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German Pages 352 Year 2000
Peter Thiery Transformation in Chile
Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde • Hamburg Band 52
Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 12 - Sozialwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit dem Titel „Staat, institutioneller Wandel und Entwicklung in Chile 1973-1996" im Jahre 1998 zur Erlangung des akademischen Grades eines Dr. phil. angenommen.
Peter Thiery
Transformation in Chile Institutioneller Wandel, Entwicklung und Demokratie 1973-1996
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 2000
Institut für Iberoamerika-Kunde - Hamburg
Verbund Stiftung Deutsches Übersee-Institut Das Institut für Iberoamerika-Kunde bildet zusammen mit dem Institut für Allgemeine Überseeforschung, dem Institut für Asienkunde, dem Institut für Afrika-Kunde und dem Deutschen Orient-Institut den Verbund der Stiftung Deutsches Übersee-Institut in Hamburg. Aufgabe des Instituts für Iberoamerika-Kunde ist die gegenwartsbezogene Beobachtung und wissenschaftliche Untersuchung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Lateinamerika. Das Institut für Iberoamerika-Kunde ist bemüht, in seinen Publikationen verschiedene Meinungen zu Wort kommen zu lassen, die jedoch grundsätzlich die Auffassung des jeweiligen Autors und nicht unbedingt die des Instituts darstellen.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Thiery, Peter: Transformation in Chile : institutioneller Wandel, Entwicklung und Demokratie 1973 - 1996 / Peter Thiery. [Institut für IberoamerikaKunde, Hamburg ; Verbund Stiftung Deutsches Übersee-Institut], - Frankfurt am Main : Vervuert, 2 0 0 0 (Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde, Hamburg ; Bd. 52) Zugl.: Mainz, Univ., Diss., 1998 u.d.T.: Thieiy, Peter: Staat, institutioneller Wandel und Entwicklung in Chile 1973 - 1 9 9 6 ISBN 3-89354-252-3 © Vervuert Verlag, Frankfurt a m Main 2000 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Konstantin Buchholz Gedruckt auf säure- und chlorfrei gebleichtem, alterungsbeständigem Papier Printed in Germany: Rosch-Buch, Scheßlitz
Meinen Eltern
Vorwort Diese Studie wäre so nicht möglich gewesen ohne die wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Netzwerke, auf die ich mich stützen konnte. Dies gilt um so mehr für ein Vorhaben, das sich mit und in einem Land der sogenannten Dritten Welt beschäftigte. Deshalb möchte ich an dieser Stelle all jenen danken, die den Fortgang meiner Arbeit begleitet haben. Sie haben wesentlich - intellektuell oder pragmatisch, durch ihre Kritik oder durch ihren Zuspruch - zum Gelingen beigetragen. Dies gilt zunächst meinen Gesprächspartnern in Santiago de Chile - Norbert Lechner, Oscar Godoy, Oscar Muñoz, Osvaldo Sunkel, Raúl Atria, Fernando Fajnzylber und den vielen anderen - , die mir den Einstieg in die Materie und deren Vertiefung erleichterten. Besonders danken möchte ich Wilhelm Hofmeister und Manfred Wilhelmy, die mich überdies in großzügiger Weise organisatorisch unterstützten. Dank gebührt selbstverständlich dem Doktorvater Manfred Mols, der sich auch durch den 'modischen' analytischen Zugang nicht von einer wohlwollenden Begleitung meiner Forschungsarbeit abhalten ließ. Ihm fällt nicht zuletzt auch das Verdienst zu, mich in der ihm eigenen Weise für die Besonderheiten der Länder Lateinamerikas sensibilisiert zu haben. Ebenso möchte ich Eberhard Sandschneider danken, der sich als Zweitkorrektor der Dissertation annahm. Ein besonderes Dankeschön gilt der Universität Mainz, die mich im Rahmen ihres Förderprogramms für wissenschaftlichen Nachwuchs für sechs Monate von meinen Dienstverpflichtungen freistellte und auch finanziell den Forschungsaufenthalt in Santiago de Chile unterstützte. Last but not least möchte ich mich bei den 'Mainzerlnnen' bedanken - Iris Bauer, Margit Leuthold, Hans-Joachim Lauth und Sebastian Reinfeldt - , die die Arbeit kritisch und produktiv begleiteten und mitunter auch der Seelenlage des Autors zu neuem Schwung verholfen haben.
Heidelberg, im Juni 1999
PT
7
8
Inhaltsverzeichnis Vorwort Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen Abkürzungsverzeichnis
7 12 14
Einleitung
17
I.
25
Analyserahmen
1. Institutionenverständnis 1.1 Institutionenbegriff 1.2 Die institutionelle Grundstruktur: Politische Ordnung, Wirtschaftsordnung und Wohlfahrtsordnung
26 26 30
2. 2.1 2.2 2.3 2.4
Institutionen und Entwicklung Die gesellschaftliche Funktion von Institutionen Wirkungsweise und -bedingungen Institutionen und Entwicklungsleistung Resümee und Thesen
36 36 39 42 46
3. 3.1 3.2 3.3 3.4
Staat, Institutionenbildung und institutioneller Wandel Staat und die Geltung von Institutionen Institutionenbildung Institutioneller Wandel Resümee und Thesen
47 47 53 59 61
II.
Institutioneller Wandel und Entwicklung im autoritären Staat (1973-1990)
63
Die Vorgeschichte: Gescheiterte Modernisierung(en) und die Systemkrise 1973
64
Staatliche Rahmenbedingungen der Institutionenpolitik Das Militär als korporativer Akteur Struktur und Stabilität des autoritären Herrschaftssystems Strategische Staatselite und Steuerungsideologie Fazit
72 72 76 84 89
1.
2. 2.1 2.2 2.3 2.4
9
3. Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsentwicklung 3.1 Institutionenbildung als 'Experiment': Radikaler Neoliberalismus (1974-1982) 3.2 Krise, Reform und Re-Stabilisierung (1983-1990) 3.3 Die Arbeitsbeziehungen: Institutionalisierung und Auswirkung des plan laboral 3.4 Institutioneller Wandel und ökonomische Entwicklungsleistung 3.5 Fazit 4. 4.1 4.2 4.3 4.4
90 90 97 102 107 113
Wohlfahrtsordnung und Sozialentwicklung Defizite des chilenischen Sozialstaats und Reformoptionen Der Umbau der'klassischen'Sicherungssysteme Die De-Institutionalisierung der sozialen Integration Auswirkungen und Folgen: Soziale Modernisierung oder Marginalisierung? 4.5 Fazit
114 114 120 125 128 135
5. 5.1 5.2 5.3 5.4
Politische Ordnung und politische Entwicklung Offizielle Spielregeln und politischer Problemverarbeitungsprozeß Neuformierung und Funktionswandel der Zivilgesellschaft Die Rekonstruktion des Parteiensystems Fazit: Die Transition als Rekonstruktion der politischen Arena
136 137 143 150 153
6.
Institutionen und Entwicklungsleistung im autoritären Neoliberalismus
156
III. Institutionen und Entwicklung im demokratischen Staat (1990-1996)
159
1. 1.1 1.2 1.3 1.4
Rahmenbedingungen der Institutionenpolitik Problemlagen der Transformationsprozesse Politische Struktur und Machtverteilung Strategische Staatselite und Steuerungsideologie Fazit
160 160 163 172 183
2. 2.1 2.2 2.3
Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsentwicklung Market governance oder laissez faire? Stabilisierung und Konsolidierung der Wirtschaftsordnung Die Regulierung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit
184 185 188 202
10
2.4 Die Reform des Código del Trabajo 2.5 Fazit: Institutionelle Anreizsysteme und ökonomische Entwicklungsleistung
213 232
3. Wohlfahrtsordnung und Sozialentwicklung 3.1 Sozialpolitische Reformoptionen und Handlungskorridore 3.2 Die sozialen Sicherungssysteme - ein Problem der market governancel 3.3 Armutsbekämpfung und Sozialintegration 3.4 Weifare regime und Sozialentwicklung 3.5 Fazit
248 260 264 269
4. Politische Ordnung und politische Entwicklung 4.1 Vertikale Kontrolle und demokratischer Rechtsstaat 4.1.1 Rechtsstaatlichkeit, effektive Staatsbürgerschaft und Justizsystem 4.1.2 Die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen 4.2 Horizontale Kontrolle: Das Verhältnis Zivile/Militärs 4.3 Herrschaftszugang, politische Gesellschaft und Zivilgesellschaft 4.4 Fazit: Politische Entwicklung zwischen Stabilität und Legitimität
270 271 271 278 291 298 304
5.
307
Institutionen und Entwickjungsleistung im demokratischen Staat
234 235
IV. Schlußfolgerungen
310
Literaturverzeichnis
327
11
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. 17: Abb. 18: Abb. 19: Abb. 20:
Entwicklungsstile und Wirtschaftsordnung Typen der Wohlfahrtsordnung (welfare regimes) Kontext-und Akteursvariablen der Institutionenbildung Interne Organisationsstruktur des autoritären Staates Ordnungspolitische Reformen unter Pinochet Phasen der Wirtschaftspolitik in Chile 1973-1990 Wachstum, Beschäftigung und Reallöhne 1980-1989 Mitgliedschaft in Gewerkschaften (1970-1989) System der staatlichen Sozialpolitiken (1940-1990) Achsen der sozialen Strukturreformen unter Pinochet Strategische Staatselite unter Aylwin und Frei Determinanten systemischer Wettbewerbsfähigkeit Auslandsinvestitionen in Chile 1986-1995 (in Mio. US$) Verteilung der Auslandsinvestitionen nach D.L. 600 Reforma laboral: Regierungsprojekt und Politikergebnis Wachstum, Reallöhne und Produktivität Funktionsbezüge und Steuerungsebenen der Sozialpolitik Paradigmen der Sozialstaatlichkeit in Chile (1940-1995) Konfliktdimension'Menschenrechte'(1993) Konfliktdimension'Menschenrechte'(1995)
34 35 58 78 96 101 105 107 118 119 176 204 208 208 219 222 237 240 284 289
Tab. 1: Tab. 2: Tab. 3: Tab. 4: Tab. 5: Tab. 6: Tab. 7: Tab. 8: Tab. 9: Tab. 10: Tab. 11: Tab. 12: Tab. 13:
Anzahl staatlicher Unternehmen Wirtschaftsindikatoren 1970-1981 Wirtschaftsindikatoren 1970-1989 Wirtschaftsindikatoren im Vergleich (1958-1989) Öffentliche Sozialausgaben in Chile 1925-1970 (in % BSP) Öffentliche Sozialausgaben (1970-1989) Ausgewählte Indikatoren der Sozialentwicklung Sozioökonomische Indikatoren lateinamerikanischer Länder Armutsentwicklung in Lateinamerika (1970 bis 1990) Einkommensverteilung nach Einkommensgruppen in Chile Ergebnisse der Parlamentswahlen 1989 Ergebnisse der Parlamentswahlen 1993 Mitgliedschaft in Gewerkschaften und Gewerkschaftsverbänden
93 96 108 108 115 120 130 130 132 133 170 171 225
12
Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab. Tab.
14: 15: 16: 17: 18: 19: 20:
Wirtschaftsindikatoren 1989-1996 Sozialausgaben 1989-1994 (in % BIP) Anteil der Sozialausgaben am BIP im Vergleich Entwicklung der öffentlichen Gesundheitsausgaben 1989-1994 Bewertung der Justizverwaltung durch Anwälte Militärautonomie im Vergleich Anteile von Regierung und Opposition bei den Parlamentswahlen
233 247 248 255 275 293 301
13
Abkürzungsverzeichnis
AFP
Administración de Fondos de Pensiones
ANEF
Asociación Nacional de Empleados Fiscales
CIEPLAN
Corporación de Investigaciones Económicas para Latinoamérica
CNI
Central Nacional de Inteligencia
CODELCO
Corporación del Cobre
CORFO
Corporación de Fomento Fabril
CPC
Cámara de la Producción y del Comercio
CTC
Confederación de Trabajadores del Cobre
CTCh
Confederación de Trabajadores de Chile
CUT
Central Unitaria de Trabajadores
D.L.
Decreto Ley
DDHH
Derechos Humanos
DINA
Dirección Nacional de Inteligencia
FFAA
Fuerzas Armadas
FLACSO
Facultad Latinoamericana der Ciencias Sociales
FONASA
Fondo Nacional de Salud
FOSIS
Fondo de Solidaridad e Inversión Social
IDB
Interamerican Development Bank
INE
Instituto Nacional de Estadística
ISAPRE
Institución de Salud Previsional
IWF
Internationaler Währungsfonds
Mercosur
Mercado Común del Sur
MIDEPLAN
Ministerio de Planificación
MIR
Movimiento de Izquierda Revolucionario
ODEPLAN
Oficina de Planificación Nacional
PAIS
Partido Allendista de Izquierda Socialista
PC
Partido Comunista
PDC
Partido Demócrata Cristiano
PET
Programa de Economía del Trabajo
PH
Partido Humanista
14
PN
Partido Nacional
PPD
Partido por la Democracia
PR
Partido Radical
PREALC
Programa Regional de Empleo para América Latina y el Caribe
PRSD
Partido Radical Socialista Democrático
PS
Partido Socialista
PSD
Partido Social Demócrata
RN
Renovación Nacional
SERNAM
Servicio Nacional de la Mujer
SNS
Servicio Nacional de Salud
SNSS
Servicio Nacional de Sistemas de Salud
SOFOFA
Sociedad de Fomento Fabril
UCC
Unión del Centro-Centro
UDI
Unión Democrática Independiente
UP
Unidad Popular
15
Einleitung Zentraler Gegenstand dieser Studie ist die institutionelle Dimension der politischen, ökonomischen und sozialen Transformationsprozesse in Chile, die nach dem Militärputsch im September 1973 einsetzten und zum Teil bis heute anhalten. Hierbei konzentriert sich die Analyse auf Wandel, Reform und Wirksamkeit jener Basisinstitutionen, die für ökonomische, soziale und politische Entwicklung als grundlegend anzusehen sind, d.h. die Wirtschaftsordnung, die Wohlfahrtsordnung und die politische Ordnung. Diese institutionellen Arrangements bestimmen zusammen das, was traditionellerweise als Zuordnung von 'Staat', 'Wirtschaft' und 'Gesellschaft' bezeichnet wird und in den lateinamerikanischen Transformationsprozessen den Kern der Entwicklungsagenda darstellt.1 In ihren Grundzügen beruht die Analyse auf zwei Kernthesen, die den Zusammenhang von Staat, Institutionen und Entwicklung verdeutlichen. Erstens werden Institutionen als die zentralen Elemente angesehen, mit denen Gesellschaften 'Entwicklung' organisieren. Hier folgt die Analyse einer Argumentationslinie, wie sie am prägnantesten Douglass North formuliert hat: "Institutionen sind die Spielregeln einer Gesellschaft oder, formlicher ausgedrückt, die von Menschen erdachten Beschränkungen menschlicher Interaktion. Dementsprechend gestalten sie die Anreize im zwischenmenschlichen Tausch, sei dieser politischer, gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Art. Institutioneller Wandel bestimmt die Art und Weise der Entwicklung von Gesellschaften über die Zeit und ist somit der Schlüssel zum Verständnis historischen Wandels."2
Zweitens wird argumentiert, daß der Staat den zentralen Faktor fiir die Gestaltung und Garantie entwicklungsadäquater Institutionen darstellt, ohne jedoch der einzig ausschlaggebende Akteur dieser 'Institutionenpolitik' zu sein.3 Zugespitzt heißt dies, daß eine Steuerung von Entwicklung möglich ist, wenn eine adäquate Institutionenpolitik betrieben wird. Trotz dieser auf den ersten Blick herausragenden Bedeutung von Institutionen für Transformationsprozesse, wie sie fast alle Länder Lateinamerikas seit
1
Vgl. Mols 1995,45.
2
North 1992, 3; zum Verständnis von Institutionen als Regelsystemen s. Kap. 1.1.
3
Zu dieser Problematik - und insbesondere zum Staat - s. Kap. 1.3.
17
den 70er Jahren durchlaufen und ähnlich auch andere Regionen betreffen 4 , existieren gleichwohl bislang kaum systematische Fallstudien über ihre tatsächliche Rolle sowie über Ursache und Wirkung institutionellen Wandels. Diese Forschungslage beginnt sich - vom allgemeinen Trend einer 'Renaissance' des Institutionalismus beeinflußt - allmählich zu ändern. Vor allem aufgrund der risikoreichen Transformationsprozesse in Mittel- und Osteuropa rücken die institutionellen Aspekte zunehmend (wieder) in den Horizont des Forschungsinteresses.5 Die vorliegende Untersuchung unternimmt den Versuch, diese Aspekte zu systematisieren und mit ihrer Hilfe Chiles Entwicklung seit 1973 exemplarisch zu analysieren.
Chile zwischen Stabilität, Stagnation und Wandel - eine Problemskizze Bis zum Militärputsch 1973 scheint Chile auf den ersten Blick ein Beispiel ungewöhnlicher politischer und institutioneller Stabilität zu präsentieren. Nach der Phase der 'Anarchie' (1817-1830) wurden bis 1973 alle Präsidenten von ihren rechtmäßig gewählten Nachfolgern abgelöst; Ausnahmen bildeten hier lediglich die bürgerkriegsähnlichen Wirren des Jahres 1891 sowie die turbulente Periode 1924-1932. Insgesamt erlebte Chile in diesen 143 Jahren lediglich 13 Monate nicht-verfassungsmäßiger Regierung, und nur vier Monate unter einer Militärjunta. 6 Auch wenn man aufgrund des lange Zeit eingeschränkten Wahlrechts und der faktischen Dominanz einer kleinen, aber homogenen sozialen Elite die demokratische Qualität der politischen Regime anzweifeln kann, so erstaunt doch die hohe Kontinuität der verfassungsgemäßen Wahlen und Wechsel der Präsidenten. Auch existierten (bis 1980) nur zwei Verfassungen, wobei die Verfassung des Jahres 1925 die Verfassung des Jahres 1833 nur modifizierte und erweiterte. Zahlreiche Autoren heben hervor, daß der chilenische Fall - gemessen am Merkmal der verfassungsgemäßen, regulären Erneuerung der Regierungen per Wahl - "eingeschlossen werden müßte in die sehr begrenzte Anzahl beispielhafter Demokratien im 19. und 20. Jahrhundert"7. Der Militärputsch im September 1973 markiert eine derart tiefe Zäsur in der chilenischen Geschichte, daß sie mitunter in 'die Zeit davor' und 'die Zeit danach' eingeteilt wird.8 Auch wenn dies übertrieben ist - und nicht zuletzt Legitimationszwecken dient - bleibt die Tatsache, daß seit 1973 ein grundlegender Wandel der institutionellen Grundstruktur Chiles stattgefunden hat. Dies betrifft auch die politische Ordnung, die zwar seit 1990 wieder als demokratisch zu bezeichnen ist, sich jedoch erstens in wesentlichen Aspekten von der 'alten' De4
Gemeint sind hier in erster Linie die Lander Osteuropas, in denen diese dreifache Transformation gleichwohl noch tiefgreifender ist, aber auch Länder Ostasiens sowie - mit Vorbehalten - Afrikas. Zur Übersicht vgl. die Beitrage in Merkel et al. 1996a und 1996b.
5
Vgl. Göhler 1997a; Offe 1994.
'
Vgl. Valenzuela 1989, I62ff.; Garcis 1972,90.
7
Garcis 1972,90.
'
Vgl. Koch 1998, 122.
18
mokratie unterscheidet und zweitens in ein völlig anderes Ordnungsgefüge und eine veränderte Gesellschaftsstruktur eingebunden ist. Auf den zweiten Blick zeigt sich nun, daß solche Brüche in der institutionellen Entwicklung des Landes wiederholt vorkamen und - zumindest oberflächlich - ein gemeinsames Muster erkennen lassen: Zwar stellten die institutionellen Arrangements zum einen gelungene Anpassungsleistungen an interne wie externe Herausforderungen dar, doch wurden sie andererseits nach einer gewissen Zeit zu starr für die Bewältigung neuer Problemlagen und konnten selbst nicht adäquat an die neuen Bedingungen angepaßt werden. Im Gegensatz zu den übrigen lateinamerikanischen Ländern erlangte Chile nach der Unabhängigkeit relativ rasch die staatliche Konsolidierung sowie eine weitgehende politische Stabilität. Das Institutionengefüge dieses nach dem Verfassungsarchitekten benannten Estado Portaliano war geprägt von Gesetzesherrschaft, einer starken Exekutive sowie ziviler Suprematie über das Militär und ermöglichte eine große Stabilität, die die Konsolidierung, gemäßigte Expansion und internationale Eingliederung des Wirtschaftssystems erlaubte. Nach dem Pazifikkrieg gegen Peru und Bolivien (1879-1884) setzte eine erste große Modernisierungsphase ein, die - getragen vom Salpeterboom - durch die Einbindung der chilenischen Ökonomie in die Weltwirtschaft gekennzeichnet und von einer Ausweitung des öffentlichen Sektors sowie raschen Veränderungen der Sozialstruktur begleitet war. Die aufkommenden Differenzen innerhalb der nach wie vor dominierenden Oligarchie über den weiteren Modernisierungsweg (unabhängigere nationale Entwicklung vs. vertiefte Weltmarktintegration) mündete 1891 in einen Konflikt zwischen Parlament und Präsident, der schließlich gewaltsam ausgetragen wurde. In der Folge setzte sich die Freihandelsoption durch, politisch wurde die 'parlamentarische Republik' etabliert (ohne allerdings die Verfassung oder den oligarchischen Charakter zu ändern). Die Krise des liberal-oligarchischen Staates in den 20er Jahren, das Aufkommen der Mittel- und Unterschichten und schließlich die Weltwirtschaftskrise, die das Wegbrechen der Exportmärkte bedeutete, führten zu einem Umbruch der gesamten institutionellen Grundstruktur (neue Verfassung 1925, Aufbau wohlfahrtsstaatlicher Einrichtungen ab 1924, Abkehr von der offenen, auf Primärgüterexport ausgerichteten Marktwirtschaft in den 30er Jahren). Aus entwicklungsstrategischer Sicht bedeutsamstes Merkmal des neuen Ordnungsgefüges war, daß der Staat in eine herausragende Rolle als Entwicklungsträger gebracht wurde - ein Modell, das sich ähnlich auch in anderen lateinamerikanischen Ländern herausbildete und später von der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) explizit gestützt wurde. Es ließ den Staat einerseits zum modernisierenden Regulator weiter Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft werden, andererseits jedoch auch zum Kristallisationspunkt und Adressaten sozialer und politischer Akteure, insbesondere der korporativ verfaßten Machtgruppen. Die Restrukturierungen bewirkten eine zweite große Modernisierungsphase, die zunächst sozioökonomischen Fortschritt ergab, jedoch auch von Grundzügen einer rent seeking society geprägt war. Im Kontrast zu den 19
wachsenden ökonomischen, sozialen und politischen Herausforderungen, die u.a. aus der stagnierenden Wirtschaftsdynamik wie aus der Ausweitung politischer und gesellschaftlicher Partizipation resultierten, blieben das Ordnungsgefüge und damit die Problemlösungskapazitäten weitgehend statisch. Versuche, die konstatierten Entwicklungsblockaden durch Reformen der Wirtschafts- und Sozialordnung zu überwinden, scheiterten am mangelnden Konsens und waren von sozialen, wirtschaftlichen und politischen Krisen begleitet, noch bevor sich das Entwicklungsmodell aus internen wie externen Gründen erschöpft hatte. Die Formation dieses von den prinzipiellen sozialen und politischen Kräften Chiles getragenen Estado de Compromiso begann in der zweiten Hälfte der 60er Jahre unter dem Anwachsen polarisierter gesellschaftlicher Tendenzen zu zerbröckeln. Während sich auf der einen Seite bereits ein anti-staatlicher Diskurs unter den konservativen Kräften verfestigte, trieb die Unidad Populär unter Allende (1970-1973) mit ihrem 'sozialistischen Experiment' einen staatsgetragenen und -fixierten Reformismus voran. Dabei wurden aus Effektivitätsgründen mit der Eliminierung der traditionellen politischen Verhandlungsmuster auch die Grundlagen des Estado de Compromiso beseitigt, was den Polarisierungstendenzen weiteren Vorschub leistete. Der Putsch des Militärs unter Pinochet setzte der sich abzeichnenden, von internen wie externen Kräften geschürten politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Paralysierung des Landes ein gewaltsames Ende. Die relativ lang anhaltende Phase der Diktatur bedeutete eine in mehreren Etappen sich vollziehende grundlegende Transformation der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Strukturen Chiles. Die Ausformung des autoritären Staates, die ähnlich auch in den übrigen Ländern des Cono Sur durchgesetzt wurde, bedeutete nicht nur die Zerschlagung demokratischer Vermittlungsformen in Gesellschaft und Politik, sondern war gleichzeitig - und dabei keinem anderen Land vergleichbar - mit einer radikalen Abkehr vom alten Entwicklungsmodell begleitet, das von Seiten der Militärs für den 'Niedergang' Chiles verantwortlich gemacht wurde. Gleichwohl scheiterte der letzte Schritt Pinochets, sich die Handlungsvollmacht für weitere acht Jahre zu erhalten und plebiszitär legitimieren zu lassen, nachdem sie aufgrund von Verschiebungen auf nationaler wie auf internationaler Ebene nicht mehr wie vordem (d.h. v.a. repressiv) aufrechtzuerhalten war. Die im April 1990 antretende demokratische Regierung stand damit vor dem Problem, sowohl Kontinuität als auch Wandel gleichermaßen bewerkstelligen zu müssen, d.h. insbesondere sozioökonomische Modernisierung und Partizipation mit sozialem Ausgleich, ohne andererseits den prekären gesellschaftlichen Konsens und damit die Demokratie durch weiterreichende Reformbemühungen zu gefährden. Diese knappe historische Problemskizze läßt bereits erkennen, daß Chiles Entwicklung eng an das 'Schicksal' seiner Institutionengefüge gekoppelt war, und zwar im positiven wie im negativen Sinne. Nun ist es hier nicht die Absicht, der These von der Gefahr einer 'Wiederholung der Geschichte' das Wort zu reden. Die skizzierten Zusammenhänge verweisen jedoch direkt auf die zen20
trale Problematik, der sich diese Arbeit widmet, nämlich einerseits der Konstruktion adäquater Institutionen in den zentralen gesellschaftlichen Funktionsbereichen und andererseits dem Zusammenspiel zwischen (v.a. politischen) Institutionen und dem Verhalten der Akteure. Als Fallbeispiel für die Analyse institutionellen Wandels eignet sich Chile nicht nur deshalb, weil es von zahlreichen Wissenschaftlern und Politikern wiederholt als Modell für andere Transformationsländer dargestellt wird (was gleichwohl zu prüfen ist). Vielmehr ist hier die Frage aufgeworfen, ob bzw. wie es den relevanten Akteuren vor dem skizzierten historischen Hintergrund gelingt, stabile, effektive und dennoch anpassungsfähige Institutionen zu errichten. Darüber hinaus sind die Restrukturierungsprozesse in Chile seit 1973 auch insofern erklärungsbedürftig, als - entgegen bestimmter Annahmen der ökonomischen Theorie9 - hier unter einem autoritären Regime mit dem Modus einer rent seeking-society gebrochen wurde und sich dadurch ein spezifischer Modus von Transformationsprozessen auf ökonomischer, wohlfahrtsstaatlicher und politischer Ebene ergab. Schließlich läßt sich an diesem Fall auch prüfen, ob bzw. welche signifikanten Auswirkungen der 1988 einsetzende politische Regimewechsel auf die institutionelle Grundstruktur Chiles insgesamt hatte, also ob bzw. wie die spezifische Problemlage aus Kontinuität und Wandel bewältigt wurde. Der politikwissenschaftliche Kontext der Untersuchung Die beabsichtigte Analyse institutionellen Wandels berührt weitere politikwissenschaftliche Fragestellungen, die in den letzten Jahren an Relevanz wie an Dynamik gewonnen haben und das Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung anleiten. (1) Der Entwicklungs- und insbesondere der Lateinamerikaforschung - sofern sie mehr praxisorientiert ausgerichtet sind - stellt sich die Frage, welche Entwicklungsstrategie die Länder Lateinamerikas nach der decada perdida in den neunziger Jahren einschlagen (können), nachdem zunehmend Zweifel an den neoliberalen Entwicklungsmustern aufgekommen sind - das 'Modell-Land' Chile eingeschlossen. Zwar haben sich die Länder des Subkontinents ausnahmslos von einseitig binnenorientierten und staatsinterventionistischen Strategien gelöst, doch leistete der neoliberale Paradigmenwechsel (noch?) nicht den Aufbau tragfahiger Entwicklungsstrukturen. Aus entwicklungstheoretischer Perspektive wird deshalb die Frage nach den notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Entwicklung - v.a. vor dem Hintergrund wachsender Globalisierung und Interdependenz - neu gestellt. Die Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre konstatierte Krise bzw. das Scheitern der (großen) Entwicklungstheorien ist bis dato kaum überwunden10, so daß - von wenigen Ausnahmen abgesehen" - bislang auch kaum neue Impulse für die Entwicklungspraxis zu verzeichnen '
Vgl. Pritzl 1996.
10
Vgl. Menzel 1991; Boeckh 1992; Tetzlaff 1996.
"
Vgl. Messner 1995.
21
sind. Zwar hat die Renaissance der Modemisierungstheorien wieder zur stärkeren Beachtung interner Faktoren von Entwicklung gefuhrt, ohne allerdings Staat und Politik hinreichend einzubeziehen.12 (2) Verallgemeinert man die politischen Aspekte dieser entwicklungstheoretischen Fragestellungen, so laufen sie mit allgemeineren staatstheoretischen Fragestellungen zusammen. Insbesondere im Hinblick auf die Rolle des Staates in und nach Transformationsprozessen (auch außerhalb der Dritten Welt) steht hier letztlich die 'Architektur' moderner Gesellschaften in Frage: Welche Funktionen bildet er für die neuen (und teils alten) Anforderungen aus, und welche Form nimmt er dabei im Zusammenspiel von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft an?13 (3) Eng damit verknüpft ist die grundsätzliche Problematik der politischen Steuerung bzw. Steuerbarkeit gesellschaftlicher Entwicklungen, die insbesondere in der deutschen Theoriedebatte ausgiebig erörtert wurde. Auch wenn sich die Herausforderungen, vor denen Industrie- und Entwicklungsländer stehen, z.T. beträchtlich unterscheiden, so bleibt die Kernfrage hier die gleiche: Welche Art der Steuerung ist für weitere Modernisierungen notwendig, welche ist praktikabel, und welche Steuerungsmechanismen müssen dafür ausgebildet werden bzw. wurden bereits ausgebildet?14 (4) Aus Sicht der Demokratie- bzw. der Transitionsforschung stellt sich vor dem Hintergrund, daß die Länder Lateinamerikas fast ausnahmslos wieder zur Demokratie als Herrschaftsform zurückgekehrt sind, des weiteren die Frage nach Akzeptanz und Kompatibilität der eingeschlagenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungswege: Welche Entwicklungsstrategie - mit all ihren jeweiligen Implikationen - ist 'demokratieverträglich' im Sinne einer weiteren Konsolidierung; wo bauen sich umgekehrt neue Barrieren und Brüche für Modernisierungen einerseits, für die Konsolidierung der 'jungen' Demokratien andererseits auf?"
Zielsetzung der Analyse, Leitfragen und Arbeitshypothese Die Analyse der Bildung und des Wandels entwicklungsrelevanter Institutionen in Chile liegt im Schnittpunkt dieser grundlegenden, von praktischen und theoretischen Interessen geleiteten Fragestellungen. Institutionen im Sinne von 'Spielregeln' werden hier als zentrale Strukturelemente angesehen, die im Zusammenspiel mit den Akteuren gesellschaftlichen Wandlungsprozessen erst ihre charakteristische Prägung geben ('Entwicklung', 'Modernisierung'), allerdings selbst einem Wandlungsdruck ausgesetzt sind. Daraus ergeben sich die grundlegenden Fragestellungen der Arbeit: (1) Warum und wie kommen in einem Transformationsland wie Chile welche institutionellen Arrangements zustande? Welchem Wandel unterliegen sie? 12
Vgl. Boeckh 1992, 123ff.
15
Vgl. Evans et al. 1985; Rueschemeyer et al. 1992; Grimm 1996.
"
Vgl. Mayntz 1996; Mayntz/Schaipf 1995; Messner 1995.
15
Vgl. Merkel et al. 1996a; Merkel et al. 1996b; Linz/Stepan 1996; Göhler 1997a.
22
(2) Zu welchen Ergebnissen - im Hinblick auf Entwicklung - führen diese Restrukturierungen? (3) Inwiefern wirkt sich der politische Regimewechsel auf den Modus institutionellen Wandels, die Institutionentypen und die Wirkungsweise der Institutionenarrangements aus (neuer Modus des institution building, neue Institutionentypen, verändertes Akteursverhalten und aggregierte Entwicklungsleistung)? Da Institutionen - hier begriffen und analysiert als die grundlegenden Spielregeln in gesellschaftlichen Funktionssystemen - die Grundbausteine gesellschaftlicher Ordnung(en) darstellen, läßt sich aus der Veränderung ihrer Konfigurationen der Wandel von Staatlichkeit im Zuge von Modernisierungsprozessen ablesen. Auch ist die Frage nach dem Zusammenhang von Staat und Entwicklung damit neu formuliert als Frage nach der Rolle des Staates bzw. staatlicher Akteure bei der Konstruktion entwicklungsförderlicher Institutionen sowie nach seinem institutionell festgelegten Aktionsradius in diesem Spiel, d.h. der Zuordnung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Dies läßt auch Schlüsse hinsichtlich der Frage politischer Steuerung von Entwicklung durch institution building zu. Als 'Arbeitshypothese' fungiert hierbei die Annahme: Chiles 'Entwicklung' der letzten Jahre war deswegen relativ erfolgreich, weil auf den drei Ebenen der Transformation eine adäquate Institutionenbildung stattfand; ohne weitere institutionelle Reformen bleibt Chile jedoch auf 'halbem' Weg stehen, da aufgrund interner Blockaden keine Anpassung der Spielregeln an (vorwiegend extern induziertej Modernisierungsherausforderungen geleistet wird. Der Untersuchungszeitraum umfaßt die Phase des autoritären Neoliberalismus unter Pinochet (1973-1990), den Schwerpunkt bildet jedoch die postautoritäre Phase unter Präsident Aylwin (1990-1994), wobei in einigen Kernbereichen die Entwicklungslinien bis in die Regierungszeit von Präsident Frei Ruiz-Tagle (seit 1994) gezogen werden. Aufbau der Studie In Kapitel I wird hierfür der Analyserahmen präsentiert. Im ersten Schritt geht es darum, die theoretischen Grundlagen sowie den akteursorientierten Zugang zur Institutionenanalyse zu erörtern. Dies umfaßt zunächst eine Klärung des (engen) Verständnisses von Institutionen sowie die Präzisierung des Analysegegenstandes (institutionelle Grundstruktur). Der zweite Schritt befaßt sich mit der Rolle von Institutionen als unabhängiger Variable für Entwicklung, was einige allgemeinere Ausführungen zur Funktions- und Wirkungsweise voraussetzt. Drittens schließlich geht es um die Prozesse von Institutionenbildung und -wandel, also Institutionen als abhängige Variable; dies schließt auch die Frage ein, welche Auswirkungen politische Systemwechsel auf die Institutionengefü-
23
ge haben. Aus systematischen Gründen wird hierbei dem Staat eine zentrale Bedeutung beigemessen. Die Kapitel II und III sind der empirischen Institutionenanalyse gewidmet und bilden den Hauptteil der Arbeit. Untersucht wird - getrennt nach den beiden Phasen des autoritären Neoliberalismus (1973-1990) und des postautoritären 'demokratischen Regulations- und Verhandlungsstaates' (1990-1996) - die Institutionenbildung auf ökonomischer, wohlfahrtsstaatlicher und politischer Ebene sowie deren Auswirkungen auf Entwicklung. Zugrunde liegen die in Kapitel I spezifizierten Analysekategorien, die auf die identifizierten Teilregimes der Wirtschafts-, Wohlfahrts- und politischen Ordnung angewandt werden. Ziel ist allerdings nur begrenzt ein systematischer Vergleich der beiden Phasen, sondern die Beantwortung der Frage, inwieweit der Wandel der politischen Ordnung (Transition 1988-1990) sich auf die Veränderung der institutionellen Arrangements auswirkte. Die Institutionenanalyse erfordert jeweils zwei grundlegende Schritte: erstens die Analyse ihres Zustandekommens und zweitens die Analyse ihrer Wirkung, d.h. des Verhaltens der relevanten Akteure unter den 'neuen' Spielregeln, der aggregierten Ergebnisse sowie eventueller Dysfunktionalitäten. In Kapitel IV werden in einem abschließenden Fazit die Ergebnisse der Untersuchung zusammengefaßt und unter Bezug auf die Leitfragen die Hypothesen diskutiert. Abschließend werden die Implikationen erörtert, die sich daraus für Staats-, Entwicklungs- und Steuerungstheorie ergeben, und zwar insbesondere im Hinblick auf die Steuerung von Modernisierungs- und Entwicklungsprozessen.
24
I. Analyserahmen Die politischen, ökonomischen und sozialen Transformationsprozesse, wie sie sich seit einiger Zeit in Chile, Lateinamerika und andernorts abspielen, stellen eine besondere Form des Wandels dar, die zwischen revolutionärem Umbruch und inkrementaler Veränderung angesiedelt ist. Aus institutioneller Perspektive beinhalten solche Transformationen in erster Linie den forcierten Wandel der Basisinstitutionen - wobei die Entwicklungsrichtung in unserem Fall einem historischen Trend zu folgen scheint, d.h. hin zum demokratischen Rechtsstaat und zur wettbewerbsfähigen Marktwirtschaft mit einem sozial ausgleichenden welfare regime. Charakteristisch für solche Transformationsgesellschaften ist, daß sie sowohl des Wandels der Institutionen als auch ihrer Stabilisierung bzw. Stabilität bedürfen: Ohne das erste verebbt jede Entwicklungschance unter 'falschen' Anreizsystemen, und ohne das zweite bleibt Entwicklung instabil und sozusagen auf halbem Wege stehen. In Transformationsphasen entscheidet sich somit, wie das 'Dilemma' von Wandel und Stabilität gelöst wird, also welche Institutionen daraus hervorgehen und damit den weiteren Entwicklungspfad bestimmen. Um diesen Zusammenhang von institutionellem Wandel und Entwicklung am Beispiel Chiles zu untersuchen, wird in diesem Kapitel der Analyserahmen festgelegt, wobei im Kern folgende Argumentation zugrundeliegt: Entwicklung ist genauso wie Unterentwicklung das Resultat des Zusammenhandelns aller relevanten gesellschaftlichen Akteure, das durch (stabile) Institutionen strukturiert und gesteuert wird. Institutionen sind ihrerseits das Ergebnis spezifischer Entscheidungsprozesse und Funktionsleistungen ('Institutionenpolitik '), bei denen der Staat die zentrale, jedoch nicht die alleinige Rolle spielt. Institutionen zum Gegenstand der Analyse von Entwicklungsprozessen zu machen, bedeutet noch keine Entscheidung für den einen oder anderen Analyseansatz. Mit dem 'neuen' Institutionalismus wird hier lediglich die Auffassung geteilt, daß Institutionen eine zentrale Rolle spielen für die Gestalt, die Leistungsfähigkeit und die Entwicklung von Gesellschaften.1 Diese Position teilen im Grunde alle Autoren in den verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, die sich - mit durchaus unterschiedlichen Analyseinstrumenten - der
Insofern beinhaltet eine solche Position nur eine Abkehr von reduktionistischen Erklärungsmustern, wie sie im Gefolge der behavioralistischen Revolution oder gruppentheoretischer Betrachtungsweisen v.a. in die amerikanische Politikwissenschaft Einzug hielten (vgl. Rothstein 1996, I39ff).
25
Frage der Rolle und Erklärungskraft von Institutionen widmen. 2 Eine Fallstudie zum institutionellen Wandel und seiner Auswirkungen auf die Entwicklungsleistung impliziert, daß Institutionen als unabhängige wie auch als abhängige Variablen zu betrachten sind. Beide Erklärungszusammenhänge bleiben unvollständig, wenn sie nicht in Bezug gesetzt werden zum Handeln der beteiligten Akteure. Für die Erklärung von Institutionen erscheint dies unmittelbar einleuchtend, will man sie nicht einfach als evolutionär gegeben, sondern vielmehr als absichtsvoll geschaffen ansehen. Doch auch im Fall von Institutionen als unabhängiger Variable ist letztlich zu bestimmen, wie sie das Handeln von Akteuren beeinflussen, sofern man keine deterministische Wirkung unterstellen will. Von daher empfiehlt sich ein Ansatz, der eine akteursorientierte Perspektive zu Institutionen einnimmt.
1.
Institutionenverständnis
1.1 Institutionenbegriff Gemäß dem eingangs zitierten Diktum von North werden Institutionen hier ausschließlich als Regelwerke aufgefaßt, die "die von Menschen erdachten Beschränkungen menschlicher Interaktion" 3 darstellen. Ein solches Institutionenverständnis ist zugleich enger und weiter, als es in weiten Teilen der Politikwissenschaft vorherrscht, empfiehlt sich aber sowohl aus theoretischen wie aus forschungspragmatischen Gründen. Denn institutions matter lautet zwar die Quintessenz der (spätestens) in den achtziger Jahren einsetzenden 'Wiederentdekkung' von Institutionen. Doch trotz dieser Renaissance des Institutionalismus einerseits, der langen Tradition andererseits hat sich weder in der Politikwissenschaft noch in den übrigen sozialwissenschaftlichen Disziplinen ein einheitlich verwendeter Institutionenbegriff herauskristallisiert. 4 Vielmehr spiegelt sich in der disziplinaren Vielfalt die Tatsache wider, daß durchweg von unterschiedlichen Denkansätzen und Grundbegriffen ausgegangen wird. Einer geläufigen Bestimmung zufolge sind Institutionen "relativ auf Dauer gestellte, durch Internalisierung verfestigte Verhaltensmuster und Sinngebilde mit regulierender und orientierender Funktion" 5 . Vor allem in der Politikwissenschaft wird der Begriff dabei sowohl auf sozial normierte Verhaltensmuster wie auf soziale Gebilde angewandt, also sowohl auf Einrichtungen wie Verfassung, 2
Peters unterscheidet zwischen fünf Forschungssträngen, und zwar neben rational-choice-Ans&tzen den normativen, den historischen, den gesellschaftlichen sowie den strukturellen Institutionalismus (vgl. Peters 1996, 207ff.). Noch weiter aufgefächert ist die Darstellung von Schmalz-Bruns (1989). Aus pragmatischen Gründen wird im weiteren der Typisierung von Rothstein (1996, I 4 6 f f ) gefolgt, der zwischen 'soziologischkulturellen' und 'rational choice '-Ansitzen unterscheidet.
3
North 1992,3.
4
Zur Obersicht vgl. Mayntz/Scharpf 1995,40fT.
5
Göhler 1995b, 22.
26
Mehrheitsprinzip, Wahlsystem u.ä. wie auf Regierung, Verfassungsgericht, Parteien und - last but not least - den Staat. Gegenüber diesem sehr weiten und teils unpräzisen Institutionenbegriff6 wird in dieser Arbeit ein Institutionenverständnis zugrundegelegt, das vor allem im angelsächsischen Raum vorherrscht, aber auch in jenem Teil der deutschen Politikwissenschaft Fuß gefaßt hat, der von akteurs- und handlungstheoretischen Ansätzen beeinflußt ist. Als konsensfähig gilt zwar über die Disziplinen hinweg, daß "mit dem Institutionenbegriff (...) Regelungsaspekte betont (werden), die sich vor allem auf die Verteilung und Ausübung von Macht, die Definition von Zuständigkeiten, die Verfugung über Ressourcen sowie Autoritäts- und Abhängigkeitsverhältnisse beziehen" . Allerdings wird, wie etwa auch im Neo-Institutionalismus von March und Olsen8, nicht immer eine klare Unterscheidung zwischen Regelungs- und Akteursebene vorgenommen bzw. ergeben sich gravierende Abgrenzungsprobleme9. Statt dessen wird in dieser Arbeit ein enger Institutionenbegriff zugrunde gelegt, wie ihn am deutlichsten die rationale Institutionentheorie formuliert: "Eine Institution (...) ist ein auf ein bestimmtes Zielbündel abgestelltes System von Normen einschließlich deren Garantieinstrumente, mit dem Zweck, das individuelle Verhalten in eine bestimmte Richtung zu steuern. Institutionen strukturieren unser tägliches Leben und verringern auf diese Weise dessen Unsicherhei, „ n 10
ten.
Institutionen im engeren Sinne heißt hier also erstens, daß sie als gesellschaftliche Spielregeln im Sinne definierter, praktizierter und sanktionierter Regelungen verstanden werden;11 und zweitens, daß Regeln und Akteure analytisch klar voneinander getrennt werden, was implizite oder explizite Determinismen vermeiden hilft.1 Als Folge davon werden - in Übereinstimmung etwa mit North oder Lepsius13 - einige der in der Politikwissenschaft als klassische Institutionen behandelte Einrichtungen als Organisationen gefaßt, weil ihnen die Qualität eines korporativen Akteurs zukommt: "Regelsysteme 'handeln' nicht, aber sie können Akteure konstituieren und in wichtigen Merkmalen prägen. Soziale
6
Die Definitionsprobleme Göhlers und anderer entstehen v.a. daraus, alles, was gemeinhin als 'Institution' bezeichnet wird, in eine wissenschaftliche Definition einzubeziehen. Dies droht den Begriff konturlos, theoretisch amorph und letztlich nutzlos zu machen (vgl. Göhler 1987b; 1995b; sowie die Kritik etwa von Lepsius 199S, 393f.; Schmalz-Bruns 1989). Göhler hat mittlerweile seinen InstitutionenbegrifT präzisiert und ist insbesondere von seiner Unterscheidung zwischen politischen Institutionen im engeren und im weiteren Sinne - die bis heute noch weitgehend bedenkenlos weitergetragen wird - abgewichen; allerdings bleiben grundlegende Mangel weiterhin bestehen (s. hierzu unten Kap. 1.3.1 zum Thema Staat und Institutionen).
'
Mayntz/Scharpf 1995,40.
'
Vgl. March/Olsen 1984,738, 742.
'
Vgl. etwa Göhler 1995b, 22ff.
10
Richter 1994, 2; ahnlich auch die Definition von Keck: "Soziale Institutionen sind eine Menge von Verhaltensregeln und (gegebenenfalls) von Verfahren zur Entdeckung und Sanktionierung abweichenden Verhaltens, durch die eine soziale Situation so strukturiert wird, daß die Akteure (bzw. in großen Populationen die meisten Akteure) individuell keinen Anreiz haben, von den Regeln abzuweichen" (Keck 1995,213).
'1
Vgl. auch Mayntz/Scharpf 1995,47.
12
Mayntz/Scharpf (1995, 45) weisen daraufhin, daß "institutionalistische Ansätze (...) trotz gegenteiliger Lippenbekenntnisse oft krypto-determin istisch" sind.
13
Vgl. North 1992, 5f.; Lepsius 1995, 394.
27
Gebilde wie Organisationen lassen sich dann sowohl unter dem Aspekt der darin verkörperten Regelungen, das heißt institutionell, betrachten wie auch unter dem Aspekt der Handlungsfähigkeit, das heißt als korporative Akteure." 14 Als (korporative) Akteure werden sie dann als Teilnehmer innerhalb einer weiteren Akteurskonstellation mit übergeordneten Regelwerken (Institutionen) verstanden. Staat, Regierung, Parlament, Verfassungsgericht, aber auch Parteien, Verbände, Universitäten, Schulen u.ä. werden dementsprechend als Organisationen aufgefaßt. Als Institutionen figurieren hingegen so unterschiedliche Regelsysteme wie Entscheidungsverfahren (Wahlen, Markt), Verfassung, Sozialgesetzgebung, Straßenverkehrsordnung, internationale Regime etc.15 Letzteres verweist bereits darauf, daß hier ein zugleich weiter Institutionenbegriff verwendet wird, da Institutionen im Sinne von Regelwerken ein breites Spektrum an Phänomenen umfassen. Zur weiteren Klassifizierung ist es nützlich, zunächst die ausfuhrlichere Definition von Ostrom heranzuziehen: "'Institutionen' lassen sich definieren als die Mengen von Funktionsregeln, die man braucht, um festzulegen, wer für Entscheidungen in einem bestimmten Bereich in Frage kommt, welche Handlungen statthaft oder eingeschränkt sind, welche Aggregationsregeln verwendet werden, welche Verfahren eingehalten werden müssen, welche Information geliefert oder nicht geliefert werden muß und welche Entgelte den einzelnen entsprechend ihren Handlungen zugebilligt werden (...) Alle Regeln enthalten Vorschriften, die eine Handlung oder ein Ereignis verbieten, gestatten oder verlangen. Funktionsregeln sind diejenigen Regeln, die tatsächlich angewendet, kontrolliert und durchgesetzt werden (...) Die Durchsetzung kann vorgenommen werden durch andere direkt Betroffene, durch beauftragte Agenten, durch externe 'Erzwinger' oder eine Kombination daraus." 16
Sieht man zunächst vom Durchsetzungsmodus ab, so lassen sich Institutionen nach der Form, dem Geltungsbereich, der Regelungsebene, dem Konfigurationstyp sowie dem Permissionsgrad der Regelsysteme klassifizieren: Form: Institutionen können formal oder informell sein. Formal heißt, daß sie ein System 'formgebundener* Regeln darstellen, also rechtlich konstruiert sind (z.B. Gesetze, Wahlverfahren, Verfassungen, z.T. auch internationale Regime). Informell sind dagegen Institutionen, die 'formungebunden' sind, d.h. weitge14
Mayntz/Scharpf 1995,49.
15
Vgl. auch Sandschneider (1996, 420f.), der Institutionen als Regelsysteme definiert und diese unterscheidet in Entscheidungsmuster, Verhaltensregeln und Organisationen. Streng genommen stellen jedoch nur die beiden ersten Regelsysteme dar (und müssen analytisch nicht grundsätzlich unterschieden werden). Zwar beinhalten auch Organisationen (Parteien, Bürokratien, Unternehmen, Gewerkschaften etc.) Regelsysteme, doch sind sie damit nicht identisch. Vielmehr stellt eine Organisation einen Verband im Sinne Max Webers dar (vgl. Weber 1984, 81 ff.), dessen Handeln (nach innen wie nach außen) sich an eigenen Regelsystemen ('Ordnungen') orientiert. Interne Regelsysteme dienen somit dem Zweck des Verbandes (der Organisation). Anders verhalt es sich, wenn ein Verband (oder eine Organisation) als kollektiver Akteur handelt, wie etwa Gewerkschaften und Unternehmerverbände. In diesem Fall gelten übergeordnete Regelsysteme (wie z.B. das Tarifrecht), an denen sich die Akteure (zusätzlich) ausrichten müssen. Auch in diesem Fall sind jedoch Regelsysteme und Organisation etwas Grundverschiedenes.
"
Ostrom 1990, 51 (teils i.d. Übersetzung von Richter/Furubotn 1996, 7); vgl. auch Keck 1995, 212f. Die Frage der Durchsetzung verweist nicht alleine, aber besonders eindringlich auf die Frage, inwieweit die analytisch getrennten Ebenen 'Institution' und 'Organisation' realiter aufeinander bezogen sind. Im Kern kommt dies jedoch der Frage gleich, ob es einen Unterschied zwischen 'Regel' und 'Akteur' gibt, was zweifelsohne zu bejahen ist. Naher hierzu s. Kap. 1.2. und 1.3.
28
hend (ungeschriebene) Konventionen, Verhaltenskodizes, Sitten und Gebräuche beinhalten - also entweder 'Kultur' im weiten Sinne oder informelle Verfahrensregeln im Sinne von Standard operating procedures. Informelle Regeln können formale Institutionen stützen, aber auch aushöhlen, verdrängen und unter Umständen das eigentliche Spiel bestimmen. Geltungsbereich: Mit der Errichtung von Institutionen werden jeweils auch bestimmte Handlungsbereiche spezifiziert, in denen sie als Spielregeln fungieren. Entsprechend können sie engere oder weitere Handlungsbereiche umfassen, d.h. die ganze Gesellschaft betreffen oder auch nur bestimmte Funktionsbereiche bzw. gar Akteursgruppen. Aus der Forschungsperspektive ist es letztlich eine Frage der Zweckmäßigkeit, welche Handlungsbereiche und welche Institutionen als relevant anzusehen sind. Regelungsebenen: Institutionelle Analysen beziehen sich auf unterschiedliche Ebenen, die sich aus der Verknüpfung der verschiedenen, für einen Handlungsbereich relevanten Regelungsniveaus ergeben. Im Kern ist dies die Konsequenz davon, daß Definition und Änderung institutioneller Regeln auf einer anderen Ebene stattfinden als die Handlungen innerhalb des institutionellen Rahmens selbst. Zugleich gilt für gewöhnlich, daß Regeländerungen auf diesen Ebenen schwieriger und kostspieliger sind, was umgekehrt die allgemeine Erwartungssicherheit erhöht.17 Konfigurationstyp: Da Institutionen gewöhnlich nicht nur eine Regel umfassen, sondern für den jeweiligen Handlungsbereich eine Konfiguration von Regeln beinhalten, existiert ein Spektrum von einfachen bis hin zu komplexen Institutionen. Von Bedeutung ist hier, daß Regeln verschiedene Ergebnisse bewirken, wenn sie mit anderen Regeln kombiniert werden. Änderungen einer (starken oder schwachen) Regel ändern die institutionelle Konfiguration (mehr oder weniger) und wirken sich so auf die Handlungsergebnisse aus.18 Permissionsgrad: Der Permissionsgrad von Regeln oder Regelsystemen drückt aus, wie eng umrissen Handlungen im jeweiligen Geltungsbereich sind. Regeln verbieten, verlangen oder gestatten ein bestimmtes Handeln. Alle drei Modi sind in den Institutionen moderner Gesellschaften anzutreffen, doch ist im allgemeinen - jenseits dessen, was ausdrücklich verboten ist - eine große Anzahl von Handlungen anzutreffen, die weder verboten noch gefordert werden und somit erlaubt sind, d.h.: Es besteht ein großer Spielraum, zwischen verschiedenen Handlungen zu wählen. Auch spielt eine Rolle, wie allgemein Re17
"
Vgl. Ostrom 1990, 52f. Sie unterscheidet zwischen drei unterschiedlichen Regelungsebenen, die kumulativ die Handlungen und damit die Handlungsergebnisse betreffen: Operationale Regeln sind jene institutionellen Arrangements, die die Strategien und Entscheidungen von Individuen betreffen. Sie sind das Ergebnis kollektiver Entscheidungen ('policy making"), die ihrerseits im Rahmen spezifischer institutioneller Arrangements (cotleclhe choice rules) getroffen werden. Auf der konstitutionellen Entscheidungsebene schließlich finden Entscheidungen aber Entscheidungsregeln statt (eine detailliertere Darstellung findet sich bei Kiser/Ostrom 1982,206ff). Vgl. Ostrom 1986, I4ff. D.h. auch, daß der Konfigurationscharakter den intentionalen Wandel von Institutionen im Sinne politischer Steuerung notwendigerweise erschwert, da sich die Wirkung immer aus der gesamten Anreizstruktur ergibt. Hinzu kommt hier die Ungewißheit, daß Institutionengefllge, die sich in einem gesellschaftlichen Kontext bewahrt haben, in einem anderen desaströs wirken können (vgl. Rothstein 1996, 155f.).
29
geln verfaßt sind. Allerdings wird der Permissionsgrad recht unterschiedlich eingeschätzt. Wir teilen hier mit Ostrom (und gegen March/Olsen) die Auffassung, daß erstens regelgeleitetes Verhalten und zweckrationales Handeln im institutionellen Rahmen sich nicht ausschließen, und zweitens der Permissionsgrad in den Institutionen moderner Gesellschaften generell eher als hoch einzuschätzen ist.19 Für den Untersuchungsgegenstand ergibt sich daraus: Wirtschafts-, Wohlfahrts- und politische Ordnung werden als formale Institutionen aufgefaßt, d.h. sie stehen im 'Schatten des Rechts'. Aufgrund der genannten Klassifikationsmerkmale ist darüber hinaus festzuhalten, daß diese Ordnungen einen relativ großen Handlungsbereich (und eine Vielzahl von Akteuren) umfassen sowie verschiedene Bündel von Regelkonfigurationen beinhalten. 20 Da es sich um die Regelkonfigurationen in den grundlegenden gesellschaftlichen Funktionsbereichen Politik, Wirtschaft und Wohlfahrt handelt, stellen sie die gesellschaftlichen Basisinstitutionen bzw. die institutionelle Grundstruktur dar.21 Allerdings besteht eine Hierarchie zwischen politischer Ordnung einerseits und Wirtschafts- und Wohlfahrtsordnung andererseits, da diese den Filter politischer Entscheidungsprozesse passieren müssen.
1.2 Die institutionelle Grundstruktur: Politische Ordnung, Wirtschaftsordnung und Wohlfahrtsordnung Politische Ordnung, Wirtschafts- und Wohlfahrtsordnung stellen die formalen Basisinstitutionen einer Gesellschaft dar, oder in den Worten von Rawls: deren institutionelle Grundstruktur 22 . Als formale Institutionen stehen sie 'im Schatten des Rechts' und sind damit an staatliche Garantieleistungen gekoppelt. Als Basisinstitutionen spezifizieren sie die grundlegenden Spielregeln der zentralen gesellschaftlichen Funktionsbereiche Politik, Wirtschaft und Wohlfahrt innerhalb einer Gesellschaft und bestimmen dadurch ihre Entwicklungsmöglichkeiten. Da diese Kategorien noch zu grob für eine empirische Analyse sind, wird
"
Vgl. Ostrom 1991,238fT.; sie argumentiert, daß Regeln selten darüber informieren, welche genaue Handlung Individuen auszuführen haben. Regelgeleitetes Verhalten bedeute somit zunächst nur, daß bestimmte Handlungen ausgeschlossen sind, wahrend anschließend unter den verbleibenden Alternativen gewühlt werden kann.
20
Aufgrund dieses in der Regel mehrdimensionalen Aufbaus werden Ordnungen im folgenden auch als institutionelle Arrangements bezeichnet, um diese relative Komplexität zu verdeutlichen (vgl. ebd., 243).
21
Ein verwandter Begriff zu 'Institution' bzw. 'institutionelles Arrangement' stellt der Begriff 'Regime' dar. Allerdings wird der Regime-Begriff - abgesehen von seiner Verwendung in der internationalen Politik selten klar definiert. Im hier vorgetragenen Verständnis wäre politische Ordnung mit politischem Regime gleichzusetzen, und analog ergäben sich für die anderen Ordnungen die Begriffe ökonomisches Regime und Wohlfahrtsregime. Letzteres hat bislang nur unter der Bezeichnung welfare regime Verbreitung gefunden (vgl. Esping-Andersen 1990), während im Bereich der Wirtschaftsordnung gelegentlich Teilbereiche so bezeichnet werden (Handelsregime, labor regime, etc.). Siehe hierzu die folgenden Erläuterungen zur politischen Ordnung.
22
Vgl. Rawls 1975,74fT.
30
im folgenden eine genauere Bestimmung der institutionellen Teilarrangements vorgenommen. Die politische Ordnung bestimmt die politische Organisationsform des Staates (Herrschaftsform) und legt die politischen Verfugungsrechte und damit die Regeln der politischen Entscheidungsbefugnisse fest. Zur näheren Bestimmung sind jene Kategorien oder 'Teilregimes' von Interesse, die eine Unterscheidung zwischen demokratischen und nicht-demokratischen Ordnungen ermöglichen.23 Sie umfassen vier zentrale Regelungsbereiche, die im folgenden am Idealtyp einer demokratischen Ordnung dargestellt werden: Herrschaftszugang, horizontale Herrschaftskontrolle, vertikale Herrschaftskontrolle und Rechtsstaatlichkeit.24 Herrschaftszugang beinhaltet die Fragen des Zugangs zu staatlichen Machtpositionen, der vertikalen Machtkontrolle und der Partizipation, die in Demokratien zum großen Teil mit dem Prinzip der Wahl zusammenfallen, d.h.: Der Zugang zur Macht erfolgt ausschließlich über freie und regelmäßige Wahlen (zwischen echten Alternativen), an denen alle (aktiv und passiv) teilnehmen können und so die gewählten Vertreter wenigstens zum Teil kontrollieren bzw. zur Verantwortung ziehen können. Partizipation betrifft im wesentlichen die Existenz von (für alle gleichen) politischen Rechten und bezieht sich neben der Partizipation über Wahlen v.a. auf Meinungs-, Informations- und Versammlungs- bzw. Vereinigungsfreiheit. Demokratische Ordnungen zeichnen sich dadurch aus, daß sie mit diesen Rechten einen Rahmen schaffen, in dem sich neben individueller Freiheit auch politische Gesellschaft (Parteien) und Zivilgesellschaft entwickeln und entfalten können.25 Horizontale Herrschaftskontrolle bezieht sich auf die Organisationsweise des Machtzentrums (Herrschaftsträgerschaft), d.h. auf den Modus der Zuordnung der Staatsgewalten wie auf die Regeln (und Grenzen) der Entscheidungsfindung, -umsetzung und -kontrolle.26 In klassischer Lesart betrifft dies in erster Linie die Frage tatsächlicher Gewaltenteilung bzw. -verschränkung vs. Gewaltenkonzentration und damit die Herrschaftsstruktur. Demokratien zeichnen sich durch eine wechselseitige Begrenzung der Macht einzelner Einrichtungen, insbesondere der Exekutive, und damit durch die Institutionalisierung horizontaler Kontrolle aus;27 in autokratischen Systemen ist diese nur schwach bzw. gar
25
Insofern sind 'politische Ordnung' und 'politisches Regime' synonyme Begriffe: Sie verkörpern "die Normen, Prinzipien, und Verfahrensweisen der politischen Organisation des Staates" (Merkel 1994, I I ) und zielen auf die Unterscheidung zwischen Demokratie, Autoritarismus und Totalitarismus ab (vgl. Macridis 1986, lOff).
24
Vgl. ROb 1994, 112fT.; zu konkurrierenden Verwendungen O'Donnell/Schmitter 1986, 73; Fishman 1990, 428; Macridis 1986, 10. Vgl. Linz^Stepan 1996,7ff.
25 26
Der Differenzierungsgrad wird hier auf der Ebene der Herrschaftsform betrachtet, umfaßt also die Zuordnung der 'Staatsgewalten' und nicht die organisatorische Differenzierung als Regierungssystem (etwa von der Fächerung in Ressorts Uber administrative Dekonzentration bis hin zu Dezentralisierung, sozialstaatlichen Institutionen und öffentlichem Sektor).
"
Vgl. O'Donnell 1994b, 62.
31
nicht existent.28 Ein wesentlicher Aspekt ist hier die Frage der Zuordnung und Kontrolle des Gewaltmonopols (Polizei, Militär). Idealtypischerweise wird davon ausgegangen, daß im demokratischen Verfassungsstaat eine Suprematie ziviler Macht vorherrscht, während der polizeilich-militärischen Komponente in autokratischen Ordnungen oft eine privilegierte Rolle zukommt. Vertikale Herrschaftskontrolle (oder Herrschaftsreichweite) bezieht sich hier auf die Frage, ob bzw. inwieweit autoritative Entscheidungen durch die Garantie einklagbarer individueller Rechte begrenzt sind (Menschenrechte oder civil rights; auch Minderheitenrechte). Besonders ist dabei die Frage der effektiven Staatsbürgerschaft29 hervorzuheben, d.h. die liberalen Grundrechte müssen nicht nur explizit gewährt werden, sondern sie müssen überdies auch staatlicherseits so umgesetzt werden, daß sie als Instrument vertikaler Kontrolle allen auch faktisch zugänglich sind. Der weitgehend gleiche Zugang zum Recht ist selbst als eines dieser Grundrechte anzusehen. Hierzu zählt auch, wie etwaige Menschenrechtsproblematiken aus Vorgängerregimen geregelt werden. Rechtsstaatlichkeit betrifft die Frage, ob die Herrschaftsausübung (Herrschaftsmodus) durch legitim gesetzte Normen verbindlich festgelegt und durch ein unabhängiges Justizsystem überwacht ist (rule of law). Als Prinzip erstreckt es sich auf die übrigen drei Ebenen gleichermaßen (Konstitutionalismus, Rechtsbindung von Verwaltungsakten, individueller Rechtsanspruch und -schütz) und bildet somit eine Art 'Querverstrebung' gegen die Versuchungen eines rule of man (Korruption, Klientelismus etc.). Zusammen bilden diese Regelungsebenen das (minimale) kategoriale Grundgerüst einer politischen Ordnung, wobei auch die Art der Legitimation implizit enthalten ist. Anzumerken ist, daß politische Systeme, die - formale oder informelle - Einschränkungen in den genannten demokratischen Ausprägungen aufweisen, nicht per se Autokratien sind, sondern auch in der Grauzone 'defekter' Demokratien angesiedelt sein können. Wirtschaftsordnung und Wohlfahrtsordnung legen - wie die politische Ordnung die politischen Verfiigungsrechte - die ökonomischen Verfugungsrechte fest und verkörpern die Herrschaftsverhältnisse einer Gesellschaft. Sie werden im Prinzip als abhängig von der politischen Ordnung angesehen, was jedoch nicht bedeutet, daß die Herrschaftsform eine bestimmte Ausgestaltung der Herrschaftsverhältnisse präjudiziert - auch wenn nicht selten angenommen wird, daß Demokratie und sozial abgefederte Marktwirtschaft sich gegenseitig bedingen.30 Dies wird hier zunächst offen gelassen, wenngleich die historische Tendenz und nicht zuletzt das Fallbeispiel Chile auf ein solches Zusammenspiel hinweisen. Des weiteren wird davon ausgegangen, daß Wirtschafts- und Wohlfahrtsordnung gegenüber der politischen Ordnung zwar auf der gleichen Regelungsebene liegen, jedoch von konkurrierenden Prinzipien bestimmt werden. Dies hat seine Ursache darin, daß wohlfahrtsstaatliche Regelungen historisch "
Vgl. Macridis 19S6,13f.
29
Vgl. O'Donnell 1994a.
50
Vgl. Linz/Stepan 1996, l l f f .
32
und von der Sache her als Korrekturmechanismen für die Extemalitäten kapitalistischer Marktwirtschaften entwickelt wurden.31 Der Einfachheit halber werden die folgenden Kategorisierungen bereits im Hinblick auf die empirische Analyse, d.h. den spezifischen Hintergrund von (lateinamerikanischen) Entwicklungsgesellschaften vorgestellt. Als zentrale Teilaspekte der Wirtschaftsordnung werden gewöhnlich die Eigentumsordnung, die Wettbewerbsordnung sowie die Währungsordnung angesehen.32 Im Kern wird dies hier beibehalten, jedoch anders gewichtet: Da ein zentrales Funktionsproblem lateinamerikanischer (und anderer) Volkswirtschaften bis zum neoliberalen Umbruch die relative Abschottung nach außen und damit die mangelnde internationale Wettbewerbsfähigkeit darstellte, wird die 'Außenwirtschaftsordnung' neben der 'Binnenwirtschaftsordnung* gesondert behandelt. Letztere wird dabei besonders unter dem Aspekt von Liberalisierungs- und Deregulierungsmaßnahmen betrachtet. Eigens hervorgehoben wird schließlich die Regelung des Verhältnisses zwischen 'Kapital' und 'Arbeit'. Dies berührt zwar bereits 'soziale' und korrektive Aspekte, wird hier aber vorwiegend aus dem Blickwinkel von Konkurrenz- und Wettbewerbsfähigkeit betrachtet, d.h. als komplexes Regelungsgefüge für den Preis der Arbeitskraft. Untersucht werden hier also die konstitutiven Regelungen des Arbeitsmarktes, während die kompensatorischen Arrangements als Wohlfahrtsordnung behandelt werden.33 Aus entwicklungsstrategischer Perspektive schließt die Kategorisierung der Wirtschaftsordnung an die Diskussion über Entwicklungsstile an, wie sie vor allem in den achtziger Jahren geführt wurde.34 Daraus zeigt sich, daß auf Grundlage der Hauptkategorien mehrere Typen von Ordnungskonfigurationen ('Stile') unterscheidbar sind, die jeweils der Verkörperung einer spezifischen Leitidee entsprechen. Hervorzuheben ist hier, daß Entwicklungsstile jeweils auf charakteristischen Institutionen-Arrangements beruhen, also nicht lediglich einfache policies darstellen. In diesem Sinne spiegelt die Entwicklungsstile-Diskussion geläufige Idealtypen wider, wie sie insbesondere aus der Gegenüberstellung von freier Marktwirtschaft und Zentralverwaltungswirtschaft vorgenommen wurden.35
51
Vgl. Lepsius 1995,397ff.
"
Vgl. Eucken 1990,254ff.; Zinn 1992,99ff.
"
Zu dieser Unterscheidung zwischen konstitutiven und kompensatorischen Regulierungsstmkturen im Hinblick auf den Arbeitsmarkt vgl. Lessenich I99S, 22ff; für Lessenich ist Sozialstaatlichkeit gleichwohl grundsatzlich auf das Erwerbssystem bezogen, weshalb fUr ihn die konstitutiven Elemente zur Wohlfahrtsordnung zahlen.
14
Vgl. Nohlen/Femändez 1988.
55
Vgl. Glastetter 1992,92ff.
33
Abb. 1: Entwicklungsstile und Wirtschaftsordnung36 kapitalistisch
gemäßigt kapital. gemäßigt sozialist.
sozialistisch
wirtschaftliche Regelungsmuster (Wettbewerb)
freier Markt
regulierter
Plan
Eigentum
unbeschränkt privat
privat, aber eingeschränkt ('sozial')
Wahrung
autonome ZenAutomatismus bzw. voll autono- t r a l b a n k (evtl. mit Absprachen) me Zentralbank
Verbindung zum Weltmarkt
freihandelsintegriert
Behandlung des Auslandskapitals
Markt
staatsinterventionierter Markt
öffentlich und privat öffentlich bzw. Staat politisch fiinktionalisiert
festgesetztes Tauschäquivalent
protektionistisch integriert
selektiv integriert
dissoziiert
frei
gelenkt
geregelt und beschränkt
ausgeschlossen
Wechselkurs
frei
staatlich reguliert staatlich und politisch gesetzt (Zentralbank)
fiktiv
labor regime
Pluralismus
Konzertierung
Kontrolle
Neokorporatismus
Die Wohlfahrtsordnung stellt das institutionelle Arrangement dar, das in kapitalistisch verfaßten Gesellschaften zur Regulierung der sozialen Chancen und Risiken von Individuen (und Gruppen) dient, und macht damit den institutionellen Kern von Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaatlichkeit aus. Sie kann als komplementär wie auch als Korrektiv zur (marktwirtschaftlichen) Wirtschaftsordnung verstanden werden und bestimmt zusammen mit ihr die Verteilung von Verfügungsrechten innerhalb einer Gesellschaft. Als Ergänzung bzw. Gegengewicht zu den marktvermittelten Lebenschancen und -risiken von Individuen beeinflußt die Wohlfahrtsordnung wesentlich die Struktur sozialer Ungleichheit. Grundlegende Regelungsbereiche der Wohlfahrtsordnung sind einerseits die 'Risiken' Armut, Arbeitslosigkeit, Alter und Krankheit/Unfall, doch betreffen sie im weiteren Sinne auch das Bildungssystem sowie andere, nicht um den Arbeitsmarkt gelagerte Leistungen (Kinder). Liegt die generelle Funktion des modernen Wohlfahrtsstaates somit in der Konstitution und Verteilung von Lebenschancen, so sind in der Ausgestaltung dieser kompensatorischen Tätigkeit verschiedene Muster möglich, d.h. die institutionelle Konfiguration nimmt in der Regel eine unterschiedliche Gestalt an. Besonders prägnant hat dies Esping-Andersen in seiner Analyse der Sozialstaatlichkeit moderner, hier liberal-kapitalistischer Gesellschaften der westlichen Welt herausgearbeitet.37 Als Kern der Wohlfahrtsstaatlichkeit sieht Esping-Andersen die 'Dekommodifizierung' von Arbeitskraft in kapitalistischen Systemen an, d.h. die Kompensation ihres Warencharakters durch (staatliche) Regulierungen. Gegenstand sind hier somit nicht die konstitutiven Arrangements des Erwerbsarbeitssystems, die in dieser Untersuchung zur Wirtschafts16
Vgl. Wagner 1997,42; da es sich um Idealtypen handelt, sind realiter auch Mischformen aus den genannten Kategorien möglich.
"
Vgl. Esping-Andersen 1990.
34
Ordnung gerechnet werden; gleichwohl bleiben die kompensatorischen auf die konstitutiven Regelungen bezogen.38 Esping-Andersen identifiziert drei idealtypische Muster wohlfahrtsstaatlicher Intervention (three worlds of welfare capitalism), die sich grundlegend unterscheiden hinsichtlich des Zusammenspiels privater und öffentlicher Sicherungsformen, der Qualität und Reichweite der gewährten und gewährleisteten sozialen Rechte sowie eine je eigene Logik sozialer Stratifizierung.39 Diese Idealtypen stellen verschiedenartige Regulierungsarrangements dar, denen jeweils eine fundamentale, deutlich identifizierbare regulative Idee zugrunde liegt. Sie sind durch jahrelange Praxis sowie durch ihre gesellschaftlichen Strukturierungseffckte derart verfestigt, daß sie auch je spezifische Reaktionsmuster auf soziale und ökonomische Dynamik herausbilden, d.h. sie bleiben trotz Wandel und Reformtätigkeit im Kern bestehen, ohne aber statisch zu sein (s. Abb. 2). Abb. 2: Typen der Wohlfahrtsordnung (welfare regimes)40 ' sozialdemokratisch'
'konservativ'
'liberal'
zentrale regulative Idee
Universalismus
Statushierarchie
Selbstverantwortung
Dominantes Moment im
Staat
Subsidiarität
Markt
welfare mix
Gerechtigkeitsvorstellung Vorherrschendes System sozialer Sicherung
equality
equity
adequaey
Versorgung
Versicherung
Fürsorge hoch
niedrig
niedrig
Individuelle Finanzierung
schwach
stark
stark
Differenzierung nach Gruppen
schwach
stark
schwach
Assistenzmaßnahmen gegen Armut
schwach
stark
stark
Private Sozialausgaben
Schutz gegen Marktkräfte gesellschaftlicher Strukturierungseffekt
stark
mittel
schwach
Inklusion
Segmentierung
Exklusion
Der spezifische Zuschnitt dieser Untersuchungen auf westliche Industrienationen wird jedoch dadurch ergänzt, daß das Problem der Armut gesondert gewichtet und im Hinblick auf seine produktive Lösung im Rahmen der umfänglichen Reformprozesse analysiert wird. Als Kernproblem wird hier das der Integration in das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben angesehen, das sich u.a. daraus ergibt, daß die formalen Erwerbssysteme in Ländern wie Chile in weiten Teilen eher prekär funktionieren. Für die Analysezwecke werden damit zwei Teilbereiche der kompensatorischen Regulierungsmechanismen unterschieden: zum ei51
" 40
Vgl. Lessenich 1995,22ff. Vgl. Esping-Andersen 1990. Quelle: Lessenich 1995,32; Schmidt 1988, 162; Schmid 1995, 57.
35
nen die Sicherungsmechanismen, die eng mit dem formalen Erwerbssektor verknüpft sind und die 'klassischen' Risikosektoren betreffen (Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit); zum andern - aus dem genannten Grund - das Integrationsregime im Hinblick auf strukturell verfestigte Armut. In Frage steht damit, ob ein Wohlfahrtsregime die Effekte der Wirtschaftsordnung kompensieren kann, oder ob Armut regelrecht produziert wird. Anzumerken ist hier, daß Wohlfahrtsstaatlichkeit auch aus systemischer Perspektive zu betrachten ist, d.h. im Hinblick auf die Funktionalität für die Entwicklungsleistung (human resources).
2. Institutionen und Entwicklung Ein Teil der Analyse ist der Frage gewidmet, welche Entwicklungsergebnisse aus den institutionellen Transformationen in Chile resultierten. Daß Institutionen einen zentralen Faktor von Entwicklungsleistungen darstellen, beruht auf Annahmen über ihre Wirkung. Dies beinhaltet nicht nur die Frage, welche gesellschaftliche Funktion Institutionen zugeschrieben werden kann, sondern auch, wie und unter welchen Bedingungen Institutionen überhaupt wirken, um ihnen eine derart prominente Rolle zuweisen zu können. Im Anschluß daran läßt sich präzisieren, welche Rolle Institutionen für Entwicklung spielen (Institutionen als unabhängige Variable).
2.1 Die gesellschaftliche Funktion von Institutionen Institutionen stellen im gesellschaftlichen Zusammenleben die Spielregeln für jene Handlungsbereiche dar, für die sie entworfen worden sind. Als solche sind sie im alltäglichen Leben in vielfaltiger Weise präsent, auch wenn dies den Akteuren nicht immer völlig bewußt ist (also die Regeln internalisiert sind und somit die Handelnden 'entlasten', wie z.B. im Straßenverkehr). Hinsichtlich der gesellschaftlichen Rolle von Institutionen besteht unabhängig vom jeweiligen theoretischen Ansatz weitgehend Konsens darüber, daß "institutionelle - definierte, praktizierte und sanktionierte - Regelungen wechselseitige Erwartungssicherheit begründen und so soziales Handeln über die Grenzen persönlicher Beziehungen hinaus überhaupt erst möglich machen"41. Neben der Entlastungsfunktion für Individuen ist somit ihre grundlegende gesellschaftliche Bedeutung darin zu sehen, daß Institutionen Berechenbarkeit und somit erst dauerhafte Kooperation - wozu auch geregelte Konfliktbearbeitung und eine bestimmte Machtverteilung gehören - ermöglichen. Indem sie, wie oben gesehen, für die jeweiligen Handlungssituationen und -bereiche bestimmte Alternativen ausschließen, andere hingegen ermöglichen oder gar belohnen, legen sie die jewei41
36
Mayntz/Scharpf 1995,47.
ligen Handlungskorridore fest, die je nach Permissionsgrad enger oder weiter gefaßt sein können, und bilden die Anreizstrukturen für individuelles und kollektives Handeln. Sind Institutionen längere Zeit von Bestand und somit durch Handeln eingeübt, so liefern sie auch Informationen darüber, was in bestimmten Situationen getan werden kann oder 'soll', d.h. sie beinhalten im übertragenen Sinne Wissen und Problemlösungspotential. 42 Über diese allgemeinen Funktionszuschreibungen hinaus wird Institutionen allerdings je nach Ansatz eine unterschiedliche Bedeutung beigemessen. Selbst wenn als grundlegendes Problem der Institutionentheorie der Konnex zwischen Regeln (bzw. 'Sinngebilden') und Handeln angesehen wird, ist Lepsius zuzustimmen, daß der eigentliche Zugang für eine Institutionenanalyse nicht die Frage ist: Was sind Institutionen?, sondern vielmehr: Welches Problem soll bearbeitet werden? 43 Genau dies, also das zugrundeliegende Erklärungsproblem, wird jedoch zwangsläufig verschieden verortet. Lepsius selbst charakterisiert als Kern der Institutionenanalyse die Vermittlung zwischen 'Kultur' und 'Gesellschaft', d.h.: "Welche Leitideen wirken in welchen Handlungskontexten bis zu welchem Grade verhaltensstrukturierend?" 44 Göhler hingegen weist im Bemühen, eine Verbindung zwischen sozialen Institutionen allgemein und politischen Institutionen im besonderen herzustellen, Institutionen sowohl eine regulative (Steuerung) als auch eine orientierende Funktion (Integration) zu. 43 Aus Sicht der rationalen Institutionentheorie besteht das theoretische Problem darin, wie eigeninteressierte Individuen überhaupt zu Kooperation gelangen und damit suboptimale Lösungen überwinden können, exemplarisch demonstriert am Gefangenendilemma. 46 Institutionen bzw. Regeln werden hier als notwendige Beschränkungen menschlicher Interaktion angesehen, innerhalb derer Individuen ihre Lebenspläne verfolgen können, ohne andere zu schädigen. 47 Diese Auffassungen sind charakteristisch für die unterschiedlichen Problemstellungen und Interessen, die die Beschäftigung mit Institutionen motivieren. Insbesondere mit Blick auf intendierten Wandel und Reform von Institutionen in Transformations- und Entwicklungsprozessen lassen sich die skizzierten Perspektiven jedoch über die allseits anerkannte Funktion der Erwartungssicherheit und der Ermöglichung von Kooperation hinaus auf zwei weitere funktionale Aspekte verdichten: zum einen auf die Steuerung individuellen und kollektiven Handelns, zum anderen auf die Verminderung von 'Reibungsverlusten' gesamtgesellschaftlicher Kooperation. Der Aspekt der Steuerung ergibt sich unmittelbar aus der Tatsache, daß Institutionen Erwartungssicherheit begründen und so die Handlungsoptionen von
41
Vgl. Brennan/Buchanan 1993, 14; Mayntz/Scharpf 1995, 47; daneben ist das 'Wissen' auch abhangig vom Permissionsgrad und vom Konfigurationstyp.
"
Vgl. Lepsius 1995,394ff.
44
Ebd., 395.
45
Vgl. Göhler 1995b, 37ff.
46
Vgl. Brennan/Buchanan 1993,3ff; North 1992, 13ff.
47
Vgl. Brennan/Buchanan 1993,9ff.
37
Akteuren regulieren - "sei es als Kanalisierung durch ihre Eingrenzung oder als Ausrichtung und Bündelung durch gezielte Anreize" 48 . Die Steuerungsabsicht sowie der Steuerungsakteur und damit auch die Zweckbestimmung dieser Regulierung mögen dabei je nach Institutionentyp unterschiedlich sein. Im Prinzip bedeuten auch die sozialen oder die formungebundenen Institutionen Steuerung, sofern man - wie hier - ein Verständnis zugrunde legt, das auf die enge Verbindung von menschlichem Handeln und Institutionen abhebt. Am deutlichsten wird dies aber, wenn die formalen Institutionen ins Auge gefaßt werden und daher der Aspekt politischer Steuerung in den Vordergrund tritt. Ganz in diesem Sinne ist auch Lepsius' Begriff der Institutionenpolitik zu verstehen, d.h. "die bewußte Einflußnahme auf den Grad und die Richtung der Leitideen, die institutionalisiert oder de-institutionalisiert werden"49. Über den Steuerungsaspekt stimmen sowohl soziologische wie rationale Institutionentheorie überein.50 Allerdings teilen sie beide auch ein spezifisches politiktheoretisches Defizit, nämlich die bestenfalls rudimentäre Modellierung des Steuerungsakteurs bzw. der Steuerungsakteure.51 Der Aspekt der Verminderung von 'Reibungsverlusten' stellt in seiner aktuellen Version eine Domäne der rationalen Institutionentheorie und v.a. der Transaktionskostenökonomie dar. Mit dem Begriff 'Reibungsverluste' verweisen Richter und Furubotn darauf, daß es sich im Prinzip um eine alte Idee handelt, die zudem nicht auf ökonomische Tauschprozesse beschränkt ist.52 Präzisiert wurde dieser Aspekt aber von Autoren, die zwar auf der Grundlage des methodologischen Individualismus arbeiten, jedoch gleichzeitig die Realitätsferne eines Modells kritisieren, das vom Bild des vollständig informierten und rationalen Individuums ausgeht. Dem halten sie - im Anschluß an Simon - die realistischere Konzeption einer eingeschränkten oder begrenzten Rationalität des Individuums gegenüber, das sich zwar der Intention nach rational verhält, dies aber aufgrund begrenzter Informationsbeschaffungs- und -Verarbeitungsmöglichkeiten nur beschränkt tun kann.53 Damit werden jedoch Informationsbeschaffung und die Verläßlichkeit von Absprachen in Tauschprozessen (Transaktionen) zum Problem. Im Anschluß an die Arbeiten von Coase wird nun betont, daß bei der Durchführung von Tauschprozessen Kosten entstehen (Transaktionskosten), die sich u.a. auf Informationsbeschaffung, Messung sowie die Anbahnung, Erfüllung und Durchsetzung von Verträgen erstrecken. Vor allem in Gesellschaften, die hoch arbeitsteilig organisiert sind bzw. in denen unpersönlicher Tausch eine wesentliche Rolle spielt, sind Institutionen somit erstens notwendig, damit auf Grundlage der Erwartungssicherheit überhaupt Tausch-
4'
Göhler 1995b, 38.
49
Lepsius 1995,400.
50
Vgl. oben die Definition von Richter (Anm. 10).
"
Siehe hierzu Kap. 1.3.
"
Vgl. Richter/Fumbotn 1996,9ff, 45ff; Keck 1995, 190ff.
"
Vgl. Richter/Fumbotn 1996,3ff; North 1992,21ff; Plumper 1996, 190ff.
38
prozesse stattfinden; und zweitens ausschlaggebend für die Höhe der Transaktionskosten. 54 Auch wenn somit Institutionen das theoretische Problem der Kooperation lösen und die Anreizmechanismen für - v.a. ökonomisches - Handeln darstellen, können sie nicht schon deshalb auch als effizient bezeichnet werden: Unterschiedliche institutionelle Arrangements stellen unterschiedliche Anreizstrukturen dar und bewirken entsprechend unterschiedliche Transaktionskosten. Daraus ergibt sich zum einen, daß Unterentwicklung - hier zunächst im Sinne ungenügender Wirtschaftsleistung - die Folge 'falscher' Anreizsysteme ist; und zum andern, daß institutioneller Wandel - bei ansonsten gleicher Ausstattung den wesentlichen Faktor für Veränderungen (zum Positiven oder Negativen) darstellt. 55
2.2 Wirkungsweise und -bedingungen Die gesellschaftlichen Funktionen und Strukturierungsleistungen von Institutionen sind davon abhängig, daß ihnen eine bestimmte Wirkungsweise zugeschrieben werden kann. Zum einen wird vorausgesetzt, daß Institutionen das Handeln von Akteuren in einer bestimmten Weise prägen (1). Zum andern ist für die Wirksamkeit von Institutionen entscheidend, daß bestimmte Bedingungen erfüllt sein müssen, die sich aus dem Wechselspiel von Stabilität, Akzeptanz und Effizienz ergeben (2). (1) Wirkungsweise: Institutionalistische Ansätze zeichnen sich in erster Linie dadurch aus, daß sie Institutionen als unabhängige Variable besonders gewichten. Diese Ansicht teilen sowohl der alte wie der neue Institutionalismus, und entsprechend zahlreich und reichhaltig sind die Untersuchungen, die - vor allem aus vergleichender Perspektive - die Signifikanz institutioneller Arrangements für unterschiedliche politische, wirtschaftliche und soziale Ergebnisse nachzuweisen versuchen. 56 Eine Besonderheit des 'Neuen Institutionalismus' ist dabei das Bemühen, möglichst klare theoretische Aussagen über den Wirkungszusammenhang von Institutionen und Handeln zu treffen. Konsens besteht zwar darüber, daß Institutionen im Sinne von Regelsystemen die Strategien und das Verhalten von (einzelnen oder korporativen) Akteuren beeinflussen - umstritten ist allerdings, wie und warum sie das tun. Im Kern berührt diese Fragestellung die Theorie menschlichen Handelns und Verhaltens allgemein und eine Grundkontroverse innerhalb der Sozialwissenschaften darüber, ob Menschen normorientiert oder aus rationalem Eigeninteresse handeln bzw. ob Struktur oder (rationale) Handlung die dominierende Perspektive sozialwissenschaftlicher Analyse sein soll. Doch sowohl die struktura54
Zu diesen 'Reibungsverlusten' bzw. Transaktionskosten und ihrer Einschätzung vgl. Richter/Funibotn 1996, 4 5 f f und passim; North 1988; North 1992.
"
Vgl. North 1992, I27ff.
M
Vgl. die Übersichten bei Rothstein 1996; March/Olsen 1 9 8 9 , 2 .
39
listische Determiniertheit eines homo sociologicus als auch der vollständig rationale homo oeconomicus, die diesen Vorstellungen zugrunde liegen, greifen zu kurz.57 Mit Jon Elster - und im Anschluß an Max Weber - wird hier die Perspektive geteilt, daß die individuelle menschliche Handlung zwar die elementare Einheit des sozialen Lebens darstellt, Handlungen aber nicht alleine aus der Mikroperspektive erklärt werden können. Vielmehr ging der Handlung ein Filter aus strukturellen Begrenzungen (constraints) voraus, die erst die Handlungsmöglichkeiten definieren.58 Neben anderen Faktoren sind es in erster Linie Institutionen, die diese Begrenzungen darstellen. Im zweiten Schritt kommt es dann darauf an, welches Akteursmodell für die Analyse zugrunde gelegt wird. Insbesondere die Auseinandersetzung mit Theorien rationalen Handelns hat zu zwei idealtypischen Grundpositionen gefuhrt, die March/Olsen als 'Logik der Angemessenheit' (logic of appropriateness) bzw. als 'Logik der Folgenausrichtung' (logic of consequentiality) bezeichnet. Während die Logik der Folgenausrichtung Handlungen prägt, die Individuen aufgrund ihrer Präferenzen und der erwarteten Folgen vollziehen, erfolgen Handlungen in institutionellen Arrangements in der Logik der Angemessenheit, d.h.: Akteure orientieren sich in bestimmten Handlungssituationen an den in Institutionen vorgefundenen Normen und Rollen.59 Geht man nun - wie etwa Mayntz/Scharpf - mit guten Gründen davon aus, daß Individuen realiter normorientiert und auch eigeninteressiert handeln können60, so wird deutlich, daß ein allgemeines Modell menschlichen Handelns (noch) kaum einheitlich applizierbar ist. Wichtig daran ist hier, daß Institutionen den entscheidenden Faktor einer Handlungssituation darstellen, die durch weitere Faktoren (faktisch verfugbare Ressourcen, Perzeption) geprägt ist. Institutionen stellen strukturelle constraints dar und bilden einen realistischen Orientierungsrahmen, der bestimmte Handlungsoptionen empfiehlt, die aber unterschiedlich aktualisiert werden können. Ob sie darüber informieren, welche Handlungen angemessen sind, hängt u.a. vom Permissionsgrad ab; zumeist informieren sie aber eher darüber, welche Handlungen garantiert unangemessen sind. Innerhalb der verbleibenden Handlungsspielräume, die enger oder weiter sein können, kann dann abhängig von der Handlungssituation normorientiert oder eigeninteressiert gehandelt werden, was in der Summe zu kollektiven Resultaten und Makro-Ergebnissen führt. Für die Frage der Wirkung ist deshalb bedeutsam, wie stark Institutionen eine Handlungssituation prägen, was jedoch von anderen Faktoren abhängt, um die es im folgenden geht. (2) Wirkungsbedingungen: Institutionen erfüllen ihre Funktionen dann am besten, wenn sie effizient und stabil sind, wobei diese Eigenschaften sich wechselseitig verstärken können. Die Effizienz von Institutionen hängt davon ab, ob sie adäquat konstruiert sind. Dies erfordert zum einen, daß die Regelsysteme 57
Vgl. Mayntz/Scharpf 1995,46; Elster 1989b, 97ff.
"
Vgl. Elster 1989a, 13f.
"
Vgl. March/Olsen 1989,19ff.; Rothstein 1996, 146ff.
w
Vgl. Mayntz/Scharpf 1995; Ostrom 1991; Elster 1989b, 97ff.
40
konsistent sind, also keine widersprüchlichen Handlungen anleiten. Zum anderen sind sie aber Mittel zum Zweck, d.h. ihr Design soll dazu beitragen, eine im Verhältnis zu den Umweltherausforderungen angemessene Problemlösungskapazität bereitzustellen. Als Beispiel mag hier die Mehrheitsregel bei (nationalen) politischen Entscheidungen genügen: In Großbritannien oder den USA kann sie als weitgehend funktional gelten, während sie in heterogenen Gesellschaften wie Spanien dysfunktional wäre, wenn sie auf alle Konfliktfelder ausgeweitet würde.61 Zwar wurde oben bereits festgestellt, daß die intentionale (Re-)Konstruktion von Institutionen nicht unbedingt (oder selten) genau die Ergebnisse bewirkt, die der politischen Steuerungsabsicht entsprechen. Das Beispiel Spanien zeigt jedoch, daß das Abrücken von der reinen Mehrheitsregel mit Sicherheit eine unangemessene Regelung politischer Entscheidungen ausschloß. Der Aspekt der Stabilität ist derart grundlegend, daß er von einigen Autoren Institutionen per definitionem zugeschrieben wird ('relativ auf Dauer gestellt'). Ob dies sehr glücklich ist, braucht hier nicht entschieden zu werden. Wichtiger ist statt dessen, daß die grundlegenden Funktionen (Erwartungssicherheit, damit Steuerung und Verminderung von Reibungsverlusten) nur erfüllt werden können, wenn Institutionen in dem Sinne 'dauerhaft' sind, daß zum einen die Regeln nicht willkürlich oder abrupt verändert werden; und zum andern, daß die Chance der Regelbefolgung sichergestellt ist, sich also auch 'die Anderen' (vermutlich) daran halten werden. Diese Stabilitätsbedingungen bestehen aus einem Bündel interner und externer Faktoren. Zu den internen Faktoren gehören Akzeptanz, Legitimität und Effektivität. Akzeptanz bedeutet, daß alle relevanten Akteure die Spielregeln mehr oder weniger fraglos in ihren Erwartungshorizont einbauen - sei es aus Zweckrationalität oder aus Gewohnheit (z.B. die Straßenverkehrsordnung). 'Legitimität' meint darüber hinaus, daß relevante Akteure die Institutionen oder institutionellen Gefuge als geeignet und normativ erwünscht ansehen. In diesem Sinne besitzt nach Max Weber eine Ordnung (Wirtschaftsordnung, Rechtsordnung, etc.) empirische 'Geltung'. 62 Folglich ist eine Institution ceteris paribus um so stabiler, je höher ihre 'Legitimität' ist, d.h. je mehr betroffene Akteure sie als 'gelten sollend' betrachten.63 Unter Effektivität wird hier verstanden, daß sich die Akteure durchschnittlich auch faktisch gemäß den Regeln verhalten. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Die Straßenverkehrsordnung wird von den meisten Teilnehmern akzeptiert, sei es aus Gewohnheit oder weil sie schlicht nützlich ist (um nicht selbst zu Schaden zu kommen). Es wäre aber überzogen zu behaupten, daß sie auch normativ erwünscht ist (obwohl es Zeitgenossen gibt, die dies so sehen). Akzeptanz bedeutet aber nicht, daß wir uns ständig an diese Regeln halten (oft ist es nützlich oder ungefährlich, sie zu umgehen, obwohl wir sie grundsätzlich als nützlich akzeptieren). Wird das Umgehen jedoch zur informellen Regel, wird die Ordnung instabil und damit auch ihre Effizienz beein41
Vgl. Thieiy 1989.
42
Vgl. Weber 1984, 54fT.
"
Vgl. ebd., 55.
41
trächtigt. Dies macht erstens deutlich: Institutionen, die legitim oder akzeptiert sind, sind deshalb noch nicht effektiv oder gar effizient, und umgekehrt sind effiziente Institutionen nicht notwendigerweise auch legitim, obwohl sie akzeptiert und effektiv sein können; und zweitens: Institutionen sind um so stabiler, je mehr sie die genannten Eigenschaften erfüllen, wobei sich diese wechselseitig verstärken können. So kann eine Institution, die zunächst wenig Legitimität besitzt, durch ihre Effizienz die Akzeptanz und schließlich auch die Legitimität steigern, was auch eine höhere Effektivität bewirkt usw. usf. Umgekehrt können Institutionen, die ihre Funktion nicht (mehr) erfüllen, durch den Verlust an Effektivität, Akzeptanz und Legitimität schließlich ihre Stabilität einbüßen. Damit ist nicht behauptet, daß Institutionen beim Auftreten von Anomalien unbesehen aussortiert werden, da sie - ähnlich den Kuhnschen Paradigmen einerseits noch genügend Problemlösungswissen speichern und sich andererseits über zugrundeliegende Akteursinteressen sowie die generelle Erwartungssicherheit selbst stabilisieren. Änderungen sind demnach abhängig von der Verfügbarkeit konkurrierender Lösungen oder generell von Alternativen. Auch läßt sich nicht folgern, daß Institutionen mit einem relativ geringen Grad an Konsens nicht stabil sein können; vielmehr muß dafür ein funktionales Äquivalent besorgt werden, das auf der Spannbreite zwischen Konsens und Zwang um so mehr in Richtung Zwang liegt, je geringer die Legitimität ist oder wird. Damit ist schließlich auf die externen Faktoren der Stabilität verwiesen, denn formale Institutionen sind nicht aus sich heraus stabil, sondern bedürfen eines externen Garanten, d.h. des Staates. 65 Dies wird in Kapitel 1.3 systematisch dargestellt.
2.3 Institutionen und Entwicklungsleistung Aus der Makroperspektive stellen die Basisinstitutionen gewissermaßen die Organisationsleistung dar, mit der Gesellschaften auf interne und externe Herausforderungen reagieren. Indem Institutionen gesellschaftliche Kooperation in einer je bestimmten Weise arrangieren und damit steuern, sorgen sie für Handlungsergebnisse, die - in den jeweiligen Funktionsbereichen und in der Summe - eine Art Gesamtleistung ergeben. Auf diese aggregierten Ergebnisse bzw. Teilergebnisse bezieht sich die vorzunehmende Entwicklungsanalyse. Dies schließt sowohl die Auswirkung veränderter Institutionen auf die Entwicklungsleistung ein als auch die Wirkung, die Institutionen unter veränderten Umweltbedingungen entfalten - wie v.a. Wirtschafts- und Wohlfahrtsordnung nach dem politischen Systemwechsel. Im folgenden wird zunächst der Entwicklungsbegriff präzisiert, auf den sich die Wirkungsanalyse bezieht. Anschließend werden 64
"
42
Institutionen können so auch trotz schwindender Legitimität oder gar Akzeptanz aufrechterhalten werden, wenngleich je nach Ausmaß des Legitimitäts- und Akzeptanzverlustes - der durch sich ändernde Einstellungen etc. der Akteure zustande kommen kann - sich eine Rigidität oder 'Blindheit' der Institution einstellen kann. Dies kann gegebenenfalls zu größeren Brachen führen wie Stmkturreformen oder auch Revolutionen (die umso wahrscheinlicher sind, je mehr Zwang zur Aufrechterhaltung eingesetzt werden muß). Vgl. Rüb 1994, 117f.
Aussagen mittlerer Reichweite zum Zusammenhang zwischen Institutionen und Entwicklung getroffen. (1) Entwicklungsverständnis: Was unter Entwicklung verstanden werden soll, ist seit jeher umstritten. 66 Es ist nicht das Anliegen dieser Arbeit, selbst einen gehaltvollen normativen Begriff von Entwicklung zu begründen. Da allerdings für die Analyse Chiles 'Entwicklung' als Bewertungsmaßstab herangezogen wird, ist eine hinreichend praktikable Formulierung der Zielvorgabe erforderlich. Hierfür ist nach wie vor die Definition von Nohlen/Nuscheler nützlich, die Entwicklung bezeichnen als "die eigenständige Entfaltung der Produktivkräfte zur Versorgung der gesamten Gesellschaft mit lebensnotwendigen materiellen sowie lebenswerten kulturellen Gütern und Dienstleistungen im Rahmen einer sozialen und politischen Ordnung, die allen Gesellschaftsmitgliedern Chancengleichheit gewährt, sie an politischen Entscheidungen mitwirken und am gemeinsam erarbeiteten Wohlstand teilhaben läßt."67
Diese Definition stellt die Bündelung ihres sogenannten 'magischen Fünfecks' dar, sofern man es - ganz im Sinne der Urheber - um die ökologische Dimension erweitert: 68 Zielpunkte sind demnach ein tragfahiges, relativ dauerhaftes Wachstum, Arbeit, Gleichheit/Gerechtigkeit, Partizipation und nationale Unabhängigkeit/Eigenständigkeit. Die Charakterisierung gesellschaftlicher Transformationen als Entwicklung muß dabei alle genannten Kriterien gleichermaßen berücksichtigen, weshalb zusätzlich der Gesichtspunkt ihrer Kohärenz eine Rolle spielt. Damit sind auch die Eckpunkte für die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Elemente von Entwicklung benannt, für deren Operationalisierung und Messung auf die Ausführungen von Nohlen/Nuscheler verwiesen werden kann. 69 Wie die Autoren selbst hervorheben, handelt es sich hierbei um eine ambitiöse Definition, die etwa in bezug auf die normativen Vorgaben für die soziale und politische Ordnung selbst für die 'entwickelten' Industrieländer eine "idealistische Vision" 70 sei. Daß dennoch daran festgehalten wird, ist folglich kurz zu präzisieren. Zunächst besteht ihr Nutzen darin, daß sie sowohl einen normativkritischen Maßstab wie auch die Möglichkeit einer Langzeitperspektive beinhaltet, mit denen Transformationsprozesse und ihre Ergebnisse beurteilt werden können. Hier ist es dann eher ein Vorteil, diesen Maßstab auch auf Industrieländer anwenden zu können, weil er vom gerade gültigen Modemisierungsstandard relativ unabhängig ist. Zweitens ist sie abstrakt und somit elastisch genug, um
66
Vgl. Bodemer 1996. Erschwerend kommt hinzu, daß die 'großen' Paradigmen der Entwicklung trotz diverser Renaissancen dadurch in die Krise gerieten, daß neben ihrer ErkUrungskraft auch ihr handlungsanleitender Nutzen sowie - und vor allem - ihr normativer Horizont zunehmend mit guten Gründen bezweifelt wurden (vgl. TetzlafT 1996, 60ff.; zum Dilemma der Entwicklungstheorien und ihrem 'Ende' vgl. stellvertretend Menzel 1992).
67
Nohlen/Nuscheler 1992a, 73.
"
Vgl. auch TetzlafT 1996,66f.
69
Vgl. Nohlen/Nuscheler 1992b.
™ Nohlen/Nuscheler 1992a, 74.
43
an jeweilige historische Konstellationen angepaßt werden zu können. Richtig verwandt, können mit ihr durchaus die real vorhandenen Ausgangsbedingungen in Rechnung gestellt werden, ohne aber in Ziellosigkeit zu verfallen. Drittens und damit zusammenhängend - erlaubt sie, die erst real sich ergebenden Zielkonflikte zwischen den genannten Eckpunkten (etwa Wachstum vs. Ökologie) zu thematisieren, ohne zugleich deren Lösung vorzugeben. Daraus folgt auch, daß die konkreten Bedingungsfaktoren für Entwicklung und somit auch die geeigneten Entwicklungsleitbilder (im Sinne von Strategien) von der je historischen Situation und auch von der jeweiligen Gesellschaft (u.U. auch 'Kultur') abhängen. Wird dies in Rechnung gestellt, so muß der Begriff Entwicklung nicht für das Paradies reserviert werden, sondern kann sich an relativen Verbesserungen im Sinne der Zielvorgaben bemessen. Allerdings kann damit gerade auch die kritische Frage gestellt werden, ob etwa kapitalistische Modernisierung unter marktwirtschaftlicher Ordnung - und wenn ja: welche? - den einzigen Modus sozioökonomischer Entwicklung darstellt. 71 In der Logik des hier verfolgten Ansatzes bedarf das skizzierte Entwicklungsverständnis allerdings einer Erläuterung in bezug auf politische Entwicklung. Während sich Begriff und Maßstäbe wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung auf bewirkte Ergebnisse beziehen, wird politische Entwicklung gewöhnlich in der Etablierung eines demokratischen Institutionengefuges selbst gesehen, ist also nicht als dessen Ergebnis zu werten. 72 Oder mit anderen Worten: Zum einen sind Institutionen das Ziel der Entwicklung, zum andern das Mittel oder der Weg dahin. Dem Ansatz entsprechend werden Institutionen hier als Instrument angesehen, zumal umstritten ist, ob eine marktwirtschaftliche Ordnung (und wenn ja: welche?) oder ein bestimmtes Wohlfahrtsregime bereits 'Entwicklung' darstellen. Allerdings impliziert dies, auch die politische Ordnung im Hinblick auf ihre Wirkung zu befragen, d.h. nicht nur die demokratische Qualität des Institutionengefuges aufzuzeigen, sondern auch seine Effizienz und Effektivität. Diese betrifft zum einen die Frage, ob ein effizienter politischer Problemverarbeitungsprozeß angeleitet wird. Zum andern ist an dem Verhalten der politischen Akteure zu untersuchen, ob der institutionelle Rahmen eher Kooperation oder Konflikt ermöglicht und inwiefern er selbst zur Disposition gestellt wird. (2) Institutionentyp und Entwicklungsergebnis: Aussagen darüber, welche institutionellen Arrangements adäquat für Entwicklung sind, nehmen schnell ideologischen oder normativen Charakter an. Doch selbst wenn man der Vorstellung folgt, daß 'Markt' und 'Demokratie' adäquate Arrangements darstellen, ist noch nicht viel gewonnen. Dies liegt an der oben skizzierten Eigenart 71
Eine ahnliche Skepsis formulieren Nohlen/Nuscheler (vgl. ebd., 74f.).
72
So etwa Tetzlaff, der - trotz der konstatierten Krise der Entwicklungstheorie - hinsichtlich der normativen Ebene eine 'bemerkenswerte Konvergenz' feststellt: "'Entwicklung' wird fast universell (...) als Prozeß der gewollten, politisch beeinflußbaren gesamtgesellschaftlichen Veränderung konzipiert, der zwei Endzielen naher kommen soll: der Verwirklichung des demokratischen Rechtsstaats (Demokratie und Menschenrechte, gewaltenteiliger Verfassungsstaat und civil society) und die Institutionalisierung einer effizienten marktwirtschaftlichen Ordnung unter dem staatlichen Schutz eines marktfreundlichen politischen Regimes.'' (Tetzlaff 1996,84; Herv. i. O.)
44
von Institutionen: Da sie Kombinationen aus Regeln darstellen, variiert deren Wirkung mit dem Konfigurationstyp, weshalb eine Fülle möglicher Resultate existiert. Dies schließt jedoch nicht aus, daß die genannten Entwicklungsziele mit unterschiedlichen marktwirtschaftlichen bzw. demokratischen Arrangements erreicht werden können (wobei für die politische Ordnung zusätzlich die strengeren normativen Maßstäbe gelten). Zudem ist zu berücksichtigen, daß Institutionen in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich wirken. Versteht man nun Entwicklungspolitik als 'Institutionenpolitik', so bedeutet dies einen gesellschaftlichen Suchprozeß, um die jeweiligen nationalen Ressourcen und Potentiale zu organisieren. Generalisierte Aussagen darüber, welche Institutionen als adäquat für Entwicklung anzusehen sind, müssen somit eher tentativer Natur bleiben. Die folgenden Ausführungen beschränken sich deshalb auf zwei analyserelevante Aspekte des Zusammenhangs von Institutionen und Entwicklung: erstens auf die Stabilität von Institutionen im spezifischen Kontext von Transformationsprozessen und zweitens auf die Gestalt der lateinamerikanischen Entwicklungsprozesse. Charakteristisch für Institutionen und Institutionenpolitik in Transformationsprozessen ist die doppelte Herausforderung von Wandel und Stabilität der Institutionen. Im Hinblick auf Entwicklung bedeutet sie einerseits, die Institutionen zu adäquaten Anreizsystemen umzubauen, und andererseits, deren Stabilität zu gewährleisten. Anders als zur Angemessenheit lassen sich zur Stabilität hinreichend konkrete Aussagen treffen. Wie die Ausfuhrungen zu den Wirkungsbedingungen ergaben, ist die Stabilität von Institutionen eine notwendige, wenngleich keine hinreichende Bedingung für Entwicklung. Somit kann eine gelungene Transformation auch die Stabilisierung eines Verhaltens bedeuten, das für Entwicklungserfordernisse unangemessen ist bzw. Fehlentwicklungen impliziert. Dennoch läßt sich daraus ableiten, daß die Entwicklungsleistung beeinträchtigt wird, wenn die Stabilität der Institutionen gering ist oder zurückgeht. Begründet liegt dies darin, daß instabile Institutionen keine hinreichende Erwartungssicherheit gewährleisten und somit die Transaktionskosten erhöhen, was sich entweder im internen oder externen Vergleich negativ niederschlägt. Deshalb ist anzunehmen, daß die sozioökonomischen bzw. politischen Indikatoren (v.a. Konfliktzunahme) Störungen ausweisen, wenn in einem oder mehreren der Stabilitätsfaktoren entsprechende Tendenzen vorliegen (Regelabweichungen, offene Anfechtung, Akzeptanz- und Legitimitätseinbußen, häufige Regeländerungen, aber auch permanenter Zwang als Geltungsmodus). Der zweite Aspekt bezieht sich auf die spezifische Bewegungsrichtung der sozioökonomischen Transformationsprozesse in Lateinamerika. Stark vereinfacht läßt sich im historischen Trend festhalten, daß hinsichtlich der Wirtschafts- und Wohlfahrtsordnung die Institutionenpolitik dem Entwicklungsparadigma des Neoliberalismus folgt. Neoliberalismus bedeutet hier, daß er im Kern die Verankerung bzw. Ausweitung des Marktprinzips zur Organisation wirtschaftlicher und sozialer Leistungen beinhaltet. 3 Je umfassender dieses Marktn
Vgl. Dombois/Imbusch 1997, 11 ff.
45
prinzip institutionalisiert wird, desto weiter wird der Staat zurückgedrängt und desto höher ist der Grad gesellschaftlicher 'Selbstorganisation'. Indem der Neoliberalismus Entwicklungsblockaden zu lösen vermag, werden ökonomische wie soziale Entwicklungspotentiale freigesetzt.74 Allerdings birgt eine weitreichende Umsetzung des Marktprinzips auch Risiken in sich. Zum einen, wie oben bei der Vorstellung der welfare regimes angedeutet, befördern 'liberale' Wirtschafts- und Wohlfahrtsordnungen in der Praxis soziale Exklusion (sofern keine vollständige Marktintegration stattfindet). Dies beeinträchtigt nicht nur die soziale, sondern gleichermaßen die ökonomische und die politische Entwicklung (human resources bzw. gesteigertes Konfliktpotential). Zum andern entstehen Risiken, wie sie unter dem Stichwort der mangelnden market governance diskutiert werden: Für die Organisation nationaler Entwicklungspotentiale reichen marktwirtschaftliche Allokationsmechanismen nicht aus, sondern ist staatliche Koordination auf makro- und mesopolitischer Ebene erforderlich.75 Findet diese market governance nicht oder nur rudimentär statt, ist mit Einbußen an internationaler Wettbewerbsfähigkeit zu rechnen. Das heißt, daß sowohl die unvollständige Ablösung überkommener Anreizsysteme wie auch die alleinige Umstellung auf Marktprinzipien suboptimale Ergebnisse hervorrufen.76
2.4 Resümee und Thesen Institutionen, so läßt sich resümieren, stellen das wesentliche Strukturelement von Gesellschaften dar. Während aus der Sicht der rationalen Institutionentheorie diese Strukturierungsleistung aus dem Problem der Kooperation von Individuen ableitbar ist, können soziologische Theorien, insbesondere System- und Differenzierungstheorien, mit den institutionellen Arrangements eine 'mittlere Ebene' zwischen systemischen Strukturelementen und Handlungsebene einziehen.77 Sie sorgen in den verschiedensten Handlungskontexten und -ebenen für Erwartungssicherheit (die allerdings nie vollständig sein kann), ermöglichen gesellschaftliche Ordnung bzw. Steuerung und bestimmen durch die enthaltenen Anreizstrukturen die Transaktionskosten und damit die Entwicklungsmöglichkeiten und -wege von Gesellschaften. Für diesen Part der Analyse Chiles lassen sich im Anschluß an die zuvor skizzierten Argumente die untersuchungsleitenden Thesen zur Wirkung von Institutionen auf die Entwicklungsleistung formulieren: 74
Für den lateinamerikanischen Kontext hat Eßer dies drastisch zusammengefaßt: "Der Neoliberalismus ermöglicht eine Destruktion des binnenorientierten machtpolitischen Geflechts (natürlich nicht der Qberkommenen Macht- und Vermögensstrukturen überhaupt). Er erlaubt die Durchsetzung einer neuen, in einigen Lindem bereits stabilen Makropolitik sowie einer Staatsreform, die Staat, Wirtschaft und Gesellschaft trennt und damit erst ein Zusammenwirken relativ autonomer Partner ermöglicht. Es handelt sich um die erste tiefgreifende Reform des Staates in 500 Jahren!" (Eßer 1992, 10).
75
Vgl. Weiss/Hobson 1995; Messner 1995.
76
Vgl. Linz/Stepan 1996, 12.
77
Vgl. Schimank 1996,241 ff; Weinen 1997.
46
These 1: Wenn die Stabilität der institutionellen Arrangements beeinträchtigt ist oder zurückgeht, geht auch die (sozioökonomische) Entwicklungsleistung zurück. These 2: Wenn Wirtschaftsordnung und Wohlfahrtsordnung in starkem Maße 'neoliberal' - also nach dem Marktprinzip - konstruiert sind, erzeugt dies kurzbis mittelfristig Probleme sozialer Integration und mittelfristig Probleme in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit.
3. Staat, Institutionenbildung und institutioneller Wandel Der Analyse von Institutionen als abhängiger Variable liegt im Kern dasselbe akteursorientierte Modell zugrunde wie zuvor, doch geht es hier ausschließlich um politische Prozesse, d.h. um 'Institutionenpolitik*. Formale Institutionen sind demnach das Ergebnis politischer Entscheidungen im Rahmen struktureller constraints, die in bestimmter Weise von politischen Institutionen geprägt sind. Aus systematischen Gründen ist es hierfür erforderlich, zunächst kurz den Zusammenhang von Staat und Institutionen zu erläutern. Im Anschluß daran werden die zentralen Variablen für Institutionenbildung und -wandel behandelt.
3.1
Staat und die Geltung von Institutionen
Der systematische Aspekt, der eine Klärung der Rolle des Staates erfordert, besteht in der Geltung formaler Institutionen, worunter hier sowohl ihre Entstehung als auch ihre Bestandsgarantie (Durchsetzung) verstanden wird. Wenngleich im folgenden hierbei dem Staat die zentrale Rolle zugeschrieben wird, ist zunächst festzuhalten, daß dieses für alle Institutionen zutreffende Grundproblem gänzlich verschiedene Lösungen annehmen kann. Hinsichtlich der Entstehung betonen einige Verfechter der rationalen Institutionentheorie, daß Institutionen auch spontan, d.h. auf Grundlage des Eigeninteresses von Akteuren entstehen können, da sie Kooperationsprobleme lösen. Umgekehrt können Institutionen aber auch das Ergebnis eines zielgerichteten (hierarchischen) Entwurfs sein.78 Analog dazu differiert auch die Einschätzung der Durchsetzung von Institutionen. Wie oben in der Definition von Ostrom bereits angesprochen, ist die Durchsetzung nicht immer oder nicht nur von einem externen Erzwinger abhängig, und auch hier sind prinzipiell zwei Typen unterscheidbar: Auf der einen Seite stehen die staatlich garantierten Institutionen (um die es hier vorwiegend geht). Auf der anderen Seite gibt es jedoch solche, die sich in gewisser Weise 'selbst tragen' müssen und somit einer internen Begründung und Garantie bedürfen; als paradigmatisch können hier sowohl internationale Regime als auch 71
Vgl. Richter/Furubotn 1996, 8.
47
Formen der Selbstregierung gelten, wie sie vor allem auf Grundlage der Spieltheorie untersucht werden. 79 Die Geltung von Regeln und Abkommen ist in diesen Fällen ausschließlich davon abhängig, daß der Abbruch der jeweiligen Beziehung (ex/f-Option) eine hinreichende Sanktion für Regelverletzungen impliziert. 80 Für die hier behandelten institutionellen Arrangements gilt jedoch, daß sie im Gegensatz zu internationalen Regimen - in einem 'innerstaatlichen' Kontext stehen und - im Gegensatz zu Fällen der Selbstregierung und -Steuerung - 'extern', d.h. mittels des Rechtssystems und somit letztlich auf Grundlage des staatlichen Gewaltmonopols gesichert werden. Sie bewegen sich - wie Keck an mehreren Beispielen der rationalen Institutionentheorie aufzeigt - zumindest im 'Schatten des Rechts', d.h.: Jene 'Institutionen', die Verträgen und Verfiigungsrechten Geltung verschaffen, werden als gegeben vorausgesetzt (also Staat und Rechtssystem). 1 Was aus Sicht der traditionellen Politikwissenschaft wenig problematisch, vielleicht sogar als Neuerfindung des Rades erscheint und insofern in den meisten institutionentheoretischen Betrachtungen kaum thematisiert wird, stellt sich anders den Verfechtern der rationalen Institutionentheorie dar, nämlich die Notwendigkeit einer Theorie des Staates.82 North begründet dies einerseits mit dem bereits genannten Geltungsproblem, das insbesondere für moderne Gesellschaften zuträfe, da deren wirtschaftlicher Erfolg eng mit komplexen, unpersönlichen Tauschvorgängen verknüpft ist: "Die Erzwingung durch Dritte ist nie ideal, nie vollkommen, und die Tauschpartner verwenden weiterhin maßlos große Mittel darauf, die Tauschbeziehungen zu personalisieren. Aber weder die Erzwingung der Vertragserfüllung durch die Partner selbst noch bloßes Vertrauen kann völlig erfolgreich sein. Nicht daß Ideologie oder Nonnen ohne Bedeutung wären, im Gegenteil; und ungeheure Summen werden auf den Versuch verwendet, Verhaltenskodizes in Geltung zu setzen. Gleichermaßen aber nehmen in hochentwickelten Gesellschaften die Gewinne zu, die sich aus Opportunismus, Schwindeln und Drückebergerei schlagen lassen. Ein mit Zwangsgewalt ausgestatteter Dritter ist unerläßlich. Man kann die Produktivität
"
Vgl. Ostrom 1990.
10
Vgl. Keck 1995, 199ff. Dies bedeutet auch, daß die Unterscheidung der beiden Typen nicht mit der Unterscheidung national-international zusammenfällt: Je mehr in differenzierten Gesellschaften politische Steuerung erschwert und eine gewisse Selbststeuerung gesellschaftlicher Funktionssysteme erforderlich wird, desto mehr gibt es institutionelle Arrangements, in denen der Staat weniger Erzwinger denn Partner unter mehreren ist (vgl. Mayntz/Schaipf 1995).
"
Vgl. Keck 1995, 199. Doch auch die anderen Fälle sind keineswegs derart 'staatsfrei', wie es zunächst scheint bzw. behauptet wird. So kann Ostroms Argumentation, daß die Kollektivprobleme bestimmter GemeinschaftsgUter effektiv durch Selbstregierung zu lösen sind, auch als Modell der Staatsbegrllndung verstanden werden (vgl. ebd., 212). Und selbst im Hinblick auf internationale Regime als klassischem Beispiel spontaner und selbsttragender Institutionen gibt es gute Grtlnde, mit denen man die rein interne Geltung dieser Institutionen zumindest anzweifeln kann. Verwiesen sei hier nur auf die These der 'hegemonialen Stabilität', die im Kern besagt, daß Schaffung und Aufrechterhaltung von kooperationsfördemden Institutionen von 'Herrschaft' abhängen (vgl. Keohane 1984). Allerdings ist die Hegemonialthese ihrerseits heftig bezweifelt worden. Tatsächlich haben viele Institutionen das Ende etwa des Ost-West-Konflikts überlebt, was nicht zuletzt der Eigenart von Institutionen zugeschrieben wird (vgl. Gehring 1995).
K
Vgl. Keck 1995, 199.
48
einer modernen wohlhabenden Gesellschaft nicht im Zustand politischer Anarchie erreichen." 8 3
Andererseits fugt North, der sich explizit mit dem historischen Wandel von Institutionen und Wirtschaftsleistung beschäftigt, zu den systematischen Gründen noch ein historisches Argument hinzu: Formale Institutionen - hier im Sinne der Struktur der Verfiigungsrechte, die die positiven und negativen Anreizsysteme sowie die Vermögens- und Einkommensverteilung einer Gesellschaft bestimmen - wurden demnach in der Geschichte von staatlicher Seite spezifiziert und garantiert.84 North weist hierbei den politischen Regeln, die die Struktur des politischen Systems bestimmen, eine eindeutige Priorität gegenüber den wirtschaftlichen Regeln zu, auch wenn die Ordnung der wirtschaftlichen Interessen ihrerseits Einfluß auf die politische Ordnung nimmt.85 Obwohl North auf große geschichtliche Zeiträume abhebt, besitzt dieser Modus bis heute Relevanz, wie im Anschluß an das Staatsverständnis gezeigt wird. An dieser Stelle ist es nützlich, sich an die grundlegende Staatsbestimmung von Max Weber und Hermann Heller zu erinnern, und d.h. hier zunächst: Der Staat ist (organisierte) Herrschaft und (ordnende) Organisation.86 Webers klassische Definition lautet: "Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchfuhrung der Ordnungen in Anspruch nimmt."87 Unter Ordnungen versteht Weber in diesem Kontext rationale, also planvoll gesatzte Ordnungen, die dem hier verwendeten Verständnis formaler Institutionen entsprechen.88 Anders als bei Weber werden hier als Ordnungen lediglich die Basisinstitutionen bezeichnet. Es besteht jedoch soweit Übereinstimmung mit Weber, als das, was er mit Verwaltungsordnung bezeichnet, in etwa der politischen Ordnung gleichkommt, während Wirtschafts- und Wohlfahrtsordnung Regulierungsordnungen im Sinne Webers darstellen.89 Die politische Ordnung beinhaltet somit die grundlegenden politischen Spielregeln und bezeichnet, da Staat 'Herrschaft' bedeutet, die Herrschaftsform einer Gesellschaft. Allerdings sind auch die übrigen Ordnungen, da sie staatlicherseits garantiert ('durchgeführt') werden, Ausdruck von Herrschaft, indem sie in spezifischer Weise die 'restlichen' sozialen Beziehungen regeln (soweit sie das tun). Im Unterschied zur Herrschaftsform werden sie hier als Herrschaftsverhältnisse bezeichnet. Vereinfacht man die Webersche Begrifflichkeit, so ist der Staat demnach eine
"
North 1992,41f.
u
Vgl. North 1988, 20ff.
"
Vgl. North 1992, 58.
"
Vgl. Heller 1971a, 23.
"
Weber 1984,91 (Herv. i.O.).
"
Vgl. Weber 1984,54ff, 84ff.
"
Vgl. ebd., 86; die Verwaltungsordnung regelt das Handeln des Verbandes (i.e. hier: des Staates), wahrend eine Reguliemngsordnung "anderes soziales Handeln regelt und die durch diese Regelung eröffneten Chancen den Handelnden garantiert" (ebd.).
49
politische Organisation, die die formalen Institutionen (letztlich) mit Hilfe des Gewaltmonopols garantiert.90 Deutlicher wird die Verknüpfung von Staats- und Institutionentheorie gleichwohl von North vorgenommen, indem er seine 'neoklassische' Theorie des Staates explizit in die institutionentheoretische Betrachtung wirtschaftlichen Wandels einbezieht. Er zielt damit auf den Umstand ab, daß institutionelle Anreizstrukturen historisch bzw. nach Gesellschaften divergieren und auch trotz augenscheinlicher Ineffizienz beibehalten werden. Eine wesentliche Ursache sieht North darin, daß diese Arrangements letztlich aus Herrschaftsinteressen bzw. aus Nutzenkalkülen des Herrschers - entstehen und deshalb auch aufrechterhalten werden. Aus dem spezifischen Blickwinkel des Verfügungsrechteansatzes versteht North den Staat als eine mit dem 'komparativen Vorteil' der Gewaltanwendung ausgestattete Organisation innerhalb eines Gebietes, die aufgrund dieses Vorteils diese Verfügungsrechte spezifizieren und durchsetzen kann. Dabei verhält sich der Staat wie ein 'diskriminierender Monopolist', indem er zwischen verschiedenen Gruppen von Staatsangehörigen unterscheidet und die Verfügungsrechte für sie so festsetzt, daß sein eigener Nutzen maximiert wird. Die Stabilität der Arrangements wird zum einen dadurch gestützt, daß einmal etablierte Institutionen auch bei 'objektiver' Ineffizienz subjektive Sicherheit für Transaktionen aller Art bieten und die Akteure ihre Handlungsstrategien dauerhaft darauf einrichten; und zum andern, daß privilegierte Gruppen ein Eigeninteresse an ihrem Bestand haben. Da kollektives Handeln Kosten mit sich bringt, besteht somit wenig Anreiz für die übrigen (nicht-staatlichen) Akteure, über das Tätigwerden großer Gruppen auf eine Änderung der Institutionen hinzuwirken.91 Was North zunächst an einem einfachen Modell (ein wohlfahrts- und nutzenmaximierender Herrscher sowie die 'Untertanen') entwickelt, wird durch die Ausweitung auf Verhältnisse, die demokratischen Rechtsstaaten entsprechen, komplexer und in der Modellierung komplizierter.92 North argumentiert hier im Sinne der public-choice-Theorie, indem er die einfache Beziehung zwischen 'Herrscher' und Staatsangehörigen auflöst in multiple Beziehungsgeflechte und Transaktionen zwischen einer Vielfalt von Interessengruppen und Repräsentanten, die gleichwohl ihren individuellen Nutzen maximieren. Auch wenn zusätzlich von einer viel stärker differenzierten institutionellen Ordnung auszugehen ist, ändert sich doch am grundlegenden Sachverhalt wenig: Der Staat ist der Urheber und Garant der formalen Institutionen (gesellschaftliche Spielregeln), die aufgrund der Erwartungssicherheit die notwendige Bedingung für wirtschaftlichen Wohlstand sind. Allerdings bedingt die politische Logik (Machterwerb w
"
50
Einige Ausführungen Göhlers weisen in eine ähnliche Richtung, doch bleibt er auf halbem Wege stehen. Im Versuch, das Wesen politischer Institutionen - im Kontrast zu sozialen Institutionen allgemein - zu bestimmen, greift er zwar auch auf Weber und Heller zurück, doch bestimmt er das Politische daran letztlich aus dem Politikbegriff und nicht aus den staatstheoretischen Implikationen - was meiner Ansicht nach hier der einzig mögliche Weg ist (vgl. Göhler 1995b, 26f.). Vgl. North 1988,20fT. Vgl. North 1992,61 f.
und Machtsicherung), daß auch ineffiziente Institutionen aufrechterhalten werden - was nach North zusammen die unterschiedlichen Wirtschaftsleistungen von Gesellschaften erklärt. Im Hinblick auf die für eine Institutionenanalyse unverzichtbare Frage nach der Rolle des Staates läßt sich nun aus beiden Ansätzen Nutzen ziehen. Der Vorteil der Weberschen Staatsbestimmung liegt zunächst darin, daß sie politikwissenschaftliches Denken wenn nicht explizit angeleitet, so doch imprägniert hat. Sie läßt sich deshalb politikwissenschaftlich fast problemlos aufgreifen, wie nicht zuletzt Göhler oder - im Kontext der Transitionsforschung - Linz und Stepan zeigen.'3 Des weiteren ist sie im Gegensatz zu zahlreichen Arbeiten im Umfeld der 'Brittging the State back in '-Diskussion hinreichend präzise und stellt eine klare Beziehung zwischen Staat und Institutionen her. Ein Nachteil liegt gewiß darin, daß Webers 'Verwaltungsstab' noch zu sehr einen einheitlichen Akteur suggeriert und zudem nicht erkennbar wird, welche Interessen und Optionen er in die Gestaltung von Institutionen einbringt. Dies bringt North aus seinem Blickwinkel und insbesondere bereits im Hinblick auf Institutionen präziser auf den Punkt, wenngleich er - vom einfachen Modell des Herrschers ausgehend - den 'Staat' zu sehr in eigeninteressierte Akteure auflöst und dabei das Organisationsspezifische einer politischen Ordnung aus dem Blick verliert. Trotz der auch anderweitig bestehenden, vor allem methodologischen Divergenzen lassen sich aber auf der Grundlage des skizzierten Minimalkonsenses mehrere Ebenen unterscheiden, auf denen der Staat für die Institutionenanalyse eine zentrale Rolle spielt: 1. Der Aspekt der Herrschaftssicherung ist vielleicht trivial, aber grundlegend: Ohne gesicherte Herrschaft, d.h. die Monopolisierung und Domestizierung der Gewalt innerhalb eines bestimmten Territoriums, besteht für keinen Akteur Interesse an der Errichtung von Institutionen, wie bereits Hobbes grundlegend zeigte. Die oben genannten Möglichkeiten der internen Begründung und 'Selbststabilisierung' setzen dies stillschweigend voraus. Wo umgekehrt eine bestehende Herrschaftsordnung instabil wird oder zusammenbricht, können auch die bestehenden formalen Institutionen nicht mehr funktionieren und werden durch informelle bzw. archaische Formen der 'Kooperation' ersetzt. Dies betrifft die politische Ordnung quasi per definitionem und die übrigen formalen Institutionen nachfolgend, wenn Schutz und Rechtssicherheit nicht mehr gewährleistet werden können.94 2. Die Domestizierung der Gewalt alleine schafft jedoch keine stabilen Institutionen, sondern bietet bestenfalls die Voraussetzungen für deren Bildung, die nach North im staatlichen Eigeninteresse erfolgt (im einfachen Modell ist der Herrscher alleiniger Urheber, in komplexeren Verhältnissen ist es das durch Entscheidungs- und Aggregationsregeln selegierte Interesse der Politiker innerhalb der Organisation 'Staat'). In modernen Gesellschaften gilt dies insbesondere für institutionelle Innovationen, d.h. grundlegende Veränderungen von Insti"
Vgl. Göhler 1995b, 26f.; Linz/Stepan 1996, !6ff.
"
Vgl. North 1992,40.
51
tutionengefügen. Allerdings wirkt sich die Herrschaftsform - wie die 'Offenheit' der politischen Ordnung - auf die Institutionenbildung aus, indem etwa die Zulassung weiterer Akteure die Entscheidungsprozesse verändert. Schließlich gilt analog zu der These, daß erst stabile Herrschaft die Voraussetzungen für Institutionen schafft, daß die jeweilige Legitimationsform Auswirkungen auf den Modus der Institutionenbildung hat. 3. Zudem ist der Staat für die 'Durchführung' der Ordnungen verantwortlich, d.h. über die Ausbildung eines Rechtssystems und entsprechender Sanktionen wie rudimentär auch immer - garantiert er die entstandenen Institutionen. Nach North ist dies Teil des Vertrags zwischen Staatsangehörigen und Herrscher, der im Tausch für Einnahmen staatlichen Schutz (des Lebens und der Verfügungsrechte) gewährleistet. Darauf zielt auch Norths Argument, daß die Produktivität einer modernen wohlhabenden Gesellschaft nicht im Zustand politischer Anarchie zu erreichen ist. Die Durchsetzung setzt eine entsprechende Handlungskapazität der damit befaßten staatlichen Organe voraus. 4. Dabei ist 'der Staat' als Akteur und Arena zugleich zu verstehen. Zunächst ist es zweifelsohne simplifizierend, 'dem Staat' bestimmte Optionen oder Handlungen zuzuschreiben; Urheber formaler Institutionen ist 'der Staat' noch am ehesten, wenn ein einfaches Modell zugrunde gelegt wird (ein Herrscher), wie oben mit North gezeigt. Für moderne Gesellschaften gilt zwar noch immer, daß dem Staat als Organisation eine Qualität als korporativer Akteur zugeschrieben werden kann, doch ist diese Zuschreibung bestenfalls mit Blick auf das internationale System sinnvoll. Aufgrund der internen organisatorischen Ausdifferenzierung in die diversen Staatsapparate - oder systemtheoretisch gewendet: der Binnendifferenzierung des politischen Systems im Zuge gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse - ist der 'Akteur' Staat jedoch komplexer geworden, so daß zumeist pars pro toto argumentiert wird, wenn etwa die Regierung gemeint ist. Umgekehrt nutzt es wenig, das 'staatliche Akteurssystem' oder auch Einzelorganisationen wie die Regierung in eigeninteressierte Akteure aufzulösen, wie dies die public-choice-Theorie tut. Denn die institutionellen Arrangements, innerhalb derer staatliche (Einzel-)Akteure handeln, sind in weiten Teilen von einem geringen Permissionsgrad geprägt und weisen ihnen somit relativ eng umschriebene Rollen zu. Ihr Eigeninteresse verfolgen sie also als Rollenträger innerhalb der Organisation 'Staat'. Aufgrund dessen Entwicklung hin zu einem komplexen Gefuge aus institutionellen Regelungen, Organisationen und Rollen ergeben sich zahlreiche offizielle und nicht-offizielle Einflußmöglichkeiten auf die darin Handelnden. Der Staat als Organisation bzw. Teile davon (Parlament, Regierung etc.) bieten somit für interne wie externe Akteure eine 'Arena' für Formulierung und Bearbeitung von Interessen. Politische Entscheidungen - wie eben die Einsetzung oder Änderung von Institutionen - werden abhängig von einem komplexen Problemverarbeitungsprozeß, dessen formale Struktur institutionell durch die politische Ordnung bestimmt wird. 5. Im Hinblick auf die Steuerungsfunktion von Institutionen haben die vorangegangenen Ausführungen insofern Bedeutung, als nur bei einem einfachen 52
Herrschaftsmodell 'der Staat' als Steuerungsakteur verstanden werden kann. In modernen Gesellschaften, in denen Institutionen das Ergebnis komplexer politischer Entscheidungsprozesse sind und somit den 'Filter' des politischen Problemverarbeitungsprozesses durchlaufen, ist ein solcher Steuerungsakteur nicht mehr ex ante zu verorten. Vielmehr ist staatliche Steuerung über Institutionen hier einerseits ein 'unpersönlicher' Prozeß, indem dieser Filter zwar eine staatliche Organisationsleistung darstellt, durch den viele Handlungsalternativen ausgeschaltet werden, aber selbst keine intentionalen Aspekte beisteuert. So ist es andererseits dann eine Frage der Position staatlicher Akteure (wie z.B. der Regierung), inwiefern Steuerung auch als staatliche Handlung verstanden werden kann. Diese Position hängt wiederum von institutionellen Arrangements und Rollenzuweisungen ab, aber auch von der Fähigkeit, diesen Prozeß zu gestalten und hierfür Ressourcen zu mobilisieren. Wie die politische Praxis nicht nur westlicher Industriegesellschaften zeigt, können sich hier auch Formen nichthierarchischer Steuerung (insbesondere auf der Mesoebene) ergeben.95 6. Die genannten Punkte verwiesen implizit bereits darauf, daß der politischen Ordnung eine besondere Stellung gegenüber den übrigen Ordnungen zukommt, oder anders gewandt: Als formale Institutionen sind Wirtschafts- und Wohlfahrtsordnung Resultat von Entscheidungen, die auf politischer Ebene getroffen werden und somit von den Regeln der politischen Ordnung abhängen. Die Konsequenzen daraus für Transformationsphasen, in denen die politische Ordnung selbst als instabil anzusehen ist, werden unten näher beleuchtet. Entscheidend ist in diesem Kontext die Annahme, daß sich unterschiedliche politische Ordnungen ('Regime') auch verschieden auf die Gestalt der übrigen formalen Institutionen auswirken, und d.h.: Je personalisierter eine Herrschaft, desto ungefilterter die individuellen Eigeninteressen der Herrschenden bzw. desto ausgeprägter das rule of man gegenüber dem rule of law. Auch steht zu erwarten, daß autoritäre Regierungen aufgrund ihrer spezifischen Legitimationserfordernisse relativ ungefiltert solche Institutionen spezifizieren, die ihren Machterhalt sichern.96
3.2 Institutionenbildung Gestalt und Verlauf von Transformationsprozessen sind wesentlich dadurch charakterisiert, daß alte Institutionen oder Institutionengefüge brüchig, funktionslos oder schlicht destruiert werden und sich statt dessen neue herausbilden. Institutionen werden - dem Ansatz gemäß - nicht als Ergebnis evolutionärer Entwicklung interpretiert und als gegeben genommen, sondern als absichtsvoll gestaltet und durch das Handeln angebbarer Akteure veränderbar.97 Die Bildung von Institutionen wird dabei als ein Prozeß angesehen, der im wesentlichen "
Vgl. Mayntz 1996, 155ff.; Messner 1995.
*
Vgl. auch Pritzl 1996.
"
Vgl. Mayntz/Scharpf 1995,45.
53
zwei grundlegende Aspekte beinhaltet: Aus akteursorientierter Perspektive sind Institutionen das Resultat eines Entscheidungsprozesses, in dem bestimmte Akteure im Rahmen einer spezifischen Handlungssituation über Aufbau (oder Abbau bzw. Änderung) einer Regelkonfiguration und deren Gestalt befinden. Daneben ist aber auch eine mehr phänomenologische Perspektive einzubeziehen, die Auskunft über die symbolische Seite der Institutionenbildung gibt. Wie Lepsius zeigt, bedeutet Institutionalisierung einen Prozeß, in dem Leitideen (wie 'Markt', 'Demokratie' u.ä.) über die Spezifizierung von Rationalitätskriterien für bestimmte Handlungskontexte konkretisiert und anschließend durchgesetzt werden. Im Rahmen der hier verwendeten Begrifflichkeit und fiir den Kontext formaler Institutionen heißt dies, daß Institutionenbildung im Sinne der Auskristallisierung einer Regelkonfiguration auch eine ideologische Komponente beinhaltet, die gleichwohl akteursbezogen zu analysieren ist. Zusammen mit den zuvor begründeten Faktoren ergeben sich daraus die wesentlichen Variablen, die für eine Analyse jeglicher Institutionenbildung vonnöten sind und in zwei Klassen gruppiert werden können: erstens die Kontextvariablen, die zusammen die Handlungssituation der Institutionenwahl bestimmen; und zweitens die Akteursvariablen, die die Positionen, Optionen und Ressourcen der Akteure betreffen und damit die Akteurs- und Interessenkonstellationen bestimmen. (1) Kontextvariablen Die Kontextvariablen bestimmen die Handlungssituation, in der die relevanten Akteure über die Gestalt von Institutionen entscheiden. Diese Situationen können recht verschiedene Ausprägungen annehmen und geben so unterschiedliche Handlungs- und Entscheidungskorridore vor. Als die wesentlichen Variablen werden hier angesehen: 1. Problemkonstellation: Handlungssituationen divergieren zunächst danach, welche Funktionsprobleme und damit welcher Handlungs- oder Steuerungsbedarf in einem Politikbereich bestehen. Diese Problemlagen sind historisch gewachsen, d.h. für den Entscheidungsspielraum der Akteure spielt die Pfadabhängigkeit einer gegebenen Handlungssituation eine wichtige Rolle. Sie ergibt sich aufgrund früherer Entscheidungen und verfestigter Handlungsabläufe, die selbst institutionell geprägt sind. Je nach Ausmaß dieser Funktionsprobleme (Störungen, partielle oder umfassende Krisen) sind Akteursinteressen mehr oder weniger grundlegend berührt und fordern unterschiedliche Handlungsstrategien bzw. Lösungsansätze heraus, was bis zur Destruktion und Ersetzung ganzer institutioneller Arrangements fuhren kann (wenngleich in der Realität solche 'Revolutionen' eher die Ausnahme darstellen). Gleichwohl determinieren bestimmte Problemkonstellationen aber noch keine Reformstrategie, da diese von der Perzeption der Akteure (Definition der Handlungssituation) und ihren Handlungsressourcen abhängig bleibt. 2. Staat (Herrschaft): Wie die Ausführungen zum Verhältnis Staat-Institutionen zeigten, stellt gesicherte 'Staatlichkeit' eine unhintergehbare, notwendige 54
Bedingung für das Zustandekommen und Funktionieren formaler Institutionen dar. Was in westlichen Industriegesellschaften aufgrund langer Stabilitäts- und Prosperitätsphasen kaum problematisch erscheint, hat in Ländern, die sich in einer Phase politischer Transformation befinden, eine hohe Bedeutung: Da solche Phasen den Wandel der politischen Ordnung und damit der Herrschaftsform beinhalten, ist die Herrschaft für einen bestimmten Zeitraum mehr oder weniger ungesichert bzw. bedarf der Stabilisierung. Handlungssituationen werden dadurch in dreierlei Hinsicht beeinflußt: Erstens besteht Unsicherheit über die Autorisierung und Entscheidungsbefugnis der beteiligten Akteure. Zweitens beeinflußt eine ungesicherte Staatlichkeit die Erwartungen darüber, ob einmal getroffene institutionelle Regelungen auch durchgesetzt werden können, d.h. neben der Unsicherheit fließt auch eine Unsicherheitserwartung ein. Drittens schließlich wirkt sie sich auf die Strategien der staatlichen Akteure aus - jedenfalls derer, die sich neben der 'Sachentscheidung' zusätzlich um Stabilisierung und Legitimierung kümmern müssen. Wo implizit oder explizit die Herrschaftsfrage eine Rolle spielt, also die Herrschaftsform umstritten oder ungefestigt bleibt, ist davon grundlegend jegliche Art der Erwartungssicherheit betroffen. Dieser Faktor spielt um so mehr eine Rolle, je ungesicherter die verschiedenen Elemente der Staatlichkeit sind (Herrschaftsform, Legitimation, Gewaltmonopol, Rechtsstaatlichkeit, Bürokratie). Auch hier gilt die qualitative Differenz zwischen politischer Ordnung und Wirtschafts- bzw. Wohlfahrtsordnung. Diese Thesen implizieren nicht, daß überhaupt keine Versuche des institution building unternommen werden - behauptet wird lediglich, daß die jeweiligen Handlungssituationen unterschiedlich geprägt sind und sich so auf die resultierenden Institutionen auswirken. 3. Politische Ordnung: Der Typ der politischen Ordnung - sofern als Institutionengefüge (Herrschaftsform) relativ gefestigt - bestimmt, wie Entscheidungsprozesse und damit der gesamte politische Problemverarbeitungsprozeß formal organisiert sind. Er legt damit die Handlungskorridore fest, die enger oder weiter gefaßt sein können, ohne allerdings Entscheidungen zu präjudizieren.98 Entsprechend unterscheiden sich die Handlungssituationen im Hinblick auf die zugelassenen Akteure und ihre Positionen, die zulässigen Verfahren, die anwendbaren Mittel, wer das 'letzte Wort' hat, die Umsetzungsmodalitäten etc. Die politische Ordnung ist damit auch ein entscheidender Faktor für die Wahrscheinlichkeit, daß die aus solchen Entscheidungsprozessen hervorgehenden Institutionen (der Wirtschafts- und Wohlfahrtsordnung, aber ebenso bei Reformen der politischen Ordnung) selbst auch als legitim angesehen werden.99 Einen besonderen Fall stellen allerdings Entscheidungen dar, in denen implizit oder explizit die Herrschaftsfrage gestellt wird, die also die politisch-konstitutionelle Entscheidungsebene betreffen. Dies ist typischerweise in den bekannten Tran"
Die tatsachliche Gestalt der Entscheidungs- und Problemverarbeitungsprozesse ergibt sich erst aus dem Zusammenhandeln der Akteure.
99
Dies muß nicht notwendig so sein, denn auch zunächst 'illegitime', durch Zwang stabilisierte Institutionen können - etwa bei effektivem Funktionieren - später akzeptiert oder als legitim angesehen werden.
55
sitionen der Fall, in denen die gemeinsamen politischen Spielregeln unklar bzw. umstritten sind (und sich somit auch die Handlungskorridore für die übrige Institutionenpolitik verändern). In einer solchen Situation ist der weitere Verlauf wesentlich davon abhängig, ob ein Teil der Akteure die Situation als Nullsummenspiel wahrnimmt. (2) Akteursvariablen Die Akteursvariablen beziehen sich zum einen auf die (einzelnen) Akteure selbst und zum andern auf die Konstellation(en) der jeweils relevanten Akteure. Hinsichtlich der einzelnen Akteure gelten als relevante Faktoren ihre Handlungsorientierung (Optionen), ihre verfügbaren Ressourcen sowie ihre Perzeption der Handlungssituation (was auch die Einschätzung der eigenen Ressourcen betrifft), die zusammen ihre jeweilige Strategie bestimmen. Die derart unterschiedlich ausgestatteten Akteure bilden zusammen die jeweils relevante Akteurskonstellation, die je nach issue und Kontext eine völlig unterschiedliche Gestalt annehmen kann. Hier spielen so offensichtliche bzw. triviale Aspekte wie die Zahl der Akteure oder eventuelle Koalitionen eine Rolle. Hervorzuheben sind von diesen Faktoren die Position der staatlichen Akteure, die Konfliktstruktur der Akteurskonstellation sowie der Faktor 'Ideologie'. 1. Position der staatlichen Akteure: Aus den Ausführungen zum Verhältnis Staat und Institutionen sowie zur Kontextvariable 'Staatlichkeit' ergibt sich, daß die Position der staatlichen Akteure bei der Bildung der hier anvisierten formalen Institutionen eine zentrale Variable darstellt. Gerade weil der zugrundeliegende Ansatz keine staatsfixierte Perspektive impliziert, sondern jeweils offen für das gesamte Akteurssystem ist, ist von Bedeutung, inwiefern und wie stark über die Optionen staatlicher Akteure auch eine staatliche Funktionslogik ('Gemeinwohl', längerfristige Perspektiven, oder schlicht: Herrschaftsinteressen) einfließt. Gewöhnlich - so die Annahme - sind die staatlichen Akteure (in erster Linie des Exekutivkomplexes aus Regierung und leitender Verwaltung, aber auch des Parlaments) in den betreffenden Entscheidungsprozessen, in denen sie maßgebliche oder auch zentrale gatekeeper autoritativer Entscheidungen darstellen, strukturell privilegiert. Umgekehrt schwächt sich gewöhnlich die Position, wenn die politische Ordnung grundlegend berührt ist, wie im Falle politischer Transitionen. Doch auch im Fall der strukturellen Privilegierung kann die Position beträchtlich variieren, d.h. die staatlichen Akteure und damit die 'Staatslogik' können in den betreffenden Handlungssituationen unterschiedlich dominant sein, was sich auch in der Gestalt der resultierenden Institutionen ausdrückt. Dies ist abhängig von mehreren Faktoren, die über die kontextspezifischen Attribute hinaus als akteursspezifisch zu bezeichnen sind und unter die Kategorie Handlungskapazität gefaßt werden können: Erstens betrifft dies den Aspekt der 'Autonomie', d.h. die Frage, inwiefern (und in welchem Umfang und Ausmaß) die staatlichen Entscheidungsträger von partikularen gesellschaftlichen Interessen beeinflußbar sind oder ob sie sich umgekehrt davon abschotten - u.U. bis 56
zur 'Blindheit' gegenüber gesellschaftlichen Tendenzen.100 Zweitens spielt eine Rolle, ob oder inwiefern eine 'strategische Staatselite' vorhanden ist, d.h. innerhalb des für Entscheidungen relevanten Staatssektors eine Gruppe strategischer Akteure, die insbesondere für Reformen einen mehr oder weniger gemeinsamen Gestaltungswillen und entsprechende interne Durchsetzungskraft besitzen.101 Ihre Stärke ist abhängig von ihrer Kohärenz sowie vom Vorhandensein einer kohärenten oder zumindest hinreichend expliziten, aber alternativlosen Steuerungsideologie, die als regulative Idee staatlichen Handelns dienen kann. Weiterhin bleibt es - auch unabhängig von der Ausprägung der Position - ein entscheidender Faktor, welches 'Eigeninteresse' die staatlichen Akteure verfolgen. Damit ist hier nicht gemeint, daß sie als Politiker - wie im Verständnis des public-choice-Ainsatzes - rationale Nutzenmaximierer gemäß ihrem individuellen Eigeninteresse sind. Vielmehr zielt es auf ihre Eigenschaft als Rollenträger, also auf die Frage, inwiefern sie auf gemeinsame politisch-strategische Ziele ('Staatsziele') verpflichtet sind bzw. verpflichtet werden können. Schließlich hängt die Handlungskapazität selbstverständlich davon ab, welche weiteren Ressourcen verfügbar sind. Sowohl für die Handlungskapazität als auch ein 'homogenes' Eigeninteresse ist entscheidend, daß der Staatsapparat ausreichend operativ und hierarchisch geordnet ist, was auch davon abhängt, ob Teile verselbständigt sind wie etwa das Militär. 2. Akteurskonstellation und Konfliktstruktur: Auch wenn den staatlichen Akteuren eine besondere Rolle zugeschrieben wird, heißt dies nicht, daß die Entscheidungen über Institutionen prinzipiell oder strikt hierarchischer Natur sind, also ausschließlich autoritativer Setzung entspringen. Vielmehr geht der akteurszentrierte Ansatz davon aus, daß jeweils eine spezifische Akteurskonstellation zugrunde liegt, die allerdings enger oder weiter gefaßt sein kann. Dies ist zwar wesentlich abhängig von der politischen Ordnung und damit von der Offenheit des politischen Problemverarbeitungsprozesses, doch werden auch in autoritären Staaten politische Entscheidungen nicht generell 'einsam' (von einem Akteur oder einer homogenen Instanz) getroffen, d.h.: Für die Gestalt von Institutionen spielt es eine Rolle, ob ein Akteur seine Option ohne Gegengewicht durchsetzen kann oder unterschiedliche Optionen koordiniert werden (müssen). Dies gilt um so mehr, je grundlegender die zu treffenden Entscheidungen sind, je mehr davon (vermutlich) die eigene Legitimation der Herrschaftsträger betroffen ist oder je mehr mit internen wie externen Widersprüchen zu rechnen ist. Nicht zuletzt spielt hier also auch die Frage der staatlichen Autonomie eine Rolle. Ein entscheidender Faktor für die Bildung von Institutionen ist damit das in der betreffenden Akteurskonstellation vorherrschende Interaktions- und Konfliktmuster, d.h. die Frage, welcher Koordinierungsmechanismus im Hinblick 100
Damit sei darauf verwiesen, daß staatliche Autonomie sowohl zu groß als auch zu klein sein kann, d.h. der Staat einerseits die gesellschaftlichen Kräfte an den Rand drangen, andererseits aber auch deren Spielball sein kann (vgl. Rueschemeyer et al. 1992,66; Weiss/Hobson 1995,2ff.).
101
Zum Konzept der strategischen Staatselite vgl. Stepan 1978.
57
auf die zu treffenden Entscheidungen dominiert. Mit anderen Worten: Auch bei identischen Akteuren können die resultierenden Institutionen verschieden sein, je nachdem, ob ein mehr hierarchischer oder ein mehr verhandlungsorientierter Modus vorliegt. Dies ist - neben der Struktur der Präferenzverteilung - insbesondere davon abhängig, wie die Akteure die Situation und ihre Ressourcen wahrnehmen. Auch konfliktträchtige Situationen können durch Perzeptionsbeeinflussung und bargaining gemildert werden. Im Kern geht es darum, ob Nullsummen- oder Nicht-Nullsummenspiele stattfinden. 3. Ideologie: Für die Bildung von Institutionen sind Ideologien deshalb von Bedeutung, da sie gewissermaßen ein Leitbild für die 'Institutionenpolitik' abgeben (wie z.B. 'Neoliberalismus', 'systemische Wettbewerbsfähigkeit', 'Demokratie' etc.). Dies ist zum einen da von Bedeutung, wo es um Alternativen zu etablierten Mustern und insbesondere um die Änderung gesamter Arrangements geht: Eine Ideologie, die wenig kohärent, unglaubwürdig oder 'abgenutzt' ist, kann sich nicht durchsetzen (außer bei ihren Vertretern). Zum anderen gewinnen Ideologien um so mehr an Bedeutung, je mehr in Entscheidungsverfahren diskursive Begründungen eine Rolle spielen. Dies ist zwar abhängig von der politischen Ordnung, spielt aber auch in autoritären Ordnungen eine Rolle, wenn unter den Herrschaftsträgern über die Gestaltungsoptionen Dissens besteht. Berücksichtigt man schließlich die Aspekte Staat (bzw. Position der staatlichen Akteure) und Steuerung, so ist für die Institutionenbildung vor allem die Steuerungsideologie der staatlichen Akteure relevant. Abb. 3: Kontext- und Akteursvariablen der Institutionenbildung
Staat Politische Ordnung ProMem-'Pfad'
llandlungssituation
Optionen Akteurskonstellation
Ideologie
Perzeption Ressourcen
Akteure
Wie die Ausfuhrungen zum Verhältnis Staat-Institutionen zeigten, wird die Geltung formaler Institutionen durch das Rechtssystem und damit letztlich durch das staatliche Gewaltmonopol garantiert bzw. erzwungen. Wie die Skizze der Kontext- und Akteursvariablen zeigt, gilt ähnliches nun auch für die Schaffung bzw. Bildung von Institutionen, auch wenn theoretisch - wie oben gezeigt - andere Entstehungsmodi in Frage kommen. Die genannten Faktoren spielen im Regelfall bei der Konstruktion formaler Institutionen eine Rolle. Einen Sonderfall stellen jedoch Situationen dar, in denen die Konstruktion oder Verände58
rung politischer Institutionen ansteht, da hier die politischen Akteure über sich selbst entscheiden und insofern die Neigung zur logic of consequentiality größer ist. Solche Fälle sind insbesondere in Transitionsphasen vorzufinden, in denen die relevanten politischen Akteure über die eigenen, oft in der unmittelbaren Zukunft wirksamen Spielregeln befinden.102
3.3 Institutioneller Wandel Der Wandel von Institutionen interessiert hier unter zwei Aspekten: Zum einen meint er die intentionale Veränderung von Regelkonfigurationen, die partiell (Reformen) oder vollständig ('revolutionär') sein kann. Zum anderen betrifft Wandel aber auch die in Kapitel 2.3 erläuterten Eigenschaften von Institutionen, d.h. ihre Stabilität, Legitimität und Effektivität. Dem hier verfolgten Ansatz entsprechend sind die Veränderungen dieser Eigenschaften eng mit dem Verhalten der Akteure verknüpft, für die diese Regeln gelten. Allerdings sind die Bedingungsfaktoren für Wandel bzw. Stabilität von Institutionen komplexer Natur: So spielen sowohl intentionale wie nicht-intentionale Faktoren genauso eine Rolle wie die sich wandelnden Umwelten bzw. sich änderndes Akteursverhalten (ohne aber einfach eine vektorielle Aufrechnung dieses Wandels zu ergeben); es kann gradueller oder - besonders in Krisensituationen - abrupter Wandel auch ganzer Arrangements stattfinden.103 Für die Aspekte des intentionalen Wandels von Institutionen gelten zunächst dieselben Kategorien und Variablen, wie sie hinsichtlich der Institutionenbildung skizziert wurden. An dieser Stelle sind - im Hinblick auf die ökonomischen, sozialen und politischen Transformationsprozesse in Lateinamerika - zusätzlich die Bedingungen hervorzuheben, unter denen ein solcher Wandel partiell oder umfassend, inkrementalistisch oder abrupt erfolgt. Dies verweist auf einige strukturelle Bedingungen, die als Faktoren in die oben skizzierte Handlungssituation eingehen. Als entscheidend wird hier die Schwere einer Krise angesehen, die einen Teilbereich oder die gesamte Gesellschaft umfassen kann und somit die jeweiligen Akteure vor unterschiedlich radikale Handlungsalternativen stellt, wie sie in 'Schönwetterzeiten' so nicht aufkommen. Dies ist gewöhnlich damit verknüpft, daß die 'alten' Institutionen dysfunktional geworden sind. Für diese Dysfunktionalität ist allerdings kein objektiver Maßstab angebbar, da hierfür sowohl die Perzeption der Akteure als auch (gewandelte) Machtpositionen eine Rolle spielen. Abhängig von der Problemverarbeitungskapazität der Akteure bleiben somit jeweils unterschiedliche Pfade offen. Erleichtert werden intentionale Veränderungen - vor allem, wenn sie umfassender Natur sein sollen - dann, wenn eine 'starke' Steuerungsideologie vorliegt. Anders gelagert sind die Fälle des 'schleichenden' Wandels von Institutionen aufgrund von Veränderungen der Stabilität, Legitimität und Effektivität. Vgl.RUb 1994, l l g f f . 105
Vgl. March/Olsen 1989,166ff.
59
Was für den Wandel im Sinne eines Zerfalls der alten Institutionen zutrifft, der intentionalen Veränderungen in der Regel vorausgeht, gilt analog auch für die 'konstruktive' Seite, d.h.: Selbst wenn Institutionen per technokratischem Entwurf und autoritär gesetzt werden, können sie danach akzeptiert bzw. als legitim erachtet werden oder sie erweisen sich als effektiv.104 Obwohl hier im Vergleich zur Reform somit eher - und vielleicht in einem intuitiven Verständnis - ein nicht-intentionaler Wandel vorliegt, ist er am ehesten aus der Akteursperspektive und weniger aus 'systemischen Dysfunktionalitäten' zu erfassen. Hinsichtlich der Veränderbarkeit bzw. der Stabilität von Institutionen ist als weiterer Faktor auch deren relative Zählebigkeit zu berücksichtigen. Auch wenn man die oben angesprochene Perspektive der rationalen Institutionentheorie teilt, wonach die Nutzenerwägungen von Individuen die Triebkräfte von Institutionenbildung und -reform darstellen, so bedeutet dies gerade nicht, daß sie sich parallel zu Präferenz- oder Machtverschiebungen ändern. Vielmehr ist es erstens - in der Regel durchaus rational, auch an eventuell dysfunktional werdenden Institutionen festzuhalten, wenn die Perspektive ihrer Reform oder Abschaffung unkalkulierbare und damit höhere Kosten mit sich bringt. Dies dürfte auch eher den Regelfall darstellen.105 Auch setzen sich - zweitens - veränderte Machtkonstellationen nicht direkt in eine kongruente vektorielle Verschiebung der Institutionen oder Institutionengefüge um (z.B. eine Kräfteverschiebung zwischen Unternehmern und Gewerkschaften in eine entsprechende Veränderung der Wirtschaftsordnung), da respektive Forderungen in der Regel die Schleusen des politischen Problemverarbeitungsprozesses und damit spezifische Machtbarrieren passieren müssen. Insgesamt ist daraus der Schluß zu ziehen, daß Aufbau, Destruktion oder Reform von Institutionen dann um so wahrscheinlicher sind, je grundlegender eine im institutionellen Regelungsbereich liegende Krise ist; und weiterhin, daß die Reichweite solcher Rekonstruktionen um so größer ist - also gesamte Institutionen-Sets umfassen kann - je tiefgreifender sich eine Krise als gesellschaftliche ausweist. Liegen solche Situationen vor, so bedarf eine Neugestaltung eines hohen Maßes entweder an Konsens oder an Zwang. Wie rasch Institutionen aufgebaut und verändert werden können ist neben den genannten Faktoren im wesentlichen von der Strukturierung des zu passierenden politischen Filters und damit von der Frage der politischen Ordnung abhängig: Je autoritärer ein Staat, desto einfacher und schneller können Institutionen errichtet oder verändert werden; ob dies geschieht, ist gleichwohl an die Machtinteressen und -potentiale der Herrschaftsträger gebunden. In demokratischen Staaten gilt hingegen der aus der /W/cy-Forschung bekannte Inkrementalismus mit all seinen Konsequenzen.106 Anders verhält es sich hingegen mit dem hier interessierenden Aufbau stabiler und adäquater Institutionengefüge in modernen Gesellschaften, in 104
105 106
60
Als Beispiel mag hier der Verweis auf die Entwicklung der demokratischen politischen Ordnung in der BRD ('Verfassungspatriotismus') genügen. Vgl. Krasner 1984,235. Vgl. auch O'Donnell 1994b, 62.
denen die breite Legitimitätsbasis eine Rolle spielt: Autoritäre Regierungen sind in erster Linie am Machterhalt interessiert und verfehlen so dieses Ziel. Schließlich wird dem Argument von Linz und Stepan gefolgt, wonach eine Wirtschaftsund Wohlfahrtsordnung, in denen das Marktprinzip weitgehend umgesetzt ist, in der Regel wenig mit der Stabilisierung und Konsolidierung einer demokratischen Ordnung verträglich ist. Insbesondere macht es das Prinzip demokratischer Responsivität erforderlich, soziale Forderungen nicht zu ignorieren, sondern vielmehr Mechanismen des sozialen Ausgleichs zu errichten.107 3.4 Resümee und Thesen Bildung, Reform und Stabilisierung formaler Institutionen stellen Ausprägungen von Institutionenpolitik dar, bei der der Staat eine zentrale, jedoch nicht die alleine ausschlaggebende Rolle spielt. Die Konstruktion von Institutionen wird hier als Prozeß der Institutionenwahl begriffen, die letztlich aus einer spezifischen Entscheidungssituation resultiert. Ausschlaggebend für deren Konstellation und damit für die Gestalt der Institutionen ist zum einen ein Bündel von Kontextvariablen, das die Entscheidungskorridore für die beteiligten Akteure (mehr oder weniger) festlegt, und zum andern ein Bündel von Akteursvariablen, das die Interessen, Optionen und Ressourcen repräsentiert. Im Hinblick auf die Forschungsfrage nach der Institutionenbildung orientiert sich die Analyse an der folgenden, bewußt zugespitzten These: These 3: Autoritäre Regierungen sind nicht in der Lage, stabile und adäquate Institutionen zu errichten, da sie nahezu unbeschränkt ihr Eigeninteresse verfolgen, d.h. Institutionenbildung zu Legitimationsbeschaffung bzw. Machterhalt benutzen. Im Hinblick auf die Auswirkung des politischen Systemwechsels in Chile d.h. hier: vom Autoritarismus zur Demokratie - wird zunächst Bezug genommen auf die Problematik, daß Wirtschafts- und Wohlfahrtsordnung des alten Regimes Akzeptanz- und Legitimitätsdefizite aufweisen: These 4: Nach einem politischen Systemwechsel zur Demokratie ist die Funktionsfähigkeit von Wirtschaftsordnung und Wohlfahrtsordnung dann gewährleistet, wenn diese teils reformiert, teils neu legitimiert werden können. Im Hinblick auf die politische Ordnung ist die oben skizzierte sozioökonomische Ausrichtung des Vorgängerregimes von Bedeutung, das auf großer sozialer Exklusion beruhte und darauf auch hinwirkte: These 5: Stabilisierung und Konsolidierung der Demokratie in Chile sind davon abhängig, daß gleichzeitig Mechanismen sozialer Inklusion institutionalisiert werden.
107
Vgl. Linz/Stepan 1996,12f.
61
II. Institutioneller Wandel und Entwicklung im autoritären Staat (1973-1990) "Man kann keine narrensicheren Institutionen konstruieren." (K. Popper) "In Chile fällt kein Blatt von einem Baum gegen meinen Willen." (A. Pinochet)
Der Militärputsch vom 11. September 1973 leitete eine über 16 Jahre andauernde Phase autoritärer Herrschaft ein, an deren Ende sich die institutionelle Grundstruktur Chiles grundlegend gewandelt hatte. Verglichen mit anderen Ländern Lateinamerikas sind auf den ersten Blick zwei Aspekte hervorzuheben: Zum einen überraschten die Militärs ihre Zeitgenossen mit einer ungewöhnlichen Brutalität, übertroffen nur noch von der argentinischen Militärdiktatur ab 1976. Zum andern ist im Rückblick festzuhalten, daß Chile einen singulären Weg hin zu 'Marktwirtschaft' und 'Demokratie' verfolgte, indem die sozioökonomischen Strukturreformen bereits vor der Redemokratisierung im wesentlichen abgeschlossen waren.1 Gewöhnlich wird hierbei eine große staatliche Handlungskapazität, wie sie den chilenischen Militärs zur Verfügung stand, als notwendig für das Gelingen dieser Reformen angesehen. Mit der Ausnahme von Silva wird jedoch kaum thematisiert, daß diese hohe Handlungskapazität nicht nur Teil der Lösung, sondern auch Teil des Problems sein kann. Gntwicklungspfade und ihre change agents sind an gegebenen historischen Wendepunkten selten ohne Alternativen. Die folgende Analyse der politischen Dynamik institutionellen Wandels im Chile Pinochets versucht nicht nur zu zeigen, daß die Prozesse der Institutionenbildung uneinheitlich und risikovoll verliefen, sondern auch, daß aus institutioneller Perspektive keine optimalen Ergebnisse zustande kamen. Sie orientiert sich an der These, daß autoritäre Regierungen in erster Linie ihren eigenen Nutzen im Sinne des Machterhalts maximieren und deshalb erst in zweiter Linie an effizienten Institutionen interessiert sind. Das Leitmotiv bildet deshalb die skeptische Frage, ob autoritäre Regierun-
1
In den übrigen Reformländern finden diese Prozesse gleichzeitig statt (Argentinien, Brasilien, Osteuropa) oder in umgekehrter Sequenz (also neoliberale Reformen in etablierten demokratischen Strukturen: Venezuela, Costa Rica) (vgl. Lijphart/Waisman 1996,2350-
2
Vgl. Silva 1996,4ff.
63
gen Uberhaupt in der Lage sind, stabile und effiziente Institutionen zu errichten. Und wenn ja, welche Faktoren hierfür verantwortlich sind. Da es in dieser Analyse nicht darum geht, die Entwicklung der autoritären Herrschaft in ihren einzelnen Phasen nachzuzeichnen3, soll hier noch kurz auf die wichtigsten Phasen der Systementwicklung eingegangen werden: Wichtigster Phaseneinschnitt der Diktatur war die Wirtschaftskrise der Jahre 1982/83, denn sie löste nicht nur wichtige Modifizierungen und eine mehr pragmatische Ausgestaltung des 'Gründungsmodells' aus, sondern auch das Wiedereinsetzen zivilgesellschaftlicher und parteipolitischer Opposition sowie eine Modifizierung der Legitimationsbasis. Phase I (1973-1982) läßt sich auf mehreren Ebenen unterteilen. Zunächst standen bis 1975 vorwiegend Repression im Namen der Verteidigung der Nation (Doktrin der Nationalen Sicherheit) und wirtschaftliche Stabilisierung im Vordergrund. Ab 1975, mit der Inthronisierung der Chicago boys als strategischer Staatselite, nahm das 'Gründungsprojekt' Gestalt an, das Chile ökonomisch, politisch, gesellschaftlich und kulturell neu gestalten sollte ('Revolution von oben') und auch zur Institutionalisierung des autoritären Staates führte (Verfassung 1980). Ab 1982/83 folgte zunächst die Phase der Wirtschafts- und Legitimationskrise, ab 1985 die Phase der Re-Konsolidierung des Gründungsmodells und schließlich ab 1987/88 die Phase der Transition. Zum besseren Verständnis der Ausgangslage ist zuvor jedoch eine Skizze der unmittelbaren Vorgeschichte erforderlich. Sie konzentriert sich auf die institutionelle Dimension und die Dynamik des Zusammenbruchs der Demokratie.
1. Die Vorgeschichte: Gescheiterte Modernisierung(en) und die Systemkrise 1973 Mit Blick auf Staat und Entwicklung bis 1973 sind in Chile drei größere Phasen zu erkennen, die jeweils von Krise und Aufbruch, von frustración y cambio4 gekennzeichnet sind: erstens die Phase der großen Expansion im 19. Jahrhundert, die die Konsolidierung des Nationalstaates sowie eine erste Modernisierung und deren Krise umfaßt (1830-1920); zweitens die Ära des Estado de Compromiso, die die Phase der zweiten großen Modernisierung darstellt und von ca. 1925 bis in die 50er Jahre reicht, als die Krisentendenzen zunehmen. Bis 1973 schließt sich die dritte Phase an, die von unterschiedlichen Versuchen gekennzeichnet ist, mittels einer dritten Modernisierung diese Aporien zu überwinden. Diese - letztlich scheiternden - Modernisierungsprojekte und ihre Folgen haben schließlich unmittelbare Auswirkungen für die Staatskrise 1973 sowie auf die Zeit danach.5 5
Als neuere Studien zu Entwicklung und Verlauf des autoritären Regimes sowie zur Transition vgl. Gleich 1991; Caflas 1993.
4
So der Untertitel bei Mufloz 1992a.
'
Zu diesen Phasen vgl. Cariola/Sunkel 1991,11 ff.; Mufloz 1992a.
64
Die zweite Modernisierungsphase ab 1925 - gekennzeichnet durch das Modell der staatlich geleiteten Importsubstitution, einen anwachsenden öffentlichen Sektor und die Ausweitung sozialstaatlicher Leistungen - hatte zu Teilerfolgen in der Wirtschafts- und Sozialentwicklung gefuhrt. Doch mit dem Ende der leichten Phase der importsubstituierenden Industrialisierung und unter international ungünstigen Bedingungen kam dieser Modernisierungsimpuls zum Erlahmen.6 Ab Mitte der 50er Jahre wuchs angesichts der dauerhaft hohen Inflation, der wirtschaftlichen Stagnation (geringes Wirtschaftswachstum, niedrige Investitionsraten, Produktivitätsverfall der Landwirtschaft), steigender Arbeitslosigkeit und nach wie vor hoher Armut insbesondere auf dem Land in wirtschaftlichen wie politischen Kreisen allmählich das Bewußtsein einer 'integralen Krise' Chiles, die grundlegender Reformen bedurfte.7 Bereits unter der Regierung Ibáñez (1952-1958) war ein erster Versuch unternommen worden, radikalere wirtschaftspolitische Korrekturmaßnahmen zu implementieren (Liberalisierung, Inflationskontrolle, Reduktion der Gesamtnachfrage, Reform des Außenhandelsregimes), doch blieben die Erfolge aus.8 Die nachfolgende Regierung unter Alessandri, der das umfängliche Krisenbewußtsein teilte, jedoch in 'mangelnder Autorität' und 'Demagogie' diagnostizierte9, zielte dagegen bereits auf eine längerfristige, wenngleich vorwiegend auf Modernisierung des Wirtschaftssystems ausgerichtete Strategie (Stärkung des Privatsektors, Abbau staatlicher Regulation, der Bürokratie und der Preiskontrollen, Zurückdrängen des 'Unternehmerstaates', Liberalisierung des Außenhandels). Trotz der kurzfristigen Teilerfolge (Wachstum, Investitionen) bekam die Regierung jedoch die ökonomischen Ungleichgewichte nicht in den Griff, was zu einer erratischen Wirtschaftspolitik führte, während andererseits die sozialen Probleme und Ungleichheiten weiter zunahmen.10 Damit hatte sich ein Krisenszenario etabliert, dessen strukturelle Ursachen sowohl in systemischen Defiziten als auch in sozialen und politischen Machtverhältnissen lagen, wie sie der Estado de Compromiso konservierte. Diese objektiven Bedingungen schlugen sich nun auch in der Krisenwahrnehmung durch die Eliten aller Sektoren nieder, wonach die Entwicklungsprobleme tiefergehende Ursachen hatten und eine neue, 'reifere' Phase der Entwicklung anzugehen war." Das Krisenbewußtsein innerhalb der chilenischen Gesellschaft hatte aber zumindest einen Optimismus nicht gebrochen, nämlich die Vorstellung, 6
Vgl. Spielmann 1992,41 ff.
7
Zum Begriff der 'integralen Krise', der auf Ahumada zurückgeht, vgl. Huneeus 1981, 75ff.; Hofmeister I99S, 60f. Vgl. Spielmann 1992,63ff.
' '
Vgl. Huneeus 1981, 76.
,0
Vgl. Spielmann 1992,63ff.
"
"Es mußte eine neue Phase der Industrialisierung initiiert werden, mit mehr Technologie und offener gegenüber dem externen Wettbewerb. Als gleichermaßen dringlich betrachtete man die Modernisierung der Landwirtschaft, unerläßliches Gegenstück zur Industrialisierung. Nur so könnte man das globale Wirtschaftswachstum reaktivieren. Aber dieses alleine reichte nicht aus, wenn es nicht von größerer sozialer Gerechtigkeit begleitet war sowie von einer vollständigeren Partizipation der Urbanen Unterschichten und der Campesinos an den Entwicklungserfolgen." (Mufloz 1992b, 167)
65
daß über den Staat ein umfangreiches Projekt gesellschaftlicher Reorganisation zur Lösung der Modernisierungskrise möglich sei. In diesem Sinne spricht Göngora über die mit Frei beginnende Ära von der 'Epoche der globalen Planungen' (in die er im übrigen auch die Zeit unter Pinochet einschließt).12 Begünstigt wurde diese Perzeption, die letztlich auf umfangreiche strukturelle Reformen als Krisenlösung abzielte, zum einen durch den großen Einfluß der strukturalistischen Entwicklungskonzeption der CEPAL13, zum anderen durch die im Gefolge der kubanischen Revolution von den USA initiierte 'Allianz für den Fortschritt'. War das Reformprojekt unter der Regierung Frei vom 'bürgerlichen' mainstream der cepalinischen Entwicklungsvorstellungen geprägt, so orientierte sich das Projekt Allendes an sozialistischen Transformationsvorstellungen. Beide Projekte sind als Modernisierungsprojekte zu begreifen, die die chilenische Krisenrealität in Rechnung stellten, einen kohärenten Korpus an wenngleich unterschiedlich ansetzenden - Lösungsideen bereitstellten und gleichwohl an ähnlichen Insuffizienzen scheiterten: der Verkennung der realen Machtverhältnisse (nicht zuletzt getragen von jeweils überraschend hohen Wahlerfolgen, sprich: Fehleinschätzung der Handlungskapazitäten), der von ihnen selbst in Gang gesetzten sozialen und politischen Dynamik sowie der Illusion, staatliche Politik alleine - zumal technokratisch angeleitete - könne auch ohne weitergehenden gesellschaftlichen Konsens in einen kohärenten Entwicklungsprozeß münden. Bevor diese beiden Reformvorhaben, die sukzessive politisch in Angriff genommen wurden, in ihrer Tragweite und Bedeutung für die chilenische Entwicklung kurz analysiert werden, ist ein Blick auf die gesellschaftliche und politische Konstellation dieser Jahre vonnöten. Die Tendenz zur Teilung des politischen Spektrums in die 'drei Drittel' verfestigte sich ab 1960 zusehends. Nicht nur Zentrum und Linke, sondern auch die Rechte begann, der 'integralen Krise' mit einer eigenständigen und kohärenten Gesellschaftskonzeption zu begegnen:14 Die Rechte: Obwohl noch zu Beginn der 60er am wenigstens formal strukturiert, programmatisch eher diffus und von Bedeutungsverlust gekennzeichnet, veranlaßten die hohen Verluste bei den Parlamentswahlen 1965 die beiden rechten Parteien zu ihrer Fusion und anschließenden Modernisierung.13 Ideologisch vertrat der PN nun eindeutiger die ökonomischen und sozialen Interessen der konservativen Mittel- und Oberschichten auf Grundlage eines dezidierteren Wirtschaftsliberalismus. Gestärkt wurde die Rechte auch durch die wachsende Bedeutung einer Technokratengruppe, die ökonomisch für ultraliberale Positionen einstand: die sogenannten Chicago boys (1. Generation).16 Hinzu kam die Gruppe der Gremialisten, die politisch anfangs den Ideen des spanischen Fran"
Vgl. Göngora 1986,246fr.
11
Vgl. Thiery 1993a, 6ff.
"
Zum folgenden vgl. Gazmuri 1992,218ff.
"
Partido Conservador und Partido Liberal fusionierten 1966 zum Partido Nacional (PN).
16
Zu den Chicago boys vgl. ausführlicher Kap. II.2.3.
66
kismus anhing, sich wirtschaftlich zunehmend auf die Chicago boys hin bewegte. Bis zu den Präsidentschaftswahlen 1970 hatte sich dieses Konglomerat so weit gefestigt, daß ein Sieg Alessandris in Reichweite lag. Programmatisch hatte sich die Rechte bereits einem autoritären Neoliberalismus angenähert17, ein Projekt, das sie schließlich mit einem ähnlichen Anspruch auf Ausschließlichkeit (und folgender Intoleranz) verfocht wie die beiden anderen Sektoren. Zentrum: Hier hatte die christdemokratische Partei längst den Partido Radical als Mittelschichtspartei verdrängt und dominierte diese Position in den 60er Jahren fast ausschließlich.18 Programmatisch befürwortete der PDC ein Projekt, das unter Frei als 'Revolution in Freiheit' einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus suggerierte und in der Praxis eine reformistische Strategie bedeutete. Beeinflußt u.a. von den Entwicklungsvorstellungen der CEPAL zielte es darauf, das (kapitalistische) Wirtschaftssystem zu modernisieren, dies jedoch mit sozialen Reformen (u.a. Agrarreform), Demokratisierung des politischen Systems, Einkqmmensumverteilung und weiteren Partizipationsmöglichkeiten zu kombinieren. Der eindeutige Wahlsieg Freis 1964 sowie in den Parlamentswahlen 1965 bestärkten die Christdemokraten darin, mit diesem reformistischen Projekt die Gesellschaft insgesamt zu transformieren. Wie Gazmuri anmerkt, führte dies zusammen mit einem gewissen Messianismus des PDC dazu, daß er nicht die vermittelnde Rolle der früheren Partei des Zentrums, der Radikalen Partei PR, einnahm. Die Linke bestand vorwiegend aus Sozialisten und Kommunisten (PS, PC) und hatte sich im Lauf der Jahre immer wieder zu Wahlbündnissen formiert. Während der PC seit jeher eine marxistisch-leninistische Linie verfocht, hatte sich der PS erst in den fünfziger Jahren, vor allem aber nach der kubanischen Revolution, radikalisiert. Beide verfochten ab 1964 eine Modernisierungsstrategie, welche die Transformation des gesamten Gesellschaftssystems und vor allem die Überwindung des kapitalistischen Wirtschaftssystems vorsah. Während die Kommunisten hierfür einen gewaltsamen revolutionären Weg nicht ausschlössen, bekannten sich die Sozialisten zunehmend offen zur 'politischen Legitimität des Aufstandes' und 'leninisierten' sich, während sie umgekehrt die politische Demokratie als inadäquat und 'bürgerlich' kritisierten.19 Während sich diese gewachsene Intransigenz und Gewaltbereitschaft in zahlreichen illegalen Aktionen (Land-, Fabrikbesetzungen etc.) äußerte, bot der auch für die Linke überraschende Sieg Allendes plötzlich die Möglichkeit, quasi auf verfassungskonformem und legalem Wege ihre Ziele zu erreichen, d.h. den Übergang zum Sozialismus durch Enteignungen, Verstaatlichungen, radikalisierte Agrarreform etc.20
"
Vgl. Moulian 1983, I47f.
"
Zum PDC vgl. ausführlich Hofmeister 1995; Scully 1992.
"
Zur Linken vgl. Moulian 1983,69fT.
20
Vgl. ebd. 148fT.
67
Obwohl in wichtigen Punkten nicht notwendigerweise unvereinbar - jedenfalls was Konsensmöglichkeiten jeweils mit dem Zentrum anbetrifft21 - wurden diese drei Gesellschaftsprojekte zunehmend als sich ausschließende präsentiert bzw. perzipiert und schließlich derart ideologisiert, daß sich die Verhandlungsund Kompromißfenster zwischen den Blöcken immer weiter schlössen. Diese zunehmende Radikalisierung und Polarisierung, die sich durch die Kooptation der zivilgesellschaftlichen Gruppen seitens der Parteien auch vertikal immer weiter verfestigten, höhlten den Estado de Compromiso aus und unterminierten damit auch die demokratische Ordnung. Die Ursachen dieser zunehmenden Spaltung, die letztlich den Zusammenbruch der Demokratie wesentlich mit verursachte22, liegen vor allem in Strukturdefekten des Parteiensystems und in institutionellen Reformen, die auf politische Modernisierung gezielt hatten:23 Parteiensystem: Mit dem Aufstieg der Christdemokraten (PDC) und ihrem neuen, ideologischen Zuschnitt des Dritten Weges begann zugleich eine zuvor nicht gekannte politische Massenmobilisierung (Frauen, Mittelschichten, Arbeiter, pobladores), mit der sich der PDC zur neuen, absoluten Mehrheitskraft machen wollte. Ihre Wahlsiege 1964/65 trugen jedoch zur weiteren Radikalisierung der Linken bei, während Landreformen und Verstaatlichungen die wachsende Besorgnis der rechten Eliten um ihre traditionellen Machtpositionen hervorrief und sie zur Re-Formierung veranlaßte (inkl. erster Kontaktaufnahmen zu den Militärs). Trotz massiver Unterstützung seitens der USA im Rahmen der Allianz für den Fortschritt konnte der PDC aber den tripartite deadlock nicht aufheben, sondern verstärkte diesen sogar noch.24 Dies wurde überlagert durch eine weitere strukturelle Verschiebung: Das etablierte Wechselspiel zwischen Parteien einerseits, die zur Stärkung ihrer politischen Machtbasis die Mobilisierung der Bevölkerung vorantrieben, und sozialen Organisationen andererseits, die Partizipation gegen Integrationsbereitschaft eintauschten, erschöpfte sich, als in den 60er Jahren der Mobilisierungsgrad der Bevölkerung kaum noch zu steigern war.25 Damit verloren die Parteien ihren gewohnten Mechanismus für Machtzuwachs, andererseits aber auch ihre Integrationsfunktion, was in diesem Fall auch gleichbedeutend war mit dem Verlust der Kontrollfunktion. Dies wirkte sich vor allem nach 1970 in besonderem Maße aus, als soziale und politische Gruppen zunehmend unabhängiger vom Parteiensystem zu handeln begannen. 21
Die Reformstrategie Freis hatte sowohl für Rechte wie für Linke Ansatzpunkte zu Verhandlungen geboten. Immerhin war 1964 Frei mit Unterstützung der Rechten gewählt worden, wenngleich nur deshalb, um einen Sieg Allendes zu verhindern; die vorhandenen Verhandlungsmargen blieben ungenutzt. Von der Intention her bot der strukturelle Ansatz der Frei'schen Reformen jedoch auch fllr Teile der Linken durchaus Optionen, ihre Ziele umzusetzen. Insbesondere das Programm Allendes für die Präsidentschaftswahlen wird als eher reformistisch im Sinne der Frei'schen 'Revolution' charakterisiert. Fllr die Linke ergab sich jedoch aus internen Gründen bald die Disjunktion zwischen Reform und faktischer Revolution (vgl. Moulian 1983, ISOfT.; Hofmeister 1995, 58ff., I50ff.).
22
Vgl. Huneeus 1981.
21
Vgl. Valenzuela 1989, l82fT.; Stepan 1985.
24
Vgl. Hofmeister 1995,142f.
25
Vgl. Atria 1991,262fT.
68
Politische Reformen: Ab 1958 wurden politische Reformen durchgeführt, die auf eine Effizienzsteigerung chilenischer Politik abzielten, so in bezug auf das Wahlrecht v.a. die Abschaffung der gemeinsamen Listen (und damit eines Werkzeugs vorgängiger Verhandlungen zwischen den Parteien trotz gegensätzlicher Ideologien); die Beschneidung der Kongreßkompetenzen zur Stärkung der Exekutive, um der bereits chronischen Wirtschaftskrise Herr zu werden (im Namen der 'Modernität' erhält die Exekutive das Budgetrecht). 1970 schließlich enthob die Zentrum-Rechts-Koalition den Kongreß so wichtiger Fragen wie soziale Sicherheit, Lohnanpassung, Renten (also das Herz des legislativen bargaining in einer inflationsgeschüttelten Gesellschaft) und überantwortete sie Exekutivdekreten, um gegenüber der (erwarteten) starken linken Opposition größere Handlungskapazität zu besitzen. Faktisch wurden somit traditionelle Kompromißarenen einer erhofften Stärkung exekutiver Effizienz geopfert. Ironischerweise gewann bei den Präsidentschaftswahlen aber die Linke und ließ die Rechte und das Zentrum mit selbst-beschnittener Oppositionsmacht zurück. Wurden so die zuvor wesentlichen Konsensmechanismen zunehmend eliminiert, was auch den Polyzentrismus des Parteiensystems allmählich auflöste, wurden andererseits die Zentralisierungstendenzen des Staates eher noch gestärkt. Dies hatte zumindest zwei Folgen, die sich verschärfend auf die wechselseitige Perzeption eines aufkommenden Nullsummenspiels auswirkten: Zum einen bedeuteten sie die Möglichkeit (und Illusion), über das immense, sukzessive auf den Staat delegierte Handlungspotential nunmehr auch partikulare politische Projekte um- bzw. durchzusetzen. Sowohl Frei wie Allende agierten in diesem Sinne26, wobei Allende aufgrund der internen Opposition und dem ständig drohenden Ausufern der 'direkten' politischen Aktion einen weitaus geringeren Handlungs- und Verhandlungsspielraum besaß. Zum anderen trafen die Forderungen der autonomer agierenden Gruppen nun direkt und unkanalisiert auf einen Staat, der zudem durch die zugeschriebenen Funktionen bereits überlastet und nunmehr auch zur inflexiblen bürokratischen Maschine wurde. Die Handlungsfähigkeit des Staates insgesamt wurde dadurch drastisch reduziert.27 Aus diesen politischen Strukturverschiebungen ergab sich sukzessive ein Handlungsszenario, das von der Erosion der politischen Kooperationsformen geprägt war: Zu Beginn der 'integralen Krise' existierte noch eine gemeinsame Problemdefinition sowie ein allgemeines Ziel (Entwicklung durch grundlegende gesellschaftliche Modernisierung), doch bildete sich auf der Basis der drei gesellschaftlichen Blöcke zunehmend eine Divergenz über den Lösungsweg heraus (kapitalistische Restrukturierung - Reformismus - Sozialismus). Die folgende Phase ist - verstärkt vom Schwund der Kompromißlinien - geprägt vom beginnenden Vertrauensverlust und zunehmender Unsicherheit zwischen den strategischen Akteuren, wobei die möglichen Koalitionsbildungen einen weiteren Unsicherheitsfaktor darstellten. Die wechselseitig signalisierte Bereitschaft zur Durchsetzung der eigenen Maximalziele ließ dabei den Zukunftshorizont *
Vgl. Huneeus 1981, 140fT„ 223ff.; Hotmeister 1995,95ff.
v
Vgl. Atria 1991,235ff.
69
immer mehr schrumpfen, was auch die Bereitschaft zur Mißachtung institutioneller Sicherungen beinhaltete und zu einem reinen Nullsummenspiel führte. Ein Resultat dieses Erosionsprozesses, das über den Putsch als solchen hinausging, war der Verlust an 'Vertrauen', der Bindekraft der Institutionen und allgemein der Disposition zu Kooperation. Dieses Spiel eines 'negativen' Kooperationslernens haben die (parteipolitischen Akteure in Chile ab 1964 par excellence durchexerziert. Gestärkt durch die Aussicht, über die Erlangung der Staatsmacht die eigenen Ziele durchsetzen zu können, wurde vorwiegend auf eine catch all-Strategie gesetzt. So hatte Frei 1964 erklärt, daß er von seinem Programm kein Komma streichen würde, auch nicht für eine Million Stimmen (was gegen die Rechte gerichtet war, die ihn mit ihren Stimmen unterstützte). Später initiierte Alessandri, Kandidat der Rechten im Wahlkampf 1970, eine breit angelegte Kampagne dahingehend, daß für das Präsidentenamt die Mehrheit der Wählerstimmen entscheidend sei und nicht die Mehrheitsfahigkeit im Parlament (das nach der Verfassung den Präsidenten zu wählen hatte, wenn kein Kandidat die absolute Mehrheit erreichte). Umgekehrt veranlaßte diese Konstellation die jeweils oppositionellen Gruppen dazu, in Obstruktionspolitik zu verfallen. Aufgrund dieser strukturellen Rahmenbedingungen war ein längerfristig angelegtes, neues Entwicklungsmodell - das im Grunde alle drei Sektoren anstrebten - unmöglich. Selbst wenn es einer Partei gelungen wäre, die notwendige Kontinuität für ihr Projekt durch wiederholte Wahlsiege (Präsident und Parlament) herzustellen, mußten die Kosten für die jeweils restlichen zwei Drittel zu hoch sein und zur Obstruktion geradezu herausfordern. Nicht von ungefähr griff die in zwei Wahlen unterlegene Rechte als erste zu dieser Option, indem sie nicht nur Kontakte zu den Militärs mit dem Ziel einer Intervention aufbaute, sondern auch andere 'außerparlamentarische' Hebel in Bewegung setzte.28 Dennoch stellten weder das Scheitern der beiden Modernisierungsversuche noch gar die Entwicklung zum Putsch eine zwangsläufige Entwicklung dar, die durch dieses Szenario eindeutig determiniert gewesen wäre und sich hinter dem Rücken der Akteure vollzog. Es bedeutete allerdings neben den bereits hohen Anforderungen an kohärente Formulierung und Umsetzung der politischen Programme die zusätzliche Erfordernis, sich wenigstens um ein Mindestmaß an Konsens- und Koalitionsbildung zu bemühen. Jede Beurteilung der Modernisierungen sowie der Demokratieentwicklung muß somit in Rechnung stellen, inwieweit das Handeln der maßgeblichen Akteure den Faktor Kooperation berücksichtigte, bzw. wann jeweils der point of no return erreicht wurde. In dieser Hinsicht weisen die Regierungen Frei und noch mehr Allende eine sehr ambivalente Leistungsbilanz auf.29 Dabei startete die 'Revolution in Freiheit' unter wesentlich günstigeren Ausgangsbedingungen und erzielte auch eindeutig positive Ergebnisse, die sich teils bis heute auswirken. Insgesamt hat "
Vgl. Loveman 1988.
29
Zur Regierungszeit Freis vgl. Nohlen 1973, 91ff.; Hofmeister 1995, 58ff.; Scully 1992, 145ff.; zu Allende vgl. u.a. Nohlen 1973, I48ff.; Scully 1992, 145ff.
70
Freis Reformpolitik Chile nachhaltig verändert - sowohl im Sinne seiner Intentionen als auch der nicht-intendierten Folgen - , indem neben Bildungs- und Agrarreform auch wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen durchgeführt wurden, die wenigstens in der Anfangsphase Fortschritte im sozioökonomischen Entwicklungsprozeß erbrachten. Allerdings geriet die Reformstrategie schon in der Mitte der Amtszeit Freis in Schwierigkeiten, was neben konjunkturellen Faktoren vor allem an der Obstruktionspolitik der Opposition lag. Weder war es der Regierung gelungen, die langfristige Perspektive ihrer Reformpolitik zu verdeutlichen, noch hatte sie sich den politischen Handlungsspielraum dafür verschafft. Damit blieb die Modernisierung der 'Revolution in Freiheit' auf halbem Wege stecken. Mit dem Wahlsieg Allendes war der reformistische Entwicklungspfad zwar nicht von Beginn an definitiv verschlossen - insbesondere der PDC zeigte sich eine Zeitlang abwartend und verständigungsbereit. Letztlich aber stand Allende v.a. innerparteilich unter starkem Druck, was ihn wiederholt zu einer härteren Haltung zwang. Trotz der nur geringen Legitimationsbasis - Allende erhielt mit 36,2% nicht einmal 40.000 Stimmen mehr als Alessandri - nahm die Unidad Populär Maßnahmen in Angriff, die zunehmend auch auf die ablehnende Haltung der Mittelschichten stießen. Spätestens Mitte 1971 begannen sich im PDC die Sektoren durchzusetzen, die eine klarere Oppositionspolitik befürworteten. Dies resultierte schließlich in einer zunehmenden sozialen und politischen Radikalisierung und Polarisierung, was die Kompromißsuche zwischen und auch innerhalb der Parteien (etwa gerade innerhalb Allendes PS) immer schwieriger machte. Notwendig für das Überleben des Systems wäre eine Zentrumskoalition für sozialen Wandel im Rahmen traditioneller Freiheiten und demokratischer Garantien gewesen. Statt dessen setzte nun die Unidad Populär wie vorher der PDC auf die Anwendung der Staatsmacht, etwa mittels (unausgegorener) Umverteilungs- und Stimulierungsmaßnahmen, welche die Inflation weiter anheizten, oder der Staatskontrolle über private Unternehmen, was sowohl die konservative Elite als auch kleine Geschäftsleute und Teile der Mittelschichten dem System entfremdete. So erwuchs eine Atmosphäre wachsenden Mißtrauens und der Gewalt, erodierten die Kommunikationslinien wie auch die institutionellen Vermittlungen. Massenmobilisierungen, die Vermittlungsunfähigkeit des Zentrums und die prekäre Rolle des Präsidentialismus resultierten in einem Machtvakuum, in das die Militärs stießen, die noch bis 1972 als absolut verfassungs- und regimetreu galten und sich darin wesentlich von ihren lateinamerikanischen Pendants unterschieden.30 Die Versuche, Chiles Entwicklungsprobleme über grundlegende Reformen der Wirtschafts- und Wohlfahrtsordnung im Rahmen der Demokratie zu lösen, waren damit endgültig gescheitert.
30
Vgl. Varas 1987, 13ff.; s. auch Kap. II.1.1; zu den Zerfallsprozessen aus der Perspektive der diversen Lager und Experten vgl. Tagle 1992; Mufloz 1990.
71
2. Staatliche Rahmenbedingungen der Institutionenpolitik Die bekannten Resultate der Pinochet-Ära legen nahe, daß die autoritäre Regierung für ihre institutionellen Reformen über eine große Handlungskapazität verfugte. Auf den ersten Blick scheint es wenig bemerkenswert, die Faktoren 'Staat', 'politische Ordnung' und 'Position der staatlichen Akteure' hier eigens zu gewichten, wie oben zu den Kontextvariablen der Institutionenbildung ausgeführt: Im allgemeinen ist anzunehmen, daß Institutionen wie 'Politik' allgemein in solchen Systemen schlicht dekretiert werden. In der Tat ist die Institutionenpolitik unter Pinochet derart stark staatlich geprägt und umfassend, daß sie als 'Revolution von oben' bezeichnet wurde. Doch abgesehen davon, daß selbst dies zu überprüfen ist, zeigt der Blick auf die lateinamerikanischen Nachbarstaaten, daß der Autoritarismus unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Und gerade aus institutioneller Perspektive ist auffällig, daß völlig verschiedene Resultate produziert werden können.31 Im folgenden wird deshalb der Frage nachgegangen, welche (besondere) Handlungskapazität die chilenische Militärregierung besaß und worauf sie sich gründete. Zentral sind hier die Rolle des Militärs, Struktur und Stabilität der Herrschaft Pinochets sowie die Frage der strategischen Staatselite.
2.1 Das Militär als korporativer Akteur Die Intensität und die Spezifika der Krise des Jahres 1973 waren auch in der chilenischen Geschichte so beispiellos, daß diese als prägende Erfahrung noch bis heute nachwirkt. Die sich rasch zuspitzenden Entwicklungen unter der sozialistischen Regierung legten peu ä peu den fundamentalen Charakter der Krisendynamik offen: Was als Regierungskrise ihren Ausgang nahm, erwies sich zunehmend als Regime- und schließlich als Staats- und Gesellschaftskrise. Der mit dem Putsch einsetzende gesamtgesellschaftliche Restrukturierungsprozeß steht zunächst in enger Beziehung zum Charakter der Ursprungskrise sowie zur Verfaßtheit des dominanten Akteurs, sprich: des Militärs und seiner Krisenwahrnehmung.32 Die putschauslösende Ursprungskrise des Jahres 1973 hatte sich auf nahezu allen gesellschaftlichen Ebenen abgespielt und beinhaltete im wesentlichen drei Hauptelemente. Das erste bestand im Niedergang des (kapitalistischen) Wirtschaftssystems, der zu dysfunktionalen Verzerrungen wie Hyperinflation, Wachstumsrückgang etc. bis hin zu schweren Versorgungskrisen führte. Das zweite Element bildete die oben skizzierte Intensität der politischen Polarisierung, die sich sowohl durch die Konfrontation zwischen Regierung und Oppo-
32
72
So macht es einen Unterschied, ob ein inkludierender oder exkludierender Autoritarismus vorliegt (vgl. Stepan 1978); und selbst autoritäre Systeme des exkludierenden Typs divergieren beträchtlich hinsichtlich der Ordnungsgefüge, wie ein Vergleich der Militärdiktaturen im Cono Sur zeigt. Vgl. zum folgenden Ganetön 1989, 117fT.; 1987, 87fT.; Loveman 1988,310ff.; Vergara 1985, 17ff.
sition, in der PN und PDC stärker zusammenarbeiteten, als auch durch die wachsende Mobilisierung und Radikalisierung gesellschaftlicher Gruppen auszeichnete. Drittens schließlich korrespondierte mit diesen Entwicklungen ein drastischer Autoritäts- und Steuerungsverlust der Regierung und ein Zerbrökkeln des politischen Regimes unter diesem Druck aus Polarisierung, Mobilisierung und Obstruktion. Verglichen mit anderen Fällen (z.B. in Argentinien oder Brasilien) hatte die chilenische Ursprungskrise damit eine ungewöhnliche Schärfe erreicht. Für die folgende Entwicklung hatte die Art dieser Ursprungskrise insofern Bedeutung, als sich bestimmte Handlungskorridore für die erste (reaktive) Phase der neuen Militärregierung abzeichneten. So bestand das wichtigste Ziel zunächst im Wiederherstellen der Ordnung sowie der Unterdrückung der gesellschaftlichen Mobilisierung und der sie tragenden Organisationen (v.a. Sozialisten und Kommunisten).3 Die Tiefe der Ursprungskrise wirkte sich dabei auf die Zielstrebigkeit aus, mit der die Militärs vorgingen, und fand ihren Ausdruck in Ausmaß und Dauer der Repression. Als legale und institutionelle Formel hierfür diente der Ausnahmezustand in allen seinen Variationen.34 Ein zweiter Effekt der Ursprungskrise bestand in dem dringenden Erfordernis der 'Normalisierung' und 'Stabilisierung' der Wirtschaft. Wenngleich die Militärs in diesem Krisenbereich zunächst in scharfer Abgrenzung zum Staatsinterventionismus des Estado de Compromiso mit orthodox-liberalen Maßnahmen operierten, war ihnen eine kohärente Wirtschaftsstrategie nicht verfugbar. Schließlich war es auch nach den Vorstellungen maßgeblicher Sektoren der neuen Militärregierung lediglich um die Sicherheit der Nation und eine vorübergehende Machtübernahme zur Restauration der staatlichen Ordnung gegangen.33 Insofern reagierte sie auf die Wirtschaftskrise lediglich mit 'weichen' Anpassungs- und Stabilisierungsmaßnahmen (insbesondere die wenig erfolgreiche Anti-Inflationspolitik), ohne eine konstruktive Reaktivierung oder gar eine grundlegende Restrukturierung in Angriff nehmen zu können. Dies sollte sich erst ab 1975 ändern. Eine weitere Folge der Ursprungskrise bestand darin, daß das Ausmaß politischer Polarisierung zunächst die Christdemokraten dazu veranlaßte, dem Putsch duldend bzw. gar explizit - bis hin zu Angeboten der Zusammenarbeit - zuzustimmen. Der PDC war davon überzeugt, daß die Putschisten nach Wiederherstellung der Ordnung wieder in die Kasernen zurückkehren würden, und schwenkte erst ab 1975 auf eine deutlichere Oppositionshaltung um. Dadurch besaß die Militärregierung jedoch genügend Handlungsspielraum, um sich intern wie extern zu konsolidieren.36 Dies hatte wiederum Langzeitfolgen insofern, als - einmal auf Oppositionsstrategie umgeschwenkt - der PDC die Zusammenarbeit mit der Linken suchte (und suchen mußte), was jedoch später den blandos im Regierungslager eine Öffnungspolitik erschwerte bzw. unmöglich "
Vgl. Loveman 1988, 31 Off.
54
Vgl. Gan-etön 1989, 117.
"
Vgl. Vergara 1985, 17ff
"
Zur Reaktion des PDC auf den Putsch vgl. Hofmeister 1995, 186ff.
73
machte. Schließlich legte die Tiefe der Krise aus Sicht der Militärs als Handlungsoption nur die Alternative nahe, entweder rasch die Staatsgewalt wieder an eine Zivilregierung abzutreten oder aber eine entsprechend grundlegende Transformation des gesamten Gesellschaftsgefiiges anzustreben. Daß sie sich für die zweite Option entschieden, erfordert einen Blick auf das chilenische Militär als korporativen Akteur. Das chilenische Militär konnte - im Gegensatz zu seinen lateinamerikanischen Pendants - noch bis in die Anfangszeit Allendes als loyal zur zivilen Autorität eingestuft werden. Ein Putsch des Militärs, das seit 1932 nicht mehr in die nationale Politik eingegriffen hatte, war für die meisten sozialen und politischen Akteure kaum vorstellbar - abgesehen von jenen Kräften, die das Eingreifen der Militärs forderten (und provozierten, i.e. die Rechte), sowie jenen, die die Armee ohnehin für eine Agentur des Pentagon hielten.37 Auch als nach dem Oktoberstreik 1972, der das Land an den Rand eines Bürgerkrieges gebracht hatte, auf Forderung der Opposition drei Militärs in die Regierung berufen wurden (darunter der Oberbefehlshaber Prats als Innenminister), galten die Streitkräfte eher als Garanten der existierenden Ordnung, und Allende sah in ihnen gar Partner zur Durchsetzung seiner Politik. Noch ein halbes Jahr vor dem Putsch schrieb Nohlen über die politische Bedeutung dieser Entwicklung: " D i e S t r e i t k r ä f t e g a r a n t i e r e n d i e E i n h a l t u n g d e r S p i e l r e g e l n d e r repräsentativen Demokratie, schützen die bürgerliche Legalität d e s Wahlprozesses. Der Bruch des Institutionensystems konnte trotz der bürgerkriegsähnlichen Konfrontation von R e g i e r u n g u n d O p p o s i t i o n z u n ä c h s t v e r h i n d e r t w e r d e n . (...) D i e p o l i t i s c h e n A m b i t i o n e n d e r M i l i t ä r s f ü r s i c h u n d ihre Institution s c h e i n e n g e r i n g . "
Allerdings wies Nohlen darauf hin, daß alleine die Involvierung des Militärs in den politischen Prozeß Folgen für ihre traditionell untergeordnete Rolle mit sich bringen könnte. Hinzu trat der Umstand, daß sich das Militär als Verteidiger der Verfassung - worauf es auch vereidigt war - verstand: "Der Bruch der Legalität ist für das Militär der casus belli gegenüber der zivilen Regierung."39 Diese Situation war gegeben, als das Abgeordnetenhaus im August 1973 die Regierung für illegal erklärte und implizit die Streitkräfte zur Wiederherstellung von Verfassung und Gesetz aufrief.40 Dennoch erklären weder die Ursprungskrise noch die politisch-konjunkturell bedingte Politisierung das Eingreifen der Militärs vollständig. Die zitierten Äu"
Vgl. Nohlen 1973,280.
11
Nohlen 1973,268f. Gestützt werden diese Einschätzungen durch Äußerungen von Carlos Prats selbst, die im Nachhinein als kurios bis visionär einzustufen sind: "Es gibt Chilenen, zum GlUck nicht viele, die meinen, daß die politischen Lösungen durch Gewalt erfolgen müssen (...) In Chile hat diese Lösung keiie Zukunft. Wohin wird sie fllhren? In eine Diktatur. Dafllr müßten sich die Streitkräfte in eine Spezialpoliiei verwandeln, und das würde eine Tupamarisierung des Volkes herbeiführen. Eine Woche, nachdem man lern Diktator applaudiert hat, werden die Politiker der entgegengesetzten Richtung sich vereinigen, 'Gorillas' rufen und Wahlen verlangen (...)" (Prats, zit. n. Nohlen 1973, 285). 'Tupamarisierung' spielt an auf die Tupcmaros, die Stadtguerrilla in Uruguay, die zumindest in der Wahrnehmung rechter und militärischer Kreise tls paradigmatischer Fall der Gefährdung nationaler Sicherheit angesehen wurden. Interessant ist hier, dal Prats das 'Kausalverhältnis' von sozialem Aufruhr und Putsch für den chilenischen Fall umdreht.
"
Nohlen 1973,283.
40
Vgl. Hofineister 1995, 173f.; Friedmann 1990,25.
74
ßerungen verdecken nämlich, daß zum einen Repräsentanten der Führungsebene wie Prats nur einen Teil der Einstellungen innerhalb des Militärs widerspiegelten, und zum anderen die Institution als solche sich in einer Situation gesellschaftlicher Statusunsicherheit befand. Wie Varas aufzeigt, war das chilenische Militär nach 1932 in eine gesellschaftliche Position geraten, die einem sukzessiven Bedeutungsverlust innerhalb der Gesellschaft gleichkam, erkennbar u.a. an den prozentual stetig fallenden Verteidigungsausgaben. Diese untergeordnete Rolle hatte auch dazu geführt, daß trotz der zahlreichen Negativbeispiele in den Nachbarländern seitens der Politik wenig Aufmerksamkeit auf die Beziehungen zwischen Zivilen und Militärs gerichtet wurde. Dies geriet in eine zunehmend isolierte Position, die ab 1970 - unter dem Eindruck heftiger (ideologischer) Attacken seitens der extremen Linken bei gleichzeitig sich zuspitzender Gefahr eines 'bewaffneten revolutionären Kampfes' - immer mehr als Bedrohung perzipiert wurde.41 Dabei war das Militär alles andere als eine homogene Institution, sondern es existierten in ihren Reihen unterschiedliche ideologische und politische Standpunkte. Mit der sich zuspitzenden Krise wurden diese schlummernden Differenzen geweckt und die Streitkräfte somit zunehmend politisiert. Dies ließ Befürchtungen aufkommen, die zivile Polarisierung würde sich auf die Spaltung der Militärs übertragen und damit erst einen echten Bürgerkrieg ermöglichen. Auch wurde damit ein Krisenszenario verknüpft, das Chile aufgrund der internen Entwicklungen zunehmend externen Bedrohungen ausgesetzt sah.42 Der Informe Rettig weist jedoch auch auf eine konstante ideologische Grundhaltung hin, nämlich "daß unsere Ordnungs- und Streitkräfte seit jeher, praktisch seit der Russischen Revolution selbst, eine konstante Tradition des lebhaften Antikommunismus besaßen."43 Dieser Antikommunismus wurde im Zuge des Kalten Krieges systematisch in Schulungen verstärkt, die die USA im Rahmen der panamerikanischen Organisationen und Verträge abhielten, und wurde nach der kubanischen Revolution zunehmend auch auf innere Gegner - i.e. die extreme Linke - übertragen und zur Doktrin der Nationalen Sicherheit entwickelt.44 Dennoch war es letztlich nur ein Sektor innerhalb der Militärs, der massiv eine Ideologie aus überzogenen Konzepten des 'anti-subversiven Krieges' und der 'Nationalen Sicherheit' sowie einen dazu komplementären Autoritarismus verfocht.45 Daß sich diese Sektoren mit dem Putsch durchsetzten und das Militär aufgrund der funktionierenden militärischen Befehlshierarchie als Einheit auftrat, hatte jedoch die internen Widersprüche nicht zum Verschwinden gebracht. Dies 41
Vgl. Varas 1987, 17ff„ I82ff.
4!
Vgl. Informe Rettig 1991, 39ff. 'Informe Rettig ist die Kurzbezeichnung für den Bericht, den die "Nationale Kommission filr Wahrheit und Versöhnung' 1991 dem Präsidenten vorlegte. Sie war 1990 von Präsident Aylwin zur Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen nach 1973 eingesetzt worden (s. Kap. 111.4.2). Informe Rettig 1991,40.
" 44
Vgl. ebd.; ausfuhrlicher zur Doktrin der Nationalen Sicherheit und ihrer Rolle fllr die lateinamerikanischen Militärdiktaturen vgl. Garretón 1989, 68fT.; Werz 1991.
45
Vgl. Informe Rettig 1991, 41 f.
75
führte dazu, daß noch eine Zeitlang nach dem Putsch eher eine ungefestigte Hegemonie vorherrschte: "Die Vielzahl interner Gruppen, das verzweigte Netz externer nationaler und internationaler Einflüsse, die gescheiterten Putschversuche, das fast einseitige Handeln der Armada während der vorangegangenen Tage und die nicht zu unterschätzende interne Präsenz sowohl von Konstitutionalisten wie auch direkter Anhänger der Regierung der Unidad Populär zeigen, daß trotz einer Koordination der Militäraktivitäten die Gesamtheit der im Putsch zusammenlaufenden Elemente nicht völlig ein und derselben Strategie folgte und noch weniger einem identischen doktrinären oder ideologischen Korpus. Auch wenn ihnen ihre Anti-RegierungsPosition eine gewisse Einheit gab, reichten diese nicht aus, um eine klare Hegemonie im Innern zu stabilisieren und ein bestimmtes ökonomisch-soziales Modell voranzutreiben, sobald die Aufstandsziele erreicht waren." 46
Einigkeit bestand so bestenfalls darin, die Regierung Allende abzusetzen und die Ordnung wiederherzustellen, doch herrschte Unklarheit über die zukünftige Gestaltung der eigenen Rolle sowie über Dauer und Zielsetzungen des Militärregimes. Dieses "konfuse ideologische Panorama" 47 trug dazu bei, daß in der Zeit nach dem Putsch bis etwa Ende 1974 ein extremes Freund/Feindschema das Handeln der Militärs diktierte und so die Schärfe der Repression steigerte. Insgesamt stand die Militärfuhrung somit vor der Aufgabe, die interne Homogenität herstellen zu müssen, um ihre Handlungsfähigkeit nicht von innen zu gefährden. Hierzu diente wenigstens in den ersten 15 Monaten fast ausschließlich die Rechtfertigung, daß sich das Militär in einem faktischen Krieg gegen den Kommunismus befände. Der antikommunistische Impuls wurde geradezu zu einem Kreuzzug stilisiert (Chile als Bastion gegen den Weltkommunismus) und konnte durch diverse Konjunkturen aufrechterhalten werden. Er bot, nicht zuletzt auch in der Ära Reagan, eine willkommene Legitimationsquelle, die die Militärs teilweise noch bis heute aufrechterhalten, vor allem, um sich gegenüber den Vorwürfen der Menschenrechtsverletzungen zu rechtfertigen. Die Stabilisierung der politischen Ordnung mußte sich folglich auch auf interne Strukturen beziehen.
2.2 Struktur und Stabilität des autoritären Herrschaftssystems Nach der reaktiven und repressiven Beantwortung der Ursprungskrise blieb das Militär nicht in einer restaurativen Übergangsrolle, die eher eine Art Lückenbüßerfunktion im Auftrag rechter Machtgruppen bedeutet hätte. Vielmehr dauerte es nur relativ kurze Zeit, bis die Militärjunta und vor allem Pinochet systematisch den Aufbau und die Absicherung eines Herrschaftsapparates betrieben, der im Kern nahezu unverändert mehr als 16 Jahre überdauerte und nur zwischenzeitlich (1982-1985) größere Legitimations- und Effizienzdefizite aufweisen
"
Varas 1987,28f. Informe Rettig 1991,43.
76
sollte. Im folgenden sollen die wesentlichen Faktoren und Determinanten dieses staatlichen Herrschaftssystems benannt werden, die gewissermaßen das 'stählerne Gehäuse' der hier in Rede stehenden Handlungskapazität des 'pinochetistischen' autoritären Staates bildeten. Die Reaktion auf die Ursprungskrise implizierte bereits ein Charakteristikum staatlicher Reorganisation, das mit Garretón als militärische Linie zu bezeichnen ist.48 Unter rein formalen Gesichtspunkten ist festzuhalten, daß eine personalisierte und hierarchisierte Herrschaftsstruktur errichtet wurde, die sich anfangs aus der Logik des einzig handlungsfähigen Akteurs, eben des Militärs, ergab, und die später auch als solche mit der Verfassung des Jahres 1980 institutionalisiert und somit sanktioniert wurde.49 Maßgeblich hierfür war zunächst ein doppelter Konzentrationsprozeß staatlicher Macht:50 Zum einen wurde der Militärapparat nach dem Prinzip formal-hierarchischer Führung als faktisches Exekutivorgan eingebunden, sprich unter Kontrolle der regierenden Junta gebracht. Zum anderen vollzog sich innerhalb der Junta ein weiterer Konzentrationsprozeß, indem es Pinochet zunehmend gelang, die Entscheidungsprozesse auf seine Person zu bündeln. So wurde er - zunächst nur Oberster Kommandeur des Heeres - bereits lange vor Verabschiedung der Verfassung vom Vorsitzenden der Regierungsjunta zum Staatsoberhaupt und schließlich auch zum Staatspräsidenten. Im Kern blieben die Basismerkmale der so geschaffenen autoritären politischen Ordnung über fast die gesamte Ära der Diktatur hinweg erstaunlich stabil. Die interne Organisationsform blieb durchweg monokratisch und militärisch geprägt, eine Gewaltenteilung existierte aufgrund der Machtkonzentration und der freiwilligen Unterordnung der Justiz de facto nicht. Genausowenig ist bis zum Plebiszit 1988 von einer vertikalen Machtbegrenzung zu sprechen, 1 wobei die autoritär deformierte Rechtsstaatlichkeit systematisch die im Begriff der effektiven Staatsbürgerschaft zusammengefaßten Rechte verletzte.52 In bezug auf das dritte Merkmal (Zugang zu den zentralen staatlichen Machtpositionen) blieb bis zum Ende der Ära Pinochet eine quasi-monokratische Ordnung bestehen, in der die Machtspitze unverändert blieb, die weiteren Schlüsselpositionen vorwiegend designiert wurden, und die keinerlei politische Rechte bzw. Partizipation gewährte.53 Modifikationen ergaben sich lediglich im Hinblick auf den Typus des Autoritarismus, indem sich die Form der staatlichen Handlungsautonomie sowohl in Reaktion auf Kontextveränderungen als auch im Bemühen um " 4
Vgl. Garretön 1989,121 ff. '
Die Verfassung, 1980 per Referendum bestätigt, trat im Marz 1981 in Kraft und ersetzte die Verfassung aus dem Jahr 192S. Gleichwohl blieb sie aufgrund der Übergangsbestimmungen faktisch bis 1990 suspendiert.
50
Vgl. Gleich 1991, 120ff.; Varas 1987,49ff.; Friedmann 1990,41 ff.
"
Der Aspekt der vertikalen accountabtoty indiziert hinreichend den grundlegend unterschiedlichen Charakter des Plebiszits 1988 gegenüber den beiden Plebisziten 1978 (Zurückweisen internationaler Anschuldigungen aufgrund der Menschenrechtsverletzungen) und 1980 (Verfassung).
'2
Vgl. Informe Rettig 1991, 55fT. Vgl. Valenzuela 1991; allerdings formiert sich ab 1983 ein 'inoffizieller Machtkreislauf, der eine wesentliche Rolle bei der anschließenden Transitionsdynamik spielt (s. Kap. II.5).
53
77
eine zukunftsträchtige Transformationsstrategie wandelte. Während in der ersten Phase (1973-1975) die interne und externe Absicherung der Herrschaftsform und damit vorwiegend repressive Mittel im Vordergrund standen, zeichnete sich die folgende Phase der Institutionalisierung und des 'Wirtschaftswunders' (1975-1982) durch den Versuch aus, Legitimation durch das 'chilenische Wirtschaftswunder' zu beziehen. Ab 1983, d.h. im Gefolge der ökonomisch induzierten Legitimationskrise, gewannen die Stabilisierung der politischen Ordnung sowie die Zukunftsprojektion des autoritären Staates an Bedeutung. Pinochet griff nun mehr auf ideologische und politisch-strategische Ressourcen zurück, ohne jedoch auf die übrigen Mittel zu verzichten. Die Modifikation dieser Ordnung wird von Varas als Wandel vom Bonapartismus über Cäsarismus zum caudillismo (Pinochetismus) charakterisiert, die jeweils durch signifikant hohe Autonomie sowie die variierende, jedoch immer zentrale Position Pinochets an der Spitze staatlicher Macht gekennzeichnet sind. In Abb. 4 sind die wesentlichen Komponenten der internen Machtstruktur festgehalten.54 Abb. 4: Interne Organisationsstruktur des autoritären Staates35
14
Zur technokratischen und zivilen Komponente s. Kap. 11.2.3.
"
Quelle: Domínguez 1988, 311.
78
Für die Konsolidierung und Aufrechterhaltung dieser politischen Ordnung und damit für die hohe Handlungskapazität sind vor allem fünf Faktoren bestimmend: die systematische Repression, die interne Homogenisierung des Militärs, die Schwäche der Opposition, Pinochets Legalismusstrategie sowie ein ausreichendes Maß an Legitimation. 1. An erster Stelle stand - auch zeitlich - die von Beginn an systematische Repression der linken Opposition, die bald jedoch auch die Christdemokraten erfaßte und später eher abgemildert denn aufgegeben wurde. Bezeichnendster Ausdruck hierfür ist die Entwicklung des Repressionsapparates, der anfangs neben Apathie bzw. Akklamation einiger Sektoren der Gesellschaft als wichtigste Stütze staatlichen Handelns fungierte. In dieser ersten Phase, in der kaum ökonomische Erfolge verzeichnet werden konnten, folgte das neue Staatshandeln der militärischen Logik von Sieger und Besiegtem unter dem Eindruck der Ursprungskrise und der 'Rache'.56 Die Repression und ihre Ausführungsorgane agierten relativ unkontrolliert, ordentliche Prozesse oder gar Rechtsschutz für die Verhafteten gab es nicht.57 Bereits ab Juni 1974 sah sich Pinochet vor die rein technische Notwendigkeit gestellt, die Repression zu koordinieren. Zu diesem Zweck wurde die (alsbald und bis heute berüchtigte) DINA gegründet, die Pinochet direkt unterstand und alle nur denkbaren Grausamkeiten verübte, "intended to terrify the entire population by their visibility. "58 Die Repression wurde ergo geplant und noch weiter systematisiert mit der Absicht, die Gesellschaft zu durchdringen - totalitäre Momente, die im Herrschaftssystem angelegt wurden. Erst als die Aktionen der DINA dysfunktional zu werden begannen, 9 löste Pinochet diese auf, um statt dessen die Nachfolgeorganisation CNI ins Leben zu rufen, die ebenso ihm direkt unterstand. Die Kompetenzen unterschieden sich kaum, nur daß die CNI deutlicher in einen legalen Rahmen eingebunden wurde und quasi formale Autorität besaß, also eine Art 'legalisierter Repression' betrieb. Diese Systematisierung der Repression, die zunehmend nicht mehr indiskriminiert, sondern reaktiv auf Oppositionshandeln bezogen wurde, und gegen die es keinerlei rechtliche Handhabe gab, erreichte zunächst ihr Ziel: Mit Ausnahme der katholischen Kirche sowie - unter ihrem Schutz - weniger Personen und Organisationen fanden keine zivilgesellschaftlichen oder politischen Aktivitäten mehr statt. Entsprechend wurde 1977 das Verbot politischer Parteien 56
Freilich entsprach dieses Moment der 'Rache' eher der Ideologie und Selbstlegitimation der Militärs, als daß sie reale Ursachen gehabt hatte. Wahrend gewaltsamer Widerstand seitens oppositioneller Gruppen nicht nachweisbar ist, bemOhte sich die Militärfühmng, anhand eines angeblichen Plan Z die Existenz von Mordund BQrgerkriegsplanen zu beweisen (vgl. Gleich 1991, 110f.).
57
Vgl. Informe Rettig 1991, 107ff.
s>
Garretön 1989, 119; die DINA wurde formell als Geheimdienst im Juni 1974 gegründet, doch geht ihr organisatorischer Ursprung auf die Zeit um den Putsch zurllck (vgl. Informe Reitig 1991, 43). Zu den Taten der DINA vgl. ausführlich ebd., 62fT., 449ft und passim.
"
Dies erfolgte aufgrund des internationalen Drucks (USA: Carter) sowie der einzig verbliebenen 'oppositionellen' Kraft, d.h. der katholischen Kirche in Gestalt v.a. der Vicaria de la Solidaridad in Santiago; beide allerdings hatten wohl weniger eine Rolle gespielt, wäre nicht die Regierung längst auf eine 'positive' Legitimationsstrategie umgeschwenkt (vgl. Gleich 1991, 114f.).
79
auch offiziell dekretiert, wurden Gewerkschaften und Berufsverbänden ihre Aktivitäten untersagt und im Erziehungswesen einschließlich der Universitäten die nicht-regimetreuen Organisationen aufgelöst. Ermöglicht bzw. ergänzt wurden diese Repressionsmaßnahmen durch die faktische Aussetzung des Rechtsstaates aufgrund der permanenten Notstandsbestimmungen und einer gegenüber der Regierung willfahrigen Justiz.60 Während in einigen Bereichen, wie etwa im Wirtschaftsleben, das Rechtssystem einigermaßen funktionierte, setzte der Notstand wesentliche bürgerliche Rechte außer Kraft, wobei verschiedene Stufen von Notstandssituationen existierten (die als solche auch in der Verfassung festgehalten wurden). Schließlich galt nach Inkraftsetzung der Verfassung bis März 1989 das Ausnahmerecht nach den Übergangsbestimmungen derselben. 2. Ein zweiter Konsolidierungsfaktor bestand in der internen Homogenisierung des Militärs und der Straffung der organisatorischen Einheit. Dies gelang u.a. mit der bereits erwähnten Durchsetzung der Hegemonie der extrem antikommunistischen Doktrin der Nationalen Sicherheit sowie auch mit dem Amnestiegesetz von 1978, das das gesamte Militär von Anschuldigungen wegen der Menschenrechtsverletzungen entlastete. Mit dieser Strategie, die sich auch auf die kasernierte Polizei (Carabineros) sowie die Geheimdienste bezog, konnten sich die Junta und insbesondere Pinochet eines verläßlichen, weil völlig hierarchisierten staatlichen Gewaltmonopols versichern. Damit konnten auch Dissidenzen innerhalb der Streitkräfte zunehmend unterbunden werden. Dennoch stellte die interne Kohäsion für Pinochet eine ständige Aufgabe dar, die ihn wiederholt zu klientelistischen Maßnahmen zwang wie z.B. Beibehaltung und Ausbau eines militäreigenen Rentensystems.61 3. Zur Konsolidierung trug ebenfalls die mit dem spezifischen Charakter der Ursprungskrise zusammenhängende Schwäche der Opposition bei, der es auch im Zuge der späteren Legitimationskrise Pinochets nicht gelang, sich untereinander zu einigen und eine Alternative zu entwickeln. Auch scheiterte der Versuch der gemäßigteren Fraktion, Brücken zu den blandos im Regierungslager zu schlagen. Diese Schwäche der Opposition - die sich im Zuge der zivilgesellschaftlichen Proteste Mitte der 80er Jahre auch in der Überschätzung ihrer eigenen Stärke ausdrückte - blieb ein Signum bis zu den Ereignissen im Vorfeld des Referendums 1988. Auf diese Prozesse im Oppositionslager wird in Kapitel II.5 detaillierter eingegangen. 4. Einen vierten Faktor der Konsolidierung stellte die Legalismusstrategie Pinochets dar, die sich etwa in der wohlwollenden Behandlung des Justizsektors ausdrückte, um dem autoritären Regime einen rechtsstaatlichen Anstrich zu geben. Ihr Kernstück war indes die Legitimierung des autoritären Staates durch die neue Verfassung. Pinochets erfolgreiches Management der Machtmechanismen war zwar in den ersten Jahren nicht unangefochten geblieben, doch hatte er seine herausragende Position immer weiter durchgesetzt. Die Institutionalisierung der Herrschaft in der Verfassung von 1980 erfolgte in verschiedenen 60
"
80
Vgl. Informe Rettig 1991,95ff. Vgl. Varas 1987,186ff.
Anläufen und war innerhalb des Regimelagers nicht unumstritten.62 Es setzten sich jedoch mit Pinochet jene Sektoren durch, die auf eine Konsolidierung der autoritären Herrschaft hinarbeiteten und für die der mehr funktionale Aspekt entscheidend war, für die von ihnen in Gang gesetzte Transformation verbindliche Spielregeln zu definieren. Auch mußte Pinochet daran gelegen sein, der verbliebenen Opposition, d.h. der Kirche und dem internationalen Druck, eine wenigstens äußerlich rechtsstaatliche Antwort zu geben. Diesen Herausforderungen war mit den typischen Handlungsressourcen der ersten Phase - Repression und Kontrolle - nicht mehr zu begegnen. Es ging vielmehr darum, von einer 'Diktatur ohne Regeln' zu einer Diktatur zu gelangen, die ihre eigenen Regeln etabliert.63 Alleine die Tatsache der konstitutionellen Institutionalisierung der Herrschaftsform stellte für Pinochet eine eigene Handlungsressource bis zum Ende seiner Amtszeit dar. Zum einen spielt hier der spezifische Modus formal-legaler Legitimation staatlicher Herrschaft eine Rolle, der in Chile im Vergleich zu anderen Ländern Lateinamerikas weitaus ausgeprägter war (und ist). Insbesondere die regimestützenden Gruppen scheuten sich auch in Phasen größerer Dissidenz immer wieder, im Zweifelsfall den einigermaßen gesicherten Handlungsrahmen der neuen Verfassung zu verlassen, und ließen sich so immer wieder auf Pinochets politische Strategie verpflichten.64 Die Verfassung ermöglichte Pinochet daher die Disziplinierung des Regimelagers, eingeschlossen vor allem auch die Streitkräfte, und sorgte wenigstens teilweise für internationale Anerkennung. Doch auch die Opposition sah letztlich keinen anderen Ausweg, als über die 'Erfüllung' der Verfassung Pinochets zur Macht zu kommen. Nicht zuletzt spielte dabei eine Rolle, daß Pinochet - auf der Höhe seiner Macht - sich die Verfassung per Referendum bestätigen ließ.65 Wie in den weiteren Ausführungen noch gezeigt wird, sanktionierte die Verfassung das in Angriff genommene Entwicklungsprojekt zur Restrukturierung der gesamten chilenischen Gesellschaft. Für den politisch-strukturellen Bereich nicht minder wichtig war jedoch das Faktum, daß Pinochet sich nun selbst an Regeln band und damit eine (einzige) Entpersonalisierungsklausel zuließ. Allerdings mußte dies aus seiner Sicht relativ unbedeutend erscheinen: Die Festschreibung seiner Position innerhalb der Staatsstruktur war derart abgesichert, daß alles andere als die Perpetuierung seiner Macht bis 1997 wenig wahrscheinlich war. Wie wiederholt unterstrichen wurde, handelte es sich trotz Regimepropaganda um keine Übergangsverfassung, sondern um die konstitutionelle Absicherung einer autoritären und personalisierten Diktatur.66
63
Zu diesen Divergenzen und den verschiedenen Optionen vgl. Friedmann 1990, 116ff.
"
Vgl. Garretón 1989,133.
64
Im einzelnen hierzu s. die Kap. 11.3 und 11.5.
63
Vgl. Bustos 1987, 102. Auch wenn kaum von einem einwandfreien Verfahren gesprochen werden kann, stimmten immerhin ca. vier Millionen Chilenen ftlr den Entwurf Pinochets.
"
Vgl. Amagada 1986,153ff.
81
5. Der zusammen mit der Repression entscheidende Faktor der Konsolidierung und Aufrechterhaltung der autoritären Ordnung bestand darin, daß Pinochet trotz gelegentlicher Schwankungen fast durchweg auf ein ausreichendes Maß an Legitimationsressourcen zurückgreifen bzw. diese reorganisieren konnte. Ein erster Indikator hierfür ist der Grad der Zustimmung, den Pinochet sich in breiten Bevölkerungskreisen bei den zwei wichtigsten Plebisziten in seiner Amtszeit sichern konnte. Auch wenn die (offiziellen) Ergebnisse über die Zustimmung zur Verfassung nur bedingt aussagekräftig sind, so müssen sie doch als Indiz dafür gewertet werden, daß zumindest um das Jahr 1980, als das neoliberale Wachstumsmodell zu prosperieren schien, der Grad der Zustimmung innerhalb der Bevölkerung relativ hoch lag.67 Dies belegen dann später trotz schwerer Krise 1982/83 und der Formierung der Opposition als glaubwürdiger Alternative - die Ergebnisse des Referendums 1988 und die Präsidentschaftswahlen 1989: Jeweils über 40% votierten hier offen fiir Pinochet bzw. für die rechten Kandidaten, 68 was als Zeichen dafür zu werten ist, daß die intendierte, aus dem Modernisierungsprozeß resultierende Leistungslegitimation vorhanden war. Mit Blick auf den autoritären Staat (wie auch auf die Zeit ab 1990) ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, daß nicht nur Apathie das System stabilisierte, sondern sowohl diffuse als auch spezifische Legitimation seitens der Modernisierungs- und Sicherheitsgewinner ausreichend vorhanden war. Wichtiger als diese Ansätze von Massenloyalität und aussagekräftiger für die Stabilität der autoritären Herrschaft bis zum Referendum 1988 war allerdings das Zustimmungspotential, das die für das Herrschaftssystem ausschlaggebenden Machtgruppen, also die zivile Basis im engeren Sinne, bereitstellten. Entscheidend daran ist, inwieweit diese Gruppen einen internen Standpunkt zur 'Anerkennungsregel' des Systems einnahmen, also das Grundmuster der Herrschaft als legitim ansahen und nicht nur aus externen Gründen (Klugheit, Duldung, Furcht) akzeptierten. Sieht man nun von der ersten Phase der Diktatur bis Anfang 1975 ab, in der das Grundmuster des Herrschaftssystems noch nicht vollständig definiert war, 69 so ist diese Anerkennungsregel als autoritärer Kapitalismus zu umschreiben, d.h. als Verknüpfung von politischem Autoritarismus, der weite Teile der Gesellschaft ausschloß und repressiv gestützt werden konnte, und einer marktwirtschaftlich geprägten Gesellschaftsordnung (sozioökonomischer Neoliberalismus zur Reorganisation der Herrschaftsverhältnisse), die
67
Eine exakte Einschätzung der tatsächlichen Zustimmung durch die chilenische Bevölkerung ist aufgrund der spezifischen Umstände (Manipulationen, Propaganda, Einschüchterungen etc.) kaum möglich. Nach offiziellen Angaben betrug die Beteiligung 93%, von denen sich 67% fllr und 30% gegen die Verfassung aussprachen (vgl. Garretön 1989, 147, Anm. 14).
"
Neben Büchi, dem Kandidaten Pinochets, konnte auch der rechts-populistische Errtzuriz im Regimelager Fuß fassen.
"
Verwiesen sei hier auf diejenigen Sektoren, die die Militärregierung nur als vorübergehend akzeptieren wollten, wie vor allem Teile der Christdemokraten und sogar des Militärs (Luftwaffe) selbst.
82
die Interessen der Unternehmersektoren und von Teilen der Mittelschichten privilegierte.70 Diese Verknüpfung erlaubte es, die Herrschaftsbasis nicht nur auf die militärische Komponente im Sinne von innerer Sicherheit und Stabilität zu gründen. Vielmehr gelang es damit Pinochet, sich einer zivilen Basis zu versichern, die wenngleich mit unterschiedlicher Akzentuierung - der Anerkennungsregel aus einem internen Standpunkt heraus zustimmten. Im wesentlichen handelte es sich bei diesen Gruppen um konservative, relativ gut organisierte Kräfte: Neben der traditionellen politischen Rechten waren dies vor allem Unternehmer und ihre Wirtschaftsverbände, die gremialista-Bewegung, aber auch rechte think tanks, wichtige Einzelpersonen aus Politik und Wirtschaft und nicht zuletzt die Gruppe der neoliberalen Chicago boys.71 Während die politische Rechte (Nationalisten und Gremialisten) den Autoritarismus als notwendig für eine Neugestaltung Chiles ansahen und einige ihrer Repräsentanten hierfür auch die politischen Ordnungsentwürfe lieferten, waren es vor allem die Unternehmersektoren sowie Teile der Mittelschichten, die dem autoritären Kapitalismus fast bedingungslos zustimmten.72 Die Gründe hierfür liegen vor allem in den Erfahrungen der Allende-Ära, die die Unternehmer (auch als 'Klasse') existentiell bedroht hatte; solche Erfahrungen drohten sich durch die Unwägbarkeiten eines anderen (v.a. demokratischen) Herrschaftssystems zu wiederholen. Letzteres verweist jedoch auch darauf, daß die Zustimmung der Unternehmerschaft zum autoritären Kapitalismus eben nur fast bedingungslos war. Naturgemäß mußte sie dann an Grenzen stoßen, wenn ihr grundlegendes Überlebensinteresse tangiert wurde, wie es im Zuge der großen Wirtschaftskrise 1982 der Fall war:73 Die rigide Anwendung der marktliberalen Komponente der Anerkennungsregel durch den radikalen Neoliberalismus führte dazu, daß Teile der Wirtschaft einschließlich des Finanzsektors zusammenbrachen. Während vor allem kleine und mittlere Unternehmer auf Distanz zu Pinochet gingen, übten auch Großunternehmer und Verbände zunehmend Kritik. Die Wirtschaftskrise stellte somit einen ernsthaften Testfall der Herrschaftsstabilität dar, zumal in ihrem Gefolge auch die oppositionellen politischen Parteien wieder auf der öffentlichen Bühne auftauchten. Pinochet konnte jedoch mit einer Mischung aus Repression, Taktieren und Neuauslegung der Anerkennungsregel diesen Test bestehen: Die Prinzipen des Marktliberalismus wurden zwar beibehalten, jedoch durch eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik pragmatischer umgesetzt, was zur Erholung des Wirtschaftssystems führte. Indem Pinochet die Opposition taktisch ausmanövrierte und zusätzlich durch Repression unter Druck setzte, konnte diese keine hinlänglich attraktive Alternative entwickeln.74 Beides führte 70
Bereits Heller hatte daraufhingewiesen, daß diese Art der Verknüpfung von Autoritarismus und Liberalismus keine widersprachliche Ideologie darstellen muß (vgl. Heller 1971b, 650ff.).
"
Vgl. Friedmann 1990, 38fT.
72
Vgl. Imbusch 1995,99ff.
"
Zu den Hintergründen im einzelnen s. Kap. 11.3.
74
Detaillierter zu diesen beiden Aspekten s. Kap. 11.3 und 11.5.
83
dazu, daß zumindest die tragenden Untemehmerkreise der Anerkennungsregel wieder vorbehaltlos zustimmten und in Pinochet den Garanten für deren weitere Aufrechterhaltung sahen. Umgekehrt hatte Pinochet damit die Legitimationskrise überwunden und die Basis dafür geschaffen, seine Macht im Rahmen des von ihm etablierten Institutionengefüges zu festigen und auszubauen.
2.3 Strategische Staatselite und Steuerungsideologie Die vorangegangenen Ausfuhrungen konnten zeigen, daß erstens das Militär mit Pinochet an der Spitze das Rückgrat des autoritären Herrschaftssystems bildete; und zweitens, daß Pinochet die Stabilisierung des auf seine Person zugeschnittenen Herrschaftssystems auch über die Legitimationskrise hinweg gelang. Auch wurde darauf hingewiesen, daß die Militärs zwar über reaktive Kapazitäten sowie über ein konservatives Staatsverständnis verfügten.75 Es mangelte ihnen jedoch an klaren politischen Konzeptionen, mit denen sie eine Umgestaltung der chilenischen Gesellschaft hätten in Angriff nehmen können.76 Oder um es pointierter zu formulieren: Die Militärs mit der Junta an der Spitze verfugten zwar über die notwendige hardware, um den Staat zu reorganisieren, doch besaßen sie für die Politikgestaltung oder gar für grundlegende Reformen nicht die Software. Dies verweist auf die Frage nach der strategischen Staatselite und der Steuerungsideologie.77 Vergleicht man diesbezüglich die Pinochet-Ära etwa mit der Phase der 'peruanischen Revolution' (1968-1980), so fallen - ungeachtet der divergierenden ideologischen Inhalte - für Chile zwei charakteristische Merkmale auf: Erstens setzte sich hier die strategische Staatselite durchweg aus Militärs und Zivilen zusammen, was einerseits die personelle und programmatische Lücke auffüllte, jedoch andererseits auch die spätere Disjunktion zwischen Machterhalt (Pinochets) und Steuerungsideologie ermöglichte. In Peru hingegen waren es die machthabenden Militärs selbst, die über Jahre hinweg die Voraussetzungen für eine kompakte Staatselite mit einer eigenen kohärenten Steuerungsideologie entwickelt hatten.78 Zweitens variierten diese 'Koalitionen' über die Phase der Diktatur hinweg, d.h. Pinochet gelang es, die strategische Staatselite und damit die Steuerungsideologie an neue Herausforderungen anzupassen. Die peruanischen Militärs hingegen konnten ab 1975 nur noch reaktiv den Machterhalt sichern, nachdem das Scheitern ihrer Reformvorhaben sie altemativlos zurückließ. Analog zur Entwicklung der Herrschaftsstabilität sind in Chile drei Phasen 75
Vgl. Cristi/Ruiz 1990.
76
Vgl. stepan 1985,319fr.
77
Die folgenden Ausführungen folgen der These, daß grundlegende institutionelle Reformen um so eher möglich sind, wenn eine organisatorisch starke strategische Staatselite mit einer kohärenten Steueningsideologie vorhanden ist. Sie zielen zunächst nur auf eine mehr statische Erfassung dieser Faktoren, um sie als Voraussetzungen der Institutionenpolitik in den verschiedenen Phasen der Diktatur kenntlich zu machen. Es bleibt der weiteren Analyse der Basisinstitutionen vorbehalten, inwieweit dieses vorhandene Potential auch genutzt bzw. aktualisiert wurde und welche Dynamik und Wechselwirkung sich im Verlauf dieser Prozesse ergaben.
71
Vgl. Klein 1983; Stepan 1978, 117ff.
84
zu unterscheiden, die jeweils eine charakteristische Ausprägung von Staatselite und Steuerungsideologie beinhalten: die Phase des Gradualismus (1973-1975), die Phase des radikalen Neoliberalismus (1975-1982/83) und schließlich die Phase des pragmatischen Neoliberalismus (1983-1989/90).79 Die erste Phase kann auch als Übergangsphase bezeichnet werden, da sowohl der militärische als auch der zivile Teil der strategischen Staatselite keine große Kohärenz besaßen. Innerhalb der Militärführung existierten bis zur faktischen Durchsetzung Pinochets beträchtliche Divergenzen über den weiteren Weg der Militärdiktatur. Während vor allem die Führungskader der Luftwaffe eine gemäßigte Option verfolgten, die auch eine baldige Rückkehr zur Demokratie nicht ausschloß, zielten die Heeresführung und insbesondere Pinochet auf ein 'Gründungsprojekt', das auf eine längerfristige gesellschaftliche Umgestaltung zielte. Entscheidend für diese erste Phase war jedoch das Gewicht der Marineführung, die den Putsch wesentlich getragen hatte. Sie konnte sich zunächst innerhalb der Junta mit ihrer gemäßigten Reformstrategie durchsetzen, die das chilenische Wirtschaftssystem schrittweise 'normalisieren' und dabei durchaus auf die Vermeidung sozialer Härten achten sollte.80 Der Bedarf der Junta an wirtschaftspolitischem Sachverstand sowie die interne Machtstruktur waren ausschlaggebend für die Zusammensetzung des zivilen Teils der strategischen Staatselite. Bereits 1972 hatte die Marineführung den 'Montags-Club'81 kontaktiert und um v.a. wirtschaftspolitische Konzepte nachgefragt, die sie nach einem Putsch verwenden könnten. Daraufhin wurde unter dem Code-Namen El Ladrillo (der Ziegel) ein Team gebildet, um ein Wirtschaftsprogramm auszuarbeiten. Dieses Team repräsentierte die sogenannte 'Putsch-Koalition' und bestand aus Vertretern der beiden größten Unternehmensgruppen, von denen zwei Mitglieder im PN und in Unternehmerverbänden waren, sowie Mitgliedern der Christdemokraten, die unter Frei Positionen in der Zentralbank innehatten. Die Christdemokraten spielten jedoch eine untergeordnete Rolle in der Putschkoalition, u.a. deshalb, weil die Wortführer ihnen politisch nicht über den Weg trauten. Die signifikanteste Gemeinsamkeit des Teams bestand darin, daß acht von zehn Mitgliedern Wirtschaftswissenschaften an der Universität Chicago studiert hatten. Obwohl die Hälfte des Ladrillo-Teams bereits einen radikalen Neoliberalismus befürwortete, gerieten die Empfehlungen zu einem gradualistischen Reaktivierungsprogramm, das die Mehrheitsmeinung der Putschkoalition repräsentierte.82 Bei der Ernennung ziviler Wirtschaftsexperten in Schlüsselpositionen der Regierung war in dieser Phase somit die gradualistische Mehrheitsfraktion der Anti-Allende-Koalition privilegiert. Sie schien der Junta als personelle und programmatische Basis ihrer Regierungsarbeit geeignet zu sein, während die Ver79
Vgl. Silva 1996.
10
Vgl. Valdis 1993,43.
"
Der 'Montags-Club' bestand aus einer Gruppe von Unternehmern, die ab 1971 die Opposition (und Verschwörung) der Geschäftswelt gegen Allende zu koordinieren begannen (vgl. Silva 1996,43f.). Vgl. Silva 1996, 73ff.
"
85
treter eines radikalen Neoliberalismus (noch) in untergeordneten Positionen blieben. Zwar war die Junta darum bemüht, möglichst solche (angesehenen) Fachleute zu ernennen, die nicht zu sehr mit den Parteien und Wirtschaftsverbänden verflochten waren, doch existierten aufgrund der genannten Verflechtungen zumindest Konsultationskanäle zwischen Regierungsebene und Privatsektor. Insgesamt war aber die programmatische Ausrichtung der Politik in dieser Phase durch konkurrierende Vorstellungen geprägt, die in einer synkretistischen Steuerungsideologie resultierten:83 Während im Schlüsselpolitikfeld 'Wirtschaft' die gemäßigt-liberalen Vorstellungen dominierten, herrschten in den Bereichen 'Arbeit' und 'Soziales' eher korporatistische, von 'Gemeinwohl', 'Integration' und 'Harmonie' getragene Ideen vor; im Hinblick auf die politische Ideologie schließlich existierte ein Gemisch aus Anti-Liberalismus bzw. -Pluralismus, Elementen der katholischen Soziallehre, Nationalismus, Antikommunismus und Vorstellungen einer 'Ständegesellschaft' (gremialismo) mit begrenzter Partizipation, während demokratische Prinzipien zunehmend an Rückhalt verloren.8 Die zweite Phase (1975-1982/83) war demgegenüber geprägt von einer strategischen Staatselite, die organisatorisch wie ideologisch in starkem Maße kohärent war. Sie war es letztlich, die noch im Nachhinein das Bild der Diktatur als Ära der Chicago boys geprägt hat. In diese Phase fallen die radikalen Reformen in Wirtschafts- und Wohlfahrtsordnung sowie die Institutionalisierung der autoritären Ordnung durch die Verfassung von 1981. Sie zeichnet sich dadurch aus, daß mit dem Aufstieg der radikalen und technokratisch orientierten Reformer auch der ideologische Synkretismus der ersten Phase weitgehend bereinigt wurde, indem sie ihre marktradikale Vision auf die Gestaltung der gesamten Gesellschaft übertragen konnten. Ihre Bezeichnung erhielten sie dadurch, daß sie - eine Gruppe von ca. 100 Ökonomen - ihre Studien mit dem Diplom der Universität Chicago abgeschlossen hatten und nach ihrer Rückkehr in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik wichtige Positionen einnahmen. Sie bildeten auch weiterhin eine Art ideological community, die schließlich der AntiAllende-Koalition programmatischen Rückhalt gab. 5 Zwar gab es unter ihnen auch programmatische softliner, in der Mehrheit jedoch waren sie parteiungebundene hardliner, die die neoliberale Lehre dogmatisch vertraten und in Verbindung mit den mächtigsten Wirtschaftskonglomeraten Chiles standen.86 Aus dieser relativ homogenen Gruppe wurden von April 1975 bis Ende 1982 die Schlüsselministerien der Militärregierung besetzt.8 "
Ausführlich zu dieser ideologisch-programmatischen 'Unbestimmtheit' vgl. Vergara 1985, 15ff. Ihre Ursachen liegen in der oben bereits skizzierten ungefestigten Herrschaftsstruktur der Anfangsphase (bis April I97S), die den unterschiedlichen Strömungen einen gewissen Einfluß auf den internen politischen Diskurs ermöglichte.
14
Vgl. ebd.
"
Vgl. Valdés I993,41ff.
K
Vgl. Imbusch 1995, 281 f f ; auch im PDC gehörten 'Chicago'-Ökonomen zum Expertenteam, doch kamen sie ursprünglich von der Universidad de Chile; die meisten Chicago boys kamen von der Katholischen Universität Santiagos, die seit den fünfziger Jahren einen Kooperationsvertrag mit der Universität Chicago hatte.
"
Vgl. Délano/Traslavifla 1989, I3ff.
86
Die Gründe für den Aufstieg der radikalen Chicago boys liegen sowohl in herrschaftsspezifischen Aspekten als auch in Hegemonie-Verschiebungen innerhalb der Putsch-Koalition. In der Junta begann sich bald nach dem Putsch die Vorstellung einer 'Neugründung' der chilenischen Gesellschaft durchzusetzen. Anstatt lediglich restaurative Verhältnisse anzustreben, zielte dieses Gründungsprojekt auf eine völlige Umgestaltung des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens in Chile, deren Kontur sich zunächst aber nur aus der Erfahrung mit der Vergangenheit - als Antithese zum Estado de Compromiso - ableitete. Während die heterogenen Konzepte der Anfangsphase hierfür keinen kohärenten Steuerungsimpuls bereitzustellen schienen, konnte dieses Vakuum nun durch die Programmatik der neoliberalen Technokraten aufgefüllt werden. Ausschlaggebend für ihren Aufstieg waren jedoch die Veränderungen innerhalb der Junta selbst, die eine Machtkonzentration zugunsten Pinochets ergaben. Um seine Machtposition weiter festigen zu können, versuchte Pinochet jene Kräfte auszumanövrieren, die diesem Machtinteresse entgegenstanden: Neben den gemäßigten Militärs (v.a. der Luftwaffe) waren dies die gradualistischen Sektoren, die von einer starken Verknüpfung mit machtvollen gesellschaftlichen Interessen - v.a. den traditionellen Wirtschaftsgruppen - geprägt waren. Im Gegenzug setzte er auf ein 'autonomeres' Projekt, wie es die radikalen Chicago boys, die kaum Loyalitäten zu solchen gesellschaftlichen Akteuren besaßen, zu verheißen schienen.88 Diese nutzten ihrerseits ihre anfanglich untergeordnete Position in der Regierung, um sich durch geschicktes Taktieren gegen die gradualistische Fraktion durchzusetzen und vor allem das Vertrauen Pinochets zu erlangen.89 Die neoliberale Ideologie ihrer Lehrer in Chicago wurde von den neuen Technokraten, die von Pinochet größtmögliche Handlungsfreiheit forderten und auch erhielten, konsequent als erfolgversprechendes Gründungsprojekt propagiert. Auf die Wirtschaft gerichtet wurden dem alten Modell v.a. technokratische Argumente wie Effizienz entgegengesetzt. Zentraler Kern ihres Diskurses über Politik bildete eine abwertende Revision des vorangegangenen demokratischen Systems sowie eine Reformulierung von Schlüsselbegriffen wie Gleichheit, Freiheit, Politik und Demokratie. Über die Reinterpretation dieser Begriffe rechtfertigten die neoliberalen Technokraten einerseits die radikale Transformation und Funktionsweise der Ökonomie, andererseits die Notwendigkeit der Existenz eines autoritären Regimes, das den Übergangsprozeß zu einer vermeintlichen neuen und wahrhaften Demokratie abzusichern hatte. Daraus leiteten sie auch ab, daß jegliche soziale oder politische Kraft, die sich der ökonomischen Liberalisierung wie dem autoritären Regime widersetzte, dem Ziel der Freiheit entgegen- und der demagogischen Parteilichkeit wie dem paralysierenden Etatismus der Vergangenheit zuarbeitete. Daraus wurde die Schlußfolgerung gezogen, daß die Existenz einer starken politischen Diktatur und die Re"
Vgl. Silva 1996, lOSfT.
"
Anfangs waren Chicago boys nur im PlanungsbOro ODEPLAN vertreten, also gewissermaßen an der Peripherie des Regieningsapparates; von hier aus entwickelten sie jedoch Machtstrategien, um in die Nahe Pinochets und damit immer mehr ins politische Entscheidungszentrum zu gelangen (vgl. Silva 1991; VakUs 1993).
87
pression von Regimegegnern zu Freiheit, Gleichheit und Demokratie führe verstanden als individuelle Freiheit von Marktteilnehmern, deren Chancengleichheit sowie als echte, weil von verzerrender, organisierter politischer Partizipation absehende Demokratie.90 Der Autoritarismus wurde zur notwendigen Bedingung, da nur er den Druck, die Forderungen und den Widerstand jener sozialen und politischen Sektoren neutralisieren konnte, die von den Folgen der Reformen betroffen waren und somit die ökonomische Basis der zukünftigen 'geschützten' Demokratie gefährdeten. Solange ein freier Markt nicht konsolidiert sei, bestehe die Gefahr des Rückfalls in die Vergangenheit und noch keine Chance für echte Demokratie. Deshalb zielten die Transformationen auch - zumindest der Ideologie nach auf eine Art Umerziehung der chilenischen Bevölkerung, um ihre Mentalität vom 'Sozialisierungshabitus' zu befreien und für eine neue 'technische' Demokratie vorzubereiten. Von daher wurde auch die permanente Exklusion bestimmter Gruppen der Gesellschaft gerechtfertigt, insbesondere jener, die das Privateigentum einschränken und Wirtschaftsentwicklung planen wollten. Die neue Ordnung mußte sich also vor ihren 'Feinden' schützen, die vom Regime für praktische Zwecke als Parteigänger oder Komplizen des Marxismus benannt wurden. Dies schlug sich letztlich auch in den Barrieren der Verfassung von 1980 nieder, die maßgeblich vom Diskurs der Neoliberalen geprägt und in Anlehnung an ein Werk v. Hayeks 'Verfassung der Freiheit' genannt wurde.91 Die dritte Phase (1983-1990) wurde damit eingeleitet, daß Pinochet sich im Zuge der Wirtschaftskrise dazu gezwungen sah, die radikalen Chicago boys zumindest aus den Schlüsselpositionen der Regierung zu entfernen. Die Hintergründe für diesen Wechsel der strategischen Staatselite und die damit verbundene Modifikation der Steuerungsideologie liegen erneut in den Herrschaftsinteressen Pinochets sowie in Verschiebungen der ihn stützenden zivilen Sektoren. Die Strategie Pinochets, sich über ein chilenisches Wirtschaftswunder eine eigenständige und 'positive' Legitimationsbasis zu verschaffen, wurde durch die Wirtschaftskrise ernsthaft bedroht. Zunächst unterminierten die negativen Wirtschaftsergebnisse nur die propagierte Erfolgsstory, wonach Chile bereits auf dem Weg zum take off war, und Pinochet hielt eine Zeitlang an den Chicago boys und ihrer Doktrin fest. Erst als sich die Anzeichen mehrten, daß die Unternehmer und ihre Verbände auszuscheren drohten, lenkte Pinochet ein. Ausschlaggebend war letztlich, daß die Tiefe der Krise zumindest die Möglichkeit eröffnete, daß sich die Unternehmer und die wiedererstarkten Oppositionsparteien annäherten.92 Diese neue strategische Staatselite zeichnete sich dadurch aus, daß sie zwar auch die Grundprinzipien einer 'neoliberalen' Marktwirtschaft verfochten, jedoch in der Anwendung weitaus pragmatischere Lösungen verfolgten und damit den neuformierten Unternehmerinteressen entgegenkamen. Wie oben gezeigt, 90
Vgl. de Vylder 1989; Tironi/Vergara/Baflo 1988.
"
Vgl. Silva I 9 8 7 , 8 8 f f .
,J
Vgl. Silva 1996, l82fT.
88
bedeutete der Wechsel zum pragmatischen Neoliberalismus keine Änderung der Anerkennungsregel. Hinsichtlich der Steuerungsideologie beinhaltete er jedoch insofern eine grundlegende Modifikation, als wieder stärker regulative Elemente Eingang in die Wirtschaftspolitik fanden. Sie erlaubten zwar die Beibehaltung der Konzeption einer freien und offenen Marktwirtschaft, konnten aber auch die spezifischen Problemlagen Chiles in Rechnung stellen. Signum dieser neuen Staatselite war weniger ihre Kohärenz als vielmehr der spezifische Artikulationsmodus zwischen den technokratischen Politikern und den Unternehmern. Im Gegensatz zur hohen Autonomie der Chicago boys bei Formulierung und Implementierung der Politik wurden diese Prozesse nun durchlässiger gestaltet: Während die Regierung in erster Linie auf die Kohärenz der Wirtschaftspolitik im Rahmen der allgemeinen Leitlinien achtete, wurde die Politikformulierung stärker mit den Wirtschaftsverbänden abgestimmt.93
2.4 Fazit Die politischen Kontextvariablen, die der folgenden Analyse der institutionellen Ordnungen insgesamt zugrunde liegen, weisen zunächst darauf hin, daß in der Ära Pinochet sowohl für die Bildung wie für die Aufrechterhaltung von Institutionen ein stark autoritär geprägter staatlicher Kontext vorlag. Mit anderen Worten spricht dies dafür, daß die Institutionenpolitik in diesem Zeitraum stark von staatlicher Setzung und staatlichem Zwang dominiert war. Das Herrschaftssystem war nach der repressiven Konsolidierung ab 1974 auch weitgehend stabil, indem Pinochet seine Macht konzentrieren und (auch konstitutionell) absichern konnte. Eine Ausnahme bildete hier lediglich die Krisenphase um 1982, als der ökonomische Legitimationspfeiler ins Wanken geriet, doch gelang es Pinochet, das Herrschaftssystem teils repressiv, teils durch geschicktes Taktieren, aber auch durch Relegitimierung abzusichern. Für die beiden Phasen stand ihm außerdem jeweils eine relativ kompakte strategische Staatselite zur Verfügung, die nicht zuletzt aus Gründen der Herrschaftsstabilität eingesetzt wurde. Sie verfügte nicht nur über eine je eigene Steuerungsideologie, sondern auch über eine - je unterschiedlich gegründete - hohe Handlungskapazität. Diese Faktoren scheinen dafür zu sprechen, daß vor allem in den Phasen 1975-1982 sowie 1984-1990 insgesamt günstige Bedingungen für die Errichtung und Stabilisierung neuer Institutionengefüge vorlagen. Sie lassen auch den vorläufigen Schluß zu, daß die Schaffung dieser Bedingungen in erster Linie durch das Interesse Pinochets motiviert war, die unumschränkte Macht zuerst zu erlangen und dann schließlich abzusichern und zu erhalten. Die folgenden Teilanalysen zeigen, inwiefern sich diese Kontextbedingungen auf Bildung und Wirkung der Basisinstitutionen auswirkten und umgekehrt.
"
V g l . Silva 1 9 9 6 , 1 9 2 f f .
89
3. Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsentwicklung Seit Beginn der Diktatur stand die Restrukturierung des Wirtschaftssystems an oberster Stelle der Regierungsagenda, doch blieb die Veränderung der Spielregeln im Rahmen der gradualistischen Wirtschaftspolitik eher moderat. Die eigentliche Umgestaltung der Wirtschaftsordnung erfolgte erst ab April 1975 unter dem radikalen Neoliberalismus, d.h. nach dem Wechsel der strategischen Staatselite im Verbund mit der Modifikation der Herrschaftsstruktur. In diesem Kapitel werden auf Grundlage der genannten Kontextbedingungen dieser Restrukturierungsprozeß und seine Folgen analysiert, wobei die Darstellung zunächst dem historischen Ablauf folgt (Aufstieg, Niedergang und Reform des radikalen Neoliberalismus). Eine eigene Behandlung erfordert anschließend das labor regime, das hinsichtlich der Institutionenbildung eigene Charakteristika aufweist. Schließlich wird die Auswirkung dieser institutionellen Arrangements auf die ökonomische Entwicklungsleistung untersucht.
3.1 Institutionenbildung als 'Experiment': Radikaler Neoliberalismus (1974-1982) Der Aufstieg der radikalen Chicago boys und der bedingungslose Rückhalt, den Pinochet ihnen gewährte, resultierten in einem Modus der Politikgestaltung, der die Wirtschaftsequipe von jeglichem gesellschaftlichen Druck - auch und v.a. aus dem eigenen Lager - isolierte.94 Die neoliberalen Technokraten konnten so eine Institutionenbildung betreiben, die dem Typus 'autoritäre Setzung' weitgehend nahekommt. Der repressiv-autoritäre Kontext des Herrschaftssystems sowie die Akzeptanzbereitschaft seitens der Unternehmerschaft schienen überdies sicherzustellen, daß kaum mit Implementations- und Stabilisierungsschwierigkeiten zu rechnen war. Vom oben skizzierten Wechsel der Staatselite und der Steuerungsideologie profitierten zwar sowohl Pinochet als auch die Vertreter der neoliberalen Equipe, die mit den international ausgerichteten Wirtschaftskonglomeraten verflochten waren.95 Letztlich gaben jedoch die historischen Begleitumstände den Ausschlag für diesen Wechsel und öffneten so das Fenster für den Umbau der Wirtschaftsordnung. Was waren die Alternativen? - Die gradualistische Wirtschaftspolitik hatte bis Anfang 1975 nicht zu der gewünschten Erholung der chilenischen Wirtschaft gefuhrt. Trotz der optimistischen Projektionen der zivilen Wirtschaftsequipe wiesen die Indikatoren auf anhaltende ökonomische Ungleichgewichte hin: Die Inflationsrate lag höher als zu Allendes Zeiten, die Reallöhne waren weiter drastisch (gegenüber 1970 um ein Drittel) gefallen, die Arbeitslosigkeit 94
Selbst „El Mercurio", die publizistische Bastion des Neoliberalismus, charakterisierte die Equipe als eine, die ihre Gründe kaum erklärte und ihre Entscheidungen nicht vorab mitteilte (vgl. Valdis 1993,44).
95
Vgl. Silva 1996, 142f.
90
stieg über 10% und die Industrieproduktion erlitt zu Beginn des Jahres einen starken Einbruch. Hinzu traten nun auch ernsthafte Probleme der Zahlungsbilanz, die angesichts sich verschlechternder terms of trade, steigender internationaler Zinssätze und der Verschuldungssituation die Regierung vor kaum lösbare Managementprobleme stellte.96 Dies führte zu wachsenden Divergenzen innerhalb der Regierung über die geeignete Wirtschaftsstrategie. Die mageren Resultate wurden in Regierungskreisen um Pinochet zunehmend mit der Unbeweglichkeit der gradualistischen Politik in Verbindung gebracht. Andererseits mußten die Alternativen im Rahmen der ideologischen Bandbreite gesucht werden, wie sie in der Putschkoalition vorherrschten. Diesen Rahmen zu verlassen, hätte eine Öffnung zu Mittel- und Arbeiterschichten erfordert und damit letztlich eine andere Regierung. Dies begünstigte die Option der neoliberalen Technokratie, die sich innerhalb des Regierungsblocks geschickt als einzig kohärente Lösung der drängenden Probleme zu präsentieren wußte. Hierzu nutzte sie zunehmend auch die Öffentlichkeit, um den Gradualismus zu diskreditieren.97 Mit der Ernennung von Jorge Cauas zum Finanzminister und vor allem von Sergio de Castro, dem emphatischsten Vertreter einer monetaristischen Schockbehandlung, zum Wirtschaftsminister im April 1975 hatten sie ihr Ziel erreicht.98 Den immens hohen Handlungsspielraum, der den Chicago boys zu Verfugung stand, nutzten diese innerhalb relativ kurzer Zeit, um ihre Optionen ohne größere Restriktionen zu realisieren. Ganz im Sinne Pinochets folgten sie mit dem radikalen Neoliberalismus einem Ordnungskalkül, das diametral dem Modell des Estado de Compromiso widersprach. Neben der Vision einer Gesellschaft atomisierter, entpolitisierter und konsumorientierter Individuen vertraten sie insofern die Universalisierung des Marktprinzips, als in allen gesellschaftlichen Bereichen die Beziehungen marktfÖrmig strukturiert und alle übrigen Formen gesellschaftlicher Organisation und Steuerung möglichst ausgeschlossen werden sollten. In erster Linie betraf dies das Wirtschaftssystem, in dem dem Marktprinzip als allein gültigem Allokationsmechanismus zufolge alle Behinderungen - i.e. staatliche und politische Eingriffe - auszuschalten waren. Staatliches Handeln sollte demzufolge beschränkt werden auf seine Rolle als Ordnungshüter zur Gewährleistung von Stabilität und Transparenz, auf die Bereitstellung öffentlicher Güter (Verteidigung, Rechtsprechung) sowie die Schaffung einer notwendigen Basisinfrastruktur. Zwar waren bereits in der gradualistischen Phase einige Maßnahmen dem orthodox-monetaristischen Konzept gefolgt, doch erfolgte nunmehr dessen konsequente und nahezu irrestriktive Anwendung, die sich durch ihre anfänglichen Erfolge quasi selbst verstärkte. Der Umbruch der Wirtschaftsordnung ist vor *
Vgl. Vergara 1985, 74ff.
97
Ihr Forum war in erster Linie „El Mercurio", doch inszenierten sie auch Ofientlichkeitswirksame Ereignisse wie eine Konferenz mit Friedmann selbst im Marz 1975, mit der sie gewissermaßen das (vorerst) letzte Gefecht einleiteten (vgl. Silva 1996,101).
*
Vgl. Vergara 1985, 78; Silva 1996, I08ff.
"
Vgl. Tironi et al. 1988; de Vylder 1989.
91
allem dadurch charakterisiert, daß das Prinzip eines freien und offenen Marktes in bis dahin ungekannter Breite, Tiefe und Schnelligkeit umgesetzt wurde ganz abgesehen von der Rigorosität und dem Dogmatismus, den die neoliberale Equipe an den Tag legten.100 Weniger das Leitprinzip des freien Marktes als solches, sondern die forcierte Umgestaltung der relevanten Teilregimes nach diesem Prinzip ergab schließlich den Bruch mit der alten Wirtschaftsordnung, die den Estado de Compromiso geprägt hatte. Deregulierungen und Privatisierungen von Staatsbetrieben im Innern, nach außen der abrupte Anschluß an die Weltmärkte ohne Rücksicht auf Verluste der ineffizient gewordenen Betriebe (insbesondere im Industriesektor) sowie die Öffnung des Finanzsektors waren die bereits früh eingeführten Maßnahmen. Charakteristisch war insbesondere die Veränderung der Staatsfunktionen, die an den Prinzipien von Minimalstaat und Subsidiarität ausgerichtet wurden, da als gravierendstes Funktionsproblem eines auf anhaltende und sich selbst tragende Entwicklung gerichteten Wirtschaftssystems das Staatsversagen galt.101 Die Errichtung der neuen Wirtschaftsordnung erfolgte in den einzelnen Teilregimen nicht einheitlich, sondern wurde innerhalb von vier Jahren gewissermaßen an den verschiedenen Fronten immer weiter vorangetrieben und vertieft. Die Wirtschaftsequipe um de Castro konnte so ihre Vorstellungen einer freien und offenen Marktwirtschaft zwar planvoll vorantreiben, besaß jedoch auch genügend Spielraum, um diese schrittweise Veränderung mit konjunkturellen Entwicklungen in Einklang zu bringen. Mitte des Jahres 1979 sah sie schließlich ihr Ziel weitgehend erreicht. Der oben getroffenen Unterscheidung zwischen Binnenwirtschafts- und Außenwirtschaftsordnung folgend kann dieser grundlegende institutionelle Wandel an nahezu allen relevanten Elementen aufgezeigt werden. Im Hinblick auf die Binnenwirtschaft lassen sich diese Prozesse zusammenfassen als Privatisierung (Eigentumsordnung), Liberalisierung bzw. Deregulierung (Wettbewerbsordnung) und Disziplinierung der Geld- und Fiskalpolitik.102 Privatisierung: Dem Privatsektor kam schon seit Beginn der Diktatur (wieder) die wichtigste Rolle im Wirtschaftssystem zu - eine Art Minimalkonsens, der angesichts der wenig ausgearbeiteten Entwicklungsstrategien der Militärs durch die Nähe zu den dominanten Machtgruppen zu erklären ist. Unter der radikalen Wirtschaftsordnungspolitik wurde die Rolle des Privatunternehmens und des Privateigentums als strategische Schlüsselvariable des Entwicklungsprozesses jedoch geradezu gefeiert. Allerdings ist hier zu berücksichtigen, daß den neoliberalen Technokraten am Funktionieren des marktwirtschaftlichen Gesamtsystems gelegen war, weniger am Überleben einzelner Unternehmen. Entsprechend wurde der Privatsektor (wie auch die verbliebenen Staatsunterneh100
Die Rigidität dieser Politik, gelegentlich auch als 'Laborversuch' zur Umsetzung einer imAooi-Version der monetaristischen Variante des Neoliberalismus bezeichnet, wird in zahlreichen Veröffentlichungen betont (vgl. stellvertretend Foxley 1982,38; Valdis 1993,58).
101
Vgl. Tironi et al. 1988,69ff.
102
Zum folgenden vgl. Melier 1990; Imbusch 1995,155ff.
92
men) durch den abrupt einsetzenden Konkurrenzdruck in einen Anpassungsprozeß gezwungen, unter dem ganze Branchen litten (wie etwa der Industriesektor). Konsequenterweise bedeutete dies umgekehrt, daß der Staat nicht nur neue Spielregeln etablierte und anschließend für deren Einhaltung sorgte, sondern er sich selbst aus dem gesamtwirtschaftlichen Produktionsprozeß sowie aus dem Finanzsystem zurückzog.103 Tab. 1: Anzahl staatlicher Unternehmen104 1970 CORFO-Filialen Unternehmen Banken Intervenierte Unternehmen gesetzlich kreiert Unternehmen" Banken Total
1073*
1983c
46 0 0
228 18 259
23 1 0
20 1 67
23 1 529
22 1 47
a inkl. Unternehmen und Banken mit CORFO-Minderheitsbeteiligung b ab 1973 inkl. CODELCO c ohne die krisenbedingt intervenierten Banken und Unternehmen
Während in einer ersten Phase (1974/75) die Rückgabe der meisten (ca. 360) von Allende verstaatlichten Unternehmen erfolgte, ging die Regierung ab 1975 daran, die Banken sowie auch solche Betriebe zu privatisieren, für deren staatliche Kontrolle bis 1970 ein hoher politischer Konsens bestanden hatte. Zwischen 1975 und 1980 waren von diesem Prozeß weitere 90 Unternehmen und 16 Banken betroffen.105 Diese zweite Privatisierungswelle war dadurch geprägt, daß die Unternehmen weit unter Wert verkauft bzw. versteigert wurden, wovon in erster Linie die großen Wirtschaftskonglomerate profitierten. Nimmt man die kurze, wenngleich an Verstaatlichungen intensive Ära Allende einmal aus (genauso wie die 'paradoxen Verstaatlichungen' unter Pinochet 1983), so befanden sich zu Ende der Regierung Frei 1970 67 Unternehmen in öffentlicher Hand, während es 1983 noch 47 waren.106 Immerhin sechs der zehn größten Unternehmen des Landes blieben aus Gründen der 'nationalen Sicherheit' vorerst weiterhin staatlich. Von den Restaurationsmaßnahmen wurde auch der Agrarsektor erfaßt, doch fand kein völliges Zurückdrehen der unter Frei begonnenen und unter Allende per Enteignungen radikalisierten Agrarreform statt. Zwar wurde ca. ein Viertel der enteigneten Flächen an die früheren Besitzer zurückgegeben, doch wurde der Rest an neue Eigentümer transferiert. Vor 103
Vgl. ebd., 182ff.
104
Quelle: Säez 1993a, 79
105
Vgl. Dabrowski 1995, 108.
106
Vgl. Siez 1993a, 80.
93
allem blieb ein Erfolg der Frei'schen Agrarreform insofern bestehen, als die Zerschlagung des früheren Großgrundbesitzes nicht rückgängig gemacht wurde und somit die Großgrundbesitzer ihre Machtposition nicht wieder zurückerobern konnten.107 Liberalisierung/Deregulierung: Getreu dem Grundsatz, daß 'unverfälschte' Marktsignale für eine optimale Ressourcenallokation notwendig seien, verschärfte die Regierung ab 1975 den Prozeß der Liberalisierung und Deregulierung. 1980 existierten nur noch für 15 Güter Preiskontrollen und die zahlreichen Wettbewerbsbeschränkungen (etwa durch staatliche Quasi-Monopole) waren abgebaut. Der Staat ließ somit nicht nur von direkter Intervention in das Wirtschaftsgeschehen ab, sondern gab auch eine große Anzahl wirtschaftspolitischer Instrumente aus der Hand, die ihm zuvor eine Regulierung der Wirtschaftsentwicklung erlaubt hatten. Dies betraf vor allem den Finanzsektor, durch dessen sukzessive Liberalisierung (freie Bildung der Zinssätze, freie Allokation von Krediten, Schaffung neuer Finanzinstitute) sich die Chicago boys sowohl eine Ausweitung des Finanzvolumens als auch die Erhöhung der nationalen Sparquote erwarteten. 1975 wurden die meisten der noch in Staatsbesitz befindlichen Banken verkauft, der Zinssatz freigegeben und die Kontrolle über die Kreditvergabe weitgehend eliminiert. Bereits im September 1974 war das Geschäftsverbot für ausländische Banken aufgehoben worden. Während dadurch die Bedeutung des Finanzsektors enorm wuchs, fand umgekehrt kaum noch eine Kontrolle seitens der geldpolitischen Behörden statt.108 Geld- und Fiskalpolitik: Die Zurückdrängung der Rolle des Staates setzte sich auf dem Gebiet der Fiskalpolitik fort. Die Steuerreformen (Abschaffung der Vermögens- und Kapitalertragssteuer, Senkung der Körperschaftssteuer, Einführung der Mehrwertsteuer) hatten sowohl ein regressiv wirkendes Steuersystem als auch die drastische Verminderung der Staatseinnahmen zur Folge. Vor allem aber folgte die Regierung der neoliberalen Doktrin darin, daß die störenden Interferenzen durch die öffentlichen Haushaltsdefizite auf Dauer zu beseitigen waren. Entsprechend wurde ab 1975 das Haushaltsdefizit drastisch zurückgeführt, von 1979 bis 1981 sogar ein Überschuß erzielt; nach der Krise konnte ab 1986 diese Politik fortgesetzt werden.109 Erreicht wurde dies insbesondere durch Kürzungen bei Sozialausgaben und Investitionen.110 Wichtigstes Ziel war dabei in der ersten Phase ab April 1975 die Bekämpfung der Inflation, die als Resultat öffentlicher Haushaltsdefizite angesehen wurde; erst später wurden internationale Faktoren stärker gewichtet. 101
Vgl. Silva 1987,208ff.
"* Vgl. Spielmann 1992, 166f. 109
Das Defizit betrug 1974 noch 1,15 Mrd. USS, 1975 nur noch 0,25 Mrd. US$ und erreichte 1979 0,1 Mrd. USS; die Oberschosse bis 1981 bewegten sich zwischen 0,2 und 0,42 Mrd. USS. Der sprunghafte Anstieg des Defizits zwischen 1982 (0,29 Mrd. USS) und 1985 (0,84 Mrd. USS) resultierte aus dem steigenden Schuldendienst, den Folgelasten durch die Umstellung des Rentenversicherungssystems sowie den temporaren sozialen Assistenzmaflnahmen im Zuge der Wirtschaftskrise (vgl. PET 1990, 90f.; Angaben in USS von 1976).
' 10 Genauer hierzu s. Kap. 11.4.
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Parallel zur institutionellen Neuordnung der Binnenwirtschaft erfolgte zwischen 1975 und 1979 die abrupte Öffnung der chilenischen Volkswirtschaft. Kernpunkte dieses institutionellen Wandels betrafen den Handel mit Waren und Dienstleistungen, den Finanzsektor sowie die Wechselkurspolitik. Öffnung des Außenhandels: Unter dem Stichwort der Liberalisierung wurde nicht nur die Deregulierung des Binnenmarktes eingeleitet, sondern auch mit dem Protektionismus des ISI-Modells aufgeräumt. Hatten die durchschnittlichen Importzölle 1973 bei 94% gelegen" 1 , so wurde bis 1979 deren Senkung auf einheitlich 10% durchgesetzt. Mit dieser abrupten Öffnung zur Weltwirtschaft wurde die chilenische Ökonomie in einen Umstrukturierungsprozeß gezwungen, der sie zu einer der offensten in der Welt machte (1990: Anteil der Exporte am BIP 36,6%) und zu einer Diversifizierung der Exportpalette beitrug. Öffnung der Kapitalmärkte: Die Öffnung der Kapitalmärkte führte u.a. 1976 zum Gesetz über Auslandsinvestitionen (D.L. 600), das über attraktive Bestimmungen internationale Investoren anziehen und die notorisch niedrige nationale Investitionsquote ausgleichen sollte; damit wurden explizit auch transnationale Konzerne als development agents anerkannt. Auch ermöglichte es die Erleichterung der Finanztransaktionen bei Reduzierung der Staatskontrolle bzw. -aufsieht den Banken, sich direkt im Ausland zu verschulden, wodurch die Kontrolle über das Geldangebot erschwert wurde. Wechselkurspolitik: Der Wechselkurs wurde ab 1976 als Instrument zu Inflationskontrolle angesehen, da Ausgabenkürzungen und Geldpolitik nicht das gewünschte Ergebnis gebracht hatten. Internationale Preis- und Wechselkursschwankungen wurden als primäre Ursachen der Inflation angesehen, nachdem der Staatshaushalt nahezu ausgeglichen war. Im Gefolge zweier PesoAufwertungen 1975 und 1976 ergab sich jeweils ein deutlicher Rückgang der Inflationsrate. Schließlich wurde 1979 der Wechselkurs in der Hoffnung fixiert, daß sich die Binneninflation automatisch an die Außeninflation anpassen würde. Ein dezidiertes Management unterblieb, weil man ebenso auf die automatische Anpassung des realen Wechselkurses vertraute." 2 In der Gegenüberstellung wichtiger Ordnungsmerkmale von Estado de Compromiso (in der Version Allende) und der 'neuen' Ordnungspolitik werden die drastischen Umbrüche deutlich, die eine offene und freie Marktwirtschaft ergaben:
'"
Das alte System umfaßte 5.125 verschiedene Zollaiten, deren Höhe zwischen 10% und 220% lag (vgl. Spielmann 1992, 168).
112
Vgl. Spielmann 1992, 179.
95
Abb. 5: Ordnungspolitische Reformen unter Pinochet"1
Ordnungskalkal
Privatisierung
Status quo 1972 Staatliche Regulation und Planung Funktionsproblem: Marktversagen staatliche Redistribution soziale Inklusion durch Staat Staatliche Kontrolle Ober 329 Unternehmen und Banken
1980 Marktuniversalität Funktionsproblem: Staatsversagen markt förmige Eigentumsordnung soziale Inklusion als Marktteilnahme 1980: noch 25 Unternehmen in Staatsbesitz
Allgemeine Preiskontrollen
Marktpreise (außer Wechselkurs)
multipler Wechselkurs zahlreiche nicht-tarif&re Hemmnisse differenziertes System hoher Zölle Verkaufssteuem hohe Haushaltsdefizite Kontrollierte Zinssatze Banken in Staatsbesitz Allgemeine Kreditkontrollen
einheitlicher Wechselkurs keine Importbeschränkungen einheitlicher Zollsatz (10%) allgemeine Mehrwertsteuer HaushaltsUberschllsse Marktzinssatze Reprivatisierung der Banken Liberalisierung der Kapitalmarkte
Kontrolle der Kapitalbewegungen
Liberalisierte Kapitalbewegungen
starke Gewerkschaften erschwerte Entlassungen obligatorische Lohnanpassungen hohe Lohnnebenkosten (40%)
atomisierte Gewerkschaften Entlassungen flexibilisiert Reduktion der Reallohne geringe Lohnnebenkosten (3%)
Preise Handelsregime Fiskalregime
Finanzmarkte Kapitalmobilität Arbeitsgesetzgebung
Die makroökonomischen Daten der Jahre 1976 bis 1981 zeigen, daß nicht nur für die Protagonisten der neuen Wirtschaftsordnungspolitik Anlaß zur Hoffnung auf ein chilenisches Wirtschaftswunder bestand. Sieht man vom eher langsamen Rückgang der Arbeitslosenrate und der rasch ansteigenden Auslandsverschuldung ab, so schien die Umstellung von einem staatsintervenierten zu einem stark marktwirtschaftlich geprägten Wirtschaftssystem gelungen zu sein.
Tab. 2: Wirtschaftsindikatoren 1970-1981"' Wachstum BIP BSP per capita (1970 -100) Inflationsrate Investitionsquote Arbeitslosenrate Reallohne (1970- 100) Mindestlohne (1978 » 100) Verschuldung (Mrd USS) Exporte (Mio. USS) Importe (Mio USS)
1970 3,6 100 36,1 20,4 5,7 100 k.A. 3,1 1247 1148
1973 1974 -4,3 5,5 97 96 605,9 369,2 14,7 17,4 4,8 9,2 77,6 65,0 k.A. 76,9 4,0 4,8 1463 2372 1646 2363
113
Quelle: Meiler 1990,77.
114
Quellen: Imbusch 1995,169; PET 1990.
96
1975 -12,9 82 343,3 15,4 16,4 62,9 73,2 4,8 1838 2049
1976 3,5 84 197,9 12,7 19,9 64,7 81,2 4,7 2116 1473
1977 9,9 90 84,2 13,3 18,6 71,4 84,7 5,2 2185 2151
1978 8,2 96 37,4 14,5 17,9 76,0 100 6,7 2460 2886
1979 8,3 102 38,9 15,6 17,7 82,2 96,8 8,5 3835 4190
1980 7,8 108 31,2 17,6 15,7 89,3 97,0 11,1 4705 5469
1981 6,2 113 19,7 19,5 15,6 97,3 96,3 15,6 3836 6513
3.2 Krise, Reform und Re-Stabilisierung (1983-1990) Die Grundpfeiler der neuen Wirtschaftsordnung legten das staatliche Handeln im (wirtschaftlichen) Entwicklungsprozeß auf neue Koordinaten und somit auf veränderte Funktionen und Handlungsspielräume fest. Sie schrieben dem Privatsektor eine dominante Rolle zu und sorgten für die bis heute gültige Außenöffnung eines liberalisierten und flexibilisierten Wirtschaftssystems. Diese grundsätzliche Neujustierung der Wirtschaftsordnung und die aus ihr resultierenden Modemisierungseffekte und -erfolge dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß der neoliberale Modernisierungsweg ein eher riskantes Unterfangen war. Wie oben dargestellt, erlaubten die politischen Rahmenbedingungen eines autoritären Staates mit großer Autonomie der strategischen Staatselite zwar insgesamt die weitreichende Umsetzung einer neoliberalen Wirtschaftsordnung, doch war dies weder gleichbedeutend mit einem effizienten Institutionengefüge noch mit einer stets kohärenten und homogenen Wirtschaftspolitik. Nachdem die chilenische Wirtschaft von der Stabilisierungs- und Normalisierungsphase durch die Schockpolitik der Chicago boys ab 1976 in die BoomPhase des milagro chileno eingetreten war,"5 sah sich die Wirtschaftsequipe der Regierung in ihrer 'neutralen', alleine auf die automatischen Anpassungsprozesse eines offenen Marktes setzenden Politik bestätigt. Die sich 1981 ankündigende Krise bedeutete dann jedoch einen Rückschlag, der nicht als einfache 'Schwankung' verbucht werden kann, nicht zuletzt deshalb, weil die sozialen und wirtschaftlichen Kosten immens waren und das Entwicklungsniveau nachhaltig beeinflußten.116 Die Suche nach den Ursachen legt ein ganzes Bündel von internen und externen Faktoren offen,117 die von Experten recht unterschiedlich gewichtet wurden: Während die einen das Scheitern des Modells als solches betonten, kritisierten andere lediglich dessen Anwendung (dogmatische Implementierung bzw. 'unverständige' Wirtschaftsakteure) oder machten ausschließlich die internationalen Rahmenbedingungen verantwortlich."8 Doch auch jenseits dieses Streits stellt sich die Frage, wie die verantwortliche Wirtschaftsequipe auf die Krise reagierte. Damit rücken letztlich weniger die ökonomischen denn die politischen Variablen ins Blickfeld, und zwar im engeren Sinne die Ausgestaltung des 'neuen' Handlungsspielraumes des Staats und sein ökonomisches Management, das er auch innerhalb des selbstgesteckten Rahmens hätte verwirklichen können. Der Befund darüber ist in der Literatur relativ eindeutig:119 Anstatt gegenüber den 'externen Schocks' erst die gewohnte 'neutrale' Politik der automatischen An"'
Die Wachstumsrate des BIP pro Kopf lag im Zeitraum 1977-1981 bei Ober 6%, die Inflationsrate ging von 211,9% (1976) Ober 33,4% (1979) auf 9,9% (1982) zurtlck (vgl. Spielmann 1992,237,241).
116
Das BIP pro Kopf fiel auf einen Weit unter dem des Jahres 1974 zurtlck und erreichte erst 1988 wieder den Stand von 1981; 1986 wurde wieder der Stand von 1970 eueicht (vgl. Spielmann 1992,237).
" ' Vgl. Melier 1992,31 ff. " ' Vgl. Meiler 1983, 125. Vgl. Ffrench-Davis 1982; Foxley 1982; Meiler 1983; Vergara 1985; Spielmann 1992, 160; Edwards/Cox 1987; aus dem Regimelager eher verhalten, aber ebenso eindeutig Piflera 1990, 143ff.
97
passung und dann verspätetes Krisenmanagement zu betreiben, wäre es den verantwortlichen Akteuren möglich gewesen, ein vorausschauendes Management zur Verhinderung der Krise zu betreiben. Ihr Versagen - und damit letztlich das Versagen des Staates - hat mehrere Ursachen, die mit der Funktionsweise des autoritären Staates zusammenhängen und den teils bizarren Charakter der Modernisierung offenlegen. Im Kern sind hier drei Faktoren auszumachen: • Die wechselseitige Abhängigkeit von autoritärer Herrschaft und neoliberaler Wirtschaftsordnung hatte die politische Autonomie der Regierung und damit der für die Wachstumsstrategie verantwortlichen Equipe der Chicago boys derart erhöht, daß das policy making den ideologisch 'reinen' Prinzipien folgen konnte, wie insbesondere das Festhalten am Mechanismus automatischer Anpassung zeigte. • Dies führte auch dazu, daß durch die Beschneidung der Austauschkanäle zwischen den Teilsystemen und den authorities eine mangelnde Rezeptionsfähigkeit für Krisensignale aus dem Wirtschaftssystem resultierte.120 Selbst massive Firmenzusammenbrüche wurden weitestgehend als 'heilsam' für die Entwicklung der Volkswirtschaft angesehen.121 • Dies spielte zusammen mit dem Dogmatismus und dem technokratischen Selbstverständnis der verantwortlichen staatlichen Akteure, die sie zu einer Unterschätzung der Komplexität des Marktgeschehens wie auch zur Verkennung gesellschaftlicher Determinanten des Wirtschaftsgeschehens verleitete. Insbesondere das immense Anwachsen der Arbeitslosigkeit war ein Indikator dafür, daß die monetaristische Ideologie nicht einmal ausreichte, auch nur eine adäquate Problemdefinition zu liefern. Die tiefe Wirtschaftskrise führte zu nicht-intendierten, geradezu paradoxen Ergebnissen der neoliberalen Reformpolitiken und provozierte seitens der Kritiker teilweise zynische Beurteilungen ('monetaristischer Weg zum Sozialismus' aufgrund der staatlichen Übernahme der vom Zusammenbruch bedrohten Banken inkl. der damit kontrollierten Produktionsbereiche). Zu der bereits erwähnten Legitimationskrise trat vorübergehend auch der ordnungspolitisch kontraproduktive Effekt des Vertrauensverlustes in das Wirtschaftsmodell. Noch im Umfeld der Krise wies Meiler darauf hin, daß das Modell sich erschöpft hätte und gescheitert sei, mit Konsequenzen auch für das politische Modell. Insbesondere hebt er als Element des Vertrauensverlustes seitens der Unternehmer die Tatsache hervor, "... daß es in den letzten zwölf Monaten eine solche Menge widersprüchlicher, übereilter, irriger und wechselnder Wirtschaftsmaßnahmen gegeben hat, daß genügend Material für ein Handbuch vorliegt, wie Wirtschaftspolitik nicht zu betreiben ist"122. Insgesamt reagierte die Regierung mit "macro-
120
Vgl. Meiler 1992,38ff.
121
Vgl. Spielmann 1992, 160; die Zahl der Firmenzusammenbrüche stieg von 25 (1973) Uber 132 (1976) und 321 (1978) auf431 (1981) und schließlich 810 (1982) (vgl. Dilano/Traslavifla 1989,99). Melier 1983, 135.
98
economic policies of chaos "m, abzulesen insbesondere an den erratischen Wechselkurs- und Geldpolitiken.124 Anspruch und Wirklichkeit des Funktionierens der neoliberalen Ordnungspolitik traten so durch das dogmatische staatliche Mißmanagement weit auseinander:125 Der Versuch, den Privatsektor zum ausschließlichen Motor von Produktion, Wirtschaftswachstum und Entwicklung zu machen und den öffentlichen Sektor als per definitionem ineffizienten Akteur auszuschalten, schlug fehl. Richtigerweise spricht Meiler davon, daß die 'massenhaften' Irrtümer der privaten Wirtschaftsakteure weniger dem individuellen Fehlverhalten als dem applizierten Modell und seine falschen Anreizen zuzuschreiben ist. Das System freier Märkte, auf denen atomisierte Individuen für die einzig mögliche Effizienz der Ressourcenallokation sorgen sollten, wurde irrestriktiv angewandt und schuf dadurch mindestens ebenso viele Probleme wie Lösungen. Die Negativa betrafen erstens die Ausdehnung des Marktprinzips auf soziale Güter (Gesundheit, Erziehung, Wohnung), die jedoch nicht in ausreichendem Maße bzw. ausreichender Qualität bereitgestellt wurden; zweitens den Verzicht auf AntiMonopol-Gesetze, was zwangsläufig zu Preisverzerrungen und Ineffizienzen führte; und drittens das völlige Scheitern in bezug auf die Bildung strategisch wichtiger Preise (Kapital, Währung). Das System des Freihandels zur Nutzung der komparativen Kostenvorteile ergab zwar eine Steigerung und Diversifizierung der Exporte, doch wuchsen noch mehr die Importe und damit das Handelsund Leistungsbilanzdefizit. Die Öffnung der Finanzmärkte wurde völlig unkontrolliert betrieben, da man u.a. eine Verschuldung des Privatsektors als unproblematisch ansah. Genau dies führte jedoch zur kritischen Situation der Banken 1982 und ihrer zeitweisen Übernahme durch den Staat (inkl. eines Großteils der Verbindlichkeiten). Zusätzlich zur bereits skizzierten Problematik des Prinzips neutraler Regeln sowie der automatischen Selbstregulierung machten die Folgen des verfehlten Managements sukzessive Verhandlungen über Umschuldungs- und Strukturanpassungsprogramme mit dem IWF notwendig, was sich nachteilig auf die wirtschaftliche und politische Autonomie auswirkte, die bereits durch die radikale Öffnungspolitik eingeschränkt war. Im wesentlichen war es somit der unerschütterliche Glaube der Wirtschaftsequipe an ihre ideologischen Grundpositionen und die daraus resultierenden handlungsleitenden Prinzipien, der ihr eine adäquate, responsive und im übrigen auch kohärente Ausschöpfung ihres Handlungsrahmens unmöglich machte. Insbesondere das Festhalten am Prinzip der automatischen Anpassung des ökonomischen Systems an die internen wie externen Ungleichgewichte führte zu einem Realitätsverlust. Er ließ sie die Marktsignale verdrängen und wurde auch nicht durch die intermediären Signale - insbesondere die Kritik und Besorgnis aus dem regimetreuen Unternehmerlager - erschüttert, da organisierte Interes-
123
Melier 1992,40.
124
Vgl. Melier 1992,41 ff.
125
Vgl. zum folgenden Melier 1983, I26ff.
99
sen und deren Artikulation per se als nur partikular galten, d.h. als verzerrend und gegen die technokratisch-wissenschaftliche Rationalität gerichtet.126 Die Krise und ihre Folgen beschädigten die oben analysierten Säulen der Legitimation des autoritären Staates beträchtlich. So sah sich Pinochet gezwungen, die Chicago boys zumindest aus den verantwortlichen Regierungspositionen zu entfernen und durch pragmatischere Politiker zu ersetzen. Auch innerhalb der Unternehmerschaft wuchs die Unzufriedenheit in bedrohlichem Maße: Während vor allem die kleineren und mittleren Unternehmer in mehreren Erklärungen offen gegen die Regierung Position bezogen, blieben die übrigen Unternehmerverbände zwar grundsätzlich loyaler, drängten jedoch ebenso auf eine Abkehr vom radikalen Monetarismus.1 7 Vor allem aber lösten die ökonomischen und sozialen Folgen der Krise (Einkommensverluste, Arbeitslosigkeit) eine soziale Protestbewegung aus, die die Leistungslegitimation untergrub und - u.a. durch das Wiedererstarken der Gewerkschaften - auch das definitive Ende der angestrebten Entpolitisierung der chilenischen Gesellschaft bedeuteten. Trotz der schwersten Wirtschaftskrise nach 1930, in die er das Land gefuhrt hatte, gelang es Pinochet, durch ein geschicktes Krisenmanagement diese Phase relativ unbeschadet zu überstehen: Zum einen konnte über eine pragmatischere Wirtschaftspolitik und eine Stärkung des Einflusses der Unternehmerverbände das Vertrauen der Unternehmer wieder zurückgewonnen werden, was eine Erholung des Wirtschaftsmodells ermöglichte. Zum andern trugen selektive Repressionsmaßnahmen und eine uneinheitliche Oppositionsstrategie dazu bei, daß sich der vorübergehende Legitimationsentzug bis zur Erholung nicht zu einer Systemkrise auswuchs und somit die sich verengenden Handlungsspielräume wieder ausgeweitet werden konnten. Die Ersetzung der radikalen Chicago boys durch eine neue strategische Staatselite, die in enger Verbindung mit der pragmatischen Unternehmerkoalition und vor allem mit den großen Wirtschaftsverbänden stand, löste die Selbstblockade der Wirtschaftsordnung wieder auf. Durch die Anwendung einer pragmatischen, mit nicht-orthodoxen Maßnahmen gekoppelten Wirtschaftspolitik erholte sich die Wirtschaft bis 1985 so weit, daß mit der Einsetzung von Büchi als Finanzminister wieder eine stärkere Hinwendung zu neoliberalen Prinzipien in Angriff genommen werden und sich nachfolgend die endgültige, wenngleich weniger dogmatische und flexiblere Ordnungsvorstellung des Neoliberalismus konsolidieren konnte. Zu der langfristigen Beibehaltung der strikVgl. zu diesem 'Realitatsverlust' die Ausführungen von Piflera 1990. Piflera, zusammen mit Käst der maßgebliche Konstrukteur der 'sieben Modemisierangen1, bemerkt Jahre spater mit kritischem Unteiton zur Krise: "Im Jahr 81 geschah außerdem etwas Bedauerliches. Mit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung (...) ließ sich das Regime zu triumphalistischen Zogen hinreißen. Eine befremdliche Mischung aus Selbstsicherheit und Arroganz begann, das Regierungsgeschaft in verschiedenen Bereichen zu komplizieren. Andererseits wuchsen die Komplikationen aufgrund der schweren internationalen Krise, die sich ab Mitte jenes Jahres am Horizont abzuzeichnen begann. Die Regierung dachte, daß es sich um eine vorübergehende und nachlassende Kontraktion handeln würde. Unglücklicherweise war das nicht so, und die Krise überraschte das Land, das auf rigide Weise auf eine Politik des festen Wechselkurses festgelegt war, was den Handlungsspielraum der Regierung zur Neutralisierung oder Beseitigung der Störungen einschränkte." (Piflera 1990,144f.). 117
Ausführlich hierzu vgl. Imbusch 1995,331 ff.
100
Abb. 6: Phasen der Wirtschaftspolitik in Chile 1973-1990"' Etappen
Ziele
9/73-4/75 Gradualismus
Stabilisierung Normalisierung AusteritiU
4/75-6/76 Schockpolitik
'Plan zur wirtschaftlichen Erholung'
6/76-6/79 'Modell-Phase' 1
Etablierung des 'ChicagoModells'
6/79-9/81 'Modell-Phase' 2
9/81-6/82 Krise 1
lake off
Abwertung des Peso Außenöflhung der Devisenund Finanzmarkte Wechselkursmanagement Fixierung des Wechselkurses automatische Anpassung Zollsenkung auf 10%
'neutrale' Wirtschaftspolitik
'soziale Modernisierungen' Verfassung 1980
Vertrauen auf automatische Anpassung
Beibehaltung des festen Wechselkurses Lohnsenkungen Abwertung des Peso Intervention der Banken Sozialisierung der Privatschulden (15*/. BIP) hoher Wechselkurs Zollanhebung (35%) Subventionen Nachfragepolitik Wechselkursmanagement SozialausgabenkOrzung Steuersenkung; Beseitigung des Haushaltsdefizits Zollsenkung (15%) 3. Privatisierungsphase Schuldenveihandlungen Export-FOrderprogramm autonome Zentralbank
6/82-4/84 Krise 2
Krisenmanagement nicht-orthodoxe Regulation
4/84-2/85 Krise 3
Modellkorrekturen pragmatische Ankurbelung
2/85-3/90 Plan Trienal de Desarrollo
Ordnungselemente Inflationsbekämpfung Deregulierung Liberalisierung der Preise Re-Privatisierung Außenöffnung Auslandsinvestitionen Disziplinieiung der 'Arbeit* Monetarismus weitere Außenöffnung (Zollsenkung 20%/35%) Reduktion Staatsausgaben 2. Privatisiemngsphase vollständige Liberalisierung d. Kapitalmarktes
Konsolidierung langfristig: Rückkehr zum Modell kurzfristig: 'milder1 Interventionismus ftlr - moderates Wachstum - niedrige Inflation - Exportoffensive
Ergebnisse
HyperStagflation
Rezession Lohnverfall Arbeitslosigkeit Pleitewelle (Industrie) De-lndustrialisierung InflationscUmpfung erneute Stagflation wirtschaftliche Erholung und Stabilisierung Exportsteigerung wachsende Verschuldung weitere Delndustrialisierung Konzentrationsprozesse hohes Wachstum Reallohnsteigerung Arbeitslosigkeit Überbewertung des Peso Außenbilanzdefizite hohe externe Verschuldung Rezession Minuswachstum Reallohnverfall Arbeitslosigkeit wirtschaftliche Erholung Wirtschaftswachstum hohes Wachstum Rückgang von Inflation und Arbeitslosigkeit stagnierende Reallöhne Exportboom Konsolidierung des Privatsektors
ten Staat/Marktdichotomie trat nun die Befürwortung eines kurzfristigen 'milden' Interventionismus. Beispiele hierfür sind die seit der Krise verfolgte Politik einer Außenöffnung mit gestufter Protektion und Exportförderung, ein exportfreundliches Wechselkursmanagement, die kohärenteren Privatisierungen der 'dritten Welle' sowie sektorale Förderungspolitiken (Landwirtschaft, WohQuellen: Spielmann 1992, 156ff.; de Vylder 1989; Stallings 1989; Imbusch 1995, 156ff; Meller/Romaguera 1992, 7ff.
101
nungsbau).129 Damit hatte die Krise zu einem gewissen 'Staatslernen' beigetragen, d.h. zur Einsicht, daß der Staat eine (begrenzt) regulative, nicht nur eine reine Ordnungsrolle zu spielen hat, und er keine selbstregulative und sich selbst reproduzierende Gesellschaft marktorientierter Individuen 'hervorzaubern' kann. Insbesondere zum Ausgleich der zahlreichen Dysfunktionalitäten sowohl interner wie vor allem externer Natur war pragmatischeres staatliches Handeln vonnöten.
3.3 Die Arbeitsbeziehungen: Institutionalisierung und Auswirkung des plan laboral Die Reform der Arbeitsgesetzgebung (1979) repräsentiert eines der Kernstücke der neoliberalen Modernisierungsstrategie und ist an der Nahtstelle von Wirtschafts- und Sozialordnung angesiedelt. Sie wird hier als Mechanismus der ökonomischen Modernisierung behandelt, weil sie einerseits einen entscheidenden Faktor für das gesamte Wirtschaftsmodell darstellte - Wettbewerbsfähigkeit durch Niedriglöhne, Flexibilisierung und Deregulierung auch beim Faktor Arbeit - und andererseits den eminent politischen Charakter eines Allokationsmodus aufzeigt, der gemäß Effizienzkriterien eine angeblich neutrale und ergo 'richtige' Preisbildung auch auf dem Arbeitsmarkt erlaubt. Der plan laboral beendete zusammen mit einem bereits 1978 verabschiedeten Gesetzesdekret die seit dem Putsch anhaltende Phase rechtlicher Übergangsbzw. Ausnahmeregelungen in diesem strategisch wichtigen Bereich.130 Er erstreckte sich sowohl auf die individuellen (DL 2.200) als auch auf die kollektiven arbeitsrechtlichen Regelungen.131 Damit hatte sich die wirtschaftspolitische gegenüber der arbeitspolitischen Linie durchgesetzt, was auch das Scheitern eines Reformprojekts des damaligen Arbeitsministers Diaz Estrada bedeutete, der der gremialistischen Fraktion des Regimelagers angehörte. Es hatte ein an das Regime gebundenes Gewerkschaftswesen und ergo autoritär-korporative Beziehungen zu den gesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Organisationen angestrebt. Die neoliberale Wirtschaftsequipe, die bereits mit der Schockpolitik und damit mit dem Gründungsprojekt begonnen hatte, bevorzugte eine exklusive Politik sowie die Blockade jeglicher partizipatorischen oder populistischen Bestrebungen. Im Hinblick auf die Institutionenbildung unterschied sich der plan laboral jedoch von den übrigen Wirtschaftsreformen. Zwar spielte in erster Linie der Wunsch der Militärregierung eine Rolle, auch die Arbeitsgesetzgebung den Bedingungen einer liberalisierten Ökonomie anzupassen, doch stand sie gleichzeitig unter Zugzwang, so daß weitere Akteure wenigstens am Rande eine Rolle 129 1,0
Vgl. Spielmann 1992, 163f. Bis 1979 waren Streiks und Tarifverhandlungen untersagt (vgl. Vergara 1990,42). Vgl. Nolte 1986,433ff.; Campero 1989,276ff.; aus Regieningssicht der fllr den plan laboral verantwortliche Piflera 1990.
102
spielten. Ursache war der internationale gewerkschaftliche Druck, den die USamerikanische AFL-CIO und die lateinamerikanische ORIT ausübten: Sie drohten, aufgrund der fortdauernden Einschränkung der Gewerkschaftsfreiheit und der anhaltenden Verletzung von Gewerkschaftsrechten einen Handelsboykott gegen chilenische Exporte zu initiieren. Die Regierung konnte diese Drohungen - zumal in der Carter-Ära - nicht ignorieren, da das Exportwachstum zu einer Säule des Modells werden sollte. Unter dem neu berufenen Arbeitsminister Pifíera, der aus Gründen des Krisenmanagements auch die chilenischen Gewerkschaftsführer kontaktierte, wurde der plan laboral innerhalb kürzester Zeit ausgearbeitet und durchgesetzt.132 Mit der Reform, die fortan die Normen für Tarifverhandlungen, gewerkschaftliche Organisation, Streiks und die Arbeitsgerichtsbarkeit definierte, wurde der alte Código del Trabajo aus dem Jahr 1931 endgültig ersetzt.133 Wichtigstes Charakteristikum des plan laboral war seine kohärente Verknüpfung mit der bereits in Gang gesetzten autoritären Gesellschafts- und neoliberalen Wirtschaftsordnung. Da Arbeitsbeziehungen demgemäß ausschließlich als private berufliche Beziehungen ohne politische oder ideologische Konnotation oder Implikation definiert wurden, galt als notwendiger Regelungsbereich nur der Einzelbetrieb. Als Regulationsprinzip operierte auch hier fortan der Marktmechanismus, da angenommen wurde, daß sich insbesondere die Löhne auf dem als transparent und perfekt erachteten Markt 'richtig' (und gemäß der Philosophie der Chicago boys 'gerecht') entwickeln würden. Durch die Verankerung auf Betriebsebene sollten die Tarifverhandlungen an die Unternehmensstruktur und vor allem an die jeweilige Produktivität gekoppelt werden. Entsprechend wurden die Regelungen über Arbeitsvertrag und Arbeitsschutz (D.L. 2.200 aus dem Jahr 1978) flexibilisiert. Der Arbeitgeber konnte seitdem von verschiedenen Vertragsformen Gebrauch machen und so die Nutzung der Arbeitskraft seinen Erfordernissen anpassen (Befristung, Teilzeit, Unterverträge). Bei unbefristeten Verträgen standen ihm Klauseln zur Verfugung, deren Auslegung Ermessenssache war und die somit die Kündigungsmöglichkeiten stark erweiterten (v.a. 'wirtschaftliche Erfordernisse des Unternehmens'). Bei solchen rechtmäßigen Kündigungen war lediglich eine Abfindung von maximal fünf Monatslöhnen zu zahlen (zuvor ein Monatslohn pro Arbeitsjahr). Gemäß der Marktlogik galt mit dem Gesetzesdekret 2.756 fortan auch für die Grundsätze der gewerkschaftlichen Organisation, daß der 'verzerrende' politische Faktor in den Arbeitsbeziehungen weitgehend auszuschalten war: Gewerkschaften wurden zwar auch auf überbetrieblicher Ebene begrenzt zugelassen (Gewerkschaftsverbände bzw. -bünde), Tarifverhandlungen jedoch auf Betriebsebene (sowie auf die Teilnahme der Betriebsgewerkschaften oder ad hockonstituierte Arbeitergruppen) beschränkt und an die Produktivitätsentwicklung gekoppelt. Weitere Begrenzungen (Zulassung konkurrierender Gewerkschaften, rechtliche Absicherung von Streikbrechern, Einschränkungen des Streikrechts
153
Zu den Hintergründen der Entstehung des plan laboral vgl. Nolte 1986,430ff.; Piflera 1990. Vgl. Campero 1989,276.
103
und der Finanzierung) führten dazu, daß die Gewerkschaften als sozialer und politischer Akteur geschwächt wurden. Die nunmehr wieder (per DL 2.758) rechtlich normierten TarifVerhandlungen sowie das gewerkschaftliche Streikrecht wurden strikt reglementiert und darauf ausgerichtet, daß die Betriebsgewerkschaften nur schwerlich aus der vom Unternehmen definierten Logik ausbrechen konnten. Als Grundprinzip galt zunächst, daß der Staat im Gegensatz zu früher nur noch die Spielregeln definiert, sich ansonsten jedoch strikt aus jeglichen Tarifverhandlungen heraushält.134 Zugelassen waren Verhandlungen in Privatbetrieben sowie in jenen Staatsunternehmen, die sich mit mehr als 50% aus eigenen Ressourcen finanzierten. Ein Streik konnte bis zu 59 Tage dauern. Kam es bis dahin zu keiner Einigung, konnten die Arbeiter entweder unter Akzeptanz des letzten Arbeitgeberangebots die Arbeit wieder aufnehmen, falls nicht, so galten ihre Arbeitsverträge als freiwillig aufgelöst. In den als strategisch definierten Betrieben (z.B. dem staatlichen Kupferkonzern CODELCO) wurde bei Fehlschlagen der Verhandlungen die Streikmöglichkeit durch Schlichtungsverhandlungen ersetzt. Gleichzeitig wurde die Verhandlungsmacht der Arbeitgeber gestärkt (Aussperrung bis zu 30 Tage, Einsatz von Streikbrechern). Zusätzliche Restriktionen waren ein Verhandlungskalendarium (jährliche bzw. zweijährliche Verhandlungsrunden) sowie eine zeitliche Staffelung der Verhandlungsrunden nach alphabetischer Ordnung der Betriebe, die sowohl einen homogenen Prozeß verhinderten, als auch gleichzeitige Verhandlungen innerhalb desselben Produktionszweiges oder Ortes oder von verschiedenen Betrieben desselben Arbeitgebers ausschlössen.135 1982 wurden die Tarifverhandlungen per Gesetz weiter erschwert, indem die automatische Lohnanpassung an die Inflationsrate abgeschafft und auf den Stand von 1979 festgelegt wurde; bei Nichteinigung in Tarifverhandlungen waren nunmehr auch Lohnsenkungen auf das Niveau vor der ersten Verhandlungsrunde möglich.136 Mit den Deregulierungen des plan laboral wurde das Verhältnis Staat-Unternehmer-Gewerkschaften grundlegend verändert. Der Staat kreierte und überwachte zwar die rechtliche Ordnung, zog sich ansonsten aber aus den Arbeitsbeziehungen zurück, wodurch sich auch die Natur der sozialen Konflikte änderte.137 Das für den Estado de Compromiso charakteristische korporatistische Dreiecksverhältnis wurde eliminiert, was gleichbedeutend war mit dem Verschwinden der politischen Vermittlung der Arbeitskonflikte und ihrer Verlagerung ausschließlich in die einzelnen Unternehmen.138 Dabei wurden die Kosten dieses 'Privatisierungsprozesses' einseitig den Arbeitern aufgebürdet, wie an 134
Vgl. im einzelnen Maturana/Mac-Clure 1992,140ff.
1,5
Vgl. Campero 1989,277.
137
Vgl. Maturana/Mac-Clure 1992, 141.
131
Affirmativ hierzu Piñera im Kontext des von ihm bekämpften sindicalismo de viejo cuño und dessen Politikstrategie: "Der Tripartismus ist ein koiporativistisches Modell, das ein gewaltiges Mißtrauen gegenüber den Losungen und Entscheidungen des Marktes ausstrahlt" (Piflera 1990, 57). Piflera sieht mit den Neuregelungen die eigentliche Demokratie für die Arbeiter «Teicht.
Vgl. Friedmann 1990,77; Campero 1989,279.
104
den oft prekären Arbeitsbedingungen, an Niveau und Entwicklung der Löhne sowie der Entwicklung der Arbeitslosigkeit zu erkennen ist. Abb. 7 verdeutlicht, daß Beschäftigung und Reallöhne sich in enger Koppelung an das Wirtschaftswachstum veränderten, wobei die Löhne seit der Krise allerdings nicht in gleichem Maße stiegen wie das Wachstum bzw. zwischen 1983 und 1985 deutlich fielen (und damit die geringe Verhandlungsmacht der Gewerkschaften widerspiegeln). Hierbei spielten einerseits die Entkoppelung von der Inflationsrate, andererseits die Ankoppelung an die Produktivitätssteigerung eine Rolle, doch wurden insgesamt die Löhne auf niedrigerem Niveau festgeschrieben. Unberücksichtigt sind hier allerdings starke sektorale Unterschiede. 139
Abb. 7: Wachstum, Beschäftigung und Reallöhne 1980-1989140
Für die Unternehmerschaft bedeutete dies insofern eine Erweiterung ihrer Handlungsspielräume, als durch den plan laboral sowohl das Einwirken des Staates in Arbeitskonflikte als auch eine adäquate Verhandlungsmacht der Gewerkschaften verhindert wurde. Das 'Spiel' der Machtbeziehungen verlagerte sich folglich vom politischen ins gesellschaftliche Szenarium. Die rigorose Beschneidung gewerkschaftlicher Handlungsspielräume brachte äußerst ungleiche Machtverhältnisse hervor, die aufgrund der Eigenlogik des Systems zu weiterer Atomisierung und Entsolidarisierung führten und sich somit über den Markt
140
Zu diesen Unterschieden vgl. Meiler 1992, 79ff. Quellen: Meiler 1990, 44; Vergara 1994, 239; angezeigt ist die jahrliche Veränderung in Prozent, außer bei der Arbeitslosenrate (absoluter Stand in %).
105
reproduzierten. Dieser durch den plan laboral als 'Autonomisierung' der sozialen Akteure intendierte Prozeß brachte jedoch auch die Gefahr von Spannungen aufgrund unbefriedigter Forderungen mit sich, da gleichzeitig keine neuen Vermittlungskanäle zur Konfliktverarbeitung bereitgestellt wurden. Zusammen mit der ab 1973 verfolgten Repressionspolitik bewirkte die Reform der Arbeitsgesetzgebung zwar nicht die völlige Zerschlagung des chilenischen Gewerkschaftswesens, doch wurde es an nahezu allen Fronten entscheidend geschwächt. Sowohl die geringe Zahl der nach 1979 wieder legalen Tarifverhandlungen und Streiks als auch die effektiv erreichten Ergebnisse zeigen, daß die Verhandlungsmacht der Arbeiter gegenüber den Arbeitgebern und damit ein entscheidender Faktor bei der Bestimmung des Preises der Arbeitskraft an Bedeutung verlor.141 Lediglich in den beiden ersten Jahren (Mitte 1979Mitte 1981), als sich die chilenische Wirtschaft noch in ihrer Boom-Phase befand und den Arbeitgebern eher an der Legitimierung des neuen Arbeitsrechts gelegen war, wurden aus Sicht der Arbeiterschaft befriedigende Ergebnisse erzielt.142 Mit der Wirtschaftskrise und dem verordneten Anpassungsstopp der Löhne an die Inflationsrate mußten die Arbeiter jedoch über die folgenden Jahre hinweg wieder Reallohnverluste hinnehmen: Abb. 7 zeigt, daß die jährlichen Real lohn Veränderungen ab 1983 an die Wachstumsentwicklung gekoppelt waren, quantitativ jedoch stets unter der Wachstumsrate lagen - lediglich im Jahr des Plebiszits ist die Entwicklung gegenläufig. Andererseits verleitete die Streik- und Protestbewegung der Jahre 1982/83 zuerst zu 'Heroismus' und maximalistischen Strategien, zerbröckelte dann aber zusehends und ließ die eigene Ohnmacht bewußt werden. Die folgende Phase des Realismus bzw. 'Fatalismus'143 ging erst allmählich in einen eher verhaltenen Optimismus über, als sich mit dem neuerlichen Wirtschaftsboom auch die Rahmenbedingungen für die Forderungen der Arbeiter verbesserten. Daß die chilenische Arbeiterschaft sich trotz dieser auf Dauer angelegten Zerschlagung der zivilgesellschaftlichen Sphäre reorganisierte, zeugt nicht nur von ihrer Widerstandskraft, sondern prägte auch ihre Erwartungen an die Zeit nach Pinochet. Wie Abb. 8 zeigt, war der plan laboral nicht gleichzusetzen mit der völligen Eliminierung der Anreize zu gewerkschaftlicher Organisation, wenngleich der Stand von 1970 bzw. gar 1973 bei weitem nicht wieder erreicht werden konnte (Stand 1970: 21,4%; 1973: 30,8%; Zunahme absolut zwischen 1983 und 1989: von 320.900 auf 507.600) und der Organisationsgrad relativ konstant blieb (1983: 8,7%; 1989: 10,9%).144
141
Vgl. Maturana/Mac-Clure 1992, 16Iff.
142
Erzielt wurden Reallohnsteigerungen zwischen 6,9% und 1,9%; 8,3% der Arbeiter nahmen an Tarifverhandlungen teil, von denen 11,2% auch streikten (vgl. Maturana/Mac-Clure 1992, 161 f.).
145
Vgl. Maturana/Mac-Clure 1992,163.
144
Vgl. Rojas 1994,252; Arellano 1985,48.
106
Abb. 8: Mitgliedschaft in Gewerkschaften (1970-1989)""
3.4
Institutioneller Wandel und ökonomische Entwicklungsleistung
Beurteilt man die Leistungskraft des ökonomischen Systems über die 16 Jahre der Militärdiktatur hinweg anhand einschlägiger Indikatoren, so scheint die Modernisierungspolitik nur spärliche Ergebnisse erbracht zu haben und auf eine weitere Phase der Modernisierung ohne Entwicklung hinzudeuten. Wie Tabelle 3 zeigt, sind die Erfolge im Bereich des Wirtschaftswachstums eher als moderat zu bezeichnen und vor allem der neuerlichen Boom-Phase ab 1985 zu verdanken. Ebenso moderat ist der Erfolg der Inflationsbekämpfung, wenngleich hier das hohe Ausgangsniveau des Jahres 1973 (606%) und der endemische Charakter lang anhaltender Inflation in Rechnung zu stellen sind. Eindeutig positiv fällt die Bilanz des Außenhandelsvolumens aus, was angesichts der Außenöffnung zunächst nicht weiter überraschen sollte. Die übrigen Indikatoren weisen jedoch nicht auf eine große Leistungskraft der chilenischen Wirtschaft hin: Über den Zeitraum hinweg stagnierten die Investitionsquoten, während die offizielle Arbeitslosenquote im Schnitt hoch blieb und die Lohnentwicklung eindeutig regressive Tendenzen aufwies. Eklatant war zudem die Entwicklung der Auslandsverschuldung.
145
Vgl. Rojas 1994, 252; Friedmann 1990, 233; Rojas 1995a, 138f.; der Organisationsgrad betrug 1973 ca. 30%.
107
Tab. 3: Wirtschaftsindikatoren 1970-1989 146 1970
1980
1981
1982
1983
1984
1985
1986
1987
1988
1989
Wachstum BSP
3,6
7,8
6,2
-13,6
-2,8
5,9
2,0
5,6
5,8
7,4
10,0
BSP per capita (1970 =100)
100
116
121
102
99
104
105
109
113
119
129
31,2
19,7
9,9
27,3
19,8
30,7
19,5
19,9
14,7
17,0
Investitionsquote
36,1 20,4
17,6
19,5
15,0
12,9
13,2
14,8
15,0
16,5
17,0
18,6
Arbeitslosenrate
5,7
15,7
15,6
26,4
30,4
24,4
21,4
16,0
12,2
9,0
Reallohne (1970 -100)
100
89,3
97,3
97,6
86,9
87,1
83,2
84,9
84,7
90,3
6,3 92,8
Mindestlöhne (1970= 100)
100
Inflationsrate
Verschuldung (Mrd. USS) Exporte (Mio. USS) Importe (Mio. USS)
113 118 117 92 80 70 64 75 66 74 3,1 11.1 15,6 17,2 18,0 19,7 20,5 20,8 20,7 19,0 17,5 1247 4705 3836 3706 3831 3651 3804 4199 5223 7052 8080 1148 5469 6513 3643 2845 3288 2955 3099 3994 4833 6502
Diese bestenfalls ambivalente Bewertung des ökonomischen Systems und damit der Modemisierungsleistung des autoritären Neoliberalismus, die durch die Tabelle 4 eher noch gestützt wird, greift jedoch in mehrerlei Hinsicht zu kurz. Zieht man zu den genannten Indikatoren auch die qualitativen Veränderungen des Wirtschaftssystems hinzu, so muß das Urteil differenzierter, wenngleich auch kontrastreicher ausfallen. Bezugspunkte sind hier erstens Funktionsweise und Struktur des Wirtschaftssystems in historischer und vergleichender Perspektive, zweitens das Akteurssystem der ökonomischen Gesellschaft und drittens schließlich die gesamtgesellschaftlich-gemeinschaftliche Perspektive, d.h. der Aspekt sozialer Integration. Tab. 4: Wirtschaftsindikatoren im Vergleich (1958-1989) 147
BIP 1959-1964 1965-1970 1971-1973 1974-1989 (1984-1989)
3,9 4,1 1,1 2,9 7,1
Agrarsektor 3,6 2,8 -2,6 4,2
Industrie Inflationsrate 7,2 4,1 3,1 1,9
26,6 26,3 285,7 79,9 20,3
Investitions- Reallohn (1970=100 quote 20,7 62,2 19,3 84,2 15,9 90,0 15,6 82,2 15,9 86,1
Arbeitslosenrete 5,2 5,9 4,7 17,3 16,4
In historischer und vergleichender Perspektive sind neben dem makroökonomischen Output - der zudem ab 1984 zum Positiven tendierte - vor allem funktionale und strukturelle Spezifika von Interesse. Aus systemtheoretischer Perspektive wäre als Modernisierungsleistung festzuhalten, daß sich unter der Diktatur ein autonomeres Wirtschaftssystem entwickelt und - wie unten zu sehen sein wird - eine ökonomische Gesellschaft ausdifferenziert. Nach der Durchsetzung einer anfangs rigide deregulierten, später pragmatisch flankierten Marktwirtschaft konnte sich diese im Lauf der 80er Jahre derart stabilisieren, daß sie - mit 144
Quelle: Vergare 1994,239; Imbusch 1995, 167, 169.
147
Quelle: Ffrench-Davis/Labén 1995,71; Imbusch 1995, 170; Vergare 1994,239.
108
noch zu nennenden, allerdings auch gravierenden Defekten - als cum grano salis effizienter Modus der Ressourcenallokation zu betrachten ist. Dabei ist zu berücksichtigen, daß - vom Jahr 1970 aus gesehen - der Neoliberalismus kein prinzipiell alternativloses Modernisierungsprojekt darstellte. Wie gezeigt, hatte jedoch eine Fortführung von Frei's 'Revolution in Freiheit' aus strukturellen Gründen keine (demokratische) Realisierungschance. Gleichermaßen hätte aber auch das neue Modell unter den gegebenen historischen - demokratischen Bedingungen keine Chance zur Durchsetzung gehabt, und zumindest zu jenem Zeitpunkt konnte es nur autoritär durchgesetzt werden. Dennoch bedeutet dies nicht, daß das neoliberale Ordnungsmodell untrennbar mit dem autoritären politischen Regime verkoppelt blieb. Vielmehr stellte es am Ende der Diktatur ein zwar imperfektes, aber doch prinzipiell von direkter politischer Steuerung unabhängiges Funktionssystem dar. Dies stimmt mit der Diskontinuitätsthese Eßers überein, wenngleich die autoritär induzierten Machtverhältnisse das Funktionssystem stark prägten. Ebenso ist im Nachhinein - trotz ihres hypothetischen Charakters - ständig die Frage präsent zu halten, welche historische Alternative tatsächlich auch möglich gewesen wäre. Wie der Blick auf die lateinamerikanischen Nachbarländer zeigt, führte deren Festhalten am alten Entwicklungsmodus durchweg zu Krisensyndromen und schließlich dazu, daß auch sie mehr oder weniger orthodoxe Restrukturierungsmaßnahmen durchführten. Sicherlich ist dies nicht als zwangsläufiger, etwa durch funktionale Notwendigkeiten vollständig determinierter Prozeß zu begreifen, da dabei eine Fülle interner und externer Faktoren zusammenwirkten, die erst diesen spezifischen Entwicklungsweg ergaben. Die Argumentation ließe sich ja auch so wenden, daß erst das singuläre Beispiel Chile die nachher zur Bestätigung herangezogenen Vergleichsfalle und damit den 'historischen Trend1 schuf. Allerdings wäre es vermessen, diesen Trend allein dem chilenischen 'Modell' zuzuschreiben, zumal dieses sich 1982-84 in einer ernsthaften Strukturkrise befand. Vielmehr dürfte spätestens mit Ausbruch der Schuldenkrise und damit dem internationalen Schulden- und Anpassungsmanagement durch Weltbank und IWF das neoliberale Paradigma zumindest für die meisten Entwicklungsländer alternativlos gewesen sein. Dies scheint den Schluß nahezulegen, daß 1973 zwar die internationalen, nicht aber die nationalen Bedingungen für ein Alternativmodell (d.h. hier eine Variante der Frei'schen Reformpolitik) günstig waren. 1982/83 waren es auch die internationalen Rahmenbedingungen nicht mehr, während Chile nunmehr den Vorteil hatte, aus dem 'kruden' Neoliberalismus inkl. der ersten Destruktionsschritte bereits gelernt zu haben. Die Strukturveränderungen der chilenischen Volkswirtschaft sind die direkte Folge des applizierten Modells und erstrecken sich auf die Besitzstruktur, die sektoralen Verschiebungen innerhalb der Produktionsstruktur und auf die gewachsene, wenngleich sektoral unterschiedliche internationale Wettbewerbsfähigkeit. Die unkontrollierte Anwendung der entsprechenden Politiken führte zu einer immensen Konzentration wirtschaftlicher Macht, die sich zum Zeitpunkt 109
der Krise als dysfunktional für das Funktionieren des Wirtschaftssystems erwies.148 Dies wurde zwar in der zweiten Phase des pragmatischen Neoliberalismus ansatzweise korrigiert, doch blieb diese Konzentration bis zum Ende der Diktatur im großen und ganzen bestehen. Die Sektorveränderungen sind vor allem dadurch gekennzeichnet, daß in der ersten Phase neoliberaler Politik ein massiver De-Industrialisierungsprozeß einsetzte, da durch die einheitlichen Zollsenkungen die Ausdünnung dieses als nicht-kompetitiv geltenden Sektors geradezu angestrebt wurde.149 Im Gegenzug wurden dadurch zunehmend Investitionen in die exportorientierten Sektoren gelenkt, die aufgrund komparativer Kosten vorteile eine größere internationale Wettbewerbsfähigkeit versprachen (Kupferproduktion, Agrar, Fischerei, Holz). Die gewachsene internationale Wettbewerbsfähigkeit hängt eng mit diesen sektoralen Verschiebungen zusammen: Chiles Exportboom der 80er Jahre beruhte einerseits (noch immer) auf einem starken Kupfersektor, der zudem von den günstigen Weltmarktpreisen profitierte. Andererseits ging dessen relative Bedeutung insofern zurück, als die zunehmend durchkapitalisierte Agrar- und Rohstoffproduktion (Früchte, Fischmehl, Holz) diversifiziert und deutlich gesteigert werden konnte. Letzteres war gleichwohl nur aufgrund einer exzessiven Verwertung der natürlichen Ressourcen und einer beträchtlichen Ausbeutung der Arbeitskraft (sprich: Billiglöhnen) möglich. Dies rechtfertigt es, das chilenische Modell in zweifacher Hinsicht als sorglosen Neoliberalismus zu bezeichnen. Die Restrukturierung des Wirtschaftssystems im Ordnungsrahmen des autoritären Neoliberalismus brachte aber nicht nur dessen zunehmend autonomere Ausdifferenzierung mit sich, sondern hatte auch Auswirkungen auf das Akteurssystem der ökonomischen Gesellschaft, sprich: die Unternehmerschaft. Zuvor galten für die Unternehmer Chiles ähnliche Attribute wie für andere lateinamerikanische Oligarchien: konservativ, Mangel an Innovationsgeist, rent seeking- und spekulationsorientiert sowie an staatliche Führung und Protektion gewöhnt.150 Montero faßt die Rolle dieser 'Oligarchie ohne Projekt' in der Ära des Estado de Compromiso wie folgt zusammen: "...Die Unternehmer handelten als Interessengruppen, mit einer strukturellen Position bei der Entscheidungsfindung, aber mit geringem autonomen Handeln, in einem politischen Szenario, das vom Staat, den Gewerkschaftsorganisationen und den Parteien dominiert wurde. Die Bedeutung des Staates und des Politischen war derart, daß die Identität der Unternehmerschaft nicht analysiert werden kann, wenn nicht von ihrer Beziehung mit dem Staat her. Die Unternehmergremien hatten direkten Zugang zur Regierung über ihre Partizipation in den Direktorien der öffentlichen Unternehmen und in den höheren Staatsämtern. Die staatlichen Politiken wurden immer abhängiger von den korporatistischen Einflußnahmen."151
Vgl. Imbusch 1995, 182ff. 149
Vgl. GaticaBarros 1989.
150
Vgl. Montero 1993,43. Montero 1993,44.
110
Auch wenn die Militärregierung insgesamt eine die Privatunternehmer mehr als begünstigende Politik betrieb, so besaß sie doch genügend politische Autonomie, ihnen unter Anleitung der Chicago boys einen neuen Handlungsrahmen und damit neue Rollen und Verhaltensweisen aufzuzwingen. Von Interesse sind hierbei zwei Aspekte: das (Rollen-)Verhalten der Unternehmer als Hauptagenten des Entwicklungsprozesses sowie das Verhältnis Unternehmerpolitik. Das soziale und wirtschaftliche (Rollen-)Verhalten der Unternehmer hat sich gegenüber dem von Montero skizzierten Szenario grundlegend verändert. Hatten die Unternehmer zuvor aufgrund des vorherrschenden Ordnungsrahmens keine aktive Rolle suchen müssen, so wandelten sie sich unter dem autoritären Neoliberalismus und vor allem im Lauf der 80er Jahre zu aktiven und autonomen Wirtschaftsakteuren. Im großen und ganzen hat die staatliche Ordnungspolitik einen relativ stabilen Handlungs- und Erwartungsrahmen geschaffen, dessen Leitvariablen (deregulierte Marktwirtschaft und liberalisiertes Preissystem, Wettbewerb, Privatisierungen inkl. Ressourcentransfer und Anti-Interventionismus) zu den gewünschten Ergebnissen führten, d.h.: autonomes und aktives Unternehmerverhalten, Effizienzsteigerung, Sensibilität für Marktanreize und Risikobereitschaft.152 Zu unterscheiden sind hier jedoch eine erste Phase, in der das staatliche Mißmanagement ein massenhaftes 'Fehlverhalten' der Privatunternehmer anreizte, und eine zweite (ab 1983), in der die Unternehmer aktiver auch auf die pragmatische Gestaltung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Wert legten und darauf Einfluß nahmen. Gerade der pragmatische Neoliberalismus ab 1985 zeichnete sich dadurch aus, daß die Regierung sowohl aktive Unternehmer in die Ministerien aufnahm als auch den Dachverband CPC in wichtigen Fragen konsultierte. Dieser wechselseitige Lernprozeß ist als notwendige Bedingung der raschen Konsolidierung der Wirtschaftsordnung anzusehen, da die Unternehmer durch diese Art der Partizipation das notwendige Vertrauen darin entwickelten und so erst auf großer Breite als Handlungsrahmen akzeptieren konnten." 3 Diese Entwicklung hatte auch zur Folge, daß die Unternehmer am Ende der Diktatur ideologisch gefestigt und mit dem Anspruch einer Modernisierungselite auftraten, den sie nicht nur im Raum der Zivilgesellschaft massiv als Hegemonieprojekt zu verteidigen und zu legitimieren begannen, sondern sich darin auch zunehmend unabhängiger vom Staat und den politischen Parteien sahen.154 Eine wesentliche Rolle spielte dabei, daß die Modernisierungsideologie der Chicago boys in der Unternehmerschaft Fuß fassen konnte - jedenfalls, was das Gros der Unternehmer und vor allem die vom Dachverband CPC vertretenen Sektoren betraf. Nicht zuletzt aufgrund dieser ideologischen und korporativen Festigung hat sich auch das Verhältnis der Unternehmer und ihrer Verbände zu Staat und Politik entscheidend gewandelt. Denn aus ihrer über die gesamte Phase der Dikta152
Vgl. Meiler 1990, 80.
153
Vgl. Silva 1996, 308fT.
154
Vgl. Montero 1993, 52ff.
111
tur hinweg loyalen Haltung zu den Machthabem und dem seit 1983 gestiegenen Einfluß auf die Wirtschaftspolitik ist nicht der Schluß zu ziehen, daß sie am Ende der Ära Pinochet auf Protektion oder Tutelage seitens des Staates oder der neuformierten rechten Parteien angewiesen waren. Zwar legten sie weiterhin großen Wert auf das etablierte Verhältnis Staat-Privatsektor, i.e. die wesentlichen Säulen der Wirtschaftsordnung, und versuchten, Einfluß auf die allerdings zerstrittenen und schwachen rechten Parteien zu nehmen. Dennoch verließen sie sich in dieser Phase im wesentlichen auf ihre eigene Stärke, die durch die zahlreichen Absicherungen des zukünftigen gesellschaftlichen und politischen Spiels noch stabilisiert wurde, im wesentlichen jedoch in ihrer ökonomisch, sozial und ideologisch dominanten Rolle bestand. Dies erklärt, warum die Unternehmer - i.e. wiederum die dominanten CPC-Sektoren - aus einer gestärkten Position auch in die Transitionsphase gingen und trotz ihrer eher ambivalenten Einstellung zur Demokratie - sie unterstützten Pinochet im Plebiszit, den Pinochet-Kandidaten Büchi bei den Präsidentschaftswahlen und lobten wiederholt die ausklingende Ära - nicht nur ihr Projekt des pragmatischen Neoliberalismus offensiv propagieren konnten, sondern auch zum bevorzugten Gesprächspartner der Concertaciön in der Übergangsphase wurden.155 Die Leistungsbilanz des ökonomischen Systems, das über den Analysezeitraum hinweg praktisch ohne zivilgesellschaftliche Gegengewichte funktionierte, ist schließlich auch aus gesamtgesellschaftlicher und aus 'gemeinschaftlicher' Perspektive zu ermessen. Dies rückt zunächst die Kosten der Installierung der neuen Wirtschaftsordnung sowie die Kosten seiner Funktionsweise ins Blickfeld. Die Kosten der Installierung sind in erster Linie mit dem applizierten Verfahren des trial and error verknüpft, das unter den autoritären Bedingungen ohne konsensinduzierende Gegengewichte operierte. Dies führte dazu, daß - wie gerade im Umfeld der Wirtschaftskrise zu ersehen war - die immens steigenden Kosten der Neuanpassung einseitig nach existierenden Machtverhältnissen verteilt wurden, sprich: Die Verluste wurden 'sozialisiert'. Ähnlich wurde in bezug auf die sektorale Anpassung verfahren, die in die bereits genannte DeIndustrialisierung mündete: Betroffen waren von den dadurch initiierten Pleitewellen nicht nur die ineffizienten Industriebetriebe, sondern auch die infant Industries, da der neue Rahmen der Wirtschaftsordnung lange Zeit zu hohe Risiken in sich barg.156 Die Kosten der Funktionsweise der neuen Wirtschaftsordnung sind in erster Linie aus dem Umgang mit den nationalen Ressourcen zu ersehen, d.h. natürliche Ressourcen und Humankapital. Insbesondere die (erfolgreiche) Umstellung und Diversifizierung des Exportsektors hin zur AgroIndustrie (Früchte, Holz, Fisch) führte zur Überausbeutung der Ressourcen, ohne daß hier in der Ära Pinochets noch gegengesteuert wurde. Lediglich im Fischereisektor, in dem die rapide Ausweitung effizienter Verfahren zur Überfischung der Fischbestände führte und damit die Kontraproduktivität des neoliberalen Wirtschaftens par excellence vor Augen führte, sah sich die Regierung 155 156
Vgl. Imbusch 1995,378ff. Vgl. Silva 1996,304ff.
112
zu ersten Ansätzen einer stärker regulierenden Gesetzgebung veranlaßt (die gleichwohl nicht mehr abgeschlossen werden konnten). In puncto Humanressourcen ist zu resümieren, daß die Suche komparativer Vorteile über Billiglohnproduktion in Zusammenhang mit relativ hoher Arbeitslosigkeit zur tendenziellen De-Qualifizierung der Arbeitskraft führten. In Zusammenhang damit steht auch die insgesamt geringe Produktivität, wenn man den Faktor Lohnkosten neutralisiert, wobei hier weniger der Modus als solcher, sondern vielmehr die institutionell verfestigte Weichenstellung problematisch ist.1" Aus 'gemeinschaftlicher' Perspektive, d.h. unter Gesichtspunkten sozialer Integration, wären in erster Linie die kulturellen und sozialen Folgen zu benennen, d.h. die Veränderungen der gesellschaftlichen Wertmuster einerseits und von Sozialstruktur und Lebensstandards andererseits. Dies setzt jedoch zunächst eine Analyse der 'neuen' chilenischen Sozialstaatlichkeit voraus.
3.5 Fazit Die ab 1975 durchgeführten Reformen der Wirtschaftsordnung zählten weltweit zu den ersten, die die anti-keynesianische Vision von Neoklassik und Neoliberalismus weitreichend und geradezu rigide in die Tat umsetzten. Die wesentlichen Maßnahmen hierfür nahm die Militärregierung zwischen 1975 und 1979 in Angriff, während es danach - v.a. nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch 1982 und nachfolgender Legitimationskrise - mehr um eine pragmatische Absicherung der grundlegenden Strukturveränderungen ging, was auch Teilkorrekturen umfaßte. Trotz der Krise der 'Gründungsdimension', die der Regierung und insbesondere Pinochet vorübergehend nur ein Krisenmanagement zum Zweck des eigenen Systemüberlebens ermöglichte, bewahrte sie sich bis zum Ende die funktional erforderliche Handlungskapazität. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzufuhren, daß sich die ökonomische Performanz als wichtigster Legitimationspfeiler ab Mitte der 80er Jahre wieder zu festigen begann und so zunächst zur Stabilität der autoritären Herrschaft insgesamt beitrug. Auch wenn also das politische Modell unter Druck geriet und es eher eine Frage der Zeit war, wie das Regime transformiert würde, blieben die intendierten Umwälzungen der Wirtschaftsordnung cum grano salis bestehen. Charakteristisch für die Institutionenbildung war dabei, daß in der Phase 1975-1981 die Verfechter des radikalen Neoliberalismus nahezu unbeschränkt als strategische Staatselite agieren und so eine Wirtschaftsordnung errichten konnten, die das Marktprinzip sehr umfassend institutionalisierte. Wenngleich für das labor regime eine andere Handlungssituation vorlag, gelang auch hier eine weitgehende 'Neoliberalisierung'. Während die Arbeitsgesetzgebung die autoritäre Ära überlebte, mußte die übrige Wirtschaftsordnung nach 1982 'pragmatisch' reformiert werden, da sie falsche Signale an die Wirtschaftsakteure 1,7
Zu den Risiken einer Uber Lohnsenkungen statt Ober Investition und Innovation induzierten Produktivitätssteigerung und damit Wettbewerbsfähigkeit vgl. Messner 1995,8ff.
113
derjenigen Wirtschaftssektoren, die im Gegensatz zum Finanzsektor dem Ressourcenpotential Chiles eher entsprachen, stärker berücksichtigt wurden als zuvor. Erst im Zuge dieser 'eingebetteten Autonomie' der staatlichen Wirtschaftsordnungspolitik konnte erreicht werden, daß das chilenische Wirtschaftssystem sich am Ende der 80er Jahre auf relativ soliden Grundlagen bewegte - relativ deshalb, weil erstens seine sozialen und politischen Bestandsbedingungen nicht auf Dauer sein konnten; und zweitens, weil es unter den Aspekten internationaler Wettbewerbsfähigkeit und ökologischer Tragfähigkeit nur mittelfristig Erfolg versprechen konnte.
4. Wohlfahrtsordnung und Sozialentwicklung Die Umwälzungen der Wirtschaftsordnung nach dem Marktprinzip und die skizzierten Folgen stellten bereits implizit die Frage nach den sozialpolitischen Gegengewichten zum 'wilden Kapitalismus' (capitalismo salvaje), wie ihn vor allem die chilenischen Gewerkschaften wiederholt anprangerten. Die oben bereits als Charakteristikum der Pinochet-Ära ausgewiesene 'Gründungsdimension' blieb jedoch nicht bei der Etablierung einer neoliberalen Wirtschaftsordnung stehen, sondern erstreckte sich auch auf die Wohlfahrtsordnung. Im folgenden werden die Grundpfeiler dieses neuen Gefuges analysiert, wobei vor allem die Frage im Vordergrund steht, inwieweit es zur sozialen Modernisierung Chiles beitrug.
4.1 Defizite des chilenischen Sozialstaats und Reformoptionen Im Gegensatz sowohl zur 'lateinamerikanischen Tradition' einer gradualistischen und inkrementalistischen Modernisierung als auch zur schlichten Restauration einer überkommenen Gesellschaftsordnung zielte der chilenische Autoritarismus auf die beständige und gegen alle Widerstände durchzusetzende Realisierung eines sozialen Modernisierungsprogramms.158 Die Veränderung der Wohlfahrtsordnung erstreckte sich hierbei nicht nur auf die sozialstaatlichen Einrichtungen gegen die 'klassischen' Risiken Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit, sondern zielte auch auf die Bereiche Wohnung, Bildung sowie insbesondere die Armutsbekämpfung. Spezifisch für die Sozialpolitik der PinochetÄra sind somit weniger die fallenden öffentlichen Sozialausgaben im Zuge der Austeritätspolitik oder die Unterdrückung sozialer Forderungen, wie dies auch in den meisten anderen autoritären Regimen praktiziert wurde, sondern vielmehr die innerhalb kurzer Zeit vorgenommene Umstellung des gesamten Wohlfahrtsregimes. Vgl. Tironi 1990,33.
114
Die Konstrukteure dieses Umbaus fanden eine Sozialstaatlichkeit vor, die sich zumindest quantitativ zwischen 1925 und 1970 rasch ausgeweitet hatte und gemessen am Anteil der Sozialausgaben eher mit den OECD-Ländern als mit den übrigen lateinamerikanischen Staaten zu vergleichen war.159 Pro Person stiegen in diesem Zeitraum die Sozialausgaben zehnmal schneller als das Bruttosozialprodukt und nahmen so einen immer größeren Teil des Staatshaushalts in Anspruch (s. Tab. 5). Mit diesen Mitteln wurde sukzessive ein Leistungsnetz errichtet, das Sozialversicherung, Gesundheitssystem, Wohnungsbau und Bildung umfaßte. Zunehmend wurden - insbesondere in der Ära Frei/Allende auch quasi-sozialpolitische Maßnahmen einbezogen, wie staatliche Lohnpolitik, Preisfestsetzungen, organisatorische Unterstützung (promoción social, Gewerkschaftsbildung) und die Agrarreform.
Tab. 5: Öffentliche Sozialausgaben in Chile 1925-1970 (in % BSP)160 1925
1935
1945
1955
1965
1970
gesamte öffentliche Sozialausgaben
2,1
5,2
8,0
14,9
20,0
19,9
- d a v o n staatliche Sozialausgaben
2,1
2,8
4,4
6,0
10,0
10,5
- Anteil a m Staatshaushalt
12,1
23,5
28,1
31,7
45,2
42,5
Ein Kennzeichen dieser Expansion war, daß die Sozialstaatsentwicklung nicht globalen Reformen entsprang, sondern sich im Zuge der unterschiedlichen Rhythmen des chilenischen Modernisierungsprozesses ungleich ausweitete. Sie folgte der zunehmenden Partizipationsforderung bzw. der Inklusion bis dato jeweils ausgeschlossener Bevölkerungsgruppen und erreichte unter Frei schließlich die Landbevölkerung (campesinos) und die Urbanen Unterschichten (pobladores). Trotz dieser Universalisierung bildete sich ein intern verzerrtes System heraus, indem sich Mittelschichten und städtische Arbeiterschaft über ihre Organisationen und Parteien deutliche Privilegien sichern konnten. Der spezifische Expansionsmodus resultierte in einem inkohärent organisierten Sozialstaat, der nicht eindeutig einem der in Kapitel 1.1.2 genannten Typen der Wohlfahrtsordnung zugeordnet werden kann. Realiter stellte er eine Mischform aus 'sozial-demokratischem' und 'konservativem' Typus dar, wenngleich letzterer deutlich überwog. Die konservative Prägung ergab sich vor allem aus dem Finanzierungsmodus (niedrige private Ausgaben, mittlere bis starke Ausprägung der individuellen Finanzierung) und der starken Differenzierung nach Gruppen. Ein 'sozialdemokratisches' Muster ist dagegen in der Tendenz zum Vgl. Arellano 1985, 289f.; in den OECD-Lindem betragen 1975 die Sozialausgaben im Durchschnitt 22% des BSP, in Lateinamerika (1980) ca. 10%, in Chile 1970 20%, 1971/72 sogar ca. 25%. Vgl. ebd., 30, 33; die öffentlichen Sozialausgaben beinhalten zusätzlich die Ausgaben dezentraler öffentlicher Einrichtungen. 115
Versorgungsprinzip und in der Ausweitung staatlicher Inklusionsmechanismen zu erkennen. Auch wenn hier die spezifische Ausgangssituation im Armutssektor in Rechnung zu stellen ist, besaß der chilenische Sozialstaat um 1970 eine deutliche Umverteilungskapazität zugunsten der ärmeren Hälfte der Bevölke161
rung. Der inkohärente und relativ komplexe Aufbau dieses Funktionssystems barg jedoch gravierende Risiken in sich, die den Sozialstaat auf Dauer zu erodieren drohten. Spätestens in den 60er Jahren traten grundlegende Defizite zutage, deren Kompensation den Staatshaushalt auf ständige Belastungsproben stellte. Neben dem Wohnungsdefizit, Mängeln in der Gesundheitsversorgung und im Schulwesen sorgte insbesondere der mangelnde Deckungsgrad der Rentenversicherung für wachsende Finanzierungslücken, die bei steigendem Inflationsdruck kaum zu überbrücken waren.162 Versuche der Reorganisation wurden bereits Ende der 50er Jahre und später auch unter Frei anvisiert, doch scheiterten sie letztlich alle, da zwischen den verschiedenen sozialen und politischen Gruppen kein Konsens erzielt werden konnte. Schon vor 1973 war somit ein immenser Reformbedarf vorhanden, ohne jedoch in gangbare Reformprojekte zu münden. Mit dem Militärputsch fand die Expansion des chilenischen Wohlfahrtsstaates ihr definitives Ende. Nach anfänglicher Beschneidung des Funktionssystems über drastische Ausgabenkürzungen entschloß sich die Militärregierung, die sozialstaatlichen Einrichtungen nicht über ein langwieriges muddling through zu korrigieren, sondern im Zuge der Gründungsphase einen deutlichen Schnitt zur Reorganisation anzusetzen. Der Zeitpunkt für diese Reformen - tituliert als die 'sozialen Modernisierungen' - war Ende der 70er und zu Beginn der 80er Jahre günstig, da mehrere Faktoren zur Stabilisierung der autoritären Herrschaft und zur Sicherung der notwendigen Handlungsspielräume beitrugen: Die neoliberalen Reformen der Wirtschaftsordnung hatten zu Wachstumserfolgen gefuhrt und damit auch die Stellung der Chicago boys innerhalb der Regierung gefestigt, die ihrerseits geschickt ihre Einflußkanäle zu Pinochet nutzten und erweiterten. Pinochet selbst hatte die internen Gegenspieler weitgehend ausgeschaltet und die Herrschaft sowohl weiter personalisiert als auch derart abgesichert, daß er sich die Verfassung von 1980 maßschneidern und plebiszitär absichern lassen konnte. Auch international war eine gewisse Beruhigung eingekehrt, während auf nationaler Ebene Repression und Wirtschaftsboom dafür sorgten, daß kaum mit Opposition zu rechnen war. Der Kern der sozialpolitischen Doktrin bestand in der neoliberalen Interpretation des Subsidiaritätsprinzips, wonach der Staat sich jeglicher Intervention in Bereiche enthalten solle, in denen Marktprinzipien installiert werden könnten, also nicht nur im Wirtschaftssystem im engeren Sinne, sondern auch in den Sozialsektoren. Lediglich jene Verantwortlichkeiten sollten beim Staat verbleiben, die Individuen oder intermediäre Organisationen (Kirche) nicht adäquat ausful161
Vgl. ebd., 43ff.
" J Vgl. Raczynski 1994,13.
116
len könnten. Dabei wurde individuelle Freiheit definiert als die Möglichkeit, frei von externem Druck (Staat, Parteien, pressure groups) auf dem Markt die benötigten Güter und Dienstleistungen zu wählen und entsprechende Wirtschaftsaktivitäten zu entfalten, was auch für soziale Grundgüter und den Arbeitsmarkt gelten sollte. Chancengleichheit wurde analog verstanden als 'Marktgerechtigkeit', d.h. nur die unpersönlichen, von staatlicher etc. 'Diskriminierung' freien Marktbeziehungen garantieren einen gerechten Zugang zu Sozialleistungen. Gleichwohl wurde in Rechnung gestellt, daß ein Minimum an Grundbedürfnissen befriedigt werden müßte, um überhaupt Marktteilnehmer werden zu können; solange dies nicht der Fall und somit die Bedingung für Freiheit und Gleichheit nicht gegeben wäre, obläge es dem (subsidiären) Staat, den Teufelskreis extremer Armut zu durchbrechen, d.h. die Marktteilnahme und damit soziale Mobilität gemäß individueller Leistung zu ermöglichen.163 Die konkrete Konzeption und Umsetzung der sozialpolitischen Reformen und Maßnahmen ab Ende 1978 erfolgte getreu diesen Prinzipien in zwei Stoßrichtungen: Zum einen wurde die Institutionalisierung eines Wohlfahrtsregimes in Angriff genommen, das sowohl Produktion wie Zugang zu sozialen Leistungen über den Markt regeln sollte. Zum andern wurde mittels des sogenannten red social eine dezidierte, d.h. fokussierte und selektive Armutspolitik in Angriff genommen. Die Umsetzung war dabei von mehreren Faktoren geprägt: • Auch wenn man das Subsidiaritätsprinzip anerkennt, ist dessen inhaltliche Füllung davon abhängig, wie die Kollektivgüter gesellschaftlich definiert werden. Der phasenweise nahezu uneingeschränkte Handlungsspielraum der Chicago boys resultierte hier in einer Definitionsmacht, die nur die neoliberale Variante zuließ und andere Konzepte, sofern sie überhaupt vorgebracht werden konnten, als ideologisch motiviert diskreditierte. Insbesondere gelang es, einige nach wie vor existente Machtgruppen in diesen Sektoren (Bürokratie, Ärzte, Lehrer etc.) weitgehend auszuschließen. • Da es sich jedoch um die Rekonstruktion fast des gesamten Ordnungsgefüges handelte, bedurfte es zum einen expliziter Unterstützer. Diese hatte die Regierung in den Unternehmern, die von hohen Lohnnebenkosten entlastet wurden, sowie in den Oberschichten, die von den neuen Privatsystemen profitierten. Zum andern mußten die Institutionen auch funktionieren und waren ergo für ihre Wirksamkeit auch auf Akzeptanz bzw. die Duldung seitens der 'Konsumenten' angewiesen. Dies erreichte die Regierung mittels einer Mischung aus Versprechungen, selektiver Anreize und sukzessiv geschaffener Sachzwänge sowie der Blockade alternativer Entwürfe. • Allerdings sind hier deutliche Abstufungen zu erkennen, die sich vor allem im deutlichen Vorrang der sozialen Modernisierungen vor der Armutsbekämpfung äußerten. Letztere gewann aus Legitimationsgründen lediglich in der Krisenphase 1982-85 größere Bedeutung. Sie blieb jedoch durch die finanziellen Restriktionen auch dann auf niedrigem Niveau und ohne große 165
Zu dieser neoliberalen Doktrin und ihrer Anwendung durch die Chicago boys vgl. Vergara 1990,35ff.
117
Durchschlagskraft, was aufgrund der Desartikulation der kollektiven Akteure aber nicht zu Korrekturen nötigte. Den ab 1978 in Angriff genommenen Maßnahmen war gemeinsam, daß der Inklusionsprozeß der vorangegangenen Dekaden wieder umgedreht und insbesondere die Reduzierung der intervenierenden und redistributiven Rolle des Staates durchgesetzt wurde. Die Gegenüberstellung der beiden Sozialstaatsparadigmen anhand elementarer Unterscheidungskriterien belegt diesen Wandel hin zur 'Marktgerechtigkeit' deutlich.
Abb. 9: System der staatlichen Sozialpolitiken (1940-1990)164 1940-1973
1973-1990
Rolle des Staates
'Wohlfahrt'
Subsidiarität
Sozial- vs. Wirtschaftspolitik
Sozialpolitik Ubergeordnet
Sozialpolitik untergeordnet
Niveau der Sozialausgaben
steigend
fallend
Dezentralisierung
keine; zentrale und vertikale Dekonzentration der Dienste; kommunale Verwaltung Verwaltung
Staat/Privatsektor
Staat normiert, finanziert und führt Sozialpolitik durch
Staatliche Normierung, Finanzierung, Supervision und Evaluierung der Armutsprogramme; lokale Ausführung auch vom Privatsektor; Privatisierung der sozialen Dienste ftir Mittel- und Oberschichten
Art der Ausgabenzuweisung
angebotsorientiert; Gruppenprivilegien
nachfrageorientiert; Pro-KopfZuweisung je nach Programm
Fokussierung
gering; nominell nur Universalprogramme
stark; Instrumente zur Zielgruppen-Identifikation
Priorität der Sozialpolitik
Investition in soziale Dienste; Deckungsgrad
Armutssektoren; Assistenz- und Transfermaßnahmen
Zielgnippen
uneindeutig; MUtter/Kinder
arme Haushalte; MUtter/Kinder
Die neue Wohlfahrtsordnung kann nach Raczynski durch den Wandel des Systems der Sozialpolitiken in mehreren Stoßrichtungen charakterisiert werden (s. Abb. 10), zu denen auch die bereits skizzierte Schwächung der Macht der Gewerkschaften sowie die strikte Kontrolle der kollektiven Artikulation sozialer Forderungen zu zählen ist. Durch diese Reformen und Maßnahmen wurde zunächst einmal erreicht, daß mit lange Zeit vorherrschenden 'institutionellen Trägheiten' einschließlich gruppenspezifischer Privilegien aufgeräumt wurde. Fortan bestimmten neue Themen die staatliche Agenda, wie die Effizienz der Ressourcennutzung, Dezentralisierung, die angemessene (subsidiäre) Rolle des 164
Quelle: Raczynski 1994, II f.
118
Staates und die Fokussierung der Sozialausgaben. Begleitet wurden diese Veränderungen von einer Verbesserung des technischen Managements der Sozialpolitiken (von Diagnose über wirtschaftliche Programmevaluierung und Entwicklung geeigneter Fokussierungsinstrumente bis hin zur Evaluierung der erreichten Zielgruppen). Abb. 10: Achsen der sozialen Strukturreformen unter Pinochet 165 Achsen
Sektor
Sozialausgaben Fokussierung der Sozialprogramme
Reformen bzw. Maßnahmen - Reduktion von 20-25% des BIP (1970/73) auf 17% (1980) und 14% (1989)
Erziehung Gesundheit 'Soziales Netz'
Dezentralisierung Gesundheit Erziehung, Gesundheit, 'Soziales Netz'
- Ressourcenverlagerung von Universitäten zu Grund- und Vorschulerziehung - Universitätsausbildung nicht mehr gratis - Konzentration der Ressourcen auf Primärversorgung und Mütter/Kinder - Entwicklung zu kompensatorischen Zwecken - Instrumente zur Identifizierung - Regionalisierung der Ministerien - Fonds für Regionalentwicklung - Untergliederung des SNS in 26 regionale Dienste - Übertragung der Verwaltung an Kommunen
Privatisierung
Sozialversicherung Gesundheit Erziehung Erziehung, Gesundheit, Wohnung
- Schaffung eines Privatsystems • Private Krankenversicherungsinstitute • Anreize für Privatschulen (subventioniert) -je Untervertiäge an Privatsektor
Einbau von Marktmechanismen in das Funktionieren des öffentlichen Sektors
Gesundheit, Erziehung • Ressourcenzuweisung gemäß Einzelleistung bzw. pro Schiller • Direkte Subsidien gemäß Nachfrage Wohnung • Liberalisierung des städtischen Grundstücksmarktes
Dieser Paradigmenwechsel zeigt sich auf den ersten Blick am deutlichsten an der Entwicklung der öffentlichen Sozialausgaben per capita (s. Tab. 6). Waren diese zwischen 1970 und 1973 nochmals gestiegen, so führte die erste Phase der Stabilisierungspolitik zu einer drastischen Reduktion, wovon zunächst vor allem die Ausgaben für Sozialversicherung und Erziehung betroffen waren. Bis 1982 wurden die Ausgaben dann sukzessive wieder gesteigert, so daß der Stand von 1970 sogar noch übertroffen wurde. Dieser Wert war jedoch ausschließlich der überproportionalen Ausgabensteigerung bei der (defizitären) Sozialversicherung zu verdanken, während die übrigen Sektoren über die ganze Ära hin165
Quelle: ebd., 15.
119
weg den Stand von 1970 nicht mehr erreichten. Schließlich fallt auf, daß ab 1983 die Gesamtausgaben pro Kopf zurückgingen und auch die neuerliche Boomphase ab 1985 keine Steigerung mehr bewirkte. Während der Anteil der Sozialausgaben an den öffentlichen Ausgaben in etwa gleich blieb, ging ihr Anteil am BIP stark zurück. Allerdings wurden im Lauf der 80er Jahre, u.a. im Gefolge der Sozialversicherungsreform, einige Umschichtungen vor allem zugunsten der Gesundheitsausgaben vorgenommen, die 1989 in etwa wieder den Stand von 1970 erreichten. Tab. 6: Öffentliche Sozialausgaben (1970-1989)167 per capita (1970 -loo) % öffentl. Ausgaben in % BIP
1970 1975 1977 1979 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 100 63 71 88 97 104 94 94 90 86 82 83 81 57,1 55,3 60,6 58,4 60,7 59,0 64.2 63,5 61,6 60,0 64,1 61.3 63,1 21,7 18.3 17,4 15.6 18.5 22,4 21,1 21,3 19,8 18,4 16,7 15,2 14,0
4.2 Der Umbau der 'klassischen' Sicherungssysteme Die 'sozialen Modernisierungen' umfaßten neben der bereits analysierten Reform der Arbeitsgesetzgebung das Gesundheits-, das Bildungs- und das Sozialversicherungssystem.16 Sie bedeuteten vor dem Hintergrund des Estado de Compromiso vor allem einen drastischen Wandel der sozialen Funktionen des Staates und waren gleichbedeutend mit der Veränderung der Herrschaftsverhältnisse. Mit der Übertragung der zuvor vom Staat verantworteten Versorgung mit sozialen Gütern und Dienstleistungen an Privatinitiative und Markt sollte ein hochentwickeltes System sozialer Dienstleistungen entstehen, in dem die individuellen Beitragszahlungen (und damit letztlich das verfugbare Einkommen) über Qualität und Umfang der Leistungen entscheiden sollten, was weitreichende Implikationen für die Regulierung des Leistungszugangs hatte. Die Reform der Sozialversicherung169 stellte das Kernstück der sozialen Modernisierungen dar und wird bis heute als Modell für Reformen in anderen Ländern diskutiert.170 Das alte, im lateinamerikanischen Vergleich relativ gut
lu
Zu den einzelnen, in Tabelle 11.6 nicht aufgeführten Daten vgl. ebd., 65.
167
Quelle: Raczynski 1994,65.
169
170
Vgl. Dilano/Traslavifia 1989, 85ff. Zur Sozialversicherung zahlen hier in erster Linie die Renten, nicht zuletzt auch aufgrund ihrer großen volkswirtschaftlichen Bedeutung (bis ca. 10% des BSP; zu diesem Aspekt vgl. Esping-Andersen 1990, 79ff). Das alte chilenische System beinhaltete daneben weitere Leistungen wie Arbeitsunfallversicherung oder Unterstotzungen bei Arbeitslosigkeit, die nach der Reform eigens gestaltet bzw. aus dem Steueraufkommen finanziert wurden (vgl. Queisser 1993, I32ff.). Vgl. Witte 1994; Queisser 1993; Institut fllr Iberoamerika-Kunde 1997. Beide sind jedoch im Gegensatz zu neoliberalen und anderen Befürwortern sehr skeptisch, sowohl in Hinsicht auf die Übertragbarkeit als auch bezQglich der positiven Effekte des chilenischen Modells.
120
ausgebaute Rentensystem171 war in mehrerlei Hinsicht defizitär, doch waren Reformversuche wiederholt gescheitert. Dies lag vor allem an seiner Funktion als politischem Instrument und damit an seinem fragmentarischen und unkoordinierten Ausbau, da mit ihm je nach Interessenlage Privilegien für bestimmte gesellschaftliche Gruppen verteilt wurden. Vom Modus her nach dem Versicherungsprinzip über das Umlageverfahren und damit vom Anspruch her nach dem Solidarprinzip organisiert, führte diese politische Inanspruchnahme sowohl zu finanziellen Ungleichgewichten als auch zu Widerständen gegen notwendige Modifikationen seitens unterschiedlicher Machtgruppen.172 Die 1980/81 durchgesetzte Reform orientierte sich zwar an entsprechenden Reformvorhaben in den USA und war insofern keine Erfindung der Chicago boys, doch entsprach sie völlig der neoliberalen Doktrin und stellte die weltweit erste Umsetzung eines solchen Systems dar. Institutionalisiert wurde damit ein Rentensystem, das nach dem Kapitaldeckungsverfahren funktionierte und die Verwaltung der dadurch geschaffenen Versicherungsgelder den eigens ins Leben gerufenen, privaten Fondsverwaltungen, den Administradoras de Fondos de Pensiones (AFPs), übertrug. Das Kapitaldeckungsverfahren beinhaltet im Kern ein Abschied vom Versicherungs- und Verteilungsprinzip, indem nunmehr die gesetzlich verordneten Pflichtbeiträge der Arbeitnehmer (10% des Bruttolohns; die Arbeitgeber zahlen keinen Anteil) an eine frei wählbare AFP abgeführt werden, die individuelle Konten führt und das akkumulierte Kapital nach Rentabilitätskriterien verwaltet. Die mit Rentenbeginn auszuzahlende Summe richtet sich somit ausschließlich nach dem eingezahlten Betrag und seiner marktabhängigen Realverzinsung, d.h. die Leistungen sind abhängig von der individuellen Anstrengung jedes einzelnen ohne Rücksicht auf seine soziale Lage sowie von gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen; diese Summe kann dann auf verschiedene Arten in Versicherungsinstituten angelegt werden. Mit der Schaffung der AFPs wurde das Rentensystem gleichzeitig marktwirtschaftlichen Prinzipien unterworfen, wobei die AFPs einer strengen staatlichen Aufsicht unterliegen sollten. Darüber hinaus übernahm der Staat die Garantie für eine Mindestrente durch Aufstockung des jeweiligen Kapitals, wenn der Arbeitnehmer nicht genügend Eigenkapital akkumuliert hat. Auch fallen beim Bankrott einer AFP die Kosten an den Staat, d.h. an die Allgemeinheit zurück. Die Regierung hatte die Reform angesichts zu erwartender Widerstände (staatliche Bürokratie, Gewerkschaften, Banken) geschickt vorbereitet, indem sie die Finanzierungslücken nicht ausglich (sondern dafür das alte System als solches verantwortlich machte), eine Reform der Rentenzugangsbestimmungen voranschob (einheitliches Rentenalter bei 65 Jahren) sowie nicht zuletzt propagandistisch-diskursive Mittel einsetzte. Entsprechend waren die Widerstände eher gering und bezogen sich weniger auf den Modus (individuelle Kapitalisie1,1
172
Eine Erhebung über die Reichweite der Sozialversicheningen (1979) ergab fllr Chile einen Wert von 66% der arbeitenden Bevölkerung, es folgten Argentinien (64%), Costa Rica und Panama (45%) sowie u.a. Venezuela (23%), Kolumbien (12%), Bolivien (7%) und Haiti (2%) (vgl. Friedmann 1990,86). Vgl. Queisser 1993, 85ff.
121
rung statt Umlageverfahren), sondern auf die Verfügungsgewalt über das zu erwartende immense Kapital. Hier konnten sich Pinochet und Piftera jedoch gegen die Bürokratie, einige Gewerkschaftsführer und vor allem gegen die Banken durchsetzen.173 Das Problem der Akzeptanz dieser neuen Institution seitens der Bürger konnte die Regierung dadurch entschärfen, daß nominell Wahlfreiheit zwischen dem alten und dem neuen System bestand (erst ab einem Stichtag war der Beitritt zur AFP für Neueinsteiger verpflichtend) und zusätzlich Anreize wie niedrige Einstiegsprämien zum Übertritt geschaffen wurden. Dadurch wanderte schon bald nach der Umstellung die Mehrheit in das private System ab, was u.a. eine Verschuldung des alten Systems zur Folge hatte, während die privaten Versicherungsfonds umfangreiche Geldmittel anhäuften (1987: ca. 13% des BIP).174 Die Modernisierung des Gesundheitswesens folgte denselben Leitlinien wie die Rentenreform und sollte langfristig das staatliche Gesundheitssystem durch private Versorgungs- und Versicherungseinrichtungen ersetzen. Maßgeblich war hier die Direktive, daß ein effizientes Gesundheitswesen nur auf Basis einer engen Koppelung von Leistungen und Beiträgen sowie durch die privatwirtschaftliche Organisation sowohl der Finanzierung wie der Dienstleistungen erfolgen konnte. Aufgrund der spezifischen Problemstruktur resultierte dies jedoch in der Aufspaltung in einen staatlichen und einen privaten Sektor. Das staatliche Gesundheitswesen besteht seit 1979 aus dem Finanzierungsinstitut FONASA und dem in 27 regionale Einheiten gegliederten Dienstleistungsbetrieb SNSS, wobei hier für die Versicherten die Wahl zwischen einem Standardangebot und einem Subsystem der freien Wahl (von behandelnder Institution und Arzt) besteht. Das private Gesundheitswesen wird getragen vom 1980 geschaffenen Krankenversicherungssystem der sogenannten ISAPREs (Instituciones de Salud Previsional), i.e. profitorientierten Gesellschaften, die je nach Einkommen bzw. Zuzahlung unterschiedliche Policen und individuelle Versicherungspläne anbieten. Während größere ISAPREs einen eigenen Dienstleistungsapparat unterhalten, arbeiten die übrigen auf Vertragsbasis mit privaten oder staatlichen Einrichtungen zusammen, wobei wie im staatlichen Sektor jeweils die Einzelleistungen abgerechnet werden. Sowohl im staatlichen wie im privaten System sind jeweils Eigenbeteiligungen erforderlich.175 Prinzipiell bestand für die Beschäftigten, die anfanglich 4%, später 7% ihres Einkommens für die Krankenversicherung aufwenden mußten,176 die Wahlmöglichkeit zwischen privatem und staatlichem Versicherungssystem, während mittellose Patienten kostenlos in den staatlichen Einrichtungen behandelt wurDiese Widerstände sind allerdings nicht überzubewerten, da Pinochet und die neoliberalen Technokraten in ihrer Entscheidungskompetenz kaum angezweifelt wurden, und vor allem das Militär, das sein eigenes Sicherungssystem beibehielt, voll hinter Pinochet stand. 174
Bereits 1982 hatten die AFPs Uber 1,7 Mio. Mitglieder, das alte System nur noch ca. S60.000; 1987 betrug die Relation 2,9 Mio. zu 450.000 (vgl. Friedmann 1990, 88). Vgl. Witte 1994, 84f.; Queisser 1993, 75ff.; Vergara 1990,45.
176
Dies wurde von Finanzminister BOchi (ab 1985) u.a. deshalb veranlaßt, um mehr Beitritte zu den ISAPREs zu ermöglichen.
122
den. Faktisch war das private Gesundheitswesen jedoch von Beginn an auf die einkommensstärkeren Bevölkerungsschichten ausgerichtet und zudem weder zur Präventivmedizin noch zur Übernahme von Risikogruppen verpflichtet. In der Tendenz behielt das staatliche System ergo die Mitglieder mit mittleren und niedrigen Einkommen sowie die mittellosen Patienten (noch 1991 insgesamt 70% der Bevölkerung), was zu seiner strukturellen Definanzierung führte, während umgekehrt das Privatsystem indirekt staatlich subventioniert wurde.177 Diese Dualisierung wurde noch dadurch verstärkt, daß das qualifizierte Personal in die besser bezahlten Einrichtungen des Privatsektors wechselte und damit die Qualität der staatlichen Einrichtungen weiter litt.178 Als politisch erwünschter Nebeneffekt führte dies auch zu einer Heterogenisierung des Berufsstandes und damit zu einer Schwächung der Handlungskapazität der Standesorganisationen. Die Reformen im Bildungswesen folgten neben dem Kriterium der effizienteren Finanzierung und Verwaltung der Schulen und Universitäten ebenso politischen Motiven. Qualität und Effizienz sollten durch Dezentralisierung und eine strikte Anwendung des Wettbewerbsprinzips erreicht werden. Die Zuständigkeit für Grund- und Sekundärschulen wurde zwischen 1980 und 1986 komplett den Kommunen übertragen, die die Einrichtungen ihrerseits an private Träger überstellen konnten. Gleichzeitig forderte die Regierung die Gründung rein privater Schulen, die über Subventionen und/oder Schulgebühren finanziert werden konnten. Das Finanzierungssystem der öffentlichen und der kostenlosen privaten Einrichtungen änderte sie dahingehend, daß der Staat diese pro jeweils eingeschriebenem Schüler subventionierte, bei allerdings insgesamt sinkenden Erziehungsausgaben. Dadurch und aufgrund der defizitären Haushaltslage der Kommunen wurden sowohl die Privateinrichtungen gestärkt als auch die öffentlichen Einrichtungen strikten Rentabilitätskriterien unterworfen. Letztere waren zudem von der Entwicklung des Staatshaushalts betroffen, der in den achtziger Jahren aus Gründen makroökonomischer Stabilität akribisch ausgeglichen bzw. gar mit Überschuß gestaltet wurde. Gegenüber 1970 (4,1% des BSP) waren die Bildungsausgaben bis 1988 auf 2,7% des BSP gefallen, die Pro-KopfAusgaben beliefen sich auf nur noch 71% gegenüber dem Stand von 1970. Die Reformen führten ebenso zu einer Dualisierung des Bildungssystems, die zwar weniger kraß ausfiel als im Gesundheitswesen, jedoch auch weder zur Qualitätssteigerung noch zur Ausweitung des Erziehungssektors beitrugen.179 Auch die Universitäten wurden den Kriterien der Effizienz und Rentabilität unterworfen, die staatlichen Ausgaben drastisch gesenkt und die Finanzierung zum Teil über die Erhebung von Studiengebühren abgewickelt. Einkommensschwache Studenten konnten sich um spezielle Kredite bewerben, doch ging der Anteil der Mittel- und Unterschichten, wie insgesamt die Studentenzahlen, drastisch zurück. In beiden Sektoren hatten die getroffenen Maßnahmen auch Vgl. Dilano/Traslavifla 1989,82; Witte 1994, 84. 1,1
1983 betrugen die Gesundheitsausgaben per capita nur noch 62% gegenüber dem Stand von 1970; betroffen waren insbesondere die Investitionen und qualifiziertes Personal (vgl. Friedmann 1990, 82).
"* Vgl. ebd., 94ff.
123
politisch intendierte Effekte. Nachdem die Universitäten bereits zuvor gesäubert und unter die Leitung regierungstreuer Rektoren gestellt worden waren, trafen die Ausgabenkürzungen vor allem kritische Wissenschaftler, die jedoch teilweise in kleineren nicht-staatlichen Instituten - anfangs zumeist unter dem Deckmantel der katholischen Kirche - weiterarbeiten konnten. Im Bereich der Schulen veränderten Dezentralisierung und Teilprivatisierung die Struktur der Lehrerschaft grundlegend (Entlassungen, Deregulierungen, Konkurrenzdruck, arbeitsrechtlicher Status). Dadurch wurden zwei traditionell starke, den Interessen der Mittelschichten verhaftete Interessengruppen auch strukturell und damit in ihrer Organisationsfahigkeit geschwächt. Festzuhalten bleibt, daß trotz des Privatisierungsschubs der Staat für einen Großteil der sozialen Dienstleistungen verantwortlich zeichnete. Mehr als 60% der Schuleinschreibungen blieben in öffentlicher (kommunaler) Hand, und 90% der Schulen wurden ganz oder teilweise staatlich finanziert. Das staatliche Gesundheitssystem arbeitete weiterhin defizitär, wobei die Relation der kostenlos zu Versorgenden anstieg und damit auch die Verantwortung des Staates. Für beide Sektoren waren überdies verschlechterte Leistungen zu verzeichnen. Die Rentenreform führte dazu, daß für eine relativ lange Übergangszeit die nach dem alten System zu zahlenden Renten ohne die Aufstockung finanzieller Ressourcen per Beiträge zu erbringen waren und sind (immerhin ca. 50% der gesamten Sozialausgaben). Die auf Verminderung der Staatspräsenz im sozialen Bereich und auf die Umstellung auf Marktprinzipien ausgerichteten institutionellen Reformen des Gesundheits-, Sozialversicherungs- und Erziehungswesens führten zur Herausbildung eines tendenziell dualen Systems, dessen unterschiedliche Angebotsstrukturen sich nach der Zahlungskraft der Nutzer richten. Darüber hinaus ist auch die vermeintliche EfFizienzsteigerung der Privatsysteme anzuzweifeln.180 Im Vergleich zur Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung blieb das durch die sozialen Modernisierungen ab 1980 installierte Wohlfahrtsregime auch nach der Krise weitgehend unmodifiziert und trug entsprechend bis zum Ende der Ära Pinochet die deutliche Handschrift der Gründungsphase. Dadurch blieb das zugrundeliegende Institutionengefüge aufgrund seiner Konstruktionsbedingungen insofern mehr mit spezifischen Akzeptanzproblemen behaftet, als außer den Unternehmern - die selbst von diesen Arrangements profitierten - keine der mittlerweile wieder reorganisierten gesellschaftlichen und politischen Gruppen die so geschaffenen Herrschaftsverhältnisse befürwortete. Andererseits führte die Strategie der Opposition, sich auf die Transformation der politischen Ordnung zu konzentrieren, zwar auch zur Diskussion von Alternativkonzepten, doch wurde das Wohlfahrtsregime bis zum Ende der Diktatur nicht ernsthaft, d.h. mittels kollektiven Handelns angefochten. Dadurch konnte die Regierung über die spezifische Mischung aus Anreizen und hierarchischer Verfügungsgewalt gewissermaßen vollendete Tatsachen schaffen, denen sich die Bevölkerung kaum entziehen konnte, auch wenn sie ihnen nicht unbedingt zustimmte. Damit Vgl. Witte 1994.
124
und mit der immerhin großen Gruppe der Unterstützer der Herrschaftsordnung war eine notwendige Bedingung geschaffen für die Stabilisierung der Wohlfahrtsordnung.
4.3 Die De-Institutionalisierung der sozialen Integration Als komplementären Teil des neuen Wohlfahrtsregimes, dessen Auf- und Ausbau über die sozialen Modernisierungen nach der Krise 1982-85 beschleunigt vorangetrieben wurde, rekonstruierte die Regierung mit dem Aufbau des sogenannten sozialen Netzes (red social) auch die Politik der Armutsbekämpfung. Gemäß der neoliberalen Doktrin der Subsidiarität sollte sich das Handeln des Staates hierbei auf Armutskerne und deren inhärente Selbstverfestigung konzentrieren. Armut wurde seitens der Sozialbehörde ODEPLAN definiert als die Nichtbefähigung, sich über den Markt jenes Minimum an lebenswichtigen Gütern zu verschaffen, das erst die volle Marktteilnahme ermöglichte.1 1 Nach Ansicht der Regierung lagen die Ursachen der Armut jedoch nicht in den neu geschaffenen strukturellen Bedingungen von Wirtschafts- und Wohlfahrtsordnung, sondern waren Folge der Marktverzerrungen aufgrund jahrelanger Staatsinterventionen sowie von soziokulturellen Faktoren. Extreme Armut war für sie dadurch überwindbar, daß mittels selektiver Sozialpolitiken Familien solange unterstützt werden sollten (v.a. Ernährung, Gesundheit, Bildung), bis sie die Schwelle des als unerläßlich angesehenen Wohlfahrtsniveaus überschritten hätten. Erst dann wären keine Barrieren für soziale Mobilität mehr vorhanden und die Betroffenen in der Lage, ihre gesellschaftliche Position gemäß ihrer individuellen Anstrengung zu bestimmen. Umgekehrt würde nach dem Subsidiaritätsprinzip sozialstaatliches Handeln ab diesem Zeitpunkt funktionslos.182 Die Umsetzung dieser neuen Sozialpolitiken bedeutete zunächst die beabsichtigte Abkehr von der Sozialstaatsvorstellung des Estado de Compromiso, die generell als 'sozialistisch' oder 'falscher Egalitarismus' kritisiert wurde. Sowohl die Existenz struktureller Ungleichheiten als auch die Schaffung kompensierender Partizipationskanäle wurden aus dieser Sicht abgelehnt. Aufgegeben wurden auch die zuvor wenigstens vom Ansatz her bestehenden Leitprinzipien, wie Schutz gegen Marktkräfte, Sozialrechte, Umverteilung und Vollbeschäftigung. Direkte staatliche Intervention war zwar nach wie vor notwendig, doch bezog sie sich ausschließlich auf die Produktion und Verteilung von Basisgütern, die zur Überwindung extremer Armut als notwendig erachtet wurden. Als Instrumente zur Etablierung eines effizienten sozialen Netzes wurden Spezialprogramme entworfen, die über die exakte Definition der bedürftigen Zielgruppen selektiv und fokussiert durchgeführt werden sollten. Nach Ansicht der Konstrukteure dieses Netzes hatten demgegenüber die Universalprogramme vor 1973 lediglich zu Privilegien und Ineffizienz gefuhrt und damit gerade ex'"
Vgl. Vergara 1990, 36.
1,2
Vgl. - auch zum folgenden - Vergara 1990,37ff.
125
treme Armut und Ungleichheit verschärft. Mittels Selektion und Fokussierung sollten nunmehr die Kernsektoren der Armut identifiziert, klassifiziert und in ihren je unterschiedlichen Problemkonstellationen erfaßt werden, um die knappen Ressourcen in Form direkter Subsidien effizient verteilen zu können. Dies erforderte erstens eine Definition der Armutslinie in Form eines Warenkorbs, der als Mindestmaß staatlich zu garantieren war und sich entsprechend zur Identifikation der kritischen Einkommensniveaus eignete; und zweitens ein adäquates Informationssystem zur Identifikation der Zielgruppen und ihrer Charakteristika, um geeignete (und effiziente) Programme auflegen zu können. Letzteres wurde durch Aufbau und sukzessive Verbesserung und Verfeinerung einer Sozialstatistik erreicht, bekannt als Ficha CAS, während paradoxerweise auf eine Definition der Armutslinie und damit auf eine exakte Erhebung des Armutsumfangs verzichtet.wurde. 183 Auf Ebene der Zentralregierung von der Planungsbehörde ODEPLAN (dem Quasi-Sozialministerium) entworfen, sollten diese Programme von den Kommunen durchgeführt werden ('Effizienz', 'Bürgernähe' und 'Partizipation'), wobei auch der Privatsektor als Anbieter der benötigten Güter und Dienstleistungen vorgesehen war (der Zugang blieb gleichwohl staatlich und nicht über den Markt reguliert). Im einzelnen erstreckten sie sich u.a. auf Geldzuweisungen zur sozialen Sicherung (Familienunterstützungen, Renten), Nahrungsmittelversorgung (v.a. Milch und Proteine für Kinder und Schwangere), Vorschulerziehung, Schulmahlzeiten, sozialen Wohnungsbau und kostenlose Gesundheitsversorgung. 184 Generell litten diese Programme - selbst wenn man ihnen einen kohärenten Ansatz zugesteht und den tatsächlichen Problemlösungswillen der Sozialpolitiker unterstellt - alleine unter der Größe der zu bewältigenden Aufgabe, oder mit anderen Worten: unter der finanziellen Unterausstattung. Sowohl der Umfang der individuellen Leistungen als auch der Deckungsgrad insgesamt blieben begrenzt, weshalb zumeist von vornherein - und entgegen den eigenen Leitlinien - auch auf eine entsprechende Evaluierung verzichtet wurde. 18 Hinzu kamen Mängel in Konzeption, Design und technischer Ausführung der Programme, die auch die wenigen Erfolge - wie zum Beispiel die verbesserte Fokussierung auf die tatsächlich Bedürftigen - konterkarierten und aufgrund der Komplexität der Armutssituationen oft wirkungslos machten. Zu diesen Mängeln zählte u.a. die rein individualistische Definition von Armutssituationen, die die betroffenen Personen zu einem Set statistischer Merkmale degradierten und weder unterschiedliche Gewichtungen und Häufungen von Defiziten noch gar den sozialen Kontext und damit dynamische Aspekte ins Kalkül zogen. VerVgl. ebd., 57f. Die Ficha CAS wurde ab 1980 systematisch eingesetzt und 1984 grundlegend erneuert. Sie basierte auf der Einzelbefragung jener Haushalte (in allen Kommunen des Landes), die dies beantragten oder von den KommunalbehOrden als arm angesehen wurden, und nahm sowohl wohnungs- und familienbezogene als auch individuelle Daten auf. Nach einem Punktesystem wurden die Haushalte klassifiziert und in BedUrftigkeitsgnippen eingeteilt, nach denen der Zugang zu den Sozialprogrammen geregelt wurde. Zu den Funktionsmüngeln dieses Systems vgl. Raczynski 199S, 231 ff. 1M
Ausführlich zu diesen Programmen vgl. Vergara 1990.
1,5
Vgl. ebd., 284f.
126
stärkt wurde dies durch das organisatorische Defizit, daß keine ausreichenden Koordinationsinstanzen geschaffen wurden, um eine Integration der unterschiedlichen Programme vorzunehmen oder eine dezidiert gruppenorientierte Sozialpolitik zu konzipieren, wofür die Verlagerung von Kompetenzen auf die Kommunen Gelegenheit gegeben hätte. Insgesamt führten diese Mängel zu individuell ausgerichteten Assistenzmaßnahmen, die wenig progressiv wirkten und gerade zu einer verminderten Effizienz der Armutspolitik beitrugen.186 Vor dem Hintergrund der radikalen Stukturreformen und der Tiefe der Wirtschaftskrise 1982/83 blieben deshalb die Anstrengungen, ein geeignetes soziales Netz aufzubauen, relativ wirkungslos. Lebten 1969 17% der Haushalte in Armut und 6% in extremer Armut, so stiegen diese Zahlen bis 1987 auf 38% bzw. 13,5% (44,6 bzw. 17% der Bevölkerung). Auch im Zuge der wirtschaftlichen Erholung Ende der 80er Jahre ergab sich nur eine unmerkliche Verringerung auf 34,5% bzw. 11,6% der Haushalte (40,1% bzw. 13,8% der Bevölkerung). Im Jahr 1990 lebten so von knapp 13 Mio. Chilenen 5,2 Mio. in Armut und 1,8 Mio. in extremer Armut.187 Gleichwohl ergaben sich - v.a. im Zusammenspiel mit Langzeiteffekten früherer Modernisierungen - Auswirkungen auf die Charakteristika der armen Bevölkerung: Gemessen an der Generation zuvor war auch für sie die Lebenserwartung gestiegen, bekamen sie eine längere Schulbildung, verbesserten Zugang zu Wasser, Elektrizität, Massenmedien und Gesundheitsversorgung. In speziellen Problembereichen, wie Zugang zur Grundschulerziehung oder zu den Gesundheitsprogrammen für Mütter, konnte erreicht werden, daß das Einkommensniveau kaum noch diskriminierend wirkte. Allerdings wirkte sich das Einkommen deutlich in anderen Bereichen (Vor-, mittlere und höhere Schulbildung, Gesundheitsversorgung der Erwachsenen, Wohnung u.ä.) sowie insgesamt auf die Qualität der Versorgung aus.188 Hinsichtlich der Anzahl der Armen ist eine deutliche Konzentration der Armut in den Städten festzustellen, während die Armut auf dem Land qualitativ stärker ausgeprägt war. Anders als in den meisten anderen lateinamerikanischen Ländern war das bereits hoch urbanisierte Chile (80%) kaum von Landflucht betroffen, doch trug die Armutspolitik der Regierung zu Migrationsprozessen innerhalb der metropolitanen Zonen (v.a. Santiago, Valparaiso und Concepción) bei, die zu einer räumlichen Konzentration der Armut in bestimmten städtischen Zonen führten und damit die intendierte Überwindung der 'Teufelskreise' konterkarierten. Neben den rein sozioökonomischen Folgen von Wirtschaftskrise und Strukturreformen wirkten sich vor allem der Verzicht auf eine auch territoriale Fokussierung der Sozialpolitik sowie die Politik sozialer Segregation (Umsiedlungs- und Wohnungsbauprogramme) dahingehend aus, daß die einkommensstarken Stadtviertel zunehmend von Armutsproblemen verschont und die ärmeren damit belastet wurden. Dies wurde durch die Dezentralisierung
Vgl. ebd., 301 ff. Vgl. Raczynski 1994,64. IM
Vgl. ebd., 16.
127
(Dekonzentration und Delegation von sozialen Verantwortlichkeiten auf die Kommunen) noch verstärkt.1 9 Insgesamt bestätigen die Ergebnisse, daß die Politik der Armutsbekämpfung trotz anders lautender Diskurse der Regierung kaum einen hohen Stellenwert hatte. Insbesondere nach der Wirtschaftskrise wurde sie sowohl der Wirtschaftspolitik als auch der Problematik der politischen Stabilisierung bzw. Transition weit nachgeordnet. Lediglich 15% der drastisch geschrumpften Sozialausgaben wurden für die Konstruktion der red social aufgewendet, die zudem fiir doppelt so viele Arme wie vor der Diktatur sowie für verschärfte strukturelle Armutsbedingungen geknüpft werden sollte. Trotz des prinzipiell positiven Ansatzes der Fokussierung, der die Kanalisierung finanzieller Ressourcen zu Mittel- oder gar Oberschichten unterbinden sollte und darin teilweise erfolgreich war190, kombinierten sich nun umgekehrt für Teile der Mittelschichten die Effekte von Arbeitslosigkeit, Einkommens verfall und Ausgrenzung aus den sozialen Programmen zum tendenziellen Abgleiten in die Armut. Insofern führte die neue Sozialpolitik nicht nur zur Schaffung eines dualen Systems, sondern trug auch zur Deprotektion und weiteren Erosion der Mittelschichten bei.191 Schließlich war die eher fragile Institutionalisierung der red social mit dafür verantwortlich, daß es auf der Basis ohnehin knapper finanzieller Ressourcen in überaus starkem Maße von der Entwicklung der öffentlichen Budgets abhängig war. Dies hatte nicht nur die Erschwerung kontrazyklischer Maßnahmen (wie die Arbeitsprogramme im Zuge der Wirtschaftskrisen 1975 und 1983) und die Unwirksamkeit einiger Maßnahmen schon bei geringfügigen Mittelkürzungen zur Folge. Es begünstigte auch die Ersetzbarkeit der Programme als Instrument der Klientelisierung und der politischen Kontrolle.192
4.4 Auswirkungen und Folgen: Soziale Modernisierung oder Marginalisierung? Die Analyse und Bewertung der autoritären Modernisierungen sowie ihrer Resultate und Folgen muß in Rechnung stellen, daß nicht alle Defizite, aber auch nicht alle Erfolge ausschließlich auf die Politik der Regierung zurückzufuhren Vgl. Serrano 1995, 198f.; Raczynski 1994, 17. Vor allem fllr die Bevölkerung in extremer Armut zog sich diese Spirale im Alltagsleben immer weiter fort: Da die Armenviertel fernab des Zentrums liegen, schlugen für diese Gruppe z.B. die Fahrtkosten derart drastisch zu Buche, daß sowohl die Einkommensquelle als auch der Zugang zu bestimmten Versorgungseinrichtungen entweder unattraktiver oder gar unerschwinglich wurden. Bestimmte Sozialprogramme en-eichten so die eigentlich 'fokussierte' Bevölkerung gar nicht (vgl. Vergäre 1990,287). 1.0
Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß im Estado de Compromiso ein Großteil der Sozialleistungen gewissermaßen zur Beute stark organisierter Gesellschaftsgnippen geworden war; dank institutioneller Trägheiten konnte dies auch unter der Diktatur nur korrigiert, jedoch nicht gänzlich aufgehoben werden (selbst im Ernähningsprogramm fllr Kinder und Schwangere PNAC, das vom Ergebnis her als hoch selektiv eingeschätzt wird, entfielen auf die Gruppe der 30% Einkommensschwächsten ca. 30% der Ausgaben, während die obersten 30% immer noch 11% erhielten; vgl. ebd., 117).
1.1
Vgl. Tironi 1990, 159fT.
1.2
Vgl. Angell/Graham 1995,206.
128
sind. Des weiteren ist bei einigen Reformmaßnahmen deren Langzeitwirkung noch abzuwarten, etwa bezüglich der Rentenreform. Entsprechend sind die allenthalben konstatierten, vorwiegend negativen Modernisierungsdaten stärker zu relativieren, während sowohl die institutionellen als auch die sozialen Struktureffekte als aussagekräftiger anzusehen sind, da sich in ihnen der Grad der Verfestigung des neuen Wohlfahrtsregimes prägnanter ausdrückt als in konjunkturell beeinflußten Indikatoren. Im folgenden ist somit zu prüfen, inwieweit die neue Wohlfahrtsordnung adäquate Anreizstrukturen etablierte, um vor dem Hintergrund einer liberalisierten und deregulierten Marktwirtschaft die Teilhabe an gesellschaftlicher Dynamik, den Schutz gegen systemische Risiken sowie die Erhöhung von Lebensstandard und Chancengleichheit zu ermöglichen. Verglichen mit der Wohlfahrtsordnung vor 1973 ergab die Kombination aus Reduktion der öffentlichen Ausgaben und institutioneller Reorganisation sowohl Abbau als auch Umbau des chilenischen Sozialstaates. Die großen Handlungsspielräume wurden zur Etablierung eines institutionellen Arrangements genutzt, das dem liberalen Typus des Wohlfahrtsstaates am nächsten kommt und mehr noch als die Wirtschaftsordnung die dogmatisch-neoliberale Modernisierung ausdrückt. Dies zeigt sich insbesondere im Vergleich zur Wohlfahrtsordnung vor 1973: Der Finanzierungsmodus trägt deutlich 'liberalen' Charakter (hohe private Ausgaben und starke Ausprägung individueller Finanzierung), die Differenzierung nach Gruppen ist schwach, ebenso die Umverteilungskapazität und der Schutz gegen Marktkräfte; stark hingegen ist der Fürsorgemodus insbesondere im Hinblick auf die Armutsproblematik ausgeprägt. Dieses Bild wird auch dadurch nicht geschmälert, daß es sich bei Renten- und Krankenversicherung trotz Privatisierung und Individualisierung um Pflichtversicherungen für Lohnabhängige handelt, der Staat weiterhin für eine Reihe von Sozialeinkommen zuständig ist und der Großteil des Bildungs- und Gesundheitswesens in staatlicher Hand verbleibt. In bezug auf die Sozialentwicklung wurden die Ergebnisse und Folgen dieser neuen Sozialpolitik im allgemeinen als negativ bewertet, und die hier herangezogenen Indikatoren belegen diese Tendenz für die allgemeinen Wohlfahrtseinrichtungen wie auch für die Armutsproblematik. Allerdings sind diese Negativa zumindest in zwei Punkten zu relativieren. Zum einen bedeuteten die sozialen Einschnitte keinen generellen Verfall der Sozialstandards. Wie Tabelle 7 zeigt, hielten einige grundlegende Modernisierungstrends an, was mit Langzeiteffekten vorangegangener Modernisierungsleistungen wie auch mit spezifischen Sozialprogrammen der Militärregierung zu erklären ist.
129
Tab. 7: Ausgewählte Indikatoren der Sozialentwicklung193 1972
1978
1982
1988
Lebenserwartung Frauen - Männer
66,5 60,0
70,6 63,9
74,6 67,8
75,0 68,0
Sterblichkeitsrate
8,9
6,7
5,9
5,8
Säuglingssterblichkeit
73
40
24
19
86,0 56,3
8,9 92,1 70,0
98,0 80,8
Analphabetismus Zugang zu Trinkwasser - Kanalisation
11,0 67,9 34,8
Zum anderen sind die Resultate der chilenischen Sozialpolitik mit der Performanz anderer Länder Lateinamerikas zu kontrastieren, wobei auch einige ökonomische Output-^aktoren zu berücksichtigen sind. Wie Tabelle 8 zeigt, ergibt dieser Vergleich zumindest für die 80er Jahre ein etwas positiveres Bild als der ausschließlich innerchilenische Vergleich. Hervorzuheben ist insbesondere der HDI-Wert, der von UNDP aus einer Kombination von Lebenserwartung, Alphabetisierungsrate der erwachsenen Bevölkerung sowie der realen Kaufkraft der Einkommen erstellt wird. Die übrigen Indikatoren weisen Chile zwar nicht als jeweiligen Top-Performer Lateinamerikas aus, doch ist es in der Summe als am erfolgreichsten anzusehen. Allerdings ist aus diesen Makro-Daten nicht der Schluß auf erfolgreiche Modernisierung oder gar Entwicklung zu ziehen, da sie nur relative Positionen wiedergeben und keine sozialen Struktureffekte widerspiegeln. Tab. 8: Sozioökonomische Indikatoren lateinamerikanischer Länder194
Argentinien Brasilien Chile Kolumbien Mexiko Peru Venezuela
Wachstum Inflationsrate Reallohn 1989 1989 p.c. (1980=100) (1981-89) -23,5 3.731 88,7 -0,4 1.476 130,9 9,6 21 102,9 13,9 27 119,1 18 72,1 -9,2 36,9 -24,1 2.949 -24,9 90 86,6
Sozialausgaben 1982-89 (% BIP) 15,1 9,4 12,7 8,1 6,8 3,6 9,5
HDI-Wert 1990 99 80 107 86 91 74 89
Aus der Perspektive der institutionellen Reorganisation ist der autoritären Modernisierung zunächst zu konzedieren, daß sie insofern erfolgreich war, als sie 1.3
Quelle: Raczynski 1994,59.
1.4
Quelle: Hojman 1993a, 13; CEPAL 1995.
130
eine effizienzorientierte Anpassung an einen neuen, in den 70er und 80er Jahren sich international durchsetzenden Modus gesellschaftlicher Restrukturierung leistete. Signifikante Indikatoren dieses Modus sind die umfangreiche Reduktion der Rolle des Staates; die Flexibilisierung, Spezialisierung und Internationalisierung der Produktionsstruktur; die Abkehr vom Ziel der Vollbeschäftigung; die Privatisierung öffentlicher Unternehmen und sozialer Dienstleistungen; die Vervielfältigung atypischer Beschäftigung und die Reduktion der Lohnbevölkerung; zurückgehende und selektivere staatliche Assistenz statt universalistischem Wohlfahrtsstaat sowie die Flexibilisierung und Liberalisierung des Arbeitsmarktes. 195 Auf der Grundlage des hier vertretenen Verständnisses von Modernisierung wäre somit zunächst von einem Steuerungserfolg zu sprechen, sofern das Gesamtarrangement betrachtet wird. Bei genauerem Blick speziell auf den Typus sozialer Modernisierung wird deutlich, warum die meisten (nicht-neoliberalen) Autoren Modernisierungsleistungen der Regierung Pinochet bezweifeln und statt dessen von Regression sprechen. Denn abgesehen vom divergierenden Modernisierungsverständnis und der Berücksichtigung der Zeitkomponente ist ein grundlegender Konstruktionsfehler der 'sozialen Modernisierungen' zu konstatieren. Ihre Konzeption gewissermaßen vom Reißbrett her konnte aufgrund der großen Autonomie der mit der Politikgestaltung befaßten Technokraten zwar die Interferenz privilegienorientierter Gruppen ausschalten und somit tatsächlich auf die gewünschte "Neutralität' pochen, doch stellte sie umgekehrt nicht die vorhandene (und teils selbst geschaffene) Gesellschaftsstruktur Chiles in Rechnung. Die Reformen waren konzipiert für eine Gesellschaft, die sozial homogener und modernisierter hätte sein müssen als die chilenische, in der fast die Hälfte der Bevölkerung am Rande des Existenzminimums lebte und deshalb weit entfernt davon war, sich aus eigener Kraft in die dynamischen Prozesse integrieren zu können. Hier änderte auch die vom Ansatz her relativ ausgefeilte, vom Umfang her jedoch äußerst begrenzte red social wenig. Damit erlitten die benachteiligten und letztlich - was ihre Relevanz für die politische Problemverarbeitung betrifft - prekär organisierten Sektoren einen weiteren Verlust an Chancengleichheit, da sie nun fast ungeschützt dem Marktgeschehen ausgesetzt waren. 196 Im Verhältnis zu Operationsweise und Folgewirkungen des Wirtschaftssystems ist daraus festzuhalten, daß die Wohlfahrtseinrichtungen weder die intendierten noch die gewöhnlich als notwendig erachteten Anreiz- und Korrektivfunktionen erfüllten. In der Folge traf der Modernisierungseffekt nur für einen Teil der Gesellschaft zu. Die gewünschte Dynamik für die gesamte Gesellschaft wurde verfehlt, anstatt die Modernisierungsprozesse über eine stringente Armutspolitik in " 5 Vgl. Tironi 1990, 155f. "* Angell/Graham konzedieren hingegen der Armutspolitik der Regierung, sie habe fllr die ärmsten Sektoren einen effektiven Schutz in Zeiten der schweren Krise geboten (vgl. Angell/Graham 1995, 206). Alle verfügbaren Daten Uber Einkommensentwicklung, Arbeitslosigkeit, Verfall des Untersttttzungsumfangs, Abgleiten breiter Schichten in Armut und vor allem Marginalität sowie gerade die elendsbedingte, fllr alle anderen Akteure Überraschende Gegenreaktion der pobladores in Form eines neuartigen, kollektiven Handelns, das sogar als Eröffnung der Transition angesehen werden kann, widersprechen einem solchen Urteil (s. auch Kap. III.4.2).
131
Richtung einer zumindest mittelfristig größeren Homogenisierung zu gestalten. Dadurch ergaben die 'sozialen Modernisierungen' vor dem Hintergrund der ökonomischen Modernisierung eine Dualisierung der chilenischen Gesellschaft, da sich weite Teile der Mittel- und der Unterschichten die Aufwendungen für das reformierte Sozialsystem schlicht nicht leisten konnten, andererseits aber erst staatliche Unterstützung erhielten, wenn sie ihren sozioökonomischen Status bereits verloren hatten. Denn nur wer in die staatlich definierte Armut absank, konnte mittels der red social Assistenzmaßnahmen empfangen, die jedoch aufgrund eingeschränkter staatlicher Finanzierung kaum kompensatorische Wirkung entfalten konnten. Zudem waren die staatlichen Mittel für Sozialausgaben durch die Altlasten - etwa im Gesundheitswesen oder bei der Sozialversicherung - begrenzt. Umgekehrt entwickelte sich daneben ein modernes und dynamisches Gesellschaftssegment, das über hohe Einkommen verfugte und sich ergo die sozialen Leistungen je nach Bedürfnis auf dem Markt frei wählen konnte. Die bereits skizzierten Folgen für die Armutsentwicklung spiegeln sich auch im Vergleich mit anderen lateinamerikanischen Ländern wider. Diese waren zwar auch von der grundlegenden Strukturkrise der 70er und 80er Jahre betroffen, konnten aber deren Folgen besser auffangen. Allerdings ist hier zu berücksichtigen, daß die Strukturanpassungen und somit auch deren Folgen später einsetzten, doch blieben mit der Ausnahme Argentiniens die Schwankungen insgesamt eher gering. Chile hatte sich dadurch bis 1990 dem lateinamerikanischen Durchschnitt angenähert. Tab. 9: Armutsentwicklung in Lateinamerika (1970 bis 1990)197
Argentinien Uruguay Chile Costa Rica Venezuela Mexiko Kolumbien Brasilien Peru Lateinamerika
1,7
1970
1986
1990
8 10 17 24
13 15 39 25 27 34 38
(16) (12) 33 24 34 39
25 34 45 49 50 40
40 52 37
(35) 43 39
Quelle: CEPAL 1995 (je in % der Bevölkerung); die Angaben fllr das Jahr 1990 zu Argentinien, Uruguay und Kolumbien beziehen sich auf den Urbanen Sektor.
132
Die Tendenz wachsender Ungleichheit in Chile ist auch an der Einkommensverteilung zu ersehen, die sich im Vergleich zum ohnehin prekären Status Quo vor 1973 bis Mitte der 80er Jahre weiter verschlechtert hat (s. Tab. 10). Analog hierzu verhielt sich auch die Entwicklung des privaten Verbrauchs: Während 1969 die ärmsten 40% der Haushalte noch mit 19,4% daran partizipierten, fiel dieser Anteil bis 1987 auf 12,6%; umgekehrt stieg der Anteil der reichsten 20% von 44,5% auf 54,9%.198 Tab. 10: Einkommensverteilung nach Einkommensgruppen in Chile199
untere 40% mittlere 40% obere 20%
1970
1980
1983
1987
1990
11,5 32,7 55,8
11,1 31,4 57,6
10,0 30,6 59,9
10,2
12,3 31,8 55,8
31,4 58,4
Dieses Bild wird prägnanter, wenn weitere schichtenspezifische und qualitative Entwicklungen berücksichtigt werden. Neben der Arbeiterschaft, die massiv von Deindustrialisierung, Flexibilisierung, Heterogenisierung sowie insbesondere der durchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit betroffen war, hatte die Modernisierungspolitik vor allem auf weite Teile der Mittelschichten negative Auswirkungen. Während einige Sektoren wie Privatangestellte, kleine Dienstleistungsunternehmer und Händler von der neoliberalen Politik überproportional profitierten und ihren Lebensstandard verbesserten, zählten die (umfangreicheren) 'traditionellen' Sektoren zu den großen Verlierern, d.h. die im öffentlichen Sektor beschäftigten Arbeiter und Angestellten (Verwaltung, Lehrer, Ärzte, Arbeiter in staatlichen Unternehmen und Dienstleistungsbereichen etc.). Über den Zeitraum der Diktatur hinweg wurden insgesamt 200.000 Stellen abgebaut, während der Großteil des verbliebenen Personals denselben Deregulierungen wie im Privatsektor ausgesetzt wurde und dadurch Arbeitsplatzunsicherheit und Lohnverfall in Kauf nehmen mußte. Umgekehrt bewirkte die neue Sozialpolitik, deren Fokussierungsprinzip wie gezeigt gerade die Kanalisierung von Ressourcen zu Mittel- und Oberschichten abstellen sollte, die zunehmende Deprotektion dieser Sektoren, was zu Prozessen des sozialen Abstiegs bzw. der Informalisierung führte. 200 Als Konsequenz dieser Veränderungen nahmen die Abstiegs- und Desintegrationsprozesse rapide zu, am deutlichsten ablesbar nicht nur an der gestiegenen Zahl der Armen - was u.U. noch als vorübergehender Effekt der Restrukturierungen interpretiert werden könnte - , sondern vor allem an der zunehmenden
"* Vgl. Meller/Romaguera 1992,48; die Angaben beziehen sich auf den GroBraum Santiago. "* Quellen: Meiler 1992,21; MIDEPLAN 1994,119ff. 200
Vgl. Lomnitz/Melnick 1991; Tironi 1990, 157ff.
133
Marginalität, d.h. der strukturell verfestigten Exklusion ganzer Bevölkerungsgruppen. Signifikant für diese Entwicklung sind vor allem die sogenannten pobladores, d.h. jene armen oder verarmten Schichten, die die (mehr oder weniger großen) Randzonen der Großstädte bewohnen und durch instabile Arbeitsund Reproduktionsverhältnisse gekennzeichnet sind - ein Phänomen, das ganz Lateinamerika betrifft und auch kein alleiniges Produkt der 80er Jahre darstellt.201 Als wesentliches Handicap dieser Gesellschaftssektoren ist deren geringe Chance anzusehen, sich aus eigener Kraft dauerhaft in den gesellschaftlichen Modernisierungsprozeß zu integrieren. Obwohl auch die chilenischen Sozialpolitiker die Gefahr einer Verfestigung dieser Armut implizit anerkannten ('Teufelskreis'), wirkte ihre Modernisierungsstrategie verstärkend auf diese Tendenzen, da diese Sektoren überproportional hoch von Arbeitslosigkeit, Einkommensverfall und Niedergang der staatlichen Versorgung betroffen waren. Hinzu kam die autoritär induzierte Politik der Segregation durch die Kommunalreform, die die Armut in peripheren Stadtvierteln konzentrierte und sie überdies von besser dotierten Versorgungseinrichtungen sowie von bestimmten Beschäftigungsmöglichkeiten (Gärtner, Wäscherei, Reparaturen u.ä.) abschnitt.202 Mitte der 80er Jahre machten die pobladores fast die Hälfte der Bevölkerung im Großraum Santiago aus, doch hatte sich ihr Profil gegenüber früheren Generationen gewandelt: Die Mehrzahl war bereits in Santiago geboren, besaß eine abgeschlossene Grundschulausbildung (8 Jahre) und unterschied sich auch in der Altersstruktur kaum vom Rest der Bevölkerung. Trotz dieser 'Modernisierung' der marginalen Gruppen seit den 60er Jahren, zu der vor allem die Integrationspolitik der promoción popular unter Frei beigetragen hatte, und trotz der Disposition zur Integration seitens der pobladores bot die Modernisierungspolitik unter Pinochet hierfür keine Chancen, sondern bewirkte das genaue Gegenteil: Die Zahl der marginalisierten Bevölkerung stieg und ihr Versorgungsgrad mit notwendigen Grundgütern (Ernährung, Wohnung, Gesundheit, Bildung) nahm ab, so daß auch die oben in Tabelle 7 aufgeführten Modernisierungstrends hier in geringerem Maße griffen.203 Betrachtet man aus diesem Blickwinkel die Funktionsweise der neu etablierten Wohlfahrtseinrichtungen, so trugen sie zur institutionellen Verfestigung der Dualisierungstendenzen innerhalb der chilenischen Gesellschaft bei. Die mit den 'sozialen Modernisierungen' ab 1981 einsetzenden Finanzkürzungen im staatlichen Sektor, die einkommensbedingten Zugangsbarrieren zu den sozialen Dienstleistungen sowie die Einschränkung der Subsidien wie auch der fokus301
Zu den pobladores bzw. den sectores populäres als Sammelbegriff ftlr die benachteiligten Gruppen in den hoch segmentierten und ungleichen Gesellschaften Lateinamerikas sowie zu ihrer Heterogenitat vgl. Tironi 1990,228ff.; Oxhom 1995,299ff.
202
Vgl. Tironi 1990, 169f.
203
Die 1990 vom neuen Sozialministerium MIDEPLAN erhobenen Daten fllr verschiedene Bereiche wie Bildung, Ernährung, Gesundheit und Wohnung zeigen - mit Ausnahme der Gmndschulbildung - bei der armen Bevölkerung eine aberproportional große Abweichung von den Durchschnittswerten (vgl. MIDEPLAN 1990; 1991a; 1991b; 1992).
134
sierten Sozialleistungen sind zwar als kompatibel mit dem anvisierten Modernisierungsmodus zu erachten, doch wirkten sie sozial regressiv und kaum dynamisierend im Hinblick auf soziale Integration. Dies legt entweder den Schluß nahe, daß die neoliberale Modernisierung in der beabsichtigten (und propagierten) Form nur funktioniert, wo es diese sozialen Strukturprobleme nicht gibt - was offenkundig ein Paradox darstellt, da diese Probleme gerade dadurch geschaffen oder zumindest verschärft wurden. Oder aber man akzeptiert sie als Typ von Modernisierung, der Marginalisierung und Desintegration als notwendige Folge mit sich bringt, wie es für die Restrukturierungen der 80er und 90er Jahre der Fall zu sein scheint. Weniger als die eingangs skizzierten harten Daten ist es somit der institutionell verfestigte Modus der Modernisierung, der die Ära Pinochet charakterisiert und der postautoritären Phase als Erbe hinterlassen wurde.
4.5 Fazit Auch im Hinblick auf die Wohlfahrtsordnung wählte die Militärregierung eine radikale neoliberale Option, um die reformbedürftigen Wohlfahrtsinstitutionen des Estado de Compromiso umzubauen. In der Phase der politischen Institutionalisierung - also zu einem für Pinochet günstigen Zeitpunkt um 1980 - erfolgte die Umstellung auf ein liberales Wohlfahrtsregime, das auf ein komplementäres Zusammenspiel mit der Wirtschaftsordnung und somit auf neue Herrschaftsverhältnisse zielte. Noch mehr als die Wirtschaftsordnung konnte auch die Wohlfahrtsordnung weitgehend ohne gesellschaftliche Interferenzen konstruiert werden, doch überdauerte sie unverändert die Wirtschaftskrise und die Diktatur. Durch die Implementierung von Marktmechanismen wurde auch im Sozialsektor sukzessive Raum für die mächtigen Wirtschaftsgruppen geschaffen, andererseits die Interferenz bzw. Partizipation repräsentativer Organisationen begrenzt bzw. ausgeschaltet. Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip entledigte sich der Staat eines Teils seiner sozialen Funktionen, was in einer Ordnung resultierte, die sich aufgrund der (freiwilligen und erzwungenen) Akzeptanz der Beteiligten mit ihren eigenen Mechanismen reproduzierte. Aus den Bereichen Erziehung, Gesundheit, Sozialversicherung und Wohnungsbau zog sich der Staat nicht nur als Arbeitgeber zurück bzw. reduzierte die Ausgaben drastisch, sondern gab damit auch die klassischen Mechanismen der Redistribution bzw. der sozialen Wohlfahrt aus den Händen, wie sie bis 1973 gültig waren. Der Staat behielt gemäß dem Subsidiaritätsprinzip lediglich die Verantwortlichkeit für jene Bevölkerungssektoren, die aufgrund zu geringen Einkommens nicht die Mittel für notwendige Versorgungsleistungen besaßen. Allerdings bewirkte das Zusammenspiel aus Wirtschaftssystem, strukturellen Problemlagen und unzureichenden Kompensations- und Distributionsmechanismen, daß die Probleme der sozialen Integration nicht nur nicht gelöst, sondern umgekehrt verschärft bzw. 'stabilisiert' wurden. 135
5. Politische Ordnung und politische Entwicklung Hinsichtlich der politischen Ordnung des Autoritarismus ist auf den ersten Blick ein widersprüchliches Szenario zu konstatieren: Pinochet schaffte es weder, die ursprünglich angestrebte Herrschaftsform dauerhaft zu etablieren noch seine Machtposition über 1990 hinaus zu sichern, sondern sah sich statt dessen mit relativ starken Akteuren der politischen und der Zivilgesellschaft konfrontiert, die wesentliche Fundamente der neuen demokratischen Ära darstellen. Dennoch hielt er sich nicht nur mehr als 16 Jahre an der Macht, sondern konnte auch die Transition nach seinen Spielregeln gestalten - faktisch wurde Pinochet per Plebiszit abgewählt, und die Mehrheit gegen die Verlängerung seiner Amtszeit bis 1997 fiel mit 56% zu 44% eher knapp aus. Die Erklärung bzw. Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs zwischen Zielverfehlung und Stabilität hängt eng damit zusammen, daß in der Ära Pinochet auch politische Modemisierungs- und sogar Entwicklungsprozesse stattgefunden haben, die teils intendiert, teils nicht-intendiert waren und sich spannungsvoll überlagerten. Dies erfordert eine Analyse der ordnungskonformen wie -adversen Tendenzen, d.h. eine Beantwortung der Frage, wie sich die unterschiedlichen kollektiven Akteure im bzw. zum institutionalisierten politischen Rahmen verhielten. Hierzu eignet sich zunächst die Unterscheidung in einen offiziellen und einen inoffiziellen politischen Machtkreislauf, wie sie ähnlich auch Garretón getroffen hat:204 Der offizielle Machtkreislauf umfaßt die etablierten und zugelassenen politischen Prozesse und richtet den Blick auf dessen Adaptationsfahigkeit sowie auf die Gestaltung eines einigermaßen effizienten Prozesses politischer Problemverarbeitung. Der inoffizielle Machtkreislauf umfaßt die jenseits davon sich entfaltenden Phänomene und Prozesse kollektiven Handelns, d.h. gemäß unserer Unterscheidung die Handlungssphären von politischer Gesellschaft und Zivilgesellschaft. Die Ausfuhrungen in Kapitel II.2. machten bereits deutlich, daß und vor allem warum die Militärregierung diese Handlungsräume zunächst repressiv kappte und später per Durchsetzung einer autoritären politischen Ordnung und deren ökonomischen und sozialen Grundlagen dies zu verstetigen suchte. Da auch eine politische Ordnung jedoch nur solange funktioniert, wie das politische Handeln regelmäßig an ihr orientiert wird, hing die Stabilität des autoritären Staates somit auch davon ab, ob bzw. inwieweit sich Zivilgesellschaft und Parteien - und damit kollektives Handeln insgesamt - neu formieren konnten, sprich: von Dynamik und Wechselspiel zwischen offiziellem und inoffiziellem Machtkreislauf.
** Vgl. Garretón 1989, 185ff.
136
5.1 Offizielle Spielregeln und politischer Problemverarbeitungsprozeß Bis in das Vorfeld des Plebiszits im Jahr 1988 blieben die Kemelemente der autoritären politischen Ordnung - trotz oder gerade wegen einiger Modifikationen - im wesentlichen stabil: De facto existierten weder horizontale noch vertikale Kontrolle,205 der Machtzugang war monokratisch organisiert206 und die Rechtsstaatlichkeit 'autoritär' im Sinne O'Donnells.207 Die Verfassung von 1981 diente vor allem als Instrument der Machtabsicherung, indem nach innen (Militärs und regierungsnahe politische Kreise) die Errichtung verbindlicher Regeln signalisiert sowie die Grundpfeiler der zukünftigen politischen Ordnung und ihrer Gestaltung (Zukunftsprojektion) festgelegt wurden. Im Kern blieb auch die Konstellation der relevanten Machtgruppen weitgehend unverändert (Exekutive, Streitkräfte, Unternehmer, Banken).20 Relevant für eine Beurteilung politischer Modernisierung im Rahmen des offiziellen Machtkreislaufs sind sowohl interne Aspekte des Staatsapparates (Entscheidungsfindungs- und Implementierungsmuster) als auch die Positionierung exekutiver und administrativer Macht im politischen Prozeß, wobei hier das insgesamt entscheidende Kriterium die Funktionalität und Effizienz für politische Problemlösungen darstellt. Vorab ist jedoch zweierlei festzuhalten: Zum einen scheiterte spätestens mit der Krise ab 1982 das politische Modemisierungsprojekt des Gründungsmodells, d.h. die Etablierung einer von intermediären Vermittlungsprozeduren freien, im wesentlichen technokratisch ausgeprägten staatlichen Autonomie mit dem Pendant einer atomistisch interpretierten 'liberalen' Gesellschaft. Zum andern bedeutete dies aber nicht, daß - wie andere Autoren betonen209 - nach 1982 im wesentlichen nur noch Krisenmanagement betrieben wurde, um ausschließlich die Macht zu sichern oder die verbliebenen Eckpfeiler des Gründungsmodells zu retten. Vielmehr gelang es Pinochet, diese Krise zu meistern und ab 1984/85 neben der pragmatischen Vertiefung der Wirtschafts- und Wohlfahrtsordnung auch die Zukunftsprojektion der politischen Ordnung im Rahmen der Verfassung von 1981 anzugehen - für ihn sozusagen die zweitbeste Lösung. Als diese Option (Verlängerung seiner Amtszeit und Errichtung einer kontrollierten Demokratie) unerwartet scheiterte, konnte er immerhin noch die Spielregeln der Transition sowie die Grundzüge der nachfolgenden Demokratie mitbestimmen - Pinochets drittbeste Lösung. Ki
206
Formell existierten zwar Exekutive (Pinochet und Regierung) und Legislative (Junta), doch spielte letztere faktisch keine Rolle (vgl. Friedmann 1990, 124ff). Die Justiz blieb als einzige der drei Staatsgewalten unangetastet, verhielt sich im Austausch dafür jedoch Ober die ganze Ära hinweg mehr als willflhrig gegenüber Pinochet und trug mehr zum Abbau denn zur Wahrung rechtsstaatlicher Elemente bei (vgl. Informe Rettig 1991,9Sff; zu den Folgen s. auch Kap. III.4.I). Zur Modifikation der Form der MachtausUbung vom Bonapartismus (1973-1980) Ober den Casarismus (1980-1983) zum caudillismo bzw. Pinochetismus (ab 1983) vgl. Varas 1987,49ff, I95ff
M7
Vgl. O'Donnell 1994a, 165.
201
Vgl. Varas 1987,55.
209
Vgl. Garretón 1989,150ff.
137
Als interne Faktoren für die Funktionalität politischer Entscheidungen spielen im wesentlichen zwei Aspekte eine Rolle, die gewöhnlich auch im Kontext von Staatsreformen allgemein thematisiert werden: zum einen das Muster der politischen Entscheidungsfindungsprozesse und zum andern Struktur und Arbeitsweise der Verwaltung. In beiden Fällen ist fiir die Ära Pinochet charakteristisch, daß hier zwar Modernisierungsansätze zu konstatieren sind, die aber rudimentär blieben, weil sie von anderen Motiven überlagert wurden. In bezug auf die internen Entscheidungsfindungsprozesse wurde bereits auf die Konzentration und Personalisierung politischer Macht hingewiesen, die eine Hierarchisierung und Bündelung der Entscheidungsabläufe nach militärischem Muster bewirkte. Quasi als Nebeneffekt beseitigte dies einen Strukturdefekt des chilenischen Präsidentialismus, wie er sich im Zuge der Komplexitätssteigerung staatlicher Aufgaben im Estado de Compromiso herausgebildet hatte:210 Entgegen dem Leitbild, daß eine hoch personalisierte Macht auch eine hohe Kohärenz exekutiver Entscheidungen verbürgen könnte, hatte mit der Ausweitung der Funktionen auch die interne Differenzierung zugenommen (Minister, Staatssekretäre, etc.), was zu einer schleichenden Feudalisierung und - je nach Ressourcen - zur Herausbildung ministerieller Autonomien und Machtzentren (baronazgos) gefuhrt hatte. Entsprechend waren die Schwierigkeiten gewachsen, politische Entscheidungen zu koordinieren und deren Kohärenz zumindest im Ansatz (Politikformulierung) zu gewährleisten. Das auf Pinochet zugeschnittene militärische Muster kehrte diese Tendenz nun weitgehend um, indem die Autonomie der Exekutive erhöht und 1983 mit der Secretaría General de la Presidencia eine eigene, am Vorbild von Generalstäben orientierte Koordinationsinstanz geschaffen wurde. De facto operierte der jeweilige, durchweg den Reihen des Heeres entstammende Minister als Kabinettschef, der das gesamte decisión making filterte und mit Kohärenz auszustatten versuchte.211 Er besaß hierfür weitgehende administrative Befugnisse und konnte sich auf die Zuarbeit dreier Abteilungen stützen ('Exekutive', 'Legislative', Studienabteilung), doch blieb trotz dieser zentralen Rolle des Sekretariats die letztinstanzliche Entscheidung beim Präsidenten.212 Die Verwaltung als Instanz der Implementierung der politischen Entscheidungen stand in Chile ähnlich wie in den übrigen lateinamerikanischen Ländern in der Tradition des Zentralismus213 und war in der Ära des Estado de Compromiso ebenso der Tendenz zu struktureller Überbürokratisierung und verhaltensmäßiger Unterbürokratisierung unterworfen.214 Die daraus resultierenden Schwächen und Leistungsmängel blieben im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern zwar in tolerierbaren Grenzen215, doch wollte die Militärre210
Vgl. Flisfisch 1993, 191f.
211
Vgl. ebd., 192.
212
Vgl. Friedmann 1990, 126.
2
" Vgl. Véliz 1970.
214 2
Zu diesen Aspekten vgl. Birle 1993,64ff.
" Vgl. Flisfisch 1993, 187f.
138
gierung einige aus ihrer Sicht spezifische Mängel ('Zentralismus', 'Politisierung', 'Ineffizienz') per Reform beheben. Neben der politischen Säuberung und dem Versuch, eine 'neutrale' Technokratie zu etablieren, wurde die Verwaltung in den autoritären Kontext eingebunden und nach dem Modus hierarchischer Führung gestaltet. Daneben wurde sie jedoch zusätzlich den Kriterien einer 'Staatsreform' unterworfen, die vornehmlich als Verkleinerung des Apparates über die Reduktion des Personals (und des öffentlichen Produktionssektors) erfolgte. Während dadurch die Effizienz litt (u.a. Personal mit defensiver und innovationsfeindlicher Mentalität), erbrachte die 'Dezentralisierung' lediglich eine Dekonzentration der Verwaltung in Regionen, Provinzen und (für bestimmte Funktionen wie Schulwesen) in Kommunen - die politische Leitung der Verwaltung blieb dagegen zentralisiert. De facto überlagerte das militärische Hierarchieprinzip diesen Modernisierungsansatz, so daß die machtbasierten Infrastrukturen vertikal durchstrukturiert waren und eher das Netz des autoritären Staates ausweiteten. Entsprechend wurden die Verwaltungsspitzen der Regionen (Intendentes) direkt dem Präsidenten unterstellt und überdies ausschließlich mit Militärs (v.a. aus dem Heer) besetzt; die Provinzgouverneure unterstanden dem jeweiligen Intendenten und rekrutierten sich zu über 80% aus Militärs (dto. v.a. aus dem Heer); nur die vom Präsidenten ernannten Bürgermeister bestanden vorwiegend aus Zivilen.216 Die Funktionalität und Effizienz dieser internen Organisation der Entscheidungsfindung und -implementierung ist letztlich an der Funktionalität für gesamtgesellschaftliche Problemlösungen zu ermessen, weshalb die Art der Einbettung dieser Strukturen in den politischen Problemverarbeitungsprozeß ausschlaggebend ist. Die in Kap. III. 1 analysierte Monopolisierung und Zentralisierung der Staatsgewalt in der Person des Präsidenten implizierte die Entdifferenzierung des politischen Systems, die das Gesamtsystem dem Risiko gravierender Differenzierungsgefalle aussetzte. Die Desartikulation der soziopolitischen Matrix war insbesondere während der Phasen der Konsolidierung und Institutionalisierung explizit das angestrebte Ziel der Militärregierung, um Politik durch 'richtige' Technokratie zu ersetzen (und so faktisch zu entpolitisieren). Die bewußte Kappung der Austauschbeziehungen zwischen Staat und Gesellschaft führte dazu, daß es keinerlei formalisiertes System zur Verarbeitung gesellschaftlicher Forderungen gab.217 Nach Easton ist es jedoch für das Überleben eines politischen Systems (hier synonym mit 'Staat') notwendig, die für eine Gesellschaft 'richtigen', d.h. funktionalen Entscheidungen zu treffen, was entsprechende Input- und Feedback-Mechanismen voraussetzt. Dies kann aber bei einer wie in Chile unter Pinochet personalisierten und hierarchisierten Entscheidungsstruktur nicht vorausgesetzt werden, auch wenn - oder gerade weil neben den Militärs auch die Technokraten beteiligt waren. Insofern ist zu fragen, ob die zuvor aufgezeigten Modernisierungspozesse mit einem funktionie-
214
Vgl. Friedmann 1990,1361T.
217
Vgl. Garretón 1989, 141.
139
renden politischen Problemverarbeitungsprozeß gekoppelt waren, um relevante inputs in adäquate Outputs zu verwandeln. Die Analyse der Verknüpfungen der administrativen Macht mit den übrigen Machtquellen läßt durchgängig das Bestreben der autoritären Regierung erkennen, sich eine weitestgehende Autonomie gegenüber jenen gesellschaftlichen Gruppen und Interessen zu sichern, die für Herrschaftsform und Gestaltung der Herrschaftsverhältnisse relevant waren (i.e. vor allem die Unternehmer in ihren verschiedenen Fraktionen, aber auch regierungsnahe Kreise wie Gremialisten, National-Konservative und Neoliberale sowie - zumindest punktuell - Spitzenvertreter gesellschaftlicher Organisationen). Entsprechend versuchte sie, den politischen Problemverarbeitungsprozeß in der Weise autoritativ zu gestalten, daß das policy-design ausschließlich den eigenen programmatischen Vorstellungen entsprach. Allerdings sind bezüglich der Form dieser Autonomie wesentliche Modifikationen erkennbar, die v.a. aus der Dynamik der Restrukturierungsprozesse resultierten. Die Phase bis 1982 war geprägt von der sukzessiven Steigerung staatlicher Autonomie, indem ein eng gefaßter politischer Machtkreislauf etabliert wurde. Dies beinhaltete sowohl die interne Hierarchisierung, die noch durch die gezielte Isolierung der Technokraten innerhalb des Staatsapparates verstärkt wurde, als auch die Eliminierung fast aller nicht-offiziellen Einflußkanäle. Diese Abkoppelung der politischen Entscheidungsprozesse von jeglicher externer Einflußnahme erstreckte sich auf alle Politikfelder. Faktisch existierten bis 1982/83 nur auf oberster Ebene lockere Bande zwischen der mit dem wirtschaftlichen und sozialen Management beauftragten Regierungsmannschaft und den dominanten Gruppen des Finanzsektors. Die Vertiefung dieser Beziehungen während der Boomphase zu einem informellen Rotationssystem 218 gab diesen Sektoren bis zur Krise 1981 einen immensen Vorteil bezüglich Information, Einfluß und Zugang zum decision making der Regierung. Die derart nicht privilegierten Sektoren fanden hingegen keine politische Arena der Repräsentation mehr vor, noch eine offizielle Adresse, um ihren Ansichten oder Forderungen Gehör zu verschaffen. Entsprechend waren sie darauf angewiesen, die persönlichen Entscheidungen des Präsidenten abzuwarten und zur Kenntnis zu nehmen. Auch den zur eigenen sozialen Basis zählenden Sektoren (wie der Wirtschaftsfuhrer und der Berufsverbände) blieb nur die Möglichkeit, ihre Interessen in Form von öffentlichen Erklärungen oder Pressekonferenzen mit dem Ziel vorzubringen, eine Audienz bei Pinochet zu erreichen. Die radikaleren Äußerungsformen der Opposition fanden keinen Adressaten, konnten entweder unterdrückt oder schlicht ignoriert werden. Schließlich litten auch die beiden für 'Politik' (im Sinne kollektiven Handelns) durchlässigeren Bereiche - die lokale Ebene und der wichtige Sektor der Arbeitsbeziehungen - unter spezifischen Restriktio-
211
Vgl. ebd.
219
Auf lokaler Ebene bewirkte die hierarchische Organisationsstruktur eher die Kontrolle als die Formierung von Forderungen; zum Bereich der Arbeitsbeziehungen s. Kap. 111.2.4.
140
Der skizzierte Modus der Politikproduktion war für die Durchsetzung des Gründungsmodells funktional und erlaubte die Implementierung eines neuen institutionellen Arrangements, ohne auf die Signale der betroffenen Sektoren also sowohl der einzelnen Fraktionen der regimestützenden Gruppen wie auch der Bevölkerung und ihrer 'klandestinen' Repräsentanten - grundsätzlich Rücksicht nehmen zu müssen. In der Praxis blieb der Politikprozeß von den inputs organisierter Interessengruppen relativ unberührt und wurde vielmehr als technokratischer Planungsprozeß gestaltet, der diese neutralisierende Abschottung gerade voraussetzte. Abgesehen von der Phase 1982/83 konnte dieser Modus auch im Fall kleinerer 'Krisen' durchgehalten werden, wie etwa bei der Reform der Arbeitsgesetzgebung. Gewöhnlich bestand die charakteristische Reaktionsweise in der Bildung einer Expertenkommission, deren Empfehlungen zuerst zur Kenntnis genommen, dann aber vorläufig ad acta gelegt wurden. Im Bedarfsfall wurde das betreffende Problem in den Zirkeln um Pinochet neu diskutiert und schließlich 'unabhängig von partikularistischen Interessen' entschieden.220 Gemäß der These, daß eine zu große staatliche Autonomie der staatlichen Entscheidungsträger das Risiko dysfunktionaler politischer Entscheidungen in sich birgt, traten jedoch spätestens bei der Ablaufgestaltung des Gründungsmodells Inkonsistenzen auf. Sowohl die hohe Zentralisierung und Personalisierung der politischen Entscheidungsprozesse als auch ihre relative Isoliertheit aufgrund des Strebens nach größtmöglicher politischer Autonomie entwickelten sich zu einem Systemdefekt, da zwar ein autonomes Funktionieren gesellschaftlicher Teilbereiche angestrebt wurde, dem 'politischen System' aber ein quasi manisch-depressiver Charakter unterstellt wurde: Einerseits galt Politik als geradezu pathologischer Störfaktor für ein marktanaloges Funktionieren der Gesamtgesellschaft und war insofern, da man seinem autonomen Funktionieren in einer politischen Gesellschaft mißtraute, auszuschalten; andererseits sollte genau dieses autoregulative Funktionieren aber durch technokratische staatliche Steuerung und Kontrolle durchgesetzt werden.221 Als gravierendste Folge davon ergab sich ein mangelnder Abstimmungsprozeß gerade im sensibelsten Bereich, nämlich der Entfaltung der Wirtschaftsordnung: Während einige Vertreter der großen Finanzkonglomerate privilegierten Zugang zum decisión making besaßen, wurde das Gros der Unternehmer von den wirtschaftspolitischen Entscheidungen nur in Kenntnis gesetzt. Aufgrund dieser Unsicherheit über den Kurs der Wirtschaftspolitik blieben gerade im Industrie- und Agrarsektor die möglichen Investitionen aus, was mit zum Kollaps der Jahre 1982/83 beitrug.222 Mit der Wirtschaftskrise hatten sich die Parameter dieser technokratischen Steuerung drastisch gewandelt, was zur Modifikation der Form staatlicher Autonomie führte. Mit der Secretaría General de la Presidencia als Koordinati220
Vgl. Garretön 1989, 134.
221
Entsprechende Grundsätze wurden bereits in der 'Prinzipienerkläning' der Militärregierang vom 11.3.1974 festgehalten (vgl. Friedmann 1990, 53f.).
232
Vgl. Silva 1996b, 304IT.
141
onsinstanz sollte - unter Beibehaltung des Hierarchieprinzips - der Komplexität der gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung getragen werden. Trotz organisatorischer Diversifizierung blieb dieses Instrument jedoch stumpf bis hin zur Ineffektivität.223 Bedeutsamer für die Stabilisierung der Herrschaftsordnung wurde deshalb die Transformation der abgeschotteten in eine eingebettete Autonomie (embedded autonomy),224 d.h. die partielle Öffnung von Austauschkanälen zwischen Regierung und vor allem dem Wirtschaftssektor. Da das ab 1982 notwendige Krisenmanagement u.a. eine erneute Versicherung tragender Teile der sozialen Basis erforderte, führte dies zunächst zur Aufnahme von Unternehmern in Spitzenpositionen von Finanz- und Wirtschaftsministerium und schließlich auch zur Öffnung von Artikulationskanälen für den Unternehmersektor insgesamt. Umstritten ist hier allerdings vor allem, welcher Einfluß auf die Regierung 'der Wirtschaft' oder 'den Unternehmern' zukam. Hier stehen sich Aussagen gegenüber, die deren relative Machtlosigkeit betonen, und andere, die von großem Einfluß bzw. davon ausgehen, daß sie im Staat entscheidende Macht ausübten.225 Wie Imbusch aufzeigt, war die Verflechtung zwischen Wirtschaft und Politik ein Faktum insofern, als Führungspersonen aus der Wirtschaft in hohe politische Positionen und Ämter gelangten.226 Allerdings war dies nicht gleichbedeutend damit, daß sie aus Regierungspositionen heraus Politik für die Unternehmer im Sinne korporatistischer Interessenvertretung betrieben. In der Regel bestimmte die Regierung die Leitlinien der Wirtschaftspolitik, während deren konkrete Gestaltung mit führenden Wirtschaftsvertretern und vor allem mit dem Dachverband CPC abgesprochen wurde. Im Entscheidungszentrum wurde somit eine relative Autonomie gegen partikulare Unternehmerinteressen gewahrt, sofern sie nicht mit den Leitlinien der Regierung (ökonomische Stabilisierung und Vertiefung des pragmatischen Neoliberalismus) übereinstimmten. Dies erklärt die auf den ersten Blick widersprüchliche Kombination von großem und geringem Einfluß der Unternehmer: Vom Entwicklungsmodell her waren sie als Klasse strukturell privilegiert, da dessen Erfolg von einer dynamischen Unternehmerschaft abhing, doch fanden abweichende Interessen keine Berücksichtigung. Die Modifikation in Richtung einer eingebetteten Autonomie - von Silva als ausschlaggebend und richtungsweisend für Reformökonomien allgemein bewertet227 - kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß dadurch lediglich der offizielle Machtkreislauf berührt wurde und entsprechend auch der politische Problemverarbeitungsprozeß nur im Bereich der Wirtschafts(ordnungs)politik effizienter gestaltet werden konnte. Die übrigen Politikbereiche erlitten hingegen einen deutlichen Relevanzverlust und blieben, sofern sie nicht direkt mit 215
Vgl. Friedmann 1990,126f.
224
Vgl. Silva 1996b.
225
Zu ersteren vgl. Valenzuela 1995, 74; zu letzteren Imbusch 1995,96ff.
226
Vgl. ebd.
227
Vgl. Silva 1996b.
142
der ökonomischen Modernisierung verkoppelt waren wie die AFPs und die ISAPRES, vorwiegend dem Modus der technokratisch angeleiteten administrativen Macht unterworfen. Insgesamt ist daraus der Schluß zu ziehen, daß der Staat selbst zwar von den drastischen Budgetkürzungen - ausgenommen das Militär - betroffen war, aber keiner dezidierten Modernisierungsanstrengung unterzogen wurde.
5.2 Neuformierung und Funktionswandel der Zivilgesellschaft Den spektakulärsten und folgenreichsten politischen Einschnitt der autoritären Ära stellten die 1983 beginnenden Massenproteste dar, die als 'Wiederauferstehung' der Zivilgesellschaft bezeichnet werden. Entgegen der Annahme von O'Donnell und Schmitter, die dafür eine vorangegangene Liberalisierung als notwendig erachten,228 ging diese Wiederauferstehung nicht nur der Liberalisierung voraus, sondern war deren Auslöser - auch wenn ab 1986 wieder die vorübergehende Schließung des 'Transitionsfensters' erfolgte. Die Frage nach Ausprägung und Entfaltung der Zivilgesellschaft beinhaltet - zumal in autoritären Staaten - die Frage nach der Herausbildung demokratischer Faktoren und somit nach politischer Modernisierung und Entwicklung. Natürlich sind solche Ergebnisse, sofern nachweisbar, quasi per definitionem nicht als Steuerungsleistungen einer autoritären Regierung zu analysieren, sondern betreffen vielmehr nicht-intendierte Veränderungen des gesellschaftlichen Unterbaus. Dennoch ist im folgenden zu prüfen, inwiefern die 'Wiederauferstehung' der Zivilgesellschaft und vor allem ihr Gestaltwandel in den 80er Jahren von der autoritären Modernisierung zumindest mitbeeinflußt wurden. Vor dem Putsch hatte die charakteristische Ausprägung der chilenischen Zivilgesellschaft darin bestanden, daß ihr im wesentlichen ein nur geringer Autonomiegrad zugesprochen werden konnte: Die meisten Organisationen der Zivilgesellschaft waren durch Parteien bzw. den Staat selbst ins Leben gerufen bzw. von diesen strukturiert und in hohem Maßen kontrolliert worden. Was für eine bestimmte Phase als Aspekt politischer Modernisierung gelten konnte, nämlich die Inklusion weiter, bis dahin marginalisierter gesellschaftlicher Sektoren in den staatlich angeleiteten Modernisierungsprozeß, war unter Allende zu einer Achillesferse der Demokratie geworden, da die politische Polarisierung sich ungebremst auf alle gesellschaftlichen Bereiche ausdehnen konnte. Die Entpolitisierungsstrategie der Militärregierung zielte nunmehr darauf, den unter Allende erreichten hohen Mobilisierungsgrad der chilenischen Bevölkerung zurückzudämmen und nicht nur die Artikulationskanäle zwischen politischer Gesellschaft und Zivilgesellschaft zu kappen, sondern auch den Druck sozialer und politischer Forderungen an die Adresse des Staates zu eliminieren.
221
Vgl. O'Donnell/Schmitter 1986,48f.
143
Bis zu den Massenprotesten ab Mai 1983, als die Wirtschaftskrise bereits seit über einem Jahr voll ausgebrochen war, schien dieses Ziel im großen und ganzen erreicht. Abgesehen von vereinzelten Protesten (z.B. Hungerstreiks wegen Menschenrechtsverletzungen) oder isolierten Aktionen mit Forderungscharakter (wie einige Landbesetzungen) blieb kollektives Handeln ein sporadisches und punktuelles Phänomen.229 Für diese massive Demobilisierung, der die zivilgesellschaftlichen Organisationen in dieser Phase ausgesetzt waren, spielten im wesentlichen drei Faktoren eine Rolle. An erster Stelle ist hier die Repression der Militärs vor allem gegenüber Gewerkschaften und pobladores zu nennen, mit der - neben der gezielten physischen Vernichtung - ein permanentes Klima der Angst geschaffen wurde, oder mit anderen Worten: Die Kosten sozialen Engagements waren in Chile ähnlich wie in Argentinien nach 1976 immens hoch, so daß auch die erwähnten punktuellen Aktionen bereits als sehr weitreichend zu beurteilen sind. Zweitens führte die Illegalisierung der Parteien und die Unterdrückung parteipolitischer Aktivitäten dazu, daß das organisatorische Rückgrat der meisten zivilgesellschaftlichen Gruppen zerschlagen wurde. Drittens schließlich bewirkte der Funktionswandel des Staates, daß der traditionelle Adressat zivilgesellschaftlicher Forderungen sukzessive unerreichbar wurde und somit ein traditionelles Organisationsmotiv verschwand. Der abrupte und teils gewaltsame Wechsel von Überprotektion zur Deprotektion überließ vor allem die sectores populäres, die sich alsbald um absteigende - bzw. abstiegsbedrohte - Arbeiter- und Mittelschichten erweiterten, zunächst einer Phase der Desartikulation, in der sie ökonomisch, sozial, politisch und ideologisch nur geringe organisatorische Anknüpfungspunkte vorfanden.230 Dennoch bedeutete die skizzierte Dispersion kollektiven Handelns zwischen 1973 und 1983 weder dessen völlige Eliminierung - wie die diversen Einzelaktionen zeigten - noch einen Stillstand der Organisationsbildung. Neben Menschenrechtsgruppen und einigen verbliebenen Aktionsgruppen unter Gewerkschaften und Studentenschaft bildeten sich vor allem unter den pobladores allmählich neue Organisationskerne heraus. Zunächst um Subsistenzprobleme arrangiert und unter der Anleitung von Kirche bzw. parteipolitisch geprägten Aktivisten gebildet, gewannen sie Ende der 70er Jahre eine größere Autonomie und Eigendynamik, so daß vor allem in Santiago bereits bei Ausbruch der Wirtschaftskrise bzw. vor dem Einsetzen der Massenproteste ein Geflecht verschiedenartigster neuer Organisationen bis hin zu Koordinationsgremien existierte.231 Die Gründe für diese Neuformierung zivilgesellschaftlicher Organisationen, insbesondere was das Segment der sectores populäres angeht, liegen einerseits in der Natur der autoritären Herrschaft, andererseits aber auch im Erbe der demokratischen Ära.232 Zu den herrschaftsspezifischen Faktoren zählen Art und m
Vgl. Garretón 1987,118ff.
2.0
Vgl. Tironi 1987; Campero 1987; Garretón 1987; Oxhom 1995, 81 ff.
2.1
Charakteristisch für diese Koordinationsgnippen war gleichwohl, daß hier von Anfang an parteipolitische Orientierungen dominant waren (vgl. Bultmann 1993, 168ff).
232
Vgl. - auch zum folgenden - Oxhom 1991, 72ff.
144
Ausmaß der Repression sowie die Folgen des sozioökonomischen Modells. Trotz des Bemühens, die traditionellen Artikulationskanäle für gesellschaftliche Interessen zu kappen, konnte die Repression des Militärregimes autonome Gruppenaktivitäten innerhalb der Zivilgesellschaft nie ganz unterdrücken. Vielmehr waren hiervon neben den Gewerkschaften vor allem die politischen Parteien betroffen, die lediglich noch auf Eliteebene prekär funktionieren konnten, jedoch von ihrer jeweiligen Basis abgeschnitten waren. Damit hinterließen sie ein organisatorisches Vakuum, das nun - an den genannten Überlebensfragen orientiert - die neuen grassroofi-Organisationen ausfüllten, und zwar insofern autonom, als sie keine formalen Parteistrukturen mehr zu Hilfe nehmen konnten. Auch wenn viele der Aktivisten Parteimitglieder waren oder wurden, so waren erfolgreiche Gruppenaktivitäten fast immer das Resultat pluralistischer Strukturen und expliziter Ablehnung parteipolitischer Einmischung, mithin also der Priorität des jeweiligen Organisationsinteresses.233 Der zweite herrschaftsspezifische Faktor resultierte aus der implementierten Wirtschafts- und Sozialordnung. Deren Effekte trafen insbesondere die Unterschichten und Teile der Mittelschichten besonders hart und ließ weiten Kreisen dieser Bevölkerungsschichten kaum eine andere Chance, als zur Selbsthilfe zu greifen und die prekärsten Alltagsnöte zu lindern. Es mag der Herrschaftsideologie entsprochen haben, daß diese Schichten nun gewissermaßen ihr Leben selbst in die Hand nahmen, ohne auf den Staat zu rekurrieren. Allerdings widersprach es dieser Ideologie und der entsprechend installierten politischen Ordnung, daß sie dies kooperativ und kollektiv in Angriff nahmen, was nicht zuletzt an der wachsenden Politisierung der zivilgesellschaftlichen Organisationen lag: In diese Richtung wirkte zum einen die - wenngleich verblassende - historische Erfahrung, daß der Kampf gegen Exklusion und Marginalisierung nur durch kollektives Handeln befördert werden kann.234 Vor allem jedoch hatte zum anderen - die erfolgreiche Institutionalisierung des Autoritarismus um 1980 eine Art 'negative' Erwartungssicherheit dahingehend geschaffen, daß ohne politische Gegenstrategien mittel- und möglicherweise auch langfristig keine Änderung der prekären Verhältnisse eintreten konnte.235 Diese Faktoren wirkten zusammen mit zwei weiteren Faktoren, die mit dem Erbe der vorangegangenen Ära des Estado de Compromiso verknüpft sind. Erstens ist hier die Rolle der katholischen Kirche zu nennen, die - nach anfanglich zustimmender bzw. ambivalenter Haltung ihrer Spitzen zum Putsch - sowohl den Willen als auch die Kapazität besaß, in mehrfacher Hinsicht als eine Art Schutzschirm zu fungieren.2 6 Hervorzuheben sind - neben dem direkten Schutz vor Repression und der für Menschenrechtsaktivitäten impulsgebenden Vicaria de la Solidaridad in Santiago - vor allem die Bereitstellung eines relativ geschützten Organisationsraumes sowie die Förderung überlebenswichtiger 235
Vgl. Rojas 1 9 9 0 , 2 6 ; O x h o m 1995, 101 ff.
254
Vgl. Rojas 1 9 9 0 , 2 6 f .
235
Vgl. O x h o m 1 9 9 5 , 9 6 f f ; Bultmann 1995, 169.
236
Vgl. O x h o m I 9 9 5 , 9 1 f f .
145
Selbstorganisation und kollektiver Problemlösungen 'vor Ort'. Dies war möglich, weil die Kirche einerseits von der Regierung auch als Machtfaktor kaum angegangen werden konnte - der Katholizismus zählte zur Rechtfertigungsideologie - und andererseits seitens der Bevölkerung derart akzeptiert war, daß auch die ansonsten risikovolle Partizipationsbereitschaft sich entwickeln konnte. Auch wenn sich mit der Zeit, vor allem nach einem Reifeprozeß der entstandenen Organisationen, gewisse Spannungen ergaben, blieb die katholische Kirche lange Zeit das einzige auch organisatorisch gefestigte Bollwerk gegen den autoritären Staat.237 Als zweiter Faktor ist die relativ lang anhaltende Phase politischer Demokratie in Chile zu nennen, die zwar nicht überzubewerten ist, aber alleine den funktionalen Effekt mit sich brachte, daß auch über die ersten Jahre scharfer Repression hinweg genügend politisches Know-how fiir Organisation und Selbstorganisation bereitstand (so aus den verbotenen Gewerkschaften und Parteien oder als Relikt der unter Frei staatlich initiierten 'partizipatorischen Revolution' der promoción popular). Des weiteren war die jüngere Vergangenheit insofern von Bedeutung, daß zum einen demokratische und partizipatorische Werte und Verhaltensnormen zumindest teilweise in der chilenischen Zivilgesellschaft Fuß gefaßt hatten und zum anderen das Gegenbild einer gerechteren Gesellschaft noch präsent war.238 Aufgrund dieser Entwicklungen waren die Bedingungen für eine höhere Bereitschaft zu kollektivem Handeln bereits gegeben, als mit dem wirtschaftlichen Kollaps des Jahres 1982 die Unterschichten erneut hart getroffen wurden und so die Hemmschwelle noch niedriger wurde. Entscheidend für das Stürmen der bis dato 'gesäuberten' politischen Arena waren jedoch zwei weitere Faktoren: Zum einen traf die Krise nun auch weite Teile der Mittelschichten, die bislang eher zu Unterstützern bzw. Duldern der Regierung gehört hatten. Wie oben ausgeführt, gehörten sie zur Legitimationsgruppe mit ambivalenter Einstellung zur politischen Ordnung und zu den Herrschaftsverhältnissen, konnten jedoch hinsichtlich ihrer korporativen Interessen von der neuen Ordnung weitgehend profitieren. Die Krise bewirkte nun bei ihnen eine temporäre Ablehnung, so daß sie sich - fiir die Regierung völlig überraschend - den Protesten anschlössen. Dies erhöhte fiir Pinochet die Schwelle repressiver Reaktionen - wenngleich sie nicht unterblieben - und senkte für die Oppositionsgruppen das Aktionsrisiko weiter. Zum anderen - und dies erklärt auch die Präsenz der Mittelschichten beim ersten "Nationalen Protesttag' am 11.5.1983 - spielten weitere anlaßspezifische Momente eine Rolle: Aufgerufen hatte die Gewerkschaft der Kupferarbeiter CTC, die nicht nur die machtvollste Schlüsselgewerkschaft darstellte, sondern auch alle politischen Strömungen vertrat und somit nach außen als äußerst repräsentativ galt.239 Dazu kam, daß nicht zum Streik, sondern zum Protest 237
Vgl. Ganetón 1989,179IT. Vgl. Oxhom 1995,93.
2
" Unterstutzt wurde der Aufruf von den reaktivierten bzw. neuen Dachverbänden CNS, Gruppe der Zehn, FUT, CEPCH, ANEF (vgl. Friedmann 1990, 223); die CTC hatte zudem in Rudolfo Seguel einen auch außerhalb der Arbeiterschaft respektierten Vorsitzenden.
146
aufgerufen wurde, was die Artikulationsform freistellte und so die Massenbeteiligung erst ermöglichte.240 Die anfanglich unkoordinierten Massenproteste überraschten die Regierung wie die Oppositionsparteien gleichermaßen. Die Regierung versuchte zunächst, die Proteste zu ignorieren, mußte unter dem Eindruck der sich vertiefenden Legitimationskrise jedoch bald Zugeständnisse machen und verfolgte eine Strategie aus Öffnung und Repression. Die Oppositionsparteien erkannten rasch das Potential der Massenmobilisierungen und versuchten, das Heft des politischen Handelns selbst in die Hand zu nehmen. Beides ist Thema der folgenden Kapitel. Für die Zivilgesellschaft hatte der Erfolg der Proteste zunächst zur Folge, daß aufgrund der Kombination aus anhaltender Krise und scheinbarer Öffnung weitere Organisationen ins Leben gerufen wurden und sich ein dichter werdendes Netz ergab. Mitte der 80er Jahre wurde alleine die Zahl der pobladorej-Organisationen in Santiago auf 2.500 geschätzt, während sich auf Seiten der Gewerkschaften sowohl ein leichter Aufschwung der Basisgewerkschaften als auch eine weitere Formierung von Dachverbänden ergab. Ergänzt wurde dieses Spektrum u.a. durch eine Reihe akademischer NGOs bzw. kleiner think tanks, die sich ursprünglich unter dem Schutz einer Einrichtung der katholischen Kirche, der Academia del Humanismo Cristiano, gebildet hatten, sich ab 1980 jedoch zunehmend autonomisierten und professionalisierten; sie spielten später vor allem für die programmatische Entwicklung der Oppositionsparteien eine bedeutende Rolle.241 Organisationsanreize waren jedoch auch durch die neuen systemischen Bedingungen gegeben.242 Vor allem in den 80er Jahren entstanden - bzw. autonomisierten sich aus der Protektion der Kirche - zahlreiche NGOs, die in Feldern wie Erziehung, Gesundheit, Ernährung, Kleingewerbe oder Marketing vielfaltige Initiativen entwickelten. Hierzu gehört auch die Expansion privater Einrichtungen in der Forschung sowie in den Bereichen sekundärer und universitärer Bildung. Letztere profitierten auch davon, daß die Regierung gemäß ihrer Ideologie Kritik zuließ, wenn sie rein wissenschaftlich angelegt war - dies führte bereits in den 70er Jahren zur Gründung von CIEPLAN, dem später wichtigsten think tank der Christdemokraten. Insgesamt fanden aber alle diese Gruppen und Einrichtungen einen Stimulus durch die wirtschaftliche Öffnung, da internationale Mittel nun viel freizügiger nach Chile fließen konnten. Zusammen mit der nach wie vor aktiven katholischen Kirche sorgten sie gewissermaßen für ein Ausfüllen des Subsidiaritätsprinzips und waren somit zumindest von der Ideologie der Regierung her sanktioniert - jedenfalls so lange, als sie nicht offen politisch agierten, sondern sich geschäftlich und/oder fürsorglich betätigten. Dies führte nicht selten zu einer ambivalenten programmatischen Artikulation, da nach wie vor Repression in Form von Durchsuchung, Verfol2W
341
Vgl. Garretön 1987, 120ff.; Ursache filr die Abschwüchung zum 'Protest' waren gleichwohl innergewerkschaftliche Differenzen. Siehe hierzu die Kap. II.5.3 sowie vor allem III.1.3; zur Übersicht vgl. Loveman 1995, 124ff. Zum folgenden vgl. ebd., 132ff.
147
gung oder Verhaftung drohte bzw. praktiziert wurde, wenn die (von den Machthabern definierte) Linie zur Politik überschritten wurde. In dieses neue Szenario fügt sich auch die Tatsache ein, daß es NGOs gab, die - explizit oder implizit vor allem auf lokaler Ebene mit staatlichen Instanzen kooperierten - im Zweifelsfall war ihnen eine effektive karitative Tätigkeit wichtiger als das Durchhalten einer strikt oppositionellen Linie. Ihren Höhepunkt fand diese nach mehreren Seiten gerichtete, nach wie vor von staatlicher Repression begleitete Emanzipationsbewegung in der Asamblea de la Civildad im Jahr 1986, d.h. in der Konstituierung eines Koordinationsgremiums der verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen (Gewerkschaften, Frauengruppen, pobladores, indígenas, Studenten, Berufsorganisationen etc.). Dennoch waren weiterreichende Vernetzung oder Koordination zu intermediären Strukturen und autonomer Einflußnahme stets prekär und schwierig. Die Gründe hierfür lagen in der nach wie vor praktizierten Repression, den massiven Atomisierungsprozessen, die trotz der Mobilisierungserfolge der nationalen Protesttage die Organisationsbereitschaft minderten, sowie im Versuch der Parteien, die neuen Organisationsstrukturen zu okkupieren und für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Neben diesen strategischen bzw. herrschaftsbedingten Faktoren wirkten sich jedoch auch die strukturellen Veränderungen durch die Modernisierung hemmend auf eine größere Kohärenz und Organisierbarkeit des heterogenen Spektrums aus. Die Militärregierung war zwar mit ihrer Absicht gescheitert, systemfremdes kollektives Handeln auszuschalten, doch blieb der Desartikulationsprozeß aufgrund der hohen gesellschaftlichen Segmentierung in gewissem Grade irreversibel. Nachdem 1986 das Transitionsfenster wieder geschlossen werden konnte und sich damit die mangelnde politische Alternativstrategie der Opposition offenbarte, zeigte sich diese Begrenztheit der Zivilgesellschaft deutlich an den unterschiedlichen Problemlagen, Interessen und Zielen der schichtenspezifischen Organisationen. Im Gewerkschaftswesen zeichnete sich eine Divergenz zwischen Basisorganisationen und Führungsgremien ab, in denen zudem parteipolitische Differenzen eine Rolle spielten; beides führte zu interner Schwächung sowie zur Erschwernis kollektiven Handelns generell. Die Organisationen der pobladores waren ohnehin um äußerst heterogene Problemlagen gebildet und waren in sich stark segmentiert, was eine breitere und dauerhaftere Bewegung erschwerte. Im Sektor der Mittelschichten hingegen vollzog sich wieder ein Abschwung der Partizipationsbereitschaft. Aufgrund der partiellen Konzessionsbereitschaft der Regierung nach dem massiven Legitimationsverlust orientierten sich Verbände wie die der Kleinunternehmer, der Lehrer oder im Universitätsbereich wieder an mehr sektorspezifischen, partikularen Zielsetzungen bzw. der eigenen korporativen Stärkung. Weite Teile der Mittelschichten, die anfänglich an den nationalen Protesttagen teilgenommen hatten, gingen sukzessive wieder zu einer Position der Duldung über, was sowohl an der sich ab 1985 verbessernden ökonomischen Situation als auch an der 'Radikalität' einiger Protestformen lag (die von der Regierung mit Erfolg als 'Chaos' hinge148
stellt wurden)243. Nachdem das ursprüngliche, gemeinsame Ziel, nämlich der Sturz Pinochets, zunächst in weite Ferne gerückt war, konnten diese Divergenzen nicht mehr überbrückt werden. Mit der skizzierten Art der Rekonstruktion der Zivilgesellschaft war gleichzeitig impliziert, daß sich ihr Charakter, ihre Struktur und auch ihre Funktion innerhalb des sich neu formierenden Gesellschaftssystems grundlegend gewandelt hatten. Staatliche Repression und die von der Wirtschafts- und Sozialordnung ausgelösten Desintegrationsprozesse brachten die Zivilgesellschaft in eine auf Selbstorganisation beruhende Position des Widerparts gegen die existierende politische Ordnung, indem sie die staatlicherseits verwehrten (sozialen und politischen) Rechte prospektiv in Anspruch nahm bzw. einforderte. Gegenüber den Parteien vollzog sich gleichermaßen ein Autonomisierungsprozeß, auch wenn deren Wiedererstarken in den achtziger Jahren ein Spannungsverhältnis ergab, das sich zum Nachteil der zivilgesellschaftlichen Organisationen entwikkeln sollte. Die genannten Faktorenbündel helfen vor allem auch den wichtigen Umstand zu erklären, daß die 'neue Zivilgesellschaft' in Chile - von Randgruppen wie den jugendlichen pobladores abgesehen - uneingeschränkt demokratische Werte vertrat. Sowohl die demokratische Tradition als auch die notwendige Oppositionshaltung zum autoritären Regime sorgten für eine Festigung demokratischer Normen und Verhaltensmuster, die eine im Prinzip sehr günstige strukturelle Voraussetzung für die Redemokratisierung darstellte. Gleichermaßen gilt dies für Schlüsselwerte wie Pluralismus und Solidarität sowie den prinzipiell an Konsens orientierten Verfahrens- und Entscheidungsmodus.244 In der Tendenz zeichneten sich die Organisationen der Zivilgesellschaft zunehmend durch einen gewissen 'Realismus' aus, der sowohl einen für Zivilgesellschaft konstitutiven Willen zur Selbstbegrenzung als auch die Erkenntnis in die Begrenztheit der eigenen Handlungsspielräume widerspiegelt. Die Selbstbegrenzung drückt sich dabei nicht nur in der Absage an gewaltsame Strategien aus, die lange Zeit insbesondere unter der einflußreichen kommunistischen Linken virulent waren. Vielmehr gingen die meisten Akteure davon aus, daß die Demokratisierung erstens die Vorbedingung für die umfassende Verbesserung der Lage der von ihnen repräsentierten Bevölkerungsgruppen war, daß aber zweitens selbst dann keine schnellen und dramatischen Veränderungen eintreten würden.245 Die Fähigkeit des Regimes zum (erfolgreichen) Krisenmanagement sowie zum Taktieren gegenüber der Opposition spielten hier ebenso eine Rolle wie die Einsicht, daß die Formulierung der politischen Alternative und insbesondere der Transitionsstrategie von den Parteien als den politischen Akteuren auszugehen hätte.246 Letzteres bedeutete nicht mehr und nicht weniger als die Anerkennung zweier getrennter Sphären kollektiven Handelns, nämlich der zivilgesellschaftlichen und der politischen, was naturgemäß Spannungen auf243
Vgl. Garretön 1987, 125ff.; Tironi/Vergara/Baflo 1988,85.
244
Vgl. Oxhom 1991, 76f.
245
Vgl. ebd., 77.
244
Vgl. RojasI990,25.
149
grund unzureichender Berücksichtigung von Forderungen im politischen Programm der späteren Concertación nicht ausschloß.247 Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die zivilgesellschaftlichen Akteure die Liberalisierung der autoritären Herrschaft bewirkten, die trotz der erneuten Schließung insofern dauerhaft war, als die politische Arena partiell für oppositionelle Akteure geöffnet blieb. Im Vergleich zur Ära des Estado de Compromiso zeichnete sich am Ende der Diktatur ein zivilgesellschaftliches Akteurssystem ab, das mit der Tradition des Klientelismus und Populismus gebrochen hatte.248
5.3 Die Rekonstruktion des Parteiensystems Entgegen dem Entwurf der autoritären politischen Ordnung und gegen die etablierten Spielregeln tauchten im Zuge der zivilgesellschaftlichen Proteste auch die Parteien wieder auf der politischen Bühne auf. Dies impliziert die Frage nach Gestalt und Fundamenten einer 'neuen' politischen Gesellschaft am Ende der Diktatur, oder anders gewandt: Mit Blick auf Modernisierungs- und Entwicklungsprozesse ist zu erklären, warum bzw. inwieweit sich die Parteien als organisatorisches Substrat der politischen Gesellschaft zu einem eigenständigen Akteurssystem reformierten und welche Merkmale dieses prägten - zumal die Parteien 1990 nahezu dieselben waren wie 1973. Im darauf folgenden Kapitel ist dann auf die Einbindung und Dynamik der solchermaßen 'virtuellen' politischen Gesellschaft innerhalb der autoritären politischen Ordnung einzugehen. Nimmt man das Jahr 1983 als Zäsur, so stellt sich zunächst die Frage nach dem 'Überleben' der oppositionellen Parteien bis zu diesem Zeitpunkt. Denn mehr noch als gegen zivilgesellschaftliche Akteure waren Ideologie und repressives Handeln der Militärregierung darauf gerichtet, die Parteien als tragende Säulen der politischen Gesellschaft, die für die 'Fehlentwicklungen' der vorangegangenen Jahre verantwortlich gemacht wurde, auszuschalten. Allerdings stieß die Umsetzung dieser Strategie auch auf deutliche Grenzen. Im Gegensatz zu anderen Ländern Lateinamerikas hatten sich die chilenischen Parteien - trotz des stark klientelistischen Modus - sowohl durch eine breite Verankerung in der Bevölkerung als auch durch starke Organisationsstrukturen ausgezeichnet. Eine vollständige Ausschaltung der Parteien hätte somit entweder einer noch schärferen Repression bedurft, als sie ohnehin schon existierte, oder eine Transformation zu einem eher totalitären Staat erfordert, d.h. vor allem die Ersetzung der vormaligen politischen Gesellschaft durch eine von Massenmobilisierungen getragene Durchstrukturierung und Etatisierung des gesellschaftlichen Handlungsraumes.249
247
Zum Verlauf dieser Prozesse nach 1986 vgl. Bullmann 1995, I82ff.
M
Vgl. Bairera 1996, 75ff.
2n
Vgl. Garretön 1989,169.
150
Diese Optionen waren jedoch aus verschiedenen Gründen, die in unterschiedlichen Phasen zum Tragen kamen, nicht durchführbar. Zum ersten blieb in der Anfangsphase zwar auch die christdemokratische Partei nicht von Repressionen verschont, doch waren diese zunächst weniger systematisch wie etwa im Fall der linken ('marxistischen') Parteien. Immerhin hatten in den ersten Wochen einige maßgebliche Führer der Partei wie der Ex-Präsident Frei und der Parteivorsitzende Aylwin den Putsch zumindest als kleineres Übel gegenüber einem Bürgerkrieg befürwortet. Erst als sich herausstellte, daß die Repression zunehmend indiskriminiert ausgeübt wurde und sich vor allem eine längere Machtdauer der Militärs abzeichnete, ging der PDC zu ihnen auf Distanz, erst Ende 1975 aber eindeutig in die Opposition. Trotz dieser Wendung war es der Regierung nicht einfach möglich, den PDC genauso scharf wie die linken Parteien zu unterdrücken. Gründe hierfür waren vor allem ihre starke Verankerung in der Gesellschaft und ihre Nähe zur katholischen Kirche, die zu diesem Zeitpunkt bereits dezidiert die Funktion eines Schutzraumes übernommen hatte.250 Letzteres ist mit einem zweiten Faktor verknüpft, der mit regierungseigenen Kosten-Nutzen-Kalkülen zusammenhing und auch einer totalitären Option widersprach. Eine für das Eliminieren des PDC wie auch der anderen Parteien notwendige, noch schärfere Repression hätte den völligen Bruch mit der katholischen Kirche und insgesamt eine Ausdünnung der ohnehin spärlichen Legitimationsressourcen bedeutet. Dies war gerade in einer Situation kontraproduktiv, als mit der Einsetzung der Chicago boys die Entscheidung für ein neoliberales Modemisierungsprojekt gefallen war und deshalb eine schärfere interne Frontstellung genausowenig geboten war wie eine etatistische Durchstrukturierung der Gesellschaft. Damit hängt zusammen, daß Chile auch auf internationaler Bühne zumindest einen weiteren Ansehensverlust - wie er sich in der Verurteilung durch die Vereinten Nationen abzeichnete - verhindern mußte, nicht zuletzt auch deshalb, um das wirtschaftliche Öffnungs- und Stabilisierungsprogramm nicht durch Sanktionen zu gefährden, wie sie etwa 1978 von internationalen Gewerkschaften gefordert wurden.251 Wie in Kapitel II.2 gezeigt, bestand das Problem zu diesem Zeitpunkt eher darin, die unkontrollierte Repression seitens der Sicherheitsapparate abzuschwächen, um die anvisierte Ordnung des Gründungsmodells stabilisieren und später institutionalisieren zu können. Allerdings blieb das Überleben der Parteien in dieser Phase eine prekäre Angelegenheit. Am besten schaffte dies bis 1980 der PDC, da er aus den bereits genannten Gründen über einen - gleichwohl ständig ungesicherten - Handlungsspielraum verfugte, um beträchtliche Rudimente der Parteistruktur am Leben zu erhalten.252 Zwischen 1980 und 1983 vermehrten sich jedoch die Krisen250
2,2
Vgl. Hofineister 1995, 185ff. Zu drohenden Boykottmaßnahmen und die dadurch ausgelöste, regieningsinteme Standottbestimmung vgl. P¡fiera 1990, 1 lff.; Ausdruck fllr die wachsende Sensibilität Pinochets ftlr diese Problemlagen war insbesondere die Volksumfrage des Jahres 1978, mit der die Verurteilung der UNO wegen Menschenrechtsverletzungen zurückgewiesen werden sollte. Hierzu zahlten auch die Gründung einer Zeitschrift, eines Radiosenders, eines Verlages sowie einige Forschungs- und Bildungszentren, die u.a. der Aus- und Weiterbildung der Parteikader dienten (vgl. Hofmeister 1995, 193).
151
tendenzen, wozu neben der Exilierung des Parteivorsitzenden Zaldivar (Oktober 1980) und dem Tod Freis (Januar 1982) vor allem das Ergebnis des Verfassungsreferendums (September 1980) beitrug, in dessen Vorfeld sich der PDC als fuhrende Kraft der Opposition präsentieren konnte.253 Nach dem (wie auch immer manipulierten) Erfolg Pinochets mit der Konsequenz seiner quasilegalen Amtszeit bis 1989 stand die Opposition, deren Hauptforderung bis dahin in einer sofortigen Rückkehr zur Demokratie bestand, vor dem Problem einer grundlegenden Strategierevision. Die Parteien der Linken, d.h. Sozialisten und Kommunisten (PS, PC und diverse Gruppierungen) hatten demgegenüber stärker unter der von der Doktrin der Nationalen Sicherheit angeleiteten Repression zu leiden, was alle Ebenen der Partei strukturen bis hin in die Stadtteile betraf. Ihnen gelang das Uberleben nur im Untergrund bzw. im Exil.254 Die Notwendigkeit, in erster Linie für die Aufrechterhaltung organisatorischer Strukturen sorgen zu müssen, brachte es mit sich, daß Strategiediskussionen kaum zu führen waren, und schon gar nicht über Parteigrenzen hinweg. Nach dem Verfassungsplebiszit 1980 stellte auch die sofortige Rückkehr zur Demokratie keine gangbare Option mehr dar. Im weiteren Verlauf bis 1983 verhinderten die nach wie vor gegebenen politischen, ideologischen und strategischen Differenzen eine Verständigung über eine gemeinsame Strategie. Mit den Protesttagen 1983 öffnete sich der politische Handlungsraum plötzlich wieder, doch besaßen die Parteien weder eine einheitliche Strategie noch verfugten sie über realpolitisch gangbare Alternativen.255 Die Phase 1983-1985 stand unter der Maxime der Rückkehr zur Demokratie per Ablösung Pinochets, d.h. die Oppositionsparteien verfolgten eine maximalistische Option, die auf eine ruptura oder zumindest eine demokratische Lösung zusammen mit den gemäßigten Sektoren des Regimes zielte. Mit dieser Maximalstrategie gelang es zum letzten Mal, das gesamte Oppositionslager mit einem Minimalkonsens auszustatten. Im Zuge des sich ankündigenden ersten Protesttages im Mai 1983 hatten sich erstmals Parteien aus dem Mitte-Spektrum (PDC, Radikale sowie die Vertreter eines vom spanischen PSOE inspirierten gemäßigten Sozialismus) zusammengefunden und ein 'Demokratisches Manifest' verfaßt. Im September 1983 ging daraus die Alianza Democrätica hervor. Gleichzeitig schlössen sich die restlichen linken Parteien (PC, Fraktionen des PS, MIR, MAPU u.a.) zum Movimiento Democrätico Populär (MDP) zusammen, der zwar das gleiche Ziel anstrebte, jedoch auch den bewaffneten Kampf nicht ausschloß. Angesichts der anhaltenden Proteste ging Pinochet vorübergehend zu einer Liberalisierungsstrategie über, indem er den neu ernannten Innenminister Onofre Jarpa mit Alianza Democrätica verhandeln ließ. Bald wurde jedoch deutlich, daß dieser keinerlei eigenen Verhandlungsspielraum besaß und Pinochet zu J
"
2U
Die Regierung gewährte dem PDC eine Öffentliche Veranstaltung, in der Frei zur Ablehnung des Verfassungsentwurfs aufrief (weitere Veranstaltungen oder öffentliche Werbung war verboten) (vgl. ebd., 194). Vgl. Friedmann 1990, 184ff. Vgl. - auch zum folgenden - Araya 1992,266ff.
152
keinerlei Zugeständnissen bereit war. Im Nachhinein ist festzuhalten, daß sich die Oppositionsparteien aufgrund einer Fehlperzeption der eigenen Stärke zu einem Maximalismus verleiten ließen, der die Handlungskapazität Pinochets unterschätzte. Denn die Regierung setzte eine flexible Strategie ein, indem sie durch scheinbare Verhandlungsangebote den größten Druck wegnahm, auf eine Spaltung der Opposition hinarbeitete und überdies auch auf repressive Maßnahmen zurückgriff. Dadurch gelang es, das unter Druck geratene Herrschaftssystem wieder zu stabilisieren. Dem Scheitern des 'Dialogs' im Jahre 1984 folgte die erneute Verhängung des Ausnahmezustandes. Erst 1985 kam wieder Bewegung in das politische Spiel, als auf Initiative des Erzbischofs von Santiago im Juli ein erneuter Verhandlungsversuch gestartet wurde. Mittlerweile waren die gemäßigten Oppositionsparteien zu der (realistischen) Überzeugung gekommen, daß eine Maximalstrategie nicht verfangen konnte, während im Regimelager einige Gruppierungen Autonomer zu agieren begannen. Dies führte im August 1985 zum Acuerdo Nacional para ¡a transición plena a la democracia, den 19 Parteien unterzeichneten. Kernpunkt dieser Annäherung der jeweils gemäßigten Fraktionen war die Anerkennung der Verfassung von 1980 im Gegenzug für bestimmte konstitutionelle Reformen. Pinochet lehnte dies jedoch kategorisch ab, da die Verfassung durch das Plebiszit hinreichend legitimiert wäre. Als Ergebnis dieser Phase ist festzuhalten, daß die rupft/ra-Strategie gescheitert, die Opposition gespalten und die Liberalisierung (wenngleich nicht völlig) zurückgedreht war. Nach der erneuten Schließung griff die gemäßigte Opposition schließlich auf eine Option zurück, die Aylwin bereits 1984 ins Spiel gebracht hatte, jedoch von den maximalistischen Sektoren abgelehnt worden war. Sie bestand in der Anerkennung der 'legalen' Herrschaft Pinochets und dem Versuch, ihn innerhalb seiner eigenen Spielregeln im Plebiszit 1988 zu schlagen. Der Unterschied ist eklatant: Wurde in der ersten Phase die Beseitigung der etablierten politischen Ordnung angestrebt, so wurde diese in der zweiten Phase akzeptiert, um die darin enthaltenen Transformationsoptionen im eigenen Sinne zu nutzen.
5.4 Fazit: Die Transition als Rekonstruktion der politischen Arena Am Ende der autoritären Ära hatte sich die politische Arena Chiles grundlegend verändert, und zwar sowohl im Vergleich zu 1973 als auch zur ersten Phase der Diktatur bis 1983. Ursache hierfür war zunächst die Installierung einer autoritären politischen Ordnung, deren ungebremste Entfaltung die Arenastruktur des Estado de Compromiso und damit die spezifischen Anreizstrukturen für die politischen Akteure - insbesondere die Parteien - eliminierte. Im zweiten Schritt führte dies jedoch dazu, daß sich unter den Bedingungen des autoritären Systems ab 1983 Restrukturierungsprozesse der politischen Arena vollzogen, indem die oppositionellen Akteure eigene politische Handlungsräume aufbauen und auch ausfüllen konnten. Waren die Jahre bis 1983 von einer gewissen Ri153
gidität und Eindimensionalität des politischen Handlungsraumes geprägt, so kam es danach - wie die Entfaltungsschritte von Zivilgesellschaft und politischer Gesellschaft zeigten - zu eher komplexen und im Verlauf uneinheitlichen Prozessen einer 'unsichtbaren Transition'.256 Vereinfacht ausgedrückt läßt sich diese charakterisieren als die Eröffnung eines neuen Spiels, in dem die Regierung nurmehr ein Mitspieler unter mehreren war, allerdings der bei weitem wichtigste und machtvollste - und vor allem der erfolgreichste. Letzteres verweist darauf, daß die Rekonstruktion der politischen Arena zwar ein prägendes Merkmal der politischen Entwicklung bis 1990 wurde. Sie bedeutet jedoch nur sehr bedingt, daß es die Stärke der Opposition war, die Pinochet zu Fall brachte. Die Charakteristika dieser Restrukturierung der politischen Arena, die unmittelbar in die Transition mündete, lassen sich pointiert wie folgt zusammenfassen: (1) Dem Regime war es zwar gelungen, die politische Gesellschaft als solche (d.h. den Parlamentarismus sowie das Parteiensystem als legales Akteurssystem) zu zerschlagen, doch konnte es die politischen Parteien nur in die Illegalität treiben und nicht völlig ausschalten. Die Parteien wurden so zunächst zu einem Teil der Zivilgesellschaft, in der sie - klandestin oder geduldet - überleben konnten. (2) Die Handlungsräume der Zivilgesellschaft wurden einerseits durch die autoritären Herrschaftsstrukturen und ihre Folgen, andererseits durch die strukturellen Effekte der gesellschaftlichen und ökonomischen Modernisierungen entscheidend restringiert. Sie konnten jedoch nicht völlig eliminiert werden. Vielmehr trug gerade die autoritäre Modernisierung indirekt zu ihrer 'Wiederauferstehung' bei: Indem die soziale Lage immer prekärer wurde, mußten insbesondere im Zuge der Wirtschafts- und Legitimationskrise 1982/83 die Kosten öffentlichen Protests zunehmend niedriger erscheinen. (3) Das Zusammenspiel beider Faktoren führte dazu, daß die unterschiedlichen Akteure in einem langwierigen Lernprozeß den von Pinochet neu gesetzten Ordnungsrahmen für kollektives Handeln peu a peu akzeptieren mußten, aber auch ihre Handlungsstrategien darauf ausrichten konnten. (4) Die Protestaktionen im Zuge der Legitimationskrise legten jedoch auch offen, daß das anvisierte Projekt einer auf Atomisierung und Individualisierung beruhenden 'echten Demokratie' trotz nach wie vor praktizierter Repression keinen Erfolg hatte. (5) Die Reorganisierung der Zivilgesellschaft als solche - und gar ihr 'Aufblühen' bis Mitte der 80er Jahre - beinhaltete bereits eine (fast) irreversible Niederlage des autoritärliberalen Staatsverständnisses, wonach der nicht-staatliche Gegenpart zum Staat alleine das Individuum sein sollte. Umgekehrt war die re-formierte Zivilgesellschaft - wie in Kontexten autoritärer Regime zwangsläufig - in dem Sinne überpolitisiert, daß sie stark oppositionellen Charakter annahm.257 Durch die Fehleinschätzung der Komplexität gesellschaftlicher Entwicklungen aufgrund eines simplistischen Weltbildes und der daraus folgenden Verkennung der eigenen Handlungsbedingungen geriet die Regierung Mitte der 80er Jahre in zuvor unvermutete Handlungszwänge. Insbesondere als Folge des 256
Vgl. Gairetön 1989, I64ff.
257
Vgl. Thieiy 1992a.
154
(ökonomischen) Liberalismus, der Subsidiarität und des Potentials politischkonzeptioneller Ressourcen (die nur in einem totalitären Staat zu unterdrücken gewesen wären) wurden Handlungspotentiale für ein Wiedererstarken der Zivilgesellschaft und der Parteien freigesetzt. Diese begannen trotz starker Kontrolle, der Etatisierung der Politik und der ideologischen Indoktrinierung ihr Gegengewicht zu mobilisieren, als sich Risse in der autoritären Herrschaftsstruktur zeigten. Auf der Seite der Opposition stand allerdings gleichermaßen die Fehleinschätzung der eigenen (ideologischen, politischen) Ressourcen und ergo der Handlungsspielräume. Insbesondere die anfangs auch für die politischen Parteien überraschende Präsenz zivilgesellschaftlicher Organisationen und sozialer Bewegungen wurde vorübergehend als Stärke perzipiert, die zu maximalistischen Strategien verleitete.258 Zwischen beiden Tendenzen sind die faktischen Handlungsspielräume der Opposition zu suchen, die allerdings durch die Akteure erst strategisch ausgefüllt werden mußten, um den anvisierten Übergang zur Demokratie in Gang setzen zu können. Dies war kein selbstlaufender, quasi automatischer Prozeß, führte aber zur Rekonstruktion der politischen Arena und in der Folge zu einer Konkurrenz zwischen offiziellem und informellem, nicht-offiziellem Teil des realen politischen Systems. Obwohl die in der Verfassung festgelegten 'Transitionsregeln' - auch von Pinochet - eingehalten wurden, hatte sich entgegen den Intentionen des Regimes bereits ein neuer Zuschnitt der gesellschaftlichen und politischen Arena und daraus eine Dynamik ergeben, die zu einer Demokratie im Sinne der Dahl'schen Polyarchie führten. Wie zu sehen war, gelang es den oppositionellen Parteien in der zweiten Hälfte der 80er Jahre, ihren Handlungsspielraum realistischer einzuschätzen und in der Folge auch konsequent zu nutzen. Realistisch hieß in diesem Fall, daß das vom Regime bestimmte und strikt reglementierte Procedere akzeptiert und maximalistische bzw. umstürzlerische Positionen verworfen bzw. abgebaut werden konnten. Dies mündete in eine gemeinsame Strategie, die auch die erstarkten Organisationen der Zivilgesellschaft teilten, auch wenn diese auf ihrer neu gewonnenen Autonomie gegenüber den politischen Parteien bestanden. So formierte sich aus anfanglicher Heterogenität ein mehr oder weniger homogener Oppositionsblock, der unter der Ägide der politischen Parteien (v.a. der Mitte und der gemäßigten Linken) und innerhalb des gesetzten institutionellen Rahmens das politische System zunehmend in einen Zustand versetzte, in dem zwei verschiedene Sets von Spielregeln konkurrierten: Das tatsächliche politische System bestand demnach nicht mehr nur aus dem offiziellen politischen System, sondern dieses sah sich immer mehr mit einem nicht-offiziellen oder informellen Gegenpart konfrontiert. Dabei repräsentierten beide 'Teilsysteme', die untereinander kaum Interaktionsmuster entwickelten, je eigene Legitimationsmuster - Demokratie vs. Autoritarismus - was zur Aushöhlung der autoritären Herrschaftsordnung beitrug. Deren Ende wurde durch das Plebiszit 1988 sowie schließlich durch die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 1989 besiegelt. Vgl. Garretön 1989, 175ff.
155
6. Institutionen und Entwicklungsleistung im autoritären Neoliberalismus Insgesamt handelte es sich bei der Ära Pinochet um eine relativ lang anhaltende Phase autoritärer Herrschaft. Das wechselseitige Bedingungsverhältnis von staatlicher Machtsicherung und Handlungskapazität einerseits sowie Modernisierung des gesellschaftlichen Gesamtsystems andererseits war zwar auch ein 'riskantes' Projekt, doch konnte es durchgehalten und abgesichert werden und so einen völlig neuen Handlungsrahmen schaffen, den die neue demokratische Regierung 1990 als Erbe zu übernehmen hatte. Dies betrifft vor allem die Wirtschafts- und die Sozialordnung und damit die Neudefinition der gesellschaftlichen Rolle und Funktion des Staates im Verhältnis zu diesen Teilsystemen, die zwar autoritär durchgesetzt wurden, sich danach - und parallel - aber in gewissem Maße selbst reproduzierten. Doch auch in politischer Hinsicht hatte der Autoritarismus das Koordinatensystem beträchtlich verschoben, insbesondere was Zivilgesellschaft, politische Gesellschaft, politische Kultur und nicht zuletzt das Institutionengefuge der postautoritären Ära anbetrifft. Trotz der zeitweisen Schwächung aufgrund des massiven Legitimationsverlustes konnte Pinochet über die Krisenjahre hinweg bestehen und die autoritäre Herrschaft ab 1985 wieder stabilisieren. Erfolgreiches taktisches Vorgehen gegenüber der Opposition, deren Heterogenität er zu Spaltungsversuchen ausnutzen konnte, vorübergehende 'Liberalisierung' sowie dosierte Repression (u.a. Ausrufen und Aussetzen des Ausnahmezustandes) trugen hier ebenso dazu bei wie die wirtschaftliche Erholung mit neuerlicher Boomphase in der zweiten Hälfte der 80er Jahre. Damit wurde deutlich, daß der Handlungsspielraum der Opposition doch sehr begrenzt war und die Strategien der Führungsequipe Wirkung zeitigten. Schließlich setzte sich die Opposition aufgrund ihrer Uneinigkeit selbst Grenzen. 259 Allerdings entwickelten sich ab 1983 unter der autoritären Ordnung informelle Spielregeln, die zwar nicht den Sturz Pinochets verursachten, aber einen wesentlichen Faktor der Transition darstellten. Diese scheinbare Stabilität des Gesamtsystems kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie in weiten Teilen eher fragil war und lediglich in den Phasen zwischen 1976 und 1981 sowie 1986-1988 als eher gefestigt angesehen werden kann. Hinzu trat insbesondere in der Gründungsphase eine Art rigider Stabilität der Wirtschaftsordnung, die mit verantwortlich war für das 'massenhafte' ökonomische Fehlverhalten der Wirtschaftsakteure, nicht zuletzt der Regierung selbst. Gleichermaßen bedeuten weder die skizzierte relative Stabilität noch die Tatsache, daß die demokratische Regierung die Grundpfeiler der Wirtschafts- und Wohlfahrtsordnung zu übernehmen hatte, daß dem Ordnungsgefüge eine erfolgreiche Entwicklungsperformanz zugeschrieben werden kann. Vielmehr ergab erst die pragmatisch reformierte Wirtschaftsordnung eine einigermaßen stabile, nach außen offene Marktwirtschaft, die in einigen Sektoren 259
Vgl. Valenzuela 1989,194ff.
156
international wettbewerbsfähig war. Die Wohlfahrtsordnung wurde ihrerseits nach einem Design konstruiert, das mit der Wirtschaftsordnung kompatibel sein sollte, allerdings nur für weniger fragmentierte Gesellschaften als funktional angesehen werden kann. Als Resultat ergab sich daraus am Ende der Diktatur eine hoch fragmentierte Gesellschaft, in der auf der einen Seite ein neues dynamisches Unternehmertum stand, auf der anderen Seite jedoch fast zwei Fünftel der Gesellschaft, die politisch wie sozial vom Fortschrittsprozeß ausgeschlossen waren. Die Analyse der Institutionenbildung zeigte, daß sich deren je spezifische Ausprägung aus pfadabhängigen Entwicklungen sowie insbesondere aus Motiven der Herrschaftssicherung ergab. Im Ergebnis fuhrt dies auch zur Auflösung dessen, was Lechner als 'neoliberales Paradox' bezeichnet, nämlich die Notwendigkeit eines autoritären Staates zur Errichtung eines 'Minimalstaates'.260 Wie in den theoretischen Ausfuhrungen in Kapitel 1.3 vermutet, erfordert eine abrupte oder umfängliche Veränderung institutioneller Arrangements - unabhängig von ihrer Gestalt - entweder ein hohes Maß an Konsens oder ein hohes Maß an Zwang, da hiervon substantielle Interessen wichtiger und starker gesellschaftlicher und politischer Gruppen berührt werden. Wie oben gezeigt, waren in der Endphase des Estado de Compromiso die Konsensmöglichkeiten aufgrund einer 'Evolution der Nicht-Kooperation' erschöpft. Allerdings wäre es ein Fehlschluß, hier gewissermaßen eine geschichtliche oder systemische Notwendigkeit herauszufiltern, wonach die autoritäre Ära zur Lösung angestauter Reformdefizite diente - eine Argument, das den Putsch gewissermaßen legitimieren würde. Vielmehr ergab sich der Ansatz zu solch grundlegenden Reformen erst, als die Chicago boys aus Pinochets Herrschaftsinteressen heraus als strategische Staatselite eingesetzt worden waren und so eine derartige Realitätsdefinition durchsetzen konnten. Die autoritäre Herrschaft ging somit dem Szenario umfassender Reformen voraus, und wie die Nachbarländer Argentinien und Uruguay zeigten, können sich daraus unterschiedliche Entwicklungspfade ergeben. Aus dieser Perspektive stellte in Chile der autoritäre Staat zunächst eher die Chance als die Notwendigkeit dar, einen neoliberalen Minimalstaat zu installieren. Gleichwohl bleibt die Frage, was geschieht, wenn hinsichtlich Reform oder Stabilisierung von Basisinstitutionen sich die Konsenslinien verflüchtigen.
260
Vgl. Lechner 1996.
157
III. Institutionen und Entwicklung im demokratischen Staat (1990-1996) Mit dem Amtsantritt von Patricio Ayl win am 11.3.1990 begann definitiv die neue demokratische Ära in Chile, die unter seinem Nachfolger Eduardo Frei (seit 11.3.1994) in die zweite Phase eingetreten ist. Mit dem Übergang zur Demokratie setzte ein erneuter Wandlungsprozeß in Chile ein, der sowohl den autoritären Neoliberalismus als auch das Ordnungsgefüge des Estado de Compromiso hinter sich gelassen hat. Messner charakterisiert ihn als einen gesellschaftlichen Suchprozeß, der im Rahmen politischer Demokratie bei gleichzeitiger Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit auf ökonomische Modernisierung ausgerichtet ist (weltmarktorientierte Spezialisierung und Industrialisierung zur Dynamisierung der chilenischen Ökonomie sowie zur Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit).' Dies bedeutet, daß die oben analysierten Modernisierungsleistungen auch dahingehend ins rechte Licht zu rücken sind, daß sie nicht weit genug oder in die falsche Richtung gingen: Chile ist nach wie vor mit Modernisierungs- und Transformationsproblemen auf allen drei Ebenen der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung konfrontiert. Im Unterschied zu anderen Ländern besaß Chile jedoch durch die Modernisierungsleistungen Pinochets in einigen Bereichen einen relativen Vorsprung, den etwa andere Länder Lateinamerikas unter demokratischen Bedingungen 'nachholen' müssen - jedenfalls solange keine reale Alternative zum Neoliberalismus existiert. Letzteres wiederum könnte Chile, sofern der oben genannte Suchprozeß gelingt, doch noch zu einer Art Vorbild machen. In den Worten von Foxley: "History does not write its own alternatives. We cannot know what might have happened if Chile had not fallen under dictatorship. Experience has shown, though, that to make radical economic reforms in Latin America you need either an authoritarian government or a high degree of political consensus. If a democracy is to manage what in the words of President Aylwin amounts to an 'economic coup', the quality of politics must be very high.
'
Vgl. Messner 1992,135.
2
Foxley 1993, 18.
159
1.
Rahmenbedingungen der Institutionenpolitik
1.1 Problemlagen der Transformationsprozesse Die autoritäre Modernisierung resultierte in einem Gesellschaftssystem, in dem zwar die institutionellen Blockaden des Estado de Compromiso aufgelöst waren, das jedoch zwischen den ausschließlich wirksamen und starken Polen (staatlicher) Macht und Markt heterogen und damit dysfunktional strukturiert wurde. Im folgenden soll dieses Szenario, das die strukturellen Ausgangsbedingungen jeder weiteren gesellschaftlichen Modernisierung nach 1990 darstellte, kurz umrissen werden: Das Wirtschaftssystem war unter der neoliberalen Wirtschaftsordnung nach den Prinzipien von Freihandel und Marktwirtschaft restrukturiert worden und begann sich - nach heftigen Turbulenzen - in der Mitte der 80er Jahre zu konsolidieren. Unter zunehmend pragmatischer staatlicher Flankierung bildete sich so ein weitgehend stabil funktionierender Allokationsmodus heraus, der auch im Rahmen internationaler Bedingungen nach marktwirtschaftlichen Effizienzkriterien und ohne staatliche Interferenzen zu operieren begann. Die politische Flankierung seitens des (legitimationsbedürftigen und ergo eigeninteressierten) autoritären Staates sorgte jedoch insofern für 'makrosystemische' Verzerrungen und ergo dysfunktionale Anreize, als die irrestriktiv installierte Marktallokation nun umgekehrt zu einem Imperialismus des Marktes führte, dem nicht nur die ökologischen und humanen Ressourcen (Arbeitskraft) unterworfen wurden, sondern auch soziale Subsysteme wie Gesundheit, Bildung und soziale Sicherung. Die wuchernde Expansion dieses capitalismo salvaje drückte sich andererseits in einer rigiden, für den Neoliberalismus allerdings typischen Vorstellung von 'Marktgerechtigkeit' aus, die keinerlei ethische Bindung mehr anerkennt, wie sie noch Theoretiker von Smith bis Röpke einforderten. Dadurch wurden hohe externe (gesamtgesellschaftliche) Kosten verursacht, die letztlich auf verschiedenen Ebenen die Funktionsweise des Wirtschaftssystems selbst zu untergraben drohten. Am offensichtlichsten zeigte sich dies am Beispiel Ökologie, doch betraf dies die Reproduktion der Arbeitskraft und die sogenannten Humanressourcen (wenngleich hier die Funktionszusammenhänge komplexer sind). In engem Zusammenhang damit bildete sich auch eine starke economic society heraus, bestehend aus dem zunehmend autonomer werdenden Akteurssystem einer Unternehmerschaft, die sich unter Adaption der neoliberalen Ideologie zu einer eigenständigen Modernisierungselite entwickelte. Insbesondere ist hier die gewachsene Unabhängigkeit von Staat und (neuformierter) politischer Gesellschaft hervorzuheben. Allerdings war sie unter dem autoritären Regime derart irrestriktiv mit Vorrechten versehen, daß sie auf Kooperation mit gesellschaftlichen, politischen oder staatlichen Akteuren gar nicht mehr angewiesen war: Die ökonomische Gesellschaft war zwar - auch in ihrem ideologisch gefestigten Habitus - für die Rollenerfordernisse einer kompetitiven und 160
aggressiven Wirtschaftsstrategie ausgerüstet, aber für die Kooperationsspiele in demokratischen Regimen oder gar für eine komplexer zu organisierende systemische Wettbewerbsfähigkeit nicht vorbereitet. Wie bereits angedeutet, galten solche Ambivalenzen auch für die Wohlfahrtsordnung. Mit der Modernisierung wurde zum einen eine starke Dynamisierung erreicht, zum anderen auch die Übernahme neuer Wert- und Verhaltensmuster gefördert. In beiden Fällen galten jedoch typische bzw. spezifische Ambivalenzen: Die Dynamisierung erfaßte fast die Hälfte der Bevölkerung nicht bzw. nur gering und führte zu einem hohen Anteil an Marginalität, die die Chance zur sozialen Partizipation verwehrte. Die Dualisierungs- und Desintegrationstendenzen wurden andererseits auch dadurch gefördert, daß die Individualisierung gleichzeitig zu Entsolidarisierung führte, was nicht nur am Modus der sozialen Institutionen (Rentenversicherung, Gesundheit, Armutsbekämpfung, Arbeitsrecht) zu ersehen ist, sondern auch an der durch den Autoritarismus etablierten 'Kultur der Angst', die kollektives Handeln zusätzlich erschwerte. Ähnlich war auch die Zivilgesellschaft von der autoritären Modernisierung betroffen. Zwar war auch sie in dem Sinne autonomer geworden, als ihre Akteure einerseits parteiunabhängiges kollektives Handeln erstmals wieder auf die Tagesordnung setzten und damit die Vorstellung einer atomisierten Gesellschaft definitiv beendeten; und sie andererseits auch im 'subpolitischen' Bereich in Form von Selbsthilfegruppen der löchrig gewordene tejido social wieder dichter knüpften. Dennoch wurde diese Autonomie bis zum Ende der 80er Jahre wieder deutlich geschwächt, was nicht nur in der neuen Protagonistenrolle der politischen Parteien lag. Dies zeigt sich sowohl in einem engeren Verständnis von Zivilgesellschaft, d.h. in der kommunikationstheoretischen Version von Habermas, denn der Einfluß auf die politische Agenda der Transition blieb gering. Doch auch in der weiteren Fassung im Sinne der Selbstorganisation und regulation konnte sie keine stärkere Rolle entfalten, da sowohl die sozioökonomischen Bedingungen, der Autoritarismus und die Entsolidarisierungsprozesse dem entgegenstanden. Damit wurde auch ihr gesamtgesellschaftlich funktionaler Aspekt unterminiert, weil ihr Modus mehr die defensive Selbstorganisation statt der kreativ-produktiven Entfaltung wurde und so notwendige Ressourcen für eine Korrektur der Marktgerechtigkeit ausfielen. Das Parteiensystem (Politische Gesellschaft) hatte sich - obwohl unter dem Autoritarismus am meisten bekämpft - gegenüber dem atomisierenden Modernisierungsimpuls am resistentesten erwiesen, indem sie zumindest in der zweiten Hälfte der 80er Jahre zunehmend ihre gesellschaftliche Grundfunktion der Bündelung der sozialen und politischen Interessen wahrnahm. Zumindest gilt dies für die Parteien und Bündnisse auf Seiten der Opposition bzw. der Concertacion, die nicht mehr nur auf den Anti-Regime-Fokus setzte, sondern sich unter Maßgabe der De-Ideologisierung modernisierte und reformierte. Dennoch war es die zur effektiven Regime-Transformation notwendige Protagonistenrolle, die umgekehrt die Zivilgesellschaft schwächte. Auch beeinflußte das not161
wendige Zusammenführen heterogener politischer Positionen das Herauskristallisieren klarer Alternativen an Gesellschaftsprojekten, da diese hinter dem Oppositionsaspekt zurücktreten mußten. Demgegenüber bestand im ungefestigten Lager der regierungstreuen Parteien ein Pendant, das - in sich heterogen als verläßliche Orientierung zunächst nur das scheidende Regime besaß. Es drohte deshalb dazu zu neigen, sich auf die von Pinochet hinterlassene - und für diese Parteien günstige - 'Sicherheit' der autoritären Enklaven zu verlassen. Schließlich ist mit Blick auf den Staat festzuhalten, daß er zwar in eine annähernd komplementäre Rolle zum Wirtschaftssystem gebracht wurde, jedoch selbst die größten Modemisierungsdefizite aufwies (von der Verwaltung über die Justiz bis hin zu notwendigen Steuerungsfunktionen). Wenn man an der Vorstellung des Gemeinwohls festhält, das am ehesten noch der Staat repräsentiert, so ergab sich eine eigentümliche Mischung aus paranoider nationaler Sicherheit und Marktgerechtigkeit, die jedoch nur per rigider Anwendung des Gewaltmonopols zusammengehalten werden konnte und nach dem Ende des autoritären Regimes tendenziell wieder auseinanderfallen mußte. Unter dieser 'Koexistenz' hatte das kreative institution building für Inklusion und Kooperation genauso gelitten wie die Motivationsressourcen der relevanten gesellschaftlichen Akteure. Schließlich hatte sich das 'Gewaltmonopol' (Militärs und Polizei) derart mit Eigenleben entwickelt, daß das zukünftige staatliche Handeln in eine quasi schizophrene Lage gebracht worden war. Da sich diese Systemdefekte und -defizite auf Dauer potenzieren bzw. zur Blockade führen konnten, tat sich 1990 eine recht breite Arena mit hohen Anforderungen an politische Steuerung auf. Die zuvor genannten Problemebenen implizierten eine komplexe politische Agenda, wenn nicht erneute Blockaden auch die schon erreichten - und von den neuen staatlichen Akteuren anerkannten - Erfolge wieder rückgängig machen sollten. Gerade die Teilerfolge der Modernisierung - vor allem Wirtschaftssystem und dynamisches Unternehmertum betreffend - waren es bekanntlich, die Chile auf der Drei-Ebenen-Skala der politischen, ökonomischen und sozialen Transition relativ günstig positionierten. Chile hatte nicht nur das painful learning bereits hinter sich, sondern konnte zudem aus den risikovollen Transformationen der Nachbarländer lernen. Somit galt nach dem Ende der Diktatur als wesentliche Anforderung, von der autoritären Modernisierung ohne Entwicklung zur Entwicklung durch Modernisierung innerhalb der Demokratie zu gelangen. Der Amtsantritt von Präsident Aylwin bedeutete dabei einen Regime- und Regierungswechsel in einem, d.h. der neuen Exekutive kam die Rolle einer Gründungsregierung zu, die die Weichenstellungen für die neue demokratische Ära insgesamt vorzunehmen und entsprechend eine komplexe Agenda zu entwickeln hatte.3 Eine Ursprungskrise wie jene, mit der sich die Militärs 1973 konfrontiert sahen, existierte im Jahr 1990 nicht - im Gegenteil. So wenig Grundkonsens bestand, so sehr galt es eine Situation zu vermeiden, die ähnliche Gefahren heraufbeschwörte: Dies war zunächst der Minimalkonsens, von dem aus die neue Regierung startete. Der ihr 1
Vgl. Huneeus 1995, 13f ; Vial et al. 1990; Nolte 1990; Hofineister I99S, 2 3 6 f r
162
und den übrigen Akteuren zur Verfugung stehenden politischen Handlungskorridore sowie die von der strategischen Staatselite vertretene Steuerungsideologie werden im folgenden analysiert.
1.2 Politische Struktur und Machtverteilung Die politische Arena, die ab 1990 den Handlungsrahmen für die chilenische Exekutive und die übrigen politischen Akteure abgibt, ist zum einen durch das Institutionengefuge einer 'geschützten Demokratie' bestimmt, zum andern durch die faktischen sozialen und politischen Kräfteverhältnisse. Letzteres ist insofern hervorzuheben, als die eigenartige Konstruktion des chilenischen Institutionensystems bestimmten Kräften ein besonderes Gewicht verschafft. Dies ist für die südamerikanischen Transitionsländer insgesamt typisch,4 trifft jedoch auf Chile in besonderem Maße zu. Das gesamte Arrangement, das seit 1990 als Grundlage des politischen Spiels gilt, ist relativ starr, da es weiteren Modernisierungsimpulsen und zu erwartenden institutionellen Reformen ein dichtes Netz von Barrieren gegenüberstellt, als dessen letzte Garanten die Militärs fungieren. Mit dem Amtsantritt von Aylwin trat auch die Verfassung von 1980 nunmehr vollständig in Kraft, d.h. die Zeit der darin festgehaltenen Übergangsbestimmungen war zu Ende. Dies bedeutete umgekehrt, daß der darin von Pinochet vorgesehene Weg zur Demokratie sowohl von Regierungs- als auch Oppositionsseite geradezu minutiös eingehalten worden war (d.h.: Präsidentschaft Pinochets zunächst bis 1989, Referendum über eine weitere Amtsperiode (bis 1997) im Jahr 1988, bei Scheitern Pinochets ein weiteres Jahr bis 1990, innerhalb dessen Präsidentschaftswahlen stattzufinden hatten).5 Dieser paktierte Übergang zur Demokratie im Rahmen der 'Verfassung der Diktatur',6 der aufgrund der relativen Stärke der militärischen Machthaber und der relativen Schwäche der Opposition Mitte der 80er Jahre als einzig viable Transitionsoption übriggeblieben war,7 hatte zur Folge, daß nachträglich auch die im Kern autoritäre Verfassung von 1980 auf zweifache Weise legitimiert wurde: Zum einen akzeptierten die maßgeblichen politischen Eliten der Opposition den vorgegebenen Rahmen,8 um Pinochet mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Zum andern führte die neue politische Landschaft nach dem Referendum von 1988 zu Verhandlungsprozessen zwischen Opposition und den blandos des Regimes zu Verfassungsänderungen, die am 30. Juli 1989 per Plebiszit bestätigt wurden.
4
Vgl. Loveman 1994; Nolte 1996.
5
Die Militärs hatten mit der Verfassung quasi das Drehbuch der Transition festgelegt und darin sowohl ein "worst-case-Szenarium (wie eingetroffen) als auch ein '¿erf-case-Szenarium (erneute Amtszeit Pinochets bis 1997) entwickelt. Hierzu und zum Vergleich der Rolle der Verfassungen in den sudamerikanischen Transitionsprozessen vgl. Nolte 1996.
'
Zur Analyse der Verfassung (1980) und ihrem demokratischen Gehalt vgl. Bustos 1987.
7
Vgl. Gleich 1991, 149ff.;Caflas 1993, lOlff.
1
Zu den Einflössen der oppositionellen think lanks auf diesen Prozeß vgl. Puryear 1994, 71 f f , sowie unten Kap. III. 1.3.
163
Obwohl die Änderungen letztlich die Verfassung nur gering modifizierten9, wurden sie mit 85,7% der Stimmen bestätigt, wodurch die Verfassung insgesamt eine zweite und diesmal unzweifelhaft demokratische Legitimation erhielt.10 Von der Staatsform her als demokratische Republik definiert, ist die durch Verfassung und die ausfuhrenden Verfassungsorgangesetze festgelegte institutionelle Struktur der politischen Arena von ihrem 'normalen' Design her von einem starken Präsidialregime bestimmt." Die in Chile traditionelle Balance zwischen Exekutive und Legislative, die unter der Diktatur durch die Konzentration beider Funktionen auf die Junta aufgehoben war, wurde durch die Verfassung eindeutig zugunsten der ersten verschoben. Der Präsident besitzt in nahezu allen wichtigen Materien ausschließlich das Gesetzesinitiativrecht (Art. 62 und 64) und hat überdies die Möglichkeit, weitreichende Materien per Verordnungen (decretos leyes) zu regulieren.12 Zu den verbliebenen Vorrechten des Abgeordnetenhauses gehören erstens die Kontrolle der Regierung, doch muß diese lediglich die Beschlüsse oder Anfragen beantworten, ohne daß die politische Verantwortlichkeit der jeweiligen Minister davon berührt wird; zweitens die Einleitung von Amtsenthebungsverfahren gegenüber Präsident, Ministern, Richtern, Generälen etc., die allerdings auf besonders schwere Fälle begrenzt sind (Gefahrdung der institutionellen Ordnung, Landesverrat u.ä.); und drittens ist es der Ort, an dem Gesetze über Steuern, öffentlichen Haushalt oder das Militär zuerst diskutiert werden, wobei allerdings die Initiative beim Präsidenten bleibt. Ähnliches gilt für das Verhältnis zwischen Präsident und Senat.13 Dieser 'demokratische Cäsarismus' wurde lediglich dadurch gemildert, daß die Amtszeit des ersten postautoritären Präsidenten auf vier Jahre reduziert wurde; kurz vor Amtsantritt von Präsident Frei wurde die Amtszeit per Verfassungsreform schließlich auf sechs Jahre (statt vorher acht) festgelegt.14 Weitaus gravierender sind allerdings die spezifischen 'Schutzvorkehrungen', die das Institutionengefuge mit machtspezifischen Verstrebungen versehen. Durch sie wird ein eigenes System von checks and balances errichtet, das nun allerdings nicht auf Basis der klassischen Gewaltenteilung funktioniert, die quasi 'politik-neutral' ausgerichtet ist (im Sinne der von Przeworski als demo*
Die wichtigsten Änderungen waren: Erleichterung von Verfassungsreformen, indem die geforderte Bestätigung in zwei aufeinanderfolgenden Legislaturperioden eliminiert und für weiche Materien das Quorum von 2/3 auf 3/5 gesenkt wurde; Erhöhung der Zahl der demokratisch gewühlten Senatoren von 26 auf 38; Streichung des Art. 8 (Verbot totalitärer Parteien, gemeint war der PC); Stärkung der zivilen Komponente im Nationalen Sicherheitsrat; Aufhebung der Vollmacht des Präsidenten zur einmaligen Auflösung des Abgeordnetenhauses. Andererseits konnten Pinochet und die 'Falken' jedoch Änderungen abwehren wie die Abschaffung der (neun) designierten Senatoren, die Einschränkung der Vollmachten des Nationalen Sicherheitsrates sowie die Absetzbarkeit der Oberbefehlshaber der Streitkräfte (vgl. Friedmann 1990,278f.; Nolte 1996).
10
Vgl. Caflas 1993,188fr.
"
Vgl. Urzua Valenzuela 1991,273ff.; Lauga 1996,117ff.; Friedmann 1990,150ff.
12
Vgl. Lauga 1996,117.
"
Vgl. Urzua Valenzuela 1991,273ff., 325ff.; Nef/Galleguillos 1995,118.
u
Dies hat zur Konsequenz, daß wie früher die Wahlen wieder in unterschiedlichem Rhythmus stattfinden werden.
164
kratisches Definitionsmerkmai genannten Institutionalisierung von Unsicherheit hinsichtlich der Ergebnisse politischer Entscheidungsprozesse15). Vielmehr ist dieses neue System dazu eingerichtet worden, gerade ein größtmögliches Ausmaß an Sicherheit der politischen Ergebnisse zu erzielen, indem es von vornherein bestimmte politische Optionen ausschließt oder ihnen zumindest extrem hohe Barrieren entgegenstellt. Mit der Akzeptanz der Pinochet'schen Dramaturgie hatte die ehemalige Opposition auch diese Sonderkonstruktionen der politischen Institutionen als Handlungsgrundlage akzeptiert, die den Gestaltungsspielraum der neuen Exekutive, zumal wenn es um Reformpolitiken geht, stark einschränken. (1) An erster Stelle ist hier im Bereich der Legislative der Senat zu nennen, der sich nach 1989 reformierter Version nur zu vier Fünfteln aus demokratisch gewählten Repräsentanten zusammensetzt, da von 47 Senatoren neun designiert werden16: zwei ehemalige Richter des Obersten Gerichtshofes und ein ExVorsitzender der Contraloria General de la República, die je vom Obersten Gerichtshof gewählt werden; je ein Ex-Oberkommandierender der drei Teilstreitkräfte sowie ein Ex-Generaldirektor der Carabineros, die vom Nationalen Sicherheitsrat gewählt werden; ein Ex-Rektor einer (staatlichen oder staatlich anerkannten) Universität sowie ein Ex-Minister, die je vom Präsidenten ernannt werden.17 Durch diese Regelung sind einerseits sowohl das Militär (über den Sicherheitsrat) als auch die Judikative in die Legislative involviert, indem sie aus ihren eigenen Reihen Senatoren bestimmen können. Entsprechend werden sie, die unter der autoritären Regierung zu deren wichtigsten Stützen zählten, von Nef/Galleguillos als "self-generating organizations possessing 'metapov/er"At bezeichnet: Sie sind selbst nicht gewählt, nicht repräsentativ und müssen sich vor der Wählerschaft nicht verantworten, sind also unaccountable. Auch ist diese Gruppe von Senatoren aufgrund ihres numerischen Gewichts dazu in der Lage, die Mehrheitsverhältnisse im Senat umzukehren, sofern sie mit der Opposition stimmen. Selbst einfache Mehrheiten werden dadurch für das Regierungslager unmöglich. Die für grundlegende Änderungen notwendigen qualifizierten Mehrheiten, die gerade diese Regelungen selbst mit betreffen, werden nahezu aussichtslos - es sei denn, es kommen Verhandlungslösungen mit Teilen der Opposition zustande. Wie zu sehen sein wird, trifft diese Konstellation seit 1990 zu. (2) Die Einrichtung des Nationalen Sicherheitsrates (NSR) stellt eine zweite 'Ausfallsicherung' gegen die Veränderung der institutionalisierten Machtver"
Vgl. Przeworski 1986.
16
Nach dem Tod eines designierten Senators blieb dessen Sitz bis zum Ende der Amtszeit vakant, so daß bis Marz 1998 nur 46 Senatoren amtierten. Nicht relevant geworden ist bislang die Regelung, daß alle ExPräsidenten, die ein verfassungsgemäßes Mandat (derzeit sechs Jahre) erfüllt haben, zu Senatoren auf Lebenszeit werden. Ex-Prilsident Aylwin besitzt dieses Recht nicht, da seine Amtszeit auf vier Jahre festgelegt wurde. Hingegen kann Pinochet, wenn er als Oberbefehlshaber der Streitkräfte ausscheidet, dieses Recht in Ansprach nehmen (Art. 45 Verf.).
17
Vgl. Art. 45 Verf.
"
Nef/Galleguillos 1995, 119.
165
hältnisse dar. Er ist zusammengesetzt aus dem Staatspräsidenten (Vorsitz), den Präsidenten von Senat, Oberstem Gerichtshof und (seit 1989) Contraloria sowie den drei Oberbefehlshabern der Teilstreitkräfte und dem Generaldirektor der Carabineros\ er kann vom Präsidenten oder auf Antrag von zwei Mitgliedern einberufen werden. Die potentielle Macht des NSR ist am ehesten noch mit der des Präsidenten vergleichbar: Wie die übrigen Staatsorgane besitzt er den Status, an der Ausübung der nationalen Souveränität beteiligt zu sein; letztlich befindet er über den Tatbestand der Gefahrdung der "Nationalen Sicherheit' und wirkt entscheidend bei der Verhängung von Kriegs- und Belagerungszustand mit - in beiden Fällen machen die weiteren Bestimmungen Chile zur virtuellen konstitutionellen Diktatur." Doch auch neben diesen direkten Eingriffsmöglichkeiten besitzt der NSR einen erheblichen Einfluß durch das Recht, gegenüber den obersten Staatsgewalten (Präsident, Kongreß, Verfassungsgericht) seine Meinung zu Tatbeständen und Vorfallen kundzutun, die seiner Ansicht nach die Grundlagen der institutionellen Ordnung oder die nationale Sicherheit gefährden. Er kann alle Unterlagen und Informationen bezüglich innerer und äußerer Sicherheit von den anderen Staatsorganen und -beamten einfordern. Dies macht den NSR zu einer zusätzlichen Instanz der Rechtsaufsicht und Kontrolle gegenüber den drei klassischen Staatsgewalten.20 Zusätzlich bestimmt er vier Senatoren und zwei Mitglieder des Verfassungsgerichts. Da der NSR mit einfacher Mehrheit entscheidet, ist aufgrund der starken Präsenz von Militärs und Polizei deren Interpretation von Gefahrdung der nationalen Sicherheit und der staatlichen Institutionenordnung maßgeblich. Der NSR ist aufgrund der genannten Funktionen sowohl eine Art Ausfallbürgschaft für die Militärs und die sie stützenden Sektoren als auch ein potentieller Machtfaktor in der gesamten politischen Arena. (3) Das Militär schließlich wird durch Verfassung und ausführendes Organgesetz zur virtuellen vierten Gewalt im Staat.21 Es stellt nicht nur de facto als korporativer Akteur, sondern auch de jure eine Veto- und Kontrollmacht dar, die sich aus verschiedenen Quellen speist. Neben ihrer garantierten Präsenz in der Legislative sowie den ausgedehnten Kompetenzen der Militärgerichtsbarkeit bestimmt die Verfassung, daß die Streitkräfte 'wesentlich' sind für die nationale Sicherheit und als Garanten der institutionellen Ordnung fungieren (Art. 90).22 Dies läßt im Zweifelsfall einen derart weiten Handlungsspielraum, daß es letztlich in das Belieben der Militärs gestellt ist, wann diese Fälle akut werden. Indem ihnen ausdrücklich die Rolle eines Garanten der institutionellen Ordnung zugeschrieben wird, existiert somit qua Verfassung eine Norm für das Eingrei"
Vgl. Loveman 1994, 129; den Kriegszustand (im Falle äußerer Bedrohung) verhängt der Präsident mit Zustimmung des NSR, den Belagerungszustand (innerer Kriegszustand oder Aufruhr) im Prinzip mit Zustimmung des Kongresses, doch kann letzterer auch faktisch mit Zustimmung des NSR verhängt werden (Art. 40 Verf.).
30
Vgl. Urzua Valenzuela 1991,378ff.
21
Vgl. Loveman 1991,46.
22
Art. 90 Verf. [Abs. 2] lautet: "Las Fuerzas Armadas (...) existen para la defensa de ta patria, son esenciales para la seguridad nacional y garantizan el orden institucional de la República."
166
fen der Militärs, wenn sie diese Ordnung - etwa auch durch andere Staatsgewalten - bedroht sehen. Hierfür besteht im bereits genannten NSR quasi ein zusätzliches Sicherheitsventil, das anzeigt, wann etwaige Konflikte sich zuzuspitzen drohen. Faktisch ist das Militär jedoch auch zu eigenem Handeln 'ermächtigt', und im tatsächlichen Konfliktfall mit anderen Staatsorganen sind zwar auch die Streitkräfte an die Verfassungsnormen gebunden, doch selbst wenn etwa das Verfassungsgericht gegen das Militär entscheiden sollte, bleibt fraglich, wer solche Entscheidungen durchsetzen könnte. Zusätzlich ist das Militär durch die Verfassung und das Organgesetz über die Streitkräfte mit einer großen Autonomie ausgestattet, d.h. vor allem der zivilen politischen Kontrolle weitgehend entzogen.2 Dies betrifft sowohl Personalbesetzungen auf oberster Ebene, also die besonders sensiblen Positionen der Oberkommandierenden, als auch die interne Kontrolle über die restlichen Personalentscheidungen bzw. über Militärausbildung und Militärdoktrin. Auch werden Teile des Militärbudgets ohne zivile Kontrolle verausgabt, während andererseits die Höhe des Militäretats auf dem Stand von 1989 festgeschrieben wurde, genauso wie die automatische (und unkontrollierte) Übertragung von jährlich 10% der CODELCO-Gewinne auf das Militär. Schließlich weitete die Verfassung auch die Kompetenzen der Militärgerichtsbarkeit aus, die zudem in Kriegszeiten nicht der Kontrolle des Obersten Gerichtshofs untersteht. Insgesamt wird das Militär damit von der Verfassung als eine Art 'ReserveMacht' eingesetzt, deren 'overriding commands' im Zweifelsfall Geltung besitzen. Dieselben gesellschaftlichen Kräfte, die die neue institutionelle Ordnung geschaffen haben, sind auch weiterhin für deren Bewahrung verantwortlich. Das Militär ist der letzte (legale und legitimierte) Garant der selbstgeschaffenen Spielregeln, so daß - wenn zusätzlich die Rolle des NSR berücksichtigt wird mit Carl Schmitt gefragt werden könnte, wer in Chile der tatsächliche Souverän ist.24 Allerdings ist damit nicht ein beliebiges Agieren der Militärs als wahrscheinlich postuliert. Vielmehr - und dies wiederum hängt mit ihrer Autonomie und ihrem Selbstverständnis zusammen - konnte es auch nicht in ihrem Interesse sein, jeden der möglichen Konflikte zum casus belli werden zu lassen und institutionelle Konflikte heraufzubeschwören. Denn der geordnete Rückzug und damit das Akzeptieren der unerwarteten Niederlage ist ein Indiz dafür, daß die Militärs ihre Rolle als Garanten der Institutionalität durchaus nicht nur als pure Statussicherung verstanden, sondern ihnen durchaus an einer weitergehenden Stabilität der von ihnen erreichten Erfolge gelegen war, die aber komplexere Funktionszusammenhänge aufweisen. Eine erneute Machtübernahme würde umgekehrt noch dadurch erschwert werden, daß ihre politische Protagonisten"
Vgl. Loveman 1991,46ff; s. auch Kap. IV.4.2.
"
Bezeichnenderweise ist nach der Verfassung nicht das 'Volk' der (nominelle) Souverän, sondern die 'Nation', repräsentiert durch den Volkswillen per Abstimmungen und Wahlen und durch die in der Verfassung vorgesehenen Staatsorgane (von denen lediglich Präsident und Abgeordnetenhaus genuine Repräsentativorgane darstellen, weniger der Senat, kaum die Judikative und gar nicht der NSR). Wer letztlich als Souverän fungiert, ist in der chilenischen Jurisprudenz zumindest umstritten (vgl. Urzua Valenzuela 1991, 93ff); auch internationale Rechtsgelehrte bezweifeln ein klares Bekenntnis zur Volkssouveränität (vgl. Cumplido 1984).
167
rolle delegitimiert ist: Das Militär besaß seit 1990 genügend Macht, seine Rolle und seine Leistungen abzusichern, aber kein politisches Altemativprojekt für die neue gesellschaftliche Situation. Unklar war für alle beteiligten Akteure allerdings, wo hier die 'Schmerzgrenze' lag und auch, wer diese innerhalb der Militärs definierte.25 (4) Die Absicherung der 'neoliberalen Revolution' wie auch der 'geschützten Demokratie' erstreckte sich auch auf die Zusammensetzung der Legislative. Über die Machtsicherung durch die designierten Senatoren hinaus fand dies seine Entsprechung im Wahlsystem, dessen Design mit dem Organgesetz so gestaltet wurde, daß die regimetreuen rechten Sektoren mit ausreichenden Sitzanteilen in den beiden Kammern des Parlaments vertreten sein sollten. Die Rechnung Pinochets war einfach: Traditionell besaß die Rechte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bei Wahlen einen Stimmenanteil von ca. 30%. Um nun deren Repräsentanz entsprechend abzusichern, wurde ein Wahlsystem entworfen, das als 'majoritäres Binominalsystem' firmiert und eine Kombination darstellt aus Mehrheitswahlrecht, gemäßigter Herausbildung eines Vielparteiensystems (unter dem Deckmantel der zu Listen formierten Blöcke) und einem verqueren Verhältniswahlrecht, das von den beiden stärksten Listen die schwächere bevorteilt: Pro Wahlkreis sind zwei Sitze zu vergeben, für die jede Partei (bzw. jede Liste einer Parteienkoalition) zwei separate Kandidaten aufstellen kann, wobei jeder Wähler nur eine Stimme hat (sich also nur für einen Kandidaten entscheiden kann, nicht für die Liste als solche). Für die Zuteilung der beiden Sitze werden zunächst die beiden Listen bestimmt, die insgesamt die meisten Stimmen (in Addition der beiden Kandidaten) erhielten; gewählt sind demnach die beiden Kandidaten, die innerhalb ihrer Liste die meisten Stimmen auf sich vereinigen können, d.h. beide 'Siegerlisten' erhalten je einen Sitz. Nur in dem Fall, daß die Siegerliste insgesamt mindestens doppelt so viele Stimmen auf sich vereinigen kann wie die zweitplazierte Liste, erhält sie beide Sitze. D.h., daß auch ein Kandidat, der nach absolut erhaltenen Stimmen nur den dritten Platz erreicht, gewählt ist, sofern seine Liste mehr als die Hälfte der Stimmen der Siegerliste aufweist. Bei durchschnittlich 30% der Wählerstimmen für die Rechte war dies somit ein recht aussichtsreiches Unterfangen. Das Wahlsystem war dazu gedacht, neben der Machtsicherung der Rechten im Parlament die Etablierung eines vermeintlich stabileren (virtuellen) Zwei-Parteien-Systems zu errichten (also auch die 'drei Drittel' des Estado de Compromiso zu verhindern), wobei Pinochet damit kalkulierte, daß sich die Opposition nicht in dem Maße auf gemeinsame Listen einigen könnte wie die Rechte. Diese Strategie wurde zudem dadurch unterfüttert, daß die Wahlkreiseinteilungen zugunsten der rechten Wählerschichten ausfielen (u.a. Überrepräsentation ländlicher Bereiche, in denen traditionell die Rechte stärker ist). (5) Änderungen an diesem Institutionengefuge sind zwar prinzipiell möglich, doch sind hierfür starke qualifizierte Mehrheiten erforderlich. Die ausführenden "
Ausführlicher hierzu s. Kap. III.4.3.
168
Verfassungsorgangesetze bedürfen jeweils einer 4/7-Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments (69 Abgeordnete, 27 Senatoren) und betreffen wichtige Materien wie das Zentralbankgesetz, Parteien und Wahlsystem oder das Gesetz über die Streitkräfte. Änderungen der Verfassung selbst (Kapitel XIV) sind noch schwieriger und werden nach der Bedeutsamkeit der Materien unterschieden: Bestimmungen über Staatsangehörigkeit und Bürgerrecht (Kap. II), Regierungssystem inkl. Präsidentschaft und Regelung des Ausnahmezustandes (Kap. IV), über Kongreß, Justiz, Wahlen und dezentrale Staatsorganisation (Kap. V, VI, VIII, XIII) sowie über Contraloria und Zentralbank (IX, XII) bedürfen einer 3/5 Mehrheit in beiden Kammern (72 bzw. 29 Stimmen). Schließlich sind für folgende Materien jeweils eine 2/3-Mehrheit (80 bzw. 32) erforderlich: Grundlagen der staatlichen Ordnung (Kap. I), verfassungsmäßige Rechte und Pflichten (Kap. III), Verfassungsgericht (Kap. VII), Sicherheits- und Streitkräfte (Kap. X), Nationaler Sicherheitsrat (Kap. XI) sowie die Bestimmungen über die Verfassungsänderungen selbst (Kap. XIV). (6) Damit war es jeder (reformwilligen) Regierung erschwert, gerade die als autoritäre Enklaven geltenden Bestimmungen zu verändern (z.B. designierte Senatoren, Wahlsystem, Bedeutung und Zusammensetzung des Nationalen Sicherheitsrates, fehlende zivile Suprematie über die Militärs). Doch auch die von Pinochet im Zuge des 'geordneten Rückzugs' erlassenen Gesetze des Jahres 1989/90 (hier vor allem die Gesetze über die Zentralbank oder das Streitkräftegesetz) fallen hierunter. Ganz auf dieser Linie verfolgte Pinochet in den ihm verbleibenden Monaten im Jahr vor seinem Abtritt eine Personal- und Budgetpolitik, die zusätzliche Sicherungen zumindest für eine gewisse Übergangszeit errichtete. Entsprechende Maßnahmen bezogen sich auf Personalbesetzungen in der staatlichen Verwaltung (inkl. Bürgermeister), im Obersten Gerichtshof, in der Zentralbank, den Massenmedien sowie der obersten Heeresfiihrung. Die Budgetpolitik engte den finanz- und wirtschaftspolitischen Spielraum der künftigen Regierung dadurch ein, daß für das Jahr 1990 ein äußerst knapp bemessener Haushalt erlassen wurde (u.a. wurden die Sozialausgaben deutlich niedriger veranschlagt). Der Handlungsspielraum der neuen Exekutive für wichtige institutionelle Reformen (qualifizierte Mehrheiten) hing somit wesentlich von den politischen Mehrheitsverhältnissen im Parlament sowie von der Kooperationsbereitschaft der neuen Opposition ab. Die Hoffnungen der Concertaciön richteten sich 1989 zunächst auf ausreichende Mehrheiten im Nationalkongreß. Die Ergebnisse der Parlamentswahlen, die parallel zu den Präsidentschaftswahlen am 14.12.1989 abgehalten wurden, spiegeln die Machtverhältnisse wider, wie dies von Pinochet intendiert wurde: Die vormalige Opposition (Concertaciön, Linke und Unabhängige) erreichte zwar im Parlament eine 3/5-Mehrheit (72 Sitze), verfehlte jedoch schon hier die für eine 2/3-Mehrheit notwendigen 80 Sitze. Im Senat hingegen verlief das Ergebnis noch enttäuschender, da sie nur 22 der wählbaren 38 Sitze erreichte. Durch die designierten Senatoren, die später wie erwartet mit der rechten 'Opposition' stimmten, wurde diese Mehrheit der neuen Regierung 169
jedoch in eine Minderheitsposition verwandelt: Ihren 22 Senatoren standen nunmehr 25 Senatoren der Rechten gegenüber.26 Damit war jedes zustimmungsbedürftige Gesetz entweder von der Kooperation wenigstens eines Teils der Opposition und damit vom erfolgreichen bargaining abhängig, oder aber von vornherein zum Scheitern verurteilt. Tab. 11: Ergebnisse der Parlamentswahlen 198927 Abgeordnetenhaus (120 Sitze) Stimmen (in % )
Senat (38 wählbare Sitze)
Sitze (absol.) (in % )
Stimmen (in % )
Sitze (absol.) (in % )
Liste A: Concertaciön PDC PPD PR Übrige/Unabhängige
51,1
69
57,7
543
22
57,8
26,0 12,3 3,9 8,9
38 17 5 10
31,7 14,2 4,2 7,5
32,0 12,0 2,1 8,2
13 4 2 3
34,2 10,5 5,3 7,9
Liste B: Democracia y Progreso RN UDÌ Unabhängige
34,2
48
40,0
35,5
16
42,2
18,3 9,8 6,1
29 11 8
24,2 9,1 6,7
12,4 5,5 17,6
6 2 8
15,8 5,4 21,0
Liste G: P A I S
53
2
1,7
4,4
0
0
Unabhingige
1,9
1
0,8
0,4
0
0
Die Präsidentschaftswahlen am 11. Dezember 1993, die ersten unter genuin demokratischen Bedingungen seit 1970, endeten erneut mit dem deutlichen Wahlsieg des Kandidaten der Concertaciön, Eduardo Frei Ruiz-Tagle, der im ersten Wahlgang 58,3% der Stimmen erreichte. Die gleichzeitig abgehaltenen Parlamentswahlen (Abgeordnetenhaus und die Hälfte der wählbaren Senatoren) - die ersten genuin demokratischen seit 1973 - bestätigten die seit 1990 gegebenen politischen Kräfteverhältnisse: Die Regierungskoalition erreichte im Abgeordnetenhaus 70 Sitze und ist im Senat nunmehr mit 21 Sitzen vertreten, während die Rechte auf 50 bzw. nunmehr 17 Sitze (+ 8 designierte Senatoren = 25) kam.28 Damit hatte sich in bezug auf die numerischen Kräfteverhältnisse das politische Szenario auch unter der Regierung Frei nicht verändert (s. Tab. 12). 2(
" u
Einzelanalysen der Auswirkungen des Wahlsystems ergaben, daß bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus die Rechte in 13 Fallen davon profitierte, die Concertaciön gar nicht; bei den Senatswahlen profitierte die Rechte in 9 Fallen, die Concertaciön in zwei (vgl. Caflas 1993, 213). Nach dem Mehrheitsprinzip hatte das Regierungslager ceteris paribus damit leicht die Zweidrittelmehrheit im Unterhaus und eine 3/S-Mehrheit im Senat erreicht. Quelle: Nohlen 1993, 193ff.; Friedmann 1990,2«5ff. Vgl. Munck 1994,8ft; Nef/Galleguillos 1995, 128ff.
170
Tab. 12: Ergebnisse der Parlamentswahlen 199329 Abgeordnetenhaus (120 Sitze) Stimmen (in %)
Senat (38 wählbare Sitze)
Sitze Stimmen (absol.) (in %) (in %)
Sitze (absol.) (in %)
Mitte: Concertación
55,4 27,1 11,8 12,0 4,5
70 37 15 15 3
58,3 30,8 12,5 12,5 3,3
21
PDC PPD PS Übrige/U nabhängige Rechte: Unión Progreso
36,6
50
41,7
17
RN UDÌ UCC/Unabhängige
16,2 12,1 8,2
29 15 6
24,2 12,5 5,0
11 3 3
Linke: MIDA
7,9
0
0
0
Unabhängige
0,1
0
0
0
55,3
13 2 5 1 44,7
Die Macht- und Akteurskonstellation seit 1990 ist somit erstens dadurch charakterisiert, daß mit den sogenannten poderes fäcticos (Militär, Unternehmer) die am Ende der Diktatur dominierenden Machtgruppen gegenüber den geschwächten Sektoren von Mittelschicht und Arbeiterschaft die politische Arena weitaus besser dominieren können. Zweitens sind soziopolitische Matrix und politische Arena aufgrund der genannten - und allseits akzeptierten - institutionellen Arrangements dahingehend geprägt, daß sie die politischen Machtverhältnisse aus der Endzeit der Diktatur zumindest für geraume Zeit stabilisieren und reproduzieren. Diese Verzerrungen kommen Machtbarrieren gleich, die den politischen Problemverarbeitungsprozeß in spezifischer Weise hemmen können. Drittens besitzt Chile neben Paraguay das einzige postautoritäre Regime Südamerikas mit starken Parteien, die sich weitgehend mit dem vorausgegangenen Militärregime identifizieren. Die politische Gesellschaft wurde somit in einen Handlungsrahmen plaziert, der die Fortschreibung eines ihrer wesentlichen Strukturdefekte zumindest wahrscheinlich machte: Indem derart viele 'Ausfallsicherungen' errichtet waren, die ihre Position von vornherein stabilisierten und die Sicherheit bestimmter (grundlegender) Ergebnisse des politischen Entscheidungsprozesses gewährten, war ein großer Anreiz für die rechten Parteien geschaffen, sich weniger auf dynamische Politikprozesse einzulassen, als vielmehr die Sicherheit dieser Ergebnisse selbst zu einem wesentlichen politischen Ziel zu küren. Dies aber schränkt den Wettbewerbsgrad der chilenischen Demokratie in weitaus höherem Maße ein, als sich dies etwa mit Vanhanens Zählkünsten "
Quelle: El Mercurio Internacional (13. Dez. 1993); NeCGalleguillos 1995, 124; Munck 1994, 11; die Zahlen fttr den Senat berücksichtigen nur die neue Zusammensetzung nach der Teilwahl.
171
messen läßt.30 Zudem beförderten sie die seit Mitte der 80er Jahre vorherrschende Tendenz elitistisch-technokratischer Orientierungen in der chilenischen Politik. Schließlich ergab sich aufgrund der relativ autonomen Position der Militärs ein Charakteristikum des Staatsgefüges, das ähnlich auch in anderen Ländern Lateinamerikas existiert und das demokratische Regime überlagert: Plakativ gefaßt resultierte aus dem Transitionsprozeß eine Art 'schizophrener Staat', in dem das Gewaltmonopol (in erster Linie das Militär) nicht eindeutig zuzuordnen ist. Dies ist insofern von Bedeutung, als potentiell eine Akteurskonstellation angelegt ist, in der das Militär gewissermaßen eine Exit-Option hinsichtlich des demokratischen Spiels besitzt (die gleichbedeutend wäre mit der Beendigung des 'Spiels'). Auch unabhängig davon, ob diese potentielle Situation sich ergibt, war eine von ziviler Seite einigermaßen vorausschauende Politik dazu genötigt, zusätzliche Ressourcen für Kooperation und 'vertrauensbildende Maßnahmen' bereitzustellen, was im Kern eher dem Politikbegriff der Internationalen Beziehungen bis hin zur 'Regime-Bildung' nahekommt - mit den üblichen Konsequenzen für die Optionen und das strategische Verhalten der zivilpolitischen Akteure. Eine bedeutende Frage war deshalb für die neue demokratische Ära, ob das politische System den Modernisierungsanforderungen gerecht wird, oder ob statt der gewünschten Stabilität eher Stagnation, das Einfrieren der soziopolitischen Machtverhältnisse und damit die Blockade des Wandels vorherrschten.
1.3 Strategische Staatselite und Steuerungsideologie Wesentliche Faktoren für die Erklärung und Beurteilung des institutionellen Wandels nach 1990 stellen jene beiden Variablen dar, die oben als strategische Staatselite sowie als Steuerungsideologie bezeichnet wurden. Beide Variablen liegen zu Beginn der demokratischen Ära in ähnlich starker Ausprägung vor wie in der Ära der Chicago boys, was auch einen weiteren wichtigen Effekt mit sich brachte: In deutlichem Kontrast zu den übrigen Transitionsregierungen in Lateinamerika trat die Concertacidn mit einem dezidierten Regierungsprogramm an, das eine Agenda nicht nur für spezifische Transitions- und Konsolidierungsfragen aufwies, sondern auch für die modemisierungsrelevanten Politikbereiche. Chile unterschied sich insofern auch von anderen typischen Fällen der Transitionsregierungen, deren politische Agenda nach Huntington in erster Linie auf Fragen der Konsolidierung (und hier insbesondere das Verhältnis Zivile/Militärs) gerichtet ist.31 Wie z.B. Birle für Argentinien aufzeigt, war die Regierungszeit Alfonsin im Vorfeld kaum von programmatischen Debatten geprägt, während andererseits das Hauptanliegen der Politik in der Festigung der 50
Zu Vanhanens Opcrationalisierung des Partizipations- und Wettbewerbsgrades von Demokratien vgl.
31
Vgl. Huntington 1991 (Kap. 4 u. 5).
Schmidt 1995,273ff.
172
Demokratie bestand. Das argentinische Beispiel steht dabei jedoch stellvertretend für einen Paradigmenwandel in der lateinamerikanischen akademischen und politischen Diskussion, als spätestens seit Beginn der 80er Jahre eher Fragen der Demokratisierung und weniger dezidierte Entwicklungsstrategien im Vordergrund standen.32 Im Gegensatz dazu begann sich in Chile im Laufe der 80er Jahre ein alternatives Entwicklungsparadigma herauszubilden, das an drei Spezifika geknüpft ist: Erstens war diese Strategiedebatte von einer Gruppe von 'Intellektuellen' getragen, die gleichermaßen Politiker wie 'Technokraten' waren, d.h. sowohl in ihren jeweiligen think tanks und damit im zunehmend anerkannten akademischen Diskurs als auch in ihren jeweiligen Parteien verankert waren. Aus diesen Gruppen gingen Mitte der 80er Jahre zunächst die equipos técnicos hervor, die schließlich die Grundlage für die strategische Staatselite seit 1990 wurden. Zweitens gelang es diesen Gruppen, in Auseinandersetzung sowohl mit den entwicklungstheoretischen Grundsätzen des Neoliberalismus als auch mit den aus seiner Anwendung resultierenden, spezifischen Entwicklungsproblemen Chiles einen Korpus an entwicklungsstrategischen Imperativen zu formulieren, der sowohl theoretisch wie pragmatisch stringent war. Drittens schließlich setzte sich das intellektuelle Gewicht dieser Zirkel auch in wachsenden politischen Einfluß um, was sich letztlich direkt auf die Formulierung des Regierungsprogramms der Concertación auswirkte. Diese neue strategischen Staatselite begann ab 1990 in ähnlicher Funktion wie zuvor die Chicago boys unter dem autoritären Neoliberalismus zu operieren. Analog wurde vor allem die spätere Wirtschaftsequipe der Concertación, die sich im Kern aus dem den Christdemokraten nahestehenden think tank CIEPLAN rekrutierte, als CIEPLAN monks bezeichnet.33 Die Formierung von CIEPLAN und den anderen, nicht minder bedeutsamen Zirkeln fand ihre ersten Ursprünge bereits Mitte der 70er Jahre, konturierte sich jedoch vor allem ab Mitte der 80er Jahre schärfer, als sich das Scheitern der ruptura-Strategie abzuzeichnen begann. Für diese Entwicklung sind mehrere Faktoren verantwortlich. Erstens war es ein Effekt der dezidiert 'a-politischen' Haltung der Militärregierung, daß die zuvor zwar auch einflußreichen, jedoch wenig angesehenen 'Technokraten' nicht nur aufgewertet, sondern als die einzig für das Regieren geeigneten Akteure angesehen wurden: Staatliches Handeln und Entscheidungen sollten nicht von (parteipolitischen, 'ideologischen' Maximen geleitet sein, sondern von wissenschaftlich-technischer Rationalität. Dies führte zweitens dazu, daß die Militärregierung Kritik erlaubte, wenn sie in akademischer Form vorgetragen wurde (damit allerdings gleichzeitig innerhalb dieser Zirkel verblieb). Insofern war es Akademikern wie Foxley möglich, CIEPLAN und ähnliche Einrichtungen zu gründen und schon früh auch grundlegend die Wirt"
Vgl. Birle 1995, 189; Birle 1989, 5 4 f t ; Mols 1987.
"
Die Formulierung wurde geprägt von Fernando Henrique Cardoso, Soziologe, Entwicklungstheoretiker und derzeit Staatspräsident Brasiliens (vgl. Southern Cone Report RS-90-03, 4); andere wie „El Mercurio" bezeichneten diese Gmppe als CIEPLAN boys (vgl. Silva 1991,406).
173
schaftspolitik der Regierung zu kritisieren.34 Derart formierten sich weitere, zumeist kleinere Forschungsinstitute, die zu den Hauptproduzenten sozialwissenschaftlicher Forschung über die chilenische Realität wurden und sich zunehmend professionalisierten.35 Drittens erlaubte dies in Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus alternative Ansätze zu entwickeln, die an die strukturalistischen Entwicklungsvorstellungen der CEPAL anschlössen, aber auch die als positiv erachteten Elemente des Neoliberalismus sowie die durch ihn geschaffene Realität einbezogen. Förderlich war hierbei, daß mit der CEPAL und anderen Einrichtungen internationale Kontakte und Verbindungen vorhanden waren. Viertens schließlich spielte für die nachfolgende Entwicklung eine wichtige Rolle, daß bei aller Betonung der (elitistischen) Technokrate diese Intellektuellen immer auch políticos waren, d.h. in ihren jeweiligen Parteien eine bedeutende Rolle spielten und so zunehmend Einfluß auf die programmatische Entwicklung nehmen konnten.36 Die Formierung dieser Gruppen zu einer Protoform der späteren strategischen Staatselite vollzog sich im Lauf der 80er Jahre, indem zusätzliche Faktoren ins Spiel kamen, die auf eine stärkere Homogenisierung der oppositionellen Positionen hinwirkten: Zum einen begannen wesentliche Vertreter - etwa CED, ILET und SUR, die sich zum sogenannten CIS-Konsortium zusammenschlössen - sowohl die Aktivitäten der Institute stärker zu vernetzen als auch in Eigeninitiative deutlichere politikberatende Impulse zu setzen.37 Hierbei spielte zum anderen die politische Konstellation Mitte der 80er Jahre eine ausschlaggebende Rolle: Da die Militärregierung sich als zu stark erwies, um sie mittels Massenmobilisierung zu stürzen, und in der Folge auch die Massenproteste verebbten, begannen die oppositionellen politischen Eliten, sich auf eine Transitionsstrategie im Rahmen des autoritären Regimes einzustellen. Dies erforderte jedoch dezidiertere programmatische Positionen, als es die 'Negativ-Strategie der ruptura ermöglichte, weshalb sich in den maßgeblichen Parteien (PDC, Sozialisten) die sogenannten grupos técnicos formierten, die sowohl Transitionsstrategien als auch spezifische policy-Leitlinien entwickelten. Da überdies nur eine gemeinsame Oppositionsstrategie Aussicht auf Erfolg hatte, waren diese Gruppen zunehmend auch zur parteiübergreifenden Zusammenarbeit gezwungen.38 Ins54
"
" " "
Schon Ende der 70er Jahre wurde auf die Inkonsistenzen der Wirtschaftspolitik und die Krisenanfälligkeil des Wirtschaftsmodells hingewiesen (vgl. Silva 1991, 403); paradigmatisch für diese Kritik Arellano I98S und Foxley 1982. Vgl. Puiyear 1994, 33ff.; Silva 1991, 400. Silva nennt ftlr das Jahr I98S 40 solcher Institute mit insgesamt 543 Forschern, von denen 30% im Ausland erworbene M.A.- oder Doktorgrade besaßen und ca. zwei Drittel auf Vollzeit-Basis arbeiteten; Puryear nennt fllr 1988 bereits 49 mit 664 Forschem • zum Vergleich: 1973 existierten nur drei solcher Zentren, während 1988 an chilenischen Universitäten etwa 200 Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler arbeiteten (vgl. Puiyear 1994, 43). Die wichtigsten dieser Institute waren (und sind) neben CIEPLAN CED (DC-orientiert), FLACSO, SUR, ILET und CLEPI (je PS/PPD-orentiert) sowie AHC (katholische Kirche) und ICHEH (eher DC-orientiert, seit 1974 als erstes dieser neuen Institute unter dem Schutz der Kirche operierend). CED spielte zusammen mil dem damals einzigen rechten think tank CEP insofern eine besondere Rolle, als beide zunehmend zu Foren ftlr Intellektuelle und Politiker beider Lager wurden. Vgl. Silva 1991,407. Vgl. Puiyear 1994, 138ff. Vgl. ebd., I09ff.
174
besondere das Schlüsselthema der wirtschaftspolitischen Strategie wurde bevorzugt behandelt, so daß sich zwischen den politischen Sektoren eine Konvergenz über das zukünftige Wirtschaftsmodell ergab. Foxley hat diese Prozesse nachträglich bestätigt.39 Diese Verknüpfung von sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Netzen und parteipolitischer Verankerung war schließlich ausschlaggebend für ein Regierungsprogramm, das nicht nur ein elaboriertes und kohärentes Design aufwies, sondern auch tragfahig war für die verschiedenen politischen Sektoren.40 Die skizzierte Entwicklung hatte insgesamt den Effekt einer weiteren 'Technokratisierung' der Politik: 'Neutral' wissenschaftliche und per Expertise (bzw. deren Aura) gestützte Politik ist in Chile ein anerkannter Wert, und zwar sowohl bei der breiten Bevölkerung als auch bei relevanten gesellschaftlichen Akteuren. Entsprechend setzt sich dieser Trend der politischen Kultur in Chile fort, indem auch die Rechte nach ihrem Machtverlust die Gründung eigener think tanks betreibt, wie etwa das ILD. Diese begleiten nun ihrerseits die Politik der demokratischen Regierung und entwickeln eigene politische Alternativen.41 Andererseits ist nicht zu verkennen, daß damit auch eine deutliche Elitisierung der Politik einherging, die zusätzlich gefordert wird durch einen hohen Kohäsionsgrad der politisch-intellektuellen Zirkel. Letzter Baustein der Formierung der strategischen Staatselite war schließlich, daß eine große Anzahl der intellectuals in höchste Ämter und Positionen der neuen Regierung und Verwaltung gelangte, was in erster Linie an der Wirtschaftsequipe zu erkennen ist, die sich um Foxley formierte (s. Abb. 11). In der Tendenz wurde diese Blockbildung auch unter der nachfolgenden Regierung von Eduardo Frei beibehalten, indem einige nun in höhere Positionen aufstiegen, wie Aninat oder Garcia (Finanz- bzw. Wirtschaftsminister), bzw. andere neu in wichtige Positionen aufgenommen wurden (z.B. Carlos Massad von der CEPAL zum Gesundheitsminister und schließlich 1996 zum Präsidenten der Zentralbank, Claudia Serrano von CIEPLAN zu FOSIS).
"
"The Conceriaciön's ideology, if that's the term, was elaborated in a long process by intellectuals at the research centers. In that sense, the Concertacion was the ideological triumph - and the revindication - of the value of ideas in a political-historical process as decisive as the one Chile was living ... The Concertacion was the first expression of postauthoritorian policy. And subsequently, the policy of the democratic regime has been very strongly marked by that new approach to problems that emerged principally from the intellectual world. " (Foxley zit. n. Puiyear 1994, 121).
40
Aus einer weiter gefaßten historischen Perspektive ist festzuhalten, daß sich die chilenischen Sozialwissenschaften - dies meint hier sowohl die Chicago boys als auch die CIEPLAN monks und ihre Mitstreiter - als Uberaus leistungsfähig erwiesen haben, jedenfalls was ihre Gestaltungs- und Durchsetzungskraft anbetrifft (aber die Folgen ist jeweils zu streiten). Dies ist letztlich auch den Weichenstellungen vor 1973 zuzuschreiben, wurde aber ebenso von internationalen Kontakten und Kooperationen beeinflußt: Was den Neoliberalen das Chicago von Friedman und v. Hayek war, das war den Neostrukturalisten gleichsam eine fortschrittliche Diaspora.
41
Vgl. Silva 1991, 408.
175
Abb. 11: Strategische Staatselite unter Aylwin und Frei42 Ñame
Funktion
Universität
Alejandro Foxley Pablo Piñera Andrés Velasco José Pablo Arellano Javier Etcheverry Manuel Marfán Joaquín Vial
Finanzminister stellvertr. Finanzminister Kabinettschef Budget-Direktor Direktor Steuerabt. Policy-Koordinator Berater Finanzministerium
Wisconsin Boston Columbia Harvard Michigan Yale
Carlos Ominami Jorge Marshall Alejandro Jadresic Fernán Ibáñez
Wirtschaftsminister (stellvertr.) Wirtschaftsminister Koordinator Sektorpolitiken Sekretär Auslandsinvestitionen
Paris Harvard Harvard MIT
Andrés Sanfuentes Eduardo Aninat
Präsident Banco de Estado Koordinator Auslandsschulden unter Frei: Finanzminister (seit 1994) Generalmanager CORFO Berater, ab 1992 Präsident Zentralbank Zentralbank Vizepräsident Banco de Estado Staatssekretär MIDEPLAN Staatssekretär MIDEPLAN Direktor FOSIS Nationales Statistikinstitut
Chicago Harvard
Ernesto Tironi Roberto Zahler Ricardo Ffrench-Davis Ernesto Edwards Alvaro García Fernando Ordóñez Nicolás Flaño Alexis Guardia Manuel Antonio Garretón René Cortázar Carlos Massad Juán Villarzú
Erziehungsministerium Arbeitsminister Gesundheitsminister (seit 1994) Präsident Zentralbank (seit 1996) Leiter des Präsidialamts (seit 1996)
MIT Chicago Chicago Boston California Edinburgh Yale Paris (FLACSO) Yale Chicago Chicago
Die neue strategische Staatselite kann somit zwar nicht als strikt homogene Gruppe angesehen werden, doch zeichnete sie sich durch ein hohes Maß an ideologischer Konvergenz in bezug auf das Entwicklungsdenken aus. In Abgrenzung zum alten Strukturalismus der CEPAL bzw. zum Neoliberalismus reklamierte sie den dezidiert als Alternative propagierten Ansatz des Neostrukturalismus für sich, der sowohl in den entwicklungstheoretischen Überlegungen der CEPAL als auch im Regierungsprogramm der Concertaciön unter dem Etikett des crecimiento con equidad firmierte. Die erwähnten Positionsveränderungen der zur strategischen Staatselite aufgestiegenen CIEPLAN monks während der 80er Jahre spiegeln exakt jene Verschiebungen wider, die die seit den 40er Jahren hoch entwickelte Entwicklungsstrategie-Debatte in den letzten 15 Jahren erlebt hat und die vor allem durch den Niedergang des alten strukturalistischen CEPAL-Konzeptes und den Einbruch des Neoliberalismus markiert sind. Bisweilen ist dieser Veränderungsprozeß, der Lateinamerika in den acht-
42
Quelle: Silva 1991,407; sowie eigene Recherchen (kursiv gesetzte Namen = CIEPLAN monks).
176
ziger Jahren als ein Prozeß des painful learning erfaßt hat, bis in Einzelbiographien und an der Abfolge wissenschaftlicher Veröffentlichungen ablesbar.43 Der Neostrukturalismus ist wie der Neoliberalismus keine chilenische Schöpfung, doch ist er deutlich durch den Standort der CEPAL - Santiago - geprägt.44 Einige Beobachter gehen so weit, daß sie Chile quasi als Experimentierfeld bzw. als geeignetsten Kandidaten der neostrukturalistischen Entwicklungsstrategie ansehen. Die Stoßrichtung dieser Steuerungsideologie, die im Wahlprogramm der Concertaciön zwar enthalten, aber weniger theoretisch formuliert ist, ist an folgenden Kernpunkten zu verdeutlichen: dem Verständnis von Entwicklung als integralem Prozeß, der Reformulierung des Wachstumsmodells, dem Verständnis sozialer Gerechtigkeit sowie der Rolle des Staates.45 Entwicklung als integraler Prozeß: Damit soll - wie schon im alten CEPALISMO - der Komplexität der Entwicklungsproblematik Rechnung getragen werden, was neben makro- und mikroökonomischen Elementen auch die sozialen und politischen Strukturen sowie institutionelle, kulturelle und psychologische Faktoren einschließt.46 Betont wird die 'systemische Natur' der Wettbewerbsfähigkeit, indem Einzelunternehmen nicht als isolierte Akteure unter Profitmaximen gesehen werden, sondern als Teile eines weiter gefaßten Netzwerkes (Bildung, Technologie, Transport, Energie, Arbeitsbeziehungen). Zur Umsetzung geeigneter Strategien werden Formen der Konzertation anvisiert von gesellschaftlichen Allianzen bis hin zu nationalen Entwicklungsprojekten die die Interessen der Mehrheitssektoren widerspiegeln. Dies impliziert einen soziopolitischen Kontext, der sich durch Demokratie und größere soziale Gerechtigkeit auszeichnet.47 Wachstum ist demgemäß zwar eine notwendige, doch keine hinreichende Bedingung für Entwicklung. Da Entwicklung sich nicht in technischen und ökonomischen Dimensionen erschöpfe, sondern sich in politisch-institutionellen Kontexten vollziehe, erfordere sie ein funktionales politisches Management, das den Charakteristiken des jeweiligen Landes angemessen ist. Der neostrukturalistische Ansatz versucht deshalb, sogenannte falsche Dilemmata (importsubstituierende vs. exportorientierte Industrialisierung oder Planung/Staat vs. Markt) zu überwinden und begreift beide Regelungsmechanismen für eine effiziente Ressourcenallokation als komplementär. 8 Ein aktiver und leistungsfähiger Staat wird als notwendig für die anstehende Modifizierung des Wachstumsmodells erachtet, insbesondere für die Dynamisierung des Industrialisierungsprozesses. Allerdings soll er marktwirtschaftlich effizient wirtschaften und vor allem die einzelunternehmerischen Investitionsentscheidungen nicht in Frage stellen. 43
Einige der bereits genannten Personen spielten hierbei eine herausragende Rolle, wie Alejandro Foxley (1982; I9S8), Sergio Bitar (1988), Carlos Ominami (1989).
44
Wesentliche Trager der Debatte waren neben Foxley und Ominami vor allem Fajnzylber (CEPAL), Sunkel (CINDE/CEPAL), Bitar (CLEP1), Rosales (CEPAL) und Pinto (CEPAL).
45
Vgl. zum folgenden Thiery 1993a.
44
Vgl. Rosales 1988a, 396; Bitar 1988,48; ECLAC 1990a, 14.
4
'
41
Vgl. ebd.; Bitar 1988,48. Vgl. ECLAC 1990a, 95; Pinto 1989, 82ff.
177
Da beschleunigte Industrialisierung nach wie vor als Schlüsselfaktor angesehen wird, gilt es, die lateinamerikanische Produktions- und Technologiebasis durch Schaffung endogener Industriekerne und eines technologisch-industriellen Milieus zu stärken, um letztlich auch ein autonomes Wachstum zu ermöglichen.49 In diesem Kontext wird an das Konzept der strukturellen Heterogenität angeknüpft: Zu ihrer Überwindung ist ein Industrialisierungstyp erforderlich, der nicht nur die Diversifizierung der Produktion und eine höhere Arbeitsproduktivität vorantreibt, sondern die linkages zwischen den Produktionssektoren herstellt, die Exportstruktur diversifiziert und den Technologierückstand reduziert. Allerdings ist im Unterschied zum alten Strukturalismus strikter auf die makroökonomische Disziplin zu achten, also vom Neoliberalismus zu lernen.50 Um der nach wie vor existierenden 'asymmetrischen Interdependenz' entgegenzuwirken, kann gleichwohl nicht mehr auf Abschottung vom Weltmarkt gesetzt werden, sondern ist eine aktive, wenngleich risikogeminderte Weltmarkteingliederung gefordert.51 Reformulierung des Wachstumsmodells: Die Neudefinition des lateinamerikanischen Wachstumsmodells folgt den Maximen aktiver Eingliederung in die Weltwirtschaft, nationaler und internationaler Wettbewerbsfähigkeit und dynamischer Industrialisierung, wobei die endogenen Faktoren stark gewichtet werden.52 Für Fernando Fajnzylber, den maßgeblichen Vordenker der CEPAL in diesen Fragen, besteht der Übergang zu einem neuen Wachstumsmodell im Kern aus fiinf Faktoren: (1) im Primärsektor Übergang zu dauerhafterem Ertrag aus natürlichen Ressourcen durch Einbeziehen des technischen Fortschritts; (2) Prioritätsverschiebung vom gesamten verarbeitenden Sektor zu jenen Subsektoren, die zur Aufnahme und Verbreitung des technischen Fortschritts besonders in der Lage sind; (3) Eingliederung in die Weltwirtschaft über Produktivitätsund Wettbewerbssteigerung in spezifischen Sektoren; (4) Modifikationen öffentlicher Institutionen und Politiken mit dem Ziel, im privaten Sektor die mit den vorangegangenen Kriterien kohärenten Verhaltensweisen zu erzeugen; (5) Schaffung eines institutionellen Rahmens, der die Zusammenarbeit zwischen Regierung, Unternehmerschaft und dem Arbeitssektor begünstigt.53 Der Modus einer aktiven Integration in die Weltwirtschaft ist hier gleichbedeutend mit einer radikalen Veränderung der bislang vorherrschenden Außenhandelsstruktur der lateinamerikanischen Volkswirtschaften. Zwar wurden auch 49
Vgl. Bitar 1988,48.
50
Vgl. Ffrench-Davis 1991,38; Bitar, 47; Dietz/James 1990,204.
"
Vgl. Bitar 1988,48. Zur Charakterisierung eines solchen Modells verweist Sunkel in Anlehnung an Raul Prebisch auf Unterscheidungen zwischen den langen Phasen lateinamerikanischer Entwicklung. Ging man in den 30er Jahren vom desarrollo hacia fuera zum desarrollo hacia dentro (Iber, so zeichnet sich nach einer langen Stagnation nun ein Umbruch zu einem desarrollo desde dentro, das mehr auf die Angebots- und damit die Produktionsstruktur gerichtet ist mit den Zielen der Akkumulation, der Innovation und der Produktivitätssteigerung. Aufgrund des integralen Charakters kann die Formulierung einer angemessenen Wachstumsstrategie allerdings nicht an Einzelpunkten ansetzen, sondern muß auf den endogenen Kern technologischer Dynamisierung gerichtet sein (vgl. Sunkel 1989, 52ff.; Fajnzylber 1990,27).
32
"
Vgl. Fajnzylber 1989, 109.
178
in den 80er Jahren die Exporte noch ausgeweitet, doch verhinderten die ungünstigen terms of trade (80% des Außenhandels bestehen nach wie vor aus Rohstoffen) zumeist einen positiveren Niederschlag in den Handelsbilanzen. Aufgabe müsse daher nicht nur eine Steigerung des Umfangs sein, sondern letztlich eine Steigerung der Exportqualität und deshalb eine Veränderung in der Zusammensetzung der Exportstruktur. Denn eine notwendige höhere Wertschöpfung ist letztlich nicht - wie das gescheiterte Modell bewies - über Rohstoffexporte zu erreichen, was eine Steigerung entsprechend hochwertiger Technologiewpw/j impliziert. Ein solcher Wandel der Produktionsstrukturen erfordert allerdings mittel- bis langfristig angelegte Politiken der Außenhandels- und Investitionsförderung, für technologische Entwicklung, Ausbildung, usw.54 Für die Spezialisierung der nationalen Volkswirtschaften müssen die vorhandenen Koordinationsmechanismen gezielt in eine Politik der strukturellen Anpassung umgesetzt werden, um sogenannte 'dynamische endogene Kerne' zu ermöglichen. Demgegenüber - so die Kritik des Neostrukturalismus - wirkten die Instrumente neoliberaler Politik an den Zielen einer kontinuierlichen Strukturverbesserung und der Transformation der Produktionsstrukturen vorbei, da sie auf den vorhandenen Strukturen aufbauten und damit auf der Ausbeutung von Rohstoffen mit geringem Mehrwert sowie auf der Suche komparativer Vorteile über billige Arbeitskraft. Beides jedoch verstärke die externe Verwundbarkeit der Region und verhindert letztlich ein sich selbst tragendes Wachstum. Mit Blick auf die Schaffung einer Wandlungsdynamik sieht der Neostrukturalismus deshalb eine Strategie der Weltmarktorientierung an staatliche Steuerung und Regulierung gebunden. Soziale Gerechtigkeit - verstanden als sozialer Ausgleich (equidad bzw. equity) - gilt im Neostrukturalismus als Schlüsselfaktor jeglicher Entwicklung. Kausale Verknüpfungen werden in Richtung eines "circulo virtuoso"®5 hergestellt, der seinen Ausgangspunkt in der unterstellten Kausalbeziehung zwischen struktureller Transformation im Agrarsektor und Verbesserung der Einkommensverteilung besitzt. Größere soziale Gerechtigkeit ziehe von Austerität geprägte Konsummuster nach sich, was über höhere und effizientere Investitionen direkt das Wachstum begünstige. Wachstum wiederum erlaube über die Eingliederung neuer Ausrüstungs- und Produktgenerationen Produktivitätssteigerungen und hierüber internationale Wettbewerbsfähigkeit. Die anfangliche Erweiterung des Binnenmarktes - zunächst über den Massenkonsum einfacher Güter, die im Laufe der Produktivitätssteigerung zunehmend verfeinert werden - bilde die unersetzliche Grundlage des industriell-technologischen Lernens, das als notwendige Bedingung für die wachsende internationale Eingliederung angesehen wird.5 Werde umgekehrt die Wettbewerbsfähigkeit nicht auf technologischen Fortschritt, sondern auf komparativ vorteilhafte Niedriglöhne ge54
Vgl. Bitar 1988, 50.
"
Fajnzylber 1 9 8 9 , 9 0 .
56
Ebd.
179
gründet, so ergebe sich daraus mittelfristig erneut ein regressiver Effekt auf die Verteilungsstruktur mit nachfolgendem Wachstums- und Produktivitätsverlust.57 Indes wird die Initialwirkung eines auf Billiglohnproduktion basierenden Exportschubs nicht ausgeschlossen, sondern durchaus als sinnvoll erachtet, wie das Beispiel der ostasiatischen NICs zeigt. Für eine weitere Umsetzung in genuine Wettbewerbsfähigkeit und eine effiziente Entwicklungsstrategie sind allerdings neben redistributiven Maßnahmen eine ausreichende Nahrungs- und Gesundheitsversorgung sowie ein umfassendes Erziehungs- und Ausbildungssystem notwendig. Die Umwandlung der Produktionsstrukturen kann jedoch nicht als selbstlaufender Prozeß in Richtung soziale Gerechtigkeit angesehen werden, da die strukturelle Heterogenität kaum durch simple sp/7/-over-Effekte abgebaut werden kann. Da auch die optimistischsten Projektionen in Anbetracht der über demographische Entwicklungen sich strukturell immer weiter verfestigenden Unterbeschäftigung keine schnelle Besserung erwarten lassen, darf die Steigerung der Produktivität nicht einseitig auf moderne Sektoren beschränkt bleiben. Insbesondere der informelle Sektor muß gesondert ins Auge gefaßt werden, um ihn über Förderungsmaßnahmen intensiver in die nationalen Volkswirtschaften zu integrieren.58 Um den informellen Sektor aus seiner untergeordneten Rolle einer reinen Krisenökonomie herauszufuhren, sind entsprechende Politiken notwendig, mit denen der Staat die Dynamisierung und damit letztlich die strukturelle Verknüpfung mit der formalen Ökonomie initiiert. Als geeignete Instrumente für die angestrebte Produktivitätssteigerung und die Verbesserung der Lebensbedingungen im informellen Sektor werden die Erleichterung des Kreditzugangs, Maßnahmen zur Einkommenssteigerung, Förderung von Vermarktungsbedingungen, die verbesserte Ausrichtung sozialer Dienstleistungen auf die ärmsten Bevölkerungsgruppen bis hin zur Förderung partizipativer Elemente genannt. Mit letzterem greift das growth with equity-Konzept noch weiter in den soziopolitischen Raum ein, indem Maßnahmen zur Stärkung der Zivilgesellschaft angeregt werden sollen, wie die Förderung von Mitbestimmungsorganisationen und Selbsthilfebewegungen. Dadurch wären - bei relativ geringen Kosten für den Staat - zwei wichtige Ziele zu erreichen: Zum einen könnten sich die am wenigsten privilegierten Gruppen gegenüber den Verwaltungsagenturen des Staates größeres Gehör verschaffen, zum andern wäre ein größerer Schutz gegen private und staatliche Willkür und Diskriminierung möglich. Staat und Ordnungspolitik: Hinsichtlich der Rolle des Staates ist zunächst hervorzuheben, daß das neostrukturalistische Denken in pragmatischer Neudefinition auch ordnungspolitische Elemente aufgreift und diese an langfristigen Entwicklungszielen orientiert und begründet. Gegenüber der alten cepalinischen Staatsvision gilt nunmehr ein differenzierteres Leitbild, das dem Staat die Aufgabe einer selektiven Liberalisierung der Wirtschaft zuschreibt, also dezidierter den marktwirtschaftlichen Prinzipien breiteren Raum gibt und beide Rege"
Vgl., auch zum folgenden, ECLAC 1990a, 77ff.
"
Vgl. ebd., 79ff.
180
lungsmechanismen für eine effiziente Ressourcenallokation als komplementär begreift. Des weiteren besteht Konsens darüber, daß angesichts der Fülle zu bewältigender Krisenprobleme und neuer Aufgaben (Technologien, Umwelt) der Staat zu massivem wirtschafts- und sozialpolitischen Handeln aufgefordert ist, wenngleich unter Transformation seiner Gestalt und Neubestimmung seiner Funktionen.59 Unter den Richtlinien der Modernisierung und Effizienzsteigerung bleibt es damit sehr wohl in der Verantwortung des Staates, die geforderte strukturelle Anpassung in Richtung größerer Spezialisierung der Wirtschaft sowie langfristiger Wettbewerbsfähigkeit zu leiten.60 Wenngleich vage, so ist hierin zumindest der Ansatz einer ordnungspolitisch neu definierten Rolle des Staates angedeutet.61 Zusätzlich wird - in Auseinandersetzung mit und deutlicher Abgrenzung zu den ostasiatischen 'Erfolgsländern' - auf die lange Tradition des Staates als Unternehmer verwiesen, die nicht einfach eliminiert werden könne noch solle. Entsprechend wird das Problem staatlicher Unternehmen prinzipiell unter den Gesichtspunkten der Effizienz und marktkonformen Verhaltens beleuchtet, was notwendige institutionelle Reformen beinhaltet bis hin zu autonomerem Management. Im Kern geht es damit aus neostrukturalistischer Sicht um Vermeidung sowohl des Staats- als auch des Marktversagens, ein Spannungsfeld, in dem sich auch die ordnungspolitischen Vorstellungen der sozialen Marktwirtschaft bewegen. Allerdings kann nicht übersehen werden, daß es in weiten Teilen Lateinamerikas primär darum geht, überhaupt erst funktionierende Märkte zu schaffen oder das Problem der Oligopolbildung durch exzessive Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung zu vermeiden.62 Wie oben erwähnt, finden sich die Kernpunkte dieses crecimiento con equidad im Regierungsprogramm der Concertación wieder. Dies betrifft klarerweise nicht die spezifisch chilenischen Herausforderungen, wie sie oben benannt wurden, d.h. das besondere politische Erbe der Diktatur, sondern die Leitlinien eines Entwicklungsmodells, das die hybride Modernisierung des Neoliberalismus zu überwinden bzw. zu vervollständigen versucht (und die zwei Drittel des Programms einnehmen). Umgesetzt wurden diese Kernpunkte in vier Leitprinzipien, die die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Concertación seit 1990 anleiten sollten: Wachstum, soziale Gerechtigkeit, Partizipation und nationale Autonomie:63 • Wachstum: Als Ziel wird ein dynamisches und selbsttragendes Wirtschaftswachstum formuliert, da nur so ein dauerhafter Wohlstand für alle Sektoren der Gesellschaft erreicht und ein konfliktträchtiges Nullsummenspiel vermieden werden könne. Ein solches Wachstum solle dabei als integrierende Aufgabe gelten, die die gesellschaftlichen Interessenkonflikte zu kanalisieren "
Vgl. González 1988, 15.
60
Vgl. Bitar 1988, 59.
"
Ebd.
a
Vgl. ECLAC 1990a, 149-153.
65
Vgl. Concertación 1989, 11-34.
181
und die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu dynamisieren erlaubt. Es stellt weiterhin die notwendige Bedingung für die effektive und dauerhafte Durchführung von Politiken dar, die zu sozialer Gerechtigkeit führen sollen. Gleichwohl weist das Programm darauf hin, daß dies nur unter strikter Wahrung der makroökonomischen Gleichgewichte möglich sei und deshalb "eine schlecht konzipierte Umverteilungspolitik" 64 nur zu negativen wirtschaftlichen und sozialen Folgen führen würde. • Soziale Gerechtigkeit: Als Grundbedingung für die Verschränkung von sozialer Gerechtigkeit und Wachstum wird die Rekonstruktion 'positiver' und stabiler gesellschaftlicher Beziehungen angesehen, um nach 16 Jahren Diktatur Unsicherheit, Instabilität, Mißtrauen und Furcht innerhalb des Zusammenlebens zu beseitigen. Zu diesem Zweck sollen erstens starke demokratische Institutionen zur Regulierung von Interessenkonflikten errichtet werden. Zweitens sollen die am meisten benachteiligten Sektoren der Gesellschaft auf Dauer von einer klar definierten Sozialpolitik profitieren, die auf die Beseitigung der extremen Armut zielt, aber insgesamt als Aufgabe aller gesellschaftlichen Sektoren verstanden wird. Drittens wird die Verpflichtung ausgesprochen, daß der Staat vor allem hinsichtlich der wirtschaftlichen Entscheidungen einen langfristigen Horizont sowie klare Spielregeln (Rolle von Staat und Markt) definiert, um für ein dauerhaftes Wachstum zu sorgen. • Partizipation: Die Entfaltung der Demokratie bedarf nach Ansicht der Concertaciön der Ausweitung vielfaltiger Partizipationskanäle, um die unvermeidlich entstehenden Konflikte Kompromißlösungen zuführen zu können. Demokratie erschöpft sich in dieser Vorstellung nicht in der Stimme des Bürgers noch in der schieren Existenz demokratischer Institutionen. Als Zielperspektive wird eine 'aktive Gesellschaft' formuliert, in der erst die Selbstorganisation der sozialen Gruppen (vor allem auch der Marginalisierten) eine effektive soziale Konzertierung ermöglicht. Besondere Bedeutung wird den Mechanismen sozialer Konzertierung (i.e. Selbstregelung) gerade im Bereich der Wirtschafts- und Arbeitsbeziehungen beigemessen, sofern ausreichender Pluralismus und Legitimität vorhanden sind und die Wirtschaftspolitik der Regierung nicht unterlaufen wird. 65 • Nationale Autonomie: Diese Leitlinie besagt, daß die internationale Eingliederung der chilenischen Volkswirtschaft zwar beibehalten, aber auf der Grundlage einer größeren nationalen Autonomie angestrebt wird - allerdings im Rahmen der gegebenen weltwirtschaftlichen Bedingungen. Der autoritären Regierung wird vorgeworfen, die Öffnungspolitik unreguliert, im Sinne der internationalen Gläubiger sowie auf Kosten der Bevölkerungsmehrheit durchgeführt zu haben. Der erhöhten Verwundbarkeit ist deshalb in Zukunft mittels einer dezidierteren und eigenständigen Außenwirtschaftspolitik zu begegnen, die auf diversen Ebenen eine größere Entscheidungskapazität ge-
64
Ebd., II.
"
Vgl. ebd.
182
währleistet (Ausweitung des Handelsaustausches sowie der Produkte mit höherer Wertschöpfung, Attraktion entwicklungsförderlicher Auslandsinvestitionen, aktive Teilnahme am Technologietransfer, standhaftere, aber verläßliche Umschuldungsverhandlungen, Ausweitung der Kooperationsbeziehungen etc.). Mit diesen vier Prinzipien sollte somit nicht nur eine Entwicklungsalternative zum Neoliberalismus angesteuert werden, sondern sie sollten - neben den anvisierten politischen Reformen - auch die sozioökonomischen Grundlagen fiir die Stabilisierung und Konsolidierung der Demokratie schaffen.
1.4 Fazit Mit dem Übergang zur Demokratie hatten sich naturgemäß auch die Rahmenbedingungen der künftigen Institutionenpolitik gewandelt. An deren Notwendigkeit konnten kaum Zweifel bestehen, denn die skizzierten Modernisierungsherausforderungen stellten nicht nur objektive Problemlagen dar, sondern waren eng mit sozialen und politischen Forderungen verknüpft. Die Regierungen der Concertación unter Aylwin und (seit 1994) unter Frei waren hierbei mit einer spezifischen Mischung aus Restriktionen und Handlungschancen konfrontiert. Auf der einen Seite war ein intendierter institutioneller Wandel auf allen drei Transformationsebenen von politischen Spielregeln und faktischen Machtverhältnissen abhängig, die sich aus dem chilenischen Transitionsmodus ergaben und gerade den relevanten Reforminitiativen hohe Barrieren in den Weg legten. Auf der anderen Seite existierte, obwohl es sich faktisch um Koalitionsregierungen handelte, eine relativ kompakte strategische Staatselite mit einer kohärenten Steuerungsideologie, was durchaus Chancen für die Vervollständigung der Demokratie wie auch fiir die institutionelle Korrektur des neoliberalen Entwicklungsweges bot. Während die weitere Demokratisierung insofern als schwierig zu erachten war, als sie zumindest mittelfristig den sensiblen Kern der politischen Spielregeln, d.h. die politischen Machtverhältnisse selbst betraf, schien die sozioökonomische Strategie des crecimiento con equidad eine durchsetzbare Entwicklungsalternative zu sein. Die Frage war allerdings, inwieweit aufgrund der skizzierten Machtverhältnisse ein solches Alternativmodell auch umgesetzt werden konnte, oder ob nicht vielmehr am Ende nur die neoliberalen Elemente einer im Grunde komplexeren Entwicklungsstrategie übrigblieben.
183
2. Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsentwicklung Von den Herausforderungen, mit denen sich die Regierung Aylwin von Beginn an konfrontiert sah, zählte die Frage der Gestaltung des Wirtschaftsmodells zu den im Vorfeld am meisten diskutierten und von den Anhängern des alten Regimes inkl. der Unternehmerschaft mit größter Skepsis betrachteten issues. Denn wie oben gezeigt, hatte die unter Pinochet durchgesetzte neue Wirtschaftsordnung Teilen der chilenischen Gesellschaft zu neuer Prosperität verholfen. Daß dabei umgekehrt Teile der Mittel- und die Unterschichten hohe soziale Kosten zu tragen hatten, wurde vor allem im lateinamerikanischen Vergleich von zahlreichen Beobachtern - IWF, CEPAL - als nur vorübergehend zu akzeptierende 'soziale Schuld' betrachtet, die mittels weiterer Ausgestaltung des Erfolgsmodells behoben werden sollte. Art und Weise dieser Ausgestaltung und vor allem die Rolle des Staates dabei waren jedoch umstritten und ließen verschiedene strategische Optionen offen. Gegenüber einer 'leichtfertigen' neoliberalen Option66 formulierte die demokratische Regierung einen nicht eben bescheidenen Anspruch: "Chile hat heute nach einer langen Periode tiefgreifender Konflikte und Gegensätze die einzigartige Gelegenheit, die Grundlagen für einen neuen nationalen Konsens herzustellen, der einen gleichzeitigen Fortschritt in der stabilen Entwicklung seiner Ökonomie und in der signifikanten Verbesserung der Lebensbedingungen der am meisten benachteiligten Sektoren ermöglicht. (...) Zusammengefaßt handelt es sich darum, die Grundlagen für eine hoch kompetitive Ökonomie zu etablieren mit der Fähigkeit, eine angemessene externe Eingliederung und das Ende der Unterentwicklung zu erreichen."67
Bis heute kreisen politische und wissenschaftliche Debatten darum, ob das crecimiento con equidad überhaupt eine vom Neoliberalismus qualitativ verschiedene Entwicklungsstrategie darstellt (dies wurde oben bejaht); und zweitens, ob dieses neue Modell auch tatsächlich umgesetzt oder nicht vielmehr im politischen Alltag zur Unkenntlichkeit zerrieben wurde, d.h.: Es werden nunmehr die machbaren Teilaspekte des Alternativmodells angestrebt, so daß letztlich nur unwesentliche Modifikationen stattfinden.68 Den folgenden Ausfuhrungen zur chilenischen Wirtschaftspolitik ab 1990 liegt die zweite Perspektive und damit die Fragestellung zugrunde, ob das Ordnungsgefüge des autoritären Neoliberalismus qualitativ, und das heißt bis in die Ebenen der Wirtschafts- und Wohlfahrtsordnung hinein, verändert wurde.
u
Finanzminister Foxley skizzierte dies als Gegenbild, als er im Marz 1990 auf einer CIEPLAN-Konferenz in Santiago die Grilndzllge der zukünftigen Wirtschaftspolitik vorstellte: "Ein ausländischer Beobachter, der in dieses Land kommt, kann leicht den Eindruck gewinnen, daß sich die chilenische Wirtschaft in einer erwartungsvollen bis spektakulären Situation befindet; einige gehen sogar so weit zu sagen, daß das beste, was passieren konnte, ist, daß man nichts tut (...), um auf diese Weise die Frtlchte und Wohltaten des Wirtschaftsprozesses der letzten Jahre zu garantieren" (Foxley 1990,101).
"
Concertaciön 1989,11; vgl. auch Foxley 1995, 11 f.
61
Zu dieser 'Modell'-Diskussion vgl. Nolte 1990; Messner 1992; Imbusch 1995,22ff.
184
2.1 Market governattce oder laissez faire1 Die Strategie des crecimiento con equidad erkannte einige der grundlegenden Leistungen der neoliberalen Wirtschaftsreformen an. Dies betraf insbesondere dessen Modernisierungserfolge, die zu einem "sehr beeindruckenden öffnungsprozeß"69 gefuhrt sowie erreicht hätten, daß der Produktionsapparat funktioniere - wenngleich unter einer gestiegenen Verwundbarkeit gegenüber externen shocks. Die Übernahme wesentlicher Elemente der alten Wirtschaftsordnung betraf in erster Linie die Aufrechterhaltung einer nach außen offenen und von Privatuntemehmen getragenen Marktwirtschaft.70 Die Begrenztheit des chilenischen Marktes, der relative Erfolg der Exportorientierung sowie die Herausbildung eines dynamischen Unternehmersektors hatten auch zahlreiche frühere Kritiker davon überzeugt, diese Elemente der Wirtschaftsordnung nicht nur beizubehalten, sondern noch weiter zu stärken. Beibehalten wurde auch die Politik zur Wahrung der makroökonomischen Stabilität, die v.a. im sozialpolitischen Bereich nur graduelle Fortschritte erlauben, aber die 'populistischen Zyklen'71 vermeiden helfen sollte. Insbesondere Maßnahmen zur Inflationsbekämpfung trafen in Chile mittlerweile auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Insgesamt wurden damit die vor allem seit 1985 unter Büchi konsequent durchgesetzten Eckpfeiler der Eigentums-, Wettbewerbs- und Währungsordnung grundsätzlich beibehalten.72 Gleichwohl wurden auch Chiles "fundamentale wirtschaftliche und soziale Probleme"73 mit diesem Ordnungsgefüge in Verbindung gebracht. In bewußter Absetzung von der neoliberalen laissez faire-Strategie - die Foxley abwertend als 'Bangla Desh-Modell' klassifizierte, weil sie auf Reallohnsenkung, Rohstoffexport und Niedergang der Sozialstaatsfunktionen beruhte, das in Chile zu einer dramatischen Entkoppelung sektorieller Modernisierungsprozesse, zu sozialen Ungleichgewichten und zu Marginalisierung geführt hätte 4 - plädierte das Regierungsprogramm der Concertaciön im Prinzip für eine wieder aktivere Rolle des Staates in verschiedenen Gesellschaftsbereichen, auch wenn dabei nicht an eine Rückkehr zum Staatsinterventionismus alter Prägung gedacht war. Allerdings beinhaltete die Ausgangsdiagnose der Regierung die Perzeption eines gravierenden Steuerungsdefizits innerhalb des applizierten Modells, das mit als Ursache für die sozial und sektorial ungleichen Modernisierungsprozesse galt. Demgegenüber formulierte das Regierungsprogramm die vier oben genannten Ziele (Wachstum, soziale Gerechtigkeit, Partizipation, nationale Autonomie), die gleichzeitig als Ordnungsprinzipen für eine sozial gerechtere Entwicklung im Rahmen der Demokratie angesehen wurden. Diese vier Prinzipien, so "
Foxley 1990,107.
*
Vgl. Via! et al. 1990.
71
Vgl. Foxley 1990, II7ff.
n
Vgl. Dabrowski 1995, I06ff.
n
Concertaciön 1989, 12.
"
vgl. Foxley 1990, 105ff.
185
wiederholt das Postulat, wären nicht nur notwendige Bedingungen für die Entwicklung in der neuen demokratischen Ära, sondern sie ergänzten sich darin wechselseitig. In ihnen drückte sich der bereits erwähnte Lernprozeß von Teilen der damals oppositionellen politischen Elite Chiles aus, der in einer Strategie der Verknüpfung von Kontinuität und Wandel der elementaren Pfeiler der Wirtschaftsordnung resultierte. Bereits 1984, als Chile noch unter dem Eindruck der Regimekrise, d.h. - wie oben ausgeführt - auch der Schwäche der politischen Parteien und dem Wiedererwachen der Zivilgesellschaft stand, hatte der Christdemokrat Boeninger - unter Aylwin dann Minister der Secretaría General de la Presidencia - die Orientierungspunkte für diese Politik festgelegt. Über die ebenso bereits skizzierten Programm- und Strategiediskussionen, die in einem Grundsatzpapier zur Wirtschaftspolitik von Foxley und anderen Mitarbeitern von CIEPLAN im September 1988 - also kurz vor dem Plebiszit gegen Pinochet - einen wichtigen politischen Höhepunkt fanden, kristallisierten sich schließlich in einem umfangreichen Diskussionsprozeß die Einzelpunkte des Regierungsprogramms heraus. Zur Umsetzung dieser Grundprinzipien des crecimiento con equidad, die fortan als ordnungspolitische Leitlinien der chilenischen Wirtschaftspolitik gelten sollten, formulierte die Wirtschaftsequipe der Concertación vier Basisstrategien:75 1. Aufbau eines stabilen institutionellen Rahmens für die Entfaltung der Wirtschaftstätigkeit: Dies gilt als notwendige Bedingung für den angestrebten Prozeß des Wachstums mit größerem sozialen Ausgleich. Die Funktionsweise des Wirtschaftssystems ist danach zwar durchaus zu korrigieren, doch nur auf graduellem Wege im Bemühen, mittels jeweiliger breiter Zustimmung eine möglichst große Legitimation zu erreichen, was nicht zuletzt die Einschätzung der Machtverhältnisse und damit der eigenen Handlungspotentiale verrät. Im Kem - so ist Vial et al. zuzustimmen - wurde damit mit einem Regierungsstil gebrochen, der in Chile die drei Dekaden zuvor geherrscht hat, in denen aufgrund mangelnder Konsensfahigkeit jeweils nur ephemere Fortschritte erzielt werden konnten. D.h., daß für grundlegende Reformen ein breiter Konsens herzustellen ist, um Szenarien der Bedrohung und des Nullsummenspiels seitens der betroffenen Akteure zu vermeiden. 2. Aufrechterhaltung einer nach außen offenen Marktwirtschaft: Trotz früherer harscher Kritik an Form und Intensität der Außenöffnung des Wirtschaftssystems unter Pinochet werden die betreffenden Reformen beibehalten. Der Konsens über Verfestigung und gar Vertiefung der Eingliederung Chiles in das internationale Wirtschaftssystem war angesichts der vorherigen Kritiken sogar beträchtlich und reichte bis weit in das Lager der 'erneuerten' Linken, wie die Konzepte des Sozialisten und früheren Mitglieds des radikalen MIR, Carlos Ominami - unter Aylwin Wirtschaftsminister - zeigen.76 Demzufolge sprachen 75
Vgl. Vial etal. 1990,65f.; zur Wirtschaftsequipe der Regierung Aylwin vgl. die Abb. III.I.
76
Vgl. u.a. Ominami/Madrid 1989; Ominami 1988; 1986; Uber Ominami und die wirtschaftspolitischen Lernprozesse der sozialistischen Linken vgl. Puryear 1994, 117ff.
186
vor allem die schon erzielten Erfolge der Exportentwicklung und -diversifizierung für diese Öffnungsstrategie. Einschränkend wird jedoch betont, daß aufgrund einiger spezifischer Problempunkte des Modells (neben Umweltfragen vor allem die langfristig gefährdete Wettbewerbsfähigkeit) moderne Elemente staatlicher Regulation notwendig seien. 3. Priorität der Armutsbekämpfung: Die Diagnose der Regierung spricht hier von unzureichendem Handeln des Staates, insbesondere nach den Zerfallsprozessen im Zuge der strikten Anpassungspolitiken der 80er Jahre. Dementsprechend müsse die Staatstätigkeit auf sozialen Sektoren wieder ausgebaut werden, insbesondere in Form einer aktiveren Sozialpolitik (Erziehungs-, Gesundheits- und Rentensystem, Programme gegen extreme Armut und für Jugendliche), die zur Integration aller Schichten in den Entwicklungsprozeß führen soll (s. Kap. IV.3). 4. Makroökonomische Stabilität und gradueller sozialer Fortschritt: Mit Blick auf Erfahrungen auch aus der eigenen Geschichte wird das Syndrom der oben bereits erwähnten 'populistischen Zyklen' betont, das nach Foxley eines der wesentlichen Muster lateinamerikanischer Regierungswechsel darstellt.77 Diese wiederholt vorgetragene Warnung diente nicht nur der Erwartungsdämpfung, sondern auch als eine Art Selbstbindung an die eigenen entwicklungspolitischen Handlungsspielräume. Zur Vermeidung der 'populistischen Zyklen' wird insofern eine deutliche Prioritätensetzung vorgenommen, als Erwartungshaltungen seitens der Bevölkerung, die nach langen Jahren des Wohlstandsverlustes eher rasche soziale Veränderungen befürwortete, durch den Vorrang makroökonomischer Stabilität gemäßigt werden sollen. Das heißt u.a., daß die Sozialpolitiken an ihre Finanzierbarkeit, insbesondere an das Diktum eines ausgeglichenen Staatshaushaltes gebunden werden. Auch wird damit die Forderung an die Arbeitnehmer verbunden, eher moderate (wenngleich permanente) Lohnerhöhungen anzustreben. Andererseits bedeutete dies aber auch den Verzicht auf eine 'leichte' Legitimierungsstrategie. Von etwaigen Zielkonflikten gingen die Architekten dieser Strategie nicht aus, vielmehr wurde verschiedentlich angenommen, daß sich die Grundpfeiler wechselseitig und gewissermaßen synergetisch zu einem circulo virtuoso verstärken würden - ein angemessenes Management vorausgesetzt.78 In den Vorstellungen der Concertaciön erforderte die Umsetzung der genannten Ziele und Prinzipien eine aktivere Rolle des Staates als zuvor. Zu seinen Aufgaben zählte nunmehr, Verantwortung zu übernehmen für Wachstum, Modernisierung sowie die gerechtere Verteilung von Kosten und Nutzen des Ent77
Dieses besteht darin, daß im ersten Jahr sowohl der Initiativenreichtum der neuen Regiening als auch ihr Nachgeben gegenüber sozialen Forderungen zu einem ersten brillanten Jahr führen, das die Popularität des Präsidenten steigen und die Zufriedenheit mit der Demokratie wachsen laßt; Mitte des zweiten Jahres beginnt sich die Mine zuerst des Zentralbankpräsidenten, dann des Finanzministers zu verfinstern: Die Inflation steigt, der Staatshaushalt gerat aus dem Gleichgewicht, Projekte verzögern sich, was insgesamt zu Anpassungsgertlchten führt, denen die Regierung aber nicht nachgibt und die Entscheidung nur hinauszögert; im dritten Jahr ist die politische Krise bereits ausgebrochen, und im vierten Jahr finden Wahlen statt mit einem geschwächten Präsidenten usw. (vgl. Foxley 1990, 117f.).
71
Vgl. insbesondere Mufloz 1991.
187
wicklungsprozesses. Gefordert wurde deshalb eine fuhrende Rolle des Staates bei der Formulierung der nationalen Entwicklungsziele und der entsprechenden Umsetzungsstrategien, bei der adäquaten Regulation des Wirtschaftsprozesses bei den Bemühungen um soziale Gerechtigkeit. Hierbei wurde insbesondere betont, daß Marktsignale zwar notwendig, aber nicht hinreichend wären für eine adäquate und gesamtwirtschaftlich effiziente Ressourcenallokation. Dem Staat sollte deshalb einerseits die Aufgabe (und das 'Recht') zukommen, eine eigenständige und regulative Wirtschaftspolitik zu verfolgen, bei der der Zentralbank eine 'relative Autonomie' zusteht und die dem Privatsektor mittels Anreizinstrumenten Orientierungen vorgibt. Andererseits wurde das Recht des Staates betont, gegebenenfalls für einen dynamischeren und gleichgewichtigeren Entwicklungsprozeß eigene Wirtschaftsaktivitäten zu entfalten, ohne dabei jedoch den Privatsektor zu ersetzen oder Effizienzkriterien zu mißachten. Sowohl für letzteres als auch für die Grundelemente des neuen Ordnungsgefüges insgesamt wurden umfangreiche Konsens- und Konzertierungsprozesse angestrebt, deren Förderung gleichfalls der Staat aktiv betreiben sollte. Dahinter standen jeweils ordnungspolitische Imperative wie Transparenz, Stabilität oder Konstanz, was insbesondere in bezug auf die Eigentumsverhältnisse bzw. deren Instabilität im Verlauf der jüngeren Geschichte betont wurde. Fortan sollten Verstaatlichung oder Privatisierung von Unternehmen nur durchgeführt werden, wenn hierfür ein breiter nationaler Konsens (im Parlament) bestand.79 Mit diesen Zielsetzungen hatte sich die neue strategische Staatselite somit zwar für eine freie und offene Marktwirtschaft entschieden, die auf den Reformen der Ära Pinochet aufbauen konnte. Allerdings erachtete sie eine stärkere market governartce für notwendig, um den wirtschaftlichen Entwicklungsprozeß produktiver gestalten zu können.
2.2 Stabilisierung und Konsolidierung der Wirtschaftsordnung Gemäß ihren Steuerungszielen bestand für die neue Regierung eine erste Aufgabe darin, sowohl die zuvor autoritär abgesicherten als auch die intendierten neuen Elemente der Wirtschaftsordnung auf eine geeignete Legitimationsgrundlage zu stellen, um sowohl Stabilität als auch Glaubwürdigkeit zu gewährleisten (1). Darüber hinaus war diesen beiden Erfordernissen auch mittels einer konsistenten Politik makroökonomischer Stabilität zu begegnen (2) und die Konsolidierung der Wirtschaftsordnung voranzutreiben (3). (1) Die Konsensualisierung der Wirtschaftsordnung stellte die dringlichste Steuerungsaufgabe der neuen Regierung dar und sollte außer Stabilität und Glaubwürdigkeit quasi als Nebeneffekt auch die eigene Handlungsfähigkeit demonstrieren. Die Problemkonstellation war vor allem durch drei Eckpunkte markiert: ™ Vgl. Concertaciön 1989, 13.
188
• Trotz des oben skizzierten Positionswandels der Wirtschaftsexperten der Concertaciön war bei weiten Teilen der Unternehmerschaft das Mißtrauen vorhanden, daß mit dem Antritt der Mitte-Links-Koalition wieder Oszillationen in der Ordnungs- und Wirtschaftspolitik auftreten könnten. Dies wurde insbesondere während des Wahlkampfes von Seiten der Rechten massiv geschürt, die - auch unter dem Eindruck ihrer eigenen Schwäche - vor einem Rückfall in den Interventionsstaat warnten.80 Demgegenüber bestand allerdings ein geringeres Konfliktpotential mit den Verbänden der Unternehmer, die aufgrund der Kontakte während des Transitionsprozesses eine genauere Kenntnis der wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Concertaciön besaßen. • Bedeutsamer war insofern die Frage, inwieweit die Arbeiterschaft bzw. ihre Repräsentanten auf die 'neue' Wirtschaftsordnung verpflichtet werden konnten. Wie oben ausgeführt, waren die massiven Reallohnsenkungen in Verbindung mit dem Abbau gewerkschaftlicher Rechte einer der Grundpfeiler des chilenischen Wirtschaftswachstums in den 80er Jahren. Auch den Wirtschaftsexperten der Regierung war klar, daß diese Bedingungen nicht unmodifiziert aufrecht erhalten werden konnten, die von den Gewerkschaften wiederholt als capitalismo salvaje gebrandmarkt wurden. • Für die Regierung stand zusätzlich auf dem Spiel, daß sie erstens die Handlungsfähigkeit einer demokratischen Regierung als solche nachweisen mußte; daß sie sich zweitens als Autorität in Wirtschaftsfragen zu erweisen hatte (wenngleich mit dem restringierten Rollenverständnis der Entwicklungsstrategie); und daß drittens dennoch der Handlungsraum für Modifikationen der Wirtschaftsordnung nicht gleich mit Amtsantritt definitiv wieder geschlossen wurde, sondern die Perspektive dynamischer Anpassung - und damit ihre Position einer relativen Autonomie - offen blieb. Unter Gesichtspunkten der Steuerung im Hinblick auf eine weitgehende Konsensualisierung stellten die beiden letztgenannten Aspekte die eigentlich bedeutsamen dar. Denn die chilenische Transition war in diesen Punkten bereits abgeschlossen, betraf also weder die von O'Donnell und Schmitter skizzierte typische Akteurskonstellation81 noch die grundlegenden Fragen der Wirtschaftsordnung (im Gegensatz etwa zur Situation in Argentinien beim Amtsantritt von Präsident Alfonsin82). Ausschlaggebend war jedoch vor allem die grundlegende Koinzidenz in Fragen der Wirtschaftsordnung, über die die politischen bzw. programmatischen Äußerungen der Concertaciön nie hatten Zweifel aufkommen lassen. Insofern ist das erste Problem darauf zu reduzieren, daß sich die Unternehmer präventiv eine maximalistische Position sichern wollten, um eventuellen Unsicherheiten bei einem aufkommenden, gleichwohl nur partiellen "
Vgl. Montero 1993, 55.
"
Diese Konstellation besagt - in den Metaphern eines Schachspiels daß es in Transitionsphasen gewissermaßen tabu ist, sowohl den KOnig (Unternehmer und ihre Eigentumsrechte) als auch die Dame (das Militär) zu nehmen (vgl. O'Donnell/Schmitter 1986,69). Zur sogenannten 'keynesianischen Illusion' wahrend der ersten Phase der Regierung Alfonsin vgl. Birle 1995, 22«ff.
"
189
Nullsummenspiel aus der Position der Stärke begegnen zu können.83 Die Steuerungsaufgabe bestand hier somit darin, möglichst schnell die für die weitere Politikentwicklung notwendige grundlegende Konzertierung zwischen allen Beteiligten herzustellen. Zu vermeiden war somit nicht eine grundlegende Obstruktionspolitik der Unternehmer, sondern es ging darum, daß sie auch positiv das Spiel der Regierung mitspielten, ergo kooperierten und sich nicht abwartend verhielten, wie dies eine Zeitlang der Fall war (Zurückhalten von Investitionen seitens eines Teils der Unternehmer). Notwendige Bedingung für die Konsolidierung der grundlegenden ordnungspolitischen Muster war somit die Verständigung zwischen den zwei bzw. drei im Spiel befindlichen Akteuren, sprich: Gewerkschaften und Unternehmern sowie Staat (i.e. in diesem Falle die Regierung). Die Phase bis zum Antritt der demokratischen Regierung war gekennzeichnet durch eine Art Minimalkonsens, der auf der Akzeptanz des neuen politischen Szenarios beruhte.84 In diesem Klima waren die sozialen Akteure bereit bzw. gezwungen, sowohl die eigenen Ziele als auch Kompromißlinien zu definieren, um für die anstehenden bargaining-Prozesse gerüstet zu sein. Dies resultierte nach ersten Annäherungsprozessen bald in diversen Abkommen, die unter das Etikett der sozialen Konzertierung gefaßt werden. Sie sind im Kern in zwei Kategorien zu unterteilen: einerseits Abkommen zwischen den beiden sozialen Akteuren selbst, andererseits die 'tripartistischen' Abkommen unter Einschluß des Staates im Hinblick auf die für alle drei Akteure relevanten Handlungskorridore. Bereits vor dem Amtsantritt von Präsident Aylwin begannen Unternehmer und Gewerkschaften (d.h. in diesem Fall die nationale Gewerkschaftszentrale CUT) den im Programm der Concertaciön definierten Handlungskorridor zu akzeptieren und ihrerseits weitergehende Verständigungsprozesse in Gang zu setzen - sprich: von der Selbstverständigungsebene zur noch ungewohnten Interaktionsebene zu gelangen. Bereits hierin drückte sich eine Art wechselseitiger 'Lernprozeß' aus, indem die sozialen Akteure einen Handlungsrahmen annehmen, den die neue strategische Staatselite entworfen hatte. Dies führte quasi in einem Akt des Sich-Einlassens auf nur prospektiv verläßliche Spielregeln - zu einer ersten Gesprächsrunde mit anschließender gemeinsamer Erklärung seitens der Gewerkschaftszentrale CUT und dem Unternehmerdachverband CPC am 21. Dezember 1989, also nur eine Woche nach den von Aylwin gewonnenen Präsidentschaftswahlen.85 Nach über 16 Jahren unterbrochener Beziehungen begann mit der Aufnahme dieses Dialogs ein Konzertierungspro-
13
Vgl. Montero 1993,54.
u
Zu den Unternehmein vgl. ebd., 55.
"
Vgl. CIASI 1990a, 7ff. Neben den beiden Präsidenten - Manuel Bustos (CUT) und Manuel Feliü (CPC) unterzeichneten auch die Präsidenten der Nationalen Handelskammer und der Arbeitgeberverbände aus den Sektoren Landwirtschaft (SNA), Industrie (SOFOFA), Bergbau (SONAMI), Banken und Finanz (ABIF) und Bauwesen (CCC); komplettiert wurde die Runde der Unterzeichner durch den Generalsekretär der CUT (vgl. ebd. 8f.).
190
zeß, der am 31.1.1990 einen ersten Höhepunkt fand in der Unterzeichnung des Marco de Referenda para el Diälogo,86 Diese auf Initiative der Unternehmer zustande gekommene erste Konzertierungsrunde diente dazu, die Erwartungen im Hinblick auf das zukünftige Verhalten wechselseitig auszuloten und zu definieren, oder anders ausgedrückt: unerwartete Aktionen zu kontrollieren oder auszuschließen. In der Erklärung vom 21.12.1989 wurde die wechselseitige Anerkennung der beiden sozialen Akteure sowohl als Agenten der nationalen Entwicklung ('Gemeinwohl') wie auch als legitime Vertreter ihrer jeweiligen Klientel betont. Darüber hinaus wurden auch konkrete organisatorische Punkte für das weitere Procedere vereinbart.87 Der Marco de Referenda vom 31.1.1990, den Vertreter von CUT und CPC unterzeichneten, konkretisierte diese erste Absichtserklärung in weitergehenden 'vertrauensbildenden Maßnahmen'. Diese widmeten sich in erster Linie jenen Unsicherheitsfaktoren, die in der Vergangenheit die Beziehungen zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern belastet hatten. Die Beteiligten stimmten darin überein, daß eine dauerhafte wirtschaftliche Entwicklung des Landes mit Wachstum, der Eroberung internationaler Märkte, der Steigerung der Sparquote, nationalen und ausländischen Investitionen sowie einem Anwachsen der Beschäftigung und der Löhne einherginge. Gleichermaßen bestand Konsens über das Recht auf Eigentum und das Recht auf Arbeit, über die Rolle des Privatuntemehmens als wichtigstem Agenten der Entwicklung sowie über die Aufgabe des Staates, für die 'oberste Wirtschaftsführung' (i.e. insbesondere Stabilität und Gleichgewicht der makroökonomischen Variablen) und den geeigneten institutionellen Rahmen für die nationalen Entwicklungsziele zu sorgen. Hervorgehoben wurde auch das wechselseitige Vertrauen in die Funktionsfahigkeit des Marktes, wenngleich der Staat Sorge zu tragen hat für Chancengleichheit, Schutz der Schwachen und Armutsbekämpfung. Dieser Marco de Referenda zwischen CUT und CPC bestätigte die Regierung in ihrer Strategie der sozialen Konzertierung mit Blick auf die wirtschaftsund sozialpolitischen Vorhaben und ließ sie ihre Bemühungen um eine dreiseitige Konzertierung intensivieren. In seiner Rede zur Amtsübernahme rief Aylwin CPC und CUT dazu auf, den Marco de Referenda weiter zu vertiefen. Die Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsminister wurden angewiesen, die Ausarbeitung und Unterzeichnung eines neuen Abkommens zwischen den nunmehr drei Seiten zu beschleunigen. Trotz einiger Unstimmigkeiten resultierte daraus rasch ein erstes Rahmenabkommen (Acuerdo Marco) zwischen CUT, CPC und Regierung, signiert am 27.4.1990. Inhaltlich orientierte sich dieses Abkommen am Marco de Referenda, doch wurde ausdrücklich als weiteres Ziel benannt, ein Gleichgewicht zwischen Entwicklung, sozialem Ausgleich und Demokratie herzustellen. Damit schloß sich vorerst der Kreis des wechselseitigen Abstek*
Vgl. ebd., llff.
"
Diese betrafen z.B. die Bildung von Kommissionen bis hin zur Festlegung regelmäßiger Treffen ("Die Repräsentanten von CUT und CPC treffen sich jeden dritten Donneistag im Monat um 9.00 Uhr an Orten, die sie im gemeinsamen Einvernehmen bestimmen."; zit. nach ebd., 8).
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kens der Spielregeln für ein zukünftiges Verhältnis zwischen den drei Parteien. Ihre Tragfähigkeit mußte sich spätestens bei der Reform der Arbeitsgesetzgebung zeigen. Die Relevanz und Verbindlichkeit dieser Abkommen wurde wiederholt bezweifelt, da sie zum einen nur allgemeine Absichtserklärungen beinhalteten und zum andern der Repräsentationsgrad von CPC und CUT sehr niedrig war. In der Tat sind erstens nur wenige konkrete Beschlüsse gefaßt worden (Bildung paritätisch besetzter Kommissionen, Unterstützung für die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns und verschiedener Sozialtransfers über eine Steuerreform, Bekräftigung des Willens zum Dialog); und zweitens bekräftigten die Abkommen ein Entwicklungsmodell, dessen Grundpfeiler starke Kontinuitäten zum autoritären Neoliberalismus aufwiesen (Weltmarktöffnung, starke Rolle des Privatunternehmers). Auch ist richtig, daß weder CUT noch CPC unbesehen als Sprecher ihrer jeweiligen Gesamtklientel eingestuft werden können: Der gewerkschaftliche Organisationsgrad lag 1989 bei ca. 11%, während auch der Unternehmerdachverband nur einen quantitativ geringen Teil der Unternehmer 89
repräsentierte. Aus der Sicht der Regierung besaß jedoch der Konzertierungsprozeß als solcher, also unabhängig von den konkreten Beschlüssen, einen Wert an sich, da er eine notwendige Bedingung für ihre weitere Strategie in zwei wichtigen Politikbereichen darstellte: Zum einen war mit der gemeinsamen Anerkennung der Grundpfeiler des Entwicklungsmodells die Basis und der Handlungskorridor geschaffen worden für die geplanten Reformvorhaben (Arbeitsgesetzgebung, Steuerreform), zum andern wurden die Eckpfeiler des anvisierten Dreiecksverhältnisses zwischen Staat, Unternehmern und Gewerkschaften markiert. Denn im Unterschied etwa zu den bis 1970 existierenden Beziehungsmustern strebte die Concertaciön ein Modell an, das eher dem Fraenkel'schen Pluralismus als korporatistischen Beziehungsmustern entspricht und dessen Kern darin besteht, sowohl die relative Autonomie des Staates als auch die Autonomie der Interessengruppen zu stärken. Letzteres beinhaltet sowohl die weitestgehende Eigenzuständigkeit der Interessengruppen für die Regelung ihrer (konfliktträchtigen) Beziehungen als auch die Aufgabe des Staates, für eine adäquate Waffengleichheit zwischen den Akteuren zu sorgen. Beide Ziele setzten unter den gegebenen Bedingungen ein hohes Maß an Konsens voraus, um zu funktionierenden, d.h. zu von beiden sozialen Akteuren auch anerkannten Spielregeln zu gelangen.90 Insofern war es für die Regierung nur am Rande von Bedeutung, mit dem Acuerdo Marco auch verbindliche Beschlüsse zu Einzelmaterien zu fassen, von denen die Erhöhung des Mindestlohns um 44% sicherlich der bedeutsamste war.91 Auch hätte die Ausweitung des Abkommens auf weitere Materien inso" " 90
"
Vgl. Imbusch 1995,402. Vgl. Rojas 1994,252; Imbusch 1995,405. Vgl. Concertaciön 1989, 25f.; auf die hier genannten Programmpunkte wird unten bei der Reform der Arbeitsgesetzgebung en detail eingegangen. Der Mindestlohn war in den 80er Jahren noch stärker als die Durchschnittslöhne gefallen und lag 1990 bei ca. 80 US$. Der Empfängerkreis umfaßte ca 11% der arbeitenden Bevölkerung.
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fern einen Rückschritt hinter - zumindest teilweise - erreichte Modernisierungsstandards bedeutet, als solche Verfahren wieder einen mehr korporatistischen Modus der Politikproduktion eingeführt und somit die noch wenig gefestigte Autonomie der Akteurssysteme beeinträchtigt hätten. Vereinfacht ausgedrückt, entsprach dem Beharren der sozialen Akteure auf Autonomie - das seitens der Gewerkschaften gewiß schwächer ausgeprägt war als bei den Unternehmern - das Bestreben der Regierung, sich das Gesetz politischen Handelns nicht aus der Hand nehmen zu lassen und - auch mit Blick auf die weiteren politischen Vorhaben - auf die eigene Handlungsautonomie zu achten. Das Zustandekommen der Konzertierungen ist deshalb als Erfolg oder zumindest als Bestätigung der Strategie der Regierung anzusehen. Hierbei ist es auch von eher geringer Bedeutung, daß weder CUT noch CPC einen hohen Repräsentationsgrad erreicht hatten. Denn einerseits spielt dieser bei der Etablierung und Aufrechterhaltung des anvisierten pluralistischen statt korporatistischen Dreiecksverhältnisses keine Rolle, da keine konkurrierenden Organisationen bestanden und bestehen. Andererseits war damit gleichzeitig impliziert, daß sowohl CUT als auch CPC zumindest eine Art diffuser Legitimation besaßen, da ihre jeweilige Sprecherrolle weder im eigenen Lager noch in der Öffentlichkeit in Frage gestellt wurde. Insofern ist davon auszugehen, daß die Abkommen explizit die Konsensualisierung des Entwicklungsmodells und damit der Wirtschaftsordnung beinhalteten, zumal sie sowohl von Seiten der Unternehmer wie der Gewerkschaften positiv bewertet wurden - wenngleich mit unterschiedlichen Akzentsetzungen und Erwartungshaltungen ftir die Zukunft.92 Dies gilt auch unter der Einschränkung, daß zwischen den sozialen Akteuren noch keine Waffengleichheit bestand und somit die Erwartungssicherheit noch eingeschränkt war. Gleichwohl war damit nicht die Frage beantwortet, wie stabil und dauerhaft dieser Konsens sein würde. Insbesondere wenn man berücksichtigt, daß mit dem Näherrücken des Endes der Amtszeit von Präsident Aylwin für die Gewerkschaften auch die Phase des relativen Stillhalteabkommens endete, war zu erwarten, daß unter Umständen die Karten neu gemischt würden. Denn die Bedingungen des Zustandekommens der acuerdos sowie die darin festgelegten Inhalte sind auch Ausdruck der Machtverhältnisse zwischen Unternehmern und Gewerkschaften, wie sie sich unter der Diktatur herausgebildet hatten. Auf diese Frage ist bei der Analyse der Arbeitsbeziehungen zurückzukommen. (2) Das Management der makroökonomischen Stabilität stellte einen weiteren Test der Handlungsfähigkeit der demokratischen Regierung und damit auch für die Wirtschaftsordnung dar. Erstens ging es darum, unter den schwierigeren Steuerungsbedingungen die makroökonomische Stabilität rein technisch zu gewährleisten und somit die institutionell vorgegebene Rolle - auch unter eventuell auftretenden Zielkonflikten - auszufüllen. Zweitens galt es, Handlungsfähigkeit insofern zu demonstrieren, als die Regierung mittelfristig ihr eigenes 91
Zu den Gewerkschaften vgl. CUT 1990; CIASI 1990b; zu den Unternehmern vgl. Abramo/Espinosa 1992, 28.
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Programm verfolgte und nicht dem Druck der einen oder anderen Seite nachgab. Entsprechend formulierte Foxley: "Wenn eine Volkswirtschaft den Test des Fiskalgleichgewichts besteht, dann lernen die gesellschaftlichen Akteure, die Autorität der Regierung zu respektieren, und der Privatsektor zeigt Bereitschaft zu investieren."93 Neben der makroökonomischen Stabilität als solcher ging es Foxley ergo auch um eine größtmögliche Kohärenz des staatlichen Handelns, um dadurch die Wirtschaftsordnung selbst zu stabilisieren. Der Nachweis, daß auch unter einer demokratischen Regierung eine effiziente, teils 'anti-populistische' Stabilitätspolitik durchgeführt werden könnte, wurde von der Wirtschaftsequipe entsprechend sehr hoch eingeschätzt. In der Praxis äußerte sich dies darin, daß die 'makroökonomische Politik' zum zentralen wirtschaftspolitischen Instrument der Regierung Aylwin wurde, um die eigene Wirtschaftsstrategie umzusetzen.94 Der Regierung ging es somit nicht nur um Stabilität der makroökonomischen Variablen als solche, vielmehr gingen die Experten der Concertaciön von konkreten Vorstellungen hinsichtlich der Steuerungsziele aus: So wurde zu Beginn der Periode als mittelfristiges Ziel festgelegt, daß die Wirtschaft dauerhaft um 5 bis 6% wachsen sollte, während gleichzeitig die Inflation graduell, aber permanent zu reduzieren war. Ihrer Ansicht nach war ein höheres Wachstum unvereinbar mit der Kontrolle der Inflation, da die Investitionsrate in Chile noch zu niedrig war - eine These, die wiederholt aus Kreisen der Unternehmer und der Rechten bestritten wurde, die weitaus höhere Wachstumsraten für möglich und wünschenswert hielten.95 Dennoch hielten die Wirtschafts- und Finanzminister in Kooperation mit der Zentralbank sowohl während der Amtszeit Aylwins als auch unter den ersten beiden Jahren der Regierung Frei am Ziel des relativ 'moderaten' Wachstums fest. Nach den Vorstellungen der Regierung war dies die notwendige Bedingung für eine graduelle Umverteilung des gesellschaftlichen surplus hin zu den ärmeren Sektoren und damit zu einer mehr von Gleichheit geprägten Entwicklung. Motor dieses Wachstums sollte gleichwohl der Exportsektor bleiben, was von der Wirtschaftsequipe gleichzeitig das Management eines stabilen, auf hohem Niveau befindlichen Wechselkurses erforderte. Es wurde bereits darauf verwiesen, daß hier - insbesondere in bezug auf die notwendige Steigerung der Kapitalbildung - der Privatsektor die treibende Kraft spielen sollte, weshalb die oben skizzierten 'vertrauensbildenden Maßnahmen' zwischen Regierung und Unternehmern eine zentrale Rolle spielten. Dabei wurde diese Politik als 'neutrale', technisch adäquate und dem ökonomischen common sense entsprechende Politik verstanden.96 Von den makroökonomischen Daten her ist den Regierun"
Foxley 1991 (zit. n. Petras 1994, 108); anders als Petras, der hierin lediglich Disziplinierungsmaßnahmen für soziale Fordeningen der Bevölkerung sieht, bezieht Foxley seine Äußerung auch auf die Unternehmerschaft (vgl. hierzu die folgenden Ausführungen zu den Anpassungspolitiken, zum Management des Wechselkurses sowie zur Steuerreform und der Reform der Arbeitsgesetzgebung).
**
Vgl. Mufloz/Celedón 1993, 112; Kritiker sprechen gar davon, daß die Regierung eine "enthusiastische Sicherstellung des makroökonomischen Gleichgewichts" (Petras 1994, 108) betrieben habe.
"
Zu diesen wiederholt vorgetragenen Fordeningen vgl. Mufloz/Celedón 1993, 116f.
*
Vgl. ebd., 113; Petras 1994, 108.
194
gen Aylwin und Frei zu konzedieren, daß sie ihren Zielvorstellungen entsprechend erfolgreich waren (s. Kap. III.2.5). Selbstredend konstatieren die Protagonisten, daß diese Erfolge aufgrund ihrer Politik zustande kamen, während vor allem die chilenische Rechte proklamiert, dies sei trotz dieser Politik erreicht worden. Vor dieser Analyse der Wirtschaftspolitik ist jedoch eine Klärung hinsichtlich des Steuerungsakteurs und seiner Handlungsspielräume erforderlich. Die wissenschaftlichen Analysen, die die (wirtschafts-)politische Entwicklung der letzten Jahre begleiten, sprechen im Hinblick auf den staatlichen wirtschaftspolitischen Akteur häufig von den autoridades económicas ('Wirtschaftsautoritäten') und klären damit nicht, ob es sich im jeweiligen Fall um die Regierung oder die Zentralbank handelt.97 Dies wiederum ist Ausdruck der seit 1990 besonderen Konstellation, daß offenkundig eine große Interessenkonkordanz zwischen Regierung und Zentralbank bestand, die nicht genau erkennen läßt, wie groß der Grad der Autonomie der erst im letzten Jahr Pinochets unabhängig gewordenen Zentralbank de facto ist.98 Gestützt wurde diese Konkordanz dadurch, daß einige Schlüsselpositionen innerhalb der Zentralbank mit regierungstreuen Persönlichkeiten besetzt werden konnten, so vor allem die Position des Zentralbankchefs mit Andres Bianchi (zuvor bei der CEPAL; ab 1992 Roberto Zahler; seit 1996 Carlos Massad) und die Position des Leiters der Forschungsabteilung mit dem renommierten Ökonomen Ricardo Ffrench-Davis, einem CIEPLAN-mo«*.99 Die Erfahrungen mit einer derart autonomen Schlüsselinstitution der Wirt-' schaftsordnung sind sicherlich zu kurz, um weitreichende Schlüsse hinsichtlich ihrer eigenständigen Rolle zu ziehen, wie prominente Vertreter des Banco Central selbst betonen.100 Dennoch - und dies verkennen Autoren wie Petras, die die Zentralbank als Unterorganisation der Regierung behandeln101 - täuscht die Interessenkonkordanz über die faktische Autonomie der Zentralbank hinweg. Denn auch wenn die Autonomisierung der Zentralbank ein geschickter Schachzug Pinochets gewesen war, so wird innerhalb der Zentralbank unabhängig von der politischen Couleur von - notwendigerweise - unterschiedlichen Rationali97
n
Auch James Petras, einer der renommiertesten Kritiker der chilenischen Entwicklung vor und nach 1990, spricht lediglich von 'enger Koordination' (vgl. ebd., 11 Off) zwischen Regierung und Zentralbank, ohne die Verbindungslinien und etwaige Interessendivergenzen zu thematisieren. Pinochet hatte im Oktober 1989 per Organgesetz die I92S gegründete Zentralbank in eine autonome Institution umgewandelt, um ein zusatzliches Bollwerk gegen ein mögliches Zurückdrehen seiner Wirtschaftsreformen zu errichten. Zwar war die Autonomie schon in der Verfassung von 1980 vorgesehen, doch - wie Vertreter der Zentralbank hervorheben - widersprach eine Einsetzung per Verfassungsorgangesetz der politischen Logik des autoritären Regimes (vgl. Eyzaguirre/Vergara 1993,340).
99
Die Forschungsabteilung (División de Estudios) berät u.a. den Zentralbankrat in seinen wirtschaftspolitischen Entscheidungen und ist maßgeblich verantwortlich für Evaluierung und Projektion der makroOkonomischen Entwicklung (vgl. Le Fort 1994,1736).
100
Vgl. Eyzaguirre/Vergara 1993.
"" Petras analysiert durchaus korrekt, daß die Zentralbank zur Stützung des Wechselkurses im Jahr 1991 horrende Summen 'verbrannt' hat (en detail s. weiter unten); er unterliegt jedoch der inigen Ansicht, diese Gelder (immerhin ca. 200 Mio. USS) hatten der Regierung fi)r soziale Zwecke zur Verfügung gestellt werden können. Hierzu ist die Zentralbank nicht befugt, da sie per Gesetz der Regierung keine Gelder zur Finanzierung öffentlicher Ausgaben zur Verfügung stellen darf - ausgenommen im Kriegsfall (Zentralbankgesetz LOC 19041, Art. 27).
195
täten ausgegangen: Während die Wirtschaftsequipe der Regierung zusätzlich einer politischen Logik unterliegt, die kurzfristige und konjunkturelle Orientierungen erfordere (Lohnentwicklung u.ä.), obliegt es dem Banco Central, auf die langfristige und gegebenenfalls unpopuläre Stabilitätspolitik zu achten.102 Solche Brüche traten jedoch bis 1995 nicht auf, da Foxley und zunächst auch Aninat mit der Zentralbank in punkto Inflationsbekämpfung auf einer Linie lagen. Erst 1995 traten zunehmend Differenzen zwischen Finanzminister und Zentralbank auf, wie insbesondere im November anläßlich der geplanten Lohnerhöhungen im öffentlichen Sektor um 11%, die Vertreter des BC zu bis dato ungewöhnlicher Kritik veranlaßten. Dies wurde in Wirtschaftskreisen als ein Anzeichen für eine sich möglicherweise konsolidierende Autonomie beider Institutionen gewertet.103 Faktisch ist diese Autonomie allerdings dadurch eingeschränkt, daß die Zentralbank seit den Rettungsaktionen im Zuge der Wirtschaftskrise ab 1982 mit einem permanenten Defizit von ca. 2% des BSP belastet ist, zu dessen Finanzierung sie - neben eigenen Operationen - auf zusätzliche Staatsgelder angewiesen ist. Dies macht sie vom Willen der Regierung abhängig und eröffnet dieser einige Einflußmöglichkeiten auf die Politik der Zentralbank.104 Unter den genannten Vorzeichen hatte die Regierung Aylwin relativ günstige Handlungsbedingungen, um steuernd auf die angestrebten Stabilisierungsziele hinzuwirken. Dies zeigte sich sowohl in der Sicherung der Geldwertstabilität, der dringlichsten Aufgabe der Anpassungspolitik des Jahres 1990, als auch hinsichtlich der Stabilität des Wechselkurses, die sich in den folgenden Jahren als weitaus problematischer erwies. Zur Anpassungspolitik des Jahres 1990 sah sich die Regierung gezwungen, weil die Wirtschaftspolitik Pinochets der Jahre 1988 und 1989 zu einer überhitzten Konjunktur geführt hatte, die das Ziel der Inflationskontrolle in Frage stellte: Die Preissteigerungsrate war im letzten Quartal 1989 auf 30% hochgeschnellt - mit steigender Tendenz. Die Zentralbank hatte deshalb bereits vor Amtsantritt Aylwins interveniert, indem sie über die sukzessive Erhöhung der Zinssätze (für kurzfristige Kredite von 6 auf 13,3%) die Geldmenge reduzierte und so auf eine Drosselung von Importen und Inflation hinwirkte. Diese Politik wurde von der Regierung in Absprache mit der Zentralbank ab April 1990 fortgeführt, wobei sie jedoch mit zusätzlichem Inflationsdruck konfrontiert war, der aus der politisch gewollten und durchgesetzten Erhöhung der Mindestlöhne, dem gestiegenen Ölpreis im Zuge der Golfkrise sowie der bereits beträchtlichen Differenz zwischen nationalen und internationalen Zinssätzen resultierte.105 Anstatt zu den Mitteln zu greifen, die die Anpassungspolitiken unter Pinochet bestimmt hatten, setzten Regierung und Zentralbank eine Kombination restriktiver geld- und haushaltspolitischer MaßIM
Vgl. Eyzaguirre/Vergara 1993; Larrailaga 1991, 123ff.
105
Vgl. Estrategia 27.11.1995.
IM
Zu den darin liegenden Handlungs- und Konfliktszenarien vgl. Larrailaga 1991.
105
Dies verursachte einen wachsenden Zustrom spekulativen Kapitals, was die Zentralbank, um den Wechselkurs zu stützen, zum Aufkaufen von Dollars und damit faktisch zur Geldemission zwang.
196
nahmen ein, mit der die gewünschten Ergebnisse relativ rasch erzielt wurden. Zwar fiel die Wachstumsrate 1990 auf nur noch 3,3%, doch konnte die Inflation auf 27,3% gebremst und das Außenhandelsgleichgewicht wiederhergestellt werden. Der negative Effekt auf Reallöhne, Arbeitslosigkeit und Investitionen blieb dagegen weitgehend aus.106 Weitaus schwieriger gestaltete sich das Management eines stabilen und hohen, also für die Entwicklungsstrategie von Exportexpansion und Importsubstitution essentiellen Wechselkurses bei gleichzeitiger Kontrolle über externe shocks und Inflation. Insbesondere der massive Kapitalzufluß, der aus einer Kombination wirtschaftlicher und politischer Variablen resultierte, verringerte die Kapazität der Regierung, ihre Geldpolitik unabhängig von externen Ereignissen zu gestalten. Ffrench-Davis/Labán skizzieren die Dilemmata der Wirtschaftspolitik folgendermaßen:107 • Das erste Dilemma besteht darin, daß im Falle eines konstatierten Aufwertungsdrucks differenziert werden muß zwischen permanenten Tendenzen, die aus dem (angestrebten) Produktivitätswandel sowie der Entschärfung der Verschuldungssituation resultieren, sowie konjunkturellen Phänomenen, die es als kurzfristige externe shocks zu vermeiden bzw. aufzufangen gilt. • Das zweite Dilemma resultiert daraus, daß ein Zielkonflikt auftreten kann zwischen Wettbewerbsfähigkeit und der Wahrung der makroökonomischen Stabilität. Während ersteres zur Sicherung des exportfreundlichen Wechselkurses die Kontrolle kurzfristiger Kapitalzuflüsse und damit eine Angleichung der nationalen und internationalen Zinssätze erfordert - im vorliegenden Fall also eine Senkung der chilenischen Zinssätze - , ist für die Sicherung der wirtschaftlichen Stabilität insbesondere die Inflationskontrolle und damit eine Erhöhung der Zinssätze vonnöten. Im Gegensatz zu den übrigen Ländern Lateinamerikas ist festzuhalten, daß sich diese Dilemmata und damit die schwierigeren Steuerungsbedingungen zum Großteil aus dem Erfolg des chilenischen Wirtschaftsmodells ergaben. Insbesondere die gestiegene Integration in die internationalen Finanzmärkte trug zusammen mit den erfolgreichen Umschuldungsverhandlungen, dem niedrigen Risikograd für ausländische Investoren sowie der ökonomischen und politischen Stabilität - dazu bei, daß massiv Kapital nach Chile strömte. Bereits 1990 brachte der Dollarüberfluß Regierung und Zentralbank in das zweite Dilemma: Die Nettokapitalzuflüsse hielten unvermindert stark an (1990: ca. 3 Mrd. US$) und übten permanenten Druck auf den Wechselkurs aus. Angesichts dieses Dilemmas entschieden sich die Experten in Regierung und Zentralbank, die Triebkräfte in transitorischen Faktoren zu lokalisieren (ungewöhnlich hohe Zinssätze in den USA, außergewöhnlich hoher Kupferpreis auf dem Weltmarkt). Ab 1991 betrieben sie deshalb ein Anpassungsmanagement, das folgende Maßnahmen umfaßte:108 106
Vgl. Ffrench-Davis/Labán 1995,69.
107
Vgl. ebd., 63.
10
* Vgl. Petras 1994,110ff.; Ffrench-Davis/Labán 1995,63ff.
197
• Sukzessive Modifizierung des Wechselkursregimes: Der Peso, seit 1983 mit einer Fluktuationsbandbreite von 5% an den US-Dollar gekoppelt und permanent (gemäß der Differenz zwischen nationaler und internationaler Inflationsrate) neu justiert, bewegte sich seit 1990 am unteren Rand der Bandbreite. Stützungskäufe seitens der Zentralbank ließen den Bestand an Devisenreserven immens anschwellen. 1992 wurde deshalb der Peso um 2% abgewertet und die Bandbreite auf 10% erhöht. Als der Peso dennoch am unteren Rand blieb, wurde Mitte 1992 zur Berechnung des Wechselkurses ein Währungskorb eingeführt, der die internationalen Schwankungen des Dollar gegenüber Yen und DM ausgleichen und so eine größere Unsicherheit für kurzfristige Finanzoperationen herstellen sollte. Zusätzlich entschloß sich die Zentralbank fortan zu einem schmutzigen Floating. • Selektive Liberalisierung des Kapitalabflusses: Restriktionen für chilenische Investoren im Ausland wurden abgebaut und die Rückführung von Kapital und Gewinnen ins Ausland erleichtert (was 20 Jahre zuvor ein nationaler Sündenfall gewesen wäre). Hervorzuheben ist hier die Erlaubnis für die privaten Rentenkassen (AFP), bis zu 3% ihres Kapitals, das seit ihrer Gründung in den 80er Jahren bis 1991 auf ca. 35% des BIP angewachsen war, im Ausland investieren zu können. • Erhöhung der Pflichtreserve für kurzfristige Kredite in Fremdwährung: Zur Kontrolle der kurzfristigen Zuflüsse von (Spekulations-)Kapital wurden im Juni 1991 eine Pflichtreserve von 20% für Kredite in Fremdwährung (jeweils für das erste Jahr) sowie Zusatzgebühren erhoben. Anfang 1992 wurden diese Maßnahmen auf Einlagen in Fremdwährung ausgeweitet, im Mai 1992 wurde die Reserve auf 30% erhöht. • Senkung des Zollsatzes von 15 auf 11%: Dadurch sollten InvestitionsgüterImporte verbilligt werden, um zusammen mit Erleichterungen auf dem nationalen Kapitalmarkt die Eigenfinanzierungsmöglichkeiten von Investitionsprojekten chilenischer Unternehmen zu stärken. Die geringere Notwendigkeit, auf externe Finanzressourcen zugreifen zu müssen, sollte gleichermaßen den Dollarzufluß und von daher den Druck auf den Wechselkurs mindern. • Operationen zur Geldsterilisierung: Um zu verhindern, daß die aufgrund der Dollarkäufe immens angewachsenen internationalen Reserven der Zentralbank (1989: 2,95 Mrd. US$; 1992: 9 Mrd. US$) sich nachteilig auf Zinssätze, Emission und damit Inflation auswirken, entschloß sich die Zentralbank, einen Teil ihrer Aktiva über internationale Finanzmärkte mit niedrigen Zinssätzen zu streuen, die sie mit Passiva zu hohen Peso-Zinssätzen finanzierte. Schätzungen ergaben, daß sich die Vermögensverluste der Zentralbank durch diese Operationen zwischen 1990 und 1993 auf ca. 0,5% des BIP beliefen. 109 Mit Blick auf den Wechselkurs ist als Ergebnis festzuhalten, daß sich die Aufwertungstendenz zwar 1991 (6%) und 1992 (8%) fortsetzte, mit einsetzender Wirkung der Maßnahmen sowie aufgrund externer Faktoren (Verschlechterung IW
Vgl. ebd., 65.
198
der terms of trade, weltweite Rezession) im Jahr 1993 jedoch auf 0,8% fiel. 1994 schließlich, als die Zinsen in den USA wieder stiegen und der Kapitalzufluß nach Lateinamerika insgesamt zurückging, hatte sich der Peso stabilisiert. Dennoch blieb und bleibt die skizzierte Problematik ein Dauerproblem der chilenischen Wirtschaftspolitik, das wiederholt kleinere Anpassungen v.a. zur Inflationskontrolle erfordert und für permanent hohe nationale Zinssätze sorgt. Der Peso bewegt sich nach wie vor am unteren Rand der festgesetzten Bandbreite, doch sahen sich Regierung und Zentralbank bis jetzt nicht zur Änderung ihres Kurses veranlaßt.110 Diese Politiken zur Stabilisierung wurden von Regierung und Zentralbank weitgehend in Eigenregie durchgeführt. Zwar äußerten gesellschaftliche und politische Akteure (u.a. die Exportunternehmer und Befürworter einer noch radikaleren Öffnungspolitik wie der frühere Wirtschaftsminister Büchi) wiederholt scharfe Kritik, doch hatte diese nur wenig Einfluß auf Verlauf und Gestaltung des makroökonomischen Managements. Der interne Handlungsspielraum, der aufgrund der Kompetenzen von Regierung und Zentralbank keine korporative Strategie erforderte, wurde voll ausgeschöpft. Allerdings ist die bereits erwähnte Einschränkung in Betracht zu ziehen, daß diese gestiegene Handlungskapazität relativ zur insgesamt geminderten internationalen Handlungskapazitäten des chilenischen Staates gewichtet werden muß, die sich aufgrund der vertieften internationalen Integration in die Handels- und insbesondere die Finanzmärkte ergibt. Dies wird auch von Vertretern der Zentralbank selbst betont 1 " und ist zusammen mit der Finanz- und Währungskrise Mexikos 1994/95 eine Ursache dafür, daß sich Chile den Koordinierungsbemühungen im Rahmen der APEC anschloß, die auf eine Beobachtung und Kontrolle der internationalen Instabilitäten abzielen.112 Letztlich blieb Chile vom sogenannten 'TequilaEffekt' jedoch weitgehend verschont. (3) Konsolidierung der Wirtschaftsordnung: Über die Konsensualisierung der Spielregeln und die kompromißlose und kontinuierliche Stabilitätspolitik ergab sich - gestützt durch den anhaltenden Erfolg bei Wachstum und Inflationskontrolle - auch der gewünschte Nebeneffekt, daß sich die Wirtschaftsordnung zunehmend konsolidierte und sich für die nationalen wie internationalen Wirtschaftsakteure der Referenzrahmen stabilisierte. Gleichzeitig festigte sich die Position der autoridades económicas als zentrale Steuerungsakteure. Zwar wurde seitens der Unternehmer wiederholt Kritik an der Art der Stabilisierungspolitik laut, doch wurde sie im allgemeinen in relativ defensiver Manier vorgetragen.113 Insgesamt hatte sich die demokratische Regierung im wirt1,0
Dies gilt auch fllr die ersten Monate des Jahres 1996, in denen die Zentralbank mit einer Hochzinspolitik zur Bekämpfung der Inflation fortführt (das Inflationsziel wurde mit 6,5% ftlr 1996 sehr 'hoch' gesteckt) und diese Anfang April noch verschärft hat (vgl. El Mercurio Internacional 4.-10.4.1996); Ende April geriet der Wechselkurs (406 Pesos pro USS) noch dichter an den unteren Rand (403 Pesos), wobei jedoch unklar ist, ob die Zentralbank dies als konjunkturellen oder als langfristigen Trend bewertet (vgl. Estrategia 26.4.1996).
'"
Vgl. Eyzaguirre/Vergara 1993.
1,2
Vgl. El Mercurio Internacional 11.-17.4.1996.
111
Vgl. Imbusch 1995, 398.
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schaftspolitischen Bereich schnell eine genügend große Autorität verschafft, die von Glaubwürdigkeit und technokratischem Sachverstand geprägt war und nur wenig Raum für grundsätzlichen Dissens ließ.114 Mit Blick auf die Wirtschaftsordnung bleibt somit - neben Steuerreform und Arbeitsgesetzgebung - als wichtiger Kristallisationspunkt möglicher Konflikte noch die Frage zu klären, inwieweit der neoliberalen Hegemonie in Wirtschaftsfragen gegengesteuert werden konnte, ob also die Konsolidierung der Wirtschaftsordnung mit Festigung oder Aufweichung der kulturellen Hegemonie des Neoliberalismus einherging. Mit Blick auf die Rolle des Staates und die Thematik weiterer Modernisierung ist hier abschließend auf die Problematik der Privatisierung weiterer Staatsunternehmen einzugehen. Im Gegensatz zu den bereits behandelten wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die im Endeffekt für die Unternehmer positiv ausfielen, gab sie zu einer bisweilen scharfen und polemischen Diskussion Anlaß. Hierbei spielte auch eine Rolle, daß das Thema Privatisierung in Chile vor allem seitens großer Teile der Unternehmerschaft und der Rechten (Parteien, think tanks, Presse) noch immer ideologisch hoch besetzt ist. So scheuten sie sich als Verfechter des Neoliberalismus nicht, die in ihren Augen zögerliche Haltung der Regierung zur Privatisierung als letztlich 'marxistisch inspiriert' zu bezeichnen.' 5 Dies hat den besonderen historischen Hintergrund, daß unter Allende Verstaatlichungen als 'sozialistische' Strategie der Modernisierung betrieben wurde, während die Chicago boys umgekehrt die unregulierte Privatisierung als Modernisierungsstrategie durchsetzten. Seither gehört diese Gleichsetzung (Modernisierung = Privatisierung und umgekehrt) zum festen ideologischen Arsenal der chilenischen Rechten. Für die Regierung Aylwin war das Thema Privatisierung weder vorrangiges Ziel noch wollte sie diesen Prozeß aus prinzipiellen Gründen stoppen. Vielmehr stimmten die verschiedenen Sektoren innerhalb der Regierung dahingehend überein, daß Effizienz und Produktivität von Unternehmen Vorrang hätten vor der 'ideologischen' Gleichsetzung von Privatisierung und Modernisierung. Dieser eher pragmatische Ansatz, u.a. von Foxley und Ominami vertreten, hatte vor allem aus den Regulationsmängeln der drei Privatisierungswellen unter Pinochet den Schluß gezogen, daß eine ideologisch 'blinde' Privatisierung unter Umständen die Schaffung verzerrter Märkte mit sich bringt und somit mehr volkswirtschaftlichen Schaden als Nutzen. Insofern war nunmehr dem Impuls zur Privatisierung die Frage vorgeordnet, ob im betroffenen Sektor ein funktionierender Markt existierte oder geschaffen werden könnte - was wiederum adäquate institutionelle Regelungen seitens des Staates erfordere. Auch diese Fra-
Montero zeichnet anhand der jahrlichen Unternehmer-Treffen ENADE und verschiedener anderer Versammlungen zwischen 1989 und 1992 nach, wie die jeweils behandelten Leitthemen den zunehmenden Vertrauenszuwachs seitens der Privatunternehmer sowie die relative Konvergenz in wichtigen Teilfragen/-zielen widerspiegeln. Der Dissens der Unternehmer verschob sich so von anfänglicher Unsicherheit Ober Fragen der Wirtschaftsordnung hin zu Fragen der politischen und sozialen Ordnung; lediglich die Frage der Reform der Arbeitsgesetzgebung blieb ein umstrittener Kernpunkt der Wirtschaftsordnung (vgl. Montero 1993,38ff.). 1,5
Vgl. Imbusch 1995,429ff.
200
ge stellte sich jedoch nicht, wenn die öffentlichen Unternehmen ohnehin effizient arbeiteten. 16 In diesem Punkt konnte sich die erste Regierung gegen die massive neoliberale Hegemonie behaupten: Unter Aylwin wurden nicht nur die noch laufenden Privatisierungsvorhaben faktisch gestoppt, sondern es wurde auch keines der restlichen Staatsunternehmen mehr veräußert. Trotz der genannten Verbalattakken - die wiederholt auch dann aufkamen, wenn einige der öffentlichen Unternehmen negativ in die Schlagzeilen kamen" 7 - ist dieser 'klassische' Modus der Privatisierung damit nach 1990 nicht mehr zur Anwendung gekommen. Während es sich bei CODELCO ohnehin um eine heilige Kuh handelt118, blieben auch jene Unternehmen, die unter Büchi vorerst nicht zur Privatisierung vorgesehen waren, weiterhin in staatlicher Hand." 9 Andererseits wurden die seit 1985 initiierten, im Jahr 1990 jedoch noch nicht abgeschlossenen Privatisierungen gestoppt: Von 39 Unternehmen waren 29 privatisiert (von denen eines in Konkurs ging), von den restlichen zehn war die Fluglinie LAN zu 78% privatisiert und die restlichen bis zu 30%. Zu letzteren gehörten Unternehmen in den Sektoren Elektrizität, Kohle, Wasserversorgung und Transport. Allerdings wurde damit der Privatisierungsprozeß insofern nicht völlig gestoppt, als sich nunmehr der Modernisierungsmodus verändert hat: Priorität hatte unter Aylwin die Strategie, einerseits gemeinsame Investitionen von staatlichen und privaten Unternehmen zu autorisieren (so etwa die gemeinsame Ausbeutung neuer Kupferlagerstätten durch CODELCO und private Investoren) und andererseits Lizenzen und Konzessionen an Privatunternehmen zu vergeben, um vor allem im Infrastrukturbereich dringend notwendige Investitionen zu ermöglichen (Straßen, Brücken, Tunnels, Wasserversorgung etc.). Diese neue Art der 'Privatisierung' besteht somit darin, nicht staatliche Unternehmen zu verkaufen, sondern einige traditionell vom Staat durchgeführte Investitionen nunmehr unter Beteiligung des Privatsektors voranzutreiben. Dieses Szenario hat sich unter der Regierung Frei wieder leicht gewandelt. Während auch sie die Privatisierung über Konzessionen und joint ventures aufrechterhält und gerade im Infrastrukturbereich vorantreibt, werden mittlerweile wieder Privatisierungen klassischen Musters in Angriff genommen und damit der faktische Privatisierungsstop nicht mehr aufrechterhalten. Allerdings ist hier nicht von einer neuen Welle zu sprechen, da es sich nur um Einzelfalle handelt und überdies Motivation und Umfang dieser Verkäufe recht unterschiedlich sind: Das Elektrizitätsunternehmen Colbün soll ab 1996 teilprivatisiert werden " 6 Vgl. Concertacidn 1989, 13. 117
Dies betrifft v.a. den Kupferkonzern CODELCO, in dem es 1994 zu Unregelmäßigkeiten und schweren finanziellen Verlusten kam; ahnlich gelagert ist der Fall des Wasserversorgungsuntemehmens ESVAL, das mit Mißmanagements- und KorruptionsvorwUrfen belastet ist. Beide Fülle beschäftigten seitdem wiederholt die chilenische Öffentlichkeit.
" ' Auch wahrend BQchis dritter Modernisierungswelle unter der Militärregierung wurde die Privatisierung nicht angestrebt; die Regierungen Aylwin und Frei bezeichnen CODELCO bis heute kategorisch als 'nicht privatisierbar1. "'
So die Ölraffinerie (staatliches Monopol), Elektrizitatsunternehmen, Hafen, die beiden Bahnuntemehmen, der staatliche Anteil an der Fluglinie LAN und der Banco deI Estado (vgl. Siez 1993a, 103f.)
201
(33%) und später völlig in private Hände übergehen. Neben der Stärkung des Wettbewerbsgrades in diesem Sektor beabsichtigt die Regierung damit vor allem, ihre engen Finanzspielräume für soziale Zwecke zu erweitern und zusätzliche Mittel für das defizitäre Bildungswesen freizumachen, um der Modernisierungsagenda des Jahres 1996 nachkommen zu können.120 Anders gelagert ist der Fall des Wasserversorgungsunternehmens ESVAL, das aufgrund von Unregelmäßigkeiten bis auf höchste Ebene über Monate hinweg die Schlagzeilen beherrschte und ergo politische Motive eine Rolle spielen.121 Die Teilprivatisierung des Eisenbahnunternehmens EFE resultiert aus gravierenden Investitionsmängeln, die durch die Teilhabe des Privatsektors gelöst werden sollen.122 Insgesamt ist hier aber nicht das eindeutige Bild einer neuen Privatisierungswelle zu zeichnen, sondern spricht (noch) vieles dafür, daß eher die unter Aylwin lancierte pragmatische Einstellung zu Privatisierungen aufrechterhalten wird. Natürlich wäre es zu hoch gegriffen, alleine daraus auf eine massive Aufweichung der neoliberalen Hegemonie zu schließen, doch sind für eine Beurteilung der chilenischen Wirtschaftsordnung solche partiellen Veränderungen ins Kalkül zu ziehen.
2.3 Die Regulierung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Die Probleme der Steuerung des makroökonomischen Gleichgewichts bei anhaltendem Wirtschaftswachstum und Steigerung der Investitionsquote wiesen bereits auf die Schwierigkeiten hin, die einem Land wie Chile aufgrund der Exponiertheit gegenüber externen shocks erwachsen. Diese war die Konsequenz der unter Pinochet betriebenen bzw. teilweise rücksichtslos durchgesetzten Öffnungspolitik, die mitunter erratisch verlaufen war und erst ab Mitte der 80er Jahre - begünstigt durch die vorteilhaften terms of trade für die wichtigsten chilenischen Exportprodukte (Kupfer und Fischmehl) - zu dem signifikanten Exportboom führte. Die Wirtschaftsexperten der Concertaciön, die die Außenöffhung der chilenischen Wirtschaft als Pfeiler ihrer Entwicklungsstrategie erachteten, sahen die Problematik dieser Exponiertheit als eine der größten Herausforderungen an.123 Denn Ziel ihrer Politik war es nicht, lediglich das unter Pinochet installierte und partiell erfolgreiche - Exportmuster fortzuführen. Vielmehr sollte - auch und gerade unter den Bedingungen dieser erhöhten Verwundbarkeit - die sogenannten 'zweite Phase der Exportorientierung' eingeleitet werden, wie sie von CEPAL und CIEPLAN, aber auch von Vertretern der gemäßigten Linken wie Carlos Ominami, unter Aylwin dann Wirtschaftsminister, konzipiert worden war. Das Erreichen dieser zweiten Phase beinhaltete im Kern, das vorwiegend IM
Vgl. El Mercurio Internacional 11.-17.1.1996.
1J1
Vgl. Estrategia 9.5.1996.
I2J
Vgl. El Mercurio Internacional 25.4.-1.5.1996.
125
Vgl. Foxley 1990,107f.
202
auf dem Export von Rohstoffen bzw. nur gering verarbeiteten Rohstoffprodukten basierende Modell zu modernisieren, indem Produktions- und Handelsstrukturen geschaffen wurden, die eine höhere Wertschöpfung der chilenischen Produkte garantierten. Eine solche Dynamisierung der Anreizstrukturen wurde als notwendige Bedingung dafür angesehen, daß Chile auf Dauer mit einem anhaltenden Wachstum rechnen und über den dadurch initiierten Prozeß gradueller, aber doch spürbarer sozialer Verbesserungen auch zu weiterer Stabilität und Prosperität gelangen könnte. Wie in Kap. III.3 zu sehen sein wird, ist davon überdies die Wirksamkeit der sozialpolitischen Strategie abhängig. Die Diagnose, die Ominami und andere in den 80er Jahren gestellt hatten, läßt sich dahingehend resümieren, daß das unter der Militärregierung etablierte Muster der exportorientierten Entwicklung ohne Weiterentwicklung zwangsläufig zur Stagnation fuhren mußte. Hierfür werden mehrere Faktoren verantwortlich gemacht: 124 erstens die Konzentration auf den Export von Rohstoffen bzw. nur gering verarbeiteten natürlichen Ressourcen, die nur geringe Wertschöpfung erlauben und deren Diversifizierung trotz Ausweitung relativ mäßig blieb; zweitens - und damit zusammenhängend - die mangelnde Präsenz in den dynamischen Sektoren der Weltwirtschaft sowie umgekehrt die Koppelung an stagnierende Wirtschsaftssektoren; drittens die starken Konzentrationsprozesse und somit ein Mangel an Wettbewerb; viertens die hohe Restriktionsgefahr für den Zugang zu einigen Märkten; fünftens die geringe Verknüpfung des Exportsektors mit dem übrigen Produktionsapparat; und sechstens die für das alte Modell kohärenten prekären Arbeitsbedingungen inkl. niedriger Löhne, die mittelfristig kaum zur Produktivitätssteigerung beitragen (sofern sie überhaupt aufrechterhalten werden können). Insgesamt wird daraus geschlossen, daß diese erste Phase der Exportorientierung eine sogenannte 'leichte Phase' darstellte, deren scheinbarer Erfolg in der zweiten Hälfte der 80er Jahre sich zudem der Erholung nach der Krise sowie dem hohen Kupferpreis verdankte. Daraus wurden Herausforderungen für eine neue Modernisierung bzw. eine neue Form der Eingliederung in die Weltwirtschaft abgeleitet, für deren Bewältigung die Marktmechanismen zwar als notwendige, nicht aber als hinreichende Bedingung angesehen wurde. Als entscheidende Triebkraft dieser Modernisierung galt - zunächst - die weitere Intemationalisierung der Ökonomie, sofern sie mit einer sukzessiven Produktivitätssteigerung unterfüttert werden konnte. Um die Exportstruktur auf dynamische Sektoren der Weltwirtschaft auszurichten und dadurch Folgeeffekte für die Integration und Dynamisierung des Binnenmarktes zu erzielen, sind Steuerungsleistungen erforderlich, die von Vertretern des Neoliberalismus im allgemeinen abgelehnt werden. In Chile wird von solchen Sektoren deshalb die Notwendigkeit einer zweiten Phase bestritten. Im günstigsten Falle wird davon ausgegangen, daß sich die zweite Phase aus spontanen Marktprozessen heraus ergibt, d.h. die Unternehmer sich von selbst auf Produkte und Produktionsweisen spezialisieren, die eine höhere Wertschöpfung garantieren. Hier bestünden die Mindestvoraussetzungen darin, stabile Vgl. Ominami/Madrid 1989; Ominami 1988.
203
Rahmenbedingungen für einen anhaltenden Investitionsstrom zu schaffen und aufrechtzuerhalten und dabei gleichzeitig die makroökonomische Stabilität zu wahren. Dies wäre zwar auch als Steuerungsleistung des Staates anzusehen, allerdings ist es eine 'leichte' und doch risikoreiche Variante. Denn sie lebt letztlich vom Vertrauen darin, daß die Privatunternehmer mittel- bis langfristig kalkulieren und somit im Vergleich zu kurzfristigen Profitstrategien bereit sind, größere Risiken und höhere Transaktionskosten auf sich zu nehmen. Sowohl CEPAL als auch andere Institutionen wie z.B. das DIE gehen davon aus, daß die Wahrscheinlichkeit, auf diesem Weg zur segunda fase vorzustoßen, äußerst gering ist.125 Abb. 12: Determinanten systemischer Wettbewerbsfähigkeit126 Metaebene soziokulturelle Faktoren Wertehaltungen Gmndnyister politisch- . ökonomischer Organisation Strategie- und Politikflhigkeit
Makroebene
Mesoebene InfrastnikturBildungs-
Geldpolitik
Technologie-
Haushaltspolitik Steuerpolitik Wettbewerbspolitik Währungspolitik
Wettbewerbsfähigkeit wird durch Interaktion geschaffen
Handelspolitik
IndustriestrukturUmweltRcgionallmport-/ExportPolitik
Mikroebene Managementkompetenz
Integration in
Untemehmensstrategien
technologische Netzwerke
Innovationsmanagement
zwischenbetriebliche Logistik
Best Practice im gesamten
Interaktion zwischen Zulieferern,
Produktzyklus
Produzenten und Kunden
Die zweite Alternative erfordert ein Modernisierungsmuster, das als 'systemische Wettbewerbsfähigkeit' zu charakterisieren ist und von allen Akteuren ein hohes Maß an Organisationsfähigkeit fordert. Wie in Abb. 12 festgehalten, sind für eine solche Wettbewerbsfähigkeit Determinanten auf unterschiedlichen Ebenen maßgeblich, die alle zusammen berücksichtigt und nicht zuletzt auch koordiniert werden müssen. Hervorzuheben ist hier neben dem adäquaten Management auf der Makroebene vor allem die notwendige Strukturgestaltung per 125
Vgl. Ominami/Madrid 1989, 57; ECLAC 1990a, 125ff.; Messner 1995,43ff.
126
Quelle: DIE nach Messner 1995,48.
204
Institutionen im Mesoraum, um innovationsfördemde Rahmenbedingungen zu schaffen. Wie auch Ominami nach seiner Übersicht über die notwendigen Faktoren und Maßnahmen für eine solche produktive Modernisierung resümiert, impliziert der zweite Weg somit weitaus höhere Steuerungsleistungen insbesondere des Staates, doch wird er auch als erfolgversprechender bzw. gar als einzig gangbarer Weg angesehen.127 Allerdings erfordert diese Strategie neben dem politischen Willen und der Handlungskapazität der staatlichen Akteure auch die Kooperations- und Lernbereitschaft der Privatunternehmer. Wie oben erläutert, bestand zu Beginn der Ära Aylwin hierfür wenig Aussicht, da jegliche staatliche Steuerung mit Überregulation gleichgesetzt wurde und somit dem neoliberalen 'Glaubensbekenntnis' widersprach. Demgegenüber hatte das Regierungsprogramm es gerade als staatliche Steuerungsaufgabe formuliert, mittels einer adäquaten Industriepolitik der 'dringenden Notwendigkeit' der Modernisierung der Produktionsprozesse nachzukommen, um so die neuen, internationalen Technologiestandards entsprechenden komparativen Vorteile zu erlangen. Wenngleich der Privatsektor als Haupttriebkraft dieser Anpassungen in der Rolle gesehen wird, antizipativ oder reaktiv auf die entsprechenden Marktsignale zu reagieren, beansprucht der Staat qua Wirtschaftsequipe, diesen Prozeß anzuleiten. Als Hauptinstrumente dieser Orientierungsleistung seitens des Staates nennt das Programm gleichwohl eher klassische bzw. traditionelle Maßnahmen: An erster Stelle stehen hier makroökonomische Instrumente, wie die Aufrechterhaltung eines hohen und stabilen Wechselkurses, niedrige Zölle und Zinssätze, die zusammen ein freundliches Investitionsklima bewirken sollen. An zweiter Stelle steht eine explizite Exportforderungspolitik, die sich einerseits auf koordinierte Mesopolitiken (Infrastruktur, Transport, Qualitätskontrollen) erstreckt und andererseits besonderen Wert auf Abkommen zur Wirtschaftskooperation legt, um neue Märkte zu erschließen bzw. bestehende weiter zu öffnen. 128 Darüber hinaus wird jedoch auch eine neue Institutionalität gefordert, um eine geeignete Koordination staatlicher 'Orientierung' und privater Innovation zu erreichen. Neben einer Reaktivierung von CORFO und der Umwandlung des Wirtschafts- in ein Industrie- und Handelsministerium erschöpft sich das Programm an diesem Punkt jedoch in vagen Vorschlägen und Appellen, die bereits den zu erwartenden Widerstand der neoliberalen Hegemonie antizipieren. Während einerseits von 'Arbeitsgruppen' (Experten aus Staat, Privatwirtschaft, Arbeiterschaft, Wissenschaft) die Rede ist, die sich um geeignete 'strategische Planungen' kümmern sollen, wird andererseits vor der Ablehnung staatlicher Steuerung durch Mesopolitiken gewarnt: "Nur der Dogmatismus kann zur Absage an Politiken der Produktionsförderung fuhren, die in allen erfolgreichen Fällen der Überwindung der Unterentwicklung ihre Wirksamkeit gezeigt haben."129
127
Vgl. Ominami/Madrid 1989.
m
Vgl. Concertaciön 1989, 15. Ebd., 18.
205
Demgegenüber ist nun die Frage zu beantworten, welche Anreizstrukturen mit welchen Mitteln und mit welchem Ergebnis faktisch geschaffen wurden. Die Umsetzung der Wachstumsstrategie in den Jahren 1990 bis 1995 zeigt, daß nach den Kriterien der 'systemischen Wettbewerbsfähigkeit' (sowohl in der Konzeption des DIE als auch in der Variante der CEPAL) oder nach den im eigenen Programm formulierten Richtlinien wesentliche Aspekte nicht berücksichtigt wurden. Die Politiken der Regierungen Aylwin und Frei lassen eine deutliche Bevorzugung 'neutraler' Instrumente erkennen, während kohärente Mesopolitiken bzw. der Aufbau einer adäquaten Institutionalität kaum vorangekommen sind. Die anfanglich breitere Optionspalette hat sich so zunehmend auf zwei Hauptstrategien konzentriert, nämlich das Management des Wechselkurses sowie eine sich auf bilaterale Wirtschaftsabkommen stützende Außenwirtschaftspolitik, um die Absatzmärkte für chilenische Produkte zu sichern und zu erweitern, ohne in Integrationsfallen zu geraten. Die oben bereits skizzierten Bemühungen von Regierung und Zentralbank, den Aufwertungsdruck auf den Peso in Grenzen zu halten, hatten ihr zentrales Motiv darin, daß der Wechselkurs als strategische Schlüsselvariable für die Förderung und Diversifizierung von Exporten wie Investitionen angesehen wurde.130 Die Gründe für diese eher einseitige Bevorzugung eines makroökonomischen und insofern wenig komplexen Steuerungsmittels liegen zum einen an den Widerständen, die aufgrund der neoliberalen Hegemonie in Wirtschaftskreisen und der unkritischen Hinwendung zu neutraler Regulierung erzeugt wurden: Ffrench-Davis et al. sprechen davon, daß die Regierung folglich über keine alternativen Instrumente verfügte. Zum andern ist jedoch gleichermaßen zu konzedieren, daß angesichts dieser Widerstände auch der politische Wille seitens der Wirtschaftsequipe der Regierung nachließ, auf diesem Sektor ein kohärentes Gegenprojekt zu entwickeln. Nicht zuletzt trug zu dieser relativen Passivität staatlicher Steuerung auch bei, daß der ökonomische Erfolg dazu verleitete, zwar nicht das Ziel der segunda fase aufzugeben, aber doch den Einsatz komplexerer Steuerungsmedien und damit das intermediäre Institution building zurückzustellen.131 Wie oben beim Management der makroökonomischen Stabilität bereits erläutert, setzte die Wirtschaftsequipe aus Finanzministerium und Zentralbank umfängliche monetäre Steuerungsinstrumente ein, um die makroökonomischen Schlüsselvariablen zu kontrollieren. Zwar wurde keine dezidierte Strategie der Peso-Abwertung betrieben, um den Exportsektor über eine künstlich garantierte Wettbewerbspolitik zu stärken; vielmehr nahm die Regierung durch die Orientierung an langfristigen Entwicklungstrends auch die Möglichkeit realer Aufwertungen in Kauf und damit den Druck auf den Privatsektor, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit zu steigern.132 Dennoch zeigte sich die Regierung permanent bestrebt, den Peso auf einem relativ hohen Niveau zu stabilisieren und dem 130
Vgl. Ffrench-Davis et al. 1995, 138.
131
Vgl. Messner/Scholz 1996, 127ff.
112
Vgl. Le Fort 1994, I739f.
206
kompetitivitätsmindemden Aufwertungsdruck gegenzusteuern, wenn dieser aufgrund kurz- bis mittelfristiger Schwankungen zustandekam. Unter diesen Bedingungen entwickelte sich der chilenische Exportsektor in den Jahren 1990 bis 1995 vor allem quantitativ äußerst positiv (1989: 8,08 Mrd. US$, 1995: 16,04 Mrd. US$). Das zweite und unter dem Gesichtspunkt der Herausbildung dynamischer Produktionsbereiche ebenso wichtige Ziel der Wechselkurspolitik bestand in der Förderung und Lenkung von Investitionen in den Exportsektor. Anvisiert war hier folgende Wirkungskette: Da durch den relativ hohen (und stabilen) Pesokurs die Rentabilität der Exportgüter stieg, würden auch mehr Investitionen dahinfließen. Dies wiederum sollte zu einem Anwachsen des Exportsektors führen, was die Effekte der Abwertung noch verstärkte und so auch die Rentabilität der hier getätigten Investitionen insgesamt. Dieser Multiplikationseffekt wiederum wurde als stimulierend für positive Einkommenseffekte angesehen. 133 Auch wenn keine systematischen Erhebungen über die sektorielle Aufschlüsselung der Investitionstätigkeit vorliegen, ist anhand der zu autorisierenden ausländischen Direktinvestitionen (nach D.L. 600) zumindest eine Tendenz erkennbar, in welchem Umfang und in welche Sektoren sich die Kapitalflüsse in den letzten Jahren bewegten. Wie Abbildung 13 verdeutlicht, konnte Chile einen anhaltenden Zufluß von Auslandsinvestitionen verzeichnen. Während für die zweite Hälfte der 80er Jahre hierbei mehr die Erholungseffekte nach der Wirtschaftskrise eine Rolle spielten, so ist ab 1990 eine deutliche Ausweitung zu verzeichnen. Gemessen an den Gesamtinvestitionen machen die ausländischen Direktinvestitionen gegenwärtig einen Anteil von ca. 15% aus, wobei dieser Anteil allerdings in den letzen Jahren relativ zurückgeht. Aufgrund der starken Inlandsinvestitionen ist die Investitionsrate dauerhaft auf über 27% gestiegen und damit die höchste in den größeren Volkswirtschaften Lateinamerikas. Allerdings zeigen die verfugbaren Angaben über die sektorielle Aufteilung der Auslandsinvestitionen (s. Abb. 14), daß diese sich fast unverändert vor allem auf den Bergbau, die Dienstleistungen (v.a. im Finanzsektor) und schwächer auf die Industrie konzentrieren. Dies heißt, daß einerseits zwar Exportsektoren bevorzugt wurden (v.a. Kupferminen, Holz, Zellulose), diese aber andererseits auf Rohstoffe konzentriert sind und somit keine höhere Wertschöpfung induzieren. 135
153
Vgl. Ffrench-Davis et al. 1995, 137f.
114
Vgl. Latin American Special Report SR-96-04 (Aug. 1996), 7.
155
Vgl. Ffrench-Davis et al. 1995, 107f.; bfai-info Lateinamerika 4/1996, 8.
207
Abb. 13: Auslandsinvestitionen in Chile 1986-1995 (in Mio. US$)136 6000
, gatltlgt autorisiert
5000 4000 3000 2000 1000
0
äüML 1990
1991
1992
1993
1994
1995
Abb. 14: Verteilung der Auslandsinvestitionen nach D.L. 600 (Mio. US$)137 1974-89
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1990-95
Bergbau
2.560
800
440
560
900
1.750
1.720
6.170
Dienstleistungen
1.310
380
220
260
270
290
790
2.210
Industrie
860
100
240
120
450
320
300
1.530
sonstige
260
40
80
60
110
160
210
660
4.990
1.320
980
1.000
1.730
2.520
3.020
9.910
gesamt
Der zweite wichtige Pfeiler der Exportförderungsstrategie unter den Regierungen Aylwin und Frei bestand in einer aktiven Außenwirtschaftspolitik, um auch ungeachtet der Qualität der Wettbewerbsfähigkeit - den Exportsektor über eine zunehmende Diversifizierung sowohl nach Produkten wie nach Märkten weiter zu fördern.138 Zudem sollte darüber auch das Ausmaß der externen Verwundbarkeit zumindest teilweise reduziert werden. Stand im ersten Jahr der Amtszeit Aylwins noch die Wiedereingliederung Chiles in die internationale Staatengemeinschaft im Vordergrund, so wurde diese rasch als vorläufig abgeschlossen angesehen.139 Alleine die Wiedereinsetzung einer demokratischen Regierung führte zur Normalisierung der Beziehungen gerade auch mit solchen Ländern, die - wie z.B. Mexiko - in der Ablehnung der Diktatur konsequent geblieben waren. Intensive bilaterale Kontakte insbesondere mit Ländern Lateinamerikas und Europas sowie den USA sprechen ebenso wie die problemlose Quelle: Latin American Special Report SR-96-04 (Aug. 1996), 7. 157
Quelle: ebd. Vgl. Thieiy 1993c; Barrios 1994. Vgl. Mensaje Presidencial 1991, XXXVII.
208
Partizipation an multilateralen und supranationalen Organismen (Teilnahme an den Unikom-Truppen, der UN-Kommission für Menschenrechte, dem Exekutivrat der FAO etc.) fiir die rasch wiedererlangte internationale Akzeptanz. Auf regionaler Bühne konnte Chile durch die Aufnahme in die Rio-Gruppe an einem politischen Konzertierungsmechanismus partizipieren, der zur Stärkung des wechselseitigen Vertrauens und der Sicherheit in der Region sowie zu neuen multilateralen Kooperationsformen (etwa mit der EG) beitrug. Damit schob sich der Aspekt der Konsolidierung und Vertiefung der Eingliederung in die Weltwirtschaft in den Vordergrund.140 Insbesondere stellte sich für Chile die Frage, welche Formen der Kooperation hierfür geeignet waren, um sich einerseits nicht zu sehr von anderen Partnern abhängig zu machen, andererseits aber auch etwaigem Protektionismus oder der Gefahr der Blockbildung entgegenzuwirken.141 Die pragmatische Politik- der Regierungen Aylwin und Frei folgte hier keinem starren Schema, sondern versuchte, die vorhandenen Beziehungen möglichst rasch und effektiv auszubauen. Dies äußerte sich in der Doppelstrategie, einerseits über einen multiplen Bilateralismus möglichst schnell Freihandelsabkommen zu erzielen und andererseits intensive Verhandlungen mit den großen Wirtschafts- und Integrationsblöcken zu fuhren. Bedingt durch die weniger komplexe Verhandlungssituation erfolgten zeitlich zuerst die Abkommen mit lateinamerikanischen Ländern. Ziel der seit 1991 geschlossenen Abkommen zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit (Acuerdos de Complementaciön Econömica ACE) war es, den Impuls der Exportorientierung der chilenischen Wirtschaft aufrechtzuerhalten und über die Diversifizierung der Exportstruktur sowie der externen Märkte voranzutreiben. Erwartet wurden hiervon einerseits Effekte auf die Angebotsstruktur des chilenischen Exportsektors, da bei einer Vertiefung der Eingliederung in die Weltwirtschaft mit Synergieeffekten gerechnet wurde. Da andererseits die chilenische Wirtschaft mit ihrem begrenzten Binnenmarkt und dem hohen Exportanteil (ca. 35% des BIP) auf stabile externe Rahmenbedingungen und insbesondere auf Schutz gegen Protektionismus angewiesen ist, ist die Exportoffensive der chilenischen Regierungen im wesentlichen auch als Stabilisierungspolitik zu verstehen. Zudem stellte eine solche Außenwirtschaftspolitik eine politische Option dar, deren Verfolgung für die Regierung in mehrerlei Hinsicht vorteilhaft war: Erstens konnten - eine entsprechende Professionalität der staatlichen Außenpolitik vorausgesetzt - relativ leicht politische Erfolge erzielt werden, indem der Abschluß dieser Abkommen Chiles internationalen Status verbesserte. Zweitens stellte dies eine Strategie dar, die im Gegensatz zu Strukturgestaltungen im mesopolitischen Raum wenig interne Konflikte heraufbeschwor, sondern vielmehr mit voller Unterstützung der Untemehmerverbände und fast aller politischen Parteien rechnen konnte.1 2
Vgl. Rojas Aravena 1992,13; Mensaje Presidencial 1992, IVf. 141
Vgl. Portales 1992,3f.
142
Vgl. Thieiy 1993c.
209
Die anfangliche Bevorzugung der bilateralen Abkommen gegenüber weiterreichenden Kooperationssschritten lag im Interesse Chiles begründet, bei aller Öffnung die Kontrolle über die eigene Wirtschaftspolitik so weit wie möglich zu bewahren. Das dichte Netz, das Chile mit diesen Abkommen knüpfte, beschränkte sich so zunächst ausschließlich auf Lateinamerika (erst 1996 wurde ein Abkommen mit Kanada geschlossen). Diese Politik des Bilateralismus wurde seitens der Regierungen nicht im Gegensatz zu eventuellen Integrationsabkommen und -Strategien gesehen, sondern als pragmatischer Weg zur Vertiefung der Weltmarkteingliederung, der in Zukunft durchaus als Vorstufe zu weiteren multilateralen Übereinkommen insbesondere auf dem amerikanischen Kontinent dienen sollte. In ihrer Form divergierend, zielten diese Abkommen zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf früher oder später zu errichtende Freihandelszonen, wobei im Fall Argentinien zunächst offen blieb, ob diese im Rahmen des Mercosur oder bilateral zustande kommen sollten. Grundlage dieser Abkommen waren in der Regel die Richtlinien der lateinamerikanischen Freihandelsorganisation ALADI, der Chile genauso wie der Vorgängerorganisation ALALC auch während der Diktatur angehörte und deren Sachkompetenz 143
es vertraute. Diese somit doppelt 'leichte' Strategie einer stärkeren Wirtschaftskooperation mit lateinamerikanischen Ländern bot für Chile insofern zusätzliche Vorteile, als zum einen deren Märkte ein noch unausgeschöpftes Reservoir darstellten, was vor allem an der krisenbedingten Rückläufigkeit des Handelsaustausches in den 80er Jahren lag, die sich tendenziell wieder umzukehren begann. Zum anderen waren diese Märkte trotz des permanenten Handelsbilanzdefizits für Chile von besonderem Interesse, da hier die Exportstruktur eine deutlich stärkere Beteiligung des verarbeitenden Sektors aufwies. 144 Als Kooperationsinstrument in den ALADI-Richtlinien vorgesehen, wurden diese Abkommen jedoch erst dadurch realisierbar, daß auch in den übrigen Ländern Lateinamerikas die Wirtschafts- und Ordnungspolitiken (makroökonomische Variablen, Außenöffnung, Beseitigung von Handelshemmnissen) zunehmend mit der chilenischen Praxis konvergierten. 145 Die bilateralen Abkommen boten Chile den Vorteil, über seine einseitig bereits vollzogene Öffnung der Wirtschaft hinaus Zugänge auch zu geschützten Märkten zu erhalten und v.a. zu kalkulierbaren und verläßlichen Regelungen bezüglich der nicht-tarifaren Handelsbarrieren zu gelangen. Die bilateralen Freihandelsabkommen ähneln sich in ihren Grundzügen 146 und unterscheiden sich im wesentlichen hinsichtlich der Fristen des Zollabbaus 145
Vgl. Mizala 1992,282f.; Sâez 1992a, 263ff.
144
Gegliedert nach Natur-, verarbeiteten Natur- bzw. Industrieprodukten ergab sich 1991 für die gesamte Exportstruktur eine Aufteilung von 59%, 31% bzw. 10%; fllr Lateinamerika hingegen 35%, 38% und 27% (vgl. Sàez 1993b, 10).
145
Vgl. Rojas Aravena 1992, 15.
144
Vereinbart wurden jeweils: (1) Programme zur Eliminierung tarifärer und nicht-tarifärer Handelshemmnisse, wenngleich von unterschiedlicher Intensität und Bandbreite; ausgeschlossen bleiben zunächst einige für die jeweiligen nationalen Wirtschaftspolitiken 'sensible' Guter; (2) Initiativen zur Liberalisierung des Transportwesens, Informationsaustausch Uber bzw. Harmonisierung von lebensmittelrechtlichen Bestimmungen und technischen Normen allgemein sowie die Nicht-Diskriminierung bei staatlichen Transaktionen; (3) Zurllck-
210
sowie der Güter, für die ein langsameres Programm bzw. Ausnahmeregelungen gelten. Zwischen 1991 und 1996 hat Chile insgesamt acht solcher Abkommen geschlossen, und zwar mit Mexiko (1992), Kolumbien (1994), Venezuela (1993), Argentinien (1991), Bolivien (1993), Ekuador (1995), Peru (1996) und Kanada (1996). Bereits unter der Regierung Aylwin zeichnete sich jedoch bald ab, daß diese Formen der Wirtschaftskooperation auf Dauer nicht ausreichten und vor allem die wichtigsten und größten Märkte innerhalb und außerhalb Amerikas nicht einbezogen werden konnten, d.h. neben Brasilien in erster Linie die USA, Japan und die EU. 147 Gegenüber den bilateralen Abkommen stellten sich vor allem die Verhandlungen mit den bereits weiter vorangeschrittenen Integrationsgebilden schwieriger dar. Erste Präferenz war für die chilenische Regierung hierbei lange Zeit ein Abkommen mit den USA bzw. später dann mit NAFTA, doch trotz intensiver chilenischer Verhandlungsbemühungen waren letztlich weder die Bush- noch die Clinton-Administration bereit bzw. in der Lage, die in Aussicht gestellten Freihandels- bzw. Aufnahmeverträge politisch umzusetzen; hierfür spielten sowohl innen- wie außenpolitische Gründe eine Rolle (u.a. protektionistische Tendenzen, Mexiko-Krise). 148 Demgegenüber zeigte sich die chilenische Regierung - ähnlich wie die Unternehmer - eher reserviert gegenüber den Beitrittsangeboten, die die MercosurLänder wiederholt unterbreiteten. Ausschlaggebend waren hierfür die unterschiedlichen Öffnungs- und Stabilitätsgrade der Volkswirtschaften sowie - wie im Falle Brasiliens - grundsätzliche wirtschaftspölitische Orientierungen. Dieses Panorama wandelte sich jedoch auf Seiten der Mercosur-Staaten in den letzten Jahren derart rasch, daß die chilenische Zurückhaltung zunehmend geringer wurde, wobei auch die Verzögerung der NAFTA-Verhandlungen eine Rolle spielte. Nach fast zweijährigen Verhandlungen wurde schließlich im Juni 1996 ein Assoziationsabkommen unterzeichnet, das den Abkommen zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit ähnelt und schrittweise die Eingliederung Chiles in die Freihandelszone vorsieht. Im August 1996 wurde der Vertrag vom chilenischen Parlament ratifiziert. 149 Bereits 1994 war Chile in die APEC aufgenommen worden, die die Errichtung einer Freihandelszone bis zum Jahr 2020 vorsieht. Mit der EU schließlich wurde im Juni 1996 ein Assoziierungsabkommen abgeschlossen. 150 Die Bedeutung dieser Freihandelsabkommen für Chile ist allerdings weniger in der kurz- bis mittelfristigen, quantitativen Ausweitung der Exporte zu sehen, zumal die übrigen lateinamerikanischen Länder in ihrer eigenen Öffnung zunehmend voranschreiten. Mexiko, Venezuela und Kolumbien stellten bislang Weisung illegitimer Handelspraktiken wie Exportsubventionen und Dumping; im Konfliktfall gelten die j e weiligen nationalen rechtlichen Bestimmungen, doch in Anlehnung an die Bestimmungen und Verfahrensweisen des G A T T (vgl. Sáez 1993b, lOff.). Vgl. Thieiy 1993c, 214ff. Zu Relevanz und Hintergründen vgl. Barrios 1994; Thiery 1993c, 216fT. 149
Vgl. El Mercurio Internacional 8 -14.8.1996.
150
Vgl. Bulletin EU 6-1996 (Zif. 1.4.105); zu den Beziehungen zu Europa vgl. S i e z 1992b; Mols 1997; zu Japan vgl. Vicuña 1993; zum Pazifikbecken insgesamt vgl. Armanet 1992; Gutiérrez 1991.
211
nur kleinere Exportmärkte dar, auch wenn sich aufgrund des niedrigen Exportvolumens zunächst große Steigerungsraten ergaben. Eine größere Relevanz besitzen hingegen die qualitativen Aspekte, die sich eher in mittelfristiger Perspektive bezahlt machen dürften. Zum einen betrifft dies die Chancen, in Zukunft noch stärker als bisher verarbeitete Güter abzusetzen und somit die Exportstruktur weiter zu diversifizieren. Doch auch die Effekte fiir eine qualitative Diversifizierung der chilenischen Exportstruktur hin zu Produkten mit höherer Wertschöpfung bleiben eher noch abzuwarten, wobei ohne zusätzliche Mesopolitiken am ehesten die lateinamerikanischen Märkte in Frage kommen dürften. Zum anderen sorgten diese bilateralen Abkommen dafür, daß klare und stabile Regeln zu ihrer Überwachung existieren und somit die Kalkulierbarkeit des Handels mit Drittländern erleichtert wird. Wichtigstes Ergebnis der Abkommen stellt somit die Stabilisierung der Rahmenbedingungen und das heißt die Senkung der Transaktionskosten fiir chilenische Exporteure dar. Verstärkt wurde dieser Stabilisierungseffekt von staatlicher Seite durch zwei organisatorische Faktoren: Zum einen wurde das Außenministerium umstrukturiert und erhielt eine eigene Abteilung für Außenwirtschaftsfragen, was mit gleichzeitiger Professionalisierung einherging; zum anderen existiert mit ProChile eine dem Außenministerium unterstellte Organisation, die für internationales Marketing im weitesten Sinne zuständig ist (Markterkundung, Vermarktungsstrategien). Unter diesen Vorzeichen expandierte die chilenische Exportwirtschaft kontinuierlich, wobei vor allem die asiatischen Märkte stark an Bedeutung gewonnen haben, während der Anteil Lateinamerikas und der EU gegenüber den 80er Jahren relativ zurückging.151 Allerdings zeigt die Zusammensetzung der Exporte, daß die angestrebte segunda fase bislang kaum eingetreten ist, sondern sich die Exporte vor allem quantitativ (Exportmengen und -märkte) ausweiteten.152 Hierfür wird von Beobachtern vor allem die mangelhafte Entwicklung bzw. sofern in Ansätzen vorhanden - Koordination von Mesopolitiken verantwortlich gemacht.153 Nur in einzelnen Segmenten, wie dem hoch kompetitiven Obstsektor und insbesondere dem Weinbausektor, der ein Beispiel für höhere Wertschöpfung auf Basis technologischen Fortschritts und somit für einen Weg zur segunda fase darstellt, sind hier bislang Ausnahmen zu erkennen. Neben dem bereits erwähnten nachlassenden politischen Willen der Regierungen Aylwin und Frei liegt dieser Sachverhalt auch in den Verhaltensdispositionen der chilenischen Unternehmerschaft begründet, die an einer Änderung des institutionellen Arrangements und damit der Anreizstrukturen wenig Interesse zeigen: Zum einen haben sie sich in einem Lernprozeß an diese Modalitäten gewöhnt und sie so weit verinnerlicht, daß sie eine Umstellung (etwa auf mittel- bis langfristige Standortpolitiken oder auf komplexere Steuerungsmuster) für ordnungspolitisch oder ideologisch falsch halten. Zum andern bietet der von ihnen 1,1
132
1996 entfiel auf Asien ca. ein Drittel des Exportvolumens, auf die EU ca. ein Viertel und auf Nafta sowie Lateinamerika jeweils ca. ein Fünftel (vgl. WTO 1997). PrimürgOter machen unverändert 85% des Exportvolumens aus, Industriegüter ca. 10% (vgl. WTO 1997). Vgl. Garcia et al. 1994,186ff.
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perzipierte Erfolg des Wirtschaftssystems auch keinen Anreiz, die existierenden Institutionen aus Kosten-Nutzen-Erwägungen heraus in Frage zu stellen.154
2.4 Die Reform des Código del Trabajo Die im internationalen Vergleich äußerst restriktive Arbeitsgesetzgebung mit ihren Grundzügen der Atomisierung und Flexibilisierung hatte entscheidend dazu beigetragen, daß sich unter dem neoliberalen Management eine einigermaßen stabile und profitable, durch niedrige Lohnkosten sektoral kompetitive Marktwirtschaft etablieren konnte. Aus Sicht vor allem der Gewerkschaften war diese Modernisierung mit zu hohen Kosten (Reallohnverluste, Arbeitslosigkeit, Abbau von Arbeitnehmerrechten) erkauft worden, so daß das zugrundeliegende Regelwerk für sie keine Legitimationskraft besaß. Dadurch war es insgesamt als dysftinktional für die reibungslose Entfaltung des Wirtschaftssystems nach der Rückkehr zur Demokratie anzusehen. Die Reform der Arbeitsgesetzgebung ließ aufgrund der divergierenden Interessen große politische Konflikte erwarten und stand folglich beim Regierungsantritt Aylwins an oberster Stelle der politischen Agenda. Sie dennoch zu realisieren, ohne dabei Wirtschaftswachstum und soziale Gerechtigkeit zu einem faktischen Zielkonflikt bzw. zu einem Nullsummenspiel werden zu lassen, erforderte "die Fähigkeit der gesellschaftlichen Akteure, ihre kurzfristigen Interessen zu überwinden und sich mit nationaler Perspektive zu projizieren".155 Deshalb stellte die Reform in mehrerlei Hinsicht einen Prüfstein für wichtige Teilbereiche staatlicher und gesellschaftlicher Organisation dar. Erstens stand in Frage, ob oder wie weit die demokratische Regierung sich zum Sprachrohr der Gewerkschaften und der Arbeiterschaft machte, wie dies in Zeiten des Estado de Compromiso der Fall war, und so der tragenden Rolle der Gewerkschaften im Transitionsprozeß gerecht werden würde. Zweitens - und damit verknüpft stand insgesamt das Dreiecksverhältnis zwischen Staat, Unternehmer und Gewerkschaften zur Debatte. Drittens mußte sich zeigen, wie das Verhältnis zwischen Unternehmern und Gewerkschaften neu justiert, also welche Rollenverteilung der 'Tarifpartner' sanktioniert wurde. Viertens betraf dies auch die Regelung des Verhältnisses zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, also die individuellen Arbeitsverhältnisse. Schließlich waren Rückschlüsse zu ziehen auf die Rolle des Staates hinsichtlich seiner relativen Autonomie als solcher, also inwiefern die Regierung ihre politische Option gegenüber der sozialen Macht korporativer Akteure durchsetzen konnte. Bevor diese Option näher analysiert wird, ist eine Skizze der Problemkonstellation in diesem Politikfeld erforderlich. So war zunächst von Bedeutung, in welchem Maße das Politikfeld organisiert war, d.h. seine Strukturierung durch 154
Vgl. Messner/Scholz 1996, 128f. Ruiz-Tagle 1991, 132
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die Interessen und Konflikte der gesellschaftlichen Akteure. Ein erster Faktor bestand hier darin, daß mit der unter Pinochet erlassenen Reform der Arbeitsgesetzgebung (plan laboral) bereits ein relativ stringenter Gesetzeskorpus existierte. Da sie bereits über 10 Jahre lang 'funktionierte' und somit in der Praxis eingeübt war, ergo auch ihre vehementen Fürsprecher - sprich: die Unternehmer und ihnen nahestehende Parteien - fand, konnte es somit realistischerweise nur um eine Reform und nicht um eine völlige Neuerstellung des Código de Trabajo gehen. Andererseits mußte jegliches politische Handeln in diesem Bereich im Gegensatz etwa zur Umweltpolitik - auf ein hohes Maß an Organisiertheit des Politikfeldes treffen: Sowohl die Positionen und Interessen der Gewerkschaften wie die der Unternehmer hatten sich über einen längeren Zeitraum hinweg formiert und so jeweils ein gewisses Maß an Kohärenz gewonnen. Auch wenn aufgrund des Abbaus überkommener ideologischer Standpunkte bei beiden sozialen Akteuren mit einem gewissen Pragmatismus in bezug auf die künftige Ausgestaltung des Verhältnisses Staat - Unternehmer - Gewerkschaften gerechnet werden konnte,156 gab es zunächst zumindest zwei erschwerende Faktoren für dieses Unterfangen: Zum einen war der Grad an Interaktion zwischen beiden Akteuren - ebenso systembedingt - unter dem autoritären Regime nicht sehr hoch bzw., was die Gewerkschaftszentralen anbetrifft, nicht existent. Zum andern brachte dies mit sich, daß in bestimmten 'sensiblen' Punkten eher die Neigung zu Maximalforderungen und insofern zu hoher Konfliktbereitschaft und Konfrontation vorhanden war. Um einen dieser Punkte handelte es sich bei der Reform des Código del Trabajo: Beobachter sahen die Gefahr voraus, daß diese Thematik eine hohe Konfliktdynamik auslösen und zu Beginn der demokratischen Regierung in einem für die sozialen und politischen Kräfte äußerst sensiblen Sektor zu einer Radikalisierung der Positionen fuhren würde. Im Kern standen sich auf Seiten der sozialen Akteure gegensätzliche Positionen gegenüber: Während die Gewerkschaften ihr Ziel in der Aufhebung des alten Código sahen und dies gleichzeitig zu einer ihrer stärksten politischen Forderungen für den Moment der Wiedereinsetzung der Demokratie machten157, forderten die Unternehmer die strikte Beibehaltung der gültigen Gesetzgebung.158 Wenn oben von einem Schlüsselpolitikfeld nach 1990 gesprochen wurde, so soll damit nicht die Unterordnung unter die Leitideen des Entwicklungsmodells in Abrede gestellt werden. Dennoch waren es gerade die auf dessen Kontinuität abzielenden Variablen des Wirtschaftswachstums und der Stabilität, die die Problematik der Arbeitsgesetzgebung näher an den strategischen Kern staatlicher Politik rückten. Insgesamt reflektierten die Spezifika des Politikfeldes und die Konfliktlinien eine Problemstruktur, die die Möglichkeit eines faktischen Zielkonfliktes ergab. Die Konsolidierung der Demokratie war davon abhängig, daß den Forderungen 154
157
Zu den ideologisch relativ härteren Positionen der Unternehmer vgl. Imbusch 1995, 363ff.; zu den Gewerkschaften vgl. Frfas 1989, I67ff.; Pérez 1992,27ff. Vgl. CUT 1989; Albuquerque 1992,167. Vgl. Echeverría 1992,207.
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der Gewerkschaften, die die transición wesentlich mitgetragen hatten, Rechnung getragen wurde (Anerkennung und rechtliche Absicherung als gesellschaftliche Akteure, Anerkennung internationaler Normen). Die Fortführung des Wachstumsmodells wiederum war abhängig davon, daß die Unternehmer dieses Spiel mitspielten und mit keiner grundlegenden Änderung ihrer Handlungsbedingungen rechnen mußten. Da dies für die Unternehmer mit einer Beibehaltung des Código gleichbedeutend war, hätte dies unweigerlich den Konflikt mit den Gewerkschaften heraufbeschworen bzw. die Konsolidierung der Demokratie in diesem Punkt beeinträchtigt. Um diesen strukturell angelegten Zielkonflikt nicht zum Ausbruch kommen zu lassen bzw. als Dilemmasituation zu vermeiden, war es notwendig, daß die betroffenen sozialen Akteure entweder freiwillig von ihren Maximalforderungen abrückten oder aber von Regierung bzw. Staat dazu gebracht werden konnten. Die Spezifika der Materie legten bereits nahe, daß aufgrund der Interessenund Konfliktlage der sozialen Akteure, die zudem um den Kernsektor der gesamten Entwicklungsstrategie gelagert war, ein immenser Regelungsbedarf bestand. Sowohl ein Nachgeben der einen wie der anderen Seite als auch eine Strategie der Nichtentscheidung konnten um den Preis einer unkalkulierbaren Konfliktdynamik in dieser Situation nicht verfangen. Die Problemlage hätte auch dann die Aktivität des Staates erfordert, wäre nicht mit Patricio Aylwin der Kandidat der Concertación zum Präsidenten gewählt worden. Denn auch wenn es aufgrund der historischen Ereignisse müßig erscheint, dieser kontrafaktischen Frage nachzugehen: Trotz ihrer geschwächten Position hätten die Gewerkschaften ausreichendes Handlungspotential besessen, um mit Unterstützung der Parteien der Concertación ihre Forderungen zumindest soweit zur Sprache zu bringen, daß eine reibungslose Fortführung der Ordnungspolitik des autoritären Neoliberalismus nur um den Preis erneuter demokratischer Regression möglich gewesen wäre. Alleine die Existenz eines demokratischen Systems mit politischer Öffentlichkeit und seine Implikationen für die politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse machten es im Gegensatz zum autoritären Regime erforderlich, die gesellschaftlichen und politischen Konfliktlagen nicht zu ignorieren bzw. für beide Seiten akzeptable Spielregeln zu etablieren. Die Option der Regierung bestand im Kern darin, über die Einrichtung einer weitgehenden Tarifautonomie ein System der Selbststeuerung der beiden sozialen Akteure zu etablieren, also staatliche Akteure aus den konkreten Verteilungskonflikten herauszuhalten. Insbesondere sollte dadurch erreicht werden, daß die Lohnentwicklung auch in der Höhe mit der Entwicklung der Produktivität Schritt hielt. 159 Für das Funktionieren dieser Selbststeuerung war es notwendig, die vom plan laboral herrührende Asymmetrie abzubauen und in ein größeres Gleichgewicht ('Waffengleichheit') umzuwandeln. Da es gleichermaßen ein übergeordnetes Steuerungsziel war, eine möglichst große Erwartungssicherheit für die relevanten Akteure aufzubauen, mußten zwei weitere Bedingungen erfüllt werden: erstens die Festlegung einer Mindestdauer der angestreb159
V g l . Silva 1 9 9 6 , 2 3 0 .
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ten Reform und zweitens ein Akzeptanzgrad in dem Sinne, daß sowohl Arbeitnehmer als auch Unternehmer bereit waren, die neuen (bzw. modifizierten) Spielregeln wenigstens nicht zu obstruieren. Dieses Steuerungsziel war darüber hinaus einzubinden in die anvisierte Entwicklungsstrategie, um Modernisierung und Demokratisierung zu kompatibilisieren und somit ein mögliches Dilemma zu vermeiden.160 Ihre Ausgangsposition hatte die Regierung im Programm für die Parlamentsund Präsidentschaftswahlen 1989 - also die founding élections - formuliert, in dem sie vor allem auf den institutionellen Wandel in Richtung Selbstregulation abzielte.161 Hervorgehoben wurde das Recht des Staates, mittels einer integralen 'Arbeitspolitik' (política laboral) aktiv, d.h. rahmensetzend in diesem Bereich zu wirken. Die Reformvorhaben der Regierung zielten im wesentlichen auf drei Bereiche: die individuellen Rechte des Arbeiters, das gewerkschaftliche Organisationsrecht und das Tarifverhandlungsrecht (negociación colectiva)}61 Die Rechte der Arbeitnehmer im Falle von Entlassungen sollten gestärkt werden, u.a. indem jede Kündigung auf einem gesetzlich explizierten Grund basieren und den Tatsachen entsprechen mußte. Dies zielte auf die Abschaffung des berüchtigten Artikels 155f des Código del Trabajo, der die Entlassung ohne Angabe von Gründen ermöglichte, d.h. alleine dem Willen des Arbeitgebers unterstellte. Im Gegenzug sollte jedoch über Artikel 161 ('wirtschaftliche Notwendigkeit des Unternehmens') zugleich die hohe 'Flexibilität' der Unternehmen geschützt werden. Die Rechte gewerkschaftlicher Organisation auch über die Betriebsebene hinaus wurden bekräftigt, doch blieben Tarifverhandlungs- und Streikrecht auf die Betriebsebene beschränkt. Im Hinblick auf das Streikrecht selbst wurden gegenüber dem plan laboral Änderungen vorgesehen, die die Macht der Unternehmer in den Arbeitsbeziehungen zumindest einschränken und für ein größeres Gleichgewicht in den Tarifverhandlungen sorgen sollten. Dies betraf v.a. die Bestimmung, wonach nach sechzig Tagen Streikdauer die Arbeitsverträge als 'hinfallig' angesehen werden konnten, die Arbeiter also auf der Straße standen. Diese Bestimmung hatte den Streik als wichtigstes Instrument zu einer relativ stumpfen Waffe der Gewerkschaften gemacht und wird als eine der Hauptursachen für die nur geringe Streikaktivität in Chile Ende der 80er Jahre angesehen.163 Ähnliches galt für die Bestimmung, daß im Falle eines 'legalen' Streiks sich einzelne Arbeitnehmer nach dreißig Tagen Streikdauer von demselben absetzen und individuell wieder die Arbeit aufnehmen konnten ('Streikbrecher') bzw. daß Ersatzarbeiter eingestellt werden konnten. Insgesamt sollte sich die política laboral jedoch nicht nur auf die Arbeitsgesetzgebung im engeren Sinne erstrecken, sondern vielmehr in ein Bündel weiterer Zielsetzungen eingebunden werden: Wirtschafts- und Sozialpolitik (wie Mindestlöhne, Beschäftigung und Berufsausbildung), Förderung von Partizipa160
Vgl. Cortázar 1995, 132.
161
Vgl. Ruiz-Tagle 1991,129 Zum folgenden vgl. Concertación 1989,26ff.
143
Vgl. Ruiz-Tagle 1991,131.
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tion und Konzertierung bei Design und Implementierung der Arbeitspolitik, eine effiziente Verwaltung in diesem Sektor, Arbeitsgerichtsbarkeit und schließlich soziale Sicherheit. Die Einbindung der Reform der Arbeitsgesetzgebung in eine derart verstandene 'integrale' Politik versuchte den Eindruck zu vermeiden, daß alleine die Änderung der geltenden Normen einen faktischen Wandel der Wirtschafts- und Sozialordnung bewirken könnte, weshalb neben den weiteren wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen vor allem die Strategie der Partizipation und Konzertierung betont wurde. Damit ist die Frage aufgeworfen, welche Handlungskorridore der Regierung für ihr Reformprojekt zur Verfugung standen. Naheliegend und auch im Programm bereits explizit genannt war die Strategie der sozialen Konzertierung, d.h. der Versuch, über Dialog und Konsensbildung mit Gewerkschaften und Unternehmerverbänden bereits im Vorfeld zur Ausarbeitung eines Gesetzespaketes zu gelangen, das mit der Zustimmung der betroffenen gesellschaftlichen Gruppen rechnen konnte und insofern auch kaum hätte vom Senat blockiert werden können. Naheliegend war diese Strategie aus zwei Gründen: Zum einen besaß die Opposition im Senat aufgrund der designierten Senatoren eine Mehrheit, die sich bei einem Konfrontationskurs gegenüber den Unternehmern eher als Garant der etablierten Ordnung erwiesen hätte. Zum andern galt es, den oben skizzierten möglichen Zielkonflikt zu vermeiden, d.h. Maximalpositionen und die daraus resultierenden Obstruktionspotentiale 'wegzuverhandeln', die auch bei einer erfolgreichen, rein parlamentarischen Umsetzungsstrategie ihre Wirkung entfalten konnten. Erleichtert und somit gangbar wurde diese Option durch die oben skizzierten Annäherungsprozesse der sozialen Akteure, d.h. vor allem durch ihr gewandeltes Selbstverständnis. Zwar war dies bei den Gewerkschaften noch weniger gefestigt, was ihre 'neue' Rolle als autonomer Akteur - also ohne Tutelage von Staat oder Parteien - und als aktiver Partner in einer marktwirtschaftlichen Ordnung anbetrifft, doch war ihr Bekenntnis zur Demokratie notwendigerweise unzweideutig - d.h. auch, daß eine Schwächung der Demokratie für sie sozusagen der worst case bedeutete.164 Auf Unternehmerseite konnte die Regierung zwar nicht mit einem Demokratiebekenntnis und auch nicht mit großer Reformbereitschaft rechnen, doch immerhin mit einem Interesse an großer politischer, sozialer und wirtschaftlicher Stabilität - und zwar auch mittel- bis langfristig, was nicht zuletzt damit verknüpft war, daß die chilenischen Unternehmer im Gegensatz zu früheren Zeiten über ein ideologisch festgefugtes, aber dennoch relativ pragmatisches Selbstverständnis verfügten, das zumindest Verhandlungen wahrscheinlich machte. Das Aushandeln der Reform, das bereits Anfang 1990 in Angriff genommen wurde, folgte zunächst der oben skizzierten Leitlinie der Konzertierung. In dieser von Tripartismus unter Federführung der Regierung geleiteten Phase konnten weitgehende Annäherungen in Grundsatzfragen erreicht werden, wie sie sich im Acuerdo Marco vom April 1990 niederschlugen. Schon bei der Auslo,M
Vgl. CUT 1989, 5ff.
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tung des Reformpakets wurde jedoch deutlich, daß die Kluft zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern kaum zu überbrücken war. Zwar strebte die Regierung über die Modifizierung der Entlassungsbestimmungen, des Tarif- und Streikrechts sowie der Gewerkschaftsgesetzgebung gleichberechtigtere Arbeitsbeziehungen und Verhandlungspartner an. Die Gewerkschaften sprachen sich jedoch für eine grundlegendere Reform aus, während die Arbeitgeber im plan laboral nach wie vor eine Garantie von Stabilität und Entwicklung sahen und hierfür Argumente wie Schaffung von 1,5 Mio. Arbeitsplätzen, niedrige Arbeitslosigkeit und gestiegene Reallöhne anführten.165 Streitpunkte waren v.a. die Abschaffung des Art. 155f, die Bemessungsgrundlage für Abfindungen im Entlassungsfall, das Tarifverhandlungsrecht für Gewerkschaftsbünde und -verbände (federaciones y confederaciones), die Festlegung auf Gewerkschaften als einzige Verhandlungspartner auf Arbeitnehmerseite sowie die Ausweitung der Verhandlungsmaterien.166 Trotz des von den drei Seiten anerkannten Wertes der acuerdos, der vor allem in der Perzeptionsbeeinflussung hinsichtlich drohender Nullsummenspiele bestand, kam es somit zwar zur Annäherung, in dieser Materie aber nicht zur Überbrückung der Gegensätze zwischen CUT und CPC. Arbeitsminister Cortázar hatte jedoch schon frühzeitig (Februar 1990) deutlich gemacht, daß die Regierung eine Reform der Arbeitsgesetzgebung nicht von einer korporatistischen Problemlösung abhängig machte, sondern im Falle einer Nichteinigung selbst die Verantwortung und damit die Initiative ergreifen würde.167 Entsprechend präsentierte die Regierung im Juli 1990 vier Gesetzesprojekte im Parlament, die allesamt von der Äquidistanz zu den Positionen von CUT und CPC geprägt waren168 und sich auf folgende Bereiche erstreckten: Beendigung von Arbeitsverträgen, Gewerkschaftszentralen, gewerkschaftliche Organisation und Tarifverhandlungen inkl. Streikrecht (negociación colectiva)-, die beiden letzteren wurden später zu einem Gesetz zusammengefaßt. Die Regierung schwenkte somit auf die Strategie einer politischen Lösung um und verhandelte die endgültige Ausgestaltung des Reformpakets im Parlament. Da hier aufgrund der Mehrheitsverhältnisse die Zustimmung zumindest eines Teils der oppositionellen Senatoren notwendig war, leitete Aylwin den Entwurf nicht an das Abgeordnetenhaus, sondern direkt an den Senat. Dies rief die Kritik der Gewerkschaften hervor, wurde von der Regierung jedoch mit dem Argument des 'Realismus' - da die Zustimmung ohnehin vom Senat abhing verteidigt. Wie schon bei der Steuerreform sah die Regierung ihren Handlungsspielraum darin, mit der gemäßigteren Oppositionspartei RN zu einer Verhandlungslösung zu kommen. In den folgenden Wochen und Monaten entspannen sich im Senat je nach Streitbarkeit der Materien z.T. heftige Debatten, in die sich auch die sozialen Akteure wieder involvierten und die zu unterschiedlichen Vgl. Abramo/Espinosa 1992, 53. Vgl. Foitunatti 1991,66. 167
Vgl. ebd., 63. Vgl. Pérez 1992,42.
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Rhythmen der Kompromißfindung und ergo Verabschiedung der drei Gesetze führten.169 Abb. 15: Reforma laboral: Regierungsprojekt und Politikergebnis170 Gesetz Uber Beschäftigungsstabilität und Beendigung von Arbeitsvertragen (D.L. 19.010; Nov. 1990) Regierungsprojekt Abschaffung Art. 155f (Entlassung ohne Angabe von Grllnden); Einführung eines Artikels, der Entlassungen aufgrund der 'Notwendigkeiten des Unternehmens' erlaubt (Art. 161) Entlassungsabfindungen: ein Monatslohn pro Arbeitsjahr (alt: max. 5) bei unrechtmäßigen Entlassungen Abflndungserhöhung um 25% (neu) Abfindung in Höhe eines halben Monatslohns pro Arbeitsjahr fllr Angestellte in Privathaushalten (neu)
Kompromißlösung * beibehalten
* max. 11 Monatslöhne * Erhöhung um 20% * beibehalten
Gesetz Uber Gewerkschaftszentralen (D.L. 19.019; Jan. 1991) Regierungsprojekt * nötig zur Gründung sind mindestens 10% aller gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer 171 * Zentralen konstituieren sich aus Konföderationen, Föderationen sowie Gewerkschaften mit mehr als 1.000 Mitgliedern * beitreten können aktive wie passive Arbeiter des öffentlichen wie des Privatsektors
Kompromißlösung * erforderlich: 5% * beibehalten; Streichung der Mindestgröße * beibehalten
Gesetz Ober gewerkschaftliche Organisation und Tarifverhandlungen (D.L. 19.040; Juli 1991) Regierungsprojekt
Kompromißlösung
* Festlegung der gewerkschaftlichen Beitragsquote fllr Zentralen, Konföderationen und Föderationen * Partner in Tarifverhandlungen sind ausschließlich gewerkschaftliche Organisationen * Aufhebung des Verbots Uberbetrieblicher Verhandlungen * Erweiterung der Materien (außer Betriebsfilhrung und -Verwaltung) * Einführung Uberbetrieblicher Verhandlungen (Branchen) * Möglichkeit freiwilliger Vereinbarungen fllr (Kon-)Föderationen * unbegrenzte Streikdauer, ohne die Möglichkeit fllr den Arbeitgeber, Ersatzarbeitnehmer einzustellen * Arbeitnehmer können sich nach 14 Tagen vom Streik abkoppeln, wenn das Angebot des Arbeitgebers die Inflationsrate ausgleicht
* wird von Gewerkschaften selbst bestimmt * erweitert um 'Gnippen' und Einzelpersonen * beibehalten * beibehalten * freiw. Vereinbarungen * beibehalten * Ersatz einstellbar, wenn Angebot = Inflation * beibehalten
Mit dem Abweichen vom Tripartismus stellte die Regierung ihre gesetzgeberische Handlungskapazität sicher, was nicht zuletzt auch den Demonstrationseffekt nach außen beinhaltete. Die Distanz zu Unternehmern und Gewerkschaften wurde zwar mit Konzessionen an die Opposition erkauft und führte zur Kritik seitens der Interessenverbände.172 Die Regierung hatte jedoch deutlich gemacht, 169
Vgl. Fortunatti 1991.70f.; Abramo/Espinosa 1992,53ff.
170
Quelle: Echeverría 1992,209; Rojas 1994,224ff.
"'
Die CUT forderte 15%, was gegen die Errichtung konkurrierender Zentralen gerichtet war; zu diesem Zeitpunkt hatte die CUT bereits mehr als 50% aller Mitglieder aufgenommen (vgl. ebd., 224). Vgl. Fortunatti I991,67flf.
in
219
daß sie ihren geringen politischen Handlungsspielraum für ihre Steuerungsziele auch gegen die Versuche korporatistischer Einflußnahme bzw. bei nicht erfolgenden Konsenslösungen zu erhalten bzw. auszubauen gewillt war. Abbildung 15 faßt sowohl die Kernpunkte der drei Gesetzesprojekte zusammen, wie sie von der Regierung präsentiert wurden, als auch die Veränderungen aufgrund der Kompromißlösung mit Renovación Nacional. Die Festlegung der Geltungsdauer der Reform auf (mindestens) die Amtszeit Aylwins bedeutete, daß für diesen Zeitraum für die beteiligten Akteure die notwendige Erwartungssicherheit hergestellt wurde. Sowohl CPC als auch CUT kritisierten zwar die Kompromisse auf politischer Ebene, akzeptierten sie jedoch letztlich als Handlungsrahmen. Für die Gewerkschaften brachte das reformierte Regelwerk nicht nur die Anerkennung als gesellschaftlicher Akteur und als Tarifpartei, sondern auch Teilverbesserungen ihrer Verhandlungsressourcen. Zudem blieb - wenngleich nur in mittel- bis langfristiger Perspektive die Option weiterer Reformen offen. Auf der anderen Seite bedeutete die Reform für die Unternehmer einen weitaus geringeren Positionsverlust, als ursprünglich von ihnen befürchtet worden war.173 Dies erklärt sich zum einen aus der doppelten Konzertierung sowohl auf gesellschaftlicher wie auch auf politischer Ebene, da die RN und oppositionellen Senatoren deutlich unternehmerfreundliche Positionen durchsetzen konnten. Zum andern hatte die Regierung bereits eher gemäßigte Vorstellungen über die neue Institutionalität der Arbeitsbeziehungen entwickelt, wie vor allem an der Ersetzung von Art. 155f durch Artikel 161 zu ersehen. Aus ordnungspolitischer Sicht bedeutete die reforma laboral einen institutionellen Wandel gegenüber dem autoritären Neoliberalismus, indem sie das Verhältnis zwischen Staat und Interessengruppen sowie die kollektiven und individuellen Arbeitsbeziehungen neu regelte. Die rigide Flexibilisierung der Arbeitskraft wurde zumindest eingeschränkt und der Weg vor die Arbeitsgerichte wenigstens formell geebnet. Weiterhin wurde die Bildung von Gewerkschaften bzw. ihrer Dachverbände erleichtert (bzw. legalisiert, wie die CUT selbst) und ihre Vertreter in den Betrieben besser geschützt als zuvor. Indem die Gewerkschaften als autonome und prinzipiell gleichberechtigte Interessengruppe verankert wurden, wurde explizit der gesellschaftlichen Komplexität und ihrer Funktionsweise Rechnung getragen, wie sie die neoliberale Orthodoxie negiert hatte. Ergänzt wurde die Reform von Regierungsseite durch eine Stärkung der Rechtsaufsicht seitens der dem Arbeitsministerium unterstellten Dirección del Trabajo, um die Effektivität der neuen Gesetzgebung zu gewährleisten.174 In diese Richtung zielte auch das Gesetz über 'Arbeitsvertrag und Arbeitsrechtsprechung' vom September 1993, wodurch der neue Código del Trabajo komplettiert werden konnte. Er trat im Januar 1994 in Kraft und stellt nicht weniger als den ersten demokratisch verabschiedeten Arbeitskodex in der chilenischen
Vgl. Imbusch 1995,425ff. 1,4
Vgl. Cortázar 1995, 133f.
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Geschichte dar.175 Wenngleich somit wieder modernere Elemente in die Spielregeln eingeführt wurden, blieb die Funktionsweise dennoch klar von der Systemlogik bestimmt: Tarifautonomie und 'relative' Waffengleichheit spiegelten auch nach der Reform die strukturelle Privilegierung der Unternehmer im Rahmen des Entwicklungsmodells wider. Insbesondere die vage formulierte Klausel, daß Entlassungen aufgrund 'unternehmerischer Notwendigkeit' möglich sind, wurde in der Praxis wieder zur Flexibilisierung genutzt, ohne daß von gewerkschaftlicher Seite hier ein Mitbestimmungs- oder Einspruchsrecht existierte.' 76 Trotz der Modifikationen an ihrem ursprünglichen Projekt sah die Regierung ihre grundlegenden Ziele im wesentlichen erreicht. Neben der aus ihrer Sicht zumindest zufriedenstellenden relativen Waffengleichheit zwischen Unternehmern und Gewerkschaften sowie der verbesserten vertraglichen Absicherung der Arbeitnehmer betraf dies vor allem die Etablierung der Autonomie der Tarifparteien, um die Konflikte in der Arbeitswelt ohne staatliche Intervention oder Tutelage selbst regeln zu können. Mit den Konzertierungen zunächst auf sozialer und dann auf politischer Ebene hatte sie zudem dafür gesorgt, daß die Spielregeln ein hohes Maß an Konsens beinhalteten und so zumindest für die Amtszeit Aylwins mit stabilen Rahmenbedingungen gerechnet werden konnte. Gleichzeitig hatte sie den sozialen Akteuren auch deutlich gemacht, daß der Staat zwar die Definition und Garantie der Spielregeln übernimmt und hierfür auch deren Partizipation sucht, jedoch auch der Angemessenheit der Institutionen Rechnung trägt und sich möglichst von korporativem Druck freizumachen versucht. Eine Einschätzung der tatsächlichen Angemessenheit der neuen institutionellen Regelungen und damit ihrer Auswirkungen für Modernisierung bzw. Entwicklung erfordert die Analyse unterschiedlicher Indikatoren, da sich in der Arbeitsgesetzgebung wirtschaftliche, soziale und politische Faktoren überlagern. Besonderes Gewicht ist hierbei den Gewerkschaften (Organisationsentwicklung, Rolle als sozialer und politischer Akteur) beizumessen; zuvor aber ist wenigstens andeutungsweise die Inzidenz der Reform in Wirtschaftssystem und ökonomische Gesellschaft zu prüfen. In bezug auf die weitere Entfaltung des Wirtschaftssystems spielt neben den skizzierten Konstruktionsbedingungen inkl. stabilisiertem Handlungsrahmen vor allem eine Rolle, daß sich arbeitsrechtliche Regelungen und die daraus folgende Verteilung der Handlungsressourcen auf den Preis der Arbeitskraft, die Produktivität und die Flexibilität der Produktionsprozesse auswirken. Die Deregulierungen des plan laboral hatten vor allem auf Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen und Atomisierung der Tarifverhandlungen gezielt, um u.a. die Reallohnsteigerungen an die Produktivitätsentwicklung zu koppeln, und dies nach der Preisgabe der Inflationsindexierung auch erreicht. Dieser Mechanis-
Vgl. Cortázar 1994; die vorangegangenen Regelwerke (1931, 1987) stammten beide aus autoritären Phasen. 1,6
Vgl. Rojas 1995b, 8.
221
mus ist nach neostrukturalistischen Vorstellungen im Kern beizubehalten177 und sollte auch durch die Reform nicht in Frage gestellt werden. Die entsprechenden Daten deuten daraufhin, daß die neuen Regelungen zumindest bis 1995 diese Koppelung nicht grundsätzlich änderten, wobei die Wachstumsraten wie bereits schon in der 80er Jahren im Schnitt höher lagen als die Reallohnsteigerungen.
Abb. 16: Wachstum, Reallöhne und Produktivität (Steigerungen in %)178
Im Gegensatz zu den 80er Jahren ist festzuhalten, daß die Reallohnveränderungen kontinuierlich positiv ausfielen und so die Löhne 1995 im Durchschnitt um ca. 26% höher lagen als 1989. Auch stieg die Beschäftigung in absoluten Zahlen kontinuierlich und konnte bis 1995 in etwa mit dem Anstieg der Zahl der Erwerbspersonen Schritt halten, so daß die (offizielle) Arbeitslosenrate konstant blieb (ca 5-6%).179 Für alle diese Daten gilt jedoch die Einschränkung, daß sie über die Qualität des Wachstums und damit auch seine Tragfähigkeit wenig aussagen. Da seit über zehn Jahren ein relativ hohes Wachstum vorliegt, steht auch der Test für die Koppelung von Lohnentwicklung und Produktivität für den Fall einer Rezession noch aus. Auch ist zu berücksichtigen, daß die realen Einkommen für viele Beschäftigte relativ niedrig liegen und zum Teil aus prekären Arbeitsverhältnissen resultieren: Schätzungen gehen davon aus, daß etwa 600.000 Arbeitnehmer nur den monatlichen Mindestlohn (1995: ca. 150 US$) erhalten und etwa 2 Mio. Arbeitnehmer bis zu 270 US$ verdienen; zusammen sind dies etwa die Hälfte aller Beschäftigten. 180 Eine etwas positivere Tendenz 177
FOr Linder, die solche Umstrukturierungen noch nicht vorgenommen haben, empfiehlt die CEPAL die Einführung dieser Produktivitätskoppelung (vgl. Lahera 1996, 12).
"* Die Daten fUr 1996 beziehen sich auf das erste Halbjahr (vgl. CEPAL 1996). 1,9
Vgl. Cortázar 1995, 130. Vgl. Rojas 1995b, 5f.
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ist darin zu sehen, daß der Beschäftigungszuwachs seit 1990 zu etwa 80% dem formalen Sektor zuzurechnen ist und hier die Anzahl der Beschäftigten ohne Arbeitsvertrag prozentual zurückging (1990: 18,2%; 1992: 14,8%). m Demgegenüber blieb das Ausmaß des informellen Sektors in etwa konstant (27% aller Beschäftigten), wobei sich allerdings Chile gegenüber anderen lateinamerikanischen Ländern durch eine stärkere Koppelung von formalem mit informellem Sektor auszeichnet.182 Insgesamt deuten diese Daten daraufhin, daß die Reform der Arbeitsgesetzgebung in Hinblick auf die Art der Produktivität der Arbeitsplätze nichts an der Anreizstruktur geändert hat: Basis des chilenischen Wachstums sind nach wie vor die zwar steigenden, aber noch immer relativ niedrigen Lohnkosten. In bezug auf die Funktionsweise der ökonomischen Gesellschaft sind aus dem Blickwinkel der Arbeitsgesetzgebung die Verhältnisse in den Betrieben selbst sowie insbesondere das Ausmaß an Tarifverhandlungen und Streiks von Interesse. Hinsichtlich der 'Unternehmenskultur' in Chile zeichnen neuere Untersuchungen ein eher heterogenes Bild: Betonen einige Autoren die Herausbildung einer neuen Unternehmerschaft in Chile, die sich durch Initiative, Risikobereitschaft und unternehmerisches Selbstbewußtsein auszeichnet,183 so verweisen andere Studien auf ein eher archaisches Verständnis von Unternehmensftihrung, in der autoritäres Management, tayloristische Arbeitsorganisation und restriktive Informationspolitik über den Betrieb vorherrschen.1 4 So hat die Ansiedlung von Tarifverhandlungen auf Betriebsebene zwar - wie CPC-Präsident Guzmán formulierte - zur Annäherung zwischen Arbeitern und Unternehmern sowie dazu geführt, daß die Arbeiter die Bedeutung der Wirtschaftslage des eigenen Betriebs für ihre Lebensverhältnisse erkannt hätten.183 Allerdings neigen die Unternehmer eher zur Tendenz, die gegebenen Spielräume einseitig zu ihren Gunsten im Sinne von Flexibilisierung und Deregulierung auszunutzen, wie insbesondere den Artikel 161 zu Entlassungen aus betriebsbedingten Gründen. Wie Guzmán selbst hervorhebt, seien die Beziehungen zwischen CUT und CPC wesentlich 'komplexer' als die Arbeitsbeziehungen in den Betrieben.186 Hinsichtlich der Tarifverhandlungen zeigt sich ebenso wie bei den durchgeführten Streiks ein eher niedriges Profil. Sowohl 1992 als auch 1993 waren nur ca. 10% der etwa 4,7 Mio. Beschäftigten von Tarifverhandlungen erfaßt, während sich die Zahl der Streiks seit 1990 zwar mehr als verdoppelte (1992: 247; 1993: 225), doch im Schnitt nur 25.000 Arbeitnehmer beteiligt waren.187 Beides weist auf ein eher niedriges Niveau der Regulierung der Arbeitsbeziehungen hin und legt den Eindruck nahe, daß, wenn nicht der institutionelle Rahmen, so doch die 1,1
Vgl. MIDEPLAN 1994,43ff.
" 2 Vgl. Dlaz 1995, 178ff. 1,5 1,4
Vgl. Montero 1993. Vgl. Rojas 1995b; Rürup 1995; Frlas 1995. Vgl. El Mercurio 29.10.1995. Vgl. Rürup 1995, 83. Vgl. Rojas 1995a, I22f.; Rürup 1995,77.
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Praxis die intendierten Modemisierungs- und Entwicklungsziele unterläuft, die sowohl den geregelten Konfliktaustrag zwischen den autonomen Sozialparteien als auch deren kooperative Abstimmung in den Betrieben selbst vorsehen (Untemehmensentwicklung, Berufsbildung etc.). Im geringen Ausmaß an Konflikten auf Betriebsebene sehen die Unternehmer (nach ca. 5 Jahren Laufzeit) einen Erfolg der Arbeitsgesetzgebung, was auf deren Angemessenheit für die Fortsetzung des bisherigen Modernisierungsmusters hinzuweisen scheint; umgekehrt wird seitens der Gewerkschaften die geringe Konfliktintensität gerade ihren restringierten Handlungsressourcen und damit einer defekten Institutionalität im Arbeitsbereich zugeschrieben. 188 Betrachtet man die Funktionsweise der ökonomischen Gesellschaft weniger unter Konflikt- denn unter Kooperationsgesichtspunkten im Hinblick auf eine weitere Modernisierung der Arbeitswelt, so bietet das institutionelle Arrangement hierfür wenig Anreize. Die stark ausgeprägte Dezentralisierung von Tarifverhandlungen, die auch Abstimmungsprozesse auf Branchen- bzw. auf regionaler und nationaler Ebene bis dato fast völlig unmöglich gemacht hat, läßt die Thematisierung einer betriebsübergreifenden Agenda kaum zu. 189 Dies führt dazu, daß sektorspezifische Problemlagen oder gar zukunftsweisende Modernisierungsprofile nicht hinreichend zwischen den sozialen Akteuren koordiniert werden können, da ein organisatorisches Vakuum existiert. Die Gründe hierfür sind neben der fehlenden institutionellen Anreizstruktur auch in dispositionellen Faktoren zu sehen: Die Unternehmer gewichten die Konfliktdimension der Arbeitsbeziehungen überaus stark und sind deshalb an einer Beibehaltung der atomisierten und wenig kooperativen Verhandlungsstruktur interessiert.1 Die Gewerkschaften hingegen sind noch immer mit multiplen Problemlagen konfrontiert, die ihre Handlungs- und Strategiefahigkeit insgesamt beeinträchtigen. Die Entwicklung von Organisationsstärke und Handlungskapazität der Gewerkschaften nach 1990 stellte einen zentralen Faktor für die Tragfähigkeit und Wirksamkeit der Arbeitsgesetzgebung als Teilinstitution der Wirtschaftsordnung dar. Zum einen war die intendierte Selbstregulation der Arbeitsbeziehungen durch Unternehmer und Arbeiter davon abhängig, daß die beteiligten Akteure auch faktisch in ausreichendem Maße handlungs- und konfliktfähig waren. Zum andern hing die Stabilität des institutionellen Rahmens davon ab, inwiefern die Gewerkschaften ihn auch dauerhaft akzeptierten, d.h. als tragfähig für die Durchsetzung der eigenen Interessen erachteten. Eine Klärung dieser beiden Aspekte erfordert Aussagen erstens zur Gewerkschaftsstärke, die eingeschätzt werden kann anhand der Kategorien 'Integration und Mobilisierung', 'politische Verhandlungsmacht' und 'ökonomische Verhandlungsmacht'191 sowie
Vgl. El Mercurio Internacional 13.-19.4.1995. Vgl. Barrera 1995,192ff. Vgl. ebd., 204flf. Diese Kategorien sind dem 'Fünfeck der Gewerkschaftsstärke' von Lauth entnommen (vgl. Lauth 1991, 36fT.); vernachlässigt werden hier die Faktoren 'Autarkie' und 'internationale Unterstützung'.
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zweitens zum politischen Verhalten der Gewerkschaften und der damit verbundenen Konfliktdynamik nach der Reform von 1991. Aussagen zur Stärke der chilenischen Gewerkschaften müssen zunächst einige grundlegende Problemlagen der chilenischen Gewerkschaften in Rechnung stellen. Zu Beginn der neunziger Jahre waren sie noch immer mit den Auswirkungen des Bruchs konfrontiert, den der Putsch nach sich gezogen hatte und der ein vierfaches Krisensyndrom auslöste:192 Auf politischer Ebene wurden die Aitikulations- und Kommunikationsmechanismen gekappt, auf ideologischem Terrain hatte sich der einheitsstiftende (sozialistische) Diskurs aufgelöst, organisatorisch wurden sie durch die Zerschlagung ihrer Verbände und damit in ihrer Einheit geschwächt und strukturell durch die Umwälzungen der Produktions- und Beschäftigungsstruktur. Wie in Kap. II analysiert, hatte dies zunächst zu einem dramatischen Rückgang des Organisationsgrades und später - bereits unter dem plan laboral - nur zu einem mäßigen Anstieg der Mitgliederzahlen geführt. Des weiteren resultierte die strikte 'Dezentralisierung' in einer strukturell verfestigten Zersplitterung des Gewerkschaftswesens in Tausende von Betriebsgewerkschaften, die keine politische und eine begrenzte ökonomische Verhandlungsmacht besaßen. Demgegenüber konnten sich zwar (illegal) Gewerkschaftsdachverbände reorganisieren, die jedoch auf den übriggebliebenen alten Gewerkschaftsstrukturen aufbauten und insofern wenig repräsentativ waren, eher der (partei-)politischen Logik der Opposition folgten und weder über ökonomische noch politische Verhandlungsmacht verfugten. Die generelle Schwächung der Gewerkschaften betraf somit unterschiedliche Ebenen und barg überdies die Gefahr verschiedener Organisationslogiken in sich.
Tab. 13: Mitgliedschaft in Gewerkschaften und Gewerkschaftsverbinden193 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995
Mitglieder 507.616 606.812 701.355 724.065 682.704 661.966 (600.000)
Organisationsgrad 11,5 13,6 15,4 15,2 13,7 13,3 (12,0)
Gewerkschaften 7.118 8.801 9.858 10.650 11.389 12.109 (...)
Durchschnittsgröße 71 69 71 67 60 55 (...)
Die Organisations- und Mobilisierungsfähigkeit blieb auch nach 1990 eher prekär. Mt Einsetzen der Transition erhielten die Gewerkschaften zwar wieder größeren Zulauf, doch blieben die Zahlen weit hinter dem Stand von 1973 zuVgl. Campero 1990,195ff. Quellen: Rojas 1995a, 138; 1995b, 3f.; die Zahlen für 1995 entstammen einem Interview mit dem neuen CUT-Yorsitzenden Roberto Alarcón (vgl. El Mercurio Internacional 9.-15.5.1996).
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rück. Für die Phase von 1990 bis 1995 weisen die Daten zunächst zwei deutliche Tendenzen aus: Zum einen fielen nach einem Höchststand 1991/92 der Organisationsgrad und dann auch die absolute Zahl der Mitglieder; zum andern stieg durchweg die Zahl der Einzelgewerkschaften, was sich konsequenterweise in deren geringer werdenden Größe und somit in einer weiteren Zersplitterung ausdrückt. Beides ist Anzeichen für einen Rückgang der Gewerkschaftsstärke, da zu dem Verlust an finanziellen Ressourcen sowie an Repräsentativität eine wachsende Heterogenisierung trat, die die interne Kohäsion schwächte und die Präferenz- und Willensbildung erschwerte. Diese Tendenzen verdanken sich einem Bündel struktureller und dispositioneller Faktoren, auf die auch der neue institutionelle Rahmen partiell stabilisierend bzw. als Katalysator wirkt. Die unter Pinochet veränderten Produktionsund Beschäftigungsstrukturen sind nach wie vor dadurch geprägt, daß sich vor allem die Sektoren Land-, Forst- und Fischwirtschaft sowie Handel und Dienstleistungen ausweiten, während verarbeitende Industrie und öffentlicher Sektor stagnieren bzw. sich rückläufig entwickeln. Dies bedeutet, daß - abgesehen vom Kupferbergbau - die Branchen mit traditionell starken Gewerkschaften gegenüber jenen an Bedeutung verlieren, in denen der Organisationsgrad niedrig und die Zahl der ungesicherten Arbeitsplätze hoch ist. In den letztgenannten Sektoren sind die Organisationsanreize dadurch gemindert, daß für die hier besonders ausgeprägten Beschäftigungsformen (Untervertragsverhältnisse, Zeitarbeit, Heimarbeit) kein Recht auf Tarifverhandlungen existiert. Zur Erklärung des als niedrig erachteten Organisationsgrades sind aber auch dispositionelle Faktoren seitens der Arbeitnehmer zu berücksichtigen. Zu diesen zählen erstens der Wunsch nach stabilen Arbeitsverhältnissen, der nicht zuletzt durch das 'Trauma der Arbeitslosigkeit' seit den frühen achtziger Jahren genährt wird und sich in einer hohen Arbeitsdisziplin bzw. Furcht vor Arbeitsplatzverlust niederschlägt. Eng damit verknüpft sind zweitens gewandelte Wertvorstellungen, die sich sowohl in 'modernen' Aufstiegs- und Konsumorientierungen als auch in einer stärkeren Individualisierung ausdrücken und damit traditionelle Organisationsmotive ('Solidarität') zurückdrängen. Hinzu kommen drittens Faktoren, die die Bedeutung gewerkschaftlicher Organisation weiter relativieren, wie die Erschließung zusätzlicher Einkunftsquellen pro Familie (Frauen, Jugendliche) oder die zeitliche Belastung durch die Beschäftigung(en).'94 Vor diesem Hintergrund ist ausschlaggebend, welche selektiven Anreize für gewerkschaftliche Organisation bestehen bzw. neu geschaffen werden können. Insgesamt ist hier ein eher niedriges Niveau zu konstatieren, was sowohl die ideellen als auch die materiellen Anreize anbetrifft. Während die ideellen Anreize aufgrund der zersplitterten Gewerkschaftsstruktur nur begrenzt möglich sind, reduzieren sich die materiellen Anreize im Prinzip ausschließlich auf die Teilnahme an Tarifverhandlungen sowie dadurch erzielbare Lohnerhöhungen. Doch auch diese Anreize gelten nur bedingt: Zum einen können auch ad hoc gebildete Gruppen von Arbeitern Lohnverhandlungen fuhren; zum anderen weim
Vgl. ROrup 1995,83f.; Rojas 1995b, 4f.
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sen die verfügbaren Daten daraufhin, daß die von Betriebsgewerkschaften bzw. Arbeitergruppen erzielten Lohnerhöhungen seit 1991 eher unter der allgemeinen Reallohnentwicklung lagen.195 Die steigende Zahl der Betriebsgewerkschaften weist jedoch darauf hin, daß die Gegebenheiten hier nach Branchen bzw. einzelnen Betrieben variieren. In dieser Situation wirken sich besonders die beiden anderen Faktoren der Gewerkschaftsstärke aus, nämlich die ökonomische und die politische Verhandlungsmacht, wobei zwischen Einzelgewerkschaften und Dachverbänden zu unterscheiden ist. Die ökonomische Verhandlungsmacht betrifft im Prinzip die Einzelgewerkschaften und ist per se gering, da Tarifverhandlungen nur auf Betriebsebene stattfinden und somit kein Einfluß auf den Arbeitsmarkt genommen werden kann. Politische Verhandlungsmacht besteht auf dieser Ebene keine. Umgekehrt besitzen die Dachverbände per se keine ökonomische Verhandlungsmacht, während ihre politische Verhandlungsmacht vergleichsweise gering ist, da zu ihrer organisatorischen Schwäche auch das weitestgehende Fehlen korporatistischer Politikmuster tritt. Diese Entwicklungen sind die Ursache dafür, daß sich auch nach der Reform der Arbeitsgesetzgebung das vierfache Krisensyndrom fortsetzte und die Organisationsfähigkeit und damit das Handlungs- und Konfliktpotential der Gewerkschaften faktisch begrenzte. Insgesamt sind die Gewerkschaften dadurch in eine eher prekäre Situation als sozialer Akteur geraten, die durch interne Fragmentierungsprozesse noch verschärft wurde. Diese haben ihre Ursache nicht nur in den skizzierten strukturellen Entwicklungen und dem sie stabilisierenden institutionellen Arrangement, die zu unterschiedlichen Gruppen innerhalb der Arbeiterschaft fuhren (Betriebsgewerkschaften, Arbeitergruppen, Nicht-Organisierte). Vielmehr war während der Regierungszeit Aylwins eine wachsende Kluft zu erkennen zwischen den Gewerkschaften an der Basis und den regionalen bzw. nationalen Führungsgremien. Insbesondere die Führung der CUT lief zunehmend Gefahr, sich von den eher pragmatisch orientierten und durch Tarifverhandlungen auf Betriebsebene legitimierten Gewerkschaftern zu entfernen. Dies hatte sowohl organisatorische wie strategische Ursachen, die teilweise vom Kampf gegen den Autoritarismus herrührten: Die CUT-Führung war hoch politisiert und repräsentierte in erster Linie die drei politischen Lager (Christdemokraten, Sozialisten und Kommunisten mit je einem Drittel im erweiterten Vorstand), während sie strategisch auf Übereinkünfte mit Staat und Unternehmern zielte. Da die Mehrheitsfraktion der CUT politisch der Regierung nahestand und die Führung unter Bustos (PDC) auf Elitenkonsens fixiert war, schwächte dies die Autonomie der Organisation und brachte ihr Vorwürfe der Kooptierbarkeit ein.196 Vor dem Hintergrund der perzipierten organisatorischen Schwäche war der Versuch der CUT-Führungen zu verstehen, vor allem die Position als politisch relevanter sozialer Akteur zu stärken und den Krisentendenzen über eine reforma de la reforma zu begegnen. Schon früh wurde jedoch auch intern kritisiert, " 5 Vgl. Barrera 1995, 201 ff. "* Vgl. Rojas 1994,258ff.
227
daß die Haltung der Gewerkschaftsfiihrung in punkto Arbeitsgesetzgebung von einem prononcierten 'Legalismus' und 'Konservatismus' geprägt war:197 Vernachlässigt wurden so einerseits die Handlungsfähigkeit, indem der institutionelle Rahmen weniger als Anreizstruktur denn als Geflecht aus Restriktionen und Knebelungen aufgefaßt wurde; und andererseits die Formulierung einer adäquaten Strategie, indem zumindest von Teilen der Gewerkschaftsfunktionäre die bis 1973 gültigen Regelungen als anzustrebende 'Utopie' angesehen wurden. Beide Faktoren begrenzten die Disposition, die veränderten Handlungsspielräume auch aktiv auszuschöpfen, und verstärkten die Neigung, nach dem Staat als Problemloser zu rufen und über diesen Weg Veränderungen der Arbeitsgesetzgebung zu erreichen. Mit Blick auf die Tragfähigkeit des institutionellen Arrangements ist damit die Frage zu klären, wie sich dieses Konfliktszenario nach der Reform der Arbeitsgesetzgebung entwickelte, wobei vor allem das politische Verhalten der CUT als korporativem Akteur von Interesse ist. Die Gewerkschaften insgesamt und in erster Linie die seit 1992 als Dachverband auch legal konstituierte CUT hatten die neue Arbeitsgesetzgebung letztlich aus politischen Gründen akzeptiert, um die Stabilität der ersten demokratischen Regierung nicht zu gefährden - ein Ziel, das die CUT in ihrer Programmatik wiederholt als Kernpunkt nannte.198 Während sie die grundlegende Anerkennung ihrer gesellschaftlichen Rolle als positiv wertete, wurden die in der politischen Aushandlung der Reform vorgenommenen Modifikationen als Rückschritt im Vergleich zu legitimen Forderungen sowie als Blockadepolitik einer autoritär induzierten Senatsmehrheit angesehen, die sich aus ihrer Sicht zu Richtern für die Beibehaltung des ungerechten Arbeitssystems der Diktatur aufspielten.199 Insofern wurde die Reform nur als erster Schritt hin zu demokratischen und gleichgewichtigen Arbeitsbeziehungen erachtet, der mittels weiterer Reformen zu ergänzen wäre. Kernpunkte der Kritik waren u.a. die Entlassungspraxis unter Anwendung des Artikels 116, die faktische Beschränkung der Tarifverhandlungen auf Betriebsebene sowie für bestimmte Gruppen im privaten wie im öffentlichen Sektor und die Gefahr organisatorischer Zersplitterung, die sich aus den niedrigen Anforderungen für die Gründung von Zentralen ergab.200 Insbesondere für die Gewerkschaftsfiihrung handelte es sich hierbei um grundlegende Testfälle für das Gelingen der Transition, da sie eine derartige Ausgestaltung der Arbeitsgesetzgebung als Mindestanerkennung ihrer Rolle im Kampf gegen die Diktatur verstanden.201 Die Regierung zog dieses Konfliktpotential durchaus ins Kalkül, indem sie die Reformgesetze zwar nicht mit der Gewerkschaftsfiihrung aushandelte, aber dennoch einen permanenten Dialog mit ihr führte. Insbesondere zwischen Arbeitsminister Cortázar und CUT-Führung existierten über die Amtszeit "'
Vgl. Albuquerque 1991, 17. Vgl. CUT 1989; 1990; 1991. Vgl. CUT 1990, 13.
200
Vgl. CUT 1991, 16f.
201
Vgl. Albuquerque 1992, 167.
228
Aylwins hinweg auch intensive informelle Konsultationskanäle, die vor allem der Eruierung der Konfliktperzeptionen dienten. Für die Phase der ersten demokratischen Regierung läßt sich die Haltung der Gewerkschaften dahingehend resümieren, daß sie sich zwar an die etablierten Spielregeln hielten, jedoch wiederholt die 'Reform der Reform' anmahnten. Die Unzufriedenheit mit der neuen Gesetzgebung führte - nach entsprechenden Beschlüssen auf der dritten Nationalen Konferenz der CUT im April - im August 1992 zu Konflikten zwischen Arbeitsministerium und Gerwerkschaftsführung, die offen mit der Aufkündigung der seit 1990 etablierten Gesprächsrunden sowie mit Arbeitsniederlegungen drohte, um auf eine erneute Reform noch vor Ablauf der Amtszeit Aylwins hinzuwirken. Letztlich blieb es jedoch bei Drohgebärden und informellem Krisenmanagement; die Regierung machte deutlich, daß es eine erneute Reform vor Ablauf der Amtszeit Aylwin nicht geben wird.202 Solche Friktionen blieben latent weiterhin bestehen, doch blieb die Regierung hier aus prinzipiellen Gründen hart, da sie der wechselseitigen Erwartungssicherheit und damit der Stabilität den höheren Stellenwert einräumte. Nach den gescheiterten Versuchen, über eine Mischung aus Dialog und vorsichtiger Konfrontation mit der Regierung weitere Verbesserungen zu erreichen, bedeutete das für die CUT, das Ende der 'Transitionsregierung' Aylwin abzuwarten. Die bereits unter der Präsidentschaft Aylwins zu verzeichnenden Klimaverschlechterungen zwischen Regierung und Gewerkschaften setzten sich seit 1994 unter Präsident Frei fort. Erste Anzeichen für eine größere Distanz war zunächst, daß Frei im Gegensatz zur Praxis Aylwins der Kundgebung zum 1. Mai 1994 fernblieb, was von Seiten der Gewerkschaften als Affront gewertet wurde. Ebenso kam 1994 erstmals keine Einigung über die Festsetzung des Mindestlohns zustande, der seit 1990 jährlich in Beratungen zwischen Regierung, Unternehmer- und Gewerkschaftsvertretern festgelegt worden war und neben der Signalwirkung für die jährlichen Lohnrunden für die Gewerkschaften eine hohe symbolische Bedeutung hat. Umgekehrt versuchte die CUT-Führung gemäß ihrer Strategie, erneut auf die reforma de la reforma hinzuwirken.203 Die Regierung blockte dies jedoch vorerst mit dem Hinweis ab, zuerst müsse die Evaluierung der Aylwin'schen Reform abgeschlossen sein, um über Änderungen auch nur beraten zu können. Die größere Distanzierung der Akteure führte sukzessive zur Erosion des Artikulationsmodus, wie er unter Aylwin - etwa in den Dreierkommissionen zur Evaluierung der Arbeitsbeziehungen - trotz aller Divergenzen Bestand hatte. Erwartungsgemäß begann die CUT unter Frei, ihre Selbstdisziplinierung im Sinne einer Nichtgefahrdung der demokratischen Konsolidierung sukzessive aufzugeben und ihre Forderungen wieder in schärferen Tönen zu präsentieren. Dies erklärt auch ihre wachsende Bereitschaft, Massenmobilisierungen als Instrument politischen Drucks ins Kalkül zu ziehen. Solche Maßnahmen blieben zwar begrenzt und aufgrund der Mobilisierungsfähigkeit 202
Vgl. El Mercurio 17.8.1992; 19.8.1992.
203
Vgl. Bairera 1995,191.
229
der CUT von eher bescheidenem Erfolg, doch weisen sie auf eine gestiegene Konfliktbereitschaft hin. Die Regierung hingegen zeigte sich bestrebt, die Äquidistanz zu den korporativen Akteuren weitestgehend zu wahren und ihre Position im politischen Problemverarbeitungsprozeß nach Maßgaben der Entwicklungsstrategie ('Gemeinwohl') und des technokratischen Sachverstands zu stärken. Nach Abschluß ihrer Evaluierungen der reforma laboral kam die Regierung zu dem Schluß, daß in den Arbeitsbeziehungen ein Ungleichgewicht zugunsten der Unternehmer vorherrschte.204 Entsprechend brachte sie im Januar 1995 ein Gesetzesprojekt im Parlament ein, das sich noch Mitte 1996 in der Beratungsund Diskussionsphase befand. Es sah Modifikationen vor, die im Kern einigen Forderungen der CUT nachkamen und u.a. folgende Punkte beinhalteten: Ausweitung des Organisations- und Tarifverhandlungsrechts auf saisonweise und vorübergehend Beschäftigte; das Verbot fur Arbeitgeber, während eines Streiks Ersatzarbeiter einzustellen; Ausweitung der Verhandlungsmaterien und insbesondere des Informationsrechts über betriebliche Angelegenheiten; das Recht auf Tarifverhandlungen für die sindicatos interempresas, 05 die allerdings nur auf Ebene des Einzelbetriebs geführt werden dürfen (d.h. nicht in mehreren Betrieben oder gar auf Branchenebene); sowie die nachträgliche Ausweitung des Tarifabschlusses auf jene Arbeitnehmer, die erst später der betreffenden Gewerkschaft beitreten.206 Auch unter dem gewandelten Artikulationsmodus zwischen Regierung, Unternehmern und Gewerkschaften blieben jedoch die relativen Positionen unverändert die gleichen: Für die Unternehmer gingen die Modifikationen erneut zu weit, da sich ihrer Ansicht nach die Arbeitsgesetzgebung bewährt hatte - entsprechend forderte der CPC-Vorsitzende Guzmân die Zurücknahme des Projekts. Die CUT wiederum erachtete die Änderungen als ungenügend, u.a. weil keine branchenweiten Tarifverhandlungen (und damit Streiks) ermöglicht werden. Die Regierung lehnte dies jedoch ab, da die Heterogenität der Produktionsstruktur dies nicht zuließe.207 Aufgrund der unveränderten Kräfteverhältnisse im Parlament bleibt überdies abzuwarten, inwiefern weitere Veränderungen am Gesetzesvorschlag vorgenommen werden. Allerdings deuten die jüngsten Entwicklungen darauf hin, daß die CUT nicht mehr - wie noch unter Aylwin - aus politischen Gründen konzessionsbereit ist, sondern vielmehr eine größere Konfliktbereitschaft sowie eine autonomere Haltung gegenüber Parteien und Regierung entwickelt. Sowohl der geringe Erfolg, über ausgehandelte Reformen der Arbeitsgesetzgebung wieder Gewerkschaftsstärke zurückzugewinnen, als auch die wachsende innergewerkschaftliche Kritik an 'unglaubwürdigen' und 'politisierten' Gewerkschaftsfuhrungen 204 209
206
So die Äußerungen von Arbeitsminister A m t e (vgl. El Mercurio Internacional 2.-8.S.I996). Sindícalos interempresas sind Gewerkschaften, die sich aus Arbeitnehmern mehrerer Betriebe gebildet haben; sie waren schon nach dem plan laboral erlaubt und konnten nach der Reform von 1991 bereits Tarifverhandlungen führen, sofern der Arbeitgeber dazu bereit war. Vgl. Barrera 1995,191f. Vgl. El Mercurio Internacional 13.-19.4.1995; 2.-8.11.1995.
230
führten dazu, daß sich die Präferenzen innerhalb der CUT nach sechs Jahren Demokratie zu verschieben beginnen. Am offensten formulierte dies der neue CUT-Vorsitzende Alarcön, der offen vom sich abzeichnenden Ende der Concertaciön sprach, da diese ihre historische Funktion erfüllt hätte 208 - ein Hinweis darauf, daß die CUT ihre Selbstdisziplinierung weiter aufgibt und sich weniger auf die Stabilisierung der Regierung denn auf ihre eigenen organisatorischen und strategischen Probleme konzentriert. In die gleiche Richtung weisen die Tendenzen interner Regruppierung und größerer Autonomie von der Politik, wie sie die Ereignisse um die Neuwahlen der CUT-Führung im April 1996 belegten. Entgegen einer Abmachung zwischen den Führungsspitzen von Christdemokraten und Sozialisten, die CUT-Führung zwischen den entsprechenden CUT-Sektoren aufzuteilen, ließ sich Alarcön mit den Stimmen von Sozialisten und Kommunisten zum CUT-Vorsitzenden wählen. Trotz gravierender Verstimmungen zwischen PDC und PS und dem anschließenden Druck auf die sozialistischen Gewerkschaftsführer wurde der gewerkschaftsinterne Pakt beibehalten, und auch christdemokratische Mitglieder werteten die Autonomie mindestens ebenso hoch wie die parteipolitische Loyalität. Die Allianz zwischen Sozialisten und Kommunisten innerhalb der CUT weist indessen auch auf die internen Veränderungen - vor allem das Erstarken der linken Gruppierungen sowie auf Präferenzverschiebungen hin. Entsprechend formulierte Alarcön in seiner Ansprache zum 1. Mai eine scharfe Kritik an der Regierungspolitik hinsichtlich Arbeitsgesetzgebung und Mindestlöhne, aber auch an der Sozialpolitik.209 Insbesondere befürwortete er die Wiedereinführung des Tripartismus, d.h. eine stärkere Intervention des Staates in die Arbeitsbeziehungen selbst. Nach sechs Jahren Regierung der Concertaciön ist eine Rückkehr zu solchen Praktiken allerdings äußerst unwahrscheinlich. Vielmehr hat sich der von der Entwicklungsstrategie vorgesehene Steuerungsmodus im Bereich der Arbeitsbeziehungen bzw. in Materien, die Gewerkschaften und Unternehmer betreffen, gefestigt. So werden zwar für bestimmte politische Vorhaben die Rahmenbedingungen nach wie vor in dreiseitigen Konsultationen abgesteckt, was als schwache Form des Korporatismus zu bezeichnen ist, doch gilt für die Arbeitsbeziehungen selbst ein strikter Bipartismus, der als Ebene geregelter Konflikte fest institutionalisiert ist. Dies schließt weitere Modifikationen des institutionellen Arrangements nicht aus, doch beschränkt sich die Rolle des Staates genau darauf. Eine Veränderung dieses Szenarios hängt davon ab, inwieweit die Gewerkschaften den etablierten Politikmodus in Frage stellen und somit das Zusammenspiel von politischer, sozialer und kommunikativer Macht stärker als bisher gestalten können.
208
Vgl. El Mercurio Internacional 9.-15.5.1996.
209
Vgl. El Mercurio Internacional 2.-8.5.1996.
231
2.5 Fazit: Institutionelle Anreizsysteme und ökonomische Entwicklungsleistung Die vorangegangene Analyse zeigte, ob bzw. wie sich in der neuen demokratischen Ära die Teilregimes der Wirtschaftsordnung veränderten. Dabei wurde bereits auf die Wirkungsaspekte eingegangen und jeweils auch deren Gewichtung vorgenommen. Zusammengefaßt ergibt sich aus dieser Darstellung, daß die Wirtschaftsordnung nur in Teilen modifiziert und eine weitgehende Kontinuität des neoliberalen Wachstumsmodells herbeigeführt wurde. Insbesondere war zu sehen, daß die Wirtschaftsequipe um Foxley und später Aninat das in den 80er Jahren unter Büchi initiierte Management der makroökonomischen Stabilität noch erfolgreicher bestritt und dadurch das Vertrauen sowohl nationaler wie internationaler Unternehmer und Investoren sicherstellte. Gekoppelt wurde dies mit einer Vertiefung der internationalen Eingliederung Chiles in die Weltwirtschaft. Hierzu trugen insbesondere die zahlreichen Wirtschaftsabkommen gekoppelt mit weiteren exportstützenden Maßnahmen bei, die in der Summe die Transaktionskosten zu senken halfen. Gestützt wurde dies durch eine exportfreundliche Wechselkurspolitik. Wie die Strukturdaten zeigten, wurden bislang kaum Anstrengungen unternommen, institutionelle Vorkehrungen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit zu treffen. Dies bedeutet nicht, daß die Regierungen der Concertaciön dieses Ziel aufgegeben hätten. Vielmehr scheint sich bislang der Erfolg der Wirtschaftsentwicklung darin zu bestätigen, daß dieses Ziel mit den bislang etablierten Anreizsystemen zu erreichen sei. Wie etwa auch im Bereich der hier nicht behandelten Umweltpolitik scheiterten weiterreichende institutionelle Reformen am Widerstand der Unternehmer, die in ihrer kurzfristigen ökonomischen Logik daran kein Interesse haben. Weiche Steuerungsmedien, wie öffentlicher Diskurs, Überzeugung oder die Etablierung von Verhandlungssystemen, wurden von den Regierungen bislang nicht in Angriff genommen. Etwas deutlicher waren hingegen die Veränderungen der Arbeitsbeziehungen, wenngleich dies - nimmt man internationale Standards als Orientierungspunkt - nur zögerlich und inkremental vonstatten geht. Auf der institutionellen Ebene wurden zwar in einigen Punkten Korrekturen vorgenommen, die auf eine Stärkung gewerkschaftlicher Handlungskapazität in den Betrieben zielten, und die Rolle von Gewerkschaften als soziale Akteure wurde bekräftigt. Diese Änderungen sind jedoch in einen Rahmen eingebunden, der noch stark von der neoliberalen Logik geprägt ist und am etablierten Anreizsystem wenig geändert hat. Auf der operationalen Ebene fand zwar eine Annäherung zwischen den Dachverbänden statt, die jedoch mehr auf wechselseitige Respektierung denn auf 'Sozialpartnerschaft' zielte. Wenngleich diese 'klimatische' Annäherung als positiv für die Stabilisierung der Demokratie anzusehen ist, bleibt sie für die Politikgestaltung ohne große Bedeutung. Auf betrieblicher Ebene, wo die eigentlichen Tarifauseinandersetzungen stattfinden, hat sich hingegen am wenig-
232
sten verändert, wenn man von der Annäherung der Reallohn- an die Produktivitätsentwicklung absieht. Tab. 14: Wirtschaftsindikatoren 1989-1996210 Wachstum BIP BIP (1989= 100) Einkommen p. c. (USS) Reallohnsteigerung Inflationsrate Arbeitslosenrate Produktivitätssteigerung Investitionsquote Haushaltsbilanz (% BIP) Verschuldung (Mrd. USS) Verschuldung in % BIP Exporte (Mio. USS) Importe (Mio. USS) Handelsbilanz (Mio. USS) Int. Reserven (Mio. USS)
1989 9,9 100 2.039 1,9 21,4 6,3 4,6 23,5 + 3,0 17,5 41,9 8.080 7.144 936 2.948
1990 3,3 103,3 2.181 1,8 27,3 6,0 1,5 23,1 + 2,5 18,6 43,1 8.310 7.678 632 5.358
1991 7,3 110,8 2.458 4,9 18,7 6,5 6,2 21,1 + 3,7 17,9 38,7 8.929 8.094 835 6.639
1992 11,0 123,0 3.035 4,5 12,7 4,9 6,4 23,9 + 4,9 19,1 37,2 9.986 10.129 - 143 9.009
1993 6,3 130,8 3.220 3,5 12,2 4,6 0,9 26,5 + 4,8 20,6 37,7 9.202 11.125 - 1.923 9.759
1994 4,7 136,9 3.700 4,7 8,9 5,9 4,2 27,0 + 2,5 22,9 40,1 11.604 10.879 725 13.467
1995 8,5 148,6 4.350 4,1 8,2 5,5 7,0 27,2 + 3,7 22,6 36,4 16.039 14.655 1.384 14.805
1996 6,8 158,7 4.650 4,2 6,5 6,6 k.A. 27,9 + 5,6 27,5 41,5 15.253 16.188 -935 15.986
Wie bereits erwähnt, trug zu diesen insgesamt geringen Modifikationen auch der ökonomische Erfolg der letzten Jahre bei. Wie Tabelle 14 zeigt, setzte Chile den Aufschwung aus der zweiten Hälfte der 80er Jahre nicht nur fort, sondern übertraf diesen noch. Insbesondere im Vergleich zu den übrigen lateinamerikanischen Ländern ist diese ökonomische Performanz einzigartig und nahezu ungetrübt, wenn man von der wieder steigenden Verschuldung der letzten Jahre absieht. Diese geht ausschließlich zu Lasten des Privatsektors, während der öffentliche Sektor seine Verbindlichkeiten stetig abgebaut hat; insgesamt ist der Schuldendienstquotient (gemessen am Exportvolumen) jedoch rückläufig. Als Fazit läßt sich festhalten, daß es den demokratischen Regierungen nach 1990 gelang, die übernommene Wirtschaftsordnung mit geringfügigen Modifikationen zu stabilisieren und auch mit hinreichender Legitimation auszustatten. Der in Kapitel III. 1.2 skizzierte Modus des politischen Problemverarbeitungsprozesses sorgt dafür, daß an diesem institutionellen Rahmen keine größeren Änderungen wahrscheinlich sind und die Unternehmer so eine größtmögliche Erwartungssicherheit besitzen. Insofern war die Institutionenpolitik im Bereich der Wirtschaftsordnung relativ erfolgreich - jedenfalls an den hier aufgeführten makroökonomischen Daten gemessen. Allerdings wurden keine institutionellen Weichenstellungen getroffen, die aus der 'leichten' Phase neoliberaler Modernisierung hinüberfuhren in die segunda fase, also zum Aufbau einer systemischen Wettbewerbsfähigkeit. Quellen: Foxley 1995, 16; Vial 1995, 44; El Mercurio Internacional 25.-31.1.96, 16.-22.5.96; Dirección de Presupuestos 1996; CEPAL 1996; Barrera 1995,203; El Mercurio Internacional 19.-2S.12.I996.
233
3. Wohlfahrtsordnung und Sozialentwicklung Die Analyse der Sozialpolitik der Regierung Aylwin dient als Test für die oben aufgeworfenen Fragen nach der Ausprägung der Wohlfahrtsordnung, dem (funktionalen) sozialen Charakter von Modernisierung und Entwicklung nach der Phase des autoritären Neoliberalismus sowie nach dem Stützungs- und Gefährdungspotential für die Konsolidierung der Demokratie - insgesamt also für die Frage nach einer 'nachhaltigen Sozialstaatlichkeit' und der Steuerung der Sozialentwicklung. Der in der Sozialstaats- und Demokratieforschung postulierte Zusammenhang zwischen sozialer und gesamtgesellschaftlicher Entwicklung einerseits 2 " und die von der Concertaciön verfochtene Entwicklungsstrategie andererseits implizieren die These, daß Chiles Entwicklung steht und fallt mit der Durchsetzung eines neuen sozialpolitischen Paradigmas: Eine Sozialordnung, die kompatibel, d.h. gleichermaßen Ergänzung und Gegengewicht zur Wirtschaftsordnung ist, stellt eine notwendige Bedingung sowohl für die längerfristige wirtschaftliche wie die politische Entwicklung dar. Aus institutioneller Perspektive ist deshalb zu analysieren, ob durch die Wohlfahrtsinstitutionen Anreizstrukturen für soziale Integration (individuelle Chancen und Sicherung gegen systemische Risiken) bzw. für die Bildung von Humankapital geschaffen wurden. Anders gewandt stellt sich, da Institutionenbildung immer auch die Institutionalisierung von Leitideen bedeutet, die Frage, ob ein neues Muster sozialer Gerechtigkeit präsentiert bzw. etabliert werden konnte - ein Thema, das Chile seit dem Ende des letzten Jahrhunderts begleitet. Wie die Analyse von Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik zeigte, zielte das Handeln der Regierung relativ erfolgreich auf Konsolidierung, Vertiefung und Modernisierung des Wirtschaftsmodells, wenngleich bedeutsame Defizite hinsichtlich der zweiten Phase der Exportorientierung zu konzedieren waren. Auch bedeutete die Reform der Arbeitsgesetzgebung insofern einen relativen Modernisierungserfolg, da sie die Autonomie des betreffenden Akteurssystems verankerte und sanktionierte. Gleichzeitig erbrachte sie einige zusätzliche Leistungen, die bereits in den Bereich der Wohlfahrtsordnung eingriffen. Da somit die Wirtschaftsordnung im großen und ganzen beibehalten wurde, stellt sich die Frage, ob bzw. wie innerhalb eines derart umrissenen (d.h. eingeschränkten) Handlungsraumes die anvisierte neue Entwicklungsstrategie über den Aufbau einer neuen Sozialstaatlichkeit zu erreichen war. Im Gegensatz zur Ära Pinochet war hierfür eine Sozialpolitik erforderlich, die den Risiken einer nahezu ungehemmten Marktwirtschaft wirksam gegensteuert, die soziale Integration fördert und nicht nur gelegentliche Ausfallbürgschaften übernimmt. Vom Typus des Sozialstaates her, den die Concertaciön als Ausgangspunkt vorfand, ist Chile als eigentümliche Mischform zu bezeichnen, die sich aus der hybriden Modernisierung unter Pinochet ergab und von Vergara als 'duales Modell' klassifiziert wird.212 Wie in Kapitel II.4 analysiert, resultierte dieser 211
Zur Obersicht vgl. Schmidt 1988,185ff.
212
Vgl. Vergara 1994,244.
234
Dualismus aus Strukturreformen, die - in der Terminologie von EspingAndersen - in Chile einen deutlich liberalen Sozialstaatstypus etablierten wenngleich auf niedrigem Wohlfahrtsniveau und mit einer unzureichenden Korrektivfunktion. Vor dem Hintergrund sozialer Spaltung und Marginalisierung hatten sich dadurch soziale Fragmentierung und Ungleichheit verfestigt. Zu diesem institutionellen Wandel trat die Unterdrückung und Kontrolle kollektiv geäußerter sozialer Forderungen, wie sie vor allem in den Krisenjahren 1982/83 massiv zutage traten und die zu schwerwiegenden Legitimationsproblemen gefuhrt hatten. Zwar standen in der zweiten Hälfte der 80er Jahre auf Seiten der Zivilgesellschaft zunehmend politische Forderungen und Strategien im Vordergrund, doch hatte sich - trotz eines massiven Anstiegs von Selbsthilfegruppen und -Organisationen - die soziale Lage 1990 kaum entschärft. Der Slogan der Concertación 'La Alegría ya viene', wurde nicht von ungefähr - und trotz des ansonsten anti-populistischen Diskurses - auch dahin interpretiert, daß mit der neuen demokratischen Regierung eine spürbare Verbesserung der sozioökonomischen Situation eintreten würde.213
3.1 Sozialpolitische Reformoptionen und Handlungskorridore Vor diesem Problemhintergrund rückte der Staat - in Gestalt der neuen Regierung - als change agent in eine herausragende Position. Insbesondere verdeutlicht die Akteursperspektive, daß die restlichen sozialen und politischen Akteure für einen paradigmatischen Wandel entweder von vornherein zu schwach (Gewerkschaften, Zivilgesellschaft) oder nicht willens waren (Unternehmer, rechte Parteien). Hier wirkte die technokratische Sozialpolitik Pinochets auch insofern nach, als kollektive Akteure nur gering in deren Formulierung und Implementierung intervenieren konnten. Die entscheidenden Fragen lauten damit, ob die Regierung über ein kohärentes sozialpolitisches Konzept sowie den Handlungsspielraum und die Handlungsressourcen zur Umsetzung verfugte. Dabei ist Sozialpolitik sowohl unter den Aspekten der Wohlfahrtsordnung und der sie tragenden Institutionen insgesamt wie auch im Hinblick auf die distributiven po/i'cy-Leistungen zu betrachten. In einem ersten Schritt ist somit zu klären, welche Option - in Form der sozialpolitischen Strategie - gewählt und welche somit ausgeschlossen wurde (Ausmaß staatlicher Interventionen, Grad der Redistribution etc., was auch die möglichen Konfliktszenarien konfiguriert) (1). Zweitens ist der Handlungskorridor insofern näher zu umreißen, als politische Konfliktlinien sowie die Handlungsressourcen in die Analyse einbezogen werden. Beides läßt sich exemplarisch am Beispiel der Steuerreform aufzeigen, die in der Sozialpolitik der Concertaciön eine zentrale Rolle spielte (2). Drittens schließlich sind die organisatorischen und finanziellen Ressourcen zu
215
Vgl. Petras 1994, 104.
235
analysieren, die der Regierung zur Umsetzung der Sozialpolitik zur Verfugung standen (3). (1) Pinochets 'soziale Modernisierungen' hatten als weiteres Kernstück der Gesellschaftstransformation gedient, indem sowohl die Regelung der sozialen Stellung der Individuen und Gruppen wie auch die sozialen Beziehungen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern auf neue Grundlagen gestellt wurden. Sie waren darauf ausgerichtet, die Wohlfahrtsordnung mit der Wirtschaftsordnung kompatibel zu machen und zu verankern. An dieser hybriden Modernisierung, die einerseits unter ökonomischen Effizienzkriterien zu einem dynamischen modernen Sektor führte, andererseits jedoch von Segmentierung, Heterogenisierung und Verschärfung der Armutsproblematik inkl. Marginalisierung begleitet war, setzte die Diagnose der Concertaciön an. Sie kritisierte an der Politik der Militärregierung, daß ihre Entwicklungsstrategie alleine an Wachstum ausgerichtet war und dabei die Aspekte sozialen Ausgleichs systematisch vernachlässigt hatte. Wachstum, so die These, sei keine hinreichende Bedingung für soziale Entwicklung; vielmehr erfordere diese eine stärkere Beteiligung des Staates zur Korrektur der Ungleichheiten, die ein marktgesteuertes Wirtschaftssystem mit sich bringt - zumal, wenn es schon auf der Basis sozialer Verzerrungen operiert, die sich sowohl in der Einkommens- und Vermögensverteilung auf die Gesellschaftsschichten als auch in den Entfaltungschancen der Individuen widerspiegelten.214 Insbesondere sei die Rolle des Staates unnötigerweise in zwei parallel laufenden Prozessen reduziert worden, nämlich als drastische Kürzung der öffentlichen Sozialausgaben sowie als Privatisierung sozialer Dienstleistungen, was einerseits den Niedergang des öffentlichen Sektors und andererseits - auch aufgrund mangelnder staatlicher Aufsicht und Regulierung - das Entstehen eines teuren und damit zugangsbeschränkten Privatsektors ergeben habe. Das Zusammenspiel eines nur noch subsidiären Staates mit der Umstellung der Wirtschaftsordnung inkl. zwangsläufiger Krisen wird dabei nicht nur ftir das immense Anwachsen der Armut, sondern für eine generell niedrigere Lebensqualität in Chile verantwortlich gemacht.215 Die damit anvisierte sozialpolitische Strategie wurde explizit als Modernisierungsstrategie verstanden, die sich als 'progressive Modernisierung' sowohl von der 'konservativen Modernisierung' Pinochets als auch von der 'links-
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Vgl. Molina 1995, 173. Vgl. Garcfa/Schkolnik I99S, 142. Entsprechend resümieren beide: "Die Diagnose, die die neue Regierungsequipe durchführte, reklamierte eine aktive Strategie zur Reduziemng der Armut, da sich das Wachstum alleine als nicht ausreichend erwies, um die schwerwiegenden Ungleichheiten zu vermindern. Die Regierung der Concertaciön sah vor, dem Wirtschaftswachstum einen größeren sozialen Ausgleich (equidad) aufzuprägen. Die Reduktion der Armut wurde verstanden als Integration (in das Wirtschaftswachstum) einer großen Anzahl von Chilenen, die während dieses wirtschaftlichen öffnungs- und Privatisiemngsprozesses vom Produktionssystem und den Fruchten des Modells ausgegrenzt blieben. Diese größere soziale Integration sollte erreicht werden mittels einer aktiveren Beteiligung des Staates am Design der Sozialpolitiken und gleichzeitig mittels eines stabilen und dauerhaften Wirtschaftswachstums." (Garcfa/Schkolnik I99S, 143; Alvaro Garcia war unter Aylwin Staatssekretär im Sozialministerium (MIDEPLAN) und ist unter Frei Wirtschaftsminister).
236
traditionellen Modernisierung' wie unter Allende abhob.216 Dies bedeutete zunächst, daß eine Rückkehr zum Sozialstaatscharakter des Estado de Compromiso keine Option darstellte. Ziel war vielmehr eine Korrektur der als unvollständig erachteten 'konservativen Modernisierung', die auf der Exklusion weiter Bevölkerungskreise beruhte. Wachstum wurde demnach zwar nicht mehr als hinreichende, aber doch als notwendige Bedingung für Entwicklung erachtet. Als ebenso notwendig galt jedoch eine gelungene soziale Entwicklung, und zwar nicht nur aus ethischen, sondern auch aus funktionalen Gesichtspunkten heraus: Zum einen stellte sie in den Augen der Concertadon einen Faktor des Wirtschaftswachstums dar, indem sowohl Humankapital als auch - abhängig von der Ausgestaltung der Sozialpolitik - Produktivkapital entwickelt werden; zum anderen erhoffte man sich von den Sozialinvestitionen eine positive Auswirkung auf soziale und politische Stabilität, die wiederum als unerläßlich für dauerhafte Wachstumsrhythmen galten.217 Die Sozialpolitik sollte somit direkt wie indirekt zur Wirtschaftsentwicklung beitragen und umgekehrt. Abbildung 17: Funktionsbezüge und Steuerungsebenen der Sozialpolitik'218
Renten Gesundheit Bildung Wohnung Wachstum durch Produktivität
(ALV)
Sozialpolitik
SP A
FP
Integration der Armutssektoren
Wie in Abbildung 17 zusammengefaßt, basiert die sozialpolitische Strategie der Concertaciön auf den beiden komplementären Komponenten eines an Produktivitätssteigerung orientierten Wirtschaftswachstums und einer Sozialpolitik, die sowohl auf Stabilisierung und soziale Ausgewogenheit des Systems sozialer Sicherungen als auch auf den Abbau von Armut durch Integration in den gesamten Entwicklungsprozeß zielt. Komplementär sind diese beiden KomponenVgl. Lahera 1993, 190 2,7 2
Vgl. Garcia 1991, 134
" UP, SP und FP bedeuten universelle, selektive bzw. fokussiette Sozialpolitik; ALV = Arbeitslosenversicherung (Erläuterungen s. jeweils im Text).
237
ten insofern, als das Basisdesign von mehreren Wechselwirkungen ausgeht, die durch adäquates und effizientes Management in ihrer positiven Wirkung verstärkt werden können. So dienen die diversen politischen Maßnahmen zur Stabilisierung und Vertiefung des Wirtschaftsmodells einem stetigen Wirtschaftswachstum (um 6%), das sowohl für Einkommenssteigerung als auch für neue Arbeitsplätze sorgen soll. Auf Einkommensseite wird mittels Mindestlohnerhöhungen, Reallohn- und Produktivitätssteigerungen angestrebt, daß einerseits die davon abhängigen Bereiche der sozialen Sicherung gestärkt werden und andererseits, zusammen mit der Steuerreform, sich ein deutlich erhöhtes Steueraufkommen ergibt, mit dem zusätzliche Sozialausgaben bestritten werden können. Auf Arbeitsmarktseite wird damit gerechnet, daß das produktive Wachstum stetig neue Arbeitsplätze schafft und damit den bis dato marginalisierten Bevölkerungsschichten Zutrittsmöglichkeiten zum gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozeß gewährt, über die sie wiederum Zutritt zu den bislang versagten sozialen Sicherungsleistungen erhalten. Die Strategie des sozialen Ausgleichs wiederum legitimiert das Wachstumsmodell, begünstigt den sozialen Frieden und erlaubt, daß eventuelle Anpassungspolitiken ohne Bedrohung für die armen Sektoren durchgeführt werden können. 19 Im Kern wird damit eine Gleichrangigkeit der Präferenzen Wachstum und soziale Gerechtigkeit behauptet, was hier als 'Zwei-Rationalitäten-Prinzip' gefaßt wird und auf seine Wirksamkeit zu prüfen ist. Die Konzeptualisierung von Sozialpolitik als Komplementärstrategie zur wirtschaftlichen Modernisierung folgte vier Basiskriterien, die die neue Qualität der Sozialpolitik anleiten sollten:22 1. Integration in den Entwicklungsprozeß nach den Prinzipien Solidarität und Gleichheit: Dieses bereits als Strategieziel angesprochene Grundprinzip wurde dahingehend konkretisiert, daß die Sozialpolitiken auf allen Ebenen vom Kalkül der Chancenausweitung geleitet sein sollten, um den Betroffenen eine aktive Eingliederung in den Entwicklungsprozeß und damit ihren Anteil am Fortschritt zu ermöglichen. Die Integrationsstrategie beabsichtigte somit "jene Hindemisse zu beseitigen, die den Personen und Produktionseinheiten die volle Eingliederung in den Entwicklungsprozeß unmöglich machen, um damit die Marginalität zu beenden. Diese Konzeption ist von großer Bedeutung für die Identifikation der Zielgruppen, für die Formulierung der spezifischen Politiken je nach Situation, für die Bestimmung der für die Durchführung verantwortlichen Institution und für die spätere Evaluierung eines jeden Programms."221 2. 'Integralität' der Sozialpolitik: Da zur Überwindung der Marginalität nicht einzelne, sondern jeweils ganze Bündel komplementärer Maßnahmen als notwendig angesehen wurden, sollte ein gemeinsames und koordiniertes Design sowie die Handlungskoordinierung seitens der jeweils involvierten Einrichtungen stattfinden, um die gewünschten Ergebnisse quasi synergetisch zu erzielen.
219
Vgl. Mufloz 1991, l l f f .
220
Vgl. Molina 1995,173(T.; Garcfa 1991, 134ff.; MIDEPLAN 1994, l5fT.
221
Molina 1995, 174.
238
3. Effizienz: Eng verknüpft mit der Integralität, deren mangelnde Konzeption allzuoft zu Effizienz- und Ressourcenverlusten geführt habe, galt dieses Kriterium als Leistungsgesichtspunkt auch für jede involvierte ausfuhrende Einheit. Dabei wurde Effizienz nicht 'dogmatisch' unter rein privatwirtschaftlichen Kriterien definiert, da soziale Dienstleistungen auch hinsichtlich der Gleichheit sowie des Zugangs für die ungeschützten Sektoren zu bewerten seien. "Wenn man also gleichzeitig die Ziele ökonomischer Effizienz und sozialer Gleichheit erfüllt, kann die Dienstleistung sowohl privat als auch öffentlich sein, wenn man voraussetzt, daß der Staat niemals von einer systematischen Evaluierung absieht, um die effektive Erfüllung des doppelten Kriteriums sicherzustellen."222 Zur Wahrung größtmöglicher Effizienz sind hierfür die geeigneten (staatlichen) Koordinationsinstrumente zu kreieren und einzusetzen. 4. Partizipation: Dieses Kriterium wurde sehr hoch bewertet, da es auf diversen Ebenen der Sozialpolitik eine strategische Schlüsselrolle spielen sollte, wie etwa bei der Ausarbeitung regionaler und kommunaler Sozialentwicklungspläne, die vor dem Hintergrund der Dezentralisierungsprozesse neue Bedeutung erlangten. Insbesondere auf lokaler Ebene wurde es als unerläßlich für das Gelingen sozialpolitischer Maßnahmen erachtet, in partizipativer Abstimmung mit den Betroffenen vor Ort Prioritäten, Design, Durchführung und Verwaltung der Projekte zu gestalten. Der Optimismus von Sergio Molina, unter Aylwin Sozial, danach Erziehungsminister, hinsichtlich der Rolle der Partizipation war noch 1995 ungebrochen.223 Der angestrebte Paradigmenwechsel staatlichen Handelns im Bereich der Sozialpolitik läßt sich nach Raczynski an einigen Basiskategorien verdeutlichen, die die neue Ära seit 1990 sowohl von der Ära des Estado de Compromiso wie auch von der Phase der Militärregierung unterschieden (s. Abb. 18).
222
Ebd., 174f.
223
"Die Partizipation ist von großer Bedeutung für die Vertiefung des demokratischen Systems sowie bei der Stärkung des Dezentralisieningsprozesses. Außerdem werden Uber die Partizipation neue Ressourcen akkumuliert, sowohl vom Gesichtspunkt der Kreativität her, die die Nutznießer aufbringen, als auch von ihrer eigenen Arbeit her, was sie mit den Programmen identifiziert, die sie durchfahren und deren Kontinuität sie sicherstellen." (ebd., 175).
239
Abb. 18: Paradigmen der Sozialstaatlichkeit in Chile (1940-1995) 224 1940-1973
1973-1990
1990-?
Leitbild der Rolle des Staates
Wohlfahrt
Subsidiarität
Integration
Sozialpolitik / Wirtschaftspolitik
Sozialpolitik übergeordnet
Sozialpolitik untergeordnet
Sozialpolitik integriert in und komplementär zu Wirtschaftspolitik
Niveau der Sozialausgaben
steigend
fallend
zentral / dezentral
zentrale und vertikale Administration
Dekonzentration der Dienstleistungen; lokale Verwaltung
Staat / Privatsektor
Staat: Normierung, Finanzierung, Ausführung Privat: -
politische und erweiterte administrative Dezentralisierung
Staat: Normierung wie 1973-1990; stär/Finanzierung der kere Rolle des Staates Armutsprogramme; bez. Regulation / Supervision + EvaluAufsicht ierung; Ausführung: lokal/privat Privat: Sozialdienste filr mittlere/obere Schichten
angebotsorientiert; starke pressure groups\ historische Legate
nachfrageorientiert; Zahlungen für geleistete Dienste
Fokussierung
gering; nominell nur Universalprogramme
sehr hoch; spezielle Auswahlinstrumente
Prioritäten
Investition in soziale Dienste; Ausweitung des Deckungsgrades
Armutssektoren; Assistenzzahlungen
Ausgabenzuweisung
steigend, abhängig v. makro-ökonomischen Gleichgewicht; neue Ressourcen
angebots- und nachfrageorientiert; programmorientierte PerCapita-Zuweisungen hoch, aber nicht ausschließlich (Universal programme); territoriale Ausrichtung Qualität und Gleichheit; Humankapital; Organisation und Partizipation
So wird als Leitbild des Staates nunmehr seine integrierende Rolle als charakteristisch hervorgehoben, während er zuvor als wohlfahrtsorientiert (1940224
Quelle: Raczynski 1994, I lf.; im Hinblick auf die Phase nach 1990 geht Raczynski wie andere, der ConcerForscher und Politiker davon aus, daß das hier formulierte Leitbild schon weitgehend der Realität entspricht. In unserer Argumentation wird es lediglich als handlungsleitendes Moment berücksichtigt und auf seine Wirksamkeit untersucht.
lación nahestehende
240
1973) bzw. subsidiär (1973-1990) bezeichnet wird. Dennoch fällt auf, daß dem Wandel nach 1990 nicht die gleiche Radikalität zukommt wie nach 1973. Vielmehr zeigen einige zentrale Kategorien (Verhältnis Wirtschafts-/Sozialpolitik, Finanzierung, Staat/Privatsektor, Fokussierung), daß es hier im wesentlichen um modifizierende Umsteuerung geht und nicht um einen Bruch mit der politischen Logik. Auch in den 'weicheren' Kategorien (zentral/dezentral, Zuweisungsprinzip, Prioritäten) klingt dies an; wenngleich hier qualitativ neue Stoßrichtungen vorherrschen (Partizipation, Integration, Eliminierung des reinen Assistenzcharakters), beinhalten sie eine geringere Handlungsrelevanz als die den harten Kategorien inhärenten Restriktionen (makro-ökonomische Stabilität, Finanzierbarkeit, Privatsysteme inkl. deren soziale Macht). Die Strategie des crecimiento con equidad war somit an ein Bündel von Bedingungen gekoppelt, die eine rasche Überwindung von Ungleichheit und Armut nicht als realisierbar erscheinen ließen. Vielmehr gingen und gehen die Regierungen Aylwin und Frei davon aus, daß der von ihnen als einzig möglich erachtete Gradualismus zwar zur vollständigen Beseitigung der Armut und zu einem auch sozial hohen Entwicklungsstandard fuhren würde - allerdings erst in einem Zeitraum von 20 bis 30 Jahren, womit ein sehr langfristiger Zeithorizont festgelegt wurde (und gleichzeitig die Erwartungshaltungen gedämpft werden sollten). Diese internen, d.h. der gewählten Option inhärenten Handlungsrestriktionen, ihre Bedeutung für die faktisch betriebene Sozialpolitik und ihre Auswirkungen auf erwartbare soziale Konflikte werden in den folgenden Kapiteln eingehend analysiert. (2) Offen ist damit zunächst noch die Frage nach den Handlungsrestriktionen bzw. nach dem Handlungskorridor, über den die Regierung für ihre sozialpolitische Gesamtstrategie verfugte. Denn obgleich sie eine eher gemäßigte Linie verfolgte und über die Bekämpfung sozialer Probleme wie Armut oder Gesundheitswesen ein hoher gesellschaftlicher und politischer Konsens bestand225, war bei weitem nicht geklärt, ob die relevanten gesellschaftlichen und politischen Akteure (d.h. in erster Linie Gewerkschaften, Unternehmer sowie die Oppositionsparteien RN und UDI) die nur programmatisch formulierte Politik vor allem in der wichtigen Anfangsphase nicht doch als aufkommendes Nullsummenspiel interpretierten und insofern ihre soziale bzw. politische Gegenmacht einsetzten. Aufgrund des erwähnten Konsenses mußte die Regierung kaum mit Widerständen gegen Sozialpolitik als solche rechnen, denn die skizzierte Strategie stellte eine Option dar, die infolge der zugrundeliegenden These der zwei komplementären Rationalitäten das Wirtschaftsmodell explizit bestätigte. Anders verhielt es sich jedoch mit dem eventuellen Interventionsgrad und vor allem mit dem Finanzierungsmodus. Da die sozialpolitische Strategie der Concertación aufgrund der strukturellen und selbstgesetzten constraints kein deficit spending zur Finanzierung ihrer geplanten Programme und Maßnahmen vorsah, bestand die einzige Möglichkeit zur Steigerung der finanziellen Ressourcen in der Erhöhung des Steueraufkom225
Vgl. Garretón 1989; Pizairo 1995,107f.
241
mens per Steuerreform sowie effizienterer Steuerverwaltung. Im wirtschaftsund sozialpolitischen Teil des Regierungsprogramms stand die Steuerreform mit an erster Stelle, was aufgrund des primär redistributiven und somit konfliktiven Charakters eines solchen politischen Vorhabens für deren hohe Priorität auf Regierungsseite spricht. Entsprechend war dieses Gesetzesvorhaben auch eines der ersten, das die neue Regierung im Parlament einbrachte, und führende Regierungsvertreter, allen voran Finanzminister Foxley, traten während der gesamten Gesetzgebungsphase zwischen April und Juni 1990 wiederholt zu ihrer Verteidigung auf.226 Vom Charakter her unterschied sich die projektierte Reform von ähnlichen Vorhaben in anderen Ländern Lateinamerikas und der Dritten Welt, die ebenfalls unter Anpassungszwängen leiden. Zum einen wurde nicht der übliche 'leichte' Weg über eine alleinige Erhöhung der Mehrwertsteuer angestrebt, sondern eine höhere Besteuerung der Unternehmensgewinne und der individuellen Privateinkünfte sowie eine Modifizierung der Besteuerungsgrundlagen in einigen Wirtschaftssektoren. Die Steuerreform zielte somit, obwohl sie zum Teil nur einige von Pinochet 1988 aus wahltaktischen Gründen veranlaßte Steuersenkungen rückgängig machte, auf die 'Profiteure' des alten Systems, indem sie die Steuerlast der Unternehmer und Oberschichten deutlich erhöhte. Zum anderen aber diente die Steuerreform in Chile nicht dem vorübergehenden Ausgleichen eines defizitären Staatshaushaltes, sondern auf der Basis eines gesunden Haushaltes der Ausweitung der Sozialausgaben und damit der Staatstätigkeit.227 Gleichzeitig war das Vorhaben der Regierung jedoch an die politischen Imperative der Concertaciön gebunden, wonach bei einer grundlegenden Änderung der Spielregeln zunächst ein Handlungsrahmen zu schaffen ist, der die relevanten Akteure involviert und somit über das Abstecken gemeinsamer Orientierungen die Perspektive eines Nullsummenspiels vermeidet. Wie bei der Reform der Arbeitsgesetzgebung und anderen wichtigen politischen Vorhaben bediente sich die Regierung hierzu des Mittels der Konzertierung, die eine weichere Form staatlicher Steuerung (und Entlastung) darstellt als korporatistische bzw. anderweitig formalisierte Arrangements und dennoch ein relativ hohes Maß an Verbindlichkeit in wichtigen politischen Einzelfragen erzeugt. Im Gegensatz zur Reform der Arbeitsgesetzgebung, bei der die Regierung zunächst auf die soziale Konzertierung mit CUT und CPC setzte und erst nach deren Blockade auf eine politische Verhandlungslösung mit RN umschwenkte, zielte sie bei der Steuerreform primär auf die politische Ebene und damit auf eine politische Konzertierung. Zwar waren von den geplanten Steuererhöhungen neben den höheren Einkommensgruppen vor allem die Unternehmer betroffen und von der (später ins Spiel gebrachten) Erhöhung der Mehrwertsteuer die ärmeren Schichten und damit ein Klientel der CUT, doch wurden beide Interessengruppen letztlich nur konsultiert. Denn während die Arbeitsreform CUT und CPC direkt betraf und ihr Erfolg - v.a. auch, was die spätere Umsetzung betraf 226
Vgl. ebd., 105ff. Vgl. Berensztein 1992, I6f.
242
- von einer weitgehenden Zustimmung beider Sektoren direkt abhing, folgte die Steuerreform einer anderen Logik: Ziel der Regierung war es hier, erstens einen möglichst breiten politischen Konsens darüber herzustellen, daß die Lösung der sozialen Probleme eine nationale Aufgabe darstellte, und zweitens das Regierungshandeln, d.h. vor allem die Steigerung der Sozialausgaben, auf eine breite politische Basis zu stellen. Für den Erfolg der Steuerreform und damit für die Finanzierung der projektierten Sozialpolitik war ergo eine Zustimmung der Interessengruppen zwar wünschenswert im Sinne eines ausgeweiteten sozialen Konsenses, doch war die Reform in keiner Phase entscheidend vom Scheitern aufgrund korporativen Widerspruchs bedroht. 228 Dies bedeutete jedoch keineswegs, daß der Handlungsspielraum unbegrenzt und - gerade was Höhe und Typus der Steuern anbetrifft - von Unternehmerpositionen unbeeinflußt war. Entsprechend war die Regierung bereits in einer frühen Phase - die Steuerreform wurde bereits ab Januar 1990 ausgearbeitet - darum bemüht, die Stellungnahmen von CPC und CUT einzuholen. Während die CUT dem Projekt zustimmte und erst die später diskutierte Erhöhung der Mehrwertsteuer kritisierte, erklärten sich die Unternehmerverbände zwar prinzipiell mit den Zielen einverstanden, lehnten die Maßnahmen aber rundweg ab. Insbesondere die Besteuerung der Untemehmensgewinne unabhängig von ihrer möglichen Reinvestierung sahen sie als unzulässigen Eingriff in die unternehmerische Freiheit und damit als Angriff auf die Rolle des Privatsektors insgesamt. 229 Entscheidend für den Erfolg der Reform war jedoch die politische Konzertierung mit der gemäßigteren Oppositionspartei RN. Bereits im März 1990 waren die Verhandlungen so weit gediehen, daß eine Übereinkunft über das Gesetzesprojekt erzielt und es kurz nach Aylwins Amtsantritt ins Parlament eingebracht werden konnte. Es erfiihr nach ausgiebiger Diskussion in den beiden Kammern nur leichte Modifizierungen und wurde im Juni 1990 verabschiedet. Im Kern beinhaltet die Reform drei grundlegende Veränderungen: 230 Die Unternehmenssteuem wurden für die Jahre 1992-1994 von 10% auf 15% angehoben, wobei als Grundlage die gesamten Unternehmensgewinne unabhängig von ihrer möglichen Reinvestition berechnet wurden. 231 Für Einkommen ab ca. 2.500 US$ monatlich wurde die Steuerprogression bis zu einem Spitzensatz von 50% erhöht; Einkommen unter 250 US$ sind steuerfrei, für die mittleren Einkommen gilt ein Steuersatz von 5 bis 35%. Die Mehrwertsteuer wurde von 16% auf 18% erhöht, befristet bis Ende 1993. Neben der Vereinbarung, daß die Reform im Jahr 1993 neu zu verhandeln war, wurde insbesondere darauf geachtet, daß die neu geschaffenen Ressourcen ausschließlich für soziale Zwecke eingesetzt wurden. Die Debatte darüber nahm im Kongreß einen breiten Raum ein. Vgl. Pizarro 1995, 101. 129
Vgl. Abramo/Espinosa 1992, 37ff.
230
Vgl. Pizarro 1995, 108fT.
231
Pinochet hatte 1989 ein Gesetz verabschiedet, das als Berechnungsgnmdlage nur die einbehaltenen Gewinne berücksichtigt; die Reform kehrte hier somit lediglich zur alten Regelung zurOck.
243
Als Erklärung für das Gelingen der politischen Konzertierung sind sowohl issue- wie akteursspezifische Faktoren zu nennen. Indem es der Regierung gelang, die Lösung der sozialen Probleme und damit die Steuerreform als nationale Aufgabe zu definieren, wurde das gesamte Anliegen nicht mehr nur von ökonomischen bzw. reinen Verteilungskriterien bestimmt, sondern einer eigenständigen politischen Logik unterworfen, der sich auch RN nicht entziehen konnte. Darüber hinaus zeigte die Regierung aufgrund dieser längerfristigen Perspektive eine relativ große Kompromißbereitschaft und präsentierte ein eher gemäßigtes Projekt, für das sie zusätzlich mit ökonomischen, sozialen und technischen Argumenten überzeugen konnte. Auf Seiten von RN hingegen stand eine deutlichere politische Profilierung auf dem Spiel, die sich zum einen auf ihre Demokratiefahigkeit und zum anderen auf ihre soziale Kompetenz bezog. Hier spielten nicht zuletzt Konkurrenzgesichtspunkte gegenüber UDI, also dem Partner im eigenen (oppositionellen) Lager, eine Rolle. Trotz zum Teil heftiger Attacken seitens UDI und der Unternehmer akzeptierten im Grund alle relevanten Akteure das Reformgesetz, das am 1.7.1990 in Kraft trat. Arbeitgeberpräsident Feliü sprach sogar davon, daß mit dem Verständigungsprozeß ein wichtiger Beitrag für die Stabilisierung der demokratischen Spielregeln und die Anerkennung eines gemeinsamen Handlungsrahmens der beiden wichtigsten politischen Akteure geleistet worden sei. Für die Unternehmer bewertete er die höheren ökonomischen Kosten als nachrangig gegenüber dem Stabilitätsnutzen.232 Wie die ökonomische Entwicklung der folgenden Jahre zeigte, trafen im übrigen auch die von CPC vorgebrachten Befürchtungen (v.a. Investitionsrückgang) nicht zu. Als wichtigste Ergebnisse der Steuerreform sind somit zum einen die von der Regierung anvisierten zusätzlichen Finanzressourcen zu nennen und zum anderen die politischen Langzeitwirkungen. Die Reform ergab ein zusätzliches Finanzvolumen von zunächst ca. 600 Mio. US$ für das Jahr 1991, womit der Anteil der öffentlichen Sozialausgaben am BSP gegenüber 1989 von 12,6% auf 13,2% gesteigert werden konnte. Andererseits wirkte sich die Konzertierung als Lernprozeß der politischen Akteure dahingehend aus, daß gewisse Konsensmomente auch in Fragen der Sozialpolitik nunmehr Teil des politischen Spiels waren. Dies wirkte sich auch bei der Neuverhandlung der Steuerreform im Jahr 1993 aus, die durch die zeitliche Befristung des 1990 verabschiedeten Gesetzes notwendig geworden war. Anstatt wieder zu den alten Regelungen zurückzukehren, konnte die Regierung unter Berufung auf die erfolgreiche Konzertierung im Hinblick auf nationale Aufgaben auf eine technisch adäquate Lösung dringen, die insbesondere abrupte Steuerausfalle verhinderte. Die im August verabschiedeten Änderungen sahen nun vor, daß die Mehrwertsteuer ab 1996 bei 17% liegen sollte; für 1994 und 1995 wurden 18% beibehalten, und für die Folgejahre ist es in das Ermessen des Präsidenten gestellt, ob er sie auf 16% senkt oder auf 18% beläßt - je nach makroökonomischen Erfordernissen. Für die individuellen Einkünfte gilt seitdem wieder die bis 1990 praktizierte Regem
Vgl. Imbusch 1995,415f.
244
lung, wobei der Spitzensteuersatz von 50% auf 45% gesenkt und für 1994 eine Übergangsregelung getroffen wurde. Im Hinblick auf die Unternehmensgewinne blieb es bei einem Steuersatz von 15%. Die damit bewirkte graduelle Reduzierung der Steuerlast wirkt sich dahingehend aus, daß einem Wachstum der öffentlichen Sozialausgaben fortan engere Grenzen gesetzt sind.233 Insgesamt wurde mit der Steuerreform und dem damit verbundenen Konzertierungsprozeß das staatliche sozialpolitische Handeln auf neue Grundlagen gestellt, indem nunmehr eine relative Ausweitung der Staatstätigkeit vorgenommen werden konnte und diese andererseits auf einem expliziten Konsens bis ins Lager der oppositionellen Rechten aufbaute. Zusammen mit den ökonomischen constraints legte sich die Regierung somit auf einen Handlungsrahmen fest, der bestimmte Optionen von vornherein ausschloß. Auch wenn neoliberale hardliner wiederholt Sozialpolitik als solche in Frage stellten (was sie im Lauf der Zeit häufiger und deutlicher taten234), war ein Handlungsspielraum der Regierung gemäß der eigenen Zielsetzungen vorhanden. Dies liegt jedoch vorwiegend darin begründet, daß die gewählte Option nur wenig Anlaß bot, die Perzeption eines generellen Nullsummenspiels aufkommen zu lassen. Wie die Kriterien der Finanzierbarkeit, der makroökonomischen Stabilität etc. andeuten, versuchten die Regierungen Aylwin und Frei, neu generierte Überschüsse zu verteilen. Zusammen mit der zusätzlich über die acuerdos abgesicherten Kontinuität der Wirtschaftsordnung war somit eine generelle Konfliktträchtigkeit der sozialpolitischen Materien vermieden und sogar das Szenario eines Positivsummenspiels zu zeichnen. (3) Die Regierung hatte sich zwar auf einen eng umrissenen sozialpolitischen Handlungskorridor festgelegt, doch verfügte sie innerhalb dieser Grenzen über einen gewissen Handlungsspielraum in puncto administrativer Koordination und v.a. im Implementierungsmodus. Wenngleich hier die constraints der restriktiven Haushaltspolitik eine - bisweilen überdeutliche - Betonung des EfFizienzkriteriums veranlaßten, führte die Regierung eine interne Reorganisation durch. Insbesondere gewann dabei der Prozeß der Dezentralisierung an Gewicht, der zwar nicht durch die Sozialpolitik angeleitet wurde, aber in der Absicht größtmöglicher Kohärenz und größerer Partizipation der Betroffenen gestaltet werden sollte. Das administrative Design in Form ministerieller und ausführender Zuständigkeiten folgte der Maxime, daß eine integrale Sozialpolitik einen erhöhten Koordinierungsbedarf und damit komplexere geldbasierte Infrastrukturen erfordert. Insgesamt sind mit sozialpolitisch relevanten Problemfeldern zwölf Ministerien sowie verschiedene Dienstleistungseinrichtungen befaßt, denen auch die Durchführung der jeweiligen Spezialprogramme obliegt. Zur Koordination dieser organisatorisch komplexeren Sozialpolitik wurde ein eigenes Gremium (Comité Interministerial Económico Social) unter Vorsitz des Finanzministers eingesetzt, das während der Amtszeit Aylwins allerdings kaum den eigentlichen "3
Vgl. Pizarra 1995,123.
2,4
Zu nennen ist hier insbesondere „El Mercurio" (vgl. El Mercurio Internacional, I .-7.2.1996).
245
Aufgaben (v.a. Systematisierung der gesamten Sozialpolitik) nachkam.235 Der bedeutendste institutionelle Wandel auf dieser Ebene wurde durch die Aufwertung des früheren Planungsbüros zum Ministerium (MIDEPLAN) vollzogen, das seit 1990 als Sozialministerium fungiert. Unter dessen Dach wurden neue Einrichtungen geschaffen, die sich vorwiegend der Durchfuhrung selektiver Programme widmen. Hervorzuheben sind hier u.a. SERNAM (zuständig für Frauenpolitik; die Leiterin besitzt Ministerrang); das Jugendinstitut INJ (Politiken und Maßnahmen zur wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Eingliederung von Jugendlichen); der Rat für indigene Entwicklung CONADIS (verantwortlich für Koordination und Durchführung von Spezialprogrammen für Chiles indigene Völker); FONADIS (Spezialfonds für Behinderte); die Agentur für internationale Zusammenarbeit AGCI (Beschaffung und Verteilung internationaler Mittel für Sozialprogramme); und schließlich der 'Fonds für Solidarität und soziale Investition' FOSIS, dessen dezentralisierte Projekte sich an arme und marginalisierte Gruppen richten und dabei vor allem deren Qualifikation und Partizipation betonen sollten. MIDEPLAN selbst ist für die Formulierung der Politiken zur Überwindung der Armut zuständig und besitzt eine tragende Rolle bei der Evaluierung der gesamten Sozialpolitik. Neben dem Sozialumfragesystem CASEN und der ficha CAS ist MIDEPLAN mit der Secretaria General de la Presidencia federführend für die interministerielle Evaluierung, wonach die involvierten Ministerien drei- bis viermonatlich über die Zielerfüllung Bericht erstatten müssen. Daneben existiert auch eine Evaluation ex ante für geplante Investitionen aus öffentlichen Mitteln.236 Die politische Dezentralisierung in Regionen und Kommunen ist an dieser Stelle lediglich auf ihre Bedeutung für die sozialpolitische Infrastruktur zu prüfen.237 Der bereits unter Pinochet als Dekonzentration der Verwaltung begonnene Prozeß sollte nach 1990 nicht nur zur Festigung der Demokratie, sondern auch zur effizienten und partizipativen Gestaltung der gesamten Sozialpolitik genutzt werden. Die wichtigste Instanz stellen in diesem Rahmen die seit 1993 existierenden Regionalregierungen dar, die sich aus einem Intendenten mit Exekutivfunktion und dem Regionalrat zusammensetzen, dessen Mitglieder von gewählten Gemeindevertretern aus den jeweiligen Provinzen bestimmt werden. Die Regionalregierungen sind zuständig u.a. für die soziale und kulturelle Entwicklung der Region sowie für spezielle regionale Entwicklungspolitiken, wofür sie über eigene Haushalte sowie über die Verwaltung spezieller Fondsmittel verfügen. Der Nexus zu Provinzen und Kommunen wird verstärkt durch ein wirtschafts- und sozialpolitisches Beratungsgremium je Provinz, das sich aus Repräsentanten verschiedener Organisationen und Einrichtungen zusammensetzt. Koordination und Verknüpfung zwischen regionalen und nationalen Sozialpolitiken findet über die regionalen Sozialkomitees statt, die sich aus dem Intendenten und Vertretern der jeweils beteiligten Ministerien zusammensetzen. Vgl. Molina 1995, 175. 234
Vgl. ebd., 176f.
2,7
Vgl. zum folgenden MIDEPLAN 1994,385ff.; Molina 1995, 177f.
246
Schließlich wurden auf kommunaler Ebene neben den Finanzierungsmechanismen die Selbstverwaltungs- sowie die Beteiligungsrechte der Bürger gestärkt, nicht zuletzt um auch für soziale Problemlagen eine bürgernahe und effiziente Sozialpolitik implementieren zu können.
Tab. 15: Sozialausgaben 1989-1994 (in % BIP) 238
Gesundheit
1989
1990
1991
1992
1993
1994
2,3
2,4
2,5
2,0
2,0
2,2
Wohnung
1,0
1,0
1,2
1,1
1,2
1,2
Renten
6,0
6,3
6,1
5,8
6,0
5,9
Erziehung
2,6
2,5
2,6
2,7
2,8
2,9
andere
1,0
1,0
1,1
1,1
1,2
1,2
gesamt
12,6
12,8
13,2
13,0
13,5
13,7
Die Ausweitung des finanziellen Handlungsspielraums durch Steuerreform, verbesserte Steuerverwaltung und ein insgesamt höheres Steueraufkommen schlug sich zunächst darin nieder, daß die Regierungen Aylwin und Frei sukzessive die Sozialausgaben erhöhen konnten. Zwischen 1989 und 1994 nahm ihr Anteil am BIP von 12,6% auf 13,7% zu, was sich aufgrund der hohen Wachstumsraten in einer Steigerung der Ausgaben pro Kopf von über 30% auswirkte. Allerdings zeigt eine Aufteilung nach sozialpolitischen Bereichen, daß alleine der Anteil der Renten trotz fallender Tendenz 1994 noch immer über 40% ausmachte. Andererseits zeigt ein Vergleich mit jenen lateinamerikanischen Ländern, die die CEPAL in die Gruppe mit den hohen Sozialausgaben einstuft, daß Chile trotz der Umkehrung des Trends der 80er Jahre noch immer hinterherhinkt, wenngleich die hohen Wachstumsraten diese Diskrepanz mildem.
Quelle: Ministerio de Hacienda/Direcciön de Presupuestos 1995.
247
Tab. 16: Anteil der Sozialausgaben am BIP im Vergleich 239
3.2
1980-1981
1982-1989
1990-1993
Uruguay
14,9
16,3
17,5
Argentinien
16,8
15,1
16,7
Costa Rica
15,2
15,2
15,9
Chile
17,7
12,7
14,6
Die sozialen Sicherungssysteme - ein Problem der market governance?
Die universellen Sozialpolitiken der Regierungen Aylwin und Frei zielten darauf ab, das System der grundlegenden Wohlfahrtseinrichtungen, das sie von der Militärregierung übernahm, gemäß den genannten vier Leitprinzipien umzugestalten. Neben den klassischen Sicherungsbereichen (Renten, Gesundheit) betrifft dies auch die Bereiche Bildung und Wohnung (später kam das Projekt einer Arbeitslosenversicherung hinzu). Dieser 'Umbau des Sozialstaates', so wurde bald deutlich, ließ im wesentlichen die Grundpfeiler der neoliberalen Reformen und Programme intakt, versuchte aber, innerhalb dieser Koordinaten mittels Regulation und spezifischer Programme auf deren Modernisierung hinzuwirken. Im Kern wurden deshalb die Leitprinzipien nicht, wie verschiedentlich behauptet, unwirksam bzw. nur propagandistisch verbreitet. 240 Allerdings bedeutet es doch eine beträchtliche Relativierung ihres Gewichts, daß sie nicht auf die institutionellen Grundstrukturen des Wohlfahrtssystems insgesamt angewendet wurden - was einige grundsätzliche Reformen und vor allem Konflikte impliziert hätte - sondern lediglich innerhalb des bereits existierenden Systems.241 Gleichzeitig war damit impliziert, daß die Sozialausgaben zu einem beträchtlichen Teil nicht in Politiken zur Bekämpfung der Armut geleitet wurden. Vielmehr war es der Anspruch der Regierung, nicht einfach die Prioritäten umzukehren und damit mittelfristig neue Probleme im Bereich der universellen Funktionssysteme zu schaffen. Zudem waren in allen diesen Bereichen gravierende bis desaströse Defizite vorhanden, die in mehrerlei Hinsicht sozial regressiv wirkten. Wie oben in Abb. 17 festgehalten, sollten die zwar größeren, aber dennoch insgesamt knappen Ressourcen sowohl zum 'gerechteren' Ausbau J
"
240
Quelle: CEPAL 1995. Die Angaben der CEPAL weisen für Chile einen höheren Anteil aus als die Angaben der chilenischen Regierung, die auf einer seit 1994 veränderten Berechnungsweise des BIP beruhen; aus Gründen der Vergleichbarkeit wurden die Daten der CEPAL unkorrigiert übernommen. Vgl. Vergara 1994,249. Vgl. ebd., 251
248
der sozialen Einrichtungen genutzt werden als auch darauf hinwirken, sie für die marginalisierten Schichten zugänglich zu machen. Im Kern - so wäre zugespitzt zu formulieren - verzichtete die Regierung auf grundlegende Reformen und begab sich in einen Wettlauf mit der Zeit, d.h.: den Ausbau der Sozialsysteme in der Hoffnung voranzutreiben, daß sie über die sukzessive Integration der armen Bevölkerung mittels Wachstums- und Armutspolitik tragfähig werden. Die sozialen Erfolge der Wirtschaftspolitik inkl. der Reform der Arbeitsgesetzgebung, der Inflationsbekämpfung und der Erhöhung des Mindestlohns sind u.a. daran abzulesen, daß die Reallöhne nach Jahren ständiger Erosion wieder deutlich stiegen und zwischen 1990 und 1993 insgesamt ca. 540.000 Arbeitsplätze neu geschaffen wurden,242 was trotz der Zunahme des Arbeitskraftreservoirs die (offiziellen) Arbeitslosenzahlen vergleichsweise niedrig hielt. Die Sozialstatistiken belegen überdies, daß die ärmeren Sektoren überproportional von dieser Entwicklung profitierten, auch wenn damit wenig über die Qualität der Arbeitsplätze oder über deren Stabilität ausgesagt ist. Jedenfalls wurden dadurch mehr Personen in die Lage versetzt, an den Leistungen des Wohlfahrtssystems zu partizipieren. Dessen Hauptpfeiler (Renten, Gesundheit, Bildung) werden im folgenden auf ihre Funktionsweise hin analysiert. (1) Das Sozialversicherungssystem, das neben der Altersversorgung auch zu einem Teil gegen die Risiken Arbeitsunfälle und Invalidität absichert, war unter der Militärregierung auf das individuelle Kapitaldeckungsverfahren in den privatwirtschaftlich geführten Rentenfonds (AFP) umgestellt worden. Es gilt seitdem eine gesetzliche Versicherungspflicht für Arbeitnehmer, die mit 10% des Einkommens alleinige Beitragszahler sind (lediglich zur Unfall- und Invaliditätsversicherung zahlen die Arbeitgeber einen Beitrag).243 Über großzügige Anreizmechanismen sowie die Bestimmung, daß seit 1983 alle Erstversicherten dem neuen System beitreten müssen, erfolgte der Aufbau des Privatsystems sehr rasch und flächendeckend: Nach Angaben der Aufsichtsbehörde Superintendencia de Seguridad Social1** zählten die AFPs Ende 1989 über 3,47 Mio. Mitglieder, während dem alten System der Rentenversicherungskassen nur noch jene knapp über 390.000 Beitragszahler angehörten, die nicht in das neue System gewechselt waren (d.h. ein Verhältnis von ca. 9:1). Insgesamt - so die Zahlen von MIDEPLAN - erreichte das Gesamtsystem damit einen Deckungsgrad von 75% der Arbeitskraft im Jahr 1990, was bedeutete, daß ca. 1 bis 1,3 Millionen Beschäftigte nicht integriert waren. Trotz der bereits analysierten Defizite des neuen (und mittelfristig noch 'gemischten') Rentensystems erwog die Regierung nicht, zu einem umlagefinanzierten Modus unter staatlicher Obhut zurückzukehren. Gewichtigstes Argu242
Vgl. MIDEPLAN 1994, 35.
241
Die Belastung fttr Arbeitnehmer kann somit 20% des Einkommens betragen (Invaliditätsversichening ca. 3%, Krankenversicherung 7%). Diese Aufsichtsbehörde ist fllr das 'alte' Rentensystem und dessen Verwaltungsbehörde 1NP zuständig; fllr die AFPs ist die eigens geschaffene Superintendencia de las AFP zustandig. Administrativ sind beide dem Arbeitsministerium zugeordnet.
244
249
ment war hierbei, daß die privaten Rentenfonds eine der wichtigsten Quellen für eine Steigerung der noch immer zu niedrigen nationalen Sparquote und damit für die anvisierten Wachstumsraten darstellten.245 Im Jahr 1989 bildeten die Beiträge 16,7% der Sparquote und erreichten akkumuliert 19,7% des BIP.246 Da das System in seinen Grundzügen als adäquat konstruiert und zumindest teilweise angemessen reguliert angesehen wurde, sollte es weiter ausgebaut und nach Prinzipien der Solidarität und Gleichheit korrigiert werden. Als wichtigste Problemfelder galten hierbei erstens der effektive Deckungsgrad, zweitens die Verbesserung und Ausweitung der finanziellen Leistungen und drittens - mehr die Langzeitwirkung betreffend - die Verbesserung staatlicher Regulation des Gesamtsystems im Hinblick auf Transparenz, soziale Ausgewogenheit und Leistungsfähigkeit des Privatsystems. Nach Angaben der Aufsichtsbehörde war die Zahl der Versicherungsteilnehmer bis Ende 1992 um 910.000 auf ca. 4,77 Mio. angewachsen, wobei nun fast 93% aller Versicherten dem Privatsystem angehörten. Wie bereits angedeutet, liegen über den damit verbundenen Deckungsgrad keine eindeutigen Zahlen vor. So geht die Superintendencia de Seguridad Social davon aus, daß 1992 über 91% der Lohnabhängigen in einer AFP eingeschrieben waren; zusammen mit den Mitgliedern des alten Systems entspräche dies einem Deckungsgrad von 98,6% der Erwerbsbevölkerung.247 Allerdings ist damit der faktische Dekkungsgrad vor allem des Privatsystems nicht hinreichend erfaßt, da diese Zahlen die eingeschriebenen Mitglieder angeben. Berücksichtigt man nur die regelmäßig zahlenden AFP-Mitglieder (60% der AFP-Versicherten), so betrug der Deckungsgrad 1992 nur ca. 58%.248 Dies liegt daran, daß auch die 'abgewanderten' Beitragszahler (Arbeitslosigkeit, informeller Sektor) weiterhin ihre Konten bei den AFPs behalten, jedoch nicht mehr einzahlen und so bei Renteneintritt nicht genügend lange bzw. ausreichend Kapital angehäuft haben werden. Die Gründe für diese 'ruhenden' Beitragszahlungen sind nicht nur im Ausscheiden aus der Beschäftigung zu sehen, sondern auch in Hinterziehung von Beiträgen durch Arbeitgeber (finanzielle Vorteile, Verwaltungsaufwand), die teils auch mit Zustimmung von Arbeitnehmern mit niedrigen Einkommen erfolgt (Subdeklaration der Bemessungsgrundlage), da sie mit der garantierten staatlichen Mindestrente rechnen können.249 Das neue System bietet demjenigen, der nur auf die Mindestrente spekuliert, sozusagen das free riding an, da der Staat in jedem Fall die Differenz bis zur Mindestrente zahlt. Diese Imperfektion wurde bislang nur teilweise beseitigt, indem die staatliche Rechtsaufsicht ausgeweitet und die Sanktionen für Zahlungsverzug seitens der Arbeitgeber verschärft Vgl. Concertaciön 1989,20. 244
Vgl. MIDEPLAN 1994,262fr.
247
Vgl. ebd., 267; für 1991 beziffert die Superiniendencia de las AFP die AFP-Mitglieder auf 86% der Erwerbsbevölkerung (vgl. Queisser 1993,213). Vgl. ebd., 183; auch die Angaben von MIDEPLAN, die auf den eigenen Sozialerhebungen benihen, weisen ftlr 1992 einen Deckungsgrad von nur 60,8% aus, wobei überdies eine rückläufige Tendenz gegenüber 1990 (64%) zu verzeichnen ist (vgl. MIDEPLAN 1994,47). Vgl. Queisser 1993,214f.
241
249
250
wurden. Sie stellt aber - wenngleich erst mittel- bis langfristig - ein Risiko nicht nur für den faktischen Deckungsgrad, sondern auch für die Entwicklung der Sozialausgaben dar. Die Verbesserung und Ausweitung der finanziellen Leistungen betreffen deren Höhe sowie den Kreis der Anspruchsberechtigten. Da die gemischte Funktionsweise beibehalten wurde, reduzierten sich die akuten Probleme auf die Leistungen des alten Systems, das 1989 für 88,7% der gesamten Rentenzahlungen verantwortlich zeichnete und Aufwendungen in Höhe von ca. 50% der öffentlichen Sozialausgaben erforderte. Zu den finanziellen Verbesserungen zählte hier die ab 1990 sukzessiv für die verschiedenen Gruppen geleistete Erhöhung der Renten um 10,6%, deren Anpassung von Pinochet in den Jahren zuvor ausgesetzt worden war. Insgesamt kostet dies den Staat ca. 150 Mio. US$ jährlich. 230 Zusätzlich wurden auch jene Sozialtransfers aufgestockt, die zur sozialen Sicherung im weiteren Sinne zu rechnen sind und für die unterschiedliche Anspruchsberechtigungen existieren. 251 Des weiteren wurden Regelungen getroffen für die Angehörigen der Opfer von Menschenrechtsverletzungen unter der Diktatur, für die aus politischen Gründen Entlassenen (ca. 50.000 Fälle) sowie für Fälle der Frühverrentung und Übergangszahlungen in Krisensektoren wie Kohle und Eisenbahnen. Im AFP-System selbst wurden in bezug auf finanzielle Leistungen nur geringe Modifikationen vorgenommen (Verkürzung der Wartezeit auf die erste Rentenzahlung von ca. 7 Monaten auf 14 Tage, Ausweitung der Invaliditätsrente). 252 Langfristig am wichtigsten für das Funktionieren des Sozialversicherungssystems ist allerdings die Verbesserung der staatlichen Regulation des AFPSektors. Die Hauptprobleme liegen hier in Wettbewerbs- und Transparenzmängeln, Regelungsdefiziten im Fall des Renteneintritts sowie in der Sicherung einer hohen Durchschnittsrendite der AFPs. Aufgrund der Langzeitwirkung ging die Regierung davon aus, daß Änderungen hier sukzessive und jeweils nach eingehender Prüfung durchzuführen seien, so daß bislang nicht alle Defizite angegangen wurden. Die wichtigsten Änderungen wurden hinsichtlich der Transparenz des AFP-Marktes sowie der Anlagebestimmungen erzielt. Auf Veranlassung des Arbeitsministeriums erhalten die AFP-Mitglieder seit 1992 standardisierte Informationen über Rentabilität und Gebühren der AFPs, was gewissermaßen eine Stärkung des Verbraucherschutzes in diesem Sektor darstellt, da bereits eine Abweichung der Rentabilität um einen Prozentpunkt eine Änderung der Rentenhöhe von ca. 20% bewirkt. Direkt mit der Rentabilität verknüpft sind die Bestimmungen über die Anlagemöglichkeiten der kumulierten AFP-Gelder, 2.0
Die Mindestrente beträgt seitdem ca. 80 U S $ . Die Renten werden jährlich an die Inflationsrate angepaßt; erreicht die Inflationsrate seit der letzten A n p a s s u n g 15%, so findet ebenfalls eine automatische A n p a s s u n g statt (vgl. Arellano I99S, 86).
2.1
Hierzu gehören Familienzuweisungen (die an eine Mitgliedschaft in Renten- o d e r Krankenversicherung geknüpft sind), FamilienunterstUtzungen (in d e r Regel ftlr Bedürftige, die nicht versichert sind) s o w i e Unterstlltzungsrenten (ftlr Alte und Behinderte, die nicht in das Versicherungssystem integriert sind). Die Hohe der Leistungen beträgt im letzten Fall ca. 35 U S $ , in den ersten beiden j e ca. 4 U S $ (vgl. ebd., 78).
2.2
Vgl. M I D E P L A N 1994, 268fr.
251
die - im Sinne der Erhöhung der Sparquote durchaus intendiert - 1992 bei ca. 35% des BSP lagen und für das Jahr 2000 auf ca. 50% des BSP geschätzt werden. Diese Summen können allerdings vom chilenischen Finanzmarkt kaum noch absorbiert werden, worunter u.a. die Rendite leidet. Die Regierung mußte deshalb bereits mehrfach die Anlagebestimmungen ändern: So können die AFPs mittlerweile bis zu einem Anteil von 3% des Sicherungskapitals auch im Ausland investieren, wo jedoch die Risiken höher oder die Renditen niedriger sind. 253 Insgesamt wurde hier aber die strikte Regulierung des Systems durch Aufsichtsbehörde und Zentralbank (Kommission für Risikoklassifizierung) beibehalten. Als Ergebnis ist festzuhalten, daß sich das Sozialversicherungswesen unter der demokratischen Regierung institutionell nur wenig verändert hat. Die subsidiäre und regulative Rolle des Staates wurde beibehalten, während andererseits zunächst die kurzfristig anstehenden Problemfalle geregelt wurden. Der Finanzierungsmodus wurde ebensowenig geändert wie (noch) keine Lösung für die ausgeschlossenen Personen gefunden wurde. In puncto Finanzierung gilt auch, daß der Staat auf Beitragsseite weiterhin mit über 25% an den Kosten der Rentenversicherung beteiligt ist (Anerkennungsscheine für die Wechsler in das neue System, laufendes Defizit des alten Systems). Insgesamt machen die Sozialversicherungsausgaben ca. 45% der gesamten öffentlichen Sozialausgaben (= 6% des BIP 1994) aus, was den sozialpolitischen Spielraum des Staates erheblich einschränkt. 254 Prognosen besagen, daß auch bei Ausschaltung der diversen Risiken (Deckungsgrad, unsichere Renditen) und einem Wachstum von 5% jährlich der chilenische Staat frühestens im Jahr 2030 vom reformbedingten Defizit der Alterssicherung entlastet sein wird. 255 Zu diesen direkt sozialpolitisch bedeutsamen Auswirkungen steuert das etablierte und nunmehr gefestigte System weitere Risiken bei. Zum einen wird mit guten Gründen bezweifelt, ob die privaten Rentenfonds tatsächlich die effizienteste Form sind, um die nationale Sparquote zu steigern, da die Reform im Gegenzug zumindest die staatliche Ersparnis beträchtlich minderte (ca. 5% des BSP). 56 Zum anderen ist zwar die Umstellung relativ erfolgreich verlaufen, doch ist die tatsächliche Tragfähigkeit des Systems nicht als gesichert anzusehen. Dies liegt v.a. darin begründet, daß sich seine Wirksamkeit erst nach Ablauf einer Generation einstellt, wenn also die ersten massiven Zahlungen fällig werden. Hierbei dürften die bereits genannten und heute sichtbaren Unsicherheitsfaktoren eine gravierende Rolle spielen: Da die Höhe der späteren Rente stark von der Rentabilität der AFPs abhängig ist, kann dies, wenn die Mindestrente weit unterschritten wird, verheerende Auswirkungen haben, die allesamt vom Staat aufzufangen sind. 257 Auch drohen dem Staat große finanzielle 2)5
Vgl. Witte 1994,82f.; Arellano 1995, 87f.
254
Vgl. ebd., 81.
255
Vgl. Queisser 1993, 188ff.
256
Vgl. Witte 1994, 82f.; Queisser 1993, 186ff.
257
Dies betrifft sowohl die garantierten Zuzahlungen bis zur Mindestrente als auch die Übernahme d e r Kosten, falls eine AFP in Konkurs geht.
252
Belastungen, wenn das Problem jener Erwerbspersonen (und ihrer Angehörigen) nicht gelöst wird, die bislang vom Sozialversicherungssystem überhaupt nicht erfaßt sind und für deren Unterhalt der Staat aufzukommen hätte. Ersteres erfordert u.a. die Beibehaltung sowohl der strikten Anti-Inflationspolitik wie der sorgfältigen staatlichen Aufsicht, um das Sicherungskapital nicht zu gefährden; letzteres hängt von der mittelfristigen Integration dieser Gruppen in das formale System ab, was gegebenenfalls höhere Sozialausgaben und damit Inflationsdruck bedeutet. Bislang weitgehend unterschätzt wurde auch das Ausmaß der Erwartungssicherheit, das das chilenische Rentensystem den Beitragszahlern ermöglicht. Bis 1995 lagen die durchschnittlichen Renditen der AFPs bei ca. 13% und somit außerordentlich hoch, doch hängt die Leistungskraft des Sektors von den Unwägbarkeiten der Finanzmärkte ab. Der Modus des Kapitaldeckungsverfahrens schreibt die Folgen hingegen individuell zu, ohne daß im späteren Rentenfall intrasystemische Korrekturen möglich sind. Während das Umlageverfahren per 'Generationenvertrag' zumindest die Möglichkeit späteren kollektiven Handelns und damit politischer Einflußnahme auf den Staat bewußt offenläßt, um institutionelle Modifikationen zu bewirken, besteht im 'neoliberalen' chilenischen Modell hier nur die Möglichkeit des institutionellen Bruchs, wenn der worst case (Renditenverfall) eintritt. (2) Das Gesundheitssystem Chiles war durch die Reformen der Militärregierung inkohärenten Modernisierungsimpulsen ausgesetzt worden, die nach fast allen Maßstäben in einem desaströsen Zustand des Gesundheitswesens resultierten und damit neben einer kompatiblen Sozialentwicklung auch die Effizienzkriterien verfehlten. Die Liste der Problembereiche, die die Diagnose der Sozialexperten der Concertaciön ergab, ist entsprechend lang und umfaßt nahezu alle mit einem Gesundheitssystem verknüpften Ebenen und Dimensionen.258 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier die wesentlichsten Defizite rekapituliert, die vor allem das öffentliche Gesundheitswesen betreffen, das nach wie vor für ca. 80% der Bevölkerung zuständig ist: • Finanzierungsprobleme: Die staatlichen Ausgaben fielen durch Ausgabenkürzung und Definanzierung aufgrund der Teilprivatisierung pro Kopf um fast 40%, wodurch sich der Staatsbeitrag von 61% (1974) auf 39% (1990) reduzierte.259 Dies wurde durch die Erhöhung des Pflichtbeitrags im öffentlichen System von 4 auf 7% kompensiert. Der Anteil der Versicherungsbeiträge stieg so von 14% auf 45%, wodurch sich immer noch eine Kürzung der gesamten öffentlichen Ausgaben um 13% ergab. • Funktionsprobleme: Die gestiegenen Kosten für die Beitragszahler im öffentlichen System trafen mit einem abnehmenden Nutzen, sprich: Verfall desselben, zusammen, der aus mangelnden Investitionen, dramatischer Vernachlässigung der Infrastruktur (Gebäude Apparate, Fahrzeuge etc.) und mangelhafter Personalausstattung (Ausbildung, Bezahlung) resultierte. Vgl. MIDEPLAN l991,63fT. Vgl. MIDEPLAN 1994,'201.
253
• Strukturelle Probleme: Hierzu zählen u.a. Koordinierungsprobleme im Gefolge der Dezentralisierung des Gesundheitswesens, die mangelhafte Integration von öffentlichem und privatem Sektor, effizienzmindernde Verwaltungsmängel, falsche Anreizsysteme bei der Ressourcenzuweisung sowie Funktionsmängel des ISAPRE-Systems (Transparenz, finanzielle und risikobedingte Zugangsbarrieren, Präventivmedizin). • Ungleichverteilung und Zugangsprobleme: Die Teilprivatisierung führte zu einer Dualisierung des Sektors, da die Besserverdienenden (und risikoarmen Gruppen) quasi über eine gut funktionierende Versorgung inkl. Finanzierung (ISAPREs) verfugten, während dem Rest nur das defizitäre staatliche System offenstand. Umverteilung unter Solidaritätsgesichtspunkten fand nur innerhalb des öffentlichen Sektors statt, d.h. die Mittelschichten finanzierten die Unterschichten und Marginalisierten mit, während die Reichen davon verschont blieben. Zusammen mit den zuvor genannten Problemen führte dies zu mangelnder Gesundheitsversorgung vor allem der armen Bevölkerung bei verschlechterten Zugangsbedingungen. Überdies wurde das öffentliche System mit Versorgungsdiensten belastet, die das Privatsystem nicht zu übernehmen hatte. Obwohl die gravierendsten Defizite aus der Grundstruktur des Gesamtsystems herrührten, ließ die Regierung die institutionellen Rahmenbedingungen unverändert, d.h. das duale System aus öffentlicher und privater Gesundheitsversorgung sowie der Finanzierungsmodus wurden beibehalten. Die Basisprinzipien der Sozialpolitik, die explizit auch auf das Gesundheitswesen angewendet werden sollten, 260 bezogen sich somit auch hier nicht auf die Gesamtstruktur, sondern jeweils auf Teilsegmente innerhalb der Subsysteme und hier vor allem des öffentlichen Sektors. Angesichts der Fülle von Problemen, die entsprechend zu einer hohen Erwartungshaltung gegenüber der demokratischen Regierung gefuhrt hatte, konzentrierte die Regierung ihre gesundheitspolitischen Maßnahmen auf die Verbesserung des Zugangs zur Gesundheitsversorgung, die Leistungsfähigkeit des Sektors (insbesondere der öffentlichen Krankenhäuser) sowie die Förderung von Gesundheitsvorsorge und -schütz. Diese Modernisierung des öffentlichen Gesundheitswesens sollte begleitet sein von einer Steigerung der Behandlungsqualität, wozu die Regierung einen Entwicklungsplan formulierte, der neben umfangreichen Investitionen und infrastrukturellen Verbesserungen auch die Errichtung neuer Programme für die ungeschützten Bevölkerungsgruppen vorsah und somit gleichzeitig auf größere Gleichheit, Effizienz und Effektivität hinwirken sollte.261 Als wichtigstes Instrument sah die Regierung hierbei die Steigerung finanzieller Ressourcen an. Zwischen 1989 und 1992 konnten die gesamten öffentlichen Gesundheitsausgaben um fast 47% erhöht werden, wobei durch die Mittel aus der Steuerreform eine Steigerung des Staatsanteils um 67,7% ermöglicht wurde. Damit erreichte der Staatsanteil an der Finanzierung 260
Vgl. ebd., 204f.
241
Vgl. ebd., 205.
254
wieder mehr als 45% (gegenüber 35% im Jahr 1989). In absoluten Zahlen ausgedrückt stiegen die Gesundheitsausgaben zwischen 1989 und 1994 von 0,79 auf 1,28 Mrd. US$, womit sie 18,5% der gesamten Sozialausgaben und 2,5% des BIP ausmachten. Umgerechnet auf die jeweiligen Mitglieder ergab sich dadurch im öffentlichen Sektor eine Steigerung der Ausgaben von ca. 70 US$ (1989) auf 90 US$ im Jahr 1992, während die Klienten der ISAPREs gleichzeitig eine Minderung von 230 auf 210 USS verzeichneten.
Tab. 17: Entwicklung der öffentlichen Gesundheitsausgaben 1989-1994 262
Ausgaben (Mrd. US$) - in % Sozialausgaben - in % BIP
1989
1990
1991
1992
1993
0,79
0,75
0,89
1,04
1,16
1994 1,28
15,8
15,3
16,5
17,4
17,7
18,5
2,0
2,0
2,2
2,3
2,4
2,5
Dem Gleichheits- und Solidaritätsprinzip konnte nach offiziellen Angaben insofern Rechnung getragen werden, als über die diversen Gesundheitsprogramme eine deutliche Konzentration der öffentlichen Ausgaben auf die ärmeren Haushalte erfolgte, während das Quintil der reichsten Haushalte umgekehrt zur Subvention beitrug.263 Hierbei spielt auch eine Rolle, daß nach wie vor die arme Bevölkerung, die sich keine Versicherungsbeiträge leisten kann, kostenlose Leistungen des Standardsystems erhält. Insbesondere die Primärversorgung wurde ausgeweitet, wodurch der Zugang zur medizinischen Versorgung für die ärmeren Gruppen verbessert werden konnte. Dennoch ist festzuhalten, daß ein Großteil der finanziellen Ressourcen vor allem in Infrastruktur- sowie Personalinvestitionen floß. Während erstere vorwiegend zur Ausweitung des Versorgungsnetzes, der besseren Ausstattung mit Apparaten und (zusammen mit Entwicklungshilfemitteln) der Instandsetzung der Krankenhäuser eingesetzt wurden, wurden andererseits der Personalbestand um 9% erhöht und die Gehälter insgesamt um 40% angehoben. 264 Trotz dieser Leistungen sind sich Experten und Politiker darüber einig, daß das chilenische Gesundheitswesen sich nach wie vor in einem defizitären Zustand befindet. Entsprechend zeigen Umfragen, daß die Bevölkerung bislang kaum eine Verbesserung der medizinischen Versorgung wahrnimmt. 265 Hierbei ist in Rechnung zu stellen, daß die oben skizzierte Ausgangslage ein schwieriges Startkapital bedeutete. Dies wirft jedoch auch die Frage auf, inwieweit die Strategie der Regierung der Problemlage angemessen war bzw. inwieweit sie ihre Handlungsspielräume ausschöpfte. J
"
26!
Quellen: M1DEPLAN 1994, 105; Arellano 1995, 81; Dirección de Presupuestos 1995; 1996. Vgl. MIDEPLAN 1994, 206f.
!M
Vgl. Arellano 1995, 82.
265
Vgl. Dabrowski 1995,146.
255
Der Verzicht, zusammen etwa mit der Steuerreform Strukturreformen anzugehen, erwies sich aus verschiedenen Gründen als kontraproduktiv. Zum ersten erschwerte die grundsätzliche Beibehaltung des Systems, im Nachhinein auch nur einige Funktionsmängel des ISAPRE-Sektors auf gesetzlichem Wege abzustellen. Entsprechend scheiterte ein Gesetzesvorhaben, das nur geringfügige Modifikationen vorsah, angesichts des verengten politischen Handlungsspielraumes erwartungsgemäß im Kongreß. 266 Zum zweiten kann die prozentual beträchtliche Ausgabensteigerung nicht darüber hinwegtäuschen, daß die direkten staatlichen Gesundheitsausgaben nur 1,2% des BIP ausmachen, die finanziellen Ressourcen also - v.a. angesichts der gravierenden Mängel - äußerst knapp sind. Dennoch nahm die Regierung über die Akzeptanz des Status quo die weitere strukturelle Definanzierung des öffentlichen Gesundheitswesens in Kauf, die sich aus dem dualen System ergibt: Da sich im relativ gut funktionierenden Privatsektor vor allem die oberen Einkommensschichten sammeln und es keinen Finanzausgleich zum öffentlichen System gibt, muß der Staat zu dessen Aufrechterhaltung einen relativ höheren Anteil zuschießen - sofern er darüber verfugt. Während die bei FONASA Versicherten (ca. 75% der Bevölkerung) nur für 40% der Gesamtbeiträge aufkommen, bringen die Privatversicherten (ca. 20%) immerhin 60% auf und erreichen damit ein Finanzierungsvolumen, das knapp zwei Drittel des gesamten öffentlichen Sektors beträgt. Zudem muß der Staat weiterhin eine Reihe von Dienstleistungen anbieten, die die ISAPREs nicht abdecken (Präventivmedizin, das 'Risiko' der Mutterschaft), und es bleiben ihm in jedem Falle die Risikogruppen (Alte, Kranke, Arme etc.), die die ISAPREs nicht aufnehmen müssen. Da zumeist auch für die vom öffentlichen Sektor erbrachten Dienstleistungen keine Marktpreise berechnet werden, führt dies letztlich zu einer Subventionierung des Privatsystems durch den Staat. Drittens verdecken die besonderen Funktionsbedingungen, daß das System der ISAPREs nicht effizient arbeitet und somit eher volkswirtschaftlichen Schaden anrichtet denn zur Modernisierung beiträgt. 267 Dies bedeutet nicht, daß der öffentliche Sektor effizienter arbeitet - im Gegenteil sieht die Regierung gerade hierin das größte Defizit. Allerdings stellt sich die Frage, weshalb dies durch ein ineffizientes Privatsystem ergänzt werden muß, das zudem insgesamt sozial äußerst regressiv wirkt. Im Vergleich zum Sozialversicherungssystem, in dem aufgrund der immensen Kapitalsummen zumindest die staatliche Regulierung des Sektors als permanente Aufgabe angesehen und partiell auch angegangen wird, zeichnet sich der weitaus dualistischere Gesundheitssektor weitgehend durch Stagnation aus. (3) Wie Renten- und Gesundheitssystem wurde auch das Bildungssystem in seinen Strukturen und ergo mit seiner teils defizitären Funktionsweise beibehalten. Von der Entwicklungsstrategie her betrachtet, stellt Bildung den im sozialpolitischen Bereich wichtigsten Faktor dar, da er sich neben den sozialen und politischen Nebeneffekten sowie der finanziellen Dimension mittel- bis lang266
Vgl. Arellano 1995, 82.
267
Vgl. Witte 1994, 85f.
256
fristig auf die Qualität der Arbeitskraft auswirkt: Da Chile zum Erreichen der systemischen Wettbewerbsfähigkeit eines großen Reservoirs an qualifizierten Arbeitskräften bedarf, lag und liegt hier aufgrund der vorgefundenen Defizite ein Engpaß vor. Zur Bedeutung eines modernisierten Bildungswesens für die individuellen Entfaltungschancen und deren Gleichheit tritt somit vor allem seine gesamtgesellschaftliche Relevanz in Form von Humankapital. Entwicklungsstrategie und Programm der Concertaciön maßen der Bildungspolitik durchaus diesen hohen Rang bei, doch versuchte die Regierung, sie innerhalb der bestehenden Strukturen sukzessive zu implementieren.268 Beibehalten wurden vor allem die Teilprivatisierung des Schulwesens und dessen Übertragung an die Kommunen ('Dezentralisierung')269, der wettbewerbsorientierte Finanzierungsmodus (Subvention pro Schüler) innerhalb des öffentlich finanzierten Schulwesens und zwischen diesem und den Privatschulen, die tendenzielle Stärkung der Grundschulbildung gegenüber der universitären Ausbildung (und Forschung) sowie der Verzicht auf ein praxisnahes Berufsbildungssystem.270 Dabei waren unter der Militärregierung die Bildungsausgaben prozentual ständig gesunken und erreichten 1989 nur noch 2,6% des BIP (1970: 4,2%). Zusammen mit den Strukturreformen führte dies zu einer fortschreitenden Erosion der Qualität des gesamten Bildungssystems, wobei auch die privaten Einrichtungen entgegen der Marktphilosophie zur Ineffizienz beitrugen.271 Um auf dieser Grundlage eine graduelle Modernisierung zumindest beginnen zu können, setzte die Regierung vor allem auf eine prozentual erhebliche Steigerung und Bündelung der finanziellen Ressourcen. Aus Mitteln der Steuerreform sowie - für besondere Projekte - der Entwicklungshilfe gelang es, den Trend fallender Bildungsausgaben wieder umkehren zu können: Zwischen 1990 und 1994 stieg der Etat um 52% und betrug 1994 ca. 1,5 Mrd. US$, was einen Anteil von 21,1% an den Sozialausgaben und von 2,9% am BIP ausmachte (1990: 19,4% bzw. 2,5%). Diese Mittel wurden vorwiegend in drei Richtungen eingesetzt: Erstens erhöhte die Regierung die Subventionsrate für die öffentlichen Schulen, was im wesentlichen der im Estatuto Docente272 von 1991 beschlossenen graduellen Gehaltserhöhung der Lehrkräfte zugute kam; die Gehälter stiegen zwischen 1991 und 1994 real um 40%. Zweitens wurden speziell Schüler aus Armutsverhältnissen bzw. die 'armen' Schulen unterstützt (Nahrungsmittel, Lernmittel, Bibliotheken, Stipendien etc.). Drittens wurden gezielt Programme zur Qualitätssteigerung aufgelegt, wie insbesondere ein von der Weltbank mitfinanziertes 'Programm zur Verbesserung von Qualität und "* Vgl. Nilo 1996, 90ff. !M
270
Die von den Gemeinden verwalteten Schulen besuchten 1989 62% der Schüler, die subventionierten (private Tragerschaft, öffentliche Finanzierung pro Schaler) 31% und die rein privaten Schulen 6,5% (vgl. MIDEPLAN 1991, 93). Aufgrund der geringeren durchschnittlichen Schulerzahl betragt der Anteil der Privateinrichtungen im Primär- und Sekundarbereich 10%. Vgl. MIDEPLAN 1991,90ff.; MIDEPLAN 1994, I63ff.; Dabrowski 1995, 200ff. Vgl. MIDEPLAN 1991,97.
m
Das Eslalulo Docente regelt die relevanten Materien fllr die Erziehungsberufe (die nicht unter die Arbeitsgesetzgebung fallen); geregelt sind u.a. Organisationsrechte, Arbeitsbeziehungen, Arbeitsbedingungen, Bezahlungsmodus, Weiterbildung und Partizipation in der Schulverwaltung.
257
Gleichheit der Erziehung' für das gesamte formale Bildungssystem und ein weiteres, auf Grundschulen in armen Kommunen und Regionen zugeschnittenes Programm. 273 Auch wenn sich die Resultate erst langfristig beurteilen lassen und Messungsprobleme bestehen, deuten einige Indikatoren auf eine positive Entwicklung zumindest in Teilbereichen hin. So hat sich der Deckungsgrad auf allen drei Ebenen des Bildungssystems erhöht, wobei die Differenz zwischen den Einkommensgruppen zwar immer noch beträchtlich, doch insgesamt geringer geworden ist.274 Auch haben sich die schulischen Leistungen deutlich verbessert, wenngleich die öffentlichen Schulen gegenüber den subventionierten und diese gegenüber den Privatschulen noch immer deutlich schlechter abschneiden. 275 Trotz der Ausweitung staatlicher Aktivität im Bildungssektor stößt die Strategie der graduellen Ressourcensteigerung trotz bzw. wegen ihrer Konzentration auf besonders problematische Kernbereiche an institutionelle Grenzen. Insbesondere die öffentlichen Primarschulen weisen Defizite auf, die nach Ansicht von Arellano die Entwicklungsfähigkeit dieses Sektors insgesamt in Frage stellen. 276 Hierzu gehören u.a. die nach wie vor prekäre Finanzsituation, die strukturell begründet ist (Definanzierung durch die Privatschulen, unsichere Finanzplanung aufgrund der Zuweisung pro Schüler, Gefalle zwischen reichen und armen Kommunen), sowie administrative Mängel, die aus spezifischen Dezentralisierungsproblemen resultieren. Als äußerst kritisch ist nach wie vor auch die Situation der Universitäten anzusehen. Während zumindest in Fragen des Zugangs für Einkommensschwache über die Modifikation des Darlehenssystems einige Gleichheitsmomente eingeführt werden konnten, leidet das Universitätswesen insgesamt und vor allem die Forschung unter den mangelnden finanziellen Ressourcen. Zwar erhöhte die Regierung die unter Wettbewerbsmodalitäten ausgeschriebenen Mittel für Forschung um 40%, doch mangelt es an stabiler Grundausstattung insgesamt, die auch durch die relativ hohen Studiengebühren nicht kompensiert werden kann. Eine tragfahige Forschungsleistung bleibt somit oft an die Managementfahigkeit bzw. das Renommee von Einzelpersonen gebunden und wird insgesamt durch die kurzfristige Orientierung an Marktprinzipen behindert. Eine (auch produktiv wirksame) Koordination und Lenkung setzt allerdings eine höhere staatliche Verantwortung für diesen Sektor voraus, was jedoch - trotz der wiederholt betonten Relevanz von Grundlagenforschung und Technologie für die zweite Phase der Exportorientierung - bis dato nicht zu einer entsprechenden Politik geführt hat: Im Schnitt gibt Chile, eingeschlossen die nicht-staatlichen Ausgaben, jährlich nur 0,55% des BIP bzw. 13 US$ pro Kopf für Forschung und Entwicklung aus (Industrieländer: 2,6% bzw. 564 US$). 2 7 In der gleichen 2.5
Vgl. MIDEPLAN 1994, 184ff.
274
Vgl. ebd., 188; Ausnahme ist hier der seit 1990 stark gestiegene Anteil der höchsten Einkommensgruppe an der universitären Ausbildung. Vgl. ebd., 189.
2.6
Vgl. Arellano 1995, 85.
"7
Vgl. Parada 1995, 52f.
258
Größenordnung (0,54%) liegen die staatlichen Ausgaben für das Universitätswesen insgesamt. 278 Die skizzierten Defizite führten bereits in der Amtszeit Aylwins zwar kaum zu Konflikten, aber doch zu stärker werdender öffentlicher Kritik an der geringen Leistungskraft des chilenischen Bildungssystems. Ein Tenor dieser Kritik war, daß gesteigerte finanzielle Ressourcen nicht automatisch zu qualitativer Steigerung in Ausbildung und Forschung führten. In diese Richtung wiesen auch die Evaluierungen, die von Regierungsseite in den verschiedenen Sektoren des Bildungsbereichs vorgenommen wurden und im wesentlichen auf Funktions-, Finanzierungs- sowie Regulationsmängel hinwiesen. 279 Aufgrund der konstatierten Modernisierungsrisiken sah sich die Regierung Frei deshalb zu Reformbestrebungen veranlaßt, die sich zum einen auf den Universitätssektor, zum anderen auf das Schulwesen erstrecken. Zwar sind beide Vorhaben noch in der Programmierungsphase, doch weisen sie eine deutliche Kohärenz mit der bisher betriebenen Modernisierungspolitik auf. So soll dem Bildungssektor der Großteil der Gewinne aus der für 1996 geplanten Privatisierung des Elektrizitätsunternehmens Colbün zufließen (zunächst wird ca. ein Drittel veräußert; der Börsenwert von Colbün wird auf 1,16 Mrd. US$ geschätzt). 280 Dies setzt zwar einmalige Investitionsmittel frei, ändert jedoch am skizzierten Bildungssystem wenig. Die genannten Beispiele ergeben, daß nach wie vor alle Bereiche des sozialen Sektors von Dysfunktionalitäten geprägt sind, wenngleich diese im Ausmaß divergieren und sich auf unterschiedliche Modemisierungs- und Entwicklungsfaktoren auswirken. Insgesamt wurden damit soziale Tatsachen geschaffen bzw. perpetuiert, die in einem reformfeindlichen Klima nur schwer zu korrigieren sind. Die Bevorzugung von Geld gegenüber Recht (Macht) als Steuerungsmedium stieß somit unter der Regierung Aylwin und zunächst unter Frei an zwei strukturelle Barrieren: Erstens setzte die Gesamtstrategie dem staatlichen Haushalt die engen Grenzen der makroökonomischen Stabilität und beeinträchtigte somit notwendige Investitionen vor allem im Bereich von Forschung und Bildung. Dies wurde zweitens durch den Umstand potenziert, daß der Verzicht auf Reformen nur durch einen proportional noch höheren Einsatz finanzieller Ressourcen hätte ausgeglichen werden können. Damit deutet sich jedoch ein Dilemma an: Entweder wird der Ressourcenmangel akzeptiert und damit die soziale Modernisierung aufs Spiel gesetzt, oder es werden zusätzliche Ressourcen per Redistribution verschafft, was entweder doch das Steuerungsmedium Macht (und damit politischen Konflikt) erfordert oder per Haushaltsdefizit die gesamte Modernisierungsstrategie in Frage stellt.
2
™ Vgl. Contreras et al. 1995, 107. Vgl. M1DEPLAN 1994.
2K
Vgl. El Mercurio Intemacional 11.-17.1.1996.
259
3.3 Armutsbekämpfung und Sozialintegration Bereits die universellen Sozialpolitiken beinhalteten den Versuch, Schwerpunkte zugunsten der ärmeren Bevölkerungsgruppen zu setzen. Die Bekämpfung der Armut bildete explizit die zweite Stoßrichtung der Sozialpolitik der Concertaciön. Denn trotz der Mitte der 80er Jahre einsetzenden Wachstumsdynamik hatte sich die Armutssituation nur wenig verbessert, so daß 1989 5,2 Mio. oder 40,1% der Bevölkerung in Armut lebten (davon 1,8 Mio./13,8% in extremer Armut). Im Gegensatz zur Armutspolitik unter Pinochet, deren Assistenzcharakter (red social asistencial) bei ständig fallenden Sozialausgaben mehr eine Verwaltung der Armut beinhaltete, sollte nunmehr eine Politik betrieben werden, die die Armut durch die allmähliche Integration dieser Gruppen in den Entwicklungsprozeß als solche mittel- bis langfristig aufhebt. Die beiden bereits erwähnten Stoßrichtungen der Armutsbekämpfung durch Integration zielten somit erstens auf eine wachstumsinduzierte Arbeitsmarktausweitung zugunsten der unteren Schichten und zweitens auf die integrale Sozialpolitik, die einerseits auf einer Bündelung der universellen Sozialpolitik sowie andererseits auf fokussierten und selektiven Maßnahmen und Programmen aufbaute. Während somit für die Ausweitung der Arbeitsplätze keine besonderen arbeitsmarktpolitischen Instrumente eingesetzt, sondern mehr auf trickle ifow/i-Effekte gebaut wurde, zeigen die Spezifika der integralen Sozialpolitik ein deutlich höheres Niveau und eine breitere Auffacherung staatlicher Intervention. Dies spiegelt sich insbesondere in dem oben skizzierten neuen organisatorischen Design wider. Andererseits ist noch einmal zu betonen, daß im Sozialsektor v.a. auf der Einnahmenseite nur eine begrenzt redistributive Politik vorliegt. Statt dessen wurde insbesondere mittels einer effektiveren Fokussierung sowie einer neuen Zielgruppenorientierung versucht, die vorhandenen Ressourcen entweder auf die bedürftigen Bevölkerungssektoren (effektivierte Mittelzuweisung anhand der Statistikkartei-Systeme CAS und CASEN nach Einkommen) oder auf spezifische Problemgruppen (u.a. Frauen, arbeitslose Jugendliche, arme Kommunen und Regionen etc.) umzuschichten. Mittels der fokussierten Sozialpolitik wurde somit der Schwerpunkt deutlich auf Assistenzmaßnahmen gelegt, die mit einer zunehmenden Dezentralisierung auf die Kommunen, also hin zu den Problemlagen vor Ort kombiniert wurden, was auch Chancen für eine größere Partizipation der Betroffenen eröffnete. Die selektiven Sozialprogramme, die stärker auf Integration und Chancengleichheit zielten, trugen hingegen von vornherein einen deutlicheren partizipativen Charakter. Im Prinzip waren somit als Steuerungsmedien im ersten Fall Geld vor Kommunikation, im zweiten Fall Kommunikation und Geld vorgesehen. Die Regierung war mit Ingangsetzung der neuen Sozialpolitik auch um eine begleitende Evaluierung bemüht, zumal es sich bei vielen der Maßnahmen um neue bzw. um Pilotprogramme handelte. Die umfangreichsten Ergebnisse lieferten hier die statistischen Auswertungen der Sozialumfragen CASEN. Als zu260
nächst größten Erfolg konnte die Regierung für sich verbuchen, daß die Armutszahlen bis 1992 deutlich zurückgingen: Statt 5,2 Mio. (40% der Bevölkerung) waren nun noch 4,37 Mio. Menschen betroffen, während der Anteil der extremen Armut von 1,8 Mio. (13,8%) auf 1,2 Mio. (9%) sank. Bis 1994 hatte sich die Zahl der Armen weiter auf 28,5% verringert, die der extrem Armen auf 8,0%. 281 Nach Ansicht von Regierungsexperten hat sich hier ein deutlicher Gleichheitseffekt niedergeschlagen. Während sich in der Wachstumsphase von 1987 bis 1990 die Armut pro Prozent Wachstum nur durchschnittlich um 0,26% verringerte, so erreichte dieser Wert 1990-1992 0,94%, oder mit anderen Worten: Das Wachstum kam in deutlich höherem Maße den armen Bevölkerungsschichten zugute. 282 Auch wenn eine genaue Gewichtung nur schwierig vorzunehmen ist, so deutet dieses Resultat auf einen kombinierten Effekt von Wachstums- und Sozialpolitik und somit zunächst auf einen Erfolg der Strategie hin. Untermauert wird dies durch weitere, statistisch erfaßte Entwicklungen zwischen 1990 und 1992: Von der Reduzierung der (offiziellen) Arbeitslosigkeit profitierten demnach die beiden ärmsten Quintile überproportional (-8,7% bzw. -3,3% bei einem Durchschnitt von -2,9%). Gleichzeitig wuchsen deren (wenngleich niedrigen) Einkommen schneller als der Durchschnitt (26,1% bzw. 18,4% gegenüber 17,8%), was unter anderem auf die jährlich konzertierte Erhöhung der Mindestlöhne sowie auf die gestiegenen und besser fokussierten staatlichen Subventionsleistungen zurückzufuhren war. Insbesondere die ärmsten 20% der Bevölkerung profitierten von dieser Entwicklung, was die relativ größere Reduktion der extremen Armut erklärt. Garcia/Schkolnik gehen davon aus, daß die Einkommenssteigerung dieser Gruppe zu 20% auf die höheren Beschäftigungsraten zurückzuführen ist.283 Damit ist jedoch schon angedeutet, daß die faktisch aus Arbeit erzielten Einkommen der ärmeren Haushalte keine spektakulären Sprünge vollzogen. In der Tat ist es bis heute in Chile bei der gleichen Einkommensverteilung geblieben wie zuvor. So stieg der Anteil des ärmsten Quintiis der Haushalte zwischen 1990 und 1992 nur von 3,8 auf 4,1%. Gleichzeitig ist der Anteil des reichsten Quintiis nahezu gleichgeblieben und damit die Relation zwischen beiden (ca. 14:1); überdies war die Tendenz bis 1994 wieder gegenläufig. 284 Legt man die Gesamtstrategie der Regierung zugrunde, so war zweifelsohne mit statistisch wirksamen Umverteilungen nicht kurzfristig zu rechnen; insbesondere zahlreiche Sozialinvestitionen wirken sich erst mittel- bis langfristig aus. Um deren Faktor miteinzubeziehen, greifen offizielle Berechnungen auf die CASEN-Umfragen zurück, mit denen sich die Sozialausgaben (direkte Subventionen und Leistungen der Universalprogramme) in die Einkommenshöhe einberechnen lassen. Demzufolge schlugen die Sozialausgaben überproportional zugunsten der ärmeren Haushalte zu Buche, wodurch sich deren Einkommen 2.1
Vgl. Barrera 1996, 74.
2.2
Vgl. Garcla/Schkolnik 1995, I44f.
2,5
Vgl. ebd., 1995, 147.
2,4
Vgl. Barrera 1996, 74.
261
um mehr als 70% und damit auch die Einkommensverteilung verbesserte (11:1). Nach diesen Berechnungen verteilen sich die gesamten Sozialausgaben somit zu etwa 60% auf die ärmeren 40% der Bevölkerung. Der Beitrag nimmt dabei fast linear zum ärmsten Fünftel der Bevölkerung hin zu und läßt damit eine deutliche Progressivität der Sozialpolitik erkennen.285 In Regierungskreisen wurde daraus der Schluß gezogen, daß trotz aller Defizite die Kompatibilisierung von Wachstum und sozialem Ausgleich gelungen sei, wobei insbesondere darauf verwiesen wird, daß ein großer Anteil der Sozialausgaben durch die zusätzlichen Mittel aus der Steuerreform ermöglicht wurde, die zu 80% vom reichsten Quintil erbracht wurden.286 Diese Entwicklung deutet insgesamt - abgesehen von der Verteilung der aus eigener Arbeit erzielten Einkommen, die von den Sozialexperten der Concertaciön nur als längerfristig behebbar erachtet wird - auf einen zumindest tendenziellen Erfolg der sozialpolitischen Strategie der Regierung hin. Sie läßt jedoch die Frage offen, welches Ausmaß an tatsächlicher Integration in den Entwicklungsprozeß sich hinter den oft sehr raffiniert anmutenden Globalstatistiken verbirgt. Denn wenngleich zuzugestehen ist, daß sich die prozentual nachweisbaren 'Investitionen in die Personen' insbesondere in den Bereichen Erziehung, Gesundheit und Arbeitsplätze mittel- bis langfristig positiv auswirken können, so ist deren Beitrag für die soziale Integration mit mehreren Unsicherheitsfaktoren versehen. Zum ersten bedürfen diese Investitionen, wie die Sozialpolitiker selbst zugestehen, eines längerfristig hohen Niveaus und damit eines permanent hohen staatlichen Sozialhaushaltes. Diesen jedoch kann die Wachstumsstrategie nicht von vornherein verbürgen, d.h. in eventuellen Krisenfallen werden die erzielten Anfangserfolge wieder zunichte gemacht, da eine kontrazyklische Sozialpolitik ftir die Marginalisierten zwar vereinzelt als wünschbar angesehen, jedoch faktisch nicht projektiert wird. Zum zweiten geben die Statistiken keine Auskunft darüber, um welche Qualität von Arbeitsplätzen es sich tatsächlich handelt. Zwar gibt es sehr wohl Hinweise auf eine hohe Anzahl prekärer Arbeitsplätze gerade in den unteren Einkommensschichten, doch werden nicht einmal kumulierte Effekte daraus für die Arbeitsmarktsituation in diesen Schichten ins Kalkül gezogen. Dies weist bereits darauf hin, daß zum dritten fiir eine tatsächliche Integration in den Entwicklungsprozeß auch die Qualität der in Gang gesetzten Sozialentwicklung eine Rolle spielt. Auch und gerade, wenn in den Leitkategorien des crecimiento con equidad gedacht wird, sind hier einerseits Ausmaß und Qualität der Partizipation der Betroffenen und andererseits die soziale Eigendynamik entscheidend. Zugespitzt formuliert, handelt es sich hier um die Frage, ob tatsächliche Sozialintegration oder eher Sozialtechnokratie vorherrscht. Auskunft über die beiden letzten Faktoren geben zumindest annäherungsweise ein Blick auf die Arbeitsverhältnisse sowie eine Analyse der konkreten Wirkungsweise einiger Sozialprogramme. !,s
Vgl. MIDEPLAN 1994.
2K
Vgl. Garcla/Schkolnik 1995, 149.
262
Die Strategie der Integration der Marginalisierten in den Entwicklungsprozeß via Eingliederung in den Arbeitsmarkt stellt, da auch in Chile die tragfähigen Sozialleistungen um den Faktor Arbeit organisiert sind, eine kaum anfechtbare Option dar. Allerdings zeigte die Analyse der Gesamtstrategie des crecimiento con equidad, daß es sich hier um formale und stabile Arbeitsverhältnisse handeln muß, die zudem zunehmend um produktivitätssteigernde Kernsektoren gelagert sein müssen. Die Schaffung neuer Arbeitsplätze, im Schnitt ca. 140.000 jährlich,287 stellt somit nur die eine, quantitative Seite der Medaille dar. Die andere Seite zeigt, daß die Verringerung der Arbeitslosigkeit mit einem Anwachsen prekärer Beschäftigungsverhältnisse einhergeht, wie mehrere Indikatoren verdeutlichen: • Die tatsächliche Höhe der Arbeitseinkommen erlaubt nur wenig Spielraum für die eigene Chancenverbesserung. Schätzungen für 1995 gehen davon aus, daß etwa 600.000 Arbeitnehmer lediglich den Mindestlohn (ca. 150 US$) erhalten, während weitere mehr als 2 Mio. Beschäftigte nur bis zu 250 US$ verdienen.288 Insgesamt ist dies die Hälfte der chilenischen Erwerbsbevölkerung, wobei hinzukommt, daß die Haushalte der ärmeren Schichten mehr Mitglieder zählen als der Rest. • Formale Arbeitsverhältnisse per Arbeitsvertrag gewährleisten sowohl eine relative Stabilität der Arbeitssituation und/oder gewisse Sicherheiten und Kompensationen bei Auflösung des Vertrages. Die Daten der CASENStatistik besagen, daß Anfang 1993 nur 85% der Beschäftigten über einen Arbeitsvertrag verfügten. Für die ärmsten 20% lag der Anteil bei nur 76%. 289 • Mit einem formalen Arbeitsverhältnis ist zumeist auch der Zugang zum formalen Sozialsystem verknüpft. Hier belegt die CASEN-Statistik, daß nur 61% in eine Sozialversicherung einzahlen, und ebenso ist dieser Anteil in den unteren Schichten geringer (45%).290 • Entsprechend gilt, daß die Zahl der informellen Beschäftigungsverhältnisse relativ hoch ist, wenngleich sie sich in Chile weniger strukturell verfestigt haben als in anderen lateinamerikanischen Ländern.291 Die informell Beschäftigten inkl. der sogenannten Selbständigen werden auf ca. 25% aller Beschäftigten geschätzt.29 Sehr prekär sind insbesondere die Arbeitsverhältnisse in ländlichen Bereichen. Kalkuliert man die für eine tatsächliche Integration über den Arbeitsmarkt relevante Zeitdimension mit ein, so birgt der staatlicherseits nur schwach regulierte Wachstumsprozeß weitere Risiken in sich: Zwar finden Arbeitslose zu prekären Beschäftigungsverhältnissen Zugang und werden prekäre Arbeitsverhältnisse in 2,7 2,1
Vgl. Foxley 1995,20. Vgl. Rojas 1993b; für 1992 nennt MIDEPLAN 13,2% der Beschäftigten, deren Einkünfte unterhalb des Mindestlohns liegen (vgl. MIDEPLAN 1994,49).
2,9
Vgl. MIDEPLAN 1994,47.
2.0
Vgl. ebd.
2.1
Vgl. Dfaz 1995, 54f.
m
Vgl. MIDEPLAN 1994, 44ff.
263
stabilere transformiert, doch bleiben letztere zu einem großen Teil immer noch niedrig entlohnt (Mindestlohn bzw. nur wenig darüber). Die Entwicklungsstrategie, und hier insbesondere die zweite Exportphase sind jedoch davon abhängig, daß Produktivitätsschübe erfolgen und insofern qualifizierte Arbeitskräfte vonnöten sind. Das heißt, daß der Modus der billigen Arbeitskraft an Grenzen stoßen muß. Zum einen sind aber gerade die ärmeren Schichten nicht ausreichend für neue Beschäftigungen qualifiziert, und zum anderen geht Produktivitätssteigerung tendenziell mit einer Verminderung der erforderlichen Arbeit einher. Im ungünstigsten aller Fälle wird diese Phase gar nicht erreicht, was ebenfalls zu Lasten der Arbeitsplätze geht. Die Möglichkeit, den Verzicht auf Arbeitsmarktpolitik über den Umweg einer weiteren Stärkung der Tarifautonomie zu kompensieren, scheiterte bislang daran, daß dies eine äquivalente Verhandlungsstärke der Gewerkschaften voraussetzt.
3.4 Weifare regime und Sozialentwicklung Vergleicht man die sozialpolitischen Ergebnisse der Concertaciön mit der Ausgangslage 1990, so ist im Hinblick auf eine 'neue' chilenische Sozialstaatlichkeit zweierlei festzustellen: Zum ersten waren die Regierungen bestrebt, einen liberalen Sozialstaat aus- bzw. aufzubauen, indem einerseits die existierenden Sicherungssysteme und -Institutionen bekräftigt und andererseits neue Komponenten eines (dichteren) sozialen Netzes zumindest in Angriff genommen wurden; diese Tendenz würde weiter untermauert werden, falls es tatsächlich zu der geplanten Arbeitslosenversicherung kommt. Zum zweiten wurde eine historische Tendenz dadurch gebrochen, daß die Sozialausgaben erstmals wieder deutlich stiegen und damit auch die Sozialleistungsquote. Die chilenische Wohlfahrtsordnung wurde somit zwar kaum modifiziert, sondern in ihren Grundstrukturen gestärkt und nur partiell in ihrer Leistungsfähigkeit verbessert. Die Analyse der Sozialpolitik nach 1990 hat gezeigt, daß die Regierungen Aylwin und Frei ihr gemäß dem hohen strategischen Rang innerhalb der neuen Entwicklungsstrategie auch in der faktisch betriebenen Politik einen hohen Stellenwert einräumten. Die dargestellten Ergebnisse wiesen jedoch bereits daraufhin, daß in weiten Teilen der eingangs gestellten 'sozialen Frage' nur relative - oder in Worten der Concertaciön: graduelle - Fortschritte und Verbesserungen erzielt wurden. Einige Stellungnahmen aus Regierungskreisen untermauern dies: Bereits im Zuge der Präsidentschaftswahlen 1993 wies Aylwin selbst wiederholt darauf hin, daß jede noch so erfolgreiche Wirtschaftsordnung letztlich an ethische Ziele zurückgebunden sein müsse, um sich dauerhaft legitimieren zu können. Diesen Solidaritäts- und Gemeinwohlcharakter der Wirtschafts- und Sozialordnung aber habe Chile bis dahin, also während seiner Amtszeit, nicht erreicht. Während die Regierung in den Jahren bis 1994 in ihrer Bilanz zumeist davon sprach, daß der erreichte soziale Fortschritt spürbar, aber noch immer nicht ausreichend sei, hat sich dieses Klima im Verlauf des Jahres 1995 verän264
dert: Trotz überaus positiver makroökonomischer Daten, die auch eine weitere Steigerung der Sozialausgaben um ca. 10% beinhalteten, stellte Finanzminister Eduardo Aninat ernüchternd fest: "Der Wachstumsrhythmus des Landes ist nicht für alle gleich."293 Gerichtet an die Ärmsten, die spürten, daß das Wachstum sie nicht erreiche, fugte er jedoch hinzu, daß das Wirtschaftsmodell immer größere Niveaus an equidad mit sich bringe. Von den benachteiligten Gruppen forderte er, sie sollten ihr Vertrauen beibehalten, weil die Regierung weiterhin systematisch die Lebensbedingungen verbessern würde. Trotz des (gewohnten) Appells deutet das Eingeständnis darauf hin, daß die anhaltenden sozialen Spaltungen innerhalb der chilenischen Gesellschaft weitaus dauerhafter sind als ursprünglich angenommen. So hat sich die Einkommensverteilung in Chile seit 1990 für das ärmste Quintil noch verschlechtert. Neu war im Jahr 1995 auch, daß - wenngleich noch punktuell - erstmals Warnungen dahingehend ausgesprochen werden, die anhaltenden Ungleichheiten seien struktureller Natur und könnten zu sozialen Eruptionen fuhren. So äußerte der Soziologe Eugenio Tironi in einem Interview in „El Mercurio" - noch immer publizistisches Bollwerk des Neoliberalismus in Chile - die These, die teils von Gewalt geprägten Ausschreitungen am 22. Jahrestag des Pinochet-Putsches seien weniger politisch motiviert denn ein 'Ausbruch der Marginalisierten'. Während die chilenische 'Wachstumslokomotive' den größten Teil der Bevölkerung - wenngleich in unterschiedlichem Tempo - mit sich ziehe, bleibe eine Gruppe von ca. 12% der Bevölkerung - vor allem in den städtischen Randzonen, aber auch in ländlichen Armutsbrennpunkten - völlig davon unberührt.294 Umfragen während des Jahres 1995 deuten daraufhin, daß die soziale Problematik innerhalb der chilenischen Bevölkerung zunehmend an Bedeutung gewinnt und auch für die Bewertung der Regierungspolitik relevant ist. So kam Präsident Frei in seiner Neujahrsansprache 1996 nicht umhin, verstärkte Anstrengungen v.a. in den Bereichen Erziehung und Gesundheit anzukündigen.295 Dies sind zwar nur Tendenzen, doch werfen sie im Einklang mit den oben dargestellten Resultaten die Frage auf, inwieweit die Rechnung des crecimiento con equidad aufgeht und die strukturellen Ursachen der 'sozialen Frage' mittels der betriebenen Sozialpolitik angegangen werden. Anders gewandt ist die Strategie abschließend daraufhin zu prüfen, ob sie grundlegende Dilemmata der chilenischen Modernisierung überhaupt erfaßt, ob sie sie eventuell sogar verfestigt oder verstärkt und damit den Staat zum Hüter einer Wohlfahrtsordnung macht, die er in seinem eigenen Diskurs als kontraproduktiv erachtet. Die Gründe für diesen eher ambivalenten Erfolg des crecimiento con equidad bestehen sowohl in strukturellen wie in konzeptionellen Faktoren. Zunächst ist hier das Dilemma des Gradualismus zu nennen, mit dem die 'populistischen Zyklen' vermieden werden sollen. Die damit mögliche Expansion der Sozialausgaben baut auf einer sozialen Schieflage auf, die mittels solch gradueller Copesa - Economía - 4.1.1996 ™
Vgl. El Mercurio Internacional 21 .-27.9.1995. Vgl. El Mercurio Internacional 28.12.95-3.1.96 sowie 11.-17.1.1996.
265
Steigerung nur langfristig zu beheben sein wird und zudem von der Wirtschaftsentwicklung abhängt. Letzten Endes lebt diese Strategie davon, daß insbesondere die Forderungen fast eines Drittels der Bevölkerung, die nicht rasch zu befriedigen sind, sich entweder mäßigen oder anderweitig besänftigt bzw. diszipliniert werden können. Die bereits erwähnten Appelle an das 'Durchhaltevermögen' und an das Vertrauen in die sozialen Leistungen der Regierung sind insofern auch Teil der Strategie, nur daß zunehmend auf 'Kommunikation' als Steuerungsmittel296 zurückgegriffen wird. Zugespitzt ergibt sich daraus das Bild eines Wettlaufs mit der Zeit. Zwar wäre es eine Art Katastrophismus, eine Monokausalität zwischen sozialer und demokratischer Entwicklung zu postulieren, doch ist die Korrelation zwischen beiden gut genug belegt. Die teils nervösen Reaktionen auf die Unzufriedenheit der chilenischen Bevölkerung mit der Sozialentwicklung sind zwar auch positiv zu bewerten, da sie für eine gestiegene responsiveness der chilenischen Regierung sprechen. Allerdings ist fraglich, ob für diese Probleme ausreichende Mittel und die entsprechenden Managementkapazitäten zur Verfügung stehen. Die Äußerungen Freis in seinem 'Arbeitsplan 1996' (höhere finanzielle Ressourcen, Modernisierung des Staates) deuten darauf hin, daß dies bisher nicht der Fall war. Eng verknüpft mit dem Gradualismus-Dilemma ist das Dilemma des ZweiRationalitäten-Ansatzes, also die wechselseitige Verstärkung von Wachstumsund Sozialpolitik: Zwar deuten die bisherigen Ergebnisse in der Tat darauf hin, daß mit der praktizierten Sozialpolitik durchaus die Probleme der Sozial Integration korrigiert werden können. Dennoch bleibt ihr Erfolg, zumal ein deutliches Übergewicht der finanziellen Steuerungsinstrumente vorherrscht, an einen permanent hohen Zufluß finanzieller Ressourcen für staatliche Sozialausgaben gebunden. Diese aber werden in Zukunft bestenfalls stagnieren, wodurch die sozialpolitische Komponente der Sozialentwicklung geschwächt und die marktwirtschaftliche Wachstumskomponente gestärkt wird, d.h.: Es findet eine stärkere Hinwendung zu trickle