Traditionen der Säkularisierung: Jüdisches Denken von den Anfängen bis in die Moderne 9783666370380, 9783647370385, 9783525370384


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Traditionen der Säkularisierung: Jüdisches Denken von den Anfängen bis in die Moderne
 9783666370380, 9783647370385, 9783525370384

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David Biale

Traditionen der Säkularisierung Jüdisches Denken von den Anfängen bis in die Moderne

Aus dem amerikanischen Englisch von Liliane Meilinger

Vandenhoeck & Ruprecht

Lektorat: Eva Wiese, Dresden

Umschlagabbildung: © Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur e. V. an der Universität Leipzig/Fotografin: Carina Röll. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-37038-5

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit Unterstützung des Freistaates Sachsen und gefördert durch die Posen Foundation Die englische Originalausgabe: David Biale: Not in the Heavens. The Tradition of Jewish Secular Thought © 2011 by Princeton University Press © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG , Theaterstraße 13, 37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC , Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

Inhalt

Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung: Ursprünge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1. Gott: Pantheisten, Kabbalisten und Heiden . . . . . . . . . . . . . . . 31 2. Tora: Die säkulare jüdische Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3. Israel: Stamm, Nation oder Staat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 4. Israel: Geschichte, Sprache und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Schluss: Gott, Tora und Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Epilog: Vermächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

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Geleitwort

Jüdisch und säkular zugleich zu sein, erscheint auf den ersten Blick paradox. Schließlich indiziert das Adjektiv »jüdisch« die Zugehörigkeit zu einer Religion, dem Judentum, während »säkular« dem Wortgebrauch nach die Tendenz zu einer Abwendung von ihr anzeigt. Einem solchen – binären – Verständnis nach sind Religion und Säkularismus gegenläufig. Dem muss jedoch nicht so sein. Als die Wörter »säkular«/»Säkularisierung« infolge des West­fälischen Friedens aufkamen, war damit zuvorderst die geringere transzendentale­ Deckung der aus katholischem in protestantischen Besitz übergegangenen Kirchengüter gemeint. Säkular bedeutete in diesem Sinn nicht etwa, a- oder gar antireligiös zu sein, sondern beschrieb eine religiöse Bindung von geringerer Intensität. Damit wies der Katholizismus dem Protestantismus den Status der schwächeren Konfession, zumindest jedoch eine geringere religiöse Legitimität zu. Der wortgeschichtliche Ursprung des Begriffs »säkular« zeigt mithin an, dass »religiös« und »säkular« nicht unbedingt gegensätzlich sein müssen. Vielmehr handelt es sich um Abstufungen der lebensweltlichen Präsenz des Sakralen, um ein Mehr oder ein Weniger an Transzendenz im Bereich des innerweltlich Seienden. Säkularisierung beschreibt somit nicht einen religionslosen Zustand, sondern meint die Abschwächung des Religiösen. Insofern gibt es nicht die Säkularisierung an sich, sondern es existieren Säkularisierungen von religiös imprägnierten Lebenswelten. Die sind innerhalb der jeweiligen Kulturkreise und zwischen diesen verschieden. So hat jede Säkularisierung ihre spezifischen historischen Modalitäten und Rhythmen, womit sich auch jene Paradoxie des säkularen Juden erklären mag: Seine Säkularisierung erfolgt als eine innerhalb des Judentums, und dies womöglich sogar bis zu dessen Auflösung. Gleichwohl lassen sich selbst in den am meisten säkularisierten Zuständen immer wieder Residuen des Religiösen ausmachen. Diese Konstellation findet sich ironisiert in der Anekdote über eine kommunistische jüdische Familie, deren Sohn aus der Schule kommt, von der im Unterricht besprochenen Dreifaltigkeit erzählt und vom Vater mit dem Argument belehrt wird, dass dieser Gott nicht ihr Gott sei, an den sie aber freilich nicht glaubten. Der Vorstellung von einer Säkularisierung innerhalb eines religiösen Zusammenhangs folgt David Biale in seiner umfassenden und eindringlichen Darstellung der Säkularisierung im Judentum. Dabei hält er sich nicht 7

aus­schließ­lich in der Moderne auf, sondern er blickt ebenso in die, auch ferne, Vergangenheit zurück – und auch dort vermag er es, einen im Judentum sich wiederholenden Vorgang der Zurückdrängung des Religiösen wie auch des Gottesglaubens nachzuweisen. So kann er zeigen, dass der »nichtjüdische Jude« nicht allein ein Phänomen der Moderne ist. Vielmehr kommt ihm eine gleichsam ontologische Bedeutung zu. Dass die Juden als diasporisches Volk nicht in einem tellurischen Sinne über politische Macht verfügen konnten und wesentlich im Humus des Textes lebten, ließ die Verwandlung des Textes zum eigentlichen Maß der Säkularisierung, genauer: der Profanierung werden. Insofern ist David Biales Traktat über die Säkularisierung des Judentums wie über die Säkularisierungen im Judentum selbst notwendig und folgerichtig geistes- und ideengeschichtlich angelegt. Es handelt sich um einen gelehrten Durchgang durch ein Korpus, das von der Bibel bis in die Gegenwart führt – immer im Bestreben, die Paradoxien der Säkularisierung sichtbar zu machen. Mithin handelt es sich um eine in aufklärerischer Absicht verfasste jüdische Textgeschichte. Dass die in ihr zutage tretenden Wahrnehmungen von der amerikanischen Erfahrung der Gegenwart gespeist werden, in der Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, Religiosität und Säkularität neue und komplexe Mischungen eingehen, kommt der altehrwürdigen jüdisch-diasporischen Existenzerfahrung offenbar besonders entgegen. In Israel, dort, wo das Judentum die tellurische Verwandlung seiner Tradition durchläuft und sich dabei politisch-theologisch verhärtet, finden sich dagegen andere Horizonte aufgespannt. Dan Diner

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Jerusalem/Leipzig, Sommer 2015

Vorwort

Eine der liebsten Erinnerungen meines Vaters an seine Mutter – meine Großmutter – war, dass sie als erste jüdische Frau in dem polnischen Städtchen Włocławek ihr Haupthaar offen trug. Dies war eine kleine, aber bedeutsame Rebellion. Seit Urzeiten hatte der jüdische Code weiblicher Sittsamkeit verheirateten Frauen auferlegt, ihr Haar zu bedecken, sei es mit einem Tuch oder mit der unter den wohlhabenden Juden Osteuropas auf ­Jiddisch als sterntichel bezeichneten juwelengeschmückten Kopfbedeckung. Im 19. Jahrhundert kam das Tragen von Perücken auf. Es wurde zu einem Unterscheidungsmerkmal zwischen den Ultra-Orthodoxen, die die neumodischen Kopfbedeckungen als »gojisch« anprangerten, und den Orthodoxen, denen die Bedeckung des eigenen durch fremdes Haupthaar als hinreichende Erfüllung der Tradition galt. Indem sie sich ihres scheitel entledigte, sagte sich meine Großmutter von einem alten Brauch los und kündigte mit einer femininen Geste den Beginn des Säkularismus an. Es ist nicht anzunehmen, dass ihr demonstrativer Akt einer wohlbedachten ideologischen Position oder einer bewussten Absicht entsprang, die Religion ihrer Ahnen zu verwerfen. Sie und mein Großvater waren in vielerlei Hinsicht durch und durch orthodoxe Juden und gehörten nominell einer pietistischen chassidischen Sekte an. Indes begannen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Winde eines radikalen Wandels über die etwa 200 Kilometer nordwestlich von Warschau gelegene, zehntausend Einwohner zählende jüdische Gemeinde von Włocławek hinwegzufegen. Trotz seiner chassidischen Neigungen schloss sich mein Großvater der religiösen Misrachi-Partei an, welche die zionistische Bewegung unterstützte. Er war auch an der Gründung eines hebräischen Gymnasiums in dem Städtchen wesentlich beteiligt. Die Wiedererweckung des Hebräischen, das so oft mit dem säkularen Zionismus assoziiert wird, schien ihm nicht im Widerspruch zu den Geboten der jüdischen Religion zu stehen. Diese verhaltenen Gesten hin zur Moderne hinterließen bei meinem Vater einen tiefen Eindruck. In der Zwischenkriegszeit, als sich die polnischen Juden einer Fülle einander widerstreitender Ideologien zuwandten, traten er und seine Schwester der zionistischen Jugendbewegung Haschomer ­Hazair bei, die für den Sozialismus und die romantische Rückkehr zur Natur eintrat. Seinen jüngeren Bruder trieb es in die entgegengesetzte Richtung innerhalb 9

des Zionismus, zur radikal-nationalen, revisionistischen Betar-­Bewegung, deren Mitglieder Militäruniformen trugen und die eine soziale Revolution ablehnten. Bei allen Unterschieden waren diese beiden Bewegungen dezidiert säkular. Die Religion betrachteten sie als mitschuldig an den Leiden der Juden. Entsprechend heftig verliefen in den 1920er Jahren die Diskussionen beim Schabbatmahl der Familie Bialoglowsky. Da jedoch die Eltern bereits selbst die ersten Schritte auf dem Weg zur Moderne getan hatten, den ihre Kinder nun weitergingen, kam es nie zum totalen Bruch. Im Gegenteil, es herrschte ein Geist der Toleranz, der den für andere oft so steinigen Weg zwischen Religion und Säkularismus ein wenig erleichterte. Das frühe 20. Jahrhundert war, wie auch unsere unmittelbare Gegenwart, eine Zeit der Suche nach Identität. Für meine Großeltern und mehr noch für meinen Vater und seine Geschwister hatte die althergebrachte jüdische Lebensweise in der modernen Welt ihre Geltung verloren. Auch wenn viele sich nach wie vor an die Tradition hielten – eine wachsende Zahl jüdischer Menschen tat es nicht mehr. Die Lockungen einer größeren Welt jenseits des Schtetls und die Benachteiligungen, die mit dem Judesein einhergingen, verlangten nach neuartigen Lösungen. Viele wandten sich nicht nur vom Judentum ihrer Eltern ab, sondern gaben ihre jüdische Identität völlig auf. Anderen erschienen Universalismus und Assimilation als inadäquat. Als 1913 ein junger assimilierter deutscher Jude namens Franz Rosenzweig, der zum Christentum konvertieren wollte, dem Jom-Kippur-Gottesdienst beiwohnte, erfuhr er eine Art von Erleuchtung und beschloss: »Ich bleibe also Jude«. Für meinen Vater und seine Kameraden hingegen wurde die Nichteinhaltung des Jom Kippur zu der Art und Weise, mit der sie ihr neues Selbstverständnis an den Tag legten. Die jungen Mitglieder des Haschomer ­Hazair demonstrierten ihren Widerspruchsgeist und ihre Verachtung für die Generation ihrer Eltern damit, dass sie diesen Tag mit einem Ball und nichtkoscherem Essen begingen. Jedenfalls stand, ob es nun um Säkularisierung oder Rückkehr zur Religion ging, das eigene, fluide gewordene Selbstverständnis zur Disposition. Diese freilich anekdotische und sehr persönliche Darstellung des Weges einer Familie in die Moderne mag als Folie für den Gegenstand dieses B ­ uches dienen. Für viele war die Aufgabe der Religion zugunsten eines säkularen Lebensstils nicht Ausfluss einer Ideologie, sondern vielmehr eine Reaktion auf die Verwerfungen der Moderne: säkulare Erziehung, Urbanisierung, Migra­ tion und das Auseinanderbrechen der traditionellen Gesellschaft. So lösten sich meine Großeltern mütterlicherseits mit ihrer Einwanderung nach Amerika im Jahr 1912 ohne viel Kopfzerbrechen vom traditionellen Judentum. Es war weniger eine Revolution des Geistes als vielmehr die Flucht vor 10

traditionellen Gemeinschaften, der rabbinischen Autorität und der vom jüdischen Gesetz vorgeschriebenen täglichen Routine. Für andere jedoch, für meinen Vater und seine Geschwister, war die säku­ lare Revolte zutiefst ideologisch geprägt und von neuen kulturellen Idealen und politischen Programmen inspiriert. Sie wollten dem entfliehen, was ihnen als Unterdrückung durch eine obskurantistische mittelalterliche Religion erschien, sie wollten einen neuen Juden und eine neue Gesellschaft begründen. Eine Welt ohne Religion verhieß ihnen die Befreiung von der Erschwernis, Jude zu sein. Der Säkularismus wurde zu einem Weg, sich ihrem Status als Minderheit zu widersetzen, den sie mit anderen Minoritäten in multiethnischen Staaten und Imperien gemein hatten. Ihre ideologische Gesinnung spannte den Bogen vom Kommunismus zum Zionismus, vom Jiddischismus zur Assimilation. Eines jedoch charakterisierte sie alle: die generationelle Revolte gegen eine Welt, in der jüdische Religion, wirtschaftliche Not, politische Machtlosigkeit und kulturelle Rückständigkeit zu einem fragwürdigen Ganzen zu verschmelzen schienen. Die jiddische Memoirenschreiberin und Zionistin Puah Rakovsky (1865– 1955) hat die widersprüchlichen Wege der osteuropäischen Juden um die Wende zum 20. Jahrhundert, die den Lebenswegen von Tewjes Töchtern in Scholem Alejchems berühmter Erzählung ähnelten, beschrieben.2 Während sie selbst eine sozialistische Zionistin war, entwickelte sich ihr Sohn, Y ­ ehuda Ber, zu einem kommunistischen Revolutionär und ging in die Sowjetunion. Ihre jüngste Tochter, Sarah (aus dritter Ehe), gelangte nach Palästina, während ihre jüngere Tochter, Sheyna, sich dem Bund (der jüdischen Arbeiterbewegung in Polen) anschloss. Aus Rakovskys Schilderungen wird deutlich, dass diese verschiedenen Lebensentwürfe innerhalb einer Familie ungeachtet aller ideologischen Unterschiede übliche Reaktionen auf die religiöse, ökonomische und politische Krise dieser Übergangsperiode in der jüdischen Geschichte waren. Die Arbeit, die hier vorgelegt wird, geht den Vorstellungen derer nach, die ideologisch den säkularen Weg einschlugen. Wie die Geschichte meiner polnischen Großeltern zeigt und wie Shmuel Feiner jüngst für das 18. Jahrhundert belegt hat, ging die Säkularisierung der jüdischen Gesellschaft oft dem intellektuellen Ausdruck des Säkularismus voran, statt ihm zu folgen.3 Es würde jedoch den hier vorgegebenen Rahmen sprengen, wollte man die soziale Transformation, die eigentlich die wahre Geschichte der jüdischen Moderne ausmacht, in Gänze darstellen. Ebenso wenig ist dies eine Studie über die vielen Ausprägungen säkularer jüdischer Kultur, von Belletristik und Lyrik angefangen bis hin zu bildender Kunst, Theater, Film und Museumskultur, einschließlich Alltagspraktiken und materieller Kultur. Auch dies 11

würde ein weitaus umfangreicheres Werk notwendig machen, als zu verfassen es meine bescheidenere Ambition war. Das Hauptaugenmerk soll vielmehr genauer jenen Vorstellungen gelten, die vor allem in Essays, Abhandlungen und anderen programmatischen und philosophischen Werken zum Ausdruck kommen, gelegentlich ergänzt durch Hinweise auf literarische Werke. Schließlich vermag diese Studie, die mit dem rebellischen Akt meiner Großmutter beginnt, bedauerlicherweise die weibliche Erfahrung nicht voll wiederzugeben (wie auch die Erfahrung ungebildeter Männer unberücksichtigt bleiben muss), da es (mit einigen wichtigen, in der Folge zu diskutierenden Ausnahmen) vor allem gebildete Männer waren, welche die intellektuelle Tradition des jüdischen Säkularismus prägten. Dieses Buch ist auch kein Werk über säkulare Denker, die zufällig Juden oder jüdischer Herkunft waren  – und die Isaac Deutscher bekanntlich als »nichtjüdische Juden« bezeichnet hat –, sofern sie sich in ihrem Œuvre nicht wesentlich mit Fragen der jüdischen Vergangenheit oder Gegenwart befasst haben. Karl Marx ist ein anschaulicher Grenzfall. Der als Kind getaufte Marx scheute sich nicht, krude antisemitische Schmähungen gegen seine jüdischen Widersacher einzusetzen. Doch hielt er auch enge Kontakte mit Juden und fuhr sogar in von Juden häufig besuchte Kurorte, wo er sich zum Beispiel mit dem Historiker Heinrich Graetz anfreundete.4 Dennoch war seine einzige eingehende Auseinandersetzung mit der Judenfrage seine notorische Abhandlung gleichen Namens.5 Zur Judenfrage ist ein komplexes Werk, das gleichermaßen als Verteidigung der jüdischen Emanzipation wie auch als Bedienung antisemitischer Stereotype von den Juden als Repräsentanten des »Geldprinzips« gelesen werden kann.6 Für die Zielsetzung dieses Buches sehr bedeutsam war Marx’ Unterscheidung zwischen dem »Sabbatsjuden« und dem »Alltagsjuden«. Marx’ Ziel war es, die Debatte von der jüdischen Religion zum säkularen Leben der Juden zu verlagern, und in diesem Sinne spielt er eine Rolle in der Geschichte des jüdischen Säkularismus. Letztendlich war er aber an den Juden als realem Volk nicht wirklich interessiert; sie dienten seiner Argumentation nur als Platzhalter. Es ist wahr, dass Generationen säkularer Juden, auch Isaac Deutscher, Marx in ihr Pantheon aufnehmen wollten, allerdings harrt eine systematische Analyse der Rezeption Marx’ als Jude noch eines Autors. Anders als Baruch Spinoza, der seine jüdische Zugehörigkeit offen leugnete, zu diesem Zweck aber eine ganze bibelfeindliche Abhandlung verfasste, nimmt Marx als Denker – im Gegensatz zu seinem späteren Image – innerhalb der intellektuellen Tradition, die in diesem Buch rekonstruiert werden soll, nur einen peripheren Platz ein. Es ließe sich schlüssig argumentieren, säkulare Juden wie Marx, Sigmund Freud und der französische Religionssoziologe Emile Durkheim hätten ihre 12

originellen Theorien gerade deswegen formulieren können, weil sie sich bewusst von gesellschaftlichen Konventionen distanzierten.7 Wenn eine gewisse Entfremdung der Kreativität förderlich ist, dann muss die conditio der modernen Juden, die Teil der europäischen Kultur waren und doch auch abseits von ihr standen, eine Rolle für den spektakulären Beitrag jüdischer Denker zur Moderne gespielt haben. Jedoch sollen hier nicht verborgene­ jüdische Denkmuster bei denen gesucht werden, die ansonsten wenig Systematisches oder Explizites über ihr jüdisches Selbstverständnis oder die jüdische Kultur zu sagen hatten. Auch soll nicht darüber spekuliert werden, wie eine »Talmudmentalität« Denker, die nie ein Talmudtraktat gelesen haben, un­bewusst geprägt oder irgendeine abstrakte »jüdische Essenz« einen Autor beeinflusst haben mag, der derartige Quellen für sich nicht akzeptierte. Unhistorische Theorien dieser Art münden allzu oft in eine Art rassistischen Determinismus. Die Tradition des säkularen jüdischen Denkens, die uns in der Folge beschäftigen wird, unterscheidet sich daher deutlich von Deutschers »nicht­ jüdischen Juden«, da sie auf jenen gründet, deren Schriften sich explizit mit den metaphysischen, textuellen, politischen und kulturellen Dimensionen der jüdischen Erfahrung auseinandersetzten, und sei es nur, um sie zu widerlegen. Viele dieser Autoren mögen sich dessen nicht bewusst gewesen sein, dass sie einen Beitrag zu einem solchen Literaturkorpus leisteten, wenngleich es manchen sicher klar war. In ihrer Gesamtheit betrachtet schufen sie eine moderne Tradition, welche die religiöse, als »Judentum« bezeichnete Tradition nicht nur infrage stellte, sondern sogar ersetzen wollte. Dieses Buch verdankt seine Entstehung dem Wirken Felix Posens, eines außergewöhnlichen Philanthropen, der profundes intellektuelles Interesse an den von ihm geförderten Themen zu zeigen pflegt. Seine Bestrebungen, den »secular turn« in der modernen jüdischen Kultur bekannter zu machen und die sozialen, politischen und intellektuellen Quellen der jüdischen Säkularisierung ans Licht zu heben, haben einer ganzen Generation von Judaisten enorme Impulse gegeben. Ein Stipendium der Posen Foundation ermöglichte es mir, mich unbelastet von laufenden akademischen Verpflichtungen ein Jahr lang ganz der Forschungs- und Schreibarbeit für diese Studie zu widmen. Mit ihrer höchst großzügigen Unterstützung hat mich die Stiftung zu keinem Zeitpunkt zu etwas gedrängt oder zu beeinflussen versucht, vielmehr stand es mir frei, meine Gedanken zu entwickeln, wohin mein Geist mich trieb. Großen Dank schulde ich auch den Teilnehmern der Jahrestagungen der Posen Foundation, im Besonderen jenen des Posen Summer Seminar 2009 13

in Berkeley. Ganz besonders möchte ich den Mitorganisatoren dieses Seminars, Naomi Seidman und Susan Shapiro, danken. Insbesondere Naomi war mir eine zuverlässige und stets offene Gesprächspartnerin. Ich hatte auch das Glück, zwei Ad-hoc-Seminare ehemaliger Studenten und Kollegen abhalten zu können, in denen erste Fassungen des Buches kritisch diskutiert wurden. Für ihre Teilnahme danke ich Steven Aschheim, Amos Bitzan, M ­ enahem Brinker, Benjamin Lazier, Arthur Samuelson, Naomi Seidman, Abe Socher und Azzan Yadin. Darüber hinaus erhielt ich sachkundige Kommentare von Jerome Copulsky und Yuval Joboni. Peter Gordon stellte das Manuskript in seinem Seminar über säkulares Denken an der Harvard University zur Diskussion, was sich mit Blick auf Peters Feedback und auf das der Studierenden als sehr hilfreich erwies. Als meine Forschungsassistenten bei dieser Arbeit sind die beiden Studenten Shaun Halper und Elena ­Aaronson zu nennen. Die Idee, diese Studie auch in deutscher Sprache einem größeren Publikum zugänglich zu machen, wurde während eines längeren Forschungsaufenthalts am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig geboren und von Dan Diner, der dem Institut bis Herbst 2014 als Direktor vorstand, mit Nachdruck verfolgt. Hierfür gilt ihm mein herzlicher Dank. Dass dieses Vorhaben in der nun vorliegenden Form in die Tat um­ gesetzt werden konnte, ist das Verdienst all derjenigen, die mit großem Engagement und Ausdauer an der Realisierung der deutschen Fassung gearbeitet haben. Hierfür danke ich ganz besonders Liliane Meilinger, der Übersetzerin, ferner Eva Wiese, der Lektorin, sowie Petra Klara Gamke-Breitschopf, der wissenschaftlichen Redakteurin des Dubnow-Instituts, sowie Arndt Engelhardt, Carina Röll und Theresa Eisele. Last, but not least bedanke ich mich herzlich bei der Posen Foundation, die die Übersetzung gefördert hat. David Biale

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Davis, im Sommer 2015

Einleitung: Ursprünge

In seinem Essay Der nichtjüdische Jude stellte der polnische Sozialrevolutionär und einstmalige Jeschiwa-Schüler Isaac Deutscher die These auf, jene, die der Religion ihrer Väter und ihres Volkes zugunsten eines säkularen Universalismus eine Absage erteilten, hätten historische Vorläufer gehabt. In einer paradoxalen Formulierung, die einiges von seinem Selbstverständnis erkennen lässt, schrieb Deutscher: »Der jüdische Abtrünnige, der über das ­Judentum hinausgelangt, steht in einer jüdischen Tradition.«1 Dieses Judentum besteht nicht aus der Religion allein, sondern aus den über annähernd drei Jahrtausende entwickelten Traditionen. Der Häretiker indes findet sich, wenn er über das Judentum hinausgelangt, in einer anderen jüdischen Tradition wieder, die, wenngleich antitraditionell, nicht weniger jüdisch ist. Der säkulare Universalismus wird für ihn, was paradox ist, zu einer Art jüdischer Identität. Viele dieser Ideen entstammen der europäischen Aufklärung, hatten jedoch oft auch einen jüdischen Ursprung beziehungsweise wurde ihnen von säkularen Juden ein solcher zugeschrieben. Deutschers Essay etwa beginnt autobiografisch. Er erinnert sich, wie er im jugendlichen Alter in der Jeschiwa die Geschichte des Häretikers Elischa ben Abuja (bekannt als Acher – »der Andere«) las. Elischas Lieblingsschüler, Rabbi Meir, wurde zu einer herausragenden Rechtsautorität seiner Generation, ohne sich je von seinem vom Wege abgekommenen Lehrer loszusagen. Mit seiner Erörterung des Verhältnisses zwischen dem gesetzestreuen Rabbi Meir und dem häretischen Elischa vermittelte Deutscher, dass sogar der Häretiker mit dem, was er verwirft, irgendwie verbunden bleibt, wohl weil diese Häresie ihren Ursprung in der Tradition hat. Für Deutscher war Elischa der Prototyp seiner persönlichen modernen Geistesheroen: Spinoza, Heine, Marx, Rosa Luxemburg, Leo Trotzki und Sigmund Freud. Obgleich sie alle Häretiker waren, kann ihre Häresie als Ablehnung verstanden werden, die aus der jüdischen Tradition selbst erwuchs. Wie bei Deutscher wird hier die These aufgestellt, dass der jüdische Säkularismus eine in der von ihm abgelehnten Tradition begründete Revolte war. Das Verhältnis zwischen dem Prämodernen und dem Modernen, wobei Ersteres mit der Religion und Letzeres mit dem Säkularen assoziiert wird, ist nach wie vor für den, der sich wissenschaftlich mit Religion befasst, mit den meisten Problemen behaftet. Gemäß einer gängigen allumfassenden 15

Erklärung, einem zuweilen als Säkularisierungstheorie bezeichneten master narrative der Aufklärung, stellte die Moderne einen völligen Bruch mit der Vergangenheit dar, einen Sieg der Innovation über die Tradition, der Wissenschaft über den Aberglauben und des Rationalismus über den Glauben. Es erfolgte eine Trennung der Religion vom Staat, von Mark Lilla als »die Große Trennung« bezeichnet, wobei der weltliche Herrscher die Rolle Gottes übernahm.2 Auch wenn die Religion in der Moderne fortbestehen mag, ist sie nicht mehr hegemonisch, sondern eine Option unter vielen.3 Uns allen steht es frei, uns zu entscheiden, und wenn dies die dem Säkularismus inhärente Bedeutung ist, dann sind sogar jene, die sich für eine religiöse Lebensführung entscheiden, in gewissem Sinne säkular.4 In den letzten Jahren ist dieser dichotome Bruch, namentlich angesichts des Fortbestehens der Religion in der modernen Welt, verschiedentlich einer neuen Analyse unterzogen worden.5 Das derzeitige Wiederaufleben der Religion ist zweifelsohne eine komplexe Reaktion auf den Säkularismus, ebenso wie der Säkularismus eine Reaktion auf die Religion war und ist. Diese beiden unversöhnlichen Antagonisten definieren sich weitgehend jeweils durch und über den anderen. Über dieses tief greifende Verbundensein von Religion und Säkularismus in der Moderne hinaus ist es denkbar, dass ihre aktuelle gegenseitige Verstrickung etwas damit zu tun hat, wie das Säkulare aus dem Religiösen erwachsen ist, eher als sein dialektisches Produkt denn seine entgegengesetzt wirkende Negation. Ein Beispiel für diesen Prozess bietet die Geschichte des Wortes »säkular« selbst.6 Es leitet sich vom Lateinischen saeculum ab, das »Jahrhundert« oder »Zeitalter« bedeutet. Der christlichen Theologie nach befand sich die Welt zwischen dem Kommen Christi und seiner Wiederkunft (der Parusie)  in einem »Mittelalter«. Augustinus’ De civitate (Vom Gottesstaat) entsprechend, sah sich die Kirche selbst als jenseits dieses Zeitalters existierend, auf Erden wandelnd, doch nicht als Teil von ihr. Was diesem Zeitalter angehörte, war irdisch. Teil des saeculum zu sein bedeutete also, zur unerlösten Welt zu gehören. Der Begriff verschmolz Zeit und Raum: Eine »zeitliche« Macht gehörte zu dieser Welt (im hebräischen Wort olam kommt die Doppelbedeutung »Welt« und »Ewigkeit« ebenso zur Geltung wie im Englischen temporal, das »zeitlich« und »weltlich« bedeutet). Doch »säkular« bezeichnete auch jenen Klerus, der »von dieser Welt« war, im Unterschied zu jenem, der ein »religiöses« (monastisches) Gelübde ablegte. Seculatio bezeichnete das Verlassen des Klosters. In diesem Sinne war »säkular« im mittelalterlichen Sprachgebrauch von seinem religiösen Kontext nicht zu trennen. Im 17.  Jahrhundert löste sich der Begriff allmählich aus dem religiösen Kontext und trat in einen scharfen Gegensatz zu ihm. Bei Henry More, der 16

der platonischen Cambridger Schule angehörte, hieß es: »Sonne und Mond haben entweder eine spirituelle oder eine säkulare Bedeutung.«7 Als Ergebnis des modernen wissenschaftlichen Denkens löste sich die Welt vom Göttlichen, das Natürliche vom Übernatürlichen. In der Vorstellung der politischen Denker des 17. und 18. Jahrhunderts bezog sich das Wort »säkular« auf einen religionsfreien Staat (wenn auch der Begriff »Säkularismus« eine Erfindung des 19. Jahrhunderts ist). Schließlich nahm mit der Reformation, den Religionskriegen und der Französischen Revolution »Säkularisierung« die Bedeutung von Aneignung kirchlichen Eigentums durch die weltliche Macht an. So bezeichnete letztendlich das dem mittelalterlichen religiösen Milieu entstammende Wort »säkular« eine Welt, die sowohl metaphysisch als auch politisch im Gegensatz zur Religion stand. Dementsprechend hat eine Reihe von Wissenschaftlern von einem dialektischen Pfad gesprochen, dem der Säkularismus aus der Religion he­raus gefolgt sei. Amos Funkenstein beschrieb dieses Verhältnis mit dem Begriff »säkulare Theologie«.8 Seiner These zufolge übernahmen die Verfechter des Rationalismus und der wissenschaftlichen Revolution im 17.  Jahrhundert die mittelalterlich-scholastischen göttlichen Attribute  – Gottes Allwissenheit, Allmacht und Vorsehung  – und verliehen ihnen irdische Bedeutung. Die Desakralisierung der Welt sei demnach mittels eines theologischen Instrumentariums erfolgt. Ähnlich vertrat Karl Löwith die Ansicht, die säkulare Fortschrittsidee sei zu einem großen Teil die Säkularisierung christlicher Apokalyptik.9 Carl Schmitt stritt für eine moderne »politische Theologie«, welche den Glauben an einen transzendenten Gott in der staatlichen Macht säkularisiert.10 Während diese Denker die Ursprünge der Moderne vornehmlich im mittelalterlichen Katholizismus ausmachten, sah Peter L. Berger, in der Folge Max Webers, die Wurzeln des Säkularen eher im Protestantismus, der die sakrale Sphäre des Mittelalters beschnitten und einen Himmel ohne Engel geschaffen habe.11 Berger wies auch darauf hin, dass die protestantische Wende ihrerseits ihre Wurzeln im Monotheismus des Alten Testamentes habe, da die Israeliten die Götter bereits aus der Welt verbannt hätten: In diesem Sinne sei der Monotheismus als erster Schritt zur Säkularisierung zu betrachten. Das letztgenannte Argument – obgleich ohne direkten Hinweis auf Berger  – hat in Marcel Gauchet mit seinem bahnbrechenden Werk Le désenchantement du monde einen kompromisslosen Vertreter gefunden.12 In einer meisterhaften Darstellung der Menschheitsgeschichte legte Gauchet dar, das Säkulare habe mit der von Karl Jaspers so genannten Achsenzeit begonnen, in der das Judentum, der Zoroastrismus und der Buddhismus die Götzen verbannt hätten. So sei die Entstehung der »großen« oder »universellen« 17

Religionen das erste Stadium in der letztendlichen Auflösung der Religion gewesen: je größer und transzendenter der Gott, desto freier die Menschen. Monotheismus breche die Einheit der Welt in Gegensätze auf: Gott versus die Welt, der eine versus die vielen, das Vernünftige versus das Verständliche. Insofern sei die moderne Dichotomie von »säkular« versus »Religion« selbst ein Produkt der Religion. Für Gauchet war es nicht der Monotheismus per se, der die Religion ins Wanken brachte, da Judentum und Islam Gottes fortwährende Präsenz in der Welt annahmen. Allein das Christentum mit seiner Lehre von der Menschwerdung Gottes habe Gottes radikales Anderssein postuliert, das die Vermittlung durch Gottes Sohn erforderte. Allein das Christentum habe eine Religion der Innerlichkeit geschaffen und die Welt ihren säkularen Herrschern überlassen. Die monotheistischen Religionen – insbesondere das Christentum – hätten mithin ihre eigenen säkularen Zersetzungen bewirkt. All diese pauschalen Argumentationslinien leiden unter einem wesentlichen Makel: Sie gehen davon aus, dass die Säkularisierung ein im Christentum verwurzelter, homogener Prozess war. Doch sogar innerhalb Europas brachten unterschiedliche lokale Bedingungen unterschiedliche Arten der Säkularisierung hervor. Im puritanischen England war sie anders ausgeprägt als im lutherischen Deutschland. Das katholische Polen säkularisierte sich erst sehr spät, während im katholischen Frankreich eine Revolution die Köpfe des Klerus rollen ließ. Überdies wird mit diesem Fokus auf das Christentum, und insbesondere auf seine westeuropäischen Ausprägungen, ausgeblendet, dass der Säkularismus zahlreiche und vielfältige Manifestationen auch außerhalb Europas hatte. In voneinander so weit entfernten Ländern wie China, Indien und der Türkei spiegeln moderne Säkularisierungs­ bewegungen in der einen oder anderen Weise den jeweiligen religiösen Kontext – Konfuzianismus, Hinduismus und Islam – wider, aus dem sie hervorgegangen sind. Sich mit Säkularismen – im Plural – zu befassen bedeutet, die spezifischen Traditionen zu berücksichtigen, die sie ablehnen, die aber unweigerlich ihren Charakter prägen.13 In diesem Buch wird die These vertreten, dass dem jüdischen Säkularismus eine Tradition mit spezifischen, unverwechselbaren Charakteristika zu eigen ist, die zum Teil auf seinen prämodernen Quellen gegründet sind. Während die christlichen Ursprünge des Begriffs »säkular« mit der dichotomen Betrachtungsweise der christlichen Theologie verbunden sind, die von einem »Gottesstaat« und einem »irdischen Staat« spricht, hat die jüdische Religion niemals eine solch scharfe Unterscheidung getroffen: Im Judentum ist die profane Welt nie hoffnungslos verunreinigt. Während die traditionellen jüdischen Quellen mehrfach feststellen, dass diese Welt nicht dieselbe 18

ist wie die künftige oder himmlische, schließen die biblischen, rabbinischen und mittelalterlichen philosophischen Traditionen zumeist eine deutliche Weltlichkeit ein. Sogar das ausgeprägteste theosophische Genre der jüdischen Literatur, die Kabbala, sagt, dass Kräfte in dieser Welt höhere Kräfte widerspiegeln und umgekehrt; die beiden Welten seien untrennbar miteinander verbunden. Die Ursprünge des hebräischen Wortes für »säkular« weisen auf diese kulturelle Besonderheit hin. Eine der biblischen Wurzeln für »verunreinigt« oder »entweiht« ist das Wort chol, das im Modernhebräischen die Bedeutung »säkular« erhalten hat.14 In der Bibel kann chol aber auch das zwischen dem Heiligen und dem Unreinen liegende Profane bedeuten. Als etwa David von dem Priester Ahimelech Brot erbittet, antwortet dieser: »Ich habe kein gewöhnliches Brot (lechem chol) bei der Hand, sondern nur heiliges Brot (lechem kodesch)« (1 Sam 21,5). In der späteren rabbinischen Einteilung der Woche werden die Tage, die nicht Schabbat oder Feiertag sind, als chol bezeichnet. Das Profane ist lediglich das Alltägliche, es ist weder heilig noch unrein. Die Bibel unterscheidet auch strikt zwischen Priestern und Nicht-Priestern. Wer kein Priester ist, wird als sar, Fremder (das heißt jemand, der der Sphäre des Tempels fremd ist), bezeichnet. In seiner aramäischen Bibelübersetzung gab Onkelos diesen Begriff als chiloni wieder. Dieses Wort wurde im 20. Jahrhundert von dem hebräischen Literaturwissenschaftler Joseph Klausner als Bezeichnung für säkulare Juden übernommen und ging rasch in die moderne hebräische Umgangssprache ein.15 Im Midrasch zum Buch Levitikus sagt ein Hohepriester einem chiloni, er könne nur dann mit den Priestern gehen, wenn er sich bereit erkläre, keine Friedhöfe zu betreten, was nämlich den Priestern untersagt war.16 Dieser »säkulare« Jude nimmt daher einen Status zwischen dem Priester und einem aus ritueller Sicht Unreinen ein. Das Säkulare ist hier Teil eines Kontinuums, welches das Heilige und nicht dessen Negierung voraussetzt. Ein anderes Wort, welches die Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart demonstriert, ist apikoros, einer der rabbinischen Schlüsselbegriffe für Häretiker. Das Wort apikoros ist ganz offensichtlich von »Epíkorous« abgeleitet (wohl ohne die spätere Konnotation »Hedonist«). Vielmehr glaubten die philosophischen Nachfolger Epikurs an die Existenz der Götter, leugneten aber, dass diese in unsere Welt eingriffen oder überhaupt in irgendeine Interaktion mit ihr traten. Die Welt baue sich aus Atomen auf, die willkürlich miteinander kollidierten. Hätte der rabbinische apikoros eine solche philosophische Weltsicht gehabt, so hätte er nicht nur die Offenbarung geleugnet, sondern eine Art urtümlichen Materialismus vertreten. In einem frühen rabbinischen Text heißt es, man solle (die Tora) lernen, um zu 19

wissen, was dem apikoros zu erwidern sei. Daraus lässt sich schließen, dass die reale Auseinandersetzung mit solchen Häretikern für die spätantiken Rabbinen eine Herausforderung darstellte.17 In der talmudischen Diskussion der Mischna verstehen die Rabbinen im Allgemeinen unter apikoros jemanden, der sie verspottet: »Was nützen uns die Schriftgelehrten, sie lernen für sich selbst« und »was nützen uns die Schriftgelehrten; noch nie haben sie uns [zum Essen] eine Krähe erlaubt oder eine Taube verboten« (B. Sanhedrin 99b–100a). Gemeint ist hier, dass die Tora bereits das gesamte Wissen, das für ihre Auslegung erforderlich ist, enthält. Der apikoros ist daher jemand, der die Rabbinen als überflüssige Autorität ablehnt, eine Vorwegnahme der Attacke der modernen Säkularisten auf die späteren Rabbiner. Obgleich der apikoros nach dieser Definition nicht automatisch mit dem modernen Säkularisten gleichzusetzen ist, sind die Ähnlichkeiten offensichtlich. Sie hängen zum Teil mit den Ähnlichkeiten zwischen einigen Formen der griechischen Philosophie und modernen Empfindungen zusammen. Berger zufolge wird der prämoderne Häretiker zum Säkularisten der Moderne: Insofern wir unsere Einstellung zur Religion autonom »wählen« (eine der ursprünglichen Bedeutungen des griechischen hairesis), sind wir alle Häretiker.18 Wie sowohl Berger als auch Gauchet nachdrücklich feststellen, war die Hebräische Bibel ein entscheidendes Momentum in der Vorgeschichte des Säkularismus. Kann der Hinweis auf die Hebräische Bibel aber eine ausreichende Erklärung für den besonderen Charakter des jüdischen Säkularismus sein? Schließlich hat der strikte Monotheismus, den das Judentum mit dem Islam gemein hat, in Letzterem nicht zu einer säkularen Revolution geführt. Der jüdische Säkularismus entwickelte sich spezifisch dort, wo Juden mit europäischen Modernisierungsströmungen in Berührung kamen, sei es auf dem Kontinent selbst oder in Gebieten, die unter dem Einfluss des euro­ päischen Kolonialismus standen. Die historische Tradition mag den Zündfunken geliefert haben, doch es war die europäische Aufklärung, die das Feuer entfachte. Die hier vertretene These schließt solche äußeren Einflüsse nicht aus, soll aber erhellen, wie säkulare jüdische Denker ihre Philosophie auf jener religiösen Tradition aufbauten, die sie zu ersetzen suchten. Dass die frühere Tradition die Herausbildung der besonderen Form des jüdischen Säkularismus befeuert und geprägt hat, bedeutet jedoch nicht, dass die beiden identisch sind. Dies zu behaupten, wie Gauchet es wohl gelegentlich tut, blendet aus, was an der Moderne neu und revolutionär ist. Vielmehr soll hier dafür plädiert werden, dass gewisse Aspekte vormodernen Denkens nicht nur ihre modernen Nachfolger vorwegnahmen, sondern zuweilen sogar Argumente lieferten, die einer säkularen Agenda entsprechend 20

angeeignet, angepasst und umgewandelt werden konnten. Sogar wenn diese Ideen in ihren ursprünglichen Kontexten nicht für einen solchen Zweck bestimmt waren, ließ sie der soziale Rahmen der Moderne in einem neuen Licht erscheinen, sodass sie als echte Vorstufen betrachtet werden können. Um ein anderes Bild zu verwenden: Diese prämodernen Ideen waren gewissermaßen die Keimzellen, die sich nur dank des sozialen und politischen Umfeldes der Moderne entwickeln konnten. Sie waren weniger unmittelbare Ursachen des jüdischen Säkularismus als Bereiter der vorherrschenden mentalité  – der Sprache und besonderen Atmosphäre – jenes Säkularismus, als den ihn schließlich die Kräfte der Moderne zur Entfaltung brachten. Obschon die Modernisierungs- und Säkularisierungsprozesse in der Regel nicht als Kontinuitäten der Vergangenheit, sondern als Brüche erlebt wurden, findet keine Revolution in einem Vakuum statt. Das Neue keimt immer aus dem Alten. Es liegt auch in der Natur von Rebellen, nach Vorreitern zu suchen, um ihre Neuerungen mit eigenen Traditionen legitimieren zu können. Ob nun von den Akteuren selbst oder erst später von Beobachtern festgestellt, ist der Nexus von Religion und Säkularismus ein entscheidendes Element in jeder Geschichte der Moderne. Betrachten wir eine der berühmtesten Geschichten des Talmud, in welcher der im 2. Jahrhundert lebende Weise Rabbi Elieser versucht, seine Meinung gegenüber den anderen Rabbinen durchzusetzen. Er ruft verschiedene Wunder an, um die Richtigkeit seines Standpunkts zu beweisen, doch die Mehrheit lässt dies unbeeindruckt. Schließlich beharrt er darauf, wenn die Tora seiner Auffassung entspreche, »so mögen sie dies aus dem Himmel beweisen«. Da ertönt unverzüglich eine himmlische Stimme, eine Hallstimme (bat kol), und verkündet die Richtigkeit von Rabbi Eliesers Gesetzesauslegung (Baba Mezia 59b). Gegen dieses scheinbar unwiderlegbare Beweismittel steht Rabbi Jehoschua, der Führer der Mehrheit, auf und erklärt unter Berufung auf Dtn 30,12: »Sie [die Tora] ist nicht im Himmel.« Nun fragt der Talmud: »Was heißt: ›sie ist nicht im Himmel‹?« Eine spätere Autorität, Rabbi Jirmeja, erläutert: »Die Tora ist bereits vom Berge Sinai her verliehen worden. Wir achten nicht auf die Hallstimme.« Die Tora sei nun auf Erden und so sei es die Mehrheit – in diesem Fall die Mehrheit der Rabbinen –, die über ihre Auslegung entscheide. Der Talmudtext führt das Prinzip der Mehrheitsentscheidung auf eine andere Bibelstelle zurück: »nach der Mehrheit zu entscheiden«. Es ist so die Tora selbst, die göttliche Offenbarung, die ein säkulares Prinzip (»sie ist nicht im Himmel«) bekräftigt und die Geltung der Mehrheitsentscheidung lehrt. Diese Geschichte wird zuweilen als Beispiel einer rabbinischen Erklärung der Unabhängigkeit von Gott zitiert, was sie in der Tat ist – doch die Sache 21

ist komplizierter. Nicht nur in der Erzählung selbst leben die Rabbinen ihre Unabhängigkeit aus, sondern auch in dem (vermeintlichen) Wortlaut der Tora, den sie zur Bekräftigung ihrer Auffassung anführen. Der Vers aus Exodus besagt nämlich das genaue Gegenteil. Im ursprünglichen Kontext heißt es: »Du sollst der Menge nicht auf dem Weg zum Bösen folgen und nicht so antworten vor Gericht, dass du der Menge nachgibst und vom Rechten abweichst« (Ex 23,2). Der Vers besagt eindeutig, dass ein Zeuge sich an das halten solle, was er für richtig hält, statt sich nach der Meinung der Mehrheit zu richten. Dieses negative Gebot kehren die Rabbinen nun in ein positives um: Man solle der Mehrheit folgen. Es ist, als müssten sie die himmlische Offenbarung selbst umstoßen, um ihre Unabhängigkeit vom Himmel zu erklären. Durch das Prisma dieser bedeutungsvollen Geschichte lassen sich die Spannungen im rabbinischen Denken zwischen göttlicher Offenbarung und menschlicher Autonomie erkennen. Dies ist jedoch kaum Säkularismus avant la lettre. Die Rabbinen hinterfragten die Tora sehr wohl, waren jedoch weit davon entfernt, sie völlig zu verwerfen. Zweifellos glaubten sie, dass irgendeine Kommunikation mit dem Himmel möglich sei, daher die bat kol.19 Außerdem argumentierten sie, dass ihr eigenes, das mündliche Gesetz am Berg Sinai gemeinsam mit dem schriftlichen Gesetz gegeben wurde. Ihre legislativen Neuerungen seien nicht bloß menschliche Erfindung, sondern gründeten auf der Offenbarung. Wahrscheinlich war es das Letztere, was die Geschichte von Rabbi Elieser untermauert, denn wenn die rabbinische Auslegung – das Prinzip der Mehrheitsentscheidung – ihren Ursprung am Berg Sinai hatte, dann musste eine spätere himmlische Stimme geringer zählen. Zudem stellt in dieser oder in anderen Geschichten niemand die Existenz oder Autorität Gottes infrage. Gleich nach Rabbi Jehoschuas Feststellung, wird weiter berichtet, habe Gott geschmunzelt: »Meine Kinder haben mich besiegt, meine Kinder haben mich besiegt.« Gott erkennt seine Niederlage an. So beruft sich auch die Mehrheit auf eine himmlische Stimme, diesmal zu ihren eigenen Gunsten. Auch der größere Kontext, in den diese Passage eingebettet ist, straft, worauf Jeffrey Rubenstein zu Recht hingewiesen hat, den scheinbaren Säkularismus des Textes Lügen.20 Nach ihrem Sieg verbannen die Rabbinen Rabbi Elieser und verbrennen alles, was er als rein erklärt hat. Der Tamud ergreift jedoch deutlich die Partei Rabbi Eliesers, da nach dessen Verbannung verschiedene übernatürliche Katastrophen eintreten. Die Lehre daraus scheint zu sein, dass die siegreiche Mehrheit die Minderheit nicht beschämen soll, und wer dem zuwiderhandelt, den wird die göttliche Strafe treffen. Wenn die Rabbinen souveräne Autorität für sich beanspruchen, so untergräbt ihr eigener Text diesen Anspruch. 22

Wir sollten indes die radikale Bedeutung unseres Textes nicht allzu hastig herunterspielen. Die Geschichte lässt erkennen, dass die Zerstörung des Tempels eine neue Welt geschaffen hatte, in der die menschliche Autonomie großes Gewicht erlangte, ein Gedanke, den man üblicherweise mit der Moderne in Verbindung bringt. Die Rabbinen behaupteten, seit der Zerstörung des Tempels gebe es keine Prophezeiungen mehr, diese blieben den Kindern und den Narren überlassen.21 Das Ende der Weissagungen gewährleistete ihr Deutungsmonopol, zumindest wenn sie andere Stimmen unterdrücken konnten. Dann ist da noch die rechtlich gefasste Dialektik selbst: Das Gesetz sei nicht ein für alle Mal gegeben, sondern stehe einander widersprechenden Deutungen offen, von denen jede, um eine andere berühmte Geschichte zu zitieren, »die Worte des lebendigen Gottes« (Eruvin 13b) seien. In all diesen Ausdrucksformen gehört die Tora nun ihren menschlichen Deutern. Das Verhältnis zwischen diesem Text und dem modernen jüdischen Säkularismus ist daher kein unmittelbares, und zwar insofern es weder in die Auflehnung späterer Säkularisten gegen die Tradition mündet noch eine solche bewirkt. Man könnte sagen, es sei Symptom einer bestimmten Geistes­ haltung, der Bereitschaft, sogar innerhalb der traditionsverhafteten Kultur den Radius der Unabhängigkeit von der Schrift abzustecken. Dank dieser Geisteshaltung mögen manche Juden prädisponiert gewesen sein, aus der Religion auszubrechen, sobald sie die Moderne »infiziert« hatte. Der Text steht auch jenen modernen Denkern zur Disposition, die ihn gern verwenden, um ihrer Philosophie eine historische Genealogie zu verschaffen, wie auch Isaac Deutschers Invokation von Elischa ben Abuja ein Beispiel für eine solche Suche nach einem säkularen Vordenker unter religiösen Häretikern ist. Die religiöse Tradition mag in anderer Weise den Boden für den modernen Säkularismus bereitet haben. So argumentierte Gershom Scholem bekanntlich, die antinomisch-messianische Bewegung im 17.  Jahrhundert unter der Führung von Schabbtai Zvi habe mit der Erschütterung der rabbinischen Autorität den Keim für die jüdische Aufklärung gelegt. Hier kann das Verhältnis zwischen dem Prämodernen und dem Modernen dialektisch genannt werden, bildete doch eine der am stärksten vom Mystizismus geprägten Bewegungen in der jüdischen Geschichte den Ausgangspunkt für ihr Gegenteil, den modernen Rationalismus. Ein anderes, noch zu erörterndes Beispiel dieser Art ist Moses Maimonides’ »negative Theologie«, in der Gott so transzendent wird, dass ein späterer Denker, Spinoza, Gott in sein Gegenteil zu verkehren vermochte, indem er ihn mit der Welt gleichsetzte. Da die Begründer des jüdischen Säkularismus Intellektuelle waren, von denen einige in der Jeschiwa studiert hatten, war es nur natürlich, dass sie ihre Inspiration in Büchern fanden, und zwar zunächst in jenen, die zur 23

religiösen Überlieferung gehörten. Später erfüllten die Werke früherer Säkularisten, namentlich Spinozas, eine ähnliche Rolle. Der jüdische Säkularismus als intellektuelle Tradition ist daher das Produkt von Büchern, deren Autoren sich selbst auf andere Bücher bezogen, auch wenn sie jene, mit denen sie aufgewachsen waren, verwarfen. Der Schlüssel zu dieser Literatur ist die Intertextualität. Wir haben es hier mit der jüdischen Analogie zu einer weiteren Definition der säkularen Theologie von Funkenstein zu tun: Nichttheologen, die Theologie betreiben. Im jüdischen Fall waren diese Gelehrten, beginnend mit Spinoza, Rebellen, die sich ganz bewusst gegen die Rabbinen auflehnten. Diese literarische Kettenreaktion hatte einen eigentümlichen Charakter. Die Begrün­der des jüdischen Säkularismus waren zumeist Aschkenasim, also mittel- und osteuropäische Juden. Ihre Revolte war die der Söhne gegen ihre traditionsgebundenen Väter. Doch die Tradition, die sie inspirierte, war oft die der sephardischen (spanischen) Juden, vor allem die über den Islam vermittelte philosophische Tradition.22 Man könnte sagen, in ihrer Revolte gegen ihre Väter wandten sie sich stattdessen ihren »Onkeln« zu.23 Am herausragendsten unter diesen »Onkeln« war die alles überstrahlende Figur von Moses Maimonides, dessen Denken in den folgenden Kapiteln eingehend erörtert wird. Diese Neffe-Onkel-Beziehung setzte sich fort, als die Säkularisten Spinoza, den sephardischen Sohn von Marranen, zu ihrem radikalen Vorvater erkoren. Isaac Deutscher berichtet, ein Grund dafür, dass er die Religion infrage zu stellen begann, sei der Umstand gewesen, dass ihm sein Vater­ Spinoza zu lesen gegeben hatte. Der Vater hatte zuvor selbst ein Buch über Spinoza geschrieben und damit noch vor seinem Sohn den Weg beschritten, der von der Religion wegführte.24 Des jungen Deutschers Weg über Spinoza zum Säkularismus war nicht einzigartig, und es kann deshalb kaum überraschen, dass der enigmatische holländische Philosoph eine zentrale Rolle in diesem Buch spielen wird. In der Tat stand Spinoza wohl als der erste säkulare Philosoph an der Schwelle zur Moderne. Obgleich er die Bezeichnung »säkularer Jude« zweifellos von sich gewiesen hätte, da er ganz offensichtlich jede Verbindung mit dem jüdischen Volk gekappt hatte, wurde er von Generationen jüdischer Säkularisten als Vorbild und Vordenker gefeiert. Da Spinoza nicht nur der erste neuzeitliche, sondern zugleich der letzte mittelalterliche Philosoph war, weist er auf die prämoderne jüdische Tradition zurück, bevor er auf seine modernen Erben vorausweist. Oft, und auch ohne sie explizit zu erwähnen, traten spätere jüdisch-säkulare Denker indirekt mit der mittelalterlichen Tradition in einen Dialog, indem sie Spinoza zu ihrem geistigen Vater erkoren. Die Beschäftigung mit Spinoza wird daher 24

in den ersten drei Kapiteln dieses Buches im Zentrum stehen, denn er bildet quasi die Brücke zwischen der religiösen Tradition und ihren säkularen Nachkommen. Bislang ist der Begriff »Säkularismus« hier verwendet worden, ohne dass er definiert worden wäre; dies soll nunmehr ansatzweise geschehen. Da man, wie bereits angedeutet, abhängig von dem jeweiligen kulturellen Kontext von verschiedenen Spielarten des Säkularismus sprechen kann, ist Zurückhaltung angebracht bei dem Versuch, den jüdischen Säkularismus umfassend oder essenziell zu definieren. Angebracht ist eher eine phänomenologische Definition, die sich aus den Quellen ergibt. Jedenfalls können mit Talal Asad zwei separate, wenn auch miteinander in Verbindung stehende Bedeutungen des Wortes unterschieden werden.25 In Asads Vokabular bezieht sich »säkular« auf eine metaphysische Position: die Ablehnung des Übernatürlichen zugunsten einer materialistischen Weltsicht. Andererseits meint »Säkularismus« den politischen Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat.26 Für den Säkularisten soll das Gesetz, wenn man Kant folgt, sich nicht aus einer äußeren göttlichen Quelle ableiten, sondern aus autonomen menschlichen Entscheidungen. Die Religion aus dem Staat herauszulösen bedeutet, den Menschen die völlige Kontrolle über ihr politisches Schicksal zu über­lassen. Während der Materialismus auf diese Weise die metaphysische Philosophie des Säkularen definiert, definiert der Humanismus die politische Theorie des Säkularismus. Diese Kategorien sind für sich gesehen nicht völlig adäquat, und die Annahme der einen schließt nicht unbedingt die Annahme der anderen ein. Nehmen wir zum Beispiel Moses Mendelssohn als Philosophen der Auf­ klärung des 18. Jahrhunderts. Er glaubte zweifellos an die Existenz der Gottheit und ihre Rolle in der Welt, entwarf aber dennoch eine säkularistische Theorie der Trennung von Religion und Staat. Zudem gibt es auch heute nach wie vor viele Juden, die nach eigener Aussage an die Existenz Gottes glauben, sich aber gleichzeitig als säkular verstehen, womit sie meinen, dass sie sich mit keiner der religiösen Strömungen des Judentums identifizieren und das offenbarte Gesetz nicht einhalten. Man könnte, modern ausgedrückt, sagen, dass diese Juden »nicht synagogisiert« sind. In Bezug auf den abstrakten Glauben sind sie religiös und in ihrer Lebensform säkular. Andererseits gibt es manche Juden, die sehr wohl einer Synagogengemeinde angehören und die Gesetze einhalten, ihrem Glauben nach aber säkular sind. Man kann die Existenz Gottes negieren und dennoch nach seinen Gesetzen leben. Für viele der in diesem Buch zu besprechenden Denker gingen das Metaphysische und das Politische Hand in Hand. Naturgemäß werden zionistische Denker eine große Rolle spielen, da der Zionismus als eine tief greifende 25

säkulare Revolution entstand gegen das, was als Religion des Exils wahrgenommen wurde. Doch sowohl als politische wie auch als kulturelle Bewegung war der Zionismus selbst das Produkt eines historischen Augenblicks um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als der traditionelle Lebensstil auf vielerlei Weise ideologisch hinterfragt wurde. Angestoßen durch Massenauswanderung, Urbanisierung und ökonomische Umwälzungen erfassten die soziale Revolution und der Nationalismus in jüdischer wie nichtjüdischer Ausprägung die jüdische Gasse. Bundismus, Territorialismus, Kommunismus und Liberalismus waren neben dem Zionismus politische Antworten auf die Krise der jüdischen Lebenswelt in dieser Zeit. Alle suchten ihr Heil in irgendeiner politischen Form, und zwar in bewusster Opposition zur überkommenen Religion.27 Die Wirkungsmacht der Politik war so groß, dass sogar die Orthodoxen sich gezwungen sahen, eigene politische Bewegungen zu schaffen, und sei es nur, um sich gegen die antireligiösen Alternativen zur Wehr zu setzen. Über die metaphysischen und politischen »Formierungen des Säkularen« (Talal Asad) hinaus scheinen zwei andere Aspekte maßgebend zu sein: die Geschichte und die Kultur. Säkulare Juden beschreiben ihr Selbstverständnis oft als ein historisches. Sie identifizieren sich vielleicht nicht mit der Hebräischen Bibel als einem religiösen Werk, sondern als einem Kodex so­ zialer Gerechtigkeit oder einem kulturgeschichtlichen Dokument. Sie sehen vielleicht in der Narration der jüdischen Geschichte eine kollektive Vergangenheit, die erklärt, was sie heute sind, auch wenn ihr Glaube und ihre Praktiken mit dem Judentum als Religion nichts gemein haben. Dieses Interesse an der Geschichte ist jedoch nicht einfach akademischer oder antiquarischer Natur. Es ist vielmehr eine Form dessen, was Maurice Halbwachs das »kollektive Gedächtnis« genannt hat.28 Obgleich sich die Juden immer nach mythischen Erinnerungen definierten  – Erinnerungen an den Auszug aus Ägypten, die Zerstörung des Tempels –, haben die modernen Juden ihre eigenen säkularen Versionen des kollektiven jüdischen Gedächtnisses geschaffen, die oft auf nichttheologischen Auslegungen der Bibel wie auch auf der späteren Geschichte beruhen.29 Darüber hinaus war für viele moderne jüdische Intellektuelle diese Vergangenheit der Prolog zu einer säkularen jüdischen Kultur der Gegenwart. Das Fin de Siècle war ein Augenblick kultureller Revolution ebenso wie es politisch war. Manche säkulare Autoren waren mitunter der Ansicht, die historische Volkskultur, im Gegensatz zur Kultur der Rabbinen, könne in der Moderne eine nichtreligiöse Renaissance jüdischer Kultur anregen. Andere übertrugen die nichtjüdischen Kulturen ihrer Umwelt in eine jüdische Sprache. In diesem Zusammenhang plädierten manche für eine Säkularisierung 26

des Hebräischen, der alten Sprache der Juden, die über Jahrtausende mit der jüdischen Religion verbunden war. Andere fanden ihr Heil in der Verwendung der jüdischen Dialektsprachen Jiddisch und Ladino. Und schließlich gab es jene, die eine neue jüdische Kultur in europäischen Sprachen schufen, sei es im Russischen, Deutschen, Englischen oder Französischen. Von der Religion getrennt, wurde die Sprache bei der Entwicklung einer säkularen Kultur zur Magd der Geschichte. Das Judentum als Religion ist, nicht weniger als der jüdische Säkularismus, eine moderne Erfindung. In dem Bestreben, diesen religiösen Entstehungsprozess zu definieren, haben viele moderne jüdische Denker nach einer »Essenz« oder »Essenzen« des Judentums gesucht, einer Reduktion seiner vielen Glaubenselemente und -praktiken auf einen ewiggültigen Kern. Bereits im Mittelalter versuchten Philosophen »Glaubensgrundsätze« zu formulieren, deren Zahl von dreizehn bis zu einem einzigen reicht. Der Sohar, das Hauptwerk des mittelalterlichen jüdischen Mystizismus, schlug eine dreiteilige Definition vor: Israel und die Tora seien eins, Gott und Israel seien identisch und die Tora nichts anderes als der Name Gottes.30 So entstand eine Art jüdische Dreifaltigkeit. In der Moderne wurde dieser Tropus erneuert. In einer Aktualisierung der Argumentation des Sohar legte eine Reihe von Denkern nahe, das Judentum ruhe auf drei Konzepten: Gott, Tora und Israel. So verwies etwa der US -amerikanische jüdische Theologe Mordechai M. Kaplan in seinem Werk Judaism as a Civilization auf die »bekannte Triade Gott, Israel und Tora«.31 In jüngerer Zeit schrieb der Reformrabbiner Leo Trepp: »Der Bund entfaltet sich durch die Wechselbeziehung zwischen Gott, Israel und der Tora. Sie sind eins und untrennbar miteinander verbunden: Gott hat eine dauerhafte, unmittelbare, von der Tora strukturierte Beziehung zu Israel.«32 Jüdische Säkularisten weisen die Vorstellung, das Judentum habe eine Essenz, gewöhnlich zurück. Die Vergangenheit war nicht harmonischer oder homogener als die Gegenwart. Und in der Tat kann der beharrliche Verweis der Säkularisten auf einen vormals herrschenden Pluralismus als Argument zugunsten des aktuellen Pluralismus dienen. Dessen ungeachtet soll in der Folge dargelegt werden, dass diese drei ursprünglich mittelalterlichen Kategorien jene Fragen aufwarfen, auf die säkulare Denker neue Antworten gaben. Um Hans Blumenberg zu zitieren: »Die [moderne] Geschichts­ philosophie ist ein Versuch, eine mittelalterliche Frage mit den Mitteln zu beantworten, die in einem postmedievalen Zeitalter zur Verfügung standen«.33 So war es oft, auch wenn ein moderner Denker sich nicht explizit auf die Vergangenheit bezog, diese historische Tradition, welche die eigentliche Struktur für das jüdische »postmedievale Zeitalter« lieferte. 27

Die nachfolgenden Kapitel sind daher um die Kategorien Gott, Tora und Israel angeordnet. Jedes Kapitel beginnt mit einer Erörterung, wie die traditionellen Kategorien im Kern die Quelle ihrer späteren Säkularisierung enthalten haben könnten. Im ersten Kapitel wird gezeigt, wie der Gott der Bibel in der Philosophie des Moses Maimonides seine Persönlichkeit verlor, um dann in den Betrachtungen Spinozas und dessen Schüler zur Natur zu werden. Die mittelalterliche Kabbala lieferte die Quelle für eine andere moderne Vision von Gott als »Nichts« oder »Leere«. Und schließlich legte der Paganismus eine weitere Alternative für den traditionellen Gott nahe. Das zweite Kapitel wendet sich säkularen Interpretationen der Bibel zu, wobei zunächst in Augenschein genommen wird, wie die Bibel selbst und einige ihrer mittelalterlichen Exegeten bereits die Grundlage für solche Neuinterpretationen schufen. Von ihrem Offenbarungsstatus befreit, wurde die Bibel nun zu einem historischen, kulturellen oder nationalistischen Text. Das dritte und das vierte Kapitel behandeln die letzte Kategorie: Israel. Das dritte Kapitel befasst sich mit der neuen Definition von Israel als Nation, einer Definition, die in der jüdischen Frühgeschichte verwurzelt ist. Doch die Art und Weise, in der säkulare Denker diese Definition überformten, fußte ebenso auf den zeitgenössischen Vorstellungen von Stamm, Nationalität und Staat. Das vierte Kapitel befasst sich mit einem anderen Weg, die traditionelle Kategorie Israel zu umschreiben: anhand von Geschichte, Sprache und Kultur. Insbesondere die Kultur ist ein modernes Konzept, das für die jüdischen Säkularisten den Platz der Religion eingenommen hat. In den modernen Transformationen jeder dieser überkommenen Kategorien finden sich die jüdischen Analogien zu Funkensteins säkularer Theologie, die Konstruktion säkularer Ideen mit dem Instrumentarium der Theologie. Obgleich die Hauptthese dieses Buches besagt, dass der Säkularismus seine dialektische Basis in der von ihm umgestoßenen Tradition hatte, hat nicht unbedingt jeder der hier behandelten Philosophen explizit dargelegt, inwieweit er dieser Tradition verpflichtet ist. Es soll jedoch geltend gemacht werden, dass all diese Denker mit ihren Antworten auf die von den Kategorien Gott, Tora und Israel aufgeworfenen Fragen mit dem prämodernen ­Judentum, wie implizit auch immer, im Dialog stehen. Zudem setzten sich nicht alle zwangsläufig mit allen drei Kategorien auseinander. Manche­ rangen auf tiefschürfende Weise mit der Gottesfrage, andere blieben von ihr unberührt. Es erscheint daher angemessener, von Traditionen als von einer Tradition des säkularen jüdischen Denkens zu sprechen. Der jüdische Säkularismus kann als Versuch angesehen werden, eine Gegentradition herauszubilden,34 eine Alternative zum Judentum als einer Religion mit einer eigenen intellektuellen Entwicklungsgeschichte. Es mag 28

manchmal scheinen, als sei die Geschichte der Säkularisierung das Narrativ einer Welt, die wir verloren haben. Doch der Säkularismus ist nicht nur ein negatives Abbild; er ist auch ein Versuch, aus den Scherben der Vergangenheit ein neues Selbstverständnis zu formen. Seine Genealogie besteht aus einer Kette von Ideen, die mit der Ablehnung der religiösen Tradition entstanden, jedoch mit dem, was sie umgestoßen hatten, weiterhin verknüpft geblieben sind. Ziel dieser Studie ist es, die Webstruktur dieser Gegentradition zu explizieren und damit die Identität zu erhellen, die jüdische säkulare Denker zu formen bestrebt waren.

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1. Gott: Pantheisten, Kabbalisten und Heiden

Es wird oft behauptet, das Judentum kenne keine Orthodoxie (rechter Glauben), sondern nur Orthopraxie (rechtes Handeln). Die in der Bibel fest­ geschriebenen Gebote, die von den Rabbinen weiter ausgearbeitet und von mittelalterlichen Gelehrten kodifiziert wurden, dienten der jüdischen Religion in weit größerem Ausmaß als Fundament als die Theologie. Allem zugrunde lag der Glaube an Gott als Quelle dieser Gesetze, jedoch ohne das elaborierte Dogma und die daraus abgeleiteten Häresien, wie sie sich im Christentum finden. Es ließe sich argumentieren, dieser geringe Anteil der Theologie habe in der Moderne zur Geisteshaltung jener säkularen Juden beigetragen, welche die Existenz Gottes völlig leugneten. Denn um wie viel einfacher ist es, sich eine Welt ganz ohne Gott vorzustellen, wenn die eigene Kultur sich wenig mit der Biografie, der Persönlichkeit und den Attributen des göttlichen Wesens befasst. Es wäre jedoch ein Irrtum, Säkularismus mit Atheismus gleichsetzen zu wollen. Viele säkulare jüdische Denker gaben die Vorstellung von Gott nicht auf, auch wenn sie ihn seiner biblischen Persönlichkeit und rabbinischen Autorität entkleideten. In diesem Kapitel werden drei Tendenzen säkularer Denkmuster untersucht, von denen jede dialektisch in prämodernen Texten verankert ist. Die erste ist die Transformation des biblischen Gottes in Natur, eine Geisteshaltung, für die Baruch Spinoza im 17. Jahrhundert bahnbrechend war. Ihm folgte eine Reihe von Denkern, die hier allgemein als »Spinozas Kinder« bezeichnet werden sollen, von Salomon Maimon und Heinrich Heine bis zu Sigmund Freud und Albert Einstein. Wir werden sehen, wie Spinoza und seine Kinder sich auf die prämoderne jüdische Tradition stützten, insbesondere auf die Philosophie von Moses Maimonides. Die zweite Tendenz, zu finden bei einer Gruppe von Denkern – Chajim Nachman Bialik, Gershom Scholem und Franz Kafka –, hier »säkulare Kabbalisten« genannt, baute auf der mittelalterlichen mystischen Lehre von Gott als »Nichts« auf, um die Welt als vom Göttlichen völlig frei oder allenfalls von seinem Schatten heimgesucht zu beschreiben. Wenn Spinozas Kinder vereinfachend Pantheisten genannt werden können, da Gott und Natur für sie gleichbedeutend waren, stehen die säkularen Kabbalisten den antiken Gnostikern näher, für welche der wahre Gott verborgen und unerreichbar war. Die dritte Tendenz zeigt sich in der säkularen Wiederbelebung heidnischer Götter als Mittel des Kampfes für die Absetzung des jüdischen Gottes. 31

Vorläufer Wer war der jüdische Gott, gegen den Spinoza und seine Jünger revoltierten? In seiner Schrift Theologisch-politisches Traktat (Tractatus theologico-politi­ cus) ließ Spinoza wenig Zweifel daran, dass die biblische Vorstellung von einer anthropomorphischen Gottheit, die menschliche Emotionen (Eifersucht, Zorn und zuweilen sogar Liebe) zeigt, das Gegenteil einer philosophischen Idee war. Hier ist jedoch anzumerken, dass die Bibel theologisch gesehen nicht monolithisch ist und dass der Gott der Bibel zuweilen den Gott der Philosophen vorwegnimmt. Obgleich die Tora, die Geschichtsbücher und die Propheten die Hand Gottes in der Geschichte anschaulich machen, ist Gott oft nur als »Wolke der Herrlichkeit« (so in der Formulierung der Priesterschrift, der modernen Bibelwissenschaft gemäß eine der Quellen der Tora) oder als Name (Deuteronomium) präsent.1 Der Priesterschrift zufolge kann niemand, nicht einmal Moses, Gott erblicken und am Leben bleiben (Ex 33,20). Manche biblische Texte erwähnen Gottes Körper, andere wiederum verdeutlichen, dass Gott in keiner Weise mit menschlichen Wesen vergleichbar ist. Der rein transzendente Gott der Philosophen hat, wenn auch in nicht voll realisierter Form, seine Wurzeln in der Bibel. In den postexilischen Schriften (also nach der Rückkehr aus dem babylonischen Exil im 5. und 6. vorchristlichen Jahrhundert) findet sich bereits eine tiefe Skepsis gegenüber dem Gott der Geschichte. In vielen Schriften, die in die persische oder hellenistische Ära datiert werden können, wie etwa in den Büchern Esther, Hiob und Kohelet, ist Gott transzendent oder sogar völlig abwesend.2 Er wandelt nicht mehr, wie in der Literatur der Periode des Ersten Tempels, unter den Menschen, und seine Kommunikation mit ihnen ist indirekt oder gar stumm. Die Wahrheiten der konstitutiven Periode der Nation schienen ihre Geltung verloren zu haben. Vielleicht unter dem Einfluss der griechischen Philosophie, vielleicht aber auch als Ergebnis ihrer eigenen Geschichte brachten die Juden keine Bücher wie Deuteronomium oder Jesaja mehr hervor. Freilich führte das, was als Gottes Schweigen wahrgenommen wurde, nicht nur zu Werken religiöser Skepsis, sondern auch zu neuen literarischen Gattungen, wie der Literatur der Apokalyptik. Der Wille Gottes war jedoch auch hier nur durch die Neuauslegung alter oder die Erfindung neuer, pseudoepigrafischer Prophezeiungen zu erraten. In der Periode des Zweiten Tempels brachte also Gottes Abwesenheit von der Welt eine von den klassischen Bibelschriften weit entfernte Literatur hervor. Bekanntlich wird Gott im Buch Esther überhaupt nicht erwähnt. Obgleich sich der Triumph der Juden über ihre persischen Verfolger als Beweis göttlichen 32

Eingreifens interpretieren ließe, schreibt ihn der Text selbst den Intrigen der verführerischen Esther und ihres listigen Onkels Mordechai zu. Das Buch­ Esther ist in erster Linie eine in der Diaspora spielende politische Geschichte, und es sind durch und durch säkulare Lehren, die aus ihr zu ziehen sind. In ähnlicher Weise bestreiten auch andere Texte Gottes Existenz nicht, stellen aber seine Rolle in der Welt infrage. Für den Autor des Buches Kohelet ist der Mensch in Gottes Hand, doch »alles ist vor ihm festgelegt« (Koh 9,1). Der Verfasser findet keinen Sinn in der Welt und stellt am Anfang und am Ende fest: »Alles ist eitel«. Obgleich die Koda des Buches empfiehlt, Gott zu verehren und seine Gebote einzuhalten, kann man sich des Gefühls nicht erwehren, dass dieser fromme Schluss angehängt wurde, um den wenig orthodoxen Text bekömmlicher zu machen. Was genau die philosophische Position des Autors war, ist nach wie vor äußerst umstritten, er mag ein Anhänger einer antiken Philosophenschule, wie etwa des Lukrez oder Epikurs, gewesen sein oder auch nicht. Jedenfalls lag es nahe, dass der moderne Säkularismus sich das Buch zu eigen machte. So zum Beispiel empfahl der jüdische Historiker Heinrich Graetz 1877 in einem bemerkenswerten Brief dem antireligiösen Karl Marx die Lektüre seines Kommentars zum Buch Kohelet mit folgender Begründung: »Denn der Verfasser war, nach meiner Auffassung, ein derber Realist inmitten einer phantastischen, himmelenden Welt, der die Courage hatte, auszusprechen, das gewisse Diesseits sei vorzüglicher als das zweifelhafte Jenseits, und der vor 1900 Jahren die Rehabilitation de la chair [des Fleisches] gepredigt hat.«3

Graetz war sicherlich kein Säkularist, doch er war ausreichend vertraut mit der marxschen Philosophie, um zu verstehen, dass eine solch säkulare Deutung des Buches Kohelet den Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, der sich in seiner Dissertation mit Epikurs Vorgänger Demokrit befasst hatte, interessieren würde. Ein Buch mit ähnlichen Zweifeln am Göttlichen, das die prophetische Theologie radikal hinterfragt, ist das Buch Hiob.4 Die Propheten hatten gelehrt, dass auf Sünde unmittelbar Strafe folge. Hiobs Freunde bringen dieses Argument vor in dem Versuch, sein Leiden zu verstehen, doch er weist ihre Erklärungen zurück. Er habe keine Sünde begangen, die seinen Fall erklären könne. Die Theologie, die als Kennzeichen des biblischen Judentums zu bezeichnen wäre, erweist sich nun als konventionelles Klischee, das mit dem wahren Schicksal des Menschen nichts zu tun hat. Authentisch ist Hiobs Infragestellen Gottes und nicht das fromm hochtrabende, selbstgefällige Gerede seiner Freunde. Bekanntlich offenbart sich Gott schließlich Hiob gegenüber, aber seine Antwort ist alles andere als theologisch befriedigend: »Wo 33

warst du, da ich die Erde gründete?« Gottes Antwort, obgleich verbal, ist eher eine Demonstration der Macht als ein Argument. Für die Rabbinen der Spätantike war Gott auch ein in hohem Maße abwe­ sender Protagonist. Sie sprachen zwar von Gottes Anwesenheit (schechina), die das jüdische Volk ins Exil begleitete. Doch der Allmächtige selbst schloss sich weiterhin in seinen Himmel ein. Wie die in der Einleitung besprochene Geschichte von Rabbi Elieser zeigt, sprach Gott gelegentlich durch eine himmlische Stimme (bat kol), doch im Allgemeinen glaubten die Rabbinen, die Zeit des Prophetentums sei zu Ende. Es war wohl diese agnostische Auffassung von Gott, die als Reaktion eine nichtrabbinische Literatur von himmlischen Palästen inspirierte, in der ein Mystiker in den Himmel reist, um den göttlichen Thron zu schauen. Sicherlich rührt die Ansicht, das Judentum habe keine festgelegte Theologie, aus der Zurückhaltung der Rabbinen. Doch die Konfrontation mit der islamischen Philosophie und die Bedrohung durch die Karaiter (jene Juden im östlichen Mittelmeerraum, die im 8. und 9. Jahrhundert die Autorität der Rabbinen zu bestreiten begannen) veranlassten jüdische Denker des Mittelalters, Schlüsselbegriffe des jüdischen Glaubens theologisch zu definieren. Saadia Gaons Glaubenslehre und Philosophie aus dem 10. Jahrhundert, das erste Werk der mittelalterlichen jüdischen Philosophie, war auch das erste, das solche Glaubensinhalte zum Ausdruck brachte. Moses Maimonides (1138–1204) führte diesen Versuch weiter, indem er die Glaubensartikel und Dogmen des Judentums in dreizehn Grundsätzen subsumierte. Vielleicht beseelte ihn der Wunsch, dem einfachen Glaubensbekenntnis des Islam eine jüdische Entsprechung zu geben. Mehrere seiner Nachfolger versuchten ihn zu übertreffen und die Glaubenssätze zunächst auf drei, schließlich auf einen zu reduzieren.5 Diese philosophischen Übungen mit dem Anspruch, ein jüdisches »Dogma« zu definieren, waren nichts anderes als eben Übungen, und Maimonides’ Führer der Unschlüssigen galt allgemein als Bedrohung der jüdischen Glaubenspraxis. Wenn jemand Gefahr lief, seines Glaubens wegen exkommuniziert zu werden, so waren das eher Maimonides und seine Anhänger als einfache Gläubige.6 Doch das mittelalterliche Judentum hat nie eine Inquisition hervorgebracht. Im Allgemeinen blieb die Frage nach Gott und dem richtigen Glauben an ihn einem kleinen Kreis von Philosophen vorbehalten. Als jedoch moderne Denker auf diese philosophischen Traditionen stießen, wurden sie zu Katalysatoren einer radikal neuen Ausrichtung, die ihre Vorläufer nie vor Augen gehabt hatten. So bereitete die mittelalterliche jüdische Philosophie den Boden für eine radikale Infragestellung des biblischen Gottes. Dies erklärt, warum spätere Generationen säkularer Rebellen sich nicht nur Spinoza, sondern auch 34

Maimonides, mit den Augen Spinozas gelesen, zu eigen machten. Und in der Tat wurde der große andalusische Rationalist im 18. und 19. Jahrhundert zu dem mittelalterlichen Vorbild moderner Säkularisten.7 Seinen Führer der Unschlüssigen lasen jene, die sich gegen die rabbinische Autorität auflehnten, oft heimlich als subversives Werk. Dem Anschein nach war Maimonides freilich ein eher unwahrscheinlicher Kandidat für eine solche Rolle. Als einer der vehementen jüdischen Kritiker der Astrologie hatte Maimonides keine Verwendung für die Wissenschaft, welche die göttliche Vorsehung scheinbar außer Kraft setzte. Und sein Führer der Unschlüssigen ist wohl der gründlichste Versuch, Glaube und Vernunft miteinander zu verbinden. Als der größte jüdische Gesetzesgeber des Mittelalters war Maimonides alles andere als ein Rebell gegen die Überlieferung. Auf verschiedenen Ebenen jedoch birgt Maimonides’ Philosophie radikale Gedanken, die zu seinen Lebzeiten heftigen Widerspruch hervorriefen und in der Moderne Gegenstand noch radikalerer Umdeutungen wurden. Maimonides’ Gedankengut umfassend darzustellen, würde den Rahmen dieser Studie sprengen.8 Wir werden uns jedoch in diesem und in den beiden folgenden Kapiteln mit fünf Aspekten befassen, die für eine säkulare Vereinnahmung besonders geeignet zu sein scheinen: negative Theologie, Natur, Bibelexegese, historische Deutung der Gebote und politische Theorie. War der Gott der hebräischen Bibel sowohl transzendent als auch immanent, das heißt, der Welt innewohnend, so war der Gott des Maimonides völlig transzendent, so sehr der Welt entrückt, dass er nichts mit ihr gemein hatte. Zu dieser Position war Maimonides durch eine radikal allegorische Deutung der Bibel gelangt. Er wies nicht nur die biblischen Anthropomorphismen zurück (die Gott eine Hand oder einen Mund zuschrieben), sondern auch die Zuschreibung jeglichen menschlichen oder irdischen Wesenszuges, sodass »alles, was zur Annahme der Körperlichkeit Gottes führen müsste, Gott notwendigerweise abgesprochen werden muss. Ebenso muss ihm alles Leiden abgesprochen werden«.9 Gott habe weder Körper noch Gefühle oder andere menschliche Eigenschaften. Dies führt Maimonides dazu, alle positiven Äußerungen über Gott zu negieren. Man könne zum Beispiel von Gott nicht sagen, er sei gut. Dies käme einem Vergleich mit der Güte in unserer Welt gleich: Ist Gott besser oder schlechter als dieser oder jener Mensch? Von Gott zu behaupten, er sei gut, schließe zudem die Möglichkeit ein, er könnte zu irgendeinem Zeitpunkt diese Eigenschaft verlieren, so wie jeder gute Mensch irgendwann einmal zu einem bösen werden kann. Gleichgültig, wie vollkommen Gottes Güte auch sei, der Güte sei die Möglichkeit inhärent, dass sie verlustig gehen könne. Das sei in Bezug auf Gott unzulässig, denn er sei unveränderbar und es ermangele ihm an nichts. 35

Die einzige Möglichkeit, die Maimonides findet, Gott von der relativen Natur unserer Welt abzuschirmen, ist, ihn durch Negationen zu beschreiben: Er hat keinen Körper und keine Gefühle. Wie steht es aber mit Eigenschaften wie Güte? Die korrekte Weise, dies festzustellen, ist die »Negation eines Mangels«: Gott fehlt es nicht an Güte. Das ist nicht gleichbedeutend mit der Feststellung, Gott ist gut. Stattdessen sagt es aus, dass, was immer Gott in Bezug auf Güte eigen ist, nichts ist, das einen Mangel darstellen könnte. Der theoretische Weg, auf dem Maimonides zu dieser negativen Theologie gelangt, ist kompliziert und soll uns hier nicht im Detail beschäftigen.10 Für unseren Zweck wichtig sind nur die Schlussfolgerungen. Maimonides’ Gott, der nur durch Negation beschrieben werden kann, ist so weit entfernt von dem Gott der Bibel, wie man es sich nur vorstellen kann. Es ist ein völlig transzendenter Gott, der unserer Welt absolut fern steht, da er nichts mit ihr teilen und doch gleichzeitig Gott bleiben kann. Es ist ein Gott, der nur von Philosophen verehrt werden kann, insofern als diese Verehrung aus Betrachtungen über Negationen besteht. Obgleich Maimonides der Meinung ist, eine Kette von Negationen führe letztendlich zur Bekräftigung von Gottes Einheit (wenn auch in der Form einer negativen Aussage), könnte diese Kette entgegen Maimonides’ Absicht ebenso gut auf eine finale Negation des Atheismus hinauslaufen: Ein Gott, der so transzendent ist, dass »er« nicht beschrieben werden kann, ist eigentlich ein Gott, der nicht existiert. Vielleicht war es die häretische Sprengkraft von Maimonides’ Theologie, welche die Kabbalisten des 13.  Jahrhunderts veranlasste, als Reaktion darauf in das andere Extrem zu verfallen und Gott in den nur vorstellbaren allermenschlichsten Begriffen zu schildern, die Erotik eingeschlossen. Der anthropomorphe Mythos des Göttlichen, der den Kabbalisten zu eigen war, bestätigt in negativer Weise die atheistische Bedrohung von Maimonides’ Gott. Indem er Gott von der Welt abstrahierte, machte Maimonides einer autonomen Sphäre der Natur den Weg frei. Nicht, dass die Natur außerhalb der göttlichen Vorsehung walte, doch sie tue dies im Rahmen dessen, was die mittelalterlichen Scholastiker als »allgemeine Vorsehung« oder Naturgesetze bezeichneten. Die Welt, so Maimonides, stellt, wie wir das nennen würden, Gottes »Handlungsattribute« dar, das heißt alles, was wir von Gott wissen können, ist die Auswirkung seiner Schöpfung. Wie er aber diese Schöpfung vollbrachte, wissen wir nicht. Wir können aus den Gesetzen nichts über den Schöpfer schließen, außer, dass sie ganz offensichtlich das Produkt eines rationalen Schöpfers sind. Maimonides formulierte demnach eine mittelalterliche Version der modernen religiösen Argumentation in Bezug auf einen Schöpfungsplan: Da das Universum allem Anschein 36

nach rational geordnet ist, muss es von einem intelligenten Planer gestaltet worden sein. Als Aristoteliker glaubte Maimonides, dass die Welt von der Notwendigkeit regiert werde: Jedes Geschehen sei ein notwendiges Produkt der Natur­gesetze, auch das eine Vorwegnahme von Spinozas Universum. Dieser Determinismus war eine Reaktion auf eine Strömung der muslimischen Philosophie, der zufolge alles in der Welt Gottes Eingreifen erfordere: Kein Stein könne fallen, wenn Gott es nicht wolle. Die mittelalterliche aristotelische Position, die den Deismus des 18. Jahrhunderts antizipierte, entfernte Gott aus der Natur und beließ in ihr nur seine Gesetze. Das System funktioniert von allein, während Gott selbst völlig transzendent bleibt. Wenn gesagt wird, Gott »bewirke« Geschehnisse in der Natur, ist dies nur eine Redewendung oder eine formale Feststellung. Physik und Metaphysik sind voneinander getrennt. Naturgemäß stand dieser auf der Notwendigkeit gründende Argumentationsstrang in einem totalen Gegensatz zu den in der Bibel beschriebenen Wundern. Wie konnte Gott die Gesetze, die er selbst geschaffen hatte, aufheben, wenn diese Gesetze notwendig und hinreichend waren? Viele mittel­ alterliche Denker lieferten wissenschaftliche oder naturalistische Erklärungen für diese Wunder und stellten sie damit in den Rahmen der allgemeinen Vorsehung. So auch Maimonides, doch seine Antwort auf diese Rätsel war subtiler.11 Es existiere kein durch und durch deterministisches System. Als Gott die Gesetze gab, musste er bestimmte Entscheidungen treffen. Sollte ein bestimmtes Opfer sechs oder sieben Schafe erfordern? Sollte man ein Tier am Nacken oder am Hals schlachten? Diese Entscheidungen fallen nicht mehr unter die vom Verstand diktierte Notwendigkeit. Sie sind willkürlich. Demnach gebe es innerhalb jedes Systems rationaler Notwendigkeit einen Rest von Zufall, von willkürlicher Wahl: »Wisse auch, dass die göttliche Weisheit es bedingte, oder, wenn du es lieber so sagen willst, dass die Notwendigkeit es mit sich brachte, dass dabei Einzelvorschriften vorkommen, die keinen Grund haben«.12 Aus dieser Sphäre des Zufalls heraus hat Gott die meisten in der Bibel erwähnten Wunder vollbracht, oder »wenn du es lieber so sagen willst, dass die Notwendigkeit es mit sich brachte«.13 Auf diese Weise gelang es Maimonides, überlieferte Wunder zu bewahren, statt sie auf rein naturalistische Erklärungen zu reduzieren, sie aber dennoch in eine naturalistische Philosophie einzubringen. Und es ist bemerkenswert, dass er Gott und Notwendigkeit gleichstellt, was später bei Spinoza wiederzufinden sein wird. In Anbetracht dieser Herangehensweise an die Bibel überrascht es nicht, dass Maimonides und seine Anhänger die Ereignisse in der Bibel unter rein naturalistischen Gesichtspunkten auslegten. Zum Beispiel seien die am Berg Sinai gegebenen Steintafeln nur in jenem Sinne von Gott »geschrieben«, wie 37

er die Zedern des Libanon gepflanzt habe, das heißt mittels eines rein natürlichen Prozesses.14 Moses Narboni zufolge, einem der Kommentatoren des Führers der Unschlüssigen, trugen die Steine vom Berg Sinai selbst Bilder eines, wahrscheinlich brennenden, Busches.15 Wenn die Steine in der Tat ein solches Bild zeigten, wäre es nicht verwunderlich, wenn entdeckt würde, dass sie auch Schriftzüge trugen. Von dieser Position aus ist es wirklich nur ein kleiner Schritt zu Spinozas späterer These, wonach die Bibel kein über­ natürliches Dokument ist. Seine Auseinandersetzung mit Aristoteles hatte Maimonides veranlasst, sich radikal von den konventionellen jüdischen Glaubensvorstellungen von Gott und der Natur abzukehren. Freilich war er selbst weit davon entfernt, die Existenz Gottes zu leugnen. Ganz im Gegenteil. Seine These der negativen Attribute zielte darauf ab, Gottes Einssein und Einzigartigkeit zu preisen. Atheismus war nicht die Sünde des Mittelalters. Doch war dies das Gedankengebäude, das Spinoza auf den von Maimonides gelegten Fundamenten errichtete. Wohl stand, worauf Catherine Chalier hingewiesen hat,16 Maimonides für all das, was Spinoza ablehnte, vor allem für eine allegorische Deutung der Bibel und für die Auffassung, Moses habe ein philosophisches Verständnis von Gott gehabt. Wie wir jedoch gesehen haben, bezog dieser Philosoph des 12.  Jahrhunderts radikale Positionen, die sein Nachfolger im 17.  Jahrhundert übernehmen und seinen eigenen Zwecken anpassen konnte. Diese beiden Denker waren diametrale Gegensätze und dialektische Zwillinge zugleich, zwei Seiten ein und derselben Medaille. Spinozas Revolution war fest im Mittelalter verankert.

Spinozas Revolution Baruch/Bento/Benedict Spinoza (1632–1677) wurde in die portugiesisch-­ jüdische Gemeinde Amsterdams hineingeboren. Deren von der Iberischen Halbinsel exilierten Mitglieder waren in der überwiegenden Zahl Nachkommen christlicher Konvertiten, die zum Judentum zurückgekehrt waren. Im Anschluss an die Pogrome in weiten Teilen Spaniens im Jahr 1391 waren viele Juden aus freien Stücken oder unter Zwang zum Christentum übergetreten. Im 15.  Jahrhundert praktizierte ein Teil  dieser conversos weiterhin heimlich jüdische Gebräuche, ihre Zahl ist unter den Historikern umstritten. Die Furcht vor diesen abfällig marranos genannten »Judaisierern« führte ab 1478 zur Errichtung der Inquisition und mündete schließlich 1492 in die Vertreibung der spanischen Juden. Viele von ihnen übersiedelten nach Portugal, wo 38

sie 1497 wiederum zur Konversion gezwungen wurden. Weil die Inquisition in Portugal erst 1536 begründet wurde, wird angenommen, dass ein maßgeblicher Teil der 1497 zum Übertritt Gezwungenen als Kryptojuden heimlich die jüdische Religion weiter praktizierte. Ihr Selbstverständnis war natürlich ein hybrides: nach außen hin christlich, in der privaten Sphäre quasi­ jüdisch. Doch ihr Judentum besaß, da im Geheimen praktiziert, eine besondere Ausprägung. Als dann viele in Länder flohen, in denen sie das Judentum offen ausüben konnten, mussten sie sich mit dem Widerspruch zwischen ihrem Kryptojudaismus und der rabbinischen Religion der jeweiligen Gemeinden, wie in Amsterdam und Hamburg, in Italien und im Osmanischen Reich, auseinandersetzen. Die Literatur zu den durch diesen Widerspruch hervorgerufenen Verwerfungen ist mannigfaltig.17 Es wird zum Beispiel angenommen, dass der in den 1660er Jahren aufgetretene Sabbatianismus viele Marranen anzog, zum einen weil diese messianische Bewegung die Erlösung von allen Widersprüchen in Aussicht stellte, zum anderen weil die Erfahrung des Schabbtai Zvi nach seiner Konversion zum Islam ihre eigene widerzuspiegeln schien. Wie ein ehemaliger Marrane es ausdrückte: »Es ist bestimmt, dass der Messias, wie ich, ein Marrane wird«. Mit ihrer abgeschwächten, fließenden Zugehörigkeit zu Judentum und Christentum zugleich fiel es manchen ehemaligen conversos nach ihrer Rückkehr zum Judentum ebenso schwer, ihre neue Religion zu akzeptieren, wie es ihnen vorher schwergefallen war, das Christentum zu akzeptieren. Dies wiederum veranlasste einige wenige, diese beiden Religionen zugunsten einer neuen – der Religion der Vernunft – abzulegen oder sich für die Religions­losigkeit zu entscheiden. Die Gemeindebehörden der portugiesischen »Nation«, als die sich diese Juden bezeichneten, waren besorgt, die zum Judentum zurückgekehrten conversos könnten nach wie vor von heterodoxen Ideen infiziert sein, und drohten einer Reihe von echten oder vermeintlichen Renegaten Bannbriefe an beziehungsweise erließen diese tatsächlich. Freilich gab es nicht viele derartige Fälle; die meisten ehemaligen Marranen schlossen sich entweder dem orthodoxen rabbinischen Judentum an oder kehrten zum Christentum zurück. Doch die vereinzelten uns bekannten Fälle waren zu ihrer Zeit spektakulär und hatten einen Jahrhunderte währenden, tiefen Nachhall. Drei von ihnen hinterließen besonders nachhaltige Spuren: Uriel (ursprünglich Gabriel) da Costa, Juan (nach seiner Rückkehr zum Judaismus: Daniel) de Prado sowie Baruch oder Bento (später Benedict) Spinoza. Wenden wir uns zuerst Prado (1612–1669) zu, der in Spanien als Christ geboren wurde, jedoch aktiv die Judaisierung betrieb, das heißt andere zum Krypto­ judaismus zu bekehren versuchte. Nach seiner Flucht nach Amsterdam 1655 wurde er nahezu unverzüglich von der jüdischen Gemeinde exkommuniziert, 39

weil er grundlegende jüdische Glaubenssätze wie die Wiederauferstehung der Toten leugnete. Es wird angenommen, dass er noch in seiner spanischen Zeit zu der Überzeugung gelangt war, alle Religionen hätten gleichermaßen Zugang zur Wahrheit. In Amsterdam vertrat er schließlich die Auffassung, dass allein die Vernunft zur Wahrheit führe und alle Religionen gleich wertlos seien. Wie genau Prado diese häretischen Ideen aufrecht­erhielt, während er sich in Spanien darum bemühte, conversos zum Judaismus zu bekehren, bleibt ein Rätsel, das sich wohl am ehesten mit seiner inneren Zerrissenheit erklären lässt. Jedenfalls war er nicht bereit, sich mit seiner Exkommunizierung in Amsterdam abzufinden, und verlangte, man möge ihm trotz seiner heterodoxen Ideen weiterhin die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinde gestatten. Wie Yirmiyahu Yovel hervorgehoben hat, war Prado damit der erste säkulare Jude.18 Die Zugehörigkeit zur »hebräischen Nation«, wollte er wohl damit sagen, bedürfe eines nichtreligiösen Glaubens oder der religiösen Praxis. Spinoza scheint Prado nahegestanden zu haben. Er wurde 1656, ein Jahr nach diesem, wegen nicht näher genannter verwerflicher Überzeugungen exkommuniziert. Den Rest seines Lebens verbrachte er mit seinem Broterwerb als Brillenschleifer, dem Verfassen philosophischer Werke und intensivem Schriftwechsel mit einer Reihe von Gelehrten einschließlich einer Gruppe treuer Anhänger. Um eine andere Gemeindezugehörigkeit bemühte er sich nicht, und vielleicht wäre er angesichts seines konsequenten Individualismus der erste Mensch der Moderne zu nennen. Wahrscheinlich wäre Spinoza jedoch verwundert gewesen, sich als »erster säkularer Jude« bezeichnet zu wissen. Wie in mehreren wissenschaftlichen Arbeiten aus der jüngeren Zeit festgestellt worden ist, war er bestrebt, alle partikularistischen Verbindungen aufzulösen und für sich als Philosophen ein universales Selbstverständnis zu schaffen. Nach Auffassung von Rebecca Goldstein war Spinozas Ethik, sein posthum veröffentlichtes philosophisches Hauptwerk, ein Versuch, die Identitätsprobleme zu lösen, mit denen sich die ehemaligen portugiesischen Marranen in Amsterdam auseinandersetzten.19 Zwischen Christentum und Judentum hin- und hergerissen, trat Spinoza weder für eine der beiden Religionen noch für ihre Synthese ein, sondern für etwas weit Radikaleres, das Goldstein, Thomas Nagel folgend, »die Sicht von nirgendwo« nennt.20 Indem er alle partiellen oder partikularen Identitäten als falsch entlarvte, glaubte Spinoza, dass nur eine universale, auf einem unendlichen Gott basierende Identität philosophisch haltbar sei. Andererseits, so Willi Goetschel, mag auch die Behauptung nicht zutreffen, Spinoza habe sich dem Partikularen und Universalen auf binäre Weise entgegengestellt.21 Da kein beschränkter menschlicher Verstand imstande sei, den unendlichen Geist Gottes zu erfassen, und da unser Verstand immer 40

mit unserem individuellen Körper verbunden sei, könne die »Sicht von nirgendwo« nur ein theoretisches Konstrukt sein. Ganz gleich, wie sehr wir uns auch mühten, unsere Partikularität zu überwinden, wir könnten ihr nicht mehr entfliehen als unserer Körperlichkeit. Wir betrachten das Universale immer durch das Prisma des Partikularen. Goldsteins These, der zufolge Spinozas Streben nach universaler Sinngebung aus seinem eigenen Ringen um Zugehörigkeit im Amsterdam des 17. Jahrhunderts erwachsen sei, mag zutreffen, auch wenn Spinoza selbst eine solche historische Erklärung vermutlich als »Verrat« an seiner Philosophie zurückgewiesen hätte. Wenn dem so ist, dann hat sie zu Recht einen der partikularistischen Aspekte des jüdischen Universalismus herausgearbeitet: Dieser Universalismus entsteht aus dem Wunsch, den Partikularismus des jüdischen Selbstverständnisses zu überwinden, doch in ihm verbleibt immer ein Rest dessen, was er zu überwinden strebt. In der Tat scheint die Vehemenz, mit der manche säkulare Juden den Judaismus zurückweisen, um sich einen abstrakten Universalismus zu eigen zu machen, eine Besonderheit  – wenn nicht gar Einzigartigkeit – des Judentums zu sein, und Spinoza ist das erste bedeutende Beispiel dafür. In seiner Fixierung auf die Gottesfrage entfernte sich Spinoza von der rabbinischen Überlieferung, blieb jedoch auch dann der mittelalterlichen Philosophie fest verhaftet, wenn er in die Moderne vorauswies. Anhand der von ihm übernommenen mittelalterlichen Vorstellung von der »Substanz« wies Spinoza nach, dass Gott und Universum äquivalent sein müssten. Seine Beweisführung soll hier nur kurz zusammengefasst werden: Es kann nur eine Substanz geben, und die ist Gott.22 Diese Substanz ist unendlich und absolut. Alle endlichen Daseinsformen leiten sich von ihr ab und sind in ihr enthalten, doch ihre Existenz ist lediglich vorübergehend oder zufällig. Die absolut unendliche Substanz hat zwei uns bekannte Attribute (wenngleich es auch andere geben mag): Denken und Ausdehnung (Raum). Da nichts außerhalb dieser unendlichen Substanz existieren kann, müssen alle Gedanken und alle physischen Wesen Teil von ihr sein. Das Universum ist daher ein Äquivalent Gottes, oder, in Spinozas berühmtem lateinischen Diktum: Deus sive natura (Gott oder Natur). Die Begriffe Gott und Natur sind gegeneinander austauschbar. Spinozas Ethik enthält eine »Anmerkung«, in der er sich gegen all jene wendet, die Gott zu anthropomorphisieren versuchen: »Manche stellen sich vor, Gott bestehe, wie der Mensch, aus Körper und Geist und sei den Leidenschaften unterworfen; aber wie weit diese von der richtigen Erkenntnis Gottes entfernt sind, ergibt sich zur Genüge aus dem schon Bewiesenen.«23 Hätte Gott einen Körper, wäre er gezwungenermaßen begrenzt, gleichgültig, wie groß seine Gliedmaßen wären, und dies stünde im Widerspruch zu seiner 41

Unendlichkeit. Gottes Körper – das Universum – ist von anderer Art als die begrenzten Körper, denen wir in der Welt begegnen. An einer späteren Stelle widerspricht Spinoza vehement der Auffassung derjenigen, die meinen, wenn Gott Geist und Wille zugeschrieben würden, dann müssten diese Eigenschaften dem menschlichen Geist und Willen ähnlich sein: »Denn der Verstand und Wille, welche das Wesen Gottes ausmachten, müssten von unserem Verstande und Willen himmelweit verschieden sein, und könnten nur dem Namen nach sich gleich sein, nicht anders nämlich, als der Hund, das himmlische Sternbild, und der Hund, das bellende Tier, sich gleich sind.«24

Wenn wir den Begriff »Geist« in Bezug auf Gott verwenden, so ist er nur eine Metapher, ebenso wie wir das Sternbild, das uns einem Hund zu ähneln scheint, entsprechend benennen. Obgleich Spinozas Gott von dem des Maimonides recht verschieden ist, liegen diese Argumente voll und ganz in der Tradition des Letzteren: Es ist unangemessen, Gott menschliche Eigenschaften zuzuschreiben, da Gott und die Menschen im wahrsten Sinne des Wortes inkommensurabel sind. Es ist daher wahrscheinlich, dass Maimonides und seine Schüler  – insbesondere Levi ben Gerschon und Moses Narboni – die bedeutendsten mittelalterlichen Philosophen waren, mit denen sich Spinoza geistig auseinandersetzte.25 Man könnte sagen, dass Spinoza, die göttlichen Handlungsattribute von Maimonides übernehmend, die These aufstellte, diese Attribute machten alles aus, was Gott umfasst. Es gibt keine Substanz außerhalb ihrer, keine Transzendenz jenseits ihrer Immanenz. Gott ist das Universum – und nichts weiter. Man könnte auch sagen, dass der transzendente Gott so abstrakt wurde, dass er nicht mehr erfassbar war, damit der Sicht entschwand und nur das Universum zurückließ. Mit Spinoza brach Maimonides’ negative Theologie in sich selbst zusammen und verwandelte sich in ihr Gegenteil: Radikale Transzendenz zeugte pure Immanenz. Diese radikale »Entmenschlichung« Gottes führt Spinoza zu Ansichten, die bei Generationen von Lesern Unbehagen hervorgerufen haben. Denn im letzten Teil der Ethik heißt es: »Gott kennt keine Leidenschaften und wird durch keinen Affekt der Lust oder Unlust erregt. […] Eigentlich gesprochen, liebt und hasst Gott niemanden […].«26 Und in der Folge: »Wer Gott liebt, kann nicht danach streben, dass Gott ihn wieder liebt.«27 Die geistige Liebe Gottes, die uns Spinoza lehrt, muss notgedrungen unerwidert bleiben, denn der so Geliebte ist nicht wie ein liebender Mensch. Man kann und muss die Natur lieben, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Da nichts außerhalb der einen Substanz zu existieren vermag, kann keine Rede davon sein, dass Gott aus seinem eigenen freien Willen auf die Welt 42

einwirkt. Vielmehr sind die Gesetze des Universums selbst die Handlungen Gottes, und als Gesetze sind diese Handlungen notwendig und vorbestimmt.28 Da Gott Natur ist, sind die einzigen Gesetze, die er geben kann, die Naturgesetze. (Da Spinoza leugnete, dass Gott einen Willen habe, konnte dieser nichts wirklich »geben«.) So kann die Offenbarung am Berg Sinai nicht göttlich gewesen sein. Der Unterschied zwischen den Naturgesetzen und den biblischen Gesetzen liegt in der Notwendigkeit Ersterer und der Kontingenz Letzterer: Ein biblisches Gesetz kann überschritten werden, ein Naturgesetz nicht. So kann Gottes an Adam und Eva gerichtetes Verbot, von der Frucht des Baumes der Erkenntnis zu essen, kein wirkliches Gesetz gewesen sein, denn wenn dem so wäre, hätten Adam und Eva nicht dagegen verstoßen können, wie sie auch das Gesetz der Schwerkraft nicht hätten durchbrechen können.29 Mit seiner Sicht auf die Natur war Spinoza wohl der »deterministischste« Philosoph seit Aristoteles, »deterministischer« noch als Aristoteles selbst, dessen philosophisches System Zufälle oder Kontingenzen zuließ. Die Philosophen des Mittelalters hatten lange und intensiv über Gottes Machtattribute debattiert und über die Frage, ob er die Gesetze der Physik, der Mathematik oder der Logik außer Kraft setzen könne – also die Sonne zum Stillstand bringen, zwei und zwei fünf sein lassen oder den Satz vom ausgeschlossenen Dritten (der besagt, dass eine Aussage entweder richtig oder falsch sein muss) aufheben könne.30 Während der Glaube an biblische Wunder voraussetzte, dass Gott Wunder bewirken kann, galt die Aufhebung der Gesetze von Mathematik und Logik gemeinhin als nicht möglich. Doch sogar Wunder, welche die Aufhebung physikalischer Gesetze erforderten, erschienen vielen Philosophen als problematisch, und manche von ihnen, wie zum Beispiel Maimonides, vertraten die Auffassung, Gott hebe die Naturgesetze nicht auf, sondern nehme Wunder aus der »Sphäre des Möglichen« heraus. Der Wunsch, biblische Wunder naturalistisch zu erklären, war also keine völlig neue Erscheinung in der Neuzeit. Doch Spinozas Ansatz war radikal. Nicht nur die Naturgesetze seien unveränderlich, alles, was in der Natur geschehe, geschehe aus Notwendigkeit und ohne äußeren Anlass. Ein Ereignis innerhalb der Natur als Wunder zu bezeichnen komme dem Eingeständnis gleich, dass man seinen immanenten Grund nicht kenne. Er bringt dies folgendermaßen zum Ausdruck: »Geschähe daher etwas in der Natur, was aus ihren Gesetzen nicht folgte, so müsste es der Ordnung, die Gott in Ewigkeit durch die allgemeinen Naturgesetze für diese festgesetzt hat, widersprechen und würde deshalb gegen die Natur und ihre Gesetze sein, und wollte man daran glauben, so würde es uns an Allem zweifeln machen und zu dem Atheismus führen.«31 43

Wunder beweisen also nicht die Existenz Gottes, sondern untergraben sie! Die wahren Atheisten sind jene, welche die Geschichten der Bibel für wahr halten, und nicht die Wissenschaftler, die naturalistische Erklärungen für sie liefern. Dass die Bibel sich in solchen Wundergeschichten ergeht, ist nur einer der Beweise dafür, dass sie nicht von einem Philosophen, sondern von einem Propheten, der die ungebildete Sprache seiner Zuhörerschaft sprach, verfasst wurde. Spinozas radikale philosophische Werke begannen erst gegen Ende seines relativ kurzen Lebens im Druck zu erscheinen. Seine Ethik erschien posthum. Die Theologisch-politische Abhandlung kam 1670 heraus, ganze 14 Jahre nach Spinozas Ausschluss aus der portugiesischen Synagogengemeinde, sodass wir nicht mit Sicherheit wissen können, welche »verwerflichen Häresien er praktizierte und lehrte«.32 Vertrat er bereits im Alter von 23 Jahren die Ansichten, die Generationen von Lesern entrüsten sollten, ganz zu schweigen von jenen, die nie ein Werk Spinozas auch nur aufgeschlagen hätten? Wie Steven Handler aufgezeigt hat, war der cherem (Bann) gegen Spinoza in der Wucht und Strenge seiner Sprache beispiellos: Er galt zeitlich unbegrenzt, was ungewöhnlich war. Nadler argumentiert stichhaltig, Spinoza habe wie sein häretischer Vorgänger Uriel da Costa die Unsterblichkeit der Seele angezweifelt und damit die Möglichkeit der Erlösung infrage gestellt, vor allem für jene Marranen, die den Judaismus aufgegeben hatten. Da viele Mitglieder der Amsterdamer Gemeinde noch Angehörige in Spanien und Portugal hatten, die im Gegensatz zu ihnen nicht zum Judentum zurückgekehrt waren, wäre es nachvollziehbar, dass die Vorstellung, ihren Verwandten würde in der künftigen Welt die Erlösung versagt bleiben, ihre Feindseligkeit gegenüber Spinoza hervorrief. Ob dies nun der Grund für den grausamen cherem gewesen war oder nicht, Spinozas Einstellung zur Unsterblichkeit der Seele blieb vage. So lautet seine einzige explizite Bemerkung zum Leben nach dem Tod in der Ethik: »Der menschliche Geist kann mit dem Körper nicht absolut vernichtet werden, sondern es bleibt etwas von ihm übrig, das ewig ist.«33 Diese Passage ist nach wie vor Gegenstand lebhafter Debatten, wobei manche Autoren behaupten, Spinoza habe an die persönliche Unsterblichkeit geglaubt, während andere sie als Beweis dafür sehen, dass der Geist nach dem Tod mit dem Geist Gottes wieder eins werde.34 In letzterem Fall verliere der vom Körper los­ gelöste Geist seine Individualität. Wenn dies Spinozas Auffassung war, dann entspräche sie erstaunlicherweise der mittelalterlichen Tradition, inbesondere jener von Levi ben Gerschon (Gersonides, 1288–1344). Aus dessen Sicht liegt die Unsterblichkeit der Seele in der Kongruenz zwischen dem »erworbenen Intellekt« (das heißt dem vom Verstand erworbenen Wissen) und dem 44

»aktiven Intellekt« (den ewiggültigen Wahrheiten Gottes).35 Insofern als sich der Inhalt des Verstandes mit dem aktiven Intellekt vereinige, werde man unsterblich, doch dies ist eine Form der Unsterblichkeit, die unpersönlich wäre, und in diesem Sinne wäre sie Spinozas These ähnlich. Aus dieser Zusammenfassung der Ansichten Spinozas werden rasch mehrere Aspekte deutlich. Erstens war Spinoza ein radikaler Monotheist – in der Tat so radikal, dass der einzige Gott und die Welt bei ihm äquivalent sind. Zweitens war er kein Atheist, wenn man unter Atheismus die Leugnung der Existenz Gottes versteht. Auch wenn wir mit Yirmiyahu Yovel einräumen, dass Spinoza ein »Marrane des Verstandes« war und seine Formulierungen verschlüsselte, um seine wahren Ansichten zu verschleiern,36 müssen wir doch betonen, dass er sich mit gutem Grund an die Sprache der Theologie gehalten hat. Obgleich sein Gott nicht von außen auf die Welt einwirkt, führt Spinozas immanente Philosophie seiner Auffassung nach auf sichererem Wege zur »Liebe Gottes« als jede traditionelle Doktrin. Wie unorthodox seine Philosophie auch war, so war sie doch, um den romantischen Dichter Novalis zu zitieren, »gotttrunken«. Indem er die intellektuelle Liebe Gottes lehrte, übertrug er die traditionellste aller jüdischen Tugenden, ­ahavat­ ha-schem (die Liebe Gottes), ins Philosophische. Er lehnte sich gegen den jüdischen Gott auf, näherte sich jedoch letztlich wieder seinen Ursprüngen. Ungeachtet seines radikalen Bruchs mit der Vergangenheit und der häretischen Ablehnung der jüdischen Tradition lässt sich Spinoza ohne Bezug auf diese Tradition nicht verstehen: Er war der erste säkulare Jude und zugleich der letzte mittelalterliche Häretiker. Wie es Harry Wolfson so treffend zum Ausdruck gebracht hat: »Was Benedictus gesagt hat, können wir nicht voll begreifen, ohne zu wissen, was Baruch durch den Kopf gegangen ist.«37

Maimonides’ Stiefsohn Die europäische Aufklärung behandelte Spinoza im Allgemeinen, mit den Worten des Historikers Jonathan Israel, »als philosophischen Buhmann par excellence im Europa der frühen Aufklärung«.38 Zum Beispiel etikettierte der französische Skeptiker Pierre Bayle (1647–1706) Spinoza als Atheisten und verurteilte seinen Pantheismus, gleichzeitig leistete er aber einen großen Beitrag dazu, seine Philosophie über den kleinen Kreis der freidenkerischen Anhänger Spinozas hinaus bekannt zu machen. Auch die deutsche Aufklärung war mit Spinoza gut vertraut. 1785 wurde die philosophische Welt von dem sogenannten Pantheismusstreit erschüttert, in dem der 45

Aufklärungskritiker Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) den Philosophen Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) posthum bezichtigte, er hänge Spinozas Pantheismus an.39 Der deutsch-jüdische Philosoph Moses Mendelssohn (1729–1786) sprang seinem Freund Lessing bei. Pantheismus galt in diesem intellektuellen Milieu als Schimpfwort, und Spinozas vermeintliche Verbindung mit dieser Weltsicht machte ihn vielen äußerst suspekt. Obgleich Mendelssohns Philosophie nach eigener Aussage Spinoza verpflichtet war, vertrat er, Spinozas Zeitgenossen Gottfried Wilhelm Leibniz folgend, mit Nachdruck die These, dass es mehr als eine »Substanz« gebe und daher Gott und die Welt nicht ein und dasselbe seien. Trotz seines Ausschlusses aus der sephardischen Gemeinde von Amsterdam war Spinoza in der nichtjüdischen Welt eine skandalösere Figur als in der jüdischen. Für die Juden jedoch, die sich der Aufklärung zuwandten, führte der Weg zu ihr über Spinoza und dessen mittelalterliche Vordenker ebenso wie über Voltaire und Kant. Wenn es auch der allgemeine Zeitgeist war, der als Katalysator für ihre Auflehnung gegen die religiöse Tradition diente, bedienten sie sich in ihrem säkularistischen Streben oft jüdischer Quellen. Sind die ersten Keime des Säkularismus in der sephardischen Diaspora zu suchen, so war es in Aschkenas, in der Gemeinschaft der Juden in der Mitte und im Osten Europas, wo sie Wurzeln schlugen. Es ist historisch unumstritten, dass der Eintritt der aschkenasischen Juden in die Moderne im Berlin der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anzusetzen ist. Damals lebten die Juden in Deutschland generell in ärmlichen Verhältnissen  – nicht weniger als 10 Prozent, mancherorts sogar 25 Prozent, von ihnen fristeten ihre Existenz als sogenannte Wander- und Betteljuden.40 In diesem düsteren Gesamtbild war Berlin eine Ausnahme. Die circa 3 500 dort ansässigen Juden stellten eine weitaus kleinere urbane Population dar als die jüdischen Gemeinden in Hamburg oder Frankfurt am Main. Wegen der in Berlin geltenden strengen Niederlassungsgesetze gehörten die meisten Juden entweder einem Dutzend sehr wohlhabender Kaufmannsfamilien an oder waren, oft im Dienst jener Familien, erwerbstätig. Der Siebenjährige Krieg (1756–1763) hatte den ungeheuren Reichtum hervorgebracht, der diese wenigen Familien zu Mäzenen solcher der Aufklärung zugewandten jüdischen Gelehrten wie Moses Mendelssohn machte.41 Der neu erworbene Wohlstand ermöglichte den Berliner Juden auch, sich auf dem Weg der Aneignung von Elementen der deutschen und der allgemeinen europäischen Kultur zu akkulturieren. In der Tat hat Mendelssohn selbst als vorbildliches Beispiel für diese Akkulturation zu gelten. Sie trug ihm die Bewunderung deutscher Philosophen wie zum Beispiel Lessing ein, mit dem ihn eine enge Freundschaft verband. Mit dieser neuen gesellschaftlichen Realität ging die Schwächung der rabbinischen 46

und traditionellen Autorität einher, was wiederum zu dem führte, was (wohl mit einiger Übertreibung) als »Epidemie« von Konversionen zum Christentum bezeichnet worden ist. Freilich machten sich diese Tendenzen im Berlin der Zeit nach dem Siebenjährigen Krieg nicht mit einem Schlag bemerkbar. Wie die Historiker Asriel Schochat und Shmuel Feiner belegt haben, waren Akkulturation, Materialismus und Missachtung der rabbinischen Autorität bereits in dem der Haskala, der jüdischen Aufklärung, vorausgegangenen halben Jahrhundert zu finden.42 In Berlin jedoch verdichteten sich diese Entwicklungstendenzen zu einem explosiven Gemisch, das die Haskala, die jüdischen Salons, das Reformjudentum und den Abfall vom Glauben hervorbrachte. Zu dieser regen, geistig lebhaften Gesellschaft versuchte in den späten 1770er Jahren ein ungehobelter litauischer Jude Zugang zu gewinnen. Sich ursprünglich Schlomo ben Joschua nennend, bald als Salomon Maimon ­(1754–1800) bekannt, wurde dieser »Ostjude« am Rosenthaler Tor, der einzigen Juden gestatteten Einzugspforte nach Berlin, zurückgewiesen. Die von ihm dort vorgetragene Absicht, einen gelehrten philosophischen Kommentar zu Maimonides’ Führer der Unschlüssigen zu verfassen, machte auf die jüdischen Torsteher keinen Eindruck; sie waren nur an solchen Neuankömmlingen interessiert, welche die Ausübung einträglicherer Berufe anstrebten. Nach einigen Jahren in Posen kehrte Maimon 1781 oder 1782 nach Berlin zurück. Diesmal wurde ihm der Zuzug gestattet, und bald machte er auf Mendelssohn und dessen Kreis einen brillanten Eindruck. Innerhalb weniger Jahre jedoch hatte er dieses Wohlwollen verspielt, sowohl wegen seines liederlichen Lebenswandels (es heißt, er habe ebenso viel Zeit in Kneipen verbracht wie in philosophischen Salons) als auch wegen seiner radikalen Ideen, etwa seiner Befürwortung der Philosophie Spinozas und seiner stolzen Feststellung, er sei ein »werdender Freidenker«.43 Rückblickend erscheint er, mit den Worten Ruth Gays, als Mendelssohns »dunkler Zwilling«.44 Während der durch einen Buckel missgestaltete Mendelssohn seines edlen Geistes wegen angesehen war, vermochte Maimon trotz seiner intellektuellen Leistungen keine solchen Lorbeeren zu ernten. Den Rest seines Lebens verbrachte er zum einen damit, brillante philosophische Schriften zu verfassen, einschließlich eines Kommentars zu Kant, der den großen Königsberger Philosophen zu dem Lob veranlasste, Maimon verstehe ihn besser als jeder anderer seiner Kritiker; zum anderen wusste Maimon reihenweise seine Mäzene zu verärgern. Maimon ist für unsere Zwecke von zweifacher Bedeutung. Zum einen war er, im Gegensatz zu vielen Gelehrten, auf die er in Berlin traf, wahrhaftig ein Radikaler, ein Säkularist nach dem Muster Spinozas, und in der Tat sind seine Ideen von Gott eine Art extreme spinozistische Deutung des Gedankengutes 47

von Maimonides. Die Vertreter der Berliner Haskala, allen voran Mendelssohn, waren zunächst in ihren Ansichten recht moderat. Sie plädierten für eine Religion der Vernunft, die nicht im Widerspruch zur überlieferten jüdischen Glaubenspraxis stand. Später traten sie, wenn auch in einem nach wie vor religiösen Kontext, für weitreichende Reformen ein. Man könnte sogar behaupten, das Fehlen einer wahren säkularen Alternative sei einer der Gründe dafür gewesen, warum viele Berliner Juden bis 1830 zum Christentum konvertierten. Maimons Häresie bezog sich nicht nur auf die damalige Orthodoxie, sondern auch auf die gemäßigte Haskala. In seinem Gedankengut wie in seiner Lebensführung skandalträchtig, war Maimon wie da Prado und Spinoza ein säkularer Jude, der seiner Zeit voraus war. Zum anderen schrieb Maimon seine Lebensgeschichte, die vielfach als die erste von einem Juden verfasste moderne Autobiografie gilt. Sie legte gewissermaßen die Konventionen dieses Genres fest, zumindest für diejenigen, die wie er der osteuropäischen Gelehrsamkeit entstammten. Maimons Lebens­ geschichte war mit ihrem Erscheinen 1792 eine Sensation, ein Sinnbild dafür, wie sich aus den Tiefen des Aberglaubens und der Ignoranz die Leiter zur Aufklärung erklimmen ließ. Noch dramatischer war der Umstand, dass es ein für den düstersten mittelalterlichen Obskurantismus emblematischer Jude war, der diesen Aufstieg zu bewältigen suchte. Wie Abraham Socher in seiner brillanten Analyse der Lebensgeschichte und ihres Zusammenhangs mit Maimons philosophischen Schriften zeigt, hat Maimon sich in seinem Werk auf raffinierte Weise selbst erfunden.45 Obgleich Personen, die ihn kannten, einzelne Aspekte seiner Selbstdarstellung bestätigt haben,46 sollte die Biografie dennoch nicht völlig für bare Münze genommen werden, sondern eher als Indiz dafür, wie dieser litauische talmid chacham (Talmud-Schüler) sich selbst – und sein Werk – einem deutschen Publikum verkaufen wollte. Wie Socher scharfsinnig hervorhebt, blieb Maimon der Kultur, die er zu verachten vorgab, auf mannigfaltige Weise verhaftet. Er nutzte sie als Sprungbrett zur Aufklärung. Seine Philosophie war tief in der Textualität der litauischen Jeschiwa-Tradition wie auch der philosophischen Tradition der Sepharden verwurzelt. Dass er mit Maimon den Namen von Maimonides’ Vater annahm, also eine Art umgekehrte Adoption vollzog, ist höchst vielsagend: Nachdem er seinen eigenen, aschkenasischen Vater sowohl physisch als auch im Namen verlassen hatte, wählte er sich als intellektuellen Vater keine Gestalt der westlichen Philosophie, sondern den größten sephardischen Philosophen. Einige Jahre nach Ausbruch des Pantheismusstreits leistete Maimon einen wichtigen Beitrag zu dieser Kontroverse. Er stellte nämlich fest, dass Spinozas Gott keineswegs auf die Welt reduziert sei, sondern sich eigentlich die 48

Welt einverleibt habe. Mit anderen Worten sei Spinoza kein Atheist gewesen, denn er habe nicht die Existenz Gottes, sondern die Existenz der Welt geleugnet. Diese von Maimon als »akosmisch« bezeichnete Weltsicht sei der diametrale Gegensatz zum Atheismus.47 Für den Atheisten sei die Einheit (d. i. Gott) imaginär und nur die Mannigfaltigkeit der Welt real; für Spinoza sei die Einheit real und die Mannigfaltigkeit (der Welt) imaginär. Maimon verglich auf überzeugende Weise Spinozas Position mit der Vorstellung der Kabbala, Gott habe die Welt erschaffen, indem er sich in sich selbst zurückgezogen habe, um einen leeren Raum zu schaffen.48 Dass Spinoza von der Kabbala tief beeinflusst war, ist höchst unwahrscheinlich, aber in beiden Denkrichtungen ist die wahre Realität in Gott und nicht in der Welt. Zum Teil findet sich hier auch ein Nachhall der Gnostik, jener spätantiken Philosophie, welche die Erlösung nicht in einer als böse empfundenen Welt, sondern in einem verborgenen Gott suchte. Wie Spinoza war auch Maimon kein Atheist, zumindest nicht in dem sehr spezifischen Sinn, den diese Diskussion nahelegt.49 Wie Spinoza, und entgegen den Protagonisten des Pantheismusstreits, vertrat er die Auffassung, dass es nur eine Substanz gebe. Doch ebenso wie Spinoza lehnte er den bi­ blischen Gott zugunsten eines abstrakten, philosophischen Gottes ab, dessen Wurzeln in der Lehre Maimonides’ lagen. In der Tat enthält seine Autobiografie eine ausführliche Diskussion von Maimonides’ Philosophie. Fälschlicherweise ist diese in den meisten Übersetzungen als irrelevanter Exkurs ausgelassen worden. Ganz im Gegenteil ist es für das Verständnis seiner Lebensgeschichte aber wesentlich, in welchem Ausmaß er Maimonides philosophisch verpflichtet war. Anhand eines klassischen maimonidischen Arguments behauptete M ­ aimon, die Aussage »Gott existiert« sei nicht sinnvoller als die Aussage »Gott existiert nicht«. In dieser Welt verstünden wir unter Existenz etwas, das zu existieren aufhören könne oder werde. Eine solche Bedeutung sei auf Gott nicht anwendbar; es handele sich dabei um einen kategorischen Irrtum wie bei der Aussage »Die Wand sieht nicht« (ein Maimonides entnommenes Beispiel). Die Existenz Gottes entziehe sich jeder rationalen Beweisführung, weil der schiere Begriff der Existenz Gott nicht zugeschrieben werden könne. Da sowohl der Glaube als auch der Nichtglaube an Gottes Existenz sich selbst widersprächen, könne der Philosoph kein Atheist sein.50 Doch aus demselben Grund könne er kein gläubiger Mensch sein, zumindest nicht im traditionellen Wortsinn. Maimons Gott ist die Idee der Vollkommenheit, die Summe aller Vollkommenheiten, die, wie Socher gezeigt hat, die mittelalterliche Idee von der »Vollkommenheit der Seele« (schelemut ha-nefesch) ist. Anders – und in Maimonides’ Sprache – gesagt: Gott repräsentiert die Einheit des Denkens 49

und des Gedachten. Unser Verständnis kann nie mit dem Gottes identisch sein, doch wir können mittels der Mathematik erfassen, was es bedeutet, unser Denken mit dem Gedachten zu vereinen. Wenn wir an drei Geraden denken, deren Endpunkte aufeinanderstoßen, sodass die Summe ihrer Winkel 180 Grad beträgt, sind unser Gedanke und das von uns gedanklich konstruierte Dreieck ein und dasselbe. Wenn also der Gedanke in diesem Sinne konstruktiv ist, ähnelt er in begrenzter Weise dem Gedanken Gottes. Auf diese Weise nähern wir uns asymptotisch dem unendlichen Geist Gottes, ohne ihn je erreichen zu können  – einem Geist, der nicht im irdischen Sinn existiert, sondern als regulatives Prinzip oder einschränkendes Konzept. Diese aus der Infinitesimalrechnung Leibniz’ und Newtons abgeleitete Terminologie war mit der Übertragung der jüngsten mathematischen Erkenntnisse auf das philosophische Denken eine Neuerung Maimons. Als im späten 19. Jahrhundert der jüdische Neukantianer Hermann Cohen sich der Infinitesimalrechnung als Modell für seine eigene höchst abstrakte Gottesidee als »Prinzip des Ursprungs« bediente, ließ er damit, wissentlich oder unwissentlich, Maimons Philosophie wieder aufleben.51 Insofern als diese Idee, von der modernen Mathematik abgesehen, auf Maimonides zurückgeht, lässt sich eine faszinierende theologische Spur von Maimonides über Spinoza bis zu Maimon und Cohen verfolgen. Ob nun Maimo­ nides sich selbst in diesen späteren Denkern, die alle den biblischen Gott zugunsten eines elaborierten methodologischen Prinzips leugneten, wieder­ erkennen würde oder nicht – er müsste einräumen, dass die von ihm als Erstem angeführten logischen Argumente etwas in Gang gebracht hatten, das nicht ohne Weiteres wieder ungeschehen gemacht werden konnte. In der Tat nahm Hermann Cohen gegen Ende seines Lebens seine säkulare Theologie zurück, indem er eine neue Idee postulierte: einen persönlichen Gott, in dem ein leidendes Individuum Trost finden kann.52 Diesem existenzialistischen Gott – der in gewisser Hinsicht dem Gott der Bibel ähnelt – konnte man sich nur zuwenden, wenn man fast ein Jahrtausend rationalistischer Philosophie fallen ließ. Maimons Innovation gegenüber Maimonides und Spinoza lag darin, dass er in Gott ein Konstrukt unseres Verstandes sah, eine Grenze, welcher der Verstand zustrebt. Anders als bei Maimonides ist Gott kein geheimnisvoller Anderer, der unerreichbar außerhalb unseres Selbst steht. Und anders als bei Spinoza ist Gott auch nicht einfach der Welt äquivalent. Maimons Idealismus – also die Vorstellung, dass unser Verstand die Welt konstruiert – macht aus Gott selbst ein Konstrukt des Verstandes, dessen Existenz in der äußeren Welt nicht mehr infrage steht. In diesem Sinne stellte sich Maimons idealistische Philosophie dem traditionellen Theismus sogar radikaler entgegen als die Philosophie Spinozas. 50

Ebenso radikal waren Maimons Ideen, was Wunder betrifft. Bei ihm ist, wie bei Spinoza, die Welt durch und durch rational, in dem Sinne, dass die Ordnung und Verbindung der Ideen dieselbe ist wie die Ordnung und Verbindung der Dinge. Doch besteht diese Rationalität aus der Perspektive der unendlichen Einsicht, der wir uns, wie wir nun gesehen haben, mit unserer begrenzten Einsicht annähern können, ohne sie je zu erreichen. Die Rationalität der Welt ist im Geist Gottes. Für Gott ist die Welt wie das Dreieck in dem oben angeführten Beispiel: Indem er sie denkt, konstruiert er sie. Ihre Realität ist in seinem Geist. Aus dieser Sicht ist das, was wir »Materie« nennen, ein Produkt unserer begrenzten Einsicht, da sie nur eine Möglichkeit umfasst, während Gottes Geist alle Möglichkeiten einschließt. Aus Gottes Sicht gibt es keine Materie, nur Ideen. Wenn wir also etwas sehen, das den Naturgesetzen zu widersprechen scheint, reagieren wir auf unsere begrenzte Sicht der Welt. Da wir nie alle Naturgesetze erfassen können – denn nur Gott allein ist dazu fähig  –, sind wir außerstande festzustellen, ob ein bestimmtes Ereignis als Wunder zu betrachten ist. Diese Agnostik in Bezug auf Wunder entspricht Maimons Agnostik in Bezug auf die Existenz Gottes. Damit nimmt die Frage, ob es Wunder gibt, einen rein hypothetischen Charakter an, ein brillanter Schachzug angesichts der langen Diskursgeschichte zu diesem Thema. Zum einen griff also Maimons Philosophie auf Spinoza und Maimonides zurück, zum anderen jedoch wies sie auch in die Zukunft. Sein Idealismus nahm Fichte und Hegel ebenso wie Hermann Cohen vorweg. Er behauptete, die Welt sei die Schöpfung unseres Verstandes, mit Gott als Grenzfall für diese Konstruktion. Wenn sowohl Spinoza als auch Maimon die Welt in Gott aufgehen ließen, so war ihr Säkularismus von sehr eigentümlicher Art (bedenkt man nämlich, dass die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »von dieser Welt« »irdisch« war). Bei beiden Denkern befreite sich die Philosophie von der biblischen Theologie, denn obgleich sie die Sprache des Göttlichen beibehielten, entleerten sie das Göttliche seiner theistischen Bedeutung und verwandelten es in ein Produkt des menschlichen Geistes.

Die Renaissance Spinozas Während in der deutschen Aufklärung Spinozas Name, unter Juden und Nichtjuden gleichermaßen, nur hinter vorgehaltener Hand genannt werden durfte  – ließ doch seine schiere Erwähnung im philosophischen Diskurs die Funken sprühen –, wurde der Philosoph in der Romantik für die Juden zu einer Art »Kulturikone«.53 Berthold Auerbach (1812–1882) schrieb 51

1837 einen biografischen Roman über Spinoza, der im Verlauf des Jahrhunderts höchst populär wurde (er erlebte vier Nachauflagen). Moses Hess, auf den in einem Folgekapitel genauer eingegangen wird, signierte 1837 sein erstes Werk mit den Worten »Von einem Jünger Spinoza’s«, wohl um sich von den zeitgenössischen Junghegelianern abzuheben.54 Seine Heilige Geschichte der Menschheit unterteilt die philosophische Weltgeschichte in die drei hegelianischen Stadien; er beginnt jedoch mit Moses, geht weiter zu Jesus und schließt mit Spinoza, jenem Denker, der für ihn die Moderne einläutete. Später trat die amerikanisch-jüdische Dichterin Emma Lazarus (1849–1887) der neuen Welle des Antisemitismus im 19. Jahrhundert mit einer Gegenüberstellung von Spinoza und Shylock entgegen.55 Für sie stand Spinoza für alles, was am jüdischen Volk edel sei – zweifellos eine Spiegelung ihres eigenen Säkularismus und ihrer Distanz zum institutionalisierten jüdischen Leben. Auch im östlichen Europa erfuhr Spinoza eine Renaissance. Der jüdische Maskil und spätere Zionist Moses Leib Lilienblum schildert in seiner Autobiografie, wie er zwischen dem Gott Israels und dem »Gott Spinozas« qualvoll hin- und herschwankte, bis er sich letztendlich für Spinoza entschied.56 Doch wie bei anderen angehenden Säkularisten, die eine osteuropäische Jeschiwa durchlaufen hatten, fand Lilienblum über den traditionellen jüdischen Bücherschrank zu seinen häretischen Glaubensvorstellungen. Den Angriffen des Rabbi von Wilkomir ausgesetzt, weil er einen Lesezirkel für Haskala-­ Literatur gegründet hatte, und nach Konfiszierung seiner Bücher gab Lilienblum zu, das aus dem 12. Jahrhundert stammende Werk Jehuda ha-Levis Der Kusari gelesen zu haben. Dass er auch Maimonides’ Führer der Unschlüssigen gelesen habe, leugnete er jedoch.57 Zuvor hatte er noch eingestanden, dass er sich davor scheute, mit der Lektüre des Führers auch nur zu beginnen, aus Angst, er könne so in die apikorsut (Häresie) geraten – ein Hinweis darauf, als wie häretisch Maimonides’ großes Werk damals schon galt.58 An dieser Stelle sei noch einmal betont: Sämtliche verbotenen Autoren – von Jehuda ha-Levi über Maimonides bis Spinoza – waren Sepharden, denn alle philosophischen Betrachtungen, an denen die späteren aschkenasischen religiösen Autoritäten Anstoß nahmen, waren im mittelalterlichen Spanien entstanden. Ein weiterer Bewunderer Spinozas, der auch Emma Lazarus als Inspiration diente, war Heinrich Heine (1797–1856). Heine, einer der größten deutschen Dichter, Essayisten und Kritiker der Romantik, trat 1825 zum Christentum über, bezeichnete aber, wie man weiß, seine Konversion als das Entreebillet in die europäische Gesellschaft. In dieser Hinsicht stand er stellvertretend für all die anderen deutschen Juden – zu denen auch Marx’ Vater zählte  –, die sich, nicht um des Glaubens willen, taufen ließen. Die Juden zu Heines Zeit  – ob sie nun konvertiert waren oder nicht  – hingen 52

leidenschaftlich dem deutschen Bildungsideal an. Man hat nahegelegt, nur die Juden hätten weiter an das Bildungsideal geglaubt, während die anderen Deutschen sich für den romantischen Nationalismus begeisterten. So sei eine Art deutsch-jüdische Subkultur entstanden, in der »Bildung« zu einem Substitut für Religion wurde, ein auf der deutschen Kultur beruhendes säkulares Glaubenssystem mit einem besonderen jüdischen Einschlag.59 Im Einklang mit dieser beißenden Kritik am deutschen Nationalismus war Heine einer der wichtigsten Verfechter dieses säkularen, universalistischen Ideals. Zugleich galt er als dessen idealtypische Verkörperung für die künftigen Generationen deutscher und anderer europäischer Juden. Trotz seiner Konversion verlor er nie das Interesse an jüdischen Belangen und Themen und verfasste dazu eine Reihe von Gedichten und Essays, von denen viele in subversiver Manier das Leben und die Gebräuche des Volkes im Gegensatz zur rabbinischen Führung priesen. Für kurze Zeit war er im Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden, der das historische Studium des Judentums und der jüdischen Geschichte begründete, tätig. Auch zur Rolle der Juden in der europäischen Geschichte bezog er radikal Stellung. In seinem Essay Die romantische Schule (1836) behauptete er, die Juden hätten Europa auf dreierlei Weise beeinflusst: durch ihr Leiden, über das Christentum als Produkt des Judentums und mittels jüdischer Denker wie Spinoza und Moses Mendelssohn. In ihrer Gesamtheit stellen Heines Schriften über die Juden das erste kohärente Manifest des jüdischen Säkularismus dar, und dies in einer Sprache, die bei seinen Zeitgenossen ganz offensichtlich Anklang fand.60 Der in der Epoche der Aufklärung verpönte Pantheismus war in der Romantik zu einer Religion aufgestiegen. Und Heine war einer seiner glühendsten Anhänger. In seinem Essay Zur Religion und Philosophie in Deutschland (1835) heißt es: »Der nächste Zweck aller unserer neuen Institutionen ist solchermaßen die Rehabilitation der Materie, die Wiedereinsetzung derselben in ihre Würde, ihre moralische Anerkennung, ihre religiöse Heiligung […]. […] Gott ist identisch mit der Welt. […] am herrlichsten manifestiert er sich in dem Menschen, der zugleich fühlt und denkt […]. Im Menschen kommt die Gottheit zum Selbstbewußtsein, und solches Selbst­ bewußtsein offenbart sie wieder durch den Menschen.«61

Heine mischte Spinoza eine Dosis Hegel bei: Der hier geschilderte pantheistische Gott ist der Held der Weltgeschichte, eine Kategorie, die bei Spinoza völlig fehlt. Heines Plädoyer für die materielle Welt und gegen den denaturierten Geist findet in seiner Lyrik prägnanten Ausdruck. Eine der berühmtesten Strophen seines frühen Versepos Deutschland: Ein Wintermärchen besagt: 53

»Ja, Zuckererbsen für jedermann, Sobald die Schoten platzen! Den Himmel überlassen wir Den Engeln und den Spatzen.«62

In den materiellen Bedürfnissen der Menschen – den »Zuckererbsen« – verortete Heine mithin den wahren Geist. Die Abhandlung Zur Religion und Philosophie in Deutschland enthält eine kurze Passage über Spinoza. In dieser erweist sich dieser Vordenker aus dem 17. Jahrhundert als wichtige Quelle seines Pantheismus: »Bei der Lektüre des Spinoza ergreift uns ein Gefühl wie beim Anblick der großen Natur in ihrer lebendigsten Ruhe. Ein Wald von himmelhohen Gedanken, deren blühende Wipfel in wogender Bewegung sind, während die unerschütterlichen Baumstämme in der ewigen Erde wurzeln«.63

Heine sieht in Spinoza einen Nachkommen der hebräischen Propheten, sein Leben sei »frei von allem Tadel […] rein und makellos wie das Leben seines göttlichen Vetters, Jesus Christi«. Dem folgt in wenigen Worten eine der treffendsten kurzen Zusammenfassungen der Philosophie Spinozas; sie schließt mit den Worten: »Nur Unverstand und Böswilligkeit konnten dieser Lehre das Beiwort ›atheistisch‹ bei­legen.« Maimons Interpretation aufnehmend, sieht Heine in dieser Philosophie die lauterste Affirmation Gottes. Als Heine sich am Ende seines Lebens schließlich einem idiosynkratischen, persönlichen Gott zuwandte, sinnierte er darüber, ob er in seinen früheren Schriften »den blauen Vorhang vom deutschen Himmel« gerissen habe, wo sich offenbart habe: »[…] alle Gottheiten sind entflohen, und dort oben sitzt nur noch eine alte Jungfer mit bleyernen Händen und traurigem Herzen: die Notwendigkeit«.64 Betrübt räumt er ein, dass er dies in der Tat getan habe und deswegen nun die »Mönche des Atheismus« ihre Häresie mit abscheulichem Fanatismus hinausposaunten. Der einzig verbliebene Gott sei die Notwendigkeit, Spinozas Gott. Mehr noch, diesem Gott hatte sich Heine aufgrund seiner eigenen historischen Analyse des Schicksals des jüdischen Gottes zugewandt: »Unsere Brust ist voll von entsetzlichem Mitleid – es ist der alte Jehova selbst, der sich zum Tode bereitet. Wir haben ihn so gut gekannt, von seiner Wiege an, in Ägypten, als er unter göttlichen Kälbern […] erzogen wurde – Wir haben ihn gesehen, wie er diesen Gespielen seiner Kindheit […] ade sagte und in Palästina, bei einem armen Hirtenvölkchen, ein kleiner Gottkönig wurde […]. Wir sahen ihn auswandern nach Rom, der Hauptstadt, wo er aller Nationalvorurteile entsagte […]. Wir sahen, wie er sich noch mehr vergeistigte […] wie er ein liebevoller Vater wurde, ein allgemeiner Menschenfreund […] es konnte ihm alles nichts helfen. 54

Hört ihr das Glöckchen klingeln? Kniet nieder  – Man bringt die Sakramente einem sterbenden Gott«.65

Die Geschichte des jüdischen Gottes ist demnach die des jüdischen Volkes, zumindest bis zum Aufstieg des Christentums. Mit diesem verliert er seine Verbindung zum Materiellen, wird immer vergeistigter und greisenhafter. Mit der Aufklärung hat die nun ätherische Gottheit das Ende ihres langen Daseins erreicht und ihre Rolle auf der Bühne der Geschichte ausgespielt. In einer amüsanten Version dieser »Götterdämmerung« lässt Heine Spinoza den Gnadenstoß ausführen, wie es in einem Brief an seinen Freund Moses Moser von 1823 heißt: »Oder ist er der alte Freiherr von Sinaï und Alleinherrscher Judäas ebenfalls auf­ geklärt worden und hat seine Nazionalität abgelegt, und giebt seine Ansprüche und seine Anhänger auf, zum Besten einiger vagen, kosmopolitischen Ideen? Ich fürchte der alte Herr hat den Kopf verloren, und mit Recht mag ihm le petit juif d’Amsterdam ins Ohr sagen: entre nous, Monsieur, vous n’existez pas.«66

Der »Tod« des jüdischen – und des christlichen – Gottes, den Heine am Ende seines Lebens schließlich bedauert, war demnach zum Teil das Resultat einer Entwicklung in der jüdischen Geschichte: der Philosophie Spinozas. Der Tod des jüdischen Gottes bedeutete für Heine jedoch nicht den Tod der Juden. So kritisch er in Bezug auf die zeitgenössische jüdische Lebenswelt sein konnte, so war er doch noch nicht bereit, es zu Grabe zu tragen. Ganz im Gegenteil forderte er die Regierungen Europas auf, sowohl die Juden zu emanzipieren als auch ihre Synagogen zu finanzieren, ihnen Leder für ihre tefillin (Gebetsriemen) und Mehl für ihre Mazzen bereitzustellen.67 Nicht die Taufe der Juden sollte der Staat fördern – »Das ist eitel Wasser und trocknet leicht«  –, sondern vielmehr die Beschneidung. Heine, der selbst den Weg zum Taufbecken angetreten hatte, will die jüdische Religion nicht aus konventioneller Religiosität heraus bewahren, sondern um zu zeigen, »daß es noch ein Volk Gottes giebt«. Das jüdische Volk, das er die »Schweizergarde des Deismus« nennt, steht implizit Spinozas Gott näher als dem der Rabbiner. Ebenso ironisch äußert sich Heine über andere Götter. Weder die heidnischen Götter, die sowohl in der Aufklärung als auch in der Romantik eine Renaissance feierten, noch Christus entgingen der Schärfe seiner Feder. Eines seiner amüsantesten Gedichte handelt vom Gott Apollo, der davon erzählt, wie er vor vielen Jahrhunderten aus Griechenland vertrieben worden sei und nun in Europa umherwandere.68 Eine Nonne in einem ­K loster am Rhein hat sich in ihn verliebt und flieht aus dem Kloster, um ihn zu suchen: 55

»›Habt Ihr nicht gesehn Apollo? Einen roten Mantel trägt er, Lieblich singt er, spielt die Leier, Und er ist mein holder Abgott.‹«

Ein ungepflegter Reisender, dessen Bart und Gestik ihn als Juden markieren, entgegnet ihr: »›Ob ich ihn gesehen habe? Ja, ich habe ihn gesehen Oft genug zu Amsterdam, In der deutschen Synagoge. Denn er war Vorsänger dorten, Und da hieß er Rabbi Faibisch, Was auf Hochdeutsch heißt Apollo – Doch mein Abgott ist er nicht.‹«

Mit einem Wortspiel verwandelt Heine den griechischen Gott Phoebus Apollo in einen aschkenasischen Juden namens Faibisch. Seine Mutter »handelt / Auf der Gracht mit sauern Gurken / Und mit abgelebten Hosen«. Überdies ist dieser Rabbi Faibisch kein orthodoxer Jude mehr: ›Auch ein Freigeist ist er, aß Schweinefleisch, verlor sein Amt, Und er zog herum im Lande mit geschminkten Komödianten.‹«

Auf der einen Ebene nimmt das Poem die Form des alten jüdischen Witzes an, der die erhabene Kultur des klassischen Griechenlands durch den Vergleich mit dem banalen Leben der aschkenasischen Juden in sich zusammenfallen lässt. Dabei gelingt es Heine, beide Kulturen lächerlich zu machen. Aber es gibt noch eine zweite Ebene. Das Gedicht ist auch eine Art Allegorie, in der die Vermählung des klassischen Griechenlands und des euro­ päischen Christentums durch das Auftreten der Juden irgendwie misslingt: Apollo, der Gott, wird zunächst zu einem übel beleumdeten Rabbi und dann zu einem zügellosen Freidenker. Es sind die Juden als Repräsentanten der säkularen Moderne, die diese Verbindung zerstören: Ihre Geschichte wird zum Höhepunkt in der Geschichte des Westens. Heines ikonoklastische Herangehensweise an Gott wie an die antiken Götter stand mithin explizit in der Tradition Spinozas, doch vielleicht war auch ein tieferer Einfluss der jüdischen Überlieferung am Werk. Könnte es 56

sein, dass die verhältnismäßig schwach elaborierte jüdische Theologie Heine den Freiraum für seine witzigen und ironischen Reflexionen über das Göttliche bot? Wenn die jüdische Theologie mit Maimonides’ Lehre über die negativen Attribute Gottes ihren Gipfelpunkt erreichte, dann ließ sich diese transzendente  – vielleicht gar abwesende  – Gottheit kaum von des Dichters »Menschensprache« berühren. Und vielleicht war es dieses theologische »schwarze Loch«, das eine Fülle moderner Ausdrucksformen ermöglichte, von Heines Pantheismus bis zu Sigmund Freuds unverblümtem Atheismus und Albert Einsteins wissenschaftlichem Spinozismus. Dass Sigmund Freud (1856–1939) in dieser Traditionslinie steht, wird ersichtlich aus einer kurzen Passage seines Manifestes gegen übernatürliche Religion Die Zukunft einer Illusion (1927). Im Geist des Bildungsideals plädiert er für eine »Erziehung zur Realität«, die den Menschen veranlasst, dass »er seine Erwartungen vom Jenseits abzieht und alle freigewordenen Kräfte auf das irdische Leben konzentriert […]. Dann wird er ohne Bedauern mit einem unserer Unglaubensgenossen sagen dürfen: Den Himmel überlassen wir Den Engeln und den Spatzen.«69

Wir erkennen hier sofort Heines Vers wieder. Weniger offensichtlich ist der Begriff »Unglaubensgenosse« als Wortspiel auf den (jüdischen) Glaubens­ genossen. Heine selbst hatte dieses Wort gebraucht – in Bezug auf Spinoza.70 Indem er sowohl diesen Begriff als auch das Gedicht zitiert, schafft Freud bewusst eine »Synagoge« der Ungläubigen, zu denen Spinoza, Heine und er selbst gehören. Die jüngste Forschung hat schlüssig belegt, dass sich Freud eigensinnig als Jude verstand, und zwar nicht trotz seines Atheismus, sondern, was noch mehr erstaunt, gerade seinetwegen.71 Zu Pastor Oskar Pfister, seinem christlichen Schüler, äußerte er belustigt, er frage sich, warum die Entdeckung der Psychoanalyse auf einen »völlig gottlosen Juden« habe warten müssen.72 Ganz offensichtlich schien ihm das kein Zufall zu sein; an die Wiener Loge der B’nai B’rith schrieb er, da er nicht zur »kompakten Majorität« zähle, stehe es ihm frei, eine ikonoklastische Theorie zu verfolgen.73 In Freuds Abhandlung Zukunft einer Illusion spielt das Judentum implizit eine Rolle, obgleich es nicht ausdrücklich erwähnt wird. Freud schildert darin die Ursprünge der Religion in Begriffen der kindlichen Entwicklung. Zweck der Kultur, heißt es hier wie auch in seiner provokanten Abhandlung Das Unbehagen in der Kultur (1930), sei es, den Menschen zum Triebverzicht zu zwingen und ihn so gegen die Natur, das heißt gegen seine niedrigsten Wünsche, zu verteidigen.74 Ebenso verhalte es sich schon beim Kind: 57

»Denn diese Situation ist nichts Neues, sie hat ein infantiles Vorbild, ist eigentlich nur die Fortsetzung des früheren, denn in solcher Hilflosigkeit hatte man sich schon einmal befunden, als kleines Kind einem Elternpaar gegenüber, das man Grund hatte zu fürchten, zumal den Vater, dessen Schutzes man aber auch sicher war gegen die Gefahren, die man damals kannte.«75

Um die kindlichen Ängste der Hilflosigkeit, deren Erinnerung Erwachsene in sich tragen, abzuwehren, verleihen sie den Naturkräften »Vatergestalt«, indem sie sie zu Göttern machen. Diese Götter verteidigen sie sowohl gegen die von der Natur ausgehenden Gefahren wie auch gegen die innerhalb der menschlichen Gesellschaft auftretenden Bedrohungen. In Totem und Tabu (1913) hatte Freud den Ursprung der Religion anders geschildert, nämlich als Mord der »Urhorde« an ihrem Führer, der dann aus den Schuldgefühlen heraus zu einem totemischen Gott erhoben wird. In beiden Fällen wird Gott geschaffen, indem eine irdische Autorität in den Himmel projiziert wird. Im nächsten Stadium der Religion, so Freud, sei aus vielen Göttern eine Gottheit entstanden: »Das Volk, dem zuerst solche Konzentrierung der göttlichen Eigenschaften gelang, war nicht wenig stolz auf diesen Fortschritt. Es hatte den väterlichen Kern, der von jeher hinter der Gottesgestalt verborgen war, freigelegt; […]. Nun, da Gott ein Einziger war, konnten die Beziehungen zu ihm die Innigkeit und Intensität des kind­ lichen Verhältnisses zum Vater wiedergewinnen. Wenn man soviel für den Vater getan hatte, wollte man aber auch belohnt werden, zum mindesten das einziggeliebte Kind sein, das auserwählte Volk.«76

Es waren demnach die Juden – Gottes auserwähltes Volk –, die theologisch den Boden für Freuds ganz eigene Leistung bereiteten: Sie enthüllten die Beziehung zu Gott als Beziehung des Vaters zu seinem erwählten Sohn. Vom psychoanalytischen Standpunkt aus gesehen, war dies der entscheidende Durchbruch, denn die Überwindung des Vaters wird erst dann möglich, wenn man sich bewusst wird, dass ebendieser Vater der Widerpart in diesem Machtkampf ist. Ohne Judentum keine Psychoanalyse. Im nächsten Kapitel werden wir darauf zurückkommen, wie Freud diese Einsicht auf die Bibel übertragen hat. Freud hatte seine atheistische Einstellung nicht von Spinoza direkt übernommen, auch wenn er Heines »kleinen Juden aus Amsterdam« als Begründer der Kongregation der jüdischen Ungläubigen anerkannt hatte. Der wohl bedeutendste Nachfolger Spinozas im 20.  Jahrhundert war vielmehr Albert Einstein (1879–1955). Im Gegensatz zu Freud, dessen Familie noch Elemente der jüdischen Tradition bewahrt hatte, wurde Einstein in ein nicht­ religiöses Milieu hineingeboren.77 Seine Familie ging weder in die Synagoge, 58

noch feierte sie die jüdischen Festtage. In seiner frühen Adoleszenz rebellierte Einstein eine kurze Zeit lang, indem er sich an orthodoxe Praktiken hielt, aber diese schwärmerische Geste gegenüber dem Judentum währte nicht einmal bis zu seiner Bar-Mizwa. Die wirkliche Bekräftigung seines jüdischen Selbstverständnisses erfolgte später, als Rückeroberung von etwas weit­gehend Fremdem. In dieser Hinsicht stand er für das im Fin de Siècle in Mitteleuropa nicht ungewöhnliche Phänomen der Rückkehr zu einem idiosynkratischen, nichtreligiösen jüdischen Selbstverständnis, das nicht unmittelbar von den Eltern übernommen worden war. Im ersten Jahrzehnt des 20.  Jahrhunderts gründeten der junge Einstein und zwei seiner Freunde in Bern einen intellektuellen Lesezirkel, den sie ironisch Olympische Akademie nannten. In diesem Kreis wurde er mit einem weiten Spektrum philosophischer Schriften, einschließlich Spinozas Ethik, vertraut.78 In den Zwanzigerjahren beschäftigte er sich erneut mit Spinoza und verfasste sogar eine Über Spinozas Ethik betitelte poetische Hommage.79 In der Zeit von den späten Zwanzigerjahren bis 1940 äußerte er seine Ansichten über Religion am häufigsten. Am prägnantesten war wohl seine Antwort auf ein Telegramm des US -amerikanischen Rabbiners Herbert S. Goldstein, der ihn Folgendes gefragt hatte: »Glauben Sie an Gott? Stop. 50 Worte Antwort bezahlt.« Einstein schaffte es, in nur dreißig Worten zu antworten: »Ich glaube an Spinozas Gott, der sich in der Harmonie des Seienden offenbart, nicht an einen Gott, der sich mit Schicksalen und Handlungen der Menschen abgibt.«80 Im Laufe der Geschichte, sagte Einstein an anderer Stelle, »finden wir gerade unter den Häretikern jeden Zeitalters Menschen, die mit der höchsten Stufe religiösen Empfindens erfüllt sind und in manchen Fällen von ihren Zeitgenossen als Atheisten, zuweilen auch als Heilige betrachtet wurden. In diesem Licht besehen stehen Männer wie Demokrit, Franz von Assisi und Spinoza einander sehr nahe.«81

Wie der deutsch-jüdische Philosoph Ernst Bloch fand Einstein die wahre Religion bei den Häretikern.82 Für Einstein ist das Universum so konstruiert, dass wir seine Gesetze erkennen können: Die Rationalität unseres Verstandes spiegelt die Rationalität des Universums (den »Geist Gottes«) wider, was eine durchaus geistesverwandte Position mit Spinoza ist. Ziel der Wissenschaft muss es sein, diesen Geist zu verstehen: »Ich möchte wissen, wie Gott diese Welt geschaffen hat. Ich interessiere mich nicht für dieses oder jenes Phänomen, für das Spektrum dieses oder jenes Elements. Ich möchte seine Gedanken kennen, alles andere ist Detail.«83 Einer seiner sinnträchtigsten Aphorismen lautet: »Raffiniert ist der Herrgott, aber boshaft ist er nicht.«84 Als ihn ein Kollege fragte, 59

was er damit meine, entgegnete er: »Die Natur verbirgt ihr Geheimnis durch die Erhabenheit ihres Wesens, aber nicht durch List.« Gemeint ist: Nur ein für den Menschen unergründbares, mithin auf scheinbar übernatürliche Weise funktionierendes Universum wäre durch Anwendung einer List entstanden. Gott setzt aber keine Wunder, sondern Gesetze ins Werk, die, wie subtil sie auch sein mögen, wir zu entziffern hoffen können. Interessant ist, dass Maimonides das Gegenteil behauptet hatte: Gott habe die Israeliten mittels einer »List« (ormat ha-schem) des Götzendienstes entwöhnt, doch diese List sei kein auf einem Wunderglauben basierender, historischer Prozess gewesen. Während Maimonides und Einstein sich also offensichtlich in Bezug auf die Gesetzmäßigkeit der Welt einig waren, haben sie diese aber in ent­ gegengesetzter Weise beschrieben. Einsteins berühmteste, oft falsch zitierte Aussage über Gottes Natur­gesetze entstammt dem Kontext der Debatte über die Quantenmechanik, jene Theorie, welche die Unbestimmtheit und den Zufall in die Natur einzubringen schien. Obgleich es nicht zuletzt seine eigene Physik war, die dieser Theorie den Weg gebahnt hatte, stand Einstein ihr bekanntlich ziemlich ablehnend gegenüber. Er verwarf zwar das Wahrscheinlichkeitsprinzip als Instrument zum Verständnis des Universums nicht völlig, wandte es sogar selbst an, stieß sich jedoch an den Konsequenzen solcher Theorien wie zum Beispiel Werner Heisenbergs bekannter Unschärferelation. So schrieb Einstein 1926 in einem Brief an den Physiker Max Born: »Die Quantenmechanik ist sehr Achtung gebietend. Aber eine innere Stimme sagt mir, dass das noch nicht der wahre Jakob ist. Die Theorie liefert viel, aber dem Geheimnis des Alten bringt sie uns kaum näher. Jedenfalls bin ich überzeugt, dass der Alte nicht würfelt.«85

Hier erweist sich Einstein als wahrer Spinozist: Die Natur ist durch und durch determiniert und unterliegt nicht wie ein Würfelspiel den Regeln der Wahrscheinlichkeit. Wie Spinoza sprach Einstein von Gott in einem umgekehrten Sinn: Sein Gott ist alles andere als der persönliche Gott der Bibel, der die Welt geschaffen hat und vom Himmel herab über sie waltet. Doch die Frage bleibt: Wer (oder was) ist dieser Gott? Glaubte Einstein, wie Spinoza, dass Gott und Universum einfach äquivalent seien (deus sive natura)  oder dass Gott irgendwie größer als das Universum sei? Auch Spinozas Auffassung war nicht die pantheistische Äquivalenz von Gott und dem physischen Universum, da bei ihm die Ausdehnung (physische Beschaffenheit) nur eines von Gottes Attributen ist. Auch Einstein scheint der Auffassung gewesen zu sein, dass das Universum aus Geist und Materie besteht. In einem Gedankenaustausch mit 60

dem israelischen Premierminister David Ben-Gurion räumte er ein, irgendetwas müsse noch hinter der Formel E (Energie) = mc2 stecken.86 Vielleicht war die kosmische Energie der Ausdruck einer ungreifbaren spirituellen Essenz oder das, was Spinoza »Denken« nannte. Mit einer solchen Einstellung wäre Einstein kein Theist im herkömmlichen Sinn, genauso wenig aber ein ausgeprägter Materialist. Seit Einstein der Auffassung war, dass Gott mit den Menschen nichts zu schaffen hat, eröffnete sich der menschlichen Autonomie ein ethischer Freiraum. Die Menschen sind für ihr eigenes moralisches Urteil verantwortlich. Ironischerweise brachte Einstein mit dieser kantianischen Theorie seine Affinität zum Judentum zum Ausdruck: »Eine jüdische Weltanschauung im philosophischen Sinne gibt es nach meiner Meinung nicht. Judentum scheint mir fast ausschließlich die moralische Einstellung im Leben und zum Leben zu betreffen. […] Judentum ist kein Glaube. Der jüdische Gott ist nur eine Verneinung des Aberglaubens, ein Phantasieersatz für dessen Beseitigung. […] Auch ist deutlich, das ›Gott dienen‹ mit ›dem Lebendigen dienen‹ gleichgesetzt wurde. […] So ist das Judentum keine transzendente Religion.«87

Obgleich Einstein nicht im liberalen deutschen Judentum des späten 19. Jahrhunderts aufwuchs und persönlich dessen bürgerlichen Assimilationsbestrebungen ablehnend gegenüberstand, ist seine Reduktion des Judentums auf eine ethische Einstellung der Widerhall mehrerer Generationen deutschjüdischer Homileten und Gelehrter. An der Schwelle zum 20.  Jahrhundert hatte Moritz Lazarus diesen Standpunkt in seiner Ethik des Judenthums zusammengefasst. Darin vertrat er den Standpunkt, der ethische Kern des Judentums sei nicht in der Bibel oder im Talmud zu finden, sondern in den Gebräuchen und in der praktischen Lebensführung der Juden.88 Einstein leitete seine radikale politische Einstellung, insbesondere seinen Pazifismus, von seiner Deutung des Judentums ab und war damit Teil eines Projektes, das ein Spektrum von jüdischen Persönlichkeiten, von Bürgerlich-Liberalen bis zu Sozialrevolutionären, umfasste, die alle im Judentum primär ein, wenn auch aus verschiedenen Botschaften bestehendes, System ethischer Lehren sahen. In diesem Punkt unterschied er sich definitiv von Spinoza, der geglaubt hatte, aus der rationalen Beschreibung des Universums eine Ethik ableiten zu können. Für Einstein blieben Physik und Ethik zwei voneinander völlig getrennte Disziplinen. Wie bei Freud ging Einsteins Ablehnung traditioneller Religiosität und sein Glaube an einen unpersönlichen Gott mit einer tief empfundenen Be­jahung der jüdischen Zugehörigkeit einher. In einer anschaulichen ­Metapher verglich Einstein das Verhältnis von jüdischer Zugehörigkeit und Religion mit 61

dem einer Schnecke und ihrem Haus: »[Es] ist bekannt, dass eine ­Schnecke ihr Haus abwerfen kann, ohne damit aufzuhören, eine Schnecke zu sein. Der Jude, der seinen Glauben aufgibt, befindet sich in einer ähnlichen Lage. Er bleibt dennoch ein Jude.«89 Er meinte auch, das Judentum lehre »eine Art trunkener Freude und Verwunderung über die Schönheit und Erhabenheit dieser Welt […] aus welchem auch die wahre Forschung ihre geistige Kraft schöpft«.90 Hier ist das Judentum nicht theistisch, sondern steht eher dem Spinozismus nahe. Wenn Einstein auf diese Weise das Judentum als Bejahung und Verherrlichung der Welt auslegt, scheint er Einstein darauf hinweisen zu wollen, es überrasche nicht, dass so viele moderne Wissenschaftler Juden seien. Übersetzt man diese Aussagen in mittelalterliche Sprache, gelangt man zu Maimonides’ Sicht der Welt als »Handlungsattribute« Gottes. Einsteins Interesse an Spinoza fiel zeitlich mit einer im Deutschland der späten 1920er Jahre zu beobachtenden Renaissance dieses Philosophen zusammen. Ein jüdischer Denker, der in der Weimarer Zeit zu philosophischer Reife gelangte und seine Konstruktion säkularer jüdischer Identität wesentlich auf Spinoza aufbaute, war Leo Strauss (1899–1973). Unter dem Eindruck der Spinoza-Renaissance verfasste Strauss eines seiner Frühwerke: Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft (1930). Für Strauss stellte Spinoza die gewaltigste Herausforderung der Offenbarungs­religion dar. So heißt es im Vorwort zur englischen Übertragung seines Werkes (1962): »Eine Rückkehr zur Orthodoxie wäre nur möglich, wenn Spinoza in jeder Beziehung Unrecht hätte.«91 Spinoza habe nachgewiesen, dass Religion und Vernunft unvereinbar seien. Und obgleich dies das Projekt eines mittelalterlichen Philosophen wie Maimonides gewesen sei, habe sogar er in einem vermeintlich orthodoxen Text häretische Ansichten verschleiert zum Ausdruck gebracht, so Strauss’ umstrittene Feststellung in seinem späteren Werk Persecution and the Art of Writing (1962). Die Konfrontation zwischen Offenbarung und Vernunft war jedoch nicht auf dem Wege der Vernunft beizulegen. Spinozas Philosophie selbst war ein Glaubensbekenntnis, das keinem Beweis zugänglich war. Obgleich und gerade weil Strauss offenbar Atheist war, stand er dem dogmatischen Atheismus höchst kritisch gegenüber: Dem Atheismus komme kein höherer Wahrheitsanspruch zu als dem Glauben  – eine Position ähnlich der Maimons. Strauss lehnte daher den Spinoza-Kult ab, der die Fantasie mancher jüdischer wie nichtjüdischer Denker der Weimarer Zeit beflügelt hatte. In seinem Vorwort von 1962 erklärte Strauss nachdrücklich, als jungem Juden der Weimarer Zeit, welcher der Traditionsverbundenheit seines Elternhauses entfremdet war, habe Spinoza ihm keine Lösung für sein eigenes »theo­ logisch-politisches Dilemma« geboten. 62

Dessen ungeachtet schloss sich jedoch, wie Benjamin Lazier aufgezeigt hat, in Strauss’ eigener Philosophie der Kreis zu Spinoza.92 In seinen 1949 gehaltenen, später unter dem Titel Natural Right and History veröffentlichten Vorlesungen ritt Strauss eine vernichtende Attacke gegen den Historismus wegen dessen Relativierung der Wahrheit. Der Historismus sei das Produkt der modernen Naturrechtsideen, die in einer selbst verschuldeten Krise zusammengebrochen seien (interessant ist, dass Strauss Spinoza in seiner Diskussion der modernen Naturrechtstheorie nur en passant erwähnt). Diese Krise sei der Ablehnung des Naturrechts durch die moderne Philosophie geschuldet. Für Strauss lag die Lösung in einer Rückkehr zum klassischen Naturrecht, in dem Wahrheit und Moral in der Natur (physis) statt in menschlicher Setzung (nomos) begründet waren. Genau wie bei Spinoza nahm also bei Strauss die Natur den Platz Gottes als Quelle der Wahrheit ein. Wie Lazier feststellt, war Strauss in zweifacher Weise ein Antinomiker: indem er die physis dem nomos gegenüberstellt und indem er das göttliche Gesetz zugunsten eines in der Natur begründeten ablehnt. Da aber für Spinoza die Natur Gott ist, erweist sich Strauss, vielleicht gegen seine ursprüngliche Absicht, letztlich als Spinozist des 20. Jahrhunderts. Nach dieser Lesart wird Spinoza, der durch und durch moderne Philosoph, unfreiwillig zum Katalysator für eine Renaissance der griechischen Antike. Athen eroberte Jerusalem dank Jerusalems eigensin­niger Söhne. Maimon, Heine, Freud, Einstein und Strauss vertreten einen je eigenen jüdischen Spinozismus. Ob nun Gott ein Grenzfall ist, mit der Natur identisch, oder die Natur ein Reich ohne Gottheit, das Vermächtnis des Angriffs Spinozas auf die theistischen Religionen hallt bei diesen Denkern tiefgründig nach. Und jeder dieser Denker wollte eine spinozistische Welt errichten, in der es einen Ort für die Juden gäbe. Bei Maimon war dies ein Ort für die jüdische Textüberlieferung – Maimonides in moderner Form. Für Heine und Einstein war es das Judentum als ethische Kritik europäischer Wertvorstellungen. Für Freud war es das Judentum als Grundstein der Psychoanalyse. All dies hätte Spinoza selbst sicherlich in Verwirrung gestürzt. Indem diese jüdischen wie auch andere Denker sich diesen geistigen Vorvater des 17.  Jahrhunderts in verwandelter Gestalt aneigneten, machten sie aus einem säkularen Mann den ersten säkularen Juden. Und auch wenn sie die prämoderne Tradition nicht unmittelbar zitierten, wie dies Maimon getan hatte, und Spinoza als ihren Moses ansahen, übernahmen sie diese Tradition über ihn.

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Säkulare Kabbalisten Spinoza war nicht der Einzige, der säkularen Juden einen Weg zu einem häretischen Gott wies. Ein anderer Weg eröffnete sich denen, die sich noch tiefgründiger mit der Texttradition auseinandersetzten und gegen diese in der Sprache der Tradition selbst rebellierten. Diese Denker wandten sich nicht der von Maimonides vertretenen philosophischen Überlieferung zu, sondern der mittelalterlichen jüdischen Mystik, der Kabbala. Auf den ersten Blick war die Kabbala eine weit weniger versprechende Quelle als Maimonides, da sie auf mythischen, scheinbar jenseits des Vernunfthorizonts liegenden Symbolen beruhte. In der Tat war die Kabbala im Spanien des 13. Jahrhunderts zumindest teilweise als Reaktion auf Maimonides’ strengen Gott entstanden. Während der große Philosoph das Göttliche aller menschlicher Attribute beraubt und Gott sogar aus der Reichweite der menschlichen Sprache verbannt hatte, malten die Kabbalisten Gottes Anatomie in schockierend fleischlichen Farben. Für all diejenigen, die sich danach sehnten, den von der Philosophie bezwungenen persönlichen Gott der Bibel zu neuem Leben zu erwecken, bot die Kabbala einen innigeren Mythos des Göttlichen, als es die Bibel jemals vermocht hatte. Wie konnte also von allen Disziplinen gerade die Kabbala modernes säkulares Denken speisen? Die Antwort darauf findet sich in der dialektischen Theologie der Mystiker. Sie postulierten einen Gott mit zehn Emanationen oder Urpotenzen, den sogenannten sefirot. Diese sefirot entsprachen auch den verschiedenen Gliedmaßen Gottes einschließlich seiner Geschlechtsorgane. Darüber hinaus aber war dieser göttliche anthropos das Unendliche, auf Hebräisch ejn sof (wörtlich »es gibt kein Ende«, »ohne Ende«). Es war dieser unendliche Gott, der sich außerhalb der Sprache befand und damit Maimonides’ Gott entsprach. Über das ejn sof sagten die Kabbalisten wenig aus. Sie setzten indes, mit dem Partikel ejn spielend, diesen Aspekt Gottes mit ajin, dem Nichts, gleich (das Präfix ejn und das Substantiv ajin haben dieselbe Wurzel).93 In manchen Texten aus dem 13.  Jahrhundert bezeichnet ajin die höchste sefira (keter, d. i. Krone), in anderen wiederum das Unendliche selbst. In der im 16. Jahrhundert um Isaak Luria enstandenen kabbalistischen Lehre zieht sich Gott, als er die Welt zu erschaffen beginnt, einen leeren Raum (he-chalal ha-panui) hinterlassend, aus dem Mittelpunkt zurück.94 Ohne diesen gottleeren Raum könnte die Welt nicht existieren. Das Nichts der Kabbala des 13.  Jahrhunderts wich nun dem sehr physischen Gefühl der Loslösung vom Göttlichen. In all diesen Formulierungen bahnten die Kabbalisten den Weg für eine radikal säkulare Gleichsetzung 64

Gottes mit dem Nichts oder sogar dem Tod. Sie wären sicher empört gewesen, ihre Gedanken in diese Richtung gelenkt zu sehen, doch das ist das Schicksal von Ideen, die, aus ihrem Kontext gerissen, in fremde Erde verpflanzt werden. Ein herausragendes Beispiel für einen solchen säkularen Kabbalisten war der »Nationaldichter« der hebräischen Renaissance, Chajim Nachman Bialik (1873–1934). Wie Salomon Maimon ein Jahrhundert zuvor war Bialik von der litauischen Talmudtradition durchdrungen. Er hatte an der großen litauischen Jeschiwa von Woloschin studiert, die er bekanntlich »Schule der Nation« nannte. Hier hatte er mit anderen seiner Generation in versteckt zirkulierenden Büchern die Aufklärung für sich entdeckt. Im Alter von 18 Jahren ging er 1891 in die »neue Stadt« Odessa, das Zentrum der sich entfaltenden jüdisch-nationalen Wiedergeburt. Doch wie viele seiner Altersgenossen bewahrte er sich eine starke Sehnsucht nach dem alten bet midrasch, das er in mehreren seiner bedeutendsten Gedichte pries. Diese Generation säkularer Juden aus dem östlichen Europa kam unmittelbar aus der Jeschiwa, und ihr Säkularismus war unlösbar in der von ihnen verworfenen Texttradition verwurzelt. Statt Bialiks säkulare Empfindsamkeit am Beispiel seiner Lyrik zu analysieren, soll hier auf Offenbarung und Verhüllung in der Sprache (1915), einen seiner profundesten und vielschichtigsten Essays, eingegangen werden, der sich noch direkter mit der Abwesenheit Gottes befasst.95 Dieser Essay, den Bialik zu Beginn einer langen Periode dichterischen Schweigens verfasste, stellt sein Ringen mit der Vergeblichkeit der Sprache dar. Wie wir sehen werden, schließt der Essay mit einer Reflexion über die Sprache der Dichtung. In der Tat wird hier, wie Ariel Hirschfeld gezeigt hat, mit der Darstellung der Rolle des Dichters die Vorstellung der europäischen Romantik vom Dichter als einsamem Genie ins Hebräische transponiert.96 Den Quellen der westlichen Kultur scheint dabei größere Bedeutung beigemessen zu werden als den an keiner Stelle explizit erwähnten jüdischen Quellen.97 Ungeachtet des vordergründigen Universalismus des Essays offenbart der Subtext die Dialektik zwischen jüdischer Glaubensüberlieferung und Säkularismus. Zunächst schildert Bialik das Los der Sprache: Worte »leuchteten jäh wie Blitze auf und erhellten in einem Fluge eine ganze Welt«, will heißen: er­ fassten mit einem einzigen Begriff ganze philosophische Systeme, Worte, die »Könige von ihrem Thron verjagt, die Grundfesten der Erde und des Himmels ergeben gemacht haben«; all diese mächtigen Worte sind zu »leichtem Plaudern« verkommen. Das, so Bialik, ist der Lauf der Welt: »Worte steigen zur Größe empor und Worte sinken und werden profan«.98 Unsere Alltagssprache – unsere säkulare Sprache – mag ihren Ursprung in tief greifenden, 65

welterschütternden Ereignissen haben. Doch verbunden mit einer religiösen Erfahrung wird diese wirkmächtige Sprache rasch banal und bedeutungslos. Für Bialik ist der Verfall der Sprache vom Tiefgründigen zum Profanen wie eine Exilierung aus der Sphäre der göttlichen Bedeutung in die Sphäre des Säkularen. Ganz explizit verwendet er die Sprache der Kabbala, um diesen Niedergang zu schildern: »Ihr Kern ist aufgezehrt, ihre seelische Kraft verliert oder verbirgt sich, und nur ihre Schalen, die aus dem Bereich des Einzelnen in den der Allgemeinheit geworfen wurden, sind in der Sprache noch vorhanden […]«. Das ist die Ausdrucksweise der lurianischen Kabbala, in der das Zerschellen der göttlichen Gefäße nur die Schalen – klippot – im Exil von Gott übriglässt. Bialik übernimmt diese mystische Vorstellung, um auf säkulare Weise das Schicksal der Sprache nachzuverfolgen. Von ihren göttlichen Ursprüngen entfernt, übernehmen wir die Sprache in ihrem profanen Status, in dem nur die Schalen, ihres ursprünglichen Inhalts entleert, verblieben sind. Das ist die konventionelle Sprache sozialer Interaktion. Es ist auch die Sprache der Mathematik, Domäne der Logik. Hier muss man unwillkürlich an Spinozas ganz andere Verwendung der Sprache der Mathematik denken. Wo für Spinoza eine geometrische Beweisführung die einzig adäquate Sprache ist, um Gott zu beschreiben, ist für Bialik diese Sprache per definitionem jenseits des Konventionellen bar jeder Bedeutung. Sich gegen eine ganze philosophische Tradition stellend, zu der Spinoza und Maimon gehören, untergräbt Bialik den Anspruch der Mathematik auf Ver­ mittlung der notwendigen Wahrheit. Indes ist dies vielleicht nicht so negativ zu sehen, wie es scheinen mag, denn, wie es bei Bialik heißt: »Schließlich vermag ein leeres Gefäß aufzunehmen, ein volles nicht, und wenn schon ein leeres Wort zum Sklaven macht, wie erst ein erfülltes.« Dem Schriftsteller eröffnet eine degenerierte oder säkulare Sprache größere schöpferische Freiheit als eine bereits mit Inhalt erfüllte, einem Inhalt, der im jüdischen Kontext religiös sein muss. Bialik gibt sich jedoch nicht damit zufrieden, uns in einem solch seligen Zustand sprachlicher Freiheit verharren zu lassen. Die Worte, denen wir unseren eigenen Sinn geben, schaffen nur die Illusion der Sicherheit. Wir gehen über sie wie über eine »eiserne[] Brücke«, ohne zu ahnen, wie schwankend diese ist, »wie tief und finster der Abgrund, der unter ihr sich auftut«. Die Worte »Abgrund« (tehom), »Nichts« (blima)  wie auch »Leere« und »Chaos« (tohu) sind in Bialiks Abhandlung zentrale Begriffe. Das scheinbar modernistische Vokabular hat seinen Ursprung im traditionellen Judentum, ausgehend natürlich von der Bibel, mehr noch aber in der Kabbala. Niemand, der im traditionellen Judentum verwurzelt ist, kann sich der Assoziation des Chaos im Sinne des ursprünglichen griechisch-lateinischen Ausdrucks »der 66

unendlich leere Raum« mit der lurianischen Vorstellung vom leeren Raum, dem Urvakuum, entziehen. In dem Bild von der eisernen Brücke klingt die berühmte Homilie des Nachman von Bratzlaw (1772–1810) nach, jenes chassidischen Rabbis, dessen Lehren oft mit denen des christlich-religiösen Existenzialisten Søren Kierkegaard verglichen werden. In einer Erörterung des Verses, in dem Gott Pharaos Herz verhärtet, verkehrt Nachman Lurias »leeren Raum« in ein theologisches Paradoxon: Wie kann Pharao schlecht sein, wenn Gott sein Herz verhärtet?99 Für Nachman sind die dem Glauben inhärenten Widersprüche ein Chaos, in das sich nur ein echter Zaddik (ein rechtschaffener chassidischer Führer, Nachmans Bezug auf sich selbst) begeben und das er lebend wieder verlassen kann. Indem er in das Chaos eintaucht, ermöglicht es der echte Zaddik den an­ deren Juden, über eine Brücke das Chaos zu überschreiten und in Sicherheit zu gelangen. Bialik argumentiert, die Sprache könne das Wesen der Dinge nicht offenbaren, »im Gegenteil stellt sich die Sprache wie eine Schranke vor sie«. Was ist dieses Wesen? Die Antwort lautet: die Leere, das Chaos (tohu – mit diesem Wort wird in der Genesis die Welt vor der Schöpfung bezeichnet). »›Nicht wird ein Mensch mich sehen und am Leben bleiben‹ – spricht das Chaos.« Dieser Satz ist eine kühne Paraphrase der Worte Gottes an Moses, wobei das Chaos hier für Gott steht; das Chaos ist Gott. Dieses göttliche Chaos, diese negative Wirklichkeit ist offensichtlich der Tod. Es ist, sagt Bialik, »gerade jene ewige Dunkelheit, die so viel Schrecken verbreitet, […], die, solange die Welt steht, das Herz des Menschen im Geheimen zu sich zieht«. An einer anderen Stelle setzt Bialik noch eindringlicher die Sprache mit dem »Sargdeckel über dem Toten« gleich. Die Sprache lenkt uns von der Konfrontation mit dem Chaos ab und leugnet die Realität des Todes. Die Sprache ist kein Medium, sondern eine Schranke. Wie Bialik es ausdrückt, indem er wiederum die Worte der Bibel entlehnt, sie dabei jedoch neu schreibt: »Dein Verlangen soll nach der Leere sein, aber die Sprache soll dein Herr sein.« Dies ist eine Anspielung auf Gottes Fluch über Eva: »Und dein Verlangen soll nach deinem Mann sein, aber er soll dein Herr sein« (Gen 3,16). In Bialiks Augen leiden alle Menschen unter dem auf Eva lastenden Fluch, der sich jedoch nun nicht auf das Geschlechtliche, sondern auf das Sprachliche bezieht. Der Fluch der Sprache besteht darin, dass sie den Zugang zu jener Quelle versperrt, die ihr überhaupt erst das Leben gibt. Bialik zufolge sind wir in einem endlosen Kreislauf einer verhüllenden Sprache gefangen. Philosophische Systeme verheißen Erleuchtung und erweisen sich letztendlich als Verschleierung. Neue Systeme mit ähnlichem 67

Anspruch lösen sie ab und münden wieder nur in Ernüchterung. Zwischen diesen Systemen gibt es indes rare Momente, in denen das Chaos sichtbar wird, weil die Sprache es einen kurzen Augenblick lang nicht zu verhüllen vermag. An den meisten Menschen gehen diese Augenblicke unbemerkt vo­ rüber. Doch es gibt andere, die Bialik mit den biblischen Priestern vergleicht, die in die Leere blicken und am Leben bleiben. Das sind die Dichter. Auch Bialik zählt zu ihnen. Er stellt sie den Prosaschriftstellern gegenüber. Diese gleichen Menschen beim Überqueren eines gefrorenen Flusses. Ist das Eis fest genug, können sie es überschreiten, ohne auf das Wasser zu achten, das in dunkler Tiefe fließt. Für Dichter aber gefriert der Fluss nie fest genug. Um ihn zu überqueren, müssen sie von einer Eisscholle zur nächsten springen und dabei den Tod in der Tiefe riskieren. Während die Schriftsteller an die Sprache herangehen, als stünde sie unverrückbar und zuverlässig fest, kann für die Dichter Sprache nie stabil sein: »Die Worte zucken unter ihren Händen, sie erlöschen und entbrennen, gehen unter und leuchten auf gleich der Schrift auf dem hohepriesterlichen Schild.« In dieser erstaunlichen Metapher wird aus den urim we-tumim, den vermutlich als Orakelsteinen dienenden Verzierungen auf dem Brustschild des Hohepriesters, die Sprache des Dichters. Auch hier säkularisiert Bialik die biblische Sprache: Der Dichter entleert die Worte ihrer überkommenen und füllt sie mit neuer Bedeutung. Oder, sagt Bialik und meint damit diesen Essay selbst: »Das Profane wird sakral und das Sakrale profan«. Nachdem also Bialik seine unendliche Verzweiflung über die Möglichkeiten der Sprache zum Ausdruck gebracht hat, wendet er sich wieder der Dichtung zu. Als wolle er einen anderen Weg der Hoffnung aufzeigen, lässt er im letzten Absatz seines Essays die Option einer Sprache ohne Worte anklingen: »das Musizieren, das Weinen und das Lachen«. Auch hier hören wir einen Nachhall der Homilie des Nachman von Bratzlaw über das Paradoxon des Pharao, die ebenfalls Bedeutung in einem wortlosen Lied findet. Diese Sprachen ohne Worte beginnen, wo die Worte aufhören. Statt zu verhüllen, offenbaren sie. »Sie schwellen an und steigen aus dem Abgrund hervor; sie sind das Emporsteigen des Abgrundes selbst.« Diese nonverbalen Sprachen sind die wahre Quelle der Kreativität, weil sie aus dem Abgrund, dem Chaos kommen, das letztendlich nicht so still ist. Auch dieser Abgrund ist die Quelle einer bestimmten Art nicht konventioneller – oder gar göttlicher? – Sprache. Bialik schließt mit einer Affirmation dieser Botschaften aus dem Chaos: »Eine geistige Schöpfung, in der nicht ein Widerhall wäre von diesen dreien, hat kein wahres Leben, und es wäre besser für sie, wenn sie nicht zur Welt gekommen wäre.« Auch wenn die Leere der Tod ist, so ist sie dennoch die 68

paradoxe Quelle von Kreativität und Leben. Nicht die göttliche Offenbarung am Berg Sinai, sondern die negative Offenbarung der Leere wird zur Stimme, welcher der Dichter lauscht. Nur in den Händen des Dichters ist die sprachliche Originalität des ersten Menschen wieder eingefangen. Nur in der Dichtung, nicht in der Religion, lässt sich Erlösung finden. Azzan Yadin hat darauf hingewiesen, wie nahe Bialiks Essay Friedrich Nietzsches Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn ist.100 Obgleich Bialik oft zu den Nietzsche-Gegnern innerhalb der hebräischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts gerechnet wird (ein Thema, auf das wir noch zurückkommen werden), scheint er im Falle dieser Abhandlung Nietzsches Position zu Sprache, Wahrheit und Gott höchst ansprechend gefunden zu haben. Nietzsche als jener Philosoph, der »Gottes Tod« proklamiert hatte, war Anfang des 20. Jahrhunderts eine Persönlichkeit, die zu ignorieren unmöglich war.101 Bialik geht jedoch viel weiter, als Nietzsche bloß zu »judaisieren«. Weil er die reichen Resonanzen der Worte aus der Glaubenstradition übernahm und ihren Sinn ins Gegenteil verkehrte, konnte Bialik Gott einen ganz anderen Tod zufügen als Nietzsche. Die Ressourcen des Hebräischen selbst dienten ihm als Spaten, mit dem er die religiöse Überlieferung begrub – um sie dann in säkularer Gestalt wieder auferstehen zu lassen. Dieses Verfahren und die ihm innewohnenden Gefahren klingen in einem Brief an, den Gershom Scholem (1897–1982), der Historiker der jüdischen Mystik, im Jahr 1926 an den deutsch-jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig richtete.102 Scholem, der drei Jahre zuvor aus Deutschland nach Palästina ausgewandert war, hielt es für gefährlich, eine säkulare nationalistische Kultur aus religiösen Bausteinen errichten zu wollen, und er warnte davor. Nicht so sehr die Araber seien das Problem, mit dem der Zionismus konfrontiert sei, wie vielfach angenommen, sondern vielmehr die einer Renaissance des Hebräischen inhärenten apokalyptischen Gefahren. In dem Brief erweist sich Scholem vor allem als Sprachnationalist: Die Wiederbelebung des Hebräischen und der damit einhergehenden Kultur sei wohl die primäre Er­ rungenschaft des Zionismus, betont er. Es sei aber unmöglich, ein säkulares Hebräisch vollkommen losgelöst von den machtvollen religiösen Untertönen seiner sprachlichen Tradition zu schaffen. So heißt es: »Sprache ist Namen. Im Namen ist die Macht der Sprache beschlossen, ist ihr Abgrund versigelt. Es steht nicht mehr in unserer Hand, die alten Namen tagtäglich zu beschwören, ohne ihre Potenzen wachzurufen. Sie werden erscheinen, denn wir haben sie ja freilich mit großer Gewalt beschworen.«

Das Wort »Abgrund« erinnert uns sofort an Bialiks Essay, den Scholem wohl bei der Abfassung des Briefes an Rosenzweig im Sinn hatte. Und wie B ­ ialik 69

bezog auch Scholem seine Terminologie aus seiner eigenen wissenschaftlichen Disziplin, der Kabbala. Für den mittelalterlichen Kabbalisten bilden göttliche Namen den Kern des Hebräischen, und der Kern dieses Kerns ist der aus vier Buchstaben bestehende Name Gottes, der essenzielle Gottesname. Die Tora ist, nach mystischen Grundsätzen gelesen, den Kabbalisten zufolge nichts anderes als ein einziger, ganz langer Name Gottes. Überdies ist dieser Name Gott selbst. So besteht also kein wirklicher Unterschied zwischen Gott und der Tora, denn die Buchstaben des hebräischen Alphabets sind Gottes eigene Gliedmaßen, die göttliche Anatomie. Dem Hebräischen ist ein ontologischer Status zu eigen, der sich völlig von dem anderer, konventioneller Sprachen unterscheidet. In der Tat ist die sprachliche Theologie der Kabbalisten jener des Maimonides diametral entgegengesetzt. Für Maimonides war die Tora in der einfachen Sprache der Menschen (leschon bnej adam) geschrieben, die Kabba­listen hingegen verliehen der biblischen Sprache einen sakralen Status, der weit darüber hinausging, was die Rabbinen mit leschon kodesch (heilige Sprache) gemeint hatten. Von der Idee ausgehend, dass das Hebräische Gottes eigene Sprache sei, erschien das Unterfangen, aus ihm heraus eine säkulare Kultur aufzubauen, als außerordentlich riskant. Wie Scholem meinte, bestand die Gefahr, dass die in der göttlichen Sprache enthaltenen apokalyptischen Wirkkräfte gerade durch die Einführung des Hebräischen in die Alltagswelt entfacht würden. Dem Hebräischen haftete all das mystische und messianische Gepäck an, das sich im Laufe der Geschichte in ihm angereichert hatte. Konnte das Hebräische zu einer rein säkularen, von allen religiösen Konnotationen befreiten Sprache werden? Scholem verneinte das. Mit dem Zionismus riskiere die innere Dialektik des Judentums in der politischen Sphäre explosiv hervor­zubrechen. Religiöse Kräfte würden selbst durch die Handlungen ihrer säkularen Widersacher zum Apokalyptischen mutieren. Damit zeigte Scholem in seinem Brief, wie schwierig es sein würde, die religiösen und säkularen Dimensionen einer Sprache wie des Hebräischen voneinander zu trennen. Wie Einstein wurde Scholem in eine nichtreligiöse, akkulturierte Familie hineingeboren. Sein Weg zurück zum Judentum war höchst eigenwillig und einzigartig, zugleich gehörte er auch zur umfassenderen Renaissance der jüdischen Kultur im Deutschland der Weimarer Zeit.103 Als Heranwachsender rebellierte er, indem er Hebräisch lernte und sich für den Zionismus begeisterte. Seine Tagebücher aus dieser Periode belegen, dass er eine Zeit lang eine quasiorthodoxe Praxis befolgte und sich mystischen und messianischen Ideen hingab, während in seinem späteren Leben wenig auf eine ähnliche 70

Religiosität hinweist.104 Im Alltag war er dezidiert säkular, doch als Historiker der jüdischen Mystik fand er eine tiefe geistige Relevanz in den von ihm studierten Quellen. Er identifizierte sich nicht mit einem Säkularismus, der jede transzendente Bedeutung ablehnte, doch sein Gott, wie das ejn sof der Kabbala, blieb hinter einem Leerraum verborgen. Insofern war Scholems theologische Position ein Versuch, das Religiöse und das Säkulare dialektisch zu verknüpfen, den zwischen ihnen bestehenden Gegensatz zu bewahren, gleichzeitig aber aufzuzeigen, wie das eine das andere hervorbrachte. Da die meisten Werke Scholems historische Studien zur Kabbala sind, lassen sich seine eigenen theologischen Auffassungen nicht immer leicht herauslesen. Die früheste, nur in einer unbedeutenden Zeitung erhalten gebliebene Äußerung zu seiner Position war ein Angriff auf das theologische Werk von Hans-Joachim Schoeps, einem deutsch-jüdischen Religionshistoriker eher konservativer Gesinnung.105 Schoeps war stark von dem protestantischen existenzialistischen Theologen Karl Barth beeinflusst, und sein Buch war ein Versuch, Barths Theologie in eine jüdische Tonart zu transponieren. Barth plädierte für eine antihistorische, antitraditionalistische Theologie: Für Schoeps bedeutete Judesein eine Umgehung der historischen Tradition zugunsten einer unmittelbaren, jenseits des Verstandes liegenden Gotterfahrung. Scholem attackierte Schoeps frontal, kanzelte dabei aber kurzerhand auch andere, weniger radikale jüdische Existenzialisten wie Martin Buber ab. Er wies ohne langes Überlegen die Möglichkeit einer direkten Offenbarung Gottes zurück und argumentierte stattdessen, nur die literarische Überlieferung sei uns zugänglich: »Die Offenbarung ist bei aller Einmaligkeit doch ein Medium. Sie ist als Absolutes, Bedeutung Gebendes, aber selbst Bedeutungsloses das Deutbare, das erst in der kontinuierlichen Beziehung auf die Zeit, in der Tradition sich auseinanderlegt. […] Nichts nämlich […] ist, auf historische Zeit bezogen, mehr einer Konkretisation bedürftig als eben die […] ›absolute Konkretheit‹ des Offenbarungswortes. […] Die Stimme, die wir vernehmen, das ist das Medium, in dem wir leben, und wo sie das nicht ist, da ist sie hohl […]. Das Residuum der Stimme, als welches im Judentum die Tradition in ihrer schöpferischen Entwicklung ist, kann nicht von ihr getrennt werden […].«106

In einer Formulierung, die Maimonides gefallen hätte, behauptet Scholem, es gebe kein unvermitteltes »konkretes« Wort Gottes: Gott spricht nicht in irgend­einem menschlichen Sinn. Gottes Offenbarung ist abstrakt und unendlich, doch da sie sprachlich »Bedeutung gebend« ist, kann sie vom Menschen konkretisiert werden. Die auslegende Tradition hat ihre Quelle in der Offenbarung, doch ohne die Tradition ist die Offenbarung unverständlich. 71

Schoeps habe das Judentum auf einen ahistorischen Glauben reduziert, weil er die grundlegende Funktion der Überlieferung und die Unmöglichkeit reiner, unmittelbarer Kommunikation mit Gott nicht erfasst habe. Im Gegensatz zu Schoeps’ Theologie, die gewisse Ähnlichkeiten mit Bubers Ich und Du aufweist, fordert Scholem eine Rückkehr zum historischen Bewusstsein, ein Thema, auf das in einem späteren Kapitel noch einzugehen ist. Nur mittels der historischen Tradition, der von Menschen geschaffenen literarischen Erzeugnisse, können wir ein »Residuum« der göttlichen Stimme wahrnehmen. Obgleich Scholem weit davon entfernt war, Gott als Illusion oder Projektion abzutun, ist seine Philosophie epistemologisch ähnlich. Wir können nichts vom Göttlichen wissen, nur von den menschlichen Reaktionen auf das, was wir für die göttliche Stimme halten. Und sogar diese Reaktionen können nur Reaktionen auf Reaktionen sein und niemals ein direktes Zeugnis der Stimme selbst. Gott mag Hebräisch sprechen, doch das Hebräische seines Volkes enthält nur einen verschwindend kleinen Teil  der ursprünglichen Sprache Gottes. Die apokalyptischen Gefahren, vor denen Scholem in seinem Brief an Rosenzweig warnte, sind daher nicht das Resultat dessen, dass in der Geschichte eine göttliche Sprache verwendet wird, sondern dessen, dass eine menschliche Sprache invoziert wird, von der ihre Sprecher meinen, sie gründe auf der Offenbarung. Paradoxerweise ist daher die auf der Offenbarung gründende jüdische Tradition eine ausschließlich säkulare beziehungsweise menschliche Schöpfung, wobei jedoch jene, die sie praktizieren, der Ansicht sind, sie stamme von einem unkenntlichen, nicht erfassbaren Gott. Die säkulare Theologie der historischen Überlieferung des Historikers Scholem kann als Version dessen gesehen werden, was Bialik poetischer ausdrückte, da in beiden Fällen der göttliche Leerraum, als Quelle jeder menschlichen Kreativität, der Sicht entzogen schlummert. Als Konsequenz dieser zugleich kabbalistischen und modernen Theologie ist dem Menschen bei der Auslegung der Offenbarung wie auch der Tradition eine enorme Freiheit eingeräumt. In einer seiner Formulierungen dieses Gedankengangs schreibt Scholem: »Das Zeichen der wahren Offenbarung ist nicht mehr die Gewichtung der darin vermittelten Aussagen, sondern die unendliche Zahl der Deutungen, denen sie offensteht. Das Wesen des Absoluten [Wortes Gottes] ist an der unendlichen Anzahl möglicher Auslegungen erkennbar […]. Ohne die fundamentalistische These vom göttlichen Charakter der Schrift aufzugeben, bewirken derartige mystische T ­ hesen dennoch eine erstaunliche Lockerung des Begriffes der Offenbarung. Hier bildet die Autorität der Offenbarung auch die Grundlage für die Freiheit ihrer Anwendung und Auslegung.«107 72

Es ist also Gottes Wort selbst, das, in sich bedeutungslos, dialektisch eine unendliche Zahl von Interpretationen und die Autonomie seiner Deuter zulässt. In dieser Version des Säkularen leitet sich die menschliche Freiheit nicht vom Menschen selbst, sondern von dem ab, was die Gnostiker den deus abscon­ ditus (verborgener Gott) nannten. In einem Gratulationsbrief an den jüdischen Verleger und Philantropen Salman Schocken anlässlich dessen Geburtstags im Jahr 1937 schilderte Scholem mit ähnlichen Begriffen die Herausforderung, mit der sich ein säkularer Historiker beim Studium der Kabbala konfrontiert sehe.108 In einem wieder an Bialik erinnernden Duktus spricht Scholem davon, sich in den Abgrund zu wagen, zu versuchen, die »Wand der Historie« zu durchbrechen, die wie ein Nebelschleier um den »Berg, das Korpus der Dinge« (eine offensichtliche Anspielung auf den Berg Sinai) liege. Diese Dinge, wie Kants »Ding in sich«, seien unmöglich zu erfassen: »Geschichte mag im Grunde ein Schein sein, ohne den in der Zeit keine Einsicht in das Wesen möglich ist. […] In diesem Paradox, aus solcher Hoffnung auf das richtige Angesprochenwerden aus dem Berge, […] lebt meine Arbeit, heute wie am ersten Tag.« Der Berg wird niemals sprechen, so bleibt dem Historiker nur die Geschichte, bleiben ihm nur jene Quellen, die wie Nebel am Berg hängen. Am Beginn seines Schreibens gesteht Scholem ein, in jungen Jahren sei er zur »intuitiven Bejahung mystischer Thesen« gelangt, »die haarscharf auf der Grenze zwischen Religion und Nihilismus lagen. War es doch der vollkommene und unübertroffene Ausdruck dieser Grenze, der als die säkularisierte Darstellung kabbalistischen Weltgefühls in einem heutigen Gemüt mir später Kafkas Schriften fast mit dem Glanze des Kanonischen umkleidet hat.« Bei Kafka entdeckte Scholem eine Art häretische, säkulare Kabbala, eine paradoxerweise zugleich kanonische und nihilistische Literatur. Mit Max Brod und Walter Benjamin sah Scholem in Kafka einen zutiefst jüdischen Schriftsteller, bei dem die ständigen, jedoch erfolglosen Bemühungen seiner Protagonisten, sich Zugang zum »Schloss« oder zum »Gesetz« zu verschaffen, als Metapher für die moderne Suche nach Gott erscheinen.109 Während viele unterschiedliche Lesarten des notorisch enigmatischen Kafka möglich sind, wirkte diese theologische Auslegung besonders überzeugend auf jene, die wie Scholem nach einem säkularen, geradezu bewusst häretischen Tor suchten, durch das sie Zugang zur jüdischen Überlieferung finden konnten. Kafkas Parabel Vor dem Gesetz bietet eine prägnante Zusammenfassung dieser Paradoxie.110 Obwohl sie, was charakteristisch ist, keine offenen jüdischen Symbole enthält, ist diese Geschichte ausgesprochen jüdisch mit ihrem Nachhall der kabbalistischen Idee, dass die Tora (das Gesetz) und Gott ein und dasselbe seien. Der »Mann vom Lande« bittet um »Eintritt in das 73

Gesetz«, doch der Türhüter, eine furchterregende Gestalt mit einer »große[n] Spitznase, de[m] langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart«, teilt ihm mit, dass er, sollte er sich den Eintritt ohne Erlaubnis erzwingen, an den inneren Türen auf immer schrecklichere Hüter träfe. Der Mann vom Lande beschließt also, an der äußeren Tür zu bleiben, und trennt sich nach und nach von all seinen Besitztümern in dem vergeblichen Versuch, den Türhüter zu bestechen. Am Ende seines Lebens fragt er den Türhüter: »Wieso kommt es denn, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?«, worauf der Türhüter ihm entgegnet: »Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.« Kafkas Parabel, ob bewusst oder unbewusst, kehrt die alte hechalot-­ Literatur um, in welcher der Mystiker auf der Suche nach Gott durch himmlische Paläste wandelt.111 Hier gelangt der Suchende nicht einmal durch die erste Tür, eine selten pessimistische Darstellung des menschlichen Versuchs, göttliche Erkenntnis zu erlangen. Existiert das Gesetz (oder Gott) im Innern des Palastes überhaupt oder ist es nur ein Fantasiegebilde des Reisenden? Das gesamte Leben, legt Kafka nahe, ist eine vergebliche Suche nach göttlicher Erkenntnis, doch am Ende sind wir nicht weiter als zu Beginn der Reise. Wenn es die Moderne ist, die den Weg zum Gesetz versperrt hat, dann hat sie den schieren Versuch, das Gesetz zu betreten, in einen einsamen, individuellen Kampf verwandelt: Jeder Mensch hat sein eigenes Tor.

Heidnische Götter Unsere Untersuchung des säkularen jüdischen Denkens über Gott ist von der spinozistischen These ausgegangen, nach der Gott und das Universum ein und dasselbe sind, und ist zur Negierung eines transzendenten Wesens als menschliche Projektion und Illusion gelangt, um schließlich eine moderne Version des gnostischen deus absconditus in den Blick zu nehmen, wobei sich jedoch dieser »verborgene Gott« auf ewig der Erkenntnis entzieht. Es gibt letzten Endes noch eine Art der jüdisch-säkularen Theologie, die mit der zionistischen Rückkehr ins Land einherging: die Wiederbelebung der antiken heidnischen – griechischen und kanaanitischen – Götter. Wenn Spinoza und seine Kinder sich der mittelalterlichen philosophischen Tradition zuwandten und Bialik, Scholem und Kafka aus der Kabbala schöpften, so war die Hinwendung zum Paganismus als Quelle des Säkularen noch radikaler: ein Angriff auf den Gott Israels mittels Anrufung seiner alten Feinde. 74

Bereits im späten 19. Jahrhundert hatte sich eine Reihe von Schriftstellern, allen voran Micha Josef Berdyczewski (auf den später noch ausführlich eingegangen wird), gegen den Gott der Bibel und des Talmud aufgelehnt, indem sie nach anderen Göttern suchten, deren Stimmen jahrhundertelang von Propheten und Rabbis unterdrückt worden waren. Viel später noch, in den 1960er Jahren nämlich, fand der rekonstruktionistische Theologe Richard Rubenstein, angesichts des Holocaust vom biblischen Gott der Geschichte enttäuscht, Inspiration in der zionistischen Rückkehr in das Land und zu den von den alten Kanaanitern verehrten heidnischen Naturgöttern.112 Eine der frühesten Stimmen, welche diese heidnische Gottesvision zum Ausdruck brachten und mit der dieses Kapitel abgeschlossen werden soll, war der Dichter Saul Tschernichowski (1875–1943). Tschernichowski und ­Bialik als die beiden Dichtergiganten der hebräischen nationalen Renaissance werden oft auf eine Stufe gestellt. Während Bialik der Welt der Jeschiwa, der er entstammte, bei aller Auflehnung in Sehnsucht verbunden blieb, kam Tschernichowski aus einem akkulturierteren Milieu. Seine Eltern waren traditionelle Juden, jedoch auch Anhänger der Haskala, und über seine Unterweisung in der Bibel und im Hebräischen hinaus hatte er ab seinem zehnten Lebensjahr eine russische Schule besucht. Infolgedessen war seine Dichtung offen für eine Vielfalt kultureller Einflüsse, zu denen namentlich das hellenistische Schönheitsideal gehörte. 1899 schrieb der junge Tschernichowski das Gedicht Vor dem Standbild Apolls (Le-nochach Pessel Apollo), in dem der tiefe innere Konflikt eines Juden zum Ausdruck kommt, der sich zwischen den zwei Welten, der jüdischen und der heidnischen, hin- und hergerissen fühlt.113 Ebenso wie Heine Apollo als den Gott sah, mit dem die Juden ringen müssen, fand auch Tschernichowski im Bild des griechischen Gottes die Herausforderung für seine jüdischen Zeitgenossen. Der Dichter tritt an die Statue des »von allen vergessenen« Gottes heran. Es ist der Gott der Kraft und Vitalität, eine Übertragung von Nietzsches Dionysischem in dessen vorgebliches Gegenteil: »Sieh mich vor dir stehn! Von allen Vergessner! Gott alter Zeit und anderer Tage, Herr über Ströme von blühenden Menschen, jugendlich schäumend in wuchtigen Wellen! […] Sie mich vor dir stehn! Erkennt mich dein Auge? Ich bin ein Jude! … Dein Erzfeind seit jeher […] Beug mich dem Leben, der Kraft und der Schönheit, beug mich der Jugend, die wirbelwindartig 75

welkender Menschen Brut scheucht und vertreibet, die meinem Gott nach dem Leben getrachtet, Führer der kühnen Erstürmer Kanaans, mit der Tefilin Riemen gefesselt.«

Am Ende des Gedichts scheinen der Gott Apollo und der Gott der Hebräer miteinander zu verschmelzen. Einst hatten auch die Hebräer einen ebenso kraftvollen Gott wie Apollo, den sie jedoch mit Gebetsriemen, mit der jüdischen Religion also, fesselten. Anstatt den Juden an ihren Gott zu binden, fesseln die tefillin hier Gott und berauben ihn seiner Macht. Während Heine Apollo in einen freidenkerischen aschkenasischen Juden und damit eine Parodie des europäischen Judentums verwandelt, wird Tschernichowskis Apollo, der gleichzeitig für den allmächtigen Gott der Bibel steht, von seinem Volk besiegt. Für Tschernichowski erfordert der Weg zur nationalen Wiedergeburt die Befreiung dieses Gottes von der Religion, gleichbedeutend mit der Befreiung der Juden von den sakralen Fesseln, die sie sich selbst auferlegt hatten. Indem der säkulare Nationalist sich jene Götter, gegen welche die Israeliten in den Kampf gezogen waren, zu eigen macht, kann er den Gott besiegen, in dessen Namen Priester und Rabbiner Israel versklavt hatten. In jeder der drei beschriebenen Varianten des jüdischen Säkularismus findet eine Auflehnung gegen den jüdischen Gott zugunsten einer jeweils anderen Auffassung des Göttlichen statt: zugunsten der Natur, der Leere und des Paganismus. Freilich setzten sich nicht alle Säkularisten auf diese Weise mit der Überlieferung auseinander. Manche begnügten sich schlicht mit der Negation Gottes. Doch der Einfluss Spinozas war so groß, dass viele der sich am entschiedensten und nachhaltigsten Artikulierenden unter den jüdischen säkularen Denkern ebenso gotttrunken wurden wie er. Ob ihre Alternative zum Gott der Bibel nun maimonidisch, spinozistisch, kabbalistisch oder pagan war, sie deuteten jedenfalls die überkommene Theologie neu aus in dem Bestreben, das Göttliche auf die Erde herunterzubringen. Um also verkünden zu können, dass ihr Judentum »nicht im Himmel« sei, bedurfte es zunächst einer säkularen Neuauslegung der Schrift, auf der die jüdische Religion beruht.

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2. Tora: Die säkulare jüdische Bibel

Der jüdische Mediziner, Schriftsteller und spätere Zionist Max Nordau widmete ein Kapitel seiner ikonoklastischen Schmähschrift Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit (1883) einer Pauschalattacke gegen die Religion als primitive Denkform. Ins Visier nahm Nordau unter anderem die Bibel, über die er sich folgendermaßen äußerte: »Wir unterscheiden in diesem Wust altpalästinischen Aberglauben, dunkle Anklänge an indische und persische Fabeln, mißverstandene Nachahmungen egyptischer Lehren und Bräuche, ebenso trockene wie geschichtlich unzuverlässige Chroniken, all­ gemein menschliche, erotische und nationaljüdisch-patriotische Poesien, die sich selten durch Schönheiten ersten Ranges, häufig durch Überschwenglichkeit, Rohheit, schlechten Geschmack und echt morgenländische Sinnlichkeit auszeichnen. Als literarisches Denkmal ist die Bibel weit jünger als die Veden […]; an poetischem Werth steht sie hinter Allem zurück, was selbst Dichter zweiten Ranges in den letzten zwei Jahrtausenden geschaffen haben […]; ihre Weltanschauung ist kindisch und ihre Moral […] empörend.«1

Diese Ansichten teilte er sicherlich mit anderen Juden, welche die Last der jüdischen Religion zugunsten eines kosmopolitisch-europäischen Selbstverständnisses abschütteln wollten. Im Buch der Bücher konnte Nordau nichts Erlösendes ausmachen: Das Gedankengut darin beurteilte er als unoriginell, literarisch so gut wie wertlos und die einzelnen Ideen als entweder lachhaft oder abstoßend. Aus der Äußerung Nordaus ließe sich schließen, dass jüdische Säkularisten nicht umhin konnten, die Relevanz der Bibel als Quelle des Judentums für die moderne Lebenswelt infrage zu stellen. In der Tat war Spinozas Eröffnungssalve in seinem Krieg gegen die offenbarte Religion eine solche Attacke. Jedoch darf man daraus nicht übereilt die Schlussfolgerung ziehen, dass säkulares Denken zwangsläufig darauf hinauslaufen müsse, die Schrift zu verwerfen. Auch bei Leugnung der göttlichen Urheberschaft der Bibel ließe sich diese als Geschichts- oder Literaturwerk und demnach als Quelle einer explizit säkularen Tradition anerkennen. Diesen Entwicklungsprozess hat Jonathan Sheehan in Bezug auf Deutschland und England im 17.  und 18. Jahrhundert nachvollzogen. Weit davon entfernt, die Religion völlig zu negieren, machten die Aufklärer dieser beiden Länder sie sich unter den neuen 77

Bedingungen zu eigen, indem sie in der Bibel nicht mehr den Erlösungstext sehen wollten, sondern ein Kulturdenkmal.2 Auch die Juden eigneten sich in dem Modernisierungsprozess, den sie durchliefen, die Bibel als kulturellen, historischen oder nationalistischen Text wieder an. Die »Bibel der jüdischen Aufklärung«, um Sheehans Begriff aufzugreifen, unterschied sich grundlegend von der Bibel der europäischen Aufklärung, da sie zugleich für die Integration der Juden in die Mehrheitsgesellschaft wie auch als Quelle eines neuen, nichtreligiösen Selbstverständnisses in Dienst genommen wurde. Dies geschah auf vielfältige Weise, so bildete etwa die Bibel den Rahmen für den ersten hebräischen Roman Ahavat Zion (Zionsliebe; 1853) von Avraham Mapu, in dem die romantische Freiheit der biblischen Zeit implizit mit der rabbinischen Unterdrückung im osteuro­ päischen Judentum kontrastiert. Richard Cohen hat veranschaulicht, wie jüdische Intellektuelle von Moses Mendelssohn bis zum Künstler Ephraim Moses Lilien versuchten, die von der christlichen Gelehrsamkeit beanspruchte Bibel für die Juden zurückzuerobern.3 Manche dieser Bestrebungen waren ganz traditioneller Art, wie Mendelssohns Be’ur (Kommentar) zu seiner deutschen, in hebräischen Lettern gesetzten Bibelübersetzung. Zum Zweck der Aufklärung des jüdischen Lesers rekurrierte Mendelssohn dabei in erheblichem Maß auf die kanonischen mittelalterlichen Kommentatoren. Andererseits enthielt die von Lilien im Stil des Art nouveau illustrierte Bibel Gestalten von anstößiger Nacktheit, unter anderem ein Bild von Theodor Herzl als Engel, der Adam und Eva aus dem Garten Eden vertreibt, und von Haman als gekreuzigtem Christus. In diesem Kapitel sollen einige der radikaleren »Bibeln der jüdischen Aufklärung« in den Blick genommen werden – jene, die sich von den überkommenen religiösen oder ethischen Lesarten der Tora lösten. Spinoza und nicht Mendelssohn ist der Vorvater dieser säkularen jüdischen Bibel. Nach einer Untersuchung der Vorläufer von Spinozas säkularer Bibelauslegung werden wir uns mehreren seiner geistigen Schüler zuwenden: Heinrich Heine,­ Sigmund Freud, Ahad Ha’am, Micha Josef Berdyczewski, David Ben-Gurion sowie Joseph Chaim Brenner. Indem sie die Bibel religiös »gegen den Strich bürsteten«, verwendeten diese Intellektuellen sie als Bausteine ihres eigenen säkularistischen Gedankengebäudes. Im Vokabular der Rabbinen ist der Begriff »Tora« nicht auf das schriftliche Gesetz begrenzt, er schließt auch das mündliche Gesetz ein, das nach rabbinischer Auffassung Moses ebenfalls am Berg Sinai offenbart wurde. Nach dieser Sicht bildete der Status der Bibel lediglich den Ausgangspunkt für eine säkulare Variante der Tora. Es galt, die gesamte jüdische Geschichte auf fundamental säkulare Weise kritisch in den Blick zu nehmen und sie, von 78

der Vorstellung befreit, dass es eine übernatürliche Vorsehung gebe, neu zu schreiben. Ein besonderes Angriffsziel bildete dabei der Talmud, jenes gewaltige Kompendium rabbinischer Literatur, das seit der Spätantike die Grundlage für die jüdisch-orthodoxe Glaubenspraxis bildete. Es ist interessant, dass die heftigsten Attacken gegen den Talmud von Reformern wie ­Abraham Geiger ausgingen, die es vorzogen, ihre neue Vorstellung vom Judentum auf die Bibel zu gründen. Säkulare jüdische Denker hingegen griffen das offenbarte Judentum im Allgemeinen an der Wurzel an – der Bibel selbst. Dessen ungeachtet war die neue, säkulare Tora das Produkt der modernen Geschichtswissenschaft, die aus der nachbiblischen Geschichte der Juden eine Geschichte der Menschen machte. Im letzten Kapitel dieses Buches werden wir zur Betrachtung der Geschichte als Quelle des jüdischen Säkularismus zurückkehren.

Vordenker Ebenso wie das Thema »Gott« hatte auch das der säkularen jüdischen Bibel in der prämodernen religiösen Tradition bedeutende Vordenker. Im ersten Kapitel wurde die These vorgestellt, die Bibel berge den Keim ihrer eigenen Gefährdung in sich. Wenn das Wort »Tora« bedeuten soll, dass hier das Wort Gottes übermittelt wird, so sprengen manche Bücher der Tora diese theologische Konsistenz. Es ist offensichtlich, dass die Verfasser der Bibel ihr nicht die Stimmigkeit verliehen, die spätere Theologen befriedigt hätte. Doch nicht nur die biblischen Redaktoren tolerierten eine große Vielfalt innerhalb der Schrift. Die ihnen folgenden Rabbinen entwickelten die außerordentlich subtile Midrasch-Methode, nach der die Unstimmigkeiten und Widersprüche im Text ergründet werden sollten. Die meisten dieser Midraschim sind natürlich um nichts säkularer als die in der Einleitung zu diesem Buch er­ örterte Geschichte des Rabbi Elieser. Doch insofern als die Rabbinen die Bibel als Plattform für ihre literarische Kunstfertigkeit nutzten, zogen sie, wie die Gegner des Rabbi Elieser, die Tora vom Himmel auf die Erde herab. Die wohl erstaunlichste Verwendung der Bibel für rein säkulare, literarische Zwecke findet sich in der Lyrik des muslimischen Spanien a­ l-Andalus, dessen Dichtern das Hohelied oft als Inspirationsquelle diente. Im Mittelalter wirkte das Hohelied in zweierlei Art nach. Zum einen wurde es zum zentralen Text der Kabbalisten des 13. Jahrhunderts, die in der Erotik dieser Dichtung eine Allegorie auf die erotischen Beziehungen zwischen den männlichen und weiblichen Potenzen (sefirot) Gottes sahen. Sie hoben Rabbi Akivas Interpretation 79

des Hohelieds auf eine ganz andere Stufe, indem sie die ihm innewohnende Sinnlichkeit von der menschlichen in die göttliche Sphäre versetzten. Zum anderen und ganz im Gegensatz hierzu nahmen sich die hebräischen Dichter des Mittelalters auf der Iberischen Halbinsel das Hohelied zum Vorbild, wenn sie säkulare erotische Dichtung schrieben. Inspiriert von der säkularen arabischen Lyrik dieser Zeit wollten diese Dichter unter Beweis stellen, dass das Hebräische als die Sprache, der sie sich im 12.  Jahrhundert zuwandten, ebenso viele künstlerische Möglichkeiten bot wie das Arabische.4 Wenn Araber Liebesgedichte schreiben konnten, so vermochten das die Juden ebenso, enthielt doch die hebräische Bibel das größte Liebesgedicht überhaupt. Wie die Kabbalisten gaben diese Dichter dem Hohelied seine ursprüngliche Poetik wieder, nunmehr jedoch für rein säkulare Zwecke. Viele von ihnen widmeten sich auch der religiösen Dichtung, für die das Hohelied weiter als Inspirationsquelle diente, doch es ist das abrupte, überraschende Auftreten säkularer Lyrik, das unsere Aufmerksamkeit fesselt. Es war dies, so Robert Alters These, eine Aneignung der Bibel als kanonisches Werk der säkularen Literatur.5 Nehmen wir ein Beispiel aus der Dichtung des spanisch-jüdischen Dichters Solomon Ibn Gabirol (1021–1058). Es ist durchaus möglich, dass Ibn­ Gabirol als Neuplatoniker sein Gedicht als philosophische Allegorie, vielleicht über den Messias (siehe die letzte Zeile), konzipierte. Doch es kann auch schlicht als Liebesgedicht gelesen werden, wie auch das ihm als Vorbild dienende Hohelied ursprünglich wohl ein säkulares, erotisches Werk war: »Die geschlossene Pforte – steh auf und öffne sie Und die Gazelle, die geflohen ist – sende sie mir wieder! Bei Anbruch des Tages, wenn du kommst, zwischen meinen Brüsten zu liegen Wird ein wunderbarer Duft auf mir ruhen Welche Gestalt hat dein Liebster, schönste Braut Dass du mir sagest: ›Sende nach ihm und bringe ihn?‹ Ist sein Auge hell, sein Haar rötlich und sein Antlitz schön? Meine Geliebte, meine Teure – steh auf und salbe ihn!«6

Obgleich Dichter wie Ibn Gabirol nicht als säkular im modernen Wortsinn zu betrachten sind, verwandelten sie die Tora in eine Quelle einer durch und durch irdischen Lyrik. Ein anderer solcher Dichter und Philosoph war Abraham Ibn Esra (1092/93– 1167). Dass seine bibelexegetischen Schriften kanonischen Charakter annahmen, rührte weitgehend daher, dass er in seinen Betrachtungen den Schwerpunkt auf eine wörtliche und grammatische Lektüre des Bibeltextes legte. 80

Diese Sichtweise veranlasste ihn zugleich, mit eigenen häretischen Gedanken zu spielen, die er von Baruch Spinoza übernahm und zu einer regelrechten säkularen Bibelauslegung erweiterte. Die bekanntesten subversiven Ideen Ibn Esras werden von Wendungen eingeleitet wie »der Verständige versteht« oder »der Einsichtige versteht«. Mit diesen Formulierungen deutete er an, ohne es explizit zum Ausdruck zu bringen, dass er zumindest einige unkonventionelle Gedanken hegte. So schlug er zu Gen 12,6 – »es wohnten aber zu der Zeit die Kanaaniter im Lande« – zwei mögliche Interpretationen vor: Entweder beziehe sich die Vergangenheit in dem Vers auf eine entfernte Vergangenheit: Bevor die Kanaaniter das Land Kanaan eroberten, habe es im Land andere Bewohner gegeben. Oder aber »es ist ein großes Geheimnis und der Weise schweigt dazu« – und diese zweite, mysteriöse Deutung lässt sich unschwer erraten: Die Worte könnten auch eine Beziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit herstellen. Dann hätte der Autor den Vers verfasst, nachdem die Kanaaniter aus dem Land vertrieben worden waren, also nach Moses’ Tod. Da Gen 10 die Kana­ aniter als erste Bewohner des Landes nennt, ist Ibn Esra eindeutig so zu verstehen, dass der Vers nach dem Tode Moses’ verfasst worden ist. Der Vers wäre dann eine Interpolation, eine Einfügung von anderer Hand, von jemandem anders als Moses, welcher der Tradition nach als Verfasser der gesamten Tora angenommen wird. In seinem Kommentar zu Dtn 1,1–3 führt Ibn Esra eine Reihe anderer Abschnitte an, die ähnliche Interpolationen zu sein scheinen. Ibn Esra ist jedoch weit davon entfernt, wegen dieser vereinzelten Verse Moses’ Autorenschaft für die gesamte Tora zu leugnen. Er äußert sich vernichtend über Rabbi Isaaks Standpunkt, der Vers »Die Könige aber, die im Lande Edom regiert haben, bevor Israel Könige hatte, sind diese« (Gen 36,31) sei unter der Herrschaft des Königs Jehoschaphat verfasst worden, und meint abschließend, dieses blasphemische Werk sei dem Feuer zu übergeben. Ebenso verurteilt er die Ansichten von Chiwi al-Balchi mit einem Wortspiel auf seinen Namen, Chiwi ha-kalbi (Chiwi der Hund).7 Der im 9.  Jahrhundert lebende persische Jude Chiwi al-Balchi, den wir nur aus Anfeindungen anderer gegen ihn kennen, war vielleicht der Erste, der stark von der rationalistischen arabischen Philosophie beeinflusst war. Offensichtlich gelangte er zu dem Schluss, dass der biblische Gott nicht all­ wissend und allmächtig, sondern ungerecht und wankelmütig sei und Blut und Opfergaben liebe. Die Bibel sei voller Anthropomorphismen und Widersprüche. Einer Schule der muslimischen Philosophie folgend stellte er fest, die biblischen Wunder könnten sich unmöglich ereignet haben, da doch alles vorbestimmt sei. Chiwis Position ging daher weit über eine bloß kritische Bibellektüre hinaus. Nach seiner Auffassung stand die Bibel – und daher die 81

jüdische Religion – vielmehr mit allem, was der Verstand lehrt, im Konflikt. Mit seiner Wiedergabe der Ansichten Chiwis und anderer weniger bekannter radikaler Denker, und sei es nur zum Zweck ihrer Widerlegung, gibt uns Ibn Esra einen Einblick in das erstaunlich breite Spektrum von Meinungen, die in der damaligen jüdischen Welt verbreitet waren. Ibn Esras Radikalismus beruht nicht nur auf seiner Entdeckung von Einfügungen innerhalb des Bibeltextes, die nicht auf Moses zurückgehen konnten. Die Interpolationen waren vielmehr das Ergebnis einer umfassenderen Theorie der wörtlichen Exegese, nämlich Ibn Esras Versuchs eines immanenten Textverständnisses. Indem er sich gegen die Philosophiebegeisterung stellte, die jüdische Intellektuelle ergriffen hatte, wies er jedwede seit dem 10. Jahrhundert zur gängigen Praxis gewordene Allegorisierung des Textes zurück, eine Praxis, die dem Wunsch entsprungen war, die Bibel mit der mittelalterlichen Wissenschaft und Philosophie in Einklang zu bringen. Ibn Esra zufolge entlarvten solche Allegorien oft eine dürftige Kenntnis sowohl des Bibeltextes als auch der zeitgenössischen Wissenschaft. So habe zum Beispiel ein bestimmter spanischer Exeget in seinem Bestreben, eine Übereinstimmung zwischen der biblischen Schöpfungsgeschichte und der ptolemäischen Astronomie nachzuweisen, sowohl die wörtliche Bedeutung des Textes wie auch die astronomische Wissenschaft verfälscht. Ibn Esra spricht sich nicht nur gegen die Einbringung wissenschaftlichen Gedankengutes in die Bibel, sondern auch gegen die Verzerrung des Textes durch fälschliche Anpassung der Wissenschaft an ihn aus. Denselben Vorwurf erhebt er gegen Saadia Gaon, den Begründer der mittelalterlichen jüdischen Philosophie: »Und diesen Pfad beschritt Saadia Gaon im Exil und in dem Kommentar zu ›es werde Licht‹ fügte er Ansichten ein, die dem Wissen der Astronomie, wie es von den Astronomen vertreten wird, widersprechen.« Gegen alle, die wie Saadia den Text mit ihren vorgefassten philosophischen Ansichten in Einklang brachten, »werden wir uns nicht wie Blinde an der Wand entlangtasten, um Dinge unseren Bedürfnissen entsprechend hervorzuziehen. Und warum sollen wir das Offensichtliche ins Verborgene kehren«.8 Primäre Aufgabe der Exegese ist für Ibn Esra die Aufdeckung der wörtlichen Textbedeutung. Diese wörtliche Bedeutung möge Allegorien beinhalten, doch seien diese der biblischen Sprache immanent. Zudem sei die­ biblische Sprache nicht philosophisch, sondern alltäglich: »Die Bibel spricht Menschensprache«. Folglich enthalte die Bibel vielfältige Redewendungen, die zum Beispiel darauf hinweisen, dass Gott einen Körper oder Gefühle habe. Diese Feststellungen seien weder wörtlich noch allegorisch zu nehmen. Vielmehr seien sie einfach eine umgangssprachliche, menschliche Art und 82

Weise, über Gott zu sprechen, und es ließen sich aus ihnen keine philosophischen Wahrheiten ableiten. Das Diktum »Die Bibel spricht Menschensprache« ist bei Ibn Esra nicht bloß eine, wenn auch äußerst radikale, linguistische Position, sondern hängt mit einer größeren Fragestellung zusammen. Der Verfasser der Bibel habe pädagogische und nicht philosophische Ziele verfolgt, weshalb er sein Werk der Sprache und dem Verständnis der einfachen Menschen angepasst habe. Auch die Perspektive, aus der die Bibel die Welt sieht, sei eine menschliche. Die Erschaffung der Welt sei aus irdischer Sicht zu verstehen: Der Himmel in der Schöpfungsgeschichte sei der Himmel, den wir sehen, und nicht der supralunare »Himmel über dem Himmel«. Die Bibel befasse sich nur mit der sublunaren, für den Menschen sichtbaren Welt und nicht mit der supra­ lunaren, die in den Büchern über Astronomie zu finden sei. Da die Bibel die Sprache der Menschen spreche, und zwar aus der Sicht der Menschen, enthalte sie kein philosophisches oder astronomisches Wissen, vielmehr sei dieses Fachwissen in anderen Büchern zu finden. Ibn Esras Aussage, die Bibel spreche allein aus der Perspektive der Menschen, kommt der kühnen Behauptung gleich, die Bibel enthalte nicht alles Wissen. Die Thematik der Bibel sei zwar heilig, ihr Kommunikationsmedium jedoch ein weltliches: In seinem Status unterscheide sich das Hebräische nicht von anderen Sprachen. Da die Sprache rein instrumentell sei, ließen sich weder philosophische noch sonstige Schlussfolgerungen aus den geringfügigen Wortvariationen ableiten, solange die grundlegende Bedeutung unverändert bleibe. Dergestalt meldete Ibn Esra gravierende Zweifel an der gesamten Disziplin des Midrasch an, deren Auslegungen oft auf ebendiesen Wiederholungen und Variationen in der Textsprache basieren. Alles aus solchen Deutungen abgeleitete »Wissen« ist in seinen Augen Unsinn: Die Bibel mag der Ursprung allen Wissens sein, stellt selbst aber nicht das gesamte Wissen dar. Diese wörtliche Lesart der Bibel sollte von Bibelkritikern der Neuzeit, von Spinoza bis Abraham Geiger, einem der Begründer des Reformjudentums, übernommen werden.9 Indem er das aus der Bibel ableitbare Wissen für begrenzt hielt, machte Ibn Esra das Studium der Natur  – zumindest der supralunaren Welt  – zu einem von der Bibel unabhängigen Thema.10 In der Tat war, wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, das Studium der Natur, das man als die Sphäre des ­säkularen Wissens bezeichnen könnte, Anliegen eines weiten Spektrums jüdischer Denker des Mittelalters, zu denen Abraham bar Chija, Moses Maimonides, Levi ben Gerschon (Gersonides) und Hasdai Crescas gehören.11 Statt aber, wie viele jüdische, christliche und muslimische Philosophen im Mittelalter, die Wissenschaft mit der Offenbarung in Einklang bringen zu 83

wollen, plädierte Ibn Esra dafür, sie voneinander zu trennen und machte damit die Natur zu einer von der Religion unabhängigen Sphäre. Diese radikale Haltung stellte ihn vor einige ernste Herausforderungen. Zum Beispiel glaubte er wie die meisten Naturphilosophen seiner Zeit fest an die Astrologie und führte die ihm widerfahrene Unbill auf die am Tag seiner Geburt herrschende Konstellation der Gestirne zurück.12 Wenn jedoch das eigene Schicksal völlig von den Sternen bestimmt wird, welche Rolle spielt dann Gott in der Welt? In seinem Kommentar zu dem rabbinischen Spruch »Israel hat kein Sternbild (masal)« bemühte sich Ibn Esra um den Nachweis, der Glaube an Gott könne das Diktat der Astrologie aufheben. Seine Lösung dieses Rätsels stützte sich auf eine quasipantheistische Theologie. In Anlehnung an die arabischen Neuplatoniker behauptete er, dass Gott nicht nur transzendent, sondern auch in der ganzen Welt anwesend sei. Die Aufhebung des Determinismus der Sterne ging mit der Aktivierung dieser göttlichen Immanenz einher. Dieser Pantheismus, genauer gesagt: dieser Panentheismus (die Vorstellung, Gott sei überall in der Welt präsent und zugleich transzendent), machte Ibn Esra zum Vorläufer solcher modernen Denker wie Spinoza und dem im 19. Jahrhundert wirkenden Aufklärer Nachman Krochmal.13 Weit davon entfernt, die Existenz des biblischen Gottes zu leugnen, stellte Ibn Esras Theologie Gott mit der Natur auf eine Weise gleich, der sich auch entschiedenere Leugner der biblischen Offenbarung durchaus hätten anschließen können. Im Gegensatz zu Ibn Esra scheute sich Moses Maimonides nicht, von ihm als »figurativ« bezeichnete Auslegungen zu formulieren, wo immer die Wissenschaft der Bibel widersprach.14 Am bekanntesten ist seine Anwendung dieser Methode auf Bibelverse, in denen Gott Körperlichkeit zugeschrieben wird. Da er wie alle anderen jüdischen, muslimischen und christlichen Philosophen die Auffassung vertrat, Gott habe weder Körper noch sonstige menschliche oder andere irdische Attribute, meinte er, hinter diesen wiederholten Anthropomorphismen der Bibel müsse eine andere Bedeutung verborgen sein. Diese andere Bedeutung wollte er durch »figurative«, also allegorische Exegese erhellen. Nur dort, wo die Wissenschaft der Bibel nicht offen widerspreche, wie etwa hinsichtlich der Frage, ob die Welt ewig oder in der Zeit geschaffen sei, habe der Philosoph figurative Auslegungen des Textes zu vermeiden.15 Warum bediente sich Moses, der für Maimonides Prophet und Philosoph zugleich war, beim Verfassen der Bibel dann anthropomorphischer Gottesbeschreibungen? Maimonides’ Antwort darauf ähnelt jener Ibn Esras: »Die Bibel spricht in Menschensprache«. Mit der Zitierung dieses Talmudspruchs wollte Maimonides zum Ausdruck bringen, es gelte, einfache Menschen, die 84

nicht über Philosophiekenntnise verfügten, mit für sie verständlichen Begriffen zu belehren. Dieses Prinzip der »Anpassung« (der Bibel an das Verständnisvermögen des einfachen Volkes) teilte er mit vielen mittelalterlichen Philosophen.16 Indes verwendeten Ibn Esra und Maimonides diesen Gedanken ganz unterschiedlich: Für Ibn Esra enthält die Bibel nur eine Bedeutung, und zwar die, welche in der menschlichen Sprache ausgedrückt wird. Wenn sie der Wissenschaft widerspricht, dann deswegen, weil sie kein wissenschaftlicher Text ist. Für Maimonides enthält die Bibel mehrfache Bedeutungen, insbesondere dort, wo Offenbarung und Wissenschaft einander zu widersprechen scheinen. Inwiefern also nahm Maimonides’ Exegese eine säkulare Lesart der Bibel vorweg? Wie wir noch sehen werden, sollte Spinoza ihn als Beispiel für eine falsche Art der Bibelinterpretation anführen. Doch war er damit vielleicht zu voreilig oder aber er schuldete Maimonides mehr, als er sich selbst eingestehen wollte. Indem Maimonides die Bibel in eine Konfrontation mit der Wissenschaft drängte, stellte er ein Konkurrenzverhältnis her, aus dem die Bibel letztendlich als Verliererin hervorgehen musste. Zu guter Letzt ist es für ihn die Wissenschaft, die entscheidet, was wahr ist, und nur dort, wo die Wissenschaft die Wahrheit nicht festgestellt hat, ist die Bibel wörtlich zu nehmen. Mit dem Eingeständnis, dass die wörtliche Bedeutung der biblischen Geschichten unphilosophisch und dem lücken- und fehlerhaften Verständnisvermögen der Ungebildeten angepasst sei, verliert die Bibel an Glaubhaftigkeit und Ansehen; sie ist dann nur auf allegorischer Ebene zu retten. Dies allerdings funktioniert nur, solange man die Bibel a priori als letztgültige Wahrheit anerkennt. Sobald die Bibel (das Buch der Bücher) zu einem Buch wie alle anderen wird, ist es sinnlos, problematische Passagen allegorisch deuten zu wollen. Somit legt Maimonides’ Methode, obgleich dem Anschein nach durch und durch dem Mittelalter entsprechend, den Grundstein für ihre eigene Dekonstruktion. Auch mit seiner historischen Erklärung der Gebote antizipierte Maimonides die Moderne.17 Im Talmud hatten die Rabbinen bereits versucht, »Gründe« für die Gebote zu finden, das heißt zu erklären, warum dieses oder jenes Gebot seine spezifische Form angenommen habe. Die im 10. Jahrhundert mit S­ aadia Gaon beginnende Entfaltung der jüdischen Philosophie erweiterte diese Bestrebungen maßgeblich, dies im Rahmen des weiter gesteckten Vorhabens, Vernunft und Offenbarung miteinander in Einklang zu bringen.18 Maimonides argumentierte, dass manche Gebote, vor allem die Opfer­ gebote, ihre uns bekannte spezifische Form angenommen hätten, weil sie gezielt den heidnischen Religionen der nicht israelitischen Umwelt entgegenwirken sollten. Ein frühmittelalterliches ethnografisches Werk mit dem Titel 85

Die nabatäische Landwirtschaft, das den Anspruch erhob, die im antiken Nahen Osten sesshafte Volksgruppe der Sabäer zu beschreiben, hatte ihn sehr fasziniert. Die heidnische sabäische Religion, so Maimonides, liefere die Erklärung für die israelitischen Gebräuche. Gott habe die Opfergebote ähnlich denen der Sabäer gestaltet, mit dem Unterschied jedoch, dass sie der Verehrung des wahren Gottes statt falscher Götzen zu dienen hatten. Auf diese Weise sollten die Israeliten veranlasst werden, sich allmählich vom Götzendienst ab- und der wahren Religion zuzuwenden. Zur Zeit der Zerstörung des Tempels hätten die Israeliten den Opferdienst nicht mehr gebraucht, da sie den Götzendienst aufgegeben hatten und Gott nun im Gebet dienen konnten. Maimonides scheint anzunehmen, Gott habe den Opferkult von vornherein so konzipiert, dass er sich schließlich von selbst erübrigen musste. Anders gesagt sei der Opferdienst nur ein Mittel zu einem höheren Zweck gewesen und obsolet geworden, nachdem dieser Zweck erfüllt war. Maimonides spricht von Gottes »göttlicher List« (ormat ha-schem u-tevunato); damit ist gemeint, dass Gott auf indirekte Weise agiert und die Opferungen ihre erzieherische Funktion von selbst erfüllen lässt. Seinem Argument in Bezug auf Wunder getreu, findet diese Form der göttlichen Intervention im Reich des Möglichen, im Reich der Geschichte statt. Die radikale Bedeutung von Maimonides’ Argument hat Generationen von Gelehrten beschäftigt. Meinte er damit, die Zerstörung des Tempels sei ein positives Ereignis gewesen, ein Ausdruck dessen, dass die Juden zu religiöser Reife gelangt waren? Wie ist die in seinem religionsgesetzlichen Werk Mischne Tora (Wiederholung des Gesetzes) vorgebrachte Überzeugung von der Wiedereinführung des Opferdienstes in messianischer Zeit mit der im Führer der Unschlüssigen dargestellten historischen Entwicklung zu vereinbaren? Und wenn die Opferungen obsolet werden konnten, könnte es sich mit dem Gebet nicht ebenso verhalten, insbesondere da Gott im Gebet oft in menschlichen Begriffen vorgestellt wird? Wenn die wahre Gottesverehrung mittels philosophischer Meditation erfolgt, dann könnte das messianische Zeitalter zumindest für die Philosophen die teilweise Außerkraftsetzung des Religionsgesetzes mit sich bringen. Maimonides selbst hat solche Schlussfolgerungen niemals ausgesprochen. Wenn er betont, dass alle Gebote auch gegeben wurden, um die Menschen Gehorsam zu lehren, ist das ein Hinweis darauf, dass aus seiner Sicht die Gründe für die Verkündung der Gebote keine praktischen Implikationen hatten. Es ist kaum anzunehmen, dass der Verfasser des ersten umfassenden jüdischen Gesetzeskodex allen Ernstes beabsichtigte, eine antinomische Bewegung anzuführen. Dessen ungeachtet ist Maimonides’ historische Erklärung der Gebote ein bemerkenswerter Vorläufer der modernen historischen 86

Forschung zum Judentum. Und ebenso wie ein historisch-kritischer Ansatz zu den antiken Quellen der Aufgabe des Gesetzes durch die moderne Reformbewegung zugrunde lag, bot Maimonides’ Rekurs auf ein historisches Argument lange vor dem Siegeszug des modernen Historizismus eine mittelalterliche Quelle für all jene modernen Säkularisten, welche die Tradition mithilfe der Geschichte zu Fall bringen wollten. Yosef Hayim Yerushalmi hat zu Recht darauf hingewiesen, dass nach­ Josephus Flavius Juden üblicherweise nicht über Geschichte geschrieben haben.19 Dennoch gibt es Ausnahmen. Autoren wie Joseph ha-Kohen, D ­ avid Gans und Solomon Usque haben auf unterschiedliche Weise versucht, die Geschichte der Juden im Kontext der Weltgeschichte zu verstehen, wenn auch ihr Fokus theologisch und judäozentrisch blieb. Am bemerkenswertesten ist Salomo ibn Vergas Werk Schevet Jehuda (Stamm Judas), ein Versuch, die Gründe für die Vertreibung der Juden aus Spanien zu rekonstruieren. Obgleich er der traditionellen Idee verhaftet blieb, das Exil sei eine Strafe Gottes, stellte ibn Verga diese Theologie in den Rahmen einer soziologischen Darstellung der Rolle der Juden in der spanischen Gesellschaft sowie der Gründe, die zu ihrer Vertreibung geführt hatten. Obschon noch kein modernes historiografisches Werk, trug diese Darstellung bereits Elemente des Modernen in sich.20 Azarja dei Rossi (1511–1588), Verfasser von Me’or Enajim (Erleuchtung der Augen; 1573), wendete als Erster mit seinen historisch-kritischen Auslegungen der Aggadot (rabbinische Legenden) die Hermeneutik der Renaissance auf jüdische Quellen an. Indem er die Historizität mancher dieser Legenden widerlegte, bahnte er einer moderneren Geschichtsschreibung den Weg. Am bedeutendsten in Dei Rossis Werk war jedoch seine Weigerung, den antiken Texten den Vorzug vor solchen zu geben, denen neuzeitliche Auffassungen zugrunde lagen. Dort, wo die Sprüche der Rabbinen der modernen Wissenschaft widersprachen, plädierte Dei Rossi zugunsten der Wissenschaft. Obschon Dei Rossi schwerlich als Säkularist bezeichnet werden kann, ist kaum etwas von so fundamentaler Bedeutung für eine säkulare Weltsicht, wie der Auffassung zu widersprechen, dass wir Zwerge seien, die auf den Schultern von Riesen stünden. Wie Lester Segal es formuliert hat, glaubte Dei Rossi – was paradox erscheint – daran, dass wir vielleicht Zwerge sind, aber dann am weitesten sehen, wenn wir auf eigenen Füßen stehen.21 Diese Historiografen der Renaissance mögen die moderne Historiografie antizipiert haben, sie wandten aber ihre Einsichten nicht auf die Bibel an, die eine sakrale Geschichte blieb. In gewissem Sinne waren sie weniger radikal als Abraham ibn Esra, obwohl auch dieser selbst von einer modernen historischen Interpretation der Bibel noch weit entfernt war. Diese Innovation, eines der Merkmale des jüdischen Säkularismus, hatte auf Baruch Spinoza zu warten. 87

Spinozas Bibel Im ersten Kapitel wurde die These vorgetragen, Spinoza sei der letzte Häretiker des Mittelalters gewesen und zugleich der erste Säkularist der Moderne. Seine pantheistische Theologie war tief in den Kategorien des Mittelalters verankert, selbst dann noch, wenn er diese verwarf. Dasselbe gilt für seine Deutung der Bibel. Spinoza übernahm Ibn Esras Argumente, um Moses’ Autorschaft der Tora zu widerlegen. Diese Ehre schrieb er Esra dem Schreiber zu, der in der Zeit nach der Rückkehr der Juden aus dem baby­ lonischen Exil (nach 538 v. d. Z.) wirkte. Damit machte er die Tora von einer prophetischen Schrift zu einem lange nach Israels früher Theokratie verfassten historischen Werk. Dessen Autor habe nicht das Wort Gottes vermittelt, sondern sei ein Historiker gewesen, der die frühe Vergangenheit rekonstruiert habe. Spinoza zerlegte die Theologie der Bibel und reduzierte ihre Botschaft auf die einer historischen Kuriosität. Von Ibn Esra übernahm er auch die Behauptung, dass die Bibel nicht alles Wissen enthalte. Wo Ibn Esra in der Bibel nur das Wissen von der sublunaren Welt sah, nahm Spinoza eine weitere Eingrenzung vor, und zwar auf das Wissen um die Geschichte der Israeliten. Statt jedoch damit die Bibel endgültig der Irrelevanz anheimfallen zu lassen, legte Spinoza unabsichtlich das Fundament für ihre später erneuerte Relevanz. Es war seine Methode, die das Werk jener möglich machte, die eine zwischen den Zeilen der Bibel verborgene nichtreligiöse Botschaft retten wollten. Angesichts dessen, was wir bereits über die naturalistische Philosophie Spinozas erfahren haben, überrascht es kaum, dass er einen Großteil der Bibel verwarf. Hatte man den Glauben an die Prophezeiungen und Wundergeschichten abgestreift, schien wenig von den wesentlichen Aussagen der Bibel übrig zu bleiben. Warum jedoch sah sich Spinoza veranlasst, die Bibel mit dieser Argumentation anzugreifen?22 Viele Kommentatoren von ­Spinozas Werk betrachten seine erstmals 1670 veröffentlichte Theologisch-politische Abhandlung als Abrechnung dafür, wie die sephardische Gemeinde in Amsterdam mit ihm verfahren war. Ebenso gut möglich ist aber auch, dass Spinoza diese Ansichten bereits zum Zeitpunkt seiner Exkommunikation vertrat und der cherem eine Reaktion auf seine Weigerung war, von ihnen abzulassen. Hatte Spinoza seine Ansichten über Prophezeiungen, Wunder und die göttliche Urheberschaft der Bibel bereits vor der Exkommunikation kundgetan – wobei die Quellenlage zu dürftig ist, um darüber eindeutig Aufschluss erhalten zu können –, dann verfolgte er mit dem Rahmen, den er ihnen in der Abhandlung gab, eine weiter reichende Absicht. 88

Spinoza schwebte ein Staat vor, in dem der Philosoph frei und sicher wirken könne.23 Die Bibel hatte den  – christlichen wie jüdischen  – religiösen Autoritäten als Instrument zur Unterdrückung aufsässiger Ideen gedient. Ein auf Furcht gründender Staat brauchte solche abergläubische Ideen wie in der Bibel, um den Menschen Gehorsam beizubringen.24 Mit seiner politischen Theorie strebte Spinoza einen auf Vernunft, nicht auf Furcht begründeten Staat an: Nur in einem Staat, in dem Meinungsfreiheit herrsche, könne die Philosophie sich entfalten. Die Philosophie zu schützen heiße, Rede und Meinung von politischer Kontrolle zu befreien, eine Position, die uns so selbstverständlich ist, dass wir zu vergessen geneigt sind, wie kühn und bahn­ brechend Spinozas Forderung war. Um das Wunschziel zu erreichen, musste er nachweisen, dass die Bibel keine philosophischen Wahrheiten enthielt und daher im philosophischen Diskurs keine Geltung haben konnte. So befreite Spinoza die Philosophie von der Religion, eine außergewöhnliche Leistung, war doch die gesamte mittelalterliche – jüdische, christliche und muslimische  – Philosophie bemüht gewesen, die Schrift mit der Vernunft in Einklang zu bringen. Mit einem Schlag hob nun Spinoza eine gesamte Disziplin aus den Angeln, die ein Jahrtausend lang die größten Geisteskapazitäten der drei monotheistischen Religionen beschäftigt hatte. Spinoza vollzog jedoch nicht die völlige Trennung von Kirche (beziehungsweise Synagoge)  und Staat; diese neuzeitliche Errungenschaft ist erst John­ Locke zu verdanken. In der von Spinoza propagierten Republik sollte die Religion dem Staat untergeordnet sein und dazu dienen, moralische Tugend zu lehren. Das Erfordernis einer zivilen Religion sei der dem Volk innewohnenden Irrationalität geschuldet. Diese elitistische Sicht teilte Spinoza mit Philosophen des Mittelalters wie Maimonides, sodass er zumindest in diesem Punkt eher dem Mittelalter als der Moderne zuzuordnen ist. Eine solche Religion würde abergläubischen Vorstellungen keinen Vorschub leisten, wie einem Glauben an Wunder oder an Götter, die zu Menschen werden; es ist jedoch schwer zu verstehen, wie sie ohne Rückgriff auf solche Mittel auf die Imagination der Menschen einwirken könnte. Zuweilen scheint Spinoza der Auffassung zu sein, dass die um die irrationalen Glaubenselemente bereinigte Bibel diesem Zweck dienen könne, da er einräumt, dass sie moralische Wahrheiten lehre. Doch wie genau die biblische oder eine sonstige Religion den Gehorsam der irrationalen Menge festigen können soll, bleibt unklar. In der Tat liest sich die Theologisch-politische Abhandlung zuweilen so, als seien es zwei Bücher in einem: Während der erste Teil ein Generalangriff auf die Bibel darstellt, ist der zweite ein Versuch, die Bibel für eine moderne Republik nutzbar zu machen.25 Spinozas Angriff auf die Bibel ging jedoch über die bloße Kritik fremdartiger Glaubensinhalte hinaus. Er unterzog sie vielmehr einer völlig neuen 89

Deutung. Man könnte sagen, er reduzierte die Bibel auf den Status eines beliebigen Buches unter vielen, dessen Wahrheitsansprüche gleichermaßen kritisch zu prüfen seien. Mehr noch: »Diese Weise der Bibelerklärung, um es mit wenig Worten zu sagen, unterscheidet sich nicht von der Naturerklärung, sondern stimmt mit ihr ganz überein. So wie die letztere vorzüglich darin besteht, das Einzelne in der Natur passend zusammen­ zustellen, um aus diesen festen Unterlagen die Begriffe der natürlichen Dinge ab­ zuleiten, so müssen auch bei der Bibelerklärung die zuverlässigen Thatsachen zusammengestellt und daraus, als den sichern Unterlagen und Anfängen, die Meinung der Verfasser der Bibel in richtigen Folgerungen abgeleitet werden.«26

Die Bibel ist Spinoza zufolge also genau so zu interpretieren, wie wir die Natur interpretieren, aus dem einfachen Grund, dass sie nicht über der Natur steht, sondern Teil von ihr ist. Die Methode, die wir beim Studium der Natur anwenden, ist eine immanente: Die Natur selbst liefert die Ausgangsdaten für ein solches Studium, und es ist unzulässig, zusätzlich etwas von außen, etwa nicht in der Welt begründete theologische Spekulationen, in sie einzuführen. Ebenso können wir die Bibel nur aus ihr selbst heraus verstehen. Natürlich gibt es bei einem Buch vieles andere außerhalb seiner selbst, das seine Bedeutung erhellen könnte, wie etwa die Geschichte der betreffenden Zeit oder die Archäologie; Spinozas immanente Hermeneutik ist daher recht weit von der zeitgenössischen Bibelforschung entfernt. Er beharrte jedoch darauf, dass wir die Bibel nur anhand der Daten entschlüsseln können, die sie uns liefert, weil wir sonst versucht wären, die Philosophie auf sie anzuwenden, und so letztendlich im Morast des mittelalterlichen religiösen Denkens steckenblieben. Was meinte Spinoza, wenn er davon sprach, die Bibel sei aus sich selbst heraus zu lesen? Wenn wir ein bestimmtes Wort oder eine bestimmte Wendung in der Bibel verstehen wollen, müssen wir alle diesbezüglichen Gebrauchsweisen zusammenstellen und mittels dieser induktiven Methode daraus schließen, was das Wort oder die Wendung in dem speziellen Kontext bedeutet. In einem gewissen Sinn ist es eine literalistische Methode, aber völlig zutreffend ist diese Charakterisierung nicht. Spinoza erkennt an, dass jede Sprache Metaphern verwendet, daher kann die Bibel hier und da metaphorisch sprechen. Wenn es zum Beispiel in der Bibel heißt, »Gott ist ein Feuer«, müssen wir zunächst bestimmen, ob diese Feststellung in der Bibel ausgesprochenen Grundsätzen widerspricht, ungeachtet dessen, ob sie der philosophischen Vernunft widerspricht. Nun sagt Moses an mehreren Stellen, Gott sei mit nichts in der physischen Welt vergleichbar. Daher ist der Satz »Gott ist ein Feuer« metaphorisch zu verstehen.27 Wenn wir andere Stellen 90

untersuchen, an denen das Wort »Feuer« vorkommt, so können wir feststellen, dass es auch Eifersucht oder Zorn bedeuten kann. Da es in der Bibel nirgends heißt, dass Gott ohne Emotionen sei, muss die Formulierung »Gott ist ein Feuer« bedeuten, dass Gott eifersüchtig ist. Für Kenner der Ethik Spinozas wird sofort deutlich, dass die Bibel das genaue Gegenteil seiner Philosophie lehrt: Während Spinozas Gott einen Körper (das heißt eine Extension), aber keine Emotionen hat, verfügt der biblische Gott, vielmehr Spinozas eher verzerrte Version dieses biblischen Gottes, über Emotionen, jedoch nicht über einen Körper. Die Bibel erscheint daher als Umkehrung eines philosophischen Textes, da ihr Gottesbegriff das Gegenteil des philosophischen (sprich: spinozistischen) Gottesbegriffs ist. Um die Bibel mittels der immanenten Methode erfassen zu können, sind also hervorragende Kenntnisse des Hebräischen erforderlich. Spinoza, der eine kleine hebräische Grammatik verfasst hatte, beanspruchte für sich, der beste aller Bibelausleger zu sein – in Anbetracht seiner Attacke auf die Vorstellung vom auserwählten Volk ein zarter Hinweis darauf, dass die Juden vielleicht doch gewisse besondere Qualitäten auszeichnen. Er stellte jedoch mit Nachdruck fest, Hebräisch sei nicht anders als jede andere Sprache. Dem von Ibn Esra und Maimonides so geliebten Talmudspruch »Die Bibel spricht Menschensprache« gab Spinoza seine eigene Bedeutung. Wir erinnern uns, dass Maimonides anhand dieses Spruches erklärt hatte, warum die unmittelbare Bedeutung der Bibel im Widerspruch zur Philosophie stehe, sie jedoch, auch wenn sie die Sprache der Menschen spreche, philosophische Wahrheiten in allegorischer Form vermittle. Ibn Esra andererseits verwendete den Spruch als Plädoyer für eine wortgetreue Hermeneutik: Die Bibel lehre keine philosophischen Wahrheiten und sei so zu verstehen, dass sie in einer allen Menschen verständlichen Sprache spreche. Letzteres übernahm Spinoza ganz explizit. Da die Bibel die Sprache der Menschen spreche, könne sie unmöglich philosophische Wahrheiten enthalten; diese ließen sich nur more geometrico, das heißt in einer Fachsprache wie etwa Mathematik, vermitteln. Mit seiner historischen und philologischen Kritik der Bibel stand Spinoza nicht völlig allein. Andere Bibelausleger des 17. Jahrhunderts brachten ähnliche Argumente vor, wenngleich in einem weniger radikalen und kompromisslosen Ton. Vor Spinoza hatte bereits Thomas Hobbes Moses’ Autorschaft infrage gestellt, und Isaac La Peyrère (der vielleicht auch marranischer Abstammung war) hatte die Ansicht vertreten, die Bibel gebe nur die mit Adam und Eva beginnende Geschichte der Israeliten wieder, diesen beiden sei jedoch ein mit den Juden nicht verwandtes »präadamitisches« Geschlecht voraus­gegangen.28 Viele Bibelgelehrte des 16.  und 17.  Jahrhunderts hatten 91

entweder das Hebräische erlernt oder sich entsprechend Hilfe gesucht, sodass Spinozas Anspruch auf Einzigartigkeit nicht haltbar war. Während all diese Gelehrten sich jedoch darüber einig waren, dass die Bibel, gleichgültig, wie man sie auch neu interpretierte, das Wort Gottes war und blieb, stand Spinoza mit der Leugnung dieses jahrhundertealten Glaubens allein. Für Spinoza hatte das Wort Gottes eine zeitlose, universelle Wahrheit. Die Bibel hingegen lehre nur die Geschichte des antiken Israel und sei daher sowohl historisch kontingent als auch auf eine spezifische Nation beschränkt. Als solche habe sie keinen Wert als philosophischer Text. Hin­ gegen habe sie einen Wert als historischer Text (auch wenn Spinozas Philosophie der Geschichte keinen Raum ließ). Dergestalt konzipierte Spinoza, ohne es zu ahnen, mit seiner historischen Interpretation jene Rolle, welche die Bibel schließlich im 19.  Jahrhundert einnehmen konnte, als die Geschichte einen würdigen Platz innerhalb der Geisteswissenschaften erlangt hatte. Spinoza Ziel war es zu zeigen, dass die Bibel keinerlei Relevanz mehr habe. Zu diesem Zweck musste er feststellen, in welchem Sinne die Israeliten »aus­ erwählt« waren. Im ersten Kapitel haben wir erfahren, dass Gott keinen Willen hat und daher kein Volk in dem von der Bibel gemeinten Sinn »auserwählen« kann.29 Anstatt jedoch diese Formulierung zu verwerfen, überträgt Spinoza sie in seine eigene Begrifflichkeit. Alles in der Welt existiere aus Notwendigkeit. Der Charakter der Israeliten sei daher aus Notwendigkeit, wie er sei, und nur in diesem Sinne könne man von ihnen als auserwählt sprechen. Aus demselben Grund sei dann jede Nation kraft ihres essenziellen Charakters erwählt. Eine soziologische oder historische Untersuchung des alten Israel führt Spinoza zu dem Schluss, dass nicht, wie zu vermuten gewesen wäre, religiöse oder moralische Ideen für diese Nation am charakteristischsten waren, sondern erstaunlicherweise ihre politische Verfasstheit: »Und das jüdische Volk ist deshalb nicht wegen seiner Einsicht oder Seelenruhe vor Anderen von Gott auserwählt worden, sondern wegen seiner Verfassung und des Glückes, dass es eine Herrschaft gewonnen und viele Jahre behalten hat […]. Deshalb bestand deren Erwählung und Berufung nur in dem zeitlichen Glück der Herrschaft und der Vortheile […].«30

Der Beweis dieser »Erwählung« liege nicht in den Glaubenslehren der Bibel, sondern in der biblischen Geschichte: Die Bibel bezeuge die langjährige Dauer und den Erfolg des jüdischen Staates. Auch hier, wie bei der biblischen Sprache, sei der Charakter des alten Israel ausschließlich aus der Bibel heraus zu entschlüsseln. Für Spinoza war die Quintessenz dieses Staates die Theokratie, die sich zur Zeit Moses’, Josuas und der Richter entfaltete. Bereits die Institution der Monarchie habe zur Schwächung des Staates geführt, 92

dessen Niedergang sich letztendlich unter der Priesterherrschaft in der Ära des Zweiten Tempels vollzog.31 Jedoch sogar wenn die Bibel, zumindest im philosophisch-begrifflichen Sinn, keinesfalls Gottes Wort war, konnte Spinoza nicht leugnen, dass sie auf irgendeine Weise mit dem Göttlichen in Verbindung stand.32 Da alles, was existiert, eine Wesensform Gottes ist, muss auch die Bibel an dieser göttlichen Substanz teilhaben. Sie war freilich das Fantasieprodukt der Propheten und nicht der Vernunft, doch sogar die Fantasie stellt eine Vorstellung von Gott dar, wie unklar oder inadäquat sie auch sein möge. Denn die Bibel lehrt, wenn auch keine Metaphysik, so doch ewige moralische Wahrheiten. Die Bibel auf ein beliebiges Werk im Bücherregal zu reduzieren, in dem die weit zurückliegende Geschichte einer fernen, kleinen Volksgruppe abgehandelt wird, mochte ihre Wirkmacht auf die Zeitgenossen neutralisieren, doch es beraubte sie nicht völlig ihrer Bedeutung. Ganz im Gegenteil konnte sie als Quelle ethischer Lehren in den Dienst einer liberalen Republik gestellt werden. Und als Quelle für die säkulare Geschichte des jüdischen Volkes vermochte die Bibel für spätere Denker, die sie in ein Kulturzeugnis zu verwandeln strebten, erneut Relevanz erlangen.

Heines portative Religion In Heinrich Heine findet man einen tief in Spinozas Schuld stehenden modernen Leser, der die Bibel für sein auf eigenwillige Art säkulares Projekt wieder dienstbar zu machen suchte. Die Bibel sei, so Heines denkwürdiges Diktum aus dem Jahr 1840, das portative Vaterland der Juden: »Ein Buch ist ihr Vaterland, ihr Besitz, ihr Herrscher, ihr Glück und ihr Unglück. Sie leben in den umfriedeten Marken dieses Buches, hier üben sie ihr unveräußerliches Bürgerrecht, hier kann man sie nicht verjagen, nicht verachten, hier sind sie stark und bewundrungswürdig.«33 Die Griechen und Römer »hingen begeistert an dem Boden«, die Juden hingegen »nur an dem Gesetz, an dem abstrakten Gedanken«,34 eine Formulierung, die in mancher Hinsicht die von Franz Rosenzweig nahezu ein Jahrhundert später entwickelte existenzialistische Philosophie des Judentums vorwegnahm. Indem er ein spirituelles Schriftwerk als das jüdische Vaterland bezeichnete, stellte Heine Letzteres implizit dem kriegsfreudigen, intoleranten deutschen Vaterland gegenüber, das Zielscheibe einiger seiner bissigsten Schriften war. Da das biblische Vaterland die erste nicht territoriale Religion darstellte, behauptet Heine etwas paradox, der moderne Gedanke des Kosmopolitismus 93

»ist ganz eigentlich dem Boden Judäas entsprossen«.35 Die Juden ­»trugen schon im Beginne das moderne Prinzip in sich, welches sich heute erst bey den europäischen Völkern sichtbar entfaltet«. Die Bibel habe die westliche Kultur nicht weniger geprägt, als es die Literatur des antiken Griechenland getan habe. In einer Zeit, in der andere in den Juden ein orientalisches Volk sahen, behauptete Heine das Gegenteil. Aus dem Wunsch heraus, die Juden wieder in die Geschichte der westlichen Kultur einzuschreiben, stellte er fest: »Judäa erschien mir immer wie ein Stück Occident, das sich mitten in den Orient verloren.«36 Wie ironisch also: »Eben das Volk, das der Welt einen Gott gegeben, und dessen ganzes Leben nur Gottesandacht athmete, ward als Deicide verschrien!«37 Zwar wisse der Okzident den Juden nicht zu danken, dass sie die Bibel und ihren Gott aus dem Tempelbrand gerettet hatten, die westliche Kultur habe jedoch im Protestantismus die wesentlichen Grundsätze des Judentums übernommen. Wie Heine über die schottischen Protestanten sagt: »Sind sie nicht Hebräer, deren Namen überall biblisch […] klingt, und deren Religion nur ein Judenthum ist, welches Schweinefleisch frißt?«38 Das fundamentalste Prinzip, das diese Strömung des Christentums vom Judentum übernommen habe, sei die Ethik: »Man hat keine Palme und Cameele nöthig, um gut zu seyn, und Gutseyn ist besser denn Schönheit.«39 Mit diesen Worten, die er gegen Ende seines Lebens niederschrieb, nachdem er zu seiner eigenen Version der Religion zurückgefunden hatte, brach Heine entschieden mit dem Hellenismus seiner Jugend. Doch die Bibel, mit der er sich identifizierte, war das Dokument einer sozialen Revolution, nicht einer Religion. Den Sozialismus, für den er sich seit Langem einsetzte, hatte schon Moses gelehrt.40 In Heines Sichtweise ist Moses größer als Gott. An einer Stelle sieht er in Gott nichts anderes als die biblische Projektion Moses’ auf den Himmel: »Wie klein erscheint der Sinai, wenn der Moses darauf steht! […] manchmal wollte es mich bedünken, als sey dieser mosaische Gott nur der zurückgestralte Lichtglanz des Moses selbst, dem er so ähnlich sieht, ähnlich in Zorn und in Liebe.«41 Wie Freud fast ein Jahrhundert später argumentieren sollte, deutet Heine an, dass die Religion Israels in Wirklichkeit von Moses geschaffen worden sei und nicht von dem geheimnisvollen Geist, mit dem er am Sinai kommuniziert zu haben behauptete. Der kompromissloseste Verfechter der mosaischen Religion, so Heine, war Jesus; über diesen sagte er in Worten, die heute provokanter klingen denn je: »Es giebt wahrhaftig keinen Socialisten, der terroristischer wäre als unser Herr und Heiland.«42 Doch Moses selbst, nicht weniger Sozialist, habe sich auf einen pragmatischeren Standpunkt gestellt: Statt die Abschaffung des Privateigentums zu proklamieren, habe er mittels der Institution des Jubeljahres gesucht, »das Eigenthum in Einklang zu bringen mit der Sittlichkeit«. 94

Ebenso wenig vermochte Moses die Sklaverei abzuschaffen, er bewies jedoch demonstrativ seinen Hass gegen sie mit dem Gesetz, demzufolge ein Sklave, der sich der Freilassung verweigerte, mit dem Ohr an den Türpfosten seines Herren Hauses zu nageln sei. Von diesem Bild inspiriert ruft Heine aus: »Oh, Moses, unser Lehrer, Mosche Rabenu, hoher Bekämpfer der Knechtschaft, reiche mir Hammer und Nägel, damit ich unsre gemüthlichen Sclaven in schwarzrothgoldener Livree mit ihren langen Ohren festnagle an das Brandenburger Thor.«43 So verwandelte Heine »Mosche Rabenu« für die moderne Welt in »Moses unseren Revolutionär«, in den Urheber der sozialen Gerechtigkeit und des Weltbürgertums. Heines Bibel war demnach ein politisches Dokument, ein Ruf zu den Waffen.

Freuds Bibel Heines Aneignung der Bibel für politische Zwecke veranschaulicht, wie die jüdische säkulare Bibel zu einem formbaren Dokument wurde, wenngleich kaum formbarer als in den Händen von Rabbinern, Philosophen oder Kabbalisten. Jedoch stieß seine Deutung der Bibel im 19.  und 20.  Jahrhundert auf große Resonanz, als nicht nur Reformer in der Schrift eher ethische Lehren denn religiöse Gebote suchten. Sigmund Freunds Der Mann Moses und die monotheistische Religion stellt eine weitaus eigenwilligere Auslegung der Bibel dar; doch mit seinem Anspruch, die Bibel als ethischen Text zu lesen, stand Freud, der, wie bereits im ersten Kapitel gezeigt, für Heine eine große Affinität empfand, diesem nicht fern. Als Schlussstein in Freuds Lebenswerk repräsentierte Der Mann Moses sowohl Freuds Anwendung der Psycho­ analyse auf die Bibel wie auch dessen einzigartige Zugehörigkeitserklärung zum jüdischen Volk.44 Wie besonders, ja merkwürdig dieses Werk auch sein mag, es offenbart nicht nur vieles über Freud selbst, sondern auch ganz allgemein über die Art und Weise, in der säkulare Juden die Schrift interpretieren könnten. Obgleich kein Bibelgelehrter, eignete sich Freud – widerrechtlich, würden manche behaupten – die Bibelgelehrsamkeit für seine Zwecke an. Diese in Spinozas Schrift Theologisch-politische Abhandlung entspringende Gelehrsamkeit wusste die Bibel gegen den Strich zu lesen, also dahin gehend zu argumentieren, dass die wahre biblische Geschichte recht verschieden von dem war, was in der Bibel selbst behauptet wurde, wenn nicht gar das genaue Gegenteil. Für den Psychoanalytiker Freud war die Lektüre der Bibel kaum etwas anderes als die Behandlung eines Patienten auf der Couch. Über den Bibeltext 95

heißt es bei ihm (wie es ebenso gut über die Psychoanalyse hätte heißen können): »Auffällige Lücken, störende Wiederholungen, greifbare Widersprüche, Anzeichen, die uns Dinge verraten, deren Mitteilung nicht beabsichtigt war«, seien alles Hinweise auf eine Wahrheit, die hinter dem Anschein verborgen liege.45 Dies ist auch die Methode der Bibelkritik im Allgemeinen, die in Textfehlern Spuren der realen Geschichte des alten Israel findet. Freud geht mit dieser Methode sogar weiter, indem er erklärt: »Es ist bei der Entstellung eines Textes ähnlich wie bei einem Mord«.46 Für den Verfasser wie auch den Mörder sei es schwerer, die Spuren zu verwischen, als die Tat zu begehen. Jedoch meinte Freud damit das, was er zwischen den Zeilen vorzufinden glaubte, nämlich die Ermordung des Religionsstifters, denn, so seine Behauptung, die Israeliten hätten aus Unwillen, die ihnen von Moses aufgenötigte Religion anzunehmen, diesen in der Wüste getötet. So, meint zumindest Freud, verschleierten die Lücken und Verfälschungen in der Bibel in der Tat einen Mord. Bekanntlich behauptete Freud, der echte Moses sei Priester im Dienste des Pharaos Ikhnaton gewesen, von dem er den Gedanken des Monotheismus übernommen habe. Nach dem Ende der Herrschaft Ikhnatons floh Moses mit einer Schar von Sklaven, die er zu einem dem Eingottglauben verpflichteten Volk machte. Es war nicht Gott, sondern, wie schon der Titel des Werkes Der Mann Moses und der Monotheismus unterstreicht, Moses der das jüdische Volk schuf, und dessen Führer war kein Einheimischer, sondern ein Fremder, wie auch die Religion fremd war. Nicht Gott erwählte die Juden, sondern Moses, der sie zu »seinem« Volk machte.47 Die Vorstellung vom erwählten Volk sei daher das Ergebnis einer Projektion: Die Israeliten hätten denjenigen abgesetzt, der sie in den Himmel erwählt hatte. Spinoza hätte Gefallen an dieser Deutung gefunden. Freud hat damit den Juden nicht nur ihren Gründungsvater aberkannt, sondern auch den ihnen eigenen Ursprung ihrer Religion. Wenn es einerseits einem »Mord« an dem Begründer der jüdischen Nation gleichkommt, Moses zu einem Ägypter zu machen, so wiederholte Freud mit seiner These den Mord, den die Israeliten in der Wüste an Moses begangen hatten. Wenn er sich andererseits mit Moses identifizierte, wofür einiges spricht, dann sah er sich vielleicht selbst als jemanden, der die Grenze in die entgegengesetzte Richtung, aus der jüdischen in die nichtjüdische Welt, überschritt, um seine Psychoanalyse zu offenbaren. Im dritten und längsten Teil des Werkes, dessen Veröffentlichung er zurückhielt, bis er sich 1938 zur Flucht nach England gezwungen sah, ging Freud noch viel weiter. Nachdem er Moses den Hebräer in den ersten beiden Essays sinnbildlich gesprochen ermorden ließ, lässt er ihn im letzten wieder 96

auferstehen. Dabei äußert sich Freud über die Juden in weitaus positiverer Weise als zuvor. Die Fragestellung der ersten beiden Teile war, ob Moses ein Ägypter war, und indem er dies bejahte, bewegte sich Freud im Rahmen der modernen Bibelforschung, wenn er dafür auch die seiner These dienenden Anhaltspunkte bis aufs Äußerste ausreizen musste. Im dritten Teil jedoch befasste er sich mit einer anderen Frage: Wer sind die Juden, und warum werden sie gehasst? In seiner Vorbemerkung zu diesem Teil des Buches, die er vor seiner Ausreise aus Österreich im Juni 1938 schrieb, ergeht sich Freud auf eher merkwürdige Weise in einer sarkastischen Kritik Sowjetrusslands, des faschistischen Italien und Nazideutschlands, um zu zeigen, wie, zumindest im Falle der beiden ersten Staaten, Barbarei und Fortschritt Hand in Hand gegangen seien.48 So habe die Sowjetunion die Religion abgeschafft und die sexuelle Freiheit gefördert – was beides von Freud gutgeheißen wird –, doch habe sie das mittels ungeheuerlicher Zwangsmaßnahmen vollbracht. Auch die Italiener hätten barbarische Mittel angewendet, um Ordnung zu schaffen, während die Nazis dasselbe »ohne Anlehnung an irgendeine fortschrittliche Idee« getan hätten. Wieso hielt Freud diese banalen Bemerkungen für notwendig? Die Antwort darauf findet sich in der Schlussfolgerung am Ende des dritten Teils: Die Juden haben schon vor langer Zeit entdeckt, wie sich geistiger Fortschritt ohne äußeren Zwang erreichen lässt, und so tritt das Judentum als die wahre Alternative zu diesen modernen Albträumen in Erscheinung. Die Schwierigkeit des dritten Teils liegt darin zu zeigen, wie die Geschichte des alten Israel den Ursprung der Religionen wiederholt, den Freud ein Vierteljahrhundert zuvor in Totem und Tabu geschildert hatte. In diesem Werk hatte er behauptet, die prähistorische »Urhorde« habe sich gegen den patriarchalischen Führer aufgelehnt und ihn getötet, dann aber aus Schuldgefühl an seiner statt einen Totemgott geschaffen. Ebenso, sagt er nun, habe es sich auch mit dem Mord an Moses verhalten. Hier aber bringt Freud eine weitere Theorie aus seinen Studien über die kindliche Entwicklung ins Spiel. Die im sexuellen Reifeprozess von Knaben auftretende Latenzperiode wird als Erklärung dafür herangezogen, wie sich die mosaische Religion nach der Ermordung ihres Begründers entwickelt habe. So wie die Unterdrückung der frühkindlichen Sexualität für die Entwicklung der sexuellen Reife notwendig ist, so wurde die Erinnerung an Moses’ Ermordung von den Israeliten während einer langen Latenzperiode verdrängt. Im Verlauf ihrer Geschichte kam es zur »Wiederkehr des Verdrängten«  – beziehungsweise wurde das Verdrängte in Form der Religion der Propheten zu neuem Leben erweckt. Moses’ Ermordung sei daher notwendig gewesen, um Ikhnatons Religion zu bewahren, da es der Prozess der Verdrängung und die Wiederkehr des 97

Verdrängten gewesen seien, die zu einer Verinnerlichung der Religion durch die Israeliten führten. Zudem sei es nicht nur der ägyptische Monotheismus, sondern noch viel mehr der aus der Schuld geborene Akt der Verdrängung gewesen, der die Juden jenen »Triebverzicht« gelehrt habe, der für die Zivilisation notwendig sei. »Die Religion, die mit dem Verbot begonnen hat, sich ein Bild von Gott zu machen, entwickelt sich im Laufe der Jahrhunderte immer mehr zu einer Religion der Triebverzichte. Nicht daß sie sexuelle Abstinenz fordern würde, sie begnügt sich mit einer merklichen Einengung der sexuellen Freiheit. Aber Gott wird der Sexualität völlig entrückt und zum Ideal ethischer Vollkommenheit erhoben. Ethik ist aber Triebeinschränkung.«49

Dieser Triebverzicht habe für die Juden tief greifende Folgen gehabt. Es sei ein Beweis der »besonderen psychischen Eignung« der Juden, dass sie so viele Führer hervorgebracht hätten, die Moses’ Werk fortzuführen wussten.50 Die daraus entstandene Religion habe das jüdische Volk geprägt »durch die Ablehnung von Magie und Mystizismus, die Anregung zu Fortschritten in der Geistigkeit, die Aufforderung zu Sublimierungen«, sodass es »durch den Besitz der Wahrheit beseligt, überwältigt vom Bewußtsein der Auserwähltheit, zur Hochschätzung des Intellektuellen und zur Betonung des Ethischen gelangte«.51 Man beachte, dass nach Freud geistige, intellektuelle und ethische Errungenschaften untrennbar miteinander verknüpft und sie allesamt das Produkt der »Sublimierung« sind. Infolge ihrer »Geistigkeit« verzichteten die Juden auf die athletische Ertüchtigung, wie sie die Griechen betrieben, zugunsten des kulturell »Höherwertige[n]«.52 Mit dieser letzten Aussage schlug sich Freud, der zeit seines Lebens die griechische Kultur sehr bewunderte, ebenso wie Heine am Ende seines Lebens auf die Seite Jerusalems gegen Athen. Sogar dem Islam, der dem Judentum ähnlich sei, fehle es an der »Vertiefung, die im jüdischen Falle der Mord am Religionsstifter verursacht hatte«.53 Letztendlich habe es Moses’ Ermordung bedurft, um die Juden über alle anderen Zivilisationen emporzuheben. Freud behauptet, diese einzigartige geistige Leistung sei genetisch von einer Generation an die andere weitergegeben worden: Es bestünde die »Wahrscheinlichkeit […], daß im psychischen Leben des Individuums nicht nur selbsterlebte, sondern auch bei der Geburt mitgebrachte Inhalte wirksam sein mögen, Stücke von phylogenetischer Herkunft, eine archaische Erbschaft«.54 Dies ist eine der irritierendsten Fragen, die sich aus Freuds letztem Buch ergeben. Hier übernimmt er explizit eine Version des Lamarckismus, jener diskreditierten Theorie, der zufolge erworbene Eigenschaften genetisch 98

vererbt werden können. Freud war sich dessen wohl bewusst, dass die bio­ logische Forschung diesen Gedanken verworfen hatte, ließ sich aber in seiner Behauptung nicht beirren, erworbene physische Eigenschaften könnten zwar nicht ererbt, »Gedächtnisspuren« hingegen transgenerationell weitergegeben werden.55 Als Ergebnis der Latenz und der Wiederkehr des Verdrängten seien diese Gedächtnisspuren tief in die Erbmasse der Juden eingeschrieben, und dies sei der Schlüssel für ihr langes Bestehen als Volk. Bereits 1930 hatte Freud in seinem Vorwort zur hebräischen Übersetzung von Totem und Tabu deutlich zum Ausdruck gebracht, dass weder die »väterliche Religion« noch »natio­nalistische Ideale« sein jüdisches Selbstverständnis ausmachten. Fragte man ihn: »Was ist an dir noch jüdisch […]?«, würde er antworten: »Noch sehr viel, wahrscheinlich die Hauptsache.«56 Was diese »Hauptsache« aus­ mache, könne er nicht in Worte fassen, doch würde es »sicherlich später einmal wissenschaftlicher Einsicht zugänglich sein«. Freud äußert, Totem und Tabu setze sich nicht mit dem Judentum auseinander und mache »keine Einschränkung zugunsten des Judentums«, er bringt jedoch offen seine Hoffnung zum Ausdruck, dass die Wissenschaft »dem Geist des neuen Judentums nicht fremd bleiben« könne. Mit Der Mann Moses glaubte Freud, die Herausforderung erfüllt zu haben, die er sich 1930 selbst gestellt hatte. Nun hatte er eine Antwort hinsichtlich des »eigentümlichen Charakters« des Jüdischseins, für ihn eine genetisch übertragene Essenz, doch da er sich der scheinbaren Ähnlichkeit mit der von den Nazis vertretenen Rassendoktrin wohl bewusst war, betonte er nachdrücklich, »Blutvermischungen störten dabei wenig, denn was sie zusammenhielt, war ein ideelles Moment, der gemeinsame Besitz bestimmter intellektueller und emotioneller Güter«.57 Man könnte meinen, Freud habe sich einer Rassentheorie anderer Art verschrieben, um angesichts der von den Nationalsozialisten in ihrer Propaganda behaupteten Minderwertigkeit der Juden gerade deren Überlegenheit unter Beweis zu stellen. Die mosaische Religion – die Lehren Moses’ –, ergänzt um die nach seiner Ermordnung konstruierte Religion, die Verdrängung des Mordes und die Wiederkehr des Verdrängten, lehrten Freud zufolge dreierlei: 1.  eine neue Gottesvorstellung, 2. die Lehre des Auserwähltseins und 3. das Aufzwingen eines »Fortschritt[s] in der Geistigkeit […] der […] den Weg zur Hochschätzung der intellektuellen Arbeit und zu weiteren Triebverzichten eröffnete«.58 Der letzte Punkt ist der wesentlichste: Freud deutet vage an, dass Ursprung und Impetus seines eigenen intellektuellen Werkes den von ihm als Jude ererbten Triebverzichten geschuldet seien. Während er in der Frühzeit seiner Laufbahn darauf bedacht gewesen war, die Psychoanalyse nicht als 99

»jüdische Wissenschaft« erscheinen zu lassen, gelangte Freud nun zu dem Schluss, dass sie genau dies eben doch sei. Während er drei Jahrzehnte zuvor Carl Gustav Jung, der als Christ der Bewegung Freuds einen nichtjüdischen Anstrich geben konnte, in seine Jüngerschar aufgenommen hatte, gab es nun, lange nach seinem Bruch mit Jung, keinen Grund mehr für ihn, die wahre Eigenart seiner Arbeit zu verschleiern. In der Tat kann der heftige Angriff auf das Christentum als Religion, die den Mythos und die Magie des alten Ägypten wiedererweckt habe, als verdeckter Angriff auf Jung, in dessen Theorie des kollektiven Unbewussten der Mythos im Zentrum stand, gewertet werden. Seltsam genug kam Freuds psychologischer Lamarckismus Jungs Auffassungen verdächtig nahe, er beharrte jedoch darauf, dass bei den Juden die Gedächtnisspuren nicht den Mythos beträfen, sondern sein genaues Gegenteil, die Intellektualität. Für den dem Tod nahen Freud war der intellektuelle Geist, der die Psychoanalyse hervorgebracht hatte, letztendlich das Erbe des biblischen Judentums. Was Yosef Hayim Yerushalmi im Anschluss an Philip Rieff treffend »den psychologischen Juden«59 genannt hat, war das Produkt einer langen Tradition »besonderer psychischer Eignung«. Mit der Psychoanalyse konnte die Entwicklung, die mit Moses’ Ermordung begonnen hatte, endlich ins Bewusstsein gelangen und die von ihr erzeugte Neurose überwunden werden. Zudem war sie der Prozess einer allmählichen Säkularisierung, die im Keim bereits in der Bibel selbst enthalten war: »Und selbst die Forderung [der Propheten], an ihn [Gott] zu glauben, scheint gegen den Ernst dieser ethischen Forderungen zurückzutreten.«60 Kein Wunder also, dass es die jüdische Wissenschaft von der Psychoanalyse war, die als Erste die große »Illusion« der Religion aufgedeckt hatte, war doch die Religion der Bibel in Wirklichkeit die Lehre des »Mann Moses« – und nicht Gottes Lehre.

Die zionistische Bibel In seiner Vorbemerkung zur hebräischen Ausgabe von Totem und Tabu machte Freud aus seiner Ambivalenz in Bezug auf den jüdischen Nationalismus keinen Hehl. Während er sich persönlich vom Zionismus fernhielt, gestand er aber auch seine Bewunderung für das Projekt der Wiedererweckung der jüdischen Nation ein. In Der Mann Moses erwähnt er den Zionismus nicht, doch sein Stolz auf das, was als säkulares jüdisches Erbe bezeichnet werden kann, war sicherlich Teil der Motivation, die andere säkulare Juden in den Bannkreis der Bewegung zog. Denn ebenso wie Freud die Bibel als 100

Gründungstext eines psychologischen Judentums neu auslegte, fanden viele Zionisten in ihr die Quelle des säkularen Nationalismus. In dem sogenannten zionistischen Abschnitt der Theologisch-politischen Abhandlung deutet Spinoza die Möglichkeit an, dass die Juden ihre Souveränität und damit das auf ihrem antiken Staat gründende nationale Selbstverständnis wiedererlangen könnten. Was Spinoza über die zionistische Bewegung und den von ihr errichteten Staat gedacht hätte, können wir nicht wissen, es ist jedoch anzunehmen, dass er den Säkularismus der Staatsgründer höchst ansprechend gefunden hätte. Wenn der antike israelitische Staat seine Macht aus der Theokratie ableitete, führte diese Macht letztlich auch zu jener Schwächung, die den Niedergang des Staates zur Priesterherrschaft bewirkte. Ein moderner Judenstaat musste also, wie Spinozas ideale Republik, säkular begründet sein, und die Religion konnte höchstens dazu dienen, den Menschen Sittlichkeit und Gehorsam beizubringen. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, lieferte Spinozas politische Auslegung der Bibel ein Modell für die jüdischen Nationalisten des späten 19. Jahrhunderts, die sich nach dem Beispiel anderer europäischer National­ bewegungen ihren antiken Text als Grundstein für einen neuen Nationalstaat wieder anzueignen suchten. Noch vor dem Aufstieg des Zionismus zu einer politischen Bewegung griffen hebräische Schriftsteller aus dem östlichen Europa wie etwa Abraham Mapu auf die Bibel als Vorbild für ein aufgeklärtes jüdisches Volk zurück. Welche Teile der Schrift sollten jedoch für dieses neue nationale Credo gelten? Die Eroberungen Josuas? Die ethischen Lehren Jeremias’? Oder vielleicht der Universalismus des Amos und des zweiten Jesaja? Die Bibel spricht natürlich nicht mit einer Stimme. Wie sollte man überdies, wenn man sich einer säkularen Auslegung der Bibel verschrieb, mit der offensichtlichen Religiosität des Textes umgehen? Achad Ha’am (Pseudonym von Ascher Ginzberg, 1856–1927) war der ideo­logische Anführer des »Kulturzionismus«, jener Strömung des jüdischen Nationalismus, die im Zionismus primär die Bewegung einer in einem geistigen Zentrum in Palästina verankerten kulturellen Erneuerung sah. Im Gegensatz zu radikaleren Zionisten, die einen scharfen Bruch zwischen dem neuen Israel und der jüdischen Diaspora befürworteten, schwebte Achad Ha’am die Kontinuität zwischen diesen beiden vor, wobei von dem Zentrum der säkularen hebräischen Kultur in Palästina Erneuerungsimpulse für die Diaspora ausgehen sollten. Als »säkularer Rabbi« des Zionismus, wie Achad Ha’am zuweilen bezeichnet wurde, war er auf der Suche nach einer nichtreligiösen Grundlage für den jüdischen Nationalgeist. Diese Grundlage fand er in der Bibel, genauer gesagt in den Propheten, beginnend mit Moses.61 Nach Achad Ha’am war der biblische Prophet ein 101

Mann mit einem kompromisslosen Sinn für Gerechtigkeit, eine ethische Auslegung der Bibel, die an Heine und Freud erinnert. Diese Art der Ge­ rechtigkeit allein vermochte die Gesellschaft jedoch nicht aufrechtzuerhalten. Als Gegen­gewicht zu den Propheten bedurfte es hierzu der Priester als Mittler im Prozess der Kompromissbildung und Institutionalisierung. Moses als der erste Prophet habe dieses Muster festgelegt. Dabei sei es unwesentlich, ob ­Moses wirklich existiert habe oder nicht. Wie Heine und andere Juden der Moderne sieht Achad Ha’am die Gestalt des Moses als Archetyp, und die Art und Weise, in der die Bibel seine Geschichte erzählt, als Modell für die gesamte spätere jüdische Geschichte.62 In der Tat erzählt Achad Ha’am die Geschichte des Moses als Allegorie für seine eigene Zeit neu. Wie den kosmopolitischen Juden der Neuzeit sei es Moses zunächst darum gegangen, innerhalb der ägyptischen Gesellschaft Gerechtigkeit herzustellen; als ihm jedoch bewusst geworden sei, welche Ungerechtigkeit an den Juden begangen wurde, habe er sich ihrer Sache verschrieben. So sei er zum ersten Zionisten geworden. Die Propheten erhoben die Ethik zum zentralen Wert des alten Israel. In ihrer Ära galt die »Tora des Herzens«, ein inneres moralisches Gefühl, das keines schriftlichen Textes bedurfte.63 In Umwertung aller Werte, einer At­tacke auf die jüdischen Anhänger Nietzsches, übernahm Achad Ha’am­ Nietzsches gleichlautendes Schlagwort, kehrte es aber gegen den Philosophen. Die Juden, so Achad Ha’am, hätten die Lehre vom Übermenschen mit ihrem Selbstverständnis als zur Ethik verpflichtete »Übernation« (ha-am ha-elion) vorweggenommen.64 Damit stellte er Nietzsches Kritik an der bi­ blischen Ethik geradezu auf den Kopf. Doch diese innere Sittlichkeit sei, beginnend mit den Priestern und dann bei den talmudischen Rabbis, allmählich einer versteinerten schriftlichen Lehre gewichen. Für Achad Ha’am hat die Bezeichnung »das Volk des Buches« abwertenden Charakter, da er »das Buch« als ein System äußerlicher Gesetze betrachtet, welches das Volk versklave und seine innere Vitalität lähme. Dieses Buch sei daher nicht »das Buch«, da die Bibel für sich genommen kein Instrument der Knechtschaft sei, sondern erst die spätere Gesetzestradition und ihre Auswirkungen auf die Bibel seien zu einem solchen Instrument geworden. Es sei die Wiedererweckung des ethischen Geistes der Bibel, was der Kulturzionismus zu erreichen bestrebt sei. In dieser Absage an die nachbiblische Überlieferung reagierte Achad Ha’am auf die innerhalb der osteuropäischen intellektuellen Elite praktizierte jüdische Erziehung. Während im Elementarunterricht auch die Lektüre der Bibel mit dem aus dem 11. Jahrhundert stammenden Raschi-Kommentar gepflegt wurde, waren die späteren Studienjahre in der Jeschiwa ausschließlich 102

den zentralen Texten der rabbinischen Tradition, dem Talmud und seinen mittelalterlichen Auslegungen, gewidmet. Die biblischen Verse dienten bloß als Belege, sodass die Kenntnis der Bibel (insbesondere der Propheten und der Schriften) durch das Prisma der talmudischen Auslegungen dieser Texte vermittelt wurde. Kurzum, die Bibel war als kohärenter Text auf die Unterweisung im Cheder beschränkt, danach wurde sie beiseitegelegt. Die sowohl für die Haskala wie auch für spätere Nationalisten wie Achad Ha’am, Chaim Nachman Bialik und Micha Josef Berdyczewski (dem wir uns gleich zuwenden werden) charakteristische Rückkehr zur Bibel war als solche eine Auflehnung gegen das Curriculum der Rabbinen. In Anlehnung an Johann Gottfried Herder, den Philosophen der deutschen Romantik, der den Begriff »Volksgeist« geprägt hatte, verwendete Achad Ha’am häufig die Ausdrücke »Nationalgeist« und »Nationalethik« als Substitut für Gott. Den Geist der Nation und nicht Gott wollte er wiedergewinnen, die Ethik und nicht das Gesetz. Der Nationalgeist sei in erster Linie in der Bibel zu verorten  – er sei zuweilen religiös verbrämt, gehe aber in Wahrheit der Religion voraus und sei von ihr unabhängig.65 Dieser Geist sei während des jahrhundertelangen Exils unterdrückt worden, jedoch nie abhandengekommen. Erstaunlich ist Achad Ha’ams Ablehnung des im 19. Jahrhundert entstandenen Reformjudentums, welches das Judentum wieder auf die Grundlage der Bibel zu stellen versuchte, ein Ziel, das mit seinem scheinbar identisch war. In einem seiner frühen Aufsätze aus dem Jahr 1891 verurteilte er die Position des Reformjudentums als »äußere Freiheit und innere Knechtschaft«, »Assimilation statt nationaler Erneuerung«.66 Mit der Aufgabe der Vorstellung von einem jüdischen Volk sei auch der dieses Volk belebende Nationalgeist verloren gegangen und damit zugleich die Bibel verraten worden. Allein der Zionismus als kulturelle Bewegung könne den Juden den Weg zurückweisen zum Kerngehalt ihrer Schrift. So kritisch auch Achad Ha’ams Position gegenüber der diasporischen As­similation sein mochte  – von der jüngeren Generation der hebräischen Schriftsteller, denen sie als fauler Kompromiss erschien, wurde sie als unzureichend abgelehnt. Diese Autoren, allen voran Micha Josef Berdyczewski (1865–1921, auch Micha Josef Bin Gorion), waren zutiefst von Friedrich Nietzsche geprägt, und die hebräische Übersetzung von dessen Schlagwort »Umwertung aller Werte« (schinui arachim) wurde zu ihrem Schlachtruf.67 Berdyczewski war der tiefgründigste und wirkmächtigste dieser radikalen Schriftsteller. Er griff Nietzsches Kritik an der biblischen Ethik auf (und Achad Ha’ams Nietzsche-Essay war vor allem gegen ihn gerichtet).68 Priester und Propheten hätten die alten Hebräer ihrer Manneskraft beraubt, indem sie deren lebendige Naturreligion in die abstrakte, vergeistigte Lehre des 103

Judaismus verwandelt hätten. Infolge dessen habe der Judaismus die Oberhand über das jüdische Volk und dessen vitale Bedürfnisse gewonnen.69 In einem frühen, Über das Buch betitelten Aufsatz (1899) pries Berdyczewski die Religion Israels vor der Offenbarung am Sinai: »Zur der Zeit, als wir viele Götter verehrten und auf den Bergen und Hügeln für sie Weihrauch verbrannten, als wir der Königin des Himmels [d. h. der kanaanitischen Göttin Aschera] Altäre errichteten, tanzten wir wie Schafsböcke und erfreuten uns am Licht und den Dienern des Lichtes. […] Das Blut der Ziegenböcke, der Schafe und Ziegen verbindet den Menschen mit der Natur. Der Priester kam vor dem Propheten und der Erstgeborene vor dem Priester.«70

Die ursprüngliche Religion der Hebräer, so Berdyczewski, war ein heid­nischer Mehrgottglaube. Im Gegensatz zur Religion der Propheten ergötzte er sich an Blut. Doch dann kam der Gott vom Sinai, kam der monotheistische Gott »von Se’ir oder von Paran, und gab uns ein Buch für alle Zeiten, ein Buch mit Kapiteln und Versen […] und wir versenkten uns stets aufs Neue darin«. Obgleich auch die biblische Religion auf dem Opferdienst beruhe, habe dieses Buch das Volk seines Lebensnervs beraubt: »Ein Feuer brannte auf dem ewigen Altar und ein Priester kam und stieß uns das Opfermesser in den Leib. Und das Blut floss und vermischte sich mit dem Opferfeuer. Die Betenden fielen auf ihr Gesicht und riefen aus zu Gott […], ›errette uns von der Wolke, die aufsteigt und alles umhüllt.‹ Und Gott antwortet: ›Ihr seid meine Kinder. Ich habe euch in einem Brennofen geformt. Ihr könnt nicht sterben, und doch ist eurer Leben kein Leben. Ihr seid eine Nation der Geschichte und ich habe euch Bücher gegeben.‹«71

Die biblische Religion sei mit der Ermordung des Volkes vergleichbar. Doch wie ein grotesker Untoter könnten die Menschen keinen barmherzigen Tod sterben; Sklaven ihrer den Geist lähmenden Bücher, schleppen sie sich weiter, in einem »Leben, das kein Leben ist«. Berdyczewski verurteilte wie Achad Ha’am die Versklavung an das geschriebene Wort, doch während Letzterer bei den Propheten eine lebendige Religion ausmacht, erblickt Ersterer auch da nur dieselbe Knechtschaft.72 Ein revolutionärer Bruch mit der Vergangenheit sei notwendig, um eine neue Zukunft hervorzubringen. Und doch glaubte Berdyczewski, dass die Geschichte ein Modell für diese Zukunft bereithalte: Nicht das Bibelnarrativ trage die wahre Lebenskraft der Juden in sich, sondern eine mit der Offen­ barung am Sinai im Wettstreit stehende Tradition, die von jener nie völlig verdrängt worden sei. In seinem letzten, in Deutsch geschriebenen Buch­ Sinai und ­Garizim vertrat Berdyczewski die Ansicht, dass in der Bibel beide 104

Traditionen nebeneinander bestanden hätten, mit einer Religion der Natur und der kriegerischen Vitalität, die der gegen die Natur gerichteten Tora Moses’ vorausgegangen sei. Den Beweis für dieses präsinaitische Gesetz verortete er in den nach der Eroberung des Landes am Berg Garizim und am Berg Ebal zu sprechenden Segenssprüchen und Fluchworten (Dtn 27 und 28): »Diese Darlegungen werden zu dem Ergebnis führen, daß das, was gemeinhin als der Schlußakt in der Gesetzesgebung des Hexateuchs betrachtet wird, im Grunde ihr Anfang war, daß der Garizimbund einer der ältesten ist, daß er für die Religion Israels mehr als alle anderen von Bedeutung war und es noch heute ist, trotzdem er verdrängt wurde.«73

Die Fluchworte, meinte Berdyczewski, entsprächen in etwa den Zehn Geboten, befassten sich jedoch mit den politischen Aspekten der Herrschaft über die Nation, wie etwa »Verflucht sei, wer seines Nächsten Grenze engert« (Deut 27,17).74 Diese Segenssprüche und Fluchworte bezögen sich auf J­ osua, da sie dazu bestimmt waren, im Land gesprochen zu werden. Bei ­Berdyczewski wird daher Josuas politische »Tora« zum nationalistischen Gegenstück von Moses’ ethischer Tora und Josua zu einem Anführer von der Statur Moses’, zum Gesetzgeber seiner eigenen, der mosaischen eigentlich vorausgehenden Überlieferung. In einer Neudeutung des Talmudspruchs »ein Buch und ein Schwert kamen zusammengebunden vom Himmel herab«75 für seine eigenen Zwecke setzt Berdyczewski das Schwert zur Tora von Garizim und Ebal und die Schrift zum Berg Sinai in Beziehung. In der gesamten biblischen und bis in die nachbiblische Zeit hinein hätten die beiden miteinander gerungen. Statt wie viele andere die Meinung zu vertreten, Athen stehe für physische Kraft und Schönheit und Jerusalem für Ethik, sah Berdyczewski all diese Eigenschaften als ureigene im alten Israel vereint. Jene Kultur, die Natur und Kraft feierte, habe mit einer Religion der Ethik und des Gesetzes gerungen und sei ihr letztlich unterlegen. Die jüdische Geschichte sei die Erzählung dieses Kampfes des »Judentums« gegen »die Juden«. Im vierten Kapitel werden wir zu Berdyczewskis Auslegung der jüdischen Geschichte als Kampf zwischen Tradition und Gegentradition zurückkehren. Da seit der Zerstörung des Zweiten Tempels die Schrift die Oberhand über das Schwert gehabt habe, sei es nun an der Zeit, das Gleichgewicht wieder­ herzustellen. Berdyczewski übernahm Nietzsches Gedanken, zunächst müsse etwas zerstört werden, damit Neues entstehen könne, und formulierte ihn folgendermaßen: »Um einen Tempel zu bauen, muss man zuerst einen Tempel zerstören.«76 Der Tempel des Buches – der auf der mosaischen Tora, den Propheten, den Priestern und den Rabbinen gründet – müsse niedergerissen 105

werden, um dem neuen Tempel des Schwertes, den des Josua und seiner Erben, Platz zu machen. Berühmt ist Berdyczewskis Diktum »Sein oder Nichtsein! Die letzten Juden oder die ersten Hebräer sein«.77 Diesen Ausruf griffen Zionisten unterschiedlicher ideologischer Richtung mit dem Wahlspruch »Negierung der Diaspora« (schelilat ha-gola) auf. Im Glauben, die Religion selbst habe die Diaspora hervorgebracht, war für viele die Ablehnung der Diaspora gleichbedeutend mit der Ablehnung der Diasporareligion. Wie Berdyczewski argumentierte, hatte die Abkehr von einem militanten Nationalismus und die Hinwendung zu prophetischer Ethik in biblischer Zeit den Nationalgeist geschwächt und zu Niederlage und Exil geführt. Für spätere jüdische Nationalisten war mit der Rückkehr zu einem vitalistischen Ethos gleichzeitig die Auflehnung gegen die biblische Religion verbunden, aber auch die Wiederbelebung des militanten Nationalismus der Bibel. Während Heines Bibel die diasporische »portative Religion« Israels war, wurde die zionistische Bibel zur Legitimierung der Inbesitznahme des Landes. Es ist heute wissenschaftlicher Konsens, dass der moderne Nationalismus Traditionen erfindet, um sich selbst zu legitimieren.78 Selbstverständlich sind diese Traditionen nicht in dem Sinn als erfunden anzusehen, dass sie als Ganzes erdacht wären. Vielmehr sind es, wie die Bibel, uralte volkstümliche oder mythische Überlieferungen, welche die Vertreter des Nationalismus für ihre Zwecke umformen und einsetzen. Wie die der Moderne verpflichteten Juden es ganz allgemein getan hatten, so legten auch die jüdischen Nationalisten die Bibel nach ihrer Fasson neu aus, war sie doch ein Buch über ebenjenes Land, das die Zionisten wieder für sich beanspruchten. Sich die Bibel als nationalistischen Text anzueignen, erforderte einige Erfindungsgabe, auf eine Art und Weise jedoch, die der Text selbst nahezu­ legen schien. Darüber hinaus bedeutete die Konzentration auf die Bibel als den einzigen für den Zionismus relevanten Text eine radikale Aussage in Bezug auf das gesamte andere Schrifttum, sei es nun im Land Israel oder anderswo entstanden. Dass die Bibel in den Rang eines nationalen Mythos erhoben wurde, ist nicht zuletzt Israels erstem Premierminister David Ben-Gurion zuzuschreiben. In dem neuen Staat Israel machte sich eine Art Bibelmanie breit, mit Bibelquizspielen und der Archäologie als Nationalsport.79 Ben-Gurion versammelte bei sich zu Hause zweiwöchentlich eine aus Gelehrten und Politikern bestehende Bibelstudiengruppe und äußerte sich öffentlich zu einer Vielfalt biblischer Themen. Seine vielleicht umstrittenste Auslegung der Bibel trug er 1959 vor, als er im Rahmen dieser Studiengruppe einen Vortrag über das Alter des Volkes Israel hielt.80 Mittels einer genauen Textlektüre gelangte 106

er zu dem Schluss, die Hebräer seien zur Zeit der Patriarchen bereits ein im Land sesshaftes Volk gewesen. Ben-Gurion äußerte sogar die Vermutung, Abraham sei nach Kanaan ausgewandert, um sich seinem Volk anzuschließen. Die im Land wohnhaften Kanaaniter (Gen 12,6) seien mit den Hebräern identisch gewesen, besser gesagt habe die Bezeichnung »Kanaaniter« eine sowohl spezifische als auch allgemeine Bedeutung. Diese Menschen hätten bereits an einen »höchsten Gott« (Gen 14,18–19) geglaubt, wohl ein weiterer Grund, warum Abraham, der sich bereits dem Eingottglauben verschrieben hatte, sich zu ihnen hingezogen gefühlt habe. Die Hebräer habe es also bereits vor Abrahams Zeiten gegeben. Eine ähnliche Ansicht vertraten die »kanaanitischen« Schriftsteller, eine randständige literarische Strömung im Israel der 1940er und 1950er Jahre. Sie wollten für die neuen Hebräer eine vorbiblische, sprich vorjüdische nahöstliche Identität rekonstruieren.81 Während diese modernen »Kanaaniter« jedoch jede Verbindung zwischen den Hebräern und den späteren Diasporajuden kappen wollten, gelangte Ben-Gurion zu dem entgegengesetzten Schluss: Da die Bibel viele Geschichten von Exil und Rückkehr (einschließlich der Geschichte vom Auszug aus Ägypten) enthalte, sei die­ Diaspora Teil der biblischen Identität. Ben-Gurion zufolge sei nur ein kleiner Teil dieses Volkes, Josephs wohl­ habende Familie, nach Ägypten migriert. Dort sei sie nicht, wie die Bibel aussagt, 430 Jahre, sondern höchstens zwei oder drei Generationen geblieben. Am Ende dieses also weitaus kürzeren Zeitraums habe eine Schar von etwa 600 Menschen (und nicht 600 000, wie es in der biblischen Schilderung heißt) Ägypten verlassen und auf ihrer Wanderung durch die Wüste die von Moses gegebene Bibel in Empfang genommen. Als sie unter Josua in dem Land angekommen seien, hätten sie dort bereits ihre Stammesgenossen vorgefunden. Die Stadt Schechem sei deswegen nicht zerstört worden, weil sie bereits von Hebräern bewohnt gewesen sei. Ben-Gurion vertrat hartnäckig die Ansicht, dass diese Israeliten, wie sie später genannt wurden, in dem gesamten Zeitraum ein vereintes Volk gewesen seien, trotz der Abspaltung eines kleinen Teils von ihnen durch die Migration nach Ägypten. Wer war Moses und warum wurde er zum Anführer der in Ägypten lebenden Hebräer? Ben-Gurions Standpunkt ist ambivalent. Der im Haus des Pharao erzogene Moses (Ex 2,5–10) sei mit der reichen ägyptischen Kultur jener Tage eng vertraut gewesen. Daher habe er sich über all seine Brüder stellen, ihrer Knechtschaft ein Ende bereiten und sie aus dem Land Ägypten führen können. Ben-Gurion war weit davon entfernt, Moses wie Freud zum Ägypter machen zu wollen. Es sei jedoch die ägyptische Kultur gewesen, die Moses den Anstoß dazu gegeben habe, den hebräischen Monotheismus in 107

eine Ideologie der politischen Befreiung zu verwandeln. Wenn Ben-Gurion in dieser Geschichte eine Allegorie für die moderne jüdische Geschichte sah, wollte er damit wohl implizit zum Ausdruck bringen, dass die kosmopolitische Kultur die notwendige Voraussetzung für den Zionismus sei; mit der jüdischen Religion allein wäre es nicht getan gewesen. Ben-Gurions Interpretation rief seinerzeit eine große Kontroverse hervor, da sie das grundlegende Narrativ des Exodus umstieß.82 Eine der religiösen Parteien brachte 1960 nach Ben-Gurions Vortrag über den Exodus sogar ein Misstrauensvotum in die Knesset ein mit der Begründung, er verletze damit die observanten Menschen in ihren Glaubensvorstellungen. Ein säkularer Oppositionsabgeordneter erhob den Einwand, Ben-Gurion betreibe Geschichtsklitterung wie alle anderen modernen Diktatoren. Auch wenn Ben-Gurions Ansichten bei seinen politischen Gegnern Anstoß erregten, nahm er in der Tat eine Strömung in der zeitgenössischen Bibelkritik voraus, die inzwischen mehr oder weniger Teil des Konsenses geworden ist; dass nämlich die meisten Israeliten in dem Land beheimatet gewesen seien und der Exodus entweder gar nicht stattgefunden oder nur eine sehr kleine Anzahl von Menschen betroffen habe. Während heute von so mancher Seite diese Auslegung benutzt wird, um die Bibel als Quelle des jüdisch-nationalen Selbstverständnisses in Zweifel zu ziehen, zog Ben-Gurion die entgegengesetzte Schlussfolgerung: Das Land gehöre den Juden, weil sie es nie ganz verlassen hätten und in der Tat lange vor dem Einsetzen der Bibelerzählung dort ansässig gewesen seien. Ben-Gurions Gegner erkannten jedoch seine Auslegung der Bibel mit Recht als auf militante Weise säkular. Im Gegensatz zur orthodoxen Tradition war Ben-Gurion daran gelegen, der Bibel einen höheren Rang zu verleihen als allem später verfassten Schrifttum, ein Standpunkt, der sich im Lehrplan des säkularen israelischen Bildungssystems niederschlägt. Ohne die rabbinische Midraschliteratur herabzusetzen, lehnte er ihre Anwendung auf die Bibel ab. Das Hohelied etwa sei ein säkulares Liebeslied, das durchaus mit griechischer und lateinischer Liebeslyrik konkurrieren könne, seine Ausdeutung in den Midraschim als Liebe zwischen Gott und Israel hingegen sei falsch.83 Alle späteren Kommentare, wie der kanonisch gewordene Raschi-Kommentar, seien nichts anderes als Kommentare: »Die Bibel ist von ihrem eigenen Licht erleuchtet.«84 Diese Formulierung kommt der Spinozas nah und in Anbetracht seines Aufrufs, den über Spinoza verhängten cherem aufzuheben, mag Ben-Gurion, ohne den Philosophen explizit zu erwähnen, ihn sehr wohl als Befürworter der wörtlichen Bibelauslegung gesehen haben. Es war aber Spinozas Vordenker Maimonides, auf den er sich berief, indem er dessen Diktum, die Tora spreche die Sprache der Menschen, zitierte.85 108

Während die Verfasser der Bibel, denen es der philosophischen Tiefe, wie wir sie von Maimonides kennen, ermangelte, daran geglaubt haben mögen, dass Gott wirklich spricht, hielt Ben-Gurion es mit Maimonides, oder besser gesagt, er folgte seiner eigenen Interpretation des maimonidischen Gedankengutes, dass nämlich die Bibel in der uns überlieferten Form die Schöpfung von Menschen sei. Ben-Gurions säkulare Auslegung der Bibel war eine ausgesprochen politische, ja sogar militärisch orientierte. Obwohl er einräumte, dass die mosaische Tora auf einer monotheistischen Religion gründe, war er, im Gegensatz zum Doyen der israelischen Bibelwissenschaftler Yehezkel Kaufman, gleich Spinoza der Überzeugung, dass die Bibel primär ein nationalistisches Buch sei – ein Dokument, das der antiken Nation Israel ein politisches, über das bloß Religiöse hinausgehendes Selbstverständnis verleihe. Es überrascht daher nicht, dass Ben-Gurion die Schrift mit den Augen des politischen Gründers des modernen Staates Israel las. Er verstehe nunmehr die Bibel aus der Perspektive der neuen politischen, militärischen und geografischen Fragen, die der Unabhängigkeitskrieg aufgeworfen habe. Die Bibel beweise, dass die Juden die militärische Macht niemals gering geschätzt hätten, da ihre Weltsicht zu keiner Zeit eine rein geistige gewesen sei.86 Zuweilen transponiert Ben-Gurion die Erfahrungen der israelischen Armee in die biblische Zeit zurück: Die Stämme zu Josuas Zeit zum Beispiel entsprächen den Brigaden der israelischen Armee, die aufgelöst und in andere Einheiten integriert werden könnten.87 In der Tat steht diese scheinbar banale Bemerkung im Zusammenhang mit seiner umstrittenen Entscheidung, mit der Staatsgründung die unabhängigen Milizen der Rechten wie der Linken aufzulösen. Wenn die Stämme Israels künstliche, der Nation untergeordnete Einheiten gewesen seien (eine historisch zweifelhafte Behauptung), so habe auch in der Gegenwart das Vorhandensein einer Staatsarmee die Aufhebung aller vorstaatlichen bewaffneten Gruppen zu bedeuten. Dann wieder zieht er Lehren aus der Bibel, zum Beispiel hinsichtlich der Art und Weise, wie König Usia die Besiedlung des Landes und den Bau von Bewässerungsanlagen mit militärischen Aktivitäten verknüpfte, ähnlich wie die moderne israelische Armee landwirtschaftliche Besiedlung mit nationaler Verteidigung verband.88 Die Bibel, so Ben-Gurion, werde dem neuen Staat Israel als Vorbild für die Bildung der Nation dienen, belege sie doch, dass die Frühgeschichte der jüdischen Nation im Land selbst verwurzelt sei: »Die Mischung der aus den Diasporagemeinden herbeiströmenden Menschen wird im Schmelztiegel jüdischer Brüderlichkeit und durch militärische Disziplin von der schädlichen, fremden Kruste gereinigt, wird verfeinert und geläutert werden. Die 109

Schranken zwischen den Volksgruppen werden niedergerissen werden und eine neue, ihre Jugend wiedererweckende Nation wird in wahrer Einheit neu zusammengeschweißt werden und sich aus einer weit zurückliegenden, kampfesreichen Vergangenheit speisen.«89

Im Gegensatz zur Bibel, die diesen »Schmelztiegel«90 (Dtn 4,20) eigentlich in Ägypten und in der Wüste Sinai verortet, vertrat Ben-Gurion den Standpunkt, die wahre jüdische Nation habe sich im Land Israel bereits vor dem Beginn der biblischen Geschichtserzählung herausgebildet. Es war diese Vorstellung von den Juden als indigenem Landesvolk, die der aktuellen Aufgabe dienen sollte, die Juden aufs Neue zusammenzuschweißen. Die Arbeiterbewegung, an deren Spitze Ben-Gurion stand, bediente sich der Bibel oft nicht nur als Folie für den modernen jüdischen Nationalismus, sondern auch als sozialistisches Manifest. Biblische Gesetze wie das Jubeljahr, eine Infragestellung des Privatvermögens insofern, als dieses alle 49 Jahre Gott wiedergegeben wurde, ließen sich als Grundlage für einen jüdischen Sozialismus interpretieren. Dies war eine nationalistische Version der revolutionären Bibelauslegung Heines, auch wenn dieser selbst jede Verknüpfung von Sozialismus und Nationalismus höchst skeptisch beurteilt hätte. Indes bot sich die Bibel auch anderen Ideologien an. Wladimir Zeev­ Jabotinsky (1880–1940), der Begründer des rechtsgerichteten revisionistischen Zionismus, sah in der Bibel ein Modell für einen jüdischen Nationalismus, bei dem die Nation und nicht die Klasse im Zentrum stand. Jabotinsky begriff die biblischen Israeliten zwar nicht als zügellose Kapitalisten, er pries jedoch die Kleingrundbesitzer und Bauern als das Gegenteil des sozialistischen Ideals.91 Anders als Ben-Gurion wuchs Jabotinsky im russischen Odessa in einem eher akkulturierten Milieu auf. In seiner Jugend lernte er ein wenig Hebräisch, doch seine primäre Muttersprache war das Russische. Später begeisterte ihn die italienische Kultur. Nachdem er sich dem Zionismus zugewandt hatte, begann er hebräisch zu schreiben, seinem Duktus fehlte es aber, trotz seiner eindrucksvollen Sprachbeherrschung, am biblischen Klang. Seine Distanz zur Bibel ist auch in seinem in russischer Sprache verfassten und 1927 erschienenen faszinierenden Roman Samson deutlich erkennbar.92 Der bi­ blische Samson erscheint darin als Mischung aus einem Israeliten und einem Philister. Die Philister porträtiert Jabotinsky als Musterbeispiel für ein Volk voller Nationalstolz, gepaart mit lebensbejahender Sexualität. In einer befremdlichen Passage, die eine Massenzeremonie der Philister beschreibt, sind die aufreizend entblößten Brüste der Frauen ein deutliches Sinnbild ihrer Vitalität. Dem Roman fehlt jede göttliche Präsenz; Samson kommt, um 110

den noch gehemmten Israeliten die Kultur der virilen Philister zu vermitteln. Seine Ehen mit Philisterfrauen symbolisieren das Aufbrechen sexueller Zwänge durch die Israeliten zugunsten eines neuen, befreiten nationalen Lebens. Diese positive Sicht auf die Philister steht in deutlichem Widerspruch zur offenkundigen biblischen Botschaft und deutet darauf hin, dass eine konträre Lesart der Bibel für einen Nationalisten wie Jabotinsky zuweilen mehr Anreize bot als die wörtliche Auslegung. Doch nicht alle Zionisten lasen wie Ben-Gurion und Jabotinsky die Bibel, weil sie auf der Suche nach den Quellen des modernen Nationalismus waren. Wie der am Anfang dieses Kapitels erwähnte Max Nordau gab es auch andere Persönlichkeiten, welche die Schrift als für die moderne Lebenswelt absolut irrelevant verwarfen. Einer von ihnen war der hebräische Schriftsteller Joseph Chaim Brenner (1881–1921). Brenner ging weiter als Berdyczewski, der zwischen den Zeilen der Bibel noch eine zu rettende Gegentradition ausmachte, er fand in ihr absolut nichts Erhaltenswertes. In einem 1911 publizierten Aufsatz unterbreitete Brenner seine geradezu brandstifterische Ansicht, er sehe kein Problem in der Welle der jüdischen Konversionen zum russisch-orthodoxen Christentum. Von seinem säkularen Standpunkt aus gab es keinen Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen Testament. Um das Ausmaß seiner Entfremdung von der Bibel zu demonstrieren, bediente er sich im Hebräischen bewusst fremdsprachiger Begriffe. Die Bibel nannte er nach dem Griechischen biblia und das biblische Judentum jahadut­ biblit, im Gegensatz zum traditionelleren Begriff jahadut tanachit (abgeleitet von T ­ anach, der gängigen Bezeichnung für die hebräische Bibel). Noch mehr provoziert er mit der Übernahme des christlichen Begriffs brit jeschana (Altes Testament) für die hebräische Bibel.93 Viele der Tugenden des Alten Testaments seien auch im Neuen zu finden, von dem er trotzig als »unser Buch, Knochen unseres Knochen, Fleisch unseres Fleisches« spricht.94 Überdies stellt er fest: »Sie jagen uns Angst ein mit der Vorstellung, das Neue Testament sei dabei, die Söhne des Alten Testaments zu besiegen. Doch ich als freier Hebräer antworte auf diese Befürchtung wie folgt: Was mich betrifft, hat das Alte Testament, das alle lauthals die ›Heilige Schrift‹, das ›Buch der Bücher‹, das ›Ewige Buch‹ nennen, denselben Wert [wie das Neue]. Ich habe mich schon lange von dem hypnotischen Einfluss der vierundzwanzig Bücher der Bibel (biblia) befreit. Viele säkulare Bücher aus viel jüngerer Zeit sind für mich teurer, größer und tiefgründiger.«95

Brenner nimmt sich Spinozas Lehren zu Herzen und reduziert die Bibel zu biblia, zu einem Buch wie jedes andere, auch nicht unbedingt das beste. Für Brenner galt es, die von ihm angestrebte neue hebräische Kultur auf der 111

modernen conditio judaica und nicht auf dem alten Schrifttum zu begründen. Im vierten Kapitel werden wir auf Brenner zurückkommen und sehen, wie er diese Auffassung in seiner Definition der säkularen jüdischen Kultur umsetzte. Der historische Bibelansatz, zu dem Spinoza, der sich auf Abraham Ibn Esra und Moses Maimonides stützte, den Weg wies, wurde zu der immanenten Methode, die es späteren säkularen Lesern erleichterte, den Text zu verstehen, auch dann, wenn sie in ihm eine frühere Version ihrer eigenen philosophischen Auffassung fanden. Die säkulare Tora Spinozas, Heines, Freuds, Achad Ha’ams, Berdyczewskis, Ben-Gurions und Jabotinskys (um nur jene zu nennen, mit denen sich dieses Kapitel befasst hat) wurde zur Quelle eines jüdischen Kollektivbewusststeins und einer jüdischen Kultur, die das Potenzial hatten, die jüdische Religion zu verdrängen oder sie als obsolet zu ersetzen. Diese Konstruktion von Israel als Nation, als politische und kulturelle Gemeinschaft, soll zum folgenden Kapitel überleiten.

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3. Israel: Stamm, Nation oder Staat?

Die prämoderne Definition des Judentums – Gott, Tora und Israel – ging davon aus, dass Theologie und Schrift ohne ein Volk, das an sie glaubte und sie umsetzte, bedeutungslos wären. Das biblische Israel wurde durch einen Bund zwischen Gott und den Söhnen Jakobs begründet. Israel setzte mithin die Tora voraus, die Tora wiederum Gott. In nachbiblischer Zeit wurde »Israel« von Juden wie auch Nichtjuden als Anhängerschaft einer Schriftreligion  – um mit den Muslimen zu sprechen: als »Volk des Buches« – und gleichzeitig als Nation, die ihr Land verloren hatte, verstanden. In der Neuzeit löste sich dann die einheitliche Bedeutung des Judentums auf, und seine Bestandteile konkurrierten miteinander um den Status des verus Israel. Das frühe deutsche Reformjudentum entwickelte ein rein konfessionelles Selbstverständnis, indem es von »deutschen Bürgern mosaischen Glaubens« sprach. Auch reduzierte die Reformbewegung die »Tora« auf die Bibel allein, wobei sie an der nachbiblischen rabbinischen Literatur Kritik übte und sie zum Teil verwarf. Als Gegenreaktion auf diese religiöse Definition von »Israel« und infolge der gewaltigen demografischen Expansion der jüdischen Bevölkerung im osteuropäischen Raum kamen neue politische und kulturelle Definitionen auf. Die Juden wurden nun von manchen historisch als »Schicksalsgemeinschaft«, von anderen in eher rassischem Sinne als »Abstammungsgemeinschaft« definiert. Dieses Kapitel untersucht, wie säkulare Philosophen die traditionelle Kategorie »Israel« durch verschiedene biologische und politische Definitionen – rassischer, nationaler und staatlicher Natur – ersetzten; das nächste Kapitel wird sich sodann mit den kulturellen Definitionen von Israel befassen. Da rassische Definitionen der Juden zuweilen mit Zionisten oder Protozionisten wie Moses Hess in Verbindung gebracht werden, muss deutlich gemacht werden, dass sie keineswegs nur auf jüdische Nationalisten beschränkt waren. Vielmehr spiegelten sie die generell vorherrschende Betonung der Rasse im europäischen und US -amerikanischen Denken an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wider, bis schließlich dieser Begriff im Angesicht des NS -Rassenwahns zum Tabu wurde. Nationalistische (oder nationale)  Definitionen des Jüdischen waren natürlich nicht nur rassentheoretisch geprägt, wie die Beispiele von Emma Lazarus und Theodor Herzl demonstrieren werden. Ebenso wenig waren alle national bestimmten Definitionen »aus dem gleichen Holz geschnitzt«, wie die Herzl-Kritiker Bernard 113

Lazare und Hannah Arendt nahelegten; sie selbst mengten ihrem Nationalismuskonzept einen utopischen Universalismus bei. Schließlich, wie es wohl Israels erster Premierminister David Ben-Gurion am klarsten zum Ausdruck gebracht hat, grenzte die Entstehung des Staates Israel die nationale Kategorie Israel auf einen bestimmten Staat ein. Auch in dieser Geschichte ist Spinoza eine Schlüsselfigur. Er hatte als Erster eine politische, von Gott losgelöste Definition Israels formuliert. Bei Moses Mendelssohn finden sich ebenfalls wesentliche Grundelemente dieser Idee; obgleich selbst ein religiöser Philosoph, argumentiert er, das Judentum habe bereits in seinen Anfängen die Synagoge vom Staat getrennt, womit er die säkulare Moderne vorausahnen lässt. Wie in den beiden vorausgehenden Kapiteln wollen wir zunächst die prämodernen Wurzeln einer säkular-jüdischen politischen Theorie und Identität untersuchen.

Vorläufer Die in diesem Kapitel zu erörternden Merkmale einer säkularen politischen Definition Israels – Race, Nation und Staat – finden sich im Kern in der Bibel selbst. Da der Bibel zufolge diese Nation einer einzigen Familie entsprungen sein soll, hat sie mit der Rassenlehre des 19. Jahrhunderts bestimmte biologische Charakteristika gemein; freilich gelten »Mischehen« zwischen Stämmen, im Gegensatz zu den Rassen, durchaus positiv. Die Bibel erzählt, wie sich aus einer einzigen Familie allmählich eine Nation herausbildete: zunächst zwölf Stämme, dann schließlich ein unter der davidischen Monarchie vereinter Staat, der bis zu seiner Spaltung aus nur zwei Generationen bestand. Da jedoch dieser Staat wiederholt Zerstörung und Exil ausgesetzt war, entwickelte Israel ein nationales, vom Eigenstaatlichen unabhängiges Selbstverständnis. Ebenso wie die modernen Begriffe von Rasse, Nation und Staat zum einen in Beziehung zueinander stehen, und zum anderen auch un­ abhängig voneinander Geltung haben, trifft dies auch auf das alte Israel zu. Wie nun gezeigt werden soll, haben sowohl Spinoza als auch Mendelssohn nachdrücklich darauf hingewiesen, dass es den Juden seit der Vernichtung ihres antiken Staates an jeglicher politischen Macht fehlte. Indes müssen sich beide dessen sehr wohl bewusst gewesen sein, dass auch zu ihrer Zeit die Juden als quasipolitische Gemeinschaft weiter bestanden.1 Das von Spinoza selbst nach dem Bannspruch der portugiesischen »Nation« in Amsterdam erlittene Schicksal lässt sich nur politisch erklären: Eine rein religiöse Gemeinschaft hätte nicht die Macht gehabt, ihn auszustoßen. Der cherem 114

war der politische Akt einer Gemeinde, die über eine gewisse Zwangsgewalt verfügte, wenngleich diese weitaus eingeschränkter war als die eines souveränen Staates. So wird Spinozas Behauptung, dass die Juden, weil sie keinen Staat mehr hatten, nicht mehr politisch agierten, durch seine eigene Erfahrung widerlegt. Vielleicht ist die Theologisch-politische Abhandlung in dieser Hinsicht eher präskriptiv als deskriptiv zu verstehen, als Ausdruck von Spinozas (unbewusstem) Wunsch, die Juden wären mit ihrem antiken Staat verschwunden. In der Tat hatten jedoch Spinozas säkular-politische Definition Israels und Mendelssohns Behauptung, im Judentum sei es erstmals zu einer Trennung von Religion und Staat gekommen, bedeutende prämoderne Vordenker. Sie vertraten sehr wohl die Auffassung, dass die Juden in der Diaspora weiterhin als politische Gemeinschaft agierten. Mit der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 v. d. Z. hatten die Juden ihre politische Souveränität verloren. Im Lauf der Jahrhunderte etablierten sich jedoch die Rabbiner allmählich als nichtstaatliche Autoritäten, wobei sie zuweilen mit nichtreligiösen Führern um die Macht in der Gemeinde konkurrierten.2 Viele Theoretiker sahen diese Gemeinde im Bund zwischen Gott und Israel begründet, eine Ansicht, die wohl als religiös zu bezeichnen wäre. Gemäß der auf der ­Offenbarung fußenden politischen Theorie waren die Rabbiner durch die biblische Institution der Monarchie legitimierte Ersatzkönige, die ihre Autorität von Moses ableiteten. Beginnend mit der rabbinischen Literatur finden sich jedoch Seite an Seite mit der Vorstellung vom göttlichen Bund quasi­säkulare Theorien von einer jüdischen Polis. Eine säkulare Theorie der politischen Verfasstheit der Juden konnte ihre Legitimation jenseits der göttlichen Sanktionierung finden, sei es durch die Zustimmung des Volkes oder durch eine vertragliche Vereinbarung. Obwohl wir nicht wissen, ob die rabbinischen Talmudakademien in der Praxis als Gerichtshöfe fungierten, dienten die Rabbinatsgerichte ab dem Mittelalter in den meisten jüdischen Gemeinden als zentrale Rechtsinstanzen. Sie waren befugt, mittels eines gerichtliche Enteignung (hefker bet-din) genannten Verfahrens ihre Entscheidungen durch Auferlegung von Geldstrafen zu vollstrecken. Die Rabbiner weiteten diese Macht auf die gesamte Gemeinde aus, gemäß der Auffassung, dass diese einem Rabbinatsgericht gleichkäme und daher ihren Mitgliedern Eigentum entziehen könne. Ursprünglich ein Strafmittel, mutierte diese Enteignung zur Befugnis, Steuern zu erheben. Wenn wir also (eine nicht unstrittige Annahme) ein Rabbinatsgericht als »religiös« bezeichnen, ließe sich die Ausweitung von dessen Autorität auf die Gemeinde als markanter Schritt in Richtung einer Säkularisierung betrachten. Wichtig für unseren Zweck ist auch, dass besagter 115

Grundsatz nicht auf der Offenbarung fußt, sondern eine eindeutig säkulare Theorie in Bezug auf kommunale Machtbefugnisse darstellt. Einem ähnlichen Gedankengang folgend, vertraten die Schriftgelehrten auch den Standpunkt, die Autorität der Gemeinde beruhe auf einem stillschweigenden Vertrag zwischen all ihren Mitgliedern.3 Aus dieser Vorstellung leitete die Gemeinde zum Beispiel das Recht ab, in der Stadt lebende Menschen zu einer Beteiligung an Baukosten zu verpflichten, zum Beispiel für den Bau eines Tores zu einem Innenhof, um den herum sie wohnten. Ebenso konnte die Gemeinde ihre Mitglieder zwingen, sich an dem Bau oder der Instandsetzung einer Stadtmauer zu beteiligen, und zwar mit der Begründung, diese biete ihnen allen Schutz. Das spätere rabbinische Gesetz erweiterte diesen Grundsatz, sodass die Bewohner für alle Gemeinschaftsprojekte finanziell in die Pflicht genommen, sprich: besteuert werden konnten. Die mittelalterlichen jüdischen Theoretiker bevorzugten diese auch in der nichtjüdischen politischen Theorie übliche vertragsrechtliche Terminologie, statt die Gemeindeautorität auf den Bund vom Sinai zurückzuführen. Mit dem vertragssprachlichen Duktus entfernte sich die mittelalterliche jüdische politische Theorie von ihren biblischen Wurzeln und schuf die Möglichkeit, eine säkulare kommunale Regierung zu bilden. Die Existenz dieser zwei unterschiedlichen Arten der politischen Theorie  – der religiösen und der säkularen  – wurde im Mittelalter zum Ausgangspunkt des Konflikts zwischen den Rabbinern und der nichtreligiösen Gemeindeführung. Die Rabbiner konnten die Theorie von einer in ihrer Gesamtheit als Gericht fungierenden Gemeinde insofern anwenden, als sie tatsächlich selbst zu Gericht saßen. Die säkularen Führer wiederum konnten sich darauf berufen, die vom Talmud so genannten Erwählten der Stadt­ (berurim) zu sein, ihre Autorität stand insofern über der der Rabbiner. Maimonides, der selbst Rabbiner und Richter war, vertrat den Standpunkt, das die Stadtbewohner betreffende talmudische Recht gelte nur dann, wenn es keinen Rabbiner gab (wobei er den Begriff chacham, »weiser Mann«, verwendete). Seine Position ist somit eher am »religiösen« Rand des Meinungsspektrums einzuordnen. Obgleich Maimonides, wie kaum anders zu erwarten, den Rabbinern den Vorrang vor den nichtreligiösen Führern gab, legte er in seinem jüdischen Gesetzeskodex die Grundlage für eine säkulare politische Theorie. Wie Me­ nachem Lorbeerbaum aufzeigt, hat Maimonides sowohl eine ideale als auch eine realistische politische Theorie formuliert.4 Der König besitzt Machtbefugnisse, um Gehorsam zu erzwingen, welche die in der Tora erwähnten übertreffen; so kann er jeden hinrichten lassen, der sich gegen ihn auflehnt.5 Zudem ähnelt die Differenzierung, die Maimonides zwischen den 116

davidischen Königen (nur sie unterstehen der Gerichtsbarkeit des Sanhedrin) und den Königen Israels trifft, dem Unterschied zwischen einer konstitutionellen und einer absoluten Monarchie.6 Obgleich Maimonides’ Präferenz eindeutig einem an das Gesetz gebundenen König galt, respektierte er die uneingeschränkte Macht der »säkularen« Könige, einschließlich der nichtbiblischen jüdischen Könige wie die Hasmonäer. Maimonides’ realistische Einstellung ist auch in seiner messianischen Theorie zu erkennen. Obgleich das Königreich des Messias sich als Rahmen für eine idealistische politische Theorie anbieten würde, schildert Maimonides den Messias mit realistischen, politischen Begriffen.7 In Anlehnung an den Talmudspruch, der besagt, es gebe »zwischen dieser Welt und den messianischen Tagen […] keinen anderen Unterschied als die Knechtschaft der Regierung [das Fehlen politischer Souveränität]«,8 stellt Maimonides fest: »Der König Messias wird sich erheben und das Königreich Davids in altem Glanz und ursprünglicher Selbstständigkeit wieder errichten. Er wird den Tempel wieder aufbauen und die Zerstreuten Israels wieder einsammeln. In seinen Tagen werden alle Gesetze wieder eingesetzt werden, wie sie einst waren. […] Und denket nicht, dass in den Tagen des Messias der Lauf der Welt sich ändern oder sich in der Schöpfung etwas erneuern wird. Die Welt wird ihren üblichen Lauf nehmen. […] Israel wird sicher leben unter den bösen Heiden, die Wölfen und Leoparden ähneln.«9

Bei Maimonides wird also das Messianische, des Übernatürlichen entkleidet, zu etwas rein Politischem. Obgleich er nicht so weit ging, eine säkulare politische Theorie auf bestehende Gemeindebehörden anzuwenden, kodifizierte er die Praxis der Notverordnungen, wörtlich »Gebot der Stunde« (hora’at scha’a): »Wie ein Arzt die Hand oder den Fuß eines Patienten abschneidet, um dessen Leben zu retten, so kann das Gericht notfalls zeitweilig einige Gebote außer Kraft setzen, damit die Gebote in ihrer Ganzheit gewahrt werden können.«10 Aus diesem Konzept folgt, dass die Rabbiner ermächtigt waren, eine »Geißelung wegen Ungehorsam« beziehungsweise »Rebellion« (malkot ­mardut) vorzunehmen, wenn die gesetzlich vorgeschriebenen Strafen nicht anzuwenden waren. Um ein Beispiel aus dem Talmud zu zitieren, das diese außergewöhnliche Erweiterung von Rechtsbefugnissen rechtfertigte: »Ferner ereigenete sich einst, dass jemand seiner Frau unter einem Feigenbaume beigewohnt hatte, und man führte ihn vor das Gericht und geißelte ihn. Nicht etwa, weil er es [von Rechts wegen] verdient hatte, sondern weil die Umstände es erheischten.«11 Diese Vorstellung von in besonderen Notfällen geltenden Befugnissen erscheint wie eine mittelalterliche Version der Auffassung des konservativen deutschen Staatstheoretikers Carl Schmitt, nach der 117

die souveräne Macht durch den »Ausnahmezustand« definiert ist, das heißt durch die Möglicheit, im Notfall das Gesetz vorübergehend aufzuheben.12 Maimonides hat somit den Boden für eine säkulare politische Praxis bereitet, die statt auf göttlichem Gebot auf Erfordernis und Macht basierte. Während er selbst diese Macht vorzugsweise den Rabbinern zuwies, übertrug im 13. Jahrhundert eine Schule von aus Barcelona stammenden spanischen Denkern die Vorstellung von einer autonomen politischen Praxis auf eine nichtreligiöse Führung. Damit erfuhr das politische System der Juden eine weitere Säkularisierung. Wie von Lorbeerbaum beschrieben, waren Moses Nach­manides, Salomo ibn Adret und Nissim ben Reuben Gerondi die wesentlichen Innovatoren dieser säkularen Politik.13 Wohl unter dem Einfluss aschkenasischer Rechtstraditionen erkannte Nachmanides die Gültigkeit des lokalen Gewohnheitsrechtes und der außerhalb des Gesetzesrahmens der Tora erlassenen, kommunalen Verordnungen an. Ibn Adret ging einen Schritt weiter, indem er die Anwendung von Gewalt auch dort, wo sie durch die Tora verboten war, gestattete, wenn es um die »Erhaltung der Gesellschaft« (tikkun ha-medina) ging. Gerondi vollendete diese Entwicklung, als er feststellte, die Gesetze zur »Erhaltung der Gesellschaft« seien keine temporär geltenden Ausnahmebestimmungen, sondern ein die Tora ergänzendes Rechtssystem (im weitesten Sinn ist dieses duale Rechtssystem mit den courts of equity und courts of law nach englischem Recht vergleichbar). Maimonides hatte die immense Macht der Monarchen anerkannt, aber er hatte doch nachdrücklich betont, dass es nur ein Gesetz, nämlich das der Tora, gebe. Für Gerondi wie auch seinen südfranzösischen Zeitgenossen Menachem Meiri gründete die Macht des Königtums – oder jeder anderen Regierungsform – auf dem, was wir säkulares Gesetz nennen würden – ein Seite an Seite mit dem Gesetz Gottes bestehendes Gesetz. Wie vollkommen die Gesetze der Tora auch sein mögen, sie sind, so seine Vorstellung, vielleicht zu vollkommen, um auf ihrer Grundlage einen Staat zu lenken. Daraus folgt die Notwendigkeit eines säkularen oder politischen Rechts, dessen Autoritätsquellen eher menschlicher denn göttlicher Natur sind. Keiner der genannten jüdischen Autoren des Mittelalters, die halachische Autoritäten waren, kann als säkular bezeichnet werden. Sie verfassten ihre Werke allesamt im Rahmen eines Rechtssystems, das sie für die göttliche Offenbarung hielten. Doch ihre Erkenntnis, dass zwischen autonomen Sphären der Politik und des Rechts zu unterscheiden sei, erinnert in vielem an die christliche Lehre von den zwei Reichen, das erste das Reich der Kirche, das zweite das des Monarchen. Wie diese mittelalterliche christliche Vorstellung ein notwendiger Vorläufer der modern-säkularen Politik war, so steckte auch das jüdische politische Denken des Mittelalters einen säkular-politischen 118

Bereich ab, der, selbst wenn nicht explizit auf ihn rekurriert wurde, die Folie für die jüdischen säkular-politischen Weltanschauungen in der modernen Welt bilden sollte.

Spinoza und Mendelssohn: Die Religion und der Staat Spinoza war der Erste, der die Juden in rein politischen Begriffen definierte. Mit ihrem antiken theokratischen Staat waren sie von Gott »erwählt«, was in Spinozas Sprache bedeutet, dass sie ihre essenzielle Natur zum Ausdruck brachten. Theokratie bedeutete, dass die Israeliten ihren Herrscher in Gott selbst sahen, eine den grundlegenden Lehren der Philosophie zuwider­ laufende Vorstellung. Eine säkulare Auslegung der Bibel brachte Spinoza daher zu der Überzeugung, dass die Gründungsschrift des antiken Israel nichts über die philosophische Wahrheit aussage; vielmehr sah er in der Bibel ein historisches Handbuch der Politik. Wenn Spinoza ausdrücklich feststellte, die Bibel könne für die zeitgenössische politische Praxis nicht als Vorbild dienen, war dies die diametral entgegengesetzte Position von Reformatoren wie Johannes Calvin. Gott, so Spinoza, schließe mit den Menschen keine schriftlichen Verträge mehr, diese würden nunmehr den Herzen eingeschrieben – eine These, zu der er durch eine säkulare Auslegung der christlichen Theologie gelangt  –, sodass ein Gottesstaat wie der in der Bibel beschriebene nicht mehr möglich sei.14 Anders gesagt, er setzte eine offensichtlich christliche Lehre gegen jene Christen ein, die von einer künftigen Theokratie sprachen. Wenn Gott einen geistigen Bund nur noch im Herzen der Menschen schließt, dann sind in der nachbiblischen Zeit die einzig möglichen Verträge solche, die zwischen Menschen geschlossen werden, also sprechen wir von einer Monarchie oder einer Republik. Zunächst scheint ein solches Argument der Bibel jede Relevanz abzusprechen, eine genauere Lektüre von Spinozas Darstellung der israelitischen Theokratie hält jedoch einige Überraschungen bereit. Obgleich eine Theokratie, hat dieser Staat reichlich Ähnlichkeit mit einer Republik  – der von Spinoza bevorzugten Regierungsform  –, sodass die Fülle der von Spinoza aus der Bibel vorgebrachten Beispiele der Erhellung der zeitgenössischen politischen Theorie dienen können.15 Die Gründung des israelitischen Gemeinwesens verlief ähnlich wie die Errichtung einer Demokratie.16 Die Mitglieder der Gemeinschaft schlossen einen Gesellschaftsvertrag, in dem sie einige ihrer Rechte an den Herrscher abtraten. Mit dieser Auffassung des 119

israelitischen Bundes als Gesellschaftsvertrag nahm Spinoza Studien vorweg, die im 20. Jahrhundert zeigten, wie der biblische Bund Suzeränitätsverträgen des antiken Nahen Ostens nachgebildet war.17 Für die Israeliten war Gott der Herrscher; diese Übertragung der Staatsgewalt beruhte jedoch mehr auf dem Glauben denn auf der Wirklichkeit. Damit meint Spinoza, Gott sei, philosophisch gesprochen, ein fiktiver Herrscher gewesen, ein Statthalter des wahren Souveräns, des Volkes nämlich.18 In der Tat könne die Herrschaft Gottes nur durch Menschen vermittelt werden.19 Wie in einer wahren Demokratie diente »Niemand Jemand Seinesgleichen«.20 Alle Besitztümer wurden gleichmäßig aufgeteilt – ein Hinweis auf das in der Bibel genannte Jubeljahr –, was gesellschaftliche Solidarität schuf. Die rituellen Gesetze machten das Leben zu einer fortwährenden Übung in Gehorsam, doch bedeutete für die Israeliten Gehorsam nicht Sklaverei, sondern Freiheit.21 Diese Formulierungen sind Spinozas Philosophie sehr ähnlich (obgleich er nicht den Sozialismus predigte): Während die Israeliten ewige Notwendigkeiten fälschlich als göttliche Gebote auffassten, gelangten sie zu dem richtigen Schluss, Freiheit bestehe darin, sich in die Notwendigkeit zu fügen. Andererseits kritisiert Spinoza in ätzendem Ton den antiken jüdischen Staat für die von ihm praktizierte Absonderung: Da für die Israeliten Patrio­ tismus und Frömmigkeit eins waren, hätten sie Hass gegen alle anderen Völker entwickelt, was wiederum dazu geführt habe, dass ihnen andere Nationen ebenso heftigen Hass entgegenbrachten.22 Ganz offensichtlich empfahl Spinoza einer modernen Republik eine derartige Xenophobie nicht zur Nachahmung. Auch wegen seiner ihm inhärenten Schwäche sei der jüdische Staat kein Vorbild; diese Schwäche habe darin bestanden, dass die Kinder Israels die Herrschaft zunächst Moses und später den Königen abgetreten hätten. Am Sinai habe das Volk, von Furcht erfasst ob der Anwesenheit Gottes, Moses zu seinem absoluten Führer, zum Vorboten des späteren Königtums, gemacht. In der Vorrede zu seiner Theologisch-politischen Abhandlung postuliert Spinoza, Aberglaube entstehe aus der Furcht vor dem Unbekannten und dieser Aberglaube münde in die Tyrannei. Die Israeliten waren für Spinoza eine Verkörperung dieser Furcht und ihr Glaube an Gott nur ein irrationaler Aberglaube. So habe die absolute Herrschaft Moses’ eine Protodemokratie abgelöst. Dennoch sei nach dessen Tod die Herrschaft wieder an das Volk zurückgefallen, da Moses keine Erbmonarchie begründet hatte. Diese sollte erst später nach der Zeit der Richter entstehen. Eine weitere Schwäche des jüdischen Staates bestand Spinoza zufolge da­ rin, dass die Leviten zu einer mit weltlicher Macht ausgestatteten, potenziell 120

unabhängigen Priesterklasse erhoben wurden. Deren Entstehung gehe auf das Goldene Kalb zurück und stelle daher eine in der Gründungsphase eingetretene Fehlentwicklung dar. In der späteren Geschichte Israels hätten die Priester wiederholt die säkulare Autorität infrage gestellt. Letztendlich hätten die auf seine Ursprünge zurückgehenden inneren Konflikte des Staates zu seinem Fall geführt. Hieraus zieht Spinoza eine warnende Lehre: Er unterstreicht, dass die religiöse Autorität immer der säkularen unterzuordnen sei. Die Bibel, so Spinoza, sei jedoch, ungeachtet der Machtübernahme durch die Hohepriester, nicht als Quelle dafür zu nehmen, dass den Kirchen separate politische Machtbefugnisse zu übertragen seien. Ursprünglich hätten die Priester diese Macht von Moses erhalten, also einem weltlichen Herrscher (weltlich insofern, als nach Spinozas Darstellung das Volk ihm die Macht übertragen hatte).23 Die Israeliten hätten nie daran gezweifelt, dass das höchste Recht über die Religion beim Souverän verbleibe. Daher habe die jüdische Religion mit dem Verlust des Staates zwangsläufig ihre Rechtskraft verloren. Erst das Christentum ließ diesen Zweifel in Spinozas eigene politische Theologie einfließen: Eine autonome Kirche ist nach Spinoza eine Hervorbringung des Christentums. Dies deswegen, weil das Christentum von Machtlosen erfunden worden sei, während das Judentum im Grunde eine Staatsreligion gewesen sei. Daher bietet das antike Israel ein, wenn auch nach Moses’ Zeit nicht in der Praxis realisiertes, Vorbild für die angemessene Unterordnung der Religion unter den Staat. In diesem Sinne steht das Judentum einer im Sinne Spinozas modernen Religion näher als das Christentum. Von dem Glauben an einen fiktiven Gott befreit, kann die Bibel letzten Endes als Inspiration für eine Republik dienen, in der die Religion nur Ethik lehrt, während die Staatsgeschäfte dem Staat überlassen bleiben. Ebenso wie die alten Israeliten ein Gemeinwesen bildeten, in dem niemand einem ihm Gleichen untertan gewesen sei, lasse sich eine moderne Republik durch einen Gesellschaftsvertrag zwischen seinen frei handelnden Mitgliedern schaffen. Bliebe die Religion also auf die Kirchen (und Synagogen) beschränkt, könnten die Philosophen nach der Wahrheit streben, ohne die Theologen zu fürchten. Dass die Juden in erster Linie politische Genies gewesen seien, war eine für das 17.  Jahrhundert verblüffende Behauptung. Kein anderes Volk erschien damals als politisch so schwach wie das jüdische. Auch betrachtete man die Juden der Bibel nicht in primär politischen Kategorien, sondern sah in ihnen die religiösen Vorläufer des Christentums. So stellte Spinoza die Bibel, oder genauer: die Bibel im Verständnis seiner Zeit, auf den Kopf. Ihr Beitrag zur Weltgeschichte liege nicht in der Sphäre der Theologie, sondern in 121

der Sphäre des Staates. Die Juden seien durch ihren Staat definiert. Und mit dem Verlust ihres Staates hätten sie – und ihre Schrift – jede Existenzberechtigung verwirkt. Bekanntlich hielt Spinoza es jedoch nicht für unmöglich, dass die Juden aufgrund ihrer ausgesprochen politischen Natur erneut erwählt würden, das heißt ihren Staat wiederlangen könnten.24 Freilich hemme ihre durch den Beschneidungsritus symbolisierte Religion die »Männlichkeit«, sodass sie vielleicht nicht mehr über die für die Erlangung staatlicher Selbstständigkeit erforderliche kämpferische Kraft verfügten. Aber gerade die Beschneidung ist für ihn auch der Grund, warum die Juden wie eine Art Geistervolk ohne Staat fortbestehen konnten. Dieser und andere religiöse Gebräuche separierten sie von den Nichtjuden und zögen Hass und Verfolgung auf sie, was in Wechselwirkung zu weiterer Separierung führe. So hat, entgegen Spinozas Absicht, die jüdische Religion das Politische in der Tat übertrumpft, denn ohne die Religion wären die Juden den Weg aller antiker Völker gegangen, die auf der Müllhalde der Geschichte endeten. Es kann sein, dass die sogenannte zionistische Passage in Spinozas Schrift Theologisch-politische Abhandlung, in der er die Möglichkeit einer staatlichen Erneuerung der Juden ins Spiel brachte, durch ein aufsehenerregendes Ereignis ausgelöst worden war, das die jüdische Welt erst fünf Jahre vor ihrer Niederschrift erschüttert hatte.25 Im Jahr 1665 hatte sich ein türkischer Jude namens Schabbtai Zvi zum Messias erklärt, und seine Bewegung hatte mancherorts, so auch im fernen Amsterdam, bald Anhänger gefunden. Spinoza wusste von der sabbatianischen Episode, da sein englischer Briefpartner Henry Oldenburg ihn speziell danach gefragt hatte.26 Obwohl die von Ger­ shom Scholem angestoßene Forschung über den Sabbatianismus das Hauptaugenmerk auf die kabbalistische Theologie dieser Bewegung gelegt hat, mag gerade deren politische Tragweite Spinozas besonderes Interesse erweckt haben. Schabbtai Zvi legte sich königliche Titel zu und ließ sich von seinen Anhängern dementsprechend anreden. Über seine vorgeblichen übernatürlichen und mystischen Fähigkeiten hinaus beabsichtigte er auch, vom os­ manischen Sultan die jüdische Souveränität im Land Israel zurückzufordern. Die Möglichkeit, eine jüdisch-staatliche Souveränität wiederherzustellen, erschien daher zu Spinozas Zeit nicht als bloße Theorie. Wie wir im Detail gesehen haben, sprach sich Spinoza nicht für die Trennung von Kirche und Staat aus, sondern vielmehr für die Unterordnung der Kirche unter den Staat. Die Religion habe die Magd des Staates zu sein, um die Vielen Gehorsam zu lehren, die mit ihrer Vernunft allein nicht zu diesem Verständnis gelangen könnten. Als Moses Mendelssohn ein Jahrhundert nach Spinoza ähnliche Fragen aufwarf, hatte die Idee einer vollständigen 122

Privatisierung der Religion, wie von John Locke in allen Einzelheiten ausgeführt, inzwischen weitaus größere Verbreitung gefunden. Mendelssohn baute auf Spinoza auf, ging aber einen Schritt weiter, indem er die Religion vollkommen von der weltlichen Macht trennte, und wie Spinoza diente auch ihm die jüdische Überlieferung dabei als Vorbild. Im Gegensatz zu Spinoza lässt sich jedoch Mendelssohn hinsichtlich seiner Glaubensvorstellungen und -praktiken kaum säkular nennen, blieb er doch zeit seines Lebens ein der Tradition verhafteter Jude. Seine politische Theorie jedoch lieferte einen auf seiner spezifischen Auslegung des Judentums gründenden Beitrag zur Säkularisierung des Staates. Mendelssohns Abhandlung Jerusalem (1783) trägt den Untertitel Über religiöse Macht und Judentum. Obgleich der Begriff »Judentum« gelegentlich auch vor Mendelssohn auftaucht, spielt er zweifellos eine maßgebliche Rolle in der Gleichsetzung der jüdischen Glaubensvorstellungen und -praktiken mit diesem konkretisierten Konzept.27 Mit seiner spezifischen als Judentum bezeichneten Entität zielte Mendelssohn darauf ab, das Judentum als die modernste aller Religionen, als die einem modernen Staat, in dem die Religion auf die Privatsphäre beschränkt ist, angemessenste herauszustellen. Der erste der beiden Abschnitte von Jerusalem befasst sich theoretisch mit der Frage, welche Rechte veräußert, also dem Staat vom Individuum übertragen werden können. Als Mendelssohn diese Frage aufgriff, war die moderne Theorie des Gesellschaftsvertrags ein Jahrhundert alt; sie fußte auf dem Gedanken, die Menschen hätten im Naturzustand den Staat freiwillig geschaffen, indem sie ihm einige ihrer individuell genossenen Rechte abgetreten hätten. Mendelssohn nimmt nun den Standpunkt ein, die Menschen könnten nicht alle ihre Naturrechte, sondern nur die ihre materielle Existenz betreffenden Rechte veräußern. Unveräußerlich seien hingegen ihre Glaubensvorstellungen und ihre Gesinnungen. Auch der in höchstem Grad absolute Staat könne die Überzeugungen der Menschen nicht auf legitime Weise kontrollieren.28 Während der Staat ein absolutes Recht hat, über die Verhältnisse zwischen seinen Subjekten zu walten, und sich daraus sein Zwangsrecht ableitet, befasst sich die Kirche Mendelssohn zufolge lediglich mit dem Verhältnis zwischen den Menschen und Gott.29 Religiöse Institutionen hätten keine Rechtsgewalt über materielle Güter und könnten daher ihre Mitglieder zu nichts zwingen, heißt es bei Mendelssohn. Aufgabe dieser Einrichtungen sei es, den Glauben zu lehren, doch da dieser niemandem aufgezwungen werden könne, lasse sich dies nur durch Erziehung und Überzeugung erreichen. Aus diesem Grund leugnet Mendelssohn das Recht der Kirchen auf Exkommunikation, also die Anwendung von Zwang, um Glauben zu erzwingen (ein Argument, das er bereits ein Jahr zuvor 123

im Vorwort zu einer deutschen Ausgabe von Menasse ben Israels Gesuch um Wieder­zulassung der Juden in England angeführt hatte). Dem fügt er eine Bemerkung hinzu, die einem verhüllten Hinweis auf Spinoza gleichkommt:­ »Leser! welcher äußerlichen Kirche, Synagoge oder Moschee du auch anhängest! untersuche, ob du nicht in dem Haufen der Verbannten mehr wahre Religion antreffen wirst, als in dem ungleich größern Haufen ihrer Verbanner?«30 Im zweiten Abschnitt von Jerusalem legt Mendelssohn dar, dass es das Judentum ist, das seiner Idealdefinition einer keinen Zwang ausübenden Religion am nächsten kommt. Im ersten Teil hatte er behauptet: »Der Staat erteilt Gesetze, die Religion Gebote.«31 Doch der anonyme Autor der Abhandlung, die ihn veranlasst hatte, das Werk Jerusalem zu verfassen, hatte behauptet, die mosaische Religion setze ihre Gebote mit körperlicher Bestrafung wie Steinigung durch. Sei Mendelssohns Unterscheidung zwischen »Gesetzen« und »Geboten« nicht eigentlich irrelevant? In welchem Sinne sei dann das Judentum eine keinen Zwang ausübende Religion? Mendelssohn beantwortet diese potenziell fatale Herausforderung mit einer neuen Theorie der Gebote. Zum einen schließt er sich Spinozas Argumentation an, die Offenbarung am Berg Sinai habe die Gesetzgebung geschaffen, mit der sich der Zusammenschluss der Hebräer, ursprünglich eine Theokratie, konstituierte. Als solche wurden diese Gesetze wie die jedes anderen Staates mittels körperlicher Strafen durchgesetzt. Doch mit der Zerstörung des israelitischen Staates seien diese Strafformen außer Kraft getreten. Nachdem Mendelssohn Spinoza bis hierher gefolgt war, musste er nun erklären, warum man trotz Abwesenheit eines Staates diese Gesetze zu befolgen hatte und ob Letztere mit irgendwelchen Vollstreckungsbefugnissen einhergingen. Als gläubiger (im späteren Sprachgebrauch »orthodoxer«) Jude musste Mendelssohn rechtfertigen, warum er persönlich weiter das Gesetz befolgte, insbesondere da er von mehreren christlichen Gelehrten dazu herausgefordert worden war, eine Vernunftreligion mit dem Judentum zu versöhnen. Mendelssohns Unterscheidung zwischen Gesetzen und Geboten bildet den zentralen Punkt in seiner Antwort auf diese Herausforderung. Die Gebote im alten israelitischen Staat hätten Gesetzeskraft gehabt, gleichwohl sei ihr Charakter ein grundsätzlich anderer gewesen: »Sie [die Gebote] sind aber [nicht nur Vorschriften der Handlungen] auch größtentheils als eine Schriftart zu betrachten, und haben als Zeremonialgesetze, Sinn und Bedeutung. Sie leiten den forschenden Verstand auf göttliche Wahrheiten […]«.32 Die Gebote selbst offenbarten keine göttliche Wahrheit, leiteten aber den Verstand zur Erkenntnis dieser Wahrheit. Ihr Nutzen sei daher nicht auf den antiken jüdischen Staat beschränkt gewesen, sondern diene weiterhin der Philosophie. 124

Mendelssohn war sich offensichtlich dessen bewusst, dass der funktionell der Exkommunikation entsprechende Bann (cherem) in der jüdischen Welt noch immer angewendet wurde, betonte jedoch, dass sein ursprünglicher Zweck im Judentum ein anderer gewesen sei. Das Judentum sei, trotz seiner theokratischen Ursprünge, seinem Wesen nach keine politische Religion. Hier entfernte er sich ganz wesentlich von Spinoza. Mit der Zerstörung der beiden Tempel habe das Judentum den Wesenskern seiner Offenbarung realisieren können: ein System von Geboten, das darauf angelegt sei, zu einer Vernunftreligion zu erziehen. Da solche Überzeugungen nie erzwungen werden könnten, habe das Judentum sein Potenzial ohne einen Staat ausschöpfen können (womit nicht gesagt ist, dass Mendelssohn die Möglichkeit einer­ erneuerten Souveränität ausschloss). Die Gebote richteten sich, obgleich in der Gemeinschaft zu erfüllen, an das Individuum. In der Privatsphäre, fern von staatlicher Macht, könne sich die Religion am besten entfalten. Der These von Alexander Altmann zufolge soll Mendelssohn ursprünglich beabsichtigt haben, mit seinem Werk Jerusalem die Schuld für religiösen Zwang auf das Christentum abzuwälzen.33 Die endgültige Fassung enthält keine explizite Anschuldigung dieser Art, sie findet sich aber angedeutet zwischen den Zeilen. So zum Beispiel die Feststellung: »Das Judentum rühmet sich keiner ausschließenden Offenbarung ewiger Wahrheiten […] keiner geoffenbarten Religion […]. Ein anderes ist offenbarte Religion; ein anderes offenbarte Gesetzgebung.«34 Eine solche Feststellung hätte im modernen interreligiösen Dialog, in dem das Judentum als »Orthopraxie« und das Christentum als »Orthodoxie« definiert wird, geradezu als Gemeinplatz zu gelten. Während das Judentum dem Menschen den Glauben nicht aufzwingt, tut dies das Christentum sehr wohl, wie seine Inquisitions- und Exkommunikationsgeschichte zeigt. Da Mendelssohns Definition des modernen Staates von der Kirche verlangt, ihre Zwangsgewalt aufzugeben, geht das Judentum als die modernste aller Religion hervor, als am ehesten bereit für eine Welt, in der die säkulare Macht absolut und die Religion aus der Öffentlichkeit verbannt ist. Mendelssohn und Spinoza gingen, wie sich gezeigt hat, hinsichtlich des politischen Wesens des alten Judentums von einer ähnlichen Prämisse aus, gelangten aber zu vollkommen anderen Schlüssen: Für Spinoza konnte es nach der Zerstörung des Staates keinen Grund mehr für das Bestehen des jüdischen Gesetzes geben, während für Mendelssohn das Gesetz ohne Staat weiter als Mittel der Belehrung und Unterweisung diente. Spinoza sah für ein jüdisches Selbstverständnis keine Zukunft ohne Politik – für ihn gleichbedeutend mit einem Staat, Mendelssohn versuchte dagegen ein von Politik  – also von Macht und Zwang  – freies jüdisches Selbstverständnis zu 125

konstruieren. Beide leugneten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, dass sich die Juden in der Diaspora politisch betätigten. Während beide nach einem säkularen Raum des Politischen suchten, war es nur Spinoza, der, wohl unbewusst, die Tür zu einer künftigen säkularen jüdischen Politik öffnete. Spinoza und Mendelssohn ignorierten oder verdrängten bewusst die prämoderne Tradition, nach der Israel auch nach dem Untergang des alten jüdischen Staates eine politische Gemeinschaft war. Den modernen Autoren, die diese Definition Israels auf säkularer Basis erneuern sollten, oblag es noch zu bestimmen, in welcher Art von politischer Gemeinschaft sie lebten. Was einte die Juden ohne ein gemeinsames religiöses Selbstverständnis? Grosso modo gab es drei Antworten auf diese Frage, die in der Folge erörtert werden sollen: 1. Stamm, 2. Nation und 3. Staat.

Eine jüdische Rasse? Moses Hess, Israel Zangwill und Wladimir Jabotinsky Der Erste, der diese Frage zu beantworten versuchte, war Moses Hess (1812– 1875). Bei seinem Tod war er weitgehend in Vergessenheit geraten, um mehr als ein Vierteljahrhundert später als Prophet des Zionismus wiedererweckt zu werden. Maßgeblich von Spinoza geprägt, war Hess eine entscheidende Transitionsfigur. Sein Leben beinhaltete in komprimierter Form viele der Umstellungen, welche die Juden im Deutschland des 19. Jahrhunderts durchliefen. In einem traditionell jüdischen Elternhaus aufgewachsen, wo er von seinem Großvater, einem Rabbiner, eine orthodoxe Erziehung erhielt, geriet Hess in den späten 1830er Jahren unter den Einfluss der Junghegelianer und wurde zu einer Randfigur in der Geschichte des deutschen Sozialismus. Zwei Jahrzehnte später jedoch, desillusioniert vom Sozialismus und alarmiert vom Aufflammen des deutschen Antisemitismus, wandte er sich einem jüdischen Nationalismus zu, der, wie wir sehen werden, mit dem Begriff der Rasse argumentierte und in der Geschlechterpolitik eine eigentümliche Position vertrat. Die meisten deutschen Juden waren weder Sozia­listen noch jüdische Nationalisten, doch indem er diese verschiedenen radikalen Standpunkte vertrat, erhellte Hess die Polaritäten in seinem Kulturkreis. Obgleich er sich letztlich der »uralten Synagoge«, wie er es ausdrückte, zuwandte, wies sein Denken eine stark säkulare Komponente auf, hervorgerufen durch seine lebenslange Verbundenheit mit Spinoza sowie seine Bemühungen um ein auf ethnische Zugehörigkeit statt auf Religion basierendes jüdisches Selbstverständnis. 126

In seinem 1837 erschienenen Erstlingswerk Die heilige Geschichte der Menschheit hatte Hess sich bereits anonym als »Jünger Spinozas« zu erkennen gegeben. Sein Rekurs auf Spinoza, wie fast alles in diesem frühen, un­ reifen Werk, war völlig idiosynkratisch. Spinoza scheint ihm nur die Mittel an die Hand gegeben zu haben, das Judentum zu rehabilitieren, indem er es dialektisch auf eine höhere, säkulare Stufe hebt. Während Hegel das Judentum als primitive, durch das Christentum völlig überholte Religion ab­getan hatte, ermöglichte Spinoza es Hess, in seiner Religion der Vernunft einen weitaus größeren Teil des Judentums beizubehalten. In der entscheidenden Passage der Heiligen Geschichte der Menschheit konstatiert Hess, im Vergleich zum Heidentum erscheine das Judentum als geistig, im Vergleich zum Christentum jedoch als materialistisch, eine Feststellung ganz im hegelschen Sinn. Für Hess ist jedoch das Judentum viel positiver besetzt als für Hegel: Religion und Politik seien im Judentum auf vollkommene Weise integriert, da das jüdische Gesetz Körper und Seele als Teil desselben Organismus behandele; dies ist Spinozas Sicht auf Körper und Verstand ähnlich. Die Evangelien hingegen hätten die Außenwelt, die Welt des Politischen, zugunsten eines verinnerlichten, vergeistigten Menschen aufgegeben. Dessen ungeachtet bestehe der Glaube an Christus einzig und allein deswegen fort, weil er eine Antwort auf das Leiden der Welt anbiete. Dieses Leiden werde von einem »dritten Gesetz« besiegt werden, das nicht nur das alte jüdische, sondern auch das christliche Gesetz aufheben werde. Wenn der Staat wieder heilig wird, so Hess, wird ein neues Königreich Gottes anbrechen. Und was würde die Grundlage dieses neuen Königsreichs sein? Es würde »das alte Gesetz, dessen Leib mit Christus begraben wurde« sein, das »geläutert […] in Spinoza wieder auferstanden [ist]. Der Keim eines neuen heiligen Bundes liegt in des Meisters [Spinozas] Heilslehre.«35 Spinoza wäre zweifellos verblüfft gewesen zu entdecken, dass mit ihm das alte Gesetz »wieder auferstanden« sei. Doch in Hess’ Darstellung hatte Spinoza mit der dem jüdischen Gesetz entsprechenden Vereinigung von Körper und Geist, von Politik und Religion sowohl das Judentum als auch das Christentum zu dialektischer Erfüllung geführt, wenn auch mit größerer Betonung des Ersteren, da Spinoza, wie das alte Gesetz, die äußere und die innere Welt vereinigte. Mit seiner in Rom und Jerusalem (1862) entwickelten nationalistischen Theorie stritt Hess dafür, dass die Juden selbst nunmehr die spinozistische Staatsidee umsetzten. Neu war nicht nur, dazu aufzurufen, die jüdische Souveränität zu erneuern, sondern auch, den Juden als Nation par excellence eine bevorzugte Stellung zuzuweisen. Dabei sah er das Fundament des Judentums in der ethnischen Abstammung, der Kontinuität der Generationen. 127

Der jüdische Glaube an die Unsterblichkeit habe nichts mit dem christlichen Gedanken vom individuellen Heil gemein, seine Quelle sei die »Familienliebe«.36 Gemeinschaftlich oder von Natur aus familial und deshalb von Natur aus antikapitalistisch sei das Judentum, denn der Kapitalismus atomisiere die Menschen als Individuen und zerreiße ihre natürlichen Gemeinschaften. Dergestalt verknüpft Hess das Ethos der jüdischen Familie – wobei er die Rolle der Frauen in der Familie besonders hervorhebt – mit einem politischen Messianismus. In der Tat bezieht sich Hess in Rom und Jerusalem häufig auf die Familie als Grundeinheit der Nation und preist in exaltierten Tönen die jüdische Familie und Mutterliebe: »Solcher Liebe, die gleich der Mutterliebe aus dem Blute stammt und doch so rein wie der Geist Gottes ist, einer so unbegrenzten Familienliebe ist nur ein jüdisches Herz fähig. Und diese Liebe ist der natürliche Born jener intellektualen Liebe Gottes, welche nach Spinoza das Höchste ist, wozu es der Geist überhaupt bringen kann. Aus der unversiegbaren Quelle der jüdischen Familienliebe stammen die Erlöser des Menschengeschlechts.«37

Spinoza wäre wohl wieder überrascht gewesen zu erfahren, dass der Ursprung seiner amor dei intellectualis unmittelbar seiner jüdischen Familie (die er in keiner seiner Schriften auch nur ein einziges Mal erwähnte) zu verdanken sei. Hess hingegen vermochte durch den von ihm intuitiv erfassten Zusammenhang zwischen der intellektuellen Liebe Gottes und der familialen Liebe eine Verbindung zwischen seiner Verehrung für Spinoza und dem jüdischen Nationalgefühl zu finden. Dieser Lobgesang auf die Familie, der an einen konventionellen Tropus der zeitgenössischen deutsch-jüdischen Prediger erinnert, führt Hess zu ebenso rühmenden Bemerkungen über die jüdischen Frauen als Hüter der Familie: »O, wie falsch sind diejenigen berichtet, welche den Einfluss der Frauen auf die Entwickelung des Judenthums und der Juden gering anschlagen! – Heißt es doch von den letzteren: Der Sittenreinheit ihrer Frauen hatten sie ihre erste Erlösung [gemeint ist der Auszug aus Ägypten] zu verdanken und werden sie auch ihre letzte Erlösung zu verdanken haben.«38

Er zitiert auch zustimmend aus dem von dem französischen Autor Pierre Mercier verfassten Essai de la littérature juive: »Die Juden allein hatten den gesunden Sinn, die Frauenliebe der Mutterliebe unterzuordnen.«39 Selten noch ist der jüdischen Mutter eine solche Lobeshymne zuteilgeworden. Der religiöse Genius der Juden verdanke seine Existenz »der Fruchtbarkeit und Unverwüstlichkeit des jüdischen Stammes«,40 eine Feststellung voller 128

Ironie in Anbetracht des Umstandes, dass Hess selbst kinderlos war. Und die nationale Erlösung würde aus dieser Wahrheit erwachsen: »Jeder Jude hat den Stoff zu einem Messias, jede Jüdin hat den zu einer mater dolorosa in sich.«41 So gab Hess die Jungfrau Maria ihrem Volk zurück. Die Juden, glaubte Hess, würden, weit davon entfernt, dieses Familien-Gen eifersüchtig zu hüten, ihre Familienliebe über die ganze Welt verstreuen, »bis die ganze Menschheit eine einzige Familie sein wird«.42 Diese Feststellung spiegelt den paradoxen Charakter von Hess’ Nationalismus wider, in dem sich ein genetisch motivierter Blick auf die jüdische Zugehörigkeit mit humanitärem Universalismus verband. In den 1860er Jahren war es zunehmend Usus geworden, von Blut und Rasse zu sprechen, gerade wenn es um die Definition einer Nation ging, obschon der rassische Antisemitismus noch in seinen Anfängen lag. Als Hess Rom und Jerusalem schrieb, war der vormalige Sozialist zu der Überzeugung gelangt, der Rassenkampf habe Vorrang vor dem Klassenkampf: »Das sociale Leben ist zunächst das Produkt bestimmter Menschenracen, ursprünglich verschiedener Volksstämme […]«.43 Aus mehreren Passagen in dem Werk wird deutlich, dass sich Hess auf eine biologische Definition des jüdischen Selbst zubewegte. So stellt er zum Beispiel fest: »Die jüdische Race ist eine ursprüngliche, die sich trotz klimatischer Einflüsse in ihrer Integrität reproducirt. Der jüdische Typus ist sich im Laufe der Jahrhundert stets gleich geblieben.«44 Wie Kenneth Koltun-Fromm gezeigt hat, glaubte Hess an den »Polygenetizismus«, nach dem die Menschheit nicht von einer, sondern von vielen Rassen abstamme.45 Adam und Eva wurden damit zu Stammeltern der jüdischen Rasse und keiner anderen – ein Thema, in dem sich ungewollt einige der stärker chauvinistischen Schlagwörter des mittelalterlichen jüdischen Mystizismus wiederfinden.46 Da Hess zufolge Mischehen, ebenso wie klimatische Einflüsse, »Rassen­ typen« nicht auslöschen könnten,47 bewahrten die Juden als die beständigste aller Bevölkerungsgruppen ihre charakteristischen Züge auch, wenn sie »Mischehen mit indogermanischen Stämmen«48 eingingen. Dies illustriert Hess mit der Geschichte von einem ihm bekannten russischen Aristokraten, dessen Ahnen zum Teil mongolisch gewesen waren. Seine Kinder aber aus einer Verbindung mit einer polnischen Jüdin hätten charakteristische jüdische Züge getragen. In der Mischehe, die Hess in seinen frühen Schriften befürwortet hatte, bleibt der Jude jüdisch.49 Die Juden waren also für Hess eine einzigartige Abstammungsgemeinschaft, das, was spätere Nationalisten eine »Blutgemeinschaft«50 nennen würden, aus der man sich nicht ohne Weiteres lösen konnte. Andererseits stellte Hess fest, und das ist typisch für sein Bestreben, rassistisch argumentierenden Nationalismus und Univer129

salismus auszubalancieren, seine »Racenstudien« in den 1850er Jahren hätten ihn »von dem Untergange jeder Racenherrschaft und der Wiedergeburt der Völker«51 überzeugt. Wie verhält sich nun Hess’ Protozionismus gegenüber der Religion? Zum einen relativiert er sie, indem er sie seinem rassegeleiteten Nationalismuskonzept unterordnet: »Wenn das Judenthum seine Unsterblichkeit der Fruchtbarkeit seines religiösen Genies [verdankt], so hat dieses selbst die seinige der Fruchtbarkeit und Unverwüstlichkeit des jüdischen Stammes zu verdanken.«52 Dessen ungeachtet verwendet Hess in der Darlegung seiner These wiederholt religiöse Terminologie. Er distanziert sich von Mendelssohns Behauptung, das Judentum habe keine Dogmen. Keineswegs, kontert Hess, doch die Dogmen des Judentums seien im Gegensatz zu den christlichen offen, stets in Entwicklung und nie vollendet: »Auf der tiefen Dogmenbasis des Judenthums konnten sich abweichende Lebensanschauungen entwickeln.«53 Hier ließe sich einwenden, der Gebrauch des Begriffs Dogma bei Hess sei irreführend, denn was er im Sinn hatte, war das genaue Gegenteil von Dogma. Das Judentum lasse dem Philosophieren freien Raum, das sei der Grund, »weshalb das Judentum das philosophische Denken niemals ausgeschlossen oder verketzert hat […].54 Sadia und Maimuni [Maimonides], Spinoza und Mendelssohn sind, trotz ihrer fortgeschrittenen geistigen Entwickelung, keine Apostaten geworden, obgleich es nicht an dogmatischen Ketzerrichtern fehlte, die sie ausstossen wollten oder wirklich ausgestossen hatten.«55 Spinoza selbst würde wohl dieser Beschreibung seiner Person nicht beipflichten; er fühlte sich in der Rolle des Apostaten durchaus wohl. An diesem Satz aber lässt sich nachvollziehen, mit wem Hess sich intellektuell verbunden sah. Als Spinozist sah er sich selbst in der Gefahr, von den »Rationalisten« (das heißt, den Reformern innerhalb des Judentums) ausgestoßen zu werden, betrachtete sich aber damit als Teil einer erlesenen Traditionslinie. Dies ist ein, gelinde gesagt, eigenartiges, gegengeschichtliches Argument, das wieder einmal Spinoza als den Vertreter des wahren Judentums hinstellt, während alle anderen – das Reformjudentum und die zeitgenössische Orthodoxie – bezichtigt werden, den Pluralismus des Judentums zugunsten ihrer eigenen engen Glaubensvorstellungen aufzugeben. Hess bezieht vehement Position gegen diese beiden für das Deutschland des 19. Jahrhunderts charakteristischen Strömungen der jüdischen Religion: »Unbefriedigt von der Reform und ab­gestoßen von den Ketzerriechern auf orthodoxer und heterodoxer Seite, fragen Sie, welcher Religionsgenossenschaft man sich heute noch mit seiner Familie im Judentum anschließen soll?« Seine Antwort darauf lautet: »Ich kenne nur eine jüdische Genossenschaft, die uralte Synagoge, die glücklicherweise noch besteht, und hoffentlich auch noch so lange bestehen 130

wird, bis die nationale Wiedergeburt des Judentums vollendet ist.«56 Hätte er eine Familie, gibt Hess bereitwillig Auskunft, würde er sich einer solchen Synagoge anschließen und alle Trauer- und Festtage einhalten. Gleich darauf aber schreitet er, unfähig sich zurückzuhalten, zur Neuordnung dieser alten Synagoge: Kantoren und Chöre kritisiert er als »seelenlose Instrumente« und begibt sich damit verdächtig in die Nähe der von ihm verachteten Reformer. Hess hatte, wie wir wissen, keine Familie, und dieser Lobgesang auf die alte Religion scheint eher sentimentaler Natur als essenziell für seine Philosophie zu sein. Wieder einmal ist es Spinoza, der als Hess’ Bannerträger herhalten muss. Im Epilog zu Rom und Jerusalem greift Hess den konservativen italienischen Gelehrten Samuel David Luzzato an, er habe Spinozas Philo­ sophie wegen ihres nüchternen Rationalismus angefochten. Das Gegenteil sei der Fall, sagt Hess: »In Spinoza, der aus der Idee Gottes, als des Alleinigen, das ganze sittlich-geistige Leben entwickelt und die Erkenntniss Gottes als das höchste und letzte Resultat dieses Lebens darstellt, in dieser letzten Offenbarung des jüdischen Genius verschwinden alle Widersprüche […].«57

Obgleich Hess den Begriff »Offenbarung« verwendet, meint er damit etwas, das eher im Sinn des von ihm so verehrten holländischen Geisteshelden liegt: »Das religiöse Genie der Juden hat nicht nur im Alterthum, vom heiligen Geiste beseelt, göttliche Offenbarungen gehabt. Der heilige Geist ruht stets auf Israel, so oft es sich im Leben der Menschheit um eine neue große welthistorische Entwicklungsphase, um eine neue, sociale Schöpfung handelt […].«58

Wie Spinoza bereits argumentiert hatte, liege die einzigartige Berufung der Juden in der Politik, nicht in der Religion. Daher werde der Beitrag der Juden zur Zukunft der Menschheit in der Sphäre des Sozialen liegen. Mit der Wiedererschaffung ihres Nationalstaates würden die Juden der Menschheit die Erlösung bringen. Die wahre Manifestation von Spinozas Gott würde der jüdische Staat sein. Die religiöse Sprache im Text von Hess darf uns daher nicht in die Irre führen. In seinem Rekurs auf Spinoza, der bis in seine frühesten Schriften reicht, artikulierte er eine säkulare Vision für das jüdische Volk. Zwar fußte diese Vision auf dem »alten Gesetz«, dies jedoch nur als Ausgangs- und nicht als Zielpunkt, in dem der Gott der Philosophen seinen wahren Ausdruck in einer erneuerten jüdischen Nation finden würde. Und vornehmlich würden es die Frauen als Garanten der Fruchtbarkeit der »jüdischen Rasse« sein, die Spinozas Vision erfüllten – eine Vision freilich, die Heinrich Heines petit juif d’Amsterdam kaum wiedererkannt hätte. 131

Die sogenannte Rassenfrage kam genau zu jenem Zeitpunkt auf, als für viele Juden, Zionisten wie Nichtzionisten gleichermaßen, ein religiöses Selbstverständnis nicht mehr lebbar war. Viele Denker waren durchaus für eine Assimiliation der Juden, jene aber, welche die Unmöglichkeit einer solchen Assimilation erkannten, führte dies oft zu einer rassistisch argumentierenden Definition der Juden. Unabhängig davon, auf welche Seite sie sich in der Nationalismusdebatte schlugen, gingen viele von ihnen davon aus, von Juden könne nur in der säkularen Sprache der Rassenlehre die Rede sein. Hess war einer der ersten Verteidiger der Juden, der sie als Nation mit distinkten ethnischen Merkmalen betrachtete; für ihn stachen solche Merkmale die der Religion aus. Andere Verteidiger waren unter anderem Benjamin Disraeli, und, wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, auch Freud, der behauptete, die der jüdischen Religion zugrunde liegende psychologische Wahrheit werde genetisch weitergegeben. An der Wende zum 20. Jahrhundert hatte sich um diese Frage eine regelrechte Debatte entsponnen; dabei machten manche Zionisten rassistische Zuschreibungen geltend, während Marxisten und jüdische­ Assimilationisten oft entgegengesetzte Positionen einnahmen.59 Dies ist nicht der Ort, die umfassende Literatur zu diesem Thema zu besprechen, doch sollen am Beispiel des Schriftstellers und jüdischen Nationalisten Israel Zangwill (1864–1926) die Ambivalenzen dieser Diskussion nachvollzogen werden. Zangwill war alternierend Assimilationist, Zionist und Territorialist – ein Chamäleon, das sich einer einfachen Kategorisierung entzog. Oft sprach er in widersprüchlicher Weise über Juden und Rasse. In seinem gefeierten, wenn auch einfachen Drama The Melting Pot, der diesen Begriff populär machte, scheint er sich für die Mischehe und die Assimilierung einzusetzen. Er selbst hatte sich durch seine Ehe mit einer Nicht­jüdin bei manchen seiner zionistischen Mitstreiter äußerst unbeliebt gemacht. In Wirklichkeit aber war seine Einstellung weitaus komplexer. Trotz der Vorhersage, dass im melting pot Amerika alle ethnischen Gruppen mit­einander verschmelzen würden, erweist es sich, dass sich vermeintliche Merkmale einer Rasse nicht so leicht auslöschen lassen. In einer Diskussion über die Frage, ob der kurz nach seiner Geburt getaufte russische Pianist Anton­ Rubinstein ein Jude sei, fragt einer der Protagonisten: »Und hat das Wasser von außen das Blut drinnen verwandelt?«60 Blut ist dicker als Wasser, zumindest als Taufwasser, was wiederum die Frage aufwirft, ob Blut auch stärker ist als das Feuer des Schmelzofens. Im Nachwort zur Ausgabe seines Dramas aus dem Jahr 1914 gibt Zangwill in erstaunlicher Zweideutigkeit seinen Gedanken zum Thema Ausdruck. Zum einen behauptet er, die rassischen Merkmale der Juden seien »im Rückzug begriffen«, sodass letztendlich die Juden in den Vereinigten Staaten als 132

erkennbarer Typus verschwinden würden. Zum anderen stellt er fest, der Jude sei »das härteste aller weißen Elemente, das in den Schmelztiegel Amerika eingebracht worden ist, da diese Rasse aufgrund ihrer einzigartigen, mehrtausendjährigen Lebenserfahrung angesichts feindseliger Mehrheitsgesellschaften eine salamanderartige Fähigkeit zum Überleben entwickelt hat. Diese asbestartige Faser wird durch den Antisemitismus der amerikanischen Unkultur noch feuerfester gemacht.«61 Als würde er sich des inneren Widerspruchs in seiner Argumentation bewusst, distanziert er sich von der die Vermischung der »Rassen« propagierenden Botschaft seines Bühnenstücks, in dem er schließt, dass »auch ohne physischen Verkehr der Jude amerikanisiert und der Amerikaner judaisiert werden kann«.62 Da Zangwills Einstellung zwischen so vielen verschiedenen Positionen changierte, verwundert es nicht, in seinen Texten widersprüchliche Gedanken zu diesem Thema zu finden. Doch obgleich Zangwill vielleicht sprunghafter war als die meisten anderen, war er wiederum nicht so untypisch in einer Zeit, als – um der treffenden Analyse Michael Stanislawskis zu folgen – eine große Vielfalt von Denkern eine Welt bewohnte, die kosmopolitisch und nationalistisch zugleich war.63 Auch Wladimir Zeev Jabotinsky, der Begründer des rechtsgerichteten revisionistischen Zionismus, dem wir bereits im zweiten Kapitel begegnet sind, war ein solcher kosmopolitischer Nationalist. Obgleich ein akkulturierter russischer Intellektueller, wurde er unter dem Eindruck der politischen Problemsituation der Juden zu Beginn des 20.  Jahrhunderts zum Zionisten. Angeregt durch den italienischen Nationalismus, bereicherte Jabotinsky sein ideologisches Engagement um Kategorien, die europäischen säkularen Denkbewegungen wie dem Positivismus und dem Sozialdarwinismus entlehnt waren. Damit verbunden war auch die Kategorie der Rasse. 1913 verfasste Jabotinsky einen Essay über dieses Thema, in dem sich die im damaligen Europa vorherrschenden Ideen widerspiegelten. Wie Hess ein halbes Jahrhundert zuvor, äußerte Jabotinsky, »das Fundament alles Nationalen ist die Rasse«.64 Alle »Rassen« beinhalteten dieselben Komponenten, räumte er ein, deren proportionaler Anteil variiere aber je nach Klima, geografischer Lage und so weiter. Im Gegensatz zu den Marxisten sah er in der Rasse ein grundlegenderes Substrat der Gesellschaft als in der Ökonomie: Da jede aufgrund unterschiedlicher geografischer Gegebenheiten unterschiedliche wirtschaftliche »Produktionsbedingungen« schaffe, gebe es kein universell gültiges Gesetz in der Wirtschaft. Obgleich die Juden in seinem Essay kaum erwähnt werden, ist Jabotinskys Stoßrichtung klar. Die Juden sind für ihn eine separate Gruppe beziehungsweise Nation mit Anspruch auf politische Eigenständigkeit wie alle anderen. In diesem Selbstverständnis spielt die Religion kaum eine Rolle. 133

Gleichzeitig räumte Jabotinsky ein, dass es keine reine Nation gebe, plädierte jedoch für politische Strategien, welche die Vermischung der Völker, Sprachen und Religionen so weit wie möglich verhindern könnten. Die Nationalkulturen müssten sich in benachbarten Territorien mit einem Minimum an Einfluss seitens der jeweiligen Minoritäten entfalten können. Abweichend von Hess, dessen rassentheoretische Ansichten von utopischem Universalismus gemildert waren, vertrat Jabotinsky den Standpunkt, es sei illusorisch, die Vereinigung der Menschheit zu einem Volk zu erwarten; kulturell-rassische Unterschiede werde es schließlich immer geben. Zwar hatte er sich – deutlich angeregt von der zeitgenössischen jüdischen Frage in Europa – in seiner juristischen Dissertation von 1912 für ein Rechtssystem ausgesprochen, in dem nationalen Minderheiten Autonomie gewährt würde. Indes übertrug er diesen Gedanken später nicht auf die arabischen Einwohner des im Entstehen begriffenen jüdischen Staates; die arabische Volksgruppe sei durch eine »eiserne Mauer« von der jüdischen Mehrheit zu trennen.65 Im zweiten Kapitel haben wir uns mit Jabotinskys Schriften zur Bibel und ins­ besondere mit seinem Roman Samson beschäftigt. Darin scheint Jabo­tinsky seinem Plädoyer für eine Verhinderung der Vermischung unterschiedlicher Rassen zu widersprechen, zumindest in Bezug auf die alten Philister und die Israeliten. Was die zeitgenössische Politik betraf, trat er jedoch kompromisslos für eine Bewahrung der »jüdischen Rasse« im Sinne des intregralen Nationalismus ein.

Die Politik des säkularen Nationalismus: Emma Lazarus und Theodor Herzl Nicht alle Nationalisten übernahmen solche rassischen Definitionen einer jüdischen Nationalität. In den Vereinigten Staaten gehörte Emma Lazarus (1849–1887), deren Gedicht The New Colossus auf dem Sockel der Freiheitsstatue eingraviert ist, zu den ersten Fürsprechern einer Rückkehr der Juden in das Land ihrer Vorväter. Auf den ersten Blick scheint Lazarus eine rassische Definition der Juden zu vertreten. Liest man genauer, zeigt sich der ironische Sinn: »Natürlich kann eine Rasse, deren Angehörige, gleichgültig welcher Hautfarbe, Kleidung oder Sprache, auf ersten Blick zweifelsfrei als solche erkennbar sind, die jedoch das grundsätzliche Faktum bestreiten, eine Rasse zu sein, hinsichtlich zweifelhafterer Behauptungen nicht leicht zu einer einhelligen Meinung gelangen.«66 134

Für Lazarus geht der Begriff »Rasse« über die biologische Gruppe hinaus, da er kulturelle und physiologische Merkmale beinhalte. Sie denkt dabei an so etwas wie eine Nation. Doch selbst wenn es oberflächlich gesehen schiene, als seien die Juden eine Rasse, so Lazarus, verhielten sie sich nicht wie eine solche. Jedenfalls wollte Lazarus wie Hess den Juden, ohne sie von ihrer Umwelt abzusondern, einen Sinn für Solidarität beibringen. Sie pflichtet Claude Montefiore bei, wenn er sagt, dass das Gesetz, das die Ein­hebung von Zinsen von »Brüdern« untersage, universell auszulegen sei, da »wir dank überragender Tugend auch den Fremden als unseren Bruder und Nachbarn betrachten«.67 Lazarus war eine durch und durch säkulare Jüdin, Spross einer alten sephardisch-amerikanischen Familie, die ihrer religiösen Gemeinschaft weitgehend entfremdet war. In einem US -amerikanischen Kontext antizipierte sie mithin den jüdischen kosmopolitischen Nationalismus des Fin de Siècle, eine Position, die den meisten aus dem östlichen Europa eingewanderten Juden, für die sie sich einsetzte, intellektuell nicht zugänglich war. Um ein Umschlagen des Nationalismus in Fremdenfeindlichkeit zu verhindern, konstruierte Lazarus eine von der Religion weitgehend losgelöste Definition der Nation: »Wenn aber unsere Leute sich weiter hinter einer chinesischen Mauer versteinerter religiöser Ausdrucksformen verschanzen, wird die gewaltige Entwicklung der modernen Wissenschaftsphilosophie über sie hinweg­gehen.«68 Und ausführlicher: »Weder das Lehren der Tora, noch das Einbläuen des Talmud, die Bewahrung der hebräischen Sprache, die Aufrechterhaltung des synagogalen Gottesdienstes, nicht einmal die physische Beschneidung […] sollte unsere primäre Erwägung sein. Indem wir jedoch an der vergeistigtesten Form unseres Glaubens – der Einheit der Schöpferischen Kraft, der Notwendigkeit des Ethischen Gesetzes – festhalten, sollten wir uns an die praktischen Erfordernisse der Stunde anpassen und unsere Rasse zur überlebensfähigsten machen, zu einem Vorbild für alle Nationen der Welt.«69

Obwohl diese Agenda vordergründig dem Reformjudentum des 19.  Jahrhunderts ähnelt, entspricht sie der Auffassung, die bereits »jene klugen alten Tannaiten« (die Schriftgelehrten des Talmud) bekundet hatten.70 Sie waren es, die den Boden für eine an die Moderne bemerkenswert anpassungsfähige Philosophie bereitet hatten. Lazarus lehnte den Ruf der Reformbewegung nach »Entnationalisierung der jüdischen Religion« ab und plädierte ganz im Gegenteil für »die Säkularisierung und Spiritualisierung der Nationalität«.71 Damit hat sie etwas im Sinn, das sich eher von der Bedeutung unterscheidet, die wir ihm geben würden. Mit »Säkularisierung« meint sie Pflege der physischen Verfassung der Nation: Stärkung des jüdischen Körpers und Entwicklung produktiver 135

Berufszweige (beides auch Anliegen der Haskala wie der späteren zionistischen Bewegung).72 Mit »Spiritualisierung« meint sie in erster Linie ethische Ideale anstelle der Theologie. Nach Lazarus’ Auffassung, die an Mendelssohn erinnert, waren die Juden für die Moderne bestens geeignet: »Die Juden sind […] zumeist Pioniere des Fortschritts. Die Einfachheit ihres Glaubens ermöglicht es ihnen auf leichtere und natürliche Weise als jeder anderen Religionsgemeinschaft, die Fesseln des Aberglaubens abzustreifen und die Grenzen des freien Spekulierens auszuweiten. Betrachtet man ihre Religion vom höchsten Standpunkt aus, steht ihr, die Einheit der schöpferischen Kraft verkündende Glaube heute auf einer Stufe mit den jüngsten wissenschaftlichen Lehren.«73

Man beachte, wie L ­ azarus dergestalt jede offenkundig theologische Sprache zu vermeiden weiß. Auch wenn die jüdische Religion dem Aberglauben und sinnlosen Ritualen erlegen sei, hätten die Bibel und die Schriftgelehrten bereits vor langer Zeit den Boden für ein durch und durch modernes, für die zeitgenössische Wissenschaft aufnahmefähiges Glaubenssystem bereitet. Lazarus konstruiert eine bis in die Moderne führende Traditionslinie und beruft sich dabei wiederholt auf Spinoza.74 Auf eine Kritikerin, der zufolge es den Juden an großen spirituellen Denkern fehle, reagiert sie scharf: »Hätte Miss Cobble einen Blick in die rabbinische Literatur geworfen, bevor sie den Stab über deren Mängel brach, hätte sie in Ibn Gabirol einen Dichter gefunden, dessen Hymnen in harmonischem Zusammenklang mit den Psalmen und den biblischen Prophezeiungen schwingen, dessen Philosophie den Keim für die spätere Philosophie Spinozas enthielt, die jedem modernen methaphysischen Spekulieren Ton und Richtung vorgab.«75

Diese Verbindung zwischen Ibn Gabirols Neuplatonismus und Spinozas Pantheismus ist sicherlich plausibel, doch ganz gleich, ob zwischen diesen beiden Denkern, die fast ein halbes Jahrtausend trennte, eine kausale Beziehung besteht, zeigt sie, dass Lazarus für den modernen Säkularismus eine Denktradition zu konstruieren suchte. Ähnlich sah sie auch zwischen Maimonides und ihrem Zeit­genossen, dem Philosophen Herbert Spencer, keinen Widerspruch.76 Eine zentrale Rolle in dieser Genealogie spielte schließlich Heinrich Heine. Lazarus war eine der Ersten, die mit ihren Heine-Übertragungen den Dichter dem amerikanischen Lesepublikum erschloss; er diente allen als Vorbild, die sich gleich ihr zwischen jüdischem und kosmopolitischem Selbstverständnis hin- und hergerissen fühlten.77 Für Lazarus wie auch für viele andere Zionisten der westlichen Welt bot der jüdische Nationalismus eine Lösung für die jüdische Leidensgeschichte. 136

Wie jedoch Esther Schor belegt hat, hatte Lazarus bereits lange vor ihrer Begegnung mit den jüdischen Flüchtlingen aus dem Russischen Reich, die sie zu einer glühenden Nationalistin machte, über die Rückkehr der Juden in »das schöne Land im Osten, dem sie entsprangen«, sinniert.78 Diese Begegnung in den frühen 1880er Jahren war der Impuls für ihren Ruf nach nationaler Einheit; doch wie sehr sie auch die Idee von einer jüdischen Nation verfocht, sie konnte sich nie so ganz mit den Juden aus dem östlichen Europa anfreunden, die ihr Interesse geweckt hatten. Einige ihrer Äußerungen über sie zeugen von tiefer Ambivalenz, sogar Abscheu vor der barbarischen Lebensweise des »elenden Unrats«. Damit offenbarte Lazarus die sephardisch-aristokratische Welt, in der sie aufgewachsen war, und zeigte, dass ihr Nationalismus ebenso aus einer Einstellung des noblesse oblige wie aus einem egalitären Sentiment erwuchs. Sie meinte auch nicht, dass alle Juden in »das schöne Land im Osten« zurückkehren sollten. Dafür war sie zu sehr amerikanische Patriotin. »Gebt mir eure müden, eure armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren«, sprach ihr Sonnett The New Colossus an die Adresse Europas, doch glaubte sie nicht, dass Amerika sie alle aufnehmen könne. Für die anderen würde Palästina der Zufluchtsort sein, mit der finanziellen und politischen Unterstützung ihrer US -amerikanischen jüdischen Brüder und Schwestern, doch ohne deren Präsenz. Als eine der ersten amerikanischen Zionisten bereitete Lazarus den Weg für jenen stellvertretenden Nationalismus, der ihre politische Nachkommenschaft kennzeichnen sollte. Eine ähnliche Einstellung des noblesse oblige war für Theodor Herzl (1860–1904) charakteristisch, indes stellte auch er sie auf eine theoretische Basis. Wie Lazarus gelangte Herzl zu seiner Definition der Juden als Nation aufgrund seines Mitgefühls für ihr Leiden. In seiner Schrift Der Judenstaat (1896) verkündete er folgende Erkenntnis: »Wir sind ein Volk  – der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu, wie das immer in der Geschichte so war.«79 Herzls Analyse des Antisemitismus ist daher eng mit seiner Definition eines jüdischen politischen Selbstverständnisses verknüpft. Der religiös motivierte mittelalterliche Judenhass habe mit seinem modernen Nachfolger nichts gemein, auch wenn Letzterer Ersterem verschiedene rhetorische Figuren entlehnt habe. Im Gegensatz zum religiösen Hass des Mittelalters auf die Juden sei dieser neue Antisemitismus säkular, ein ökonomisches und politisches Phänomen, auf das die Antwort eine politische zu sein habe.80 Es sei die besondere Situation der Moderne, die dieses Volk zu einer Nation mache  – in der Moderne blättere der religiöse Firnis vom Antisemitismus ab und lasse einen rein nationalen und ökonomischen Kampf zutage treten. Die Emanzipation rufe Antisemitismus hervor und dieser wiederum jüdischen Nationalismus. 137

Der moderne Antisemitismus, so Herzl, ist das Produkt des Wettbewerbs zwischen den emanzipierten Juden und den sie umgebenden Gemeinschaften. Die modernen Assimilationsbemühungen der Juden, Ergebnis einer neuen, säkularen Definition der Gesellschaft, bringen eine im Mittel­a lter mit seiner strengen gesellschaftlichen Abgrenzung noch undenkbare Konfrontation mit der europäischen Gesellschaft hervor. Wann immer Juden in ein neues Feld der Wirtschaft vorstießen, erwüchsen neue Ressentiments, wenn auch der Journalist Herzl seine größte Kritik für die ihm am nächsten Stehenden aufspart, die »mittleren Intelligenzen«, die »eine eben solche Gesellschaftsgefahr sind wie die wachsenden Vermögen [der Juden]«.81 Freilich erkennt Herzl an, dass die Juden bereits vor der Moderne ein Volk waren, weil sie etwas hatten, was er die »Volkspersönlichkeit« nennt.82 Auch damals war es die Unterdrückung, die das Volk schuf: »Der Feind macht uns gegen unseren Willen zu einem«.83 Die Religion spielte ganz offensichtlich bei der Herausbildung dieses den Juden nolens volens aufgezwungenen Selbstverständnisses keine Rolle. Das jüdische kollektive Selbstverständnis ist also nicht das Resultat positiver Faktoren, auch wenn Herzl sie als normativen Wert begrüßt: »zu hoch, als daß ihr Untergang zu wünschen wäre«.84 Im Allgemeinen sind Herzls Argumente zugunsten des Zionismus deterministischer Natur – er sieht in ihm das zwangsläufige Resultat einer historischen Entwicklung. Doch weil er wohl erkennt, dass sich eine Nationalbewegung nicht allein auf den ehernen Gesetzen der Geschichte aufbauen lässt, versucht er seine Leserschaft zuweilen für voluntaristisches Handeln zu mobilisieren. Diese Spannung zwischen Zwangsläufigkeit und Voluntarismus war auch das klassische Dilemma des Marxismus: Zum einen sollten die ökonomisch determinierten Gesetze der Geschichte automatisch zur Revolution führen, zum anderen sah Marx das Proletariat auch als aktiven Akteur seiner eigenen Befreiung. Vermochte ein solcher Akteur die Gesetze der Geschichte zu beschleunigen? Diese Frage war im Russischen Reich des ausgehenden 19. Jahrhunderts besonders dringlich, wo die objektiven ökonomischen Bedingungen für eine sozialistische Revolution nicht reif waren, da der Kapitalismus noch in einem primitiven Entwicklungsstadium verharrte. Bekanntlich argumentierte Lenin, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands müsse als Avantgarde des Proletariats, noch bevor die objektiven Bedingungen eine Revolution unausweichlich machten, eine solche erzwingen. Mit dem gleichen Dilemma sahen sich die frühen Zionisten konfrontiert. Die objektiven Bedingungen wie politische Verfolgung, Wirtschaftskrise und Bevölkerungsexplosion, besonders im östlichen Europa, schienen besonders auf die Schaffung einer jüdischen Nation zu drängen, aber die große Mehrheit dieser Nation verhielt sich nicht als politische Einheit. Die Zionisten wie 138

auch andere politische Akteure erkannten, dass es dringend an der Zeit war zu handeln, doch die Nation selbst war zum Handeln noch nicht bereit. In Der Judenstaat schlug Herzl eine neue Theorie vor, die in ihrer Intention Lenins Doktrin ähnelte, um zu erklären, warum die zionistische Bewegung im Namen der Nation handeln dürfe, auch ohne formell dazu ermächtigt worden zu sein. Als Quelle dieser Theorie griff Herzl nicht auf die ihm wenig vertraute jüdische Tradition, sondern auf das Römische Recht zurück. Das als negotiorum gestio (Geschäftsführung ohne Auftrag) bekannte Prinzip sieht vor, dass ein Geschäftsführer (negotiorum gestor) im Notfall anstelle des Geschäftsherrn agieren darf, wenn dieser nicht imstande ist, seine Geschäfte selbst zu verwalten.85 Wenn zum Beispiel der Inhaber eines Geschäfts plötzlich eine Reise unternehmen muss und keine Gelegenheit hat, jemanden anderes zu bestellen, der es während seiner Abwesenheit führen kann, darf ein Nachbar etwa im Fall einer Überschwemmung oder eines Brandes zur Rettung des Geschäfts eingreifen. Obgleich kein formeller Vertrag zwischen dem Gestor und dem Eigentümer besteht, ja der Eigentümer vielleicht gar nicht weiß, dass an seiner statt Handlungen gesetzt werden, ist der Gestor aus Gründen der Zweckmäßigkeit befugt, so zu handeln. In Herzls Worten: »Sein Auftrag ist ihm von einer höheren Notwendigkeit erteilt«.86 Das Verhältnis zwischen dem Gestor und dem Eigentümer ist ein quasivertragliches, das heißt, dass das Gesetz den Gestor ermächtigt, so zu handeln, als bestünde ein Vertrag mit dem Eigentümer. Herzl legt dar, dass die zionistische Bewegung für das jüdische Volk als Gestor handle. Die aktuelle Situation der Juden sei ein Notstand wie jener, der nach dem im Römischen Recht die Selbsternennung des Gestors rechtfertigte. Herzl gelangt zur negotiorium gestio, nachdem er zunächst die Theorie des Gesellschaftsvertrags rundweg verwirft. Seine Kritik zielt auf Rousseau, doch implizit stößt er damit auch Spinozas und Mendelssohns Argumentation um. Obgleich er nicht sehr deutlich zum Ausdruck bringt, was eigentlich an der Theorie vom Gesellschaftsvertrag falsch ist, scheint Herzl der Ansicht zu sein, dass sie jede Veränderung der Staatsverfassung unmöglich mache.87 Wie dem auch sei, in Bezug auf die Juden vertritt er die Auffassung, die Anwendung des besagten Prinzips des Römischen Rechts sei erforderlich, weil die Juden nicht imstande seien, einen formellen Vertrag zur Gründung eines Staates zu schließen. Sie seien wie die Herren eines in Flammen aufgehenden Hauses. Ein Gestor müsse die Initiative ergreifen, um das Haus zu retten. Damit trete die zionistische Bewegung in der Rolle des Gestors in ein stillschweigendes, sozusagen vertragliches Verhältnis mit dem jüdischen Volk und übernehme damit diesem gegenüber eine regierungsgleiche Verantwortung. 139

In der einzigen Geste in Richtung jüdische Geschichte oder Tradition vergleicht Herzl die Society of Jews (wie er die zionistische Bewegung bezeichnet) mit Moses, dem »alten großen Gestor […] der Juden in den einfachen Zeiten«.88 Während Spinoza Moses durch den am Berg Sinai geschlossenen Gesellschaftsvertrag als ermächtigt sah, schildert Herzl ihn eher als Gestor, der die Führung der Juden übernimmt, indem er seine Legitimation nicht von Gott, sondern von der »höheren Notwendigkeit« seiner Handlungen ableitet. Wie Moses brauchen die Zionisten keinen Vertrag, keine vorherige Bestellung. Sie werden die gleiche Rolle spielen, jedoch mithilfe der modernen Technologie. Wäre Herzl mit der mittelalterlichen Tradition des jüdischen politischen Denkens vertrauter gewesen, hätte er im Prinzip der Notstandsbefugnisse (hora’at scha’a), wie sie von Moses Maimonides und Nissim ben Reuben Gerondi formuliert wurden, eine im Judentum selbst liegende Basis für die zionistische Bewegung nach seinen Vorstellungen, erkannt. Obwohl den mittelalterlichen Denkern kein Nationalismus vorschwebte, steckten sie das Feld eines säkularen Rechtes ab, das es der politischen Führung erlaubte, sich von den Fesseln der Tradition zu befreien, wenn die Gemeinde in Gefahr schwebte. Ohne sich dessen bewusst zu sein, reproduzierte Herzl dieses auf das Mittelalter zurückgehende Argument in moderner Begrifflichkeit. Dass Herzl diesen Grundsatz des Römischen Rechts aufnahm, offenbart nicht nur, wie weit entfernt er davon war, die jüdischen politischen Bestrebungen in der historischen und religiösen Tradition zu verankern, sondern auch, wie elitär seine Vision des Zionismus war. In der Tat spricht er sich in jenem Abschnitt des Judenstaats, in dem er sich mit dessen Verfassung beschäftigt, gegen die Demokratie aus, diese führe »zu Parlamentsgeschwätz und zur hässlichen Kategorie der Berufspolitiker«.89 Die Demokratie bedürfe als Gegengewicht einer für Stabilität und Beständigkeit sorgenden Monarchie. Da angesichts der langen Unterbrechung in der politischen Geschichte der Juden ein monarchisches System für Herzl keine Relevanz hat, spricht er sich stattdessen für eine »aristokratische Republik« nach Art der Republik Venedig aus. Was genau er sich vorstellte, ist schwer zu sagen, und sogar sein utopischer Roman Altneuland trägt wenig zur Erhellung bei, ähnelt doch der darin beschriebene jüdische Staat eher einer Ansammlung anarchistischer Kollektive als einem Nationalstaat. Ungeachtet Herzls seltsamer Vision von einer aristokratischen Republik war die Tätigkeit der von ihm gegründeten Zionistischen Organisation von demokratischen Grundsätzen geleitet. Eindeutig stand jedoch für Herzl fest, dass der imaginierte Staat keine Theokratie sein würde. 140

»Nein! Der Glaube hält uns zusammen, die Wissenschaft macht uns frei. Wir werden daher theokratische Velleitäten unserer Geistlichen gar nicht aufkommen lassen. Wir werden sie in ihren Tempeln festzuhalten wissen, wie wir unser Berufsheer in den Kasernen festhalten werden.«90

Für die Religion ist bei Herzl in der Politik kein Platz. In Alt­neuland steht in Jerusalem der wiedererbaute Tempel, doch niemand sucht ihn auf. Der Judenstaat wird säkular sein, nicht von Priestern und Rabbinern, sondern von den weltlichen Aristokraten der zionistischen Bewegung als G ­ estoren des jüdischen Volkes regiert.

Gegen Herzl: Bernard Lazare und Hannah Arendt Herzls Vision von einem säkularen jüdischen Staat diente als Katalysator für einen wiedererwachten Aktivismus. Die zionistische Idee (wie auch der Begriff Zionismus) stammt zwar aus der Zeit vor Herzl, aber er war es, der diesem Gedanken neuen Schwung gab und den Zionismus zu einer internationalen Bewegung machte. Dass Herzl den Akzent auf Diplomatie und auf die Mobilisierung jüdischer Finanzressourcen legte, blieb nicht unwidersprochen. Der Kulturzionismus als Alternative zu Herzls politischem Zionismus soll im nächsten Kapitel erörtert werden. Zeitnah und auch später entstanden Alternativen politischer Art.91 Dazu zählten verschiedene Varianten des Sozialismus und des Autonomismus. Der Sozialismus wollte die jüdische Arbeiterklasse als Akteur der Veränderung (sei es im Land Israel oder in der Diaspora) mobilisieren. Der Autonomismus sah die politische Zukunft der Juden eher in der Diaspora als in einer jüdischen Heimstätte. Eine Verknüpfung dieser beiden politischen Alternativen strebte unter anderem der All­ gemeine Jüdische Arbeiterbund, kurz »Bund« genannt, an. Anstatt dass wir uns hier mit den zahlreichen Denkern befassen, die durch Kombinationen oder Permutationen dieser Alternativen einen Beitrag zum politischen Zionismus leisteten, soll hier exemplarisch Bernard Lazare (1865– 1903) in den Blick genommen werden, der einer akkulturierten sephar­dischen Familie Südfrankreichs entstammte. Lazares Weg führte vom Assimilationismus und kulturellen Anarchismus über den politischen Zionismus bis hin zu einem jüdischen Sozialismus und Autonomismus. Er spielte eine führende Rolle in der Verteidigung von Alfred Dreyfus, dessen Fall für ihn, wie für viele andere, den Wendepunkt zwischen Assimilierung und politischer Selbst­ behauptung markierte.92 In seinen frühesten Schriften über die Juden aus der 141

Zeit vor der Dreyfusaffäre unterschied Lazare zwischen den Israeliten, mit denen er sich identifizierte, und den Juden. Erstere waren für ihn, kulturell gesehen, Franzosen, die nur Spuren der »israelitischen« Religion bewahrt hätten, während Letztere als Einwanderer nie als Franzosen angesehen werden könnten. Auf die Anschuldigung, seine harsche Kritik an diesen Juden sei um keinen Deut besser als der zeitgenössische Antisemitismus, erklärte er nicht sehr überzeugend, er sei als Israelit ein antijuif und kein Antisemit. Lazare war bekannt dafür, dass er sich in jeder politischen Bewegung, der er sich anschloss, am Rand positionierte. Zuerst erklärte er sich zum Anarchisten, lehnte dann jedoch die sogenannte »Revolution der Fakten« (sprich: den Terrorismus) zugunsten einer »Revolution der Ideen« ab. In erster Linie war er ein literarischer Anarchist: »Lang lebe der freie Vers!« Er brach mit anderen Dreyfusanhängern, die er beschuldigte, anstatt der puren Gerechtigkeit zu dienen, die Affäre für politische Zwecke zu nutzen. Auch als er sich dem jüdischen Nationalismus zuwandte, sollte er die Rolle eines Dissidenten und Puristen beziehen. Obgleich es die Dreyfusaffäre war, die Lazare endgültig von der Notwendigkeit einer politischen Lösung der Judenfrage überzeugte, hatte ihn wie Herzl das Judentum bereits mehrere Jahre davor beschäftigt.93 Sein Aufsatz L’esprit révolutionnaire dans le judaïsme (1893) zeugt von seiner Wunschvorstellung, die er später weiterentwickelte, seine anarchistische Weltanschauung mit jüdischen Quellen zu verknüpfen.94 Da es der Bibel zufolge im Judentum kein Leben nach dem Tod gebe, müsse für die Juden die Gerechtigkeit in dieser Welt errungen werden. Zudem habe die jüdische Gottesvorstellung die Juden dazu geführt, »die Gleichheit der Menschen zu ersinnen, führte sie sogar zur Anarchie […] denn die wie auch immer geartete Regierung akzeptierten sie nie freudigen Herzens«.95 1894 besuchte Lazare Amsterdam, und in einer später verfassten Schrift (in der er möglicherweise seine neu gewonnene zionistische Gesinnung auf seinen früheren Amsterdamer Aufenthalt projizierte) schilderte er, wie seine Suche nach dem »heiligen Spinoza« ihn zu der alten portugiesischen Synagoge geführt hatte. Nachdem er in ihrem Innern lange meditiert hatte, trat er in den Hof hinaus, wo er eine Gruppe armer jüdischer Flüchtlinge aus Russland traf, die ihn an die Generationen währende jüdische Leidenserfahrung erinnerte. In Lazares Bewusstsein verschmolzen diese beiden Bilder – der ketzerische Paria und die verarmten, unterdrückten Flüchtlinge – als Symbole der gemeinsamen Geschichte, welche die Juden ausmachte, zu einem Amalgam, das auch seiner Namensvetterin Emma Lazarus einsichtig gewesen wäre. Unter dem Schock der Dreyfusaffäre und angesichts des Ausbruchs antisemitischer Ausschreitungen in ganz Frankreich kam Lazare zunehmend zu 142

einer Identifizierung mit jenen juifs, die er zuvor geschmäht hatte. Diese Juden seien es, und nicht die Israeliten – die Wohlhabenden, Akkulturierten und Assimilierten –, für die es dringend einer neuer politischen Strategie bedurfte, die der Erkenntnis Rechnung trug, dass die Juden eine Nation waren. In einem Vortrag vor einer Gruppe russisch-jüdischer Studenten in Paris im Jahr 1897 verwarf Lazare den Gedanken, die Juden vereine allein die gemeinsame Religion.96 Eine Gruppe von Menschen, denen Atheisten, Pantheisten, Deisten wie auch Orthodoxe angehörten, könne nicht bloß eine religiöse Konfession darstellen. Wie es in seinen posthum als Le fumier de Job ver­ öffentlichten Textfragmenten heißt, seien es die Christen, welche die Juden behandelten, als hätten sie nur eine religiöse Geschichte, weil sie glaubten, ihre einzige Funktion sei es gewesen, das Christentum hervorzubringen.97 Aus demselben Grund waren die Juden für ihn auch keine Rasse.98 Die große Vielfalt physischer Typen unter den Juden widerlege den einige Jahrzehnte zuvor von Moses Hess unterstützten Standpunkt. Obwohl bestimmte Züge auf einen gemeinsamen Ursprung hindeuteten, könne diese »rassische Genealogie« nicht der die Juden einende Faktor sein, da sie vage und theoretisch bleibe. Und im Gegensatz zu Herzl glaubte Lazare auch nicht, dass es der Antisemitismus sein könne, dieser entstehe vielmehr, weil die Juden bereits ein Volk seien und nicht umgekehrt: »Weil wir miteinander verbunden sind, werden uns diese Wesenszüge zugeschrieben.«99 Eher seien es die gemeinsame Geschichte sowie gemeinsame Ideen und Traditionen, welche die Juden als Nation konstituierten. Für den Anarchisten Lazare bedeutete Nationalismus Streben nach Freiheit: Ein Jude, der heute erklärt ›Ich bin ein Nationalist‹ […] drückt damit aus: ›Ich will ein vollkommen freier Mensch sein, ich will den Sonnenschein genießen, ich will das Recht auf meine Menschenwürde haben. Ich möchte der Unterdrückung entkommen, den Schmähungen, der Verachtung, mit der man uns überschüttet.‹ In bestimmten Augenblicken der Geschichte ist Nationalismus für eine Gruppe von Menschen die Manifestation des Geistes der Freiheit.«100

Der Zionismus sei ursprünglich als Verheißung ebendieser Befreiung für die jüdische Nation erschienen. Doch müsse diese Lösung eine revolutionäre sein, von den Massen selbst kommen, denn nur in der Erkenntnis, dass das Heil nicht vom Himmel oder von mächtigen Verbündeten zu erwarten sei, könnten sie darangehen, sich selbst zu befreien.101 In diesem Punkt kam es zu einem Schlagabtausch zwischen Lazare und Herzl, den Lazare bis dahin unterstützt hatte. Auslöser des Bruchs zwischen ihnen war Herzls Plan zur Errichtung einer jüdischen Kolonialbank, des Jewish Colonial Trust. Von sozialistisch inspiriertem Sarkasmus durchdrungen schrieb Lazare: »Eine Bank 143

ist und wird niemals das Instrument nationaler Wiederbelebung sein, welche Ironie ist es doch, eine Bank zum Begründer einer jüdischen Nation zu machen.«102 Er beschuldigte Herzl, die jüdischen Massen führen zu wollen »wie eine Herde, […] ein unwissendes Kind, ohne es nach seinen Bedürfnissen oder Wünschen zu fragen, ohne seinen intellektuellen, wirtschaftlichen und moralischen Zustand zu berücksichtigen«.103 Als Anarchist konnte sich Lazare nicht vorstellen, dass eine hierarchisch organisierte Bewegung genuin revolutionär sein könne. Die wahren Juden sind für Lazare die Armen, das Proletariat und die Intellektuellen. Die Armen seien es in alter Zeit gewesen, die aus Babylon ins Land Israel zurückkehrten, die Reichen jedoch seien dort geblieben: »Sie müssen dort bleiben, denn es sind die Armen, die die Nationen aufbauen; die Reichen wissen nicht, wie man etwas schafft.«104 Die gesellschaftliche Realität des Fin de Siècle reflektierend, behauptet Lazare, da die Juden mehr Arme hätten als jede andere Nation, seien sie imstande, als »das anarchistische Volk unter den Nationen« zu fungieren.105 Aber sie seien auch aufgrund der jüdischen Geschichte und des Judentums dazu imstande. Dem marxschen Aufsatz Zur Judenfrage setzt er entgegen, die Juden seien nie in erster Linie ein Volk des Kommerzes und der Bourgeoisie gewesen. Nicht bei den Juden habe man die Ursprünge des Kapitalismus zu suchen, denn die Ideale der Bibel wie auch des Talmuds seien Landwirtschaft und Handwerk und nicht der Handel. Und diese Ideale hingen mit dem Glauben an soziale Gerechtigkeit zusammen: Wucher sei verboten und der Gleichheitsgedanke werde unterstützt. Freilich hätten die Schriftgelehrten des Talmuds »den Auflehnungsgeist [der Juden] eingeschläfert. […] Man kann sagen, dass Israel nur durch sich selbst besiegt werden konnte.«106 Doch die Tradition der sozialen Gerechtigkeit sei insbesondere von jenen Juden wachgehalten worden, welche die­ rabbinische Autorität zurückwiesen. Deswegen, sagt Lazare, hätten sich die Juden in nachgerade jeder modernen revolutionären Bewegung engagiert: Die wahren Erben der biblischen Gerechtigkeitslehre seien die säkularen jüdischen Anarchisten und Sozialisten, welche die fundamentale Botschaft dieser Lehre bewahrten, auch wenn sie die Texte selbst nicht kennten. Hier artikuliert Lazare eines der Schlüsselargumente vieler säkularer Juden: Da das Judentum soziale Gerechtigkeit lehre, stehe es in völligem Einklang mit universalistischen progressiven und revolutionären Bewegungen. Das wahre Judentum folge einer Traditionslinie, die von den Propheten und den Psalmisten bis zu Marx und Lassalle verlaufe.107 Dem jüdischen Gedanken von sozialer Gerechtigkeit stellt Lazare den christlichen gegenüber. In der christlichen Interpretation löse die Bibel das 144

Problem des Bösen mittels der Lehre vom Sündenfall. Das Judentum hin­ gegen glaube, dass jeder Mensch für seine Sünden selbst büßen müsse. Für Lazare ist es Hiob, der konventionelle Vorstellungen von der Sünde und dem Bösen mit dem Ideal der Gerechtigkeit infrage stellt.108 Auf diese Weise erkennt Lazare intuitiv, wie ikonoklastisch das Buch Hiob im Verhältnis zur übrigen Bibel ist, stellt jedoch Hiob in das Zentrum des Judentums. Für das Judentum ist nach Lazares Deutung Hiobs Problem ein ethisches und kein metaphysisches, und insofern sei das Judentum in weitaus größerem Maße als das Christentum eine Religion der Gerechtigkeit. Im Gegensatz zur Ausrichtung des Christentums auf das Jenseits sei das Judentum in erster ­Linie eine Lehre für diese Welt, ein weiterer Grund, warum Spinozas Philosophie im Kern jüdisch sei.109 Zudem könnten die Juden, weil ihnen Mystik und Metaphysik fernlägen, ihren Glauben mühelos mit der Wissenschaft in Einklang bringen. Da die Überlieferung auf der Exegese beruhe, die ein »Minimum an Glauben« voraussetze, gehöre Spinoza, der rationalistische Exeget, noch in diese Tradition.110 Als Lazare jene Fragmente niederschrieb, die zu Le fumier de Job zusammengestellt werden sollten, war er zu dem Schluss gelangt, dass die wohl­ habenden, assimilierten Juden  – die »Parvenus«  – ebenso sehr die Hauptfeinde des jüdischen Volkes seien wie die Antisemiten. Es seien die reichen Juden, die einen gesunden Nationalismus hemmten, und gerade sie habe sich Herzl fälschlicherweise zu seinen Verbündenen gewählt. In einer Position, die jener des marxistischen Historikers Raphael Mahler (1899–1977) entsprach, behauptete er, die jüdische Geschichte sei immer die Geschichte eines Klassenkampfes gewesen.111 In der Gegenwart bedeute jüdische Politik, nicht nur gegen die Unterdrückung von außen, sondern mehr noch gegen die Unterdrückung von innen Widerstand zu leisten. Die modernen Hiobs auf dem Misthaufen seien die armen, verfolgten Juden, »die von den Reichen ein Almosen bekommen und sich nur gegen die Verfolgung von außen und nicht gegen die Unterdrückung von innen aufgelehnt haben. Revolutionäre innerhalb der Gesellschaft anderer, aber nicht in ihrer eigenen.«112 Die Emanzipation der Juden habe aus innerjüdischer Politik heraus zu erfolgen: »Die Juden müssen sich als Volk und innerhalb ihrer eigenen Nation befreien.«113 Wie andere jüdische Nationalisten der Linken sah sich Lazare gezwungen, auf die von jüdischen und nichtjüdischen Sozialisten gleichermaßen erhobene Beschuldigung zu entgegnen, eine nationalistische Agenda verrate die Ideale des Internationalismus. Lazares Antwort darauf lautete: »Ich finde im Nationalismus nichts, das dem orthodoxen Sozialismus widerspräche, und ich, der ich in nichts orthodox bin, zögere nicht einen Augenblick, den Nationalismus an der Seite des Internationalismus zu akzeptieren.«114 Dass er 145

keinen solchen Widerspruch ausmachen könne, erkläre seine eigene Definition der Menschheit: »Nichts scheint mir für die Menschheit so notwendig wie Vielfalt. […] Der menschliche Reichtum ist auf dieser Vielfalt begründet. Mithin ist jede menschliche Gruppe notwendig und für die Menschheit nützlich; sie trägt dazu bei, Schönheit in die Welt zu bringen[;] sie ist eine Quelle von Formen, Gedanken und Bildern. Warum sollten wir die menschliche Spezies reglementieren, warum sie sich einer einzigen Regel beugen lassen […]?«115

Vielfalt ist somit der menschlichen Natur inhärent, eine Position, die später von Hannah Arendt und, noch später, von den Theoretikern des Multikulturalismus aufgegriffen wurde. Wie Hess ist Lazare überzeugt, dass man einen Beitrag zur Befreiung der Menschheit als Ganzes leiste, wenn man auf die Befreiung jeder Nation hinarbeite. In einer treffenden Metapher heißt es bei ihm, man solle jenen, die einen hießen, sich für die Menschheit zu mühen, folgendermaßen entgegnen: »Ja, doch unser Ehrgeiz ist es, uns für die Menschheit anders zu mühen als diese Misthaufen, die aus ihrer Fäulnis neue Blumen und Früchte hervorbringen. Wir haben genug davon, ewig von allen Völkern ausgebeutet zu werden, eine Herde von Vieh und von Sklaven, Zielscheibe jeder Peitsche.«116

Man muss unwillkürlich an Hiobs Misthaufen denken, auf dem nun das jüdische Proletariat sitzt. Statt aus der Welt zu entschwinden und durch den eigenen Zerfall andere Nationen zu befruchten, sollten die Armen und die Unterdrückten im jüdischen Volk die Sache in die Hand nehmen und sich selbst befreien. Hier könne die Moderne einem positiven Zweck dienen. Die Emanzipation bewirke bei den unterdrückten Juden, sich ihrer Situation stärker bewusst zu werden: »Aus einem armseligen Menschen, der manchmal abgestumpft ist von seiner Arm­ seligkeit, wird [die Emanzipation] ein empfindsames Wesen machen, das jede Stichelei doppelt fühlen wird und dessen Existenz darum tausendfach unerträglicher werden wird. Aus einem unbewussten Paria wird sie einen bewussten machen.«117

Nur der bewusste Paria kann zur wahren Lösung, dem Nationalismus nämlich, gelangen: »Der Stolz darauf, ein Paria zu sein, und überdies, jener ­Paria, der der Jude ist und dem man zuschreibt, Herr der Welt zu sein. Der aus seiner Ehrlosigkeit Adel, aus seiner Erniedrigung Erhabenheit hervorzubringen strebt.«118 Nur der von politischem Bewusstsein motivierte Paria könne für eine »andere, eine totale, vollkommene Emanzipation« kämpfen.119 146

Für Lazare bedeutete jedoch diese andere Art der Emanzipation nicht zwangsläufig eine staatliche Existenz, sei es in Palästina oder anderswo. In seinen letzten Lebensjahren gelangte er zu einer autonomistischen Ideologie, die jener von Simon Dubnow ähnelte, dessen historische Schriften er jedoch nicht gekannt zu haben scheint.120 Für Lazare bedeutete Autonomismus jüdische politische und kulturelle Autonomie, die in den jeweiligen Staaten realisiert werden konnte, in denen die Juden lebten. Er bedeutete Agitation für die Rechte der Juden, und er bedeutete Schaffung nationaler Bildungs­ einrichtungen. Lazare lehnte eine Ansiedlung in Palästina nicht ab, aber seine Vision stand Achad Ha’ams Kulturzionismus näher als Herzls diplomatischem und politischem Zionismus. Schließlich bedeutete Jerusalem für Lazare, wie Philippe Oriol nahegelegt hat, weder Herzls »unvergessliche historische Heimat« noch Achad Ha’ams geistiges Zentrum, sondern eher ein utopisches Arkadien: »Ich glaube, dass für jene, die noch immer in den Ghettos leiden, die Worte [›nächstes Jahr in Jerusalem‹] wie für ihre mittelalterlichen Ahnen bedeuten: Nächstes Jahr werden wir in einem Land der Freiheit sein, wir werden menschliche Wesen sein, wir werden im hellen Sonnenlicht leben dürfen, das allen gehört, außer uns.«121

Das jüdische Utopia, das Lazare vorschwebte, entsprach in großem Maße seinen frühen anarchistischen Vorstellungen: kleine, autonome, selbstbestimmte Gemeinschaften, die miteinander in Frieden koexistieren. Hier war kein Platz für einen Nationalstaat. Noch war hier Platz für Reichtum oder Ungleichheit, denn ebenso wie keine ethnische Gemeinschaft eine andere unterdrücken würde, würde auch innerhalb des éthnos keine Klasse die andere unterdrücken. Nur auf dieser Grundlage konnte sich Lazare eine jüdische politische Vision zu eigen machen. Lazare war eine Art zeitgenössischer sozialistischer Kritiker von Herzls diplomatischem und politischem Zionismus (wie Herzl verstarb auch Lazare früh, im Alter von 38 Jahren, ein Jahr vor Herzl). Hannah Arendt (1906–1975), eigentlich keine Sozialistin, griff Lazares Position zu einem Zeitpunkt auf, als die zionistische Bewegung sich anschickte, ihren Traum von jüdischer Souveränität zu verwirklichen. Das Ausmaß, in dem Arendt Lazares spezifischer Theorie säkularer jüdischer Politik, wie sie es selbst zum Ausdruck gebracht hat, verpflichtet war, kann gar nicht genug herausgehoben werden. Von ihm übernahm sie die in ihrer Biografie der Salonjüdin Rahel Varn­hagen und in ihrem späteren Essay The Jew as a Pariah. A Hidden Tradition so zentralen Begriffe »Parvenu«, »Paria« und »bewusster Paria«, darüber hinaus schloss sie sich seiner Kritik an Herzls politischen Vorstellungen zugunsten einer utopischen Vision jenseits des Staatsnationalismus an. 147

Hannah Arendt wurde in eine assimilierte Familie hineingeboren, in der sie nach eigener Aussage niemals das Wort »Jude« gehört hatte.122 Sie erhielt eine minimale jüdische Erziehung. Als in Königsberg der örtliche Rabbiner kam, um sie zu unterweisen, verkündete sie ihm, dass sie nicht an Gott glaube; er antwortete schlagfertig: »Und wer hat das von dir verlangt?«123 Ihr familiäres Milieu ähnelte mit seiner starken deutschen Akkulturation dem Gershom Scholems (mit dem sie von den 1930er Jahren an eine Freundschaft verband, die dann Anfang der 1960er Jahre im Zusammenhang mit Arendts Bericht über den Eichmann-Prozess in die Brüche ging).124 Ihr Philosophiestudium schloss sie mit einer Dissertation über den Liebesbegriff bei Augustinus ab.125 Sie griff darin eine Frage auf, die sie in ihrer späteren Philosophie noch sehr beschäftigen würde: Wie kann der Mensch »in der Welt zu Hause sein«, wenn das Wissen um Geburt und Tod die Welt zu einem kontingenten Ort macht? Freiheit bedarf der Überwindung dieser Welt. Während ­Augustinus die auf dem Glauben an Jesus gründende brüderliche Liebe lehrte – die Stadt Gottes, die in der Welt wandelt, aber nicht von dieser Welt ist –, entwickelte Arendt eine säkulare philosophische Einstellung: Durch politisches Handeln können die Menschen Gemeinschaft schaffen und so ihre Freiheit in dieser Welt behaupten. Dieser Kampf war nicht nur ein abstrakt philosophischer, sondern letztlich auch ein persönlicher: Die nach ihrer Flucht aus NS -Deutschland staatenlos gewordene junge Frau suchte nach ihrem eigenen Weg, in dieser Welt wieder zu Hause zu sein. Als Reaktion auf den Nationalsozialismus begann Arendt, ihr Jüdischsein in rein politischen Kategorien zu definieren.126 Nicht das Judentum als Religion, sondern das Judesein, die Zugehörigkeit, in die man unweigerlich hineingeboren wird, verlangte nach einer politischen Antwort. Diese politische Antwort fand sie im Zionismus, wenngleich in einem Zionismus ganz besonderer Art. Und aus der Erfahrung heraus, die sie selbst in den 1930er Jahren als Staatenlose gemacht hatte, entwickelte sie eine Theorie, wie der moderne Nationalstaat zum einen die universellen Menschenrechte proklamieren konnte, zum anderen aber dabei versagte, diese Rechte seinen eigenen Minoritäten, womit Arendt die Juden meinte, zu gewähren. Für Arendt waren die Juden ein paradigmatischer Fall, der die Moderne herausforderte und nach einer anderen poli­tischen Antwort verlangte. Obgleich sie am bekanntesten für ihr Buch Eichmann in Jerusalem ist, war sie in erster Linie eine politische Theoretikerin, und das Eichmann-Buch selbst ist im Licht ihrer allgemeinen politischen Positionen zu betrachen. Hier ist nicht der Ort, ihre politische Theorie in aller Breite darzulegen.127 Kurz zusammengefasst postuliert Arendt, die Moderne habe durch die Schaffung einer vom Politischen getrennten Sphäre der Gesellschaft jene Arena 148

untergraben, in der sich Menschen als Gleiche begegnen und gemeinsam agieren könnten, im Gegensatz zur bloßen gemeinsamen Arbeit, die allein zur gesellschaftlichen Sphäre gehöre.128 Damit übernahm sie die aristotelische Auffassung vom Menschen als Zoon politikon und der Polis als Ort der Verwirklichung der menschlichen Natur (dass die meisten Bewohner der Polis nicht Gleichgestellte, sondern Sklaven waren, mag hier außer Acht bleiben). In ihrem Opus magnum Elemente und Ursprünge der totalitären Herrschaft argumentierte Arendt, der moderne Nationalstaat als Erfindung der Französischen Revolution habe scheinbar das Politische wieder etabliert, indem er alle zu Bürgern machte, seine Gleichheitsvorstellung sei indes zutiefst fehlerhaft gewesen, weil die Nation als homogen aufgefasst wurde: Vielfalt konnte sie nicht tolerieren.129 Da der Nationalstaat auf ethnischer Homo­ genität beruhe, sei sein Gleichheitsversprechen abstrakt und formal. Universelle Gleichheit, in der jeder als Individuum gleich ist, anerkenne nicht, dass Verschiedenheit für die Menschen charakteristisch ist. Wohl seien die Menschen als Einzelwesen geboren und hätten ihre je einzigartige Geschichte und Zugehörigkeit; im Gegensatz zum privaten Bereich jedoch könne, postuliert Arendt, die Gleichheit in der politischen Sphäre nur als Angehöriger einer Gruppe, die ebenfalls ihre je eigene Geschichte und Zugehörigkeit aufweise, erlangt werden.130 Die Sphäre des Politischen sollte idealiter jene sein, in der Menschen einander begegnen und in einem Kontext handeln, der sowohl die individuelle als auch die Gruppendifferenz respektiert. Das Problem der ethnischen und kulturellen Minderheit im modernen Staat sei es, das den Gleichheitsanspruch des Staates auf die Probe stelle. Mit dieser Theorie war Arendt eine Multikulturalistin avant la lettre.131 Die Widersprüche, mit denen der moderne Nationalismus behaftet war, wurden nach dem Ersten Weltkrieg mit dem kläglichen Versagen jener Verträge, welche die Minderheitenrechte garantieren sollten, besonders deutlich. Weil sie ihre Minoritäten vertrieben und damit große Gruppen von Staatenlosen geschaffen hätten, seien die modernen Staaten und insbesondere natürlich NS -Deutschland am Endpunkt der Moderne angelangt. Nachdem der moderne Nationalismus das Menschsein an den Staat geknüpft habe, beraube er nun bestimmte Bevölkerungsgruppen mit ihrer Staatsbürgerschaft auch ihres Menschseins. In überzogener Weise, die wohl ihre persönliche Erfahrung widerspiegelt, sieht Arendt in der Aberkennung der Staatsbürgerschaft ein Verbrechen, das schlimmer ist als die Sklaverei.132 Sklaven gehörten einer menschlichen Gemeinschaft an, auch wenn sie ihrer persönlichen Freiheit beraubt seien. Sie besäßen ein Heim und menschliche Würde (über all dies lässt sich offensichtlich streiten). Staatenlose Menschen hingegen hätten mit dem Verlust ihrer politischen Gemeinschaft das im aristotelischen Sinn essenzielle 149

Merkmal ihres Menschseins verloren. Sie hätten ihr »Recht, Rechte zu haben« eingebüßt und seien damit effektiv aus der Menschheit ausgestoßen worden. Die Krise um die staatenlosen Flüchtlinge der 1930er Jahren war ein Vorspiel zum Holocaust. Wenn Staatenlosigkeit Ausschluss aus der Menschheit bedeutete, war Völkermord die Steigerung derselben Logik: Wer keiner politischen Gemeinschaft mehr angehörte, hatte kein Recht, am Leben zu bleiben. Hier wird Arendts Interpretation des Eichmann-Prozesses relevant. Eichmanns abscheuliche Verbrechen waren weder ein Mord von großer Dimension noch ein Verbrechen »gegen das jüdische Volk« nach dem Wortlaut des israelischen Gesetzes. Der Holocaust war ein neuartiges Verbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschheit, begangen »am Körper des jüdischen Volkes«. Es war ein Verbrechen gegen die Menschheit, weil der Angeklagte danach trachtete, die Mannigfaltigkeit zu zerstören, die essenziell für die Menschheit ist: »[Der Völkermord stellt] einen Angriff auf die menschliche Mannigfaltigkeit als solche [dar], also auf ein Wesensmerkmal des Menschseins, ohne das wir uns Dinge wie Menschheit oder Menschengeschlecht nicht einmal vorstellen können«.133 Dies ist eine neue Theorie, die aber der Auffassung entspricht, die Arendt bereits 1951 in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft entwickelt hatte. Nach Arendts Auffassung konstituierten die Juden nicht nur ein Beispiel für das Versagen der Moderne, sondern das geradezu archetypische Beispiel für dieses Versagen. Dass sie in ihrem Buch mit dem Antisemitismus ansetzt, macht diese Sichtweise schon deutlich. Sie geht aber noch weiter, wenn sie von einer »jüdischen Vorstellung, derzufolge die Auserwähltheit eines [des jüdischen] Volkes dazu dienen sollte, die Menschheit zu etablieren« spricht.134 Was mag diese Vision, die, wie Arendt selbst einräumte, messianischen Charakter hatte, bedeuten? Wenn Vielfalt das Wesen der Menschheit ist, dann sind es die Juden, die historisch zur »Etablierung« dieses Grundsatzes dienen, sowohl mit dem, was sie tun, als auch mit dem, was ihnen angetan worden ist. Überdies seien die Juden als einziges »national nicht gebundenes Volk« Europas »Symbol des gemeinsamen Interesses« der europäischen Staaten.135 Gerade weil sie wegen des Fehlens eines eigenen nationalen Territoriums dem Zusammenbruch des Nationalstaates angesichts des Totalitarismus am meisten ausgesetzt waren, könnten sie ein neues Europa, einen Verbund von Völkern, in dem nationale Rechte unabhängig vom Territorium bestünden, mitformen.136 Die Verwendung des Ausdrucks mission bei Arendt verweist auf eine Anlehnung an die traditionelle Terminologie vom auserwählten Volk. In der Tat legt sie dar, mit der Säkularisierung seien Auserwähltheit und messia­ nische Hoffnung voneinander getrennt geworden und der Glaube an das Auserwähltsein sei zu reinem Chauvinismus mutiert (als extremstes Beispiel 150

nennt sie Benjamin Disraeli, der die Überlegenheit der jüdischen Rasse verfocht).137 Statt die Auserwähltheit der Juden wieder in einen religiösen Rahmen ein­zubetten, schafft Arendt einen neuen, säkularen Rahmen: die politische Frage menschlicher Vielfalt. Die Rolle der Juden sei es, die Welt diesen elementaren Faktor der menschlichen Natur zu lehren. Wie Spinoza findet sie mithin in der Vorstellung vom auserwählten Volk eine politische Bedeutung, doch anders als er glaubt sie, dass diese Bedeutung nur in der Moderne, genauer gesagt: im Versagen der Moderne, verwirklicht werden könne.138 Damit die Juden diese Mission erfüllen könnten, müssten sie zu einem politischen Volk werden. Wie Spinoza und Mendelssohn aus ihrer jeweiligen Motivation heraus ist auch sie der Auffassung, dass die Juden in der Diaspora jedes politische Selbstverständnis aufgegeben haben: »Die jüdische Geschichte bietet das einzigartige Schauspiel eines Volkes, das in die Geschichte mit einer klaren Vorstellung […] von Geschichte eintrat, jedenfalls mit einem wohlumschriebenen Plan davon, was es auf Erden auszuführen gedachte, und das dann […] durch zweitausend Jahre hindurch […] sich jeder politischen Aktion überhaupt enthielt.«139

Die einzige Ausnahme von dieser passiven Haltung bildete für sie die von ihr als politisch verstandene sabbatianische Bewegung.140 Für Arendt bedeutete das offensichtliche Fehlen einer jüdischen politischen Tradition, dass die Juden es auch in der Moderne versäumt hätten, politisch zu handeln. Wie in früheren Jahrhunderten hätten sie ihr Schicksal von nichtjüdischen Mächten abhängig gemacht, sodass sie als Gruppe nur überleben konnten, solange sie für den Staat nützlich waren. Doch mit dem Streben der Wohlhabenden unter den Juden nach Assimilierung in die europäische Gesellschaft war die Figur des Parvenu geboren, der dem Schicksal seines Volkes entgehen will, indem er als Einzelperson sein Glück versucht. Wie Arendt bereits in ihrer Studie über Rahel Varnhagen erkannt hatte, gelangte sie zu dem Schluss, dass es das Schicksal des Parvenu sein würde, zu einem Paria zu werden, genau wie die Juden selbst. Nur der »bewusste Paria« (ein wie schon erwähnt von Bernard Lazare übernommener Begriff) könne seinem Schicksal entrinnen, und dies durch Konstruktion einer jüdischen Politik und die Mobilisierung des Volkes gegen seine Feinde. Arendt beschließt den ersten, dem Antisemitismus gewidmeten Teil  ihrer Elemente und Ursprünge mit der Dreyfusaffäre, die ein für alle Mal den Bankrott des Versuchs der Juden, sich von der Politik fernzuhalten, unter Beweis gestellt habe. Wie Lazare vor ihr gelangte Arendt zu dem Schluss, dass der Zionismus die einzige gangbare politische Antwort auf den Antisemitismus sei, doch ebenso wie Lazare kritisierte sie am Zionismus, dass er das 151

Heil nur in der Errichtung eines Nationalstaates suche. Denn wenn der moderne europäische Nationalstaat es nicht geschafft habe, das Spannungsverhältnis zwischen Mehrheits- und Minderheitenrechten zu lösen, werde ein nach denselben Grundsätzen konzipierter jüdischer Staat in ähnlicher Weise Schiffbruch erleiden. So prangerte sie in einer Artikelserie der 1940er Jahre das Streben der zionistischen Führung nach einem (von anderen später so genannten) »ethnonationalistischen Staat« an, also einem auf einer einzigen nationalen Gruppe begründeten Staat. Die zionistische Organisation, so Arendt, habe vor den maximalistischen Forderungen der Revisionisten kapituliert. Zudem, führte Arendt weiter aus, begehe die zionistische Organisation durch ihre Allianz mit dem britischen Imperialismus wie Herzl den Fehler, sich auf die Großmächte statt auf sich selbst zu verlassen. Implizit stellt sie damit diese Form des Zionismus einer Art Parvenu-Nationalismus gleich. Ironisch ist ihr Hinweis, dass die Lösung des Zionismus für das so dringende Problem der jüdischen Staatenlosigkeit zur Staatenlosigkeit der Palästinenser geführt habe, ein Beweis, dass der Zionismus um nichts besser sei als der europäische Nationalismus. Sich auf die Seite der Ichud-Gruppe von Judah Magnes und Martin Buber stellend, die eine arabisch-jüdische Konföderation oder einen binationalen Staat anstrebte, plädierte sie für eine lokale Selbstverwaltung und gemischte jüdisch-arabische Gemeinden sowie für Landräte,141 eine Struktur, die an Lazares Anarchismus erinnert und die ihr anderswo den wahren revolutionären Geist zu verkörpern schien.142 Im Mai 1948 fasste sie ihre Position wie folgt zusammen: »Dieses Ziel [der Aufbau einer jüdischen Heimstätte, jedoch nicht aufgrund des UN-Teilungs­ beschlusses von November 1947] darf niemals der Pseudo-Souveränität eines jüdischen Staates geopfert werden.«143 Trotz ihrer Kritik an dem vorstaatlichen Zionismus und der Regierung Ben-Gurion zur Zeit des Eichmann-Prozesses blieb Arendt dem Zionismus in seinen utopischen Momenten eng verbunden. Sie war weder Universalistin noch Diasporistin in dem Sinne, dass sie die Diaspora als ideale Form jüdischen Lebens pries. Sie glaubte, dass einige Elemente des Jischuw, der jüdischen Siedlungsgemeinschaft in Palästina, in die richtige Richtung wiesen, meinte aber seltsamerweise, die, ansonsten von ihr befürwortete, Kibbuz­ bewegung müsse politischer sein. Und obwohl ihre Kritik am EichmannProzess oft ungerecht hart war, zog sie Israels Recht, Eichmann im Namen der Opfer vor Gericht zu bringen, nicht in Zweifel, wenn diese Opfer auch nicht auf israelischem Territorium gestorben waren. Ganz im Gegenteil, sie begründete Israels Recht darauf mit einer höchst originellen Definition von Territorium: 152

»Israel hätte sehr wohl territoriale Gerichtsbarkeit für sich in Anspruch nehmen können, wenn es erklärt hätte, daß ›Territorium‹ im juristischen Sinne ein politischer und rechtlicher und nicht ein bloß geographischer Begriff ist. Territorium in diesem Sinne meint nicht so sehr, und vor allem nicht primär, ein Stück Land, es bezieht sich vielmehr auf den ›Raum‹, der zwischen den Gliedern einer Gruppe un­weigerlich entsteht, wenn sie in jahrtausendealten Bezügen sprachlicher, religiöser und geschichtlicher Natur miteinander verbunden sind, die sich zudem in Sitten und Gesetzen niedergeschlagen haben, die sie gegen die Außenwelt schützen und untereinander differenzieren. Solche Beziehungen werden räumlich dadurch manifest, daß sie selber den Raum konstituieren, innerhalb dessen die verschiedenen einzelnen der Gruppe sich aufeinander beziehen und miteinander umgehen. Es wäre niemals zur Entstehung des Staates Israel gekommen, wenn das jüdische Volk in den langen Jahrhunderten der Zerstreuung sich nicht einen solchen Zwischen-Raum über alle geographische Entfernung hinweg geschaffen und bewahrt hätte, und zwar vor der Rückkehr in die alte Heimat.«144

Die Juden hätten mithin, wo immer sie auch hingingen, ein »Territorium« mit sich getragen, eine Heines portativem Vaterland ähnliche Vorstellung. Sie seien in der Diaspora nicht weniger eine Nation als in ihrem eigenen Land. Wie Lazare leugnete Arendt nicht die Bedeutung eines physischen Territoriums, hielt ein solches jedoch für sekundär gegenüber dieser nichtterritorialen Definition der Nation. Auch sie näherte sich stark Simon Dubnows Autonomismus an, einer jüdischen Politik, die sich nicht auf Geografie, sondern auf kulturelle Affinität stützte. In Arendts Position lassen sich unschwer gravierende Widersprüche und sogar Inkohärenz ausmachen. Wie genau ihrer Meinung nach die Juden sich angesichts des Nationalismus politisch hätten verhalten sollen, bleibt unklar. Manchmal hört sie sich an wie die Revisionisten, die doch ihre ärgsten Widersacher waren. So entsprach ihre Kritik an der Allianz zwischen dem Zionismus und dem britischen Imperialismus häufig genau der revisionistischen Position. In den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs rief sie dringlich zur Bildung einer jüdischen Armee auf, eine Einstellung, die man eher mit der Einstellung der militanteren Nationalisten assoziiert. Auf der mehr philosophischen Ebene widerspricht der Umstand, dass sie die jüdische Politik auf das »Judesein«, also das Faktum, als Jude geboren zu sein, gründet, ihrer vehementen Kritik an den jüdischen Parvenus, die ihr Judesein auf ebendiese jüdische Geburt reduzierten. Wenn Nationalität sich aus Geschichte, Gebräuchen oder gar Religion zusammensetzt, dann blieb Arendts eigenes jüdisches Selbstverständnis von diesen Elementen weitgehend unberührt. Zu guter Letzt war ihre politische Theorie nicht so weit von der Herzls entfernt, wie sie wohl gern für sich in Anspruch genommen hätte: Auch sie kam zu 153

dem Schluss, dass es einer säkularen jüdischen Politik bedürfe, um sich dem Antisemitismus entgegenzustellen, der den Juden nicht einmal jenes minimale Anderssein einräumte, als Kind jüdischer Eltern geboren zu sein. Der idiosynkratische Zionismus von Bernard Lazare und Hannah Arendt ist emblematisch für eine jüdische Politik, die auf einer dem Anarchismus nahekommenden utopischen Ideologie basierte und zugleich eine entschlossene Reaktion auf den modernen Antisemitismus als eine in der jüdischen Geschichte präzendenzlose Bedrohung einforderte. Die Juden müssten anerkennen, dass sie eine – nicht unbedingt über ein Territorium zu definierende  – Nation seien. Trotz ihrer Absage an Herzl ähnelten diese beiden Philosophen ihm – wie auch anderen Juden Mitteleuropas, die auch zu Nationalisten wurden – insofern, als der Ausgangspunkt ihrer neuen jüdischen politischen Theorie nicht die Religion, sondern der Säkularismus war.

Der Staat Israel: David Ben-Gurions staatsbürgerliches Selbstverständnis der Juden Der kompromissloseste Befürworter einer territorialen und staatlichen Lösung für das Problem der jüdischen Nation war Israels erster Premierminister David Ben-Gurion. Freilich war Ben-Gurion später als Jabotinsky, sein größter Widersacher in den 1920er und 1930er Jahren, zu der Idee von einer jüdischen Souveränität gelangt. Jabotinsky forderte, eine nationale Bewegung dürfe sich nicht durch andere Ideologien verwässern lassen und ihr einziges »Endziel« habe die politische Souveränität zu sein. Dem von ihm in Anspielung auf das biblische Verbot der Vermischung von Flachs und Wolle in einem Kleidungsstück als scha’atnes bezeichneten sozialistischen Sozialismus, in dem Nationalismus und Marxismus sich vermischten, stellte J­ abotinsky eine Ideologie des »Monismus«, eine Art säkulares Pendant zum jüdischen Monotheismus, entgegen.145 Ebenso wie die biblische Religion auf den reinen Monotheismus zurückgehe, müsse sich der Zionismus einen reinen, von sozialistischem Synkretismus freien Nationalismus zu eigen machen. Natürlich war, wie Ben-Gurion und andere zionistische Kritiker Jabotinskys dem entgegensetzten, der revisionistische Monismus um nichts reiner als ihr eigener Sozialismus: Der Anspruch der Revisionisten auf »Klassen­neutralität« verhülle in Wirklichkeit eine kapitalistische Ideologie. Jedenfalls stellte Jabotinskys Monismus, auch wenn er eine Angriffsfläche für solche Kritik bot, ein klares Votum für das Primat der Nation und der Politik vor Religion, Klasse und Kultur dar. 154

Fast die gesamte vorstaatliche Periode hindurch setzte sich Ben-Gurion mit Jabotinskys Kritik am scha’atnes-Zionismus auseinander und wies sie weit von sich. 1932 stellte er fest, der Zionismus könne im Sozialen entweder progressiv oder reaktionär sein: »Ein Zionismus, dem jeder soziale Inhalt fehlt, sei er gut oder schlecht, ist eine sinnlose Abstraktion ohne lebendigen oder konkreten Gehalt. Das Gerede von einem ›monistischen‹ Zionismus im Gegensatz zu ›scha’atnes‹ ist Lug und Trug. Der faschistische Zionist, der Blut, Dreck und Sklaverei verteidigt, der Krieg führt gegen ›Marxisten‹ und ›Linke‹, der bourgeoise Zionist, der die Herrschaft des Reichtums und eine Klassengesellschaft will, und der sozialistische Zionist, der eine Gesellschaft freier Arbeiter und ein sozialistisches Land Israel will, sie alle vertreten scha’atnes-Zionismus. Der Unterschied liegt im Resultat der Mischung.«146

Eine nationale Politik bringt per definitionem nicht Einheit, sondern Zwietracht hervor, da es weiter um unterschiedliche Klasseninteressen geht. Jabotinskys Argument war eine säkularisierte Version des biblischen Verbots, in einem Kleidungsstück verschiedene Stoffe zu mischen, Ben-Gurions Replik nahm eine antinomische Position ein: scha’atnes sei die zwangsläufige Konsequenz jeder Politik, und daher liefere die jüdische Tradition ein Vorbild genau dafür, was sie untersage. Ben-Gurion verstand den Zionismus als Revolution, jedoch nicht im eher traditionellen Sinn des Umsturzes eines politischen oder ökonomischen Regimes. Aufgrund der besonderen Situation der Juden als apolitisches, machtloses Volk im Exil bedeute Zionismus »eine Revolution in der Lebensweise unseres Volkes«.147 Diese Revolution werde aus einem unproduktiven Volk ein souveränes am oved (arbeitendes Volk) machen. War für Jabotinsky das Gewehr Symbol der jüdischen Politik, so war es für Ben-Gurion der Pflug. Nach Jabotinskys Tod im Jahr 1940 jedoch, in der Zeit des Ringens um die Unabhängigkeit, trat in Ben-Gurions Anschauungen eine wesentliche Wandlung ein. Ohne es explizit zum Ausdruck zu bringen, machte er sich eine Reihe von Jabotinskys Grundpositionen zu eigen. Als einer der Ersten in der Arbeitsbewegung, der voraussah, dass die jüdische Eigenstaatlichkeit nur mit militärischen Mitteln errungen werden könne, gelangte Ben-Gurion zur Ansicht, das Judentum habe als eine der Welt zugewandte Religion die Anwendung physischer Gewalt niemals abgelehnt, wiewohl es sie auch niemals zum höchsten Wert emporgehoben habe.148 In seiner Eigenschaft als Premierund als Verteidigungsminister in den ersten Jahren nach der Staatsgründung betrachtete er die Armee in geradezu messianischen Kategorien als die Restauration der in der Bibel beschriebenen martialischen Tugenden. In den 1930er Jahren war es die revisionistische Untergrundbewegung Irgun Zva’i 155

Le’umi gewesen, die Vergeltung übte, während die der Arbeitsbewegung nahestehende Hagana Zurückhaltung (havlaga) übte. Als es jedoch in den frühen 1950er Jahren zu Einbrüchen palästinensischer Fedajin kam, machte die junge israelische Armee unter Ben-Gurions Führung massive Ver­geltungs­ aktionen zum Grundpfeiler ihrer militärischen Doktrin.149 Vor allem gab Ben-Gurion die sozialistische Rhetorik der vorstaatlichen Periode auf und machte sich stattdessen die Doktrin der mamlachtiut zu eigen.150 Vom Wort mamlacha (Königreich) beziehungsweise melech (König) abgeleitet, würde die wörtliche Übersetzung dieses neu geprägten Begriffes »Monarchie« lauten. Natürlich hatte Ben-Gurion keinerlei Absicht, eine Mo­ narchie zu etablieren, und in der Tat ist eines seiner bedeutendsten Vermächtnisse Israels Demokratie. Aber damit, dass er diesen Begriff, den auch Jabotinsky verwendet hatte, übernahm, versuchte Ben-Gurion, eine neue Theorie jüdischer Politik in einer vermeintlich biblischen Tradition, eine Art säkularisierten Messianismus, zu begründen. In dieser Theorie ist der Staat zu »Prinzip und Triebkraft für die Erreichung zionistischer Ziele« geworden.151 Diese Ziele bestanden in erster Linie in der »Zusammenführung der Diasporen« (kibbuz galujot). An verschiedenen Stellen deutete Ben-Gurion jedoch an, dass der Zionismus mit der Staatsgründung der Vergangenheit angehöre. Das jüdische Volk sei nun in seinem eigenen Staat nicht mehr ein am oved, sondern ein am mamlachti, ein souveränes Volk oder »Staatsvolk«. Der Staat habe eine neue, auf der Existenz eines politischen Gemeinwesens gründende Zu­gehörigkeit hervorgebracht – die israelische Staatsangehörigkeit. Ben-Gurion formulierte nicht nur eine neue Theorie, er handelte auch danach. Die gewaltsame Auflösung der separaten Milizen des Irgun und der Lechi im Krieg von 1948 und die später folgende Auflösung des Palmach, der linksgerichteten, sozusagen unabhängigen Kampftruppe der Hagana, zeigte, dass er jedwede militärische Macht dem Staat unterordnen wollte. Sogar die Einbeziehung religiöser Parteien in seine Regierung, die für das Selbstverständnis Israels weitreichende und lang währende Konsequenzen zeitigen sollte, war ein Versuch, unter Ausschluss der links- und rechtsextremen Parteien einen vereinigten Zentrumsblock zu bilden. Da er die politische Vielfalt der vorstaatlichen Periode nicht unterdrücken konnte und wollte, akzeptierte er eine Ideologie von einem überparteilichen Staat.152 So übernahm Ben-­Gurion stillschweigend Jabotinskys Gedankengut. Bekanntlich war Ben-Gurion ein unverhohlener Bewunderer Spinozas und sprach sich für eine offizielle Aufhebung der Exkommunikation Spinozas durch das Rabbinat aus. Spinoza war für ihn der erste moderne säkulare Jude wie auch der Erste in der langen Geschichte der Juden, der sich der Naturwissenschaft zugewandt hatte.153 Die Wissenschaft sollte der Schlüssel zum Erfolg 156

des jüdischen Staates sein. Spinoza stand auch für die Rückkehr der Juden in die Sphäre des Politischen, war er doch der Erste, der eine politische Auslegung der Bibel anregte und die Erneuerung jüdischer Eigenstaatlichkeit als möglich voraussah. Als Ben-Gurion die religiösen Parteien in seine Regierung aufnahm und den religiösen Status quo in Bezug auf das Personenstandsrecht und die Einhaltung des Schabbat beibehielt, mag er empfunden haben, dass er nur getan habe, was schon Spinoza propagiert hatte: der Religion die Rolle der Magd des Staates zuzuweisen. Ist es denkbar, dass er sich dessen so gar nicht bewusst war, dass einige orthodoxe Juden diese Gesetze als erste Schritte in Richtung eines theokratischen Staates auslegen würden, das Gegenteil dessen, was Spinoza im Sinn hatte? Für Ben-Gurion blieb jedenfalls die Religion dem Staat untergeordnet, da es der Staat selbst, ein säkulares, auf dem Willen des Volkes begründetes Gebilde war, das diese Gesetze erließ und sie auch wieder aufheben konnte. Die per definitionem säkulare jüdisch-­politische Revolution musste eine Republik hervorbringen, wie sie sich der erste jüdische Staatstheoretiker der Neuzeit vorgestellt hatte. Ben-Gurion war zwar nicht der Autor der israelischen Unabhängigkeitserklärung, stand jedoch jenem Ausschuss vor, der ihren endgültigen Wortlaut festlegte. In der Verknüpfung historischer und säkularer politischer Prämissen trägt dieses Dokument unverkennbar seinen Stempel: Die Legitimation des neuen Staates wird mit der jahrtausendealten Verbindung der Juden zu jenem Land, in dem sie zur Nation wurden, sowie mit internationalen Erklärungen, von der Balfour-Erklärung bis zum Teilungsbeschluss der UN-Generalversammlung vom 29.  November 1947, begründet. Selbst­ bewusste Hinweise auf das natürliche Recht auf Selbstbestimmung finden sich im Text ebenso wie der dringende Appell an das Ausland, den neuen Staat anzuerkennen.154 Auch wenn die Unabhängigkeitserklärung in der israelischen Jurisprudenz weitgehend der Gesetzeskraft entbehrt, birgt sie den Keim der inneren Widersprüche dieses Staates als Körperschaft des jüdischen Volkes. Zum einen stellt das Dokument naturgemäß die drängenden Probleme der jüdischen Bevölkerung, wie Einwanderung und Aufbau der Wirtschaft, in das Zentrum der Rechtfertigung des jüdischen Staates. Zum anderen sichert es zu, das Land »zum Wohle aller seiner Bewohner« zu entwickeln und, auf »Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestützt«, all seinen Bürgern gleiche Rechte und Freiheiten zu gewährleisten. Hier stellt sich die Frage, in welchem Sinne das neue israelische Selbstverständnis auch das der nichtjüdischen Bürger des Staates war. Obgleich deutlich von modernen liberalen Staatstheorien inspiriert, suchte die Unabhängigkeitserklärung, wie der Hinweis auf die Propheten Israels 157

suggeriert, diese in der jüdischen Tradition zu begründen. Schon die hebräische Bezeichnung megillat ha-azma’ut (megilla, hebr. Schrift-, Buchrolle, azma’ut, hebr. Unabhängigkeit) beschwor Assoziationen aus der jüdischen Schrift­tradition herauf, tragen doch in der hebräischen Bibel fünf kleinere Schriften die Bezeichnung megilla. Jedoch bleiben diese Gesten vor der Tradition bemerkenswert unbestimmt; am nächsten kommt der Text einer religiösen Erklärung, wenn er sich in seiner abschließenden Formulierung auf die Zuversicht auf den »Fels Israels« – eine vage Bezeichnung für Gott – beruft. Mit diesem Zusatz sollte orthodoxen Gefühlen Genüge getan werden, er verrät aber das Unbehagen der Gründungsväter Israels angesichts jeder auf Religion oder Tradition gestützten Rechtfertigung des Staates. Eigenstaatlichkeit und Mehrheitsstatus haben den Diskurs über jüdische Politik von Grund auf verändert. In Israel sind die Juden, nunmehr keine Minorität mehr, in umgekehrter Weise mit demselben Problem konfrontiert, mit dem sie sich in der Diaspora auseinanderzusetzen hatten: der Schwierigkeit, im Kontext eines Nationalstaates Mehrheits- und Minderheitenrechte miteinander in Einklang zu bringen. Dies betrifft jedoch nicht allein das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden. Es gibt im Staat Israel auch inner­ jüdische Probleme, denn nach dem Zustrom von Einwanderern aus aller Herren Länder wurde mehr als deutlich, dass die Bevölkerung weder von rassischer Homogenität, noch nationalem Zusammengehörigkeitsgefühl oder religiöser Einheit geprägt war. Emma Lazarus’ Analyse erwies sich mithin als zutreffender als jene von Moses Hess oder Theodor Herzl. Die Klassenunterschiede, wie sie Bernard Lazare und Hannah Arendt intuitiv erfasst hatten, erscheinen nunmehr allgegenwärtig und haben verschiedene kulturelle, ethnische und religiöse Konflikte erweckt. Aus der Perspektive des jüdischen Säkularismus hat die Erneuerung der jüdischen Souveränität zu einer paradoxen Situation geführt. Eine säkular-nationalistische Bewegung hat statt eines säkularen Staates einen Staat hervorgebracht, der tief in die Religion verstrickt ist, was die Definition der Staatsbürgerschaft, die Kontrolle über bestimmte Bereiche der Justiz und der Außenpolitik sowie den Kampf um die politische Macht betrifft. Dass der Zionismus nicht nur religiösen Kräften den Weg frei machen, sondern ihnen größere Macht verleihen würde, ist weit entfernt von den Visionen geradezu aller Gründer der Bewegung, von Herzl und Achad Ha’am bis zu Jabotinsky und Ben-Gurion. Gerade das den Staatsgründern vorschwebende Ideal einer in Theorie und Praxis alle Juden einschließenden Nation war es, das den zahlreichen jüdisch-orthodoxen Strömungen die Möglichkeit bot, die säkulare Kunst der Politik zu erlernen und sich zu eigen zu machen. Wie paradox, dass Spinozas Idee von der Unterordnung der Religion unter den Staat dazu 158

mutieren konnte, dass die Religion nunmehr um die Macht im Staat wetteifert. Ebenso paradox ist es, dass es der erste moderne orthodoxe Jude, Moses Mendelssohn, war, der die Überlegenheit des Judentums in der Realisierung einer Trennung zwischen Religion und Staat ausmachte, und dass diese seine Idee in einem jüdischen Staat von seinen geistigen Nachfahren ins Gegenteil verkehrt wird. Theoretiker des Mittelalters von Maimonides bis Nissim ben Reuben Gerondi konnten sich für ihre Gemeinden eine säkulare Rechtsordnung vorstellen, ihren modernen Erben ist die Verwirklichung dieser radikalen Vision aber nur zum Teil gelungen. Im Zentrum dieses Kapitels standen jüdische Nationalisten von Moses Hess über Theodor Herzl bis hin zu Wladimir Jabotinsky und David BenGurion. Ihre Visionen von einer erneuerten jüdischen Nation mit einem eigenen, souveränen Staat basierten allesamt auf einer säkularen, politischen Definition der Juden. Nicht alle, die eine säkulare jüdische Nation anstrebten, waren indes zwangsläufig Staatsnationalisten. Als Kritiker des politischen Zionismus in Westeuropa teilten Bernard Lazare und Hannah Arendt jedoch mit den Zionisten die Idee von einer eher nationalen statt religiösen jüdischen Zugehörigkeit. Im Osten Europas übernahmen andere Theoretiker dieselbe säkular-nationale Definition, lehnten aber den Zionismus als Prämisse ab. Der in diesem Kapitel mehrmals erwähnte Simon Dubnow war im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ein Befürworter und Mitbegründer der Bewegung des Autonomismus, die eine jüdische kulturelle Autonomie im östlichen Europa anstrebte. Etwa zu derselben Zeit forderte der Allgemeine Jüdische Arbeiter­ bund eine ähnliche Autonomie im Rahmen einer sozialdemokratischen Revolution im Russischen Reich. Diese Beispiele zeigen, dass die politische Dimension eines säkularen, nationalen Selbstverständnisses oft auch eine kulturelle Dimension einschloss. Die Neudefinition Israels als politische Nation schloss oft die Neudefinition des Judentums  – von einer Religion zu einer Kultur – ein. Dieser kulturellen Neubestimmung wollen wir uns nun zuwenden.

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4. Israel: Geschichte, Sprache und Kultur

1824 nahm Heinrich Heine die Arbeit an seinem, letztlich unvollendet gebliebenen historischen Roman Der Rabbi von Bacherach auf.1 Es war dies eines der ersten Werke im Genre des, oft auf historischen Figuren wie Uriel da Costa oder Baruch Spinoza beruhenden, jüdischen Geschichtsromans. Heine stand offensichtlich unter dem Einfluss der mittelalterlichen Romanzen Sir Walter Scotts, die gelegentlich auch jüdische Charaktere darstellten. Obgleich man am Rabbi von Bacherach aus literarischer Sicht Wesentliches bemängeln kann, ist das Werk aufgrund dessen, was der Autor damit beabsichtigte, beachtenswert. Die Handlung setzt im rheinischen ­Bacherach (nach der richtigen Schreibweise Bacharach) ein; von dort müssen Rabbi Abraham und seine Frau Sara – man beachte die archetypischen Namen – am Vorabend des Pessachfests fliehen, nachdem ihnen von zwei mysteriösen Gästen die Leiche eines christlichen Kindes unter den Tisch gelegt worden war. Sara ist unfruchtbar, und die beiden Gäste sind das negative Abbild jener Engel, die der biblischen Sara die Geburt ihres Sohnes Isaak ankündigen. Infolge des vermeintlichen Ritualmordes kommt es zu einem Massaker an den jüdischen Bewohnern Bacherachs. Abraham und Sara entkommen nach Frankfurt, wo sie im jüdischen Ghetto einen getauften spanischen Juden namens Don Isaak Abarbanel treffen. Abarbanel ist eine historische Gestalt, allerdings war er kein Konvertit. Heines fiktionaler Spanier ist offenkundig das Alter Ego des Dichters – der ebenfalls ein Jahr nach Beginn der Arbeit an diesem Buch zum Christentum übertrat. Indem er sich mit diesem spanischen Juden identifizierte, teilte und überhöhte er die Faszination, welche die Sepharden als die wahren Aristokraten des jüdischen Volkes auf die deutschen Juden ausübten. Auf die Anschuldigung des Rabbi räumt Don Isaak ein, er sei (wie Heine) trotz seines Übertritts eher Heide als Christ: »Ja, ich bin ein Heide, und eben so zuwider wie die dürren, freudlosen Hebräer sind mir die trüben, qualsüchtigen Nazarener. Unsre liebe Frau von Sidon, die heilige Astarte [kanaanitische Göttin], mag es mir verzeihen, daß ich vor der schmerzen­ reichen Mutter des Gekreuzigten niederknie und bete …«.

Ein einziges Band noch fesselt den spanischen Ritter an sein angestammtes Volk: 161

»Der Verkehr mit dem Volke Gottes ist sonst nicht meine Liebhaberey, und wahrlich nicht um hier zu beten, sondern um zu Essen besuche ich die Judengasse […]. Meine Nase ist nicht abtrünnig geworden. Als mich einst der Zufall, um Mittagszeit, in diese Straße führte, und aus den Küchen der Juden mir die wohlbekannten Düfte in die Nase stiegen: da erfaßte mich jene Sehnsucht, die unsere Väter empfanden, als sie zurückdachten an die Fleischtöpfe Egyptens; wohlschmeckende Jugenderinnerungen stiegen in mir auf […].«2

Don Isaak setzt die Schilderung verführerischer Speisen und Düfte im Frankfurter Ghetto detailreich fort. Heine selbst rühmte sogar in der Zeit seiner stärksten Entfremdung von der jüdischen Religion und den Juden wiederholt die jüdische Kochkunst als die Quintessenz des Jüdischseins (das Gedicht, in dem er den Geschmack des Schabbat-Tscholents mit dem Elysium vergleicht, ist ebenso komisch wie berührend). Dieser Lobgesang auf die jüdische Kochkunst offenbart Heines Absicht. Obschon er die Arbeit am Rabbi von Bacherach im Anschluss an die Damaskus­ affäre von 1840 fortsetzte und unter deren Eindruck den mittelalterlichen Ursprung dieser Anklage in das Zentrum seines Werkes stellte, ging es ihm vor allem darum, das Alltagsleben der einfachen jüdischen Menschen in Erinnerung zu rufen. Zweifellos gab es in ihrem Leben Schikanen und Leiden, die ihnen vonseiten der Christen zugefügt wurden, aber sie kannten auch gutes Essen, Fleischeslust und was der Alltag sonst an Freude und Kummer bereithält. Obwohl die Speisegewohnheiten der Juden mit ihren religiösen Praktiken bekanntlich eng verknüpft sind, hob Heine die Kochkunst als Symbol der säkularen jüdischen Kultur hervor. Dass sich Heine der Geschichte zuwandte, spiegelt die Auffassung wider, dass nicht nur die Bibel einer kritischen historischen Lektüre bedurfte. Er und andere hatten die Bibel von einem religiösen zu einem kulturellen Zeugnis gemacht; nun galt es, nach den Spuren einer säkularen Kultur in der gesamten jüdischen Geschichte zu suchen. Natürlich ist die Geschichtswissenschaft per se eine säkulare Disziplin, da sie jede übernatürliche Kausalität zurückweist, und sie wird in einem doppelten Sinn säkular, wenn sie, wie Heine dies tut, ihre Aufmerksamkeit beharrlich auf die nichtreligiösen Dimensionen der Vergangenheit lenkt. Überdies war die Konstruktion einer historischen Lebenswelt jenseits der Religion – nennen wir sie »Kultur« – ein ausgesprochen moderner Akt und Teil zeitgenössischer Strömungen, welche die Schaffung einer säkularen jüdischen Kultur zum Ziel hatten. Jenen, die behaupteten, das Judentum sei eine mittelalterliche Religion, die der Moderne nichts zu bieten habe, hielten die Befürworter einer säkular-jüdischen Kultur entgegen, dass die von Juden in der Vergangenheit oder Gegenwart geschaffenen Artefakte und Texte Teil einer nationalen Kultur waren, die nicht weniger legitim war 162

als die Nationalkulturen der Franzosen, Tschechen oder Polen. Diese säkulare Kultur entstand zeitgleich mit der zunehmenden Anpassung der modernen Juden zum einen an die Nationalkulturen ihrer Umwelt, zum anderen an eine vermeintlich kosmopolitische Kultur. Mancher Auffassung zufolge war der Beitrag, den die Juden zu diesen Nationalkulturen beziehungsweise zur Konstruktion einer kosmopolitischen Kultur leisteten, als Teil der jüdischen Kultur anzusehen, auch wenn dieser Beitrag inhaltlich nichts mit Juden oder Judentum zu tun hatte. Heinrich Heine war das Sinnbild eines Juden, der mit einer ihm eigenen, von manchen als typisch jüdisch bezeichneten Ironie zur europäischen Kultur beigetragen hatte. Dieser Deutung schlossen sich einige Zionisten wie Theodor Herzl und Max Nordau an; für sie hatte Heine bei all seinem Kosmopolitismus den Sinn für eine nationale jüdische Zugehörigkeit bewahrt.3 Dieses gespannte Verhältnis zwischen kulturellem Partikularismus und Universalismus lastete schwer auf vielen modernen Juden  – so schwer, dass die Debatte über ebendieses gespannte Verhältnis als zentraler Wesenszug der modernen jüdischen Kultur gelten kann. Die Sprachenfrage, der wir bereits bei Chaim Nachman Bialik und Gershom Scholem begegnet sind, entwickelte sich zu einer Kernfrage für eine moderne säkulare Kultur. Was war in einem Zeitalter, in dem Nationalismus und Sprache eng miteinander verbunden waren, die nationale Sprache der Juden? War es das Jiddische, das von der großen Mehrheit der Juden in Osteuropa gesprochen wurde, jedoch nicht von jenen im Westen des Kontinents, in Nordafrika und im Nahen Osten? Jene, die das Jiddische favorisierten, konnten auf andere Sprachen wie das Magyarische und Tschechische verweisen, die als Quelle neuer Nationalkulturen gedient hatten. Vielen Intellektuellen erschien das Jiddische jedoch als »Jargon«, als Derivat, als vernakularer Dialekt, ohne literarischen Wert. Wenn also nicht das Jiddische die Nationalsprache war, sollte es dann möglich sein, das Hebräische als gesprochene Sprache wiederaufleben zu lassen? Ein solches Vorhaben war im Kontext der europäischen Nationalbestrebungen ohne Beispiel, so, als hätte man eine literarische Hochsprache wie Latein zu einer Alltagssprache machen wollen. Oder war es möglich, eine jüdische Kultur in einer nichtjüdischen Sprache zu konstruieren, sei es nun Russisch, Deutsch oder Englisch? Obgleich für diese Option kaum ein theoretisches Argument sprach, wählten viele jüdische Schriftsteller diesen Weg, als die traditionellen jüdischen Sprachen den Landessprachen des jeweiligen Wohnortes Platz machten. Schließlich ist es angesichts der komplizierten Verbindung von Kosmopolitismus und Nationalismus in der modernen jüdischen Kultur nicht erstaunlich, dass der Erfinder der utopischen Universalsprache Esperanto ein polnisch-jüdischer Philologe namens Ludwig L. Zamenhof (1859–1917) war. 163

Zamenhof war auch der Verfasser eines Werkes über jiddische Linguistik und Mitglied der protozionistischen Chovevej Zion.4 So stritt Zamenhof im Kampf um die jüdischen Sprachen auf allen Seiten und erfand sogar eine eigene Sprache. Stellvertretend steht er daher mehr als die meisten anderen dafür, wie eine säkulare jüdische Kultur jüdische und nichtjüdische Sprachen, Nationalismus und Universalismus zu vereinen vermag. In den vorhergehenden Kapiteln habe ich argumentiert, dass moderne, säkulare Gedanken über Gott, die Tora und das politische Selbstverständnis Israels ihre Analoga im prämodernen jüdischen Denken hatten. In Bezug auf die Kultur verhält sich die Sache aber um einiges komplizierter, will man nachvollziehen, inwiefern säkulare Denker prämodernen Quellen verpflichtet sind. Dem Gedanken, dass »Israel« eher in kulturellen denn in religiösen Begriffen zu definieren sei, haftet etwas besonders Modernes an, weil die Begriffe selbst zur Moderne gehören. Kultur und Religion als separate Kategorien hatten in der traditionellen jüdischen Lebenswelt, wie auch im prä­ modernen Europa allgemein, keine reale Bedeutung. Das modernhebräische Wort für Kultur (tarbut) stammt aus dem Talmud: Von dem größten apostatischen Schriftgelehrten, Elischa ben Abuja, heißt es: jaza le-tarbut ra’a, im Sinne von »artete aus«, »schlug einen üblen Weg ein« (B. Chagiga 15a). Jedoch unterschieden die Rabbinen nicht zwischen den kulturellen Praktiken der Griechen und Römer und ihrer Religion. Das modernhebräische Wort für Religion (dat), das sich im Buch Esther findet, ist ein persisches Lehnwort mit der Bedeutung »königliches Dekret«. Das biblische Hebräisch hat kein eigenes Wort für Religion, und das spätere rabbinische Hebräisch verwendet dat im Sinne von Brauch oder Praxis. Wie der Jiddischist Max Weinreich belegt hat, war die Populärkultur der aschkenasischen Juden von Wendungen durchsetzt, die unmittelbar der rabbinischen Literatur entstammten.5 War diese Kultur nun religiös oder säkular, oder sind diese Begriffe anachronistisch? Die Argumentation zugunsten einer autonomen Sphäre der »Kultur« im Gegensatz zur »Religion« erforderte neue Definitionen dieser Kategorien – Definitionen, die zum Teil der euro­ päischen Kultur entlehnt waren, in der wiederum das Wort »Religion« erst im 17. und 18. Jahrhundert im Sinne von Glaubensbekenntnis einer institutionalisierten Gemeinschaft in Gebrauch kam.6 Gleichzeitig lässt sich jedoch nachweisen, dass es im Laufe der gesamten jüdischen Geschichte eine Kultur gab, welche die Religion einschloss, ohne auf sie beschränkt zu sein.7 Ein gutes Beispiel dafür ist die Rolle des Brauches (minhag), besonders in der aschkenasischen Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Der lokale Brauch nahm praktisch Gesetzeskraft an und konnte eine ebensolche Bedeutung erlangen wie das, was die Rabbiner der 164

Offenbarung am Berg Sinai zuschrieben.8 Ein weiteres Beispiel ist die tägliche Gebetspraxis jüdischer Frauen, die sich oft verselbstständigte, auch wenn sie ihren Ursprung wohl im offenbarten Gesetz hatte. So enthält zum Beispiel der rabbinisch vorgeschriebene tägliche Gebetsablauf den Segensspruch des Mannes, der Gott dafür dankt, dass er ihn nicht zu einer Frau gemacht hat, und den Segensspruch der Frau, mit dem sie Gott dafür dankt, sie »Seinem Willen entsprechend« gemacht zu haben. Zwei speziell für Frauen bestimmte Gebetsbücher der italienischen Renaissance weisen jedoch eine radikale Abwandlung auf: Dort dankt die Betende Gott, »mich zu einer Frau gemacht zu haben und nicht zu einem Mann«.9 Wohl ist der Kontext ein religiöser, aber die nachgerade antinomische emotionale Haltung deutet auf das Bestehen einer von der rabbinischen Religion unabhängigen Frauenkultur hin. So hatte die Neudefinition des Judentums als Kultur ihre Grundlage in der früheren Tradition, und diese Grundlage arbeiteten die Befürworter der neuen Definition in ihren historischen Texten sorgfältig aus und entwickelten sie weiter. Wie auch in den anderen Kapiteln dieses Buches wäre die Frage legitim, ob die Suche nach einer jüdischen Kultur in der Vergangenheit eine Täuschung war, der die Zeitgenossen erlagen, oder ob es sie wirklich gab und es erst der Moderne bedurfte, um sie zu entdecken. Wie dem auch sei, säkulare jüdische Denker fanden selbst dann, wenn sie neue Wege beschritten, Spiegelbilder ihrer selbst in der Vergangenheit. Eine Geschichte dieser neuen säkularen Kultur, die in weit voneinander entfernten Regionen aufblühte  – im Osten und Westen Europas, in Nordund Südamerika, im Osmanischen Reich und im Staat Israel –, würde mehrere Bände umfassen.10 Statt sie zu schreiben, schlage ich vor, einige Theoretiker in Augenschein zu nehmen, welche die zentralen Themen aufwarfen und typische Positionen einnahmen. Zunächst wollen wir uns mit der Schule von Odessa befassen, vertreten durch den »säkularen Rabbi« Achad Ha’am, den hebräischen Nationaldichter Chaim Nachman Bialik sowie den Sozialhistoriker und -aktivisten Simon Dubnow. Sodann werden wir uns zwei »Gegenhistorikern« zuwenden: Micha Josef Berdyczewski und Gershom ­Scholem. Sie waren der Auffassung, dass das historische Judentum – und implizit die moderne jüdische Kultur – von einem dialektischen Verhältnis zwischen Orthodoxie und Häresie, Religion und Säkularismus geprägt sei. Schließlich werden wir uns mit dem vielleicht radikalsten nationalistischen Denker, ­Josef Chaim Brenner, befassen; er verwarf die dialektische Beziehung zwischen religiöser Vergangenheit und säkularer Gegenwart zugunsten einer von der Geschichte losgelösten hebräischen Kultur. Brenners radikale Position ging so weit, die Konversion von Juden zum Christentum zu begrüßen, eine Einstellung, die auch sein Zeitgenosse Chaim Zhitlowsky teilte, der sich für eine 165

säkulare Kultur in jiddischer statt hebräischer Sprache einsetzte. Als sich die säkulare hebräische Kultur in Palästina und später im Staat Israel entfaltete, fand Zhitlowsky das seiner Botschaft gegenüber am meisten aufgeschlossene Publikum unter den osteuropäischen Einwanderern in Amerika. Mit dem Dahinschwinden des Jiddischen in Amerika machten sich mehrere Denker, insbesondere Horace Kallen und Mordecai Kaplan, für eine neue jüdische Kultur in englischer Sprache stark. Mit ihnen soll diese Untersuchung von Geschichte, Sprache und Kultur als neue Kategorien für die Definition der »Israel« genannten Gemeinschaft abgeschlossen werden. Die meisten der genannten Denker wirkten im frühen 20.  Jahrhundert, als diese Fragen am hitzigsten diskutiert wurden und die Dinge am stärksten im Fluss waren. Heute, mit dem Verschwinden der einst blühenden Kulturen in den Diasporasprachen Jiddisch, Ladino und Judäo-Arabisch und der Herausbildung großer säkularer Kulturen auf Hebräisch und Englisch sowie in geringerem Maße in Russisch, Französisch und Spanisch, muten die um die vorletzte Jahrhundertwende geführten Debatten eher kurios und antiquiert an. Auf diese Entwicklung soll im Epilog eingegangen werden. Jedenfalls wurden aus diesem Schmelztiegel heraus jene Wege eingeschlagen, die zur heutigen Realität geführt haben.

Achad Ha’am: Der säkulare Rabbi des Zionismus Odessa war im späten 19. Jahrhundert das Treibhaus, in dem eine säkular-­ jüdische Kultur für die jüdische Nation im russischen Ansiedlungsrayon entstehen konnte.11 Hierher flüchtete sich der Maskil Moses Leib Lilienblum, von dem im ersten Kapitel die Rede war, auf seiner Suche nach einer aufgeklärten Gemeinde. S. Y. Abramowitsch (1835–1917), der »Großvater« der modernen jiddischen Literatur, bekannt unter seinem Pseudonym Mendele Mojcher Sforim, fand in Odessa einen ihm kongenialen Ort, an dem er seine satirischen Erzählungen über die traditionelle jüdische Lebenswelt schreiben konnte. Odessa war es auch, von wo aus Simon Dubnow, der bedeutende Historiker der osteuropäischen Juden, sein bahnbrechendes Werk betrieb, die Sammlung von Artefakten jüdischer Volkskultur. Nach der frischen Luft Odessas dürstete es den hebräischen Dichter Chaim Nachman ­Bialik und den hebräischen Prosaschriftsteller und Polemiker Micha Josef Berdy­czewski. Beide hatten sich von der berühmten Jeschiwa von Woloschin aus auf den Weg in die neue Hafenstadt am Schwarzen Meer gemacht. Und ebendort hielt der säkulare Rabbi der neuen jüdischen Kultur, Achad Ha’am, Hof. 166

Achad Ha’am war der vielleicht bedeutendste Theoretiker der säkularen jüdischen Kultur.12 Obgleich er in dem zum Fin de Siècle tobenden Sprachenstreit als glühender Verteidiger des Hebräischen auftrat, wirkten sich seine Ideen tief greifend auf alle Streitparteien aus, und dies auch auf dem scheinbar von der Kampfarena weit entfernten nordamerikanischen Kontinent. In dem der Rolle der Bibel im säkularen jüdischen Denken gewidmeten Kapitel wurde gezeigt, wie Achad Ha’am den »Nationalgeist« der Juden, der bei ihm für Gott steht, mit der biblischen Ethik gleichsetzte. Unter dem Einfluss der Rabbiner, so Achad Ha’am, sei dieser Nationalgeist im Talmud erstarrt, ein Irrweg, den das deutsche Reformjudentum des 19. Jahrhunderts fortgesetzt habe. Nur eine wiedererweckte Nationalkultur in hebräischer Sprache könne die Juden zur »inneren Sittlichkeit« der Bibel zurückführen. Diese Nationalkultur, wie Achad Ha’am sie sich gedacht hatte, soll im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen. In Anbetracht dessen, dass Achad Ha’am im Russischen Reich lebte und wirkte, mutet es paradox an, dass ihn mehr als die politische Zwangslage der Juden die kulturelle Not des Judentums verstörte. In einer Zeit schwerer ökonomischer und rechtlicher Zwangslagen, denen die Juden ausgesetzt waren und die zu einer massiven Auswanderungswelle führten, war jedoch auch die kulturelle Frage dringlich geworden. In wachsender Zahl schlossen sich junge Juden den russischen revolutionären Bewegungen an und/oder konvertierten zum Christentum. Das Gespenst der Assimilation, das bislang nur in West- und Mitteleuropa umgegangen war, bedrohte nun auch die Juden im Osten des Kontinents. Aus Achad Ha’ams Sicht war daher für die Juden die Frage der kulturellen Zugehörigkeit am dringlichsten, und gegen Herzls politischen Zionismus vertrat er die Ansicht, dass die nationale Bewegung dieses Problem parallel zum Problem der politischen Unterdrückung zu lösen habe.13 Was die religiöse Tradition betraf, war Achad Ha’am ein erklärter Säkularist. In seiner 1891 verfassten Kritik gegen die Assimilationisten und Reformer Westeuropas stellte er fest: »Ich kann jedes beliebige Urteil über die Glaubensanschauungen fällen, die ich von meinen Vätern überkommen habe, ohne zu fürchten, das Band aufzulösen, das mich mit meinem Volke verknüpft, ja, ich kann sogar festhalten an der ›wissenschaft­ lichen Ketzerei, die an den Namen Darwins anknüpft‹, ohne dadurch meine Zugehörigkeit zum Judentum irgendwie zu gefährden [….].«14

Paradoxerweise lasse gerade das Fehlen politischer Freiheit im Osten Europas einen viel größeren Freiraum für Meinungsvielfalt zu als im Westen. Achad Ha’ams Säkularismus wurde jedoch von zwei Aspekten gemildert: Er ersetzte eine religiöse Essenz durch eine nationale, und anders als einige 167

seiner Widersacher suchte er Kontinuitäten zur religiösen Vergangenheit. So bezeichnete er zum Beispiel die chassidische Literatur als »infantil«, zog sie aber der Literatur der Haskala vor.15 Die von den Chassidim und anderen prämodernen jüdischen Strömungen hervorgebrachten Texte waren für ihn ungeachtet ihrer Makel Teil einer nationalen Literatur, woran es der Nachfolgeliteratur des 19. Jahrhunderts seiner Ansicht nach mangelte. Er meinte nicht nur, dass die Juden Knechte der Bibel seien, vielmehr hätte die Moderne eine weitaus schlimmere Knechtschaft mit sich gebracht, eine Knechtschaft in äußerer Freiheit.16 Diese Knechtschaft sei das Ergebnis des fruchtlosen Versuchs, die euro­päische Kultur nachzuäffen, statt einen wahrhaft hebräischen Geist zu pflegen. Da die Religion nun vom Alltagsleben des Volkes getrennt sei, habe sie den Kontakt mit dem nationalen Geist verloren. Dass die prämoderne jüdische Literatur religiös sei, mache nicht ihren Wesensgehalt aus; die Religion sei lediglich ein Werkzeug, um diesen Wesensgehalt auszudrücken.17 Wie Achad Ha’am in einem Brief an den Historiker Israel Abrahams schrieb, sei »Religion selbst nur eine der Formen jüdischer Kultur«.18 Oder in einem Schreiben an den amerikanischen Reformrabbiner Judah Magnes, der ihm seine Bestrebungen hinsichtlich einer Revolutionierung der Synagoge geschildert hatte: »Unsere Religion ist national – das heißt, sie ist ein Produkt unseres nationalen Geistes – aber umgekehrt verhält es sich nicht so […] [M]an kann ein Jude im nationalen Sinne sein, ohne viele Dinge zu akzeptieren, die einen die Religion glauben machen will«.19 Deswegen empfahl er Magnes, aus der Synagoge ein Lehrhaus zu machen, in dem »jüdische Gelehrsamkeit an erster Stelle steht und das Gebet an der zweiten Stelle. Kürzen Sie die Gebete, so viel Sie wollen, aber machen Sie Ihre Synagoge zu einem Hort jüdischen Wissens.«20 Das Lehrhaus (bet ­midrasch) und nicht die Synagoge (bet knesset) sei das historische »Herz des jüdischen Volkes«.21 Er hätte noch anmerken können, dass in der traditionellen aschkenasischen Kultur die Synagoge schul heißt, da das Bethaus üblicherweise auch ein Lehrhaus war. Es überrascht daher nicht, dass Achad Ha’am einer der frühesten und enthusiastischsten Befürworter der Gründung einer säkularen jüdischen Universität in Palästina war. In einem säkularen Zeitalter könne die zuvor religiös verbrämte Essenz des Judentums ihren Ausdruck nur in einer Nationalkultur finden. Die Schaffung einer solchen Nationalkultur könne nur auf Hebräisch gelingen, da »die Literatur eines Volkes jene ist, die in seiner nationalen Sprache geschrieben ist«.22 Aus diesem Grund meinte er überraschenderweise, in den Vereinigten Staaten oder in der Schweiz könne es keine Nationalkultur geben, da diese Länder keine eigene Nationalsprache hätten. Schreibe man hingegen, wie zu seiner Zeit bereits zunehmend üblich, über die Juden in einer 168

europäischen Sprache, schaffe man ein »literarisches Ghetto« (vermutlich, weil wenige Juden eine solche Literatur lesen konnten). Mithin bestehe paradoxerweise der Weg aus dem kulturellen Ghetto darin, in hebräischer Sprache zu schreiben, die, obschon nur von einer gebildeten Elite beherrscht, den Rang einer Nationalsprache einnehme. Als Alternative hierzu bot sich das Jiddische an. (Wie die meisten seiner Zeitgenossen bezog sich Achad Ha’am nicht auf die anderen jüdischen Sprachen, wie Ladino oder Judäo-Arabisch, da die Mehrzahl der Juden um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert noch Jiddisch sprach.) Hier gab es eine Sprache, die, wie wir im Zusammenhang mit Chaim Zhitlowsky noch sehen werden, ebenfalls den Anspruch erheben konnte, eine Nationalsprache zu sein. In seinem Kampf gegen das Jiddische stellte Achad Ha’am eine Paradoxie fest: »So lange Jiddisch wirklich die Umgangssprache aller osteuro­ päischen Juden war […] wäre niemand auf den Gedanken gekommen, dass Jiddisch unsere Nationalsprache sei.«23 Erst mit dem Rückgang des Jiddischen (eine zu jenem Zeitpunkt unrichtige, letztlich jedoch prophetische Feststellung) hätten es seine Verteidiger dem Hebräischen gleichgestellt oder es gar als höherrangig hingestellt. Für Achad Ha’am brachte Jiddisch, obgleich Umgangssprache der osteuropäischen Juden, nicht deren tiefste Sehnsüchte und Gefühle zum Ausdruck. Sogar jene Frauen, für die eigens eine Literatur auf Jiddisch geschrieben wurde, da sie nicht Hebräisch lesen konnten, hätten erkannt, dass »die Ersatzsprache nur eine Annehmlichkeit, doch nicht Gegenstand einer besonderen Zuneigung war«.24 Mit diesem Argument zugunsten einer Literatursprache, welche die meisten Juden kaum verstanden, auch wenn sie sie lesen konnten, war Achad Ha’am ein Kind der ansonsten von ihm kritisierten hebräischen Haskala. Und er setzte sich für einen Sprachnationalismus ein, der in Europa ohne Parallele war. Achad Ha’ams Vision einer säkularen, auf dem Hebräischen basierenden jüdischen Kultur war daher höchst utopisch und unverhüllt elitär. Seltsam ist auch, dass in diesen nationalsprachlichen Debatten die nicht aschkenasischen Juden von den Befürwortern des Hebräischen wie Achad Ha’am kaum erwähnt wurden; sicherlich war doch eines der stärksten Argumente zugunsten des Hebräischen, das spätere Zionisten vorbrachten, als sie die orientalischen Juden »entdeckten«, dass nur die alte Sprache der Juden imstande sei, ein sprachlich zersplittertes Volk zu einen. Achad Ha’ams Plädoyer für das Hebräische wies eine weitere paradoxe Dimension auf. Das Jiddische sei eine aus hebräischen und europäischen Elementen bestehende »Schmelzsprache«, das Hebräische aber sei als semitische Sprache den europäischen Juden völlig fremd. Und doch, so behauptete er, könne eine säkulare jüdische Kultur nur auf Hebräisch ein gesundes 169

Verhältnis zur europäischen Kultur entwickeln. Nur die am wenigsten europäisch klingende Sprache sei einerseits am offensten für die Ideen der Hegemonialkultur, die aufzugreifen es sich lohne, und laufe andererseits am wenigsten Gefahr, sich an diese Kultur zu assimilieren. Diese Behauptung leitete sich aus einer historisch untermauerten These ab, die Achad Ha’am in der bedeutenden frühen Abhandlung Nachahmung und Assimilation (1893) aufgestellt hatte.25 Die gesamte Geschichte hindurch, stellte er fest, hätten die Juden es in höchstem Maße verstanden, die Kulturen ihrer Umwelt nachzuahmen. Statt sich aber an diese Kulturen zu assimilieren, hätten die neuen, nachgeahmten Ideen gewissermaßen mit den fremden Kulturen konkurriert, sodass die Nachahmung dann zu einem Bestandteil der nationalen jüdischen Kultur geworden sei. Die Offenheit nach außen sei ein unabdingbarer Faktor des Überlebens und des Schöpfergeistes, da ohne sie die Nation verkümmert wäre. Fehle es an einer solchen Nachahmung, könne dies, so paradox das zu sein scheine, zu Assimilierung führen. So sinnierte Achad Ha’am, was wohl geschehen wäre, hätte man Platon ins Hebräische übersetzt. Der griechische Philosoph wäre damit Teil der hebräischen Kultur geworden, und vielleicht wäre es im 2. Jahrhundert v. d. Z. nicht zur Hellenisierungsbewegung und in der Folge nicht zu dem gegen sie gerichteten Aufstand der Makkabäer gekommen. Nachahmung der Griechen hätte weniger Assimilierung und weniger Konflikt bedeutet. Die zeitgenössische hebräische Kultur müsse daher tun, was sie in der Ära des Zweiten Tempels zu tun versäumt habe: die europäische Kultur in ein jüdisches Idiom übertragen. Nur das Hebräische sei imstande nachzuahmen, ohne zu assimilieren. In einer anderen Abhandlung demonstrierte Achad Ha’am erstaunlicherweise gerade anhand der Person Salomon Maimons, was ihm vorschwebte.26 Ebenso wie Maimon als Erwachsener europäische Sprachen und Kenntnisse in Philosophie erworben habe, so brauchten die Juden bei der Beschäftigung mit der modernen Kultur nicht wie kleine Kinder von vorn zu beginnen. Im Gegenteil, als altes Volk könnten sie auf dem Fundament ihrer Vergangenheit eine fruchtbare Synthese zwischen ihrer Kultur und der Kultur der modernen Welt schaffen. Wiederum sei das aber nur auf Hebräisch zu bewerkstelligen, denn nur in dieser Sprache seien die Juden nicht wie Schulkinder. Natürlich ist Maimon, weil er der jüdischen Welt den Rücken gekehrt hatte, hier ein seltsames Beispiel, doch vielleicht betrachtete Achad Ha’am ihn als hebräischen Säkularisten, der seiner Zeit voraus war. Wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, hatte Maimon die hebräische Denktradition in seine deutsche Philosophie übertragen (und vice versa), was genau Achad Ha’ams Absicht entsprach. Hätte es im 18. Jahrhundert eine Nationalkultur 170

gegeben, so hätte Maimon seine Heimat vielleicht darin gefunden statt im Exil. Als weiteres Beispiel aus der Geistesgeschichte diente Achad Ha’am Maimons Namensvetter Moses Maimonides. Ganz im Sinne der kulthaften Verehrung Maimonides’ als eines modernen Philosophen avant la lettre würdigte er ihn anlässlich seines 800.  Todestages mit einem Essay, in dem er die »Befreiung des Verstandes von seiner Unterordnung unter eine äußere Autorität« als Maimonides’ »große und nachhaltige Leistung« bezeichnete.27 Hier wird Maimonides zum Vorboten einer säkularen Ratio statt einer blinden Religiosität. Gegen alle, die das Judentum als sicher betrachteten, weil es über der Vernunft stehe, »kam Maimonides und sagte: ›Das Judentum ist sicher, weil es die Vernunft ist.‹«28 Seiner Philosophie treu, fand Achad Ha’am in Maimonides insofern seinen Vorläufer, als er das »Nationalgefühl« über Gott stellte und die Religion zu einem Instrument der Erziehung reduzierte. In erster Linie zum Moralphilosophen geworden, ließ Maimonides damit Achad Ha’ams Philosophie des Judentums vorausahnen. Die Assimilationsdebatte, an der Achad Ha’am sich beteiligte, drehte sich um die Frage, ob die Juden im Angesicht der modernen Kultur als einzelnes Volk weiterbestehen könnten. Wenn das Leben in der Diaspora zur Aufgabe der jüdischen Kultur führe, so der extreme zionistische Standpunkt, dann könne eine gesunde Kultur einzig und allein auf einem jüdischen Nationalterritorium erblühen. Als Antwort darauf schlug Achad Ha’am einen dritten Weg vor: den Weg der Schaffung eines geistigen Zentrums in Palästina, dessen erneuerte nationale Kultur auch die Diaspora erneuern werde. Zum Teil  spiegelte dieser Kompromissgedanke seine Skepsis darüber wider, ob die Mehrheit der Juden in das Land Israel auswandern werde; eine Diaspora werde es notgedrungen immer geben. Gleichzeitig aber deutete diese Position an, dass Land für Kultur durchaus abdingbar sei. Der Bedeutung einer ökonomischen und sozialen Infrastruktur als Basis für ein solches geistiges Zentrum war er sich wohlbewusst. Sobald aber eine solche – wenn auch zunächst minimale – Infrastruktur gegeben sei, könne das Zentrum sich entfalten und auf die Diaspora befruchtend einwirken. In dem historischen Moment, in dem Achad Ha’am diese Thesen vorbrachte, war seine Position nicht völlig utopisch, denn das Gros der Juden lebte im Osten Europas und die traditionelle Erziehung stellte die Leserschaft für eine hebräische Literatur. In der Zwischenkriegszeit, als der Zionismus in Polen säkulare Bildung in hebräischer Sprache förderte, konsumierten die polnischen Juden begierig die im Jischuw, der zionistischen Gemeinschaft in Palästina, geschaffene Kultur. Nach der Schoah aber war diese Leserschaft weitgehend verschwunden, ermordet in der Diaspora, von der Achad Ha’am 171

erwartet hatte, dass sie das Reservoir der säkularen hebräischen Kultur bleiben würde. Was für eine Ironie, dass die Blütezeit von Achad Ha’ams »Kulturzionismus« vor der Erringung des jüdischen Staates lag und nicht danach.

Chaim Nachman Bialik: Der Dichter als modernistische Muse Der größte »Chassid« des säkularen »Rebbe« Achad Ha’am war wohl Chaim Nachman Bialik, der Dichter der nationalen Wiedergeburt hebräischer Kultur. Bialik sollte dies später folgendermaßen zum Ausdruck bringen: »Jedes Wort aus Achad Ha’ams Feder schien an mich und meine innersten Gedanken gerichtet.«29 Als Bialik 1891 aus der Jeschiwa von Woloschin in die moderne jüdische Stadt Odessa geflohen war, geriet er in den Bannkreis von Achad Ha’am und der sich um ihn scharenden säkularen Intellektuellen. Auf seiner Suche nach einer Brücke zwischen Moderne und Tradition sollte er in Achad Ha’ams Philosophie ein überzeugendes Programm finden. Doch war Bialiks literarische Empfindsamkeit viel experimenteller und modernistischer als die seines Mentors, und sein Verhältnis zur religiösen Überliefung war feindseliger und verstrickter zugleich. Wie wir schon feststellen konnten, fand Bialiks poetisches Ringen um die Sprache ihren Ausdruck in einer Art von Existenzialismus, einer Entleerung der biblischen Theologie von ihrem positiven Inhalt. Und doch artikulierte Bialik seine extreme, ja atheistische Position in der Sprache der religiösen Überlieferung, die er vielleicht besser beherrschte als jeder andere moderne hebräische Schriftsteller. Während Achad Ha’am einen neuen hebräischen Prosastil mit nur flüchtigen Bezügen zu traditionellen Wendungen einführte, schürfte Bialik in allen Ebenen der Sprache, um ein persönliches Vokabular und eine persönliche Syntax zu kreieren, die nur wenige nachzuahmen wussten. Bialiks Beziehung zu Achad Ha’am war daher, wie nicht anders zu erwarten, kompliziert. Bei aller Verehrung für den Älteren unterschied sich seine Auffassung von der neuen Kultur zuweilen völlig von der Achad Ha’ams. Dessen Elitismus schien Bialik fehl am Platz zu sein. Statt einer auf einen kleinen Kreis von Gelehrten und Schriftstellern beschränkten sprachlichen Erneuerung schwebte Bialik etwas viel Umfassenderes vor. So übte er in dem 1905 verfassten Essay Geburtswehen der Sprache30 scharfe Kritik an Achad Ha’ams These, die kulturelle Renaissance werde vornehmlich in der Schriftsprache stattfinden. Zum Ausdruck alltäglicher Emotionen, meinte Achad Ha’am, könne man mameloschen, also Jiddisch verwenden, wenn man jedoch vom 172

»Judentum« (für Achad Ha’am offensichtlich mehr als nur die religiöse Tradition) spreche, müsse man sich des Hebräischen bedienen, der einzigen Sprache, die als Resonanzboden der Überlieferung dienen könne. Diese scharfe Dichotomie zwischen der gesprochenen Sprache der Emotionen und der geschriebenen Sprache des Verstandes war Bialiks Empfindsamkeit fremd. Er mag der Nationaldichter der hebräischen Renaissance gewesen sein, aber er äußerte sich niemals abfällig über das Jiddische und schrieb tatsächlich einige wichtige Werke in dieser seiner Muttersprache.31 Bialiks hauptsächliche Kritik an Achad Ha’am gründete jedoch auf seiner anderen Sprachtheorie, die wir aus Offenbarung und Verhüllung in der Sprache kennen. Für Bialik ist die Sprache etwas Lebendiges, sie wächst durch Absorption und Transformation von Wörtern. Nur die gesprochene Sprache habe diese Macht: »Das Vorhandensein sprachlichen Besitzes allein, selbst wenn er sehr groß ist, genügt nicht, sondern ein solcher Besitz verpflichtet zu ständiger Umwendung, verlangt unaufhörliche Bewegung und beständiges Kreisen im Leben […]. Groß ist die Kraft der lebendigen Rede […]. Die Scheidewand zwischen unserer Seele und unserer Sprache völlig niederzureißen, mit einem Male allen Geburtswehen der Sprache ein Ende zu bereiten, vermag nur ihr restloses Aufleben, ein Aufleben in Rede und Schrift.«32

Anders gesagt: Nur die Interaktion zwischen dem Gesprochenen und dem Geschriebenen kann eine lebendige Sprache entstehen lassen, denn nur eine gesprochene Sprache ist wahrhaftig kreativ. Diese Kreativität liegt darin, dass sprachliche Konventionen gebrochen, die Grammatikregeln unterlaufen und so neue Worte und Formen hervorgebracht werden. In der Tat weist Bialiks eigenes Œuvre eine Fülle von Neologismen auf, die er geprägt hat. Eine Sprache auf die »vier Ellen der Schrift« zu beschränken heißt, über sie »ewiges Begrabensein« zu verhängen.33 Hier wird religiöse Sprache auf­ listige Weise für säkulare Zwecke in Dienst genommen. »Vier Ellen« ist im jüdischen Religionsgesetz, der Halacha, eine gebräuchliche Maßeinheit. Eine Sprache in diese Struktur einzumauern bedeutet, sie zu demselben Tod zu verdammen, wie ihn die jüdische Kultur durch die Religion erlitten hat. Nur die subversive Macht einer gesprochenen Sprache, wie die antinomische Macht des Säkularismus, kann diese Kultur aus ihrem Grab befreien. Hier betrachtet Bialik die Entwicklung positiv, die Gershom Scholem, wie es sein im ersten Kapitel besprochener Brief an Franz Rosenzweig dokumentiert, so in Angst und Schrecken versetzt hatte. Bialik fürchtet die Säkularisierung der religiösen Sprache nicht. Wer mit der Sprache schöpferisch umgeht, »erhebt sich […] über die Sprache, wird ihr Herr und König, macht sie seinem Willen untertan«.34 Zudem ist die173

ser schöpferische Prozess zwangsläufig subversiv: »Selbst seine [des Sprachschöpfers] Sünden werden mitunter Gesetz oder Pflicht«. Bialik spielt hier wohl auf die auf das 17. Jahrhundert zurückgehende sabbatianische Lehre vom »Gebot, das durch Überschreiten erfüllt wird« (mizwa ha-ba’a ba-avera) an. Gesetz und Sprache zu zertrümmern ist Teil desselben revolutionären Prozesses, der eine neue Kultur aufsteigen lässt. Damit haben wir uns von Achad Ha’ams evolutionärer Philosophie sehr weit entfernt und sind in mancherlei Hinsicht dem Antinomismus Friedrich Nietzsches nähergekommen. Bialik behauptet, dass es eines »heiligen Geistes« bedürfe, damit dieser revolutionäre Prozess stattfinden könne. Doch meint er damit keineswegs Gott, wie diese traditionelle Bezeichnung anzudeuten scheint, sondern den Geist, der dem schöpferischen Menschen innewohne. Ein Wortspiel auf­ Bialiks Namen öffnet den Horizont: Es ist der »Gott in einem selbst« (bi-el: »Gott ist in mir«). Ein Jahrzehnt vor dem in Offenbarung und Verhüllung in der Sprache manifesten Pessimismus spricht Bialik hier zuversichtlich von der göttlichen Macht hinter der dichterischen Kreativität. Doch während ihn in Geburtswehen der Sprache die individuellen Quellen der Dichtung beschäftigt haben mögen, ging es ihm ebenso darum, wie eine Nation kollektiv ihre Sprache erneuern könne. Auch hier sei ein »heiliger Geist« am Werk, und in der Tat könne eine gesprochene Sprache nur gemeinschaftlich, im Austausch zwischen den Sprechenden, erneuert werden. Trotz seiner revolutionären Äußerungen in diesem wichtigen Essay offenbart Bialik auch einen gewissen Konservatismus. Im Gegensatz zu Achad Ha’am mit seiner These von der kulturellen Nachahmung ist Bialik der Ansicht, dass eine Sprache aus sich heraus wachsen müsse: Übertragung von einer Sprache in die andere ist »1/60 Teil des Todes« (auch hier bedient er sich wieder einer rabbinischen Wendung für einen säkularen Zweck). Obgleich von der Lektüre russischer Lyrik stark beeinflusst, vertritt er die Position, dass eine gesprochene Sprache über ihre eigenen Kreativitätsressourcen verfüge. Er gibt auch zu, dass seine eigene Methode auf jener Tradition beruht, die er verwirft, da, wie er es ausdrückt, zuweilen das neue Kombinieren alter Wörter von größerer schöpferischer Kraft sei als das Erfinden neuer. Wir erkennen mithin bei Bialik ein außerordentliches, dialektisches Verhältnis zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen der Schatzkammer der Vergangenheit und dem antinomischen Drang, sie in Schutt und Asche zu legen. In den Jahren 1908 bis 1911 betrieb Bialik unter Mitarbeit von Y. H. Rawnitski das außergewöhnliche Projekt, ebendiese Schatzkammer zu einer Nationalbibliothek umzugestalten. Das Sefer ha-Aggada enthält eine thematisch geordnete Auswahl von Legenden aus rabbinischen Quellen. In seinem einleitenden Essay beschreibt Bialik die Aggada in säkularen Begriffen als 174

die Verkörperung des kollektiven literarischen Geistes der Nation.35 Von vielen Händen über viele Jahrhunderte geformt, bedürfe dieses gewaltige Literaturkorpus im Zeitalter der nationalen Wiedergeburt der Synthese. Anders gesagt, mit der chronologischen und thematischen Organisation des Materials werde nicht nur Ordnung geschaffen, sondern auch etwas effektiv Neues hervorgebracht. In dieser Hinsicht erscheint Bialiks und Rawnitzis Vorhaben wie eine säkulare Version von Maimonides’ großem jüdischen Gesetzeskodex Mischne Tora. Wie ihr Vorläufer im 12.  Jahrhundert trafen die beiden signifikante Entscheidungen darüber, was aufzunehmen und was wegzulassen sei, und schufen damit etwas, das größer ist als die Summe der Einzelteile. Ebenso wie Maimonides glaubte, seine Generation sei vom Talmud zu weit entfernt, um dessen Gedankengänge ohne Vermittlung herauszufiltern, so entsprang das Sefer ha-Aggada einem Gefühl moderner Entfremdung von den Quellen der Tradition, die es nunmehr in eine zugängliche Form zu bringen galt. Dass Bialik sich selbst als der Maimonides des 20. Jahrhunderts betrachtet haben mag, wird durch eines seiner letzten großen Projekte bekräftigt, einen Kommentar über die erste Ordnung der Mischna. Mit einem solchen hatte auch der große Philosoph seinen Weg als Rechtskommentator begonnen. Wie­ Bialik in seinem einführenden Essay explizit zum Ausdruck bringt, hatten er und Rawnitski, anders als Maimonides, das Material nicht umgeschrieben. Diese Feststellung bezieht sich wohl auf Louis Ginzberg, der, wie man weiß, die Legenden in seiner eigenen Sprache neu formulierte.36 So erscheint das Sefer ha-Aggada einerseits als ein durch und durch der Tradition verhafteter Text, vergleichbar vielleicht mit der im 13. Jahrhundert entstandenen, der biblischen Reihenfolge entsprechend angeordneten Aggadot-Sammlung Jalkut Schimoni. Die Absicht des Sefer ha-Aggada war jedoch alles andere als traditionell. Die Sammlung war vielmehr darauf angelegt, eine auf historischen Texten basierende Nationalliteratur zu schaffen – nicht, weil diese Texte als göttlichen Ursprungs galten, sondern im Gegenteil als Beweis für die Kreativität der Nation. In dem Jahrzehnt nach dem Erscheinen des Essays Geburtswehen der Sprache und des Sefer ha-Aggada begann Bialik einige seiner früheren Auffassungen zu überdenken. Wenn er im Sefer ha-Aggada die Aggada als den literarischen Geist der Nation angesehen hatte, der sich von der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, trennen ließ, gelangte er nun zu dem Schluss, dass eine solche Trennung gar nicht so leicht möglich sei. In der Abhandlung­ Halacha und Aggada (1917) formulierte er das Verhältnis der beiden Genres neu, und dies in Kategorien, die auch im zeitgenössischen kulturellen Kontext einen Resonanzboden hatten.37 Er beginnt mit einer Antithese, die an 175

seine frühere Position erinnert: Die Halacha habe ein »grämliches« Antlitz, die Aggada ein »lachendes«. Und doch seien beide gleich wertvoll: »Diese und jene sind Worte der Schöpfung.«38 Auch hier spielt Bialik mit einem rabbinischen Spruch: »Diese und jene sind Worte des lebendigen Gottes«.39 Im Talmud besagt dieser, dass die einander widersprechenden zeitgenössischen Lehren der Schule Hillels und der Schule Schamais in der göttlichen Offenbarung gründen. Bialik jedoch schreibt die widersprüchlichen Positionen der Halacha und der Aggada nicht Gott, sondern der menschlichen Schöpfung zu. Obgleich offenkundig polare Gegensätze, sind Halacha und Aggada miteinander verbunden. Bialik belegt dies mit mehreren Beispielen. Im ersten stellt er überraschenderweise fest, die christlichen Kathedralen ähnelten in ihrer materiellen Struktur der Halacha. Der Geist jedoch, der die Kathedrale belebe, sie zu einer Stätte des Geistes mache, sei wie die Aggada. Während die Christen ihre »Halacha« aus Steinen bauten, hätten die Juden die ihrige aus Worten errichtet. In beiden Fällen jedoch gebe es hinter dem scheinbar Statischen einen schöpferischen Geist. Im jüdischen Kontext seien alle feinen gesetzlichen Unterscheidungen in Bezug auf den Schabbat von der Aggada beseelt – für Bialik »ein Tag, der ganz Aggada ist« (eine Abwandlung der liturgischen Wendung »ein Tag, der ganz Schabbat ist«). Anders gesagt: Die Strenge des Gesetzes erwachse unmittelbar aus dem schöpferischen Geist der Aggada. Weit davon entfernt, nur dogmatische Gebote festzuschreiben, seien sowohl Halacha wie auch Aggada Ausdruck der Dispute und Widerreden in der jüdischen Kultur. Bialik führt dazu ein für seine Zeit ausgesprochen relevantes Beispiel an: die Sprachenfrage. In der Mischna werde erörtert, ob es gestattet sei, am Schabbat eine in eine fremde Sprache übersetzte Torarolle aus dem Feuer zu retten. Die diesbezüglich einander widersprechenden Rechtsstandpunkte fänden ihren Ausdruck auch in der Aggada. Zum einen: »Gott sprach zu Israel in einer Sprache, die es verstehen konnte – Ägyptisch.« Zum anderen: »Sprich zu den Kindern Israels in meiner Sprache – Hebräisch.« Sowohl die Halacha als auch die Aggada spiegelten die Sprachkonflikte wider, die sich von der Antike bis in die Moderne zögen. Auffällig ist, dass B ­ ialik zu diesem Konflikt nicht eine eigene Position bezieht, sondern ihn nutzt, um den Disputationscharakter von Gesetz und Legende zu demonstrieren. Er vermittelt den Eindruck, dass es gerade das Fehlen einer klaren Schlussfolgerung aus diesen Kontroversen sei, die der Kreativität Raum gebe. Die jüdische Kultur sei eine Kultur der Widerreden und nicht des dogmatischen Gesetzes oder der Theologie. Der Grund für diese Annäherung an die Halacha wird gegen Ende des Essays deutlich. Die Gegenwart, sagt Bialik, sei »ganz und gar Aggada«.40 Die 176

Halacha in ihrer tieferen Bedeutung hingegen sei verloren gegangen. Literatur werde nur nach den ästhetischen Kriterien von Schönheit und Liebe konsumiert: »Liebe zum Land, Liebe zur Sprache, Liebe zur Literatur. Was kostet eine ätherische Liebe?«41 Wo ist die Pflicht (chova), die mit dieser Liebe (chibba)  einherzugehen habe? Für Liebe benutzt er hier das Wort chibba, mit dem auch die ersten Zionisten ihre Bewegung als Chibbat Zion (Zionsliebe) bezeichnet hatten. Von der historischen Differenzierung zwischen dem Genre der Halacha und dem der Aggada hat sich nunmehr der Fokus des Essays auf die Frage nach der kulturellen Bedeutung der Literatur verlagert. Wenn die neue hebräische Literatur etwas Konkretes in die Welt setzen wolle, müsse sie mehr tun als sich nur mit abstrakter Ästhetik zu befassen. Sie müsse eine neue Halacha begründen. Dieses neue Gesetz sei alles andere als religiös, es stelle die neue Nationalkultur dar. Und aus Bialiks Schilderung der halachischen wie aggadischen Überlieferung lässt sich schließen, dass die neue säkulare Kultur in all ihren Ausformungen von demselben Geist der Disputation und der Kontroverse beseelt sein müsse. Dieser Aspekt ebenso wie Bialiks Ausschöpfung der traditionellen Ressourcen für moderne Zielsetzungen verbindet die religiöse Vergangenheit mit der säkularen Gegenwart.

Simon Dubnow: Der Sammler als Historiker Bialik und Rawnitzkis Sammelwerk (auf Hebräisch als kinuss bezeichnet) scheint der Atmosphäre Odessas geschuldet zu sein. Bereits mehr als ein Jahrzehnt vorher hatte der russisch-jüdische Historiker Simon Dubnow (1860–1941) ein umfassendes Projekt angestoßen, für das er sich der Mithilfe ehrenamtlicher »Sammler« versicherte, die ihm aus den entferntesten Winkeln des Ansiedlungsrayons lokale Artefakte und Texte übersenden sollten. Dubnow stand mit seinem Projekt nicht allein. So hatte etwa der jiddische Schriftsteller und Sozialrevolutionär S. Ansky 1912 eine Expedition zur Erfassung der volkstümlichen Gebräuche der russischen Juden geleitet. Diese Bemühungen waren untrennbar verknüpft mit dem Gefühl, dass zum einen die traditionelle jüdische Lebenswelt im Verschwinden begriffen sei, zum anderen, dass die Schaffung einer Nationalkultur das Zusammentragen der Volksweisheiten erfordere, wie es für die meisten europäischen Nationalbewegungen, in Deutschland vertreten durch die Brüder Grimm, typisch war. Paradoxerweise beschrieben manche Intellektuellen das Volk bisweilen als Quelle des Säkularismus, verstanden sie doch die Volkskultur als Antithese zur rabbinischen Kultur. 177

Über diese Quellen der Sozialgeschichte hinaus konzentrierte sich Dubnow auch auf die Dokumente der jüdischen Selbstverwaltung, wie die Protokollbücher der Räte (wa’adot) von Polen und Litauen. Dieses Interesse an der politischen Geschichte erwuchs seinem Engagement für den »Autonomismus«, eine Strömung, die, beeinflusst von den slawophilen Ideen Wladimir­ Solowiews, denen zufolge die Seele einer Nation keine Bindung an ein Territorium benötige, als politische Alternative zum Zionismus im östlichen Europa eine jüdische Autonomie zu etablieren suchte.42 Dubnow war daher daran gelegen zu zeigen, dass die Juden nicht nur im Land Israel, sondern auch in verschiedenen Teilen der Diaspora Formen politischer Autonomie ausgeübt hätten. Dubnows Weltgeschichte der Juden zeichnet nach, wie sich diese Zentren der Autonomie in verschiedenen Perioden der jüdischen Geschichte von Ort zu Ort verlagert hatten. Die Idee zu einer Weltgeschichte war auch eine subtile Antwort auf den Status der Juden im imperialen Russland, in dessen westlichen Grenzregionen sie eine nationale Minderheit darstellten. Wie auch die Stimmen anderer Historiker von Minoritäten im – von Lenin als das »größte Gefängnis der Nationen« bezeichneten – Russischen Reich war die von Dubnow eine Stimme am Rand, die jedoch nachdrücklich darauf beharrte, dass seine Nation mit ihrer »Weltgeschichte« alles andere als randständig sei.43 In der Einleitung zu seiner Weltgeschichte des jüdischen Volkes (1925–1929) rief Dubnow zu einer neuen Art von Geschichte auf, die Heines Zustimmung gefunden hätte: »Den Gegenstand der Untersuchung bildet nicht eine Abs­ traktion, sondern ein lebendiger Organismus, der sich aus einem ursprünglichen biologischen Keim, dem ›Stamme‹, zu einem komplizierten kulturgeschichtlichen Ganzen, zur Nation, entwickelt hat.«44 Dem organischen und biologistischen Vokabular des deutschen und russischen Nationalismus im späten 19.  und frühen 20.  Jahrhundert folgend, konstatierte Dubnow, dass die Juden wie ein Organismus seien, der, zunächst eine »amorphe Volkszelle«, sich durch seine Ansiedlung in verschiedenen Umgebungen ausdifferenziere. Die Nation folge in ihrer Entwicklung den Naturgesetzen, bis sie letztendlich – zu Dubnows Zeit – zu einem komplizierten kulturellen Gebilde herangereift sei. Angesichts dieses Ansatzes überrascht es nicht, dass Dubnow die Religion diesen sozialen und politischen Tendenzen unterordnet: »Der Judaismus formt sich nach dem Ebenbilde der sozialen Existenzbedingungen der Nation, nicht aber umgekehrt.«45 Obgleich keineswegs ein Marxist, wollte Dubnow in der Religion ein Produkt der Sozialgeschichte und nicht deren Ursache sehen. Doch dieses neue säkulare Herangehen an die jüdische Geschichte sei selbst ein Produkt gesellschaftlicher Bedingungen, nämlich der Säkularisierung der jüdischen Lebenswelten in der Neuzeit. Mit der um sich 178

greifenden Selbstdefinition der Juden nicht nur als religiöse Gemeinschaft, sondern mehr noch als Nation, habe sich auch die Geschichtsschreibung stärker säkularisiert: »Der Säkularisierung der jüdischen nationalen Idee mußte auch eine Säkularisierung der Geschichtsschreibung folgen, ihre Befreiung zunächst von den Fesseln der Theologie und sodann auch von denjenigen des Spiritualismus oder der Scholastik. […] Diese [soziologische] Auffassung weist unserer Geschichtsschreibung den Weg aus dem Labyrinth der theologischen und metaphysischen Theorien und stellt sie auf eine feste bio-soziologische Grundlage.«46

So schuf die Säkularisierung der jüdischen Geschichtsschreibung die Möglichkeit für eine weitaus breitere und mehr auf Inklusion angelegte Sicht der Vergangenheit, die wiederum mit einer säkulareren Zukunft verbunden war.

Geschichte und Gegengeschichte Dubnow und Bialik suchten in der Stimme des Volkes und in der nationalliterarischen Tradition ein Gegenmittel gegen die theologische Ausrichtung der Geschichtswissenschaft des 19.  Jahrhunderts. Ein anderes Mittel mit ähnlicher Zielrichtung ist das, was als »Gegengeschichte« bezeichnet werden kann.47 Damit meine ich die These, dass sich die vitalen Kräfte der jüdischen Geschichte an den Rändern finden lassen – in den unterschwelligen, kaum beachteten oder gar verachteten Traditionen, die noch weiter vom Zentrum entfernt sind als die Vox populi. Einen ihrer Vertreter mag die wahre Geschichte der Juden vielleicht unter den Häretikern und nicht unter den Orthodoxen finden. Charakteristisch für die Gegengeschichte ist zudem ihr Widerstand gegen die Tendenz, die Geschichte auf eine einzige dogmatische Essenz reduzieren zu wollen. Zwar mögen die vitalen Kräfte an den Rändern zu finden sein, ihre Lebenskraft indes entspringt einem dynamischen Konflikt mit der etablierten bürgerlichen Gesellschaft oder den offiziellen Traditionen. Pluralität statt Singularität ist ihr Kennzeichen. Gegengeschichte hat einen stark säkularen Beigeschmack, beharrt sie doch darauf, dass die Geschichte der religiösen Autoritäten nicht die »ganze Story« erzählt. Während die häretische Ablehnung von Autorität in der Prämoderne typischerweise selbst religiös bestimmt war, deuten die Vertreter der Gegengeschichte an oder bringen gar explizit zum Ausdruck, dass diese Strömungen den modernen Säkularismus angekündigt, wenn nicht auf dialektische Weise hervorgerufen hätten. 179

Wir sind bereits Micha Josef Berdyczewskis Gegengeschichte der Bibel begegnet, in der die Traditionen vom Berg Sinai mit der Gegentradition von Garizim konkurrieren. Eine Natur und Kraft feiernde Kultur habe mit einer Religion der Ethik und des Gesetzes gerungen und sei ihr letztendlich unterlegen. So gesehen sei die jüdische Geschichte die Chronik dieses Kampfes des »Judentums« gegen »die Juden«. Es gebe daher keine alleinige »Essenz« des Judentums, sondern vielmehr einen ständigen Konflikt zwischen verschiedenen Kräften: »Den Hebräern ist nicht eine einzige Literatur zu eigen, die eines Geistes und eines Anführers ist, vielmehr verfügen wir über eine Vielzahl unterschiedlicher Teile von Literatur […]. Auch ist das hebräische Volk nicht ein einziges und einzigartiges Volk, eins an Geist und Seele, sondern in ihm reiben sich verschiedene Stammeskräfte mit verschiedenen Temperamenten aneinander.«48

Berdyczewski empörte sich gegen die Geschichte, der er vorwarf, die Lebenskraft der Nation zu ersticken, und in diesem Punkt führte er einen erbitterten Kampf gegen Achad Ha’am als moderateren Vertreter der älteren Generation hebräischer Nationalisten. Bei allem nietzscheanischen Anarchismus ließ Berdyczewski indes auch gelten, dass diese Revolte gegen die Geschichte und die religiöse Überlieferung ein Paradox in sich barg: »Wenn wir die Vergangenheit besiegen, sind wir selbst besiegt. Und wenn uns die Vergangenheit besiegt, sind wir und unsere Kindeskinder besiegt. Ein Lebens- und Todestrank zugleich.«49 Die Geschichte ist es, die uns ausmacht und uns unsere Existenz gibt, uns zugleich aber auch unserer Lebenskraft beraubt. Der Ausweg aus diesem Dilemma war für Berdyczewski die Gegengeschichte, die Suche nach vitalistischen historischen Kräften, die sich der Hegemonie des den Geist lähmenden Gesetzes widersetzt hatte. Die Traditionen von Garizim reichten, so seine Darstellung, über die Bibel hinaus bis in die spätere rabbinische Literatur, die sie nie völlig unterdrücken konnte. Schwert und Buch, zusammengebunden vom Himmel herabgekommen, hätten alle Jahrhunderte der jüdischen Geschichte hindurch im Widerstreit gestanden. »Die Kinder Israels neigten im Allgemeinen dazu, ›Böses zu tun‹, das heißt gleich allen anderen Nationen zu leben. Der Kampf zwischen dem Profanen und dem Sakralen, zwischen dem materiellen und dem geistigen Leben, tobte während der gesamten Dauer der geistigen und politischen Kultur [Israels] auf das Heftigste. […] Doch die Bemühungen, die Lebenskraft zu erneuern, waren vergeblich.«50

Berdyczewski suchte nach Anzeichen für seine Gegentradition unter den Häretikern und Rebellen, die »sich weigerten, Teil von uns zu sein, zu den Unsrigen zu zählen, und doch umso mehr mit uns verbunden sind«.51 Gelegentlich 180

heroisierte er gewisse Rabbinen wie etwa die Anhänger der Schule Schammais, weil sie sich der beherrschenden Schule Hillels entgegengestellt hätten. Was den großen Aufstand gegen Rom (66–70 d. Z.) betrifft, so schlug er sich auf die Seite der nationalistischen Zeloten gegen die »pazifistischen« Pharisäer. Trotz der das gesamte Mittelalter hindurch währenden Dominanz der Schriftgelehrten hätten sich wiederholt Bewegungen vitalistischen Widerstandes gegen deren Autorität erhoben: »Die Pharisäer waren gegen die Saduzäer, die Karaiten gegen die Rabbinen, und die Kabbala und die esoterischen Lehren gegen das Explizite. Anders gesagt gibt es nur dann Echtes, wenn eine extreme Partei etwas vollkommen und ohne duldsamen Kompromiss tut.«52

Dass keine dieser Bewegungen geistigen Widerstandes auch nur im Entferntesten mit den militaristischen Traditionen des Schwertes gleichzusetzen war, zeigt die Ambiguität der Kategorien Berdyczewskis. Indem er jedoch die all diesen Traditionen gemeinsame kritische Funktion hervorhob, machte er deutlich, dass es für die Rabbinen nicht leicht gewesen war, ihr Monopol zu verteidigen. Ebenso fasziniert war Berdyczewski von modernen Häretikern wie Spinoza. In einem Tagebucheintrag aus dem Jahr 1890 schilderte er, welche Erregung ihn erfasste, als er in Odessa, wo er ein Jahr lebte, auf die hebräische Übersetzung von Spinozas Ethik stieß.53 In seiner Rezension dieser Übersetzung missbilligte er viele der modernen Auslegungen Spinozas.54 Er griff all jene an, die versuchten, Spinoza wieder in die jüdische Tradition einzugliedern, indem sie (wie der Verfasser dieses Buches) behaupteten, seine Quellen lägen im jüdischen Denken des Mittelalters. Ebenso kritisch war er gegenüber jenen modernen Denkern, die für sich in Anspruch nahmen, direkte geistige Nachfahren Spinozas zu sein. Beide, zuweilen auch von denselben Gelehrten vertretenen Ansätze in Bezug auf Spinoza versuchten den Philosophen entweder in die ihm vorausgegangene oder in die jüdische Geschichte nach ihm einzuordnen, während der wahre Spinoza doch ein viel radikalerer Häretiker gewesen war, als ihnen zuzugeben lieb war. Obgleich Berdyczewski es nicht explizit zum Ausdruck brachte, wollte er sich offensichtlich jenem Spinoza anschließen, der sich radikal von der jüdischen Tradition abgewandt hatte und daher noch immer ein Ausgestoßener war. Nur als solcher vermochte er für Berdyczewskis radikale Revolution als Held dienen. Berdyczewskis Vorliebe für die Häretiker und Rebellen der jüdischen Geschichte ist im Zusammenhang mit der Wiederentdeckung dieser Gestalten durch moderne Schriftsteller und Künstler zu sehen. Doch statt wie er diese Häretiker uneingeschränkt anzuerkennen, feierte die moderne jüdische 181

Kultur sie oft nur nach einer Neuinterpretation ihres häretischen Denkens. Uriel da Costa und Baruch Spinoza wurden im 19. Jahrhundert zu heroischen Figuren, doch wie Berdyczewski feststellte, wurden sie mit ihren wahrhaft radikalen Häresien zu Vorläufern des respektablen Judentums des 19. Jahrhunderts stilisiert. Auch aus der religiösen Tradition kommende Häretiker wie Jesus, Elischa ben Abuja (der Erzhäretiker des Talmud)  und Schabbtai Zvi (der mystische Messias des 17. Jahrhunderts) wurden in der jüdischen Literatur und Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts zu populären Themen. Auch hier legte man die religiösen Häresien dieser Figuren oft so aus, als hätten sie die Moderne antizipiert.55 Der wohl bedeutendste Historiker, der über solche Häresien forschte, war Gershom Scholem, und er war es auch, der einen expliziten Bezug zwischen der Rehabilitierung der Abtrünnigen und der neuen, vom Zionismus verheißenen Freiheit der Interpretation herstellte: »Die neuen Wertakzente, die der Zionismus setzte, brachten frischen Wind in ein Haus, das scheinbar vom 19.  Jahrhundert her nur allzu wohl geordnet war.«56 Es war dies derselbe »anarchisch frische Wind«, den seiner Ansicht nach der apokalyptische Messianismus durch das »wohl geordnete Haus« der Halacha habe wehen lassen und mit welchem dem statischen Gesetz neue Vitalität zugeführt worden sei.57 Mit der Wiederentdeckung der verborgenen Quellen der Lebenskraft unter den Häretikern erfülle der Historiker die gleiche Funktion wie die endzeitgläubigen Messiasanhänger. Scholems wichtigstes Werk war die Biografie Schabbtai Zvis, die zuerst 1957 auf Hebräisch, 1973 in einer erweiterten Fassung auf Englisch und 1992 auf Deutsch erschien.58 Scholem sah den Sabbatianismus als dialektischen Wendepunkt, welcher der Moderne den Weg gebahnt habe. Diese Auffassung hatte er in der Frühphase seiner Karriere in einem 1928 verfassten Aufsatz über die sabbatianische Theologie des Abraham Cardozo, eines zum Judentum zurückgekehrten Converso, geäußert. Dessen Reaktion auf Schabbtai Zvis Apostasie bestand darim, im vorgeblichen Messias einen Marranen wie er selbst zu sehen. Da die Vorstellung von der Reinkarnation den Menschen von der Verantwortung für böse Taten in früheren Inkarnationen scheinbar freisprach, deutete Cardozo die Kabbala als ein Hinlenken zu einer Art moralischem Anarchismus. Mit Cardozos Sabbiatanismus, erklärt Scholem, sei der in dieser Lehre implizit vorhandene Anarchismus in die Welt hinaus aufgebrochen und habe zu einer inneren Erschütterung des Judentums geführt: »So wurde, noch bevor die Mächte der Weltgeschichte im 19. Jahrhundert das Judentum aufwühlten, seine Wirklichkeit von innen her mit Zerfall bedroht. Schon damals [zur Zeit des Sabbatianismus] drohte die ›Wirklichkeit der Hebräer‹, zu [einer] Chimäre zu werden«.59 182

Dieses These elaborierte Scholem 1937 in seinem in Hebräisch geschriebenen, wirkmächtigen Essay Mizwa ha-ba’a ba-Avera (wörtlich »Erfüllung des Gebots durch seine Übertretung«, in der deutschen Übersetzung als Erlösung durch Sünde betitelt).60 Scholem unterschied hier zwischen gemäßigten und radikalen Sabbatianern. Die Gemäßigten erachteten es nicht für notwendig, dem Messias in seiner Konversion zum Islam zu folgen. Wie die Marranen bewahrten sie ihren Glauben an ihn in ihrem Inneren, während sie nach außen wie echte orthodoxe Juden lebten. Damit antizipierten sie die moderne Spaltung der Identität in einen privaten und einen öffentlichen Bereich. Die Radikalen hingegen glaubten auch für sich selbst an die »Heiligkeit der Sünde«, handelten in Missachtung der Gesetze und fielen schließlich vom Judentum ab. Bei den Frankisten jedoch (einer polnischen Variante des Sabbatianismus im 18. Jahrhundert) bedeutete Apostasie nicht aufrichtige Zustimmung zu der neuen Religion, sondern dialektischer Nihilismus im Gewand des Christentums. Scholem zufolge habe sich der frankistische Nihilismus letztlich veräußerlicht und in das Verlangen nach politischer Befreiung verwandelt, und bestimmte frankistische Schriften hätten einen Zusammenhang zwischen dem häretischen Mystizismus und den politischen Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution hergestellt.61 Scholems Argumentationsstrang ist durch und durch dialektisch – demnach hätten die irrationalsten und religiösesten Kräfte in der jüdischen Geschichte eine messianische Bewegung hervorgebracht, deren Zusammenbruch wiederum zu modernem Säkularismus, religiöser Reform und politischer Revolution geführt habe: »Die Sehnsucht nach Befreiung, die einen so tragischen Ausdruck in der nihilistischen Lehre der Sabbatianer fand, zeugt nicht nur von der Wirksamkeit zerstörerischer Kräfte.«62 Der Sabbatianismus habe die Hegemonie des rabbinischen Gesetzes untergraben. Einzelne Sabbatianer hätten im 18. Jahrhundert ihren Weg zur europäischen Aufklärung gefunden, die von dieser weltumspannenden Bewegung ausgehenden Verwerfungen hätten das rabbinische Judentum in vielen Ländern aber geschwächt. Als wie radikal voneinander verschieden Aufklärung und mystischer Messianismus auch erscheinen mögen, habe es doch einen verborgenen Zusammenhang zwischen diesen beiden Bewegungen gegeben, wobei der Sabbiatanismus unbewusst den Boden für die säkulare Moderne bereitet habe. In Scholems Philosophie findet sich eine Gegengeschichte, die jener Berdyczewskis ähnelt. Konservative Kräfte wie Gesetz, Philosophie und Rationalismus liegen in ständigem Streit mit den ihnen entgegenwirkenden Kräften wie Mythos, Mystizismus und Irrationalismus. Das Judentum besteht aus Vielfalt, aus einer geradezu anarchischen Ansammlung von Ideen und nicht aus einer einzigen Essenz. In der Tat war Scholem der vehementeste Kritiker 183

der Wissenschaft des Judentums des 19.  Jahrhunderts, welche die jüdische Historiografie hervorgebracht hatte, mit der Begründung, sie reduziere das Judentum auf ein einziges rationales, theologisches Grundprinzip und unterdrücke dabei das Mystische und Irrationale.63 Es sei der schöpferische Konflikt widerstreitender Ideen auf dem Gebiet der Geschichte und nicht ihre harmonisierende Angleichung auf dem Gebiet der Theologie, der dem Judentum seine Vitalität verleihe. Was seine politischen Auffassungen betrifft, so scheute sich Scholem, vollends die Konsequenzen aus dem Apokalyptischen und Häretischen zu ziehen. So fasziniert er von diesen Phänomenen der jüdischen Geschichte auch war, so fürchtete er doch ihre praktischen Konsequenzen für den Zionismus.64 Ebenso wie er Franz Rosenzweig vor den Gefahren einer Wiederbelebung des Hebräischen als säkularer Sprache warnte, verurteilte er die rechtsmilitanten Nationalisten seiner Zeit als »moderne Sabbatianer«, da die der Sprache innewohnenden apokalyptischen Energien nicht beherrschbar seien. Zionismus bedeutete für Scholem die Rückkehr der Juden in die Geschichte, und solche moderne Apokalyptiker drohten mit dem Griff nach dem eschaton, die Bewegung zu zerstören. Die Dialektik von religiöser Vergangenheit und säkularer Zukunft laufe Gefahr, jederzeit zu implodieren.

Josef Chaim Brenner: gegen die Dialektik Diese Dialektik wurde aus vielen Richtungen, von den Ultraorthodoxen bis zu den Ultrasäkularen, infrage gestellt. Am kompromisslosesten unter den Ultrasäkularen war wohl der Schriftsteller Josef Chaim Brenner, der mit der zweiten Alija nach Palästina gelangt war und von Arabern in den 1921 aufflammenden Unruhen ermordet wurde. Wie weit Brenner mit seiner harschen Ablehnung der Bibel den jüdischen Säkularismus trieb, ist bereits erörtert worden. Nun soll Brenners militant säkulare Vision einer von der jüdischen Vergangenheit losgelösten, modernen hebräischen Kultur in den Blick genommen werden. Brenner schrieb zu einer Zeit, als die junge hebräische Kultur in Palästina noch im Werden war. Als Kind der nationalhebräischen Renaissance, zu deren herausragenden Vertretern Achad Ha’am und Bialik zählten, wollte­ Brenner eine in dem altneuen Land verwurzelte Kultur schaffen. Er und seine Mitstreiter waren nicht länger an literarischen Übungen interessiert, vielmehr hofften sie, mit der Diaspora völlig brechen und etwas Neues finden zu können. Dieser Prozess ging jedoch mit Selbstzweifeln und Versagensängsten 184

einher. Nie war eine nationale kulturelle Bewegung so zwischen revolutionärem Eifer und Verzweiflung hin- und hergerissen, wobei Brenner mehr als die meisten anderen beide Pole dieses Syndroms repräsentierte. Brenner empfand zweifellos großen Respekt vor Bialik, doch wie sehr er den hebräischen Nationaldichter auch verehrte, dessen Verhältnis zur religiösen Tradition war für ihn inakzeptabel.65 Von Bialiks Auffassung, ­Halacha und Aggada ließen sich in säkulare epische und lyrische Dichtung verwandeln, distanzierte er sich mit dem ironischen Hinweis: »Sogar ein Künstler, der zu allem fähig ist, vermag aus einer Knoblauchschale keinen purpurnen Gebetsschal zu weben.«66 Brenner sieht in der Halacha nichts, was rettenswert sei. Wo Bialik vom »grämlichen Antlitz« des Gesetzes und dem »lachenden Antlitz« der Aggada spricht, entgegnet Brenner bitter, das grämliche Gesicht sei jenes des Rabbiners in Jehuda Leib Gordons berühmtem Gedicht Al kozo schel jod (Der Punkt des Jod).67 Dieses Gedicht aus dem 19. Jahrhundert erzählt die Geschichte eines Rabbis, der einer Frau wegen eines winzigen Fehlers in dem von ihrem Mann ausgestellten Scheidungsbrief (get) die Scheidung verweigert. Und das lachende Gesicht der Aggada sei das der Frau »Bat-Schua mit ihren Kindern am Rockzipfel« oder Bialiks eigener, Teig knetender Mutter, von der er seine Dichtkunst geerbt habe.68 Diese Hinwendung zur Frau ist höchst signifikant, hatte doch die Literatur der Haskala das Schicksal der Frauen als Beleg für die Rohheit der traditionellen jüdischen Lebenswelt angeführt. Wenn die Aggada von diesen gequälten Frauen symbolisiert wird, kann sie kaum ein »lachendes Antlitz« haben. Hier wird die Aggada nicht zu einem Ausdruck von Dichtung, sondern zu einem Ausdruck des wirklichen Lebens, ein in Brenners Philosophie sehr bedeutendes Motiv. Dergestalt miteinander verbunden, haben die beiden zwillingshaften Genres des traditionellen Judentums, Halacha und Aggada, keine errettende, heilende Kraft. Wie Bialik war Brenner im bet midrasch erzogen worden. Während sich jedoch Bialik eine gewisse ambivalente nostalgische Sehnsucht nach dieser uralten Institution bewahrte, behauptete Brenner, die Jahre, die er mit dem Studium des jüdischen Gesetzes in all seinen Feinheiten zugebracht habe, hätten wenig Eindruck auf ihn gemacht. Lediglich die Kriege Josuas, die Geschichte der Richter und die Erzählung von der Zerstörung des Tempels, Themen eher nationalistischer als religiöser Art, hätten ihn geistig bereichert.69 Das Gesetz selbst, heißt es bei ihm, möge in guter Absicht geschaffen worden sein, doch nachdem es nun Geschichte sei, bleibe nur das Böse, »das wie ein Felsbrocken auf dem Leben der Menschen lastet und gegen jedes neue Gesetz, den Drang nach neuem Leben, ankämpft«.70 Brenners wütende Kritik an der Halacha beruhte wie die Berdyczewskis auf einer Art nietzscheanischem Anarchismus, der in jedem Gesetz ein den 185

menschlichen Geist erdrückendes Joch sah. Aber sein Anarchismus richtete sich nicht nur gegen das Gesetz. Er basierte auf einem profunden Individualismus, der die Befreiung des Menschen und seines Schicksals von den Fesseln der kollektiven Überlieferung forderte. Wie Menahem Brinker bemerkt, war Brenner sogar radikaler als Berdyczewski.71 Während sich bei Berdyczewski die Auflehnung gegen die religiöse Tradition in der Suche nach einer Gegentradition äußerte, gab es bei Brenner keinen Raum für solche historischen Grübeleien: Es gelte, sich entschieden von der Vergangenheit zu lösen, um in der Gegenwart leben zu können. Wie es am Anfang eines seiner längsten und bedeutendsten kritischen Texte Bewertung unserer selbst in drei Bänden (1914) heißt, fehle es der rabbinischen Literatur an jenem Selbst­ bewusstsein, dessen es bedürfe, um in der Gegenwart leben zu können, da »alles [in jener Literatur] die Worte des toten Gottes ist«.72 Darin, dass sich Brenner dieser Phrase bedient, liegt natürlich eine große Ironie. Er spielt hier mit dem rabbinischen Spruch, dem wir bereits bei B ­ ialik begegnet sind: »Diese und jene sind die Worte des lebendigen Gottes«. Während Bialik diese Bekräftigung der Kontroverse jedoch in einem positiven Sinne verwendet, gibt Brenner ihr den Todeskuss. Eine weitere Ironie liegt darin, dass Brenner in seinem Streben nach einem totalen Bruch mit der Tradition einen Spruch aus den überlieferten Quellen paraphrasiert, der an ­Bialik erinnert. Ganz allgemein stößt man bei der Lektüre von Brenners Œuvre auf zahlreiche rabbinische Wendungen, einschließlich Sprüchen auf Aramäisch, wie sie einem Talmud-Schüler geziemen. Der Talmud-Schüler war aus der Jeschiwa geflohen, aber in seinem Inneren trug er sie weiter mit sich. Während Berdyczewski mit Achad Ha’am den Drang teilte, sich mit dem Problem der Assimilation auseinandersetzen zu müssen –, und dazu eine revolutionäre hebräische Kultur vorschlug –, war Assimilation nicht das Problem, das Brenner umtrieb. Man könnte sagen, dass er die schiere Antinomie von Assimilation versus Nationalismus zurückwies, wie sie unter anderem Achad Ha’am postuliert hatte. Die kulturelle Frage seiner Zeit interessierte ihn nicht, weil er sie in der Diaspora verwurzelt sah, die nichts als Verachtung und Negierung verdiene. In der Tat verfasste Brenner einige der beißendsten, zuweilen an Selbsthass grenzenden Kritiken der jüdischen Lebenswelt, in der er aufgewachsen war. Er orientiert sich an dem jiddischen Schriftsteller Mendele Mojcher Sforim, dessen jiddisch- und hebräischsprachiges literarisches Werk er in der Abhandlung Bewertung unserer selbst in drei Bänden rühmt, und mokiert sich über die Juden, weil sie Gott anriefen: »Ein Volk des Glaubens nennt man dieses verfluchte Volk der Tränen«. In Wahrheit jedoch sei nicht der Glaube für die Juden des Ansiedlungsrayons charakteristisch: »Faulheit und Unterwürfigkeit und Niedergeschlagenheit angesichts 186

des großen Strafrichters, der im Himmel sitzt, und nicht Glaube«.73 Die jüdische Religion, diese Religion des Klagens, sagt Brenner, sei »eine ewig­ blutende Wunde [maka, kann im biblischen Sinn auch Plage heißen]«.74 Das Judentum steht in engem Zusammenhang mit Brenners hauptsächlichem Kritikpunkt, der bereits in der Haskala thematisiert worden war, nämlich der ökonomischen Unproduktivität der Juden, die Elend und Armut verursacht habe. Diese Armut habe keine höhere Sittlichkeit, sondern das Gegenteil bewirkt: Die Juden seien »gebückte, heruntergekommene, bedrückte Gestalten, die ihren ganzen Glauben in die Psalmen Davids legen, den Sohn des Jesse, König und Dichter Israels. Was ist schlimmer: Hässlichkeit oder mangelnde Sittlichkeit? Ob es uns gefällt oder nicht, müssen wir feststellen: Es gibt gleichzeitig zu viel von beiden!«75 Bislang habe man einmütig daran geglaubt, dass die Juden nach dem Verlust der materiellen eine geistige Nation erbaut hätten, dass sie ein Sinnbild des Protestes gegen den Materialismus seien und überleben würden, komme was wolle. Doch­ Brenner will davon nichts hören. Die Juden überlebten wohl, aber zu welchem Preis? Ihr Überleben sei rein biologischer Art, wie das der Ameisen, als »Zigeuner, Hausierer, Reisevertreter und Bankangestellte«; es sei kein »soziologisches Überleben«, das die Kontinuität der Generationen gewährleiste. Im Gegenteil, diese Juden hinterließen nichts, das zu erben und weiterzugeben lohne. Wenn die rabbinische Literatur ihr einziges Erbe sei, hätte es sie besser nie gegeben.76 Brenner geht so weit, Verständnis für Antisemiten zu bezeugen, welche die Juden bezichtigten, Blut für rituelle Zwecke zu verwenden. Gegen Achad Ha’am, der gegen das moderne Wiederaufgreifen der Ritualmordbeschuldigungen anschrieb, argumentiert Brenner, diese seien nicht der Grund für den Antisemitismus, sondern eine Folge desselben. Der Judenhass sei eine Reaktion auf das Fremdsein der Juden und ihre negativen Eigenschaften, vor allem auf ihr ökonomisches Verhalten. Er beruhe daher auf Realität.77 Das einzige Problem beim Kampf gegen die Ritualmordlegenden, an die als solche Brenner natürlich nicht glaubte, sei, dass er die Menschen für die wirklichen, den Hass in erster Linie verursachenden Mängel der Juden blind mache. Wären unter umgekehrten Vorzeichen andere wie die Juden, fragt er, hätten wir dann nicht guten Grund, sie ebenso zu hassen?78 Nun erst, in der Moderne, da die Juden nicht mehr daran glaubten, dass sie das auserwählte Volk seien, sei es möglich, sich unerschrocken den antisemitischen Anschuldigungen zu stellen und die wirklich zutreffenden anzuerkennen. In dieser brutalen Selbstkritik Brenners fand die stillschweigende politische Allianz, die Herzl zwischen Zionismus und Antisemitismus anstrebte, ihr kulturelles und gesellschaftliches Analogon. Nicht von ungefähr 187

haben manche Kritiker in der literarischen und politischen Ideologie der Negierung der Diaspora (schelilat ha-gola), mit der Brenners Name so eng verknüpft ist, einen nahezu antisemitischen Ton ausgemacht. Brenner legt dar, dass die Juden, wenn sie überleben wollten, »ein auserwähltes Volk, das wie alle anderen Nationen ist, von denen jede für sich auserwählt ist«, werden müssten.79 Ohne Spinoza explizit zu erwähnen, scheint ihm etwas Ähnliches vorgeschwebt zu haben wie dem holländischen Philosophen. Nur durch die Annahme der »Normalität« könnten die Juden »auserwählt« sein, das heißt ihre eigene Zugehörigkeit bestimmen oder wählen. Eine solche Normalität bedürfe eines jüdischen Territoriums: »Jetzt leben wir ohne Umwelt (seviva). Völlig ohne Umwelt. Wir müssen von vorne beginnen, den ersten Stein legen […]. Das ist die Frage. Um unseren Charakter so weit wie möglich zu ändern, brauchen wir unsere eigene Umwelt; um eine solche Umwelt selbst zu erschaffen, muss sich unser Charakter tief greifend ändern.«80

Eine Revolution bedürfe des Territoriums, doch ein Territorium sei erst durch eine Revolution zu erlangen. Das war das unauflösbare Dilemma, mit dem sich Brenner konfrontiert sah und das die Verzweiflung und den Pessimismus seines literarischen Werkes erklärt, wie sie im Titel seines wohl berühmtesten Romans, Schechol we-Kischalon (Verlust und Scheitern, engl.: Breakdown and Bereavment), zum Ausdruck kommen. Anders als etwa Achad Ha’am, Bialik und Berdyczewski, die wie er aus dem Russischen Reich stammten, formulierte Brenner kein Programm für eine zukünftige hebräische Kultur. Allzu sehr war er von den anscheinend unüberwindbaren Problemen seiner Generation erschüttert. Literatur könne bestenfalls die notwendige Aufgabe der Selbstkritik erfüllen: »Die Literatur der Selbstkritik seit Mendele besagt: Unsere Aufgabe ist es jetzt, das Fehlen einer reinen Abstammung vom Anbeginn der Geschichte bis zum heutigen Tag anzuerkennen und all unsere Charakterfehler einzugestehen, und dann wieder von vorne anzufangen. […] Dann kommt die Logik ins Spiel und stellt ein Rätsel: Wie können wir wir selbst und nicht wir selbst werden? Doch mag die Logik argumentieren, wie sie will. Unser Lebensdrang, der über der Logik steht, besagt anderes. Unser Lebensdrang sagt: All das ist möglich. Unser Lebensdrang flüstert uns hoffnungsvoll ins Ohr: hitjaschvut ovedet – das ist unsere Revolution. Die einzige.«81

Nur die praktische »Religion der Arbeit«, die Brenners Freund Aharon David Gordon predigte, eine säkulare Religion, zu gleichen Teilen aus tolstoischer Volkspädagogik und chassidischem Pantheismus abgeleitet, könne eine auf einem neuen hebräischen Arbeiter beruhende neue Kultur schaffen.82 Diese 188

Hebräer würden sich ebenso weit von der Religion ihrer Väter und Mütter entfernt haben wie von den Ländern der Diaspora, in denen diese Religion praktiziert wurde. Vorläufig (1914) komme die Verheißung dieser neuen säkularen Religion höchstens als schwaches Raunen daher. Es sei die Sprache, so glaubte Brenner, in der die Samen dieser neuen Religion aufgehen könnten. Auch hier war seine Kritik niederschmetternd: »Wir, die Juden, sind eine Nation ohne Sprache, und, was noch tragischer ist, nahezu ohne Bedürfnis nach einer Sprache. Unsere Beziehung zur Sprache ist mechanisch und nicht organisch.«83 Im Gegensatz zu vielen anderen, die im Sprachenstreit zwischen Hebräisch und Jiddisch entschlossen Partei ergriffen, wies Brenner die Position der Gegenseite nicht völlig zurück. Wie Achad Ha’am glaubte er, dass das Hebräische der vitale Kern des Jiddischen sei, bewunderte aber Mendele dafür, dass er Jiddisch nicht als »Jargon«, sondern als lebendige Sprache betrachtete.84 Viele von Brenners kritischen Essays waren jiddischsprachigen Werken gewidmet; er empfand offenkundig Hochachtung für die literarische Renaissance, die in dieser Sprache vor sich ging, und dies zu einer Zeit, als er selbst sich mühte, seine innersten Gefühle auf Hebräisch, das nicht seine Muttersprache war, zum Ausdruck zu bringen. Im Hebrä­ ischen jedoch, meinte Brenner, könne eine wahre säkulare jüdische Kultur entstehen. Wie es bei ihm in einer Lobpreisung der Dichtung Bialiks heißt: »Ebenso wie Sprache kein bloßes Gewand für Dichtung ist, sondern vielmehr ihr Fundament, ihr Wesen, so ist sie kein nationales Schmuckwerk oder kein nationales Erbe für Generationen, sondern vielmehr das Fundament des Nationalismus für alle Generationen, der Wesenskern des Nationalismus.«85

Wie radikal Brenners Kritik an der jüdischen Religion war, äußerte sich vielleicht am extremsten in einer 1911 entfachten Kontroverse. Auslöser war ein von ihm anonym verfasster Artikel über die damals in Russland vermehrt auftretenden jüdischen Übertritte zum Christentum.86 Bedeutsam an dieser Kontroverse war die Frage, wo die Grenzen der neuen jüdischen Kultur zu ziehen seien. Achad Ha’am zum Beispiel schrieb gegen Brenners Artikel (ohne zu diesem Zeitpunkt zu wissen, dass dieser der Autor war): »Wer den Gott Israels verleugnet, die historische Kraft, die der Nation Leben gespendet hat und ihr Wesen über tausende Jahre geformt hat, kann ein guter Mensch [adam kascher] sein, aber kein nationaler Jude, auch wenn er in Erez Israel lebt und Hebräisch spricht.«87 Ein jüdischer Christ war für Achad Ha’am eine Unmöglichkeit, und für einen solchen Menschen gab es keinen Platz innerhalb der nationalen Wiedergeburt. War es aber für einen »nationalen Juden« – im Gegensatz zu einem religiösen – wirklich unmöglich, sich zu Jesus zu bekennen? Diese Frage griff 189

Brenner in dem ihm eigenen scharfen Ton auf. Er zeigte sich verblüfft über das Spektakel, das die jüdische Presse angesichts der vielen zum Christentum konvertierenden jungen Juden veranstaltete. Zahlreiche Artikel befassten sich mit theologischen Fragen, als gelte es, das Judentum gegen das christliche Dogma zu verteidigen. Dem setzte Brenner entgegen, dass sich die überwältigende Mehrheit der Juden nicht für Theologie interessiere und die Übertritte aus rein materiellen Motiven erfolgten. Aber diese jungen Juden seien mit ihrem spirituellen Leben unzufrieden, da sie »das Fehlen einer vollständigen hebräischen Sprache, das Fehlen eines hebräischen Heimat­landes und das Fehlen einer hebräischen Kultur« erkannt hätten.88 Gäbe es eine solche hebräische Kultur und lebten sie in einem jüdischen Heimatland, hätten sie vielleicht keinen Grund überzutreten. Die Religion mit all ihren Eitelkeiten und Dissonanzen, äußert Brenner, sei nichts anderes als ein Teil der Lebenswelt, die Menschen aufgrund ökonomischer und nationaler menschlicher Bedingungen schafften. Die Religion komme und gehe, nehme neue Formen an, werde geboren und sterbe. Das Christentum, wie man es heute kenne, »das römische, heidnische, inquisitorische, das die erhabene griechische Philosophie unterdrückt hat […] hängt vom Baum des armseligen Juden Josua von Nazareth – aber gibt es eine Ähnlichkeit zwischen ihnen?«89 Es ist bemerkenswert, dass Brenner sich auf Jesus bewusst nicht mit der in der jüdischen Kultur gebräuchlichen Form­ Jeschu bezieht, sondern mit dem weitaus neutraleren Jehoschua (Josua). Die Disparität zwischen dem historischen Christentum und seinem Begründer sei keine andere als die zwischen dem historischen Judentum und seinen bi­ blischen Ursprüngen. In der sogenannten Brenner-Affäre wurde das Christentum zu einem Symbol für die Frage, ob die jüdische Kultur durch die Religion allein zu umreißen sei. Für Brenner hatten die säkularen Juden kein Mitspracherecht in der strittigen Frage, wer der Messias sei, da sie nicht an einen Messias glaubten, den Gottheiten von irgendwoher gesandt hätten. Jesus einen Juden zu nennen, sei für einen Juden eine paradoxe Art und Weise, sich der Religion des anderen zu bedienen, um einen Anspruch auf eine eigene säkulare Identität geltend zu machen. Und indem Brenner Achad Ha’am und andere, die diese Übertritte verurteilten, herausforderte, postulierte er eine radikal neue These in Bezug auf das jüdische Selbstverständnis: Welcher Religion, wenn überhaupt, man angehören wolle, sei eine individuelle Entscheidung und habe keinen Einfluss auf die nationale Zugehörigkeit. Letztere war für ­Brenner in erster Linie sprachlicher Natur, und er war bereit, jeden Menschen, ungeachtet seiner religiösen Präferenz, willkommen zu heißen, der sich anschließen wollte. 190

Chaim Zhitlowsky: Jiddisch als säkulare Zugehörigkeit Brenner war nicht der Einzige, der in Bezug auf das Christentum eine solch radikale Position einnahm. Mehrere Jahre vor seinem notorischen Artikel hatte eine ähnliche zejlem frage (Kruxifix-Frage)  die jiddische literarische Welt in Aufruhr versetzt und gezeigt, dass die gleichen kulturellen Fragen auf beiden Seiten der Sprachbarrikaden aufgeworfen wurden.90 Die Debatte fand 1908 auf den Seiten der kurzzeitig in New York erscheinenden jiddischen Zeitschrift Dos naje Leben (Das neue Leben) statt. Ihr Heraus­geber war Chaim Zhitlowsky (1865–1943), einer der führenden Ideologen der säkularen jiddischistischen Bewegung. Zhitlowsky hatte die Kontroverse mit der Veröffentlichung von Erzählungen Lamed Schapiros und Scholem Aschs provoziert, die in einer in der jüdischen Literatur noch nie dagewesenen Weise christliche Symbolik verwendet hatten. In derselben Ausgabe erschien auch seine Besprechung der Erzählungen im Stil eines etwas ausführlicheren »Klappentextes«. Anhand der beiden Erzählungen legte Zhitlowsky seine Ansicht darüber dar, wie Juden und Christen sich unter dem Schutzschirm einer humanistischen Kultur versöhnen könnten. Das war in der Tat sein zentrales Projekt: die Konstruktion einer universellen, sozialistischen Kultur, innerhalb derer auch eine säkulare jiddische Kultur sich werde entfalten können.91 Da der Universalismus der Aufklärung das säkulare Produkt des christlichen Okzidents gewesen sei, müssten die Juden ihren instiktiven Hass auf das Christentum überwinden, wenn sie an der modernen Welt teilhaben wollten. Der paradoxe Pfad zur jüdischen Säkularisierung führe über die christliche Religion, nicht durch Konversion, sondern durch Verzicht auf die von der jüdischen Religion gelehrte Verachtung des Christentums. Wenn die Juden Jesus als einen der ihren reklamierten, könne die jüdische Kultur ihre Anerkennung als Schlüssel zur westlichen Zivilisation beanspruchen. So könnten jüdischer Nationalstolz und Aufklärungsuniversalismus nebeneinander bestehen. Zhitlowskys positive Einstellung zum Christentum lässt sich bis zu seiner ersten russischsprachigen Schrift, Gedanken zum historischen Schicksal des Judentums (1887), zurückverfolgen.92 Darin hatte er die traditionelle Vorstellung vom auserwählten Volk zugunsten des sozialen und ethischen Gedankengutes der Bibel zurückgewiesen. Letzteres, so seine wenig einleuchtende Behauptung, sei zur Lehre der Essener aus der Zeit des Zweiten Tempels geworden. Es seien die Christen gewesen, die diese Ideale übernommen hätten, während die Pharisäer als Reaktion auf die Zerstörung des Tempels den 191

ethischen Idealismus durch »Religion« ersetzt hätten. Die Grundessenz der Bibel sei somit nicht die Religion, sondern Werte, die ihren Platz in einem säkularen sozialrevolutionären Programm finden könnten. In einer Vorwegnahme der späteren Debatte über die Konversion verurteilte Dubnow­ Zhitlowskys Versuch, eine Annäherung zwischen dem Judentum des Zweiten Tempels und dem Christentum zu erreichen, als Aufforderung an die Juden, das Judentum aufzugeben. Wie Brenner war Zhitlowsky bereit, zum Christentum konvertierte Juden als Teil einer »geistigen jüdischen nationalen Heimstätte« zu akzeptieren – sofern sie Jiddisch sprachen.93 Diese idiosynkratische Position weist auf einige wesentliche Grundpfeiler seiner Philosophie hin: die Loslösung von der jüdischen Religion zugunsten einer säkularen Definition jüdischer Zugehörigkeit, die Suche nach einer Synthese zwischen Universalismus und Nationalismus und, allem voran, die zentrale Rolle der jiddischen Sprache. Sein Ziel war es, einen säkularen Raum zwischen den Polen Assimilation und Zionismus zu schaffen, da er der Ansicht war, dass die jüdische Religion das nationale Überleben nicht gewährleisten könne. In der Tat stand Zhitlowskys Programm emblematisch für eine viel breiter angelegte kulturelle Bewegung, die eine säkulare jiddischsprachige Kultur anstrebte. An der Wende zum 20. Jahrhundert erschien dies als eine weitaus erfolgversprechendere Aussicht als die Begründung einer hebräischen Kultur. Der bedeutendste Vertreter dieser Bewegung war Isaak Leib Peretz (1852–1915). Als gefeierter jiddischer Schriftsteller seiner Zeit und als Person, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Warschauer Kulturszene dominierte, war er der Begründer einer sozial inspirierten Volksliteratur. Während er aus der volkstümlichen Überlieferung vor allem der Chassiden schöpfte, stellten seine Versionen chassidischer Erzählungen die Tugenden der armen und ausgegrenzten Juden sowie die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit in den Vordergrund. Nicht geistige Erhebung, sondern die Schilderung materieller Not charakterisierte diesen höchst säkularen Schriftsteller. Zhitlowskys Biografie war ebenso ungewöhnlich wie seine Vorstellungen ungewöhnlich waren. Wie S. Ansky (1863–1920), sein Jugendfreund und in der »Kruxifix-Debatte« sein Hauptgegner, wuchs Zhitlowsky in Weißrussland in einem orthodoxen Milieu auf, gelangte aber über die Haskala zum revolutionären Sozialismus. Im Gegensatz zu anderen, die ihre jüdische Zugehörigkeit aufgaben, als sie zu Anhängern einer sozialrevolutionären Politik wurden, kehrte Zhitlowsky, ebenso wie Ansky, wieder zu seinem Volk zurück und setzte sich für eine Reihe spezifisch jüdischer Positionen ein. Seine politische Laufbahn liest sich verwirrend; zu je verschiedenen Zeiten schloss 192

er sich dem russischen Populismus, dem Sozialismus, dem Bundismus, dem linken Zionismus, dem Autonomismus und in seinem letzten Lebensjahrzehnt sogar dem Sowjetkommunismus an. Zhitlowsky sah in der Bauernschaft die Basis der Revolution, sodass seine Mitgliedschaft beim Bund, der sich auf das urbane Proletariat stützte, nur von kurzer Dauer war. Andererseits begeisterte er sich vorübergehend für den Zionismus angesichts dessen Bestrebungen, in Palästina eine jüdische Bauernklasse zu schaffen. Wie Bernard Lazare kritisierte er jedoch Theodor Herzl dafür, dass er sich zu sehr auf die Unterstützung von Kapitalisten verlasse.94 Wenn sich durch seine politischen Wanderungen überhaupt ein roter Faden zog, dann war es sein Glaube an den Bauernstand als den Motor des Sozialismus. Zu dieser Einstellung war er in seiner Jugend unter dem Einfluss der slawophilen Bewegung der Narodniki gelangt, die »zum Volk gehen« wollten. Später zählte Zhitlowsky zu den Begründern der Partei der Sozialrevolutionäre, die sich aus verschiedenen Gruppen der Narodniki gebildet hatte. Anfangs meinte er, die Juden sollten, Seite an Seite mit den russischen Bauern, in Russland zu Bauern werden, ein zum Scheitern verurteiles Vorhaben, das sich jedoch vorübergehend einiger Unterstützung erfreute. Zhitlowsky war mithin ein unermüdlicher Verfechter des Sozialismus in seiner universellen wie jüdischen Ausprägung, gleichwohl liegt seine Bedeutung insbesondere in der Förderung der säkularen jiddischen Kultur. Als er 1904 nach New York kam und seine erste Rede hielt, schlug er die Menge mit seiner reichen Sprache in Bann. Rasch wurde er zu einem Publikumsmagneten für die jiddische Zuhörerschaft.95 Das Jiddische war für ihn die jüdische Nationalsprache schlechthin. Die anderen von den osteuropäischen Juden gesprochenen Sprachen, vor allem das Russische und das Hebräische, schienen ihm nicht die Interessen der Volksmassen aufzugreifen und überdies förderten sie bewusst oder unbewusst die Assimilierung.96 Ihm schwebte eine umfassende Nationalkultur in Jiddisch vor, die im Gegensatz zum Hebräischen primär säkular konnotiert sein sollte: »Wir hoffen, dass die jiddische Sprache, die uns so teuer und heilig ist wie Deutsch den Deutschen, Russisch den Russen und Hebräisch den Juden alten Schlages, an Worten und Wendungen reicher werden wird […]. Nur wenn die jiddische Literatur reich an Büchern sein und alle Wissensdisziplinen umfassen wird, wird es die neue Generation nicht nötig haben, bei fremden Völkern nach Wissen zu suchen […]. Alles, was [die Juden] in Kunst und Wissenschaft leisten werden, wird in Jiddisch an die Öffentlichkeit gebracht werden, und die jiddische Kultur und Erziehung wird ständig wachsen und zu einer gewaltigen Kraft werden, die nicht nur die Gebildeten mit dem einfachen Volk, sondern alle Juden aus allen Ländern zu einer Einheit verbinden wird.«97 193

Das Jiddische werde die Nation einen, also jene Rolle erfüllen können, die die Zionisten für das Hebräische vorsahen (es ist eine paradox anmutende Erfüllung der Prophezeiungen Zhitlowskys, dass heute in Israel in litauischen Jeschiwot studierende Juden marokkanischer Abstammung Jiddisch sprechen lernen). Zhitlowsky sah auch die Gründung jüdischer Universitäten vo­ raus, die in Jiddisch geführt würden, auch dies eine Parallele zu den Bestrebungen des Zionismus. Zudem war er der Ansicht, das Jiddische als partiell euro­päische Sprache könne anders als das Hebräische als wichtige Brücke zwischen den jüdischen Nationalbestrebungen und dem europäischen Kosmopolitismus dienen. Zhitlowsky machte deutlich, dass nicht allein das in jiddischer Sprache Geschriebene die jiddische Literatur ausmache. Für ihn war jedwede von Juden geschriebene Literatur, vom religiösen Schrifttum wie der Bibel bis zur modernen wissenschaftlichen Literatur, jiddische Literatur. Dieser Anspruch ließ sich so formulieren, weil das multivalente Wort »jiddisch« sowohl für die von den Juden im östlichen Europa gesprochene Fusionssprache als auch für »jüdisch« stand. So hielt Zhitlowsky auf der Ersten jüdischen Sprachkonferenz 1908 in Czernowitz eine flammende Rede, in der er für die Übersetzung jüdischer religiöser Texte in das Jiddische plädierte, um eine säkularisierte, den Massen zugängliche Nationalliteratur zu schaffen.98 Wie Bialiks Sefer ha-Aggada stand dieser Aufruf im Kontext anderer Projekte im 19. Jahrhundert, die sich bemühten, historisch Überliefertes in nationale Kulturgüter zu verwandeln. Ein gutes Beispiel dafür, was Zhitlowsky hinsichtlich der Aneignung religiöser Traditionen durch eine säkulare jiddische Kultur vorschwebte, ist seine Lesart des Buches Hiob.99 Er verstand es als antireligiös, als Kritik an den konventionellen biblischen Ideen von göttlicher Gerechtigkeit  – eine Interpretation ähnlich der von mir im zweiten Kapitel vorgeschlagenen sowie jener Bernard Lazares, die im dritten Kapitel erörtert wurde. Da die Bibel über das Leben nach dem Tod nichts aussage, sei der Tod als Akt göttlicher Gerechtigkeit hinzunehmen. Gegen diese Einstellung lehne sich Hiob auf, er empfinde sich selbst als ein einsames Individuum, dem ein sinnloser Tod bevorstehe. Da das Buch für den Individualismus einstehe und an manchen Stellen auch suggeriere, dass die Macht des Menschen es mit der Gottes aufnehmen könne, weise Hiob auf den modernen Menschen voraus.100 Gerade im Bereich der Sittlichkeit könnten die Menschen ihre Autonomie unter Beweis stellen, gebe es doch keine auf Gott begründete Ethik. Hiob stelle einen neuen, bedingungslosen moralischen Code auf, entsprechend der (im Buch Hiob freilich nicht in diesem Worlaut enthaltenen) Devise »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«. Für Hiob ist Gott existent und in der Erhabenheit der Schöpfung manifest, doch habe das nichts mit Sittlichkeit zu 194

tun. Zhitlowsky vergleicht diese Sichtweise explizit mit Nietzsches Jenseits von Gut und Böse. Hiob offenbart sich mithin als Vorläufer moderner, radikaler Säkularisten, die mit ihm die Überzeugung teilen, dass die Verantwortung für soziale Gerechtigkeit allein bei den Menschen liege. Anhand seiner Deutung des Buches Hiob schlägt Zhitlowsky vor, traditionelle religiöse Symbole und Rituale einer »wissenschaftlichen Kritik« zu unterziehen und sie so in säkulare Symbole und Rituale zu verwandeln.101 Dieser Säkularisierungsprozess sei, wie Bialiks Aneignung der religiösen Tradition, ein Ergebnis der dialektischen Entwicklung der modernen jüdischen Geschichte. Das erste Stadium in der Moderne bezeichnet Zhitlowsky als das des apikoros, des Häretikers, der sich von innen her auflehnt, jedoch vielen anderen Juden den Weg zur europäischen Aufklärung weist. Die jüdische Variante der Aufklärung habe etwas Wesentliches vollbracht, indem sie die Religion in die Sphäre des Privaten verwiesen, gleichzeitig jedoch der Assimilation Tür und Tor geöffnet habe. Das zweite Stadium sei jenes des ba’al teschuva, der die romantische Rückkehr zur Religion vollziehe. Dieses Stadium sei mit Slawophilie und »Teutomanie«, Deutschtümelei, vergleichbar; Zhitlowsky nennt es »Judäomanie«. Unter Anerkennung der Schlüsselrolle, welche die jüdische Religion für das nationale Überleben gespielt habe, bezeugt er eine gewisse Sympathie für diese Strömung. In einem säkularen Zeitalter habe sie diese Rolle eingebüßt, und die Judäomanie müsse der jiddischen Kultur weichen, die neuen Wein in alte Gefäße gießen werde. Als säkulare Kultur werde die jiddische Kultur die Religion in der Sphäre des Privaten belassen, dabei aber dank einer Neuinterpretation der Religion in säkularen Kategorien die Fallstricke der Judäomanie vermeiden. Das dritte Stadium seines historischen Systems nennt Zhitlowsky »die poetisch-nationalistische Erneuerung der jüdischen Religion«, wobei er mit »poetisch-nationalistisch« säkular meint. Das Pessachfest etwa wird nun, aller göttlichen Wunder entkleidet, zur Geschichte der nationalen Selbstbefreiung. Das Sukkotfest soll gemäß Zhitlowskys agrarsozialistischen Auffassungen zu seinen biblischen Wurzeln als Erntedankfest zurückkehren. Im Übrigen zeige dieser Feiertag, dass die jüdische Kultur einem großen Zelt (der sukka) gleiche, das allen Juden Raum biete: Der Orthodoxe könne darin seinen lulav schwenken, ein christlicher Jude sein Jesus-Bild aufhängen, ein sabbatianischer Muslim den Koran lesen und ein Atheist S­ chopenhauer, ein Pantheist (oder Spinozist) könne in der universalen Substanz aufgehen. In dieser ökumenischen Umarmung geht Zhitlowsky noch weiter als in der »Kruzifix-Debatte«, indem er jedwede Art von Juden einschließt (es ist faszinierend, dass die Döhnmeh-Sekte der sabbatianischen Muslime in der Türkei damals noch aktiv genug war, um hier erwähnt zu werden). 195

Man fragt sich indes, was genau diese disparaten jüdischen Gruppen einen sollte, die an alles Mögliche glaubten, zumeist im Widerspruch zur religiösen Tradition. Hier steuert Zhitlowsky, auf der Grundlage seiner Auslegung der zeitgenössischen Wissenschaft, zuweilen eine mit dem Rassebegriff operierende Bestimmung der jüdischen Zugehörigkeit an. Begeistert widmete er sich der Popularisierung der modernen Wissenschaft in Jiddisch und schrieb lange Essays, in denen er seiner Leserschaft unter anderem Darwin und Einstein erklärte. In einer ausführlichen theoretischen Abhandlung mit dem Titel Was ist eine Nation? äußerte er, die zeitgenössische biologistische Rassentheorie biete keine adäquate Erklärung für die Nation an.102 Schließlich umfasse die »arische« Rasse verschiedene, mit je eigenen Merkmalen ausgestattete Nationen. Die Theorie von der Nation müsse den Einfluss der Natur auf die Kultur berücksichtigen. Ebenso wie man durch häufiges Musizieren den Grad seiner Musikalität erhöhen könne, werde eine Nation, je mehr sie gezwungen sei, auf bestimmte natürliche Anreize zu reagieren, in einem höheren Grad das betreffende, ihr eigene Merkmal entwickeln. Ohne Lamarck namentlich zu erwähnen, scheint Zhitlowsky der Theorie von der Vererbung erworbener Wesensmerkmale beizupflichten: »Je mysteriöser der Prozess, desto mehr werden seine Spuren von einer Generation auf die nächste übertragen«.103 Dieser Prozess bringe eine weitaus größere Anzahl produktiver Kombinationen hervor als die Zufälle der Natur, eine Feststellung, mit der sich Zhitlowsky einerseits in einen scheinbaren Gegensatz zu Darwin begibt und sich andererseits Freud annähert. In seinem Juden und Jüdischkeit betitelten Essay aus den späten 1920er Jahren wendet Zhitlowsky diese Gedanken auf die Juden an.104 Aus seinem Wunsch heraus, eine säkulare jüdische Zugehörigkeit zu schaffen, kokettiert er mit einer rassischen Definition, in der bestimmte, im Laufe der Geschiche erworbene, angeborene Züge durch Vererbung weitergegeben würden. Die jüdische Eigenschaft der Barmherzigkeit etwa leite sich nicht aus der jüdischen Religion ab, sondern sei Teil dieser angeborenen, von ihm jiddischkeit genannten Wesensart. Diese »Jüdischkeit« unterscheide sich vom Judentum, obwohl sie die mit diesem Begriff bezeichnete Religion mit einschließe. Diese Vorstellung von einer »jüdischen Sensibilität« gestattet es ihm, Strömungen wie dem Marxismus und der Psychoanalyse jüdische Charakteristika zuzuschreiben: Selbst Juden wie Marx, die sich nicht mehr als jüdisch betrachteten, hätten nolens volens ein angeborenes jüdisches Ethos in ihre universalistischen Philosophien eingebracht. Matthew Hoffman hat darauf hingewiesen, wie sehr Zhitlowskys säkulares Konzept der jiddischkeit dem auf den Chassidismus zurückgehenden volkstümlichen Konzept vom dos pintele jid (»der jüdische Funke«) 196

ähnelt. Bereits im jüdischen Volksbrauchtum habe es die Vorstellung von einer jüdischen Wesensart jenseits der Religion gegeben. In der Tat habe der im 19.  Jahrhundert wirkende ultraorthodoxe ungarische Rabbiner Akiva­ Schlesinger geäußert, jenseits der traditionellen Sphäre der Halacha liege die Kategorie der »Jüdischkeit« (jahadus, modernhebr. jahadut, das [aschkenasisch-]hebräische Pendant von jiddischkeit), der er den Begriff gojus (modern­ hebr. gojut), Nichtjude-, Goj-Sein, gegenüberstellte: Hier handele es sich nicht mehr um rein religiöse Kategorien, sondern gewissermaßen um essenzielle nationale oder ethnische Züge.105 So schuf Zhitlowsky mit seiner offenkundig säkularen Kategorie der jiddischkeit eine merkwürdige Verquickung von säkular-wissenschaftlichen Rassetheorien und der in der orthodoxen Welt­ bereits kursierenden Vorstellung von einer jüdischen Eigenart. Von bitterer Ironie in Zhitlowskys Auffassung ist, dass er in jiddischkeit den vermeintlich auf ewige Zeiten bestehenden Wesenszug des Jüdisch-Seins sah. Diese angeborene, dauerhafte Eigenschaft bestehe sogar dann weiter, wenn man sich aus der traditionellen Welt löse. Und doch war es gerade die jiddische Sprache, die Zhitlowsky als Träger der jiddischkeit in das Zentrum seiner Philosophie stellte, die im 20. Jahrhundert so rasch verschwand. Trotz seiner episodischen Verwendung rassentheoretischer Argumente beruhte Zhitlowskys Nationalismus auf kontingenten kulturellen Kräften.106 Wenn die Bedingungen für eine Kultur verschwinden, kann die Kultur selbst nicht überdauern. Zhitlowsky selbst ist nachzusehen, dass er eine solche Entwicklung nicht vorausahnte. Er starb 1943, als der Massenmord in vollem Gange war, mit dem die überwältigende Mehrheit der Jiddischsprechenden aus­gelöscht wurde und mit ihnen ein Großteil jener Kultur, auf die er seine Ideologie gegründet hatte.

Der amerikanische Schmelztiegel Zhitlowsky ließ sich 1908 endgültig in den Vereinigten Staaten nieder, wo er 1943 starb. Wie Tony Michels gezeigt hat, wirkte er zusammen mit dem legendären Redakteur der jiddischen Tageszeitung Forverts Abraham Cahan und anderen weniger bekannten Schriftstellern und Aktivisten gleichsam als Katalysator für jene sozialistisch geprägte jiddische Kultur, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts das jüdische Leben in Amerika beherrschte.107 Indem sie die jiddische Kultur mit radikalen politischen Überzeugungen verbanden, sahen sich diese Intellektuellen als Teil einer historischen Entwicklung, die in eine sozialistische Utopie münden und zugleich der gesellschaftlichen Marginalisierung der Juden ein Ende bereiten würde. 197

In der Regel waren die jüdischen Einwanderer aus dem Russischen Reich eher geneigt als die dort verbliebenen Juden, die religiöse Tradition aufzugeben und sich mit ihrem Eintritt in die amerikanische Arbeiterklasse neue Wertvorstellungen zu eigen zu machen. So wurde Amerika an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zum Brennpunkt eines neuen politischen und kulturellen Jiddischismus. Im Russischen Reich waren radikale politische Aktivitäten in den Untergrund verbannt und das kulturelle Leben der Zensur unterworfen, Amerika hingegen bot für beides ein freies Feld und ein begieriges Publikum. In der Tat waren es diese Umstände, die Zhitlowsky nach New York als dem säkularen Gelobten Land führten; später erging es dem jiddischen Schriftsteller Scholem Alejchem ebenso. Erst in der Zwischenkriegszeit entwickelten sich rivalisierende Zentren der säkularen jüdischen Kultur in der Sowjetunion, in Polen und Palästina. (Nach der Zerstörung der beiden Erstgenannten durch Stalin beziehungsweise Hitler sollte letztlich allein Palästina als einziger Konkurrent des »amerikanischen Vetters« übrigbleiben.) Die Entwicklung dieser Kultur in Amerika verlief jedoch anders, als ihre Begründer es sich vorgestellt hatten. Das repressive politische Klima in den 1920er Jahren, dann in den 1950er Jahren, ebenso wie die große Anziehungskraft der Demokratischen Partei unter Franklin D. Roosevelt während der Great Depression genannten Wirtschaftskrise bewirkten, dass die Juden, und nicht nur sie, sich von revolutionären Weltanschauungen ab- und dem Liberalismus zuwandten, der die Verbesserung der ökonomischen Lebensbedingungen in Aussicht stellte. Mit dem Niedergang des politischen Radikalismus wurde auch die jiddischistische Kultur der Einwanderungszeit, die mit diesem Hand in Hand gegangen war, geschwächt. Die allgemeine Amerikanisierung tat das Übrige. Wenn säkulare jiddische Kultur und Politik anfangs als der »amerikanischen Identität« förderlich empfunden wurden, erschienen sie den nächsten Generationen zunehmend als ebendiese Integration blockierend. Im Rückblick währte die von Zhitlowsky vertretene Weltanschauung nur zwei Generationen lang, bis sie sich auflöste und sich die Juden vollends amerikanisierten. Dennoch hatte sie natürlich anhaltende Wirkung auf die amerikanische Politik und Kultur: Auch weiterhin tendierten die Juden unabhängig von ihrer sozialen Stellung zu einer progressiven politischen Einstellung, und viele der ursprünglich auf Jiddisch entwickelten Themen und Redewendungen fanden Eingang in das Englische. Der sich auf dem Nährboden der jiddischen Sprache weiterentwickelnde und schließlich dominierende Säkularismus bestand in der US -amerikanischen jüdischen Gemeinschaft in neuen Ausprägungen fort; knapp die Hälfte der amerikanischen Juden bezeichneten sich im Jahr 2000 nach wie vor als »säkular«, 198

was einem etwa doppelt so hohen Anteil wie in der amerikanischen Gesamt­ bevölkerung entspricht. Die Übertragung der Ideen Zhitlowskys und seiner Weggenossen in das Englische brachte eine eigene amerikanische Ausprägung des jüdischen Säkularismus hervor. Der Religion und Staat trennende Verfassungsauftrag fand viele seiner größten Anhänger unter den säkularen Juden, denen eine Verbannung der Religion in die Sphäre des Privaten sehr von Vorteil zu sein versprach. Viele von ihnen befürworteten die Theorie vom Schmelztiegel Amerika.108 In diesem melting pot würden alle Einwandererkulturen zu einer neuen Legierung verschmelzen, die größer und anders sein würde als die Summe ihrer Komponenten. Diese neue amerikanische Kultur sollte weder religiös noch ethnisch geprägt sein; ihr Bindeglied sollte statt Herkunft oder Glaube die gemeinsame Staatsbürgerschaft sein. Wie wir im vorhergehenden Kapitel gesehen haben, war es der englisch-jüdische Schriftsteller Israel Zangwill, der mit seinem Drama The Melting Pot den Begriff vom Schmelztiegel popularisierte. Doch ebenso wie Zangwills Vorstellungen von den Juden als »Rasse« höchst ambivalent waren, so lieferte auch seine Beschreibung des Schmelztiegeleffekts widersprüchliche Resultate. Einerseits scheint das Stück Mischehen als Weg zur Amerikanisierung zu befürworten, andererseits entwickelt Zangwill dieses Motiv unterschwellig nicht dadurch, dass er die jüdischen Charaktere ihrer besonderen Merkmale beraubt, sondern indem er Amerika jüdischer werden lässt. So kommt es, dass das scharfzüngige irische Hausmädchen, das sich anfangs in einer nahezu antisemitischen Weise über die jüdischen religiösen Gebräuche auslässt, zum Schluss Jiddisch spricht und Purim feiert. Trotz seines Titels stellt The Melting Pot die Juden als Modell dar, das dieses neue Amerika anzustreben habe; die assimilatorische Botschaft enthält mithin eine gehörige Portion jüdischen ethnischen Stolzes. Die Juden sind für Zangwill, wie es sich erweist, nicht nur irgendeine Einwanderergruppe, sondern per se Amerikaner. Sowohl unmittelbar darauf als auch einige Zeit später rief Zangwills Stück Reaktionen bei Juden und Nichtjuden hervor. Knapp ein Jahr nach der ersten Inszenierung des Stückes predigte Judah L. Magnes, der eloquente New Yorker Rabbiner und Anhänger von Achad Ha’am: »Amerika ist kein Schmelztiegel. Es ist nicht der Moloch, der die Opferung der nationalen Individualität fordert. Die Symphonie Amerikas ist von den verschiedenen Nationalitäten zu komponieren, die ihre individuelle, charakteristische Note beibehalten und diese in Harmonie mit ihren Schwesternationalitäten erklingen lassen.«109

Eine Reaktion von nachhaltigerer Wirkung kam von dem jüdischen Sozialphilosophen Horace Kallen mit seiner 1915 in The Nation unter dem 199

Titel Democracy Versus the Melting Pot erschienenen Artikelreihe.110 Kallen schrieb, der melting pot lasse sich nur durch eine Verletzung demokratischer Prinzipien erreichen, sprich: indem man die Einwanderer zwinge, sich ihrer Amerikanisierung nicht zu verweigern, und ihnen untersage, ihrer Herkunftskultur Ausdruck zu verleihen. Als Alternative befürwortete Kallen den von ihm sogenannten »kulturellen Pluralismus«. Wiederum mit dem Bild von der Symphonie spielend, malte sich Kallen die Vereinigten Staaten als »Demokratie der Nationalitäten« aus, politisch geeint und mit Englisch als ihrer gemeinsamen Sprache, wobei aber jede Nationalität ihren eigenen, von der Ursprungskultur beeinflussten englischen Dialekt pflegen könne. Kallens Essays spiegelten deutlich die kulturelle Realität der Einwanderungszeit wider, in der es kaum vorstellbar war, dass die Immigranten ihre ethnische Zugehörigkeit aus freien Stücken aufgeben oder sogar unweigerlich verlieren könnten. Im Gegensatz zu den Jiddischisten glaubte er sogar daran, dass die jeweiligen Kulturen der Einwanderergruppen im Englischen zum Ausdruck kommen würden. Kallens primäres Beispiel für eine mit einem starken kulturellen Erbe ausgestattete ethnische Gruppe waren die Juden. Der anhaltende Antisemitismus wie auch der dynamische Charakter der jüdischen Kultur in Amerika schienen ihn zu der Annahme zu führen, dass die Juden eine erkennbare Gruppe bleiben würden: »Von allen Völkern mit einem Kollektivbewusstsein ist ihres das ausgeprägteste […]. [S]obald […] der jüdische Einwanderer seinen Platz in der amerikanischen Gesellschaft als freier Mann […] und als Amerikaner einnimmt, wird er noch jüdischer.«111 Kallens vornehmlich auf seiner Beobachtung der Juden basierende Theorie der Einwanderung besagte, dass die Immigrantengruppe nach einem anfänglichen Assimilierungsversuch ihre »festen Gruppenmerkmale« entdeckt habe und »auf [ihre] Herkunft […] zurückgeworfen« werde. In diesem Stadium verwandelten sich »ethnische und nationale Unterschiede von Nachteilen zu sie auszeichnenden Merkmalen«.112 Die amerikanische Demokratie sei es, die diese freie Entfaltung ethnischer Kulturen ermögliche. Die Tolerierung kultureller und ethnischer Unterschiede leite sich unmittelbar von den föderalistischen Prinzipien ab, auf denen die Vereinigten Staaten gründeten. Für Kallen entsprach der kulturelle Pluralismus den Idealen Amerikas in weitaus größerem Maße als die alles vereinnahmende Ideologie der Amerikanisierung. Der kulturelle Pluralismus basiert nach Kallen auf dem unbewussten Einfluss der Ethnizität. Wie es bei ihm in einem viel zitierten Passus heißt: »Die Menschen können ihre Kleidung, ihre politische Einstellung, ihre Ehepartner, ihre Religionen, ihre Philosophien mehr oder weniger ändern; ihre Großeltern können sie nicht ändern.«113 Die Abstammung und nicht die Kultur ist 200

für Kallen das Fundament von Zugehörigkeit. Die Einwanderer unter Zwang zu amerikanisieren wäre kontraproduktiv, da ihr schieres Selbst­gefühl damit zerstört würde: Man würde ihnen damit eine neue Kultur aufpfropfen, ohne dass sie ein neues Selbstverständnis gewännen. Das eigentlich Problematische an Kallens Position, zumindest wie sie in der erwähnten Essay-Reihe aus dem Jahr 1915 zum Ausdruck kommt, ist – worauf Isaac Berkson, einer seiner Kritiker, hingewiesen hat – die von ihm der ethnischen oder rassischen Herkunft zugeschriebene autonome Macht.114 Für Kallen ist Kultur im Gegensatz zu ethnischer Zugehörigkeit ein veränderbares Epiphänomen. Wenn sich jedoch eine ethnische Kultur so sehr wandelt, dass sie ihrem Ursprung nicht mehr ähnelt, was wäre dann die Bedeutung einer allein auf Abstammung gründenden Zugehörigkeit? Kallen selbst erkannte später die Problematik seines ursprünglichen Standpunktes und war bemüht, sich von einer rassisch argumentierenden Definition von Zugehörigkeit zu distanzieren.115 Der wohl einflussreichste und produktivste Theoretiker einer neuen jüdischen Kultur in Amerika war Mordecai Kaplan. Kaplans Opus magnum Judaism as a Civilization erschien 1934, etwas mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Einsetzen der jüdischen Masseneinwanderung aus dem östlichen Europa nach Amerika. Nachdem die Einwanderung durch das Quoten­gesetz von 1924 praktisch beendet und eine Generation englischsprachiger Juden herangewachsen war, schien es an der Zeit zu sein, die Vision von einer der neuen amerikanischen Wirklichkeit angemessenen jüdischen Kultur zu formulieren. Für viele von Kaplans Lesern war die jüdische Religion weniger ein separates Glaubenssystem, sondern eine größere ethnische Kultur. Jüdisch zu sein bedeutete, »jüdisch« zu sprechen, mit Juden zu verkehren und Verhaltensweisen zu praktizieren, die man als den Juden ge­meinsam betrachtete. Für die Einwanderergenerationen war es möglich, die religiösen Gebote abzulegen, ohne ihre ethnische oder kulturelle Zugehörigkeit abzustreifen. Diesen gedanklichen Rahmen legte Kaplan in Judaism as  a Civilization theoretisch nieder. Freilich bestand er darauf, kein Säkularist zu sein, und unterschied ausdrücklich zwischen seinem »religiösen Kulturalismus« und dem »säkularen Kulturalismus«.116 Gleichwohl stellt ihn seine Behauptung, dass das Judentum eine Kultur (civilization) und nicht nur eine Religion sei, in Verbindung mit seiner naturalistischen Theologie und seiner Ablehnung der Vorstellung vom auserwählten Volk, in die Nähe des Säkularismus. Vom Kulturzionismus tief geprägt, lässt sich Kaplan mit seiner These, die Juden seien im Wesentlichen durch ihr Volk-Sein (peoplehood) definiert, als amerikanisches Gegenstück von Achad Ha’am ansehen.117 Kaplan charakterisiert civilization als »Nexus von Geschichte, Literatur, 201

Sprache, sozialer Verfasstheit, überlieferten Vorschriften (folk sanctions), Verhaltensnormen, gesellschaftlichen und geistigen Idealen, ästhetischen Wertvorstellungen«.118 Die Religion, die in Kaplans Vokabular auf Fragen der Glaubenslehren oder -belange beschränkt ist, sei daher gegenüber den in der Kultur verankerten »Volkstraditionen« (folkways) einer Gesellschaft sekundär. Sogar die 613 Gebote sind für ihn eher Teil der Tradition als der Religion. Nur wenn man sich das Judentum als eine Kultur (civilization) vorstelle, lasse sich die Krise überwinden, in der es sich in der Moderne befinde, und zwar durch die Festigung des Gefühls des Andersseins – für Kaplan ein essenzielleres Gefühl der Differenz als Religion. Amerika, stellt er fest, biete wohl den fruchtbarsten Boden für die Bewahrung der jüdischen Andersartigkeit. Kallen folgend legt er nahe, dass Amerika nie ein monolithischer Nationalstaat von der Art, wie er dem Republikanismus der Französischen Revolution vorgeschwebt hatte, werden könne; die Rivalität und das Wechselspiel zwischen einer protestantischen Mehrheit und einer katholischen Minderheit, auf welche die Mehrheit militant reagiere, werde Amerika als christliche Nation bewahren und gleichzeitig die völlige Assimilierung der Juden verhindern. Anders gesagt: Das Anliegen des jüdischen Separatismus werde durch den katholischen Separatismus gefördert, die katholische Kirche sei, ohne sich dessen bewusst zu sein, die Dienstmagd der Juden. Wo andere vielleicht die in der Regel antisemitischen und zugleich antikatholischen Kräfte beklagen mochten, erkannte Kaplan eine Tugend: »Vielleicht ist es Amerika bestimmt, von der strikten Logik des demokratischen Nationalismus abzugehen und eine neue kulturelle Konstellation zu erreichen, in der es historischen Kulturen oder Religionsgemeinschaften gestattet wäre, die hervor­ ragendsten Ergebnisse ihrer Erfahrung zu bewahren und sie zur amerikanischen Kultur und Zivilisation insgesamt beizusteuern.«119

Kaplans Analyse spiegelt die Realität der Zwischenkriegszeit wider, in welcher der Antikatholizismus zumindest ebenso stark ausgeprägt war wie der Antisemitismus. Obgleich der Antikatholizismus inzwischen weitgehend der Vergangenheit angehört, kann Kaplans Vision in mehrerer Hinsicht prophetisch genannt werden: Was ihm vorschwebte, würden wir heute Multikulturalismus nennen, und er sah die Möglichkeit voraus, dass eine christliche Erneuerungsbewegung in Amerika paradoxerweise den Juden zugutekommen könne. Der Gedanke, dass die amerikanische Kultur von den Beiträgen einzelner Kulturen gestaltet werden könne, veranlasste Kaplan, für das zeitgenössische Amerika »Bindestrich-Identitäten« (hyphenated identities) zu fordern. Die Übernahme nichtjüdischer Gebräuche solle nicht verpönt sein, 202

vorausgesetzt, es handele sich um einen bewussten, expliziten Prozess. Sogar Mischehen begrüßte er, solange die Haushaltsführung jüdisch wäre und die Kinder jüdisch erzogen würden: »Nur eine offen eingestandene Strategie dieser Art [das heißt, die Akzeptanz von Mischehen] vermag die Lage der Juden in Amerika vertretbar machen. Denn nichts steht dem Ideal des kulturellen und geistigen Zusammenwirkens so entgegen wie die uneingeschränkte Weigerung eines Teils der Bevölkerung, mit Angehörigen eines anderen Teils die Ehe einzugehen.«120

Diese Offenheit gegenüber Nichtjuden lässt sich schwer mit Kaplans gleichzeitigem Streiten für die Akzeptanz jüdischer Anders­artigkeit vereinbaren. Letztendlich jedoch stellt Kaplan die Religion wieder in das Zentrum seiner Philosophie. Die Trennung zwischen der modernen Kultur und der Religion sei bestensfalls ein vorübergehenes Phänomen; in Zukunft werde die Religion in der Kultur wieder eine zentrale Rolle spielen. Kaplans Religionsbegriff ist freilich idiosynkratisch  – die Idee von einem transzendenten Gott ist darin nicht zu finden. Seine Vorstellung von Gott als dem Geist der Natur ähnelt sehr der des Häretikers Spinoza, auch wenn Kaplan diesen kaum erwähnt. Für ihn bedeutet Religion »Lebenswillen«. Auf diese säkulare Weise neu definiert, erweist sich das Judentum als die »religiöseste« aller Religionen und mithin als die am ehesten geeignete, der amerikanischen Kultur in Zukunft neue Anregungen zu geben. Trotz dieser unerwarteten Hinwendung zur Religion war Kaplans Kulturkonzept, wie Achad Ha’ams Kulturzionismus, ein Versuch, jenseits der religiösen Tradition zu einer umfassenderen Vision jüdischer Zugehörigkeit zu gelangen. Obgleich der von ihm begründeten Bewegung nie eine große Anhängerschaft beschieden war, kommt sein Verständnis von einer jüdischamerikanischen Kultur vielleicht der Theorie von einem Schutzschirm am nächsten, der die markanten, vom Orthodoxen zum Säkularen reichenden Spielarten dieser Kultur überspannt. Ungeachtet seines Universalitäts­ anspruchs hat Kaplans Judentum etwas spezifisch Amerikanisches. Im Gegensatz zu Achad Ha’ams Sichtweise drückt sich diese Kultur nicht auf Hebräisch oder etwa Jiddisch, sondern auf Englisch aus. Ihre bloße Interaktion mit der Umwelt wird von ihrer Sprache selbst thematisiert, die keine Schmelzsprache ist wie Jiddisch, Ladino oder Judäo-Arabisch, sondern die Mehrheitssprache, welche die Juden, wenngleich ihren eigenen Bedürfnissen angepasst, annehmen müssen. In diesem Sinne spielt Englisch, wie auch Deutsch vor der NS -Zeit, für die Juden eine ähnliche Rolle wie einst in der Spätantike Griechisch: als Sprache, in der die Juden redeten und schrieben und in der sie ihre eigene Kultur zum Ausdruck brachten. 203

Das amerikanisch-jüdische Englisch ist kein Dialekt. Indirekt spiegelt es jedoch das Vermächtnis des von den Vorfahren der meisten seiner Sprecher verwendeten Jiddischen wider  – ebenso wie das moderne Hebräisch Elemente aus dem Jiddischen, dem Judäo-Arabischen und aus anderen von den jüdischen Einwanderern gesprochenen Sprachen absorbiert und dabei in etwas Neues verwandelt hat. Ganz ähnlich hat die Art und Weise, in der sich eine Unzahl von amerikanisch-jüdischen Schriftstellern, Dichtern und Komödianten des Englischen bedient, jene Stimmen aufgegriffen und verwandelt, die für die amerikanischen Juden innerhalb ihrer breiteren Kultur charakteristisch sind. Dieses Englisch darf daher als jüdische Sprache bezeichnet werden. Die Sprachenkriege des frühen 20.  Jahrhunderts wurden weniger durch den Sieg des Hebräischen über die diasporischen jüdischen Sprachen entschieden als vielmehr durch die Ersetzung der alten jüdischen Sprachen durch neue. Das Hebräische selbst hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts so radikal verändert, dass manche Sprachforscher es eher als »israelisch« bezeichnen, um die enge Verknüpfung mit dem Staat, in dem es beheimatet ist, deutlich zu machen. Die Erfindung neuer politischer, kultureller und ethnischer Definitionen der alten Gemeinschaft Israels gehört zu den größten Beiträgen, die das säkulare Denken zu den Erscheinungsformen einer modernen jüdischen Verfasstheit geleistet hat. Wenn manche dieser Formen Elemente der jüdischen Religion übernahmen, geschah dies oft durch eine Übertragung ihrer Bedeutung in ein nationales oder kulturelles Idiom. Die Geschichte, die Sprache und der weiter gespannte Schirm der Kultur überlagern nun die Religion. Die hier behandelten Schriftsteller  – Achad Ha’am, Bialik, Dubnow, Berdyczewski, Scholem und Zhitlowsky  – haben ihre eigenen, je unterschiedlichen Wege gefunden, die Vergangenheit mit dem Blick auf eine säkulare Gegenwart neu zu interpretieren. Diese Reinterpretation ging mit leidenschaftlich geführten Kampagnen für die Einsetzung des Hebräischen beziehungsweise des Jiddischen als Sprache der säkularen jüdischen Kultur einher. Am radikalsten wurde diese Dialektik von Josef Chaim Brenner mit seiner Forderung nach einer totalen Trennung zwischen der jüdischen Religion und den Juden der Gegenwart gesprengt: Die neue hebräische Kultur sollte die drängenden aktuellen Anliegen ihrer Angehörigen und nicht jene der Vergangenheit widerspiegeln. Nach wie vor steht die israelische Kultur tief in der Schuld ­Brenners und seiner säkularistischen Mitstreiter. In Amerika hatte dieser radikale Säkularismus in der frühen Nachkriegszeit an Einfluss verloren; in seiner Überformung durch Horace Kallen, Mordecai Kaplan und andere Gestalter der amerikanisch-jüdischen Kultur wirkt dieses Denken indes bis in das 21. Jahrhundert nach. 204

Schluss: Gott, Tora und Israel

Dieses Buch beruht auf der in sich widersprüchlichen These, die besagt, dass viele der eingeschworensten Kritiker der Religon, die wir Säkularisten nennen, sich der von ihnen umgestoßenen Tradition nie entziehen konnten. Zuweilen fühlten sie sich der Vergangenheit bewusst und explizit verpflichtet, so sicherlich im Fall von Chaim Nachman Bialik oder Gershom Scholem. Bei anderen, wie Theodor Herzl oder Hannah Arendt, muss man tiefer schürfen, um diese Verbindung zutage zu fördern. Ganz andere Gelehrte wiederum liegen irgendwo dazwischen. Salomon Maimon zum Beispiel wählte sich Maimonides zu seinem Namensgeber, versuchte indes häufig, die Spuren seiner traditionellen Erziehung zu verwischen, indem er die eigene Herkunftswelt ins Lächerliche zog. Entwirrt man diese Verschleierungsstrategien, tritt ein komplexes Muster hervor, nach dem Maimon die jüdische Philosophie des Mittelalters durch das Prisma der Aufklärung las, umgekehrt aber auch die Aufklärung durch ein jüdisches Prisma. Ähnlich las Sigmund Freud die Bibel nach seiner eigenen Version der Aufklärung neu, war aber ebenso wenig davor gefeit, die Aufklärung aus jüdischer Sicht zu lesen. Auch der radikalste unter den Säkularisten, Joseph Chaim Brenner, konnte nicht umhin, sich jener rabbinischen sprachlichen Wendungen zu bedienen, die er mit der Muttermilch aufgesogen hatte. Für die jüdischen säkularen Denker, die Gegenstand dieses Buches sind, ist, im Gegensatz zu den Säkularisten im Allgemeinen, dieses dialektische Verhältnis zwischen modernem Rationalismus und der jüdischen Tradition charakteristisch. Ich habe versucht zu zeigen, dass das Judentum, weil ihm eine dogmatische Theologie fehlte, säkularen Wegen gegenüber vielleicht offener war als etwa das Christentum. Jedoch nicht nur das Fehlen einer solchen Theologie bereitete den Boden für den Säkularismus, sondern auch wichtige Elemente der prämodernen Tradition selbst taten dies. Ich habe diesen Band mit einem Zitat von Isaac Deutscher begonnen, der die jüdischen Säkularisten der Neuzeit in einer Tradition der Häresie verortete. Säkulare Denker, die nach einer Gegentradition suchen, in deren Kontext sie sich stellen können, mögen intellektuelle Vorfahren in dem häretischen Rabbiner Elischa ben Abuja oder dem antinomistischen Pseudo-Messias Schabbtai Zwi erkennen. Diese historischen Häretiker sind indes nicht die einzigen Quellen, auf die sich ihre modernen Erben berufen können. Signifikanter sind wohl die kanonischen Gestalten des 205

traditionellen Judentums wie zum Beispiel Moses Maimonides, die auch zu Ikonen des säkularen Denkens gemacht werden. Maimonides᾿ wirkmächtige These von Gottes absoluter Transzendenz konnte auf den Kopf gestellt werden, um die Existenz einer solch fernen Gottheit zu leugnen. So vermochten auch ausgeprägt theistische Positionen ihre dialektische Negation zu nähren. Eine wesentliche Gestalt in dieser Wirkungsgeschichte ist Baruch beziehungsweise Benediktus Spinoza. Dass dieser Häretiker des 17. Jahrhunderts unter seinem hebräischen wie auch seinem lateinischen Namen bekannt ist, sagt viel über sein Grenzgängertum aus. Mit den Füßen stand er fest auf dem Boden der jüdischen Tradition des Mittelalters, die Arme einer noch nicht geborenen Welt entgegengestreckt. Wie schon dargestellt, hätte Spinoza die Art und Weise, wie ihn spätere Denker zu einem Vordenker, zum Begründer des jüdischen Säkularismus machten, nicht nachvollziehen können. Doch seine Gedanken über Gott als Natur, die Tora als historisches Artefakt und Israel als politische Nation hallten in den verschiedenen Permutationen des hier im Überblick untersuchten jüdischen säkularen Denkens nach. Spinoza war in der Tat der Wegbereiter der alchemistischen Transformationen dieser drei religiösen Grundkategorien in ihren säkularen Entsprechungen. Die Gottesfrage, die in der Prämoderne niemals ein zentrales jüdisches Anliegen gewesen war, spielte in der Moderne eine viel größere Rolle. Da das Gesetz von der göttlichen Offenbarung ausging, führte seine Infragestellung unweigerlich zur Infragestellung des Gottes, in dem die Überlieferung ihren Ursprung gesehen hatte. Der Atheismus, für den Verstand im Mittelalter nur eine rein theoretische Möglichkeit, stellte nun eine reale philosophische Option dar. Zum Teil von Spinoza inspiriert, setzten sich mehrere Traditionen des säkularen Denkens mit dieser Herausforderung auseinander. Manche, wie der Kulturkritiker und frühe Zionist Max Nordau oder Sigmund Freud, wiesen die Existenz Gottes kurzerhand als barbarischen, der zeitgenössischen Vernunft schlecht anstehenden Aberglauben zurück. Freud zum Beispiel reduzierte Gott auf eine psychologische Projektion, die in den Himmel versetzte Vaterfigur. Nichtsdestoweniger vertrat er die Auffassung, dass es das Judentum, das Gott zu einem Vater reduziert und von ihm als solchem gesprochen hatte, gewesen sei, das den Boden für die psychoanalytische Offenbarung seiner Abwesenheit bereitet hatte. Andere zogen es vor, für ihre eigenen Zwecke an einer theistischen Sprache festzuhalten. Die von mir »Spinozas geistige Kinder« Genannten – ­Salomon Maimon, Heinrich Heine, Albert Einstein und Leo Strauss – wandelten auf den Pfaden des Pantheismus, wenn sie das Göttliche in die Natur einfließen ließen. Andere, namentlich Bialik und Scholem, fanden in der mittelalterlichen kabbalistischen Tradition wirkmächtige Quellen für die moderne 206

Empfindung der Abwesenheit Gottes. Dies kann als moderne Version der Gnostik, in welcher der deus absconditus der menschlichen Erkenntnis unzugänglich bleibt, gedeutet werden. Für Bialik verwandelte die Abwesenheit Gottes das Göttliche in den Tod. Scholem hingegen nährte die Hoffnung, dass Spuren des verborgenen Gottes auf der Schutthalde der Geschichte zu finden sein könnten. Ein anderer Strang des säkularen Denkens schließlich ersetzte den jüdischen Theismus durch eine Rückkehr zu den alten heidnischen Göttern Kanaans. Diese waren vor allem Naturgottheiten, womit sich der Kreis schließt und wir wieder beim Pantheismus angelangt sind. Kein wie auch immer geartetes Ringen mit Gott vermochte die Hebräische Bibel zu ignorieren, jenes Buch, in dem dieses Ringen zum ersten Mal stattgefunden hatte. Sogar innerhalb der Bibel stellen einander widersprechende Stimmen die fundamentalistische Vorstellung infrage, der Text selbst vermittle eine homogene Botschaft. In Wahrheit ist die Bibel ein Buch aus Büchern. Seinem Stimmengewirr fügten die Rabbinen ihre eigenen Gesetzesund Legendendeutungen hinzu. Im Mittelalter schließlich nahmen die hier besprochenen bedeutenden Philosophen und Exegeten Abraham ibn Esra und Moses Maimonides mit ihren sehr unterschiedlichen, aber ähnlich radikalen Interpretationen der Bibel die moderne historische Bibelkritik voraus. Ibn Esra war der Erste, der eine immanente Exegese vornahm, welche den Erkenntnis­‑ gehalt der Schrift eingrenzte, während Maimonides im dritten Teil des Führer der Unschlüssigen mit »Gründe für die Gebote« (Ta’amej Mizwot) eine frappierend modern wirkende, historische Deutung des Opferdienstes vorlegte. Spinoza anerkannte ausdrücklich seine Verpflichtung, wenn nicht Maimonides, so doch Ibn Esra gegenüber. Indem er der Bibel ihren zentralen Stellenwert nahm und sie von dem Buch zu einem Buch machte, schuf er die Grundlage für die gesamte moderne Bibelkritik. Er öffnete das Tor zu neuen Wegen, der Bibel Relevanz zu verleihen, auch wenn er sie für durch und durch veraltet hielt. Ob als Quelle für Heines politische Idee der sozialen Gerechtigkeit, Freuds psychologischen Juden oder Ben-Gurions jüdischen Staat, die Bibel konnte außerhalb des Gebäudes der Religion nutzbar gemacht werden. Die säkulare jüdische Bibel war nicht mehr die Tora im traditionellen Sinn, sondern diente nun als Quelle für eine Fülle moderner politischer und kultureller Ziele. Nur die hartgesottensten Säkularisten, sei es Nordau oder Brenner, beförderten das Buch in den Abfalleimer der Geschichte. Gleichzeitig sprach die schiere Vehemenz ihrer Kritik Bände über die anhaltende Wirkungsmacht des antiken Textes. Gott und die Tora neu zu konfigurieren, musste unweigerlich dazu führen, auch Israel neu zu denken: Als eine Gemeinschaft, die historisch einst ein éthnos, eine Nation und ein Staat und zusätzlich Träger einer Religion 207

gewesen war, bildeten die traditionellen Definitionen Israels eine solide historische Basis für säkulare Versionen der Nation, seien sie nun rassischer oder politischer Art. Auch hatte eine Gruppe von Theoretikern  – Maimonides, ­Moses Nachmanides, Salomo ibn Adret und Nissim ben Reuben Gerondi  – erstaunlicherweise innerhalb der vier Zoll der Halacha im Mittelalter bereits ein Gebiet des säkularen Rechtes abgesteckt. Auch wenn sich moderne Philosophen dieser Traditionslinie vielleicht nicht bewusst waren, demonstriert ihre bloße Existenz, dass säkulare Politik nicht ausschließlich eine Erfindung der Moderne war. Wieder einmal war Spinoza mit seiner Ansicht, das wahre Selbstverständnis Israels sei nicht religiöser, sondern politischer Art, zu einer Schlüsselfigur geworden. Dieser politische Aspekt aber erschien ihm als völlig überholt. Seine Nachfolger in der Moderne dachten ganz anders darüber. Moses Hess, ein bekennender Schüler Spinozas, verknüpfte die jüdischen nationalen Bestrebungen mit dem Begriff der Rasse. Ebenso verhielt es sich mit ­W ladimir Jabotinsky. Andere zionistische Denker – Herzl und Ben-Gurion – verwarfen diese Denkweise; ihnen erschien einerseits der Antisemitismus, andererseits die Errichtung eines jüdischen Staates als die Nation konstituierende Faktoren. Kritiker des politischen Zionismus wie Bernard Lazare und Hannah Arendt, beide zunächst selbst zionistisch orientiert, formulierten ihre eigenen Versionen eines säkularen politischen Selbstverständnisses der Juden, wobei sie das Bild der auf Hiobs Misthaufen hockenden Armen vor Augen hatten. Das Fin de Siècle war eine Zeit der politischen wie kulturellen Umwälzung. Neben den verschiedenen politischen Definitionen Israels ist das letzte Kapitel dieses Buches der Suche nach einer säkularen jüdischen Kultur nachgegangen, die von Debatten über Sprache und Geschichte gekennzeichnet war. Da sie die Quellen dieser Kultur in der Geschichte fanden, verankerten die säkularen Denker ihre Neuerungen in der historischen Tradition. An mehreren Fronten wurde darüber gestritten, ob diese Kultur ihren Ausdruck auf Hebräisch, Jiddisch oder in nichtjüdischen Sprachen finden sollte. Dieser Streit hatte so manche Vorläufer in früheren Perioden der jüdischen Geschichte, aber nie zuvor war er mit derartiger Vehemenz geführt worden. Alle Parteien waren sich allerdings darin einig, dass die Sprache als Substitut der Religion ein wesentliches Element jeder säkularen Kultur darstelle. Die Suche nach einer säkularen jüdischen Kultur spielte sich auf mehreren Bühnen ab: in Europa, in Palästina, in den Vereinigten Staaten wie auch in Nordafrika und im Nahen Osten. Die säkulare Revolte gegen die Religion war zwar überall ein zentrales Kapitel in den jüdischen Modernisierungs­ prozessen, es war jedoch keine einheitliche Revolte. Ihr Zentrum lag im öst208

lichen Europa, wo die besonderen Lebensumstände der Juden unter der zaristischen Unterdrückung zu einer dichotomen Spaltung zwischen ortho­doxen Autoritäten und ihren Gegnern führte. Wohl gab es im Osten Reformansätze, doch brachte die Hegemonie der Orthodoxie eher revolutionäre säkulare Alternativen auf den Plan. Dieser unerbittliche Kampf war zum Teil Grund für die Entstehung der zionistischen Bewegung, und im Staat Israel sollte sich die religiös-säkulare Polarität als die langlebigste erweisen, größtenteils deshalb, weil es den Orthodoxen überraschend gut gelang, bestimmte Aspekte des israelischen Rechtes unter ihre Kontrolle zu bringen. Andererseits verloren die jüdischen Immigranten aus Osteuropa, die mit Säkularismus und Sozialismus im Gepäck nach Nord- und Südamerika gelangt waren, mit dem wachsenden Grad an Integration und Akkulturation weitgehend ihren Kampfgeist. Besonders in den Vereinigten Staaten mit ihrer starken, von religiösem Pluralismus geprägten Zivilgesellschaft begann sich der Säkularismus aufzulösen, als die Juden Teil des Mainstreams wurden. Für die Juden anderswo war der Konflikt weniger heftig als in Osteuropa. Obgleich sich auch viele mittel- und westeuropäische Juden dem Säkularismus zuwandten, milderten religiöse Alternativen im Gewand der Reform wie auch die Entstehung einer teilweise »neutralen« nichtjüdischen Gesellschaft den erbitterten Kampf, der im Osten geführt wurde. Eine interessante Ausnahme bildet Frankreich, wo das republikanische Ideal der laïcité (ein kaum zu übersetzendes Wort, das für mehr als den bloßen Säkularismus steht) vor allem nach der Dreyfusaffäre eng mit den Rechten der Juden verknüpft war. Für viele französische Juden wurde die für den französischen Staat charakteristische Laizität zu einer kraftvollen Ausformung eines jüdischen Selbstverständnisses. Die Juden Nordafrikas und des Nahen Ostens schließlich machten einen unterschiedlichen Modernisierungsprozess durch, der zum Großteil durch den westlichen Kolonialismus und den Paternalismus der europäischen Juden vermittelt wurde. Gewiss fand auch im Orient eine säkulare Rebellion gegen die Tradition statt, aber es war nur eine relativ kleine Elite, die sich modernisierte. Für die übrigen Juden war es erst die erzwungene oder frei­willige Umsiedlung aus ihren angestammten Ländern in den 1950er und 1960er Jahren die zu einer Begegnung mit Modernität und Säkularismus führte. Für diejenigen, die in den Staat Israel einwanderten, hatte der Säkularismus ein aschkenasisches Gesicht; dies wurde zum Zündstoff für einen neuen internen jüdischen Konflikt, in dem sich religiös-­säkulare und ethnische Bruchlinien überschnitten. Die Entwicklung, die der Säkularismus nahm, variierte mithin entsprechend dem politischen und kulturellen Klima, in dem die Juden lebten. Die 209

Migration, sei es vom Land in die Stadt oder von einem Kontinent zum anderen, trug das Ihre dazu bei, diese Entwicklung weiter zu beeinflussen. Das 20. Jahrhundert hindurch veränderte sich der jüdische Säkularismus in Reaktion auf die je unterschiedliche Umgebung des jüdischen Lebens. Was lässt sich über das Vermächtnis dieser verschiedenen Ausprägungen des Säkularen im frühen 21. Jahrhundert sagen und welche Richtungen werden sie in Zukunft einschlagen?

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Epilog: Vermächtnis

Der jüdische Säkularismus nahm seinen Aufschwung im Wesentlichen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Diesem »säkularen Moment« in der jüdischen Geschichte waren, wie im vorliegenden Band dargestellt, andere vorausgegangen, und noch ist dieser »Moment« nicht vorüber. Doch in allen jüdischen Gemeinschaften, in denen säkulare politische, kulturelle und philosophische Bewegungen blühten, haben sich die großen ideologischen Kämpfe, die vor einem Jahrhundert das Bild beherrschten, verändert und vielerorts auch gelegt. Ihr Vermächtnis indes – in der Form eines kulturellen Gedächtnisses – bleibt lebendig, und nicht nur innerhalb dieses Gedächtnisses. Das Konzept des Vermächtnisses deutet im Gegenteil auf eine Erinnerung hin, welche die Erben weiter umtreibt, ihre Glaubensvorstellungen und Handlungen beeinflusst, auch wenn ihnen dies vielleicht nicht bewusst ist.1 Dass die Juden heute weltweit in all den in diesem Buch zum Ausdruck gebrachten Weisen unverhältnismäßig säkularer sind als ihre nichtjüdischen Mitbürger, ist ein Beleg für die Nachhaltigkeit dieses Vermächtnisses. Es wäre jedoch ein Fehler, eine direkte Verbindungslinie zwischen dem Säkularismus des Fin de Siècle und seinen jüngeren Versionen zu ziehen. Des Öfteren wird behauptet, wir lebten in einem »postsäkularen« Zeit­ alter, sprich: in einem Zeitalter, in dem die Religion und ihre Negation nicht mehr diametrale Pole darstellen.2 Die Religion ist ein untrennbarer Bestandteil der säkularen Welt in all ihren Facetten. Die Religion ist vom Säkularen durchdrungen, ebenso wie das Säkulare von der Religion durchdrungen ist. Nationalistischen Bewegungen haften oft religiöse Merkmale an, während religiöse Erneuerungsbewegungen sich häufig in der politischen Praxis niederschlagen. Der Anspruch der Aufklärung, die Götter getötet zu haben, erscheint zunehmend als hohl. Auch in der jüdischen Welt scheinen die alten Dichotomien weniger rigide zu sein. Betrachten wir die beiden größten jüdischen Gemeinschaften, zunächst im Staat Israel und dann in Nordamerika, um uns ein Bild davon zu machen, wie die von den hier besprochenen Denkern propagierten Ideen in jüngerer Zeit nachwirken und was sich für die Zukunft abzeichnet. Die Begründer der säkularen hebräischen Kultur wären zweifellos höchst erstaunt darüber, dass die Religion in dem von der zionistischen Bewegung errichteten Staat blüht und gedeiht. Für die frühen Zionisten war die 211

politische Souveränität aufs Engste mit einer säkularen Alternative zur jüdischen Religion verknüpft. Eine solche kulturelle, von der phänomenalen Durchsetzung des Modernhebräischen beförderte Alternative hat sicherlich im Staat Israel tiefe Wurzeln geschlagen. Doch auch wenn die wegweisenden zionistischen Denker – Herzl, Nordau, Achad Ha’am, Berdyczewski und Brenner – sich einen weitgehend religionsfreien jüdischen Staat ausmalten, erschwerte das vage Konzept eines jüdischen Staates es nicht nur praktisch, sondern auch ideologisch, eine klare Trennung zwischen Staat und Religion herbeizuführen. So kam es zu dem Paradox, dass der von radikalen Säkularisten gegründete Staat letztendlich sein Ehe-, Scheidungs- und Erbrecht wie auch die Bestimmung der öffentlichen Feiertage in der Religion verankerte. Auch die Definition, wer als Jude zu gelten hat, aus der sich das Recht auf die israelische Staatsbürgerschaft ableitet, greift auf religiöse Kate‑ gorien zurück. Die von der modernhebräischen Kultur prophezeite säkulare Revolution hat das ihr verheißene Land nicht ganz erreicht. In den 1950er Jahren beharrte der ultraorthodoxe Rabbiner Abraham Karelitz, bekannt auch als Chason Isch, bei einer Begegnung mit David Ben-Gurion darauf, dass allein die religiöse Überlieferung als »volle Karre« gelten könne. Er bezog sich dabei auf eine Passage aus dem Talmud, nach der, wenn eine volle und eine leere Karre auf einer schmalen Brücke aufeinandertreffen, die volle Karre Vorfahrt hat. Im Vertrauen darauf, dass die Geschichte auf seiner Seite sei, machte Ben-Gurion seinerzeit den Orthodoxen bestimmte Konzessionen: war er doch überzeugt, dass sie eine aussterbende Spezies waren. Seit dem Sechstagekrieg indes stellen zwei mächtige religiöse Bewegungen, die der antizionistischen Ultraorthodoxen und die der messianisch orientierten religiösen Zionisten, die Hegemonie der säkular-hebräischen Kultur infrage. Beide sind der Auffassung, dass der säkulare Zionismus – für sie eine leere Karre – kulturell bankrott ist, wobei die Ultraorthodoxen von einer hohen Geburtenrate und einem regen Zulauf aus dem Kreis der orientalischen Juden profitieren und die messianisch orientierten religiösen Zionisten auf der Welle der von der Eroberung des biblischen Judäa und Samaria ausgelösten religiösen Begeisterung reiten. Jede Bewegung glaubt aus je eigenen Gründen, das Blatt habe sich zu ihren Gunsten gewendet, und betrachtet den Säkularismus als vo­rübergehende Verirrung, als eine ein Jahrhundert währende Abweichung von der longue durée der jüdischen Geschichte. Diese religiösen Bewegungen stehen nicht einfach für einen bloßen Rückfall in eine prämoderne Vergangenheit, vielmehr sind sie sowohl ein Produkt der Moderne als auch eine Reaktion auf sie. Wenn der Säkularismus ursprünglich eine Reaktion gegen die Religion war, so sind der orthodoxe 212

Zionismus, der Nichtzionismus und der Antizionismus, wie schon die Bezeichnungen nahelegen, Reaktionen auf die dominante säkulare israelische Kultur. Der Zionismus war bestrebt, die religiösen Kulturen der Diaspora durch eine neue, einheitliche hebräische Kultur zu ersetzen, stattdessen hat er unerwartet zu einem Pluralismus und einer Vielfalt überraschenden Ausmaßes nicht nur der ethnischen Gruppen, sondern auch der religiösen Ausdrucksformen geführt. Infolge der Beharrlichkeit der Orthodoxie und ihrer politischen Macht hat die ansonsten dominante säkulare Kultur oppositionellen Charakter angenommen: Zumindest teilweise ist die Ablehnung theokratischer politischer Bestrebungen und Praktiken für sie sinnstiftend. In dieser Hinsicht lässt sich eine Verbindungslinie von der osteuropäischen Haskala und den nationalistischen Schriftstellern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu ihren geistigen Nachfahren zu Beginn des 21. Jahrhunderts ziehen. Erstere waren freilich in der Minderheit, während Letztere nun selbst vorherrschend sind. Nach wie vor lassen sich jedoch im Israel von heute viele Mentalitäten und Leitmotive der Begründer der modernhebräischen Kultur erkennen. Befassen wir uns nun damit, wie einige zeitgenössische israelische Autoren, die auf je unterschiedliche Weise das Vermächtnis des säkularen Zionismus übernommen haben, auf diese Situation reagieren. Amos Oz zum Beispiel ist ein streitbarer Verteidiger der säkularen Tradition. In seinem Buch über Begegnungen in Israel nach dem Sechstagekrieg hat Oz den ultraorthodoxen Antizionisten des Jerusalemer Viertels, in dem er selbst aufgewachsen ist, ein Kapitel gewidmet: »In der Nachbarschaft, in der ich geboren wurde und aufwuchs, ist die Schlacht entschieden worden. Der Zionismus wurde hier verdrängt. Er war hier und ist es nicht mehr.«3 Es war die Welt, die Brenner, Berdyczewski und Bialik für immer verbannen wollten: »Auflehnung und Ekel kamen bei ihnen zum Ausbruch, und sie verglichen es mit einem faulen Ei, einem Haufen toter Worte und ausgelöschter Seelen und dergleichen: sie prangerten es an und gleichzeitig verewigten sie es.«4 Aber zumindest in diesem Winkel Jerusalems und anderswo im Lande Israel ist die säkulare Revolution fehlgeschlagen – »Du aber«, spricht Oz zu sich selbst als Vertreter der zeitgenössischen säkularen Juden, »bist nicht berechtigt, Abscheu zu empfinden, weil auf dem Wege vom Damals zum Heute dieses Dasein durch Hitler erwürgt, getötet und verbrannt wurde.« Die Schoah verbietet jene Art von pauschaler Absage an die Religion, wie sie die Gründungsväter der modernhebräischen Kultur erteilten, und doch stellt die wiedererstandene Orthodoxie eine tödliche Bedrohung für diese Kultur dar. Oz kann nicht umhin, in eine an Brenner erinnernde, dem Antisemitismus gefährlich nahe kommende Sprache zu verfallen: »Nur Hitler und der 213

Messias leben und existieren hier, brennen wie zwei Feuersäulen über dem hier wimmelnden Knäuel Leben. Praktisch, flink und schlau […] fügt [es] eine Münze zur anderen […].«5 Oz’ Anliegen ist die Erneuerung eines Leitprinzips für eine säkular-zionistische Kultur, wobei er sich mit aller Kraft gegen die Vorstellung stemmt, der Zionismus sei eine leere Karre.6 Die Kultur Israels, sagt er, habe einen anarchistischen Kern: »Wir wollen keine Disziplin«. Dieser Widerstand gegen die Autorität und die Sehnsucht nach einem demokratischen Pluralismus seien nicht bloß zeitgenössische Erscheinungen, sondern dem historischen Judentum entsprungen: »Demokratie und Toleranz sind lediglich Ausdrucksformen von etwas Tieferliegendem: des Humanismus, dessen Wesenskern es ist, dass das Individuum immer das Ziel und nie das Mittel ist. Dieses Ideal ist weder Fremdkörper noch Import; es entströmt dem Herzen der jüdischen Kultur.« Wenn Humanismus und Demokratie inhärent jüdisch sind, dann muss auch der ihnen nahestehende Säkularismus in der jüdischen Kultur verwurzelt sein. Oz’ Projekt ist es, das Judentum – die historische jüdische Tradition in all ihrem Reichtum – den Rabbinern und der Religion zu entreißen. Unter den säkularen israelischen Lyrikern war es Yehuda Amichai (1924– 2000), der sich am heftigsten mit der religiösen Tradition im Dialog und Disput befand.7 Wie Bialik orthodox erzogen, stellte Amichai der widersprüchlichen Realität seines und seines Volkes Lebens ständig traditionelle Metaphern gegenüber. Angesichts der Schoah und der von Israel geführten Kriege kann er nicht an die Güte des Gottes Israels glauben. So beginnt eines seiner berühmtesten Gedichte, El male rachamim (Gott voller Barmherzigkeit), das auf dem bei Begräbnissen gesprochenen Gebet beruht, mit den ironischen Worten: »Gott voller Barmherzigkeit Wäre Gott nicht so voller Barmherzigkeit Gäbe es Barmherzigkeit in der Welt, und nicht nur Ihn.«8

In einem anderen Gedicht ist der Gott der Überlieferung, mit dem der Dichter ringt, ein Produkt der menschlichen Fantasie: »Ich erkläre aus vollem Glauben Dass das Gebet vor Gott war. Das Gebet hat Gott erschaffen. Gott hat die Menschen erschaffen, Menschen erschaffen Gebete Die den Gott erschaffen, der Menschen erschafft.«9

Ein zentrales Thema Amichais ist die Beobachtung, dass kleine Alltäglichkeiten »heiliger« sind als bombastische Theologien oder Ideologien. In einem 214

Prosagedicht schildert er, wie er, mit Körben voller Essen beladen, an der Mauer um die Jerusalemer Altstadt haltmacht.10 Er wird zum Orientierungspunkt für eine Gruppe von Touristen, die einen antiken Torbogen betrachten. Darauf der Dichter: »Die Erlösung wird nur kommen, wenn man ihnen sagt, ›Seht ihr dort den Bogen aus der römischen Zeit? Macht nichts, aber daneben, etwas nach links und dann weiter unten, sitzt ein Mann, der Obst und Gemüse für seine Familie gekauft hat.‹« Das Zeitalter des Messias für den säkularen Juden ist nicht an den Mauern Jerusalems oder in seinem Tempel zu finden, sondern in dem einfachen Akt, Essen für die Familie auf den Tisch zu stellen. Mit dieser Hinwendung zum Alltäglichen und zum Individuum hat Amichai das von Brenner für die hebräische Kultur formulierte Verprechen erfüllt. Wie Brenner kann sich auch Amichai nicht von der religiösen Tradition lösen, die seiner Säkularität ihre Sprache gibt, doch als jemand, der inmitten dieser Kultur des von Brenner und Bialik geschaffenen Alltagshebräischen lebt, vermag er, wohl viel mehr, als sie es vermochten, eine Poesie des Alltäglichen zu schreiben. Dass ein bedeutendes Werk der jüngeren Generation hebräischer Schriftsteller aus der Feder des israelisch-palästinensischen Autors Anton S­ chammas stammt, ist wohl das beste Zeugnis für die von Brenner für die hebräische Literatur vorgezeichnete säkulare Revolution. Schammas schrieb seinen großen Roman Arabesken über die palästinensische Erfahrung ganz bewusst auf Hebräisch. Brenners Haltung gegenüber den arabischen Bewohnern des Landes war gewiss ambivalent, und letztendlich wurde er von solchen ermordet. Man fragt sich jedoch, ob er nicht ein Dreivierteljahrhundert später angesichts dessen, dass ein Nichtjude ein faszinierendes Werk in einer »jüdischen Sprache« verfassen konnte, frohlockt hätte, es als Zeichen dafür angesehen hätte, dass die säkulare hebräische Kultur endlich die Engstirnigkeit der religiösen Tradition abgeworfen hat. Schammas’ Eingreifen in einen zuvor als innerjüdisch erscheinenden Dialog leitete eine neue, lose als »Postzionismus« bezeichnete Bewegung ein, die darauf abzielt, Israel von einem jüdischen Staat zu einem Staat all seiner Bürger zu machen. Die Behauptung der Postzionisten (wobei es keine einheitliche, von allen geteilte Ideologie gibt) ist, dass der dem ursprünglichen Zionismus inhärente Säkularismus nur dann verwirklicht werden könne, wenn Israel den letzten Anschein eines religiösen Selbstverständnisses aufgebe und eine neutrale Kategorie der Staatsbürgerschaft akzeptiere. Die Postzionisten hinterfragen auch die Homogenität der Kategorie »jüdisch«. Der zeitgenössische jüdische Staat muss sich nicht nur mit einer signifikanten nichtjüdischen Minderheit  – palästinensischen Arabern, Russen und Arbeits­migranten  – auseinandersetzen, er hat sich auch der außerordentlichen Vielfalt innerhalb 215

seiner jüdischen Bevölkerung zu stellen. Nach einigen formalen Kriterien, seien sie nun religiös oder säkular, mag Israel ein jüdischer Staat sein, es ist jedoch ganz offensichtlich nicht der einheitliche ethnische Staat, der den Begründern des Zionismus vorschwebte. Der Philosoph Adi Ophir ist, was die säkulare Auseinandersetzung mit der religiösen Überlieferung betrifft, der provokativste Theoretiker des Postzionismus. In seiner tiefschürfenden Kritik theologischer Texte belegt Ophir, wie dieser religiöse Diskurs nach wie vor in der säkularen israelischen Literatur nachhallt. Seine implizite These ist, dass die religiös-säkulare Dichotomie, die fast ausnahmslos als eine fundamentale, bis in die Ursprünge des Zionismus zurückreichende Kluft gilt, in Wirklichkeit eine Illusion ist. Der säkulare Zionismus, so Ophir, hat sogar in seiner liberalsten Ausprägung unbewusst Grundkategorien des Judentums übernommen und in ein säkulares, nationalistisches Gewand gehüllt. Dies ähnelt durchaus jener Kritik, die Berdyczewski vor einem Jahrhundert Achad Ha’am gegenüber äußerte. Zentrale Kategorien für Ophir sind der Jude und der Goj.11 In Wahrheit, argumentiert Ophir, seien die beiden Kategorien eins, da der Jude sich in Bezug auf den Goj definiere, der wiederum außerhalb dieser Dyade keine eigene Existenz habe. Diese grundlegende Unterscheidung gehe bis in die frühesten Ursprünge der jüdischen Religion zurück und habe sich im Wesentlichen kaum verändert, obgleich sie im Laufe der jüdischen Geschichte verschiedene Formen angenommen habe. Die Zionisten hätten diese binäre Einheit säkularisiert und nationalisiert und so einen auf Exklusion basierenden Staat errichtet. Wir erinnern uns, dass Spinoza in ähnlicher Weise argumentierte, die Juden hätten sich nach Verlust ihres Staates durch freiwillige Abschottung erhalten, die wiederum den Hass der Nichtjuden hervorgerufen habe; weil die Juden auf diese Weise überlebt hätten, wäre es möglich, dass sie in Zukunft ihre politische Souveränität wiedererlangten. Freilich stand Spinoza der jüdischen Selbstsegregation nicht mit größerer Sympathie gegenüber als Ophir, dessen These als Weiterentwicklung des von Spinoza vor dreihundert Jahren formulierten Gedankens gedeutet werden kann. Ein eindrückliches Beispiel, das Ophir zur Stützung seiner These anführt, ist die Pessach-Haggada.12 Er zeigt auf, dass die Haggada jener Text ist, der die Religiösen und Säkularen im modernen Staat Israel vereint, da eine überwältigende Mehrzahl der Israelis an einer Sederfeier teilnimmt und den Text liest. Er behauptet, dass die Kernbotschaft der Haggada die der Segregation sei: Gott schritt an den Häusern der Israeliten vorüber, so die wörtliche Bedeutung von passach, um nur die Häuser der Ägypter mit dem Tod der Erstgeborenen zu schlagen. Nachdem sie das Joch der Unterdrückung abgeworfen haben, steht es den Juden frei, das Machtverhältnis umzukehren und 216

andere zu unterdrücken. Was Jahrtausende lang eine bloße Rachefantasie gewesen sein mag, ist nun im Staat Israel Realität geworden: Die Israelis lesen die Haggada nicht mehr als die Unterdrückten, sondern als die Unterdrücker der Palästinenser, ob diese nun in den 1967 besetzten Gebieten oder formell als israelische Staatsbürger im israelischen Kerngebiet leben. Ophir geht einen Schritt über den theologischen Gehalt der Haggada hinaus: Während es in der religiösen Überlieferung Gott war, dessen starker Arm zur Rettung seines Volkes eingriff, übernimmt in der Ära des säkularen Nationalismus die israelische Armee diese Rolle, indem sie ein weltliches Äquivalent des göttlichen Zorns entfaltet. Der Glaube an die Waffen ersetze nunmehr den Glauben an Gott, doch beide erfüllten dieselbe Funktion: das Volk Gottes von der allgegenwärtigen Bedrohung durch den Goj zu isolieren und abzuschirmen. Ophirs Postzionismus kann als Versuch ausgelegt werden, die Grundprämisse des Zionismus selbst, nämlich die »Normalisierung« des Verhältnisses zwischen Juden und Nichtjuden, zu verwirklichen. Herzls utopischer Roman Altneuland verhieß eine solche Normalisierung: Der Araber im Staat der Juden ist ein vollwertiger Bürger, der die Zionisten in perfektem Deutsch mit berlinerischem Einschlag preist. Die Zionisten, meint Ophir, hätten diese revolutionäre Verheißung nicht eingelöst; seiner Ansicht nach hätte dies nicht nur eine Säkularisierung religiöser Kategorien, sondern ihre Dekonstruktion von innen heraus erfordert. Ophirs Säkularismus ist daher nicht wie der Herzls, dessen Ignoranz hinsichtlich der jüdischen Überlieferung nur durch seine unbeabsichtigte Aneignung ihrer inneren Kategorien übertroffen wurde. Im Gegensatz dazu konstruiert Ophir seine Position durch eine Kritik der Tradition selbst. Jedoch könnte man sagen, dass ebenso wie der Jude die Existenz des Gojs braucht, auch Ophirs Säkularismus die Existenz des Judentums, sei es in seiner religiösen oder in säkular-zionistischer Form, erfordert. Was er selbst an positivem Gehalt zu bieten hat, bleibt unklar. Ophirs explizit säkulare Auseinandersetzung mit der religiösen Überlieferung veranschaulicht, dass das Gespenst der Tradition diejenigen, die ihre fundamentalen Wahrheiten abstreiten, weiter verfolgt. Wie Ophir wenden sich junge säkulare Israelis in wachsender Zahl dem Studium der traditionellen Texte zu. In den 1990er Jahren sind säkulare batej midrasch (Lehr­häuser), wie etwa Elul und Alma, entstanden. Ähnlich erfreut sich der als tikkun lejl Schavuot bezeichnete orthodoxe Brauch, die Nacht vor dem Schavuotfest dem Studium religiöser Texte zu widmen, auch bei manchen säkularen Israelis einiger Beliebtheit. Diese nichtakademischen Einrichtungen und Aktivitäten, deren Auftreten etwa mit dem des Postzionismus zusammenfällt, spiegeln den Wunsch wider, den Orthodoxen die Tradition zu entreißen und 217

diese zum kulturellen Erbe aller Juden zu machen. Wenn die säkular-­religiöse Spaltung das Produkt des Zionismus und all seiner Vorläufer war, so stellen diese neuen säkularen Schüler der Rabbiner diese binäre Einheit selbst infrage. Ob nun dieses relativ begrenzte Phänomen eine Entwicklung von nachhaltiger Relevanz ankündigt oder nicht, es zeigt jedenfalls, dass der Säkularismus in Israel nicht immer von einer auf Brenner zurückgehenden Tendenz befeuert wird, alles, was nur irgendwie an religiöse Tradition erinnert, aufzugeben. Eher handelt es sich hier um ein indirektes Vermächtnis von Achad Ha’am, der ebenfalls den Rabbinern die Tradition wieder entreißen wollte. In der US -amerikanischen Judenheit hat der Säkularismus seit der Wende vom 19.  zum 20.  Jahrhundert historisch einen anderen Weg genommen. Während in Israel das dialektische Verhältnis von Säkularismus und Religion nicht zuletzt auf dem Fortbestehen rabbinischer Autorität beruht, hat in Amerika das Fehlen rabbinischer Macht eine andere Dynamik gezeitigt. Seit Alexis de Tocquevilles Democracy in America ist es Gemeinplatz, dass in den Vereinigten Staaten die Trennung von Kirche und Staat die religiöseste Gesellschaft unter allen modernen Staaten hervorgebracht hat. In dieser Zivilgesellschaft wimmelt es von religiöser Vielfalt und es entstehen fortwährend neue Religionen. Den jüdischen Amerikanern ist diese spezifische Form des Säkularismus sehr zugutegekommen. In einem Staat, der Religionsfreiheit und Toleranz gewährleistet, konnten auch die Juden der Neuen Welt ihre Religion erneuern und anpassen.13 Anders als ihre osteuropäische und israelische Variante muss sich die Orthodoxie gegenüber einem breiten Angebot nicht nur säkularer, sondern auch religiöser Alternativen behaupten. Die Mehrheit der amerikanischen Judenheit geht auf die große Einwanderungswelle der Jahre 1881 bis 1924 zurück. Insofern entspricht sie chronologisch den Gründergenerationen des Staates Israel, die zur selben Zeit den Osten Europas hinter sich ließen. Wie wir im vierten Kapitel gesehen haben, sagten sich einzelne Einwanderergenerationen oft von der Religion los und machten sich eine progressive politische Weltanschauung und eine säkulare jüdische Kultur zu eigen. Mit dem Übergang aus den Stadtzentren in die Vororte kehrte die Folgegeneration oft zur Religion zurück und fand ihr Judentum in der Synagoge. So konnte 1955 Will Herberg die Juden als einen der drei Grundpfeiler des religiösen Lebens Amerikas – bestehend aus Protestantismus, Katholizismus und Judentum – bezeichnen.14 Um völlig in der amerikanischen Gesellschaft aufzugehen, schien eine Transformation des Judentums primär zu einer Religion unabdingbar. Doch ebenso wie in der ersten Generation die Religion nie völlig ab­wesend war, so fehlte in der zweiten nicht die säkulare Kultur. Selbst vom Jiddischen ins Englische übertragen, bestand das politische und kulturelle Vermächtnis 218

der Einwanderer fort. Eine wunderbare Passage aus Philip Roths Verschwörung gegen Amerika hält fest, in welchem Sinn die in Amerika geborenen Generationen mit einem säkularen, ethnisch gefärbten Englisch in Zusammenhang gebracht wurden: »Daß sie Juden waren, ergab sich nicht aus dem Rabbinat oder der Synagoge oder aus den wenigen förmlichen religiösen Praktiken, die sie pflegten […]. Daß sie Juden waren, hatte keine höhere Macht verfügt. […] Hier lebten Juden, die keine weit­läufigen Richtlinien brauchten, kein Glaubensbekenntnis, keine Glaubenslehre, um Juden zu sein, und ganz sicher brauchten sie keine andere Sprache – sie hatten eine, ihre Heimatsprache, deren mundartliche Finessen sie ganz selbstverständlich beherrschten und die sie, sei es beim Kartenspiel oder beim Verkaufsgespräch, ebenso mühelos einzusetzen wußten wie die eingeborene Bevölkerung. […] Daß sie Juden waren, ergab sich daraus, daß sie sie selbst waren, ebenso wie daß sie Amerikaner waren.«15

Für diese Juden, die in einem völlig säkularen Sinn ihre jüdische Zugehörigkeit freudig akzeptierten, war das amerikanische Englisch zu einer durch und durch jüdischen Sprache geworden – jüdisch in dem Sinne, als sie in ihr zum Ausdruck bringen konnten, wer sie waren. Überdies war die Aneignung der Religion in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur religiöser Natur. Auch für säkulare Ausdrucksformen diente die Überlieferung als Quelle. So tritt, wie Hana Wirth-Nesher festgestellt hat, das Kaddisch, das traditionelle jüdische Totengebet, häufig in der von amerikanischen Juden hervorgebrachten säkularen Kultur in Erscheinung.16 Die berühmteste Appropriation dieses Gebets ist wohl das Gedicht Kaddisch (1960), das der Poet der Beat Generation, Allen Ginsberg, drei Jahre nach dem Tod seiner Mutter verfasste. Ginsberg, der bekanntlich ein Buddhist war, setzt die »hebräische Hymne« anscheinend mit dem »buddhistischen Buch der Antworten« gleich. Und doch ist es das Kaddisch-Gebet, das ihm in den Sinn kommt, wenn er an den Tod denkt – den seiner Mutter, den eigenen oder den Tod des Planeten. Mit der Evozierung der Migrationserfahrung von Ginsbergs Mutter wird das Gedicht zu einer Elegie für die historische Transformation der amerikanischen Juden von einer Einwandererzu einer einheimischen Kultur. In weiteren Werken, die sich mit dem Kaddisch befassen, ist der Ansatz ein anderer. Charles Reznikoffs Gedicht gleichen Namens aus dem Jahr 1942 ist ein Appell zur Identifizierung mit den Schwachen und ein Aufruf zu sozialer Gerechtigkeit, während Leonard Bernsteins Kaddisch-­Sinfonie dem An­denken des kurz davor ermordeten John F. Kennedy gewidmet war. Nur Leon Wieseltiers Kaddish vermag es, die historischen und textuellen Resonanzen des Gebets wirklich zu erfassen.17 Das aus Anlass des Todes von 219

Wieseltiers Vater, einem Holocaust-Überlebenden, verfasste Buch ist Geschichtswerk und persönliche spirituelle Meditation zugleich. Als solches, ließe sich sagen, bewegt es sich auf der schmalen, in der jüngsten Geschichte der amerikanisch-jüdischen Kultur oft verschwommenen Grenzlinie zwischen Religion und Säkularismus. Warum greifen amerikanisch-jüdische Künstler und Schriftsteller in ihren Werken so häufig auf das Kaddisch-Gebet zurück? Ist es vielleicht der lange Schatten des Holocaust, der für die amerikanischen Juden zu einer Art säkularer Religion geworden ist? Doch mit Ausnahme von Wieseltiers Buch erwähnen weder die hier angeführten Werke noch andere wie etwa Tony Kushners Drama Angels in America explizit die Schoah. Da eine säkulare Kultur wohl nichts zu bieten hat, mit dem man dem Tod – Einzelner oder einer gesamten verloren gegangenen Kultur  – entgegentreten kann, ist zu vermuten, dass sogar die säkularsten Juden sich dieser ureigentlichsten Ausdrucksform religiöser Tradition bedienen, um ihre historisch befrachteten Assoziationen für nichtreligiöse Ziele ins Werk zu setzen. Mit dem Aufstieg von Ethnizität und Multikulturalismus in den späten 1960er Jahren kehrte die dritte Generation der amerikanischen Juden, oft aus nostalgischen Gründen, zur vormaligen Selbstdefinierung als Volk zurück. Diese Verlagerung erfolgte auch unter dem Einfluss einer starken Identifizierung mit Israel infolge des Sechstagekriegs; bei vielen war die Empfindung entstanden, Teil  nicht allein einer Religion, sondern einer Nation zu sein. Hier findet sich das Residuum von Achad Ha’ams Vorstellung von Zion als kulturellem Zentrum, das in die Diaspora ausstrahlt, obgleich es eher der Staat Israel als die hebräische Kultur war, der unter den amerikanischen Juden die stärkste Resonanz fand. Keiner der Theoretiker des säkularen Zionismus hatte diese Wirkung des jüdischen Staates wirklich vorausgesehen: weder Herzl, der die Illusion hatte, ein eigener Staat würde den Antisemitismus aus der Welt schaffen, noch Ben-Gurion, dessen Erwartung von der »Sammlung aller Exilgemeinden« sich nicht verwirklichte. Wie die Kulturkritikerin Andrea Most nahelegt, sind die Angehörigen der dritten Generation »modern« insofern, als »sie glauben, dass eine einst existierende Ganzheit zu Bruch gegangen ist […] und [sie] an dem Glauben festhalten, die Fragmentierung der Moderne ließe sich reparieren«.18 Dieser Drang nach Wiedererweckung einer verlorenen Kultur kann, wie mit der Bewegung des Jewish Renewal, religiöse Formen annehmen oder sich in Literatur, Theater und Film auf säkulare Weise äußern. In der San Franciso Bay Area etwa, wo ein Großteil der Juden keiner Synagoge angehört, ist die Anzahl der Menschen, die am jährlichen jüdischen Filmfestival teilnehmen, größer als der Wochendurchschnitt der Synagogengänger. Natürlich 220

überschneidet sich das Publikum bei diesem Filmfestival zum Teil mit den Synagogenbesuchern, aber das genau ist der springende Punkt: Säkulare und religiöse Ausdrucksweisen der jüdischen Kultur lassen sich nicht mehr fein säuberlich voneinander trennen. Das ungeheure Interesse an akademischen Jüdischen Studien ist ein weiteres Beispiel für die Überschneidung zwischen dem Religiösen und Säkularen: An praktisch jeder amerikanischen Universität und jedem College gibt es zumindest eine Lehrkraft für diese Disziplin. Schätzungen zufolgen belegen etwa 40 Prozent der jüdischen Studierenden an den Universitäten mindestens eine Lehrveranstaltung in Jüdischen Studien. Als akademische Disziplin werden in den Jüdischen Studien, in der Nachfolge der von Spinoza als Erstem praktizierten historischen Gelehrsamkeit, gänzlich säkulare Methoden angewendet, auch wenn religiöse Texte studiert oder der Unterricht durch eine das Judentum praktizierende Lehrkraft erteilt wird. Ein säkularer Zugang zu solchen Texten mag zuweilen zu Schlussfolgerungen führen, die der religiösen Tradition des Mainstreams radikal entgegengesetzt sind. Zum Beispiel finden manche im Talmud, also einem grundlegenden religiösen Text, eine Quelle für antitraditionelle Ansichten wie die Verteidigung von Schwulenrechten. Wie die säkulare hebräische Kultur in Israel, wo sich die akademisch betriebenen Jüdischen Studien auf die breite Masse der Bevölkerung kaum auswirken, eröffnet dieses Feld einen Weg, an der jüdischen Kultur teilzuhaben, ohne sich zwingend der jüdischen Religion verschreiben zu müssen. Das im ersten Kapitel angeschnittene Interesse an Spinoza im akademischen und nichtakademischen Bereich ist selbst ein Ausdruck der Jüdischen Studien. Rebecca Goldsteins populäres Buch über Spinoza beginnt damit, dass die Autorin, die orthodox erzogen wurde und später Philosophie studierte, schildert, wie ihre orthodoxe Lehrerin in der Ganztagsschule die Schülerinnen vor den Gefahren der Lektüre dieses Häretikers des 17. Jahrhunderts warnte.19 Noch immer also übt Spinoza dieselbe Faszination aus und stellt dieselbe absolute Bedrohung für die Religion dar wie für Salomon Maimon im 18. Jahrhundert und Leo Strauss in den 1920er Jahren. ­Goldsteins eigener Weg zur Philosophie setzt offensichtlich mit dieser Warnung vor der Häresie ein. Als jemand, der Spinoza regelmäßig lehrt, kann ich Goldsteins Schilderung bestätigen: Die Studierenden, gleichgültig welchen Backgrounds, finden ihn außerordentlich fesselnd. Spinozas hypnotisierende Wirkung beruht eindeutig darauf, dass der Kampf zwischen der Religion und dem Säkularismus noch nicht ausgetragen ist. Die heutige Generation, etwa die vierte in der amerikanisch-jüdischen Geschichte, ist gegenwärtig dabei, diesen Kampf neu zu definieren. Ihre Ange221

hörigen sind frei von den Ängsten der Elterngeneration vor Antisemitismus und Assimilation; das auf die Frage der Mischehen, der Kontinuität und der Synagogenmitgliedschaft gerichtete Augenmerk ist für sie oft ein entfremdender Faktor, ebenso wie die Probleme des Staates Israel. Diese als »postmodern« bezeichnete Generation betrachtet Selbstverständnis und Zugehörigkeit oft als etwas Konstruiertes und Veränderliches: Für sie gibt es kein »essenzielles« Judesein – sei es rassisch, religiös, politisch, ethisch oder sonstwie konnotiert. Nicht nur zum Judentum Übergetretene, nein, jeder Einzelne ist ein »Jude aus freier Wahl«, und die Bedeutung von »jüdisch« ist fließend und oft situationsgebunden. »Religiös« und »säkular« sind daher keine feststehenden Kategorien mehr wie früher. Man kann heute mit religiösen Ritualen experimentieren und morgen Sozialaktivist werden. Es ist bezeichnend, dass einige der gefeiertsten Autoren dieser Genera‑ tion, wie Shalom Auslander und Nathan Englander, Juden sind, die orthodox aufwuchsen, nun aber von außen über diese Welt schreiben.20 Ihre ironische, zuweilen komische Distanz zur Religion erinnert in gewisser Weise an die Haskala sowie an die hebräischen und jiddischen Literaturen des Fin de ­Siècle, die sich häufig der Satire bedienten, um die Welt der Rabbiner anzuprangern. Besonders Auslander führt Krieg gegen den Gott seines Vaters. Doch während die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts nirgendwohin fliehen konnten und daher Utopien in Zion oder anderswo suchten, haben die gefallenen orthodoxen Juden von heute eine gesamte säkulare Welt vor der Haustür. Der amerikanische Säkularismus an der Wende zum dritten Jahrtausend bringt sicherlich eigene Herausforderungen mit sich, jedoch sind sie grundverschieden von denen, die es vor einem Jahrhundert oder noch früher gab. Indem sie über die Religion von einem Standpunkt aus schreiben, der sowohl innen als auch außen liegt, verwischen diese Schriftsteller die Grenze. Und schließlich ist für die amerikanischen Juden der Gegenwart die jüdische Zugehörigkeit nur eine unter vielen. Die postmoderne Wende in der zeitgenössischen jüdischen Kultur ist ihrem Wesen nach »antiessenzialistisch« und daher offen für eine Fülle neuer Möglichkeiten. Die Fluidität ist selbst ein Zeichen des Säkularismus, da dessen Gegner, die Religion, binäre Unterscheidungen des »wir gegen sie« setzt, ohne Grauzone dazwischen. Gemischte Ehen sind das sichtbare Zeichen dieser Fluidität, doch stellt sie die Religion auf vielen Ebenen einschließlich der orthodoxen infrage. Wir erkennen in dieser Herausforderung dieselben Fragen, die vor einem Jahrhundert von den Befürwortern der säkularen jüdischen Kultur wie­ Zhitlowsky und Brenner gestellt wurden. In Zhitlowskys »großer sukka« hatten sowohl Gläubige als auch Abtrünnige Platz, und Brenners Vision einer neuen hebräischen Kultur stand ebenso allen offen, die sich ihr anschließen 222

wollten. Beide kamen jedoch aus einer Kultur, in der die große Mehrheit der Juden instinktiv wusste, was es bedeutete, jüdisch zu sein. Ihre revolutionären Alternativen gingen von einem feststehenden Selbstverständnis aus, gegen das sie revoltierten. Ein Jahrhundert später gab es keinen stabilen Ausgangspunkt mehr, insbesondere in einer Gesellschaft wie der amerikanischen, in der Selbstformung und Selbsterfindung wesenhafte Merkmale der Kultur sind. Weder religiös noch säkular in der Weise, wie diese Begriffe früher verwendet wurden, ist die jüdische Kultur in Amerika dabei, sich neu zu definieren. Das Einzige, was sich mit Sicherheit über die Zukunft dieser Kategorien aussagen lässt, ist, dass sie in nichts dem ähneln werden, was sie vor einem Jahrhundert waren, als der ideologisch betriebene Säkularismus zu einer Massenbewegung wurde. Der Säkularismus der amerikanischen Juden ist heute nicht in diesem Sinne ideologisch, und vielleicht ist dies der Grund, warum es Schriftsteller und Memoirenschreiber und nicht Ideologen sind, die ihm Ausdruck verleihen. Die Mehrzahl der heute in der Welt lebenden Juden ist in irgendeinem Sinne säkular. Entweder zweifeln sie an der Existenz Gottes oder sie halten die Frage für überflüssig. Sie glauben an die Trennung von Religion und Staat. Sogar orthodoxe Juden außerhalb Israels würden wahrscheinlich mit Moses Mendelssohn darin übereinstimmen, dass Religion und Staat aus­ einanderzuhalten sind: Im Privaten religiös, sind sie in der Öffentlichkeit säkular. In einem nicht ideologischen Zeitalter ist »säkular« weitgehend kein Kampfslogan mehr, und daher ist dies wohl nicht der Begriff, mit dem sich die meisten Juden selbst bezeichnen würden. Einerseits bedeutet das, dass die Ideologen des jüdischen Säkularismus gesiegt haben, aus einem anderen Blickwinkel betrachtet ist dies nicht der Fall, denn sie strebten eine säkulare Kultur an, die sie bewusst gewählt hatten. Wenn das Fehlen eines Dogmas und die Ablehnung der Konformität Kennzeichen des Säkularismus sind, wie Amos Oz meint, dann ist die gesamte jüdische Kultur in Israel und Nordamerika einschließlich ihrer orthodoxen Komponenten tief säkular. Keine übergreifende Autorität, sei sie religiös oder nationalistisch, kann ihre Agenda diktieren. Kein Weg, der in die Zukunft weist, lässt sich mit Zuversicht vorzeichnen. Der Säkularismus kann weder Kontinuität noch Überleben verheißen, gewährleistet aber die Freiheit zu experimentieren, ohne die weder Kontinuität noch Überleben möglich ist. Ich habe dieses Buch mit einer persönlichen Geschichte begonnen und ich möchte es ebenso abschließen. Im Vorwort habe ich die Geschichte des widersetzlichen Jom Kippur meines Vaters erzählt. Die sozialistische und zionistische Ideologie, die er in der Jugendbewegung Haschomer Hazair 223

eingesogen hatte, war die Triebkraft für eine säkulare Revolte gegen die Religion seiner Eltern. Diesen Säkularismus, verknüpft mit tiefem jüdischem Engagement, hat er mir vererbt; er war einer der Beweggründe, die in diesem Buch erörterten Ideen zu erforschen. Indes verlor dieser Säkularismus im Laufe des 20. Jahrhunderts seine ideologische Schärfe und bedeutete zu guter Letzt für ihn und in anderer Weise auch für mich als seinen Sohn etwas völlig anderes. In seinen späteren Jahren ging er, wenngleich nur einige Male im Jahr, wieder in die Synagoge. Wenn er am Vorabend des Jom K ­ ippur vom Kol-Nidre-­Gottesdienst zurückkehrte, erwachte in ihm ein wenig der aufrührerische Geist seiner Jugend: Mit einem verschmitzten Zwinkern pflegte er um Tee und Kuchen zu bitten, als wollte er damit ausdrücken, dass keine noch so große religiöse Hingabe seine lebenslang gepflegte Skepsis auslöschen könne. Was mich selbst betrifft, so zeichnet sich mein eigener »Postsäkularismus« in anderer Art und Weise aus, wenn es gilt, den heiligsten Tag im jüdischen Jahr zu begehen. Mit einem minjan (Gebetsquorum) von Freunden begebe ich mich mit meiner Familie in die Muir Woods, wo, wie ich mir gern vorstelle, der Allmächtige selbst (wenn es ihn denn gibt) zwischen den riesigen alten Mammutbäumen wohl seine Andacht hält. Ist es ein religiöses oder säkulares Ritual? Keins von beiden und auch wiederum beides – ein Paradox, das nur möglich ist dank einer mehr als hundert Jahre währenden Tradition jüdischen säkularen Denkens, die Gegenstand dieses Buches war.

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Anmerkungen

Soweit kein deutscher Text als Zitat- oder Textquelle verzeichnet ist, stammen die Übersetzungen von Quellen und Literatur aus dem Englischen, Hebräischen und Französischen von Liliane Meilinger.

Vorwort 1 Franz Rosenzweig an Rudolf Ehrenberg am 31.  Oktober 1913, zit. nach Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, Bd.  1: Briefe und Tagebücher, Bd. 1: 1900–1918, 132–137. 2 Puah Rakovskys Erinnerungen erschienen 1951 in einer gekürzten hebräischen Übersetzung und 1954 im jiddischen Original. Auf Englisch liegt vor: dies., My Life as  a Radical Jewish Woman, mit einer hervorragenden Einführung von Paula  E. Hyman. Vgl. auch das Vorwort von Yitskhok Niborski in der franz. Ausgabe: dies., Mémoires d’une révolutionnaire juive. Die unterschiedlichen Wege der osteuropäischen Juden anhand von Tewjes Töchtern hat Yuri Slezkine brillant herausgearbeitet. Ders., Das jüdische Jahrhundert, Kap. 4. 3 Feiner, Haskalah, Secularization and the Discovery of the Jewish »New World«; ders., The Sources of Secularization (hebr.). Mit dieser These der Säkularisierung der mitteleuropäischen jüdischen Gesellschaft vor der Haskala hat Feiner das 1960 in Jerusalem erschienene Werk von Asriel Schochat, Im Chilufej ha-Tekufot (Epochenwende. Beginn der deutsch-jüdischen Haskala) aktualisiert (dt.: Der Ursprung der jüdischen Aufklärung in Deutschland, Frankfurt a. M. 2002). 4 Vgl. seine Begegnung mit dem jüdischen Historiker Graetz in Karlsbad im Jahr 1876, beschrieben in Birnbaum, Geography of Hope, 36–43. 5 In der gemeinsam mit Friedrich Engels verfassten Abhandlung Die heilige Familie, Kap. 6, wiederholte Karl Marx 1845 die bereits im Text von 1843 vorgebrachten Argumente. 6 Vgl. Carlebach, Karl Marx and the Radical Critique of Judaism. 7 In Geography of Hope bietet Birnbaum eine gelungene Darstellung des Verhältnisses moderner Intellektueller zu ihrem jüdischen Selbstverständnis. Einige der von ihm er­ örterten Denker werden auch hier behandelt, jedoch ausgehend von anderen Ansätzen.

Einleitung: Ursprünge 1 Deutscher, Der nichtjüdische Jude (1968), 60. 2 Lilla, Der totgeglaubte Gott. Zur Erörterung und Kritik der Säkularisierungstheorie vgl. Casanova, Public Religions in the Modern World, 11–39. 3 Vgl. Taylor, A Secular Age, in dem dieses Paradigma angewandt wird. 4 Vgl. Berger, The Heretical Imperative. 5 Vgl. u. a. ders. (Hg.), The Desecularization of the World; Martin, On Secularization; Asad, Formations of the Secular; Scott/Hirschkind (Hgg.), Powers of the Secular Modern; Pecora, Secularization and Cultural Criticism.

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6 Vgl. Casanova, Public Religions in the Modern World, 12–14. 7 So laut Oxford English Dictionary unter dem Eintrag »Secular«, 3a. 8 Funkenstein, Theology and the Scientific Imagination. Hans Blumenberg formulierte dieses Verhältnis etwas anders: Er ging nicht von einem dialektischen Fortschritt aus, sondern vertrat die These, neuzeitliche Ideen hätten die von der mittelalterlichen Theologie hinterlassenen Leerstellen ausgefüllt. Vgl. ders., Die Legitimität der Neuzeit. 9 Löwith, Meaning in History (dt.: Weltgeschichte und Heilsgeschehen). 10 Schmitt, Politische Theologie. Zu einem jüngeren Ansatz zur Politischen Theologie, der unverständlicherweise keinen Hinweis auf Schmitt enthält, vgl. Lilla, Der totgeglaubte Gott. 11 Berger, The Sacred Canopy. 12 Gauchet, Le désenchantement du monde. 13 Vgl. dazu Casanova, Public Religions; Bhargava (Hg.), Secularisms and Its Critics;­ Jakobsen/Pellegrini (Hgg.), Secularisms. 14 So spricht etwa Lev 21,4 von der rituellen Verunreinigung durch den Kontakt mit einem Leichnam oder Lev 21,9 von der Verunreinigung der Tochter eines Priesters durch unerlaubten Beischlaf. Die hebräische Wurzel ch-l-l bedeutet auch »verwundet« oder »im Krieg, in der Schlacht gefallen«, entsprechend dem Gebot, das ein beschädigtes oder verwundetes Tier als Weihegabe ungeeignet ist. 15 Vgl. Yadin/Zuckermann, Blorit – Pagans’ Mohawk or Sabras’ Forelock?; chiloni war nicht die einzige Bezeichnung für einen säkularen Menschen: chofschi (frei, freidenkerisch) war ähnlich konnotiert, wurde aber gegen Ende des 20. Jahrhunderts weitgehend von ­chiloni verdrängt. 16 Lev Rabba  25,5. Das Wort chiloni leitet sich von der aramäischen Bezeichnung für »Fremder« ab. 17 M. Avot 2,19. 18 Berger, The Heretical Imperative. 19 Zur teilweisen Substituierung des Propheten durch die bat kol vgl. Joma 9b. 20 Rubenstein, Talmudic Stories, 34–63. 21 Baba Batra 12b. Zu dem hier erörterten Text und dem Ende der Prophezeiungen vgl. Blenkinsopp, »We Pay no Heed to Heavenly Voices«. 22 Vgl. Sorkin, Moses Mendelssohn and the Religious Enlightenment. Sorkin belegt, wie die andalusische Exegesetradition Mendelssohn besonders beeinflusste, dies gilt jedoch auch allgemeiner. 23 Diese der Literaturtheorie entlehnte Metapher ist Naomi Seidman zu verdanken. 24 Diese Anekdoten entstammen der autobiografischen Einleitung von Deutschers Frau Tamara in ders., The Non-Jewish Jew and Other Essays, 17 und 19. 25 Asad, Formations of the Secular, Einleitung. 26 Für eine Analyse der verschiedenen Arten säkularer politischer Theorien vgl. Taylor, Modes of Secularism. 27 Vgl. Frankel, Prophecy and Politics; Lederhendler, The Road to Modern Jewish Politics; Mendelssohn, On Modern Jewish Politics. 28 Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis. 29 Ich stimme daher der These von Yosef Hayim Yerushalmi nicht zu. Vgl. ders., Zachor: Erinnere Dich! Nach Yerushalmi soll das kollektive Gedächtnis primär ein Charakteristikum der prämodernen Ära, das moderne Selbstverständnis stattdessen durch kritische Geschichte gekennzeichnet sein. Gedächtnis ist auch ein Merkmal moderner säkular-jüdischer Kultur. 30 Zur Gleichsetzung von Israel und Tora vgl. Sohar 3,73a. Zur Gleichheit von Gott und Israel ebd.  3,93b. Zur durchgehenden Vorstellung von der Tora als Gottes Name vgl.

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Sohar 2,60a, 87a, 90b, 124a, 161b; 3,13b, 19a, 21a, 35b–36a, 73a, 89b, 98b, 159a, 265b, 298b. Vgl. weiter Tishby, Kudscha berich hu we-Orajta we-Israel kula chad, und Sack, Od le-Gilgula schel ha-Imra Kudscha berich hu we-Orajta we-Israel kula chad. Ich danke­ Daniel Matt für diese Quellenangaben. Kaplan, Judaism as a Civilization, 328. Trepp, A History of the Jewish Experience, 537. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit; hier übersetzt nach ders., The Legitimacy of the Modern Age, 48 f. Des Weiteren Ingram, Blumenberg and the Philosophical Grounds of Historiography. Zur Idee der Gegentradition vgl. Biale, Gershom Scholem.

1. Gott: Pantheisten, Kabbalisten und Heiden 1 Vgl Kawashima, The Priestly Tent of Meeting and the Problem of Divine Transcendence. 2 Zur Literatur dieser Ära vgl. Bickerman, Four Strange Books of the Bible. 3 Der Brief ist mit 1. Februar 1877 (Breslau) datiert und abgedruckt in Prinz, New Perspectives on Marx as a Jew, 121 f., hier 121. Der Brief wurde von Boris Nikolayesky entdeckt und erstmals in Yivo Historishe Shriften 2 (1937) veröffentlicht. Vgl. auch Birnbaum, Géographie de l’espoir, 41 f. Die Übersetzung des Buches Kohelet durch Graetz samt Erläuterungen ist erschienen als: Kohélet oder der Salomonische Prediger. Übersetzt und kritisch erläutert, Leipzig 1871. Die Deutung des Buches Kohelet durch G ­ raetz unterscheidet sich auffallend von der, die er Marx gegenüber zum Ausdruck brachte, und ist konservativer. Die säkulare Sicht auf das Buch war eine politische Satire gegen König Herodes den Großen, dessen Herrschaftszeit (erstes Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung) Graetz das Buch zuordnete. Der Autor verweigert sich dem allgemeinen Pessimismus, der die Folge der Missherrschaft Herodes’ war, ja er kämpft dagegen an. Seine tatsächliche Philosophie stand also der der Bibel viel näher als den Ansichten, die er auf satirische Weise dem für Herodes stehenden Herrscher zuschreibt. 4 Vgl. Gordis, The Book of Job. 5 Vgl. Kellner, Dogma in Medieval Jewish Thought. 6 Silver, Maimonidean Criticism. 7 Wie Moses Mendelssohn, der kaum als Säkularist zu bezeichnen ist, seine eigene Philosophie um die Lehren der mittelalterlich-jüdischen Aufklärung, namentlich um Maimonides und Ibn Esra aufbaute, vgl. Sorkin, Moses Mendelssohn and the Religious Enlightenment. 8 Unter den jüngeren Arbeiten zu Maimonides sind zu nennen: Davidson, Moses Maimonides; Kraemer, Maimonides; Stroumsa, Maimonides in his World. 9 Maimonides, Führer der Unschlüssigen, Buch 1, Kap. 55. 10 Ebd., Kap. 55–60. 11 Zur naturalistischen Erklärung von die Natur oder die Menschen betreffenden Geschehnissen, welche die Bibel scheinbar Gottes direktem Eingreifen zuschreibt, vgl. ebd., Buch 2, Kap.  48. Zu Maimonides’ Position in Bezug auf die Unmöglichkeit, die Gesetze der Logik oder der Mathematik zu brechen, vgl. ebd., Buch 3, Kap. 15. Über die Idee des »Reiches des Möglichen« vgl. ebd., Buch 3, Kap. 26. 12 Ebd. 13 Insbesondere ebd., Buch 3, Kap. 32. 14 Ebd., Buch 1, Kap. 66. 15 Vgl. Narboni, Be’ur le-Sefer More Nevuchim, 1:66. Profiat Duran, der Verfasser eines

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anderen, Efodi betitelten Kommentars zum Führer der Unschlüssigen, bietet praktisch dieselbe Deutung. Narboni wie auch Duran behaupten, selbst einen solchen Stein vom Berg Sinai gesehen zu haben, und als sie ihn in Stücke brachen, habe jedes Stück wiederum ein Bild des Busches gezeigt. Es ist fast als sicher anzunehmen, dass Narboni Durans Quelle ist. Narboni berichtet, ein Mitglied der Oberschicht aus Barcelona habe einen solchen Stein vom Sinai mitgebracht und einem Verwandten übergeben, der sein Schüler war. Vgl. weiter Hayoun, Moshe Narboni, 90 f. Ich danke Abe Socher für diesen Hinweis auf Narboni. Chalier, Spinoza, lecteur de Maimonide. Vgl. Kaplan, Mi-Nozrim chadaschim le-Jehudim chadaschim; ders., From Christiany to Judaism; Bodian, Hebrews of the Portuguese Nation; Yerushalmi, From Spanish Court to Italian Ghetto. Yovel, Spinoza and Other Heretics, 70 f. Zu Prado vgl. Kaplan, From Christianity to Judaism. Goldstein, Betraying Spinoza. Vgl. auch Yovel, Spinoza and Other Heretics; und Nadler, Spinoza, dessen Analyse zeitlich vor jener Goldsteins lag. Nagel, The View from Nowhere. Goetschel, Spinoza’s Modernity, 3–32. Vgl. v. a. Spinoza, Ethica Ordine Geometrico demonstrata, Erster Teil, Lehrsätze XIV und XV. Die Literatur dazu ist äußert umfangreich. Eine ausgezeichnete Zusammenschau bietet Donagan, Spinoza’s Theology, eine faszinierende Analyse von Spinozas Philosophie Stewart, The Courtier and the Heretic. Über die Ethik im Allgemeinen vgl. Nadler, Spinoza’s Ethics. Zu den mittelalterlichen Ursprüngen und zur Bedeutung des Substanzbegriffs vgl. Wolfson, The Philosophy of Spinoza, Kap. 3–5. Spinoza, Ethica Ordine Geometrico demonstrata, Erster Teil, Lehrsatz 15, Anm. Ebd., Lehrsatz 17, Anm. Hier folge ich Wolfson, The Philosophy of Spinoza, obgleich die dort vermutete Kenntnis Spinozas über die mittelalterliche jüdische Philosophie umfassender war, als sich nachweisen lässt. Vgl. auch Pines, Spinoza, Maimonides and Kant; ders., Spinoza’s Tractatus Theologico-Politicus. Rebecca Goldstein sieht bei Spinoza eine philoso­phische Antwort auf Fragestellungen der Kabbala. Jedoch weist wenig darauf hin, dass Spinoza mit der Kabbala vertraut war oder sie ihm als eine wesentliche Quelle diente. Spinoza, Ethica Ordine Geometrico demonstrata, Fünfter Teil, Lehrsatz XVII. Ebd., Lehrsatz XIX . Spinoza, Theologisch-politische Abhandlung, 37. Ebd., 52. Zur Diskussion der scholastischen Ursprünge der Debatte über die Macht Gottes vgl. Funkenstein, Theology and the Scientific Imagination, Kap. 3. Spinoza, Theologisch-politische Abhandlung, Kap. 6: Über die Wunder, 94. Eine vollständige englische Übersetzung des cherem gegen Spinoza ist enthalten in: Nadler, Spinoza’s Heresy, 2. Spinoza, Ethica Ordine Geometrico demonstrata, Fünfter Teil, Lehrsatz 23. Eine Literaturübersicht dazu bietet Nadler, Spinoza’s Heresy, 203, Anm. 35. Ausgeführt in Levi ben Gerschon, Die Kämpfe Gottes, Buch 1. Yovel, Spinoza and Other Heretics, Kap. 2. Wolfson, The Philosophy of Spinoza, 1.VII. Vgl. Israel, Radical Enlightenment, 159. Israel weist auf provokante Weise auf Spinozas grundlegenden Einfluss auf die europäische Aufklärung hin. Vgl. auch ders., Enlightenment Contested. Zum Pantheismusstreit vgl. Beiser, The Fate of Reason, Kap. 2–4.

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Vgl. Breuer, German-Jewish History in Modern Times, Bd. 1, 244–250. Lowenstein, The Berlin Jewish Community, 25–32. Schochat, Im Chilufej ha-Tekufot; Feiner, The Sources of Secularization (hebr.). Vgl. Maimon, Lebensgeschichte, bes. 156 (zur Annahme des Spinozismus) und 163 (zu den freidenkerischen Ansichten). Gay, The Jews of Germany. Socher, The Radical Enlightenment of Salomon Maimon. Zum Hintergrund der Lebens­ geschichte vgl. Weissberg, 1792–93. Salomon Maimon writes his Lebensgeschichte (Auto­ biography). Vgl. bes. das von Wolff gesammelte zeitgenössische Material: dies., Maimoniana oder Rhapsodien zur Charakteristik Salomon Maimons. Maimon, Lebensgeschichte, I, 152. Maimon, Giv’at ha-More, ein Kommentar zum Führer der Unschlüssigen, 161. Zu einer exzellenten Erörterung von Maimons Philosophie vgl. Bergman, The Philosophy of Solomon Maimon (hebr.). Vgl. auch Socher, The Radical Enlightenment of Salomon Maimon, Kap. 2 und 3. Vgl. Art. »Atheist« in: Maimon, Philosophisches Wörterbuch, 25–27. Vgl. Bergman, The Principle of Beginning in the Philosophy of Hermann Cohen. Vgl. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Dieses Werk wurde zur Quelle des religiösen Existenzialismus Franz Rosenzweigs und, in geringerem Maße, Martin Bubers. Zur Spinoza-Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert sind zuletzt erschienen: Schwartz, The First Modern Jew, und Dunkhase, Spinoza der Hebräer. Hess, Die heilige Geschichte der Menschheit. Lazarus, Was the Earl of Beconsfield a Representative Jew? Vgl. Schor, Emma Lazarus, 128–133. Lilienblum, Ketavim autobiografijim, Bd. 1, 45–51. Ebd., 143. Ebd., 108. Mosse, German Jews beyond Judaism; ders., Germans and Jews; Sorkin, The Transformation of German Jewry. Zu Heines Texten über jüdische Themen vgl. Prawer, Heine’s Jewish Comedy; Kircher, Heinrich Heine und das Judentum. Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: ders., Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke (Düsseldorfer Heine-Ausgabe; nachfolgend DHA), hier Bd. 8/1, 59 f. Ders., Deutschland. Ein Wintermärchen, in: ders., DHA , Bd. 4, 92. Ders., Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, Zweites Buch, in: ders., DHA , Bd. 8/1, 54. Ders., Geständnisse, in: ders., DHA , Bd. 15, 29. Ders., Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: ders., DHA , Bd. 8/1, 77 f. Ders., Säkularausgabe, Bd. 20, 96, Brief Nr. 66 vom 18. Juli 1823. Ders., Ludwig Marcus, Denkwort, in: ders., DHA , Bd. 14/1, 271. Ders., Der Apollogott, in: ders., DHA , Bd. 3/1, 32–36. Freud, Die Zukunft einer Illusion, 183. Heine, Die Nordsee  III, in: ders., DHA , 771. Jeffrey Sammons hat darauf hingewiesen, dass Heine diesen Satz aus der gedruckten Version des Essays entfernt hat. Vgl. ders., Heinrich Heine, 305. Aus der umfassenden Literatur seien insbesondere genannt: Gay, »Ein gottloser Jude«;

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Yerushalmi, Freuds Moses; Gilman, Freud, Race, and Gender; Gresser, Dual Allegiance; Bernstein, Freud und das Vermächtnis des Moses; Slavet, Racial Fever. 72 Brief von Freud an Pfister vom 9. Oktober 1918, in: Sigmund Freud/Oskar Pfister. Briefe 1909–1939, 64. 73 Dieser Brief stammt vom 6. Mai 1926, hier zit. nach Freud, Briefe 1873–1939. 74 Freud, Die Zukunft einer Illusion, Kap. 1 und 3. 75 Ebd., 151. 76 Ebd., 153. 77 Vgl. die Biografie von Walter Isaacson, Einstein. 78 Vgl. ebd. 79 Der vollständige Text ist enthalten in: Jammer, Einstein and Religion, Anhang. 80 New York Times, 25. April 1929, zit. nach Clark, Einstein, 413. 81 New York Times, 9. November 1930, abgedruckt in: Einstein, Ideas and Opinions, 38. 82 Bloch, Atheismus im Christentum. 83 E. Salaman, A Talk with Einstein, in: Listener 54 (1955), 370 f., zit. nach Jammer, Einstein and Religion. 84 Zit. nach Pais, Subtle is the Lord, 114. 85 Jammer, Einstein and Religion, 122, das Originalzitat in Anm. 124. 86 Pearlman, Ben Gurion Looks Back, 216 f. 87 Einstein, Gibt es eine jüdische Weltanschauung? 88 Lazarus, Die Ethik des Judenthums, Bd. 1. Im 19. Jahrhundert hat Samuel Hirsch diesen Standpunkt bereits formuliert, vgl. ders., Systematischer Katechismus der israelitischen Religion. 89 Einstein, Ideas and Opinions, 194. Das Zitat stammt aus einem Beitrag Einsteins über Antisemitismus, Why Do They Hate the Jews, der am 26. November 1938 unmittelbar nach den Novemberpogromen im Collier’s Magazine veröffentlicht wurde. 90 Einstein, Gibt es eine jüdische Weltanschauung? 91 Strauss, Spinoza’s Critique of Religion, 15. 92 Lazier, God Interrupted, Teil 2. 93 Matt, »Ayin«; Scholem, Schöpfung aus Nichts und Selbstverschränkung des Gottes. 94 Tishby, Torat ha-Ra we-ha-Klippa be-Kabbalat ha-Ari. 95 Bialik, Offenbarung und Verhüllung in der Sprache. 96 Hirschfeld, When the World is Shocked (hebr.). 97 Vgl. Shamir, Libels Grew in the Land. 98 Dieses und die folgenden Zitate sind entnommen: Bialik, Offenbarung und Verhüllung in der Sprache, 5, 6, 8, 10 und 14. 99 Nachman von Bratzlaw, Likkutej Moharan, Teil 1, 64. 100 Yadin, A Web of Chaos. 101 Vgl. v. a. Aschheim, The Nietzsche Legacy in Germany. 102 Scholem, Bekenntnis über unsere Sprache. An Franz Rosenzweig, 7. Teweth 5687. Der Text ist, erweitert um seinen biografischen Kontext, veröffentlicht in Brocke, Franz Rosenzweig und Gerhard Scholem. Zu einem Kommentar, der den Brief mit Bialiks Essay in Verbindung setzt, vgl. Shahar, The Sacred and the Unfamiliar. 103 Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik; Biemann, Inventing New Beginnings. 104 Scholem, Tagebücher, Bd. 1: 1913–1917; vgl. auch ders., Von Berlin nach Jerusalem; Lazier, God Interrupted, Kap. 10. 105 Scholem, Offener Brief an den Verfasser der Schrift »Jüdischer Glaube dieser Zeit«. 106 Ebd., 243. In Tradition und Kommentar als religiöse Kategorien im Judentum, ein erstmals im Eranos Jahrbuch 31 (1962) veröffentlichter Essay, verwendet Scholem dieselben Begriffe zur Charakterisierung der Kabbala. Es liegt daher nahe, dass sich seine eigene

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theologische Position zumindest in Wechselwirkung mit seinem Studium kabbalistischer Quellen entwickelte oder sich womöglich gar vor seinen kabbalistischen Studien herausgebildet hatte. 107 Scholem, Reflections on Jewish Theology, 268 f.; vgl. auch ders., Revelation and Traditions as Religious Categories (hebr.); ders., Reflections on the Possibility of Jewish Mysticism in our Time (hebr.). 108 Vgl. Biale, Gershom Sholem, 215 f. 109 Vgl. zur Diskussion von Scholems und Benjamins Interpretation von Kafka: Alter, Necessary Angels. 110 Kafka, Vor dem Gesetz. 111 Zur nach wie vor hervorragendsten Erörterung der hechalot-Literatur vgl. Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Kap. 2: Merkaba-Mystik und jüdische Gnosis, 43–86. 112 Rubinstein, After Auschwitz. 113 Tschernichowski, Schirim, 72–74. Zu einer Diskussion dieses Gedichts und seiner Stellung in der modernen hebräischen Kultur vgl. Hirschfeld, Locus and Language, 1013 f. Das Gedicht ist hier wiedergegeben in der dem Original rhythmisch entsprechenden, oft freien Übertragung von Marek Scherlag (1878–1962). Autor und Übersetzerin danken Jörg Schulte, der den Text, den er im Genazim-Archiv, Tel Aviv, aufgefunden hat, zur Verfügung gestellt hat. Die Edition einer Auswahl von Tschernichowskis Gedichten in der Übertragung von Jörg Schulte ist in Vorbereitung.

2. Tora: Die säkulare jüdische Bibel 1 Nordau, Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit, 59 f. 2 Sheehan, The Enlightenment Bible. Zu einer breit angelegten Analyse der verschiedenen modernjüdischen Auffassungen von der Bibel vgl. Shavit/Eran, The Hebrew Bible Reborn. 3 Cohen, Urban Visibility and Biblical Visions. 4 Scheindlin, Wine, Women and Death. 5 Alter, The Double Canonicity of the Hebrew Bible; ders., Canon and Creativity. 6 Carmi, The Penguin Book of Hebrew Verse, 314. 7 Ibn Esra zu Ex 14,27, 16,13 und 34,29. Vgl. Sarna, Ibn Ezra as an Exegete; Lancaster,­ Deconstructing the Bible. 8 Bacher, Abraham ibn Esra’s Einleitung zu seinem Pentateuch-Commentar. 9 Harris, Ibn Ezra in Modern Jewish Perspective. 10 Er trennte sie jedoch nicht völlig. Er weist auf einige Verse in der Bibel hin, die auf die supralunare Welt hindeuten. Die Bibel sei aus einer dualen Perspektive zu lesen: der menschlichen und der göttlichen. Vgl. Biale, Philosophy and Exegesis in the Writings of Abraham Ibn Ezra. 11 Vgl. Ruderman, Jewish Thought and Scientific Discovery in Early Modern Europe, bes. 14–35 (zu sephardischen Gelehrten) und 54–99 (zu aschkenasischen Juden). 12 Zu Ibn Esras wissenschaftlichen Auffassungen vgl. Sela, Abraham Ibn Ezra and the Rise of Medieval Hebrew Science. Zur Rolle der Astrologie in der mittelalterlichen jüdischen Naturvorstellung vgl. Ruderman, Jewish Thought and Scientific Discovery in Early Modern Europe, 21–35; sowie Barkai, Theoretical and Practical Aspects of Jewish Astrology in the Middle Ages. 13 Zu Ibn Esra und Krochmal vgl. Harris, Ibn Ezra in Modern Jewish Perspective, 150–158.

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14 Zu Maimonides’ Exegesemethode vgl. seine Einleitung zu Buch 1 des Führers der Unschlüssigen. 15 Vgl. bes. Maimonides, Führer der Unschlüssigen, Buch 2, Kap. 25. 16 Zum Prinzip der »Anpassung« vgl. Funkenstein, Theology and the Scientific Imagination from the Middle Ages to the Seventeenth Century, 213–271; ders., Perceptions of Jewish History, 88–98; Benin, The Footprints of God. 17 Zur Begründung der Gebote durch Maimonides im Führer der Unschlüssigen, Buch 3, Kap. 25–49; vgl. Funkenstein, Perceptions of Jewish History, 137–144; Socher, Of Divine Cunning and Prolonged Madness. 18 Heinemann, The Reasons for the Commandments in Jewish Thought. 19 Yerushalmi, Zachor: Erinnere Dich! 20 Zu Ibn Verga vgl. Yerushalmi, The Lisbon Massacre of 1506 and the Royal Image in the Shebet Yehudah. Zur frühneuzeitlichen jüdischen Historiografie im Allgemeinen vgl. ders., Zachor: Erinnere Dich! 21 Segal, Historical Consciousness and Religious Tradition in Azariah de’ Rossi’s Me’or ‘Einayim. 22 Zur Erörterung dieser Frage siehe u. a. Levene, Spinoza’s Revelation, Kap. 2. 23 Strauss, Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. 24 Vgl. Spinoza, Theologisch-politische Abhandlung, Vorrede. 25 Diese Einsicht verdanke ich einem Gespräch mit Yuval Jobani. 26 Spinoza, Theologisch-politische Abhandlung, Kap. 7, 106 f. 27 Ebd., Kap. 7, 109. 28 Popkin, Spinoza and Bible Scholarship; Nelson, The Hebrew Republic. 29 Spinoza, Theologisch-politische Abhandlung, Kap. 3. 30 Ebd., Kap. 3, 50. 31 Ebd., Kap. 17. 32 Vgl. Levene, Spinoza’s Revelation, Kap. 2. 33 Heine, Ludwig Börne. Helgoland den 8ten Julius, in: ders., DHA , Bd. 11, 38 f. Für die Bezeichnung »portatives Vaterland« vgl. ders., Geständnisse, in: ders., DHA , Bd. 15, 43. 34 Heine, Shakespeares Mädchen und Frauen, in: ders., DHA , Bd. 10, 125 f. 35 Ebd., 126. 36 Heine, Geständnisse, in: ders., DHA , Bd. 15, 46. 37 Ebd., 45. 38 Ebd., 44. 39 Ebd., 45. 40 Goldstein, Reinscribing Moses, 20–39. 41 Heine, Geständnisee, in: ders., DHA , Bd. 15, 41. 42 Ebd., 46. 43 Ebd., 47. 44 Die Literatur zu Der Mann Moses und die monotheistische Religion ist ausgesprochen umfangreich. Besonders hingewiesen sei auf: Robert, From Oedipus to Moses; Ye­ rushalmi, Freuds Moses; Geller, Freud’s Jewish Body; Slavet, Racial Fever. 45 Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, 492 f. 46 Ebd., 493. 47 Ebd., 494 f. 48 Ebd., 503. 49 Ebd., 564. 50 Ebd., 557. 51 Ebd., 534. 52 Ebd., 561.

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53 Ebd., 540. 54 Ebd., 545 (Hervorhebung im Original). Zum Kontext der Übernahme dieser Theorie vererbter psychologischer Charakteristika durch Freud vgl. Slavet, Racial Fever; Ye­ rushalmi, Freuds Moses. 55 Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, 547. 56 Ders., Vorrede zur hebräischen Ausgabe von »Totem und Tabu«, 385. Die Vorrede wurde zunächst in deutscher Sprache veröffentlicht (Freud, Gesammelte Schriften, Bd.  12, Wien 1934), im Hebräischen erst 1939. 57 Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, 568. 58 Ebd., 568 f. 59 Yerushalmi, Freuds Moses, 10. 60 Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, 564. 61 Vgl. Achad Ha’am, Moses. Vgl. weiter Zipperstein, Elusive Prophet, 214–216. Allgemein zu den biblischen Propheten vgl. Achad Ha’am, Priester und Prophet. 62 Eine Übersicht vier moderner Interpretationen Moses’ findet sich in Goldstein, Re­ inscribing Moses. 63 Achad Ha’am, »Die Lehre des Herzens«. 64 Ders., Umwertung aller Werte. 65 Ders., »Die Lehre des Herzens«. 66 Ders., Äußere Freiheit und innere Knechtschaft. 67 Zu Berdyczewskis expliziter Verwendung von schinui arachim vgl. seine gleichnamigen Aufsätze: Bin Gorion, Schinui Arachim. 68 Vgl. z. B. ders., Kol Kitvej Micha Josef Bin Gorion, 19 (Über Werte). Zu seiner Verurteilung der Zehn Gebote: ebd., 20 (Über die Verneinung). 69 Ebd., 30 (Widerspruch und Aufbau) sowie auch 38. 70 Ebd., 19. 71 Ebd. (Über die Geschichte). 72 Ebd., 30 f. (Das Buch des Lebens). Zu seiner systematischen Kritik an Achad Ha’am vgl. ebd., 32–38. 73 Bin Gorion, Sinai und Garizim, XIII. 74 Ebd., 317. 75 B. Schabbat 119b. Im Kontext bedeutet dieser Satz, dass Israel durch das Schwert der Völker gestraft werden wird, wenn es die Schrift nicht befolgt. Bin Gorion interpretiert das Schwert als Teil des Selbstverständnisses Israels. Vgl. ders., Kol Kitvej Micha Josef Bin Gorion, 45 (Zwei Gesichter). 76 Ebd., 32 (Alter und Jugend). Im Hebräischen wird das Wort bajit verwendet, das sowohl für Haus als auch für Tempel steht. 77 Ebd., 29 (Widerspruch und Aufbau). 78 Hobsbawm/Ranger (Hgg.), The Invention of Tradition; Anderson, Die Erfindung der Nation. 79 Zu einer Untersuchung der Rolle der Bibel in der zionistischen Kultur und dem Staat Israel vgl. Shapira, The Bible and Israeli Identity (2004); ebd. (2005). Vgl. auch Shavit/ Eran, Hebrew Bible Reborn, Teil 4. 80 Ben-Gurion, Ben-Gurion Looks at the Bible, 55–109. Für die Diskussion aus dem Jahr 1960 vgl. auch 113–125. Vgl. weiter Shapira, Ben-Gurion and the Bible. 81 Zu den Kanaanitern vgl. Diamond, Homeland or Holy Land; Shavit, Me-Ivri ad-Kena’ani. 82 Zu den Debatten um Ben-Gurions Bibelauslegungen vgl. Keren, Ben-Gurion and the Intellectuals, 100–117. 83 Ben-Gurion, Ben-Gurion Looks at the Bible, 51. Der Aufsatz The Bible is Illuminated by its Own Light stammt aus dem Jahr 1953.

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84 Ebd., 54. 85 Ebd., 67. 86 Uniqueness and Destiny, in: ebd., 25.  Aus einer Ansprache vor dem Generalstab der­ israelischen Armee von 1950. 87 Ebd., 78. 88 Ebd., 41. 89 Ebd., 43. 90 In den gängigen Bibelübersetzungen bezogen auf Dtn  4,20 als »glühender Ofen«, »Schmelzofen«, »Eisenschmelzofen« bezeichnet. Im Deutschen, wohl aus dem Eng­ lischen kommend, ist der Begriff Schmelztiegel geläufiger. 91 Als Beispiel für Jabotinskys Bemühungen, seine sozialpolitischen Vorstellungen auf der Bibel zu begründen, vgl. ders., Perakim ba-Filosofia ha-sozialit schel ha-Tanach [Erörterungen zur Sozialphilosophie der Bibel], in: ders., Umah ve-Hevra, 181–191. 92 Samson Nazorej [Samson der Nasiräer], Berlin 1927. Auf Englisch erschienen als Samson the Nazarite (London 1930). Eine detaillierte Auseinandersetzung mit diesem Werk bietet Stanislawski, Zionism and the Fin de Siècle, 221–227. 93 Vgl. Govrin, »The Brenner Affair« (hebr.), enthält Brenners Originalaufsatz aus der­ Zeitung Ha-Po’el Ha-Tzair, 22. Cheschwan 1911. 94 Ebd., 137. 95 Ebd., 136 f.

3. Israel: Stamm, Nation oder Staat? 1 Baron, The Jewish Community; Biale, Power and Powerlessness in Jewish History, Kap. 3; Wisse, Jews and Power. 2 Biale, Power and Powerlessness, Kap. 2; außerdem Walzer/Lorbeerbaum/Zohar (Hgg.), The Jewish Political Tradition, Kap. 8. 3 Baba Batra, 1.5. Vgl. auch die ausführlichere Diskussion in der Tosefta Baba Mezia 11; sowie Walzer, Jewish Political Tradition, Kap. 8. 4 Lorbeerbaum, Politics and the Limits of Law. Vgl. auch Blidstein, Political Concepts in Maimonidean Halakhah (hebr.); Kriesel, Maimonides’ Political Thought. 5 Maimonides, Mischne Tora, Sefer Schoftim, Hilchot Melachim u-Milchamotehem, 3.8. 6 Ebd., 3.7. 7 Vgl. Funkenstein, Perceptions of Jewish History, 131–154. 8 B. Sanhedrin 91b. 9 Maimonides, Mischne Tora, Sefer Schoftim, Hilchot Melachim u-Milchamotehem, 11.1. und 12.1. 10 Ders., Mischne Tora, Sefer Schoftim, Hilchot Mamrim, 2.9. 11 B. Jewamot 90b. 12 Schmitt, Die Diktatur; allgemeiner ders., Politische Theologie. 13 Lorbeerbaum, Politics and the Limits of Law, 93–149. 14 Spinoza, Theologisch-politische Abhandlung, 188. 15 Meine Analyse ähnelt hier der von Steven M. Smith: ders., Spinoza, Liberalism and the Question of Jewish Identity, Kap. 6. 16 Spinoza, Theologisch-politische Abhandlung, 196. 17 Vgl. Mendenhall, The Tenth Generation. 18 Spinoza, Theologisch-politische Abhandlung, 175 und 198. 19 Ebd., 197.

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Ebd., 183. Ebd., 184. Ebd., 182. Ebd., 200. Ebd., 46. Zu dieser Vermutung vgl. Kastein, Shabbtai Zewi, 230. Spinoza, Briefwechsel, 33. Brief: »An den hochgeehrten Herrn B. d. S. Heinrich Oldenburg«, 8.  Dezember 1665; vgl. auch Nadler, Spinoza, 254. Spinozas Antwort ist nicht belegt, sodass das Ausmaß seiner Kenntnis über den Sabbatianismus im Bereich der Spekulation bleiben muss. Mendelssohn hat möglicherweise den Begriff »Judentum« aus Johann Andreas Eisenmengers antisemitischem Kompendium echter und angeblicher Texte aus der rabbi­ nischen Literatur, Entdecktes Judenthum (Königsberg 1711), entlehnt. Mendelssohn, Jerusalem, 62 und 70. Ebd., 55–59. Ebd., 71. Ebd., 43. Ebd., 123. Altmann in der Einleitung zur englischen Übersetzung von Jerusalem. Vgl. ders., Introduction. Mendelssohn, Jerusalem, 93. Hess, Die heilige Geschichte der Menschheit, 338 f. Einen Kommentar zu diesem bedeutenden Frühwerk liefert Shlomo Avineri in seiner Einleitung zur englischsprachigen Ausgabe aus dem Jahr 2004: ders., Moses Hess, IX–XXVII. Vgl. weiter ders., Moses Hess. Für eine andere Interpretation dieser Abhandlung von Hess und seines Frühwerks generell vgl. Volkov, Moses Hess, 1–15. Hess, Rom und Jerusalem, 16. Ebd., 2 (Hervorhebung im Original). Ebd. und Anm. 1. Ebd., 33. Ebd., 12. Der damaligen Usance entsprechend sind bei Hess »Stamm« und »Rasse« austauschbare Begriffe. Ebd., 2. Ebd., 57. Ebd., 109. Ebd., 12. Koltun-Fromm, Moses Hess and Modern Jewish Identity, 76–84. Vgl. Biale, Blood and Belief, 197 f. Der Standpunkt, Adam sei nur der Vorvater der ­Juden gewesen, wurde im 17. Jahrhundert auch vom möglicherweise von Marranen abstammenden Isaac La Peyrère vertreten. La Peyrère entwickelte eine Theorie von den »PräAdamiten«, von denen die übrige Menschheit abstamme. Vgl. auch im vorliegenden Buch, Kap. 2, wie auch Popkin, Isaac La Peyrère (1596–1676). Hess, Rom und Jerusalem, 112. Ebd., 13 und 171–173. Zu Hess’ Ansichten über Mischehen vgl. Avineri, Moses Hess, 73. Zu einer Analyse der Verwendung des Blutdiskurses bei Hess vgl. Biale, Blood and Belief, 175–182. Hess, Rom und Jerusalem, 19 f. Ebd., 12 f. Ebd., 40.

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Ebd., 39. Ebd., 41. Ebd. Ebd., 137. Ebd., 138. Vgl. Efron, Defenders of the Race. Zum Begriff einer »jüdischen Rasse« im Zionismus vgl. Falk, Zionism and the Biology of the Jews. Die einflussreichste Replik von assimilationistischer Seite war die des jüdischen Anthropologen Maurice Fishberg: ders., The Jews. Ein klassisches marxistisches Statement gegen die jüdische Rasse nach Fishbergs Sicht ist: Kautsky, Rasse und Judentum. Zum Zusammenhang zwischen dem Blut­ diskurs und verschiedenen jüdischen Denkern vgl. Biale, Blood and Belief, 175–213. Zangwill, The Melting Pot, 127. Eine ausführlichere Interpretation des Dramas mit Bibliografie ist enthalten in Biale, The Melting Pot and Beyond. 2006 erschien zudem eine Studie über Zangwill und seine Bühnenstücke: Nahshon (Hg.), From the Ghetto to the Melting Pot. Zangwill, The Melting Pot, 204. Ebd., 207. Vgl. Stanislawski, Zionism and the Fin de Siècle. Jabotinsky, Race, in: ders., Umah ve-Hevra, 130. Zu hervorragenden Erörterungen von Jabotinskys Ideologie sei verwiesen auf Cohen, Zion and State, 184–197; Avineri,­ Jabotinsky; Kaplan, The Jewish Radical Right. Jabotinsky, Self-Government of National Minorities, in: ders., Umah ve-Hevra, 13–72. Zur Eisernen Mauer siehe ders., The Iron Wall (The Arabs and Us), sowie ders., The­ Ethics of the Iron Wall, in: ders., Ba-Derech la-Medina, 251–266. Vgl. weiter Kaplan, The Jewish Radical Right, 47–50. Lazarus, An Epistle to the Hebrews, 80. Zur Biografie von Lazarus vgl. Schor, Emma Lazarus. Montefiore, Is Judaism a Tribal Religion, zit. nach Lazarus, An Epistle to the Hebrews, 11. Ebd., 14. Ebd., 25 f. Ebd. Ebd., 15 (Hervorhebung im Original). Zur Körperkraft vgl. ebd., 31; zu manueller Arbeit und produktiven Berufszweigen vgl. ebd., 16–21. Lazarus, The Jewish Problem, 77. Vgl. Schor, Emma Lazarus, 129 f., 132 und 172. Lazarus, Epistle to the Hebrews, 27. Ebd., 55. Vgl. Lazarus, The Poet Heine, 93 f.; Schor, Emma Lazarus, passim. Das Zitat entstammt einem 1867 verfassten Sonett, einer Replik auf Longfellows Poem The Jewish Cemetery at Newport über seinen Besuch in der Synagoge von Newport. Vgl. Schor, Emma Lazarus, 15–20. Herzl, Der Judenstaat, 38. Ebd., 34. Ebd., 30. Ebd., 37. Ebd., 38. Ebd., 37. Vgl. Institutiones Iustiniani, Bd. 3/27. Text und Übersetzung in englischer Übersetzung von Henk Overberg in: Herzl, The Jews’ State, 220–222. Vgl. auch Herzl, L’état des juifs.

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Herzl, Der Judenstaat, 109. Ebd., 106. Ebd., 112. Ebd., 118 f. Ebd., 120 f. Vgl. Frankel, Prophecy and Politics; Mendelssohn, On Modern Jewish Politics; Lederhendler, The Road to Modern Jewish Politics. 92 Vgl. die umfassende Biografie von Oriol, Bernard Lazare. 93 Ebd., 329 f. 94 Vgl. Kap. 13 in Lazare, L’antisémitisme, 303–327. 95 Ebd., 314. 96 Lazare, Le nationalisme juif. 97 Ders., Le fumier de Job, 28. 98 Vgl. Kap. 10: La race und Kap. 11: Nationalisme et antisémitisme in: Lazare, L’antisémitisme, 246–272 und 273–302. 99 Ders., Le nationalisme juif, 3. 100 Ebd., 13. 101 Ebd., 16. 102 Zit. nach Oriol, Bernard Lazare, 366. 103 Ebd., 358. 104 Vgl. den Aufsatz Nationalism and Jewish Emancipation, in: Lazare, Job’s Dungheap, 86. Das französische Original Le nationalisme et l’émancipation juive ist als Fortsetzung von März bis Mai 1901 in der Zeitschrift L’Écho sioniste, 9–13, erschienen. 105 Oriol, Bernard Lazare, 341. 106 Lazare, L’esprit révolutionnaire dans le judaïsme, 326. 107 Vgl. Lazares offenen Brief an M. Tarieux, zit. nach Oriol, Bernard Lazare, 355. 108 Lazare, Le fumier de Job, 54 f. 109 Ebd., 37. 110 Ebd., 59 f. 111 Ebd., 31. Zu Mahlers Philosophie der jüdischen Geschichte vgl. Mahler, A History of Modern Jewry, 1780–1815. 112 Lazare, Le fumier de Job, 78. 113 Ebd. 114 Ebd., 75. 115 Ebd., 76 f. 116 Ebd., 85. 117 Ebd., 66. 118 Ebd., 49. 119 Lazare, Juifs et antisémites, 177. 120 Oriol, Bernard Lazare, 367–373 und 387–391. 121 Zit. nach ebd., 350. 122 Hannah Arendt, Interview mit Günter Gaus im deutschen Fernsehen (1964), (2.  Juli 2015). Vgl. Young-Bruehl, Hannah Arendt, 46. Zu Arendts jüdischem Selbstverständnis vgl. weiter Birnbaum, Geography of Hope, Kap. 5. 123 Young-Bruehl, Hannah Arendt, 44. 124 Vgl. Aschheim, Scholem, Arendt, Klemperer. 125 Vgl. die Synopse von Arendts Dissertation, in: Young-Bruehl, Hannah Arendt, 650–663. Vgl. Bernstein, Hannah Arendt and the Jewish Question. 126 Ebd.

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127 Vgl. Benhabib, Hannah Arendt, bes. Kap. 2; Birmingham, Hannah Arendt and Human Rights; Villa, Arendt and Heidegger; Canovan, Hannah Arendt. 128 Diesen bereits zum Teil in The Origins of Totalitarianism (1951) enthaltenen Argumentationsstrang entwickelte Arendt in The Human Condition (1958) weiter. 129 Vgl. Beiner, Arendt and Nationalism. 130 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 622. 131 In Arendt and Nationalism behauptet Beiner, dass Arendts politische Philosophie nicht kommunitaristisch war, ohne jedoch aufzuzeigen, in welchem Sinne sie wesentlich anders war, auch wenn sie aus ihren eigenen idiosynkratischen Theorien von Staat und Nation entstanden war. 132 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 615. 133 Dies., Eichmann in Jerusalem, 318. 134 Dies., Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 609. In der englischsprachigen Ausgabe ist von »Jewish mission […] to achieve the establishment of mankind« die Rede. 135 Ebd., 69 f. 136 Vgl. dies., Zur Minderheitenfrage, 231 f. 137 Dies., Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 179–181. 138 Zu Arendts ambivalentem Verhältnis zur Moderne vgl. Benhabib, Hannah Arendt. 139 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 38. 140 Dies., Jewish History, Revised. Vgl. auch dies., Der Judenstaat, 65 f. 141 Dies., Es ist noch nicht zu spät, 104. 142 Vgl. dies., Über die Revolution. 143 Dies., Es ist noch nicht zu spät, 105. 144 Arendt, Eichmann in Jerusalem, 312 f. 145 Zu den historischen Ursprüngen des Monismus und Jabotinskys Verwendung dieser Vorstellung vgl. Stanislawski, Zionism and the Fin de Siècle, 271; und Kaplan, The­ Jewish Radical Right, 31–50. 146 Ben-Gurion, Mi-Ma’amad le-Am, 247, zit. nach Cohen, Zion and State, 175. 147 Ben-Gurion, Mi-Ma’amad le-Am, 252. 148 Ders., Medinat Israel ha-mechudeschet, 5. 149 Morris, Israel’s Border Wars, 1949–1956. 150 Vgl. zur Entwicklung dieser Doktrin Cohen, Zion and State, 201–259. Zu Ben-Gurions Abwendung vom Sozialismus vgl. ebd. sowie polemischer: Sternhell, The Founding Myths of Israel. 151 Ben-Gurion, The New Tasks of World Zionism, 3. Vgl. weiter Cohen, Zion and State, 205. 152 Vgl. ebd. bezüglich Ben-Gurions Rede vor der Knesset im Juni 1953 zur Frage, mit welcher Fahne Staatsgebäude zu beflaggen seien. 153 Ben-Gurion, Medinat Israel ha-mechudeschet, 2. 154 Text der Unabhängigkeitserklärung in deutscher Übersetzung, zit. nach (2. Juli 2015); vgl. in engl. Sprache MendesFlohr/Reinharz (Hgg.), The Jew in the Modern World, 629 f.

4. Israel: Geschichte, Sprache und Kultur 1 Zum biografischen Kontext vgl. Sammons, Heinrich Heine, 94–96 und 243 f. 2 Heine, Der Rabbi von Bacherach, in: ders., DHA , Bd. 5, 142 f. 3 Vgl. Gelber, Herzl and Nordau, 139–152.

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4 Über Zamenhof vgl. Centassi, L’homme qui a défié Babel; und Boulton, Zamenhof. 5 Weinreich, The Language of the Way of the SHaS, 175–246. 6 Cantwell Smith, The Origin and Meaning of Religion; Asad, Genealogies of Religion, Kap. 1. 7 Vgl. Biale (Hg.), Cultures of the Jews, bes. das Vorwort; mit einigen Einschränkungen dieser These vgl. Rosman, How Jewish Is Jewish History? 8 Vgl. Marcus, The Culture of Ashkenaz, 449–516. 9 Vgl. Ruderman, The World of a Renaissance Jew, Anhang; Sabar, Bride, Heroine, and Courtesan, 68. Ich danke Shalom Sabar für den Hinweis auf den Text aus der Jewish Theological Seminary Library. 10 Einen ambitionierten Versuch bieten Yovel/Shaham/Tzaban (Hgg.), Seman jehudi chadasch. 11 Vgl. wesentlich zu diesem Kontext Zipperstein, The Jews of Odessa. 12 Vgl. ders., Elusive Prophet; Weinberg, Between Tradition and Modernity, Kap. 4. 13 Achad Ha’am hat zahlreiche Essays verfasst, in denen er diese Position darstellt. Vgl. z. B. ders., Die Renaissance des Geistes. 14 Ders., Äußere Freiheit und innere Knechtschaft, 160. 15 Ders., Zionism and Jewish Culture, 96. 16 Ders., Äußere Freiheit und innere Knechtschaft. 17 Weinberg, Between Tradition and Modernity, 262. 18 Achad Ha’am, Brief vom 30. März 1913, in: ders., Essays, Letters, Memoirs, 270. 19 Ders., Brief vom 18. September 1910, in: ebd., 269. 20 Ebd. 21 Vgl. Achad Ha’am, Brief vom 26. Oktober 1915 an B. Benas und I. Raffalowich, in: ebd., 272. 22 Ders., Zionism and Jewish Culture, 91. 23 Ders., Diaspora Nationalism, 226. 24 Ebd. 25 Ders., Nachahmung und Assimilation. 26 Ders., Zionism and Jewish Culture, 98 f. 27 Ders., The Supremacy of Reason, 275 f. 28 Ebd., 288. 29 Zit. nach Zipperstein, Elusive Prophet, 49. 30 Bialik, Geburtswehen der Sprache. Zu diesem Essay vgl. Kronfeld, On the Margins of Modernism, worin die Autorin belegt, dass der Essay mit seiner Publikation in der Zeitschrift Haschiloach im Jahr 1907 Verbreitung erhielt, jedoch bereits 1905 in Ivrija erschienen war. 31 Vgl. Bacon, Bialik (hebr.). 32 Bialik, Geburtswehen der Sprache, 17–19. 33 Ebd., 20. 34 Vgl. dieses und die beiden folgenden Zitate ebd., 22. 35 Ders., Zum Einsammeln der Aggada, 72–81. 36 Ginzberg, The Legends of the Jews. 37 Bialik, Halacha und Aggada. 38 Ebd., 82 und 87. Elu we-elu divrej jezira hem (wörtlich: diese und jene sind Worte der Schöpfung, wobei jezira die Schöpfung auch im Sinne eines kreativen Werks ist). In Gershom Scholems Übertragung heißt es frei: »Ich bin überzeugt, dass beides schöpfe­rische Werke sind«. Bialiks Paraphrase geht damit im Deutschen verloren. 39 B. Eruwin 13, Gittin 6b (elu we-elu divrej elohim chajim hem). 40 Bialik, Halacha und Aggada, 105.

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41 Ebd., 106 f. 42 Vgl. Veidlinger, Simon Dubnow Recontextualized. 43 Vgl. Hilbrenner, Simon Dubnov’s Master Narrative and the Construction of  a Jewish Collective Memory in the Russian Empire. 44 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. 1, Einleitung, XIII–XXXI, hier XX . 45 Ebd., XVI sowie XVII (Hervorhebung im Original). 46 Ebd., XVI und XX (Hervorhebung im Original). 47 Vgl. Biale, Gershom Scholem, bes. Kap. 9. Vgl. auch Funkenstein, Anti-Jewish Propaganda; und aus späterer Zeit ders., Perceptions of Jewish History, 36–40 sowie 169–201. 48 Bin Gorion, Zefunot we-Aggadot, 11. 49 Ders., Kol Kitvej Micha Josef Bin Gorion, 43. 50 Ebd., 34. 51 Ebd., 181–184. 52 Ebd., 87 f. 53 Vgl. Bin Gorion (Emanuel), Micha Josef Bin Gorion (Berdyczewski), XVI; vgl. auch Bin Gorion (Micha Josef), Der Born Judas. 54 Bin Gorion, Kol Kitvej Micha Josef Bin Gorion, 49. 55 Vgl. Biale, Historical Heresies and Modern Jewish Identity; ders., Shabbtai Zvi and the Seductions of Jewish Orientalism. 56 Scholem, The Science of Judaism – Then and Now; die Übersetzung bearbeitet auf der Grundlage von ders., Wissenschaft vom Judentum einst und jetzt (1968). Vgl. zudem Biale, Gershom Scholem, Kap. 9. 57 Scholem, The Messianic Idea in Judaism, 21. 58 Ders., Sabbatai Sevi. The Mystical Messia, übers. von R. J. Z. Werblowsky, Princeton, N. J., 1971; Sabbatai Zwi. Der mystische Messias, ins Deutsche übertragen von Angelika Schweikhart, Berlin 2014 (Nachdruck der dt. Erstausgabe von 1992). 59 Ders., Über die Theologie des Sabbatianismus im Lichte Abraham Cardosos, 139. Mit »Wirklichkeit der Hebräer« bezieht sich Scholem auf Oskar Goldbergs 1925 erschienenes gleichnamiges Werk über den magischen Neokabbalismus, neu aufgelegt unter dem Titel: ders., Die Wirklichkeit der Hebräer. Wissenschaftliche Neuausgabe mit einem Geleitwort von Elasar Benyoetz und einem Nachwort von Roland Goetschel, hg. von Manfred Voigts, Wiesbaden 2005. Vgl. außerdem Biale, Gershom Scholem, 265, Anm. 46. 60 Mizwa ha-ba’a ba-Avera [Erfüllung des Gebots durch seine Übertretung], in: Knesset 5697 (1937), 347–392; Scholem, Erlösung durch Sünde. 61 Ebd., 109–116. 62 Ebd., 19.  63 Vgl. namentlich Scholems Essay Überlegungen zur Wissenschaft vom Judentum von 1944. Eine um einiges gekürzte, zurückhaltender formulierte Version erschien unter dem Titel Wissenschaft vom Judentum einst und jetzt (engl. The Science of Judaism  – Then and Now, in: Scholem, The Messianic Idea in Judaism and Other Essays in Jewish Spirituality). 64 Vgl. Biale, Gershom Scholem, Kap. 8. 65 Vgl. Brenner, Ha-Ne’eman. Zu einer Analyse von Brenners literarischer Methodik vgl. Brinker, Narrative Art and Social Thought in Y. H. Brenner’s Work (hebr.). 66 Brenner, Al Halacha we-Aggada schel Bialik, 1507. 67 Die Gedichttitel gewordene Wendung Al kozo schel jod (Der Punkt des Jod) entspricht in etwa dem deutschen »bis aufs i-Tüpfelchen«. 68 Ebd., 1510. Gemeint ist Bialiks Gedicht Schirati (Mein Gedicht), mit dem er seiner Mutter, die nach ihrer Verwitwung ihre Kinder alleine aufziehen musste, ein Denkmal setzt.

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Ebd., 1503. Ebd., 1502. Brinker, Narrative Art and Social Thought in Y. H. Brenner’s Work, 168–172 (hebr.). Brenner, Ha’arachat azmenu be-schloschet ha-Kerachim, 1225. Ebd., 1242. Ebd., 1254. Ebd., 1253. Ebd., 1284. Ebd., 1246 f. Ebd., 1282. Ebd., 1284. Ebd., 1295 f. Ebd., 1296. Mit hitjaschvut ovedet sind die sozialistischen Siedlungsbewegungen gemeint. Zu Gordon vgl. Schweid, The World of A. D. Gordon (hebr.). Brenner, Ha’arachat azmenu be-schloschet ha-Kerachim, 1244. Ebd., 1240. Ebd., 1405. Vgl. Govrin, »The Brenner Affair« (hebr.), in Bezug auf die Geschichte der Kontroverse und der relevanten Dokumente, einschließlich Brenners Ausgangsartikel in der Zeitung Ha-Po’el ha-Za’ir, 22. Cheschwan 1911. 87 Zit. nach Brinker, Narrative Art and Social Thought in Y. H. Brenner’s work, 164 (hebr.). 88 Govrin, »The Brenner Affair«, 135 (hebr.). 89 Ebd., 136. 90 Vgl. Hoffman, From Rebel to Rabbi, Kap. 2. 91 Die beste Darstellung von Zhitlowskys Leben und Denken ist enthalten in Weinberg, Between Tradition and Modernity, Kap. 2. Zu Zhitlowskys Verhältnis zur Bewegung des Jiddischismus vgl. Goldsmith, Architects of Yiddishism at the Beginning of the Twentieth Century. 92 Erörtert in Weinberg, Between Tradition and Modernity, 92 f. 93 Zhitlowsky, Yid un velt, 191. 94 Ebd., 97. Zu Zhitlowskys erster Einschätzung des Zionismus (1898) vgl. ders., Zionismus oder Sozialismus? (jidd.). 95 Vgl. Michels, A Fire in Their Hearts, Kap. 3. 96 Vgl. Zhitlowsky, Warum ausgerechnet Jiddisch? (jidd.). 97 Ders., Zionismus oder Sozialismus? (jidd.), 72 f., eine englische Übersetzung dieses Textes bietet Michels, Fire in Their Hearts, 133. 98 Vgl. Weinberg, Between Traditon and Modernity, 105 f. 99 Zhitlowsky, Das Buch Hiob, Poem des jüdischen freien Denkens, 313–342 (hebr.). 100 Ebd., 328–330. 101 Zhitlowsky, Die poetisch-nationalistische Erneuerung der Religion (hebr.). 102 Ders., Was ist eine Nation? (jidd.). 103 Ebd., 71. 104 Ders., Juden und Jüdischkeit (jidd.). Vgl. auch die Erörterung dieser Abhandlung in Hoffman, From Pintele Yid to Racenjude. 105 Vgl. Silber, The Emergence of Ultra-Orthodoxy, 49. 106 Vgl. Zhitlowsky, Was ist eine Nation?, 88 (jidd.). 107 Vgl. Michels, Fire in Their Hearts. 108 Vgl. Biale, The Melting Pot and Beyond. 109 Magnes, A Republic of Nationalities, 5, für einen Nachdruck vgl. Mendes-Flohr/­ Reinharz, The Jew in the Modern World, New York 1980, 392.

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110 Nachdruck in Kallen, Culture and Democracy in the United States, 67–125. Vgl. weiter Cohen, In Defense of Shaatnez. 111 Kallen, Culture and Democracy in the United States, 112 f. 112 Ebd., 114 f. 113 Ebd., 122. 114 Berkson, Theories of Americanization. Vgl. weiter Gordon, Assimilation in American Life, 149–152. 115 Vgl. Kallen, Can Judaism Survive in the United States. Zu Kallens Meinungswechsel vgl. Gordon, Assimilation in American Life, 151. 116 Kaplan, Judaism as  a Civilization, 312. Zu Kaplan vgl. Eisen, The Chosen People in America; Biale, Louis Finkelstein, Mordecai Kaplan and American »Jewish Contribu­ tions to Civilization«. Dieser Abschnitt beruht weitgehend auf letzterem Essay. 117 Zu Achad Ha’ams Einfluss auf den amerikanischen Zionismus vgl. Friesel, Ahad HaAmism in American Zionist Thought. 118 Kaplan, Judaism as a Civilization, 178. 119 Ebd., 79. 120 Ebd., 418 f.

Epilog: Vermächtnis 1 Zu diesem Vermächtniskonzept vgl. Goldschmidt, Das Vermächtnis des deutschen Judentums, Frankfurt a. M. 1957, hier zit. nach ders., The Legacy of German Jewry, bes. 236–244. 2 Vgl. u. a. Berger (Hg.), The Desecularization of the World. 3 Oz, Im Lande Israel, 19 f. 4 Ebd., 11 5 Ebd., 21. 6 Oz, Full Wagon, Empty Wagon? 7 Vgl. Bloch/Kronfeld, Amichai’s Counter-Theology. 8 Amichai, Schirim 1948–1962, 71. 9 Ders., Gods Change, Prayers Are Here to Stay, in: ders., Open Closed Open, 40. 10 Vgl. das Gedicht Touristen, in: ders., Jerusalem-Gedichte, 99. 11 Ophir, Jew – Goy (hebr.). 12 Ders., The Passover Haggadah. 13 Vgl. Sarna, American Judaism. 14 Herberg, Protestant, Catholic, Jew. 15 Roth, Verschwörung gegen Amerika, 241 f. 16 Wirth-Nesher, Jewish Culture USA , 293 (hebr.). 17 Wieseltier, Kaddish. 18 Most, Postmodernism and Jewish Identity (hebr.). 19 Goldstein, Betraying Spinoza. 20 Vgl. Auslander, Foreskin’s Lament; Englander, For the Relief of Unbearable Urges.

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Quellen und Literatur

Quellen Achad Ha’am: Am Scheidewege, 2 Bde., Bd. 1, aus dem Hebr. übers. von Israel Friedlaender, 2., verbesserte und vermehrte Aufl., Berlin 1913; Bd. 2, aus dem Hebr. übers. von Harry Torczyner, Berlin 1916. Ders.: Äußere Freiheit und innere Knechtschaft, in: ders., Am Scheidewege, Bd. 1, 141–161. Ders.: Diaspora Nationalism, in: Essays, Letters, Memoirs, 212–230. Ders.: »Die Lehre des Herzens«. Ein zweiter Brief an den Redakteur des »Pardes«, in: ders., Am Scheidewege, Bd. 1, 96–110. Ders.: Die Renaissance des Geistes, in: ders., Am Scheidewege, hier Bd. 2, 105–155. Ders.: Essays, Letters, Memoirs, aus dem Hebr. übers. von Leon Simon, Oxford 1946. Ders.: Moses (1904), in: Nationalism and the Jewish Ethic, 206–227. Ders.: Nachahmung und Assimilation, in: ders., Am Scheidewege, Bd. 1, 225–239. Ders.: Nationalism and the Jewish Ethic. Basic Writings of Ahad Ha’am, hg. von Hans Kohn, New York 1962. Ders.: Priester und Prophet (1893), in: ders., Am Scheidewege, Bd. 1, 240–251. Ders.: The Supremacy of Reason, in: ders., Nationalism and the Jewish Ethic, 228–288. Ders.: Umwertung aller Werte, in: ders., Am Scheidewege, Bd. 1, 252–271. Ders.: Zionism and Jewish Culture, in: Essays, Letters, Memoirs, 83–101. Amichai, Yehuda: Jerusalem-Gedichte, aus dem Hebr. übers. von Paulus und Lydia Böhmer, Zürich/München 2000 (hebr./engl.: Schirej Jeruschalajim/Poems of Jerusalem, Tel Aviv 1987). Ders.: Open Closed Open. Poems, aus dem Hebr. übers. von Chana Bloch und Chana Kronfeld, New York 2000 (hebr.: Patuach sagur patuach, Tel Aviv 1998). Ders.: Schirim 1948–1965 [Gedichte 1948–1965], Jerusalem/Tel Aviv 1969. Arendt, Hannah: »Der Judenstaat«. Fünfzig Jahre danach oder: Wohin hat die Politik Herzls geführt?, in: dies., Essays und Kommentare, Bd.  2: Die Krise des Zionismus, 61–81. Dies.: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964 (engl.: Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil, New York 1963). Dies.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München/Zürich 162013 (zuerst Frankfurt a. M. 1955; engl.: The Origins of Totalitarianism, New York 1951). Dies.: Es ist noch nicht zu spät, in: dies., Essays und Kommentare, Bd. 2: Die Krise des Zionismus, 83–106. Dies.: Essays und Kommentare, Bd. 2: Die Krise des Zionismus, hg. von Klaus Bittermann und Eike Geisel, Berlin 1989. Dies.: Jewish History, Revised, in: dies., The Jewish Writings, 303–311. Dies.: The Jewish Writings, hg. von Jerome Kohn und Ron H. Feldman, New York 2007. Dies.: Über die Revolution, München 1965 (engl.: On Revolution, New York 1963). Dies.: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960 (engl.: The Human Condition, Chicago, Ill., 1958).

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Register

Aberglaube  16, 48, 61, 77, 120, 136, 206 Abraham bar Chija  83 Abrahams, Israel  168 Abramowitsch, S. Y. (Mendele Mojcher Sforim)  166, 186 Achad Ha’am (Ascher Ginzberg)  78, 101–104, 112, 147, 158, 165–174, 180, 184, 186–190, 199, 201, 203 f., 212, 216, 218, 220 Achsenzeit 17 Adam und Eva  43, 67 (Eva), 78, 91, 129, 235 (Adam) Adret, Salomo ibn  118, 208 Ägypten  26, 54, 96 f., 98, 100, 102, 107, 110, 128, 176, 216 Aggada  174–177, 185, 194, 216 f. Agnostik, siehe Gnostik ahavat ha-schem  45 ajin  64 al-Andalus  35, 79, 226 al-Balchi, Chiwi  81 f. Alejchem, Scholem, siehe Scholem Alejchem Amerika, siehe Vereinigte Staaten amerikanische Juden  10, 132 f., 135–137, 166, 168, 197–204, 218–223 Amichai, Yehuda  214 f. Amsterdam  38–41, 44, 46, 55 f., 58, 88, 114, 122, 131, 142 Anarchismus  140–144, 147, 152, 154, 180, 182 f., 185 f., 214 Anpassung (Prinzip)  82, 85, 135, 163 Ansky, S.  177, 192 antijuif  142 Antikatholizismus, siehe Katholizismus Antinomismus  23, 63, 86, 155, 165, 173 f., 205 Antisemitismus  12, 52, 126, 129, 133, 137 f., 142 f., 145, 150 f., 154, 187 f., 199 f., 202, 208, 213, 220, 222, 235 Antizionismus, siehe Zionismus

apikoros  19 f., 195 Apollo  55 f., 75 f. Apostasie  130, 164, 182 f. Arbeiterbewegung  11, 110, 138, 155 Arbeiterklasse, jüdische  141, 188, 198 Arendt, Hannah  114, 146–154, 158 f., 205, 208, 238 Armee, israelische  109, 153, 155 f., 217 Asch, Scholem  191 Aschkenasim  24, 46, 48, 52, 56, 76, 118, 164, 168 f., 197, 209 Assimilation  10 f., 61, 103, 132, 138, 141, 167, 170 f., 186, 192, 195, 199, 222 Astrologie  35, 84 Atheismus  31, 36, 38, 43–45, 49, 54, ­57–59, 62, 143, 172, 195, 206 Auerbach, Berthold  51 Aufklärung  15 f., 20, 25, 45 f., 48, 51, 53, 55, 65, 77 f., 84, 183, 191, 195 Aufklärung, jüdische, siehe Haskala Augustinus  16, 148 auserwähltes Volk (Konzept)  58, 91 f., 98 f., 150 f., 187 f., 191, 201 Auslander, Shalom  222 Ausnahmezustand 118 Autonomie (menschliche)  22 f., 25, 61, 73, 194 Autonomismus  141, 147, 153, 159, 178, 193 ba’al teschuva 195 Barcelona  118, 228 Barth, Karl  71 bat kol  21 f., 34 Bayle, Pierre  45 Ben-Gurion, David  61, 78, 106–112, 114, 152, 154–159, 207 f., 212, 220 Benjamin, Walter  73 Berdyczewski, Micha Josef  75, 78, 103–106, 111 f., 165 f., 180–183, 185 f., 188, 204, 212 f., 216

259

Berlin  46–48, 217 Bernstein, Leonard  219 berurim  116 Beschneidung  55, 122 bet midrasch, siehe Midrasch Betteljuden 46 Bialik, Chajim Nachman  31, 65–69, ­72–75, 103, 163, 165 f., 172–177, 179, 184–186, 188 f., 194 f., 204–207, 213–215, 239 f. Bibelkritik  83, 96, 108, 207 biblische Bücher, siehe Deuteronomium, Esther, Exodus, Genesis, Hiob, ­ Hohelied, Kohelet, Levitikus Bildung/Bildungsideal  53, 57, 108 f., 147, 171 Bloch, Ernst  59 Blumenberg, Hans  27, 226 Blutgemeinschaft 129 Born, Max  60 Brenner, Joseph Chaim  78, 111 f., 165, 184–192, 204 f., 207, 212 f., 215, 218, 222 Brenner-Affäre 190 Brod, Max  73 Buber, Martin  71 f., 152 Buddhismus  17, 219 Bundismus/Bund  11, 26, 141, 159, 193 Cahan, Abraham  197 Calvin, Johannes  119 Cardozo, Abraham  182 chacham  116 Chason Isch, siehe Abraham Karelitz Chassidismus  9, 67, 168, 172, 188, 192, 196 cherem  44, 88, 108, 114, 125 Chibbat Zion  177 chiloni  19, 226 chofschi  226 chol  19 Chovevej Zion  164 Christentum  10, 16–18, 31, 38–40, 47 f., 52 f., 55–57, 67, 78, 83 f., 89, 94, 100, 111, 118 f., 121, 124 f., 127 f., 130, 143–145, 161 f., 165, 167, 176, 183, 189–192, 195, 202, 205

260

Cohen, Hermann  50 f., 78 conversos  38–40 Crescas, Hasdai  83 Da Costa, Uriel (Gabriel)  39, 44, 161, 182 Damaskusaffäre 162 Darwin, Charles  167, 196 dat  164 Demokratie  119 f., 140, 156, 200, 202, 214 Demokratische Partei  198 Deuteronomium 32 Determinismus  37, 43, 60, 84 deus absconditus  73 f., 207 deus sive natura  41, 60 Deutsch (Sprache)  27, 56, 78, 104, 163, 193, 203, 217 deutsche Juden  46, 52 f., 56, 61, 70, 113, 126, 130, 161, 167 Deutscher, Isaac  12 f., 15, 23 f., 205 Deutschland: Nationalsozialismus  99, 113, 148 f., 203; Diaspora  33, 46, 101, 106 f., 109, 115, 126, 141, 151–153, 156, 158, 166, 171, 178, 184, 186, 188 f., 213, 220 Disraeli, Benjamin  132, 151 Dos naje Leben (Zeitschrift) 191 dos pintele jid  196 Dreyfusaffäre  141 f., 151, 209 Dubnow, Simon  147, 153, 159, 165 f., 177–179, 192, 204 Duran, Profiat  227 f. Durkheim, Emile  12 Eichmann, Adolf (Eichmann-Prozess)  148, 150, 152 Einstein, Albert  31, 57–63, 70, 196, 206 Eisenmenger, Johann Andreas  235 ejn sof  64, 71 Elieser, Rabbi, Geschichte des  21 f., 34, 79 Elischa ben Abuja (Acher)  15, 23, 164, 182, 205 Englander, Nathan  222 Englisch (Sprache)  27, 163, 166, 198–201, 203 f., 218 f. Epikur  19, 33 Erster Tempel  32

Erster Weltkrieg  149 Esperanto (Sprache) 163 Esther (Buch)  32 f., 164 Esra, Abraham ibn  80–85, 87 f., 91, 112, 207 Eva, siehe Adam Exil  26, 32, 34, 38, 66, 82, 87 f., 106 f., 111, 114, 155, 171 Existenzialismus  67, 71, 93, 172 Exkommunikation  34, 39 f., 88 (Spinoza), 123, 125, 156 (Spinoza) Exodus (Buch)  22 Familie (jüdische)  114, 128 f. Fichte, Johann Gottlieb  51 Frankisten 183 Frankreich  18, 141 f., 163, 209 Französisch (Sprache)  27, 166 Frauen (jüdische)  9, 128, 131, 165, 185 Freud, Sigmund  12, 15, 31, 57 f., 61, 63, 78, 94–100, 102, 107, 112, 132, 196, 205–207, 219 Funkenstein, Amos  17, 24, 28 Gabirol, Solomon Ibn  80, 136 Gans, David  87 Gauchet, Marcel  17 f., 20 Gedächtnisspuren  99 f. Gegengeschichte  179 f., 183 Geiger, Abraham  79, 83 Genesis 67 Gerechtigkeit  26, 95, 102, 142, 144 f., 157, 192, 194 f., 207, 219 Gerondi, Nissim ben Reuben, siehe ­ Nissim ben Reuben Gerondi Gesellschaftsvertrag  119–212, 123, 139 f. Ginsberg, Allen  219 Ginzberg, Ascher, siehe Achad Ha’am Ginzberg, Louis  175 Glaubensgrundsätze 27 Gnostik/Agnostik  31, 34, 49, 51, 73 f., 207 göttlicher Bund  27, 113, 115 f., 119 f., 127 Goj  9, 197, 216 f. Gott, Tora und Israel (als jüdische ­ »Trinität«)  27 f., 113, 164, 206 f.

Goldstein, Herbert S.  59 Gordon, Aharon David  188 Gordon, Jehuda Leib  185 Graetz, Heinrich  12, 33, 227 Griechisch (Sprache)  111, 203 Griechenland (Antike)  20, 32, 55 f., 63, 66, 74 f., 93 f., 98, 108, 164, 170, 190 Häresie  15, 19 f., 23, 31, 36, 40, 44 f., 48, 52, 54, 59, 62, 64, 73, 81, 88, 165, 179–184, 195, 203, 205 f., 221 Hagana 156 Haggada (Pessach)  216 f. ha-Kohen, Joseph  87 Halacha  173, 175–177, 182, 185, 197, 208 ha-Levis, Jehuda  52 Haman 78 Haschomer Hazair  9 f., 223 Haskala  23, 25, 47 f., 52, 75, 78, 103, 136, 168 f., 185, 187, 192, 195, 205, 211, 213, 222 Hebräisch (Sprache)  9, 19, 27, 69 f., 72, 80, 83, 91 f., 111, 135, 158, 163 f., 166–173, 176, 184, 189 f., 193 f., 203 f., 208, 212, 215 hebräische Literatur, siehe Literatur ­ (jüdische) hechalot-Literatur 74 hefker bet-din  115 Hegel, G. W. F.  51–53, 126 f. Heine, Heinrich  15, 31, 52–58, 63, 75 f., 78, 93–95, 98, 102, 106, 110, 112, 131, 136, 153, 161–163, 178, 206 f. Heisenberg, Werner  60 Herder, Johann Gottfried  103 Hermeneutik  87, 90 f. Herodes 227 Herzl, Theodor  78, 113, 137–145, 147, 152–154, 158 f., 163, 167, 187, 193, 205, 208, 212, 217, 220 Hess, Moses  52, 113, 126–135, 143, 146, 158 f., 208, 235 Hiob/Buch Hiob  33, 145 f., 194 f., 208 Historiografie  87, 184, 179 Historismus 63 Hobbes, Thomas  91 Hohelied  79 f., 108

261

Holocaust/Schoah  75, 150, 171, 213 f., 220 Humanismus  25, 191, 214 Ichud-Gruppe 152 Idealismus  50 f., 117, 192 Identität (jüdische)  10, 15, 29, 40, 62, 107, 114, 183, 190, 198, 202 Ikhnaton (ägyptischer Pharao)  96 f. Immigranten (nach Amerika)  200, 209 Individualismus  40, 44, 186, 194, 199 Inquisition  34, 38 f., 125, 190 Intellekt  44 f. Internationalismus 145 Irgun Zva’i Le’umi  155 f. Islam  18, 20, 24, 34, 39, 98, 183 Italien  39, 97, 110, 133 Jabotinsky, Wladimir Zeev  110–112, 133 f., 154–156, 158 f., 208 Jacobi¸ Friedrich Heinrich  46 Jalkut Schimoni  175 Jaspers, Karl  17 Jehoschua, Rabbi  21 f. Jeschiwa  15, 23, 48, 52, 65, 75, 102, 166, 172, 186 Jesus  52, 54, 94, 148, 182, 189–191, 195 Jiddischismus/jiddischkeit  11, 196–198 Jiddisch (Sprache)  67, 163 f., 166, 169, 172 f., 189, 191–199, 203 f., 208, 222 Jirmeja, Rabbi  21 Jom Kippur  10, 223 f. Josephus Flavius  87 Josua  92, 101, 105–107, 109, 185, 190 Judäomanie 195 Judaismus/Kryptojudaismus  39–41, 44, 104, 178 Jüdische Studien  221 Jung, Carl Gustav  100 Jungfrau Maria  129 Kabbala  19, 28, 31, 36, 49, 64–66, 70–74, 76, 79 f., 95, 122, 181 f., 206, 228, 230 f. Kafka, Franz  31, 73 f. Kallen, Horace  166, 199–202, 204 Kant, Immanuel  25, 46 f., 50, 61, 73 Kapitalismus  110, 128, 138, 144, 154, 193

262

Kaplan, Mordecai  27, 166, 201–204 Karaiter  34, 181 Karelitz, Rabbiner Abraham (Chason Isch) 212 Katholizismus/Antikatholizismus, siehe auch Christentum  17 f., 202, 218 Kaufman¸ Yehezkel  109 Kibbuzbewegung 152 Kierkegaard, Søren  67 Klassenkampf  129, 145 Klausner, Joseph  19 Kohelet  32 f., 227 kollektives Gedächtnis  26, 226 Kommunismus  11, 193 Kosmopolitismus  55, 77, 93, 102, 108, 133, 135 f., 163, 194 Krochmal, Nachman  84 »Kruxifix-Debatte«  191 f. Kulturalismus  146, 201 f., 220 Kushner, Tony  220 Kryptojudaismus, siehe Judaismus Ladino  27, 166, 169, 203 laicité  209 Lamarckismus  98, 100, 196 La Peyrère, Isaac  91, 235 Lazare, Bernard  114, 141–147, 151–154, 158 f., 193 f., 208 Lazarus, Emma  52, 113, 134–137, 142, 158 Lazarus, Moritz  61 Lechi 156 Leibniz, Gottfried Wilhelm  46, 50 Lenin  138 f., 178 Lessing, Gotthold Ephraim  46 Levi ben Gerschon (Gersonides)  42, 44, 83 Leviten 120 Levitikus 19 Liberalismus  26, 61, 93, 157, 198 Lilien, Ephraim Moses  78 Lilienblum, Moses Leib  52, 166 Linguistik  83, 164 Literatur (jüdische)  19, 24, 32, 34, 52, 69, 74, 77, 79 f., 108, 113, 115, 136, 164, 166 ,168 f., 171, 175, 177, 180, 182, 185–187, 191–194, 215 f., 220, 222

Locke, John  89, 123 Löwith, Karl  17 Luria, Isaak  64, 66 f. Luzzato, Samuel David  131

Moses  32, 38, 52, 63, 67, 78, 81 f., 84, 88, 90–92, 94–102, 105, 107, 115, 120 f., 140 Multikulturalismus  146, 149, 202, 220

Magnes, Judah L.  152, 168, 199 Mahler, Raphael  145 Maimon, Salomon  31, 47–51, 54, 62 f., 65 f., 170 f., 205 f., 221 Maimonides, Moses (Mose ben Maimon)  23 f., 28, 31, 34–38, 42 f., 47–52, 57, 60, 62–64, 70 f., 76, 83–87, 89, 91, 108 f., 112, 116–118, 130, 136, 140, 159, 171, 175, 205–208 mamlachtiut  156 Mapu, Avraham  78, 101 Marranen  24, 39 f., 44 f., 91, 182 f., 235 Marx, Karl/Marxismus  12, 15, 33, 52, 132 f., 138, 144 f., 154 f., 178, 196, 227 Materialismus  19, 25, 47, 61, 127, 187 Mehrheitsentscheidung  21 f. Mehrheitsstatus (jüdische Politik)  126, 145, 151, 153–155, 158 Meir, Rabbi  15 Meiri, Menachem  118 Menasse ben Israel  124 Mendelssohn, Moses  25, 46–48, 53, 78, 114 f., 122–126, 130, 136, 139, 151, 159, 223, 226, 235 Mercier, Pierre  128 menschliche Freiheit  73 Messianismus, siehe auch Sabbatianis­ mus  23, 39, 70, 86, 117, 128, 150, 155 f., 182 f., 212 Messias  39, 80, 117, 122, 129, 182 f., 190, 205, 214 f. Metaphysik  13, 17, 25 f., 37, 93, 145, 179 Midrasch  19, 79, 83, 108 minhag  164 Mischehe  114, 129, 132, 199, 203, 222 Modernisierungsprozess  20 f., 78, 208 f. Modernität  66, 172, 209 Monismus  154 f. Monotheismus  17 f., 20, 96, 98, 107, 154 More, Henry  16 Moser, Moses  55

Nachmanides, Moses  118, 208 Nachman von Bratzlaw  67 f. Naher Osten  86, 120, 163, 208 f. Narboni, Moses  38, 42, 228 Narodniki 193 Nationalismus  26, 53, 76, 100 f., 103, 106, 110 f., 113 f., 126, 129 f., 132–137, 140, 142 f., 145 f., 149, 152–154, 159, 163 f., 178, 180, 184, 186, 189, 192, 197, 202, 211, 217 Nationalsozialismus  99, 113, 148 f., 203 Natur  9, 28, 31, 35–38, 41–43, 54, 57 f., 60, 63, 75 f., 83 f., 90, 103–105, 123, 128, 180, 196, 203, 206 f. Naturgesetze  36, 43, 51, 60, 178 negative Theologie  23, 35 f., 42 negotiorium gestio 139 Neuplatonismus  80, 84, 136 Newton, Isaac  50 Nichtzionismus, siehe Zionismus Nietzsche, Friedrich  69, 75, 102 f., 105, 174, 180, 185, 195 Nissim ben Reuben Gerondi  118, 140, 159, 208 Nordafrika  163, 208 f. Nordau, Max  77, 111, 163, 206 f., 112 Notwendigkeit  37, 43, 54, 92, 118, 120, 135, 139 f., 142 Novalis 45 Odessa  65, 110, 165 f., 172, 177, 181 olam  16 Oldenburg, Henry  122 Olympische Akademie (Berner Lese­ zirkel) 59 Onkelos 19 Opfergebote  85 f. Ophir, Adi  216 f. Orthodoxie  9, 26, 31, 39, 48, 56, 59, 62, 70, 79, 108, 124–126, 130, 143, 157–159, 165, 179, 183 f., 192, 195, 197, 203, 209, 212–214, 217 f., 221–223

263

Osmanisches Reich  39, 122, 165 osteuropäische Juden  9, 11, 24, 48, 52, 78, 102, 113, 163, 166, 169, 193, 209, 213, 218 Oz, Amos  213 f., 223 Paganismus  28, 74, 76 Palästina  11, 54, 69, 101, 137, 147, 152, 166, 168, 171, 184, 193, 198, 208, 217 Palmach 156 Panentheismus 84 Pantheismus  31, 45 f., 48 f., 53 f., 57, 60, 84, 88, 136, 143, 188, 195, 206 f. Paria  142, 146 f., 151 Partei der Sozialrevolutionäre  193 Pessach  161, 195, 216 Pfister, Oskar  57 Physik  37, 43, 60 f. Pluralismus, kultureller  200 Polen  9, 11, 15, 18, 129, 163, 171, 178, 183, 192, 198 politische Souveränität  101, 115, 117 f., 120–122, 125, 127, 147, 152, 154–156, 158 f., 212, 216 Polygenetizismus 129 portugiesische Juden  38–40, 44, 142 Positivismus 133 Postzionismus 215–217 Prado, Juan (Daniel) de  39 f., 48 Prophezeiung, biblische  23, 32, 88, 136 Protestantismus  17, 94, 202, 218 Protozionismus, siehe Zionismus Psychoanalyse  57 f., 63, 95 f., 99 f., 196, 206 Quantenmechanik 60 Rabbinatsgericht 115 rabbinische Autorität  11, 23, 31, 35, 47, 144 Raschi-Kommentar  102, 108 Rasse (Verständnis) 99, 113 f., 126, 129–135, 143, 151, 196 f., 199, 208, 235 »Rassen«, Vermischung der  99, 133 f. Rawnitski, Y. H.  174 f. Reformjudentum  27, 47 f., 79, 83, 87, 95, 103, 113, 130 f., 135, 167 f., 183, 209

264

Renaissance  26, 52, 55, 62 f., 65, 69 f., 75, 87, 165, 172 f., 184, 189 revisionistischer Zionismus  10, 110, 133, 152–155 Reznikoff, Charles  219 Ritualmordlegende  161, 187 Romantik  9, 45, 51–53, 55, 65, 78, 103, 195 Roosevelt¸ Franklin D.  198 Rosenzweig, Franz  10, 69, 72, 93, 173, 184 Rossi, Azarja dei  87 Roth, Philip  219 Rousseau, Jean-Jacques  139 Rubenstein, Richard  75 Russisch (Sprache)  27, 110, 163, 166, 174, 193 Russland/Russisches Reich/Sowjetunion  11, 75, 97, 110 f., 129, 132 f., 137 f., 142 f., 159, 166 f., 177 f., 188 f., 193, 198, 215 Saadia Gaon  34, 82, 85 Sabäer 86 Sabbatianismus  39, 122, 151, 174, 182–184, 195, 235 saeculum  16 Säkularisierung  10 f., 13, 17 f., 21, 26, 28 f., 100, 115, 118, 123, 135, 150, 173, 178, 179, 191, 195, 217 Säkularismus  9–12, 15–18, 20–25, 27–29, 31, 33, 46, 51–53, 65, 71, 76, 79, 87, 101, 136, 154, 158, 165, 167, 173, 177, 179, 183 f., 198 f., 201, 204–206, 209–212, 214 f., 217 f., 220–224 sar  19 Schammas, Anton  215 Schapiro, Lamed  191 Schavuot 217 schelilat ha-gola  106, 188 Schlesinger, Akiva  197 Schmelztiegel, amerikanischer  109 f., 133, 166, 199, 234 Schmitt, Carl  17, 117 Schoah, siehe Holocaust Schocken, Salman  73 Schoeps, Hans Joachim  71 f. Scholem Alejchem  11, 198 Schule Hillels  176, 181

Schule Schamais  181 Scotts, Sir Walter  161 seculatio  16 sefirot  64, 79 Selbstverständnis (jüdisches)  10, 13, 26, 29, 39–41, 59, 99, 102, 108 f., 125 f., 132 f., 136–138, 153–157, 164, 190, 201, 208 f., 222 f., 225 f., 233, 237 Sepharden  24, 46, 48, 52, 88, 135, 137, 141, 161 Sforim, Mendele Moicher, siehe Abramo­w itsch, S.  Y. Siebenjähriger Krieg  46 f. Slawophilie  178, 193, 195 Sohar 27 Solowiew, Wladimir  178 Sowjetunion, siehe Russland Sozialdarwinismus 133 Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands 138 Sozialismus  9, 11, 33, 94, 99, 110, 120, 126, 129, 138, 141, 143–145, 147 f., 154–156, 191–193, 195, 197, 209, 223, 241 Spanien  24, 38–40, 44, 52, 64, 79 f., 82, 87, 118, 161, 166 Spencer, Herbert  136 Spinoza, Baruch  12, 15, 23 f., 28, 31 f., 34 f., 37–64, 66, 74, 76–78, 81, 83–85, 87–93, 95 f., 101, 108 f., 111 f., 114 f., 119–128, 130 f., 136, 139 f., 142, 145, 151, 156–158, 161, 181 f., 188, 195, 203, 206–208, 216, 221, 228, 235 Sprachenstreit/Sprachkonflikt/ Sprachen­k rieg 167, 176, 189, 204 Sprachnationalismus  69, 169 Staatenlosigkeit  148–150, 152 Strauss, Leo  62 f., 206, 221 Substanz, nach Spinoza  41 f., 46, 49, 93, 195 Sukkotfest 195 tarbut  164 Territorialismus  26, 132 Teutomanie 195 Theokratie  88, 92, 101, 119, 124 f., 140 f., 157, 213

Theologie  16–18, 23 f. 28, 31, 33–36, 42, 44, 50 f., 57, 64, 70–72, 74, 76, 84, 87 f., 113, 119, 121 f., 136, 172, 176, 179, 182, 184, 190, 201, 205, 215, 226 tohu  66 f. Tora  19–23, 27 f., 32, 70, 73, 78–81, 86, 88, 102, 105, 108 f., 112 f., 116, 118, 135, 164, 175 f., 206 f. Trennung von Kirche und Staat  16, 25, 89, 114 f., 122, 159, 199, 212, 218, 223 Trepp, Leo  27 Triebverzicht  57, 98 f. Tschernichowski, Saul  75 f. ultraorthodox  184, 197, 212 f. Universalismus  10, 15, 41, 65, 101, 114, 129, 134, 164, 191 f. Unsterblichkeit  44 f., 128, 130 Unterordnung der Kirche unter den Staat 122 Usque, Solomon  87 Varnhagen, Rahel  147, 151 Verbrechen gegen die Menschheit  150 Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden 53 Vereinigte Staaten 10, 132–134, 136 f., 165 f., 168, 197, 200–209, 211, 218–223 Verga, Salomo ibn  87 Vielfalt (Prinzip)  75, 133, 143, 146, 149–151, 156, 167, 183, 213, 215, 218 »Volk des Buches«  102, 113 Volksgeist 103 Volkskultur 26, 166, 177 Wahrscheinlichkeitsprinzip 60 Weber, Max  17 Weimarer Republik  62, 70 Weinreich, Max  164 Weltsicht  19, 25, 46, 49, 87, 109 Wieseltier, Leon  219 f. Wissenschaft des Judentums  184 Włocławek 9 Wolfson, Harry  45 Wunder, biblische  37, 43 f., 51, 60, 81, 86, 88 f.

265

Xenophobie 120 Yadin, Azzan  14, 69 Yerushalmi, Yosef Hayim  87, 100 Yovel, Yirmiyahu  40, 45 Zaddik 67 Zamenhof, Ludwig L.  163 f. Zangwill, Israel  132, 199 f. Zhitlowsky, Chaim  165 f., 169, 191–199, 204, 222 Zionismus/Antizionismus/Nicht­ zionismus/Protozionismus 9–11, 25 f., 69 f., 100–103, 106, 108, 110, 113,

266

126, 130, 132 f., 138, 140 f., 143, 147 f., 151–156, 159 f., 164, 167, 171 f., 178, 182, 184, 187, 192–194, 201, 203, 208, 212–218, 220 zivile Religion  89 Zoroastrismus 17 Zugehörigkeit  12, 39–41, 61, 91, 95, 126, 129, 148 f., 156, 159, 163, 167, 188, 190–192, 196, 200 f., 203, 219, 222 Zvi, Schabbtai  23, 39, 122, 182 Zweiter Tempel  32, 93, 105, 115, 125, 170, 191 f. Zweiter Weltkrieg  153, 219