit seinem Blick 158 Werfel 1952, 169. 159 Werfel 1952, 170. 160 Werfel 1952, 174. 161 Werfel 1952, 177. Cordula Seger bemerkt die Paradoxie in dieser Formulierung: »Die Rede der risslosen Zukunft ist eigenartig verkehrt. Durch die angesprochene Abgeschlossenheit evoziert sie das Bild eines Vergangenen anstelle des Zukünftigen« (Seger 2005, 363). 162 Werfel 1952, 178.

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»kräftig von hinten zügelte«163 , oder Francines Liebhaber Guido, dessen körperliche Penetration im Schriftverkehr gedanklich fortgesetzt wird; erst »nach dem siebenten oder neunten vergeblichen Versuch« werden die »Zudringlichkeiten« zum Erliegen kommen, rechnet sich Francine aus164. Die Belagerungsdynamik, die sich in Episoden zwischen die Bewegung in der Vertikalen schiebt, ist letztlich bedeutsamer als die Dynamik des selbstauferlegten Treppengangs, dessen Motivation und Koordination ohnehin von Beginn an fragwürdig erscheint.165 Francine versucht, über die Treppe zu einem eigenen, geordneten Umgang mit dem Raum zu finden, doch bereits nach fünf Stockwerken endet der Versuch, der im Erdgeschoss nicht gut begann. »Hochaufatmend stand sie oben. Aber sie hatte ihrem Herzen zu viel zugemutet. Und auch ihre Augen konnten jetzt die Linien und Farben der Dinge nicht aufrechthalten. Alles schob sich ineinander. Einen Augenblick mußte sie stehn bleiben, ruhen, ehe sie den Weg in ihr Zimmer fortsetzte, das letzte kleine Stück über den Gang, das ihr jetzt so weit und mühsam erschien.«166

Die Art und Weise, in der sich hier »Linien und Farben« ineinanderschieben, erinnert an den Blick Victor Hugos aus dem Abteilfenster des Eisenbahnwaggons: Die Ordnung, die normalerweise durch die Bindung von Räumen an Orte hergestellt wird, kommt abhanden, und eine räumliche Unordnung stellt sich ein. Das Gastzimmer Francines erscheint als das rettende Ufer, als gesicherter Ort, den sie jedoch nicht mehr erreichen wird. Denn nun, als ihr Bußgang beendet ist, zeigt sich das Hotel wieder so, wie es mehrheitlich in den Zwanzigerjahren erlebt wurde – eben als Transit-Ort par excellence. Francine hört die Tanzmusik in der Halle und sieht den Kronleuchter, der »mit ausgebreiteten Schwingen über dem Abgrund schwebte«167 – womit er sich in einem ähnlichen Zustand befindet wie die ganze Gesellschaft der 1920er Jahre. Vergeblich sucht sie nach jemandem, der ihr die Möglichkeit gibt, »sie vom Geländer zu lösen und sanft in ihr Zimmer zu führen«; stattdessen er163 Werfel 1952, 175. 164 Vgl. Werfel 1952, 173. 165 »Das Hinaufsteigen als Akt der Entfesselung verkehrt sich in ein Bild einer immer engeren und festgefügteren Ordnung, die jede Phantasie, jeden Traum verdrängt« (Seger 2005, 363). 166 Werfel 1952, 178. 167 Werfel 1952, 178.

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fährt sie eine »große Öde, die ihr in den Ohren rauschte wie gottloses Wasser«.168 In der Verbindung aus stetiger Bewegung (rauschendes Wasser) und Unbestimmbarkeit (Öde) sind wiederum Eigenschaften des Transitorischen angesprochen. Diese Transit-Öde wird zum zentralen Motiv des letzten Abschnitts. Francine sieht keine Hoffnung mehr in ihrem Zeitalter der »großen Öde, die sie beherrschte, die alles beherrschte«; die Jazzmusik, die mit ihrem Aufruf zur freien Bewegung als positives Gegenmotiv zu der starr gezimmerten Zukunft Francines denkbar wäre, wird zur »Melodie« jener großen Öde.169 Zu desillusioniert ist sie offenbar von gesichtslosen Tänzern wie Guido, die mit den Wertvorstellungen auch ihre Charakterzüge verloren haben.170 Es geht hier also nicht mehr allein um das Belagert- oder Beherrschtwerden der Hauptfigur, sondern um eine Geisteshaltung, die alles beherrscht, die universell ist wie das Hotel als Symbol der Zeit. Die Hoffnung, »vor dem morgenfrischen Bilde der Abreise«171 aus dem Hotel könnte sich ihre Lage verbessern, ist eine trügerische: Die große Öde ist nicht ortsgebunden, sie betrifft Innen und Außen des Hotels. Was nun folgt, ist die Zusammenführung der räumlichen Figurationen, die die Erzählung bislang dominiert haben: »Und nur der Weg nach Vor blieb frei. Da ergab sie sich. Aber sofort entwuchs dem gottlosen Phlegma, der Öde, ein tödlicher Übermut. Und dieser Übermut hielt die Luft für ein dichtes Element wie Wasser und den Abgrund für tragfähig. Mit zwei Schwimmtempi mußte der goldene Leuchter zu erreichen sein... [...] Der große Dampfer der Hamburg-Amerika-Linie arbeitete sich mit hohlen Hilferufen der Sirenen durch den Nebel. Der Zug hatte Rom verlassen und durchkeuchte wie wahnsinnig die Nacht. Aber nichts mehr konnte Francinen retten.«172

168 Werfel 1952, 179. 169 Werfel 1952, 179. Zur Bedeutung der Jazzmusik in der Hotelliteratur der Zwanzigerjahre vgl. Seger 2005, 341 ff. 170 »Aber wie strenge sie auch die Brauen kräuselte und ihre Stirn in Falten legte, Guido hatte kein Gesicht!« / »Nichts anderes vermochte sie zu beschwören als eine tadellose Gliederpuppe im Smoking, die dieser und jener sein konnte« (Werfel 1952, 171 f.). 171 Werfel 1952, 178. 172 Werfel 1952, 179 f.

F ÜNF -U HR -T EE IN DER H OTELHALLE

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Dieses Bild enthält eine ungeheure Dynamik sowohl in der Vertikalen und Horizontalen als auch in Bezug auf die Belagerung: Im Fallen der Hauptfigur versucht diese, nach vorne zu schwimmen, und gleichzeitig werden noch einmal die Transit-Orte Schiff und Bahn aufgerufen, die mit Höchstgeschwindigkeit versuchen, Francine zu Leibe zu rücken. Heute, im Zeitalter von Superzeitlupen und moderner Schnitttechniken, wäre dieses ungewöhnliche Nebeneinander auch filmisch umsetzbar; zu Zeiten Franz Werfels war wohl allein die Literatur zu einer solchen Raumimagination fähig. Auch am Ende von Werfels Erzählung steht also die Erkenntnis, dass das Transitorische die Lebenswelt in der Gesellschaft der Moderne längst dominiert. Dem Grand Hotel kommt dabei als Schauplatz eine zentrale Rolle zu; es wird bei Werfel »zum Abbild einer Nachkriegsgesellschaft, für die Orientierungs- und Heimatlosigkeit vordergründig wird«173 , wie Cordula Seger bilanziert. Die zentrale Raumfigur der Erzählung ist zwar – anders als in Joseph Roths Hotel Savoy – nicht das Hotel selbst, sondern die Treppe, die als Gegenmodell zum Transitorischen entworfen wird. Die Besetzung des metaphorischen Raums durch das Transitorische entfällt also. Dennoch führt die Erzählung die Übermacht transitorischer Raumkonstruktionen eindringlich vor, indem sie die Transitverweigerin Francine scheitern lässt. Der Aufstieg über die Treppe als Versuch, die orientierungslose Bewegung durch eine selbstbestimmte und zielgerichtete zu ersetzen, endet mit einer tödlichen Gegenbewegung zurück auf den harten Boden des Erdgeschosses. Während Roths Hotelroman auch Spuren positiver Transitvorstellungen enthält – Vermischung, Mobilität, »immer Fortsetzung und Anknüpfung«174 –, bleibt für Francine das Hotel bis zuletzt der Ort einer »Gesellschaft sozialer Masken« und eines »existenzielle[n] Ennui«175, an den sie bis zuletzt keine positiven Raumvorstellungen knüpfen kann. Dass die Hotels und die Städte Europas schon wenige Jahre später von weit größeren Problemen heimgesucht werden würden als Ennui und Maskerade, konnte Franz Werfel allenfalls ahnen.

173 Seger 2005, 371. 174 Roth 1989, 227. 175 Matthias 2005, 137.

Flüchtigkeit: Im unsicheren Hafen »So verliert der aus dem Hafen Scheidende den Sinn für die Maße des Lebens, das hinter ihm liegt. Es zerfällt ihm in lauter einzelne Teile, aus denen er die Bruchstücke eines anderen Lebens improvisieren mag.«1 SIEGFRIED KRACAUER, STEHBARS IM SÜDEN

K AP

DER LETZTEN

H OFFNUNG

Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten im Jahr 1933 treten das Hotel und die Eisenbahn immer seltener als offene Gesellschaftsorte in Erscheinung. Cordula Seger findet in ihrer Grand-Hotel-Studie die deutliche Formel: »1933, kein Ort mehr«2. Der Transit-Ort Hotel, wenige Jahre zuvor noch der gesellschaftliche Treffpunkt schlechthin, wird von den Nationalsozialisten radikal umgedeutet. Das Jahr 1933 gelte, so Seger weiter, »als Chiffre eines Einbruchs, der politisch eine erschreckende Umwertung der zivilisatorischen Werte in Deutschland mit sich brachte. Es ist ein Zeitpunkt, dessen Auswirkungen auch das Grand Hotel grundlegend in Mitleidenschaft zogen. Denn wie kaum ein anderer Ort verkörpert das Grand Hotel das Kosmopolitische und steht einer Eingrenzung auf das Nationale diametral entgegen: Insofern, als das Grand Hotel als internationale Gesellschaftsinsel figuriert, ist es immer schon exterritorial.«3

1

Kracauer 2009c, 71.

2

Seger 2005, 450.

3

Seger 2005, 449. Der Begriff des Einbruchs ist insofern nicht ganz präzise, als es sich auch bei der ›Machtergreifung‹ der Nationalsozialisten eher um einen langsamen

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Mit dem Exterritorialen und Ortlosen sind Merkmale angesprochen, die über das Grand Hotel hinaus reichen und den Transit-Ort im Allgemeinen betreffen. Angesichts der Bedeutung, die dem Begriff des nationalen Territoriums – auch bezeichnet als Lebensraum oder Boden – in der nationalsozialistischen Ideologie zukommt4, und angesichts des militärischen Aufwands, mit dem spätestens nach 1939 unablässig versucht wird, das ›Dritte Reich‹ territorial zu vergrößern, ist es nur folgerichtig, dass die Nationalsozialisten den Orten der Vermischung und Delokalisierung, also den Transit-Orten, durchweg ablehnend gegenüberstehen. Allerdings, das betont Wolfgang Kaschuba im Nachdenken über »Krieg und Raum«, erben die Nationalsozialisten bei ihrem Antritt »eine ganze Fülle modernster Bewegungs- und Geschwindigkeitsprojekte« und machen sich diese zu eigen; hierzu zählen etwa die Reichsautobahnen, die Silberpfeile auf dem Nürburgring, der Hochgeschwindigkeitszug ›Fliegender Hamburger‹ oder der Ausbau des Flughafens Tempelhof.5 Zum einen haben die Investitionen in das nationale Transitnetz militärstrategische Gründe: »Für den mit dem Angriff auf Polen beginnenden Weltkrieg spielt [die] Mobilität der Truppen dank Eisenbahn- und Autotransport [...] eine entscheidende Rolle, weil die militärische Strategie dadurch in völlig neuen räumlich-zeitlichen Dimensionen denken kann«.6 Zum anderen werden die Transit-Orte auch ideologisch überhöht, so etwa im Falle der Autobahnlandschaft: »Sie soll die Entgrenzung des räumlichen Horizonts symbolisieren, die Weite des Raumes für ein eroberndes Volk sinnlich erfahrbar machen, aber zugleich auch nationale Ästhetik verkörpern«.7 Auch die Hundertjahrfeier der Eisenbahn Übergang handelte, der von großen Teilen der Bevölkerung befürwortet wurde, und weniger um einen unvorhersehbaren, erschreckenden Moment. Unter Historikern hat sich deshalb die Bezeichnung Machtübertragung etabliert (vgl. Sturm 1998, 64). 4

Mit der bereits erwähnten Parole ›Volk ohne Raum‹ (siehe Kapitel ›All the world’s a stage? Raumvorstellungen im Wandel‹) wurde suggeriert, dass Deutschland unter einer Überbevölkerung leide, die nur durch die Eroberung anderer, weniger dicht besiedelter Gebiete zu lösen sei. Dies ist ein Hinweis darauf, dass es sich bei dem nationalsozialistischen Raumbegriff um einen fundamental territorial orientierten Raumbegriff handelt. Dasselbe gilt für die Losung vom ›Lebensraum im Osten‹ als Rechtfertigung der Vertreibung und Vernichtung der slawischen Bevölkerung oder der ›Blutund-Boden-Ideologie‹ als Grundlage der Expansionsbestrebungen. Vgl. Mai 2002.

5

Vgl. Kaschuba 2004, 205.

6

Kaschuba 2004, 211.

7

Kaschuba 2004, 210.

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wird als propagandistisches Großereignis mit Technikvorführungen und Sonderzügen inszeniert.8 Die Dynamik und Mobilität der Transit-Orte wird also im Sinne der NSIdeologie genutzt und instrumentalisiert, ihre Offenheit jedoch radikal umgedeutet, denn das »geschlossene Denk- und Wertesystem setzt [...] auch absolut geschlossene Räume voraus, die alternative Meinungen und Informationen systematisch abschirmen«.9 Im Falle des Hotels geschieht dies folgendermaßen: »So haben die Nationalsozialisten gerade die Grand Hotels deutscher Großstädte, insbesondere jene Berlins, zu Parteizentralen umfunktioniert und damit den weltoffenen Ort mit nationalem Gestus besetzt. Hotelbesitzer wurden enteignet oder als Platzhalter geduldet. Über eine Umbenennung von Hotel zum Fremdenheim wird der widerspenstige Ort wieder in die binäre Ordnung von Nationalem und Fremdem eingegliedert. Er ist namentlich nicht mehr Treffpunkt Unbekannter, [...] sondern Ort unbehauster Fremder.«10

Zu den in besonderer Weise zweckentfremdeten Fremdenhäusern zählt das Hotel Métropole in Wien, das ab 1939 zur größten Dienststelle der Gestapo im ›Großdeutschen Reich‹ wird und per Staatsdekret nicht mehr Hotel genannt werden darf.11 Stefan Zweig hat das Métropole in seiner Schachnovelle, geschrieben zwischen 1938 und 1941, zum Schauplatz von menschenverachtenden Verhören und Foltermethoden gemacht, hier schon ganz enthoben vom leichten Leben der Zwanzigerjahre.12 Den Zügen wird im Kontext des Nationalsozialismus eine weitere, noch radikalere Umdeutung zuteil – die Waggons der Deportationszüge sind längst zum

8

Vgl. Kaschuba 2004, 206.

9

Kaschuba 2004, 214.

10 Seger 2005, 449. 11 Ähnlich zweckentfremdet wird das berühmte Hotel Moskwa neben dem Roten Platz im Zentrum von Moskau: Von 1935 bis 1945 leben dort die Kommandeure der sowjetischen Luftverteidigung, auf dem Hoteldach sind Luftabwehrgeschütze installiert. 12 »Ein eigenes Zimmer in einem Hotel – nicht wahr, das klingt an sich äußerst human? Aber Sie dürfen mir glauben, daß man uns keineswegs eine humanere, sondern nur eine raffinierte Methode zudachte, wenn man uns ›Prominente‹ nicht zu zwanzig in eine eiskalte Baracke stopfte, sondern in einem leidlich geheizten und separaten Hotelzimmer behauste« (Zweig 2010, 55 f.).

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Sinnbild des »technisch-logistischen Räderwerk[s] des Todes«13, zur negativen Ikone der Epoche geworden. Wenn es also noch einen offenen Transit-Ort gibt, der sinnbildlich für diese Zeit stehen kann, einen Ort, der sich über »Bewegung, Zerstückelung, Zerfall, Auflockerung [...] vor allem dem Ordnungskonzept der Einheit [...] entzieht«14 – und damit auch dem nationalistischen Ordnungskonzept des ›Ein Volk, ein Reich, ein Führer‹ – so findet man diesen Ort nach 1933 immer seltener im Hotelführer oder auf der Schiene. Man findet ihn an den Rändern Europas, »auf der Grenze zwischen nationalem Territorium und Meer gelegen«15, wie Helmuth Berking und Jochen Schwenk den Ort aus gegenwärtiger soziologischer Perspektive charakterisieren. Der Hafen wird zum Hoffnungsort und die Schiffspassage über den Ozean zum letzten Ausweg vieler Exilanten. Zu diesen zählen nicht selten auch die Schriftsteller selbst. Angesichts des mittlerweile hochindustrialisierten und hochausdifferenzierten Verkehrssystems in Europa fällt es zunächst schwer, den Hafen als den Transit-Ort der Zeit zu identifizieren. Die anderen Verkehrswege in Europa, insbesondere das Eisenbahnnetz, spielen allen Umdeutungen zum Trotz weiterhin eine wichtige Rolle in der transitorischen Raumwahrnehmung, wie die untersuchten literarischen Texte zeigen werden. Zudem bleibt auch der Hafen nicht frei von Umdeutungen; die Kriegshäfen in Kiel und Wilhelmshaven sind feste Koordinaten in der Landkarte des nationalsozialistischen Größenwahns.16

13 Kaschuba 2004, 212 f. 14 Gerhard 2001, 96. 15 Berking/Schwenk 2011, 7. Zum Verhältnis von Territorium, Meer und Hafen vgl. auch Berking/Schwenk 2011, 28 ff. 16 Die Eliminierung des offenen Charakters fällt an diesen Orten besonders deutlich aus: Zur Festung erklärt, wird das Fremde konsequent ferngehalten und der Austausch zwischen Innen und Außen auf ein Mindestmaß reduziert. Ohne Passagierschein darf etwa das Wilhelmshavener Hafengebiet nicht mehr betreten werden, zivile Schifffahrt einschließlich der Fischerei ist verboten. Diese Verbote setzen jedoch bereits kurz nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs ein, die Baumaßnahmen zum Festungsausbau lassen sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen (vgl. Koop u.a. 1982, 11 f.). Es handelt sich beim Kriegshafen also um einen speziellen Typus, der sich schon frühzeitig herausgebildet hat und im Deutschen Reich auf die zwei genannten Anlagen beschränkt bleibt.

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Dennoch geht vom Hafen der 1930er und 40er Jahre eine besondere Spannung aus, die sich weder als Faszination noch als Mode – wie im Fall der Eisenbahnen und der Hotels – fassen lässt, die aber doch nachfühlbar ist. So sind die Häfen Europas in dieser Phase bereits unabhängig von der Exilproblematik spannungsreiche Gesellschaftsorte, wie Berking und Schwenk in einer historischen Einordnung zeigen.17 Zum einen haben sich viele Hafenstädte bereits zu Großstädten entwickelt18, zum anderen ist die Zeit der totalen »Containerisierung und Rationalisierung der Hafenwirtschaft«19 noch nicht angebrochen, die in der Nachkriegszeit zu einer tiefgreifenden lokalen wie kulturellen Separierung von Stadt und Hafen führen wird. Darüber hinaus steckt die zivile Luftfahrt, die später die Übersee-Passagierschifffahrt weitgehend überflüssig machen wird, noch in den Anfängen. Die europäischen Häfen befinden sich also in einer modernen Übergangs- und Blütezeit, die in den 1930er Jahren eine starke mediale Aufmerksamkeit erzeugt: »Die Medien nehmen sich der Sehnsuchtsmetapher von Hafen und Meer an und tragen so wesentlich zur Stereotypisierung der Hafenstadt bei. Forciert nicht zuletzt durch die hochgetriebene mediale Aufmerksamkeit verändern auch [...] die Hafenviertel mit ihren Bars, Amüsierbetrieben und Bordellen, ihren Charakter. Sie werden zu öffentlichen, nicht länger exklusiv von Seeleuten frequentierten Räumen [...]. Hitzige Debatten [...] verstärken die Wünsche und Fantasien eines allgemeinen Publikums, einmal dort gewesen zu sein, wo wirklich was los ist.«20

Speziell die französische Hafenstadt Marseille ist nach Ansicht von Ute Gerhard, die sich mit Flucht- und Wanderungsbewegungen in der Literatur der Weimarer Republik beschäftigt hat, der »Ort der Zerstreuung und Vermischung par

17 Vgl. Berking/Schwenk 2011, 32 ff. Die Hochindustrialisierung der Häfen und die Separierung von Stadt und Hafen setzt bereits um 1900 ein, erreicht jedoch zwischen 1960 und 1980 ihren Höhepunkt. Berking und Schwenk unterscheiden insgesamt fünf Phasen der Entwicklung von Hafen und Stadt, in Anlehnung an die Geografen Brian Hoyle und David Pinder (Hoyle/Pinder 1992). 18 Die Hafenstädte Marseille und Lissabon, die im Zentrum der nachfolgenden Textanalysen stehen, haben um 1930 jeweils etwa 600 000 Einwohner. 19 Berking/Schwenk 2011, 7. 20 Berking/Schwenk 2011, 34.

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excellence«.21 So avanciert Marseille »bereits in den 20er Jahren zum zentralen Ort der internationalen Wanderungsbewegungen«.22 Es ist wiederum Joseph Roth, der in einer kurzen Reportage über Marseille im Oktober 1925 erahnen lässt, welches nicht nur narrative Potenzial in diesem unverkennbar transitorischen Schmelztiegel liegt: »Marseille ist das Tor der Welt, Marseille ist die Schwelle der Völker. Marseille ist Orient und Okzident. [...] Durch diesen Hafen strömen viele Märchen von Tausendundeiner Nacht nach Europa. [...] Das ist nicht mehr Frankreich. Das ist Europa, Asien, Afrika, Amerika. Das ist weiß, schwarz, rot und gelb. Jeder trägt seine Heimat an der Sohle und führt an seinem Fuß die Heimat nach Marseille. [...] In dieser Stunde stehen mehr als siebenhundert Schiffe im Hafen. Das ist eine Stadt aus Schiffen. Die Bürgersteige bestehen aus Booten, und die Straßenmitten aus Flößen. [...] Hier löst sich alles scheinbar Bleibende auf. Hier schließt es sich zusammen. Hier ist fortwährender Aufbau und Zerstörung. Keine Zeit, keine Macht, kein Glaube, kein Begriff ist hier ewig. Was nenn’ ich Fremde? Die Fremde ist nah. Was nenn’ ich Nähe? Die Welle trägt es fort. Was ist das Jetzt? Schon ist es vergangen. Was ist das Tote? Schon schwimmt es wieder heran. Während ich dies schreibe, sieht Marseille schon anders aus. Und was ich in tausend Worten berichte, ist ein kleiner Tropfen aus dem Meer des Geschehens, mit dem freien Aug’ nicht zu sehn, zitternd auf der dünnen Spitze meiner Feder.«23

Paul Valéry, der in der südfranzösischen Hafenstadt Sète aufwuchs, hält in seinem autobiografischen Essay Inspirations méditerranéennes von 1934 fest, dass er oft Tage damit verbringe, von seinem Balkon aus das ständig neue Schauspiel im Hafen zu beobachten: »Il n’est pas de spectacle pour moi qui vaille ce que l’on voit d’une terrasse ou d’un balcon bien placé au-dessus d’un port. Je passerais mes jours à regarder [...] les différents travaux d’un port de mer.«24

21 Gerhard 2001, 100. 22 Gerhard 2001, 100. 23 Roth 1990b, 497 ff. Die Reportage erschien am 15.10.1925 unter dem Titel Marseille in der Frankfurter Zeitung. 24 Valéry 1957, 1086. Das Zitat findet sich übersetzt in Beckerhoffs Hafenanthologie (Beckerhoff 2008, 3).

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Allerdings bleibt das Potenzial der Großstadthäfen literarisch zunächst weitgehend ungenutzt – zumindest, was die deutschsprachige Literatur betrifft. Populäre Romane, die das Leben in den modernen Häfen und auf Schiffen thematisieren, kommen bis 1933 vor allem aus dem Ausland.25 Erst als die »Sehnsuchtsmetapher von Hafen und Meer«26 von den Ereignissen nach 1933 zusätzlich befeuert wird, wird der Hafen auch in der deutschsprachigen Literatur zu einem notgedrungen bemerkenswerten Ort. Die Exilbewegungen sind das wesentliche Moment für die Wiederentdeckung des Hafens und der Schiffe als literarische Schauplätze. So wird das Fischerdorf Sanary-sur-Mer in der Nähe von Marseille bereits in den 1930er Jahren zur neuen »Hauptstadt der deutschen Literatur«27. Während Stefan Zweig an seiner Schachnovelle schreibt, die auf einem Passagierdampfer spielt, erklärt der Autor in einem Interview: »Auf jedem Schiff, in jedem Reiebüro [sic] und auf jedem Konsulat kann man von ganz unwichtigen, namenlosen Menschen die Geschichten der Abenteuer und Pilgerfahrten hören, die nicht weniger gefährlich und aufregend sind als die des Odysseus. Würde man ohne Abänderung eines einzelnen Wortes die protokollarischen Aussagen der Flüchtlinge [...] zum Abdruck bringen, bekäme man hundert Bände mit spannenderen und unwahrscheinlicheren Geschichten, als es die von Jack London und Maupassant sind.

25 Zu den vor 1933 geschriebenen literarischen Texten, die die modernen Häfen und die Schifffahrt thematisieren, zählen etwa die Romane von Joseph Conrad (The ShadowLine, Chance), Italo Svevo (La coscienza di Zeno) oder Louis-Ferdinand Céline (Voyage au bout de la nuit). Ausschnitte aus diesen Texten finden sich auch in Florian Beckerhoffs Hafenanthologie (vgl. Beckerhoff 2008). Dos Passos’ berühmtes Werk Manhattan Transfer von 1925, bei Beckerhoff nicht erwähnt, enthält ebenfalls Hafenbeschreibungen; der Titel bezieht sich auf eine Fährverbindung. Hinzufügen lassen sich außerdem Jack Londons The Sea-Wolf und Conrads The Arrow of Gold. 26 Berking/Schwenk 2011, 34. 27 So beschreibt Ludwig Marcuse den Ort rückblickend in seiner Autobiografie (Marcuse 2002, 180). Marcuse wohnte zwischen 1933 und 1939 in Sanary-sur-Mer, zusammen mit Autoren wie Lion Feuchtwanger, Hermann Kesten, Egon Erwin Kisch, Joseph Roth, Franz Werfel sowie Erika, Heinrich, Klaus und Thomas Mann. Zahlreiche Briefe, Dokumente und Texte aus dieser Zeit haben Ulrike Voswinckel und Frank Berninger in ihrem Band Exil am Mittelmeer. Deutsche Schriftsteller in Südfrankreich 1933-1941 zusammengetragen (Voswinckel/Berninger 2005).

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Nicht einmal der erste Weltkrieg trieb so viele Leben in Krisen hinein wie dieses eine Jahr [1940, L.W.]. [...] Kein Genie kann heute etwas erfinden, das die dramatischen Ereignisse der Gegenwart überragt [...].«28

Ein Schlüsselereignis für die Bedeutung der Exilhäfen – Zweig deutet es an – ist die Besetzung Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht im Sommer 1940. Insgesamt müssen unter Hitler etwa 500 000 Deutsche, darunter 2 500 Schriftsteller und Journalisten, die von den Nationalsozialisten besetzten Gebiete verlassen, bilanziert Christina Thurner in ihrer Untersuchung zu Exil und Utopie in der Literatur deutscher Emigranten.29 Viele von ihnen steuern die Hafenstädte in Südwesteuropa an, um aus Europa zu fliehen. Die exilierten Deutschen waren »freilich nur ein ›Tropfen‹ in jenem Menschenstrom fliehender Franzosen und Belgier, der im Sommer 1940 die Straßen Frankreichs überflutete, unaufhaltsam sich gen Süden wälzend. Selbst in nazideutschen Schätzungen ist von 7-8 Millionen Flüchtlingen die Rede, und Ende August 1940, gut 2 Monate nach dem [...] Waffenstillstand, befanden sich immer noch rund 2 Millionen von ihnen im unbesetzten Südfrankreich.«30

Die Metapher des Menschenstroms erinnert bereits an die Wasser der Weltmeere und die sich ständig ›im Fluss‹ befindliche menschliche Existenz.31 Anna Seghers überführt diese Metapher in ihren Roman Transit, wo es über die Hafenstadt Marseille heißt: »Das ganze Rinnsal, der Abfluß aus allen Konzentrationslagern, [...] die Schänder aller Rassen, die Fahnenflüchtigen aller Fahnen. Hier floß alles ab, in diese Rinne, die Cannebière, und durch diese Rinne ins Meer«.32

28 Zweig 1948, 74 (Interview vom 28.07.1940). Auf das Zitat weist Jan Hans in seinem Aufsatz zu Anna Seghers’ Transit hin (vgl. Hans 1982, 41). 29 Vgl. Thurner 2003, 3. 30 Walter 1984, 14. 31 πάντα ῥεῖ (»Alles fließt«) ist ein Aphorismus Heraklits. Die Flusslehre Heraklits ist auch in Goethes Gedicht Dauer im Wechsel von 1827 ›eingeflossen‹, das sich mit dem Vergänglichen auseinandersetzt: »Willst du nach den Früchten greifen / Eilig nimm dein Teil davon! / Diese fangen an zu reifen / Und die andern keimen schon; / Gleich mit jedem Regengusse / Ändert sich dein holdes Tal, / Ach, und in demselben Flusse / Schwimmst du nicht zum zweitenmal« (Goethe 2007a, 406). 32 Seghers 2001, 42. Mit Seghers’ Roman wird sich das nächste Kapitel eingehend beschäftigen.

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Welche Folgen das Gespültwerden für die Hafenstädte hat, und welchen Bedingungen die Exilanten auf ihrer Flucht ausgesetzt sind, lässt sich in HansAlbert Walters Hauptwerk Deutsche Exilliteratur 1933-1950 nachverfolgen.33 So ist allein Lissabon »in den Jahren 1940/41 für ungefähr 50 000 Menschen aller Nationalitäten Durchgangsstation auf dem Weg nach Übersee«34 – und damit sind nur die Zahlen für einen Hafen und für zwei Jahre genannt. Marseille und Lissabon werden zu den größten Flüchtlingshäfen Europas, die Städte sind völlig überfüllt und die Behörden überfordert.35 Von hier soll es nach New York, Shanghai, Sydney, Rio de Janeiro, Havanna, Kapstadt oder anderswo in Übersee gehen, doch die Zahl der Schiffe ist begrenzt. Die Ticketpreise vervielfachen sich, und die Bürokratie um Aufenthaltsgenehmigungen, Passierscheine, Visa und Transitvisa wird zum undurchschaubaren Dickicht.36 So verbringen auch die emigrierten Autoren Wochen und Monate an maritimen Orten, die eigentlich nur für den kurzzeitigen Aufenthalt gedacht waren: Eine Generation von deutschsprachigen Dichtern ist lost in transit. Wenn in den Texten dieser Dichtergeneration der Hafen zu einem zentralen Schauplatz wird, können sie dabei jedoch – im Unterschied zu den relativ ›jungen‹ Orten Hotel und Eisenbahn – auf einen jahrtausendealten Topos der europäischen Kultur zurückgreifen, der zudem eng verknüpft ist mit den in Kriegszeiten zentralen Themen Leben und Tod, Zivilisation und Zerfall. Die Überfahrt ist schon seit der Antike ein Topos, der sich mit existenziellen Fragen auseinandersetzt, etwa im Hadesmythos oder der Odyssee. Auch Foucaults Einordnung des Schiffs als »Heterotopie par excellence«, als Instrument, das »für unsere Zivilisation zumindest seit dem 16. Jahrhundert [...] das größte Reservoir für die Fantasie« gewesen ist«37, ist ein Hinweis auf das Potenzial der maritimen Orte, dominante kulturelle Ordnungen zu hinterfragen.

33 Für den Transit-Ort Hafen ist insbesondere der dritte Band Internierung, Flucht und Lebensbedingungen im Zweiten Weltkrieg aus der fünfbändigen Reihe aufschlussreich (Walter 1988). 34 Walter 1988, 344. 35 Vgl. Walter 1988, 342 ff. 36 Vgl. Walter 1988, 345. Die vergleichbare Transitsituation im größten Flüchtlingshafen Afrikas hat der Regisseur Michael Curtiz zusammen mit den Schauspielern Humphrey Bogart und Ingrid Bergman in Szene gesetzt – im weltberühmten Film Casablanca von 1942. 37 Foucault 2005, 21 f. Siehe Kapitel ›Exkurs: Transit-Räume als Heterotopien‹.

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Auch besteht am Hafen ein immenses Komplexitätsgefälle zwischen dem vielgestaltigen Festland und der gleichförmigen Weite des Meeres, das zur kontrastiven Reflexion von Leben und Tod anregt.38 Der Abschied der Exilanten von Europa ist eben auch deshalb problematisch, weil ihm mit der Aussicht auf das Meer nur eine Leerstelle gegenübersteht. Das Meer als Leerstelle ist zugleich ein wichtiger Aspekt für die transitorische Raumwahrnehmung. Während das Reisen auf dem europäischen Festland erst mit der enormen Geschwindigkeit der Eisenbahn ortlos zu werden scheint, weil sich die Bindung von Raum und Ort verändert, ist die Ortlosigkeit auf See ein uraltes Motiv. Die Fahrt über das Meer braucht keine Geschwindigkeit, um dem Betrachter als monotone Abfolge ununterscheidbarer Orte zu erscheinen; das Spiel von Wind und Wellen bietet dem Betrachter naturgemäß wenig Orientierung und erschwert die Synthetisierung eines geordneten Reiseraums. So sind die Exilanten des Zweiten Weltkriegs wiederum mit dem Gefühl konfrontiert, auf ihrer Reise von Hier nach Dort durch das bloße Nirgendwo zu reisen, auch wenn die Ozeandampfer viel langsamer sind als die meisten Verkehrsmittel an Land.39 Die zwischen Territorium und Meer geschalteten Häfen fungieren schließlich als »›Tor[e] im Komplexitätsgefälle‹ – Engpässe und Schleusen zugleich, die die Ströme von Menschen, Waren und Ideen verdichten und transformieren [...]. Deshalb sind Hafenstädte immer Ausgangs- und/oder Zielorte vielfältigster Übersetzungen.«40 Nun könnte man die Ortlosigkeit der Weltmeere, das Verharren im Dazwischen an den Häfen und das Herumirren durch Europa als typische transitorische Zustände bezeichnen und in das Paradigma der gesellschaftlichen Moderne einreihen, das »die Feststellung der fehlenden Zugehörigkeit des Menschen, die Frage nach dem menschlichen Selbstverständnis, der Zerrissenheit des Individuums bis hin zu der Auflösung der Einheit des Subjekts«41 umfasst. Die Plausibilität dieses Ansatzes hat Christina Thurner bereits aufgezeigt. Das Transitorische 38 Auf das Komplexitätsgefälle weisen Helmuth Berking und Jochen Schwenk hin. Sie beziehen sich dabei auf den Austausch kultureller Güter (vgl. Berking/Schwenk 2011, 31). 39 Die schnellsten Passagier-Überseeschiffe der Zeit, die ›Queen Mary‹ und die ›Normandie‹ bringen es bei ihren Rekordfahrten für das ›Blaue Band‹ auf Geschwindigkeiten um 30 Knoten, das entspricht etwa 56 km/h. 40 Berking/Schwenk 2011, 31. 41 Thurner 2003, 2.

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dieser Zeit zu beschreiben, bedeutet jedoch noch mehr. ›Kein Ort mehr‹ – damit ist nicht allein die fehlende Bindung von Raum und Ort gemeint, wie sie bereits in den rasenden Eisenbahnen des 19. Jahrhunderts oder den verunsicherten Hotelzimmern der Weimarer Republik auftritt, sondern auch der tatsächliche Verlust der vertrauten Orte durch Vertreibung oder Vernichtung. Dass das Flüchtige von Flucht kommt42, wird nun stärker als je zuvor offenbar. Hieraus ergeben sich einige Implikationen, die sich raumtheoretisch besonders gut erfassen lassen.43 In den theoretischen Überlegungen zum Transit-Ort und in den literarischen Analysen hat sich gewissermaßen eine Vorwärtsgewandtheit des Transitorischen gezeigt; die Eigenheit des Transit-Orts ergab sich aus den konkurrierenden Zielen der Platzierung im Hier und Dort – oder zeitlich: in der Gegenwart und der Zukunft, weniger in der Vergangenheit. Der Reisende befindet sich gegenwärtig hier, um zukünftig dort sein zu wollen; währenddessen rast er mit der Eisenbahn durch die Landschaft oder verbringt die Nächte im Hotel. Bei Max Maria von Weber ruft der Erzähler euphorisch: »Vorwärts! Vorwärts!«44 und blickt nicht zurück; in Joseph Roths Hotel Savoy heißt es: »Weiß man, was morgen sein wird?«45, und die Gedanken an das Gestern verblassen. Zwar ist die vorindustrielle Zeit notwendige Voraussetzung für die überwältigende Kraft der Eisenbahn, zwar ist der furchtbare Erste Weltkrieg grundlegend für die Verunsicherung der Autoren der Zwanzigerjahre, doch die wesentliche Dynamik der Erzählungen entwickelt sich aus der Perspektive nach vorn, oder zumindest der Suche nach einer solchen Perspektive. Die Dynamik des Exils ist eine andere. Den Exilanten geht es weniger darum, an einen neuen Ort zu gelangen, als von ihrem ursprünglichen Ort zu fliehen; nicht der aktuelle oder der vor ihm liegende, sondern sein Ursprungsort46 ist der wichtigste Bezugspunkt für seine Raumkonstruktionen. Das hat auch Auswirkungen auf die literarische Darstellung. In ihrem Aufsatz Exil in der Literatur stellt Elisabeth Bronfen fest:

42 Siehe Kapitel ›Vom Ort zum Transit-Ort‹, Anmerkung 63. 43 So zitiert auch Christina Thurner in ihrer Flucht- und Exilstudie Der andere Ort des Erzählens die raumtheoretischen Texte von Michel de Certeau und Marc Augé (vgl. Thurner 2003, 44 ff.), obwohl ihre Arbeit nicht in erster Linie raumorientiert ist. 44 Weber 1926, 84. 45 Roth 1989, 173. 46 Der Begriff Heimat wird hier vermieden. Siehe Anmerkung 13 im Kapitel ›All the world’s a stage? Raumvorstellungen im Wandel‹.

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»Auf diese Entwurzelung und Entortung, die zuerst eine Weltlosigkeit zur Folge hat, muß mit einem neuen Selbstentwurf reagiert werden, genauer mit dem Versuch, in narrativer Form das zerbrochene Leben wieder zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Diese erneut sinnstiftende Narration [...] ist [...] als Grenzsituation auch bewußt prekär. Denn obgleich eine neue sinnvolle Ordnung erstellt werden soll, kommemoriert diese gerade die verlorene und bezeichnet somit immer auch ein Moment des Scheiterns. Die Narration des Exilierten kann gesehen werden wie eine Narbe, die die Schnittstelle zwischen Verwundung und Heilung nicht nur vermittelt, sondern regelrecht markiert.«47

Auch wenn sich der Exilant zwischen Verwundung und Heilung befindet, ist der Bezugspunkt – wie bei der Narbe einer körperlichen Verletzung – das Vergangene, Verletzende, nicht die Heilung. Auf eine Narbe angesprochen, erzählt der Verletzte in der Regel zuerst von der Verletzung, nicht von der Heilung. In der Etymologie des Wortes Exil ist diese Gerichtetheit auf das Vergangene – oder das Zurückliegende, um den räumlichen Aspekt zu betonen – ebenfalls enthalten: Das lateinische ex(s)ul wurde auch im Sinne von ›in der Fremde weilend‹ oder ›verbannt‹ verwendet. Dies sind Ausdrücke, die relativ von ihren Ursprungskoordinaten gedacht sind; sie verweisen stärker auf den Ursprungsort als auf die ihnen eigene Lokalität. Christina Thurner weist zwar darauf hin, dass das zweite Element des lateinischen Präfixkompositums exul (also ul-/al-) auch im griechischen alásthai vorliegt, »was soviel bedeutet wie ›umherirren‹, ›umherschweifen‹, ›unstet und flüchtig umherziehen‹ und dann auch ›heimatlos‹«.48 Demzufolge finden sich in der Wortherkunft von ›Exil‹ auch Merkmale des Transitorischen.49 Thomas Mann hebt die Bedeutung dieser Merkmale in der Moderne in einem Brief hervor, den er am 18. Februar 1941 aus seinem Exil in Princeton an Károly Kerényi schreibt:

47 Ebenso hebt Elisabeth Bronfen das transitorische »Zwischen zwei Kulturen« hervor sowie das »Exil [...] im Sinne eines ›dritten Bereiches‹ – zwischen einem ursprünglich verlorenen und einem sekundär erworbenen Ort, zwischen Bekanntem und Fremdem« (Bronfen 1993, 170). 48 Thurner 2003, 32. Genauer gesagt steht bereits das Präfix ul-/al- für ›umherschweifen, irren‹. Der von Thurner angeführte Ausdruck alásthai ist nur ein Beispiel für diese Verwendung; das Präfix findet sich auch etwa im griechischen alýein (sich in aufgeregter Weise bewegen) oder alyskázein (vermeiden, fliehen). Vgl. Köbler 2007. 49 Bronfen 1993, 170 f.

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»Das ›Exil‹ ist etwas ganz anderes geworden, als es früher war; es ist kein Warte-Zustand mehr, auf Heimkehr abgestellt, sondern spielt schon auf eine Auflösung der Nationen an und auf die Vereinheitlichung der Welt.«50

Die Ortlosigkeit und die Entgrenzung sind also auch in Bezug auf das Exilthema wichtige Aspekte. Wenn es sich jedoch bei den Begriffen Transit und Exil überhaupt noch um zwei unterscheidbare Begriffe handeln soll, so ist dieser Unterschied in der Bewertung des Zurückliegenden festzumachen. Im Fall von Anna Seghers etwa ist es zumindest fraglich, ob sie sich wie Thomas Mann ganz davon befreien konnte, »auf Heimkehr abgestellt« zu sein. Bertolt Brecht hebt in einem Gedicht von 1937 das Warten auf die Rückkehr als wesentliches Merkmal des Exils hervor und kritisiert den Begriff des vorwärts gerichteten »Auswanderers«.51 Auch Heinrich Mann blickt vor allem zurück, als er in Lissabon auf die Überfahrt wartet: »Der Blick auf Lissabon zeigte mir den Hafen. Er wird der letzte gewesen sein, wenn Europa zurückbleibt. Er erschien mir unbegreiflich schön. Eine verlorene Geliebte ist nicht schöner. Alles, was mir gegeben war, hatte ich an Europa erlebt, Lust und Schmerz eines seiner Zeitalter, das meines war; aber mehreren anderen, die vor meinem Dasein liegen, bin ich auch verbunden. Überaus leidvoll war dieser Abschied.«52

50 Mann/Kerényi 1960, 99. Thomas Mann nimmt auf diese Passage noch einmal Bezug, als er von den Nationalsozialisten 1945 aufgefordert wird, nach Deutschland zurückzukehren: »Merkwürdig mutete es mich an, die Worte wieder zu lesen, die ich Ihnen anno 41 aus Princeton über das ›Exil‹ schrieb [...]. Die Stelle hat recht irritierende Aktualität für mich angenommen« (Mann/Kerényi 1960, 121). Für ihn ist die Heimkehr weiterhin keine Option. Diese Einschätzung ist in ihrer Voraussicht auf spätere Globalisierungsprozesse bemerkenswert, aber nicht unbedingt eine, die von allen Autoren der Zeit geteilt wird. 51 In dem Gedicht Über die Bezeichnung Emigranten heißt es: »Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab: Emigranten. / Das heißt doch Auswanderer. Aber wir / Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluß / Wählend ein anderes Land. [...] / Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte. / Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da aufnahm. / Unruhig sitzen wir so, möglichst nahe den Grenzen / Wartend des Tags der Rückkehr« (Brecht 1967, 718). 52 Dies schreibt Heinrich Mann in seinen Memoiren Ein Zeitalter wird besichtigt, die 1946 erstmals veröffentlicht wurden (Heinrich Mann 1988, 485). Die letzten europäischen Nächte verbringt er in einem Grand Hotel (vgl. Heinrich Mann 1988, 484).

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Der Exilliteraturforscher Joseph P. Strelka bilanziert folgerichtig, dass es »überhaupt, um eines der wesentlichsten Probleme zu berühren, nicht einfach nur ein Exil gibt, sondern eine ganze Reihe verschiedenartigster Formen von Exilen«.53 Jede dieser Formen wird – in Spuren oder überdeutlich – transitorische Momente in sich tragen. Die individuelle »Reflexion des Exils als Grunderfahrung der Entwurzelung«54 ist es, welche die Texte verbindet, die zwischen 1933 und 1945 geschrieben werden. Wie die Reflexion im Einzelnen ausfällt, und wie der Hafen, dieser Transit-Ort der Übersetzung, der Überfahrt, des Überdenkens und nicht zuletzt des Überlebens literarisch dargestellt werden kann, soll nun näher untersucht werden.

F RAGWÜRDIG ,

WINDIG , TRANSITÄR :

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»Bodenlos, der Roman.« Und: »Ein Labyrinth. Ein Spiegelsaal. Ein Irrgarten.«55 Der Literaturwissenschaftler Hans-Albert Walter hat sich Mitte der 1980er Jahre nicht als erster in die Tiefen dieser literarischen Raumanomalie begeben56, und nicht als erster hat er Erstaunliches zutage gefördert, um sich mitunter darin zu verlieren. Anna Seghers’ Transit57 ist nicht nur eines der bekanntesten deutschsprachigen Exilwerke, sondern auch ein Erzähltext voller widerspenstiger Raumkonstruktionen. Dabei ist dieser Roman an seiner Oberfläche erstaunlich klar, mit »somnambuler Sicherheit geschrieben, fast makellos«58, wie Heinrich Böll bemerkt hat. Leicht folgt man dem namenlosen Ich-Erzähler bei seiner Flucht aus Deutsch53 Strelka 1983, 44. Christina Thurner kommt in ihrer Studie zu einem ähnlichen Fazit und weist auf das Zitat hin (vgl. Thurner 2003, 33). 54 Thurner 2003, 39. 55 Walter 1984, 137. 56 Wichtige Hinweise liefern etwa die früheren Analysen von Jörg Bilke und Jan Hans (Haas 1975, Hans 1982). 57 Die Analyse folgt der von Helen Fehervary und Bernhard Spies herausgegebenen Werkausgabe (Seghers 2001), die sich präziser als vorige Ausgaben an den Manuskripten von Anna Seghers orientiert. 58 Böll 1973, 59. Böll stellt fest, es gäbe nur wenige Romane nach 1933, die eine solche Qualität aufwiesen, und hält den Roman für den schönsten, »den die Seghers geschrieben hat« (vgl. Böll 1973, 57 ff.).

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land, aus dem französischen Arbeitslager, aus Paris, durch ganz Frankreich, bis in die Hafenstadt Marseille, wo er zwischen Aufenthalt und Abfahrt hin- und hergerissen bleibt. Aber die Beschreibung des Exilalltags in Marseille verdeckt nur spärlich die tieferliegenden Schichten. Um es mit einer Raumirritation des namenlosen Ich-Erzählers zu sagen: »Ich hätte mir einbilden können, in einen Abgrund hinunterzusehen, wenn ich nicht gewußt hätte, daß das Zimmer im dritten Stock lag.«59 Doch zunächst »einmal alles von Anfang an«60, wie es sich auch der IchErzähler von Transit für seine Geschichte wünscht. Vielfach ist aufgearbeitet worden, wie sehr dieses Exilwerk selbst unmittelbar mit dem Exil ihrer Autorin verbunden ist. Anna Seghers hat die Entstehung ihres Romans ›im Transit‹ in einem Brief selbst bestätigt: »Ich habe [...] niemals etwas so unmittelbar im Erlebnis Steckende [sic] geschrieben. Das Buch ist in Marseille entstanden, in den erwähnten Cafés, wahrscheinlich sogar, wenn ich zu lange warten mußte, in Wartezimmern von Konsulaten, dann auf Schiffen auch interniert, in Ellis Island in USA, der Schluß in Mexiko.«61

In ihrer Seghers-Biografie hat Christiane Zehl Romero den Fluchtweg von Anna Seghers nachgezeichnet, inklusive präziser Daten: Ab dem 30. Dezember 1940 lebt Seghers mit ihren Kindern in Marseille, ihr Mann László Radványi ist im nahegelegenen Lager Les Milles interniert. Schon in den Monaten zuvor hat sie Marseille immer wieder aufgesucht, um die »labyrinthische Kette von Maßnahmen«62 anzugehen, die bei der Beschaffung der nötigen Papiere für die Überfahrt zu bewältigen ist. Erst drei Monate später, am 24. März 1941, kann Anna Seghers mit ihrer Familie das europäische Festland auf dem Schiff ›Paul Lemerle‹ verlassen. Die Fahrt wird nochmals drei Monate dauern: Über Casablanca, Martinique, Santo Domingo, New York und Havanna geht es schließlich nach Vera Cruz in Mexico. Die Zahl der Zwischenstationen ist vermutlich noch höher als heute ermittelt werden kann; Zehl Romero nennt beispielsweise einen mehrtägigen Aufenthalt in einem algerischen Hafen aufgrund akuter Bedrohung durch die englische Flotte.63 59 Seghers 2001, 179. 60 Seghers 2001, 7. 61 Seghers 1970, 43. 62 Schlenstedt 2001, 315. 63 Vgl. Zehl Romero 2000, 368 ff.

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Anna Seghers erlebt in dieser Zeit auf dem Frachtdampfer, der für die 350 Passagiere nur einen notdürftigen Verschlag im Laderaum, Hitze, Schlaflosigkeit und schlechtes Essen bereithält, einen ewigen »Kampf um die Weiterreise«64. Überall gibt es Verzögerungen und bürokratische Schwierigkeiten, vor allem in New York, wo sie zehn Tage auf der Einwandererinsel Ellis Island festgehalten wird, vermutlich auch aufgrund ihrer kommunistischen Gesinnung.65 Von Santo Domingo aus schreibt Seghers an ihren Schriftstellerkollegen F. C. Weiskopf die vielzitierte Zeile: »Comme Odysseus on se croit toujours arrivé et touj. il y a d’autre obstacle«.66 Erst am 30. Juni 1941 erreicht Anna Seghers Mexiko. Zehl Romero bilanziert: »Ihre Fahrt nach Amerika in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hatte wesentlich länger gedauert als die von Christoph Kolumbus am Ende des fünfzehnten.«67 Seghers hält sich also mindestens sechs Monate lang an Orten auf, an denen sie nicht bleiben will – eben an Transit-Orten. Diese Orte sind hauptsächlich Häfen, hafennahe Orte (etwa die Hafencafés von Marseille68, die Internierungslager auf Ellis Island) oder Schiffe. Im weiteren Sinne dauert ihr Transit sogar 14 Jahre, zwischen der Flucht aus Deutschland 1933 und der Rückkehr nach Berlin 1947. Die Erfahrung des Herumirrens, die Michel de Certeau eine »ungeheure [...] Erfahrung des Fehlens eines Ortes«69 nennt, schlägt sich bereits in ihrem Schreiben zwischen 1941 und 42 nieder. Dass dabei die einzelnen Orte ihrer Exilreise in ihren Roman Transit Einzug halten – die Namen der Hafenstädte, der Cafés, der Hotels, der Straßen in Marseille, sogar die Namen der Flüchtlings-

64 Zehl Romero 2000, 370. 65 Vgl. Zehl Romero 2000, 374. 66 Die Zeile stammt aus einem Brief vom 26.05.1941 (Seghers 2008, 104). 67 Zehl Romero 2000, 375. 68 Wie der Ich-Erzähler im Roman verbringt auch Anna Seghers ihre Wartezeit in den Cafés von Marseille, die um den Alten Hafen herum angeordnet sind, vor allem im Café Mont Ventoux (siehe Abbildung 12). Im Roman heißt das Café Mont Vertoux (mit einem ›R‹). 69 Certeau 1988, 197. Caroline Delfau bilanziert in ihrem Aufsatz zur Poetik des Transitorischen bei Seghers: »Für das Exil der Anna Seghers kann also weder von einer vollständig gelungenen noch verweigerten Akkulturation gesprochen werden, vielmehr scheint sie eine transitäre Existenz geführt zu haben: im Exil und möglicherweise auch darüber hinaus« (Delfau 2010, 40).

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schiffe sind mehr oder weniger authentisch70 –, ist aufschlussreich; dass Anna Seghers das Manuskript unmittelbar in Marseille und während ihrer Überfahrt schreibt, ist nicht weniger bemerkenswert. Entscheidend ist jedoch die Reflektion des Transitzustands insgesamt, und wie sich diese im Roman widerspiegelt. Abbildung 9: Inserate in der Berliner Zeitung

Quelle: Berliner Zeitung (03.08.1947), Nr. 178, S. 4

Auch die Publikationsgeschichte des Romans, die sich an die Fertigstellung des Manuskripts in Mexiko anschließt, ist geprägt von Eindrücken des Exils und des Zerstreuten. Der Roman wird zwar auf deutsch geschrieben, notgedrungen jedoch 1944 zuerst auf englisch und spanisch veröffentlicht. Auch in Stockholm, Mailand oder Kopenhagen werden bereits Verträge abgeschlossen, bevor sich Chancen zu einer deutschen Erstveröffentlichung ergeben. Diese erfolgt schließlich 1947 – und zwar wie bei Roths Hotelroman nicht als Buch, sondern als Fortsetzungsroman in der Berliner Zeitung71, in 83 Folgen vom 3. August bis zum 70 ›Mehr oder weniger‹, weil der Text trotz der Übereinstimmungen Brüche aufweist, die gegen eine Lesart als autobiografischer Schlüsselroman sprechen. Zu einer gründlichen Auseinandersetzung mit den fiktiven und realen Orten im Roman vgl. Walter 1984, 34 ff. 71 Die Berliner Zeitung erschien zwischen 1945 und 1990 ausschließlich in Ost-Berlin.

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7. November 1947. Diese Probleme der Druckgeschichte sind erst in der 2001 erschienenen Werkausgabe ausführlicher dokumentiert worden72, obwohl sich insbesondere aus der Analyse des Zeitungsmaterials interessante Forschungsaspekte ergeben. So ist hier wie in Roths Hotel Savoy eine wechselseitige Verschränkung von Roman- und Zeitungstexten zu beobachten. Die Romanfolgen erscheinen auf Seite 2 oder 3 der Berliner Zeitung, umgeben von verschiedenen Textsorten, da die Ausgaben insgesamt nur etwa sechs Seiten umfassen und nicht eindeutig nach Ressorts gegliedert sind. Auf der Rückseite des Zeitungsseite, auf der das erste Kapitel von Transit abgedruckt ist, finden sich beispielsweise »Suchanzeigen«, in denen nach vermissten Soldaten gesucht wird, selbst zwei Jahre nach Kriegsende. Ob etwa der Russlandheimkehrer Arthur Mangelsdorf, seit dem 17. April 1945 vermisst, seine Frau Else wiedersehen wird, oder ob Katharina Bassmann ihren gelähmten Mann in den Trümmern von Berlin finden kann – Antworten gibt es nicht, die Anzeigen stellen nur Fragen in einem zerstreuten Europa.73 Zwei Tage später, am 5. August 1947, erscheint der nächste Teil von Transit. Direkt daneben meldet ein Artikel in der täglichen Sparte Kultur-Mosaik die Vergabe des Literaturnobelpreises an Maria Brekker. Dies ist eine Meldung, die selbst im kriegsverwirrten Berlin für Verwunderung gesorgt haben dürfte, denn eine Autorin Maria Brekker hat es nie gegeben, geschweige denn eine Nobelpreisträgerin mit diesem Namen. Der Literaturnobelpreis ging 1947 an den Franzosen André Gide, Veröffentlichungen einer Maria Brekker sucht man heute vergebens. Es handelt sich offensichtlich um eine Falschmeldung – und einen Beleg dafür, dass die Verwirrung um Namen und Identitäten, die Anna Seghers in ihrem Roman beschreibt, auch nach Kriegsende anhält.74 72 Vgl. Schlenstedt 2001, 338 ff. 73 Siehe Abbildung 9. In die Kategorie der Zerstreuung fallen auch die Angebote zum »Kopftausch« in der nebenstehenden Rubrik »Verschiedenes«. Im Berlin der Nachkriegszeit konnte man nur von einer Besatzungszone in die andere überwechseln, wenn gleichzeitig ein anderer zurückwechselte. Die Inserenten tauschten dabei mitunter ihre ganze Existenz; so werden in einer Anzeige eine »Hauswartstelle, 2 Zimmer, Küche, Speisekammer, Innentoilette gegen gleiche privat« zum Tausch angeboten, »vom russischen nach amerikanisch. Sektor«. 74 Weder die Deutsche Nationalbibliothek noch die weltgrößte bibliografische Datenbank WorldCat (http://www.d-nb.de und http://www.worldcat.org) listen Veröffentlichungen einer Maria Brekker.

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Wie im Beispiel Hotel Savoy wird auch hier der Textraum des Romans durch die Einbettung in andere Zeitungstexte durchlässig für die Ereignisse der Zeit. Zwar haben sich die politischen Machtverhältnisse in Europa zwischen 1940/41 und 1947 grundlegend verändert, die Prozesse der Zerstreuung, die Anna Seghers in ihrem Roman beschreibt, dauern jedoch an. Die Romantexte erscheinen keineswegs als isolierte, »aus der Geschichte gestürzte«75 Einheiten; sie treten mit den umgebenden Texten in ein dialogisches Verhältnis und bieten dem Leser die Möglichkeit des Hin- und Herwanderns zwischen Zeitgeschichte und Fiktion. Dass überhaupt der ganze Transit-Text keine Endstation ist, sondern nur Durchgang auf dem täglichen Weg von Publikation und Lektüre, wird in der Berliner Zeitung besonders deutlich, wenn unmittelbar vor dem ersten und nach dem letzten Romanteil andere Erzähltexte den Platz einnehmen. In diesem Publikationstransit nimmt Seghers’ Roman allerdings eine herausragende Position ein. Im Unterschied zu anderen Fortsetzungsromanen in der Berliner Zeitung wird die erste Folge von Transit bereits auf der Titelseite angekündigt. Außerdem erscheint oberhalb der ersten Romanfolge ein Artikel, in dem die Redaktion sowohl die literarische Qualität des Romans betont als auch das Transitorische als Zeichen der Zeit identifiziert: »Der Roman ›Transit‹, mit dessen Veröffentlichung wir unseren Lesern ein ganz besonderes Geschenk zu machen glauben, wurde teils unter der deutschen Besetzung in Paris geschrieben, teils in Marseille, teils auf Schiffen, die von einer Insel zur anderen nach Mexiko fuhren. ›Transit‹ [...] bezeichnet [...] das Zwischenstadium, die Durchreise, den vorläufigen, ungewissen Aufenthalt, dessen Ende nicht abzusehen ist. Das ist ein Zustand, der heute vielen bekannt ist nicht [sic] nur den Emigranten, die damals verzweifelt um einen Transit-Stempel in ihrem Paß kämpften.«76

Angesichts all jener unverkennbar transitorischen Merkmale auf den Ebenen des Trägerraums und des Textraums, aufgrund der außergewöhnlichen Entstehungsund Publikationsgeschichte des Romans mitten im Transit, und nicht zuletzt schlicht durch seinen Titel scheint es mehr als naheliegend, Transit als einen Text zu identifizieren, der auch narrativ von transitorischen Strukturen dominiert wird. Doch ist Transit tatsächlich eine Transiterzählung?

75 Vgl. Jörg Bernhard Bilkes Aufsatz Sturz aus der Geschichte?, in der er den Roman als »seltsam unhistorisch« bezeichnet (Bilke 1973, 322). 76 O.A. 1947, Abs. 2.

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Zunächst einmal sind Durchreise und Durchgang zentrale Themen der Handlung. Es ist möglich, die Handlung selbst eines Romans wie Hotel Savoy zusammenzufassen, ohne das Thema Transit zu berühren77; in Anna Seghers’ Roman ist dies wohl ausgeschlossen. Zu deutlich ist die Geschichte des IchErzählers Seidler alias Weidel eine Geschichte von der Flucht und dem Flüchtigen, und damit immer schon transitorisch. »Alles war auf der Flucht, alles war nur vorübergehend, aber wir wußten noch nicht, ob dieser Zustand bis morgen dauern würde, oder noch ein paar Wochen, oder Jahre, oder gar unser ganzes Leben«78 – damit tritt das Transitorische schon zu Beginn des Romans ganz unverhüllt zutage. Dutzende Flüchtlingsschicksale skizziert der Erzähler, häufig nur beiläufig und in wenigen Sätzen, und reiht dabei sein eigenes Schicksal in den scheinbar endlosen »Strom der Abfahrtsbesessenen«79 ein. Wem gelingt es, alle notwendigen Papiere zu besorgen und von Marseille aus über den Ozean zu fliehen – gelingt es dem Ich-Erzähler, gelingt es seiner Freundin Marie, dem Lebensgefährten Maries, einer der vielen Nebenfiguren? Diese Fragen, obwohl teilweise schon zu Beginn des Romans beantwortet, sorgen für den Spannungsaufbau in Transit. Der Erzähler bezeichnet sich und alle anderen, die in Südfrankreich auf ihre Überfahrt warten, konsequenterweise als »Transitäre« und »Mittransitäre«80. Das Wort Transit findet nicht nur als Zustandsbeschreibung unmittelbar Eingang in den Roman81 – ein Novum gegenüber den zuvor untersuchten Texten –, sondern auch als Bezeichnung für eines der umkämpften Reisedokumente: »Ein Transit – das ist die Erlaubnis, ein Land zu durchfahren, wenn es feststeht, daß man nicht bleiben will.«82 Eine dritte Bedeutungsebene des Wortes ist die mythologische: Transitus meint im Kirchenlatein den Übergang in eine andere Welt nach dem Tod, wie sowohl Christina Thurner als auch Hans-Albert Walter anmerken.83

77 So formuliert etwa die deutsche Ausgabe von Wikipedia: »Der Heimkehrer Gabriel Dan erzählt, wie die Revolution das heruntergekommene Hotel Savoy erreicht und zerstört« (http://de.wikipedia.org/wiki/Hotel_Savoy, Stand vom 08.11.2014). 78 Seghers 2001, 39. 79 Seghers 2001, 112. 80 Seghers 2001, 132, 184, 199, 204 etc. 81 Der Erzähler spricht beispielsweise vom »Zustand, den man auf Konsulaten Transit nennt und in der gewöhnlichen Sprache Gegenwart« (Seghers 2001, 272). 82 Seghers 2001, 47. 83 Vgl. Thurner 2003, 88 und Walter 1984, 75.

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Diese Bedeutungsebene tritt besonders in der folgenden Passage des Romans zutage: »Für Abgeschiedene hielt ich sie, die ihre wirklichen Leben in ihren verlorenen Ländern gelassen hatten [...]. Sie mochten sich noch so lebendig stellen mit ihren verwegenen Plänen, mit ihren bunten Drapierungen, mit ihren Visen auf seltsame Länder, mit ihren Transitstempeln. Mich konnte nichts täuschen über die Art ihrer Überfahrt.«84

Mit solchen Reflektionen auf der Handlungsebene ist jedoch Seghers’ »Darstellung des Transitorischen«85, die Caroline Delfau in ihrem Aufsatz Zwischen den Welten untersucht hat, nur oberflächlich erfasst. Diese Darstellung ist nämlich »nicht nur inhaltlicher Gegenstand, sondern wirkt sich nachhaltig auf die Motivik, die Figurenkonzeption und das Erzählen aus«.86 Vor allem aber wird der Diskurs um das Flüchtige in der Welt auch räumlich verhandelt. Hierfür benötigt Anna Seghers einen Ort – und dieser Ort ist der Alte Hafen, inmitten von Marseille. Um zu verstehen, warum der Alte Hafen der zentrale Ort für den Roman ist, ist es hilfreich, einen alten Stadtplan zur Hand zu nehmen. Transit ist kein Schifffahrts- oder Seefahrerroman. Die eigentliche Seefahrt wird auffällig selten thematisiert, und der Ich-Erzähler hält sich offenbar weitaus häufiger in Cafés, Hotels und Behörden auf als am Hafen. Zeichnet man jedoch die im Roman genannten Orte auf einem Marseiller Stadtplan ein, ergibt sich ein äußerst dichtes Netz an Schauplätzen, deren zentraler Bezugspunkt das große Bassin des Alten Hafens ist.87 Um das Hafenbecken herum ist eine Vielzahl von Cafés und Restaurants angesiedelt, darunter die Pizzeria, ein wichtiger Schauplatz des Romans, weil von hier aus die Geschichte erzählt und entwickelt wird. Immer wieder weist der Erzähler explizit darauf hin, dass er von verschiedenen Orten aus den Alten Hafen ständig im Blick hat.88 Auch das weitere »Gewimmel«89 von Gassen und Gebäu-

84 Seghers 2001, 112. 85 Delfau 2010, 55. 86 Delfau 2010, 55. 87 Siehe Abbildung 10. 88 »Ich konnte stundenlang die weiße Häuserfront auf der anderen Seite des Alten Hafens betrachten hinter den Rahen der Fischerboote unter dem Abendhimmel.« – »Der Teil des Cafés, in dem wir saßen, stieß an die Cannebière. Ich konnte von meinem

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den in Marseille befindet sich in unmittelbarer Nähe des Alten Hafens.90 Die Orientierung zum Hafen hin lässt sich architektonisch in der Marseiller Stadtlandschaft um 1940 nachvollziehen; die Haupt- und Prachtstraße Cannebière führt direkt zum Hafen und macht ihn weithin einsehbar. Trotz erheblicher Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg ist die Ausrichtung auf den Vieux Port noch heute im Stadtbild zu erkennen.91 Diesen architektonischen und kulturellen Fixpunkt überträgt Anna Seghers in ihren Roman, jedoch nicht ohne ihn zu bearbeiten und zu verfremden. »Umfunktionierung und Verwandlung, Montage resp. Collage und Metamorphose sind die Elemente, die diesen Roman handwerklich-kompositorisch im Innersten zusammenhalten«92, stellt Hans-Albert Walter fest, und das gilt auch für die Darstellung des Hafens: Dass Marseille eigentlich aus zwei Häfen besteht, dem Vieux Port und dem Seehafen Port autonome, und dass der Vieux Port schon seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr für die Überseeschifffahrt genutzt wird, wird im Roman nicht offenbar. Die ›Joliette‹, alltagsweltlich das einzige Überseehafenbecken von Marseille, wird zwar als eigenständiger Ort genannt und liegt eine längere Fahrtstrecke entfernt93, funktional scheint es sich jedoch nicht vom Hafenbecken im Stadtzentrum zu unterscheiden. Auch das »Hafenamt« und das »Hafencafé« bekommen dasselbe Präfix, obwohl sie eigentlich an unterschiedlichen, klar voneinander getrennten Häfen liegen.94 So verschmelzen autonomer und alter Hafen in der Erzählung zu dem Hafen der Stadt.

Platz aus den Alten Hafen übersehen.« – »Ich hätte gern auf den Quai des Beiges hinübergewechselt, wo man immerhin auf den Hafen sah« (Seghers 2001, 65, 88, 137). 89 Seghers 2001, 109. 90 »Der Arzt sah sich aufmerksam um in dem schwarzen Gassengewimmel am Alten Hafen, um sich später ohne mich heimzufinden.« – »Ich hielt sie für die Angehörige einer der kleinen schäbigen Bühnen, die in den Gassen hinter dem Hafen allerlei Unsinn darbieten.« – »Sie lief in das Gassengewirr hinein hinter dem Alten Hafen.« – »Wir liefen und liefen, wir liefen durch ein Gewirr von Gassen hinter dem Alten Hafen« (Seghers 2001, 85, 96, 107, 168). 91 Siehe Abbildung 11. 92 Walter 1984, 122 f. 93 »Ich aber fuhr nach der Joliette« (Seghers 2001, 263). 94 Das Hafencafé »Brûleurs des Loups« liegt am Alten Hafen, das Hafenamt an der Joliette (vgl. Seghers 2001, 154, 263).

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Abbildung 10: Stadtplan von Marseille mit einer Projektion des Aktionsradius des Erzählers und literarischer Orte aus ›Transit‹

Quelle: Eigene Darstellung. Kartendaten von Google. Online verfügbar unter http://goo.gl/q5YqX (Stand vom 08.11.2014)

Abbildung 11: Luftaufnahme von Marseille (2008)

Quelle: iStockphoto.com/CSLD

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Auch die sonstige Verkehrsinfrastruktur der Stadt wird zugunsten des Hafens umgedeutet. Dass die Fluchtwege aus Marseille realhistorisch keineswegs auf den Hafen beschränkt waren, hat Hans-Albert Walter nachgewiesen: »Der Weg durch Spanien und Portugal war eindeutig die Hauptfluchtroute aus Frankreich, und was Marseille betraf, so verließ man es mit dem Zug. Diese Möglichkeit bestand während der gesamten erzählten Zeit des Romans, ja schon vor Ankunft des Erzählers in Marseille.

Und doch verliert er kein Wort darüber, spart vielmehr bei seinen so überaus anschaulichen Stadtbeschreibungen sogar den Bahnhof weitgehend aus, dieser sonderbare Chronist. Ganze drei Mal wird die Gare St. Charles erwähnt, höchst beiläufig und nur im Zusammenhang mit dem Ankommen in Marseille resp. mit der Rückkehr ins ›Ursprungsdepartement‹. [...] Der [Bahnhof, L.W.] ist für unsern Mann anscheinend aber nur zum Ankommen da [...], wohingegen ihm zur Abfahrt nur der [...] Hafen genehm zu sein scheint.«95 So entsteht der literarische Schauplatz Alter Hafen, funktional angereichert durch das Auslassen alternativer Verkehrsrouten und Hinzufügen des eigentlich separaten Überseebereichs. Die Absicht dahinter ist offensichtlich: Der Hafen soll zum zentralen Transit-Ort des Romans stilisiert werden – noch zentraler, als es die Alltagswelt hergibt. Im realgeschichtlichen Alten Hafen von Marseille hätte man Jahrzehnte sitzen können, ohne ein Schiff nach Übersee zu Gesicht zu bekommen; in Transit hat der Erzähler bereits in seinem Hotel nahe des Alten Hafens »beim Einschlafen die Empfindung, auf einem Schiff zu sein«96. Die Kunstgriffe, die Anna Seghers zur Konstruktion ihrer ganz eigenen literarischen Raumwirklichkeit einsetzt, sind damit noch nicht erschöpft. Ein NaturElement hilft dabei, dass selbst die von Hafen und Meer separierten Orte des Vieux Quartier als maritim markiert werden können: das Element Wind. Überall in Marseille weht der Mistral, und der Erzähler wird nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen.97 Auch hier ist ein Vergleich mit dem alltagsweltlichen Marseille aufschlussreich: Der französische Mistral ist ein kalter Fallwind, der grundsätzlich aus nordwestlicher Richtung weht, also vom Festland hinaus aufs Meer und Richtung Hafen. Für die Schifffahrt ist er ein Abfahrtswind, ein Fluchtwind. Auch darauf ist in der Seghers-Forschung bereits hingewiesen wor95 Walter 1984, 44 f. 96 Seghers 2001, 50. 97 Vgl. Seghers 2001, 64, 67, 88, 97, 98, 100, 105, 130, 131, 139, 185, 187, 189, 274.

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den98, allerdings ohne den Verweis auf die räumliche Wirkung, die damit erzielt wird: Durch den Wind werden alle Orte in Marseille von der Dynamik der Abfahrt und der Schifffahrt erfasst; alles ist Meer, alles ist Transit. Die Verknüpfung von Transit und Wind wird im Roman auch über den Doppelsinn von windig hergestellt: Auf die Liebe zwischen Mann und Frau angesprochen, beklagt der Erzähler, das »Wichtigste auf der Welt« sei »so vermischt mit dem Flüchtigsten und Belanglosesten. Zum Beispiel, daß man einander nicht im Stich läßt, das ist auch etwas an dieser fragwürdigen, windigen, ich möchte sagen, transitären Angelegenheit, was nicht fragwürdig ist und nicht windig und nicht transitär.«99

Das ›Windige‹ wird also in doppelter Hinsicht dem Transitorischen zugerechnet: als metaphorische und erzählweltliche Konstruktion. Zugleich macht sich hier eine negative Konnotation des Begriffsfelds Transit / Flucht / Wind bemerkbar. Bei der Ankunft des Ich-Erzählers in Marseille ist das Windige allerdings noch positiv besetzt, sowohl auf der metaphorischen als auch auf der erzählweltlichen Ebene. Der Erzähler spürt eine »erhabene, großartige Leichtigkeit, wie geschaffen für den Wind, der mich immer schneller die Straße herunterblies. Wie ich begriff, daß das, was blau leuchtete, am Ende der Cannebière, bereits das Meer war, der Alte Hafen, da spürte ich endlich wieder nach soviel Unsinn und Elend das einzige wirkliche Glück, das jedem Menschen in jeder Sekunde zugänglich ist, das Glück, zu leben.«100

Diese Passage ist ein Musterbeispiel dafür, wie sich bei Anna Seghers IchKonstitution und Raumkonstitution, innere und äußere Dynamik, Stimmung und Architektur vereinen. Die innere Leichtigkeit, der Wind, das Gefälle und die Gradlinigkeit der Straße – all das fällt zusammen in einer Dynamik, die zum Zentrum der Stadt strebt: zum Hafen, und von dort aus hinaus ins Meer. Unterstützung erhält diese Dynamik des Winds unmittelbar im Anschluss durch ein weiteres Naturelement, das Wasser. Das dominante Motiv ist hierbei der fließende Strom, ebenfalls metaphorisch besetzt durch die Verbindung mit dem

98 Vgl. Walter 1984, 79. 99 Seghers 2001, 170, Hervorhebungen L.W. 100 Seghers 2001, 42.

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Menschenstrom der Flüchtlinge. So wie der Mistral die Straße zum Hafen hinunterbläst, fließt auch der Strom die abschüssige Straße entlang: »Ich hatte mich in den letzten Monaten immer gefragt, wohin denn das alles münden sollte, das ganze Rinnsal, der Abfluß aus allen Konzentrationslagern, versprengte Soldaten, die Söldner aller Heere, die Schänder aller Rassen, die Fahnenflüchtigen aller Landen. Hier also floß alles ab, in diese Rinne, die Cannebière, und durch diese Rinne ins Meer, wo endlich für alle wieder Raum war und Friede.«101

Der Strom hat seine Quelle in den »nördlichen Dörfern« Frankreichs und mündet im Hafenbecken von Marseille.102 Das Motiv wird noch einige Male aufgenommen und explizit mit dem Transitorischen verknüpft.103 Für die Raumkonstruktion des Romans ist der Strom vor allem wichtig, weil er den Wirkungsbereich des Transit-Orts Hafen erweitert, weit über die Grenzen Südfrankreichs hinaus. Das Hafenbecken erscheint durch den Zustrom nicht nur als Zentrum der Stadt, sondern als Fluchtpunkt von ganz Europa, ja der ganzen Alten Welt: »Das Stück blauen Wassers da unten am Rande der Cannebière, das also war der Rand unseres Erdteils, der Rand der Welt, die, wenn man will, vom Stillen Ozean, von Wladiwostok und China, bis hierher reicht. Sie heißt nicht umsonst die Alte Welt. Hier aber war sie zu Ende.«104

Luft und Wasser werden also von Beginn an leitmotivisch eingesetzt, um die Dynamik des Flüchtigen in Szene zu setzen. Diese beiden Naturelemente sind auch diejenigen, die die Landschaft auf See prägen. Hafen und Meer, Luft und Wasser werden in Transit kunstvoll miteinander verwoben und bilden die räumliche Repräsentation des Flüchtigen. Der Alte Hafen stellt in diesem Spannungs-

101 Seghers 2001, 42. 102 »Aus den nördlichen Dörfern ergoß sich noch immer ein stummer Strom von Flüchtlingen« (Seghers 2001, 9). 103 Vgl. Seghers 2001, 69, 76, 112 f., 167, 247. Eine deutliche Verknüpfung mit dem Transitorischen wird hergestellt, wenn von dem »Strom der Abfahrtsbesessenen« die Rede ist (Seghers 2001, 112). Mit der »Fähre über den dunklen Strom« (Seghers 2001, 76) wird das Wort außerdem im mythologischen Kontext verwendet, als Transit durch den Strom Styx. 104 Seghers 2001, 64.

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feld den Fixpunkt dar, weil er das gemeinsame Ziel der Dynamik von Mistral und Strom ist und zudem einen direkten Anschluss an das offene Meer bietet. Stark verwoben sind damit zugleich die Ebenen des erzählweltlichen und des metaphorischen Raums. Wenn der Erzähler von Flüchtlingen erzählt, die vor dem mexikanischen Konsulat verharren, »als ob der Wind sie zwar drehe und schüttele, doch gleichzeitig auf der Stelle zusammenhielt in einem Wirbel von Angst«105 , oder wenn er sich wünscht, die Erinnerung an Marie »möge sich verflüchtigen, möge wieder verfliegen, im Mistral dieser Stadt«106, lässt sich die Grenze nicht mehr ziehen zwischen dem Wind als meteorologischem Phänomen und dem Wind als Fluchtmetapher. Und wenn der Horizont des Meeres bezeichnet wird als »jene Linie, die unversehrbar war und unerreichbar, die keine Abgrenzung war, sondern sich allem entzieht«107, so sind weltlicher und mythischer Horizont zugleich gemeint. So sehr jedoch Wind und Wasser die Dynamik des Romans prägen – sie sind selbst keine Schauplätze. Sie geben zwar eine Richtung vor, die eigentliche Handlung aber muss an Orten stattfinden. Wie gezeigt wurde, besteht das literarische Marseille von Transit aus einer Vielzahl von Orten, die um den Alten Hafen herum arrangiert sind. Diese Orte sind hauptsächlich Cafés, Restaurants, Hotels und Behörden, also öffentliche Orte. Sie werden zum einen durch die geografische Nähe, zum anderen über die Wind- und Wassermotivik eng an den Hafen gebunden, treten aber auch als eigenständige Transit-Orte in Erscheinung. In der Darstellung jener Orte lassen sich einige wiederkehrende Muster finden. Zum einen ist die Suche ein bestimmendes Motiv bei der narrativen Entfaltung der genannten Schauplätze. Das oft als labyrinthisch Bezeichnete des Romans ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass die Figuren einen wesentlichen Teil der Erzählung damit verbringen, in den Gebäuden Marseilles irgendwas und irgendwen zu suchen. Das prominenteste Beispiel ist Marie, die bis zuletzt dem Schatten ihres verstorbenen Ehemanns hinterherirrt, von Ort zu Ort. »Sie suchen von morgens bis abends, in allen Straßen, an allen Orten. [...] Was suchen sie? Wen?«108, fragt der Erzähler, ohne ihr letztlich helfen zu können. Obwohl das Gebiet um den Hafen geografisch überschaubar scheint, gelingt es der ewig Su105 Seghers 2001, 76. 106 Seghers 2001, 139. 107 Seghers 2001, 108. »Todessehnsucht drückt es aus, vielleicht Selbstmordabsichten, wenn er, wieder einmal von ihr ans Meer gelockt, über die Horizontlinie meditiert«, schreibt Hans-Albert Walter über den Ich-Erzähler (Walter 1984, 82). 108 Seghers 2001, 137.

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chenden bis zuletzt nicht, das Netzwerk an Orten so weit zu überblicken, dass sie ihre Suche als erfolgreich oder gescheitert ansehen und somit abschließen kann. Ihre Orientierungslosigkeit verstärkt sich sogar noch: Später sucht sie genauso verzweifelt nach dem Erzähler109 , dem es spielend leicht gelingt, in Marseille unterzutauchen. Aber auch den Erzähler selbst stellt das städtische Labyrinth vor Probleme, auch er ist etwa bei seiner Suche nach Heinz auf Hilfe angewiesen.110 Und schließlich führt die »alte Visensuche«111, die scheinbar endlose Jagd nach den Dokumenten für die Abfahrt, alle Flüchtlinge quer durch Marseille, von einer Behörde zur nächsten. All diese Suchpfade entlang der Cafés und Behörden von Marseille tragen offenkundig dazu bei, den Durchgangscharakter der Orte zu verstärken: Die Orte sind nie Ziel, sondern immer nur Zwischenziel endloser Bewegungen in unüberschaubaren Netzwerken. Zum anderen gehen die Ortsbeschreibungen einher mit einer großen Anzahl von Ortswechseln des Ich-Erzählers. Vor dem Eintreffen in Marseille, auf seiner Flucht vor den Nationalsozialisten, legt der Erzähler eine Strecke zurück, die im alltagsweltlichen Frankreich rund 1 000 Kilometern entspräche; die Ortswechsel bestehen dabei aus geografisch weiträumigen Bewegungen. So heißt es etwa am Anfang des Kapitels 1, III: »Ich zog nach Paris in fünf Tagesmärschen«112, zwei Unterkapitel weiter befindet er sich bereits am Bahnhof von Toulouse. Diese weiträumigen Bewegungen werden in Marseille ersetzt durch eine große Anzahl kurzer Ortswechsel, durch das ständige »Gewimmel«113 in den Gassen von Marseille. Ortswechsel im Sinne von ›Ortschaft, Stadt‹ gibt es nur noch selten und in nahegelegene Regionen.114

109 »Ich suche dich seit Tagen« (Seghers 2001, 154). 110 Vgl. Seghers 2001, 182 ff. Insgesamt findet sich der Erzähler jedoch bemerkenswert souverän in Marseille zurecht, sowohl was die Behördenwege als auch das Auffinden von Personen betrifft. Dies steht einer kafkaesken Deutung der Erzählwelt deutlich entgegen. Vgl. Walter 1984, 52 ff. 111 Seghers 2001, 128. 112 Seghers 2001, 12. 113 Seghers 2001, 109. 114 Etwa in das Haus in den Bergen, in dem Heinz wohnt, »dicht bei der großen Stadt« (Seghers 2001, 147) oder zuletzt zur Pfirsichfarm, »nahe von Marseille« (Seghers 2001, 278).

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Abbildung 12: Das Café Mont Ventoux und der Vieux Port in Marseille (1944)

Quelle: akg-images / Paul Almasy

Die vielen kurzen Ortswechsel hängen teilweise mit den Suchaktionen zusammen, etwa wenn der Erzähler versucht, Behördengänge zu erledigen; häufig bleibt die Motivation jedoch im Unklaren. »Ich folgte ihm nach aus purer Langeweile«, sagt der Erzähler lakonisch, wenn er der Schiffspassage über Oran auf die Spur kommt; wenig später heißt es: »Ich trat danach in das nächste Café – was sollte ich sonst auch tun?«.115 Der Eindruck des Gewimmels innerhalb Marseilles wird narrativ aber nicht nur durch die große Anzahl der Ortswechsel, die geringen Entfernungen und die 115 Seghers 2001, 118, 121.

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willkürlichen Bewegungsrichtungen erzeugt, sondern auch durch die Positionierung der Ortswechsel im Text. Sie werden auffällig häufig am Kapitelanfang vollzogen. Damit stehen sie in Wechselwirkung mit der Textgliederung, einer Kategorie des Textraums. Dies lässt sich anhand von Zahlen belegen: 73 der 78 Kapitel116 des Romans spielen in der Region Marseille. In 50 dieser 73 Kapitel (68,5 %) findet ein Ortswechsel bereits im ersten Absatz statt, davon 32 Mal sogar im ersten Satz (43,8 %). Typische Beispiele für solche Ortswechsel am Kapitelbeginn sind: »Ich ging in tiefen Gedanken heim.« (Kap. 3, II) »Ich ging zu Binnets hinauf.« (Kap. 4, III und genauso Kap. 5, VI) »Ich trat fast betäubt in den Mont Vertoux, um ein wenig Atem zu schöpfen.« (Kap. 5, II) »Ich stieg nach dem Fort Saint Jean hinauf, um allein zu sein und das Meer zu sehen.« (Kap. 9, III)

Es handelt sich hierbei nicht um statische Zustandsbeschreibungen (wo befindet sich das erzählte Ich?), sondern um dynamische Ortswechsel (wohin bewegt sich das erzählte Ich?). Der Erzähler befindet sich nicht mehr dort, wo er am Ende des Kapitels war, aber auch noch nicht dort, wo das Kapitel mehrheitlich spielen wird – er wird erst noch platziert, er ist noch im Übergang. Dass die Ortswechsel am Anfang der Kapitel vollzogen werden, erzeugt eine zusätzliche Dynamik. Die Kapitelübergänge in Transit werden nur wenig zur Stabilisierung der Platzierungen innerhalb der erzählten Welt genutzt.117 Die Ortswechsel sorgen vielmehr für Unruhe: Das Kapitel beginnt, der Erzähler setzt ein, und sofort gerät die Szenerie in Bewegung. Der Effekt ist ungefähr so, als öffnete sich im Drama der Vorhang zum nächsten Akt, und die Kulisse würde noch umgebaut. Auch dies ist ein Mittel, Orte als transitorisch zu markieren, und Anna Seghers wendet es in ihrem Roman mit großer Häufigkeit an. Die literarische Konstruktion Alter Hafen setzt sich nun einerseits aus diesem Gewimmel an Orten zusammen, andererseits aus dem Anschluss in Rich116 Gemeint sind damit die durch römische Ziffern markierten Unterkapitel der zehn Hauptkapitel von Transit. 117 Erfolgt unmittelbar vor Kapitelübergängen ein Ortswechsel, kann dies zu einer Stabilisierung der erzählten Welt beitragen; implizit wird vermittelt – oder vorgetäuscht –, es hätte sich in der Zwischenzeit nichts Erzählenswertes ereignet. Gérard Genette bezeichnet diese Auslassungen von Handlungen oder Gedanken als Paralipsen und setzt sie in Beziehung zu den zeitlichen Ellipsen (vgl. Genette 2010, 29 f., 66 ff.).

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tung Meer. Die kurzen Blicke, die der Erzähler in diese Richtung wirft, genügen, um zu erkennen, dass das Meer tatsächlich als Leerstelle eingesetzt wird, wie in den theoretischen Überlegungen angedeutet. Jenseits des Festlands findet der Erzähler nichts, keinen Ort: »Der Vorraum des Hafenamtes war fast leer, gemessen an den Tausenden, deren Ziel das Hafenamt war. Er war der letzte aller Vorräume. Wenn der, der ihn schließlich durchwartet hatte, nicht doch noch zurück müßte, endgültig, hoffnungslos, dann kam danach gar kein Warteraum mehr, nur das Meer.«118

Bereits während seiner ersten Wochen in Marseille hat der Protagonist den Hafen als »Rand unseres Erdteils«, als »Rand der Welt« bezeichnet und die »unmenschliche Leere und Öde« des Meers hervorgehoben119; bei seinem Besuch der Joliette bestätigt sich diese Sichtweise. Natürlich ist der Roman die Erzählung einer ›Landratte‹, eines Flüchtlings, dessen Erfahrungen mit Gewässern sich darauf beschränken, bei der Flucht aus Deutschland einmal durch den Rhein geschwommen zu sein. Zwar muss er im Arbeitslager bei Rouen Schiffe ausladen, zwar bleibt er monatelang in der Hafenstadt Marseille, doch in See sticht er nie. Aber auch die beruflichen Seefahrer scheinen nichts als Leere zu empfinden, wenn sie auf das Meer blicken: »Ich trat aus dem Hafenamt heraus auf den äußersten Rand des Kais. [...] Das Wasser zwischen den Pflöcken war seicht, der Anfang des unendlichen Meeres. Ein handbreites Stück Horizont lag zwischen dem Hangar und der mit Kranen besetzten Mole. Ein alter, ziemlich heruntergekommener Schiffer stand ein paar Meter von mir entfernt und starrte reglos heraus. Ich fragte mich, ob seine Augen wohl schärfer als meine seien, weil sie etwas mir Unsichtbares anstarrten. Doch merkte ich bald, er sah auch nichts anderes als den Strich zwischen Mole und Hangar, wo Himmel und Meer sich berührten [...].«120

Das Meer entzieht sich der geografischen Messbarkeit, es ist unendlich und handbreit, entgrenzt und geschrumpft zugleich. Während die Ausdehnungen an Land recht präzise ermittelt werden können – »ein paar Meter« liegen zwischen

118 Seghers 2001, 263. 119 Seghers 2001, 64, 43. 120 Seghers 2001, 264. Selbst der Hafenvorsteher ist »ein eichhörnchenhaftes Männlein, das aussah, als ob es die Meere hasse« (Seghers 2001, 263).

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dem erzählten Ich und dem Schiffer –, bleibt das Meer für Seefahrer und NichtSeefahrer gleichermaßen unfassbar. Ähnliches gilt für die Orte, die über das Meer zu erreichen sind, also die Überseeorte. Zwar werden andere Häfen genannt, etwa Lissabon, Casablanca oder Oran, außer ihrem Namen weisen diese jedoch keine Charakteristika auf. Auch die Entfernungen zwischen den Häfen lassen sich nur über die alltagsweltlichen Erfahrungen des Lesers rekonstruieren, was nicht immer leicht fallen dürfte, etwa im Fall der Passage Ajaccio – Marseille.121 Gänzlich semantisch entleert sind schließlich die Überseeorte auf dem amerikanischen Kontinent: Hier lassen sich nicht einmal mehr Häfen oder Städte identifizieren, im Roman werden ausschließlich Länder- oder Inselnamen genannt.122 Dass auf der »anderen Seite des Ozeans«123 pulsierende Großstädte liegen – New York war damals immerhin die größte Stadt der Welt –, bleibt hier völlig undenkbar; der Erzähler denkt nur an die »vollkommene Wildnis«, in denen die Menschen »den Urwald roden«124. Wenn von Orten in Übersee die Rede ist, sprechen die Romanfiguren stets von »da drüben«, »dort drüben« oder einfach nur »drüben«.125 Es handelt sich hier also um eine binäre Raumvorstellung (Hier – Dort), die nur vom Hier aus denk- und beschreibbar ist, in der Entleerung des Hier. Dieser Binarismus zeigt sich etwa in einer Episode, in der sich der Ich-Erzähler im Café Mont Vertoux eine Weltkarte bringen lässt und die Insel Martinique sucht. Zwar findet er sie, aber nicht als eigenständigen, komplexen Ort, sondern lediglich als »Pünktchen zwischen zwei Hemisphären«126 : Die Insel ist lediglich in ihrer relativen Lage zur östlichen und westlichen Erdhalbkugel bedeutsam.

121 Vgl. Seghers 2001, 127. Die Hafenstadt Ajaccio auf Korsika liegt etwa 310 km von Marseille entfernt. 122 In Amerika gibt es nur »Mexiko«, »Martinique«, »Brasilien« oder »Cuba« (Seghers 2001, 30, 42, 63, 84). Zwar ist gelegentlich von den »anderen Städte[n] da drüben« die Rede, diese bleiben aber ohne Namen. Noch ganz zuletzt spricht der Erzähler von den »phantastischen Städten fremder Erdteile, die mir unbekannt geblieben sind« (Seghers 2001, 152, 280). 123 Seghers 2001, 5. 124 Seghers 2001, 6. 125 Seghers 2001, 6, 102, 152, 218, 225, 248 f., 278. 126 »Ich rief den Kellner und bat ihn um einen Atlas. Er brachte mir ein so schmieriges, abgegriffenes Reisehandbuch, mit einer eingehefteten Weltkarte. Ich suchte mir Mar-

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In die unklaren Vorstellungen vom Drüben mischen sich zudem immer wieder Vorstellungen vom metaphysischen Jenseits. Besonders deutlich wird dies in einem Zwiegespräch des Ich-Erzählers mit Marie: »Da sagte Marie: ›Ich frage mich immer, wie mag es dort drüben sein? Wird es so sein wie hier? Wird es anders sein?‹ – ›Wo drüben, Marie? Was meinst du?‹ – Sie hob ihre Hand von dem Transit auf und deutete in die Luft von sich weg. ›Drüben, drüben!‹ – ›Wo drüben denn, Marie?‹ – ›Dort drüben. Wenn alles vorbei ist. Wird wirklich endlich Friede sein, wie mein Freund glaubt?«127

Marie kann das Drüben nur in negativer Relation zum Hier beschreiben: räumlich in der Bewegung »von sich weg« und zeitlich in der Angabe »wenn alles vorbei ist«. Ihre Bestimmung bleibt dabei so ›luftig‹ und undifferenziert, dass der Ich-Erzähler zunächst annimmt, Marie spräche vom Leben nach dem Tod. Erst als sie die Schiffe erwähnt, wird ihm klar: »Ach so, du meinst dort. In dem Land, das dir das Visum gewährt hat? Darüber habe ich noch nicht viel nachgedacht.«128 Der Roman entwirft also erstens eine Strömungsdynamik Richtung Hafen und Meer, zweitens ein Gewimmel aus transitorischen Orten um den Hafen herum, drittens ein Netzwerk aus verödeten Weltmeeren, eigenschaftslosen Überseehäfen und der undeutlichen Vorstellung eines Drüben. Damit wird folgendes erreicht: Einerseits wird innerhalb Marseilles ein ungeheuer dichtes Netzwerk an öffentlichen, belebten Orten geschaffen, die jedoch ganz überwiegend als Durchgangsorte, als Zwischenstationen markiert werden. »Ich stellte mir das unbesetzte Gebiet verwildert und unübersichtlich vor, ein Durcheinander, in dem sich ein Mensch wie ich, wenn er wollte, verlieren konnte«129, sinniert der Erzähler schon in Paris, und so präsentiert sich Marseille dann auch in seiner Erzählung. Andererseits wird außerhalb Marseilles, in Richtung Meer, ein ungeheuer weiträumiges Netzwerk aus entleerten, wilden Orten imaginiert. Über die Dynamik des Transits sowie der Wind- und Wasserströmungen werden schließlich beide Netzwerke in Bezug zueinander gesetzt, mit dem Alten Hafen als zentraler Schnittstelle. Das Resultat aus alldem ist eine Raumfiguration der Diffusion oder tinique, wozu ich bisher zu faul gewesen. Da hing es wirklich, ein Pünktchen zwischen zwei Hemisphären« (Seghers 2001, 212). 127 Seghers 2001, 248 f. 128 Seghers 2001, 249. 129 Seghers 2001, 33.

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Zerstreuung: So wie sich ein Tropfen Tinte, der in ein Glas Wasser gegeben wird, langsam gleichmäßig im ganzen Glas verteilt, weil die Konzentrationsunterschiede ausgeglichen werden, so werden sich auch die Flüchtlinge in der ganzen Welt zerstreuen, nur noch eine schwache Färbung hinterlassend. Der Transit führt hier nicht mehr vornehmlich ins Neue, wie im Eisenbahnzeitalter imaginiert, er führt auch nicht mehr vornehmlich ins Ungewisse, wie in den Hotelzimmern proklamiert. Der Transit führt in die Leere, in die Auflösung, vielleicht sogar in den Tod. Dies ist die Prognose, die der Erzähler vom »Rand der Welt«130 aus abgibt. Ist Transit also wirklich eine Erzählung über den Transit? Alles spricht dafür, berücksichtigt man all die Motive und Metaphern des Durchgangs, des Übergangs, des Fließens und der Zerstreuung. Und doch durchziehen Widersprüche und Brüche den Roman. Das beginnt beim Ich-Erzähler, diesem »Mr. Nobody mit undurchsichtiger Vergangenheit«131. »Immer auf der Kante gelebt« hat er, immer auf der Flucht, »immer daheim, wo es brenzlich roch«, ein Leben führend, das »nichts sein sollte als ein Herumgeschleudertwerden«, im ständigen Bewusstsein der »unverbindliche[n] Flüchtigkeit« seines »Durchzuges«.132 Ein echter Transitär also. Oder doch nicht? Einige Wochen nach seiner Ankunft gibt er in der Pizzeria von Marseille zu Protokoll: »Das offene Feuer da, sehen Sie, kann mir gefallen. Und wie der Mann auf den Teig schlägt mit lockerem Handgelenk. Ja, eigentlich gefällt mir auf Erden nur das: Ich meine, nur das gefällt mir, was immer vorhält. Denn immer hat hier ein offenes Feuer gebrannt, und seit Jahrhunderten hat man den Teig so geschlagen. Und wenn Sie mir vorwerfen, daß ich selbst immer wechsle, so antworte ich, das ist auch nur eine gründliche Suche nach dem, was für immer vorhält.«133

Diese Aussage ist bemerkenswert; sie steht nicht nur allen bisherigen Beobachtungen diametral entgegen, sondern eröffnet auch ein Motivfeld, das sich den bisher genannten Darstellungsformen des Transitorischen widersetzt. Wurden in den zuvor zitierten Textpassagen die Elemente Wasser und Luft leitmotivisch verwendet, um das Transitorische dynamisch in Szene zu setzen, kommen hier 130 Seghers 2001, 64. 131 Walter 1984, 47. 132 Seghers 2001, 11, 33, 67. 133 Seghers 2001, 125.

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die zwei anderen Elemente ins Spiel: Das Feuer auf Erden steht offensichtlich für das, »was immer vorhält«, eben das Bleibende. Und liest man den Roman unter diesen Vorzeichen erneut, so fällt schnell auf, dass dies nicht die erste Textstelle ist, die dem allgegenwärtigen Transit etwas Gewichtiges gegenüberstellt. Feuer und Erde werden ganz offensichtlich regelmäßig in Opposition zu den Motiven der Ströme eingesetzt: Die Luft des Mistrals ist eisig und leblos – das Feuer im Pizzaofen ist warm und belebend.134 Der Strom schwemmt die Flüchtlinge durch ganz Europa – die ›geerdeten‹ Bäcker Marseilles bleiben seit Jahrhunderten an Ort und Stelle.135 Das Themenfeld des Bleibenden, des Ursprünglichen, Verwurzelten, Erdverbundenen, geht über diese Elementarmotive aber noch weiter hinaus. Auch inhaltlich geht es in Transit nicht immer ums Abfahren. Zwar lebt der Erzähler inmitten einer »Horde abfahrtssüchtiger Teufel«136 , zwar schüttelt ihn selbst ge-

134 Vgl. Seghers 2001, 67, 131 und im Kontrast Seghers 2001, 168, 241 f.: »Die Kälte des Südens, die nicht an die Tageszeit gebunden ist; denn manchmal kann der Mistral die Mittagssonne vereisen.« – »Der eisige Mistral der letzten Tage hatte ihn völlig verheert, soweit ein Mistral noch ein Gerippe verheeren kann.« / »Wie war ich erleichtert beim Anblick des offenen Feuers. Wie färbte es ihr Gesicht!« – »Wir setzten uns dicht an das Pizzafeuer. In seinem scharfen Geflacker erschien ihr Gesicht unruhig und heiß, ich ahnte, wie es aussehen könnte, von jähen Freuden und Wünschen bewegt.« 135 Der Bezug zum Element Erde ist weniger deutlich als bei den anderen Elementen, lässt sich aber über die landwirtschaftlich erzeugte Nahrung herstellen. Hier ist es der Pizzateig, auf andere Nahrungsmittel wird später noch eingegangen. Zum Pizzaofen als Ort des Bleibenden vgl. auch die folgenden Textstellen: »›An diesem Feuer könnte ich sitzen und sitzen, nur immer zuhören, wie man den Teig schlägt und immer das Feuer ansehen und alt dabei werden.‹ – ›Dann wundert es mich‹, erwiderte ich, ›warum du nicht sitzen bleibst. Ich brauchte dir dann nicht erst nachzufahren, nicht erst auf einem Schiff aufzutauchen oder in einer fremden Stadt. Wir könnten zusammen hier sitzen, so oft und so lange wir wollten.‹« – »Mir schien es das letzte Feuer, die letzte Herberge in der alten Welt, die uns Obdach gewährte, ja, und eine letzte Frist, um uns zu entscheiden, fortzugehen oder zu bleiben. Die Wände waren erfüllt von unzähligen solcher Fristen, die unzähligen Menschen hier gewährt worden waren, damit sie noch einmal vor dem Feuer das Wichtigste bedenken konnten: was sie festhielt« (Seghers 2001, 280, 129). 136 Seghers 2001, 64.

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legentlich »wie ein Fieber der Wunsch, rasch abzufahren«137 , doch sein Fieber ist keinesfalls chronisch. Als er in Marseille ankommt, hat er »nur den einen Wunsch: Eine Zeitlang hier in Ruhe zu bleiben«.138 Dieser Wunsch ist das eigentliche sujetbildende Ereignis des Romans, die »Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes«139 , wie es Jurij Lotman formuliert. Denn abzufahren, ist kein Ereignis in einer Welt, in der alle Zeichen auf Abfahrt stehen.140 Die Grenzüberschreitung des Ich-Erzählers ist der Wunsch zu bleiben. Mit diesem Wunsch überrascht er seine Weggefährten und die Angestellten der Behörden gleichermaßen141, und dieser Wunsch ist auch ein wesentlicher Grund für die Souveränität, mit der er in Marseille überall auftreten und die Geschicke seiner Mittransitäre lenken kann. Obwohl die Erzählwelt ganz überwiegend transitorisch gestaltet ist, ist die Sehnsucht nach dem Bleibenden der wesentliche Impuls für die Narration.142 Was Christiane Zehl Romero über die Exilsituation

137 Seghers 2001, 264. 138 Seghers 2001, 49. 139 Lotman 1993, 332. 140 »Eine Verschiebung des Helden innerhalb des ihm zugewiesenen Raumes ist kein Ereignis« (Lotman 1993, 338). 141 »Sie [die Hotelwirtin, L.W.] rief: ›Der Herr will doch nicht etwa bleiben?‹ Ich sagte: ›Warum denn nicht? Sie bleiben ja auch.‹ Sie lachte über diesen Witz.« – »›Ich bleibe‹, sagte ich, ›du wirst schon sehen. Ich werde letzten Endes doch bleiben.‹ Er [ein Hotelzimmernachbar, L.W.] sagte: ›Das sagst du, weil du betrunken bist. Man kann nicht bleiben.‹« – »Der Beamte fuhr fort: ›Sie haben vor dieser Dame behauptet, Sie wollten durchaus in der Stadt bleiben, Sie dächten nicht an Abfahrt?‹ Ich sagte: ›Die Aussagen vor einer Wirtin sind nicht vereidigt. Ich darf erzählen, wozu ich Lust habe.‹ Er redete in verbissener Wut auf mich ein, das Departement Bouches du Rhone sei übervölkert, die Vorschrift laute, ich müsste so rasch wie möglich das Land verlassen« (Seghers 2001, 50, 62, 219). 142 In der Episode, in der der Erzähler das Romanmanuskript des toten Weidel findet, wird dies auch metadiegetisch verhandelt. Die Binnenerzählung handelt von einem »Haufen verrückter Menschen, recht durchgedrehtes Volk, sie wurden fast alle in üble undurchsichtige Dinge verwickelt«. Durch die narrative Aufarbeitung, die offenbar sogar den Tod des Autors überdauern konnte, wird das Flüchtige jedoch gebändigt: »Ich begriff ihre Handlungen, weil ich sie endlich einmal verfolgen konnte von dem ersten Gedanken ab bis zu dem Punkt, wo alles kam, wie es kommen musste« (Seghers 2001, 26).

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von Anna Seghers feststellt, gilt nicht zwangsläufig auch für den Erzähler, ist aber dennoch aufschlussreich für die Bewertung von Flucht und Bleiben in Transit: »Die Spuren ihres Transits zeigen sich, denke ich, in einem [...] noch größeren Bedürfnis nach Ankunft, Sicherheit und Gemeinschaft, bei gleichzeitigem Bewusstsein, wie ›transitär‹ und unsicher all das jeden Moment sein konnte. Mehr denn je brauchte sie den Halt ihres Glaubens an eine Idee, die den Zustand dieser Welt zu ändern versprach, deutlicher denn je sah sie aber die möglichen Korruptionen auch dieser Idee und der Menschen, die ihr dienten.«143

Ähnlich ergeht es dem Erzähler, der inmitten einer Welt des Transits lebt, sich selbst als Transitär bezeichnet und doch immer wieder nach dem sucht, »was für immer vorhält«144 . Wie der Topos des Flüchtigen, so wird auch diese Suche bevorzugt räumlich inszeniert. So sind die Transit-Orte und -Räume, die der Roman entwirft, immer wieder durchsetzt von Restspuren des Bleibenden. Das besetzte Frankreich, das der Erzähler am Anfang der Romanchronologie durchstreift, ist ein Beispiel für ein solches Gemenge aus Flucht und Verwurzelung. Einerseits ist hier ist alles auf Durchgang geschaltet – notgedrungen, denn der Erzähler befindet sich schließlich auf der Flucht, »nirgends auf eine Bleibe stoßend«145. Vom nördlichen Rouen flieht er nach Paris, dann Richtung Zentralfrankreich, über die Demarkationslinie, dann mit der Eisenbahn »in einem großen sinnlosen Bogen«146 bis Toulouse im Südwesten Frankreichs, dann Richtung Osten zu Yvonnes Dorf, schließlich nach Marseille. Andererseits ist diese Transitroute keinesfalls so semantisch entleert wie etwa die Schiffsrouten, von denen erzählt wird. Sie präsentiert sich als kontinuierliche Abfolge von Eindrücken: Überall gibt es Dörfer, Felder, Bauernhäuser, Wirtshäuser, Kirchen und andere Orte. Die Bewegung gleicht eher einer klassischen Wanderung als einer Fahrt durch das beschleunigte 20. Jahrhundert. Auch

143 Zehl Romero 2000, 376. 144 Seghers 2001, 125. 145 Seghers 2001, 37. 146 Seghers 2001, 37. Der »Bogen« lässt sich über die anschließend genannten Flüsse kartografisch nachvollziehen (»über die Loire, über die Garonne, bis zur Rhone«, Seghers 2001, 37).

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über die Dauer der Reisen wird präzise Auskunft erteilt, etwa im Fall der bereits erwähnten »fünf Tagesmärsche«147 nach Paris. Frankreich wird hier als eigentlich intaktes Raumgefüge präsentiert, das lediglich durch den äußeren Zwang, durch den Einmarsch der Nationalsozialisten in Unordnung gebracht wird: Transit aus Not, nicht aus Überzeugung. Die Familie in einem Bauernhaus an der Strecke, die dem Erzähler »Suppe, Wein und Brot auf dem Gartentisch« serviert, und die erst »nach langem Familienzwist« beschließt, »das schöne Haus zu verlassen«, ist nur eines der vielen Beispiele für diese Modellierung.148 Seinen Weg fasst der Erzähler folglich als einen »langen Weg durch das zerrüttete und besudelte Land«149 zusammen. Selbst in Marseille, wo der Mistral an jeder Ecke weht und den Erzähler »von allen Seiten zugleich«150 angreift, finden sich Restspuren der Verwurzelung. Eine ›letzte Bleibe‹ im doppelten Sinne ist die Wohnung der Familie Binnet. »Der symbolische Ort der Treue und Zuverlässigkeit ist die Familienwohnung in Opposition zu Hotels und Cafés«151, stellt Ute Gerhard fest, und Caroline Delfau ergänzt: »Als Ausnahme in dieser Kulisse ›provisorischer Halteplätze‹ mag das Haus der Binnets gelten: Wie eine Festung thront es mit seinem alten, massiven Türknauf über dem Hafen«152 . Neben den architektonischen Hinweisen auf Verwurzelung und Verbleib – der Türknauf hat nebenbei die einladende »Form einer Hand«153 – ist es vor allem die Bindung des Hauses an Nahrung und Landwirtschaft, die einen Eindruck von Erdverbundenheit schafft. Georg Binnet arbeitet in einer Mühle, seine Freundin in einer Zuckerfabrik, die Haushälterin

147 Seghers 2001, 12. Bei der Fahrt zu Yvonnes Dorf heißt es: »Wir machten uns also auf und kamen nach einer Woche an« (Seghers 2001, 39). 148 Vgl. Seghers 2001, 10. Weitere Beispiele sind die Episode von dem umkämpften Dorf oder der Streit um das schöne Mädchen in der Wirtsstube (vgl. Seghers 2001, 13, 38). 149 Seghers 2001, 43. 150 Seghers 2001, 64. 151 Gerhard 2001, 103. 152 Delfau 2010, 42. Die Rede von der »Kulisse ›provisorischer Halteplätze‹« ist eine Anspielung auf Foucaults Heterotopien (vgl. Foucault 1992, 38). 153 Seghers 2001, 43. Nahrung ist auch in anderen Texten Anna Seghers’ ein Motiv für Verwurzelung. So werden die Herstellung und der Verzehr von Tortillas in den mexikanischen Erzählungen Crisanta (1951) und Das wirkliche Blau (1967) ähnlich eingesetzt.

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braut mit großer Sorgfalt »echten Kaffee« aus Kaffee-Ersatz.154 Den ersten gemeinsamen Abend mit dem Ich-Erzähler verbringen sie beim Essen, wobei sich ein Gefühl der Geborgenheit einstellt, das sich vom allumfassenden Transit ausdrücklich abhebt: »An diesem Abend lud mich Binnets Geliebte ein, mit ihnen zu essen. Es gab eine große Schüssel gewürzten Reis. [...] Man macht ja gewöhnlich viel Aufhebens von dem Beginn einer großen Liebe. Doch eine Geborgenheit von ein paar Stunden, eine unvermutete Geborgenheit, ein Tisch, an dem man für dich auseinanderrückt, das ist es, was einen hält, das ist es, warum man doch nicht zugrunde geht.«155

Auch im weiteren Verlauf sucht der Erzähler das Haus immer dann auf, wenn er »großen Hunger«156 hat. Das Haus ist ein Ort der Versorgung und auch der Heilung in Opposition zu einer Stadt, die von der »Abfahrtskrankheit«157 infiziert ist. Der Arzt versorgt hier den kranken Jungen der Binnets und wird währenddessen sogar selbst geheilt: »Sein grauer, kurzgeschorener Kopf lag an dem blanken, dunklen Körper des Knaben und wie er horchte, verklärte sich sein von Transitsorgen entstelltes Gesicht, sein Ausdruck von Hast und Zuspätkommens- und Zurückbleibensfurcht verwandelte sich in das Gegenteil: unendliche Geduld.«158

Der wichtigste symbolische Ort der Verwurzelung liegt jedoch nicht auf der Anhöhe der Binnetschen Wohnung. Man findet ihn in der Pizzeria, bei einem Glas Rosé: Der Pizzaofen mit seinem offenen Feuer ist deshalb der zentrale Ort des Bleibenden, weil er explizit als Widerpart zum zentralen Transit-Ort Alter Hafen entworfen wird. Die Textpassage, in der diese Gegenüberstellung von Bleibe154 Vgl. Seghers 2001, 44, 123. Der Anbau und die Produktion von Nahrungsmitteln als erdverbundene Tätigkeiten spielen auch bei der Entscheidung des Erzählers eine Rolle, letztlich auf einer Pfirsichfarm zu bleiben: »Es kommt mir vor, ich kenne das Land so gut, seine Arbeit und seine Menschen, seine Berge und seine Pfirsiche und seine Trauben« (Seghers 2001, 279). 155 Seghers 2001, 60. 156 »Bei großem Hunger ging ich zu Binnets. Bei kleinem Hunger rauchte ich« (Seghers 2001, 69). 157 Seghers 2001, 222. 158 Seghers 2001, 91.

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und Transit-Ort zum ersten Mal erfolgt, erscheint zunächst eher nebensächlich; tatsächlich gehört sie jedoch zu den wichtigsten raumbildenden Momenten des Romans. Ähnlich wie in Hauptmanns Bahnwärter Thiel steht sie am Anfang der Erzählung und weist auf den Gesamtkonflikt voraus. Dies geschieht ganz wesentlich über räumliche Parameter, speziell über das Spacing der Akteure. Der Erzähler spricht sein fiktives Gegenüber in der Pizzeria wie folgt an: »Setzen Sie sich bitte zu mir. Was möchten Sie am liebsten vor sich sehen? Wie man die Pizza bäckt auf dem offenen Feuer? Dann setzen Sie sich neben mich. – Den alten Hafen? – Dann besser mir gegenüber. Sie können die Sonne untergehen sehen hinter dem Fort St. Nicolas. Das wird sie sicher nicht langweilen.«159

Der Ich-Erzähler sitzt also im Restaurant, dem offenen Feuer im Pizzaofen zugewandt, und fordert den unbekannten Zuhörer auf, buchstäblich Position zu seiner Aussicht zu beziehen: Setzt er sich neben den Erzähler oder ihm gegenüber, mit Blick auf den Hafen? Diese Entscheidung ist keinesfalls trivial, bedenkt man, wie die Orte im Roman entworfen und symbolisch besetzt werden. Die Platzwahl ist eine perspektivische Entscheidung entweder für das Bleibende, das mit dem Pizzaofen und dem Feuer symbolisiert wird, oder für das Transitorische, Rastlose, Windige, eben Flüchtige, für das im weiteren Verlauf der Hafen in Marseille steht. Später thematisiert der Erzähler die Platzwahl erneut: »Ich hatte nur noch eine schwere Frage in diesem Leben zu lösen, sobald ich die Pizzaria betrat: Sollte ich mich auf den Platz setzen, auf dem Sie jetzt sitzen, mit dem Gesicht gegen den Hafen vor mir, oder auf den Platz, auf dem ich jetzt sitze, vor das offene Feuer? Denn beides hat seine Vorteile. Ich konnte stundenlang die weiße Häuserfront auf der anderen Seite des Alten Hafens betrachten hinter den Rahen der Fischerboote unter dem Abendhimmel. Ich konnte auch stundenlang zusehen, wie der Koch den Teig schlug und knetete, wie seine Arme hineintauchten in das Feuer, auf das man frisches Holz warf.«160

Spätestens damit ist klar, dass es sich bei der Platzwahl nicht um ein bloß touristisch relevantes Kriterium auf der Suche nach dem besten sightseeing spot handelt. Die Gegenüberstellung Pizzaofen – Hafen wird ausdrücklich symbolisch besetzt, und die Konzepte von Aussicht und Position werden vom erzählweltli159 Seghers 2001, 5. 160 Seghers 2001, 65. Die Schreibweise von ›Pizzeria‹ mit einem E oder A ist im Roman uneinheitlich.

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chen in den metaphorischen Raum überführt. Nur über die metaphorische Ebene lässt sich nachvollziehen, warum der Erzähler die eigentlich banale Sitzplatzentscheidung – banal vor allem angesichts der Katastrophen, die sich ansonsten in Europa ereignen – als letzte verbleibende »schwere Frage in diesem Leben« bezeichnet. So wird dieses Raumbild zur gebündelten Repräsentation des »zentrale[n] Dualismus von Flüchtigem und Beständigem«161, den schon Christina Thurner im Roman ausgemacht hat. Erzählweltliche und metaphorische Raumkonstruktionen gehen dabei wiederum eine Wechselwirkung ein: Zum einen ist das Spacing der Figuren in der Pizzeria entscheidend für die innere Einstellung zum Abfahren oder Bleiben162 , zum anderen lässt sich umgekehrt durch die Sitzplatzwahl jederzeit ablesen, ob die Figur gerade zum Abfahren oder Bleiben tendiert. Der Arzt etwa, von Anfang an abfahrtbereit, blickt regelmäßig in Richtung Tür und auf den Hafen163, Marie hingegen, durch die Schatten ihres Ehemanns an das Festland gebunden, sitzt am offenen Feuer, das ihr Gesicht färbt164. Der Erzähler, hin- und hergerissen zwischen Abfahren und Bleiben, sitzt zunächst vorwiegend in Blickrichtung Hafen, vor allem im Café Mont Vertoux165, in der Pizzeria hingegen bevorzugt er zunehmend den Anblick des offenen Feuers166, bis er 161 Thurner 2003, 90. 162 So wird im letztgenannten Zitat mit dem Hinweis auf den »Platz [...], auf dem Sie jetzt sitzen« deutlich, dass sich der Zuhörer anfangs für den Blick auf den Hafen entschieden hat. Diese Entscheidung markiert den Zuhörer latent als Transitär, was die wiederholten Vorgriffe des Ich-Erzählers bestätigt, sein Gegenüber »kenne ja« die Transitsituation in Marseille und der Welt nur allzu gut (vgl. Seghers 2001, 7, 36, 113, 121, 260). 163 »Nicht ich, der Arzt saß mit dem Gesicht zur Tür« (Seghers 2001, 125). Dass der Arzt auch bei den meisten anderen Zusammentreffen in Richtung Eingangstür und Hafen blickt, lässt sich daraus schlussfolgern, dass er immer der erste ist, der Marie durch die Tür der Pizzeria kommen sieht, während der Ich-Erzähler nur auf dessen Gesichtsausdruck reagiert: »Ich sah ihren Eintritt immer schon auf dem Gesicht des Arztes, dessen Ausdruck sich jäh veränderte« (Seghers 2001, 128). 164 Vgl. Seghers 2001, 168, 170, 240. 165 »Ich konnte von meinem Platz aus den Alten Hafen übersehen.« – »Ich ging in den Mont Vertoux. Mein gestriger Platz war frei.« – »Ich setzte mich gewohnheitsmäßig mit dem Gesicht zur Tür« (Seghers 2001, 88, 93, 107). 166 »Wir betraten die Pizzaria. Ich setzte mich mit dem Gesicht zum offenen Feuer.« – »Wir setzten uns dicht an das Pizzafeuer« (Seghers 2001, 125, 240).

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schließlich den Entschluss fasst, zu bleiben, und damit auch in der erzählten Welt eine endgültige Position einnimmt: »Ich setzte mich mit dem Rücken zur Tür, denn jetzt erwarte ich nichts mehr. [...] Ich sah nur noch auf das offene Feuer, das ich nie müde werde, zu betrachten.«167 Der erzählte Raum, das zeigt dieses Bild, ist in Transit von Anfang an keine bloße Hintergrundfolie der Handlung. Seine Struktur und das Spacing der Akteure entscheiden grundlegend über existenzielle Fragestellungen, die im Roman aufgeworfen werden, und ihre Beantwortung beeinflusst wiederum die räumliche Positionierung. Wenn sich nun der Erzähler am Ende in doppelter Hinsicht für die Aussicht auf das Bleibende entscheidet und das Transitorische verwirft, wenn zudem die ›Montreal‹, das Schiff der Abfahrenden, unterwegs untergegangen sein soll, so kristallisiert sich allmählich ein neues Deutungsmuster heraus: Transit, das ist eigentlich eine Erzählung über die Suche nach dem Bleibenden in einer Welt, in der das Transitorische längst universal geworden ist. Der Roman ist so selbstverständlich eine Erzählung über den Transit, wie Leo Tolstois Krieg und Frieden eine Erzählung über die russischen Kriegs- und Friedenszeiten ist; das Substanzielle des Textes beginnt jedoch erst jenseits dieser Fassade. Zu einem ähnlichen Schluss kommt Ute Gerhard, wenn sie den Roman in ihrem Aufsatz Literarische Transit-Räume als Musterbeispiel einer »Geschichte der Verwurzelung eines Flüchtlings«, als »Erzählung gegen die Zerstreuung«168 bezeichnet und feststellt: »Alle diese symbolischen Zuschreibungen [die Rede von der Abfahrtsbesessenheit, dem Abfahrtsfieber, dem Gewimmel usw., L.W.] kennzeichnen den Transit-Raum Marseille tatsächlich als Ort der Zerstreuung, allerdings [...] ganz deutlich als negativ akzentuiert. Die Identitätsfindung und Verwurzelung des Protagonisten verläuft über die Verwerfung des Nomadischen.«169

Tatsächlich erklärt sich über dieses Deutungsmuster, warum der Raum jenseits des Meeres als entleert dargestellt wird, der Raum auf dem rückwärtigen Festland hingegen als bedeutungsgeladen; auch erklärt sich, warum sich der Erzähler letztlich auf der Landkarte der Erzählung zurückbewegen muss, zurück in die Berge auf die Pfirsichfarm, weg vom Meer, um in seiner Entwicklung zum Wi-

167 Seghers 2001, 280. 168 Gerhard 2001, 101. 169 Gerhard 2001, 104.

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derstandskämpfer voranzukommen.170 Es ist die Rückwärtsgewandtheit des Exils, die hier zum Ausdruck kommt, auch inhaltlich im Festhalten an Werten wie Treue und Zuverlässigkeit sowie in der Ablehnung des »Imstichlassens«.171 Erst aus der Perspektive des Bleibenden kann der Erzähler seine Geschichte erzählen. Der Transit hingegen verbirgt den Blick auf das Wesentliche: »Ich schluckte einen bitteren Kaffee, dann lief ich über den Belsunce. Die Netze waren zum Trocknen gelegt. Ein paar Frauen, die ganz verloren aussahen auf dem riesigen Platz, flickten an den Netzen. Das hatte ich noch nie gesehen, ich war noch nie so früh über den Belsunce gegangen. Ich hatte bestimmt das Wichtigste in der Stadt noch nicht gesehen. Um das zu sehen, worauf es ankommt, muß man bleiben wollen. Unmerklich verhüllen sich die Städte für die, die sie nur zum Durchziehen brauchen.«172

Löst sich damit endlich das Rätsel um den ›bodenlosen‹ Roman, um das Labyrinth, den Spiegelsaal? Dass die Autorin des Romans eben keine Bleibende, sondern selbst eine Exilantin, eine ›Imstichlasserin‹ gewesen ist, und ihr Roman zu großen Teilen dort entsteht, wo nach Ansicht des Erzählers nur Leere herrschen kann, muss der Deutung von Transit als ›Erzählung der Verwurzelung‹ nicht zwangsläufig entgegenstehen. Doch größere Risse in dieser Deutung ergeben sich, bedenkt man, was der Protagonist auf der Cannebière in Marseille über sich und seine Mittransitäre sagt:

170 Vgl. Seghers 2001, 278 f. Damit erfüllt er auch das Anliegen Georgs, denn »Georg Binnet war der einzige Mensch, der mich nicht fragte, wohin ich wollte, sondern woher ich kam« (Seghers 2001, 59). Georg wird als Bleibender charakterisiert: »Ich war auch auf ihn eifersüchtig: auf seine Unverstricktheit, auf sein Daheimsein« (Seghers 2001, 175). 171 Diese Motive sind vielfach untersucht worden, so etwa zuletzt bei Ute Gerhard, die bilanziert, dass das »Nicht im Stich lassen« neben Treue und Zuverlässigkeit »zu den auffällig rekurrenten Aussagen gehört und die gesamte Konfiguration und Handlungssequenzen strukturiert« (Gerhard 2001, 103), oder bei Christiane Zehl Romero: »Das Motiv des ›Imstichlassens‹ durchzieht das Buch leitmotivisch und auf vielen Bedeutungsebenen, sowohl in seiner aktiven als auch in seiner passiven Form« (Zehl Romero 2000, 350). 172 Seghers 2001, 270.

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»Worin unterschied ich mich denn von ihnen? Daß ich nicht abfahren wollte? Auch das war nur halb wahr.«173

Ganz ähnlich heißt es zuvor auf der Cannebière: »Mir schien, ich sei unter allen Menschen in dieser Straße der Einzige, der nicht abfahren wollte. Doch war es auch zu viel behauptet, daß ich durchaus hätte bleiben müssen.«174

Weitere Ambivalenzen lassen sich finden. So urteilt der namenlose Grenzgänger zur Frage nach dem Blick auf den Hafen oder auf das offene Feuer: »Beides hat seine Vorteile«175. Tatsächlich ist der Blick auf den Hafen und die Tür ein ebenso wichtiges Moment für die Erzählung – weil immer noch etwas Neues geschehen kann, wie im Falle des Eintreffens von Marie.176 Und die Pizza, dieses Lebensmittel aus dem so positiv besetzten Ofen, ist zugleich ein »sonderbares Gebäck«, dem man nicht trauen sollte – »man erwartet etwas Süßes, da beißt man auf Pfeffer«.177 Das Haus der Bleibenden schließlich, das Haus der Familie Binnet – auch jenes ist »im Grunde [...] ein Ort des Dazwischen, fungiert es doch als Kontaktraum von Flüchtlings- und Alltagswelt sowie von deutscher, französischer und madagassischer Kultur«178. Als einheitliches Bild ergibt sich am Ende nur das Bild der Uneinheitlichkeit, der Zerrissenheit zwischen Abfahren und Bleiben, zwischen Hafen und Heim, zwischen Transit und Verwurzelung. Eben findet der Erzähler das Transit»Geschwätz« im Mont Vertoux noch »ekelhaft«, schon hebt er an zu einem Hohelied auf den Alten Hafen und den Transit, um im nächsten Moment schon 173 Seghers 2001, 95. 174 Seghers 2001, 53. 175 Seghers 2001, 65. 176 Dementsprechend endet die Narration, nachdem sich der Erzähler mit dem Rücken zur Tür setzt, »denn jetzt erwarte ich nichts mehr« (Seghers 2001, 280). 177 Seghers 2001, 5. Der Rosé, der dazu serviert wird, ist ähnlich heimtückisch: »Geben Sie acht mit dem Rosé. Er trinkt sich, wie er aussieht, wie Himbeersaft. [...] Und dann, wenn sie aufstehen, zittern Ihnen die Knie« (Seghers 2001, 6 f.). 178 Delfau 2010, 42. Vgl. hierzu Seghers 2001, 43 f.: »Man sah an den Knaufen am Treppengeländer, an den Resten von bunten Fliesen, an den abgeschabten Wappensteinen, daß das Haus einstmals einem vornehmen Manne gehört halte, einem Kaufmann oder Seefahrer. Jetzt wohnten Einwanderer aus Madagaskar darin, und noch ein paar Korsen, und Binnets.«

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wieder »Verzweiflung und Heimweh« zu verspüren.179 Gerade durch seine merkwürdigen Launen, durch seine permanente Zerrissenheit, wird der IchErzähler zur beweglichen Figur des Romans, und erst damit zum Souverän über den ganzen Raum der erzählten Welt. Nur er weiß über die ›Sitzplatzordnung‹ dieser Welt Bescheid, nur er kann seinem Gegenüber (und auch dem Leser) beide Blickrichtungen zur Auswahl stellen. Transit, das ist hier einerseits eine »Machttechnik«180 , eine gewaltsame Zuschreibung, ein Mechanismus der Vertreibung und Zerstreuung, aber eben auch der einzige offene Weg, der noch hinausführt aus dem besetzten Europa. Niemand kennt diesen Zwiespalt besser als der Erzähler selbst, nur er kann von einem Transit-Ort aus auf die ganze zerrissene, ›zerwimmelte‹ Stadt Marseille hinunterblicken und dennoch von Kontinuität träumen: »Ich sah von dem hochgelegenen Bahnhof herab auf die nächtliche Stadt, die nur schwach erleuchtet war aus Furcht vor den Fliegern. Seit tausend Jahren war sie die letzte Bleibe für unsereins, die letzte Herberge dieses Erdteils. Ich sah von der Bahnhofshöhe herunter ihr stilles Abgleiten in das Meer, den ersten Schimmer der afrikanischen Welt auf ihren weißen, dem Süden zu gerichteten Mauern. Ihr Herz aber, ohne Zweifel, schlug immer weiter im Takt Europas, und wenn es einmal aufhören würde zu schlagen, dann müssten alle über die Welt verstreuten Flüchtlinge auch absterben, wie eine gewisse Art Bäume, an welche Orte sie auch verpflanzt werden, gleichzeitig abstirbt, da sie alle aus einer Aussaat stammen.«181

Solange der Zwiespalt um Abfahren oder Bleiben besteht, solange bestehen auch die Geschichten in der »letzte[n] Herberge dieses Erdteils«. Das Herz der Hafenstadt schlägt gerade deshalb, weil Menschen hier ausharren, innerlich unschlüssig zwischen Europa und Übersee hin- und herpendelnd. Auch Transit lebt von jenem Zwiespalt. Der Versuch, eine Deutungshoheit über die Orte und Räume Marseilles zu erlangen, muss daher immer mit einem Verlust an Bedeutung einhergehen. Das zeigt sich auf drastische Weise auch im alltagsweltlichen Marseille, nur ein Jahr, nachdem Anna Seghers das Manuskript von Transit abgeschlossen hat: Auf Anweisung Heinrich Himmlers wird im Januar und Februar 1943 fast das gesamte Altstadtviertel um den Vieux Port herum gesprengt. 27 000 Bewohner 179 Vgl. Seghers 2001, 88 f. 180 Gerhard 2001, 105. 181 Seghers 2001, 246.

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werden zwangsumgesiedelt, 1 640 verhaftet und deportiert. Die Aktion wendet sich ausdrücklich gegen das im Roman beschriebene Gassengewimmel von Marseille. Die Nationalsozialisten stellen fest, dass die verwinkelte Altstadtarchitektur das Untertauchen von Flüchtlingen begünstigt und den Aufständischen Vorteile bei Straßenkämpfen bietet. Deshalb ersetzen sie das Gewimmel durch eine klare Raumordnung mit geraden, breiten Straßen.182 Glücklicherweise ist mit dem Roman Transit ein literarisches Dokument des ›alten‹ Marseille erhalten geblieben. Der Alte Hafen und seine angeschlossenen Orte existieren darin weiter, mitsamt den nicht immer einfach zu deutenden, aber immer lebendigen Räumen der Transitäre. Die Vision, die »über die Welt verstreuten Flüchtlinge«183 müssten mit ihrer uralten Hafenstadt gemeinsam absterben, erfüllt sich nicht, solange Transit die Zeiten überdauert.

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Bei dem Vorhaben, von Anna Seghers’ Hafenroman Transit zu Erich Maria Remarques Hafenroman Die Nacht von Lissabon überzuwechseln, zeigen sich sowohl Kontinuitäten in der literarischen Darstellung des Schauplatzes Hafen als auch Neuerungen. Das Potenzial zu neuen Darstellungsformen hat Remarques vorletzter Roman schon deshalb, weil er ebenfalls den Zweiten Weltkrieg zum Thema hat, jedoch erst in der Nachkriegszeit entsteht – vermutlich in den späten 1950er Jahren, bevor er 1962 erstmals in Buchform erscheint.184 Dieses Potenzial ist literaturwis182 »Both French and German criticism focused particularly on the quartier de l’hôtel de ville [...]. Situated to the immediate north of the Vieux Port, much of this quartier dated back to 600 B.C. and the original Greek settlers [...]. The Nazi authorities were worried that the narrow streets of this quartier could form the stage for street combats, that resisters could escape all too easily using the secret underground passageways linking these old buildings to each other and that a number of German deserters may have found shelter here« (Kitson 2002, 134 f.). Simon Kitson erwähnt in seiner Beschreibung der früheren Vielfalt und Multikulturalität Marseilles übrigens auch »the odor of pizzas baking in its pizzerias« (Kitson 2002, 134). 183 Seghers 2001, 246. 184 Thomas F. Schneider datiert die »erste Idee« zu Die Nacht von Lissabon auf den 31.08.1949 (vgl. Schneider 2001a, 87 ff.). Die erste Buchausgabe erschien im Dezember 1962.

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senschaftlich bislang jedoch kaum ausgelotet worden; an vorderster Stelle steht in der Remarque-Rezeption seit jeher Im Westen nichts Neues (1929), gefolgt von ebenfalls populären und verfilmten Romanen wie Arc de Triomphe (1946) oder Der schwarze Obelisk (1956). Der Lissabon-Roman – obwohl ebenfalls verfilmt185 und zu seiner Zeit ein Bestseller186 – gehört dagegen zu den am wenigsten untersuchten Werken des Autors; in Bibliografien zum Thema Remarque bleibt der Titel weitgehend ausgespart.187 Diese Forschungslücke ist umso erstaunlicher, als sich zwischen den Exilromanen Remarques und Seghers’ deutliche Parallelen finden lassen. Wer Transit und Die Nacht von Lissabon nacheinander liest, wird schnell auf die anfangs erwähnten Kontinuitäten stoßen – die Werke ähneln sich inhaltlich und formal außerordentlich. Ein Flüchtling, der die Identität eines Toten übernommen hat und dessen eigener Name unklar bleibt, erzählt einem anderen Flüchtling in einer Hafenstadt die Geschichte seines Lebens, weil er begreifen will, »wie alles kam«188; auf seiner Flucht schwimmt er durch den Rhein und fährt durch ganz Frankreich, bezwingt das Dickicht der Bürokratie und gelangt an Schiffstickets nach Amerika, die er jedoch unter anderem aufgrund einer tragischen Liebesgeschichte wieder abtritt, um schließlich in den Widerstand zu gehen – diese Geschichte lässt sich exakt so für beide Romane erzählen. Bis ins Detail lassen sich Parallelen finden: Seghers’ Hafenstadt besteht aus einem »Gassengewirr«, Remarques Hafenstadt aus einem »Gewirr von Treppen und Gassen«189 , Seghers’ 185 Der tschechische Regisseur Zbynek Brynych drehte 1971 den Fernsehfilm Die Nacht von Lissabon für das ZDF. Nach Ansicht Wilhelm von Sternburgs ist dies »vielleicht nach All Quiet on Western Front die beste Verfilmung eines Remarque-Romans« (Sternburg 2000, 416). 186 Ein Zeitungsartikel in der Welt zum 65. Geburtstag Remarques attestiert dem Schriftsteller, »daß seine Bücher wohl immer wieder großen Publikumserfolg haben, sein letztes, ›Die Nacht von Lissabon‹, kurvt seit Monaten an der Verkaufsspitze« (Luft 1963, Abs. 5). 187 Vgl. Westphalen 1988, Schneider 2001b, Murdoch 2006. 188 Remarque 2009, 16: »Ich begreife jetzt noch nicht, wie alles kam. Deshalb muß ich mit jemand darüber reden. [..] Wenn ich mit jemand darüber rede, wird es noch einmal da sein. Es wird mir dann ganz klarwerden.« Bei Seghers heißt es: »Ich möchte gern einmal alles erzählen, vom Anfang bis zu Ende« / »Ich begriff ihre Handlungen, weil ich sie endlich einmal verfolgen konnte von dem ersten Gedanken ab bis zum dem Punkt, wo alles kam, wie es kommen mußte« (Seghers 2001, 6, 26). 189 Seghers 2001, 107 / Remarque 2009, 14.

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Hauptfigur ist gelernter Monteur, Remarques Hauptfigur ein »Baumann«190, beide sitzen in einem Lokal an der Cannebière, während der Wind durch die Straßen fegt191. Auf diese Parallelen ist bislang eher beiläufig hingewiesen worden; so stellt Heinrich Placke in einem Aufsatz zu Die Nacht von Lissabon fest, der Roman »erinnere« in einigen Episoden an Transit.192 Auch zwischen den Biografien von Seghers und Remarque gibt es Parallelen, wenngleich sie sich vermutlich nie persönlich begegnet sind. Die Bücher beider Autoren werden am 10. Mai 1933 von den Nationalsozialisten als entartet bezeichnet und verbrannt. Wenige Jahre später wählen beide Autoren den Weg ins Exil, beide flüchten zunächst in die Schweiz und schließlich über Frankreich nach Amerika. Die Bedingungen ihrer Überfahrten könnten jedoch unterschiedlicher kaum sein: Während Anna Seghers auf ihrem Frachtschiff den Ozean mehr tot als lebendig überquert, genießt Erich Maria Remarque durch seinen Weltbestseller Im Westen nichts Neues bereits in den 1930er Jahren außerordentliche Privilegien. Als er im Sommer 1939 beschließt, aus Europa auszuwandern, reist er von seiner Villa am Lago Maggiore zunächst zu seiner Geliebten Marlene Dietrich nach Südfrankreich, trifft dann am 29. August 1939 in Paris ein und reist über England auf dem Luxusliner ›Queen Mary‹ ungestört weiter bis New York. Am 13. September erreicht er Los Angeles und bleibt bis 1948 in den USA. Die ›Queen Mary‹ war damals das schnellste Übersee-Passagierschiff der Welt193; Remarques Übersee-Transit dürfte also weniger als vier Tage gedauert haben, während Anna Seghers bekanntlich mehr als drei Monate unterwegs war. Die privilegierten Lebensbedingungen zwischen Schweizer Prominenz und Hollywood-Jetset haben dazu geführt, dass Remarque sowohl von Zeitgenossen – darunter Klaus Mann und Bertolt Brecht – als auch in von Literaturwissen190 Baumann ist wahrscheinlich der ursprüngliche Familienname von Josef Schwarz; seine Frau heißt Helen Baumann, und sie gibt an, seinen Nachnamen behalten und »verteidigt« zu haben (vgl. Remarque 2009, 72, 170 f.). Die Parallele zum »Monteur« (Seghers 2001, 16) ist insofern interessant, als in der Forschung zu Transit darauf hingewiesen wurde, dass der Beruf des Monteurs ein Hinweis auf die montagehafte Erzählkunst von Anna Seghers sein könnte (vgl. Walter 1984, 56 ff.). 191 Vgl. Remarque 2009, 216 / Seghers 2001, 97. 192 Vgl. Placke 2001, 91. Dass Remarque Transit nicht gelesen hat, wie ein nachfolgender Hinweis Plackes vermuten lässt – er hebt hervor, dass sich Seghers’ Roman »nicht in Remarques Nachlaß findet« –, ist angesichts der Vielzahl an Berührungspunkten eher unwahrscheinlich. 193 Siehe Anmerkung 39.

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schaftlern als Schriftsteller beschrieben wurde, der »im sicheren Exil ein angenehmes, vor allem finanziell sorgloses Leben führte« und auch politisch »mehr durch Glück als aus Überzeugung auf die richtige Seite gelangt war«.194 Helga Schreckenberger hat in ihrem Aufsatz Erich Maria Remarque im amerikanischen Exil versucht, dieses Bild zurechtzurücken; sie nennt eine Reihe von politischen Aktivitäten des Autors, »die sehr wohl ein Engagement verraten, zwar kein von einem parteipolitischen Programm informiertes, sondern eines, das seiner humanistischen und pazifistischen Weltanschauung entsprach«195. Auch wenn sich die konkrete Exilfahrt bei Remarque anders darstellt, ist die Exilerfahrung ebenso eine der »unterdrückte[n] Ungeduld nach Europa« und der Ohnmacht vor den Geschehnissen dort, etwa als sein Geburtsort Osnabrück »mit 50000 Incediary [sic] Bomben u. 2-tons Bomben in Ruinen und Flammen gelegt« wird.196 Und so ist auch sein Schreiben von den Themen Flucht, Emigration und Transit geprägt, bis weit in die Nachkriegszeit hinein. Über 30 Jahre lang beschäftigt ihn »das Schicksal der Unbehausten und Gejagten in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts mit dem Zentrum Deutschland«197: Zwischen 1938 und 1970 entsteht Remarques »Tetralogie der Emigrantenromane«198, in die sich auch Die Nacht von Lissabon einreiht. Die Publikationsgeschichte des Romans trägt ebenfalls Spuren des Transitorischen, wenngleich weniger ausgeprägt als im Fall von Seghers’ Romanveröffentlichung inmitten der Nachkriegswirren. Auch Die Nacht von Lissabon wird zunächst als Fortsetzungsroman in einer Zeitung publiziert, und zwar in der Welt am Sonntag – allerdings ganze 16 Jahre nach Kriegsende, zwischen dem 15. Januar und dem 21. Mai 1961. Zwar gilt auch hier, dass die strukturellen Bedin194 Vgl. Schreckenberger 1998, 251. Ein Höhepunkt der literaturwissenschaftlichen Kritik an Remarque ist das bei Schreckenberger nicht erwähnte Buch Erich Maria Remarque – Leben und Werk des DDR-Verlagsgutachters Alfred Antkowiak, der den Autor als »snobistischen Bourgeois« charakterisiert und den Roman Die Nacht von Lissabon als »unglaubwürdig«, »niemals wirklichkeitsecht« und »zusammengewürfelt« bezeichnet (vgl. Antkowiak 1977, 144 ff.). 195 Schreckenberger 1998, 252. 196 Tagebuchvermerke vom 03.12.1944 und 24.03.1945. Die unveröffentlichten Tagebücher Remarques werden in New York aufbewahrt; Schreckenberger zitiert sie in ihrem Aufsatz (vgl. Schreckenberger 1998, 264, 266). 197 Westphalen 2009, 263. 198 Westphalen 2009, 262. Gemeint sind neben dem Lissabon-Roman die Werke Liebe deinen Nächsten (1941), Arc de Triomphe (1946) und Schatten im Paradies (1971).

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gungen des Fortsetzungsromans und des Mediums Zeitung die transitorische Wirkung des Textes tendenziell verstärken. Die direkten texträumlichen Bezüge zwischen Roman-, Nachrichten- und Werbetexten sind jedoch im Vergleich zu den bisher untersuchten Transittexten eher schwach.199 Die eigentlichen Hauptthemen des Romans, der Zweite Weltkrieg und die Flüchtlingsbewegungen, finden in den Zeitungstexten von 1961 kaum Erwähnung, so dass sich die von Volker Mergenthaler theoretisierten »narrativen Zwischenräume«200 hier nicht in dem Maße eröffnen wie im Falle der Publikationen von Hotel Savoy oder Transit. Bemerkenswerter im Hinblick auf den Textraum und seine transitorischen Merkmale ist die bereits erwähnte Publikation im Rahmen einer literarischen Tetralogie. Die Werke Liebe deinen Nächsten, Arc de Triomphe, Die Nacht von Lissabon und Schatten im Paradies lassen sich nicht nur aufgrund des gemeinsamen Exilthemas zusammenfassen. Sie bilden vielmehr eine kontinuierliche Abfolge, sowohl in zeitlicher Hinsicht201 als auch in Bezug auf die Schauplätze: Am Ende von Arc de Triomphe wird die Hauptfigur Ravic in ein französisches Internierungslager gebracht – in einem ebensolchen Lager findet sich Josef Schwarz in Die Nacht von Lissabon wieder. Am Ende des Lissabon-Romans wiederum steht die Überfahrt des Ich-Erzählers von Lissabon nach New York – über ebenjene Schiffsroute erreicht Robert Ross zu Beginn von Schatten im Paradies die USA. Die Figuren werden ausgetauscht, aber ihre Schicksale ähneln sich, bis in die Details: Schwarz und Ross haben ihre Namen aus Pässen von Toten, und beide nennen ihren Weg durch Europa die »Via dolorosa«202. Dennoch werden eigenständige Geschichten erzählt. Es handelt sich hier also nicht um Fortsetzungen, sondern um Übergänge zwischen den Romantexten. Dieses Kompositionsprinzip ist nicht neu, es liegt gewissermaßen im Wesen einer Tet199 Ein zeitgeschichtlicher Bezug zu den 1960er Jahren deutet sich immerhin an, wenn der Ich-Erzähler im letzten Romankapitel durch das Europa der Nachkriegsjahre streift, in dem sich der Kalte Krieg bereits abzeichnet (vgl. Remarque 2009, 256). Damit wird ein Konflikt thematisiert, der 1961 – dem Jahr des Mauerbaus und der Invasion in der Schweinebucht – hochaktuell war und auch die Berichterstattung der amerikafreundlichen Welt am Sonntag im Laufe der Romanveröffentlichung dominiert. 200 Mergenthaler 2011, 58. 201 Das erste Werk spielt ungefähr zwischen 1935 und 1939, das zweite 1938/39, das dritte 1939-42, das vierte nach 1942. 202 Remarque 2009, 187 f. und Remarque 1971, 5.

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ralogie. Dennoch ergeben sich hier insbesondere im Kontext der ohnehin transitorischen Exilthematik interessante Effekte; das Transitorische weitet sich über die Schwellen des Einzeltextes und auch des erzählten Einzelschicksals hinaus. Doch nur im dritten Teil der Tetralogie, eben in Die Nacht von Lissabon, wird der Transit-Ort Hafen zum zentralen und überaus symbolträchtigen Schauplatz. Während Anna Seghers das Marseiller Hafengelände erst kunstvoll zu einem Ort der Massenflucht über den Ozean umgestalten muss, ist das Hafenviertel von Lissabon bereits in der Alltagswelt der 1940er Jahre der zentrale Ort der transatlantischen Flüchtlingsbewegungen. An diese Entwicklung hat zuletzt der Regisseur Pavel Schnabel in seinem Dokumentarfilm Lissabon – Hafen der Hoffnung von 1994 eindrücklich erinnert. In dem Film berichten deutschsprachige Emigranten des Zweiten Weltkriegs, wie sie über die portugiesische Grenze den Nationalsozialisten entkommen und in Lissabon eine provisorische Bleibe finden konnten. Portugal nimmt in der fürsorglichen Behandlung von Flüchtlingen eine Sonderrolle ein.203 Dennoch sind die Flüchtlinge, die in Portugal ankommen, von ihrem permanenten Transitzustand nachdrücklich geprägt. Dies hebt eine Exilantin hervor, die über Lissabon nach Kanada fliehen konnte: »Wir sind ja immer wieder weg. Von einem Hotel in ein anderes boarding house und sofort und so. [...] Bevor wir immer gehört haben, dass die Nazis weiterkommen südlich, [...] dann haben wir immer wieder neu gepackt und sind wieder neu losgezogen. Und manchmal konnten wir nicht bleiben, wo wir waren, dann mussten wir wieder weg. Das war immer wie ein gypsy, man ist immer on the run. We were on the run continuously, wie man sagt.«204

Eben ein solches Leben on the run beschreibt Remarque in seinem Roman. Die ›Nacht von Lissabon‹, in der die Exilgeschichte des Josef Baumann alias Josef Schwarz erzählt wird, ist vermutlich die Nacht vom 13. auf den 14. Juni 1942.205 203 Einer der Emigranten hebt noch knapp 50 Jahre nach Kriegsende dankbar hervor: »Das einzige Land [...], das die Tür offen gehabt hat für Tausende von Menschen, die in ihrer Verzweiflung aus Europa heraus wollten oder mussten – das war dieses Land hier. Was Portugal getan hat, hat kein anderes Land getan« (Schnabel 1994, 00:14:12 bis 00:14:31). 204 Schnabel 1994, 00:26:24 bis 00:26:59. 205 Der Ich-Erzähler erwähnt an einer Stelle die »Festlichkeit«, die »hier am Tage vorher gefeiert worden sein« musste, mit »Girlanden« und »Lampen« überall auf den Stra-

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Es ist eine friedliche Nacht, in der sich Lissabon so präsentiert, wie sie die Zeitzeugen beschrieben haben: ohne Bomben, ohne Verdunklung, ganz im »sorglosen Licht«, man »glaubt [...], jemand habe vergessen, es abzuschalten«, stellen die Hauptfiguren gleichermaßen fest, die »noch an das verdunkelte Europa gewöhnt« sind, das »Europa des zwanzigsten Jahrhunderts«.206 In diesem Europa ist Lissabon ein Ruhepunkt und doch kein Bleibeort, weder für den Ich-Erzähler noch für sein Gegenüber. »Ich starrte auf das Schiff«207 , mit dieser eigenartigen Mischung aus fixiertem Blick und beweglichem Objekt beginnt der Roman, und wie schon in den anderen Transit-Texten ist es auch hier der Schwebezustand zwischen Hier und Dort, zwischen Bleiben und Abfahren, der das Geschehen bestimmt. Noch bevor der Schauplatz Lissabon erwähnt wird, ist das Schiff bereits im Blick, und nach einer kurzen Stadtbeschreibung wendet sich der Erzähler dem Passagierdampfer erneut zu. Die Beschreibung der Schiffsbeladung endet in einem bildhaften Vergleich: »Das Schiff rüstete sich zur Fahrt, als wäre es eine Arche zur Zeit der Sintflut. Es war eine Arche. Jedes Schiff, das in diesen Monaten des Jahres 1942 Europa verließ, war eine Arche. Der Berg Ararat war Amerika, und die Flut stieg täglich. Sie hatte Deutschland und Österreich seit langem überschwemmt und stand tief in Polen und Prag; Amsterdam, Brüssel, Kopenhagen, Oslo und Paris waren bereits in ihr untergegangen, die Städte Italiens stanken nach ihr, und auch Spanien war nicht mehr sicher. Die Küste Portugals war die letzte Zuflucht geworden für die Flüchtlinge, denen Gerechtigkeit, Freiheit und Toleranz mehr bedeuteten als Heimat und Existenz.«208

ßen (vgl. Remarque 2009, 117). Dieses Fest ist wahrscheinlich das Fest des Heiligen Antonius, das vor allem in Lissabon, dem Geburtsort Antonius’, ausgiebig gefeiert wird – unter anderem mit Dekorationen aus Girlanden und Laternen. Dieses Fest findet jährlich am 13. Juni statt; das Jahr 1942 wird zu Beginn der Erzählung erwähnt (vgl. Remarque 2009, 9). 206 Remarque 2009, 9, 34. In Schnabels Dokumentarfilm berichten zwei Lissabonner Emigranten Ähnliches: »›Keine Bomben, keine Verdunklungen [...] und kein Hunger.‹ – ›Also, im Vergleich zu dem, was sich in den meisten anderen Ländern Europas und Asiens abgespielt hat, waren wir im Paradies. [...] Und vor allem im Vergleich zu dem, was unseren Familienangehörigen geschehen ist.‹« (Schnabel 1994, 00:50:17 bis 00:50:47). 207 Remarque 2009, 9. 208 Remarque 2009, 9.

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Damit wird wieder einmal am Anfang einer Transiterzählung ein Raumbild modelliert, das zentrale Aspekte des Romans vorwegnimmt. Das Motiv der Flut erinnert an die Strömungsmotive bei Seghers, hier sind es jedoch nicht die Flüchtlinge, die den Strom durch Europa bilden, sondern die nationalsozialistische Ideologie, die das europäische Festland überschwemmt. Ähnlichkeiten gibt es auch im Changieren zwischen Metapher und Realität, zwischen Mythos und Alltag, angeregt durch die jahrtausendealte Geschichte der Seefahrt in Europa, die am Hafen ihren Brennpunkt findet. Hier ist es die Geschichte von der Arche Noah, die in das Spiel zwischen metaphorischem und realweltlichem Gehalt eingebunden wird, und die mit der Sintflut eines der drastischsten Flutbilder der abendländischen Kultur bereithält. Während der Erzähler auf das Schiff blickt, vermischt sich das Sinnbild vom Untergang Europas mit der tragischen Realität. Auch an anderen Stellen werden biblische oder mythische Motive eingebunden, wenngleich diese Strategie insgesamt weniger konsequent verfolgt wird als bei Anna Seghers.209 Gleichzeitig zeichnet der Erzähler in dieser Szene ein großflächiges Bild des Raums der erzählten Welt. Dass es hier um das große Ganze gehen soll und nicht um kleinformatige Episoden, wird deutlich, wenn in nur wenigen Sätzen ein ganzes Dutzend europäischer Länder und Städte durchstreift wird, um vorzeitig an der Küste Portugals zu enden. Und so ist dann auch der Roman genau das: ein Durchstreifen Europas, mit einer Vielzahl von Ortswechseln, on the run continuously. Viel stärker als Seghers’ Roman basiert der Text auf dieser weitläufigen Emigrationsbewegung: In Transit vermeldet die Hauptfigur bereits nach wenigen Kapiteln die Ankunft am Marseiller Hafen, in der Binnenerzählung von Die 209 Eine durchgehende »zweite Handlungsschicht«, eine »Mythen-Ebene«, wie sie HansAlbert Walter für Transit festgestellt hat (vgl. Walter 1984, 92 ff.), ist in der Nacht von Lissabon nicht erkennbar. Die biblischen oder mythischen Verweise werden eher sporadisch eingesetzt und ergeben kein schlüssiges Gesamtbild; so ist das Meer in der Arche-Noah-Metapher zuerst negativ besetzt, wird dann jedoch positiv gewendet, wenn es mit dem Hoffnungsort Amerika gleichgesetzt wird (vgl. Remarque 2009, 14). In der Analogie der Flüchtlingssituation zum Auszug der Israeliten aus Ägypten ist das Meer schließlich wieder negativ konnotiert. Dabei ist es »zu beiden Seiten das Meer der französischen und spanischen Polizei«, das die Flüchtlinge bedroht (Remarque 2009, 193). Der ungeordnete Zugriff auf Mythen und Überlieferungen zeigt sich besonders deutlich, wenn Schwarz über seine Flucht durch Frankreich sagt: »Die Odyssee begann [...]. Die Wanderung durch die Wüste. Der Zug durch das Rote Meer. Sie kennen ihn sicher auch« (Remarque 2009, 196).

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Nacht von Lissabon hingegen ist die Hauptfigur bis zuletzt unterwegs, quer durch Europa. Im Umkehrschluss bedeutet das für den Schauplatz Hafen eine Einschränkung: Der Roman wird zwar am Hafen erzählt, spielt aber im Erzählten der Hauptfigur keine große Rolle, da sie den Hafen eben erst ganz zuletzt erreicht. Der Hafen ist also innerhalb der erzählten Welt nur in der Rahmenhandlung präsent. Dort jedoch wird er wie in Transit als zentraler, das Geschehen bündelnder Schauplatz entworfen, als Schau-Platz im wörtlichen Sinne. Obwohl die beiden Hauptfiguren in dieser Nacht des 13. Juni 1942 häufig die Kneipen wechseln, bleibt der Hafen ständig im Blickfeld des Ich-Erzählers. Es ist die Lage des Hafens am unteren Ende der Stadt, die den Blick lenkt: »Ich wandte mich um und sah zum Hafen hinunter. Da unten war der Fluß, und der Fluß war die Freiheit, er war das Leben, er mündete in das Meer, und das Meer war Amerika.« »Wir fanden einen Platz am Ende der Terrasse. Man konnte auf Lissabon hinabsehen, auf die Kirchen im blassen Licht, die erleuchteten Straßen, den Hafen, die Docks und auf das Schiff, das eine Arche war.« »Die Frau im Abendkleid am Nebentisch stand auf. Sie blickte über die Veranda auf die Stadt und den Hafen hinunter.« »Lissabon hat am Tage etwas naiv Theatralisches, das bezaubert und gefangennimmt, aber nachts ist es das Märchen einer Stadt, die in Terrassen mit allen Lichtern zum Meere herabsteigt wie eine festlich geschmückte Frau, die sich niederbeugt zu ihrem dunklen Geliebten.« »Ein Karren rumpelte unsichtbar, einige Gassen entfernt, Fischerboote blühten wie gelbe und rote Wasserrosen auf dem unruhigen Tejo, und unten lag, bleich und still jetzt und ohne künstliches Licht, das Schiff, die Arche, die letzte Hoffnung, und wir stiegen weiter hinab zu ihr.« »Wir gingen zum Hafen hinunter.«210

Hier zeigt sich, wie wichtig es dem Erzähler ist, immer wieder auf das Gefälle der Straßen und die daraus resultierende Ausrichtung zum Hafen hinzuweisen. Während die Kneipen lose über das Stadtviertel verteilt sind, und die Hauptfiguren immer wieder bei den Angestellten erfragen müssen, wo sich das nächste noch geöffnete Lokal befindet, ist der Hafen ein permanenter Orientierungspunkt.

210 Remarque 2009, 14, 15, 27, 114 f., 161, 210, Hervorhebungen L.W.

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Abbildung 13: Stadtplan von Lissabon mit einer Projektion des AlfamaViertels und literarischer Orte aus ›Die Nacht von Lissabon‹

Quelle: Eigene Darstellung. Kartendaten von Google und Teleatlas. Online verfügbar unter http://goo.gl/8gomw (Stand vom 08.11.2014)

Abbildung 14: Blick vom Alfama-Viertel auf Teile des Hafens von Lissabon (2009)

Quelle: iStockphoto.com/A40757

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Wie bei Anna Seghers’ Hafenkonstruktion handelt es sich auch hierbei keineswegs um ein ›wirklichkeitstreues‹ Abbild der Hafenszenerie von Lissabon, sondern um eine literarische Montage, die den Hafen zum zentralen Blickfang stilisiert. Das Stadtviertel, in dem sich die Protagonisten bewegen, lässt sich dem alltagsweltlichen Alfama-Viertel von Lissabon zuordnen, das noch heute für seine vielen Kneipen und Fadolokale bekannt ist.211 Auch dieses liegt am Hafen – allerdings an kleineren Anlegern und nicht am Überseehafen. Es ist nicht möglich, die Überseeschiffe vom Alfama-Viertel aus ständig im Blick zu haben; Remarque hat seinen Figuren den Überseehafen also ein Stück weit ›ins Blickfeld geschoben‹.212 Diese explizite Orientierung oder Perspektive Richtung Hafen wird auch bei Remarque nicht nur als geografisches Kriterium thematisiert. Sie wird symbolisch besetzt: Die Perspektive Richtung Meer ist die Perspektive auf ein besseres Leben. Solange das Schiff noch in Blickweite ist, gibt es Hoffnung – sobald sie verschwindet, wird der Ich-Erzähler schnell nervös: »Ich war nervös, seit wir hier saßen. Es lag wahrscheinlich an dem geschlossenen Raum mit den vielen Vorhängen [...]. Ich war auch nervös, weil ich das Schiff nicht mehr sah. Wer wußte, ob es nicht nachts noch die Anker lichtete, früher als angesagt war, wegen irgendeiner Warnung.«213

Immer wieder muss der Ich-Erzähler an dieses Schiff denken, das ihn und seine Frau nach Amerika bringen soll; sogar die Tanzmusik in einer der Kneipen erinnert ihn »an die fernen Sirenen eines abfahrenden Schiffes«214. Der Ozeandampfer am Kai symbolisiert für ihn die Hoffnung schlechthin. Das Potenzial der Überseeschiffe als ›Rettungsboote‹ wird anders als bei Seghers weder durch Gefahren während der Überfahrt in Frage gestellt noch durch Gerüchte verschleiert. Das Schiff zu erreichen, ist bereits gleichbedeutend mit Rettung. Dies zeigt sich besonders in der Formulierung »der Fluß war die Freiheit, er war das

211 Die Verortung ergibt sich aus der Nähe zu den Orten Praça do Comercio und Kastell St. George, die im Roman erwähnt werden (vgl. Remarque 2009, 14). Siehe Abbildungen 13 und 14. 212 Im alltagsweltlichen Stadtbild von Lissabon sind die Anlegestellen für Überseeschiffe etwa einen Kilometer entfernt (vgl. Neumeier 2011). 213 Remarque 2009, 36. 214 Remarque 2009, 64.

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Leben, er mündete in das Meer, und das Meer war Amerika«215: Wer Lissabon 216 per Schiff verlässt, ist sofort gerettet und wenig später »ohne Schwierigkeiten« in Amerika. Zwar wird das Meer bei Remarque ebenfalls als Leerstelle entworfen – auch sein Roman ist kein Seefahrerroman, als Schauplatz der Handlung findet das Meer nicht statt217 –, diese Leerstelle ist jedoch erstens wesentlich leichter zu überwinden als bei Seghers218, und führt zweitens auch nicht in die Zerstreuung, sondern ist klar gerichtet – eben in Richtung Amerika. Diese Gerichtetheit ist geradezu übereindeutig ausgestaltet, denn jenseits des europäischen Festlandes gibt es offenbar nur Amerika (genauer: die USA)219 , das »gelobte Land«220 schlechthin. Andere Fluchtrouten werden konsequent ausgeblendet.221 Ins Extrem wird diese Raumkonstruktion gesteigert, wenn Josef Schwarz den freien Sternenhim-

215 Remarque 2009, 14. 216 Remarque 2009, 255. 217 In Lissabon sagt Schwarz: »Wir sind bis zur Küste abgedrängt worden. Vor uns ist nur noch das Meer« (Remarque 2009, 162, Hervorhebung L.W.). Die zuvor zitierte Formulierung »das Meer war Amerika« stellt zwar den Ansatz einer Semantisierung dar, es gibt jedoch keine Hinweise dafür, dass das Meer über die abstrakte Rettungsvorstellung hinaus ›amerikanisiert‹ oder anderweitig besetzt ist. 218 Zwar erwähnt der Erzähler zu Beginn das »Gestrüpp der verweigerten Ein- und Ausreisevisa, der unerreichbaren Arbeits- und Aufenthaltsbewilligungen, der Internierungslager, der Bürokratie« (Remarque 2009, 9), jenes Gestrüpp wird jedoch nicht weiter ausgestaltet – ganz im Gegensatz zu Transit, in dem das Labyrinthische der Ortsstrukturen ein zentrales Merkmal der Erzählung darstellt. 219 ›Amerika‹ steht in Die Nacht von Lissabon in der Regel synonym für die USA, nicht für den gesamten Kontinent. Werden amerikanische Orte, Personen und Objekte genannt (etwa Konsulate, Soldaten oder Visa), sind damit die Entsprechungen für die Vereinigten Staaten gemeint. Besonders deutlich wird dies, wenn die Flagge der USA als Flagge Amerikas bezeichnet wird oder ein Amerikaner vom Broadway berichtet (vgl. Remarque 2009, 125, 218). 220 Remarque 2009, 9, 193, 248. 221 Mit Ausnahme der Schiffsroute nach Oran, die aber nur von einem amerikanischen Touristen benutzt wird (vgl. Remarque 2009, 219). In Bordeaux ist ebenfalls die Rede von Schiffen Richtung Afrika, was sich jedoch schnell als Falschmeldung herausstellt (vgl. Remarque 2009, 201 ff.).

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mel über der Schweiz als »Flagge eines sich jede Minute erweiternden Amerikas des Universums« imaginiert.222 Ein erster Blick auf die erzählte Welt von Die Nacht von Lissabon zeigt also: Der zentrale Schau-Platz, der zentrale Bezugs- und Orientierungspunkt der Rahmenhandlung ist der Hafen Lissabon, der die Raumkonstruktionen zwischen dem untergehenden Europa und dem Hoffnungsort Amerika bündelt. Der Hafen erhält erstens einen Anschluss Richtung Amerika; die Flucht in diese Richtung wird als alternativlos und buchstäblich ›naheliegend‹ markiert. Zumindest für Remarques Ich-Erzähler ist klar: Entweder man erreicht das Schiff, oder man ist verloren – und wenn man es erreicht, fährt es immer nach Amerika. Der Eindruck der nahen Rettung wird zweitens durch die Ausgestaltung der Anschlussorte in Lissabon unterstützt: Durch die erhöhte Lage des Kneipenviertels bleibt der Hafen mit seinen Schiffen ständig im Blickfeld, und dank des Straßengefälles ist er besonders leicht erreichbar. Drittens – und hier entfaltet der Roman seine größte Komplexität – hat der Hafen Lissabon einen rückwärtigen Anschluss an Europa, über den die Flüchtlinge dort eintreffen, von der nationalsozialistischen Sintflut getrieben. Lissabon ist damit insbesondere ein Ort des Rückblicks auf Europa, am Rande des alten Kontinents. Mehr noch als vom Durchstreifen Europas erzählt der Roman von einem Rückblick auf das Durchstreifen Europas. Dieses Retrospektive der Er222 Remarque 2009, 125. Es fiele leicht, die unterschiedliche Konstitution des Reise- und Fluchtraums zwischen den Kontinenten sowie die Bewertung der USA in Transit und Die Nacht von Lissabon auf die Unterschiede in den Biografien der beiden Autoren und die gegensätzlichen Bedingungen ihrer eigenen Überfahrten zurückzuführen. So augenscheinlich diese Zusammenhänge sind, sollen sie hier nur angedeutet bleiben, da – wie gezeigt wurde – die Vermischung von Autoren- und Erzählerstimme insbesondere im Fall von Seghers und Remarque problematisch ist. Auch Remarques persönliches Verhältnis zu den USA war nicht so unkritisch, wie es die zitierten Romanpassagen vermuten lassen; Franz Baumer zitiert einen Brief, in dem Remarque über die Naivität eines Landes schreibt, das einen Krieg führt, »von dem es nichts sah und der eine halbe Welt von ihm entfernt vor sich ging« (Baumer 1976, 79 f.). Die Amerikaner in Die Nacht von Lissabon haben ein ähnlich naives Bild vom Krieg (»Ich sah das frische, ahnungslose Gesicht vor mir und konnte es kaum ertragen«, Remarque 2009, 218). Der letzte Roman Remarques, Schatten im Paradies, der thematisch unmittelbar an Die Nacht von Lissabon anschließt, enthält ebenfalls kritische Passagen über die USA, die jedoch größtenteils bei der Veröffentlichung nach Remarques Tod herausgekürzt wurden (vgl. Koch 2011, Abs. 9).

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zählung wird dem Leser immer wieder ins Gedächtnis gerufen, wenn die Binnenerzählung unterbrochen und die Dialogsituation in Lissabon reaktiviert wird. Auch in der Binnenerzählung spielen die Erinnerung und das Zurückblicken, oder das »Sich-Erinnern und Aussprechen«, wie es Heinrich Placke im Titel seines Aufsatzes über den Lissabon-Roman genannt hat223 , eine große Rolle. Diese Dynamik des Zurück ist neben den Transitbewegungen zwischen Kneipenviertel und Hafen sowie Europa und Amerika die wichtigste Dynamik des Romans. Wie Helga Schreckenberger anmerkt, stellt Die Nacht von Lissabon »formal das komplexeste Erzählwerk Remarques«224 dar. Die Komplexität ist aber weniger auf die von ihr angeführten zwei verwobenen Erzählebenen zurückzuführen; auch etwa Remarques erster Exilroman Liebe deinen Nächsten alterniert zwischen zwei Erzählebenen, die »die vom ständigen Hin und Her zwischen den verschiedenen Fluchtländern bestimmte Handlungsstruktur des Romans«225 spiegeln. Die komplexe Struktur des Lissabon-Romans ergibt sich vielmehr aus den verwobenen Ebenen des Rückwärtigen. Die erste und auffälligste Form des Rückblicks ergibt sich aus der erwähnten Dialogsituation in Lissabon zwischen dem Ich-Erzähler und seinem Gegenüber Josef Schwarz, der auf sein Leben als Flüchtling zurückblickt. Die Vermittlung der »Geschichte einer Liebe«226 zwischen Schwarz und seiner Frau Helen geschieht nicht bloß aus Langeweile oder aus einer Laune heraus. Das Zurückblicken ist vielmehr die fundamentale Voraussetzung für die Entwicklung des Geschehens. Während man bei Seghers nur vermuten kann, dass das namenlose Gegenüber in der Pizzeria ein konkretes Interesse an der Geschichte Seidlers hat, basiert in der Nacht von Lissabon die gesamte Erzählung darauf, dass der IchErzähler unmittelbar vor seiner Rettung steht, sich diese Rettung aber erst vollziehen kann, wenn Josef Schwarz seine Geschichte zu Ende erzählt hat. Um nach Westen zu kommen, muss der Ich-Erzähler zuerst Richtung Europa zurückblicken, mit den Augen Schwarz’. Erst mit dessen Erzählung im Gepäck erhält er die Schiffstickets – erst dann ist er gerettet. Dies ist der besondere Kunstgriff dieser Erzählung: Der Transit ins Exil braucht hier die Erinnerung an das Zu-

223 Placke 2001. 224 Schreckenberger 2001, 35. Brian Murdoch beginnt seine Erzähltextanalyse ebenfalls mit: »The structure of Die Nacht von Lissabon is relatively complex« (Murdoch 2006, 130). 225 Schreckenberger 2001, 31. 226 Remarque 2009, 211.

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rückliegende nicht nur auf einer ideellen, sondern auch auf einer existenziellen Ebene. Noch bemerkenswerter wird dieser Kunstgriff, bedenkt man, dass sich das erzählerische Mittel innerhalb der Geschichte von Josef Schwarz wiederholt: Auch darin findet ein Zurückblicken statt, und wiederum ist die Erinnerung an das Zurückliegende konstitutiv für die Entwicklung des Geschehens. Als Josef zu Beginn seiner Erzählung im Paris von 1938 lebt, ist gewissermaßen ein narrativer Nullpunkt erreicht – er hat »aufgegeben« und »abgeschlossen«: »Die Deutschen würden kommen und mich holen. Das war mein Schicksal. Ich hatte mich damit abgefunden«.227 Resigniert beschließt er, die Dynamik des transitorischen Emigrantendaseins nach fünf Jahren auf der Flucht durch ein passives, statisches Warten auf den Tod zu ersetzen. Erst das, was er zunächst den »Emigrantenkoller« nennt, später aber explizit »die tödliche Erinnerung«228 – erst das bringt die erzählte Welt in Bewegung. Die Erinnerung an Osnabrück und seine Frau sind die Impulse, die das weitere Geschehen in Gang setzen. Nun sind Sich-Erinnern und Zurückblicken Handlungen, die sich in erster Linie entlang einer zeitlichen Achse vollziehen. Es ist jedoch auffällig, dass das Zurückblicken in Die Nacht von Lissabon häufig mit räumlichen Rückwärtsbewegungen einhergeht. Die Erinnerung an frühere Zeiten in Osnabrück führt dazu, dass sich Schwarz auch physisch in Bewegung setzt und plant, an ebenjenen Ort zurückzureisen. »Wenn ich es jetzt erzähle, ist alles unsinnig und widerspricht sich; damals war es nicht so. Aus all den Kämpfen blieb immer das eine übrig: ich mußte zurück. Ich mußte meine Frau noch einmal sehen.«229

Während Seghers’ Hauptfigur ihre Souveränität dadurch erlangt, dass sie als einzige bleiben will, ist es hier die Bewegung zurück, die das überraschende Ereignis des Textes darstellt. Grenzgänger gibt es viele in diesem Roman, aber nur Josef ist ein Rückwärts-Grenzgänger: »Ich traf verschiedene Grenzgänger, aber keinen, der die Übergänge nach Deutschland genau kannte. Das war verständlich. Wer, außer mir, wollte schon nach Deutschland? Ich

227 Remarque 2009, 17. 228 Remarque 2009, 17, 22. 229 Remarque 2009, 24, Hervorhebung L.W.

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merkte, wie man mich anschaute und dann, als man merkte, daß es mir ernst war, vor mir zurückwich.«230

Remarque fügt also dem transittypischen Konflikt zwischen Platzierung und Deplatzierung den Aspekt der Replatzierung hinzu, des (erfolgreichen oder verhinderten) Zurückkehrens an einen Ursprungsort. In der Lissaboner Rahmenhandlung wiederholt sich das Prinzip der sujetbildenden überraschenden Replatzierung: Das Abtreten der Schiffstickets ergibt sich eben nicht nur aus dem zeitlichen Zurückblicken und Erinnern, sondern auch aus dem Vorhaben, ein zweites Mal die Emigrationsbewegung umzukehren und nach Deutschland zurückzureisen: »›Sind Sie nicht auch auf der Flucht?‹ Schwarz schüttelte den Kopf. ›Nicht mehr. Ich gehe zum zweiten Male zurück.‹ ›Wohin?‹ fragte ich erstaunt. Ich konnte nicht glauben, daß er noch einmal nach Deutschland wollte. ›Zurück‹, erwiderte er. ›Ich werde es Ihnen erklären.‹«231

Diese Reisebewegungen zurück hat Josef Schwarz den anderen Exilanten voraus. Er weiß, dass man sich als Flüchtling ständig vorwärtsbewegen muss, um zu überleben; er ahnt jedoch, dass das Überleben wertlos ist, wenn man nichts mehr hat, zu dem man zurückkehren kann. Diese doppelte Erkenntnis versetzt ihn in einen ähnlich ambivalenten Zustand wie Seidler, auch er wird zur beweglichen Figur, weil er zwischen Fort- und Rückschritt hin- und herpendeln kann. Zwar ist auch Schwarz auf den ersten Blick ganz Transitär. Schon auf seiner ersten Rückreise von Paris nach Osnabrück über die Schweiz und Österreich vollzieht sich eine rapide Abfolge von kurzfristigen Ortswechseln232 .

230 Remarque 2009, 26. 231 Remarque 2009, 35. 232 Tabelle 1 zeigt eine Übersicht der größeren Ortswechsel (›Ort‹ hier im Sinne von Ortschaft, Stadt) des Romans. Auch innerhalb der Ortschaften gibt es viele Wechsel, etwa nach der Ankunft in Osnabrück: Vom Bahnhof über einen Platz am Flussufer entlang zur Arztpraxis, zum Dom, am Rathaus und der Marienkirche vorbei, über eine Brücke, zur Wohnung.

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Tabelle 1: Orte und Ortswechsel in ›Die Nacht von Lissabon‹ Zeit

Herbst 1938

Land

Stadt/Ortschaft

Frankreich

Paris

17

Schweiz

Basel

17

Frankreich – Schweiz – Frankreich

Seite

18

Frankreich

Paris

19

Schweiz

Zürich

25

Österreich

Feldkirch

29

Deutschland

München

31

Deutschland

Münster

33

Ende Mai 1939

Deutschland

Osnabrück

36

Juni 1939

Deutschland

Münster

96

Österreich

Feldkirch

101

Schweiz

Zürich

113

Schweiz

Ascona/Ronco

122

Juli 1939

Frankreich

Paris

129

Winter 1939

Frankreich

Le Vernet/Pyrenäen

157

Oktober 1940

Frankreich

Bordeaux

196

Frankreich

Bayonne

209

Frankreich

Marseille

215

Mai 1939

Winter 1940

Spanien ab Frühjahr 1941

Portugal

244 Lissabon

Quelle: Eigene Darstellung. Verwendete Ausgabe: Remarque 2009

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Diese flexiblen Reisebewegungen sind auch auf das inzwischen hochentwickelte Eisenbahnnetz zurückzuführen233. Die Einreise nach Deutschland gelingt aber vor allem deshalb, weil er die »geschärften Sinne [...] und die Vorsicht und Erfahrung eines flüchtigen Verbrechers«234 mitbringt. Er ist also in jeder Hinsicht ›flüchtig‹. Nach seiner Ankunft in Osnabrück artikuliert er seine Einstellung gegenüber Helen und nennt sein Leben ein »Kugel-Dasein«235. Sie fragt nach: »›Was ist ein Kugel-Dasein?‹ ›Meines. Eines, das nirgendwo bleiben kann; das sich nie ansiedeln darf; immer im Rollen bleiben muß. Das Dasein des Emigranten. Das Dasein des indischen Bettelmönches. Das Dasein des modernen Menschen.«236

Doch die Intention seiner Transitreise ist trotz alledem, für einen Moment aus jenem Kugel-Dasein auszubrechen und zu einem Ursprungsort zurückzufinden. Helen hingegen, die in Osnabrück Zurückgebliebene, wünscht sich nichts mehr, als aus dem Stillstand, der »bürgerlichen Stagnation«237, auszubrechen und zu fliehen. Allerdings weiß sie als Noch-Immer-Ehefrau eines Flüchtlings, »der sich seiner Verantwortung entzieht«238 , auch von den negativen Folgen des ›Herumkugelns‹ in der Welt. Diese Spannungen zwischen Flucht nach vorn und einem Weg zurück, zwischen De- und Replatzierung sorgen dafür, dass sich zwischen Josef und Helen schnell ein intensiver Dialog entwickelt, der zu den Höhepunkten des Romans gehört. »Weshalb bist du zurückgekommen?«, das ist die viermal gestellte Frage

233 Interessant ist dabei auch die Umdeutung der Bahnhöfe gegenüber dem 19. Jahrhundert: Waren es damals die Eisenbahnen und ihre Bahnhöfe, die gewaltsam und verunsichernd in den Landschaftsraum eindrangen, ist in Die Nacht von Lissabon der umgebende Raum voller Gewalt und Verunsicherung, während die Bahnhöfe den Flüchtlingen Schutz bieten, und die Eisenbahnen eine schnelle Flucht aus dem besetzten Gebiet ermöglichen (»Ich verließ den Schutz der Bahnhöfe«, »Der Zug lärmte heran wie das Leben selbst«, Remarque 2009, 31, 93). 234 Remarque 2009, 66. 235 Remarque 2009, 71. 236 Remarque 2009, 71. Das Bild des ›Kugel-Daseins‹ erinnert wiederum an Anna Seghers’ Transit, in dem der Ich-Erzähler angibt, sein Leben solle »vorerst nichts sein [...] als ein Herumgeschleudertwerden« (Seghers 2001, 33). 237 Remarque 2009, 71. 238 Remarque 2009, 73.

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Helens, an der sich das Gespräch entzündet.239 Das Widersprüchliche in ihren Haltungen wird dabei offen angesprochen. So heißt es an einer Stelle des langen Gesprächs zwischen dem zurückgekommenen Flüchtling und der flüchtenden Zurückgebliebenen: »›[...] Mein Vaterland hat mich wider meinen Willen zum Weltbürger gemacht. Nun muss ich es bleiben. Zurück kann man nie.‹ ›Auch nicht zu einem Menschen?‹ ›Auch nicht zu einem Menschen‹, sagte ich. ›Selbst die Erde führt ein Kugel-Dasein, ist ein Emigrant der Sonne. Man kann nie zurück. Oder man zerkracht.‹ ›Gott sei Dank.‹ Helen hielt mir ihr Glas hin. ›Wolltest du nie zurück?‹ ›Immer‹, erwiderte ich. ›Ich folge nie meinen Theorien. Das gibt ihnen doppelten Reiz.‹ Helen lachte. ›Das alles ist nicht wahr!‹«240

Absolute Wahrheiten gibt es nicht in diesem »Zeitalter der Paradoxe«241 – doch gerade dadurch werden die Aussagen der beiden glaubwürdig. Langsam tasten sie sich ab, verhandeln ihre Positionen, um letztlich zweierlei zu versuchen: zusammen bleiben und zusammen flüchten, vorerst in die Schweiz, dann nach Paris, später bis Marseille und schließlich Lissabon. All dies ist eine große Vorwärtsbewegung, die Frage nach dem Zurück bleibt jedoch zentral, bis zum Schluss, wenn Helen sterben muss, eben weil sie nicht zurückgeblieben ist, und ihre schwere Krankheit ignoriert hat.242 Dies ist also die zweite Ebene des Zurück, die für den Handlungsverlauf wichtig ist, vor allem durch die daraus hervorgehenden räumlichen Bewegungen. Und es gibt noch eine dritte Ebene des Rückwärtigen in diesem leicht zu lesenden, aber komplex arrangierten Werk. Der Ich-Erzähler erzählt die Geschichte von der Nacht von Lissabon, von Josef Schwarz, dem Hafen und den ersehnten 239 Vgl. Remarque 2009, 65 f. 240 Remarque 2009, 71. 241 Remarque 2009, 207. 242 Immer wieder wird Helen dabei vom Rückwärtigen eingeholt, insbesondere von ihrem nationalsozialistischen Bruder, der sie zurück nach Deutschland holen will. Helen protestiert jedes Mal energisch: »Ich gehe nicht zum Konsulat, und ich gehe nicht zurück.« – »Ich gehe nie zurück, nie! Ich bringe mich um, wenn sie mich holen wollen.« – »Helens Gesicht zuckte plötzlich. ›Ich gehe nie zurück‹, sagte sie dann. ›Nie! Du hast es mir versprochen! Ich will nicht, daß sie mich fangen!‹« (Remarque 2009, 122, 186, 189)

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Schiffstickets, schließlich nicht an jenem 13. Juni 1942, sondern viel später – nach Kriegsende, im Rückblick. Damit ähnelt die Erzählsituation derjenigen in Roths Hotel Savoy. Bei Remarque ist die Retrospektive jedoch explizit formuliert, und zwar in dem epilogischen, auch typografisch abgesetzten letzten Abschnitt, der von den unmittelbaren Geschehnissen nach dem Fortgehen Schwarz’ bis zu der Zeit »nach dem Kriege« reicht.243 Und auch dieses Zurückblicken ist begleitet von einem Zurückgehen, auch hier gibt es eine Replatzierung, eine Reise zurück an den Ursprungsort, und zugleich an den Ursprungsort von Josef Schwarz: »Nach dem Kriege ging ich nach Europa zurück. [...] Von Schwarz habe ich nie wieder etwas gehört. Ich fuhr sogar einmal nach Osnabrück und fragte nach ihm, obschon ich seinen wirklichen Namen vergessen hatte. [...] Auf dem Weg zurück zum Bahnhof glaubte ich, ihn zu erkennen. Ich lief ihm nach; aber es war ein verheirateter Postsekretär, der mir erzählte, daß er Jansen hieße und drei Kinder habe.«244

Erzählt wird in Die Nacht von Lissabon also dies: Ein Mann blickt nach 1945 zurück auf einen anderen Mann, der im Juni 1942 zurückblickt auf das Jahr 1938, in welchem jener zurückblickt auf sein Leben vor 1938, und damit die ganze Abfolge von Geschehnissen in Gang setzt, die die Ausgangssituation überhaupt möglich macht. Und erzählt wird auch das: Ein Mann kehrt nach 1945 zurück an den Ort Osnabrück, an den ein anderer Mann 1938 ein erstes Mal zurückgekehrt ist, und vielleicht 1942 ein zweites Mal, weil seine Frau nicht dorthin zurückkehren wollte. Und all dieses verschachtelte Zurückblicken auf das Leben, all diese verschachtelten Rückwärtsbewegungen und all das daraus folgende verschachtelte Aufbrechen in das Unbekannte, all das hat ein narratives Zentrum: den Lissabonner Hafen. Ins Unbekannte hinein, mit nichts als der Erinnerung im Gepäck – das ist die Denkfigur, die der Transit-Ort Hafen geradezu heraufbeschwört. Kaum ein anderer Schauplatz wäre geeigneter für diese komplexe Konstruktion von Exil und Erinnerung.

243 Vgl. Remarque 2009, 255 f. 244 Remarque 2009, 256.

Leere? Im Flughafentransit »Du schnallst dich an. Die Maschine beginnt den Landeanflug. Fliegen ist das Gegenteil von Reisen: Du durchquerst einen Sprung im Raumkontinuum, eine Art Loch im Raum, verschwindest im Leeren, bist eine Weile, die gleichfalls eine Art Loch in der Zeit ist, an keinem Ort, nirgends; dann tauchst du wieder auf und befindest dich in einem Dort und Dann ohne jeden Zusammenhang mit dem Wo und Wann, aus dem du verschwunden bist. [...] Wie füllst du diese deine Abwesenheit von der Welt und der Welt von dir? Du liest [...].«1 ITALO CALVINO, WENN EIN REISENDER IN EINER WINTERNACHT

K ÜNSTLICHE E INÖDEN Die Terminals, die check-in-Schalter, die security checks, die duty-free shops, die langen Gänge, die Wartehallen, die Passagierbrücken, die Lichter der Startund Landebahnen – diese und viele weitere Orte bilden den Flughafen, den Transit-Ort der Spätmoderne. Dieser Ort ist ein fragiles Gebilde, hochkomplex und gleichförmig, voller Geschichten und völlig steril, aufregend und nervtötend zugleich. »Würde man gebeten«, hält der Schriftsteller Alain de Botton fest, »einen Marsianer an nur einen einzigen Ort zu bringen, an dem sich exemplarisch die Vielfalt der unsere Zivilisation prägenden Themen ausmachen ließe – von

1

Calvino 2005, 253.

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unserem Glauben an den technischen Fortschritt bis zur Zerstörung der Natur, von globaler Vernetzung bis zur Romantisierung des Reisens –, dann müsste man ihm wohl die Ankunfts- und Abflughallen eines Flughafens zeigen.«2 Während Alain de Botton dies notiert, sitzt er an einem Schreibtisch mitten im Terminal 5 des Flughafens Heathrow. Um all das zu begreifen, um diesen Transit-Ort zu erfassen, der eigentlich ein Konglomerat aus einer Vielzahl von Orten ist, muss man zurückblicken ins Jahr 1909. Am 29. September 1909 berichtet ein Augenzeuge über die Entstehung eines der ersten Transit-Orte der Moderne. Gefeiert wird die Flugschau in Brescia. Der Augenzeuge ist Franz Kafka: »Der Signalmast zeigt [...] an, daß der Wind günstiger geworden ist und Curtiss um den großen Preis von Brescia fliegen wird. [...] Kaum verständigt man sich darüber, schon rauscht der Motor des Curtiss, kaum sieht man hin, schon fliegt er von uns weg, fliegt über die Ebene, die sich vor ihm vergrößert, zu den Wäldern in der Ferne, die jetzt erst aufzusteigen scheinen. Lange geht sein Flug über jene Wälder, er verschwindet, wir sehen die Wälder an, nicht ihn. Hinter Häusern, Gott weiß wo, kommt er in gleicher Höhe wie früher hervor, jagt gegen uns zu; steigt er, dann sieht man die unteren Flächen des Biplans dunkel sich neigen, sinkt er, dann glänzen die oberen Flächen in der Sonne. Er kommt um den Signalmast herum und wendet, gleichgültig gegen den Lärm der Begrüßung, geradeaus dorthin, von wo er gekommen ist, um nur schnell wieder klein und einsam zu werden.«3

Zwischen den Geschichten von Eisenbahn und Flugzeug gibt es bemerkenswerte Parallelen. Kafkas Text Die Aeroplane in Brescia – »wohl die erste Beschreibung dieser Apparate in der deutschen Literatur«4 – zeugt von ähnlichen Irritationen tradierter Raumvorstellungen wie Heinrich Heines Reportage von 1843. Ohne selbst zu fliegen, erahnt der Beobachter Kafka die Revolution der Perspektive, die mit der Erfindung des Flugzeugs einhergeht. Stellt die Eisenbahn die horizontale und stellt der Hotellift die vertikale Ordnung in Frage, gerät die aus dem Flugzeug betrachtete Welt in allen drei Dimensionen zugleich aus den Fu2

Botton 2010, 14.

3

Kafka 2002, 409.

4

Wagenbach 1981, 73. Auch Peter-André Alt schreibt: »Kafkas Artikel liefert die erste ästhetisch ambitionierte Schilderung eines Flugmeetings, welche die deutschsprachige Literatur kennt« (Alt 2005, 196).

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gen. Bei Kafka ist dies in den rasanten Perspektivwechseln zwischen den Zuschauern und dem Piloten, zwischen Tribüne und Cockpit ausgedrückt. »Die Darstellung gerät, von kunstvoller Unaufdringlichkeit beherrscht, zu einem Tableau, auf dem sich die Vexierspiele von Abstand und Nähe wie unter einem diffusen Lichtkegel zeigen«5, stellt Peter-André Alt fest, und auch der Kulturwissenschaftler Christoph Asendorf staunt über das literarische Schauspiel, »das die Distanzen in einem doch überschaubaren Raum bis zum Zerreißen der Bezüge überdehnt«6. Das Flugzeug setzt einen Prozess fort, den die Eisenbahn begonnen hat: den der Raumauflösung, der eigentlich ein Prozess der Auflösung von Raum- und Ortszusammenhängen ist. Wie die Eisenbahn ist auch das Flugzeug ein Ort der großen Geschwindigkeiten: Jagdflugzeuge erreichen um 1916 Geschwindigkeiten von 150 bis 200 km/h, vier Jahre später liegt der Rekord bei 310 km/h, 1934 bereits bei 704 km/h.7 Das essentiell Neue an den ›Aeroplanen‹ ist jedoch die Eroberung des Luftraums, womit die Gradlinigkeit der Eisenbahn mit ihren Schienenwegen auf den ersten Blick ins Gegenteil verkehrt wird: ›Luftig‹ steht für Bewegungsfreiheit; im Deutschen hat etwas umgangssprachlich ›viel Luft‹, wenn es sich frei bewegen lässt. Die vormoderne Bewegung in der Landschaft wurde von der Bewegung durch die Landschaft abgelöst – nun sorgt die Bewegung über der Landschaft für neue Sichtweisen und regt zu einem erneuten Nachdenken über den Raum an. Dieser zweite Prozess ist gegenüber den Veränderungen durch die Eisenbahn wenig beachtet worden, was angesichts der Bedeutung der Luftfahrt für die globalisierte Moderne überrascht. Wolfgang Kaschuba nimmt zumindest beiläufig Notiz von der neuen Sicht aus dem Cockpit: »Mit dem Fliegen ergeben sich völlig neue räumliche Sehweisen. Bis dahin war der horizontale Blick eine anthropologische Konstante: dreidimensional in seiner Orientierung mit einer ausgeprägten Höhendimension, die man lediglich in der Sicht von Berges- oder Kirchturmhöhen aus etwas relativieren konnte. Nun wird diese Dreidimensionalität gesteigert und zugleich reduziert, denn vom Flugzeug aus erscheint der Horizont unendlich, ebenso die Höhe des Raumes. Die Erde hingegen wirkt wie eine Fläche, die sich fast nur horizontal in die Tiefe staffelt. In sie kann nun von oben in neuer Weise hineingesehen werden [...].«8

5

Alt 2005, 196 f.

6

Asendorf 1993, 190.

7

Vgl. Fuhs 1998, 190 f.

8

Kaschuba 2004, 196 f.

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Ähnlich formuliert es Alastair Gordon in seiner kulturhistorischen Arbeit Naked Airport. Er beschreibt, wie das Flugzeug bereits früh in Konkurrenz zu den bisher dominierenden Verkehrsmitteln Eisenbahn und Schiff tritt: »Destinations would no longer be approached in the traditional perspective of Renaissance space, nor from the gradual, ground view of trains, buses, or ships, but rapidly, from the air, with the city appearing oddly splayed in abstraction. The gateways would no longer be harbors and railroad stations. Now it was the airport, a place of blinding lights and unexpected urgency.«9

Nach der »animalischen Konstante« – so Wolfgangs Schivelbuschs Formulierung in Bezug auf die begrenzte Verkehrsgeschwindigkeit mit Zugtieren10 – fällt nun auch die anthropologische Konstante des horizontalen Blicks. Die Befreiung von der bisherigen perspektivischen Wahrnehmung, die nun »Verschiebungen des Blicks in jeder Raumachse möglich macht«11, ist überraschenderweise nicht unbedingt eine Bereicherung. Wie Kaschuba andeutet, wirken Orte aus größerer Höhe betrachtet nicht plastischer, sondern verlieren eher an Tiefe. Alles wirkt wie eine plane Fläche: »Das Bild der Welt ist seltsam verflacht – ›das Ganze gleicht einer Landkarte, denn die Höhenunterschiede sind nicht ersichtlich. Es gibt nur ein Nebeneinander‹«12, stellt Asendorf fest und zitiert dabei einen frühen Ballonfahrer. Das Aufbrechen tradierter Raumvorstellungen führt wieder einmal zuerst in die Leere, in die gefühlte Ortslosigkeit – und damit ins Transitorische: Wer die bekannte Welt in Richtung Oben verlässt, verlässt damit scheinbar jeden Ort, und erst mit der Landung werden die bekann9

Gordon 2008, 9.

10 Vgl. Schivelbusch 2007, 13. 11 Asendorf 1993, 200. 12 Asendorf 1993, 200. Dabei spielt vermutlich ein wahrnehmungspsychologisches Phänomen eine Rolle: Vertikale Distanzen werden vom Menschen anders erfasst als horizontale. Aus größerer Höhe betrachtet, etwa von einem Turm aus, wirken Menschen und Objekte ungewöhnlich klein (›Spielzeugautoeffekt‹); aus derselben horizontalen Distanz, etwa auf einer Straße, erscheinen sie normalgroß. Das Gehirn unterschätzt wahrscheinlich mangels Erfahrung die vertikalen Entfernungen und damit auch die Größenverhältnisse (vgl. Ditzinger 2006). Alastair Gordon zitiert eine entsprechende Aussage eines frühen Flugzeugpassagiers: »A passenger on the first scheduled flight from London to Paris in 1919 remarked how the Crystal Palace [...] looked like a ›child’s toy‹ from two thousand feet in the air« (Gordon 2008, 65).

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ten Einzelorte wieder identifizierbar. Von oben gesehen präsentieren sich die bekannten Orte völlig neu, und wie beim panoramatischen Blick aus dem Abteilfenster muss eine entsprechende Raumwahrnehmung erst etabliert werden. Die Irritationen der Flugzeugperspektive werden schnell Thema der Literatur und der bildenden Kunst, weit bevor Flugreisen zum Alltag gehören.13 Zur Ortlosigkeit trägt auch die Architektur der Flughäfen bei: Die großflächigen, unbebauten Areale, die zum Starten und Landen der Flugzeuge gegen den Wind benötigt werden, vermitteln schon früh einen Eindruck der Monotonie und Ödnis. Kafka bemerkt: »Eine künstliche Einöde ist hier eingerichtet worden [...]. Nichts ist auf diesem Platz, was sonst auf Sportfeldern Abwechslung bringt. Es fehlen die hübschen Hürden der Pferderennen, die weißen Zeichnungen der Tennisplätze, der frische Rasen der Fußballspiele, das steinerne Auf und Ab der Automobil- und Radrennbahnen. [...] Und damit nichts im Anblick dieser Ebene störe, fehlt auch jede Musik, nur das Pfeifen der Massen auf den billigen Plätzen sucht die Bedürfnisse des Ohres und der Ungeduld zu erfüllen. Von den teueren Tribünen aus, die hinter uns stehn, mag allerdings jenes Volk mit der leeren Ebene ohne Unterschied in eins zusammenfließen.«14

Nicht alles deutet jedoch von Beginn an darauf hin, dass entlang dieser künstlichen Einöden ebenjene Transit-Orte des 20. und 21. Jahrhunderts entstehen werden, die noch heute häufig als gleichförmig oder steril empfunden werden. Das heutige Aussehen von Flughäfen – und auch deren Positionierung außerhalb der Städte – ist vielmehr das Ergebnis längerer Aushandlungen. In den Pionierjahren der Luftfahrt gibt es eine Reihe von Architekten und Künstlern, die die Verwirklichung des uralten Menschheitstraums vom Fliegen und die neue Bewegungsfreiheit als Revolution feiern. Sie stellen sich Flughäfen nicht als isolierte Strukturen abseits der Stadt vor, sondern als lebendige Orte im Stadtkern, die den Bahnhöfen ähneln sollen.

13 Vgl. Asendorf 1993, 198 ff. Asendorf verweist auf die Plansichten in Piet Mondrians Spätwerk (Broadway Boogie Woogie, New York City) und Paul Klees Aquarell Landschaftsteppich als prominente Beispiele für das Bemühen in der bildenden Kunst, die entrückten Orte neu darzustellen. Siehe Abbildung 15. 14 Kafka 2002, 405.

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Abbildung 15: Paul Klee, ›Landschaftsteppich‹ (1926)

Quelle: Geelhaar 1974, 61

Abbildung 16: ›Aeroparis‹ (1932). Entwurf von André Lurçat

Quelle: SIAF / Cité de l’architecture et du patrimoine / Archives d’architecture du XXe siècle

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Alles scheint möglich – der Flughafen ist ein völlig neuer Gebäudetyp mit allen Freiheiten, wie der Architekt Wyatt Brummit in einem Essay von 1929 bemerkt: »Here is aviation, the most completely modern of modern institutions. It is bound to no architectural traditions. It is free to express itself in absolutely new terms and forms. And its architectural possibilities are as colorful and abundant as the most swashbuckling architect could desire.«15

Beispiele für die kreative Nutzung dieser neuen Möglichkeiten nennt Alastair Gordon in seiner Flughafenstudie: Der Futurist Antonio Sant’Elia träumt 1912 im Rahmen seiner Zeichnungsserie Cittá Nouva von einem Flughafen auf dem Dach des Zentralbahnhofs von Mailand.16 Der Architekt André Lurçat stellt 1932 seinen Entwurf von Aéroparis vor, einem Flughafen mitten in Paris, der auf einer 900 Meter langen Flussinsel am Fuße des Eiffelturms gebaut werden soll.17 Unter den frühen Visionären der Luftfahrt sind auch solche, die sich literarisch betätigen, und damit gewissermaßen die Nachfolge Max Maria von Webers antreten. Der bekannteste ›fliegende Literat‹ seiner Zeit ist Antoine de SaintExupéry. In mehreren Romanen setzt er das ›grenzenlose Abenteuer‹ des Fliegens in Szene, auch im Rückgriff auf seine persönlichen Erfahrungen als Pilot.18 Der größte Luftfahrtsvisionär der Zeit ist jedoch der Architekt Le Corbusier, der 1935 in seinem Bildband Aircraft – L’avion accuse die revolutionäre Kraft der Luftfahrt heraufbeschwört. »The airplane is an indictment. It indicts the city. It indicts those who control the city.«19 Das ganze Konzept der Stadt müsse aus der Vogelperspektive neu gedacht werden:

15 Brummitt 1929, 431 f. 16 Vgl. Gordon 2008, 70. 17 Vgl. Gordon 2008, 69. Siehe Abbildung 16. 18 Die Erzählungen Der Flieger (1926), Südkurier (1928) und Nachtflug (1931) thematisieren allesamt die Pionierzeit der Luftfahrt. 1939 erscheint Wind, Sand und Sterne, ein Erlebnisbericht, in dem sich Saint-Exupéry mit seinen eigenen Erlebnissen als Postpilot auseinandersetzt. Einen umfassenden Einblick in die europäische LuftfahrtLiteratur zwischen 1909 und 1927 bietet die nicht mehr aufgelegte, aber sehr fundierte Studie Literatur und Aviatik (1980) des Slawisten Felix Philipp Ingold. 19 Le Corbusier 1988, 11.

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»Cities, with their misery, must be torn down. They must be largely destroyed and fresh cities built. [...] For one day soon the implication of the bird’s-eye view, that nobility, grandeur and style should be brought into the plan of our cities, will be a fact.«20

Ein neuer, ›demokratischer‹ Gebäudetypus wird gesucht, der alle Blickwinkel gleich behandle, bestätigt Gordon: »Instead of being considered a disadvantage the aerial view was seen as a path toward liberation. [...] Architects would no longer be slaves of one-point perspective. The front, back, and top of a building were now, in a sense, equal, democratized by the aerial point of view.«21

Schon 1922 hatte Le Corbusier mit der Ville Contemporaine eine Stadt für drei Millionen Einwohner entworfen, die seinen Vorstellungen vom Fliegen Rechnung tragen sollte. Vom zentralen Verkehrsgebäude der Millionenstadt sollten sogenannte aero-taxis durch die Lüfte schweben und die Verbindung zu einem größeren Flughafen außerhalb der Stadt herstellen.22 Grundsätzlich existieren in den ersten Jahrzehnten der Luftfahrt also zwei konkurrierende Raumvorstellungen, was die Sphären jenseits des Erdbodens anbelangt: Einerseits die Vorstellung eines – positiv konnotierten – freien Raums, andererseits die Vorstellung eines – negativ konnotierten – leeren Raums.23 Diese konkurrierenden Raumvorstellungen prägen sowohl die architektonischen Entwürfe der Fluggebäude und -geräte als auch die literarischen und publizistischen Zeugnisse der Zeit maßgeblich. 20 Le Corbusier 1988, 12 f. 21 Gordon 2008, 67. Gordon zitiert anschließend den Bauhaus-Gründer Walter Gropius: »With the development of air transport, the architect will have to pay as much attention to the bird’s-eye perspective of his houses as to their elevations« (Gropius 1965, 30). Ähnlich prognostiziert Le Corbusier in Aircraft: »The exact image of the town will be expressed in an entirely new sort of ground-plan. These small plots, these doors placed at intervals of 10 or 15 yards from another, these streets in sinister confusion, full of noise and squalor, will have ceased to be« (Le Corbusier 1988, 13). 22 Vgl. Gordon 2008, 69. 23 Diese Raumvorstellungen ähneln den Beobachtungen zu den Exilschiffen im Zweiten Weltkrieg; auch hier wurde der Transit über den Ozean einerseits mit Befreiung (von den Nationalsozialisten), anderseits mit Entleerung (ins Ungewisse) in Verbindung gebracht.

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In die freiheitliche Kategorie fallen neben den Flughafenutopien vor allem die Berichte über die Steuerleute der ersten Fluggeräte. Dass die Piloten als Helden, als ›echte Kerle‹ gefeiert werden, zeigt sich schon in Kafkas Bericht von der Flugschau; Joachim Ringelnatz dichtet in seinem Zyklus Flugzeuggedanken 1929 noch deutlicher: »Humorvoll und kühn, sich beherrschend, bescheiden –. / Heraus ohne Schmeichelei: / Ich mag diese Kerls leiden. / Ihre Welt ist noch frei. / So, wie sie sind, und dort, wo sie sind, / Wehn alle Flaggen und ein guter Wind.«24 Doch es gibt eben auch Gegenwind. Die Vorstellung eines Frei-Raums der Lüfte wird durch die tatsächlich realisierten Gebäude- und Maschinenkonstruktionen zunehmend in Frage gestellt. Die neu angelegten Flughäfen sind nicht die erträumten, revolutionären Gebäude in den Stadtzentren, sondern weitgehend konventionelle Bauten weit außerhalb der Städte. Und auch die Flugzeuge sind längst nicht so beweglich wie von Architekten oder Autoren erhofft. Natürlich spielen dabei technische Erfordernisse eine große Rolle – Gordon kommt nicht als Erster zu dem Schluss, dass die Innenstadt-Flughäfen aufgrund der winzigen Landeplattformen ein zu riskantes Vorhaben sind.25 Die meisten der zeitgenössischen Architekten waren nie selbst an Bord eines Flugzeugs. Doch das heutige Aussehen der Flughäfen allein auf die Erfordernisse der Aeronautik zurückzuführen – also rein technikdeterministisch zu argumentieren –, wäre zu kurz gedacht. Schon die frühen Flughäfen sind komplexe soziotechnische Systeme26, die im Zusammenspiel mit den Menschen gestaltet werden, die von ihnen profitieren. Dabei dominieren zuerst militärische27, später vor allem 24 Ringelnatz 1929, 21. 25 »Placing an airport at the city center was a naive and dangerous suggestion, one that would require pilots to maneuver aircraft between high-rise towers and land on a precariously narrow platform« (Gordon 2008, 69). 26 Den Begriff des soziotechnischen Systems etabliert Günter Ropohl in seiner Systemtheorie der Technik. Vgl. Ropohl 1999, 58 f. 27 Wesentliche Impulse erhält die Luftfahrtindustrie während des Ersten Weltkriegs, in dem die Luftaufklärung einen kriegsentscheidenden Faktor darstellt. Der Volkskundler Burkhard Fuhs beschreibt diese Entwicklung in seinem Aufsatz über die Geschichte des Flugzeugs. Ohne »massive ökonomische und technische Anstrengungen der Militärs« wäre die rapide Entwicklung der Luftfahrt nicht vorstellbar gewesen (vgl. Fuhs 1998, 184 ff.). Nach dem Ersten Weltkrieg wird der militärische Flugzeugbau in Deutschland verboten, und die Industrie konzentriert sich darauf, den zivilen Flugverkehr ökonomisch profitabel zu machen.

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ökonomische Interessen. Für die Luftfahrtunternehmer ist nicht Kreativität, sondern Geschwindigkeit das Maß aller Dinge, in der Luft wie beim check-in am Boden.28 Diese Ausrichtung beeinflusst die Gestalt der Flughäfen maßgeblich. Das auffälligste Merkmal des ersten Terminals am Flughafen HamburgFuhlsbüttel, das 1929 eröffnet wird, ist nicht die Architektur des Gebäudes oder der Landebahnen – es ist die riesige Uhr, die über dem Haupteingang hängt.29 Auch die Wahl der Fluggeräte folgt dieser Linie: Hubschrauber, die am ehesten Le Corbussiers Vorstellung des aero-taxis hätten erfüllen können, sind für die meisten Einsatzzwecke zu langsam und zu teuer im Unterhalt, ebenso wie die Zeppeline.30 So bleiben die Vorstellungen von revolutionären Flughafengebäuden sowie von Flugzeugen, die zu einem kritischen Blick auf bestehende Raumordnungen in der Stadt anregen, weitgehend Fantasie. Stattdessen wird die Vorstellung vom leeren Raum, von Monotonie, Ödnis und Aseptik, zum Stereotyp der Flugreise und speziell der Flughäfen überall auf der Welt. Diese Raumvorstellung wird durch einige bedeutende Entwicklungen in der Luftfahrtgeschichte zusätzlich unterstützt.

28 »Speed became the greatest virtue at the airport [...]: speed of ticketing, speed of transfer, speed of baggage handling, speed of boarding and departure« (Gordon 2008, 79). Anders als die ersten Eisenbahnen haben die Flugzeuge einen starken Konkurrenten in der Passagier- und Frachtbeförderung – die bereits hochentwickelte Eisenbahn, die es in puncto Geschwindigkeit zu schlagen gilt. »Ein massgebliches Werbeargument war [...] vor allem die Zeitersparnis gegenüber der Eisenbahn. Eine Karte der Berliner Flughafen-Gesellschaft zeigt die Hauptstadtverbindungen des Jahres 1926 mit Flug- und zum Vergleich den Schnellzugzeiten in Klammern« (Fuhs 1998, 194). 29 Vgl. Gordon 2008, 79 f. 30 Selbst die schnellsten modernen Hubschrauber erreichen lediglich Geschwindigkeiten um 300 km/h. Die Höchstgeschwindigkeit wird durch die Aerodynamik der Rotorblätter begrenzt. Der Treibstoffverbrauch ist zudem wesentlich höher als bei Flugzeugen. Zeppeline sind noch langsamer als Hubschrauber, aber sehr ausdauernd, und stellen deshalb in Deutschland zunächst eine erfolgreiche Alternative zum Flugzeug dar. Dass sie sich letztlich nicht durchsetzen können, liegt vor allem an ihrem kostspieligen Betrieb, aber auch an der Schockwirkung des Absturzes der ›Hindenburg‹. Im Zweiten Weltkrieg sind die gigantischen Luftschiffe zudem nicht mehr kriegstauglich und passen nicht zur nationalsozialistischen Ideologie (vgl. Eckener 2012).

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Die erste dieser Entwicklungen ist der Instrumentenflug. Der frühe Flugverkehr ist noch maßgeblich auf gutes Wetter und Tageslicht angewiesen. Auch die Flughöhe ist dadurch beschränkt, wie Burkhard Fuhs anmerkt: »Navigiert wurde, bei einer durchschnittlichen Flughöhe von rund 300 Metern, nach Erdsicht, das heisst durch den Blick aus dem offenen Fenster«.31 Der im Flug konstituierte Reiseraum ist somit noch relativ eng an die überflogenen geografischen Orte gebunden. Die Piloten orientieren sich an der Landschaft, aber auch an den bestehenden Verkehrswegen: »Auf dem Land folgten die Fluglinien der Eisenbahn oder den Kanälen, im Gebirge liefen sie entlang der Täler«32. Mit der Zeit werden jedoch immer mehr Instrumente in die Cockpits eingebaut, was eine zunehmende Loslösung von den Orten auf dem Boden zur Folge hat: »Tachometer, Kompass, Höhenmeter, Wendezeiger, Gyrorektor (eine Art künstlicher Flieger-Horizont) und ein Funkgerät [...] sollten die ersehnte größere Unabhängigkeit von der Sichtflugverkehrsfliegerei bringen. [...] Durch den Instrumentenflug wurde das Cockpit immer mehr zu einer künstlichen Umwelt, in der die Piloten alle wesentlichen Informationen über den Flugverlauf auf Geräten ablasen. Nicht mehr der Blick nach draussen auf die Landschaft beeinflusste die Entscheidungen des Piloten, sondern die Interpretation der Informationen, die die Zeiger der Geräte übermittelten.«33

Machte es die Eisenbahn im 19. Jahrhundert notwendig, den Blick auf die Landschaft anzupassen, gilt es nun, den Blick auf die Landschaft weitgehend aufzugeben. Wie bei der Eisenbahn löst sich der Raum dabei nicht auf, lediglich die Parameter der Wahrnehmung verändern sich – aber ein entsprechendes Wahrnehmungsschema muss erst etabliert werden34, um der Irritation entgegenzuwir31 Fuhs 1998, 197. 32 Fuhs 1998, 197. 33 Fuhs 1998, 198 f. 34 Dies hat insbesondere Auswirkungen auf das Anforderungsprofil der Piloten. »Für die Piloten – in den 20er Jahren ein verwegener und abenteuerlicher Beruf – bedeutete der Instrumentenflug noch einmal ganz neu fliegen zu lernen.« Statt auf ihren Gleichgewichtssinn und die visuelle Bodenorientierung mussten sich die Piloten nun ausschließlich auf die Instrumente verlassen, auch entgegen ihrem Körpergefühl, was ihnen in speziellen Zentrifugenkammern antrainiert werden musste. Die Veränderung des prototypischen Piloten vom waghalsigen, mutigen Abenteurer zum »zuverlässigen, ruhigen Mann, der kein Risiko einging« beschreibt Fuhs in seinem Aufsatz anschaulich. Vgl. Fuhs 1998, 199 ff.

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ken. Die Extremform dieser Entwicklung ist der Nachtflug, bei dem ganz auf die Orientierung am Boden verzichtet werden.35 Die darauf folgende Entwicklung der Luftfahrt verändert den Charakter der Flugzeuge und Flughäfen erneut; sie ist vielleicht die wichtigste im Hinblick auf die transitorische Raumwahrnehmung: Die Konstruktion der ›Düsenflieger‹, der Jets. Der neuartige Strahl- oder Düsenantrieb für Flugzeuge wird bereits im Zweiten Weltkrieg parallel in England und Deutschland getestet, in der zivilen Luftfahrt erfolgt der Durchbruch jedoch erst gegen Ende der 1950er Jahre. Die Jets erreichen nicht nur wesentlich höhere Geschwindigkeiten, sie können vor allem in wesentlich größeren Höhen fliegen.36 Damit hält endgültig das Gefühl vom ›Loch im Raum‹ und vom ›Verschwinden im Leeren‹ Einzug in den globalen Flugverkehr, das Italo Calvino im Eingangszitat dieses Kapitels beklagt. Es ist Roland Barthes, der in seinen Mythen des Alltags von 1957 den Helden der neuen Ära – den Jet-Man – sowie die veränderte Wahrnehmung von Raum und Bewegung eindrücklich beschreibt: »Der Jet-Man ist der Pilot des Düsenflugzeugs. [...] Was an der Mythologie des Jet-man zunächst verblüfft, ist die Elimination der Geschwindigkeit: [...] Man gerät hier zwangsläufig in eine Paradoxie [...]: die Paradoxie nämlich, daß ein Übermaß an Geschwindigkeit sich in Ruhe verwandelt. Der Heldenpilot zeichnete sich durch eine Mythologie der wahrnehmbaren Geschwindigkeit, des vernichteten Raums, der rauschhaften Bewegung aus; der Jet-man hingegen definiert sich durch eine Zönästhesie des Stillstands [...]. Bewegung ist nicht mehr die optische Wahrnehmung von Punkten und Flächen; sie ist zu einer Art

35 Die erste Nachtflugstrecke der Welt wird am 01.05.1926 zwischen Berlin und Königsberg eingerichtet. Das ökonomische Interesse an Nachtflügen ist außerordentlich groß; solange die Flugzeuge nur in den Tagesstunden fliegen können, wird ihr Geschwindigkeitsvorteil bei Dunkelheit von den Nachtschnellzügen zunichte gemacht. Zunächst weisen noch sogenannte Flugstreckenfeuer im Abstand von wenigen Kilometern den Weg durch die Nacht, doch mit der Entwicklung der Funknavigation wird auch diese letzte Sichtverbindung zu den Orten auf dem Boden überflüssig (vgl. Fuhs 1998, 201 ff.). 36 Nur wenige Propellerflugzeuge fliegen schneller als 700 km/h; bereits die ersten Militärjets der späten 1940er Jahre erreichen ca. 1000 km/h. Jets fliegen bis heute in der Regel in einer Höhe von 10-15 km. Einige Propellermaschinen können diese Höhen zwar ebenfalls erreichen, arbeiten dort aber weit weniger effizient. Deshalb fliegen sie normalerweise in nur wenigen Tausend Metern Höhe.

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vertikalen Erregung geworden [...]; sie ist kein Gleiten mehr, sondern innerer Aufruhr, maßlose Verwirrung, erstarrte Krise des Körperbewusstseins.«37

Tatsächlich findet Bewegung immer in Relation zu Orten statt – Bewegung ist die Ortsveränderung eines Objekts mit der Zeit, definiert die Physik –, was aber, wenn die Orte gänzlich fehlen? Es ist nicht mehr feststellbar, ob das Objekt mit 500, 1 000 oder 2 000 km/h über die Erde rast. Der Geschwindigkeitsrausch kommt zu einem abrupten Ende, weil er körperlich nicht mehr erfahrbar ist. Die Illusion von der freien räumlichen Bewegung zerbricht, und Leere rückt an ihre Stelle. Nun ist der Pilot – und vor allem der Passagier, dem nur in Ausnahmefällen ein Blick auf die Instrumente im Cockpit erlaubt ist – nicht viel mehr als ein passives objet jeté, ein geschleudertes Objekt, wie Barthes doppelsinnig anmerkt.38 Ganz ähnlich berichtet Jean Rudolf von Salis 1954 in seinem autobiografischen Bericht Grenzüberschreitungen über eine seiner Flugreisen: »Man reist nicht mehr, man wird von einem mechanischen Riesenvogel durch die Luft katapultiert. Es gibt keinen Weg mehr in die Ferne, keine Übergänge, keine Rast. Man kommt auch nicht mehr an, man sinkt aus den Wolken auf eine Rollbahn. [...] Dieser endlose Flug hatte etwas Stumpfsinniges. Man dämmerte vor sich hin, die halbe Zeit war Nacht gewesen, die andere halbe war es Tag über einer monotonen Wasserwüste. [...] Ich verstand, daß die moderne Welt nicht mehr menschliche Maße hat, sondern daß der Mensch ein Objekt von Raum, Zeit und Technik geworden ist.«39

Der Mensch als Objekt von Technik, im Gegensatz zu Natur und Mythos – das ist auch der Gegenstand des 1957 erschienenen Romans Homo Faber von Max Frisch: Dort erlebt der Protagonist schon zu Beginn des Romans eine Bruchlandung mit einer Propellermaschine mitten in der Wüste.40 Im Anschluss zeichnet der Roman die Konturen einer spätmodernen Welt, die zwar den Willen und die 37 Barthes 2010, 121. Zönästhesie ist eine gestörte Wahrnehmung des eigenen Körpers, also ebenjene »Krise des Körperbewusstseins«, von der Barthes anschließend spricht. 38 Barthes 2010, 123. 39 Salis 1978, 388 ff. 40 Frisch 2007, 19 f. Die im Roman genannte Super Constellation ist ein viermotoriges Propellerflugzeug, das ab 1950 vor allem in den USA eingesetzt wurde. Tatsächlich fällt bei den Super Constellations überdurchschnittlich häufig einer der vier Motoren aus, was ihnen den Spitznamen »Beste Dreimotorige der Welt« einbringt (vgl. Iken 2010).

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Mittel zur Durchsetzung eines hochbeschleunigten, rationalen und transitorischen Lebensstils hat, aber dennoch Brüche aufweist, durch die das VorTechnische, Mystische und Chaotische stärker einbrechen kann als je zuvor. »Je zivilisierter der Fahrplan, je effektiver die Technik, um so katastrophaler die Destruktion im Kollaps«41, stellt Wolfgang Schivelbusch schon im Hinblick auf die Eisenbahn fest. Das Flugzeug, monumental und fragil, himmelstürmend und absturzgefährdet zugleich, wird zu einem zentralen Kennzeichen der Nachkriegszeit. Der kulturelle Einfluss der Jets reicht bis in die deutsche Alltagssprache hinein: Mit Jet set und jet lag gehen zwei Luftfahrt-Neologismen in den deutschen Sprachgebrauch ein.42 So wie sich die Gesellschaftsschicht des Jetset über das Flugzeug definiert, mit dem die mondänsten Orte des Planeten im schnellen Wechsel bereist werden, ist auch der Jetlag ein Phänomen, das bis heute eng mit der zivilen Luftfahrt verknüpft ist. Obwohl letzterer Begriff vordergründig eine Zeitirritation bezeichnet – lag ist im Englischen eine zeitliche Verzögerung –, liegt die eigentliche Ursache für den Jetlag in der ungewohnt schnellen Bewegung von Ort zu Ort, während die Zeit beinahe unverändert43 fortschreitet. Es handelt sich wiederum um ein Problem von Körperbewusstsein, Geschwindigkeit und Verortung. Zusammen mit den Wartezeiten an Flughäfen führt der Jetlag dazu, dass Müdigkeit auf Flugreisen zu einem Massenphänomen wird. Eine weitere Entwicklung wird durch die Jets vorangetrieben: Der Linienflug etabliert sich, der sich an Luftstraßen (engl.: airways) orientiert.44 Die Luftstra-

41 Schivelbusch 2007, 118. 42 In den deutschen Entsprechungen wird das Leerzeichen ausgelassen, also ›Jetset‹ und ›Jetlag‹. Es handelt sich also genau genommen um Lehnwörter. 43 Gemäß der allgemeinen Relativitätstheorie vergeht die Zeit in einem Flugzeug schneller als auf dem Erdboden, allerdings in extrem geringem Maße. Die sogenannte Zeitdilatation konnte 1971 von J. C. Hafele und R. E. Keating bei Tests mit Atomuhren in Linienflugzeugen nachgewiesen werden und liegt im Bereich von wenigen Nanosekunden. 44 »Die Lenkung des Verkehrsflusses durch die Flugverkehrsdienste geschieht hauptsächlich über Luftstraßen und kontrollierte Strecken sowie über An- und Abflugstrecken. [...] Alle Luftverkehrsteilnehmer, die einen Flug nach den Instrumentenflugregeln durchführen, dürfen unter normalen Umständen nur die hierfür festgelegten Strecken befliegen« (Riedel 1973, 87).

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ßen sind genau wie die Straßen zu Boden mit konkreten Namen versehen.45 Auch die Einteilung des Luftraums folgt einem komplexen System.46 Auch wenn für gewöhnlich nur die Piloten in diese Details eingeweiht sind, sind die Auswirkungen dieses Ordnungssystems auch für die Passagiere ganz konkret nachfühlbar: Der gesamte Ablauf des Flugs ist stark reglementiert, und die wenigen Landschaftseindrücke entlang einer Route sind bei jedem Flug nahezu identisch. Damit nähert sich die Luftfahrt dem Verkehrswesen zu Land in einem wichtigen Punkt an: Wenn sich das Flugzeug beinahe wie auf Schienen oder Auto-Bahnen bewegt – die englischen airways erscheinen auch lexikalisch als Fortsetzung der railways und highways –, rückt das ›Durch‹ wieder verstärkt in den Fokus der Raumwahrnehmung. Die ohnehin entrückte Landschaft wird durchreist, oder besser überreist, anstatt sich in der Landschaft zu bewegen. Abbildung 17: Schaubild zur Luftraumstruktur in Deutschland

Quelle: DFS Deutsche Flugsicherung GmbH

45 »So wie Autobahnen und Hauptverkehrsstraßen werden auch die Luftstraßen mit Bezeichnungen versehen. Hierfür werden Farben und Zahlen verwendet. [...] So gibt es zum Beispiel eine Luftstraße ›Grün Eins‹, die von Westen kommend über Großbritannien, Belgien, die Bundesrepublik, Österreich und einige andere Staaten führt« (Riedel 1973, 88). 46 Siehe Abbildung 17.

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Die Entwicklung der Jets verändert nicht nur die Raumwahrnehmung während des Flugs, sondern auch die Ausgestaltung der Flughäfen. Mehr noch als zuvor kommt es darauf an, große weite Flächen abseits der Stadtzentren für den Flugverkehr freizumachen. Frühe Flugzeuge befördern nicht mehr als ein Dutzend Fluggäste; schon die ersten Jets haben dagegen Platz für rund 180 Passagiere.47 Mit der Ära der Jumbo-Jets wird diese Zahl in den 1970er Jahren noch einmal deutlich erhöht, die Boeing 747 fasst über 400 Passagiere. Mit jedem neuen ›Riesenvogel‹ erhöhen sich die Anforderungen an die Länge und Stärke der Rollbahnen, und die Flughafengelände werden zu ausufernden Asphaltwüsten. Die ersten Flughafenarchitekten der Nachkriegszeit versuchen sich noch darin, die Ödnis mit ungewöhnlichen, offenen Gebäudekonstruktionen positiv umzudeuten. Der Eindruck des leeren Raums und das Transitorische des Fliegens werden dabei nicht vermieden oder verleugnet; beides wird als Zeichen der Zeit explizit betont. Vorreiter dieser Bewegung ist wiederum Le Corbusier, der bereits in den 1940er Jahren von seiner Vision des Flughafens im Stadtzentrum abrückt und sich nun für den weiten Raum begeistert: »La beauté d’un aéroport, c’est la splendeur de l’espace!«48 Das 1962 errichtete TWA-Terminal des Flughafens John F. Kennedy in New York, entworfen von Eero Saarinen, gilt heute als Meilenstein dieser Architektur – es erinnert an einen Vogel mit ausgebreiteten Schwingen.49 Doch angesichts der rapide ansteigenden Passagierzahlen bleiben solche Gebäude die Ausnahmen in der Welt der Flughafenarchitektur. Kaum ist ein Ge47 Die erfolgreichsten Jets der Zeit, die Boeing 707 und die Douglas DC-8, können 179 beziehungsweise 180 Passagiere transportieren. 48 Das Zitat stammt aus einer Rede für den Congrès de l’Aviation française von 1945 (Le Corbusier 1950, 199). Die Formen der Flugzeuge seien so perfekt, dass nichts deren Anblick stören sollte. Der Flughafen sollte deshalb möglichst ›nackt‹ sein: »Un aéroport semblerait donc devoir être nu, entièrement à plein ciel, à pleine prairie, à pleines pistes de ciment« (Le Corbusier 1950, 200). Diese Formulierung lieferte auch den Titel für Gordons Studie Naked Airport. 49 Alastair Gordon ist schon als Kind fasziniert von diesem Bau und dessen einzigartiger Transit-Architektur mit ihren fließenden Formen, Milchglaskonstruktionen und globalisierten Wanduhren: »The interior was a continuously flowing surface of cast concrete. There were no sharp corners, no right angles, no dull flat ceilings. [...] Pilots stepped through pools of milky light. [...] Even the clock that hung from the ceiling had a suggestive globular shape. [...] ›This is unbelievably cool‹, said my cousin« (Gordon 2008, 2).

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bäude fertiggestellt, muss es schon wieder ausgebaut werden. Die Entwicklung vom Verkehrsmittel zum Massenverkehrsmittel vollzieht sich beim Flugzeug in einem außergewöhnlichen Tempo. Immer mehr Menschen strömen in die Terminals: Der Reiseverkehr in den USA erhöht sich zwischen 1955 und 1972 von 7 auf 32 Millionen Passagiere. Die zivile Luftfahrt ist in dieser Zeit der am stärksten wachsende Industriezweig des Landes.50 Das heutige Aussehen von Flughäfen ist auch auf diesen kaum zu bewältigenden aircraft boom zurückzuführen: Gefragt sind nun vor allem leicht zu bauende und erweiterbare Gebäude. Ständig wird angebaut und umgebaut. Im Gegensatz zu den städtischen Bahnhöfen ist hierfür in der Regel auch ausreichend Platz vorhanden; die riesigen Areale außerhalb der Stadt laden dazu ein, in Transitareale umgedeutet zu werden.51 Die gigantischen Flughäfen der späten 1960er und der 1970er Jahre machen technische Innovationen bei der Personenbeförderung innerhalb der Flughäfen notwendig. Die raumtheoretisch interessanteste von ihnen ist der sogenannte astroway: Die heute als Laufband oder Rollsteig bezeichnete Konstruktion ermöglicht die beschleunigte Beförderung von Passagieren entlang der zunehmend langen Strecken zu den Flugsteigen. Selbst die ureigene, körperlichste aller Bewegungsarten des Menschen – der Fußmarsch – wird damit der Mechanik unterworfen. Vorher hatte man solche Laufbänder nur für den Transport von Waren benutzt, nun werden die Passagiere selbst zur beschleunigten Ware. Gordon bemerkt die Folgen dieser Erfindung für die transitorische Reiseerfahrung: »Moving sidewalks helped to accelerate the process, but they added further to an outof-body sense of dislocation.«52 50 Vgl. Gordon 2008, 218. Bereits 1956 reisen mehr Amerikaner mit dem Flugzeug als mit dem Schiff oder der Eisenbahn (vgl. Gordon 2008, 142, 162). 51 Ein Paradebeispiel für diesen neuen Flughafentypus ist der 1974 gebaute Flughafen Dallas/Fort Worth, der größte und teuerste Flughafen seiner Zeit: Wie in einer Reihenhaussiedlung reiht sich Terminal an Terminal. Alles ist auf Erweiterbarkeit ausgerichtet – auf der weiten Fläche zwischen Dallas und Fort Worth ist Platz für bis zu dreizehn Abfertigungshallen und 260 Gates. Die Architektur ist so gleichförmig und dezentralisiert, dass man sich bei der Einweihung des Flughafens tatsächlich die Frage stellt, wo diese stattfinden soll: »There was no ceremonial point of entry or convergence, no distinguishing feature that stood out from the uniform circuitry of honey-brown concrete.« Der leitende Ingenieur des Flughafenprojekts stellt konsterniert fest: »We will have a dedication [...] but I don’t know where« (Gordon 2008, 244 f.). 52 Gordon 2008, 222.

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Spätestens in den 1970er Jahren, im Transit zwischen den immergleichen Formen und Betonbauten, den endlosen Gängen mit den Laufbändern und den notorisch überfüllten Abfertigungshallen, schlägt die Luftfahrteuphorie mehrheitlich in Frustration um. In den 1970er Jahren trägt ein Bestseller aus den USA dazu bei, das negative Bild des Flughafens zu verstärken. Arthur Haileys Roman Airport von 1968 wird erst in den USA, dann auch in Europa zum Erfolg. Der darin beschriebene Flughafen – der fiktive Airport Lincoln International – weist keine Spuren eines Siegeszugs der Technik mehr auf. Er wird als chaotischer, dysfunktionaler Ort präsentiert, der im Laufe der Erzählung immer mehr außer Kontrolle gerät. Schneestürme, zu kurze Landebahnen, psychisch kranke Passagiere, fluglärmgestresste Anwohner und Bombenexplosionen tragen ihren Teil zum Bild des havarierten Flughafens bei.53 So überspitzt sich in dieser Fiktion ein Desaster an das nächste reiht: Auch der nichtfiktionale Flughafen bleibt von Katastrophen nicht verschont. Das Zeitalter der Flugzeugentführungen setzt ein. Zwischen 1969 und 1978 finden weltweit über 400 Entführungen an Flughäfen statt, 75 000 Passagiere sind davon unmittelbar betroffen.54 Terroristische Organisationen entdecken die Flugzeuge und Flughäfen als einfache Mittel, globale Aufmerksamkeit zu erlangen. Politik und Flughafenbetreiber reagieren mit drastischen Maßnahmen, die bis heute das Flugreisen maßgeblich prägen: Die obligatorischen security checks stellen jeden Passagier unter Generalverdacht. »Nur wer unschuldig ist, erlangt Zutritt. Worte zählen hier fast nichts mehr. Keine Individualisierung [...] ohne Identitätskontrolle«, so beschreibt Marc Augé den typischen ›Nicht-Ort‹. Als Beispiel führt er die Sicherheitskontrollen an modernen Flughäfen an.55 Auf das Transitorische der Reiseerfahrung bezogen, haben die security checks ähnliche Folgen für den Flughafen wie die Einteilung des Luftraums für die Flugzeuge: Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Verstärkung des Gefühls von Passivität, des Ausgeliefert-Seins und des Hindurchgeschleust-Werdens. Der Passagier folgt nun bereits innerhalb der Gebäude auf dem Boden einer festen Route. Wände werden in die Hallen eingezogen, um den Fluss der Passagiere

53 Der Roman begründet ein ganzes Genre an Flughafen-Katastrophenfilmen: Die Hollywoodproduktionen Airport, Airport 1975, Airport ’77 und The Concorde ... Airport 1979, die an Haileys Roman anschließen, versuchen sich an katastrophalen Wendungen zu überbieten. 54 Vgl. Gordon 2008, 231. 55 Vgl. Augé 2010, 102 f.

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exakt zu steuern.56 Der festgelegte Gang durch die Schleusen, Detektoren und Scanner konterkariert die Bemühungen der Flughafenarchitekten der 1950er Jahre, die Gebäude offen und weiträumig zu gestalten. Für die neue Ära der Luftfahrt sind ganz andere Qualitäten gefragt: Die Architekten des 1983 fertiggestellten Flughafens in Riad haben zuvor Gefängnisse entworfen.57 Für den durchschnittlichen Reisenden bedeutet die Kombination aus weitläufigen Flughäfen, hohen Passagieraufkommen und langwierigen Sicherheitskontrollen vor allem eins: warten. Es entsteht die eigentümliche Differenz zwischen der extremen Geschwindigkeit an Bord und dem stundenlangen BeinaheStillstand vor dem Abflug. Um in nur wenigen Stunden halb Europa zu überqueren, muss man zuvor ähnlich viel Zeit einplanen, um die Strecke vom check-in bis zum Gate zurückzulegen und dort zu verharren, bis das Flugzeug bereit ist. Bei jedem Zwischenstopp wiederholt sich das Spiel der extremen Gegensätze. Zwar ist nahezu jede Reise von Diskontinuitäten in der Geschwindigkeit geprägt – schon die mittelalterlichen Pilgerreisen verliefen von Herberge zu Herberge, die Postkutschenfahrten von Relais zu Relais –, doch nie zuvor fielen die Unterschiede so extrem aus wie im Fall der modernen Linienflüge. Technisch wäre es durchaus möglich, die Passagiere ähnlich ungehindert zu ihren Verkehrsmitteln zu lassen, wie es im Fall der Eisenbahnen längst üblich ist. Auch das sicherheitspolitische Phänomen der security checks erklärt die enormen Wartezeiten nur teilweise. Vielmehr ist das möglichst lange Verharren der Passagiere im Transit auch ökonomisch ein erwünschter Zustand der Flughafenbetreiber: »Marketing analysts recognized that the most profitable resource was a traveler locked in transit limbo. By the mid-1990s, the average wait for an international flight was as long as two hours and twenty-three minutes and the airport atrium became an anchor for high-end stores, fast-food stands, and other concessions. [...] Sales per square foot at airport malls were reported to be three or four times higher than those at normal shopping malls. As one

56 Vgl. Gordon 2008, 236. 57 Die Architekten George Hellmuth, Gyo Obata und George Kassabaum waren unter anderem für den Bau einer Strafanstalt und einer Hochsicherheits-Psychiatrie in Illinois verantwortlich (vgl. Gordon 2008, 238). Dass die Bemühungen all dieser Sicherheitsspezialisten keinen hundertprozentigen Schutz bieten, und schon ein einfaches Teppichmesser die Weltordnung ins Wanken bringen kann, wenn es sich an Bord eines hochbeschleunigten Jets befindet, wird am 11. September 2001 der globalisierten Öffentlichkeit dramatisch vor Augen geführt.

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airport manager put it, the terminal was becoming a ›shopping mall with planes leaving from it.‹«58

Sowohl die Jagd nach Geschwindigkeit in der Pionierzeit der Luftfahrt als auch die spätere gezielte Reduzierung dieser Geschwindigkeit folgen also ökonomischen Interessen. Der Handel mit den vermeintlich preiswerten Duty-free-Waren wird schnell zu einem Milliardengeschäft.59 Weder Flughafen noch Flugzeug sind also ›vom Himmel gefallene‹ Orte. Noch weniger sind sie schlichtweg ›Nicht-Orte‹ ohne Identität, Relation und Geschichte, wie Marc Augé annimmt und dabei den Flughafen als Prototyp anführt.60 Vielmehr ist der Flughafen ein gewachsener, spezifisch konstruierter und über Jahrzehnte ausgehandelter Transit-Ort, hochangepasst an bestimmte Bedürfnisse. Die Vorstellung eines freien Raums oberhalb des Erdbodens konkurriert anfangs noch mit der Vorstellung des leeren Raums; erst im Laufe des 20. Jahrhunderts wird die Idee der freien Bewegung in der Luft zunehmend verdrängt: Das Flugreisen und die Flughäfen werden semantisch entleert. Am Ende dieses Prozesses steht tatsächlich jene »aseptische Kultur des ortlosen Immergleichen«61, die Jörg auf dem Hövel in den Flughäfen des 21. Jahrhunderts vorfindet. Aus analytischer Perspektive werden diese Orte dadurch jedoch umso interessanter: Was macht sie so unverwechselbar verwechselbar? Was passiert hier überhaupt, und warum? Auch in der Literatur ist der Blick hinter die Kulissen des entleerten Orts ein zentrales Thema. »Was aber geschah hier, wo nichts geschah?« – diese Frage stellt sich die Vielfliegerin Elis in Angelika Overaths Roman Flughafenfische,

58 Gordon 2008, 250 f. 59 Im Jahr 2011 gaben Flugreisende rund 39 Milliarden Dollar für Waren in duty-freeShops aus. Dabei sind diese Waren nur selten günstiger als andernorts, wie Kristin Stoller in der USA Today feststellt (vgl. Stoller 2012). Mit dem Aufschwung der sogenannten Billigflieger in den 1990er Jahren wird diese Entwicklung weiter forciert: Verdient wird nun immer weniger an der Personenbeförderung und immer mehr am Passagier im Transit, der für jedes Extra zusätzlich bezahlen muss. Das Anbieten von Verpflegung gegen Bezahlung ist ein zentrales Merkmal im Konzept der Billigflieger, von dem nur wenige Anbieter abweichen. 60 Marc Augé beginnt seinen Essay Nicht-Orte mit der Beschreibung einer Flugreise (vgl. Augé 2010, 13 ff.). 61 Auf dem Hövel 2006, Abs. 7.

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mitten in der Transithalle eines fiktiven Flughafens.62 Bei der Recherche für ihren Roman hat sich die Autorin Overath an den Londoner Flughafen Heathrow begeben. An den gleichen Ort – und damit schließt sich der Kreis – hat sich im Jahr 2009 ein weiterer Schriftsteller begeben. Es ist der bereits erwähnte Alain de Botton. Warum nun sitzt er dort an seinem Schreibtisch? Ein internationales Bauunternehmen hat nach eigener Aussage »kürzlich ein Interesse an Literatur entwickelt und daher beschlossen, einen Schriftsteller zu einer Woche Aufenthalt im Terminal 5 einzuladen«.63 Dieser »sei gebeten, impressionistische Eindrücke von seiner Umgebung festzuhalten und an einem eigens errichteten Schalter in der Abflughalle zwischen der Zone D und E unter den Augen der Passagiere und des Personals Material für ein Buch zu sammeln«.64 Der Flughafen und die Literatur – das ist angesichts der aufgezeigten Spannungsfelder, der Komplexität des Ortes und seiner Symbolkraft im Zeitalter der Globalisierung tatsächlich eine vielversprechende Kombination. Die Komparatistin Monika Schmitz-Emans kommt in ihrem Aufsatz über Globalisierung im Spiegel literarischer Reaktionen und Prozesse im Jahr 2000 zu dem Schluss: »Die Faszination durch den Flughafen als Schnittpunkt von Kommunikationskanälen und als Ort des globalen Austauschs ist charakteristisch für viele literarische Texte im Zeitalter der Globalisierung. Mit den verschiedensten Enden der Welten direkt verbunden, ein Schwellenraum, der nach allen Himmelsrichtungen geöffnet ist und das Fernste in die Nähe rückt, hat der Flughafen seine eigene Topographie und begründet zugleich ein eigenartiges Ordnungsmuster des globalen Raums. Wenn die Literatur auf die Herausforderungen durch den Globalisierungsprozeß mit einer Mythisierung von Orten reagiert, so nimmt unter diesen Orten der Flughafen zweifellos eine prominente, ja die erste Stelle ein.«65

Neun Jahre später, im Kontext der Veröffentlichung des erwähnten Romans Flughafenfische, findet in der deutschsprachigen Presselandschaft eine erneute Bestandsaufnahme der Mythisierung des Flughafens statt. Ruth Klüger bezeichnet in der Welt das Thema als weiterhin aktuelles Desiderat:

62 Overath 2009a, 28. 63 Botton 2010, 10. 64 Botton 2010, 11. 65 Schmitz-Emans 2000, 305, Hervorhebung L.W.

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»Flughäfen, diese großangelegten, hochmodernen, intensiv überwachten und oft luxuriösen Übergangsorte, die in den letzten Jahrzehnten an Anzahl und Ausmaß ungeheuer zugenommen haben, auf der ganzen Welt wie Unkraut wuchern und sich überall zum Verwechseln ähnlich sehen, sind ein Phänomen, das es verdient, Mittelpunkt, sogar Gegenstand, einer Geschichte aus unserer Zeit zu sein, nicht nur als Kulisse, sondern als Ort selbst, oder als eine Art Un-Ort, wo niemand zu Hause ist.«66

Mit ähnlichem Vokabular blickt Sibylle Birrer in der Neuen Zürcher Zeitung auf das neue Textmaterial: »Dass die Autorin [...] diesen Unort als Handlungsraum ihres neuen Romans wählt, macht neugierig.«67 Demgegenüber stellt Friedmar Apel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung fest: »In Arthur Haileys Roman ›Airport‹ (1968) erschien der Flughafen so klischeehaft wie eindrucksvoll als Allegorie der globalisierten Welt [...]. Seither ist der Ort in Literatur, Film und Werbung bis zur Abstumpfung der Wahrnehmung bebildert worden.«68

Hier Neugier, dort Abstumpfung – die Bewertung des Schauplatzes Flughafen könnte unterschiedlicher kaum ausfallen. Tatsächlich gibt es diverse Werke, die das Transitorische des Flugreisens in der globalisierten Moderne thematisieren. Diese kommen jedoch mehrheitlich aus dem Medium Film: Neben der erwähnten Airport-Reihe der 1970er und 1980er Jahre sind die Spielfilme Terminal (2004) von Steven Spielberg und Up in the Air (2009) von Jason Reitman große Publikumserfolge.69 In der deutschsprachigen Literatur dagegen ist der Flughafen bislang eher als Nebenschauplatz in Erscheinung getreten. Er wird eher als ein Transit-Ort unter vielen, als eine Station im permanenten Transit modelliert. Elke Sturm-Trigonakis skizziert in Global Playing in der Literatur die Umrisse einer kosmopolitischen ›Neuen Weltliteratur‹ des späten 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts70, die sich neben ihrer Multilingualität auch durch ebenjene Vision vom permanenten Transit auszeichnet: 66 Klüger 2010, Abs. 1. 67 Birrer 2009, Abs. 1. 68 Apel 2009, Abs. 1. 69 Weitere Beispiele für die filmische Auseinandersetzung mit dem Transitorischen am Flughafen sind Tombés du ciel (1994, internationaler Titel: Lost in Transit) von Philippe Lioret und die deutsch-französische Produktion Orly (2010) von Angela Schalenec. 70 Vgl. Sturm-Trigonakis 2007, 241 ff.

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»Verschwinden der Distanzen, ein Hüpfen von Punkt zu Punkt, von Metropole zu Metropole, Omnipräsenz in allen Orten zugleich und doch zugleich Existenz in einem Nirgendwo, dazwischen ein vorübergehendes Innehalten an einem konkreten Ort – das zeichnet den Umgang vieler Texte der NWL [Neue Weltliteratur, L.W.] mit Räumen und Orten aus. Die existenzielle Daseinsform ist das Unterwegssein, die Reise: ›Ich saß bloß in einem Taxi, das mich vom Flughafen in die Stadtmitte brachte. Ich war unterwegs wie immer, nichts weiter‹, erzählt die Protagonistin in Yoko Tawadas Überseezungen [...] und kondensiert in diesem kurzen Satz das Leitmotiv einer ganzen Literaturgattung [...]. Die atopische Existenz zahlreicher fiktiver Figuren der NWL findet sich nirgendwo besser versinnbildlicht als im Flughafen, der in zahlreichen Texten auftaucht.«71

Welche Texte damit gemeint sind, bleibt jedoch unklar. Zu begutachten sind lediglich das Zitat aus Yoko Tawadas Erzählung, in der sich der Flughafen aber eben nur als ein Transit-Ort unter vielen präsentiert, sowie ein Abschnitt aus einem spanischen Flughafenroman72. Das vielleicht populärste Beispiel einer solchen multilokalen Darstellungsform in der deutschsprachigen Literatur der letzten Jahrzehnte ist Christian Krachts Roman Faserland, der aus einer einzigen großen Transitbewegung von Nord- nach Süddeutschland bis in die Schweiz besteht. Dabei streift der IchErzähler auch die Flughäfen von Hamburg und Frankfurt – aber er streift sie eben nur, bevor er weiterreist, mit dem Taxi, mit dem Zug, ins Hotel, weiter mit dem Auto und ins nächste Hotel. Auch Gregor Hens ist ein solcher Transiterzähler der Jahrtausendwende. In Transfer Lounge hat er vierzehn Erzählungen über das Reisen zusammengetragen, von denen immerhin eine am Flughafen beginnt – doch schon nach wenigen Absätzen heißt es dort: »Lass uns zum Hotel zurückkehren«73. Und schließlich resultiert auch Alain de Bottons Experiment vom Schreibtisch in Heathrow nicht in einem großen Roman, sondern in einer eher kurzweiligen Sammlung essayistischer Betrachtungen.74

71 Sturm-Trigonakis 2007, 212. 72 In dem Roman Carlota Fainberg von Antonio Muñoz Molina stranden zwei spanische Landsleute an einem amerikanischen Flughafen (1999, deutscher Titel: Carlotas Liebhaber). Vgl. Sturm-Trigonakis 2007, 212. 73 Hens 2005, 16. 74 Diesen Eindruck bestätigt Christopher Schaberg, der in seiner Studie über Flughäfen und Literatur zu der Einschätzung kommt: »His book – which is not quite a novel but

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Was ist der Grund für die Differenz zwischen der starken Symbolkraft des Flughafens und seiner eher schwach ausgeprägten literarischen Verwertung? Anknüpfend an die Beobachtungen zum leeren Raum lässt sich vermuten: Am Schauplatz Flughafen ergeben sich Probleme der Narrativität; dieser Ort ist ›schwer erzählbar‹. Deutlich bringt dies Manfred Papst in der Neuen Züricher Zeitung zum Ausdruck, in Abgrenzung zum Transit-Ort Bahnhof: »Bahnhöfe haben Charakter. Sie sind staubig, russig oder blitzblank, windig oder düster, sie riechen muffig oder würzig, nach Kebab oder scharfem Putzmittel. Flughäfen dagegen sind alle gleich. Gestylt. Anonym. Steril. Die Duty-Free-Shops, Restaurants, Laufbänder und Wartehallen ähneln sich alle. In diesem globalen Transit- und Konsum-Nirgendwo wissen wir alsbald nicht mehr, wo wir sind.«75

Ähnlich grenzt Cordula Seger das mondäne Grand Hotel vom Flughafen ab, auch im Hinblick auf das Transitorische: »Die Erfahrung des Dazwischen kommt nicht mehr dem Aufenthalt an einem Schauplatz außerhalb des Alltäglichen und der damit verbundenen Irritation des Gewohnten zu. Der Alltag selbst ist eine Kette gesichtsloser Zwischenräume, wie sie die anonymen Wartehallen internationaler Flughäfen darstellen.«76

Noch drastischer fällt die Bilanz der Publizistin Sibylle Birrer zur FlughafenTransithalle aus: »Es ist ein Ort zum Vergessen«, stellt sie schon im ersten Satz ihrer Rezension von Overaths Flughafenfische fest.77 Damit entzieht sich der Ort grundlegend dem Medium Literatur als Medium der Erinnerungskultur.78 Ist der Flughafen nun also doch ein ›Un-Ort‹, ein ›Nicht-Ort‹, zu dem es nichts zu erzählen gibt? Die Beispiele aus dem nicht minder narrativen Medium Film sprechen dagegen, und auch die Studie The Textual Life of Airports des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Christopher Schaberg kommt zu anderen Ergebnissen. Er attestiert dem Flughafen ein außergewöhnliches Maß an nevertheless follows a carefully structured arc – [...] records his various meetings with travellers and airline employees alike« (Schaberg 2012, 97). 75 Papst 2009, Abs. 1. 76 Seger 2005, 478. 77 Birrer 2009, Abs. 1. 78 Vgl. hierzu den Aufsatz Literatur als Medium der Erinnerungskultur von Astrid Erll und Ansgar Nünning (Erll/Nünning 2005).

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›Textualität‹: Als Topos bringt der Flughafen auf vielschichtige Weise Texte hervor. Zu diesen Texten zählt er die sogenannten airport novels, die im Englischen ein eigenes literarisches Genre der Unterhaltungsliteratur bilden79, sowie – in poststrukturalistischer Tradition – kulturelle Texte wie die codierte Kleiderordnung des Personals oder die Gestaltung der Anzeigetafeln.80 Auch literarische Texte, die sich dieser Codes bedienen, macht er ausfindig, beschränkt sich dabei allerdings auf die englischsprachige Literatur. Das Zwischenfazit fällt also gemischt aus: Zwar ist die mehrheitliche Wahrnehmung des Flughafens als Ort der Leere ein Problem für dessen literarische Gestaltung, doch das ist nicht das Ende der Flughafenliteratur. Vielmehr kann »gute Literatur in solch wenig einladender Kulisse erst recht ihren eigenen, nach innen gewandten Zauber der Imaginationen und Stimmungen entwickeln – und damit auch einen Raum neu lesbar machen«81, wie Sibylle Birrer feststellt.

»W AS ABER GESCHAH F LUGHAFENFISCHE

HIER , WO NICHTS GESCHAH ?«:

»Warum, dachte ich, sollte ich nicht wieder von einem Raum aus beginnen?«82 So beschreibt Angelika Overath den Entstehungsprozess von Flughafenfische in einem Werkbericht. Schon ihr erster Roman Nahe Tage sei »vom Raum aus geschrieben«, hebt sie in der Neuen Zürcher Zeitung hervor, »von der alltagsgesättigten Enge einer Dreizimmerwohnung, in der eine gerade gestorbene Mutter gewohnt hat«.83 Auch ihr zweiter, 2009 veröffentlichter Roman setzt sich mit

79 Diese airport novels sind vergleichbar mit dem deutschen Groschenroman oder dem französischen roman de gare, der ebenfalls nach einem Transit-Ort benannt wurde. Sie sind typischerweise in den Flughafen-Buchläden erhältlich und bieten dem Reisenden einfach zu lesende, leichte Unterhaltung für die Reisezeit. Ihre Bezeichnung haben sie also nicht durch den inhaltlichen Bezug zum Flughafen, sondern durch ihre soziale Funktion (vgl. Schaberg 2012, 12). Gelegentlich finden sich auch im deutschen Sprachgebrauch die Begriffe Flughafenroman und Flughafenliteratur, zum Beispiel in einem Artikel über Trivialliteratur in der Zeitung Die Welt (vgl. Stein 2009). 80 Vgl. Schaberg 2012, 2 ff. 81 Birrer 2009, Abs. 1. 82 Overath 2009b, Abs. 3. 83 Overath 2009b, Abs. 3.

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Räumen auseinander, allerdings nicht mit den statischen, geordneten Räumen einer Kleinfamilie. Flughafenfische ist ein Buch der Transit-Räume. Der Raum, von dem aus Angelika Overath ihr Buch zu schreiben beginnt, ist der Raum eines Aquariums inmitten eines Flughafens. Auf diese ungewöhnliche Konfiguration stößt Overath Mitte der 1990er Jahre, als sie »müde und zwischen die Zeitzonen gefallen, ein paar Stunden im Transit des Londoner Flughafens Heathrow überbrücken« muss: »Es war, so erinnerte ich mich, ein phantastischer Raumteiler, voller tropischer Fische und Blumentiere«.84 Als sie zehn Jahre später für ihren Roman recherchiert, muss sie feststellen, dass ihr die Müdigkeit einen Streich gespielt hat: Das vermeintliche Riesenaquarium fasst gerade einmal »vier, fünf Fische, ein paar Steine«.85 Die Faszination für die seltsame Verbindung von Natur und Technik, von Wasser und Luft, von begrenztem Container und entgrenztem Flughafenraum bleibt ihr jedoch erhalten – und so wird ein riesiges Aquarium in einem fiktiven, nicht näher benannten Flughafen zum ungewöhnlichen Schauplatz ihres Romans Flughafenfische. Jenes Aquarium steht in einer Halle, die explizit als »Transithalle«86 markiert ist, also als Halle für Passagiere, die auf einen Anschlussflug warten. Die Ausrichtung auf das Transitorische, die den Gesamtort Flughafen ohnehin prägt, ist innerhalb der – auch alltagsweltlich so bezeichneten – transit area nochmals funktional gesteigert: Jedes Geschäft, jedes Café, jedes Möbelstück in diesem Bereich dient allein der Versorgung von Personen, die sich im Transit befinden. Auch die Reisenden werden in Flughafenfische explizit als Transitreisende bezeichnet, insgesamt fällt das Wort Transit in dem relativ kurzen Text neunmal.87 In diese unverkennbar transitorische Halle wird also etwas platziert, das beschrieben wird als »das kleine Meer, das hier im Flight Connection Centre die fensterlosen Fluchten der Einkaufsareale abteilte vom Oval einer Ruhezone, deren Glasfront einen weiten Panoramablick auf die Flugzeuge bot.

84 Overath 2009b, Abs. 2. 85 Overath 2009b, Abs. 8. Anderenorts sind großangelegte Aquarien an Flughäfen keine Fiktion. Das derzeit größte Flughafenaquarium befindet sich am Vancouver International Airport. Mit ca. 110 000 Litern Fassungsvermögen ist es jedoch deutlich kleiner als das imaginierte 200 000-Liter-Aquarium des Romans. 86 Overath 2009a, 51. 87 Vgl. Overath 2009a, 15, 29 (»Transitreisende«), Overath 2009a, 24, 27, 31, 43, 51, 83, 154 (»Transit«, »Transit-Ticket« etc.).

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(Unter anderem ist es ein Raumteiler, dachte Tobias, unter anderem.) Es war ein buntbewegter Glaskörper, ein Segment Lagune, wie aus einem Ozean herausgeschnitten.«88

Der »Raumteiler«, wie das Aquarium noch mehrfach genannt wird89, ist tatsächlich ein Objekt der räumlichen Teilung. Die eigentliche Teilung vollzieht sich jedoch weniger zwischen der Ruhe- und Einkaufszone als vielmehr zwischen dem Aquarium selbst und dem umgebenden Flughafen. So wie der Roman nicht von einer Person aus, sondern ›vom Raum aus‹ geschrieben ist, so ist auch sein zentrales narratives Ereignis nicht durch ein Subjekt motiviert, sondern durch das aquatische Objekt in der Transithalle. Es trennt den dynamischen, aber gleichförmigen und ermüdenden Transit-Ort Flughafen von dem statischen, aber vielgestaltigen und überraschenden Leben im Aquarium. Der zuständige Tierpfleger und »Aquarist«90 Tobias hebt die Bedeutung des Orts hervor: »Natürlich war dieses Aquarium interessant. Es war ungewöhnlich. Spektakulär. Es war eine Kostbarkeit, es war vermutlich das Beste, was die Reisenden auf ihren Reisen zu sehen bekamen.«91

Das Überraschende und Überwältigende des Aquariums zeigt sich besonders eindrücklich in dem Moment, als die zweite Protagonistin und Transitreisende Elis zum ersten Mal darauf stößt: »Sie ging weiter. Und auf einmal sah sie es. Hinter den Tischen des Cafés, wo sich die Halle zu einem Rund öffnete mit Zugängen zu anderen Gates und nochmals in eine gläserne Höhe aufstieg mit Rolltreppenanlagen und Liften, die zu weiteren Ebenen führten, da schwammen Fische. Da stand ein Aquarium. Nein, nicht einfach ein Aquarium. Ein riesiges Becken erhob sich, offensichtlich in der Funktion eines Raumteilers. Das gibt es nicht, dachte sie und ging vorsichtig darauf zu, Fische im Flughafen! Schritt für Schritt näherte sie sich dem Bassin, als könnte das gefaßte Wasser gleich wieder verschwinden.«92

88 Overath 2009a, 9. 89 Vgl. Overath 2009a, 9, 53, 65. 90 Overath 2009a, 11. 91 Overath 2009a, 15. 92 Overath 2009a, 64 f.

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Das Aquarium wird hier als Wasserort und im Kontrast zu seiner Umgebung entworfen: Während sich die Dimensionen der Transithalle nicht fassen lassen (»mit Zugängen zu anderen Gates«, »nochmals in eine gläserne Höhe«, »zu weiteren Ebenen«), ist das Wasser des Beckens »gefaßt« und die Funktion des Beckens »offensichtlich«. Während Elis im Transit »fahrig« wird und permanent unter Dehydration leidet93, ermöglicht der Anblick des Wasserbeckens Entspannung: »Und indem sie nun in die Bewegung der Fische sah, schien ihr auf einmal der ganze Raum langsam zur Ruhe zu kommen.«94 Und schließlich ist das Aquarium auch der Ort, an dem sich die Hauptfiguren Tobias und Elis begegnen, während man anderenorts nur aneinander vorbeigeht95. Das aquatische Leben erscheint hier als eine Art Gegenentwurf zum Transitleben der anderen Passagiere. Neben dem Aquarium gibt es noch eine zweite auffällige Raumkonstruktion in der Halle des namenlosen Flughafens. Es ist der Raucherbereich, in dem sich die dritte Hauptfigur des Romans aufhält, ein Professor für Biochemie. »In Flughäfen gibt es Raucherfoyers, in denen Menschen hinter Scheiben sitzen; es sind dem Aquarium verwandte Glaskörper«96, hält Overath in ihrem Werkbericht fest. Die Verwandtschaft wird auch im Roman angedeutet, wenn Elis im Vorübergehen anmerkt: »Links begann ein in die Halle gesetzter gläserner Raum, der Rauchern vorbehalten war. Wie im Zoo, dachte sie. Da inhalierten die exotischen Rauchertierchen.«97 93 »Mit den Fingerspitzen suchte sie fahrig die Knöpfe ihrer Bluse. Sie blies sich Atem gegen die Stirn. Ihr wurde schwindelig. Ich habe zu wenig Wasser getrunken, dachte sie. In ihrer Hand hielt sie ihren Paß und das Transit-Ticket bereit« (Overath 2009a, 30). Die Wasserknappheit ist ein wiederholtes Motiv des Romans; Elis trinkt während ihres Zwischenstopps eine Wasserflasche nach der anderen leer (vgl. Overath 2009a, 62, 82, 110, 122, 160). Damit ergeben sich Parallelen zu dem Versepos The Waste Land von T.S. Eliot, das im Roman zitiert wird. Im Schlussteil des 1922 veröffentlichten Gedichts heißt es: »Here is no water but only rock / Rock and no water and the sandy road / The road winding above among the mountains / Which are mountains of rock without water / If there were water we should stop and drink« (Eliot 2008, Zeile 332 ff.). 94 Overath 2009a, 65. 95 Vgl. Overath 2009a, 14, 28: »Diese Reisenden kamen ihm unter als Umgeleitete, Verirrte aus allen Kontinenten« / »Wir sind ein Volk von Umgeleiteten. [...] Eine Weltfluggesellschaft«. 96 Overath 2009b, Abs. 5. 97 Overath 2009a, 63.

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Aus dem Aufenthaltsort von Elis lässt sich schließen, dass sich der gläserne Raucherbereich in derselben Transithalle befindet wie das Aquarium. Erneut gibt es hier also eine Gegenüberstellung von Transit-Ort und einem darin integrierten, ›anderen‹ Ort. Dabei ist der Raucherbereich jedoch negativ konnotiert, sowohl aus der Außensicht von Elis als auch aus der Sicht des rauchenden Insassen: »Komische Innenräume. [...] Sie haben uns isoliert. [...] Klarer Fall von Mobbing. Eine Demütigung. [...] Ein ausgegrenzter Raum für Aussätzige.«98 Der Ort erscheint damit als klassische Abweichungsheterotopie im Sinne Foucaults.99 Gemeinsam ist den Orten Raucherfoyer und Aquarium jedoch – neben der Glasbegrenzung und den Größenverhältnissen100 – der Eindruck der Ruhe im Gegensatz zum hektischen Treiben ringsum. Die Passagiere draußen »ziehen Rollkoffer in ungeheurer Wichtigkeit, rennen durcheinander. Sie verlaufen sich, meinetwegen, aber sie folgen ihrem eigenen Bewegungsdrang. Während wir uns hier [...] stumm und dumm anrauchen«.101 Dennoch eröffnet der geschlossene, statische Ort dem Professor eine Möglichkeit zur Reflexion seines Zustandes – und die Möglichkeit, sich ungestört mit duty-free-Whisky zu betrinken, während er über seine gescheiterte Ehe nachdenkt. Beide Glaskörper, das Raucherfoyer und das Aquarium, werden also in ähnlicher Weise im Kontrast zu ihrer Umgebung entworfen. Diese Umgebung, das transitorische Außen, setzt sich aus der bereits skizzierten Transithalle zusammen, aber auch aus weiteren Anschlussorten außerhalb des Flughafens. Diese bilden den dritten Raum, den Angelika Overath wohl meint, wenn sie angibt, ihre drei Figuren seien »über drei Räume« entstanden102 : den Raum der Vielfliegerin Elis. Er konstituiert sich nicht nur am Boden, sondern vor allem in der Luft, unterwegs im Flugzeug.

98 Overath 2009a, 32 f. 99 Siehe Kapitel ›Exkurs: Transit-Räume als Heterotopien‹. Die Vergleichbarkeit mit den bei Foucault beispielhaft genannten Orten Psychiatrie und Gefängnis wird noch verstärkt, wenn der Raucher hinzufügt: »Und draußen die Reinen. Schön ist es immer, wo die andern sind« (Overath 2009a, 32). 100 Der Professor schätzt den Raucherbereich auf 15 mal 5 Meter (vgl. Overath 2009a, 33). Bei der üblichen Mindestraumhöhe von 2,5 Metern ergibt sich ein Volumen von 187,5 Kubikmetern, was 187 500 Litern Fassungsvermögen entspricht. Das Aquarium fasst 200 000 Liter (vgl. Overath 2009a, 11). 101 Overath 2009a, 32 f. 102 Vgl. Overath 2009b, Abs. 6.

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Die erste Beschreibung einer Flugreise ist vergleichsweise kurz, vermittelt aber dennoch anschaulich die Besonderheiten von Elis’ Raumwahrnehmung an Bord: »Während des Flugs war sie manchmal von unregelmäßigen Geräuschen geweckt worden, [...] um gleich wieder weiterzuschlafen, 10 000 Meter über der Erdoberfläche, jeder Entscheidung enthoben [...]. Im Grunde liebte sie diese leeren Stunden im Luftraum. Hier war sie sicher. Hier war sie für eine kurze Weile nicht mehr und für nichts mehr verantwortlich. Sie hatte sich einem geschlossenen Flugkörper übergeben und lebte in der Autorität seiner technischen Leistung. [...] Unbeteiligt sah sie hinaus auf die unwirklich-realen Muster der Wolken, der Flußläufe, der Gebirgszüge, der Meere. Sie blinzelte in die blendende Sonnenkugel und befand, daß dies alles sie noch nicht betraf. Sie zog den Mantel über ihr Gesicht. Sofort nahm das vibrierende Brummen der Motoren sie wieder auf, und sie war eingeschlafen.«103

Die Passivität des Reisens (»jeder Entscheidung enthoben«, »unbeteiligt«), das Gefühl der Leere (»leere Stunden im Luftraum«), die Geschlossenheit des Verkehrsmittels (»geschlossene[r] Flugkörper«), die fehlende Tiefenschärfe beim Blick von oben (»die unwirklich-realen Muster der Wolken, der Flußläufe«), die Müdigkeit durch Jetlag (»um gleich wieder weiterzuschlafen«) – all diese Phänomene der spätmodernen Passagierluftfahrt werden hier in wenigen Sätzen zur Sprache gebracht. Für Elis sind die vermeintlichen Mängel des Düsenfliegens jedoch eher erleichternd – hier hat die Magazinfotografin und »Augenarbeiterin«104 ihre Ruhe, hier kann und muss sie nichts sehen.105 Erneut aufgegriffen werden diese Eindrücke, wenn sich Elis in der Transithalle an ihre letzte Liebesaffäre erinnert – passenderweise an eine Affäre mit einem Piloten. Er wird als »unangestrengt«, »unverbindlich«, »staublos« und »bügelfrei« beschrieben.106 Damit erhält er ›luftige‹ Attribute, die zum Einen an das Flüchtig-Windige in Seghers’ Transit erinnern, zum Anderen an den entleerten Raum der Luftfahrt im Allgemeinen denken lassen, wie Elis anschließend selbst reflektiert: 103 Overath 2009a, 25. 104 Overath 2009a, 24. 105 »Unbeteiligt sah sie hinaus auf die unwirklich-realen Muster der Wolken, der Flußläufe, der Gebirgszüge, der Meere. Sie blinzelte in die blendende Sonnenkugel und befand, daß dies alles sie noch nicht betraf« (Overath 2009a, 26). 106 Vgl. Overath 2009a, 54 f.

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»Er war [...] unverbindlich aufmerksam. Vielleicht kam das vom Fliegen, vielleicht wurde man so, wenn man die Erde alltäglich nur aus großer Höhe sah. (Was hatten denn die Alpen von oben gesehen zu tun mit einem Wurzelweg entlang an einem Gebirgsbach?) Oder eben gar nicht sah. Nur das Weiß der Wolken. Die Fahnen der Nebel. Den wattigen, bodenlosen Grund. Die Seen aus Kaltluft und immer höher, bis das Licht merklich abnahm und das Weltraumdunkel begann.«107

Die Planperspektive beim Blick aus dem Flugzeug wird hier noch deutlicher hervorgehoben, in Abgrenzung von der traditionellen Sichtweise beim Wandern durch die Natur: Der Wanderer nimmt den »Wurzelweg«, der Pilot dagegen ist – so der Umkehrschluss – von allen Orten ent-wurzelt. Die Beschreibung des Piloten als Prototyp des modernen Transitmenschen gipfelt in dem Satz: »Sein Beruf, so war es ihr dann erschienen, das war die leere, weiße Ästhetik von Bewegungsbögen in den Himmel gezogen, eine Eleganz der Distanz.«108 Mit diesen erzählerischen Mitteln wird versucht, ein Spannungsverhältnis zwischen den dynamischen, gewohnten und entleerten Orten des Flugreisens und den ruhigen, ungewohnten und bedeutsamen Orten hinter Glas zu etablieren. Doch die Ansätze werden im Roman insgesamt nicht konsequent verfolgt. Anders als etwa in Bahnwärter Thiel, wo sich die unterschiedlichen Raumkonzepte bis zuletzt feindlich gegenüberstehen und in einer tödlichen Konfrontation enden, wird das Spannungsverhältnis durch eine zweite Erzählstrategie sozusagen ›verwässert‹. Diese Erzählstrategie betrifft vor allem den Ort Aquarium – und deutet sich im Buchtitel bereits an: Nicht von Flughäfen und Fischen soll hier erzählt werden, sondern von Flughafenfischen. Die Wasserwelt ist nicht nur integraler Bestandteil des Flughafens, sie dient auch als Metapher für das Reisen im Transit. Die Reisenden werden als Fische imaginiert, die sich wie ein Schwarm durch die Transithalle bewegen.109 Das Aquarium ist der Sammelpunkt jener Metaphorik, 107 Overath 2009a, 55. 108 Overath 2009a, 55. 109 Das Motiv der Flughafenfische ist auch anderenorts erprobt worden. Im Archiv der Marketingabteilung von British Airways findet sich eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit dem imaginativen Material des Romans: Ausgerechnet in einem Werbespot für den Flughafen Heathrow – also jenen Flughafen, der sowohl Alain de Botton als auch Angelika Overath zum Schreiben inspiriert hat – wird das Terminal als gigantisches Aquarium in Szene gesetzt. Fische schwimmen durch die Halle, durch die Gänge, durch die Sicherheitskontrollen, über die Rolltreppen, Schildkröten ma-

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die sich im Laufe des Romans zu einer zentralen Erzählstrategie ausweitet. Bereits zu Beginn zeigt sich das Verfahren, wenn aus der Perspektive des Tierpflegers Tobias erzählt wird: »Mit den Jahren aber hatte er kleine, zunächst kaum irritierende Veränderungen an sich wahrgenommen. Sein prüfender Blick auf das Leben der Fische war, ohne daß er es gewollt hätte, immer öfter und länger auf die Reisenden übergegangen. Wenn sie herabkamen aus der Höhe der gläsernen Halle, Flügellahme auf elektrischen Treppen, über mobile Bänder gleitend mit ihren Rollkoffern, registrierte er sie als Schwarm. [...] Diese Reisenden kamen ihm unter als Umgeleitete, Verirrte aus allen Kontinenten, ein exotischer Fang. Hatten sie den Zoll passiert, strömten sie ohne Ziel in die Halle, ließen sich von den Spiegelbrechungen der Verkaufslabyrinthe anziehen, den Cafés und Bars. Nach und nach nahmen sie Orientierung auf. Ihre Blicke suchten die Startpläne, die in einem Lamellengefieder über ihren Köpfen rauschten und ihr Dasein hier bestätigten.«110

Die Wasserwelt erscheint also letztlich nicht nur als Gegen-, sondern auch als Spiegelbild des transitorischen Lebens in der Flughafenhalle. Die Kontrastwirkung zwischen Flughafen und Aquarium wird offenbar in erster Linie eingesetzt, um den Blick der Hauptfigur Elis zu lenken, um also die Gewohnheitsfliegerin mit einem ungewohnten Ort zu konfrontieren. Ist die Aufmerksamkeit erst einmal geweckt, regt das Leben im Wasser zu Reflexionen an, die weit über das anfängliche Staunen hinausgehen und der Kontrastwirkung sogar widersprechen können. Damit lässt sich auch das Aquarium als Heterotopie im Sinne Foucaults beschreiben. Diese Erzählstrategie ist insofern bemerkenswert, als sie einen Hinweis darauf liefert, dass der Flughafen tatsächlich ein ›schwer erzählbarer‹ Schauplatz ist, wie im vorigen Kapitel vermutet wurde. Auch der hier konstruierte Flughafen ist offenbar so entleert und gleichförmig, dass es erst eines explizit ungewöhnlichen, ›anderen‹ Ortes bedarf, um davon erzählen zu können. Erst nachdem der vermeintliche ›Nicht-Ort‹ mit einem bedeutsamen Ort angereichert wurde, kann sich die Metaphorik des Transitschwarms entfalten.

chen es sich an der Bar gemütlich, sogar die Rochen aus Overaths Roman tauchen auf (O.A. 2009). Ob sich Werbespot und Roman wechselseitig beeinflusst haben, bleibt offen – zumindest zeigt sich, dass die Verbindung von Flughafen und Fischen so abwegig nicht ist. 110 Overath 2009a, 13 f.

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Dieses Problem der Narrativität wird auch im Roman thematisiert. Interessanterweise wird der Flughafen dabei mit Transit-Orten früherer Zeiten verglichen, bei denen das Problem offenbar nicht auftrat: »Wenn die alten Reiseberichte nicht logen, konnte man sich in Kutschen tagelang Novellen erzählen, und noch das Zugabteil war ein guter Raum für eine Lebensbeichte. Was aber geschah hier, wo nichts geschah? Ein blindes Einstimmen von Körpern, ein stummes Sortieren von Lebenswegen in den Bahnen funktionstüchtigen Materials.«111

Der Ort, an dem nichts geschieht, braucht also ein Geschehen, und ebenjene Lücke füllt das Aquarium. Auch das Raucherfoyer ist mit seiner heterotopen Konfiguration ungewöhnlich genug, um zum Ereignis zu werden; es bleibt jedoch eher ein Nebenschauplatz, ein schwächeres Pendant des Aquariums.112 Die Konzentration auf das Aquarium löst noch ein weiteres Problem des Schauplatzes Flughafen – seine Unüberschaubarkeit, seine komplexe Zusammensetzung aus einer Vielzahl von Orten, Handlungen und Personen. Wenn es an den alltagsweltlichen Flughäfen selbst den Planern und Architekten kaum möglich ist, diesen Ort als Ganzes zu erfassen, erscheint es nur konsequent, wenn der Erzähler von Flughafenfische es gar nicht erst versucht. Stattdessen bündeln die literarischen Orte Aquarium und Raucherfoyer den unüberschaubaren Ort Flughafen jeweils in einem überschaubaren Bassin oder Glaskasten – ganz ähnlich wie das Hotel im Hinblick auf die Großstadt. Verstärkt wird der Effekt noch dadurch, dass ein Großteil der Orte außerhalb des Flughafens bereits im ersten Absatz des Romans ausgeblendet wird. Der Erzähltext beginnt mit der Beobachtung des Tierpflegers Tobias, dass »der Nebel zu einer Wand gewachsen war und die Rollfelder, die Start- und Landebahnen und die Flugzeuge einfach weggenommen hatte«.113 Während des ganzen erzähl111 Overath 2009a, 28, Hervorhebung L.W. 112 Die Geschichte um den Raucher erhält nicht nur gemessen an den Kapiteln weniger Raum im Text, sie wird auch erzählerisch wenig weiterentwickelt. Der Raucher bleibt in seinem Glaskasten, bis er schließlich auf der Flughafentoilette zusammenbricht. Auch die zugehörige Raumidee wird nicht weiter entfaltet. Beides hat wohl dazu beigetragen, dass die Raucherkapitel in der Literaturkritik als »leer«, »vorhersehbar«, »blass«, »klischiert«, »überflüssig«, »unmotiviert« und »verzichtbar« bezeichnet wurden (vgl. Birrer 2009, Michel 2009, Moritz 2009, Schröder 2009, Tolksdorf 2009). 113 Overath 2009a, 7.

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ten Tages ändert sich an dieser Wetterlage wenig.114 Übrig bleiben die Orte in der Transithalle, die erinnerten Orte der Hauptfiguren sowie die wenigen Orte, die Elis auf dem Weg vom Flugzeug in die Halle durchquert. Noch gegen Ende der Erzählung hängt der Nebel draußen. Hier hebt Tobias den verstärkenden Effekt für die Innenwelt ausdrücklich hervor: »Tobias kannte den Nebel. Er nahm Flugzeuge weg und schien die Lichter der Rollfelder aufzusaugen. Je ferner das Außen nun wirkte, um so konturierter wurde das Glitzern in der Flughafenhalle. Auch alle Geräusche bekamen eine neue Dringlichkeit. [...] Das Aquarium leuchtete still.«115

Mit dem einfachen, auch in Arthur Haileys Airport eingesetzten erzählerischen Mittel116 der Sichtbegrenzung wird einerseits ein zeitlicher Rahmen gesetzt – die gesamte Erzählung vollzieht sich während des Wartens auf bessere Sicht –, anderseits wird auch ein räumlicher Rahmen gesetzt, der den wuchernden Flughafenkomplex117 auf einen erzählbaren Bereich begrenzt, in dessen Zentrum das Aquarium leuchtet. Derartig gebündelt, kann das leuchtende Becken als Pars pro toto die Passagierströme der ganzen Welt repräsentieren, wie Tobias weiter sinniert: »Gut, er war verantwortlich für dieses eine Aquarium im Flight Connection Centre. Aber es ging doch um mehr. Hier strömten nicht nur täglich Reisende aus allen Kontinenten zusammen und sammelten sich für kurze Zeit, um wieder in andere Himmelsrichtungen zu starten, hier berührten sich auch die Wasser der Welt.

114 Zeitweise lichtet sich der Nebel etwas, Elis erkennt die Signalleuchten an den Flugzeugen sowie »weitere Hallen in einem unerklärlichen Weiß« (Overath 2009a, 152). Zuletzt wird der Nebel aber wieder dichter, »vor der Scheibe waren keine Flugzeuge mehr zu sehen« (Overath 2009a, 172). 115 Overath 2009a, 136. 116 Im ersten Kapitel von Airport heißt es: »Tonight you could see only a few lights. This was an unusually hard winter. The storm had started five days ago in the Colorado Mountains, and then swept across a large part of the United States. It brought strong winds, freezing cold and heavy snow« (Hailey 1999, 1 f.). Auch hier bleibt die eingeschränkte Sicht bis zum Schluss bestehen. 117 Der fiktive Flughafen zählt zu den »größten Flughäfen der Welt«, er ist »groß und zu überlastet« (Overath 2009a, 11, 75).

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Tobias sprach mit niemandem darüber. Aber er nahm die Ströme wahr. Er spürte, wie sie insgeheim durch diesen geographischen Punkt liefen.«118

»Es ging doch um mehr« – diese Bemerkung ist ein Indiz für die Bewertung des Schauplatzes Aquarium. Normalerweise präsentiert sich ein Aquarium wenig transitorisch: Es ist klar begrenzt, bewegt sich nicht von der Stelle und stellt für die Fische, Anemonen oder Krebse selten einen Durchgangsort dar, sondern ein permanentes Zuhause, das die Bewohner lebenslang nicht mehr verlassen. Wenn also der Wasserort als Transitmetapher funktionieren soll, dann ist dies nur über den Verweis auf die Wasser der Welt möglich, also auf den Meeresraum, der in Relation zum globalisierten Luftraum gesetzt wird. Aus diesem Meeresraum ist der Ort Aquarium nur ein Ausschnitt, genauso wie ein Flughafen nur einen Ausschnitt aus dem Raum der Luftfahrt darstellt – beide sind zwar eigenständige Lokalitäten, aber ohne den globalen Anschluss undenkbar. Und so ist dann auch das Riffaquarium in der Transithalle ein »globales Riff«, in dem sich »vielfarbige Fische aus verschiedenen Ozeanen« tummeln, »Exemplare aus fast allen tropischen Meeren«.119 Besonders deutlich zeigt sich die Konstruktion als Ausschnitt bereits im ersten Kapitel, wenn der Erzähler das Aquarium als »ein Segment Lagune, wie aus einem Ozean herausgeschnitten«, als »eine professionell arrangierte, bemessene Portion Korallenriff«120 beschreibt, womit die Teil-Ganzes-Relation gleich dreimal hervorgehoben wird. Erst als erzählerisch derart globalisiertes Aquarium kann es zu dem »Dreh- und Angelpunkt für die Entlarvung von Denk-Schemata« werden, zu der »Quelle der Metaphern«, die die Rezensentin Renate Schauer in Overaths Roman ausmacht.121 Metaphorisch in Beziehung gesetzt werden also der globalisierte Luftraum der Menschen und der globalisierte Meeresraum der Tiere sowie die Bewegungen durch diese Räume: als Schwarm, als anonyme Masse, synchronisiert und doch beziehungslos. Die koordinierten Schwarmbewegungen der Fische, bei denen die Bewegungsfreiheit des Einzelnen nichts zählt – »was weiß der Schwarm

118 Overath 2009a, 21. 119 Overath 2009a, 19. 120 Overath 2009a, 9, Hervorhebungen L.W. 121 Schauer 2009, Abs. 2.

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vom Fisch?«122 – entsprechen hier den festgelegten Flugrouten im entleerten Raum der Passagierluftfahrt.123 Im weiteren Verlauf der Erzählung präsentiert sich die FlughafenfischMetaphorik jedoch weitaus weniger unmittelbar als in den bisher zitierten Passagen. Zwar werden die Transitreisenden wiederholt mit Tieren verglichen – »er sah, wie das Kind seinen nackten Gaumen bleckte«, »das Kind [...] öffnete [...] auf Lippenberührung den Mund und nahm Nahrung an«, »dieser Vater dort entspannt sich in Lauerstellung«124 –, solche Beobachtungen geschehen aber eher beiläufig und betreffen ausschließlich Nebenfiguren. Auch die Strategie, den Flughafen mit Merkmalen aus der Unterwasserwelt anzureichern, wird nicht konsequent verfolgt; insgesamt bleibt die Darstellung des Transit-Orts alltäglich und erwartbar. Die eigentliche Komplexität der Metaphorik entfaltet sich vielmehr über die allgemeine Verschränkung der Naturelemente Wasser und Luft. Dass diese beiden Elemente besonders dafür geeignet sind, das Transitorische zu repräsentieren, hat sich bereits in Anna Seghers’ Transit gezeigt. Hier wiederholt sich das Verfahren, einen literarischen Transit-Text mit den vielfältigen Konnotationen des Flüchtigen und Flüssigen, des Luftigen und Fluiden anzureichern. Das beginnt mit den beiden zentralen Raumideen des Romans: Das Aquarium ist ein mit Wasser gefülltes Gefäß, das Raucherfoyer ein mit Luft gefülltes. Der ganze Flughafen liegt am Meer, wie der Raucher beim Blick aus seinem Luftkubus feststellt.125 Und die meisten Orte, die der Text jenseits des Flughafens imaginiert, sind Orte, an denen die Elemente Wasser und Luft besonders präsent sind. Der verlassene Ehemann im Raucherfoyer will sich aus Frust »ans Meer trinken, an die Klippen von Finistère«126 , dem französischen Departement mit der längsten Küstenlinie. Dort hat er mit seiner Frau glückliche Tage am Meer verbracht; seine Erinnerungen sind geprägt von Wind und Wasser: »Sie 122 Overath 2009a, 17. 123 Angelika Overath ist nicht die erste, die die Parallelen zwischen Verkehrs- und Meeresraum für sich entdeckt. Schon Begriffe wie Verkehrsfluss oder Verkehrsstrom verweisen im Deutschen auf die Ähnlichkeiten in der Bewegung zu Wasser und zu Land. Der Begriff Verkehrsfluss taucht auch in der deutschen Straßenverkehrsordnung auf, die 1934 erstmals in Kraft trat: »Ohne triftigen Grund dürfen Kraftfahrzeuge nicht so langsam fahren, daß sie den Verkehrsfluß behindern« (StVO §3, Abs. 2). 124 Overath 2009a, 40, 64, 19. 125 Vgl. Overath 2009a, 32. 126 Overath 2009a, 34.

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immer im Wind. [...] Die Fischer, die Algenfischer mit ihren Booten [...]. Das Meer, der graue Glanz, die Siele im Himmel, Gischt und kopfüber die Klippen«, »und wie sie später zurückkam, besoffen von Salz und Meer, von diesem Wind«, so verläuft der innere Monolog des Rauchers. Er selbst betrinkt sich am Flughafen mit einer Flasche Whisky der Marke Oban – der Name steht wiederum für einen Wasserort.127 Die äußersten Extreme der Luft-Wasser-Verbindungen lotet der Angetrunkene schließlich aus, wenn er über den tiefsten Tauchgang der Menschheitsgeschichte sinniert, und die Merkwürdigkeit, dass der Vater des Tiefseetauchers ausgerechnet ein Rekordhöhen-Ballonfahrer war.128 Die zweite Hauptfigur Elis sagt über sich selbst, sie heiße »wie die Provinz in Griechenland«129, die entlang einer langen Küste am Ionischen Meer liegt. Sie hat selbst in Griechenland gelebt, »am Mittelmeer«.130 Auch in einer »riesigen Stadt« hat sie gelebt, »an einem berühmten, schon sehr alten Kanal, der die riesige Stadt mit dem Meer verband.«131 Als sie einmal nachts an jenem Kanal sitzt, scheint sie dort Fische zu sehen, doch stellt später fest: »Was ich gesehen habe, das waren die Spiegelungen der Lichter von den Flugzeugen, die über der Stadt 127 Oban ist ein altes Fischerdorf im Westen von Schottland; der Name bedeutet auf gälisch ›kleine Bucht‹. Der Raucher bescheinigt dem Whisky auch geschmacklich eine maritime Qualität: »Geruch von Seeluft. Der schafft das ganz schnell. [...] Single Malt, salzig, torfig« (Overath 2009a, 34). Das Internetportal Whisky.de bestätigt diese Einschätzung für die alltagsweltliche Spirituose: »Durch seine Nähe zum Meer gewinnen Seearomen und eine leichte Salzigkeit mit der Zeit die Oberhand« (http://www.whisky.de/shop/product_info.php?info=p13220_Oban.html, Stand vom 08.11.2014). 128 Die Episode bezieht sich vermutlich auf Jacques Piccard, der am 23.01.1960 mit einem U-Boot in den Marianengraben herabtauchte. Sein Vater Auguste Piccard stellte in den 1930er Jahren mehrere Höhenrekorde im Ballon auf. 129 Overath 2009a, 115. Die Region Elis ist auch Schauplatz in Homers Odyssee: »Und er steurte gen Pherai, vom Winde Gottes erfreuet, / Und zu der göttlichen Elis, die von den Epeiern beherrscht wird« (Homer 2001, XV. Gesang, Verse 296-297). 130 Overath 2009a, 136. 131 Der Name der Stadt und des Kanals werden im Roman nicht genannt. Die Beschreibungen des »türkisfarbenen Hochhaus[es]« (Overath 2009a, 141) und der Umgebung passen jedoch sehr genau auf das alltagsweltliche Westfield Student Village, das am alten Regent’s Canal im Londoner Stadtteil Mile End liegt. Bilder und Lage des Gebäudes können beim Architekturportal Urbarama (http://de.urbarama.com) eingesehen werden.

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verkehrten.«132 Das Motiv der Flughafenfische wird damit zeitlich vorweg genommen, die Verschränkung von Wasser- und Luftbewegung nimmt ihren Anfang. Zuletzt, also unmittelbar vor ihrem Transitaufenthalt am Fisch-Flughafen, war Elis in Asien – zuerst in der Hafenstadt Hongkong, dann in der chinesischen Metropole Kunming, die zwar nicht am Meer liegt, aber an einem großen See. Auch dieser Ort ist stark von Wasser und Wind geprägt: »Es hatte viel geregnet, ein warmer, sehr dünner Regen, Fäden von Regen, die fast nur feuchte Luft waren. Überall stand Wasser. Und einmal war die Sonne herausgekommen und hatte die Straße in eine glänzende Pfütze verwandelt, in eine Seenplatte, lange, braune Lachen reihten sich an lange braune Lachen, zwischen denen nur manchmal flache Inseln den lehmigen Grund und Boden zeigten. [...] Und dann kam Wind, und mit dem Wind kam Mozart. [...] Die Vorhänge bauschten sich, und die schlecht verklebten Sichtfolien knisterten und knallten.«133

Diese Passage ist ein Musterbeispiel dafür, wie bei Overath die erzählten Orte wie beiläufig in Luft- und Wasserorte verwandelt werden. Immer wieder tauchen solche Orte auf – während einer Eisenbahnfahrt entlang an wasserüberfluteten Reisfeldern, bei einem Spaziergang mit einer Muschelpflückerin hinaus aufs offene Meer, während des Erinnerns an den Meeresgeruch der Bretagne.134 Auch das Motiv der Schwarmbewegung taucht bereits in Kunming auf, als Elis mit dem Fahrrad unterwegs ist.135 Die Einschätzung von Stefan Tolksdorf in der Badischen Zeitung, Elis sei »dem Element Luft verbunden«136 , ist damit nur halb wahr. Zwar ist sie häufig mit dem Flugzeug unterwegs und liebt, wie bereits zitiert, »die leeren Stunden im Luftraum«.137 Insgesamt wäre es jedoch verkürzend, Elis als ›Luftfrau‹ dar132 Overath 2009a, 144. 133 Overath 2009a, 95. 134 Vgl. Overath 2009a, 145, 153, 66. Quiberon ist eine Hafenstadt in der Bretagne. 135 »Die Stadt war voller Fahrradfahrer gewesen, Wolken von Fahrrädern. [...] Aber noch nie war sie mitgefahren im Schwarm. [...] Und man fuhr im Pulk in den großen Boulevards. [...] Ein Radfahrer war nur eine winzige Schuppe an einem geschmeidigen Körper, der dahinfloß, sich teilte und wieder wuchs. Sie gehörte dazu« (Overath 2009a, 96). 136 Tolksdorf 2009, Abs. 2. 137 Overath 2009a, 25.

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zustellen, in Abgrenzung zum ›Wassermann‹ Tobias, wie es Tolksdorf andeutet138 – zu viele Wasserorte dominieren dafür ihr Leben, auf das sie am Flughafen zurückblickt. Auch Tobias, die dritte Hauptfigur, lässt sich mit den Elementen Wasser und Luft in Verbindung bringen – schließlich ist er es doch, der als FlughafenAquarist, als selbsternannter »Messias der Meere«139 sowohl über die Fische wacht als auch die Parallelen zu den vorbeiströmenden Flugreisenden zieht. Obwohl er sich selbst nicht zu den Reisenden zählt – »er gehörte nicht zu ihnen, er reiste ja nicht«140 –, so trägt er doch den Transit bereits im Namen141 und gibt an, »ständig unterwegs«142 zu sein. Die Orte, die er bereist, sind jedoch keine geografischen Orte. Es sind mediale Orte: »Tobias war nie in Siena gewesen. Aber vieles kannte er aus Filmen. Das war leichter. Er mußte nicht reisen, er mußte nicht reagieren.«143 Als Beispiel nennt er einen Film von »Tarkowski«144 . Den weiteren Beschreibungen nach wird hier vermutlich auf Andrei Tarkowskis Film Nostalghia von 1983 Bezug genommen, in dem wiederum Wasser eine zentrale Rolle spielt.145 Tobias erinnert sich an die Szene, in der ein Schriftsteller mit einer Kerze in der Hand eine alte Therme durchqueren muss, um die Welt zu retten: »Überall steht Wasser, alles tropft, und der [...] haltlose Dichter [...] weiß nicht wohin mit seinem Leben.«146

138 »Wie der junge Mann dem feuchten Lebensraum, ist die Frau dem Element Luft verbunden« (Tolksdorf 2009, Abs. 2). 139 Overath 2009a, 21. 140 Overath 2009a, 16. 141 Die Buchstaben der Folge ›Transit‹ sind im Namen von Tobias Winter vollständig enthalten. Das Spiel mit den Buchstaben wiederholt sich bei der weiblichen Hauptfigur: ›Elis‹ könnte ein Verweis auf den Schriftsteller T. S. Eliot sein, dessen Werk im Roman zitiert wird. Es handelte sich dann um eine wechselseitige Referenz: Tobias trägt etwas von der Transitreisenden Elis in sich, und Elis etwas von der Lektüre Tobias‹. Dies wäre auch eine Vorausdeutung auf die sich anbahnende Liebesbeziehung. 142 Overath 2009a, 16. 143 Overath 2009a, 10. 144 Overath 2009a, 10. 145 »Wasser ist das beherrschende Element in Nostalghia«, bilanziert Klaus Kreimeier in seiner Filmanalyse (Kreimeier 1987, 163). 146 Overath 2009a, 10.

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Neben dieser filmischen Referenz gibt es auch eine literarische: Auf einem Plastiksessel im Flughafen findet der Tierpfleger ein »komisches Buch«, das ihn »sofort beschäftigt«.147 Mehrfach werden Auszüge aus dem Buch in den Text montiert. Es sind Verse aus T. S. Eliots The Waste Land – jenem Versepos also, das nicht nur geradezu archetypisch für die Auseinandersetzung mit der Vereinzelung des Menschen in der Moderne steht, sondern auch eine Vielzahl von Wasser- und Dürremotiven bereithält.148 Die thematische Verbindung zu Flughafenfische ist damit deutlich, vielleicht schon überdeutlich149 hergestellt. Diese Referenzen tragen außerdem dazu bei, den Textraum des Romans transitorisch zu gestalten. Auch wenn Intertextualität kein spezifisches Merkmal der Transitliteratur ist, sondern jeden literarischen Text kennzeichnet150, sind die Verweise in Flughafenfische doch bemerkenswert, zum einen weil die Originalzitate aus The Waste Land durch Kursivsetzung und Einrückung auch typografisch einen Zwischenraum im ansonsten konventionell gesetzten Text markieren151, zum anderen weil die Übernahmen teilweise mehrere, ineinander verschachtelte Bezüge herstellen. So ist die Textpassage, die mit »Die Sibylle habe ich nämlich in Cumä mit eigenen Augen gesehen« beginnt, ein Zitat aus The Waste Land, das wiederum aus dem Romanfragment Satyricon stammt, welches Bezug nimmt auf den noch älteren Mythos der Sibylle von Cumae.152 Ein Text

147 Overath 2009a, 18. 148 Zur Wasser und Dürre in Verbindung mit The Waste Land siehe auch Anmerkung 93. 149 Katrin Schuster spottet in der Berliner Zeitung über die Figur Tobias: »Wenn in einem Roman Fische, Flughäfen und T.S. Eliots ›The Waste Land‹ vorkommen, kann der modern vereinzelte Mensch nicht weit sein. Und siehe da, da steht er schon« (Schuster 2009, Abs. 1). 150 Siehe Kapitel ›Textraum‹. »Dass ein literar. Text nicht in einem Vakuum existiert, ist seit langem bekannt [...]. Allein die Idee von literar. oder anderen Gattungen [ist] ohne die Annahme intertextueller Bezüge undenkbar« (Aczel 2008, 330). 151 Vgl. insbesondere die längeren Übernahmen aus The Waste Land in den TobiasKapiteln (Overath 2009a, 18, 164). 152 »Die Sibylle habe ich nämlich in Cumä mit eigenen Augen gesehen. Sie hing in einer Flasche, und als die Knaben sie fragten: ›Sibylle, was willst du?‹ antwortete sie: ›Sterben will ich‹« (Overath 2009a, 17). Die Sibylle von Cumae war in der griechischen Mythologie eine Prophetin, die sich von Apollon gewünscht hatte, tausend Jahre zu leben. Dieser Wunsch wurde ihr gewährt; allerdings hörte sie nicht auf zu altern, weil sie vergessen hatte, sich gleichzeitig die ewige Jugend zu wünschen. Ihre letzten

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aus dem Jahr 2009 zitiert also einen Text von 1922, der einen Text von ca. 60 n. Chr. zitiert, der auf die griechisch-römische Mythologie verweist – und all diese Texte sind gewissermaßen Transit-Texte, sie alle beschäftigen sich mit der Schifffahrt und den Häfen, mit der Vereinzelung und Vereinsamung, mit dem Unterwegssein und dem Flüchtigen.153 Ähnlich verhält es sich mit dem Film Nostalghia, der sich auf anspielungsreiche Weise mit dem Thema Heimweh auseinandersetzt.154 So evoziert der Roman – das entsprechende Vorwissen des Lesers voraussetzend – bei der Lektüre ein ganzes kunst- und literaturhistorisches Geflecht an Verweisen zum Thema Transit. Am Schluss dieser Tour durch den erzählten Raum und den Textraum von Flughafenfische steht eine Diagnose: viel Luft, viel Wasser. Doch was heißt das für das Transitorische des Erzählens in Flughafenfische? Ist dies überhaupt ein Transitroman oder schlicht ein »poetischer Roman«155 , der zufällig am Flughafen spielt? Tatsächlich füllen Wasser und Wind wie zufällig den Text; das Geschehen am Flughafen würde kaum anders verlaufen, erinnerte sich Elis nicht an das überflutete Kunming, sondern an Waldbrände in Australien. Doch es gibt eben jenen ungewöhnlichen Ort, der die Transitmetaphorik bündelt und zusammenhält, und deshalb schon vor all diesen Rückblicken und Verweisen als Fixpunkt des Geschehens eingeführt werden muss: das Aquarium. Hier fließt alles zusammen. So wie Tobias die Reisenden in der Transithalle als Schwarm registriert, so wird dem Leser im Verlauf der Erzählung die ganze Menschheit als Schwarm präsentiert, der seit Jahrtausenden um die Welt zieht und vernetzte Orte bereist. Entweder handelt es sich dabei um Wasserorte, die durch das uralte Netzwerk der Weltmeere verbunden sind, oder um Orte der Luftfahrt, deren Jahrhunderte verbrachte sie in einer von der Decke ihrer Grotte bei Cumae herabhängenden Flasche, sozusagen im Zustand einer permanenten Vergänglichkeit. 153 In Petrons Satyricon, entstanden um 60 n. Chr., brechen die Protagonisten Encolpius und Giton von Cumae aus zu einer Schifffahrt auf. Nach einem Sturm stranden sie in der Nähe von Croton und erleben dort weitere Abenteuer, ohne nach Hause zurückkehren zu können (vgl. Petron 1982, Kap. 99-214). 154 Für die Analyse der »im Inneren des Films angelegte[n], komplizierte[n] Konkordanz von Bildern, Chiffren und Zitaten, die der heidnisch-antikischen Mythologie und der christlichen Kunst entstammen« (Kreimeier 1987, 165), vgl. die Interpretation von Eva M. J. Schmid (1983). 155 Vgl. den Titel von Sibylle Birrers Rezension: Tiefgründige Wasserwelten: Angelika Overaths poetischer Roman ›Flughafenfische‹ (Birrer 2009).

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Netzwerk sich im 20. Jahrhundert durch die Flugzeuge und Flughäfen gebildet hat. Auch die Netzwerke des 21. Jahrhunderts, die virtuellen Netze der Computertechnologien, sind von dem Flughafen des Romans aus zugänglich, wie beiläufig erwähnt wird.156 Sich an einem Transit-Ort aufzuhalten, und dabei einen Transit-Raum zu konstituieren, der sich über eine Vielzahl solcher Orte netzwerkartig erstreckt – diese Existenzform lässt sich aus einer Vielzahl an Texten und Motiven herauslesen, angefangen bei den Mythen der Antike, wird aber durch die Eroberung des Luftraums im 20. und 21. Jahrhundert geradezu universal. Meer und Wind, Luft und Wasser durchdringen das Leben aller Figuren dieses Romans, und sie alle bereisen ausnahmslos Durchgangsorte. Mal sind sie geschäftlich unterwegs, mal im Urlaub, mal beides zugleich – aber kein Aufenthalt ist von Dauer; von keiner Figur erfährt der Leser so etwas wie einen festen Wohnsitz. Auch die Orte aus Film und Literatur werden von Tobias allenfalls kurzfristig aufgesucht – zitiert werden Szenen und Textfragmente.157 Ob dies nun in einer Zivilisationskritik münden oder positiv gewendet werden soll, lässt der Text offen: Einerseits stehen mit Tobias, Elis und dem rauchenden Professor drei Individuen bis zuletzt vereinzelt und – trotz kleiner Annäherungen – vereinsamt in der Transithalle, andererseits sind sie auch Teil einer globalen und uralten Verbundenheit. Eine Besonderheit des Romans ist, dass die genannten Wind- und WasserVernetzungen nicht ausdrücklich durch den Erzähler hergestellt werden – sie entstehen implizit über den metaphorischen Gehalt des Textes. Orte wie Elis’ Kunming, Tobias’ Siena und die Finistère-Klippen des Rauchers stehen im Text unverbunden nebeneinander; allein die Metapher der Flughafenfische stellt die Verbindung her. Somit wird das Phänomen Transit in Overaths Roman nicht nur auf der erzählerischen und textlichen, sondern auch auf der metaphorischen Ebene behandelt158: Das Aquarium erscheint als strukturierende Raumfiguration ei156 »Links nun eine Anlage mit öffentlichen Computern und Internetzugängen. Fast alle Pulte waren besetzt. Hier arbeiteten Reisende in ortloser Konzentration« (Overath 2009a, 63). 157 Zwar erinnert sich Tobias angeblich an das Ende des Tarkowski-Films (vgl. Overath 2009a, 11), dieses Ende deckt sich jedoch nicht mit dem Filmverlauf von Nostalghia. Die im Buch beschriebene Szene ist dort nach etwas mehr als der Hälfte des Films zu sehen. 158 Damit sind drei der vier im Theorieteil erarbeiteten Raumebenen angesprochen. Bezüglich des Trägerraums lassen sich keine spezifisch transitorischen Merkmale finden. Der Roman wurde im Mai 2009 vom Luchterhand Literaturverlag publiziert, und

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nes Textes, der sich wesentlich über die Gedankenströme seiner Protagonisten entfaltet. Schon in der Analyse von Bahnwärter Thiel und Hotel Savoy hat sich gezeigt, dass das Transitorische über die unmittelbare Erzählung hinaus als leitendes Erzählprinzip wirksam werden kann; diese Strategie setzt sich in Flughafenfische im Hinblick auf das Aquarium fort. »In ›Flughafenfische‹ [ist] fast alles sinnbildlich oder metaphorisch aufgeladen«159 , stellt Sibylle Birrer fest, und für die Konstruktion des globalen Wasser- und Luftraums gilt dies in besonderem Maße. Über den metaphorischen Gehalt ihres Textes hat sich die Autorin selbst Gedanken gemacht. In ihrem Werkbericht stellt sie fest: »In den Fluchten des Flughafens, im hohen Aquarium entstand eine rhythmisierte Welt aus Fischen und Fiktionen. Ich [...] warf mit Ideen in die Luft, bis Innen Aussen war, bis das Muster im Himmel stimmte, bis als Sternzeichen stand, was ich nur erfand. Auch mein Text war ein Aquarium, ein künstlicher Raum, der lebte.«160

Der Text als Aquarium – mit diesem Bild beschreibt Overath das Raumkonzept ihres Romans. Dabei ist das Aquarium kein abgeschlossener Container, sondern eine offene Konstruktion, in die Geschichten aus aller Welt einfließen können; Geschichten, die scheinbar wahllos nebeneinander stehen, aber doch alle miteinander verbunden sind, und zwar durch das verbindende Element Wasser. Es ist auffällig, dass sich die Formulierung »ein künstlicher Raum, der lebte« aus Overaths Werkbericht im Romantext wiederfinden lässt – und zwar genau an der Stelle, an dem Tobias über das ›globale Riff‹ nachdenkt. Die dazugehörige Passage lässt sich auch als Reflexion über den Beruf des Schriftstellers lesen: »Er hatte vielfarbige Fische aus verschiedenen Ozeanen aufgenommen; in seinem Aquarium beheimatete er Exemplare aus fast allen tropischen Meeren. Ihm unterstand ein globa-

zwar in der – zumindest zum Zeitpunkt des Erscheinens – konventionellen Form des gebundenen Buchs. Bemerkenswert ist immerhin, dass bereits einen Monat später eine E-Book-Version von Flughafenfische zur Verfügung stand; der Roman folgt auch in seiner Distribution den Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts. Abgesehen von der speziellen Räumlichkeit des Schriftträgers E-Book, die im Kapitel ›Trägerraum‹ bereits erörtert wurde, weist die elektronische Version jedoch keine Besonderheiten gegenüber der Printausgabe auf. 159 Birrer 2009, Abs. 4. 160 Overath 2009b, Abs. 10.

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les Riff, das es in Wirklichkeit nicht gab, das allerdings existierte, weil er es gebaut hatte und unterhielt. [...] Fische über fließende Gärten von Blumentieren, und vielleicht waren sie es, die ihn nicht schlafen ließen. [...] Ohne Tobias gäbe es diese stillen Wesen eben nicht. Nicht hier, in einem der wahnsinnigsten Flughäfen der Welt. Darauf war er stolz. Und so, wie sie unter seinem sorgenden Blick lebten, gab es sie auch nirgendwo anders. In keinem natürlichen Wasser schwammen Fische in dieser Kombination zusammen. Auch kein anderes Becken sah aus wie das seine. Aquarien sind künstliche Räume, die leben. Es ist nicht möglich, daß es zwei identische Aquarien gibt.«161

Diese Vorstellung des Schriftstellers ist wiederum geprägt vom Transitorischen; es ist die des Reiseschriftstellers, der Eindrücke aus aller Welt in seinen Text einfließen lässt, dabei selbst rastlos bleibt (»die ihn nicht schlafen ließen«) und aus der unüberschaubaren Vielzahl etwas Überschaubares und Einzigartiges schafft. Hier eröffnen sich Parallelen zur Schriftstellerexistenz von Angelika Overath, die selbst jahrzehntelang Reisereportagen und -essays verfasst hat.162 Viele der in Flughafenfische erzählten Szenen seien Szenen, »die ich über die Jahre auf Reportagereisen erlebt hatte, abseitige Begegnungen«163 , hat Overath bemerkt. Ähnlich wie bei Joseph Roth und Anna Seghers werden die Reiseerfahrungen montiert, umgedichtet und in die erzählte Welt des Textes eingepasst, und doch trägt der Text Restspuren der eigenen transitorischen Existenz. Und wie bei Roth und Seghers findet sich die Vorstellung des Schriftstellers als Souverän, als Außenstehendem, als letztem Beobachter in einer ansonsten zerstreuten Transitwelt. Über Tobias und seine Fische heißt es: »Ja, er sammelte und klassifizierte sie. Für sich. Und für alle. Denn es war wichtig, daß einer aufmerksam war. Was er sich merkte, was er registrierte, das würde gelten«164 .

161 Overath 2009a, 19 f., Hervorhebung L.W. 162 Unter anderem für GEO, Merian, mare, Die Zeit und die NZZ. Darin beschäftigt sich Overath auch mit dem Leben am und im Meer, ›naturgemäß‹ speziell in den Texten für die Zeitschrift Mare. 163 Overath 2009a, Abs. 5. 164 Overath 2009a, 17, Hervorhebung L.W.

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S PÄTMODERNE R AUMKRITIK : W ENN DIE K INDER S TEINE INS W ASSER

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WERFEN

»Denn mag diese Spiegelwelt auch mehrdeutig, ja, unendlich vieldeutig sein – zweideutig bleibt sie doch. Sie blinzelt – ist immer dieses Eine und nie Nichts, aus dem ein anderes sogleich heraussteigt. Der Raum, der sich verwandelt, tut es im Schoße des Nichts. [...] ›Was mag in mir‹, so blinzelt er, ›sich wohl ereignet haben?‹ Wir stutzen. ›Ja, was mag in dir sich wohl ereignet haben?‹ So fragen wir ihn leise zurück.«165 WALTER BENJAMIN, DAS PASSAGEN-WERK

»Auf die Idee, einen Transitraum zum literarischen Ort zu machen, und dann auch noch in jener Ausschließlichkeit, in der Xaver Bayer dies tut, musste man erst einmal kommen«166 , staunt Klaus Kastberger in seiner Rezension von Xaver Bayers Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen. Dass die Idee so ungewöhnlich nicht ist, hat sich in den vorangehenden Erzähltextanalysen gezeigt. Dennoch ist der 2011 veröffentlichte Roman ein ungewöhnlicher, ein außergewöhnlicher Transit-Text. Er beginnt und endet am Flughafen Brüssel, einem »Ort der Banalität«, weitet diesen jedoch allmählich zum »Zwischenraum der Existenz«, um den »Kern des Gegenwartsmenschen« freizulegen, wie in einer weiteren Rezension zu lesen ist.167 In einer gewaltigen Assoziationskette kreist der IchErzähler immer wieder um Orte und Raumkonstruktionen am Schauplatz Flughafen, weist aber weit darüber hinaus. Dabei spannt sich ein einziger Satz168 über die gesamten 114 Seiten des Erzähltextes. Weder Kapitel noch Absätze finden sich in diesem vierten Roman 165 Benjamin 1982, 672. 166 Kastberger 2011, Abs. 3. 167 In Anton Thuswaldners Rezension für die Frankfurter Rundschau (Thuswaldner 2011, Abs. 6, 9). 168 Mit ›Satz‹ ist hier die grammatische Einheit gemeint, also das in sich geschlossene Wortgefüge, das nach der deutschen Orthografie mit einem Satzschlusszeichen endet. Aus linguistischer Perspektive ließe sich argumentieren, dass der Roman sehr wohl aus mehreren Sätzen besteht – etwa aus mehreren kommunikativen Einheiten, mit de-

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des österreichischen Autors. In einem Interview gibt Xaver Bayer an, er habe versucht, den kontinuierlichen Bewusstseinsstrom eines Reisenden mit »allen vermeintlichen Nebensächlichkeiten und Bedeutsamkeiten, allen Gedanken, Assoziationen, Erinnerungen, Phantasien, Bewegungen, Handlungen, Äußerungen« zu protokollieren.169 Dabei ist das formale Verfahren des ›Bandwurmsatzes‹ nicht bloß schmückendes Beiwerk. Zunächst jedoch zum Inventar des Romans: Mit Angelika Overaths Figur Elis aus Flughafenfische hat Bayers Ich-Erzähler nicht nur das Warten auf den Anschlussflug gemein. Er hat auch denselben Beruf; er ist Fotograf, oder war es zumindest bis zuletzt.170 Und wie Elis ist er ein Griechenland-Reisender – er erreicht den Flughafen Brüssel von Athen aus, nachdem er mehrere Wochen quer durch das Land gefahren ist.171 Doch die wichtigste Parallele zwischen den beiden Flughafenromanen ist eine andere: Es handelt sich auch hier um einen Roman, der ›vom Raum aus‹ geschrieben ist. Auch dieser Text ist grundlegend von Raumvorstellungen, -figurationen und -konflikten durchzogen. Die Beziehungen, die den Verlauf der Erzählung maßgeblich prägen, sind weniger die Beziehungen zwischen Personen als die zwischen Räumen. Das Konflikthafte der Erzählung spielt sich dabei zwischen den individuellen, offenen, mitunter fantastischen Raumkonstruktionen des Protagonisten und den institutionalisierten Raumstrukturen des Brüsseler Flughafengeländes ab. Dies zeigt sich bereits zu Beginn des Textes, der zugleich den Anfang des einzigen Satzes markiert: nen unterschiedliche Sprechhandlungen vollzogen werden. Hier soll dennoch von einem Satz gesprochen werden, da gerade der innere Aufbau des Gesamtgefüges vom ersten Wort bis zum einzigen Satzschlusszeichen für den Roman von Bedeutung ist, wie die Analyse des Textraums zeigen wird. 169 O.A. 2011, Abs. 2. 170 Der Ich-Erzähler befindet sich offenbar auch beruflich in einem Zwischenzustand; einerseits trägt er am Flughafen seine Kameraausrüstung mit sich herum (vgl. Bayer 2011, 7), andererseits reflektiert er seine »Gedanken«, die ihn »mit der Zeit vom Fotografieren abgebracht haben« (Bayer 2011, 30). 171 Die Reise wird mehrere Male beiläufig thematisiert: »und jetzt [...] muss ich daran denken, wie ich am Morgen dieses Tages vor dem Verlassen des Hotels in Athen [...] noch eine Kleinigkeit gegessen habe« / »erst vor wenigen Wochen [...] als wir auf dem Balkon des alten Hotels auf einer [...] griechischen Insel saßen« / »ich lasse die letzten Wochen Revue passieren, diese Wochen des Unterwegsseins, an denen ich nahezu jede Nacht woanders geschlafen habe« (Bayer 2011, 68, 79, 84).

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»Erst das Funkeln des Bodenbelags in der Passagierbrücke ist es, das mich wieder ganz zu mir kommen lässt, und zum ersten Mal, seit ich im Flugzeug aufgewacht bin, fühle ich mich gewissermaßen komplett«172

Das Ereignis, das den stream of consciousness initiiert, ist also die Konfrontation mit der Materialität eines Ortes, nicht die Begegnung mit einer Person. Was folgt, ist ein Rückblick auf den Flug von Athen nach Brüssel, in dem mit der Beschreibung von Gefühllosigkeit, Leere und der Passivität der Bewegung an die Topoi des Flugreisens im 21. Jahrhunderts angeknüpft wird. In diesem Kontext handelt es sich um eine erwartbare, geradezu konventionelle Darstellung: »war ich doch den vorhergegangenen Flug über mehr wie eine Hülle ohne Inhalt gewesen, [...] selbst die Turbulenzen habe ich in vollkommener Gefühllosigkeit über mich ergehen lassen, die Landung habe ich verschlafen, und erst als mich eine der Stewardessen an der Schulter berührte, habe ich die Augen aufgeschlagen, nahezu alle anderen Fluggäste waren schon ausgestiegen und ich, noch traumtrunken, stand nun endlich auch auf, und während ich mich durch das leere Flugzeug Richtung Ausgang bewegte«173

Nach dem flüchtigen Kontakt mit der Stewardess und dem anschließenden Bild des müden Passagiers – ebenfalls ein Topos des spätmodernen Flugreisens – wäre nun der Übergang zur Beschreibung eines sterilen, entleerten Flughafens zu erwarten. Stattdessen gibt es eine Wendung, denn plötzlich »durchzuckt« es den Erzähler, und es folgt eine weitere Analepse mit einem irritierenden Bild: »[da] durchzuckte mich für einen Augenblick wieder das Gefühl, das ich vor einigen Stunden beim Betreten der Maschine hatte, eine Momentaufnahme, die aber so intensiv war, dass sie mir wie ein Tafelbild vorkam, das halbvolle Flugzeug, die fahlblaue Beleuchtung, im Mittelgang die Flugbegleiter mit verschränkten Händen, auf die Passagiere der vorderen Sitzreihen wartend und, so meine erste Assoziation: andächtig wie in der Kirche, und alles war wie mit über das Eigentliche hinausreichender Bedeutung aufgeladen«174

172 Bayer 2011, 5. 173 Bayer 2011, 5. 174 Bayer 2011, 5.

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Die Formulierung »alles war wie mit über das Eigentliche hinausreichender Bedeutung aufgeladen« würde man in kaum einem Kontext weniger vermuten als im Kontext des Interieurs eines Passagierflugzeugs. Ausgerechnet hier, am vermeintlichen Prototyp des ›Nicht-Orts‹, werden Bilder des Metaphysischen, des Religiösen hervorgebracht; ausgerechnet das Innere der hochmodernen »Maschine« lässt den Erzähler an eine mittelalterliche Malereiform denken. Sich »andächtig wie in der Kirche« zu versammeln, wäre für Augé eine Handlung, die eindeutig einen anthropologischen Ort markiert, den Antipoden des NichtOrts175 – hier ist beides sonderbar vereint. Die mystische Aufladung des ›himmelsstürmenden‹ Flugzeugs ist in den Texten aus der Pionierzeit der Luftfahrt keine Seltenheit, in einem Text von 2011 jedoch erscheint eine solche »erste Assoziation« befremdlich. Tatsächlich stellt sich bald heraus, dass das so befremdliche wie kreative Zusammenführen schwer vereinbarer Orte und Räume ein wiederkehrendes Motiv des Romans ist. Weitaus radikaler als Overaths Figur Elis hat sich dieser Namenlose den Beruf des Fotografen zur persönlichen Lebenseinstellung gemacht. Sein Denken ist ein Denken in Bildern. Der Gedankenstrom geht weiter: »da saß schon ein Junge mit einem Stofftier, das man dann vermutlich auf den Fernsehbildern zwischen den Flugzeugtrümmern sehen würde, [...] beim Schritt aus dem Flugzeug, als mein Blick vom Funkeln des dunkelgrauen Bodenbelags in der Gangway angezogen wird, muss ich unwillkürlich an einen Sternenhimmel denken, [...] und es stellen sich mir Orte und Begebenheiten ein, wo ich in den letzten Monaten auch solche vermeintlichen Sternbilder entdeckt habe, sie selbst wie ein großes Sternbild im Jahreskreis überall auf der Welt verstreut, einmal die Maulwurfhaufen auf einer Wiese, ein andermal die unterschiedlich großen Wassertropfenkugeln in einem Spinnennetz, da Vogelkottupfen am Asphalt unter dem Baum, wo die Krähen übernachten, dort Blütenblätter auf einer Motorhaube, mal Köpfe der abends im Meer Schwimmenden«176

Mit diesen Assoziationen werden erstmals Orte außerhalb von Flugzeug und Flughafen in die erzählte Welt einbezogen. Dabei offenbart der Erzähler eine erstaunliche Fähigkeit, eigentlich disparate »Orte und Begebenheiten« über visuel175 Marc Augé schreibt über den anthropologischen Ort, er sei »der Ort, den die Eingeborenen einnehmen, [...] die ihn verteidigen, seine herausragenden Zeichen bestimmen, seine Grenzen bewachen, aber auch nach den Spuren der unterirdischen und himmlischen Mächte, der Ahnen und Geister fahnden« (Augé 2010, 51). 176 Bayer 2011, 6.

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le Details zusammenzuführen. Die Zusammenführung erfolgt nicht nur über lokale Grenzen hinweg (»überall auf der Welt verstreut«), sie lässt auch optische Parameter wie Abstand (nah/weit: Wassertropfen/Wiesenlandschaft) und Perspektive (Aufsicht/Frontansicht: Motorhaube/Spinnennetz) verschwimmen. So wird ein individueller, fantastischer Raum – in diesem Fall: ein Raum der Sternbildmuster – konstituiert. Nach Martina Löws Terminologie handelt es sich hier um eine besondere Befähigung zur kreativen Syntheseleistung, also zur räumlichen Verknüpfung von Elementen über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse. Durch die Augen dieses ›Synthetikers‹ betrachtet der Leser die erzählte Welt des Romans. Bemerkenswert ist aber nicht nur die innere Logik des Sternbildraums, sondern auch, dass nach der Vision im Flugzeug auch diese Raumfantasie eng an einen Ort der Banalität, einen entleerten Ort geknüpft wird. Die Spannungen zwischen dem vermeintlich unbedeutenden Ort und den dennoch immer wieder aufblitzenden ›Bedeutungsaufladungen‹ prägen den Roman maßgeblich. Nach seiner Ankunft am Flughafen von Brüssel betritt der Ich-Erzähler zunächst die Transithalle, also »die Ebene, in der sich auch mein Abfluggate befindet, und gehe, da mein Weiterflug erst in einigen Stunden angesetzt ist und ich keinen Plan habe, wie ich diese Zeit verbringen werde, sehr langsam an den Geschäften dieses Stockwerks entlang«177

Damit ist zum einen die Erzählsituation formuliert, eine Transitsituation. Zum anderen ist die Umgebung skizziert, in der sich der Ich-Erzähler während seiner Wartezeit aufhalten wird. Sie enthält die typischen Orte eines Flughafens: Dutyfree-Shops, Bars, Restaurants und Abfluggates. Diese Orte sind banal und ungewöhnlich zugleich: Sie werden zwar eindeutig als alltägliche Orte konstruiert – die meisten von ihnen lassen sich übrigens am alltagsweltlichen Flughafen Brüssel-Zaventem wiederfinden178 –, dennoch irritieren sie den Ich-Erzähler. Die Si-

177 Bayer 2011, 10 f. 178 Es ist offensichtlich, dass Xaver Bayer den größeren der beiden Brüsseler Flughäfen selbst besucht oder zumindest über genaue Pläne oder Abbildungen verfügt haben muss, bevor er seinen Roman schrieb. Mithilfe einer Karte des Terminal A (›Pier A‹) von Zaventem lässt sich die Passage der Romanfigur durch das Gebäude nachvollziehen. Die zentralen Orte des Romans, die Verbindungen zwischen den Orten, der Aufbau der Stockwerke und »die gesamte Flucht der Stahlverstrebungen in der Halle mit

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cherheitsschleusen sehen aus »wie Kulissen für einen Science-Fiction-Film«, beim Anblick eines Werbeplakats kommt sich der Protagonist »wie ein Außerirdischer« vor, der die Botschaft nicht entziffern kann.179 Das »Imitat einer gemütlichen belgischen Biertrinkstube« ist eine besondere Absurdität, die inmitten der »sterile[n] und saubermännische[n] Atmosphäre« des Flughafen-Hochsicherheitsbereichs etwas Lokalkolorit versprühen soll.180 Die ungewöhnlichsten Orte dieses Flughafens sind jedoch die sogenannten Places of Worship, die der Ich-Erzähler wenig später betritt. Dass sich in einem Flughafenterminal religiöse Orte befinden sollen, noch dazu geordnet nach Konfessionen und entsprechend ausgeschmückt, mutet wie eine weitere Raumfantasie des Erzählers an – doch solche Flughafenkapellen gibt es tatsächlich, im fiktiven wie im nicht-fiktiven Flughafen Brüssel sowie an vielen anderen internationalen Flughäfen.181 Die Position der Kapellen im Gebäude, der verbindende Gang, sogar die Inneneinrichtung bis hin zu einzelnen Blumenkübeln, Inschriften oder Skulpturen – all das wird präzise beschrieben, und dennoch erscheint es unwirklich: »ich stehe am Anfang eines hellen und langen Ganges mit einigen Türen an der linken Seite, am Boden, alleenhaft, im Fünfmeterabstand Blumentöpfe, darin schulterhohe Plastikstauden, [...] alles wirkt wie die Bühnenausstattung eines Theaterstücks, [...] und ich schlendere [...] bis zur ersten Tür, die der katholischen Kapelle, und ich öffne sie und trete ein und tatsächlich, so stelle ich auf den ersten Blick fest und muss dabei lachen, ist das

den Abfluggates« (Bayer 2011, 27) lassen sich im alltagsweltlichen Terminal wiederfinden. Abbildung 18 zeigt eine Ansicht der Transithalle von Brüssel-Zaventem. 179 Bayer 2011, 7, 24, 25. 180 Bayer 2011, 12, 75. Auch zu diesem Ort findet sich eine Entsprechung am alltagsweltlichen Flughafen Brüssel-Zaventem: Das ›Belgian Beer Café‹. In ihrer Selbstdarstellung schreibt die internationale Restaurantkette: »The Belgian Beer Café creates a refuge after a hectic working day or adds the finishing touch to the end of a pleasant day. It is a welcoming, friendly environment with an authentic interior for anyone who loves life [...]. Here, genuine hospitality is key as you are a true guest in our Belgian home« (http://www.belgianbeercafe.com/what-belgian-beer-cafe, Stand vom 08.11.2014). 181 Eine Ausstellung des Österreichischen Museums für Volkskunde hat sich im Jahr 2008 künstlerisch mit Gebetsräumen an Flughäfen auseinandergesetzt. Zu der Ausstellung ist ein Begleitband mit Fotografien und Essays erschienen (vgl. Duscha/Justnik 2008).

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eine der unbesinnlichsten Besinnungsstätten, die ich je auf einem Flughafen gesehen habe [...] und ich [...] setze mich auf einen der Stühle in der ersten Reihe vor den Altartisch, [...] an der Wand neben dem Altartisch hängt ein Triptychon, grell angestrahlt von einem der am Plafond befestigten Halogenscheinwerfer, darauf steht Ubi Lux Ibi Deus geschrieben, rechts davon eine Holzschnitzerei, [...] auf dem Pult neben dem Altar eine aufgeschlagene Bibel«182

Auch hier ist die Spannung zwischen entleertem Ort und den Bedeutungsaufladungen allgegenwärtig. Besonders verdichtet findet sie sich im Paradoxon der ›unbesinnlichen Besinnungsstätte‹, wird aber auch in Details wie dem Halogenscheinwerfer deutlich, der ausgerechnet die Inschrift vom göttlichen Licht grellordinär anstrahlt.183 Wie in der Vision vom Flugzeug-Tafelbild findet hier eine Auseinandersetzung mit dem Profanen und dem Heiligen statt; insgesamt ist der Ich-Erzähler jedoch alles andere als religiös. Im weiteren Verlauf der Erzählung macht er sich mit einer Duty-free-Whiskyflasche in der Hand über die Absurdität der Flughafenkapellen lustig, wirft einem Aufseher ein »Fuck off« zu, säuft, rülpst und füllt das Gästebuch einer Kapelle mit surrealistischen Versen.184 Das Kernproblem des Ich-Erzählers ist also nicht die Frage, ob Religiosität die semantische Leere des Flugreisens mit Bedeutung füllen kann. Sein Problem ist nicht einmal die Leere. Erstaunlicherweise ist es das Gegenteil – es ist das Zuviel an Bedeutungen, das Zuviel an Orten und Räumen, die am Flughafen zusammenkommen, einander bedingen und doch ausschließen, ineinander verschachtelt und miteinander verwoben sind, das Zuviel von Informationen, das es unmöglich macht, zu einer sinnvollen Ordnung der Räume und des eigenen Lebens zu gelangen. Um sich diesem Problem der Raum-Unordnung zu nähern, ist es hilfreich, einen zweiten Text heranzuziehen – einen 109 Jahre älteren Text, der offensichtlich einen großen Einfluss auf die Gestaltung von Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen gehabt hat. 182 Bayer 2011, 33. 183 Auch hierbei hat sich Xaver Bayer offenbar vom alltagsweltlichen Flughafen Zaventem inspirieren lassen. Auf Fotos der dortigen Kapellen lässt sich unter anderem das Triptychon mit der Inschrift Ubi Lux Ibi Deus wiederfinden. Siehe Abbildung 19. Weitere Abbildungen online unter http://www.flickr.com/groups/airportchapels/pool /tags/brussels (Stand vom 08.11.2014). 184 Bayer 2011, 91 ff. Der Ich-Erzähler unterschreibt im Gästebuch mit »Paul Eluard« (Bayer 2011, 35). Paul Éluard (1895-1952) war ein Dichter des Surrealismus.

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Abbildung 18: Transithalle des Flughafens Brüssel-Zaventem

Quelle: Flickr / Henri Sivonen

Abbildung 19: Katholische Kapelle des Flughafens Brüssel-Zaventem

Quelle: Flickr / Henri Sivonen

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Dieser Text ist der berühmte fiktive »Brief, den Philip Lord Chandos, jüngerer Sohn des Earl of Bath, an Francis Bacon [...] schrieb, um sich bei diesem Freunde wegen des gänzlichen Verzichtes auf literarische Betätigung zu entschuldigen«185, geschrieben 1902 von Hugo von Hofmannsthal. Die dazugehörigen intertextuellen Verweise sind subtiler, aber nicht weniger bedeutsam als im Fall von Overaths Roman mit seinen wörtlichen Übernahmen aus Eliots The Waste Land. In der Literaturkritik zu Bayers Roman ist die Hofmannsthal-Referenz bislang kaum erwähnt worden; man hat »literarisch[e] Anspielungen von Joyce bis Kafka« ausgemacht sowie ein Erzählen, das »an dem Handkes geschult« ist186 , aber nur Harald Gschwandner, Rezensent einer Salzburger Kulturzeitung, hebt den »literarischen Artverwandten, Hofmannsthals Lord Chandos«187 explizit hervor. Gschwandner verweist dabei auf die deutlichste stilistische Parallele zwischen dem Brief und dem Flughafenroman. Lord Chandos schätzt seinen Zustand zusammenfassend wie folgt ein: »Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.«188

Der Fall des Protagonisten in Xaver Bayers Roman ist, ebenfalls in Kürze, jener: »dass mir das bloße, normale Schauen auf die Realität danach auf unheimliche Weise abhanden gekommen zu sein scheint«189

Weitere Textstellen, die deutlich an Hofmannsthals Ein Brief erinnern, ohne direkte Übernahmen zu sein, lassen sich finden. Während Lord Chandos klagt: »Die abstrakten Worte [...] zerfielen mir im Munde«, »es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen«, so kann Bayers Protagonist »die Worte [...] nicht in einen halbwegs erhellenden Zusammenhang bringen«, weil sie ihm »wie vorgefertigte Hohlformen vorkommen«.190 Während Lord Chandos zurückdenkt an die Jahre, in denen er ganz der »Erkenntnis der Form« vertraute, »jener tiefen, wahren, inneren 185 Hofmannsthal 1991, 45. 186 Hildenbrand 2011, Abs. 6 / Landerl 2011, Abs. 7. 187 Gschwandtner 2011, Abs. 1. 188 Hofmannsthal 1991, 48. 189 Bayer 2011, 31. 190 Hofmannsthal 1991, 48 f. / Bayer 2011, 25.

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Form«, blickt auch der Fotograf kritisch darauf zurück, »in welchem Zustand ich die letzten Jahre verbracht habe«, und stellt fest, »überall nur noch die Form« gesehen zu haben, »der Inhalt war das weniger notwendige Beiwerk«.191 Dem Lord erscheinen alle Aussagen »lügenhaft«, er sucht nach einer »Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen« – Bayers Erzähler berichtet, »alle Wörter« schienen ihm »immer verlogener«, »blähten [...] sich zu einem nichtssagenden Schweigen, und am naheliegendsten wäre es gewesen, Stummfilmschauspieler zu werden«.192 Damit sind nur einige Parallelen genannt, weitere lassen sich finden.193 Bayers Text wiederholt damit Hofmannsthals Sprachkritik, also die Kritik an der Sprache als Ausdrucksmittel auf Grundlage der Erkenntnis, dass es Empfindungen gibt, die sich der sprachlichen Vermittelbarkeit entziehen. Und er geht darüber hinaus: Dieser Text, wie der Chandos-Text unter dem Eindruck einer Zeitenwende geschrieben194, erweitert die Sprachkritik um eine spätmoderne Raumkritik. 191 Hofmannsthal 1991, 46 / Bayer 2011, 103 ff. 192 Hofmannsthal 1991, 49, 54 / Bayer 2011, 108 f. Stummfilme gibt es bereits zu Zeiten Hofmannsthals; tatsächlich ist die Blüte des Stummfilms zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch als Reaktion auf die Sprachskepsis des Fin de siècle zu verstehen (vgl. Kreimeier 2011). 193 Drei weitere Beispiele: Bei Bayer fangen die Schriftzeichen »zu wirbeln an, werden zu einem Wasserglas, das in einem Aquarium versenkt wird«; Hofmannsthal beschreibt die »Wirbel der Sprache«, die »ins Bodenlose zu führen scheinen« (Bayer 2011, 109 / Hofmannsthal 1991, 54). Später stellt Bayers Protagonist fest: »Zum Teil kommt mir Außergewöhnliches normaler vor als der übliche Ablauf der Dinge« – Lord Chandos hält ebenfalls das Gewöhnliche für das Besondere: »Denn mein unbenanntes seliges Gefühl wird eher aus einem fernen, einsamen Hirtenfeuer mir hervorbrechen als aus dem Anblick des gestirnten Himmels; eher aus dem Zirpen einer letzten, dem Tode nahen Grille [...] als aus dem majestätischen Dröhnen der Orgel« (Bayer 2011, 100 / Hofmannsthal 1991, 53). Zuletzt versucht Bayers Ich-Erzähler, sich an der Vergangenheit zu orientieren, doch »nichts konnte vom Altvertrauten in die Gegenwart herübergeholt werden« – bei Hofmannsthal scheitert ebenso der Versuch, sich »aus diesem Zustand in die geistige Welt der Alten hinüberzuretten« (Bayer 2011, 107 / Hofmannsthal 1991, 49). 194 Was für Hofmannsthal das Fin de siècle ist, also der Übergang vom 19. in das 20. Jahrhundert, ist für Bayer das Millennium: »und ich rekapituliere dieses vergangene Jahrzehnt, das mir so unwirklich vorkommt, als hätte es nur virtuell stattgefunden,

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Die Eigendiagnose des Ich-Erzählers, sein Problem sei allein ein Problem der visuellen Wahrnehmung, des »Schauen[s] auf die Realität«195 , trifft dabei nicht ganz den Kern – schließlich ist der Synthetiker auch ein Synästhetiker, wie er selbst einmal feststellt, die Irritationen betreffen also mehrere Sinne.196 Und schließlich erreichen seine wahnhaften »Gedankenkaskaden« gerade dann ihren Höhepunkt, wenn er auf dem Boden des »fast ganz finster[en]« muslimischen Gebetsraums liegt.197 Nein, sein eigentliches Problem ist die Multidimensionalität der räumlichen Eindrücke. Die als ineinander verschachtelt erlebten Räume können nicht mehr zu einer kohärenten, sinnstiftenden Anordnung zusammengefügt werden. Die anfänglich aufgezeigte Tendenz des Ich-Erzählers zur eigenwilligen Syntheseleistung hängt damit eng zusammen, entscheidend ist jedoch – der Begriff der Gedankenkaskaden deutet es an – der konflikthafte Umgang mit Raumebenen. Während es Lord Chandos nicht gelingt, die Welt durch Sprache zu ordnen, gelingt es Bayers Figur nicht, die Welt durch Räume zu ordnen. Die vielleicht eindrücklichste Schilderung einer Raumebenen-Verwirrung, sowohl für den Leser als auch für den Ich-Erzähler, erfolgt in einer der vielen Rückblenden. Es ist die Episode »in einem Internet-Café in Athen, kurz bevor ich in diesen Rettungswagen rannte, ich war meiner Sehnsucht nicht mehr Herr und hatte Theresas Namen in die Suchmaschine eingegeben, [...] und am Bildschirm des veralteten Geräts hatten sich Schriftzeichen eingebrannt, und als das Programm die Ergebnisse der Suche anzeigte, lief eine Fliege quer über die Zeilen, und anfangs störte mich das nicht, aber als sie genau immer dorthin wanderte, wohin auch mein Blick ging, versuchte ich sie mit dem Cursorpfeil zu verscheuchen, und wirklich, sie reagierte auf das schwarze Pfeildreieck unter ihrem Körper, [...] und in diesem Augenblick [...] kam mir [...] zu Bewusstsein, was ich da eigentlich tat, mir wurde ob der seltsamen Tragweite dieser banalen Situation geradezu schwindlig, [...] ich,

diese Spanne vor dem ersten größeren Börsenkrach dieses Millenniums, eine Taschenspielerzeit« (Bayer 2011, 49). 195 Bayer 2011, 31. 196 »und da frage ich mich, wie es sein kann, dass ich bisweilen als Nebenerscheinung eines Anblicks oder einer Vorstellung zum Bild auch den Geruch in der Nase habe, dass ich also, wenn ich zum Beispiel eine Orange imaginiere, auch den Hauch eines Orangenduftes zu riechen glaube, oder wie eben jetzt den Gummiball, obwohl ich ihn nur aus einiger Entfernung wahrnehme« (Bayer 2011, 45). 197 Vgl. Bayer 2011, 102, 117.

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der alte staubige Computermonitor, darauf mehrmals in fetten Lettern Theresas Vor- und Zuname und dann die Fliege, die meine Cursorbewegungen offenbar als eine Einladung zum Spiel verstand und einen Tanz tanzte, bei all dem kam ich mir plötzlich so läppisch vor, dass ich augenblicklich den Computer ganz ausschaltete, mit einem Ruck aufstand, zahlte, die Tür öffnete und ansetzte, die Straße zu überqueren [...] und dass ich den Rettungswagen nicht bemerkt hatte, ließ mich, als ich plötzlich vor dessen Kühlerhaube auf dem warmen Asphalt lag, in völliger Verblüffung«198

Was den Ich-Erzähler hier schwindelig macht, ist weder der Computermonitor allein, noch sind es die darin eingebrannten Schriftzeichen, noch die aktuell angezeigten Schriftzeichen, noch ist es das nominelle Verhältnis der Zeichen zur leiblichen Person Theresa, noch die Fliege, noch der virtuelle Mauscursor. Es ist die Kombination der Eindrücke, die Wechselwirkung disparater Orte und Räume, die den Schwindel verursacht. Dass Räume in Beziehung zueinander treten, neue Räume hervorbringen und sogar kollidieren können – diese Erfahrung muss Bayers Protagonist zunächst psychisch, bei seiner Flucht aus dem Internet-Café dann auch körperlich auf schmerzhafte Weise machen. Am Flughafen setzt sich dieses Problem nicht nur fort, es weitet sich sogar zu einem existenziellen Problem aus, das zu einer weiteren panikartigen Flucht führt und die Hinwendung zu einer neuen Lebenseinstellung einleitet. Dieser Flughafen von Brüssel ist eben nur vordergründig entleert; hinter seiner Kulisse befindet sich eine überaus komplexe Konstruktion, und der Ich-Erzähler nimmt diese präzise wahr. Das Transitorische des Flughafens spielt dabei eine maßgebliche Rolle. Die finale Eskalation zu einem »Assoziationsbombardement«199 wird ausgerechnet durch eine Transit-Vision eingeleitet – mit dem Versuch der Verortung des Flughafens im nationalen, internationalen und sogar intergalaktischen Transit: »und ich weiß, ich befinde mich auf dem Flughafen von Brüssel, und Brüssel befindet sich in Belgien und Belgien in Europa und Europa auf der Welt, und die Welt schwebt im Weltall, und beim Gedanken, worin sich das Weltall befindet, steige ich naturgemäß bereits aus, habe nur irgendwelche schematischen Bilder von Galaxien und Sonnensystemen vor Augen, und es ist, als würde ich meinen Körper verlassen und die Welt vom Mond aus

198 Bayer 2011, 54 f. 199 Bayer 2011, 115.

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sehen, und jetzt, plötzlich, aus der Höhe wieder zurück in meinen Körper fallend, kommt mir zu Bewusstsein, in welchem Zustand ich die letzten Jahre verbracht habe«200

Auch hier zeigt sich der so fantasiereiche wie konflikthafte Umgang mit verschiedenen Raum- und Ortsebenen. Die Vorstellung des Flughafens als Teil eines übergeordneten Netzwerks, eines globalen Transit-Raums, wird hier bis an die Grenzen des Universums übersteigert, was einerseits eine erneute Raumebenen-Verwirrung bedeutet, andererseits aber auch die entscheidende Wende des Romans einleitet: Gerade in dem Bewusstsein, sich im universalen Dazwischen zu befinden, an der Schnittstelle aller Orte und Räume, gelingt dem Ich-Erzähler erstmals ein geordneter Blick auf seinen Zustand der letzten Jahre. In der folgenden Selbstanalyse macht er immer wieder das Unterwegssein, die Existenz im Transit für seine Probleme verantwortlich. Der Transit ist also Problem und Lösung zugleich, er ermöglicht einen umfassenden Blick auf die spätmoderne Gegenwart, verkompliziert jedoch die Raumwahrnehmung und erschwert die Entscheidung für den einen Ort: »und egal wo auf der Welt ich mich aufhielt, kam ich daher wie ein Alteingesessener, alles war mir vertraut, aber nichts Heimat« »und in dieser Ungeduldszentrifuge habe ich mich selbst immer mehr beeilt [...] die Beschleunigung ließ Schatten an den Grenzen meines Gesichtsfeldes entstehen, [...] ein Tunnelblickkommando in immer höherer Geschwindigkeit, einer Geschwindigkeit, die mich selbst aber kein bisschen weiterbrachte, so wie man in einem Auto dahinrast, ohne seinen Körper selbst vorwärts zu bewegen«201

Im letzten Zitat werden explizit die Bewegung und die Geschwindigkeit für den Tunnelblick verantwortlich gemacht, mit dem der Ich-Erzähler die letzten Jahre wahrgenommen hat. Er vergleicht sein Leben mit einer Autofahrt; die hohe Geschwindigkeit und vor allem die Passivität der Bewegung lassen jedoch auch an das moderne Flugreisen denken. Bereits zuvor, in einem weiteren Rückblick, macht Bayers Protagonist den Transit als Ursache für seine Raumprobleme aus: »und denke, dass es für mich an der Zeit ist, wieder eine Weile an ein und demselben Ort zu bleiben, und ich lasse die letzten Wochen Revue passieren, diese Wochen des Unter-

200 Bayer 2011, 103. 201 Bayer 2011, 105, 108.

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wegsseins, an denen ich nahezu jede Nacht woanders geschlafen habe, und ich sinne über die mir bis jetzt so verlässliche Zuversicht des Reisens nach, wie ich mich jedes Mal, wenn der Zug losruckte oder das Flugzeug zu rollen begann, erst so richtig zuhause gefühlt habe, aber dann beim weiteren Nachdenken scheint mir, dass das Unterwegssein vielleicht auch nur eine Ausrede ist, denn es macht einen glauben, dass man etwas vollbringt, so kommt es mir vor, in Wirklichkeit aber erledigt sich alles wie von selbst, und man braucht nichts beizutragen«202

Wie in der frühen Eisenbahnerzählung von Max Maria von Weber erschwert das passive Bewegt-Werden das Hervorbringen von stabilen eigenen Raumkonstruktionen – der entscheidende Unterschied ist jedoch, dass der Erzähler hier nicht befürchtet, im Durchgang keine Orte mehr auszumachen und durch das Nirgendwo zu reisen, sondern alle Orte auszumachen, alle Orte zu bereisen, jedoch nicht mehr auswählen zu können, welcher Ort wichtig für ihn ist. Wenig später formuliert er dies noch einmal explizit: »jedenfalls ist das doch die Gefahr des Reisens, denke ich weiter, dass die Orte beliebig werden und man sich auf nichts mehr einlässt, weil man sich die ganze Zeit nur wie durch Schleusen bewegt, und dass einen allein das Unbekannte, das Fremde weiter bringt, aber das scheint zusehends unmöglicher zu werden«203

Wenn sich die Orte dann nicht nur untereinander verbinden (wie im Fall des globalen Luftverkehrs), sondern auch multidimensional auftürmen (wie im Fall der Fliege auf dem Computermonitor oder des Blicks in das Weltall), ist die Irritation besonders stark. Damit ist ein Grundkonflikt des globalisierten Reisens im 21. Jahrhundert thematisiert, der zugleich ein Grundkonflikt des Informationszeitalters ist: Alles ist verfügbar, alle Orte sind da, aber was ist wichtig, was ist die ›richtige‹ Anordnung? Xaver Bayer gelingt es, dieses Problem nicht nur innerhalb des erzählten Gedankenstroms des Protagonisten immer wieder neu zu verhandeln. Er macht vielmehr auch den Gedankenstrom selbst, die äußere Form des Stroms, zum Teil seiner Raumkritik, und zwar auf der Ebene des Textraums. Stärker als in allen anderen bislang untersuchten Erzähltexten kommt jener Ebene in Bayers Roman Bedeutung zu.

202 Bayer 2011, 84. 203 Bayer 2011, 85.

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Eine der auffälligsten Eigenheiten dieses Textes ist, wie anfangs erwähnt, dass er in einem einzigen Satz erzählt wird. Nun ist diese Idee – ähnlich wie die Idee, einen Transit-Ort zum literarischen Schauplatz zu machen – nicht grundlegend neu; das abschließende Penelope-Kapitel aus James Joyces Ulysses ist ein prominentes Beispiel aus dem frühen 20. Jahrhundert. Auch Autoren der Gegenwartsliteratur haben Ein-Satz-Erzählungen verfasst; zu den bekanntesten gehören Friedrich Christian Delius’ Die Birnen von Ribbeck und Friederike Mayröckers Mein Herz, mein Zimmer, mein Name. All diese Texte bedienen sich der gleichen Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms. Mit Delius’ Erzählung hat Bayers Text sogar die Dramaturgie des allmählichen Versinkens in einen Alkoholrausch gemeinsam. Was den Flughafenroman jedoch besonders macht, ist die Art und Weise, mit der sein einziger Satz gestaltet ist. Das zentrale Kompositionsprinzip des Bayer’schen Texts ist die Konjunktion, das Lieblingswort des Erzählers lautet ›und‹. Dies erscheint naheliegend, schließlich ist ›und‹ die am häufigsten verwendete Konjunktion im Deutschen und das dritthäufigste Wort in deutschsprachigen Texten überhaupt.204 In Bayers Text ist das Wort dennoch besonders dominant, wie ein Vergleich mit den anderen genannten deutschsprachigen Ein-Satz-Erzählungen aufzeigt. In einer Stichprobe aus Mayröckers Roman205 zeigen sich überraschend wenige ›Und‹-Konjunktionen, das Wort kommt auf zwei Seiten lediglich viermal vor. Es dominieren weitgehend unverbundene Teilsätze. Der Roman nimmt wenig Rücksicht auf grammatikalische Konventionen, die Assoziationen der IchErzählerin werden frei aneinandergereiht und häufig nicht zu Ende geführt. Die Stichprobe aus Delius’ Erzählung206 enthält vergleichsweise viele ›Und‹Konjunktionen; dabei handelt es sich jedoch häufig um Wortkonjunktionen (»als Polizist und Richter und Kirchenherr und Offizier«) oder Satzgliedkonjunktionen (»auch wenn sie alle Hans Georg hießen und die gleiche Gewalt hatten«), nicht um Satzkonjunktionen. Die wenigen Satzkonjunktionen, die den Gedankenstrom von Delius’ Erzähler formen, sind dagegen häufig kontrastiv, kausal oder konzessiv (»aber es sollte wohl nicht erinnert werden [...], weil die Partei Angst hatte [...], denn ganz so schlecht wars beim Ribbeck ja auch nicht [...], trotzdem galt ein Ribbeck [...] für gefährlich«). Taucht das ›und‹ bei Delius tatsächlich auf, um Teilsätze zu verbinden, so enthalten diese Teilsätze häufig Zu204 Vgl. o.A. 2001. 205 Siehe Abbildung 20. 206 Siehe Abbildung 21.

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sammenziehungen (»wie die Jungen alt werden [...], und [wie] die Jahre aufgehn und ab[gehn], und [wie] der Ribbeck zum Teufel wird«). Diese Stilmittel tragen dazu bei, die Teilsätze eng miteinander zu verweben, was die nebenordnende Funktion des ›und‹ abschwächt. Anders präsentiert sich Xaver Bayers Text: Hier ist der Gedankenstrom weniger ein Gewebe als vielmehr eine Aneinanderreihung von Gedanken, ein Nebeneinander von Eindrücken. Die ›Und‹-Konjunktionen – in der Stichprobe sind es immerhin 32, und 17 davon sind Satzkonjunktionen vom Typ ›Komma und‹ – prägen maßgeblich die äußere Form des stream of consciousness.207 Nur selten findet sich in der stetigen Abfolge von additiven ›Unds‹ ein anderer Typus wie das kontrastive ›Aber‹: »[...], und ich nehme wieder Platz, und am Nebentisch sitzt eine Frau und beschäftigt sich mit ihrem Laptop, das Ladekabel liegt in einer &-Schleife da, und ich versuche, halb aus Neugier, halb aus Langeweile, herauszufinden, was auf dem Bildschirm zu lesen ist, aber die Schrift ist zu klein und ich müsste näher rücken [...], und da bringt mir die Kellnerin das bestellte Bier, und sie öffnet die Flasche gekonnt mit einer Hand und stellt sie mit einem Glas vor mich auf den Tisch«208

Dieser Stil wurde in einigen Rezensionen des Romans kritisiert: Die vielen Konjunktionen wirkten »etwas angestrengt« oder »etwas bemüht«, hier und da hätte »ein Punkt auch nicht geschadet«.209 Anna Katharina Gerhardt fordert unumwunden: »Junge, komm zum Punkt!«.210 Dagegen macht sich die Rezensentin Senta Wagner ausführlicher Gedanken über die intendierte Wirkung der ›Und‹Konjunktionen: »Was macht das ›und‹? Jeder Gedanke des Erzählers ist einem anderen gleichwertig, er blitzt aus dem Monolog auf, pflanzt sich fort, schubst einen weiteren an, verschwindet.«211

207 Siehe Abbildung 22. 208 Bayer 2011, 13, Hervorhebungen L.W. Dass hier selbst das Kabel die Form eines kaufmännischen ›und‹ annimmt, ist eine kleine Pointe des Erzählers. 209 Kastberger 2011, Abs. 5 / Braun 2011, Abs. 6. 210 Gerhardt 2011, Abs. 1. 211 Wagner 2012, Abs. 5.

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Abbildung 20: ›Und‹-Konjunktionen in Friederike Mayröckers ›Mein Herz, mein Zimmer, mein Name‹

Quelle: Mayröcker 1988, 80 f.

Abbildung 21: ›Und‹-Konjunktionen in Friedrich Christian Delius’ ›Die Birnen von Ribbeck‹

Quelle: Delius 1993, 18 f.

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Abbildung 22: ›Und‹-Konjunktionen in Xaver Bayers ›Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen‹

Quelle: Bayer 2011, 12 f.

Es gibt also offenbar eine starke Korrelation zwischen dem syntaktischen Aufbau des Gedankenstroms und den Inhalten der Erzählung, also zwischen den Ebenen des Textraums und des Raums der erzählten Welt. Die Raumirritationen, denen sich der Erzähler auf der Ebene der erzählten Welt ausgesetzt sieht, spiegeln sich in der äußeren Form des Textes wider: Alles ist verfügbar, aber was ist wichtig – eins führt zum anderen, aber wohin führt das alles? Die Teilsätze stehen nicht so frei assoziativ nebeneinander wie bei Mayröcker, die Verbindungen sind da, aber das Satzgeflecht präsentiert sich weitaus weniger verwoben als bei Delius. Was dominiert, ist die monotone Abfolge des immergleichen ›Komma und‹, ›Komma und‹, ›Komma und‹. »Jedenfalls ist das doch die Gefahr des Reisens, denke ich weiter, dass die Orte beliebig werden«212 – diese Überlegung findet sich also auf der Ebene des Textraums eindrucksvoll wieder, begreift man den Text als Ansammlung von Orten, die der Leser bei der Lektüre unablässig durchquert. Jedes ›Komma und‹ bildet einen Durchgang zu einem neuen Ort im Textraum, und die Übergänge 212 Bayer 2011, 85.

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sind so gleichförmig und austauschbar gestaltet wie ein Flughafen im globalen Transit. Wenn dieser Erzähler ›nicht zum Punkt kommt‹, liegt das daran, dass sein Transit-Dasein eben gewissermaßen nur aus Kommata besteht, aus Episoden und Abschnitten (gr. komma = Schlag, Abschnitt), und ihm dabei im Sinne Chandos’ ›völlig die Fähigkeit abhanden gekommen‹ ist, zu einer eindeutigen Raumordnung zu gelangen – sowohl in Bezug auf die Ordnung der erzählten Welt als auch in Bezug auf die Ordnung des Texts. Gibt es einen Ausweg? Bietet der Roman so etwas wie einen Gegenentwurf zu der irritierenden Unordnung der Räume? Die Places of Worship, die Gebetsräume, haben zumindest eine große Anziehungskraft auf den Ich-Erzähler; den Großteil seiner Aufenthaltszeit am Flughafen verbringt er hier, während er die anderen Bereiche des Flughafens zunehmend meidet. »Flughafenkapellen haben mich immer schon als Orte gereizt«213, stellt der Ich-Erzähler schon vor dem ersten Betreten fest. Die Tafelbild-Vision im Flugzeug scheint dazu bereits hinzuführen, und in den Gebetsräumen setzt sich das Nachdenken über religiöse Motive fort: Im muslimischen Gebetsraum sitzend, erinnert er sich an »einen Vormittag vor ungefähr einem Jahr in Neapel [...] an dem ich zufälligerweise die Gelegenheit hatte, der Mittagsandacht in einem Nonnenkloster beizuwohnen«214 . Als einziger Besucher in einer kleinen Kapelle lauschte er damals dem Gesang der Nonnen: »[ich] fühlte den Zusammenklang ihrer Stimmen wie einen Körper, die gesungenen Worte bildeten eine Form [...], und als eine der Nonnen später alleine sang, schien mir, dass eine reine Stimme einem Nacktsein entspricht, [...] diese Stimme, der ich da lauschte, war tatsächlich etwas Heiliges, weil sie nichts sein wollte, weil sich die Sängerin selbst nur als Instrument zur Verfügung stellte«215

Diese Beschreibung wirkt mit Ausdrücken wie »Zusammenklang«, »einen Körper«, »eine Form«, »reine Stimme«, »Nacktsein«, oder »nur als Instrument« auffällig harmonisch, einfach und überschaubar, womit sie sich von den disparaten, komplexen und entgrenzten Raumwahrnehmungen des Ich-Erzählers am Flughafen abhebt.

213 Bayer 2011, 32. 214 Bayer 2011, 95. 215 Bayer 2011, 96 f.

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Ebenjener Kontrast ist der Grund dafür, dass die religiösen Orte eine derartige Anziehungskraft auf den Ich-Erzähler haben – nicht etwa das Religiöse selbst. Nachdrücklich berichtet er von seiner »Abscheu gegen jede Art von institutionalisierter Religion und jeglicher Orthodoxie«, schreckt vor dem »Gesichtsausdruck frömmelnder Menschen« zurück, und erst nach längerem Nachdenken kann er sich vorstellen, »wie es wäre, gläubig zu sein [...] zumindest ein wenig«216 . Diese Vorstellung ist dann aber durchaus positiv: »man trifft sich immer am selben öffentlichen, aber doch etwas abgelegenen und geheimen Ort, der Kirche, oder manchmal auch zuhause, wenn man allein ist [...] und durch die rituelle Regelmäßigkeit des Zusammenkommens im Gebet baut sich über die Jahre eine solide Zweisamkeit auf«217

Die Beschreibung erinnert an die Episode in Neapel, betont jedoch noch stärker das Topografische: Die Zusammenkunft immer am selben Ort beziehungsweise zuhause wird hervorgehoben – eine Existenzform, die sich der Ich-Erzähler zuvor ausdrücklich herbeiwünscht.218 Auch im italienischen Nonnenkloster genießt er das Begrenzte und Dauerhafte des Orts, »es war so friedlich und wohltuend, sich innerhalb dieser Mauern aufzuhalten, dass ich immer langsamer ging, um den Moment hinauszuzögern«219. Letztlich sind es also nicht die religiösen Strukturen, nach dem sich der Protagonist am Flughafen sehnt, sondern die räumlichen Strukturen der sakralen Orte mit ebenjener Überschaubarkeit, Begrenztheit und Zielgerichtetheit, die er in seinem Leben – und speziell im Transit am Flughafen – vermisst.220

216 Bayer 2011, 91, 92, 94. 217 Bayer 2011, 91. 218 »ich [...] denke, dass es für mich an der Zeit ist, wieder eine Weile an ein und demselben Ort zu bleiben« (Bayer 2011, 84). 219 Bayer 2011, 95. 220 Herbert Justnik bestätigt in der Einleitung zum Ausstellungsband Places of Worship diese Funktion für die alltagsweltlichen Flughafenkapellen: »Als ›Räume der Stille‹ ermöglichen sie Momente der Ruhe und des Rückzugs, die gerade auch Geschäftsreisende schätzen. [...] Entgegen ihrer spirituellen Intention werden diese Orte der Andacht für ›Profanes‹ genützt, und gerade auf diese Weise erfüllen sie ihren Sinn: einen Ort der Ruhe in einem auf Durchgang und Rastlosigkeit ausgelegten Areal zu ermöglichen« (Duscha/Justnik 2008, 7).

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Eine Hinwendung zum Glauben wird diese durch und durch säkularisierte und globalisierte Figur – die jene Nonnen prompt als philippinische Transfergestalten entlarvt221 – wohl nicht mehr antreten. Und doch keimt in dem Erzähler ein »Samen des Wandels«, und doch flieht er schließlich aus dem Flughafen und weiß am Ende: »das war es und das ist es und das wird es sein, das wollte ich und das will ich und das werde ich wollen«.222 Was ist es? Es ist »dieser ewige Augenblick, wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen, und die Wellenkreise, die auseinander streben und sich überlappen, als würden sie miteinander spielen, und die am Ufer verebben, versiegen, und im Wasser das Spiegelbild des Himmels, das sich schaukelnd bewegt«223

Ein ungewöhnliches Raumbild ist das, was dem Leser hier als Idealvorstellung präsentiert wird und dem Roman seinen Titel gibt. Beobachtet hat der IchErzähler die Kinder, die Steine ins Wasser werfen, »an einem Nachmittag in einem Park in weiß Gott welcher Stadt«224, an irgendeinem Ort. Wieder einmal ist der Protagonist auf der Durchreise – und doch erscheint ihm dieses Bild rückblickend als etwas, das ihm auf dem Höhepunkt seiner Transitverstörung erstmals etwas wie Beruhigung bietet. Der Grund für die beruhigende Wirkung liegt vermutlich in dessen Ursprünglichkeit: Sind die Steine erst einmal ins Wasser gefallen, werden die Wellenkreise schnell enorm komplex und unübersichtlich – so wie die Räume, denen der Erzähler am Flughafen begegnet. Doch anders als bei den vielen anderen Raumbildern des Romans kann der Beobachter hier den Ursprung der Raumverwirrung ausmachen, eben jenen »ewigen Augenblick«, wenn die Steine ins Wasser geworfen werden – von Kindern, im Frühstadium des Individuums. Die kindliche Naivität ist ein wiederkehrendes Thema im Gedankenstrom des Erzählers. Er erinnert sich an Episoden aus seiner Kindheit, in der die konstituierten Räume weniger verwirrend waren als in der Gegenwart. Der kindliche Urzustand spielt auch in einer Passage eine Rolle, die wie beiläufig mitten im Strom der Gedanken steht, weit vor der Erinnerung des Ich-Erzählers an das Er221 »und ich betrat eine Kapelle, in der vielleicht fünfzehn, zwanzig fast ausschließlich philippinische Ordensschwestern in ihren schwarzen Gewändern in einem Chorgestühl saßen« (Bayer 2011, 96). 222 Vgl. Bayer 2011, 118. 223 Bayer 2011, 118. 224 Bayer 2011, 117.

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lebnis im Park, die aber die vielleicht prägnanteste Zusammenfassung seiner Raumirritationen enthält: »und ich muss plötzlich denken, wie ausufernd das Leben ist, schon allein in der Masse an Eindrücken, die sich in wenigen Augenblicken ins Unüberschaubare ausdehnen, wie Träume mit ihren grenzenlosen Topographien sich im Erzählen verschwenden, so überreichlich gibt es an Sein, dass man, alles gelten lassend, darin verschwindet wie ein Luftballon, den ein Kind absichtlich los lässt«225

Diesem ausufernden, unüberschaubaren, grenzenlosen, überreichlichen Leben kann sich der Erzähler nicht entziehen – und er will es auch gar nicht. Für ein Leben im Kloster ist er nicht geschaffen. Seine Flucht aus dem Flughafen ist nur eine vorübergehende. Zwar wirkt es wie ein finaler Ausbruch aus dem Transit, wenn es am Ende heißt: »und ich sehe schon die große Glasfront mit den Ausgängen, ich gehe auf sie zu im schnellen Schritt [...] und stoße jetzt die Tür auf, die ins Freie [...] führt«226. Doch damit ist die Textpassage nicht vollständig widergegeben; eigentlich heißt es: »und ich sehe schon die große Glasfront mit den Ausgängen, ich gehe auf sie zu im schnellen Schritt [...] und stoße jetzt die Tür auf, die ins Freie, zu den Taxis und den Bussen führt«227

Sein Transit geht also weiter. Vor der Tür wartet schon der öffentliche Nahverkehr.

225 Bayer 2011, 54. 226 Bayer 2011, 118. 227 Bayer 2011, 118.

Zusammenfassung und Ausblick

Der Anlass zu dieser Untersuchung war die Annahme, ein Durchgangs- oder Transit-Ort sei ein Ort, mit dem man etwas mache1, mit dem etwas Bedeutsames passiere, und dass sich jenes bedeutsame Etwas für die Literatur genauer bestimmen ließe, als ein Set von Merkmalen eines modernen Transit-Erzählens. Die Ausprägung dieser Merkmale sei, so die weitere Hypothese, ähnlich wie die Transit-Orte ständig in Bewegung; abhängig von gesellschaftlichen und kulturellen Eigenheiten der Zeit setzten sich die Autoren der literarischen Moderne mit einzelnen Merkmalen des Transitorischen besonders intensiv auseinander. Nun schließlich, nach dem Untersuchen literarischer Eisenbahnen und Bahnwärterhäuschen, nach dem Erforschen der paradoxen Ordnung von Joseph Roths Hotel Savoy, nach dem Vermessen des Treppenwegs durch Franz Werfels Grand Hotel, nach dem Blick auf die erzählten Häfen von Marseille und Lissabon, nach dem Ergründen von Wasser- und Gedankenströmen am Flughafen – nun schließlich lässt sich feststellen, dass an den Transit-Orten tatsächlich eine Menge passiert, dass ihre literarischen Darstellungsformen spannungsreich und vielgestaltig sind, und dass sie sich in der Tat über verbindende Merkmale klassifizieren lassen. Für die Analyse der Transit-Orte hat sich die kategorische Unterscheidung zwischen Raum und Ort als erkenntnisleitend erwiesen. In der Hinwendung der Sozial-, Kultur- und Literaturwissenschaften zur Auseinandersetzung mit räumlichen Strukturen, dem spatial turn, ist die Bedeutung der Differenzierung von Raum und Ort bislang unterschätzt worden. Erst mit dem Ort als ›kongenialem Partner‹ des Raums ist es möglich, komplexe Strukturen wie die der Welt der Eisenbahnen, Hotels, Häfen oder Flughäfen untersuchen zu können, ohne die Fle-

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Diese Formulierung ist angelehnt an die Raumdefinition von Michel de Certeau. Siehe Kapitel ›Vom sozialen Raum zum Ort‹.

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xibilität und Dynamik moderner Raumkonzepte einzubüßen. Dies gilt auch für die Schauplätze und Raumfigurationen der Literatur. Grundlage für die Definition und Differenzierung der Begriffe Raum und Ort war Martina Löws Arbeit Raumsoziologie, die sich in der Soziologie als Basismonografie etabliert hat. Löws relationaler Raumbegriff, ihr Verständnis von Orten als Ziel und Resultat von Platzierungen sowie die von ihr beschriebene Wechselwirkung zwischen Handeln und Strukturen haben sich für die Literaturwissenschaft als anschlussfähig erwiesen. Ihre primär soziologischen Definitionen wurden dabei für literarische Orte und Räume modifiziert. So kann ein literarischer Ort oder Schauplatz, etwa das Hotel, innerhalb der erzählten Welt ganz unterschiedliche Räume hervorbringen, je nachdem, ob der Schauplatz beispielsweise aus der Hotelpersonal- oder Gästeperspektive erzählt wird. Das Personal konstituiert durch seine Handlungen einen eigenen Hotelraum, der sich teilweise mit dem Raum der Gäste überschneiden, aber auch in Konkurrenz zu ihm treten kann. Auch kann sich ein Raum über mehrere Orte erstrecken. Insbesondere der Transit-Raum der Flughäfen erhält seine spezifische Qualität erst in der globalen Vernetzung über konkrete Orte hinweg. Schließlich können sich Räume und Orte ineinander verschachteln und so ein multidimensionales Netzwerk aus Räumen und Orten entstehen lassen. Diese Spannungen, Vernetzungen und Überlagerungen sind ein Schlüssel zur Untersuchung speziell literarischer und transitorischer Raumkonstruktionen und allein durch die konsequente Unterscheidung von Raum und Ort beobachtbar. Mit dem relationalen Raumbegriff Löws war es zudem möglich, die unterschiedlichen Raumebenen herauszuarbeiten, auf denen literarische Texte wirksam werden. Insgesamt gibt es mindestens vier Ebenen, die bei der Untersuchung des Raums in der Literatur berücksichtigt werden müssen, zumindest im Hinblick auf Erzählliteratur. Diese sind der Trägerraum (der Raum des Schriftträgers, etwa eines Buchs), der Textraum (der Raum, der sich aus der Auseinandersetzung mit der Linearität der Schrift ergibt), der Raum der erzählten Welt (die räumliche Konfiguration von erzählten Figuren, Schauplätzen etc.) und der metaphorische Raum (metaphorische Raumbeschreibungen und Raumkonzepte). Dieses Ebenenmodell, das auf bestehenden Forschungsarbeiten – unter anderem von Gérard Genette und Elisabeth Bronfen – basiert, bildete eine systematische Grundlage für die Erzähltextanalysen. Weitere Impulse für die Analyse literarischer Transit-Texte boten die theoretischen Konzepte von Marc Augé (›Nicht-Orte‹) und Michel Foucault (›Heterotopien‹). Zwar können beide Konzepte die Besonderheiten der Transit-Orte und -Räume nicht vollständig erfassen, sie liefern jedoch wichtige Erkenntnisse im Hinblick auf bestimmte Aspekte einzelner Schauplätze.

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So werden in Anlehnung an Augé neben den Verkehrsgebäuden auch die Verkehrswege und Verkehrsmittel zu den Transit-Orten gerechnet. Damit sind beispielsweise Eisenbahnen ebenso Transit-Orte wie ihre Schienenwege oder die Bahnhöfe, an denen sie verkehren. Das Konzept der ›Nicht-Orte‹ bietet darüber hinaus Anknüpfungspunkte für die Beschreibung von Prozessen semantischer Entleerung. Dafür wurde Augés Mangelperspektive, die den transitorischen Ort zum negativen, ›nichtigen‹ Ort stilisiert, durch eine Differenzperspektive ersetzt, die die spezifischen, ›anderen‹ Konstruktionsleistungen am Transit-Ort betont. Solche ›anders‹ konstruierten Orte hat Michel Foucault als Heterotopien bezeichnet (aus gr. hetero = ›anders‹ und topos = ›Ort‹). Auch wenn Foucaults Konzept begrifflich teilweise unscharf bleibt, lässt es sich auf Transit-Orte anwenden und nutzbar machen. Nicht alle Transit-Orte sind Heterotopien, auch nicht die literarischen; dennoch sind Transit-Orte in besonderer Weise in der Lage, mehrere eigentlich unvereinbare Räume zu vereinen und damit heterotop wirksam zu werden. So spiegeln und kommentieren sie zugleich gesellschaftliche Verhältnisse. Mit diesem raumtheoretischen Instrumentarium wurden acht Erzähltexte der literarischen Moderne untersucht. Dabei haben sich sechs Merkmale und Prozesse als charakteristisch für literarische Transit-Orte herausgestellt: Dynamik, Gradlinigkeit, Paradoxie, Entgrenzung, Flüchtigkeit sowie Entleerung. In den Erzähltexten des späten 19. Jahrhunderts – Eine Winternacht auf der Lokomotive von Max Maria von Weber und Bahnwärter Thiel von Gerhart Hauptmann – zeichnen sich die Transit-Orte vornehmlich durch Dynamik und Gradlinigkeit aus. Im Speziellen sind damit die Eisenbahnen mit ihrer als rasant erlebten Geschwindigkeit und ihrem direkten, gewaltsamen Eindringen in die Landschaft gemeint. Auf kulturwissenschaftlicher Ebene sind diese Aspekte bereits 1977 von Wolfgang Schivelbusch untersucht worden. Die rasende Maschine Eisenbahn ist erstens um ein Vielfaches schneller als jedes andere zuvor entwickelte Verkehrsmittel, und zweitens zwingt sie den Reisenden durch ihre gradlinige Schienenkonstruktion eine fundamental neue Raumwahrnehmung auf. Dieses Verkehrsmittel reist nicht mehr in der Landschaft, es reist durch die Landschaft. Das ›Durch‹ des Transits wird zum zentralen Moment des Reisens. Dies hat Raumirritationen zur Folge. Infolge der Dynamik und der Gradlinigkeit der Bahn ist es den Reisenden nur noch eingeschränkt möglich, die wahrgenommenen Eindrücke an die geografischen Orte zu binden, an denen sie platziert sind. Die Bindung zwischen dem Reiseraum und den durchreisten Orten ist gestört. Erst allmählich entwickelt sich ein neues Wahrnehmungsschema, der panoramatische Blick. Dieser ist notwendigerweise dynamisch; er entsteht in der rasanten Bewegung. Die Literatur als räumlich komplexe Kunstform bietet be-

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sondere Möglichkeiten, die Raumirritation wiederzugeben, und die Autoren der untersuchten Texte nehmen diese Möglichkeit wahr. Im ersten ›Eisenbahntext‹, Eine Winternacht auf der Lokomotive von Max Maria von Weber, werden zwei Räume gegenübergestellt: der dynamische Transit-Raum und der statische Raum des traditionellen Alltagslebens. Darin wird deutlich, dass die Eisenbahn, dieser erste Transit-Ort der Moderne, als etwas grundlegend Neues imaginiert wird, das in den bisherigen, unbeschleunigten Raum eindringt und ihn radikal verändert. Die eiserne Maschine erscheint als gefährlich, menschenfeindlich, schwer kontrollierbar, aber doch letztlich unbedingt fortschrittlich: Ihr technischer Sieges-Zug erscheint so unausweichlich wie der Schienenweg, auf dem sie dahinrast. Auch klingen in der Erzählung mit der ortlosen Fahrt, dem unsicheren Raum und der Flüchtigkeit der Eindrücke bereits wesentliche Aspekte eines modernen Erzählens an. Der Erzähler bleibt dabei jedoch weitgehend souverän; das Leben im Transit erscheint hier als Abenteuer, das bei allen Gefahren doch überschaubar ist, vor allem aus der Perspektive des technikversierten Literaten. In Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel stehen die Dynamik und die Gradlinigkeit der Maschine ebenfalls im Zentrum der Erzählung, und auch hier zeigt sich der Gegensatz zwischen unbeschleunigtem Alltag und beschleunigter Transitwelt – allerdings aus einer grundsätzlich anderen Perspektive: Während bei Weber der Blick aus dem Zug inszeniert wird, handelt es sich hier um den Blick eines ›auf der Strecke Gebliebenen‹ auf die vorbeirasende Eisenbahn. Dass dieser Umstand die Grundstruktur der gesamten Novelle vorgibt, zeigt deutlich, wie wichtig räumliche Parameter für die Ausgestaltung von Erzähltexten sind. Auch zeigen sich die Vorteile eines deterritorialisierten Raumbegriffs: Aus relationaler Perspektive lässt sich leicht begründen, warum die ›Maschine‹ einen so enormen Einfluss auf die psychische Konstitution Thiels hat, obwohl sie geographisch nur einen sehr begrenzten Teil der erzählten Welt ausmacht. Der Bahnwärter kann mit den Auswirkungen der sich radikal wandelnden, modernen Lebenswelt nicht umgehen und zerbricht daran. Die durch den Transit veränderte Raum- und Reisewahrnehmung erfordert von allen Beteiligten neue Kompetenzen im Umgang mit dem Raum. Sie verlangt nach Dynamik und Flexibilität, und Thiels statisches, repetitives, dörfliches Lebensmodell passt nicht dazu. Auch zu den vorbeifahrenden Passagieren kann er keinerlei Bindung aufbauen. Der Bahnwärter gerät dadurch psychisch, sein Nachkomme Tobias auch physisch ›unter die Räder‹. In der räumlichen Gestaltung von Bahnwärter Thiel zeigt sich insgesamt eine erhöhte Komplexität gegenüber Webers Novelle. Die Gradlinigkeit der Maschine wird hier nicht nur auf der unmittelbaren Erzählebene thematisiert, sondern

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spiegelt sich in der Gesamtkonzeption der Novelle wider, in der Unausweichlichkeit des Thielschen Schicksals. Die räumlichen Eigenschaften der Bahn bestimmen die Narration auch dann, wenn die Eisenbahn als Schauplatz gar nicht präsent ist. Die Novelle erzählt nicht nur von einer Eisenbahn, auch ihr Erzählprinzip ist bestimmt von der Raumfiguration Bahn. In der Terminologie des zuvor entwickelten Raumebenenmodells lässt sich festhalten, dass der metaphorische Raum in Hauptmanns Erzählung besonders ausgeprägt und mit dem Raum der erzählten Welt eng verwoben ist. Fast ein halbes Jahrhundert später ist der singuläre Schock durch die Eisenbahn einer allgemeinen Reizüberflutung gewichen. Moderne Verkehrsmittel wie Straßenbahnen, Busse und Autos gehören in der Zeit der Weimarer Republik bereits zum großstädtischen Alltag. Zwar sind Beschleunigung, Nervosität, Mobilität oder Technisierung schon vor 1918 Grunderfahrungen der Moderne. In der Epoche der Weimarer Republik, jener unsicheren ›Durchgangsepoche‹ zwischen zwei Weltkriegen, weitet sich das Provisorische – und damit auch das Transitorische – jedoch zu einem allgemeinen Lebensgefühl. Vor diesem Hintergrund wird das Hotel zum beliebten Transit-Ort der Zeit. Dies gilt nicht nur in kultureller Hinsicht – eine ›Hotelmode‹ erfasst die Großstädte, hier trifft sich die Avantgarde, auch ohne dort zu übernachten –, sondern auch in literarischer Hinsicht: Zahlreiche Autoren entdecken das Hotel als Schreib- und Lebensort. Sie machen den mondänen Treffpunkt zum zentralen Schauplatz ihrer Werke, da er erstens als universelle Metapher des Transitorischen funktionieren kann (das Hotel als Großstadt en miniature), zweitens als heterogenes Symbol die komplexen Strömungen der Weimarer Republik widerspiegelt (das Hotel als Schloss des Großbürgertums), und er drittens als paradoxes Symbol in der Lage ist, gewohnte Ordnungen gleich mehrfach auf den Kopf zu stellen – etwa über den Hotellift, der die vertikale Ordnung des Gebäudes irritiert. Dementsprechend findet auch ein Wandel in der Darstellung des Transitorischen statt. Paradoxie und Entgrenzung sind die Schlagworte, mit denen sich die Transit-Orte in den untersuchten Texten der Weimarer Republik am besten charakterisieren lassen. Das paradoxe Changieren zwischen Platzierung und Deplatzierung macht Transit-Orte in der Weimarer Republik, dem Zeitalter der Widersprüche und Konflikte, besonders attraktiv; ihre entgrenzende Wirkung hilft dabei, Ordnungen in Frage zu stellen und Strukturen neu verhandelbar zu machen. Der Roman Hotel Savoy von Joseph Roth macht sich das Prinzip des Paradoxen in besonderer Weise zu eigen. Dies gilt sowohl für die Gebäudekonstruktion des namensgebenden Hotels als auch für die Konstruktion der Figuren, die im ›Savoy‹ leben und sterben. Räumliche Konzepte des Oben und Unten, des

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Ostens und Westens werden ähnlich verunsichert wie die Biografien der Bewohner. Das Hotel ist gefüllt mit Kriegsheimkehrern, die nicht heimkehren, Lotteriegewinnern ohne Los, westlichen Ostjuden und uralten Liftjungen. So widersprüchlich diese Figuren sind, so passend ist der Schauplatz, den Joseph Roth gewählt hat, um sie zu versammeln – das transitorische Hotel. Insofern, als dabei Spannungsverhältnisse hervorgebracht werden, ohne sie aufzulösen, ist das Paradoxe eng verbunden mit dem zweiten Strukturprinzip des Romans, dem Dazwischen oder Entgrenzten. Ob im Hinblick auf die geografische Position, auf die Reisebewegungen der Flüchtlinge, auf die Jahreszeit oder schlicht auf das dauerhaft graue Wetter – hier befindet sich alles in einem permanenten Zwischenzustand, der eine eindeutige Positionsbestimmung – ob geografisch, politisch oder sozial – unmöglich macht. Damit zeigt Hotel Savoy eindrücklich, welche weitreichenden Folgen die Verunsicherung des Raums im Kontext der Weimarer Republik hat. In der Ausweitung der Transitproblematik auf die gesamte Existenz der Figuren, die jedoch aus einer zeitlichen und räumlichen Distanz erzählt wird, erscheint der Roman selbst als ›Hotel en littérature‹: Auch wenn der Text selbst in hohem Maße von Verunsicherungen, Spannungen und Widersprüchen gekennzeichnet ist, stellt er einen Versuch dar, die Verunsicherungen der Zeit in einen Rahmen zu setzen und zur Sprache zu bringen. Ähnlich wie Hauptmanns Bahnwärter Thiel ist Roths Hotelroman damit ein Text, der nicht nur von einem Transit-Ort erzählt, sondern auch konzeptuell von einer transitorischen Raumfiguration durchdrungen ist. Die außerordentliche Tragweite des Transitorischen zeigt sich auch bei einem Blick auf die Publikationsgeschichte des Romans. Hotel Savoy wurde 1924 zuerst als Fortsetzungsroman in der Frankfurter Zeitung veröffentlicht. Die materielle Grundlage des ursprünglichen Textes ist durch diese Publikationsform zergliedert und ihre Verfügbarkeit ist verunsichert. Insofern trägt bereits der Trägerraum, also der Raum des Schriftträgers, Spuren des Transitorischen. Bei der Untersuchung der Zeitungsausgaben hat sich – aufbauend auf der Forschungsarbeit von Volker Mergenthaler – gezeigt, dass auch der Textraum durch die Einbettung in die Zeitungsseiten transitorisch geschaltet wird. Der Romantext tritt in ein Wechselverhältnis mit den umgebenden Zeitungstexten ein und wird durchlässig für aktuelle Ereignisse aus dem Jahr 1924. Insgesamt ergibt sich daraus der außergewöhnliche Befund, dass Hotel Savoy ein Text ist, in dem auf allen der zuvor diskutierten literarischen Raumebenen – also auf der Ebene des Trägerraums, des Textraums, des Raums der erzählten Welt und des metaphorischen Raums – das Transitorische als Strukturprinzip vorherrscht.

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Demgegenüber eher unscheinbar präsentiert sich Franz Werfels kurze Novelle Die Hoteltreppe. Für die Untersuchung des Transit-Orts Hotel in der Weimarer Republik ist der Text dennoch interessant, da er das Phänomen Transit ex negativo thematisiert: Die Hauptfigur Francine versucht, sich dem allgegenwärtig gewordenen Phänomen Transit zu entziehen; sie ist eine Transitverweigerin. Dies geschieht bemerkenswerterweise über die Wahl ihrer Fortbewegung. Bei ihrem Aufenthalt im Grand Hotel wählt sie bewusst den Treppenweg und schlägt den bequemeren Hotellift aus. Die bei Roth dargestellte Hotelwelt der Paradoxie und Entgrenzung ist hier die Welt der Anderen; die Hauptfigur Francine versucht, sich von dieser Welt über Ordnung und Grenzziehung abzusondern. Das Treppensteigen erscheint ihr als geeigneter Akt, die allgemeine Orientierungslosigkeit durch eine selbstbestimmte und zielgerichtete Bewegung zu ersetzen. An der Oberfläche scheint dies zunächst zu funktionieren: Werfels Erzählung ist die exakt komponierte Darstellung eines kontinuierlichen Gangs durch die fünf Stockwerke eines Grand Hotels. Letztlich scheitert jedoch Francines Treppenweg, und das Scheitern wird wesentlich über raumreferenzielle Ausdrücke vermittelt. Die Erfahrung der Substanzlosigkeit ihres Zeitalters führt zu einer tödlichen Gegenbewegung zurück auf den Boden des Erdgeschosses. Ganz ähnlich wie in Bahnwärter Thiel gelingt es der Hauptfigur nicht, ihre individuellen Raumvorstellungen und -konstruktionen in Einklang mit den längst institutionalisierten Transit-Orten und -Räumen der modernen Gesellschaft zu bringen. Einen deutlichen Einbruch in der literarischen Darstellung von Transit-Orten markiert das Jahr 1933. Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten wird die Dynamik und Mobilität der Transit-Orte im Sinne der NS-Ideologie genutzt und instrumentalisiert. Da ein geschlossenes Denk- und Wertesystem immer auch geschlossene Räume voraussetzt, wird die Offenheit der Transit-Orte radikal umgedeutet. Als letzter Transit-Ort, der sich dem Ordnungssystem der Einheit entzieht, wird der Hafen zum Hoffnungsort und die Schiffspassage über den Ozean zum letzten Ausweg vieler Exilanten; unter ihnen sind zahlreiche Autoren. Zu den wichtigsten Exilhäfen der 1930er und 1940er Jahre zählen die Häfen von Marseille und Lissabon. Das zentrale Thema der literarischen Hafendarstellungen aus dieser Zeit ist die Flüchtigkeit in all ihren Konnotationen. Damit ist sowohl das Flüchtige im Sinne von kurzfristigen Begegnungen und Aufenthalten gemeint, als auch die Auseinandersetzung mit der tatsächlichen Flucht quer durch Europa, als auch die Konfrontation mit dem Flüchtigen der menschlichen Existenz, mit dem Tod – eine Konfrontation, die spätestens mit Beginn des Zweiten Weltkriegs vordringlich wird.

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Im Unterschied zu den relativ ›jungen‹ Orten Hotel und Eisenbahn können die Autoren bei der literarischen Gestaltung des Schauplatzes Hafen auf einen jahrtausendealten Themenkomplex der europäischen Kultur zurückgreifen, der immer schon verknüpft ist mit Themen wie Leben und Tod, Zivilisation und Zerfall. Die Überfahrt ist seit der Antike ein Topos, der sich mit existenziellen Fragen auseinandersetzt, etwa im Hadesmythos oder in der Odyssee. Ein wichtiges Motiv ist dabei das Meer als Leerstelle, als ortloser Zwischenraum, den es zu überwinden gilt. Die semantische Entleerung der Orte durch den Transit ist ein Phänomen, das vor allem die Flughafendarstellungen der Spätmoderne prägt, jedoch bereits bei der Gestaltung der literarischen Exilhäfen der 1930er und 40er Jahre eine Rolle spielt. Die untersuchten Hafentexte beschäftigen sich dabei einerseits mit dem Prozess der Zerstreuung als Folge der Flucht aus Europa, andererseits mit der fehlenden Perspektive im Blick nach vorn: Hier ist Europa, dort ist nur Leere. Diese Rückwärtsgewandtheit des Exils ist eine Besonderheit, die sich von den bisherigen Transitbewegungen abhebt. Im Unterschied zum Reisenden zeichnet sich der Exilant weniger dadurch aus, an einen neuen Ort gelangt zu sein, als von einem ursprünglichen Ort geflohen zu sein; nicht der aktuelle oder der vor ihm liegende, sondern sein Ursprungsort ist der wichtigste Bezugspunkt für seine Raumkonstruktionen. Das hat vielfältige Auswirkungen auf die räumlichen Darstellungsmodi der Erzählungen, die im Kontext des Zweiten Weltkriegs entstehen. Das Monumentalwerk der literarischen Transiterzählungen jener Zeit ist Anna Seghers’ Roman Transit. Es entsteht zwischen 1941 und 42, während sich Anna Seghers selbst im Transit befindet, auf dem Weg von Marseille nach Mexiko. Unter dem Eindruck ihrer eigenen Flucht und der europäischen Zivilisation am Rande des Abgrunds entsteht ein komplexer Erzähltext voller widerspenstiger Raumkonstruktionen. Wie Roths Hotel Savoy wird Transit zuerst als Fortsetzungsroman in einer Tageszeitung veröffentlicht, und erneut lassen sich Verschränkungen zwischen dem Romantext und den Zeitungstexten finden. Die umgebenden Texte der Berliner Zeitung zeugen von ähnlichen Prozessen der Zerstreuung und Zerstörung wie der Romantext. Textraum und Trägerraum tragen damit auch hier Merkmale des Transitorischen. Seine größte Komplexität entfaltet das Transitorische in Transit jedoch auf der Ebene der erzählten Welt. Der zentrale Bezugspunkt dieser Welt ist der Alte Hafen von Marseille. Der Schauplatz Hafen wird durch Montage und Verfremdung noch stärker zum zentralen Transit-Ort stilisiert, als es die Alltagswelt von

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Marseille hergibt. Hafen und Meer, Wind und Wasser werden miteinander verwoben und bilden die räumliche Repräsentation des Flüchtigen. Zudem wird über ein ungeheuer dichtes Netzwerk an öffentlichen, belebten Orten um den Hafen herum sowie ein ungeheuer weiträumiges Netzwerk aus entleerten, wilden Orten in Richtung Meer eine Raumfiguration der Diffusion, der Zerstreuung geschaffen. Die Fahrt über das Meer wird dabei mehrfach mit dem Tod und das weltliche Drüben mit dem Jenseits in Verbindung gebracht. Der Transit führt hier nicht mehr vornehmlich ins Neue, wie im Eisenbahnzeitalter imaginiert, er führt auch nicht mehr vornehmlich ins Ungewisse, wie in den Hotelzimmern proklamiert. Der Transit führt in die Leere, in die Auflösung, vielleicht sogar in den Tod. Dies ist die Prognose, die der Ich-Erzähler vom Rand der Welt aus abgibt. Dieser Abwertung des Transitorischen und Flüchtigen steht eine Aufwertung des Bleibenden gegenüber. Die Gegenüberstellung von Flüchtigem und Beständigem ist ein zentrales Thema des Romans, das erzählerisch auch in der Gegenüberstellung von Naturelementen umgesetzt wird: Wasser und Luft stehen als Elemente der Seefahrt für das Flüchtige, Feuer und Erde als Elemente der Landwirtschaft für das Beständige, Zivilisierte, Menschliche. Transit erscheint so als ein Erzähltext über die Suche nach dem Bleibenden in einer Welt, in der das Transitorische längst allgegenwärtig geworden ist. Das eigentliche Ereignis, das Sujet des Romans ist nicht der Wunsch abzufahren, sondern der Wunsch zu bleiben. Einen Ausweg aus dem allgegenwärtigen Transit verspricht nicht die Flucht nach vorn, sondern zurück nach Europa. Hierin zeigt sich die erwähnte Rückwärtsgewandtheit des Exils. Dennoch wäre eine Deutung des Romans als ›Anti-Transit-Erzählung‹ verkürzt. Der Transit-Ort Hafen ist hier bei aller Unsicherheit doch ein Ort der Hoffnung auf eine bessere Existenz im mystischen oder weltlichen Drüben, und Marseille ist eine Stadt, die schon immer vom Konflikt zwischen Abfahren und Bleiben lebte und belebt wurde. Transit bleibt ein überaus ambivalenter Text. Auch wenn Erich Maria Remarques Roman Die Nacht von Lissabon fast 20 Jahre später entsteht als Transit, weist er inhaltlich wie formal deutliche Parallelen zu Seghers’ Marseille-Roman auf. Wie bei Seghers ist der Hafen der zentrale Schauplatz. Wie bei Seghers irren die Figuren durch eine große europäische Exilhafenstadt der 1930er und 1940er Jahre, diesmal ist es Lissabon. Und wie bei Seghers ist Remarques Hafen eine literarische Montage, ganz darauf ausgerichtet, den Figuren immer im Blick zu sein, während sich die Rahmenhandlung vollzieht. In Remarques Roman zeigt sich das Flüchtige erneut als wesentliches Kriterium des Transitorischen, hier weniger metaphorisch verstanden als ganz konkret

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in Bezug auf die tatsächliche Flucht durch Europa. Viel stärker als Seghers’ Roman basiert der Text auf einer weitläufigen, transitorischen Emigrationsbewegung: In Transit vermeldet der Ich-Erzähler bereits nach wenigen Kapiteln seine Ankunft am Marseiller Hafen, in der Binnenerzählung von Die Nacht von Lissabon hingegen ist die Hauptfigur Josef Schwarz bis ganz zuletzt unterwegs, quer durch Europa, von Ort zu Ort. Die Nacht von Lissabon ist weniger ein Roman der Zerstreuung als des Rückblicks. Anders als bei Seghers führt die Überfahrt mit dem Schiff nicht ins entleerte Nirgendwo und ins Ungewisse, sondern direkt nach Amerika. Wer ein Ticket besitzt und das Schiff erreicht, ist sofort gerettet. Umso stärker richtet sich die Hoffnung der Romanfiguren auf den Erwerb jener Schiffstickets. In den Nachtlokalen von Lissabon erklärt sich Josef Schwarz bereit, seine Tickets an den Ich-Erzähler abzutreten – allerdings unter einer Bedingung: Der Ich-Erzähler muss sich die Lebensgeschichte des Exilanten erst vollständig anhören. Dies ist der besondere Kunstgriff dieser Erzählung: Der Transit ins Exil braucht die Erinnerung an das Zurückliegende, den Rückblick, nicht nur auf einer ideellen, sondern auch auf einer existenziellen Ebene. Das Hafenviertel von Lissabon wird so zum paradigmatischen Ort des Rückblicks auf Europa, am Rande des alten Kontinents. Die Dynamik des Zurück prägt auf vielfältige Weise die Raumkonfigurationen des Textes. In der Binnenerzählung ist nicht nur das Zurückblicken, sondern auch das tatsächlich geografisch vollzogene Zurückgehen konstitutiv für die Entwicklung des Geschehens. Der Rückwärts-Grenzgänger Schwarz ist das Ereignis, die bewegliche Figur dieses Romans. In der Rahmenhandlung wiederholt sich das Prinzip: Von Lissabon wird Schwarz abermals nach Deutschland zurückkehren. Und überhaupt ist die gesamte Erzählung ein Rückblick auf ebenjene Nacht von Lissabon, von einem Standpunkt aus, der zeitlich und räumlich weit entfernt liegt. Das transitorische Leben on the run, das ständige InBewegung-Sein, allerdings nicht als eindeutige Vorwärtsbewegung wie etwa in den frühen Eisenbahngeschichten, sondern als Ausdruck der Zerrissenheit zwischen der notwendigen Flucht nach vorne und dem ersehnten Blick zurück, dieses Leben prägt die Raumfigurationen von Remarques Roman. Die im letzten Teil der Arbeit untersuchten Erzähltexte setzen sich mit dem Transit-Ort der globalisierten Spätmoderne auseinander: mit dem Flughafen. Der literarische Flughafen ist wie sein alltagsweltliches Pendant ein ungewöhnlicher und äußerst beziehungsreicher, aber auch ein problematischer Transit-Ort. Um ebenjene Problematik näher zu beleuchten, war es notwendig, die kulturelle Entwicklung der Flughäfen und der Flugzeuge vom frühen 20. Jahrhundert bis heute zu skizzieren.

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Diese Entwicklung beginnt mit der Erfindung des Flugzeugs. Das Flugzeug ist wie die Eisenbahn nicht einfach nur ein Verkehrsmittel, es markiert vielmehr den Beginn einer weiteren Revolution der Raumwahrnehmung. Nachdem die Eisenbahn die horizontale Ordnung der Welt radikal in Frage gestellt hat, erobert das Flugzeug die Vertikale und bringt die Welt abermals aus den Fugen. Der moderne Wahrnehmungsmodus ist nicht länger der panoramatische Blick, sondern die Planperspektive: Von oben betrachtet erscheint die Welt seltsam verflacht, Höhenunterschiede sind nicht mehr ersichtlich. Es dominiert das Nebeneinander. Dem ernüchternden Mangel an Tiefenschärfe steht die Begeisterung über die Erfüllung des uralten Menschheitstraums vom Fliegen gegenüber. Die Eroberung des Luftraums verspricht maximale Bewegungsfreiheit in alle Raumachsen. In den Pionierjahren der Luftfahrt existieren damit zwei konkurrierende Raumvorstellungen zum Reisen mit dem Flugzeug: die des leeren Raums und die des freien Raums. Verschiedene technische, politische und ökonomische Faktoren sorgen nun jedoch dafür, dass sich die Vorstellungen von der freien, individuellen Bewegung in der Luft nicht durchsetzen können. Stattdessen wird die Luftfahrt zu einem überaus stark reglementierten Gewerbe, und der Eindruck von Monotonie, Ödnis und Aseptik dominiert das Flugreisen. Weitere Entwicklungen wie der Instrumentenflug, der Nachtflug und die Entwicklung der Jets befördern die Vorstellung des leeren Raums zusätzlich. Da die Passagierzahlen dabei rapide ansteigen, werden die Flughäfen zu großflächigen Transitwüsten außerhalb der Städte ausgebaut. Kern dieser vielschichtigen Entwicklungen ist die semantische Entleerung des Flugreisens im Allgemeinen und des Transit-Orts Flughafen im Speziellen. Kaum ein Ort der Spätmoderne ist von Film, Literatur oder Werbung derart einvernehmlich als Ort bebildert worden, dem es an etwas mangelt, sei es an Identität (alle Flughäfen sehen gleich aus), an Relation (Flughäfen sind nur untereinander vernetzt und kaum eingebettet in ihre kulturelle Umgebung) oder an Geschichte (Flughäfen sind immer hypermodern). Mit diesen Beobachtungen nähert man sich wiederum Marc Augé und seiner Definition des ›Nicht-Orts‹. Sich mit dem Flughafen zu beschäftigen, heißt in der Regel, sich mit dem Vorwurf der Leere, der ›Nichtigkeit‹ jenes Orts auseinanderzusetzen. Dies muss jedoch nicht zwangsläufig – wie bei Augé geschehen – in eine Kulturkritik münden. Der Blick auf die kulturelle Entwicklung der Flughäfen zeigt, dass es sich hierbei um gewachsene, spezifisch konstruierte und über Jahrzehnte ausgehandelte Transit-Orte handelt, hochangepasst an bestimmte Bedürf-

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nisse. Insbesondere die Literatur ist in der Lage, die Konstruktionen spannungsreich offenzulegen und zu hinterfragen. Bei beiden untersuchten Texten der Spätmoderne – Flughafenfische von Angelika Overath und Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen von Xaver Bayer – zeigt sich der problematische Umgang mit dem entleerten Transit-Ort Flughafen. Eine Erzählung über den spätmodernen Flughafen ist häufig ein Trotzdem, ein An-Schreiben gegen eine wenig einladende Kulisse. Angelika Overath findet in ihrem Roman von 2009 eine ganz eigene Lösung für dieses Problem. Inmitten eines fiktiven Allerweltflughafens platziert sie zwei ungewöhnliche Orte: ein gigantisches Aquarium und ein gläsernes Raucherfoyer. Beide Glaskörper werden im Kontrast zu ihrer Umgebung entworfen und können als Heterotopien im Sinne Foucaults beschrieben werden. Das ebenso entgrenzte wie entleerte Flughafengelände wird durch die Glaskörper begrenzt und semantisch angereichert. So werden beide Orte zum Ausgangspunkt intensiver Reflexionen über das Leben im Transit. Insbesondere das Aquarium eignet sich als Sammelpunkt einer Transitmetaphorik: Die Bewegungen der Reisenden durch den globalisierten Luftraum werden mit den Bewegungen von Fischschwärmen durch den globalen Meeresraum in Beziehung gesetzt. So präsentiert sich dem Leser im Verlauf der Erzählung die ganze Menschheit als Transit-Schwarm, der seit Jahrtausenden um die Welt zieht und vernetzte Orte bereist. Sich an einem Transit-Ort aufzuhalten, und dabei einen Transit-Raum zu konstituieren, der sich über eine Vielzahl solcher Orte netzwerkartig erstreckt – diese Existenzform erscheint hier einerseits als uralt, wird andererseits erst durch die Eroberung des Luftraums in der Moderne zum universellen Prinzip erhoben. Mit der Verschränkung von Wasser- und Luftmotiven wiederholt sich eine Erzählstrategie aus Anna Seghers’ Transit. Dort hat sich bereits gezeigt, dass sich jene beiden Naturelemente besonders dazu eignen, das Transitorische zu repräsentieren und einen Erzähltext mit den vielfältigen Konnotationen des Flüchtigen und Flüssigen, des Luftigen und Fluiden anzureichern. Wie bei Seghers ist diese Anreicherung außerordentlich komplex. Sie geschieht nicht nur auf der unmittelbaren Erzählebene, wenn die Orte außerhalb des Flughafens als Wasseroder Luftorte entworfen werden, sondern auch in der anspielungsreichen Verwendung intertextueller Verweise, insbesondere auf T. S. Eliots Versepos The Waste Land. So hält der Roman ein ganzes kunst- und literaturhistorisches Geflecht an Verweisen zum Thema Transit bereit. Wenn Angelika Overath in einem Werkbericht angibt, ihr Roman sei vom Raum aus geschrieben, so gilt derselbe Befund für Xaver Bayers Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen (2011). Noch stärker als Flughafenfische ist Bayers

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Erzähltext geprägt von der Suche nach bedeutsamen Orten am vermeintlichen ›Nicht-Ort‹ Flughafen. Die Spannungen zwischen dem entleerten Transit-Ort Flughafen und den dennoch immer wieder aufblitzenden ›Bedeutungsaufladungen‹ werden dabei zum zentralen Motiv. Der Roman beginnt und endet am Flughafen von Brüssel. Dabei befindet sich der Ich-Erzähler in einer typischen Transitsituation der Spätmoderne – er wartet auf seinen Anschlussflug. Die Transithalle, in der er ziellos herumstreift, enthält alltägliche Orte wie Duty-free-Shops, Bars, Restaurants und Abfluggates; dennoch irritieren sie den Ich-Erzähler. Durch die Augen jenes Erzählers, der sich als äußerst sensibler und kreativer ›Raumgestalter‹ erweist, werden die Merkwürdigkeiten und Absurditäten des Transit-Orts Flughafen in zunehmender Deutlichkeit offenbar. Während es bei Overath eines überdimensionierten Aquariums bedarf, um den Bruch zwischen ›Nicht-Ort‹ und erzählbarem Ort zu vollziehen, sind es hier die ganz banalen Orte, die sich bei näherer Betrachtung als überaus bedeutsam erweisen. Die markantesten dieser Orte sind die Flughafenkapellen, die sogenannten Places of Worship. Solche Andachtsorte, geordnet nach Konfessionen, gibt es tatsächlich an vielen modernen Flughäfen; im Roman werden sie zu den wichtigsten Orten der Reflexion über das moderne Transitdasein. Nirgendwo sonst findet sich die Spannung zwischen Entleerung und Bedeutung so stark verdichtet wie in den höchst profanen Gebetsräumen, und genau hier steigert sich die Assoziationskette des Ich-Erzählers in den Wahn. Nun zeigt sich das Kernproblem dieses spätmodernen Reisenden: Erstaunlicherweise ist es nicht die Leere, es ist das Zuviel an Bedeutungen, das Zuviel an Orten und Räumen, die am Flughafen zusammenkommen. Immer wieder trifft er auf Orte und Räume, die ineinander verschachtelt und miteinander verwoben sind, die einander bedingen und doch ausschließen. Hinter der Fassade des ›Nichtigen‹ befindet sich eine überaus komplexe Konstruktion, und der IchErzähler nimmt sie präzise wahr. Sein Problem, so zeigt sich, ist ein Kernproblem des globalisierten Reisens im 21. Jahrhundert und zugleich ein Kernproblem des Informationszeitalters: Alles ist verfügbar, alle Orte sind da, aber was ist wichtig, was ist die ›richtige‹ Anordnung? Xaver Bayer gelingt es, dieses Problem nicht nur innerhalb des erzählten Gedankenstroms des Protagonisten zu verhandeln. Seine Raumkritik, die vermutlich von Hugo von Hofmannsthals Sprachkritik inspiriert wurde, prägt vielmehr auch die Ebene des Textraums von Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen. Stärker als in allen anderen untersuchten Erzähltexten kommt dieser Ebene hier Bedeutung zu. Bemerkenswert ist nicht nur der 114 Seiten lange Band-

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wurmsatz, in dem Bayers Roman erzählt wird, sondern auch dessen Kompositionsprinzip: Unablässig werden Satzteile mit ›Komma und‹ verbunden. In einem Vergleich mit ähnlichen ›Ein-Satz-Erzählungen‹ der jüngeren Literaturgeschichte hat sich herausgestellt, dass dieses Prinzip weder das einzig mögliche noch willkürlich gewählt ist. Während sich der stream of consciousness in anderen Texten als Gewebe präsentiert, ist er hier eher eine Aneinanderreihung von Gedanken, ein Nebeneinander von Eindrücken. Die Raumprobleme, denen sich der Erzähler auf der Ebene der erzählten Welt ausgesetzt sieht, haben also auch Auswirkung auf die äußere Form des Textes: Alles ist verfügbar, aber was ist wichtig – ein Gedanke führt zum anderen, aber wohin führt das alles? Am Ende der Assoziationskette steht ein ungewöhnliches Raumbild, das dem Leser als Idealvorstellung präsentiert wird: Der Ich-Erzähler erinnert sich an einen Tag im Park, an dem er Kinder beobachtet hat, die Steine ins Wasser werfen. Die Rückbesinnung auf jenen Augenblick ist die Suche nach einem ursprünglichen Zustand, an dem die Raumordnung noch durchschaubar war, bevor sie sich ins Uferlose verlor. Um den Ursprungszustand zu ergründen, muss der IchErzähler den Transit-Ort verlassen, der im Zentrum all seiner spätmodernen Raumverwirrungen steht: Er flieht aus dem Flughafen. Dass die Flucht des Protagonisten in diesem letzten untersuchten TransitText misslingt, weil vor der Tür des Flughafens bereits die nächsten Verkehrsmittel auf ihn warten, ist ein Hinweis darauf, dass auch in der Geschichte der literarischen Transit-Orte das letzte Kapitel noch nicht geschrieben ist. Mit der Untersuchung der Schauplätze Eisenbahn, Hotel, Hafen und Flughafen sind die Umrisse einer Entwicklung in der Literatur der Moderne skizziert, die weder abgeschlossen ist, noch in ihrem bisherigen Verlauf in toto betrachtet werden konnte. Die Analyse von Transit-Orten kann also fortgesetzt werden – etwa im Hinblick auf das Automobil, das beziehungsreiche Symbol der Individualgesellschaft, oder das Motorrad, verortet irgendwo zwischen Freiheitsideal und Highway-Monotonie. Die Autobahnraststätte mit ihrer merkwürdigen Doppelnatur von Rast und Unrast ist ein weiterer vielversprechender Anschluss-Ort. Mehr als einen Abstecher verdienen nicht zuletzt die virtuellen Orte im Internet: Wie lassen sie sich literarisch darstellen? Handelt es sich dabei ebenfalls um Transit-Orte, oder sind Ort und Transit-Ort im ohnehin flüchtigen Medium Netz ununterscheidbar? Auch das literarische Inventar der Moderne bietet genügend Anlass, die Untersuchung des Transitorischen fortzuführen. Christian Krachts Deutschlandreisebericht Faserland, W.G. Sebalds Austerlitz und dessen ›Bahnhofsmanie‹, Gre-

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gor Hens’ Erzählungen aus der Transfer Lounge, Christoph Peters’ Erzählsammlung mit dem sinnfälligen Titel Kommen und gehen, manchmal bleiben oder Emine Sevgi Özdamars Die Brücke vom Goldenen Horn sind Beispiele aus der Gegenwartsliteratur, die sich ebenfalls dezidiert mit Transit-Orten und dem Transitorischen auseinandersetzen. Zahlreiche ›Klassiker‹ der Moderne sind ebenfalls reich an Verweisen auf Transit-Orte: Arthur Schnitzlers Fräulein Else, Franz Kafkas Der Verschollene, Thomas Manns Zauberberg und Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Vicky Baums Menschen im Hotel, Stefan Zweigs Schachnovelle und Max Frischs Homo Faber sind nur einige der prominentesten deutschsprachigen Werke, die einen spezifisch ›transitorischen‹ Blick lohnen. Dramatische und lyrische Texte bieten weitere Forschungsfelder. Eine Prognose lässt sich jedoch bereits treffen: Auch in den anderen und zukünftigen Erzähltexten, in denen Transit-Orte eine zentrale Rolle spielen, werden die hier herausgearbeiteten Merkmale und Prozesse des Transitorischen in all ihren Spielarten zu beobachten sein. Die Ausprägungen werden sich weiter wandeln, doch Dynamik, Gradlinigkeit, Paradoxie, Entgrenzung, Flüchtigkeit und Entleerung sind die zentralen Elemente, die den Ort zum Transit-Ort machen. Restspuren aller dieser Merkmale und Prozesse lassen sich an allen untersuchten literarischen Transit-Orten wiederfinden. So sind Gradlinigkeit und Dynamik keinesfalls Exklusivkriterien der linear rasenden Eisenbahnen; selbst in den vermeintlich ›unbeweglichen‹ Hotelgebäuden finden sich hochdynamische oder gradlinige Orte: Hier die Hotelhalle mit ihrem Wechselspiel aus Konflikt und Flirt, Ankunft und Abschied, dort der Lift, der die Ordnung des Hauses ebenso pfeilgerade durchschneidet wie die Eisenbahn die Alltagswelt des 19. Jahrhunderts. In ähnlicher Weise wird die Leere nicht erst in den spätmodernen Flugmaschinen zu einer Grunderfahrung des Reisens, sondern bereits im Blick vom Zugabteil auf die dahinrasende Landschaft. Und nicht nur in der Weimarer Republik, sondern vor allem im Zweiten Weltkrieg sind Transitbewegungen Bewegungen gegen nationale Begrenzungen, also immer schon entgrenzend. Dass die Autoren dennoch ihren ganz eigenen Zugang zu den Transit-Orten finden und die Raumkonfiguration des Transitorischen immer wieder neu gestalten können, ist nicht zuletzt der räumlich einzigartigen und in vieler Hinsicht komplexen Kunstform der Literatur zu verdanken.

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Lettre Thomas Assheuer Tragik der Freiheit Von Remscheid nach Ithaka. Radikalisierte Sprachkritik bei Botho Strauß 2014, 274 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2759-6

Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck (Hg.) Bild ist Text ist Bild Narration und Ästhetik in der Graphic Novel 2014, 286 Seiten, kart., zahlr. Abb. , 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2636-0

Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin 2014, 430 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Gregor Schuhen (Hg.) Der verfasste Mann Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900 2014, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2793-0

Heinz Sieburg (Hg.) ›Geschlecht‹ in Literatur und Geschichte Bilder – Identitäten – Konstruktionen 2014, 262 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2502-8

Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Juni 2015, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Siegfried Mattl, Christian Schulte (Hg.)

Vorstellungskraft Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2014

Dezember 2014, 136 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2869-2 E-Book: 12,99 € ISBN 978-3-8394-2869-6 Vorstellungs- oder Einbildungskraft bezeichnet die Fähigkeit zur Erzeugung innerer Bilder, die entweder Wahrnehmungen erinnernd reproduzieren oder produktiv Gegebenheiten überschreiten. Vorstellungen konstruieren imaginativ zukünftige Szenarien oder erzeugen – wie in der Kunst – ästhetische Alterität. Die interdisziplinären Beiträge dieser Ausgabe der ZfK untersuchen Figurationen und Agenturen des Imaginären: von den Todes- und Jenseitsimaginationen der christlichen Kunst, den Denk- und Sehräumen in Kunst und Medizin über Rauminszenierungen der Moderne, dem frühen Amateurfilmdiskurs bis hin zur Techno Security und Big Data. Der Debattenteil befasst sich unter dem Titel »Transparenz und Geheimnis« mit medien- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Dispositiven der Überwachung.

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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5. Jahrgang, 2014, Heft 2

Dezember 2014, 208 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2871-5 E-Book: 12,80 €, ISBN 978-3-8394-2871-9 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die ZiG erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 10 Ausgaben vor. Die ZiG kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 22,00 € (international 28,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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