Topos Atelier: Werkstatt und Wissensform 9783050062280

"Das Atelier ist tot", erklärten Künstler schon vor mehr als drei Jahrzehnten. "Wir leben in der Post-Stu

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Topos Atelier: Werkstatt und Wissensform
 9783050062280

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TOPOS ATELIER

VII HAMBURGER FORSCHUNGEN ZUR KUNSTGESCHICHTE Studien, Theorien, Quellen Herausgegeben vom Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg

TOPOS ATELIER WERKSTATT UND WISSENSFORM

Herausgegeben von Michael Diers und Monika Wagner Redaktion Hans Georg Hiller von Gaertringen

TO Ol

Akademie Verlag

Die Drucklegung wurde großzügig gefördert durch die Fritz Thyssen Stiftung, Köln

sowie unterstützt von der Hochschule für bildende Künste Hamburg.

ISBN 978-3-05-004643-3 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2010 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil des Buches darf ohne Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Layout und Satz: Petra Florath, Berlin Druck: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza Bindung: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis

MICHAEL D I E R S / M O N I K A WAGNER Topos ATELIER Werkstatt und Wissensform MICHAEL DIERS atelier/ réalité Von der Atelierausstellung z u m ausgestellten Atelier

VII

1

HERBERT MOLDERINGS Nicht die Objekte zählen, sondern die Experimente Marcel Duchamps New Yorker Atelier als Wahrnehmungslabor

21

M O N I K A WAGNER Der kreative Akt als öffentliches Ereignis

45

NIKE BÄTZNER Das Atelier als Zelle Konzepte von Piero Manzoni, Tehching Hsieh und Bruce N a u m a n

59

PETRA LANGE-BERNDT Besetzen, abwandern, auflösen ... Die A u f k ü n d i g u n g des Ateliers bei Carolee Schneemann u n d Annette Messager

75

JULIA GELSHORN The Making of the Artist Das Atelier als Ort männlicher Selbsterschaffung

93

DIETMAR RÜBEL Fabriken als Erkenntnisorte Richard Serra u n d der Gang in die Produktion

111

VI INHALTSVERZEICHNIS

PHILIP URSPRUNG

137

Arbeiten in der globalen Kunstwelt Olafur Eliassons Werkstatt und Büro VIKTORIA SCHMIDT-LINSENHOFF

151

Re-Lokalisierung des Ateliers Zur Produktionsästhetik und Rezeption der Installationen von Georges Adéagbo PETER J . S C H N E E M A N N

175

Das Atelier in der Fremde NINAMÖNTMANN

191

Das Verlassen des Ateliers Zwischen emanzipatorischer Einmischung und neoliberaler Flexibilisierung W O L F G A N G ULLRICH

199

»Erwin anrufen« - oder: Wie wird künstlerische Kreativität (mitgeteilt? Das Atelier als Standortvorteil ANHANG

Die Autoren Personenregister Abbildungsnachweis

221

MICHAEL DIERS / MONIKA WAGNER

Topos ATELIER Werkstatt und Wissensform

»Das Atelier ist tot!« erklärten Künstler schon vor mehr als drei Jahrzehnten. »Wir leben in der Post Studio-Ära« äußern zeitgenössische Künstler und Kritiker derzeit ziemlich einvernehmlich. Daniel Buren, der programmatische Atelierkritiker unter den Künstlern, formulierte zum Beispiel seine Abgrenzung gegenüber dem tradierten, ortsfixierten Atelierbegriff mit folgendem Satz: »Mon atelier ... est le lieu où je me trouve.« 1 Diese Idee dürfte allen sofort einleuchten, die Burens konzeptuelle »Streifen«-Arbeiten kennen, die an unterschiedlichsten Orten, darunter bevorzugt auch im öffentlichen Raum, realisiert werden. Wenn im Atelier Werke nicht länger hergestellt werden, dann ist das Atelier auch nicht mehr an einen fixierten Ort gebunden. Es kann folglich >auf Reisen gehen< oder gar im Kopf des Künstlers loziert werden. Wenn das Atelier sich demnach verändert und neue Formen und Funktionen annimmt, dann ergibt sich eine Vielzahl von Fragen: Zunächst einmal ist zu klären, wie Ateliers in der Moderne überhaupt aussehen. Wie und warum haben sie sich verändert? Wo entsteht heute ein künstlerisches Werk? Ist das Atelier ein ideeller Ort? Oder handelt es sich beim gegenwärtigen Atelier eher um Organisationsstrukturen der Arbeit? Was also könnte heute ein Atelier auszeichnen? Oder taugt der Begriff nicht mehr? Dieses Fragenfeld hat zur Organisation einer gemeinsamen Tagung der Hochschule für bildende Künste Hamburg und des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Hamburg geführt, deren Beiträge und Diskussionen zur Erörterung, Aufhellung und Klärung des Themas zahlreiche neue Aspekte beigetragen haben. 2 Über das Atelier als historischen Ort künstlerischer Produktion und über das klassische Atelier der Maler und der Bildhauer sind wir durch Berichte von Besuchern, durch Werkstattanleitungen, Künstlernovellen und vor allem durch Atelierdarstellungen seit der Renaissance recht gut informiert. Die unterschiedlichen Quellen geben einerseits Aufschluss über Arbeitsabläufe, Herstellungsverfahren, Techniken und Arbeitsteilungen und leisten einen Beitrag zur Rekonstruktion sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Zusammenhänge. Doch trug andererseits das Atelierbild auch dem geheimnisvollen Ort künstlerischer Schöpfung Rechnung. Ihn besuchen zu dürfen, verhieß dem Außenstehenden,

Vili VORWORT

dem kreativen Prozess ein Stück näher zu kommen. Die Vorstellung vom Atelier als bedeutungsvollem Ort, an dem die künstlerische Idee Gestalt annimmt und sich materialisiert, führte seitens der Künstler zu vielfältigen Selbstentwürfen und programmatischen Inszenierungen. 3 Mit dem Atelierbild ließ sich etwa der Geniekult feiern oder ein kunsttheoretisches Manifest formulieren, das Informationen über künstlerische Positionen und Absichten vermittelt. Von daher verwundert es nicht, dass der Geschichte des Atelierbildes seit langem aus unterschiedlichen Perspektiven der kunstgeschichtlichen Forschung großes Interesse entgegengebracht wird. 4 Auch über das Atelier als Schnittstelle zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, als Ort, an dem individuell hergestellte Werke erstmals ausgestellt und einer kunstinteressierten Öffentlichkeit zugänglich wurden, sind wir etwa im Übergang vom Auftrags- zum Ausstellungskünstler inzwischen gut informiert. 5 Verlässt man indessen die traditionsreiche Vorstellung vom Atelier als einem ebenso aufschlussreichen wie faszinierenden und geheimnisvollen, aber räumlich definierten Ort zur Herstellung von Kunstwerken und spricht mit Carl Einstein von einer Instanz zur »Fabrikation von Ideen«, durch die gesellschaftliches Wissen in Kunst transformiert wird, 6 so erweisen sich die entsprechenden Atelierkonzepte als wenig erforscht. Heute arbeiten Künstler nicht mehr in erster Linie mit handwerklichen Techniken und mit Materialien, die lange Zeit einen fest gefügten Kanon künstlerischer Werkstoffe bildeten und sich vor allem durch Dauerhaftigkeit und Formbeständigkeit auszeichneten. Bilder sind demnach nicht mehr ausschließlich das Ergebnis versierter Malerei und Skulpturen werden nicht mehr allein in Holz und Stein gehauen oder in Bronze gegossen - eine lange Zeit als Werkstattgeheimnis gehandelte Technik. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat sich der Einsatz neuer Technologien und zuvor als kunstfremd betrachteter Materialien enorm ausgeweitet. Mit diesen Veränderungen sind neue Formen des Wissens in die Kunstproduktion eingegangen. Wenn heute die Computertechnologie, die Schwerindustrie oder die Biotechnologie in diesem Kontext zum Einsatz kommen, dann wird offensichtlich, dass für eine entsprechende künstlerische Arbeitstechnik weder eine bohemienartige Mansarde noch ein repräsentativer Raum mit Nordlicht ausreichen dürfte. Vielmehr ist spätestens seit Duchamps Ready-mades die Frage aktuell, wie technisch entwickelte, arbeitsteilige Produktionsverfahren für künstlerische Einsätze verfügbar werden. Wenn bei den Ready-mades materielle Produktion und künstlerische Konzeption räumlich auseinander fallen, dann wird die alte Form des Ateliers als Ort der Werkherstellung überflüssig. Selbstverständlich gibt es weiterhin das Atelier als abgegrenzten Ort, und es mag innerhalb bestimmter Institutionen, z. B. im Rahmen einer Kunsthochschule, heute noch die Tradierung künstlerischer Praktiken und Selbstverständnisse übernehmen, die sich ihrerseits neuen Techniken, Funktionen oder Erwartungen an die Kunst anpassen. Doch ist eine Neukonzeptualisierung des Ateliers überfällig, um den vor allem seit den sechziger Jahren veränderten

IX VORWORT

künstlerischen Verfahren und den damit einhergehenden Neubestimmungen des Werkbegriffs begegnen zu können. Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge, die aus einer Tagung im Februar 2006 hervorgegangen sind, 7 thematisieren unterschiedliche Erscheinungsweisen und Funktionen des Ateliers seit Marcel Duchamp. Doch geht es dabei weniger um eine Entwicklungsgeschichte des Ateliers als vielmehr um die Frage, welche Art von Atelier einzelne künstlerische Verfahren hervorbringen, erforderlich machen oder postulieren. Freilich wäre es ein Missverständnis, das Atelier nur als Spiegel künstlerischer Arbeitstechniken zu verstehen. Zwar können die Fabrik oder das Forschungslabor wie das Museum oder eine ganze Stadt zum Atelier werden, doch tritt das Atelier auch als reflexives Modell auf. Es kann daher geschlechtsspezifische Raumzuordnungen und Produktionsweisen ebenso befragen wie es der Selbstinszenierung dienen oder selbst zum Werk erhoben werden kann. Es kann sich folglich - ähnlich dem Atelierbild - als ideale Konstruktion und als künstlerisches Manifest erweisen. Da das Atelier heute auch nicht zwangsläufig ein selbst gewählter Ort oder eine selbst geschaffene Instanz sein muss, stehen auch institutionelle Programme zur Debatte, in denen Künstlerateliers als staatliches Instrument der Kunstförderung eingesetzt werden. All diese Verschiebungen und offenen Fragen haben die Veranstalter zu der Wendung Topos Atelier veranlasst. Sie lässt, so steht zu hoffen, den konkreten Ort der Kunst ebenso wie den abstrakten Raum anklingen, die Werkstatt einerseits und die Wissensform andererseits. Michael Diers und Monika Wagner

1 Daniel Buren: Fonction de l'Atelier, in: Studio international 181,1971, S. 181-185; s. auch Wouter Davidts: Das Atelier ist immer woanders: Über ein Paradox in Daniel Burens Praxis >in situ«, in: Kritische Berichte 33,2005, S. 40-52.

lin 1994; Caroline A. Jones: Machine in the Studio. Constructing the Postwar American Artist, Chicago und London 1996; Ateliers. L'Artiste et ses lieux de création dans les collections de la Bibliothèque de Kandinsky, Centre Pompidou, Paris 2007.

2 Die Vorträge von Wolfgang Kemp über das Atelier von Matisse und Claus Pias über die Arbeitsräume der Informationsästhetik waren in erster Linie als Statements gedacht und standen daher für die Veröffentlichung nicht zur Verfügung·

5 Oskar Bätscbmann:Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem, Köln 1997.

3 Ekkehard Mai: Künstlerateliers als Kunstprogramm - Werkstatt heute, in:DasKuns twerk 37, 1984, S. 7-44. 4 Siehe den Ausst.-Kat. Der Künstler und seine Werkstatt. Das Atelierbild von der Goethezeit bis

zur Gegenwart, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie 1976; Hermann Asemissen, Gunter Schweickhart: Malerei als Thema der Malerei, Ber-

6 Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner, Bettina Wahrig-Schmidt (Hg.): Räume des Wissens, Berlin 1997. Vgl. auch Sabine Flach: WissensKünste. Die Kunst zu wissen und das Wissen der Künste. In: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Extraheft (2006): 10 Jahre ZfL,S. 77-81. 7 Die Tagung fand vom 3. bis 4. Februar 2006 in der Hochschule für bildende Künste Hamburg statt und wurde großzügig von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert und von der Susanne und Michael Liebelt-Stiftung sowie der HfbK Hamburg

χ VORWORT

unterstützt; vgl. die Besprechungen in der Süddeutschen Zeitung Nr. 31 vom 7. Februar 2006, S. 12 (Kia Vahland) und in der Frankfurter Allgemeinen

ZeitungNr.39 vom 15. Februar2006,S.N3 (Ursula Harter).

MICHAEL DIERS

atelier/réalité Von der Atelierausstellung zum ausgestellten Atelier

»Ich denke, das Atelier des Künstlers ist zu de-traumatisieren,

es ist kein Mythos,

lange nicht mehr. Für mich ist das Atelier nicht nur ein praktischer

schon

Ort der Arbeit,

sondern auch ein mentaler Raum. Ich verweile auch in meinem Atelier, ohne etwas zu tun, und ich denke auch an mein Atelier, wenn ich woanders bin. Mein Atelier ist vor allem ein Raum in meinem

Kopf.«

Thomas Hirschhorn, 20051 Der historische und gedankliche rote Faden des nachstehenden Beitrages lässt sich zwischen zwei Wohnhausfassaden des 19. Jahrhunderts ausspannen. Auf der einen Seite die Front eines Pariser Gebäudes in der rue de Saint-Pétersbourg, nahe der gare Saint Lazare, dessen Beletage Edouard Manet ab 1872 als Atelier gedient hat, auf der anderen Seite die Fassade einer Dépendance der Akademie der bildenden Künste in der Wiener Kurzbauergasse Nr. 9, nahe dem Volksprater, wo der Münchner Kunststudent Leopold Kessler bis ins Jahr 2004 ein kleines Bildhauerstudio hatte. Auf der Fotografie aus Wien ist der besagte rote Faden auch faktisch zu sehen, indem dort ein Elektrokabel zu erkennen ist, das soeben aus dem Fenster im vierten Stock heruntergelassen wird. Ein Blick ins Innere beider Räume markiert deutlich die Differenzen (Abb. 1, 2). Hier mit separatem Aufgang zu einem höher gelegenen kleinen Salon der ehemalige Fechtsaal, den der vierzigjährige Manet als Atelier angemietet hatte, dort der eher bescheidene Akademie-Arbeitsplatz des deutschen Studenten. Zwei Räume, zwei Epochen, der Idee und Funktion nach aber ein und derselbe Ort - das Atelier. Die beiden Bilder können helfen, den zeitlichen Bogen nachzuzeichnen, den der Titel des Beitrages benennt, indem er den Weg von der Atelierausstellung zum ausgestellten Atelier apostrophiert. Das vorangestellte Anagramm (»atelier/réalité«) möchte als Motto verstanden werden, das im Wortspiel die beiden genannten Institutionen und Instanzen begrifflich ineinander blendet und dadurch aufeinander bezieht. Manets Atelier repräsentiert als großzügig geschnittener Raum, der sich über die gesamte Breite der Fassade mit vier Fensterachsen erstreckt, treffend

2 M I C H A E L DIERS

ì. Blick in Manets vormaliges Atelier in der Beletage des Hauses 4, rue de Saint-Pétersbourg, Paris

2. Leopold Kessler: Untitled (Diplom 2004/Akademiekabel), Video-Still (Interieur)

den Aspekt der Atelierausstellung. 2 Im Gegensatz dazu kann die in der Fotografie dokumentierte Kesslersche Video-Arbeit mit dem Titel Untitled (Diplom 2004), die weiter unten ausführlicher behandelt wird, die Idee des exponierten Ateliers nur in Abbreviatur vertreten; sie hat jedoch Teil an dem seit den 1960er Jahren virulenten Konzept, die reale Werkstatt selber als >Werk< zu präsentieren und damit das Nachdenken über den Topos Atelier zu radikalisieren. Darüber hinaus ist der Ausstieg aus dem Atelierfenster, der hier gerade auf eigenwillige Weise vollzogen wird, gut geeignet, augenzwinkernd den Einstieg ins Thema zu gewährleisten.

Die Atelierausstellung Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts avanciert das Künstleratelier von einem eher hermetisch abgeschirmten Ort einsamen Schaffens nach und nach zu einem halböffentlichen, wenn nicht sogar öffentlichen Raum. Grund für diesen Wandel ist laut Oskar Bätschmann die zunehmend notwendig gewordene »Werbung um das Publikum« 3 , auf das der »Ausstellungskünstler«, auf sich allein gestellt, angewiesen ist: »Je größer die Abhängigkeit der Künstler von der öffentlichen Präsentation ihrer Werke wurde, desto mehr stiegen die künstlerische und literarische Beschäftigung mit dem Atelier und das Publi-

3 ATELIER/RÉALITÉ

kumsinteresse am Ort der Produktion der Werke.«4 Man muss diese Hinwendung an das (Käufer-)Publikum aber keineswegs ausschließlich als Folge ökonomischer Bedingungen begreifen, sondern kann sie aus einem neuen künstlerischen Selbstverständnis herleiten. »Ausstellen«, so Manet, »ist die Lebensfrage, das sine qua non für den Künstler.«5 Erst die Präsentation der Werke bringt die Produktion zum Abschluss, zum Vorschein und damit zur Geltung. Die beiden Orte der Kunst, das Atelier als Ort der Produktion und die Ausstellung als Ort der Präsentation, rücken perspektivisch eng zusammen, im Bewusstsein der Künstler ebenso wie aus dem Blickwinkel des Kunstmarktes. Darüber hinaus hat die große Zahl von Atelierdarstellungen, die im 19. Jahrhundert entstehen, 6 das Publikum auf die Institution Atelier neugierig werden lassen. Diesem Interesse kommt man in München und Berlin, London oder Paris durch offiziell anberaumte Öffnungszeiten prominenter Ateliers - Termine, die auch in populären Zeitschriften, Tageszeitungen oder Reiseführern annonciert werden - entgegen.7 Aber es ist hier weniger an den allgemeinen Atelierbesuch, welcher der Inspektion und Huldigung des künstlerischen Arbeits- und Lebensraums, seinem Ambiente und seiner Atmosphäre gewidmet ist, gedacht, sondern an die Besichtigung eigens für die Öffentlichkeit arrangierter Ausstellungen. Solche Atelierausstellungen hat es bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts gegeben - Asmus Carstens stellt 1795 seine Werke im römischen Atelier aus und auch Jacques-Louis David präsentiert 1799 in seinem dortigen Studio mit großem Erfolg die Sabinerinnen? Im 19. Jahrhundert jedoch mehren sich die Anlässe und Beispiele, was Daumier in zahlreichen Karikaturen festgehalten hat. Gustave Courbet und Manet sind in Frankreich die namhaftesten Vertreter ihres Fachs, die diesen Akt programmatisch vollziehen und auf diese Weise künstlerische Unabhängigkeit demonstrieren, ein Unterfangen, das in beiden Fällen insbesondere gegen die Instanz des Salons und dessen Hoheitsrecht der Auswahl und Zurückweisung gerichtet war. Öffentlichkeit abseits vom Repräsentations- und Kontrollsystem des Salons (und somit des Staates) herzustellen und folglich Autonomie unter Beweis zu stellen, lautet auch die Devise Manets, als er im Jahr 1876, vom 15. April bis zum 1. Mai, demnach zwei Wochen vor Eröffnung des Salons, per Anzeige und gedruckten Einladungen einem breiten Publikum sein Atelier öffnet, um ihm dort die eben entstandenen Gemälde an der Seite älterer Werke zu präsentieren (Abb. 3).9 Für die genannte Zeit wandelt sich sein Atelier in einen eleganten Galerieraum. Zwei Polizisten, so heißt es, hatten wegen des großen Zustroms am Eingang Posten bezogen. Rund 4.000 Besucher sollen durch die Ausstellung flaniert sein. Zahlreiche Pressebesprechungen haben das Ereignis kommentiert. 10 Der statistische Erfolg ging allerdings nicht in gleichem Ausmaß mit der Anerkennung seiner Kunst durch Kritik oder Publikum einher. Wie angesichts von deren Neuartigkeit zu erwarten, machte man sich vielmehr lustig oder spottete gar über Manets Bilder. Nicht zuletzt die Möglichkeit eines Skandals hatte die Besucher angezogen.

4 MICHAEL DIERS

3.

Edouard Manet: Im Atelier,

um 1873/76, lavierte Tusche und Aquarell über Blei, 14,6 x 9,9 cm, Paris, Musée du Louvre, Cabinet des Dessins

D u r c h solche Ausstellungsprojekte wird das Atelier als eine neue, eigenständige Institution des Kunstbetriebs etabliert, eine Z w i s c h e n i n s t a n z an der Seite von Galerie, Salon und M u s e u m . Mit dem Ausbau des Galeriensystems beginnt sie allerdings schon bald ihre Funktion wieder zu verlieren. Ihre Blütezeiten bilden z u m einen das Ende des 18. u n d z u m anderen die zweite Hälfte des 19. J a h r h u n d e r t s . " Nur die Rundgänge der Jahres- und Diplomausstellungen der Kunsthochschulen oder die »Offenen Atliers« der Künstlerhäuser setzen die Tradition der Atelierausstellung bis heute fort. 12

Das ausgestellte Atelier Das Atelier selbst auszustellen, wie dies die jüngere Kunst in diversen Varianten zu tun pflegt, bezeichnet allerdings einen gewaltigen U m b r u c h i m Kunstbetrieb. Bei der Atelierausstellung standen die Werke, jetzt aber steht die Werkstatt

als Exponat im Mittelpunkt und damit zur Diskussion. Das a u s g e -

stellte Atelier< darf in diesem Z u s a m m e n h a n g nicht mit d e m >musealisierten AtelierMeninasBronzeatelier< als Inszenierung der Erinne-

Lichtschein auf Hirsch, 1958-1985,

rung in Zeiten der Vergänglichkeit, in: Sabiene

seum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main

Autsch, Michael Grisko u. Peter Seibert (Hg.):

o. J.

Atelier und Dichterzimmer

in neuen

Saalzettel Mu-

Medienwelten.

32

Ebenda.

Zur aktuellen Situation von Künstler- und Literatur-

33

Kramer [wie A n m . 31],

34

Franz-Joachim Verspohl: Joseph Beuys: Das

häusern, Bielefeld 2005, S. 75, Anm. 11. 22

Daniel

Spoerri:

Anekdotomania.

Daniel

Spoerri über Daniel Spoerri, Ostfildern-Ruit 2001, S. 278, hier zit. nach Huber 2005 [wie Anm. 21], S. 75. 23

Kapital Raum 1970-77.

Strategien

zur

Reaktivie-

rung der Sinne, Frankfurt am Main 1984, S. 14. 35

Tiravanija, hier zit. n. Ausst.-Kat. Rirkrit

Tiravanija, Untitled, 1996 (tomorrow is another day), Spoerri 2001 [wie Anm. 22], S. 278f., zit. n.

hrsg. von Udo Kittelmann, Köln 1998, o. S. (Einleitung).

ebenda. Vgl. dazu Anna Mazzanti (Hg.): Il Giardi-

36

Zit. n. ebenda, o. S.

no di Daniel Spoerri, Comunità alla Montana del-

37

Zit. n. einer Abb. im Katalog [wie Anm. 31].

la Amatia-Area Grossetana 1999.

38

Something Else, Exmouth Market, London;

24

[Dynami-

siehe Ausst.-Kat. Darren Almond, hrsg. von Ham-

sches Labyrinth], 1962, Stedelijk Museum, Amster-

za Walker u. Martin Herbert, Kunsthalle Zürich,

dam.

Zürich 2001, S. 128.

25

26

Vgl. Umgekippter

Raum, Dylaby

Ausst.-Kat. Paul McCarthy,

Dimensions

of

39

Bruce Nauman, Mapping the Studio I (Fat

the Mind. The Denial and the Desire in the Spectacle,

Chance John Cage), 2001: »This new installation

S a m m l u n g Hauser und Wirth in der Lokremise

with multiple projections records nocturnal ac-

St. Gallen, hrsg. von Eva Meyer-Hermann, Köln

tivity by the artist's cat and various mice in his

2000; siehe ferner John C. Welchman: Haus,

studio over the summer of 2000. >1 used this

Hinterhof, Atelier, Kulisse. Paul McCarthys Ar-

traffic as a way of mapping the leftover parts

beitsräume, in: Texte zur Kunst 49 (2003) [= The-

and work areas of the last several years of other

menheft »Atelier. Raum ohne Zeit«], S. 105-111.

completed, unfinished, or discarded projects/

27

Vgl. Ausst.-Kat. Roth-Zeit. Eine Dieter Roth

Nauman has stated.« (Dia Art Foundation, Falt-

hrsg. von Theodora Vischer u. Ber-

blatt o. J.); siehe ferner Ausst.-Kat. AC: Bruce Nau-

nadette Walter, Schaulager Basel 2003, S. 214ff.

man, Mapping the Studio I (Fat Chance John Cage),

(Tagebuch/»Solo-Szenen«) u. 242ff. (»Gartens-

hrsg. von C. Linz und K. König, Museum Lud-

kulptur«, »Grosse Tischruine«): »In der Ausstel-

wig Köln, Köln 2003.

Retrospektive,

lung in der Wiener Secesssion 1995 verschmolz

40

Inzwischen hat sich die Künstlergruppe

die mittlerweile auf eine Länge von etwa 20 Me-

(Ali Janka, Wolfgang Gantner, Tobias Urban u.

tern angewachsene >Gartenskulptur< mit der

Florian Reiter) in »gelitin« umbenannt.

>Grossen TischruineRinggebilde< sowie der >Bar 1< zu einer großen Installation. Eine begehbare Feuerwehrleiter verband alle Teile miteinander. Man konnte sich auf einem Steg über die Kunst hinweg bewegen und gelangte in ein

41

Gelatin, The B-Thing, Köln 2001; siehe

ferner Rainer Fuchs: Das Balkonprojekt. kungen zu einer Intervention

Gelatins

Anmeram

World

Trade Center (New York), unter http://www.gelitin.net/wtc/html/18.html.

20 MICHAEL DIERS

Freundliche e-mail-Auskunft von Leo-

(als pdf auch im Internet unter http://www. one-

pold Kessler vom 24. Januar 2006; siehe auch die

starpress.com/Akademiekabel?art=81) sowie den

kurze Erwähnung des Projektes in art. Das Kunst-

Ausst.-Kat. Leopold Kessler, Text Johan Frederik

magazin 1 (2006), S. 72 (m. Abb.); siehe das zuge-

Hartle, Secession. Ausstellungshaus für zeitge-

hörige Künstlerbuch Akademiekabel,

nössische Kunst, Wien 2007.

42

Paris 2005

HERBERT M O L D E R I N G S

Nicht die Objekte zählen, sondern die Experimente Marcel Duchamps New Yorker Atelier als Wahrnehmungslabor*

Als 1936 mit der Präsentation des Flaschentrockners in der Pariser Exposition surréaliste d'objets1 zum ersten Mal eines der klassischen Readymades Marcel Duchamps in einer Kunstausstellung gezeigt wurde,2 begann jener Prozess der Verklärung des Trivialobjekts zum Kunstwerk, der bereits zwei Jahre später von André Breton im Dictionnaire abrégé du surréalisme lexikalisch festgeschrieben wurde.3 In einer beispiellosen Heroisierung der künstlerischen Definitionsmacht bestimmte er das Readymade als »Gebrauchsgegenstand, der allein durch die Wahl des Künstlers in den Rang eines Kunstgegenstands erhoben wird«4. Ungefähr zur selben Zeit, zweifellos ermuntert durch das im Kreis der Surrealisten sich regende Interesse an seinen früheren künstlerischen Experimenten, begann Duchamp mit der Konstitution einer eigenen Überlieferung seines Werks. Sie nahm in den Jahren 1935 bis 1941 die Form eines kleinen transportablen Museums, der sogenannten Boîte-en-Valise, an (Abb.l). In dieser von ihm selbst zusammengestellten Werk-Retrospektive präsentiert uns Duchamp die Readymades völlig anders, als wir sie durch die Ausstellungen der vergangenen Jahrzehnte zu sehen gewohnt sind: nicht als autonome Werke, sondern als Rauminstallationsobjekte in seinem New Yorker Atelier. Nur ausnahmsweise werden sie als Einzelobjekte abgebildet, so etwa im Falle des Flaschentrockners, doch wird auch dieser nicht als objet d'art auf einem Sockel präsentiert, sondern im Druck merkwürdig verfremdet: in seiner Erscheinung verdoppelt und ohne Standfläche oder Aufhängung in einem Undefinierten Raum schwebend. Zwar basieren die im Buch- beziehungsweise Lichtdruck reproduzierten Bilder in diesem neuartigen Œuvrekatalog auf Fotografien, doch sind sie im Endergebnis alles andere als Dokumentarfotos. Es sind nicht Abbilder von Werken, sondern selbst Werke: in mehreren Druckgängen aufgebaute und mit Aquarellfarben im Pochoirverfahren kolorierte Bilder, deren fotografische Ausgangspunkte durch formale Eingriffe wie Ausschnitt, Abdeckung, Retusche und zeichnerische Ergänzung in vieler Hinsicht verändert worden sind.5 Sie sind das Resultat sorgfältiger Entscheidungen des Künstlers darüber, wie er die Readymades gesehen und überliefert wissen wollte. Auf diesen Bildern werden sie nicht als aura-

22 HERBERT MOLDERINGS

1. Marcel Duchamp: La Boìte-en-Valise, 1935-1941, Nr. XVIII/XX, Prwatsammlung, Paris

tische objets d'art, sondern als Objekte räumlicher Installationen in Duchamps New Yorker Atelier dokumentiert. Das Hauptbild der den Readymades gewidmeten Farbdrucke in der Boîteen-Valise dient sowohl zur Dokumentation des Fahrrad-Rads und des Kleiderrechens Trébuchet als auch zur Vergegenwärtigung des Ateliers. Das Bildetikett 33 West 67th. New York (1917-18) verweist auf jenes Zwei-Zimmer-Apartment, in dem Duchamp von Herbst 1916 bis September 1918 gelebt und gearbeitet hat (Abb. 2).6 Ursprünglich stand vor der Angabe der Adresse auf dem Etikett noch das Wort »Atelier« geschrieben. 7 Erst im letzten Arbeitsgang entschied sich Duchamp dafür, das Wort wegzulassen. Das Bild gehört also in die Tradition der Atelierdarstellungen, einer Bildgattung, in der die Darstellung des Arbeitsraums meist mit Aussagen über den Kunstbegriff und das Selbstverständnis seines Bewohners verbunden wurde. Es genügt ein Vergleich mit einer Aufnahme desselben Raums aus einem anderen Blickwinkel, um zu erkennen, in welch hohem Maße das Atelierbild in der Boîte-en-Valise inszeniert ist (Abb. 3). Nichts deutet auf dem Bild 33 West 67th. New York auf ein klassisches Maleratelier hin. Der Raum ist zweigeteilt, in einen rechts gelegenen Wohnbereich mit Tisch und zwei Sesseln und einen Arbeitsbereich links, in dem gleich einer primitiven Rotationsmaschine eine kopfüber auf einen (defekten) Küchenschemel montierte Fahrradfelge steht, ein Kleiderrechen auf dem Boden liegt und eine mit Farbspuren versehene Holzlatte schräg an die Wand gelehnt

23 NICHT DIE OBJEKTE ZÄHLEN, SONDERN DIE EXPERIMENTE

2.

Marcel Duchamp: La Boîte-en-Valise:

Buchdruck,

33 West 67th. New York (1917-18),

kolorierter

12 x 22,4 cm

3.

Marcel Duchamps Atelier in Νew York, 33 Wesf 67tlu,

3,8 χ 6,2 cm, Sammlung Jean-Jacques

Silbergelatineabzug

Lehel, Paris

ist. D i e s e ä h n e l t e n t f e r n t der L e i s t e e i n e s K e i l r a h m e n s u n d stellt d a m i t d i e e i n z i g e v a g e E r i n n e r u n g a n die M a l e r e i in d i e s e m R a u m dar. Im H i n t e r g r u n d sind zwei flache Objekte durch zarte gelbgrüne und bläulich-violette Farbgeb u n g h e r v o r g e h o b e n . W a h r s c h e i n l i c h h a n d e l t es sich d a b e i u m G r a p h i k m a p pen. Auf dem Tisch liegen unordentlich verstreut einige Dinge herum, darunter ein Stapel von Negativschachteln. Zwei hellbraun kolorierte Objekte, v o n d e n e n sich n i c h t a u f A n h i e b s a g e n lässt, o b es sich u m R e a d y m a d e s o d e r

24 HERBERT MOLDERINGS

-j

GEBRÜDER

THONET.

I 4. Dreifach montierter Kleiderhaken. Illustrierter Warenmusterkatalog der Firma Thonet, Wien 1904

einfach auf dem Boden liegende Kissen handelt - letzteres ist wahrscheinlicher -, bilden den Übergang zwischen der Wohn- und der Arbeitshälfte dieses sichtbar inszenierten Raums. Auf die denkspielerischen Neigungen seines Bewohners weist die große Zeichnung eines Schachbretts an der Wand hin. Auf einem im Marcel-Duchamp-Archiv in Villiers-sous-Grez aufbewahrten Schwarz-Weiß-Andruck dieses Bildes wurden die weißen Felder des Schachbretts mit dünner Gouachefarbe besonders hervorgehoben, so dass die Zeichnung an der Wand deutlich als Schachbrett zu erkennen war.8 Dies war Duchamp wichtig, damit der Betrachter eine semantische Beziehung zwischen dem Kleiderrechen Trébuchet und dem Schachbrett herstellen konnte, eine Beziehung, die formal die diagonal an der Wand lehnende Leiste vermittelt. Das Wort Trébuchet bezeichnet im Französischen mehrere Dinge: einen Gegenstand, über den man stolpert, eine »Falle«, eine Präzisionswaage und nicht zuletzt einen bestimmten Schachzug im Bauernendspiel. Um den noch verbleibenden Bauern des Gegners zu erobern, darf der ziehende Spieler diesen mit seinem König nicht direkt angreifen, sondern muss zuerst einen Diagonalzug ausführen. Dieses Manöver heißt »trébuchet«.9 Das Readymade erhielt diese Bezeichnung möglicherweise erst 1940, als das »Atelierbild« für die Schachtel-im-Koffer gedruckt wurde. Von einer Beschriftung des Kleider-

25 NICHT DIE OBJEKTE ZÄHLEN, SONDERN DIE EXPERIMENTE

5.

Marcel Duchamp: La

Boñe-en-Valise:

Ready made (Bois: haut. 0ηι40), New York, 1917, kolorierte Phototypie, 11,1 χ 14,9cm 6.

Marcel Ditchamps Atelier in New York,

33 West67th., ca. 1917,

Silbergelatinabzug

6,2 χ 3,8 cm, Philadelphia Museum of Art, Alexina and Marcel Duchamp

Papers

r e c h e n s i m J a h r 1917 ist nichts b e k a n n t , und vor 1940 lässt sich der Titel nicht nachweisen. Die Vorlage für den 1 2 x 2 1 , 4 c m g r o ß e n F a r b d r u c k des Ateliers 33

West

67th. New York ist ein w i n z i g e s S c h w a r z - W e i ß - F o t o im F o r m a t 3,8 χ 6,2 cm.11' D u c h a m p hat von dieser Vorlage eine V e r g r ö ß e r u n g im F o r m a t 18,9 χ 25,9 c m a n f e r t i g e n lassen, auf welcher er mit Bleistift die in der Vorlage nicht sichtb a r e n S p e i c h e n der F a h r r a d f e l g e h i n z u f ü g t e sowie den K l e i d e r r e c h e n mit D e c k w e i ß a b d e c k t e . " D a s O b j e k t des K l e i d e r r e c h e n s w u r d e in einer Tuschez e i c h n u n g rekonstruiert 1 2 , als S t r i c h ä t z u n g reproduziert und a n s c h l i e ß e n d in das Atelierbild w i e d e r eingefügt. In e i n e m letzten A r b e i t s g a n g w u r d e das g e s a m t e Bild mit A q u a r e l l f a r b e n pochoirkoloriert. A u c h der kolorierte Lichtdruck, der das schlicht Readymade

(1918) betitelte

O b j e k t eines von der Z i m m e r d e c k e h e r a b h ä n g e n d e n K l e i d e r h a k e n s

der

M a r k e T h o n e t (Abb. 4) d o k u m e n t i e r t , " bildet das Atelier in der 67. S t r a ß e ab (Abb. 5). A l l e r d i n g s zeigt er nicht nur den farbig h e r v o r g e h o b e n e n Kleiderbzw. H u t h a k e n , s o n d e r n in e i n e m T ü r d u r c h g a n g im H i n t e r g r u n d s c h w e b e n d auch das b e r ü h m t e , hier n o c h nicht mit »R. Mutt« signierte R e a d y m a d e des P i s s o i r b e c k e n s Fountain

(1917) sowie a m linken oberen Bildrand das Blatt der

S c h n e e s c h a u f e l In Advance

of the Broken Ann (1915). Auch d i e s e m L i c h t d r u c k

26 HERBERT MOLDERINGS

liegt die fotografische Vergrößerung eines kleinen Abzugs zugrunde14, der in den Besitz des Duchamp-Biographen Robert Lebel übergegangen ist und sich heute in der Sammlung Jean-Jacques Lebeis in Paris befindet.15 Auf dieser Vergrößerung hat Duchamp in handwerklicher Feinarbeit das Blatt der Schneeschaufel mittels eines feinen Lacküberzugs gegenüber dem Hintergrund betont und den Thonet-Kleiderhaken deutlich hervorgehoben, indem er das partiell unscharfe Erscheinungsbild des Objekts vollständig mit Tusche nachgezogen und mit weißer und grauer Gouachefarbe gehöht hat. Seine perspektivische Erscheinung ist so verzerrt, dass man den Eindruck gewinnt, einer der S-förmig geschwungenen Haken sei beschädigt, da er in seinem Verlauf abrupt abbricht. Dass dem nicht so ist, verdeutlicht eine Variante dieses Fotos, das dieselbe Raumecke in Duchamps Atelier vollständiger wiedergibt (Abb. 6).16 Man glaubt es bei dieser Aufnahme mit einer der damals weit verbreiteten spiritistischen Fotografien zu tun zu haben.17 Wie eine Geistererscheinung hockt der Künstler - oder dessen Freund Henri-Pierre Roché?18 - auf einem Wäschekorb in der Ecke, während sich die Möblierungsgegenstände in der Wohnung selbständig gemacht haben und den Gesetzen der Schwerkraft zum Trotz in Richtung Zimmerdecke schweben.19 Der Dokumentation des Readymades In Advance of the Broken Arm (1915) dient ein eigener kolorierter Lichtdruck, der die Schneeschaufel in ganzer Gestalt von der Zimmerdecke herabhängend zeigt. Die diesem Druck zugrunde liegende Fotografie hatte Man Ray in dem Apartment »246 West 73rd Street« aufgenommen, in dem Duchamp Anfang 1920 für einige Monate gewohnt hat (Abb. 7).20 Auf diesem Foto tritt uns Duchamps Atelier nicht als Werkstätte spiritistischer Kräfte, sondern als parawissenschaftliches Laboratorium vor Augen, in dessen Mittelpunkt das optische Versuchsinstrument Rotierende Glasplatten-Präzisionsoptik von 1920 steht (Abb. 8). Auch auf dieser Aufnahme ist der Künstler nur schemenhaft präsent, hinter dem Apparat stehend und den Schalter der Drehmaschine bedienend. Am linken Bildrand erkennt man, stark angeschnittten, das Fahrrad-Rad, an den Wänden hängen Sehprobentafeln eines Optikers. Keines der erwähnten Readymades war in den Jahren 1935 bis 1940, als Duchamp seine Retrospektive im Schachtelformat zusammenstellte, mehr vorhanden. Sie waren beim Auszug aus dem jeweiligen Atelier auf dem Müll gelandet. Nun hätte er diese Gegenstände damals problemlos neu kaufen und von Man Ray für die Abbildung in der Boîte-en-Valise fotografieren lassen können - so wie er es im Falle des Flaschentrockners für die Exposition surréaliste d'objets getan hat. Stattdessen suchte er in seinen Papieren nach zum Teil winzigen alten Fotos, auf denen die Funktion überliefert war, die die Readymades in seinen New Yorker Ateliers in den Jahren 1916 bis 1923 gehabt hatten. Diese Handlungsweise macht deutlich, dass die Funktion der Readymades für Duchamp weit wichtiger war als die Objekte selbst. Diese Funktion war nicht die der Ausstellung, sondern die einer experimentellen Wahrnehmung.

27 NICHT DIE OBJEKTE ZÄHLEN, SONDERN DIE EXPERIMENTE

7.

Marcel Duchamp: La Boîte-en-V'alise: In Advance of the Broken Arm (Ready made, haut. Im),

Neiv York, 1915, kolorierte Phototypie, 14,5 * 7,2 cm 8.

Man Ray: Duchamps Atelier in Neip York, 246 West 73rd Street, 1920,

28,2 χ 22,2, Archiv H. Moiderings,

Silbergelatmeabzug,

Köln

A l l e r d i n g s f u n g i e r t e D u c h a m p s Atelier in N e w York gelegentlich auch als privater A u s s t e l l u n g s r a u m . Da die R e a d y m a d e s , a n d e r s als in der Literatur z u r G e s c h i c h t e der m o d e r n e n K u n s t i m m e r w i e d e r b e h a u p t e t , u r s p r ü n g l i c h k e i n e öffentlichen A u s s t e l l u n g s o b j e k t e waren 2 1 , k o n n t e n sie nur von einer k l e i n e n G r u p p e b e f r e u n d e t e r K ü n s t l e r i n n e n u n d S a m m l e r i n n e n erblickt werden, die Z u g a n g z u D u c h a m p s A t e l i e r w o h n u n g hatten, zu j e n e r » f a m e u s e c h a m b r e de Victor« (»dem b e r ü h m t e n Z i m m e r Victors«), w i e H e n r i - P i e r r e R o c h é sie g e n a n n t hat. 2 2 Alle, die das Privileg g e n o s s e n h a b e n , D u c h a m p s A p a r t m e n t b e t r e t e n z u dürfen, h a b e n in ihren E r i n n e r u n g e n die dort herrs c h e n d e U n o r d n u n g sowie die Tatsache betont, dass darin nichts auf ein Maleratelier hindeutete. Dies hatte seine G ä s t e d a m a l s u m s o m e h r überrascht, als er d o c h erst w e n i g e J a h r e z u v o r als M a l e r b e r ü h m t g e w o r d e n war, als Autor des G e m ä l d e s Akt, eine Treppe hinabsteigend,

des S k a n d a l b i l d e s der A r m o r v

S h o w von 1913. Beatrice W o o d , die in den J a h r e n 1916 bis 1918 D u c h a m p s A t e l i e r w o h n u n g in seiner A b w e s e n h e i t häufig z u m Z e i c h n e n benutzte, b e s c h r e i b t sie als » e i n e n c h a o t i s c h e n R a u m . In e i n e m A l k o v e n stand ein - in der Regel u n g e -

28 HERBERT MOLDERINGS

machtes - Doppelbett. Es gab dort zwei Sessel, auf denen meist allerlei Kleidungsstücke und Leinwände in völliger Unordnung herumlagen, [...] man hatte den Eindruck, sich in einem Raum mit unterschiedlichen Graden der Unaufgeräumtheit und Nachlässigkeit zu befinden. 23 [...] Ich hatte ihm bereits gesagt, dass seine Readymades jenseits meines Verständnisses lägen. Darauf antwortete er mit einer seiner Lieblingsredewendungen: >Das macht nichtsReiseplastik< aus Gummi von lebhaften Farben zu sehen, wie ein Spinnennetz in Felder eingeteilt.«25 In Gabrielle Buffets Erinnerungen war das Atelier voller Trödel. »Dies war die Zeit, in der Duchamp in einer Art Rumpelkammer lebte. Umgeben von ausgesuchten Objekten, von Staub, den er fotografisch festhielt, von Wetterfahnen, Fahrradfelgen, Schneeschaufeln und sonstigen, bunt zusammengewürfelten Gegenständen.«26 Bei Man Ray ist über Duchamps Atelier am Broadway zu lesen: »Once in a while I'd run up to visit Duchamp, who was installed in a groundfloor apartment which looked as if he had been moving out and leaving some unwanted debris lying around. There was absolutely nothing in his place that could remind one of a painter's studio. [...] Besides devoting much time to chess, he was at the time engaged in constructing a strange machine consisting of narrow panels of glass on which were traced parts of a spiral [Rotative Plaque Verre (Optique de Précision) von 1920], [...] While few understood his enigmatic personality and above all his abstinence from painting, his charm and simplicity made him very popular with everyone who came in contact with him.«27 Das in New York entstehende Bild Duchamps als einer »rätselhaften Persönlichkeit«, die trotz des unvergleichlichen Ruhms als Maler des Skandalbilds der Armory Show der Malerei den Rücken gekehrt hatte und offenkundig an etwas Anderem, noch Unsichtbarem arbeitete, das dieser überlegen war, gründete sich auf die Begegnung mit ihm und seinen Werken in seinem Atelier. Von Kunst wagte keiner der zitierten Besucher zu reden: man sprach von »Chaos«, »seltsamen Maschinen« und »nutzlosen Gegenständen«. Allein Henri-Pierre Roché sollte dreißig Jahre später in dem Roman Victor, der von seiner Bekanntschaft mit Duchamp in New York handelt, zum Ausdruck bringen, dass diese »scheinbar nutzlosen Gegenstände« für Duchamp keineswegs zwecklos, sondern »Meditationsobjekte« waren. 28 Als er ihn einmal in seinem Atelier am Broadway besuchte und bei der Arbeit beobachtete, »wurde ihm klar, dass er sich in einem Kloster befand«.29 Über dessen einzigen Bewohner schrieb er: »Er ist ein Einsiedler, ein Grübler.«30 In zahlreichen Interviews und Gesprächen nach 1945, in denen Duchamp nach der den Readymades zugrunde liegenden Intention gefragt wurde, hat er darauf hingewiesen, dass sie nichts mit der herkömmlichen Idee des Kunst-

29 NICHT DIE OBJEKTE ZÄHLEN, SONDERN DIE EXPERIMENTE

werks als einem Ausstellungs- und Handelsobjekt zu tun hatten. »Actually they were a very personal experiment that I had never expected to show to the public« [Hervorh. d. Verf.], erklärte er 1965.31 Diese Feststellung ließe sich um ein halbes Dutzend gleichlautender Statements ergänzen. Duchamp teilte, zumindest in seiner New Yorker Zeit von 1915 bis 1923, ganz und gar nicht Edouard Manets Überzeugung: »Ausstellen ist die Lebensfrage, das sine qua non für den Künstler.«32 Das Readymade hatte in Duchamps Denken ursprünglich keinen Werkstatus im Sinne eines autonomen ästhetischen Objekts. Es hatte nichts mehr mit der traditionellen Konzeption des Kunstwerks als eines transportablen Bildwerks, das nicht nur innerhalb eines bestimmten Experiments, sondern auch außerhalb dieses eine ästhetische Funktion haben könnte, gemein. Waren die Readymades als Bestandteile der »privaten Experimente« in Duchamps Atelier bereits rätselhaft genug, so wurden sie als Folge der Reduktion auf ihre dinghaft-visuelle Präsenz im Kunstraum ab 1936 geradezu unergründlich. Es waren die spezifischen Rezeptionsbedingungen im Kunstausstellungsraum, in dem die Versuchsobjekte entfunktionialisiert, d.h. herausgelöst aus ihrem experimentellen Wahrnehmungskontext, vor Augen traten, die zu der paradoxen Interpretation der Readymades als »Zeichen [...] bar jeglichen Bezugs«33, »dezidierte Nichtaussagen« 34 und »Signifikanten auf der Suche nach dem verlorenen Sinn« 35 geführt haben. Mit anderen Worten: Was diese Interpreten für den geistigen Gehalt der Readymades hielten, war in Wirklichkeit nur die Beschreibung der verfremdeten Umstände, unter denen sie sie vorfanden. Als Duchamp erkannte, dass die Readymades von den Surrealisten gerade wegen ihrer Rätselhaftigkeit und Unergründlichkeit als Kunstwerke geschätzt wurden, hat er sie ihr Eigenleben führen lassen. Nie hat er ein Readymade erklärt. Doch in dem Moment, als mit dem Flaschentrockner in der »Exposition Surréaliste d'objets« ein Readymade zum ersten Mal den öffentlichen, rein ästhetischen Wahrnehmungsbedingungen in einer Kunstausstellung unterworfen wurde, hielt er es für wichtig, sein Werk so zu überliefern, wie er selbst es begriffen hatte. Zu diesem Zweck dokumentierte er die Readymades in der Boîte-en-Valise mit Hilfe von überarbeiteten Fotos, welche die Objekte in ihren ursprünglichen Zusammenhängen im Atelier abbildeten. In eine Ausstellung gegeben, fungierte sein portatives Museum geradezu als »Ausstellung in der Ausstellung« und unterstrich leise und wie nebensächlich Duchamps eigenen Blick zurück auf sein Werk im Kontrast zu der Perspektive der jeweiligen Ausstellungskuratoren. 36 Allen, die sich detaillierter mit den auf den Bildern in der Boîte-en-Valise dokumentierten Funktionen der Readymades befassen wollten, gab er noch kurz vor seinem Tod mit der Veröffentlichung der Notizensammlung A l'Infinitif (der sogenannten »Weißen Schachtel«) einige Schlüssel zum Verständnis an die Hand.37 Es stellt sich die Frage, welche Funktion die Readymades in Duchamps »privaten Experimenten« hatten und welcher Art diese Experimente waren. Im Mittelpunkt von Duchamps künstlerischen Überlegungen in den Jahren 1913 bis 1923 stand die Darstellung einer imaginären Welt des modernen

30 HERBERT MOLDERINGS

9. Marcel Duchamp: La Botte-en-V'alise: Ready made (Fergalvanisée: haut. Om 59, diam. Base 0m37), Paris 1914; Collection Man Ray, Buchdruck, Silber, Schwarzgrün, Dunkelrot, zweimal: gelbgrün gefärbter Lack, 33,5 χ 23,1 cm, Paris 1936

Eros auf dem großformatigen Bild aus Glas Die Braut, von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar. Das geometrische Äquivalent für den imaginären Raum, in dem das dargestellte Liebesgeschehen angesiedelt ist, erkannte Duchamp in der vierdimensionalen Geometrie, einer Geometrie, die die Existenz eines vierdimensionalen Hyperraums behauptet, der sich nur der abstrakten mathematischen Imagination, nicht aber der konkreten Anschauung erschließt. Bei seinem Bemühen, das mathematisierte Raummodell dieser neuartigen Geometrie zu verbildlichen, war Duchamp auf eine These gestoßen, die ich das vierdimensionale Schlagschatten-Theorem genannt habe. 38 So wie in der dreidimensionalen Raumvorstellung der von der Sonne projizierte Schlagschatten das flache Abbild eines dreidimensionalen Körpers ist, müsste in der vierdimensionalen Raumtheorie der von einer imaginären Lichtquelle geworfene Schlagschatten als dreidimensionales körperhaftes Abbild des vierdimensionalen Kontinuums in Erscheinung treten. Dementsprechend notierte sich Duchamp damals: »Jeder gewöhnliche 3-dim. Körper, Tintenfaß, Haus, Fesselballon ist die Perspektive, die von zahlreichen 4-dim. Körpern auf das 3-dim. Milieu geworfen wird [.. .].39 Der Schlagschatten einer 4-dimensionalen Figur auf unseren Raum ist ein Schatten von 3 Dimensionen.« 4 0 Auf diesen Analogieschluss ging jene neue Dingästhetik zurück, für die er 1915 in New York das Wort »Readymade« fand, als Ersatz für den zuvor in Paris verwendeten

31 NICHT DIE OBJEKTE ZÄHLEN, S O N D E R N DIE EXPERIMENTE

10.

Duchamps Atelier in New York, 33 West 67th., en. 1917,3,7 * 6 an, Sammlung

Jean-Jacques Lehel, Paris

Begriff »sculpture toute faite« (»fertig vorgefundene Skulptur«). 41 Sie basierte auf der Idee, dass sich jeder Gegenstand als »Ab-Bild«, als n-1 dimensionale Projektion einer unsichtbaren n-dimensionalen Entität verstehen lässt. Diesen Gedanken hat Duchamp auf dem komplizierten Lichtdruck des Flaschentrockners in der Boîte-en-Valise demonstriert, auf der die Form des Schlagschattens paradoxerweise mit der des Objekts identisch ist, so dass sich die Frage erhebt: Welche der auf dem Bild sichtbaren Figuren ist das Schattenbild wessen, oder sind beide nur Schattenprojektionen: das dreidimensionale Objekt ebenso wie sein (falscher) zweidimensionaler Schlagschatten (Abb. 9)? 42 Demgegenüber war das humorvolle Experimentalobjekt der kopfüber auf einen Schemel fixierten Fahrradfelge aus abenteuerlichen Spekulationen über die Erzeugung virtueller Räume durch die Rotation geometrischer Figuren hervorgegangen (Abb. 10).43 Duchamp hatte dieses Objekt, das ja offenkundig nicht »ready-made«, also von ihm fertig vorgefunden, sondern aus mehreren Bestandteilen zusammengesetzt worden ist, zum ersten Mal 1913 in seinem Pariser Atelier konstruiert. Nach seiner Ankunft in New York baute er es 1916 ein zweites Mal. Es ist offenkundig, dass in dieser Konstruktion, der ersten kinetischen Skulptur des 20. Jahrhunderts, die Idee der Bewegung, um deren malerische Wiedergabe sich Duchamp 1911-12 intensiv bemüht hatte 44 , die Form eines dinghaften skulpturalen Aufbaus angenommen hat. Ihre Erfindung ist nicht denkbar ohne das »Technische Manifest der futuristischen Skulptur« von April 1912, in dem Umberto Boccioni nicht nur die Zerstörung der »rein literarischen und traditionellen Vornehmheit des Marmors und der Bronze« 4 ' in der Skulptur und deren Ersetzung durch industrielle Materialien

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wie Holz, Glas und Eisen, sondern ebenso bereits die Herstellung mechanisch bewegter Skulpturen gefordert hatte. Auf die Beziehung des Fahrrad-Rades zur futuristischen Ästhetik kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden46, ebenso wenig wie auf mögliche Anregungen zu dieser Konstruktion durch physikalische Demonstrationsobjekte. Wichtig ist es festzuhalten, dass Duchamp trotz aller Nähe zum futuristischen Denken das Fahrrad-Rad nicht als Kunstwerk im Sinne des »Technischen Manifests der futuristischen Skulptur« verstanden und es folglich auch nicht ausgestellt hat. Die Konstruktion der sich auf einer Art Sockel drehenden Felge entstand wie der Flaschentrockner als privates Versuchsgerät eines experimentellen bildnerischen Denkens und hatte ihren Ort allein in seinem Atelier. Während die Wahl des Flaschentrockners als pseudo-geometrisches Modell sich mit der Transparenz-Struktur der hypothetischen vierdimensionalen Wahrnehmung in Duchamps Notizen erklären lässt, kann das Fahrrad-Rad als Echo seiner Spekulationen über das geometrische Prinzip der DimensionsErzeugung durch Rotation gedeutet werden. Ein mit Dutzenden von Notizen und Skizzen angefülltes Heft in der Weißen Schachtel mit dem Titel »Das Kontinuum« handelt von der Frage der Erzeugung eines vierdimensionalen virtuellen Raumes durch Rotation. Jeder weiß aus eigener Anschauung, dass die Rotation einer Linie um einen festen Punkt das Bild einer kreisförmigen Fläche erzeugt. Würde man eine kreisförmige Fläche wiederum, etwa eine Fahrradfelge, schnell um eine vertikale Achse rotieren lassen, entstünde das Bild eines dreidimensionalen Volumens, einer Kugel. Soweit befinden wir uns noch ganz auf dem sicheren Boden einer durch Experiment überprüfbaren Geometrie. Der französische Physiologe Etienne-Jules Marey hatte derartige Experimente »chronofotografisch« festgehalten und in der Abhandlung Le mouvement von 1894 abgebildet. Auf einer der Zeitaufnahmen in diesem Buch - Duchamp hatte auf dieses Werk bereits beim Malen des Akts, eine Treppe herabsteigend 1911/12 zurückgegriffen -, sieht man beispielsweise, wie die auf einer einzigen Platte in schnellen Abständen aufgenommenen Momente eines rotierenden Fadens das virtuelle Volumen eines Zylinders erzeugen; auf einem anderen Bild erkennt man die Erzeugung des virtuellen Bildes einer Kugel durch die Rotation eines weißen metallischen Halbkreises. 47 Duchamp jedoch treibt das geometrische Prinzip der Dimensionserzeugung durch Rotation weiter in einen rein spekulativen Bereich. Erzeugt die Kreisbewegung einer Linie eine Fläche, die einer zweidimensionalen Fläche einen dreidimensionalen Körper, dann müsste, so schließt er auf analogischem Wege, die Rotation eines dreidimensionalen Raumes ein vierdimensionales Kontinuum erzeugen.48 Doch kommt er nicht umhin, sich einzugestehen, dass diese Überlegung eine reine Abstraktion ist, da sie in der physikalischen Welt nicht überprüft werden kann. In einem der zentralen Texte der Weißen Schachtel zur Dimensionserzeugung durch Rotation konstatiert er: »Ein endliches Kontinuum von 4 Dim. wird also durch ein endliches Kontinuum von 3 Di-

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mensionen erzeugt, das [...] um ein endliches Scharnier von 2 Dimensionen rotiert. [...] Aber das Wort drehen muß hier seinen physikalischen Sinn verlieren, denn es ist klar, daß wenn wir diesen ebenen Schnitt auf einer beliebigen Achse rotieren lassen, wir nur Kontinua von 3 Dimensionen erzeugen.«49 Duchamp ist zu sehr Cartesianer, zu sehr Rationalist, um dem Einwand gegen seine Spekulationen ausweichen zu können: »Welches ist der Sinn des Wortes 4. Dimension«, so fragt er sich, »da es doch keine taktile oder sensorische Entsprechung hat, wie z. B. die 1., 2. und 3. Dimension?«50 Er sieht deutlich, dass die 4. Dimension in unserer Sinneswelt keine »sensorische Apparenz« hat.51 Sie stellt also ein rein virtuelles Kontinuum dar, dem man sich nur auf mathematischem Wege oder per Analogie nähern kann. Hier ist für einen visuell denkenden Künstler im Grunde die Grenze erreicht. Das, was sich nicht sichtbar machen lässt, ist auch nicht darstellbar. Duchamp jedoch lässt nicht locker. Bei ihm überwog die Lust am Gedankenexperiment die Frage der Sichtbarkeit. In einer nicht in die Weiße Schachtel aufgenommenen Notiz - sie fand sich unter seinen nachgelassenen Papieren - behandelt er die Frage der Raumerzeugung durch Rotation in einem trivial-gegenständlichen Zusammenhang, der uns direkt zur Erfindung der ersten Readymades führt. Es heißt dort: »Ratsche [cricri] / Ratsche mit elementarer Unterteilung (Anwendung des Prinzips des elementaren Parallelismus52) / 3 dimensionale Ratsche / [es folgt eine Skizze, HM] / AB CD EF etc. gerade Linien, die sich um BX drehen / Diese parallelen Linien mit elementarem Abstand voneinander schneiden das Volumen, die Ebene oder die Linien, je nach ihren Grundbestandteilen. / Suche die vierdimensionale Ratsche [Hervorh. d. Verf.]«.53 Diese Notiz beweist unzweifelhaft, dass Duchamp 1913 begonnen hatte, triviale Gegenstände zu suchen, um bestimmte, höchst spekulative Gedankenexperimente zu veranschaulichen oder sagen wir besser: in »fertig vorgefunden Skulpturen« zu vergegenständlichen. Kehren wir noch einmal zum Problem des virtuellen Bildes zurück. »Echo. Virtueller Ton / Virtualität als 4. Dimension = Nicht die Wirklichkeit in der sensorischen Erscheinung, sondern die virtuelle Darstellung eines Volumens. Vielfalt bis ins Unendliche der virtuellen Bilder des dreidimensionalen Gegenstandes«, notierte sich Duchamp damals. 54 Die Linie ist, sobald man sie gedanklich in Rotation versetzt, eine virtuelle Fläche, die Fläche ein virtueller Körper, und denkt man diese Analogie weiter, dann ist jeder ruhende Körper, sobald man ihn gedanklich in Rotation versetzt, eine virtuelle vierdimensionale Ausdehnung. Umgekehrt ist jede Erscheinung nicht nur ein Schnitt durch den Raum, sondern auch ein Schnitt durch die Zeit, mithin ist jede Form, jedes Ding der momentane Ruhezustand einer um eine Dimension höheren unsichtbaren Form in Bewegung. 55 Derartige Gedanken mögen es gewesen sein, die Duchamp 1913, während seiner gedanklichen Ausarbeitung des Glasbildes Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar zur Konstruktion eines Objekts aus Fahrradfelge und Schemel veranlasst haben.

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Die Konstruktion des Fahrrad-Rades ist das Resultat eines experimentellen visuellen Denkens, in dessen Mittelpunkt das »Große Glas« stand. Duchamps Bestreben war es, unsichtbare, in der modernen Mathematik hypostasierte räumliche Dimensionen im buchstäblichen Sinne »vor-stellbar« zu machen. Was an dem Fahrrad-Rad zählte, war nicht das futuristische Prinzip, also der optische Reiz der Bewegung an sich, war nicht das, was man sah, sondern das, worüber die Bewegung des Rades nachzusinnen Anlass gab. Hier mag man an Kants Unterscheidung zwischen schönen Gegenständen und schönen Aussichten auf Gegenstände in der Kritik der Urteilskraft denken. Bei den schönen Aussichten auf Gegenstände scheint der Geschmack nicht an dem, was die Einbildungskraft sieht, zu haften, sondern an dem, »was sie hierbei zu dichten Anlass bekommt, d. i. an den eigentlichen Phantasien, womit sich das Gemüt unterhält, während es durch die Mannigfaltigkeit, auf die das Auge stößt, kontinuierlich erweckt wird [...]; so wie etwa bei dem Anblick der veränderlichen Gestalten eines Kaminfeuers oder eines rieselnden Baches, welche beide keine Schönheiten sind, aber doch für die Einbildungskraft einen Reiz bei sich führen, weil sie ihr freies Spiel unterhalten.«56 Die absichtslose Bewegung des Rades war ein idealer Anblick, um die Gedanken schweifen zu lassen, eine Erfahrung, die natürlich an die individuelle Begegnung mit diesem Objekt in der Abgeschlossenheit des Ateliers oder der Wohnung gebunden ist. In der lauten Öffentlichkeit des Museum of Modern Art oder des Centre Georges Pompidou kann sich diese heute nicht mehr einstellen, ganz abgesehen davon, dass das Fahrrad-Rad im Museum seiner zentralen Funktion, sich zu drehen, beraubt ist. Offenbar benötigte Duchamp die Gegenwart dieses Objekts in seinem Atelier, während er an der Darstellung der imaginären Ereignisse auf dem »Großen Glas« arbeitete. Von 1913 bis 1920 hat er es dreimal neu konstruiert. Wie die erste Version in Paris ausgesehen hat, wissen wir nicht, da sie in keinem bildlichen Dokument überliefert ist. Auf dem Atelierbild 33 West 67th New York sehen wir die Fahrrad-Felge kopfüber und leicht schief auf einen wackligen Schemel montiert, dem mehrere Querstreben fehlen (Abb. 2).57 Als Duchamp im August 1918 die Atelierwohnung in der 67. Straße aufgab, um sich für neun Monate in Buenos Aires niederzulassen, wurde das Objekt entweder entsorgt oder in seine Bestandteile zerlegt. Denn das Fahrrad-Rad, das man auf dem Foto des Ateliers 246 West 73rd Street von 1920 (Abb. 6) sieht, ist im Unterschied zu der Version von 1916 nicht mehr auf einen Schemel, sondern auf einen weißen Sockel montiert. Diese dritte, auf einen Sockel montierte Version des Fahrrad-Rades ist von der Forschung bisher noch nicht bemerkt worden. Auch sie kam auf den Müll, als Duchamp 1923 New York verließ und nach Paris zurückkehrte. Die 1951 für eine Ausstellung in der New Yorker Sidney Janis Gallery angefertigte Replik, die sich heute im Museum of Modern Art befindet, sah erneut etwas anders aus, und von dieser unterschied sich wiederum die Fassung, die 1964 die Mailänder Galerie Arturo Schwarz herausbrachte.58 Der Gedanke künstlerischer Vollendung spielte bei den Readymades

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keine Rolle mehr. Es waren Versuchsobjekte, Instrumente eines spekulativen künstlerischen Denkens. Duchamp entdeckte 1913/14 einen völlig neuen ästhetischen Kontinent. Er begann, sich von der Malerei zu entfernen und anstelle einer bildlichen Repräsentation der Wirklichkeit auf einer zweidimensionalen Fläche die ästhetische Gestaltung der Erfahrung der Wirklichkeit selbst ins Auge zu fassen. Mit den in Paris in völliger Privatheit realisierten »persönlichen Experimenten« war er an das Ende einer vom Bild her gedachten Ästhetik gelangt, genauer: einer Ästhetik, deren Ausgangs- und Endpunkt das gemalte oder skulptierte Bild ist. In seinem künstlerischen Denken und Schaffen fand eine Verschiebung vom Bild als autonomem ästhetischem Gegenstand in Richtung funktionales experimentelles Objekt statt,59 die in der Erkenntnis gipfelte: Nur das ästhetisch-empirische oder das ästhetisch-gedankliche Experiment ist es, das zählt, die Werke sind nicht von Bedeutung. »Mode: expériences - le résultat ne devant pas être gardé - ne présentant aucun intérêt« [Vorgehensweise: Experimente - das Ergebnis braucht nicht aufbewahrt zu werden - da nicht von Interesse.], notierte er sich damals. 60 Diese radikale Schlussfolgerung, die erst im Situationismus der sechziger und siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wieder aktuell werden sollte, erklärt, warum Duchamp die Readymades nach der Aufgabe seiner Ateliers in Paris und New York jeweils auf den Müll geworfen hat, während er seine Notizen sorgfältig aufbewahrte. Nur diese Notizen waren es, die anfangs Werkstatus hatten.61 Entsprechend aufwendig hat Duchamp sie 1914,1934 und 1967 in dem normalerweise nur wertvollen Handschriften vorbehaltenen Faksimiledruck ediert.62 Die in Duchamps New Yorker Ateliers eingesetzten Readymades ähneln von ihrer Funktion her weniger traditionellen Kunstwerken als vielmehr jenen Gegenständen, die die neuere Wissenschaftschaftsgeschichte »epistemische Dinge« nennt.63 Dabei handelt es sich um naturwissenschaftliche Experimentalsysteme oder in diese eingebundene Objekte, die vorhandenes Wissen nicht illustrieren oder symbolisieren, sondern um die sich das Wissen erst bemüht. Sie sind das Unbekannte, das Unklare, das Zweideutige, kurz: das, was man noch nicht weiß. Als Bestandteil eines Experiments geben sie noch unbekannte Antworten auf Fragen, die der Forscher selbst noch nicht klar formulieren kann. 64 Im Unterschied zu dem so definierten epistemischen Objekt gibt das ästhetische Experiment, wie es Duchamp praktiziert, jedoch keine Antworten auf Fragen, sondern vergegenständlicht das Fragen selbst. So waren etwa die Readymades Fahrrad-Rad und Flaschentrockner keine dreidimensionalen Veranschaulichungen vierdimensionaler Gleichungen. Darin unterschieden sie sich grundsätzlich von den faszinierenden mathematischen Modellen, die vor dem 1. Weltkrieg im höheren mathematischen Unterricht populär waren 65 und die Duchamp gekannt haben dürfte. Just im Wintersemester 1912/13 hatte er einen Bibliothekarskurs an der École des Chartes in der Sorbonne besucht. 66 In der »Abteilung für höhere Geometrie« der Sorbonne gab es damals einen eigenen »Modellsaal«, in dem hunderte dieser mathe-

36 HERBERT MOLDERINGS

matischen Modelle in großen Glasschränken zu sehen waren. In einem Gespräch mit Arturo Schwarz hat Duchamp die ästhetische Funktion der Readymades am Beispiel des Fahrrad-Rads präzise beschrieben: »The Bicycle wheel is my first Readymade, so much so that at first it wasn't even called a Readymade. It still had little to do with the idea of the Readymade. Rather, it had more to do with the idea of chance. In a way, it was simply letting things go by themselves and having a sort of creative atmosphere in a studio, an apartment where you live. Probably, to help your ideas come out of your head [Hervorh. d. Verf.], To see that wheel turning was very soothing, very comforting, a sort of opening of avenues on other things than material life of everyday.«67 Die Readymades waren weder Kunstwerke noch dienten sie der wissenschaftlichen Demonstration, sondern sie waren ästhetische Versuchsobjekte, deren Funktion darin bestand, eine schöpferische Atmosphäre für eine spekulative Vorstellungskraft zu schaffen, deren Ergebnisse sorgfältig aufgeschrieben und aufbewahrt wurden. Sie vergegenständlichten nicht neues, experimentell gewonnenes Wissen, sondern Nichtwissen beziehungsweise die Brüchigkeit der scheinbar so sicheren epistemischen Grundlagen des modernen, wissenschaftlich organisierten Lebens.68 Mit der neuen künstlerischen Arbeitsweise änderte sich auch der Status des Ateliers. Das Maleratelier verwandelte sich aus einer Produktionsstätte von Gemälden in ein Wahrnehmungs- und Theorielabor, in dem Gedankenexperimente in empirische Anschauung übersetzt wurden. Der Wohn- und Arbeitsraum des Ateliers wurde von Duchamp selbst als dreidimensionales »Bild« begriffen, als gestalteter Raum im Sinne eines reflektierten künstlerischen Wahrnehmungsraums. Es ist offenkundig, dass es bei der Installation der Readymades in Duchamps New Yorker Ateliers auf spielerisch-humvorvolle Weise um Fragen der Schwerkraft und der Relativität des Raumes geht. Da es im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich ist, detailliert auf die komplexen dimensions- und wahrnehmungstheoretischen Spekulationen einzugehen, die den in der Boîteen-Valise dokumentierten Rauminstallationen mit Readymades zugrunde liegen, soll im folgenden eine kurze Zusammenfassung genügen. 69 Aus der Normallage verrückte Alltagsgegenstände bevölkern einen Raum, dessen Koordinaten auf dem Kopf stehen. Statt an der Wand ist das Garderobenbrett am Fußboden aufgehängt, ein Kleiderhaken hat sich von der Wand und eine Schneeschaufel vom Fußboden gelöst, sie hängen buchstäblich in der Luft. Selbst das Pissoirbecken Fountain hat hier eine andere Funktion als auf der hundertfach reproduzierten Illustration in der Zeitschrift The Blindman, wo es auf einem Sockel lag.70 In Duchamps Atelier schwebt es in einem Türdurchgang. Die um 1910 in der Pariser Avantgarde viel diskutierte nichtEuklidische Geometrie hatte nicht nur das Euklidische Dogma der drei Raumachsen erschüttert, sondern ebenso die Vorstellung eines absoluten Raums mit festgelegten Richtungen. Der große Mathematiker Henri Poincaré, aus dessen Abhandlungen Wissenschaft und Hypothese (1902), Der Wert der Wissen-

37 NICHT DIE OBJEKTE ZÄHLEN, SONDERN DIE EXPERIMENTE

Schaft (1905) und Wissenschaft und Methode (1908) Duchamp sein Wissen über die moderne geometrische Raumtheorie hauptsächlich schöpfte, hatte dargelegt, dass es für einen Beobachter, der sich in einem bewegten System befindet, unmöglich ist, zu sagen, wo sich oben und unten, links und rechts befinden. Duchamp integrierte dieses Theorem in seine Überlegungen zur Wahrnehmung in einem vierdimensionalen Raumkontinuum. »Dans l'étendue 4, le vertical et l'horizontal perdent leur sens fondamental (de base)« notierte er sich, »(de même que l'être plat 2 ignore si le plan qui le supporte est horizontal ou vertical)«.71 Folgerichtig drehte er in einem visuellen Experiment den Raum seines New Yorker Ateliers um 90 Grad, indem er das Garderobenbrett statt an der Wand am Fußboden aufhängte (Trébuchet) (Abb. 2). Der von der Wand gelöste und in die entgegengesetzte Raumrichtung zu Trébuchet unter die Zimmerdecke versetzte Thonet-Kleiderhaken vertauscht oben und unten, das Richtungschaos verstärken das unter dem Türdurchgang schwebende Pissoirbecken und die von der Decke herabhängende Schneeschaufel, wobei letztere zugleich die einzig stabile Achse, geradezu ein Lot in diesem aus den Fugen geratenen Raum darstellt (Abb. 4, 5). In der Abhandlung Der Wert der Wissenschaft hatte Henri Poincaré dargelegt, dass die Geometrie keine empirische Wissenschaft ist, die Erfahrung daher nicht beweisen kann, dass der Raum drei Dimensionen hat. »Sie beweist uns nur, daß es bequem ist, ihm drei zuzuschreiben [...] damit er ebensoviel habe wie der Raum der Vorstellung«.72 Würde man die Reihen der Muskelempfindungen des Gesichts-, Tast- und Bewegungssinns in vier statt in drei Klassen einteilen, würden sich die räumlichen Erfahrungstatsachen ebensogut durch ein vierdimensionales Raummodell erklären lassen.73 Zum Verständnis dieser These beschreibt Poincaré ein Gedankenexperiment, das Duchamps visuelles Experiment mit einem in alle Richtungen beweglichen Wohnraum inspiriert zu haben scheint. »Ich nehme an, ich sei in einem Zimmer eingeschlossen zwischen den sechs unüberschreitbaren Mauern, den vier Seitenwänden, der Decke und dem Fußboden; es ist mir unmöglich herauszukommen oder mir auszudenken, daß ich herauskäme. Könnte man sich denn nicht denken, daß die Tür sich öffne oder daß zwei Wände verschwänden? Selbstverständlich wird man antworten, muß man voraussetzen, daß die Wände unbeweglich bleiben. - Jawohl, aber ich habe doch das Recht, mich zu bewegen; und dann werden die Scheidewände, die wir uns in absoluter Ruhe denken, in Beziehung auf mich in Bewegung sein. - Gewiß, aber eine derartige relative Bewegung kann keine beliebige sein; wenn die Gegenstände in Ruhe sind, so ist ihre auf beliebige Achsen bezogene Bewegung die eines festen, unveränderlichen Körpers, aber die scheinbaren Bewegungen, die ihr euch ausdenkt, entsprechen nicht dem Gesetz der Bewegungen eines unveränderlichen starren Körpers. - Ja, aber nur die Erfahrung hat uns die Bewegungsgesetze eines unveränderlichen starren Körpers gelehrt, nichts würde uns hindern, uns auszudenken, das sie anders wären. Kurz, um mir einzubilden, daß ich aus meinem Gefängnis herauskäme, brauche ich mir nur einzu-

38 HERBERT MOLDERINGS

bilden, daß die Wände zu verschwinden scheinen, wenn ich mich bewege.«74 Während das von Poincaré erdachte Experiment nur in der Vorstellung existiert, ist Duchamps Versuch ein empirisch-ästhetisches Experiment. Als er darauf aufmerksam wurde, dass der raumgeometrischen Definition der sechs Seiten eines Kubus in der alltäglichen Wahrnehmung deren Definition durch die Möblierung entspricht, war er in der Lage, Poincarés Gedankenexperiment, das in der Praxis nicht machbar ist, in Empirie zu überführen. 75 Er transformierte seine Atelierwohnung in eine Art Versuchsraum, in dem die Wände zwar nicht verschwinden, aber durch die deplatzierten Gegenstände ihre Richtungsdefinitionen als Seitenwände, Fußboden und Zimmerdecke verlieren. Selbst für diese Operation konnte Duchamp auf Anregungen des berühmten Mathematikers zurückgreifen. Woher kommt es eigentlich, dass wir dem Raum Richtungen beimessen?, fragte sich dieser. »Der Raum selbst ist tatsächlich gestaltlos, und nur die Dinge in ihm geben ihm eine Gestalt«, lautete die Antwort. »Wir könnten den Raum ohne Anwendung eines Meßinstrumentes nicht konstruieren; dies Instrument nun, auf das wir alles beziehen und dessen wir uns instinktiv bedienen, ist unser eigener Körper. Nur in bezug auf unseren Körper beurteilen wir die Lage der Gegenstände außer uns, und die einzigen räumlichen Beziehungen, die wir uns vorstellen können, sind ihre Beziehungen zu unserem Körper. Der letztere dient uns sozusagen als System von Koordinatenachsen«.76 Wie eine Randnotiz zu dieser Feststellung liest sich Duchamps auf 1918 datierte Bemerkung in der Weißen Schachtel: »Schwere und Schwerpunkt machen horizontal und vertikal aus im Raum. f...] Die Schwere wird physisch in uns nicht durch einen der 5 gewöhnlichen Sinne kommandiert. - Wir führen immer eine Erfahrung der Schwere zurück auf eine imaginierte oder reale Auto-Konstatierung, die innerlich wahrgenommen wird in der Gegend des Magens.«77 Da Poincaré zufolge das dreidimensionale geometrische Raummodell letztlich auf einer gedanklichen Synthese von Körperempfindungen beruht, kann dieses nur das Ergebnis der Gewohnheit sein. »Wenn die Erziehung unserer Sinne sich in anderer Umgebung vollzogen hätte, wo wir anderen Eindrücken unterworfen wären, so würden sich ohne Zweifel ganz entgegengesetzte Gewohnheiten ausgebildet haben, und unsere Muskelempfindungen würden sich nach anderen Gesetzen [etwa denen der vierdimensionalen Geometrie, HM] assoziiert haben,« heißt es in Wissenschaft und Hypothese7® Es ist, als habe Duchamp diese andere Erziehung der Sinne auf spielerisch-humorvolle Weise provozieren wollen, als er sich und die Besucherinnen seines Ateliers buchstäblich ver-rückten Gegenständen aussetzte, die völlig neue Raumerfahrungen und Objektbeziehungen simulierten. Die durch die Readymades bewerkstelligten Achsen-Verrückungen in seiner Atelierwohnung hatten den Sinn, der Imagination auf die Sprünge zu verhelfen, einer Imagination, bei der es seit 1913 in erster Linie um die Vorstellung eines Abwesenden ging: um die Vorstellung einer unsichtbaren vierten Dimension, die sich den Grundsätzen der Mathematiker zufolge der »repré-

39 NICHT DIE OBJEKTE ZÄHLEN, SONDERN DIE EXPERIMENTE

sentation« entziehen muss, da jede Vorstellung stets auf dreidimensional beschränkte Sinnesanschauungen zurückgeht. Sie dienten dazu, in Duchamps Lebens- und Arbeitsraum eine »kreative Atmosphäre« zu schaffen, um Raum, überhaupt Wirklichkeit anders zu denken: indefiniert, beweglich und offen. Die damaligen Besucherinnen seines Ateliers haben, wie aus ihren Erinnerungen hervorgeht, die theoretische Tragweite des Duchamp'schen Raumexperiments in keiner Weise erfasst. Sie konnten nur ahnen, dass sich in dem, was ihnen als »Chaos« und nutzlos herumliegende Gegenstände entgegentrat, eine neue ästhetische Denkweise herausbildete. Diese Ästhetik, in der nicht die Objekte, sondern der Raum beziehungsweise das Raumexperiment das »Kunstwerk« waren, ist erst in den raumrelationalen Kunstformen der Installationen und Interventionen der 1960er Jahre wieder entdeckt und weiterentwickelt worden.

* Eine gekürzte Fassung dieses Aufsatzes ist unter dem Titel »Eine andere Erziehung der Sinne. Marcel Duchamps New Yorker Atelier als Wahrnehmungslabor« in: Bild/Geschichte. Festschrift für Horst Bredekamp, hrsg. von Philine Helas u. a„ Berlin 2007, erschienen [S. 219-234]. 1 22. bis 31. Mai 1936, in der Kunsthandlung Charles Ratton, 14, rue de Marignan. 2 Zwei frühere Ausstellungsversuche in New York waren fehlgeschlagen. Die Präsentation von zwei Readymades im Schirmständer im Eingang zur Exhibition of Modern Art in den Bourgeois Galleries (April 1916) war von niemandem bemerkt, das 1917 unter Pseudonym eingereichte Pissoirbecken Fountain war zurückgewiesen worden. Vgl. Briefe an Marcel Jean von Marcel Duchamp, München 1987, S. 47; D. Daniels: Duchamp und die anderen. Der Modellfall einer künstlerischen Wirkungsgeschichte in der Moderne, Köln 1992, S. 172-175. 3 Vgl. H. Moiderings: Ästhetik des Möglichen. Zur Erfindungsgeschichte der Readymades Marcel Duchamps, in: G. Mattenklott (Hg.): Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderheft 2004, S. 107, Anm. 24. 4 Objet usuel promu à la dignité d'objet d'art par le simple choix de l'artiste, in: Dictionnaire abrégé du Surréalisme, Paris 1938, S. 23. 5 Zu den aufwendigen Druckverfahren siehe E. Bonk: Marcel Duchamp. Die große Schachtel

de ou par Marcel Duchamp ou Rrose Sélavy, München 1989. 6 Vgl. auch F. M. Naumann: New York Dada 1915-23, New York 1994, Abb. S. 47. Das Apartment war L-förmig geschnitten. Da der abknickende kleinere Schlafraum nicht durch eine Tür verschlossen, sondern durch einen offenen Durchgang mit dem Hauptraum verbunden war, kann man es man es auch als »one-room apartment« bezeichnen. 7

Vgl. Bonk 1989 [wie Anm. 5], S. 239, Abb. 211-

8

Archives Marcel Duchamp, Villiers-sous-

214. Grez. 9 Duchamp beschreibt dieses Manöver in dem 1932 gemeinsam mit Vitali Halberstadt in drei Sprachen (Französisch, Englisch, Deutsch) herausgegebenen Schachbuch L'Opposition et les cases conjuguées sont réconciliées, Paris und Brüssel, S. 9 (Diagramm 15). Vgl. auch die deutsche Neuausgabe: M. Duchamp und V. Halberstadt: Opposition und Schwesterfelder, Köln 2001, 19; H. Moiderings: Marcel Duchamp. Parawissenschaft, das Ephemere und der Skeptizismus, Düsseldorf 3 1997, S. 41; E. Strouhal: Duchamps Spiel, Wien 1994, S. 71 f. 10 Papierformat 5,15 χ 7,2/7,4 cm (das Fotopapier ist schräg beschnitten). Archives Marcel Duchamp, Villiers-sous-Grez. - Es spricht jedoch einiges dafür, dass Henri Pierre Roché der Urheber dieser Fotos ist. Jennifer GoughCooper und Jacques Caumont zitieren einen Eintrag aus Rochés Tagebuch, demzufolge er im

40 HERBERT MOLDERINGS

Juni 1918 Fotos von Duchamps Atelier »33 West 67th St« gemacht hat: »After tea with Alissa Franc, Roché returns to Totor's [d.h. Duchamps, Anm. d. Verf.] studio for a rest. Finding the disarray so beautiful, he takes photographs with his Kodak of different corners of the room and meditates on the atmosphere, its purpose, its utility, its generosity«. Vgl. J. Gough-Cooper und J. Caumont: Ephemerides on and about Marcel Duchamp and Rrose Sélavy, in: Hulten, Pontus (Hg.): Marcel Duchamp. Work and Life, Cambridge (Mass.)/London 1993,3 June [1918], Roché besaß Abzüge von sieben Fotografien dieses Ateliers, von denen zwei auf der Rückseite von seiner Hand bezeichnet sind: »Chambre de Marcel Duchamp New York 1916« (sie). Diese Abzüge befinden sich heute in der Sammlung von JeanJacques Lebel, Paris. Vgl. die Abbildungen in Étant donnés Marcel Duchamp, Nr. 7: Robert Lebel - Isabelle Waldberg - Patrick Waldberg, Paris 2006, S. 220-221. 11

Vgl. Bonk [wie Anm. 5], S. 239, Abb. 208.

12

Vgl. ebd., S. 239, Abb. 209.

Seine Fachbezeichnung lautet »dreifach montierter Kleiderhaken«. Vgl. Kat. Thonet: Bentwood & other Furniture, The 1904 Illustrated Catalogue, New York 1980, S. 80 u. R. R. Shearer u. S. J. Gould: Why the Hatrack is and/or is not Readymade, in: tout-fait. The Marcel Duchamp Studies Online Journal, 1,3, Dez. 2000. 13

Das Format der Vergrößerung beträgt 18,2 χ 12,2 cm. Archives Marcel Duchamp, Villiers-sous-Grez. 14

15 Vgl. Abb. in Étant donnés Marcel [wie Anm. 10], S. 220, oben links.

Duchamp

16 Zur Publikationsgeschichte dieses Fotos vgl. W. A. Camfield: Marcel Duchamp Fountain, Houston 1989, S. 21f. - In den 1980er Jahren muss ein zweiter Abzug dieser Aufnahme existiert haben, der einen etwas größeren Raumausschnitt wiedergab. Vgl. Bonk 1989 [wie Anm. 5], S. 234, Abb. 192. Dieser Abzug lässt sich heute nicht mehr nachweisen. 17 Vgl. C. Chéroux u.a.: Le troisième œil. La photographie et l'occulte, Paris 2004, Abb. 25b und passim. 18 Die Figur auf diesem Foto ist nicht eindeutig zu identifizieren. Es könnte sich ebenso um Henri-Pierre Roché handeln, dessen Physiognomie der Duchamps sehr ähnelte.

19 Bonk 1989 [wie Anm. 5, S. 234] geht davon aus, dass Duchamp selbst die Aufnahme gemacht hat. Das Foto gehört jedoch zu derselben Gruppe von Aufnahmen, die in Anm. 10 diskutiert wurden. Es stammt also wahrscheinlich ebenso von Roché. Vgl. auch C. Cros: Marcel Duchamp, London 2006, S. 59. 20 Duchamp wohnte in diesem Ein-ZimmerApartment von Januar bis Mitte Juli 1920. Anschließend zog er in das Apartment 1947 Broadway um, wo er bis Februar 1923 wohnte. Man Rays Aufnahme entstand wahrscheinlich in der Wohnung 246 West 73rd Street und nicht in 1947 Broadway, wie ich in dem Aufsatz »Nicht die Objekte zählen, sondern die Experimente. Marcel Duchamps New Yorker Atelier als Wahrnehmungslabor« geschrieben habe (in: Kat. Ausst. Re-Object. Marcel Duchamp Damien Hirst JeffKoons Gerhard Merz, hrsg. von E. Schneider, Kunsthaus Bregenz 2007, S. 38). 21 Vgl. Daniels 1992 [wie Anm. 2], S. 216; Moiderings 2004 [wie Anm. 3], S. 106-111. 22 »Victor« war Roches Kosename für Marcel Duchamp.Vgl. H.-P. Roché: Victor (Marcel Duchamp), Kat. Marcel Duchamp, Musée national d'art moderne, Centre Georges Pompidou, Band IV, Paris 1977, S. 65. 23 Vgl. die gleichlautenden Erinnerungen von Giorgia O'Keeffe in: Naumann [wie Anm. 6], S. 48. 24 »[...] a chaotic space. A double bed, usually unmade, filled one alcove. There were two chairs, generally covered with clothes and canvases in disorder everywhere [...] the room gave the impression of being in various stages of undress. [...] I had already told him that his Readymades were beyond me. He would answer with one of his favorite expressions: »Cela n'a pas d'importance«*. Zit. nach L. Smith (Hg.): I Shock Myself. The Autobiography of Beatrice Wood, Ojai (CA) 1985, S. 24 u. 26. 25 Zit. nach H. P. Roché: Erinnerungen an Marcel Duchamp, in: R. Lebel: Marcel Duchamp. Von der Erscheinung zur Konzeption, Köln 2 1972, 170. Die Übersetzung ist hier leicht verändert. Die französische Originalversion lautet: »Duchamp avait, à New York, une grande chambre atelier carrée dans une maison moderne. Posées à plat, comme sur des tables, les vastes plaques de verre sur lesquelles il travaillait [...]. Des objets en apparence inutiles: pelle à neige, fourche et roue de vélo, patère de métal fixée au sol, don-

41 NICHT DIE OBJEKTE ZÄHLEN, S O N D E R N DIE EXPERIMENTE

naient l'atmosphère. Dans un angle, une grande

34

Daniels 1992 [wie Anm. 2], S. 199.

Sculpture de voyage, en caoutchouc aux cou-

35

K. Lüdeking: Ding - Gegenstand - Zei-

leurs vives, écartelée comme une toile d'arai-

chen, in: H. M. Bachmayer, D. Kamper, F. Rötzer

gnée.« H. P. Roché: Souvenirs sur Marcel Du-

(Hg.): Van Gogh - Malewitsch

champ, in R. Lebel: Marcel Duchamp, Paris 1959,

chen 1992, S. 253.

S. 80. Vgl. auch die Beschreibung in dem Roman

Die Boîte-en-Valise

36

- Duchamp,

Mün-

wurde erstmals 1942 in

»Victor« [wie Anm. 22], S. 65-66. Bei diesen Be-

der Ausstellung »Art of This Century« der New

schreibungen handelt es sich um eine Vermi-

Yorker Galerie Peggy Guggenheims ausgestellt.

schung von Erinnerungen an die Ateliers in 33

Vgl. Ausst.-Kat. Art of This Century,

West 67th. und 1947 Broadway. Roché war seit

Peggy Guggenheim, New York 1942, S. 59. Von

Dezember 1916 ein regelmäßiger Gast in Du-

da an war sie in fast allen Gruppenausstel-

champs Ateliers. Vgl. S. Reliquet und P. Reliquet:

lungen präsent, an denen Duchamp beteiligt

Henri-Pierre

war. Vgl. R. Lebel: Marcel Duchamp, Köln 2 1972,

Roché,

L'enchanteur

collectionneur,

Paris 1999, S. 86 u. passim. Zur Sculpture de voyage siehe Abb. in Bonk [wie Anm. 5], S. 87 u. Naumann [wie Anm. 6], S. 49. 26

hrsg. von

S. 223ff. 37

A l'Infinitif. Schachtel mit 79 faksimilier-

ten handschriftlichen Notizen, New York 1967.

G. Buffet: Cœurs volants, in: Cahiers d'Art,

11e année, 1936, S. 39. Mit der »girouette« ist

Deutsch in: Serge Stauffer (Hg.): Marcel

Du-

champ. Die Schriften, Bd. I, Zürich 1981, S. 121ff.

möglicherweise das Readymade eines dreh-

38

Moiderings 2004 [wie Anm. 3], S. l l l f f .

baren Kaminaufsatzes mit der Inschrift »Pulled

39

In: Duchamp: Schriften [wie Anm. 37],

At Four Pins« von 1915 gemeint. 27

Man Ray:

Seif

Portrait,

S. 163. London

1963,

S. 68-69. 28

Vgl. das Kapitel »La chambre de Victor«

in: Roché 1977 [wie Anm. 22], S. 27. Dort ist von

10

Ebd., S. 151.

41

H. Moiderings: Fahrrad und Flaschen-

trockner, in: Ausst.-Kat. Marcel Duchamp

Respira-

teur, Staatliches Museum Schwerin 1995, S. 124.

den Readymades als »ses jouets et ses objets de

42

Moiderings 1983 [wie Anm. 33], S. 46-49.

méditation« die Rede. Der Romanentwurf da-

43

Ich habe dies an anderer Stelle ausge-

tiert von 1957. 29

führt. Vgl. Moiderings 1995 [wie Anm. 41], S. 119-

Ebd., S. 66: »Pierre se rendit compte qu'il

30

Ebd., S. 57: »C'est un solitaire, un médiAnon.: Artist Marcel Duchamp Visits U-

Classes, Exhibits at Walker, in: Minnesota

Daily,

Weinheim

und Berlin 1987, S. 215-219; W. Busch u.a.: Geschichte

der Kunst im Wandel

ihrer

Funktionen.

Vollständig überarbeitete und erweiterte On-

22. Oktober 1965. 32

Marcel Duchamp, in: W. Busch und P. Schmoock: Kunst. Die Geschichte ihrer Funktionen,

tant.« 31

146; ders. 2004 [wie Anm. 3], 119ff.; ders.: Vom Tafelbild zur Objektkunst. Die Readymades von

était dans un monastère.«

Zit. nach O. Bätschmann:

Ausstellungs-

künstler. Kult und Karriere im modernen

Kunstsy-

stem, Köln 1997, S. 138. Bätschmann beschreibt Duchamp als typischen »Ausstellungskünstler«.

line-Ausgabe des Funkkollegs Kunst, Berlin 2005, http://www.kunst-und-funktion.de [Mai 2009], 44

Vgl. H. Moiderings: Film, Fotografie und

Diese Charakterisierung lässt jedoch Duchamps

ihr Einfluß auf die Malerei in Paris um 1910.

ambivalente und jahrzehntelang distanzierte

Marcel Duchamp-Jacques Villon-Frank Kupka,

und kritische Haltung zum Ausstellungsbetrieb

in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 37, 1975, S. 247-

völlig außer Acht. 33

286 und J. Clair: La boîte magique, in: ders.: Sur

M. Leiris: Kunst und Gewerbe des Marcel

Duchamp (1946), in: Ders.: Die Lust am Texte über Künstler des 20. Jahrhunderts,

Zusehen.

Frankfurt

am Main und Paris 1981, S. 126. - Hier schließe ich auch meine eigene Interpretation von 1983 ein. Vgl. H. Moiderings: Marcel Duchamp. wissenschaft,

das Ephemere

und der

Frankfurt am Main 1983, S. 89-90.

Para-

Skeptizismus,

Marcel

Duchamp

et la fin

de l'art, Paris 2000,

S. 177ff. 45

Vgl. U. Apollonio: Der Futurismus,

Köln

1972, S. 66-73. 46

Zur Bedeutung der futuristischen Ästhe-

tik für die Genese dieses Objekts vgl. Moiderings 1995 [wie Anm. 41], S. 122-130.

42 HERBERT MOLDERINGS

47 Siehe E.-J. Marey: Le mouvement, Paris 1894, S. 25-32. Vgl. ebenso J. Clair: Duchamp et la photographie, Paris 1977, S. 99,101.

stische Semantik dieses Objekts hervorgerufen. Vgl. Thomas Zaunschirm: Bereits Mädchen Ready-made, Klagenfurt 1983, S. 25-28.

48 Vgl. Duchamp: Schriften [wie Anm. 37], S. 156-159 u. 170 (Skizze).

58 Zur Chronologie der Repliken vgl. Schwarz, Complete Works [wie Anm. 53], Kat. Nr. 278, 588-589 u. F. M. Naumann: Marcel Duchamp. The Art of Making Art in the Age of Mechanical Reproduction, Amsterdam 1999, passim.

49 Ebd., S. 164. Ich habe die Übersetzung leicht verändert. 50

Duchamp: Schriften [wie Anm. 37], S. 167.

51

Ebd., S. 143.

So nannte Duchamp das bei chronofotografischen Diagrammen beobachtete Prinzip der mehr oder weniger parallelen Linienverschiebung auf der Fläche. Zur Erzeugung eines vierdimensionalen Kontinuums durch »elementaren Parallelismus« vgl. die Notiz in: Duchamp Schriften [wie Anm. 37, S. 156-157]. 52

Marcel Duchamp-Notes. Avant-propos Paul Matisse. Préface Pontus Hulten, Paris 1999, S. 102 (Nr. 166) - Er hat sie schließlich 1916 in Gestalt eines stählernen Kammes gefunden und seinem Mäzen Walter C. Arensberg geschenkt (The Louise and Walter Arensberg Collection, Philadelphia Museum of Art). Selbst in der scheinbar völlig unsinnigen Inschrift auf dem Kamm »3 ou 4 gouttes de hauteur n'ont rien à faire avec la sauvagerie« findet sich in Form der »3 oder 4 Tropfen Höhe« (oder »3 oder 4 Tropfen aus der Höhe«) die Idee der drei oder vier möglichen Raumachsen (dreidimensionale versus vierdimensionale Geometrie). Vgl. Abb. in: A. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, New York 1997, Bd. II, S. 643. 53

54

In: Duchamp: Schriften [wie Anm. 37],

S. 167. 55 In einem längeren Text über das Prinzip des »elementaren Parallelismus« notiert sich Duchamp am Schluss: »Eine Zeit von 2 Dim., 3. Dim. usw. suchen«. In: Duchamp: Schriften [wie Anm. 37], S. 157. 56 I. Kant: Kritik der Urteilskraft, hrsg. v. Karl Vorländer, Hamburg 1990, S. 86. Kurioserweise hat Duchamp in zahlreichen Interviews die Wahrnehmung des sich drehenden Rads mit dem Blick in die züngelnden Flammen eines offenen Kamins verglichen. Vgl. A. Gervais: Roue de bicyclette. Epitexte, texte et intertexte, in: Les Cahiers du Musée national d'art moderne 30,1989, S. 59-80. 57 Die fehlenden Streben haben in der Duchamp-Exegetik abenteuerliche und zugleich humvorvolle Spekulationen über die zahlenmy-

59 Das Werk, das diese Verschiebung einleitete, waren die 3 Stoppages étalon. Vgl. dazu H. Moiderings: Kunst als Experiment. Marcel Duchamps 3 Kunststopf-Normalmaße, München und Berlin 2006. 60 Marcel Duchamp. Notes [wie Anm. 53], S. 27 (Nr. 26r) 61 Dies gilt nicht für die zweidimensionalen Readymades Pharmacie, Apolinère Enameled, L.H.O.O.Q. und jene Objekte, die Träger komplizierter Wortspiele waren wie beispielsweise das Readymade eines Hundekamms und das »Readymade aidé (à bruit seccret)« von 1916. Vgl. Schwarz, Complete Works [wie Anm. 52], Kat. Nr. 283,339,340,344,369. 62 Die Notizen in der Schachtel von 1914 (Aufl. 5 Ex.) waren fotografisch reproduziert worden. Die sogenannte Grüne Schachtel erschien 1934 im Selbstverlag Rrose Sélavy (320 Ex.). Zur sogenannten Weißen Schachtel von 1967 vgl. Anm. 37. 63 H.-J. Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Göttingen 2001, S. 24-25. 64

Ebd., S. 22.

Vgl. dazu W. v. Dyck: Katalog mathematischer und mathematisch-physikalischer Modelle, Apparate und Instrumente, München 1892 (Reprint Hildesheim 1994); M. Schilling: Catalog mathematischer Modelle für den höheren mathematischen Unterricht, Leipzig 7 1911; G. Fischer et al.: Mathematische Modelle aus den Sammlungen von Universitäten und Museen, Braunschweig 1986; J. Brette: La collection de modèles mathématiques de la bibliothèque de l'Institut Henri Poincaré, in: Gazette des mathématiques, hrsg. von der Société mathématique de France, Heft 85, Juli 2000, S. 5-8. Zur Rezeption der mathematischen Modelle im Surrealismus vgl. G. Werner: Mathematik im Surrealismus. Man Ray-Max Ernst-Dorothea Tanning, Marburg 2002, passim u. I. Fortuné: Man Ray et les objets mathématiques, in: Études photographiques, 6, Mai 1999, S. 100-117. 65

43 NICHT DIE OBJEKTE ZÄHLEN, SONDERN DIE EXPERIMENTE

66 Vgl. Gough-Cooper und Caumont: Ephemerides [wie Anm. 10], 17. Februar und 3. November 1913.

pissoirbecken an und stellte es in Beziehung zur

Zit. nach A. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, New York 2 1970, S. 442.

platzierte.

Zur wissenschaftskritischen Ausrichtung der Duchamp'schen Kunst ab 1913 vgl. Moiderings 2006 [wie Anm. 59]. Die Präsenz des Nichtwissens in der modernen Wissenschaftskultur hat seit einiger Zeit zunehmend auch das Interesse der Philosophen geweckt. Vgl. W. Hogrebe: Echo des Nichtwissens, Berlin 2005.

S. 146.

69 Vgl. dazu ausführlicher Moiderings 1987 [wie Anm. 42], S. 215-219 u. Moiderings 2004 [wie Anm. 3].

Thought Experiments, New York 1992; J. R. Brown:

67

68

70 Vgl. Camfield 1989 [wie Anm. 16], S. 12. Da sich ein Originalabzug dieses Fotos aus The Biindman in Duchamps Nachlass befand, darf davon ausgegangen werden, dass er diese Aufnahme auch bereits während der Arbeit an der Boîte-en-Valise besaß. Vgl. Bonk 1989 [wie Anm. 5], Abb. 135, S. 205. Es wäre also für ihn ein Leichtes gewesen, das Pissoirbecken durch eine Reproduktion dieses Fotos zu dokumentieren. Stattdessen dokumentierte er es zum einen als Rauminstallationsobjekt in seinem Atelier (Abb. 4), zum andern fertigte er ein Miniatur-

Ikonographie des »Großen Glases«, indem er das Objekt auf der Höhe des »Kleids der Braut« 71

72

In: Duchamp: Schriften [wie Anm. 37], H. Poincaré: Der Wert der

Wissenschaft,

Leipzig und Berlin 3 1921, S. 95. 73

Ebd., S. 99.

71

Ebd., S. 100.

75

Zum Begriff des Gedankenexperiments

in den Naturwissenschaften vgl. R. Sorensen: The Laboratory

of the Mind, London 1991; W.

Kienzier: Was ist ein Gedankenexperiment?, in: G. Abel (Hg.): Kreativität, XX. Deutscher Kongress für Philosophie, Berlin 2005, Bd. 1, S. 447455. Vgl. ebenso Th. Macho und A. Wunschel (Hg.): Science & Fiction. mente in Wissenschaft,

Über

Gedankenexperi-

Philosophie und Literatur,

Frankfurt am Main 2004. 76

H. Poincaré: Wissenschaft

und

Methode,

Leipzig und Berlin 1914, S. 87. 77

In: Duchamp: Schriften [wie Anm. 37],

S. 146. 78

H. Poincaré: Wissenschaft

Leipzig 31914, S. 58.

und

Hypothese,

MONIKA WAGNER

Der kreative Akt als öffentliches Ereignis

1959 gab der französische Maler Georges Mathieu in einem Interview mit der Zeitschrift Das Kunstwerk auf die Frage: »Warum malen Sie in der Öffentlichkeit?« die erstaunliche Antwort: »Für mich macht es keinen Unterschied, ob ich in meinem Atelier oder vor tausend Personen male. Während des schöpferischen Aktes bin ich allein mit meiner Leinwand, ob im Atelier oder in der Öffentlichkeit.« 1 Obwohl Mathieu mit der mentalen Ausblendung äußerer Einflüsse zugunsten der inneren Einsamkeit des Künstlers während des Schöpfungsprozesses auf einen Topos der Geniekonzeption Bezug nahm, 2 dürfte es nicht viele bildende Künstler gegeben haben, die sich eine Mathieu vergleichbare Malpraxis zumuteten. 1956 hatte Mathieu während der »Nacht der Poesie« anlässlich des Festival Internationale d'Art Dramatique im Pariser Théâtre Sarah-Bernardt erstmals in aller Öffentlichkeit ein Bild gemalt. Anwesend waren rund 2.000 Personen, die in nur zwanzig Minuten der Genese eines gigantischen Gemäldes von 4 χ 12 Metern, der Hommage aux poètes du monde entier, wie einer Bühnenaufführung beiwohnten (Abb. 1). 1958 und 1959 hat Mathieu dann mehrfach formal ähnlich strukturierte Bilder, meist unter

1. Georges Mathieu: Hommage aux poètes du monde entier, 1956, Öl auf Leinwand, 400 χ 1200 cm, Sammlung des Künstlers

46 MONIKA WAGNER

Titeln, die eine historische Schlacht bezeichnen, in weniger als einer Stunde vor laufender Fernsehkamera gemalt.3 Die Herstellung eines modernen, abstrakten Gemäldes wurde damit einem Massenpublikum im Format einer Fernsehsendung vermittelt.

Schnelligkeit Eine entscheidende Voraussetzung für derartig öffentlich stattfindende Malaktionen war zunächst einmal die Geschwindigkeit des Werkprozesses. Ein Maler, der wie Frenhofer, der tragische Held in Honoré de Balzacs Künstlernovelle Das unbekannte Meisterwerk aus dem Jahr 18314, jahrzehntelang an einem einzigen Bild arbeitet, ohne es vollenden zu können, oder der es - wie Hans von Marees am Ende des 19. Jahrhunderts - bis zu achtzig Mal überarbeitet,5 würde keinen geeigneten Kandidaten für das Malen in der Öffentlichkeit abgeben. Auch Mathieu selbst argumentierte mit der Schnelligkeit, die er nicht allein aus pragmatischen Gründen schätzte, sondern der er grundsätzliche Bedeutung beimaß. Allein die »Schnelligkeit des Schöpfungsaktes«, äußerte er in dem bereits eingangs zitierten Interview, mache es möglich, »das, was aus den Tiefen des Wesens aufsteigt, zu erfassen und auszudrücken, ohne daß sein spontaner Ausbruch durch rationelle Überlegung und Intervention zurück gehalten und geändert wird«.6 Das Postulat der Unmittelbarkeit als Ausdruck einer »création pure«7 besaß unterschiedliche Bezugshorizonte. Mathieu stellte sich mit dem »schnellen Bild« explizit in die Tradition der »Meister der Kalligraphie«, die »im Orient ein Meisterwerk in einigen Sekunden ausführten«. Ein solches Meisterwerk sei jedoch, wie der damals 37jährige Künstler etwas altklug erklärte, das »Resultat von 50 oder 60 Jahren Arbeit und Disziplin«.8 Tatsächlich ist die Geschichte vom schnellen Bild in Japan mehrfach überliefert, u. a. von Hokusai, der in wenigen Minuten das Bild eines Hahnes vor den Augen seines Auftraggebers gemalt haben soll, auf das dieser schon seit Jahren gewartet hatte.9 Die sich über eine lange Zeit akkumulierende Übung ist Voraussetzung dieses schnellen Malens, die bei Mathieu wie bei einer Reihe von Künstlern der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg - so z. B. bei Hans Härtung - mit der ostasiatischen Kalligraphie legitimiert und aufgeladen wurde. Daran hatten Publikationen wie Eugen Herrigels Schrift Zen in der Kunst des Bogenschießens von 1939, die 1953 auch ins Französische übersetzt worden war, ihren Anteil. In Herrigels Darstellung richtet sich alles auf den einen glücklichen Moment, auf den Augenblick der Perfektion, in dem sich das meisterliche Werk nach Jahren der Übung mühelos realisiert. Auch in der europäischen Tradition gab es die - allerdings anders begründete - Vorstellung von der Überlegenheit des schnellen Bildes. Vor allem Entwicklungen im Bereich der Landschaftsmalerei haben die Schnelligkeit des Malvorgangs befördert: So forderte etwa das Arbeiten im Freien, wo es galt,

47 DER KREATIVE AKT A L S ÖFFENTLICHES EREIGNIS

e p h e m e r e Wetter- u n d Lichtkonstellationen e i n z u f a n g e n , ebenfalls ein rasches Arbeiten. A l l e r d i n g s blieb dieses s c h n e l l e Malen 1 0 , w i e es in F r a n k r e i c h seit P i e r r e H e n r i de V a l e n c i e n n e s b e t r i e b e n u n d in E n g l a n d e t w a von J o h n C o n s table in s e i n e n W o l k e n s t u d i e n in den 20er J a h r e n des 19. J a h r h u n d e r t s perfektioniert w u r d e , z u n ä c h s t auf den Bereich der privaten S t u d i e n b e s c h r ä n k t . Im f r ü h e n 20. J a h r h u n d e r t w a r e n es die D r e s d n e r K ü n s t l e r der Brücke,

die i m

Atelier den so g e n a n n t e n V i e r t e l s t u n d e n a k t , später s o g a r den F ü n f m i n u t e n akt übten, u m i h r e m D u k t u s S p o n t a n e i t ä t anzutrainieren. 1 1 Seit den 5 0 e r J a h r e n des 20. J a h r h u n d e r t s blieb die S p o n t a n e i t ä t der Bildherstellung nicht m e h r allein auf den ablesbaren D u k t u s e i n e s fertigen Bildes b e s c h r ä n k t . V i e l m e h r d r a n g e n t e c h n i s c h e B i l d m e d i e n in das Atelier ein, u m in i h r e n A u f z e i c h n u n g e n den M a l a k t selbst z u d o k u m e n t i e r e n u n d f ü r ein a n a n o y m e s P u b l i k u m miterlebbar z u machen. 1 2 D a m i t schien m a n dem W e s e n k ü n s t l e r i s c h e r S c h ö p f u n g in b i s l a n g u n e r r e i c h t e r Weise n a h e zu k o m m e n . I n d e m M a t h i e u live vor e i n e m g r o ß e n P u b l i k u m malte u n d w e d e r S t u d i e n n o c h V o r z e i c h n u n g e n für seine Malerei nutzte, k o n n t e n seine M a l a u f f ü h r u n g e n als I n b e g r i f f von Spontaneität u n d Authentizität v e r s t a n d e n w e r d e n (Abb. 2). M a t h i e u s a u f diese W e i s e e n t s t a n d e n e n G e m ä l d e w e r t e t e n K u n s t k r i tiker d a h e r als S p u r seines » s c h ö p f e r i s c h e n Zustands«. 1 3 In den folgenden J a h r e n w i e d e r h o l t e der K ü n s t l e r v e r g l e i c h b a r e A u f f ü h r u n g e n seiner M a l e r e i vor b e a c h t l i c h e n Z u s c h a u e r m e n g e n in einer V i e l z a h l von Städten, so e t w a in S t o c k h o l m , Tokio 14 o d e r L o n d o n .

2.

Georges Mathieu: Öffentliche Malaktion in Japan, 1957

48 MONIKA WAGNER

Öffentlichkeit Mit dem öffentlichen Malakt, der an nahezu beliebigen Orten stattfinden konnte, büßte das Atelier seine für das Verhältnis von Publikum und Werk lange Zeit wirksame Bedeutung als geheimnisumwitterter Ort ein. Indem sich die Herstellung des Bildes aus dem Atelier in mehr oder weniger öffentliche Räume oder Medien verlagerte und in Anwesenheit von Zuschauern vollzog, veränderte sich das Geheimnis der Kunstschöpfung. Damit aktualisierte sich das Interesse an der alten Frage, worin eigentlich der schöpferische Akt bestehe, ob die Materialisierung der Idee, das heißt die Realisierung des Werks das Entscheidende sei, oder die zugrunde liegende Idee. Den Disput hatte schon Gotthold Ephraim Lessing in dem Trauerspiel Emilia Galotti zugespitzt und den Maler Conti darüber sinnieren lassen, ob nicht Raffael selbst dann der größte Künstler bliebe, wenn er ohne Hände geboren worden wäre.15 Die heftigen Debatten um Mathieus Malakte berührten die Frage, ob der schöpferische Akt trotz all der gefechtsähnlichen Aktionen und der theatralischen Luftsprünge des Künstlers bei der Herstellung seiner Bilder in einem solchen letztlich repetitiven Schaumalen entweiht werde, oder ob er davon völlig untangiert bleibe, weil er jenseits der Ausführung liege und visuell grundsätzlich unzugänglich sei. In dem Maße, in dem sich im 19. Jahrhundert die Freilichtmalerei etablierte, hatten Künstler zwangsläufig vor dem Motiv in der Öffentlichkeit gearbeitet und ließen sich auch von gaffenden Bauern und Kindern nicht abschrecken (Abb. 3). Da die Arbeit im Freien jedoch in aller Regel nur einen Teil der künstlerischen Werkschöpfung ausmachte, Überarbeitung und »fini« aber weiterhin im Atelier stattfanden, blieb die Vorstellung vom Atelier als einem magischen Ort erhalten, der in der europäischen Tradition keineswegs immer unzugänglich war. Wir wissen z. B. von fürstlichen Auftraggebern, die den Maler - ähnlich wie Alexander der Große den berühmten Apelles - in der Werkstatt besuchten. Auch der spanische König Philipp IV. soll im Alcázar gerne seinem ersten Hofmaler, Diego Velázquez, beim Malen zugesehen haben. Der Besuch des Herrschers im Atelier wertete die Tätigkeit des Künstlers auf und das Zuschauen bei der Arbeit demonstrierte wohl auch, dass die Kunst nicht als niederes Handwerk verstanden wurde. Es war im höfischen Milieu vor allem der fürstliche Auftraggeber, der als Initiator oder Adressat und als künftiger Besitzer des Werks dieses Vorrecht genoss, dessen Kehrseite die potentielle Kontrolle über die Kunstschöpfung war. Außerhalb des Hofes waren zwar Besuche in der Werkstatt, der bottega, üblich, aber wohl kaum in dem zumindest im 16. Jahrhundert in Italien als davon getrennt verzeichneten studio.16 Schon die allenthalben gepflegte Rivalität der Künstler untereinander sorgte dafür, dass das Entstehen des Kunstwerks vor den Blicken potentieller Rivalen abgeschüttet und das Werkstattgeheimnis gewahrt blieb. Dies verstärkte sich einerseits mit dem sogenannten »Ausstellungskünstler«, der nicht mehr im Auftrag von Kirche oder Hof, son-

49 DER KREATIVE AKT ALS ÖFFENTLICHES EREIGNIS

3.

Philipp Kester: Malerin

1906, Fotografie,

Fotomuseum

im Dachauer

Moos mit »Malmädel«

im Stadtmuseum

und zuschauenden

Kindern,

München

d e m für einen anonymen Markt arbeitete und daher mehr denn je Konkurrenz oder Kritik an einem unvollendeten Werk fürchten musste. Andererseits nutzten Künstler wie Jacques-Louis David in Rom die Attraktion des Ateliers, um ihr soeben vollendetes Werk am Ort der Herstellung erstmals der Öffentlichkeit und damit sowohl der Kritik als auch potentiellen Käufern vorzuführen. Je stärker das Atelier zum Ort einsamer Schöpfung stilisiert wurde, um so stärker es also faszinierte, um so mehr konnten gesellschaftlich erfolgreiche Künstler, insbesondere die sogenannten Malerfürsten, Hans Makart in Wien oder Franz von Lenbach in München, 17 das Atelier nutzen, um ihre Werke einer privilegierten »Öffentlichkeit« gewissermaßen in einem »private view« zu präsentieren. Idealiter wurde das Atelier wie in Gustave Courbets 1855 entstandenem Gemälde zum »Treffpunkt der Welt«, für welches der selbstbewusste Künstler die zeitgenössische intellektuelle, politische und soziale Welt virtuell um seine Staffelei versammelte. 18 Realiter waren es wohl eher die Schüler, die sich in den Unterrichtsateliers, wie sie einige Künstler vor allem in Paris unterhielten, drängelten. Trotzdem hielt sich das Bild von der Abgeschlossenheit des Ateliers mit dem entsprechend einsamen, melancholischen Künstler als gängiges Klischee. Nirgendwo kommt dies pointierter zum Ausdruck als in der bereits erwähnten Balzac'schen Novelle vom »unbekannten Meisterwerk«, in der die tragische Figur

50 MONIKA WAGNER

des Malers Frenhofer sich zehn Jahre lang in ihrem Atelier eingeigelt, um ihr Meisterwerk zu vollenden. An der Öffnung seines Ateliers und damit an dessen Entmythisierung geht der Maler zu Grunde: Als das »unvollendete Meisterwerk« den Blicken zweier Künstlerkollegen preisgegeben wird, können beide kein Bild, sondern nur nebulose Unförmigkeiten erkennen. Die Vorstellung vom einsamen Künstler, der in seinem Atelier in Abgeschiedenheit von der profanen Gesellschaft an seinem Werk arbeitet und verzweifelt, war brüchig geworden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts demontierten gesellschaftspolitisch engagierte Künstler, die sich selbst als »Ingenieure« oder »Monteure« verstanden, die kollektiver Arbeit verpflichtet waren und ihre entpersonalisierte Verfahrenstechnik wie die Fotomontage, demonstrativ offen legten, den romantischen Ort vollends. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der künstlerische Schaffensprozess selbst in einem nie gekannten Maße öffentlich. Das lässt sich nicht allein bei Georges Mathieus Malaktionen nachvollziehen, auch wenn seine Liveauftritte vor Tausenden von Zuschauern quantitativ unübertroffen bleiben sollten.

Medien Die öffentlichen Malperformances Mathieus und anderer zeitgenössischer Künstler sind indessen nicht unabhängig von einer medientechnisch vermittelten Öffentlichkeit entstanden, 19 durch die ein anonymes Publikum seit Anfang der 50er Jahre schlagartig am Schöpfungsprozess der berühmtesten Künstler der Gegenwart teilnehmen konnte: Wenige Jahre vor Mathieus Malperformances waren die Arbeitsweisen von Pablo Picasso und Jackson Pollock durch stark beachtete Fotos und Filme öffentlich bekannt geworden. Charakteristisch ist, dass die Fotos und Filme im Unterschied zu früheren Fotos von Künstlerateliers weniger den besonderen Ort als die mehr oder weniger bizarre oder inspirierende Umgebung des Künstlers zeigen, auch nicht die schöpferische Pause inszenieren oder Vorbild und Abbild gegenüber stellen, sondern sich auf die Bildherstellung als einen schnell verlaufenden, spontanen Prozess konzentrieren, den sie dokumentieren. Den Auftakt bildete Gjon Milis berühmtes Foto von 1949, das Picasso beim Zeichnen eines Minotaurus mit einer Taschenlampe statt eines Pinsels zeigt (Abb. 4). Das ungewöhnliche Foto erschien im selben Jahr im Magazin Life. Die in die Luft, gewissermaßen ins Nichts gezeichnete Figur manifestierte sich durch die Bewegung der Hand als ephemere Lichtspur. 20 Mit dem Licht gewann die Linie, der in der Kunsttheorie seit der Renaissance höchste Affinität zur materielosen Idee zugesprochen wurde, ein kongeniales Medium. Diese Bewegung in der Zeit verdichtet sich erst im fotografischen Bild, dem sogenannten Luminogramm, zu einer zusammenhängenden Zeichnung. Im Foto wird etwas sichtbar, das während des Herstellungsprozesses zu keinem Zeitpunkt zu sehen war, sondern von der Aufzeichnung des Malprozesses durch die Langzeitbelichtung herrührt, also nur im Medium der Fotografie

51 DER KREATIVE AKT ALS ÖFFENTLICHES EREIGNIS

4.

Gjon Mili: Pablo Picasso

malt einen Kentaur mit der Taschenlampe, Töpferei von Vailauris, 1949, Fotografie, Musée Picasso, Paris

existiert. H i n z u k a m die Blitzlichtaufnahme, die erst z u m Schluss des Malakts den Künstler sichtbar machte. 2 1 Ein Jahr n a c h d e m Milis Foto von Picassos Lichtzeichnung in Life veröffentlicht worden war, entstanden H a n s Namuths legendäre Fotoserien von Jackson Pollocks Arbeitsweise. Sie w u r d e n in Pollocks Atelier, einem Holzschuppen in N e w H a m p t o n auf Long Island aufgenommen, der allen E r w a r t u n g e n an das abgelegene, e i n s a m e Atelier des Künstlers entsprach. Obwohl Namuth auch den Ort dokumentierte, stand nicht der Bau oder der Raum, sondern Pollocks ungewöhnlicher Prozess der Bildherstellung im Zentrum. Er wurde in der Folgezeit durch die Veröffentlichung einer kleinen Auswahl von N a m u t h s Fotos z u m S y n o n y m für die neue a m e r i k a n i s c h e Malerei (Abb. 5). Zuerst machte Robert G o o d n o u g h s Artikel »Pollock paints a picture«, der von sieben der zirka 500 Namuth-Fotos begleitet w u r d e und 1951 in erschien, Pollocks Arbeitsprozess in der Kunstwelt bekannt. 2 2

Artnews

52 MONIKA WAGNER

5. HansNamuth: Jackson Pollock bei der Arbeit an »Autumn Rhythm«, 1950

Während die Fotos den Malakt als spontane Aktion zeigen, bei der Pollock Farbe in weit ausholender Geste oder schneller Bewegung, die das Foto durch Unscharfe markiert, auf die am Boden ausgebreitete Leinwand schleudert, weist Goodnoughs Text mehrfach auf die vorausgehenden langwierigen Planungen Pollocks hin. »A Pollock painting is not born easily, but comes into being after weeks, often months of ... thought. At times he paints with feverish activity, or again with slow deliberation.« 23 Während also die Fotos alles daran setzen, dem nahe zu kommen, was als kreativer Akt verstanden wurde, weist der Text darauf hin, dass die Bildherstellung nicht alles sei und die Genese des Bildes ganz woanders liege. Doch fortan waren Namuths Aufnahmen der aktionistischen Werkentstehung nicht mehr von Pollocks Gemälden zu trennen. Werk und Künstler schienen zu verschmelzen. In der Wahrnehmung dieser Fotos löste die Aktion das Werk ab. Im Jahr darauf prägte der einflussreiche New Yorker Kritiker Harold Rosenberg - in Kenntnis der Namuth-Fotos - den entsprechenden Begriff der American-action painters für die New York School, der sofort zum Schlagwort avancierte und speziell für die Rezeption von Pollocks Malerei maßgeblich wurde.

53 DER KREATIVE AKT A L S ÖFFENTLICHES EREIGNIS

1950 dokumentierte Hans Namuth Pollocks Arbeitsweise darüber hinaus auch in zwei Filmen, für die der Künstler auf einem gläsernen Bildträger arbeitete (Abb. 6). Um dem Werkprozess möglichst nahe zu kommen, wurde eine flache Kiste gebaut, auf der anstelle der Leinwand eine Glasplatte zu liegen kam, so dass die Kamera den Arbeitsprozess von unten aufnehmen konnte. Durch diese Perspektive entstand nicht nur ein ungewohntes Gegenüber, sondern auch eine eigenartige Nähe von Kameraauge und Künstler, scheint doch die Kameralinse selbst an die Stelle des transparenten Trägermaterials zu treten. Glasplatte, Kamera und Betrachterauge schnurren gewissermaßen zu einer Ebene zusammen, so dass die Farbe von oben direkt auf den Betrachter zu fallen scheint eine nicht immer komfortable Situation. Zurecht hat Barbara Rose auf den ungeheuren Einfluss aufmerksam gemacht, den die mediale Vermittlung des Herstellungsakts von Pollocks Bildern auf die jüngere Künstlergeneration ausübte: Namuths Fotografien erreichten nicht allein in den USA, sondern auch in Europa oder Japan praktisch jeden Kunststudenten, selbst wenn er noch nie ein Pollockgemälde gesehen hatte. 24 Zugleich erhielten die Gemälde durch die Aufnahmen ein Interpretativ: Es waren maßgeblich diese Fotos und Filme, die Pollock weltweit zum action painter werden ließen. Nicht das Atelier als Ort, nicht das vollendete Werk, sondern der Malakt selbst wurde dadurch für ein anonymes Publikum zum künstlerischen Ereignis. Man schien so nah am Geheimnis künstlerischer Schöpfung zu sein wie nie zuvor. »Plötzlich«, so beschrieb Rose die damit einhergehenden Veränderungen, »waren das Geheimnis und das Rätsel des Schöpfungsaktes [...] für alle sichtbar. Es war, als ob Stammesgeheimnisse zum ersten Mal gelüftet würden, als die breite Öffentlichkeit zum Zeugen heiliger Riten wurde,

6. HansNamuth ami Paul Falkenberg: Jackson Pollock malt »Number 29« auf Ciaf, Ì 950, Fihnausfclmitt

54 MONIKA WAGNER

zu denen sie nie zuvor zugelassen war.«25 Fortan wurde - wenn es um Pollock ging - häufiger vom Malakt, vom action painting oder vom dripping gesprochen als vom Ergebnis, dem fertigen Bild. Namuths Filme wurden zwar nicht so populär wie seine Fotosequenzen. Doch in der Nachfolge entstanden eine Reihe weiterer Künstlerfilme, die ebenfalls die spontane Arbeitsweise berühmter Maler einzufangen suchten - allen voran Henry-Georges Clouzots Le Mystère de Picasso aus dem Jahr 1955. Der abendfüllende Film, der im Jahr darauf beim Filmfestival in Cannes den Jurypreis erhielt, wurde zumindest in der europäischen Presse ausgiebig gefeiert. Obwohl er in einem Filmstudio in Nizza gedreht wurde, suggeriert der Film den Einblick in Picassos Atelier und damit ins Allerheiligste und zwar so, als würde der Betrachter heimlich zum Zeugen. Denn er steht über lange Passagen hinweg sozusagen hinter dem in der Totalen gezeigten Bild, an dem der Künstler arbeitet. Aber im Unterschied zu dem im Atelierbild verbreiteten Motiv der abgewandten Leinwand, das dem Betrachter das entstehende Werk vorenthält,26 besteht der Bildträger in Clouzots Film aus einem präparierten, beim Zeichnen mit farbigen Stiften transparent werdenden Trägermaterial. Dadurch wird der Werkprozess durch den Träger hindurch - der Glasplatte in Namuths Pollock-Film vergleichbar - in Realzeit sichtbar. Da bei diesen Einstellungen nur die entstehende Figuration, nicht aber der Künstler zu sehen ist, scheinen sich die Bilder wie durch magische Kräfte von selbst herzustellen und unentwegt neu zu formen.27 Am 28. Mai 1956 fand im Pariser Théâtre Sarah-Bernardt Georges Mathieus eingangs erwähnte, erste öffentliche Malperformance statt - gut drei Wochen nachdem Clouzots Picasso-Film Le Mystère Picasso am 5. Mai in Cannes gefeiert und ausgezeichnet worden war. In dieser zeitlichen Nähe und in Anbetracht der medialen Innovation, die das Fernsehen in Europa bedeutete, musste Mathieus Malaktion im Fernsehen als Überbietung des Altmeisters Picasso erscheinen. Nach dem großen Erfolg mit dem Picasso-Film plante Clouzot zusammen mit Yves Klein einen weiteren Film, doch kam dieser nicht mehr zustande. Stattdessen begann Klein 1958 ebenfalls mit der Herstellung von Kunstwerken, den sogenannten Anthropometrien, vor Galeriepublikum. 1960 fand die legendäre öffentliche Aufführung vor rund einhundert Besuchern in der renommierten Galerie Internationale d'Art Contemporaine in Paris statt (Abb. 7), die von einem neunköpfigen Orchester, das die »Symphonie Monotone« spielte, begleitet wurde. Mit seinen Körpervermessungen (Anthropometrien) führte Yves Klein seine neue Bildidee der Körperabdrucke vor. Wie bei Pollock die Leinwand lag der Bildträger, in Kleins Fall das Papier, flach auf dem Boden der Galerie. Doch weiter noch als Pollock mit seinen Drippings hat sich Klein vom direkten Kontakt mit der Leinwand distanziert und stattdessen die blau eingefärbten Körper weiblicher Modelle als »lebende Pinsel« auftreten lassen. Der Künstler trat somit eher als Regisseur denn als Maler auf.

55 DER KREATIVE AKT ALS ÖFFENTLICHES EREIGNIS

7.

Yves Klein: Anthropometrie-Vorfiihrung,

rain, 9. März

Paris, Galerie International

d'Art

Contempo-

I960

K l e i n s e l b s t b e s c h r i e b d i e A u f f ü h r u n g f o l g e n d e r m a ß e n : »Ich b e s c h m u t z t e m i c h n i c h t m e h r m i t d e r F a r b e , n i c h t e i n m a l d i e F i n g e r s p i t z e n . Vor m i r u n d u n t e r m e i n e r L e i t u n g v o l l e n d e t e s i c h d a s W e r k in Z u s a m m e n a r b e i t m i t d e m M o d e l l . Ich k o n n t e d a s W e r k b e i s e i n e r G e b u r t in d e r f a s s b a r e n W e l t w ü r d i g i m S m o k i n g b e g r ü ß e n . « 2 8 D a s h e i ß t , d i e k o n k r e t e B i l d h e r s t e l l u n g ist n i c h t n u r s t r e c k e n w e i s e o p t i s c h , w i e in C l o u z o t s P i c a s s o - F i l m , s o n d e r n a u c h p h y s i s c h v o l l s t ä n d i g v o n d e r H a n d a r b e i t d e s K ü n s t l e r s a b g e k o p p e l t , so d a s s er s e i n e m W e r k n i c h t w i e e i n a r b e i t e n d e r M a l e r , s o n d e r n leicht w i e e i n Z a u b e r e r , o d e r w i e d e r deus artifex,

g e g e n ü b e r t r e t e n k o n n t e . »Mit d i e s e r D e m o n s t r a t i o n , o d e r

b e s s e r T e c h n i k « , so f o r m u l i e r t e Y v e s K l e i n s e i n A n l i e g e n , »wollte ich d a s V e l u m , d e n T e m p e l s c h l e i e r d e s A t e l i e r s n i e d e r r e i ß e n (und) n i c h t s v o n d i e s e m Vorgang verborgen halten.«29Das Offenlegen der Werkherstellung erschien i h m n i c h t als E i n b u ß e , s o n d e r n sie d i e n t e e b e n s o w i e d a s V e r m e i d e n v o n H a n d a r b e i t d e r S t e i g e r u n g s e i n e r O r i g i n a l i t ä t . Vor a l l e m w a r d a s sich s e l b s t realisierende Werk geeignet, Yves Kleins Kunst idealiter im Reich des »Immateriellen« anzusiedeln. D a s s i c h in a l l e r Ö f f e n t l i c h k e i t v o n s e l b s t e r e i g n e n d e W e r k w a r a u c h d a s Ziel d e s m i t K l e i n b i s z u d e s s e n f r ü h e m Tod g u t b e k a n n t e n , a l l e r d i n g s m i t ganz anderen Materialien und anderen Anordnungen arbeitenden Skulpteurs C é s a r . N a c h v i e l e r l e i a n d e r e n E x p e r i m e n t e n stellte C é s a r seit 1967 so g e n a n n te Expansionen

a u s K u n s t s t o f f her, o d e r b e s s e r g e s a g t , er ließ v o r w e c h s e l n d e m

G a l e r i e - u n d M u s e u m s p u b l i k u m d r e i d i m e n s i o n a l e W e r k e e n t s t e h e n (Abb. 9). D a f ü r n u t z t e er d i e P o l y m e r i s i a t i o n v o n K u n s t s t o f f e n , e i n V e r f a h r e n , d a s d e r C h e m i k e r O t t o B a y e r 1937 e n t w i c k e l t h a t t e , d a s a b e r erst seit d e n 5 0 e r J a h r e n für die Produktion von Gebrauchsgütern populär w u r d e und bis heute der

9. César: Öffentliche

Aufführung

einer Expansions,

Tate Gallery, London,

1960

57 DER KREATIVE AKT ALS ÖFFENTLICHES EREIGNIS

Fabrikation zahlreicher Alltagsgegenstände dient. Die Polyurethane, sich ausdehnende und in kurzer Zeit (etwa 5 Minuten) erhärtende Schaumstoffe, entstehen aus dem Zusammengießen zweier Flüssigkeiten, einem Diol und einem Isocyanat. Das verblüffende Verhalten der Flüssigkeiten, die Veränderung ihres Aggregatzustands und ihr überraschendes »Wachsen«, hatte schon Bayer 1937 zur Demonstration der Potentiale seiner Erfindung polymerisierender Kunststoffe genutzt (Abb. 8).30 Den faszinierenden Experimenten mit der so genannten Pharaoschlange aus Zucker und Natron nicht unähnlich, die im 18. und 19. Jahrhundert in keinem der Experimentier- und Zauberbüchlein fehlen durften,31 schien sich hier das schier Unmögliche unter der Hand eines über geheimes Wissen verfügenden Magiers zu ereignen: Eine Substanz generierte sich allem Anschein nach selbst. Vor aller Augen entstanden bei Césars Expansionen also nicht allein eigentümliche, sich aus dem Materialverhalten ergebende Kriechformen, sondern vor aller Augen entstand auch ein neuer, expansiver Stoff. Obwohl viele dieser Expansionen nicht als dauerhaftes Werke erhalten blieben, sondern die Herstellung als Aufführung oder Performance, figurierte, während die Kunststofformen von den Zuschauern zerteilt und als Souvenir mitgenommen werden konnten, wurden sie insgesamt überraschend positiv aufgenommen. Césars Expansionen führten sogar zu poetischen Vergleichen mit der Gestaltungskraft der Natur: »In wenigen Momenten sucht unter den Augen aller das wachsende Werk [...] seine Schönheit wie die Pflanze ihre Form, indem es wie das Samenkorn wunderbarerweise über sich selbst hinauswächst.«32 Damit erschien trotz aller Öffentlichkeit die Werkherstellung, die gemeinhin als kreativer Akt galt, vom Künstler abgekoppelt und der Produktivkraft der Chemie oder der Natur überantwortet. Das öffentlich hergestellte Kunstwerk bezog seinen Aufmerksamkeitswert zwar auch weiterhin vom Atelier als einem traditionell abgeschirmten Ort der künstlerischen Produktion. Doch mit der Veröffentlichung der Werkherstellung begann sich die Aufmerksamkeit vom abgeschlossenen Kunstwerk auf den Prozess der Produktion zu verlagern und sogar an dessen Stelle zu treten. Der Weg öffnete sich in Richtung Happening und Performance, Kunstformen, für die das Atelier keine Rolle mehr spielt, weil Werk und Herstellungsprozess tendenziell zusammenfallen.

1

Das Kunstwerk, April 1959, S. 20.

lomäusnacht«, gemalt. F. Roh: Über Mathieu, in:

2

M. Böhler: Poeta Absconditus. Zu Goethes

Das Kunstwerk,

Gedicht Wiederfinden

April 1959, S. 18-30. 1958 und

- von Hofmannsthal her

1959 malte Mathieu auch für das französische

gelesen, in: Goethezeitportal.URL: http.www.

Fernsehen, s. Ausst.-Kat.: Mathieu, Musée d'Art

goethezeitportal.de/db/wiss/goethe/wieder

Moderne de la Ville de Paris, 1963, Chronologie,

finden_boehler.pdf (11.05.2009).

O.S.

3

Anlässlich der Ausstellung in der Galerie

4

Die Künstlernovelle erschien 1831 unter

Schmela in Düsseldorf wurde »auf Bitte des

dem Titel Le chef d'oeuvre inconnu in der Zeit-

deutschen

schrift L'Artiste.

Fernsehens

vor

Zuschauern

ein

riesenhaftes Bild«, »Die Massaker der Bartho-

58 MONIKA WAGNER

5

A. Domm: Der »klassische« Hans von Marées

und die Existenzmalerei

Anfang des 20.

Jahrhun-

derts, München 1989, S. 19-22.

Vgl.: E. Mongi-Vollmer: Das Atelier des Ma-

des 19. Jahrhunderts,

6

Mathieu 1959 [wie Anm. 1], S. 20.

7

G. Mathieu: D'Aristote à l'Abstraction Lyri-

que (1959), in: Ders.: De la révolte à la

18

renaissance,

Hälfte

Berlin 2004, S. 206-211.

K. Herding: Das Atelier des Malers -

Treffpunkt der Welt und Ort der Versöhnung, in: Ders.: Realismus als Widerspruch.

Die

Wirklichkeit

in Courbets Malerei, Frankfurt 1978, S. 223-247.

Paris 2 1972, S. 213. 8

Mathieu 1959 [wie Anm. 1], S. 20.

9

Vgl.: E. Kris und O. Kurz: Die Legende

Künstler. Ein geschichtlicher

17

lers. Die Diskurse eines Raums in der zweiten

19

vom

Versuch, Frankfurt/M.

1980, S. 126-130 zu Hokusai und weiteren Beispielen.

C. A. Jones: Machine in the Studio.

ting the Postwar American

Construc-

Chicago und

Artist,

London 1996. 20

M. Klant: Künstler bei der Arbeit von Foto-

grafen gesehen, Ostfildern-Ruit 1995, S. 164f.

R. R. Brettell: Painting as performance: Spon-

21

Klant 1995 [wie Anm. 20], S. 165.

taneity and its appearance in painting... in: Im-

22

R. Goodnough: Pollock paints a picture,

10

pression. Painting quickly in France 1860-1890, New Haven, London 2000, S. 28-67. 11

S. Miihlenberend:

Vom Stillstand

zum

in: Art News 50, Nr. 3, Mai 1951, S. 3 8 - 4 1 , 6 0 f . 23

Goodnough 1951 [wie A n m . 22], S. 40.

24

Vera Wolff danke ich für den Hinweis auf

Leben. Die Herkunft des >ViertelstundenaktesHausarbeiten< befinden, gebe ich vor, Annette Messager Sammlerin zu heißen. Im >AtelierAtelierarbeiten< befinden, nenne ich mich Annette Messager Künstlerin.«29 Im Rahmen der Installation Les pensionnaires von 1971-72, die sich heute im Centre Pompidou befindet, entstand eine Handzeichnung, die dieses Atelierkonzept aus der Vogelperspektive visualisiert (Abb. 5). Anstelle des Topos der malerischen Unordnung, von der in der zitierten Äußerung noch die Rede war, tritt bei Annette Messager in der Zeichnung eine akribische Ordnung. Diese Skizze war der Künstlerin äußerst wichtig, sie wurde zusammen mit der Installation ausgestellt und wiederholt in Katalogen reproduziert. 30 Der

81 BESETZEN, A B W A N D E R N , AUFLÖSEN ...

j LES,

TAAVAUt Q£ LA CHAMBRE

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noch mehr aus sich heraus zu holenverstricktverlassen< worden sei, in ironisierter Form zurückkehre. 24 Rhoades' Installation ging von einer ähnlich absurden Überlagerung von disparaten Kontexten aus wie Kippenbergers Spiderman-Bezug auf Matisse: An der Wand hingen Fotografien, die das Pariser Atelier des Bildhauers Brâncuçi als Raumkunstwerk aufgriffen und mit der von Rhoades' Bruder bewohnten Garage auf dem elterlichen Grundstück in Verbindung brachten. Neben einer Aufreihung verschiedener Materialien, Geräte und Gegenstände in ausgewiesener Entsprechung zur Anordnung von Möbeln in der Garage des Bruders, stellte Rhoades auch eine vom Bruder erfundene Maschine aus, die ununterbrochen Donuts produzierte, welche auf einer langen Stange aufgereiht wurden und dabei eine alberne Anspielung auf Brancusis Unendliche Säule bildeten. Ohne Zweifel lässt sich Caroline Jones zustimmen, dass das Atelier hier, wie bei Kippenberger, in ironisierter Form zurückkehrt. Dabei scheint es allerdings nicht nur um das von ihr so genannte »centered studio« zu gehen, sondern gerade auch um eine Veralberung der technologisierten Modelle, die Jones in ihrer Studie untersucht: Sowohl das klassische Atelier, als auch die legendäre factory von Warhol werden, nicht nur in dieser Installation von Rhoades, durch das Modell der Garage ersetzt, in welcher der Künstler zum Heimwerker wird und mit hohem technischen Aufwand und banalen Materialien sinnlose Maschinen entwirft. Dass dabei sowohl der Typus des gelehrten Künstlers und des Handwerkers als auch der Warholsche Unternehmer ironisiert werden, zeigen frühere Installationen wie Jason the Mason und Jason and Jason Entrepreneurship.25 Indem mit Jason the Mason, also dem Maurer, der Spitzname des Künstlers aufgegriffen wurde, der einem kleinen Schweinchen aus dem Kinderbuch What Do People Do All Day? entstammt, führt Rhoades in Maurerberufskleidung mit Handwerkerlatzhose und Bohrmaschine oder Mörtelkelle und Abziehbrett anstelle von Pinsel und Palette ironisch vor, was Künstler >so den ganzen Tag tun< (Abb. 6).26 Das künstlerische Machen wird hier wieder in das alte Modell der Werkstatt verlagert, die Arbeit ist eine physische und deutlich männliche, zumal der Künstler einen Venuskörper mauert, dessen Nachbearbeitung mit dem Bohrer jedweder plakativen Symbolik gerecht wird.

7. Jason Rhoades: Creation Myth, 1998, Installation, Friedrich Christian Flick Collection, Berlin

102 JULIA GELSHORN

Auch in Jason and Jason Entrepreneurship geht es unter anderem um Handwerk in einer Werkstatt, in der viktorianische Porzellanfiguren durch Ankleben von Geschlechtsorganen aus Kaugummi >repariert< werden. Diese Dienstleistung ist aber nur eine von verschiedenen, die Rhoades in einem Dienstleistungsunternehmen unter der Überschrift A honest and hard working man anbietet.27 Arbeiter, Handwerker, Manager, Unternehmer - es sind damit nicht nur die klassischen Schaffensmodelle bezeichnet, die Rhoades sich ironisch aneignet, sondern auch diejenigen, die Caroline Jones als »post-studio, post-modern« bezeichnet und die auch von Rosalind Krauss als neo-avantgardistische Taktiken des deskilling genannt werden.28 Diese Aneignung sämtlicher Künstlermodelle zur Erschaffung sinnloser Gegenstände und männlicher Fetische kulminierte schließlich 1998 in Rhoades' Arbeit Creation Myth, einer weiteren raumgreifenden Installation aus einer scheinbar chaotischen Anhäufung von Materialien, Maschinen, Möbeln, unzähligen Alltagsgegenständen und Geräten aus dem Heimwerkermarkt (Abb. 7). Die zahlreichen Gegenstände sind zu einzelnen Abteilungen zusammengestellt, die als Glieder und Funktionen eines menschlichen Körpers verstanden werden können, der wiederum metaphorisch den Prozess der Kreation als eine Art Verdauungsvorgang repräsentiert. 29 Eine zentrale Tischskulptur bildet dabei das Gehirn mit Unterabteilungen, die als »Erinnerung«, »Rebellion« oder »Unbewusstes« benannt sind. Mit dem Gehirn verbunden sind ein roter Wurm, der den Darm mit einem anschließenden Magen verkörpert und ein kleiner schwarzer Pappvulkan, der als Hinterteil kleine Rauchwolken ausstößt. Die über den Boden verteilten braunen Riesenzigarren aus dem Verpackungsmüll der angehäuften Gegenstände sind als direkte Ausscheidungen der Apparatur zu lesen. Kameras, Projektoren, Maschinen und Lichtinstallationen symbolisieren Prozesse der Wahrnehmung, Benennung und Nachahmung von Realität. Der kreative Prozess wird demnach in Creation Myth als ein Sammeln, Verarbeiten und Archivieren von Information inszeniert und mit dem »eco-system« von Einverleibung und Ausscheidung parallelisiert. 30 In einigen Teilen der Installation führt Rhoades dabei - sicherlich unbeabsichtigt - das Atelier an seinen etymologischen Ursprung zurück: Das französische Wort »astelier« heißt soviel wie »Haufen von Holzspänen« und bezeichnet demnach den Arbeitsraum des Zimmermanns. 31 Bei Rhoades repräsentieren die Holzspäne als Zerkleinerung organischer Strukturen die symbolische Verdauung von Information. Entsprechend werden auch die in der Gehirnzentrale eingehenden Bilder, zum größten Teil Pornografie aus dem Internet, zerschreddert oder auf Holzstämme geklebt und anschließend mit der Axt oder der Säge in handhabbare Holzscheite zerkleinert. Eva MeyerHermann bezeichnet die Funktion der pornografischen Bilder in der Installation als unschöne und unmittelbare Verbildlichung des Schöpfungsaktes. 32 Zugleich kann die Pornografie aber, in Verbindung zu den von Kippenberger gezeigten Rauschmitteln, auch als künstlerische Stimulanz gelesen werden,

103 THE MAKING OF THE ARTIST

die in einer Ecke sorgfältig aufgestapelt darauf warten, im wörtlichen Sinne >verfeuert< zu werden. In einer kleinen Skizze, die das Lemma »Creation Myth« in Rhoades' Volume begleitet, setzt Rhoades denn auch plakativ den Künstler nicht nur mit dem Schöpfergott gleich, sondern illustriert »creation« plakativ als eine Begegnung von »dick« und »pussy«, die wiederum mit »artist« und »work of art« gleichgesetzt werden. 33 Einerseits wird Kreativität hier durch gleichzeitige Übersteigerung und Subversion ihrer traditionellen Charakteristika als reine Potenz vorgeführt, andererseits erscheint das plumpe Spektakel zugleich als provokative Manifestation eines künstlerischen Machismus. 34 Was Caroline Jones die >ironische< Wiederkehr des Ateliers genannt hat, erweist sich demnach bei Rhoades auch als ambivalente Aktualisierung und Ausweitung des Mythos vom Atelier als eines männlich codierten Ortes. 35

Sublimierung: Das Atelier als psychischer Raum Rhoades' Lehrer, Paul McCarthy, geht insofern über seinen Schüler hinaus, als er die männliche Künstlertrope nicht nur bloßlegt und übersteigert, sondern als verschleierte Instabilität und Inkohärenz entlarvt, indem er den heroischen Künstlerkörper selbst durch infantile Hanswursterei der Lächerlichkeit preisgibt. In seiner Video-Performance Painter von 1995 zeigt McCarthy einen in einem Atelierraum mit angrenzendem Flur und Schlafzimmer herumstolpernden Künstler beim Malen großformatiger Leinwände mit ebenso großen Farbtuben und Pinseln (Abb. 8).36 Sowohl die clowneske Maskierung des Painter mit Ballonnase, Segelohren und blonder Lockenperücke, die Bekleidung mit nichts als einem Putzkittelchen und Socken wie auch das ständige, durch die Maske verfremdete Gemurmel, wie etwa »I'm a fucking painter« in Abwechslung mit einem wiederkehrenden Singsang des Namens »De Kooning« sorgen für Komik. Sämtliche Klischees des heroischen Schaffens, vor allem der amerikanischen abstrakten Expressionisten, werden auf vielfältige Weise durch den Kakao, konkret durch Senf und Ketchup gezogen, während das Video zugleich die Verstrickung des painter mit Galeristen und Sammlern thematisiert. »You may understand my actions as vented culture, vented fear«, lässt der Künstler an einer Stelle vernehmen, und tatsächlich wird hier nicht nur Kultur durchlöchert und aufgeschlitzt, sondern der Mythos des männlichen Schaffens im Atelier selbst: Die mythische Künstlerhand wird mit hysterischem Gelächter zerstört, indem der Künstler sich einen der betont künstlichen Gummifinger mit einem Beil abschlägt und sie somit als falsches Attribut und dem Künstler nicht inhärentes Requisit offenlegt (Abb. 9). Die Assoziation zur Entmannung liegt hier nicht fern, zumal die Fixierung auf das männliche Geschlecht und die Überlagerung von Pinsel, Hand und Penis in zahlreichen Szenen explizit gemacht wird. 37

104 JULIA GELSHORN

8, 9.

Paul McCarthy,

Painter, 1995, Performance/Video/Installation,

Collection

oftheRubell

Family, Miami, FL

Künstlerisches Schaffen wird von McCarthy als Sublimierung eines Triebes vorgeführt, wobei das Atelier einerseits als geschützter Raum dient, in welchem der Maler Infantilität und Obsessionen ausleben kann, und andererseits als architektonische »Körperfalle« funktioniert und zu einer Art psychischer Zwangsjacke wird, aus welcher der Künstler auszubrechen sucht.38 Anthony Vidier hat McCarthys Interaktionen mit der Architektur als das »Öffnen eines Körpers« beschrieben, bei dem die darin verschlossenen Organe und fleischlichen Begehren offen gelegt würden. 39 In diesem Sinne stellt das Atelier des Painter nicht nur den architektonischen und mythischen Rahmen für die künstlerische Schöpfung dar, sondern kann auch als der nach außen gekehrte innere Zustand des Künstler verstanden werden.40 Was bei dieser geradezu hysterischen Schändung des romantischen Ateliers zurück bleibt, ist die Verkörperung eines de-sublimierten Künstlers. Dabei geht es aber, wie verschiedentlich festgestellt wurde, nicht mehr um den avantgardistischen Tabubruch, der sich gegen die bürgerliche Moral richtet; vielmehr wende McCarthy etwa die Ernsthaftigkeit des Wiener Aktionismus in »kranken« Humor und mache sichtbar, was die patriarchale Kultur unterdrücke, um dadurch die sublimierenden Effekte der Zivilisation wieder umzukehren.41 Ein ähnlicher Effekt wird von Jason Rhoades' Installationen erzeugt, auch wenn dieser Künstler eher die große Geste bevorzugt, da die künstlerischen Prozesse, die er bloß legt, nicht nur Thema, sondern zugleich Struktur und Motor seiner Werke selbst sind. Die archivarische Praxis kippt daher mit dem

105 THE MAKING OF THE ARTIST

10.

Paul McCarthy:

The Box, 1999, Installation,

Sammlung

Hauser & Wirtìi, St. Gallen

sprichwörtlichen »kreativen Chaos< um in eine etwas banale Metapher. Auch andere Gemeinplätze des Künstlerateliers, wie der Phallozentrismus, die Dichotomie von heroisch-männlichem Schöpfer und weiblichem Objekt sowie die endlose Selbstreferenzialität des Künstlers werden zwar verhandelt und überzeichnet, aber nicht umgestürzt. Es scheint, als habe Rhoades in seinen megalomanen Installationen ein aktuelles Medium gefunden, um auf paradoxe Weise die heroische Männlichkeit fortzuführen, die Künstler wie Piero Manzoni oder Yves Klein bereits in den 1960er und 70er Jahren attackiert hatten, indem sie die modernen Tropen künstlerischer Subjektivität überzeichneten. McCarthy hingegen folgt eher den Ansätzen eines Vito Acconci, Peter Weibel oder Chris Burden, die vor allem durch kompromittierende und subversive Aktionen Aufsehen erregten. 42 Im Gegensatz zu Rhoades vermeidet McCarthy, wie Amelia Jones gezeigt hat, Subjekt-Objekt-Dichotomien und arbeitet ebenso sehr mit heroischen wie mit effeminierten Modellen des Künstlers. 43 Jones versteht daher, mit Bezug auf andere Arbeiten McCarthys, seine Infragestellung von Maskulinität als Weiterentwicklung einer feministischen Kritik und sieht McCarthys künstle-

106 JULIA GELSHORN

rische Arbeit gar als Beitrag zu einer Theorie männlicher Subjektivität, wie sie etwa von Judith Butler in ihrer Studie Körper von Gewicht entwickelt worden ist.44 In diesem Sinne repräsentiert bei McCarthy auch das Atelier nicht mehr die Rahmung, die die kohärente Identität des männlichen Genies gewährleistet, der Schaffensort wird vielmehr als falsches Attribut einer instabilen Subjektivität entlarvt. Dass aber auch Paul McCarthy gegen die ungebrochene Form der Selbstdarstellung durch das Atelier nicht gefeit ist, zeigt seine Arbeit The Box von 1995, in der er sein vollständiges Atelier mit der gesamten Einrichtung, jedem Stift und jeder herumliegenden Diskette, 1 : 1 in eine riesige Holzkiste verfrachten und anschrauben ließ, um es dann um 90 Grad zu kippen und eine authentische Momentaufnahme des künstlerischen Schaffensprozesses zu liefern (Abb. 10).45 Das derart umgestürzte Atelier kann zwar, wie es Anthony Vidier beschrieben hat, auch als eine komplexe, auf den Kopf gestellte innere Welt gelesen werden, 46 doch anders als in der psychischen Körperfalle des Painter, scheint McCarthys eigenes Atelier in The Box die Fassade aufrecht zu erhalten, die sein ödipales Alter-Ego im Painter-Video nicht in der Lage ist zu errichten. McCarthys Dokumentation seines eigenen Ateliers enthält sich demnach der radikalen Demonstration eines scheinbar obsoleten Mythos. Vor allem in Verbindung zu seinem Projekt der Brainbox, einer imaginären Architektur oder einem mentalen Raum, in dem die Atelierarchitektur explizit zum Rahmen für die künstlerischen Ideen, Erinnerungen und die Dokumentation seines Werks wird, 47 zeigt sich, dass auch in The Box das Atelier an seine traditionellen repräsentativen und symbolischen Funktionen wieder zurückgebunden wird.48 Abschließend kann festgehalten werden, dass alle vier hier behandelten Künstler in unterschiedlichem Maße das Atelier als rituelle Rahmung männlicher Künstlertropen aufgreifen. Noch expliziter als in der älteren Body Art wird in ihren Performances, Videos und Installationen das »masculine mystique« an den Ort der Schöpfung des Künstlers im doppelten Sinne gebunden. 49 Dabei eignen sich die vier Künstler sämtliche Facetten einer Maskerade des heroischen Genies an, wie sie von der feministischen und post-feministischen Kritik analysiert und dekonstruiert wurden, um sie ironisch auszuspielen oder gerade subversiv zu betonen. Doch auch wenn das romantische Atelier in ein Fitness-Studio, eine Garage oder einen Ort für private Perversitäten verwandelt, auch wenn es entweiht und als psychische Zwangsjacke entlarvt wird, enthält sich doch keiner der vorgestellten Künstler einer offenen Zelebrierung der künstlerischen Kreativität. Ironisch, wie in den Werken Kippenbergers und Rhoades', oder eher pathetisch, wie in Barneys Stunts, wird Kreation mit männlicher Kraft und Potenz gleichgesetzt und zudem mit einem rauschhaften Zustand in Verbindung gebracht, der durch Sport und Hypertrophie, durch Drogen oder durch Pornografie ausgelöst werden kann. Und auch wenn Rhoades' Creation Myth

107 THE MAKING OF THE ARTIST

n u r i r o n i s c h m i t d e r Idee v o n »God's Little A r t i s t « spielt, w i e R o s z i k a P a r k e r u n d G r i s e l d a Pollock d e n K ü n s t l e r als altro dio b e z e i c h n e t h a b e n , 5 0 m a c h t d o c h die V e r b i n d u n g z u M c C a r t h y s Brain Box deutlich, d a s s d e r M y t h o s d e s k ü n s t l e r i s c h e n K ö r p e r s als Z e n t r u m der Invention u n d die A n a l o g i e z w i s c h e n der A r c h i t e k t u r d e s G e h i r n s u n d der d e s Ateliers e b e n s o intakt sind w i e die a u r a t i s c h e W i r k u n g d e s traditionellen S c h a f f e n s o r t e s . Der >kranke< u n d b e w u s s t alberne H u m o r von McCarthys, Rhoades' und Kippenbergers Erfindungen k a n n d e m n a c h e b e n s o s e h r jenseits einer D e k o n s t r u k t i o n positioniert w e r d e n w i e B a r n e y s p a t h e t i s c h e Feier m ä n n l i c h e r L e i s t u n g s f ä h i g k e i t . E s scheint, als sei w e d e r der m y t h i s c h e S t a t u s d e s Ateliers, n o c h s e i n e Rolle als c o d i e r t e R a h m u n g v e r l o r e n g e g a n g e n - i m Gegenteil: Alle Versuche, d e n M y t h o s a u s z u h ö h l e n , z u u n t e r l a u f e n o d e r a u f z u k ü n d i g e n b e l e g e n nur, d a s s die A b s c h a f f u n g d e s Ateliers selbst e i n G e g e n - M y t h o s ist.

Ausst.-Kat. Matthew Barney. Drawing Restraint, Kanazawa (Japan), 21st Century Museum of Contemporary Art; Seoul (Korea), Leeum, Samsung Museum of Art; San Francisco (USA), San Francisco Museum of Art, 2005-2006, hrsg. von H.-U. Obrist, 2 Bde., Köln/Tokio 1987/2005. Vgl. auch N. Spector: Only the Perverse Fantasy Can Still Save Us, in: Ausst.-Kat. Matthew Barney. The Cremaster Cycle, Köln, Museum Ludwig; Paris, Musée d'art moderne de la ville de Paris; New York, Solomon R. Guggenheim Museum, 2002-2003, hrsg. von Ν. Spector, Ostfildern-Ruit 2002, S. 3-91, bes. S. 4f„ 22f.; K. Seward: Matthew Barney und die Transparenz, in: Parkett, 45 (1995), S. 61-65; M. Schaub: Visuell Hochprozentiges. Übertragung aus dem Geist der Gegenübertragung. Matthew Barneys Cremaster Cycle, in: Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips, hrsg. von M. Schaub u. N. Suthor, München 2005, S. 211-228, bes. S. 217. 1

2 Spector 2002 [wie Anm. 1], S. 4f.; Conversation by Hans-Ulrich Obrist and Matthew Barney, in: Obrist 1987/2005 [wie Anm. 1], Bd. 1, S. 87-91. 3 C. Bechtler (Hg.): Matthew Barney. Drawing Restraint 7, Ostfildern-Ruit 1995; vgl. auch K. Vossenkuhl: Matthew Barney, in: Ausst.-Kat. Die Wohltat der Kunst. Post/Feministische Positionen der neunziger Jahre aus der Sammlung Goetz, Baden-Baden, Staatliche Kunsthalle, 2002, hrsg. von R. Schumacher u. M. Winzen, Köln 2002, S. 39-43; Spector 2002 [wie Anm. 1], S. 22f.

Die Illustrationen begleiten das Interview von Hans-Ulrich Obrist und Matthew Barney und entstammen der Publikation: W. McArdle/ F. I. Katch/L. Victor: Exercise physiology: Energy, Nutrition, and Human Performance, 3. Aufl., Philadelphia 1991, S. 349, 351 u. 479; vgl. Obrist 1987/ 2005 [wie Anm. 1], S. 87 und Spector 2002, S. 4. 4

5 Vgl. Barneys Erklärungen in: Obrist 1987/ 2005 [wie Anm. 1], S. 87. 6 Matthew Barney, Diagram of THE PATH, Notes on Atletism, 1990, Tusche auf Papier, in: Obrist 1987/2005 [wie Anm. 1], S. 89; vgl. Barneys Erklärungen auf S. 88 und Spector 2002 [wie Anm. 1], S. 5f.

Spector 2002 [wie Anm. 1], S. 7. F. Bonami: Matthew Barney. The Artist as a young athlete, in: Flash Art, 25/162, Januar/ Februar 1992, S. 100-103; Spector 2002 [wie Anm. 1], S. 4-18; zu Barneys Behandlung des athletischen Körpers als Skulptur vgl. C. Bedford: Matthew Barney. San Francisco, in: The Burlington Magazine, 168/1244, November 2006, S. 797ff. Zum generellen Verhältnis von zeitgenössischer Kunst und Sport vgl. J.-M. Huitorel: La beauté du geste. L'art contemporain et le sport, Paris 2005, Kap. »Identités, mythes et récits (quand forger sa propre mythologie devient une performance)«, S. 138-165, bes. S. 140-142. 7

8

9 Zur Body Art der 1960er und 70er Jahre vgl. A. Jones: Body Art. Performing the Subject, Minneapolis und London 1998; L. Vergine: Body Art and Performance. The Body as Language, Mailand 2000.

108 JULIA GELSHORN

10 Vgl. dazu Α. Jones: Dis/playing the phallus: male artists perform their masculinities, in: Art History, 17/4,1994, S. 546-584. 11 I. Burn, The Sixties: Crisis and Aftermath (Or the Memoire of an Ex-Conceptual Artist), in: Art & Text, 1, Herbst 1981, S. 49-65. 12 R. Krauss: Der Tod der Fachkenntnisse und Kunstfertigkeiten, in: Texte zur Kunst, 20, 1995, S. 60-67. 13 C. A. Jones, Machine in the Studio. Constructing the Postwar American Artist, Chicago und London 1996. 14 D. Buren: Funktion des Ateliers [1979], in: Daniel Buren: Achtung! Texte 1967-1991, hrsg. von G. Fietzek und G. Inboden, Dresden/Basel 1995 (Fundus, Bd. 129), S. 152-167, bes. S. 153. 15 Zu den klassischen Mythen des verkannten künstlerischen Genies vgl. E. Kris und O. Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt a. M. 1980; R. und M. Wittkower: Born under Saturn. The Charakter and Conduct of Artists: A Documented History from Antiquity to the French Révolution, New York und London 1969; E. Neumann: Künstlermythen. Eine psychohistorische Studie über Kreativität, Frankfurt a. M. und New York 1986. 16 Ä. Söll und F. Weltzien: Spider-Mans Heldenmaske. Kampf um Männlichkeit im Superhelden-Genre, in: Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hrsg. von C. Benthien und I. Stephan, Köln u.a. 2003, S. 296-315. 17 Martin Kippenberger: Im Atelier, 1983, Öl auf Leinwand, 120 χ 100 cm, Daros Contemporary, Schweiz.

Vgl. dazu R. Schappert, Martin Kippenberger. Die Organisation des Scheiterns (Kunstwissenschaftliche Bibliothek, Bd. 7), Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 1998; J. Gelshorn: Keine schlechten Maler. Ethik und Ästhetik bei Martin Kippenberger und Sigmar Polke, in: Ausst.-Kat. Bad Painting Good Art, Wien, Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig 2008, hrsg. von S. Neuburger und E. Badura-Triska, Köln 2008. 18

19 B. von Bismarck: Künstlerräume und Künstlerbilder. Zur Intimität des ausgestellten Ateliers, in: Ausst.-Kat. Innenleben. Die Kunst des Interieurs. Vermeer bis Kabakov, Frankfurt a. M., Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie, 1998-1999, hrsg. von S. Schulze, OstfildernRuit 1998, S. 312-321, hier S. 314.

20 Ein Ausgangspunkt für die Beschäftigung Kippenbergers mit dem Spiderman war auch seine Faszination für die Tatsache, dass Spinnen unter dem Einfluss von Drogen andere Formen von Netzen weben; vgl. dazu M. Hermes: Spiderman-Atelier, 1996/Spiderman Studio, 1996, in: Ausst.-Kat. Nach Kippenberger/After Kippenberger, Wien, Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig; Eindhoven, Van Abbe Museum, 2003-2004, hrsg. von E. Meyer-Hermann und S. Neuburger, Wien 2003, S. 208-211, hier S. 208; R. Ohrt: Introduction, in: Kippenberger, hrsg. von A. Taschen und B. Riemschneider, Köln 2003, S. 18-28, hier S. 25-26; I. Graw: Der Komplex Kippenberger, in: Texte zur Kunst 7/26, 1997, S. 45-73, hier S. 67-68. 21 Zit. nach S. Kippenberger: Wer war eigentlich mein Bruder? in: Ausst.-Kat. Martin Kippenberger. Das 2. Sein, Karlsruhe, Museum für Neue Kunst ZKM, 2003, hrsg. von G. Adriani, Köln 2003, S. 122-148, hier S. 136. Zu Beuys, siehe C. Bodenmann-Ritter: Joseph Beuys. Jeder Mensch ein Künstler. Gespräche auf der documenta 5,1972, Frankfurt a. M. und Berlin 1975. 22 Vgl. dazu auch D. Diederichsen: Das Prinzip der Verstrickung: Kippenberger und seine Rezeptionen, in: Texte zur Kunst, 7/26,1997, S. 7583; D. Diederichsen: »Der Selbstdarsteller. Martin Kippenberger zwischen 1977 und 1983 / >SelbstdarstellerDimensions of the MindThe Artist in His Studio*: Photography, Art, and the Masculine Mystique, in: Oxford Art Journal 18/2,1995, S. 45-58; Jones 1996 [wie Anm. 13], Kap. The Romance of the Studio and the Abstract Expressionist Sublime, S. 1-59; P. Junod: L'atelier comme autoportrait, in: Images de l'artiste - Künstlerbilder, hrsg. von P. Griener und P.Schneemann, Bern u.a. 1998, S. 83-97; Bismarck 1998 [wie Anm. 19]; Mongi-Vollmer 2004 [wie Anm. 31], bes. S. 51-88; M. Gotlieb: Creation & Death in the Romantic Studio, in: Inventions of the Studio. Renaissance to Romanticism, hrsg. von M. Cole und M. Pardo, Chapel Hill und London 2005, S. 147-183. 48

49 Zum »masculine mystique« siehe Bergstein 1995 [wie Anm. 48]. Zu einer feministischen Analyse männlicher Arbeit im Atelier vgl. auch C. Duncan: Virility and Domination in Early Twentieth Century Vanguard Painting, in: Feminism and Art History. Questioning the Litany, hrsg. von N. Broude und M. D. Garrard, New York 1982, S. 293-313; L. Tickner: Men's Work: Masculinity and Modernism, in: Visual Culture: Images and Interpretations, hrsg. von N. Bryson, M. Ann Holly und Κ. Moxey, Hanover und London 1994, S. 42-82; Nead 1995 [wie Anm. 33]. 50 R. Parker und G. Pollock: Old Mistresses. Women, Art and Ideology, London 1981, bes. S. 82.

DIETMAR RÜBEL

Fabriken als Erkenntnisorte Richard Serra und der Gang in die Produktion

»Meine frühe Entscheidung, ortsbezogene Arbeiten aus Stahl zu bauen, befreite mich aus dem traditionellen Künstleratelier. Es wurde weitgehend ersetzt durch Urbanismus und Industrie. Stahlwerke, Werften und Fertigungsanlagen wurden zu meinen Ateliers.«1 Richard Serra, 1982

1. Die Moderne im Schmelztiegel Es ist lange her, seit der industrielle Herstellungsprozess von Stahl maßgeblich den Rhythmus des modernen Lebens mitbestimmte. In der so genannten Krupp-Stadt bei Essen erzeugten im Jahr 1906 über tausend Öfen, mehrere Hundert Dampfmaschinen und mehr als hundert Schmiedehämmer, darunter der berühmte, über die Grenzen der Stadt hinaus hör- und spürbare 25-Tonnen-Hammer »Fritz«, ein Szenario aus Lärm, Dampf und Feuer, unterstützt von Stahlwalzen, Lokomotiven und Signaltönen. Die Grundgeräusche der Arbeiter gingen im Dauerlärm der Maschinen unter: In den riesigen Werkshallen wirkten die Heroen der Arbeit wie Zwerge.2 Die 40.000 Arbeiter des Hauptwerks waren in über zweihundert Hallen, Werkstätten und Gebäuden tätig - an den Stahlöfen, dem Herz des Unternehmens, in den Hammerwerken und Schmieden, den Knüppel-, Blech- und Panzerplattenwalzwerken, den verschiedenen Bearbeitungswerkstätten, an den Dampfmaschinen und in der Wasserversorgung. Darüber hinaus waren tausende Angestellte in Verwaltung, Konstruktionsbüros und Laboratorien beschäftigt, die in der werksinternen Hierarchie vor den Arbeitern rangierten. »Die Stahlproduktion als Leitindustrie der klassischen Moderne verkörperten allein die Arbeiter vor den grell leuchtenden Feuerschlünden der Schmelzen«. 3 Im Mittelpunkt stehen im Folgenden die Arbeitsprozesse an den Hochöfen der Stahlindustrie, insbesondere der so genannte Schmelzfluss, und die seit den klassischen Avantgarden damit verbundene Hoffnung, dass durch die Verlagerung des künstlerischen Schaffensprozesses in die Fabriken Kunst von der Repräsentation in Demonstration umschlägt.

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Auch Künstler identifizierten sich seit den Anfängen der industriellen Revolution mit den Helden der Arbeit, den Bändigern des Elementaren, 4 und suchten die Nähe der Schmelzöfen. Diese Bildtradition der Moderne - von Joseph Wright of Derby über Adolph Menzel bis Diego Rivera in heroisierenden Gemälden verewigt - soll im Folgenden auch für den Gang in die Fabrik und die damit verbundenen fotografischen und filmischen Inszenierungen zeitgenössischer Künstler untersucht werden. Der Wechsel vom Atelier in die Fabrik wurde stets auch medial konstruiert. Und für diese visuelle Inszenierung orientierten sich Künstler nach 1960 an unterschiedlichen fotografischen und filmischen Genres. Heute sind nicht nur im Ruhrgebiet die meisten Werke der Schwerindustrie geschlossen, und auch an anderen Orten der westlichen Industrienationen verschwinden die Fabriken. Die Moderne landete im Schmelztiegel und wurde liquidiert. Berlin hat seit der Wende dreihunderttausend Industriearbeitsplätze verloren, ist eine Arbeiterstadt ohne Arbeiter; gegenwärtig bietet vor allem die Bohème der Kreativen ihre bürolosen Ideen an.5 Diese selbsternannte »Avantgarde immaterieller Arbeit« scheint nicht in der Lage, sich den eigenen Verwicklungen in die Produktionsformen und Rückgewinnungsschleifen des neuen Geists des Kapitalismus zu stellen.6 Mit dieser flüchtigen Moderne geht die Zerschlagung des Schutzpanzers einher, der »die sozialen Festkörper gegen die liquidierende Verflüssigung< sicherte«.7 Das Vaporose der Moderne - das Verdampfen »alles Ständischen und Stehenden« wie es 1848 im »Manifest der Kommunistischen Partei« von Marx und Engels heißt -, die Auflösung fester sozialer oder kultureller Strukturen im Interesse von deterritorial und mobil gewordenen Machtstrukturen ist zur Leitmetapher dieses im Grundsatz befreienden und zugleich unerträglichen Prozesses geworden.8 Deshalb kann die Arbeit von Künstlern in Hallen und Hütten der Schwerindustrie nur als ein historisches Phänomen behandelt werden - zumindest für die westlichen Industrienationen. Das heißt, die Verlagerung des künstlerischen Schaffensprozesses in die Fabrik stellt ein hoffnungslos modernes Unterfangen dar, avanciertes Wissen wird im 21. Jahrhundert an anderen Orten in Kunst transformiert. Doch wie verhält sich dieser Gang in die Produktion seit dem in den 1960er Jahren konstatierten Ende des Ateliers durch die Ausstellungskünstler,9 die ihre Arbeitsstätten in die Institutionen des Systems Kunst verlagerten? Trotz dieses Anachronismus, oder auch gerade deswegen, möchte ich am Beispiel von Richard Serra etwas von der Faszination der industriellen Fertigungsprozesse vermitteln - jener Objekte, Räume, Apparaturen und Techniken, die von der Kunst im Eisenzeitalter der industriellen Revolutionen kolonialisiert und verwandelt wurden und die selbst die Kunst transformiert und diversifiziert haben. Denn das verbindende Element in den zur Produktion von Kunst genutzten Fabriken sind die Dinge und Materialien selbst, sie verbinden die intersubjektiven Handlungen. 10 Ich möchte mich deshalb vom Mythos des Gegebenen ab- und den Dingen als Aktanten der Transformation

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von Wissen in Kunst zuwenden11 - ohne dabei die Arbeiter aus den Augen zu verlieren - und dabei auch der Frage nachgehen, woher die tradierten Vorstellungen von industriellen Vorgängen in Fabriken stammen und auf welche Weise Bilder der Rationalisierung und Verdichtung von industriellen Arbeitsprozessen von Künstlern im vorigen Jahrhundert aufgegriffen und mitbestimmt wurden. In dem Maße, in dem sich seit Beginn der 1960er Jahre der Kunstmarkt vergrößert und ausdifferenziert hat, konnten die Künstler das Atelier als obsolet erklären und in neue Institutionen einziehen 12 oder - wenn der Ausstellungsraum ebenfalls als »kulturelles Gefängnis« verstanden wurde - gleich draußen bleiben.13 Dieser Paradigmenwechsel vom konkreten Arbeitsraum Atelier zur immateriellen Ideenproduktion wurde nicht nur von zahlreichen Künstlern propagiert, am pointiertesten sicherlich von Daniel Buren und John Baldessari,14 sondern er schlug sich auch schnell in der Künstlerausbildung nieder. So beschreibt Mike Kelley die herrschende Ideologie am California Institute of the Arts in Los Angeles gegen Ende der 1970er Jahre wie folgt: »Das Studium [...] wurde >Post Studio< genannt und dem lag fraglos eine evolutionäre Annahme zugrunde: Kunst zu machen hat sich jenseits der Handarbeit zur Geistesarbeit entwickelt. Entsprechend brauchte der zeitgenössische Kunststudent kein Atelier - häufig wurde gescherzt, daß ein Atelier schon notwendig wäre, aber nur so groß, daß eine Schreibmaschine hineinpaßt.«15 Heute erscheint es selbstverständlich, dass Künstler nicht nur eine Factory unterhalten wie Andy Warhol - die seit 1974 dann bezeichnenderweise »The Office« hieß, also hielt die Schreibmaschine dort ebenso Einzug -, sondern auch, dass sie im Außendienst tätig sind: von Donald Judd, der nur zur Qualitätskontrolle in den für ihn produzierenden Metallwerkstätten erschien, über Allan McCollum, dessen wichtigste Mitarbeiterin eine Registrarin ist, die darüber wacht, dass kein Objekt versehentlich noch einmal erstellt wird, bis hin zu Damien Hirst, dessen über zweihundert Mitarbeiter zählende Firma »Science Ltd.« vertraglich nicht nur die Produktion, sondern die Installation und konservatorische Betreuung bis hin zum Remake seiner Werke übernimmt. 16 Sieht man sich jedoch die historischen Produktionsstätten von Donald Judd oder Robert Smithson genauer an, waren es keineswegs Industriebetriebe oder gar Fabriken, vielmehr produzierten sie ihre Serialität repräsentierenden Werke in kleinen hochspezialisierten Handwerksbetrieben - etwa bei »Bernstein Brothers Steel Metal« in New York.17 So betrachtet, kehren in den spezifischen Objekten von Judd die Ideen John Ruskins wieder - als ein modernistisches Arts and Crafts Movement, bei dem jedoch die historischen und sozialen Bedingungen geleugnet wurden.18 Auch Richard Serra beteuerte lange, ohne Atelier auszukommen, jedoch stellt sein Bekenntnis zur Produktion in Fabriken eine andere Haltung dar. Einen Ort der physischen Arbeit trotz allem aufrechtzuerhalten und die dort

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von verschiedenen Akteuren vollbrachten Leistungen als Umschlagplatz des künstlerischen Produktionsprozesses offen zu legen, stellt in einem solchen Kontext eine Form des Widerstands dar, und sei es auch nur in seiner einfachsten materiellen Form. Mit der Fabrik führt diese Strategie jedoch zu einem gänzlich anders strukturierten Wissensfeld, zu einem neuen Ort der Transformation von künstlerischer und gesellschaftlicher Produktion. Diese in den 1960er Jahren durchaus in bewusster Opposition zur Minimal Art und ihrer den Produktionsprozess verbergenden Objekte entwickelte Haltung erscheint in einer Zeit, in der - auch von zahlreichen Manager-Künstlern wie Damien Hirst oder Jeff Koons - die Gesetze des Marktes als einzige Realität anerkannt werden, wieder interessant: als Möglichkeit, aus den sozialen Energien des Veralteten eine Kritik an der ökonomischen Struktur der Gesellschaft zu formulieren. 19

2. Die Fabrik im Museum Für Richard Serra, der als junger Mann selbst in Stahlwerken gearbeitet hat und heute fast ausschließlich dort fertigen lässt, sind die Arbeitsspuren, die vom industriellen Herstellungsprozess künden, notwendiger Bestandteil seiner Werke. Die industrielle Arbeit ist im Schaffensprozess und darüber hinaus gegenwärtig. Dies begann mit einer Skullcracker genannten Serie am Ende der 1960er Jahre: temporäre Installationen auf dem Werkhof von Kaiser Steel, einer riesigen Stahlfabrik in Fontana, Kalifornien. Im Sommer 1969 ermöglichte das Art and Technology Program, das vom Los Angeles County Museum initiiert wurde, Serra die Herstellung einer Serie equilibristischer Skulpturen (Abb. I).20 »Skullcracker« war der Name für das fabrikeigene Wertstofflager, in dem Reste aus dem Fertigungsprozess lagerten, bevor die Metallteile wieder verarbeitet wurden. Der Künstler arbeitete unter Ausschluss der Öffentlichkeit über acht Wochen mit mehreren Angestellten des Stahlwerks zusammen und errichtete in dieser Zeit verschiedene Metallstrukturen, ohne die Teile des chaotischen »Haufwerks« miteinander zu verbinden. 21 Wie er selbst lakonisch bemerkte: »Eigentlich war es eine Ateliersituation im Werkhof eines Stahlwerks.«22 Diese »klastische Kunst«, wie Carl Andre die unverbundene Kombination unterschiedlicher Elemente einer auf dem Boden lagernden Skulptur nannte, 23 wurde mit Hilfe eines gigantischen Magnetkrans errichtet: Die zwölf Strukturen entstanden durch Schichtungen von tonnenschweren Produktionsresten wie Anstichen, Schlacke oder verworfenen Brammen und wuchsen so lange empor, bis die Konstruktionen kollabierten und einstürzten - zuvor wurden sie vom Künstler fotografisch dokumentiert. Die Verwendung industriell gefertigter Teile führte zu einer nicht-relationalen Anordnung. Kein ideelles Ganzes, sondern ein Ding neben dem anderen strukturierten diese Arbeiten. Manche dieser bedrohlichen Skullcracker-Konstruktionen wogen mehr als hundert Tonnen.24 Danach wurden die Bestandteile wieder

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2.

Richard Serra: Skullcracker, temporäre Installation mit Stahlteilen,

Kaiser Steehnill, Fontana/Kalifornien,

1969

zu S c h r o t t erklärt u n d d e m V e r w e r t u n g s p r o z e s s des S t a h l w e r k s z u g e f ü h r t und eingeschmolzen. A u f g e r u f e n w i r d bei solchen t e m p o r ä r e n Interventionen e b e n s o w i e bei den späteren, d a u e r h a f t e n Arbeiten eine A h n u n g von den m o d e r n e n Produkt i o n s b e d i n g u n g e n sowie das W i s s e n u m die G e s c h i c h t e von Technologie und Industrie. I n d u s t r i e a n l a g e n u n d S p e z i a l f i r m e n sind V o r a u s s e t z u n g dieser Kunst, die sich nicht m e h r in Ateliers, s o n d e r n nur im Z u s a m m e n w i r k e n von Arbeitern, I n g e n i e u r e n u n d M o n t e u r e n v e r w i r k l i c h e n lässt. A l l e r d i n g s unterhält auch R i c h a r d Serra, wie so viele v e r m e i n t l i c h e nonstudio-artists,

ein Atelier b e z i e h u n g s w e i s e A r b e i t s r ä u m e in M a n h a t t a n und

auf C a p e Breton Island in Kanada. 2 5 In s e i n e m Atelierhaus im N e w Yorker Stadtteil Tribeca verteilen sich die A r b e i t s r ä u m e über m e h r e r e Etagen: In d e m s e c h s s t ö c k i g e n B a c k s t e i n g e b ä u d e e n t w i r f t der K ü n s t l e r seine Werke und erstellt von H a n d , mit e i n f a c h s t e n W e r k z e u g e n , M i n i a t u r m o d e l l e im Verhältnis 1 : 1 2 aus Bleiblech. A n s c h l i e ß e n d gibt ein Assistent die K o n s t r u k t i o n s daten dieser O b j e k t e in den C o m p u t e r ein, I n g e n i e u r e b e r e c h n e n die Statik

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2. Richard Serra: Realisierimg der Serie Measurements of Time im Untergeschoss der Hamburger Kims thalle, 1996 und schließlich werden die Baupläne der gigantischen Strukturen an die ausführenden Stahlfabriken übermittelt. Mit seinen monumentalen Projekten der letzten dreißig Jahre begleitete Serra den Untergang der Schwerindustrie, manchmal erscheint er dabei wie ihr Totengräber. So zieht er - immer auf der Suche nach der optimalen Qualität - von einer Stahlfabrik zur nächsten; war es zu Anfang eine Fabrik in Hattingen im südlichen Ruhrgebiet, später im saarländischen Dillingen, so lässt Serra heute in Siegen produzieren: Steel made in Germany. Auch dieser Gang in die tiefste Provinz ist ein Zeichen für den gründlichen Strukturwandel, den das Ruhrgebiet mittlerweile durchlaufen hat. Zudem beschäftigt er heute selbst einige Facharbeiter aus mittlerweile geschlossenen Stahlwerken und unterhält gewissermaßen eine mobile Fabrik für den musealen Ausstellungsbetrieb. Diese mobile Produktionsstätte kam vor zwölf Jahren in der Hamburger Kunsthalle zum Einsatz. Für die Realisierung der Arbeit Measurements of Time wurde die Hamburger Galerie der Gegenwart im März 1996 in eine Werkhalle der metallverarbeitenden Schwerindustrie verwandelt: Tonnen von Blei, ein Schmelzofen, eine Entlüftungsanlage, Stahlplatten, Lastkräne und anderes schweres Gerät fanden im Sockelgeschoss Platz (Abb. 2). Eine über zehn Meter lange Raumkante diente an acht aufeinander folgenden Tagen als Gussform für mächtige Bleiwinkel. 26

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Von 1968 bis 1970 realisierte Serra einige temporäre Bleischüttungen, die auf spektakuläre Weise die bis dahin noch gültigen Kategorien der Skulptur attackierten - etwa im New Yorker Warehouse von Leo Castelli, dem Atelier von Jasper Johns oder für die Berner Ausstellung When Attitudes Become Form.27 Für das Remake dieser legendären Splashings wurde das im Schmelzofen auf weit über den Schmelzpunkt von 327 Grad Celsius erhitzte Bleischrot von Serra in einer eisernen Gusskelle in flüssigem Zustand gegen die Raumkante von Wand und Boden geschleudert. So diente das Museum als Gussform für eine zur Formlosigkeit tendierende Materialschüttung. 28 Der Künstler warf nach und nach jeweils einen Liter - also etwa zehn Kilogramm - des glühendheißen Schwermetalls in den Raumwinkel. Nach ihrem Erstarren wurde die amorphe Masse immer wieder auf die Höhe von etwa fünfzig Zentimetern begrenzt. Der erkaltete, drei bis vier Zentimeter starke Winkel wurde aus der Raumkante gelöst, mit Hebewerkzeugen gekippt und im Raum platziert. Diese Prozedur wurde fünfmal wiederholt. Der letzte der fünf Metallwinkel bleibt allerdings in seiner ursprünglichen Position fest mit dem Raum verschmolzen; das flüssige Blei hat sich tief in den Boden des Museums eingebrannt. Etwa zwei bis drei Tonnen wiegt ein einzelner Bleiwinkel der Arbeit, die gesamte Installation also weit über zehn Tonnen. Serra benannte die Plastik nach den Mitarbeitern seiner mobilen Fabrik, die ihn bei der Schwerstarbeit unterstützt hatten. Und so lautet der vollständige Titel Measurements of Time: (Seeing is Believing) Marius Dietrich, Ernst Fuchs, Heinz Klettke, Andreas Krueger, Gunter Maria Kokk, Jochen Möhle.29 Die Hamburger Arbeit geht - wie erwähnt - auf die Anfänge Serras zurück. Auch solche Re-Enactments werden jenseits des Ateliers vorgenommen und der museale Kontext in eine Fabrik verwandelt - Werkstatt, Museum und Metallschmelze werden für eine Woche eins. Waren die frühen Bleischüttungen wie die Skullcracker-Arbeiten temporäre Installationen, die nach den jeweiligen Ausstellungen wieder eingeschmolzen wurden, sind die Wiederaufnahmen dieser Werkserie für die museale Ewigkeit bestimmt. Könnte die Hamburger Arbeit in ihrer Ortsbezogenheit noch als konservierte Werkstatt, im Sinne des klassischen Ateliermuseums mit individuellen Spuren beschrieben werden, so ist es bei der Verlagerung des künstlerischen Produktionsprozesses in Stahlwerke nicht mehr möglich, die entstandenen Arbeiten als Produkt eines Einzelnen zu verstehen. Sie sind Resultat eines kollektiven Werkprozesses, bei dem - so Serra - neun Zehntel des Werks von anderen erstellt werden.30 Diese Arbeiten - wie die Orte der Produktion - können nicht unter dem Namen eines Einzelnen als kunstvoller Rest musealisiert werden. Mit der strategischen Offenlegung der Arbeitsprozesse in Stahlwerken ist ein Darstellungsproblem verbunden: Die visuelle Repräsentation von Fabriken einerseits und die damit einhergehenden Vorstellungen vom Geschehen in Fabriken andererseits. Oder als Frage formuliert: Woher stammen unsere Vorstellungen von Fabriken und industriellen Arbeitsabläufen? Handelt es sich um Vorstellungsbilder oder fotografische Abbilder einer Realität?

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3. Seite aus dem Bu eh La Mormaire von Richard Serra und Dirk Reinartz, Düsseldorf 1997

Waren Richard Serras frühe Versuche, der Skulptur einen neuen Ort zu geben - die er in den 1990er Jahren für Hamburg, aber auch in Tilburg oder San Francisco wiederholte - , noch an den menschlichen Körper gebunden, so verlor der Künstler in den riesigen Produktionsstätten der Metallindustrie immer mehr die Relation zu menschlichen Proportionen und Maßen, ob gewollt oder ungewollt. Der technische Aufwand in der Produktion und die gesteigerte Komplexität der Arbeitsschritte waren seit Mitte der 1970er Jahre an den Skulpturen nicht mehr nachzuvollziehen, deshalb wurden die Fabriken selbst zum Bestandteil der künstlerischen Produktion. Das heißt, die jahrhundertealte Tradition von Gießereien oder anderen spezialisierten Werkstätten der Metallurgie wird offen gelegt: Fotografien und Filme dokumentieren den arbeitsteiligen Herstellungsprozess der metallenen Ungetüme. Doch birgt eine »Phänomenologie der Produktion«, wie Benjamin H. D. Buchloh sie genannt hat, ihre Tücken. 31 Dieser Punkt betrifft auch das (eigene) kunsthistorische Vorgehen, da fast alle Bilder der Arbeit in Fabriken, also vom Entstehungsprozess der Skulpturen, von Serra selbst beziehungsweise von Fotografen, mit denen er eng zusammenarbeitete, stammen. Dies wird besonders an den durch Dirk Reinartz aufgenommenen Bildern deutlich. Der Künstler

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wird dabei im Stil der ihm eigenen Ästhetik porträtiert. Dies war sicherlich schon immer ein zentrales Anliegen von Atelierdarstellungen, 32 doch geben Serra und seine Fotografen vor, die Arbeitsbedingungen in den Fabriken lediglich zu dokumentieren. Obwohl sich die Aufnahmen um Nüchternheit und Distanziertheit bemühen, werden Fabriken, Arbeiter und Maschinen durch die Fotografie in die künstlerische Gesamtproduktion überführt - ja gewissermaßen kolonialisiert (Abb. 3). Diese Einblicke legen nicht nur Zeugnis ab von den Arbeitsräumen und Arbeitsabläufen der Fabriken, sondern in ihnen mischt sich die Kategorie des Dokumentarischen mit Aspekten der Inszenierung und Repräsentation. Bei dieser Aneignung durch das Primat der schwarzweißen Dunkelkammerkunst verwandeln sich Räume und Arbeiter der Schwerindustrie widerstandslos in grafische Blätter. Allein durch den kompletten Ausschluss von Farbe wird aus jedem Serra-Foto eine Serra-Grafik, aus jedem Ausstellungskatalog ein Künstlerbuch, aus jeder Werkshalle eine Serra-Fabrik, aus jedem Arbeiter ein Serra. Doch bei aller Kritik: Serra vermeidet es, die Fabriken dem traditionellen Modell des Ateliers zu unterwerfen, er zeigt die Fabrik nie als Atelier - im Unterschied zu David Smith, der 1933 mit einem Arbeitsraum in den Terminal Iron Works wohl als einer der ersten Künstler im Hafengelände von Brooklyn eine Fabrik zu seinem Atelier machte. Oder wie Smith es selbst formulierte: »Meine eigene Werkstatt ist eine kleine Fabrik mit denselben Werkzeugen wie in produzierenden Fabriken.«33 Bei Serra hingegen ist die Fabrik ein Umschlagplatz von Wissen in Kunst - ein Erkenntnisort der Spätmoderne.

3. Die Fabrik im Kino Mit dieser Frage nach den Bildern künstlerischer Arbeit in Fabriken taucht ein weiteres, allgemeines Problem auf: Eigentlich ist nur sehr wenig von dem bekannt, was in einer Fabrik vor sich geht. Klar ist, was in die Fabriken hineingeht und was aus ihnen herauskommt. Doch der Produktionsvorgang, der tatsächliche Arbeitsprozess, wird kaum gezeigt - höchstens in idealisierter Form durch Werbe- und Schulfilme: Er stellt einen weißen Fleck im kollektiven Bildergedächtnis dar. Das oft zitierte Diktum von Niklas Luhmann: »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien«, führt auch in diesem Zusammenhang zu einer Erklärung. 34 Schon die erste Kamera der Filmgeschichte wurde von den Gebrüdern Lumière auf ein Werktor gerichtet, und die Laufbilder halten bezeichnenderweise nicht die eigentliche Arbeit, sondern Schichtbeginn und Feierabend fest. In den Massenmedien kamen Fabriken bis vor zehn Jahren kaum vor. Insbesondere das Innere durfte nur vereinzelt und unter Auflagen gezeigt werden. Kino-Erzählungen, die in Fabriken spielen, existieren äußerst selten, und wenn einmal ein Film seine Figuren im Stahlwerk ansiedelt, wie beispielsweise The Deer Hunter von Michael Cimino aus dem Jahr 1978, wird

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4. Richard Serra: Hand Catching Lead, 1968,16mm s/wFilm, 3:30 min., Kamera: Robert Fiore

die Szenerie als bloßer Hintergrund genutzt. 35 Wie es Harun Farocki in seinem Film-Essay Arbeiter verlassen die Fabrik von 1995 formuliert: »Wenn immer möglich hat sich der Film eilig von den Fabriken entfernt; die Fabrik hat den Film abgestoßen.« 36 Auch wenn diese These nicht haltbar ist - auf zwei Ausnahmen, den regionalen Dokumentär- und Gebrauchsfilm sowie das frühe Sowjetkino, wird noch einzugehen sein - wirft sie doch interessante Fragen auf: Woher beziehen wir unsere Vorstellungen von den komplexen arbeitsteiligen Produktionsprozessen im Innern der Fabriken? Wer liefert die Bilder? Es ist der Slapstick, dem wir einen Großteil unseres Wissens verdanken, denn dieses köperbezogene Subgenre spielt in der populären Präsentation von industriellen Vorstellungsbildern eine zentrale Rolle. Zugespitzt formuliert: Alles was wir in einer massenmedialen Gesellschaft über die Fabrik wissen, wissen wir durch den Slapstick! Der moderne Slapstick macht die Fabrik zum Erkenntnisort. Der Unterhaltungsfilm, insbesondere die Komödie

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5.

Charles Chaplin: Modern Times, 1936,35 mm s/iv-Film, 87 min.

zeigt sich dabei als Paradox, wie es Bertolt Brecht allgemein für das Kino beschrieben hat: »Wer sein Billet gekauft hat, verwandelt sich vor der Leinwand in einen Nichtstuer und Ausbeuter. Er ist, da hier Beute in ihn hineingelegt wird, sozusagen ein Opfer der Einbeutung.« 37 Das zentrale Verfahren des Slapsticks ist dabei die Verdichtung von Zeit, Raum und Körper. Die industrielle Rationalisierung findet in der chronotopischen Dichte des Films ihre ästhetische Entsprechung. Charlie Chaplins Film Modern Times von 1936 lieferte die Bilder für die Einsicht von Generationen, dass der Arbeiter in der Fabrik - wie es Marx formuliert hat - lediglich Anhängsel der Maschine sei.38 Diese fremd-bestimmten Abläufe in den rationalisierten Fabriken hat Richard Serra in seinen frühen Experimentalfilmen zusammen mit der schwarzen Pädagogik des Slapsticks aufgegriffen. In diesen Filmen unterwirft sich der Künstler dem mechanisierten Rhythmus der Fabriken - und agiert als dystopischer Arbeiter-Künstler. 39 So zeigt Richard Serras Schwarzweiß-Film Hand Catching Lead von 1968 lediglich den rechten Unterarm des Künstlers vor einer hellen Ziegelsteinmauer (Abb. 4). Handfläche und Finger der kräftigen Hand sind geschwärzt. In gleichbleibend schnellem Tempo fallen dreieinhalb Minuten lang kantige Bleistücke von oben herab. Ab und zu leuchtet in der fixierten Kameraeinstellung einer der Metallfetzen auf. Die Hand greift immer wieder nach dem formbaren Blei, doch nur selten gelingt es ihr, ein Objekt zu fangen. Wenn doch, dann wird es sogleich wieder fallen gelassen, nur um die Hand im Bruchteil einer Sekunde erneut zu öffnen und so blitzschnell nach einem anderen Bleistück greifen zu können.

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Die im schnellen Rhythmus pulsierende Handlung korreliert mit der Projektion des kinematografischen Apparats. Das Tempo und die Impulse der herabfallenden Objekte scheinen der mechanischen Abfolge der Bilder auf dem Zelluloidstreifen zu gehorchen. Der Trägheit des Auges, die der Dynamisierung der Zeit im Medium nicht zu folgen vermag, steht die Spannkraft der arbeitenden Hand gegenüber. Die greifende Hand des Künstlers erinnert an die berüchtigte Chronométrage zur höheren Leistungsverausgabung von Frederick W. Taylor - für die wissenschaftliche Zeit- und Bewegungsstudien zur Optimierung der Produktionsabläufe vorgenommen wurden -, 40 gesteigert durch die absolute Zwangsläufigkeit des mechanisierten Bilderflusses. Wie Chaplin in der berühmten Maschinen-Szene von Modern Times dem Zelluloidstreifen gleich durch die Zahnräder gleitet, so treibt das Laufbild bei Serra einem Fließband gleich die Stückzahl voran. Hand Catching Lead reduziert Arbeit auf eine einfache Geste, die zwar alle Attribute körperlicher Arbeit trägt - Material, Schmutz, Anstrengung -, deren Zweck aber durch den Ausschnitt nicht erkennbar ist - vergleichbar der modernen Fabrikation, bei welcher der Einzelne oft nicht mehr das Endprodukt kennt, an dem er gerade arbeitet. In der übertriebenen Entfremdung der Arbeit - reduziert auf das Öffnen und Schließen der Hand - wird das Bleigreifen bei Serra zur absurden Handlung, die im Aufbrechen des Immergleichen in der immergleichen Einstellung für einen Moment sogar Züge des Slapstick trägt. So fordert der Zeigefinger in Folge einer minimalen Verzögerung der Bleizufuhr mit einer spielerischen Geste mehr Tempo, damit sein stupider Akkord eingehalten werden kann. Diese spielerische Geste ist meines Wissens der einzige Anflug von Humor, den sich Serra in seinem Künstlerleben erlaubt hat. In der übertriebenen Reduktion und Gleichförmigkeit erinnert Serras Film an Modern Times. In der Eingangsepisode des Spielfilms kämpft Charlie, der Tramp mit Stöckchen und Melone, bezeichnenderweise in einer Fabrik namens »Electric Steel« verzweifelt gegen die Monotonie seiner Arbeit. Die Kamera zeigt, wie die Arbeiter am Fließband kaum in der Lage sind, dem Takt der Maschinen zu folgen (Abb. 5). Jeder muss in rasender Gleichförmigkeit den immer gleichen Handgriff ausführen, ohne Unterlass und in unaufhörlicher Wiederholung: Fließbandarbeit in einem »System von Arbeitsmaschinen, die ihre Bewegung [...] von einem zentralen Automaten empfangen«.41 Selbst in den kurzen Pausen bleibt Charlies Körper in Bewegung. Noch immer zucken seine Arme im Akkord und suchen verzweifelt nach geeigneten Objekten, um sie zu justieren. Das Grundprinzip des Maschinenzeitalters ist sicherlich die Rationalisierung - der Mensch wird zum bloßen Rädchen im Getriebe. In dieser visuellen Metapher, die Chaplin in Modern Times untersucht und die Serra für Hand Catching Lead aufgreift, hat sich eine kritische Sicht auf die Rationalisierung von Produktion, Verwaltung und Vergnügen nachhaltig niedergeschlagen. 42 Für diese Schattenseite, aber nicht minder für die Faszination der technischen Moderne, steht vor allem das Fließband, um das herum die Arbeitsschritte so

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zerlegt und angeordnet werden, dass alle Handgriffe aufeinander abgestimmt und ohne Zeitverlust ausgeführt werden können oder müssen - wie es der fremdbestimmte Körper Charlies demonstriert. Dieses äußerst effiziente Verfahren zwingt die Menschen am Fließband, sich den monotonen, getakteten Maschinenrhythmen weitgehend anzupassen; der Arbeiter wird zum Appendix. Selbst ein leichtes Kratzen oder das Schlagen nach einer Fliege durch Charlie ist bei »Electric Steel« nicht möglich, denn der gesamte Produktionsprozess kommt dadurch zum Erliegen. Ungeachtet seines hohen Symbolwerts hat sich das Fließband jedoch erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts in der industriellen Herstellung durchgesetzt. In den großen Stahlwerken der klassischen Moderne waren zunächst Arbeitsteilung und Standardisierung maßgeblich. Diese extreme, hochproduktive Verdichtung erzeugte fremdbestimmte Abläufe, denen sich die Arbeiter nur punktuell entziehen konnten. Oder eben auch nicht, wie bei Chaplin zu sehen: Die Monotonie und der Zwang der hohen Geschwindigkeit des Förderbandes rauben dem Tramp das geistige Gleichgewicht, oder wie es in Sigfried Giedions Buch »Mechanization Takes Command« über die Fließbandsequenz heißt: »Der mechanisierte Individualist wird verrückt und verwandelt die Fabrik in das Irrenhaus, das sie in Wirklichkeit immer gewesen ist.«43 Bei Serras Kurzfilm wird die absurde Mechanik der Arbeit durch die Merkwürdigkeit unterstrichen, dass die Hand zwar nach jedem Bleistück greift, ohne aber die herabfallenden Fetzen dabei wirklich halten zu wollen. In seinem unsinnigem Lehrfilm findet eher eine rätselhafte Materialprobe ähnlich zwanghaft wie Chaplins Akkordzuckungen - als ein verwertbarer Produktionsprozess statt. Obwohl die Tätigkeit einer strikten Arbeitsteilung zu gehorchen scheint, entsteht der Eindruck, dass die Arbeit der Hand auf Entdifferenzierung zielt. Es wird also vielmehr Chaos als Ordnung geschaffen und somit letztlich die Entwertung der eigenen Arbeit vollzogen. Die Energie, die durch das kraftraubende Greifen verbraucht wird, kann außerhalb des Bildausschnitts unmöglich einer sinnvollen Nutzung zugeführt werden. Das materielle Resultat von Hand Catching Lead kann somit nur ein zufälliger Haufen entfremdeter Arbeit sein. Diese Beobachtungen führen zu einem Axiom, welches in jedem guten Slapstick über die Fabrik beobachtet werden kann und das selbstverständlich schon bei Chaplin auftaucht: Wende die Maschinen gegen ihre eigene zwanghafte Logik, steigere den Wahnsinn des Maschinentakts bis zum allgemeinen Kollaps - bis zum Umschlagen in Anarchie. 44 Mach kaputt, was dich kaputt macht. Mit seiner schmutzig-sinnlosen Handarbeit wendet sich Serra auch gegen die »unheimliche Materialität« des von Donald Judd vertretenen Künstler-Ingenieurs und die makellose Oberflächenästhetik der so genannten spezifischen Objekte.45 Diese subversive Haltung - der Aufstand gegen die rationale Ästhetik der Maschine - lässt sich an einem anderen Filmbeispiel erläutern, auch wenn die Szene nicht in der Schwerindustrie spielt. Jacques Tatis Mon Oncle von 1958 ist nicht nur ein Film über die Architektur und zu

124 DIETMAR RÜBEL

6.

Jacques Tati: Mon Oncle, 1958,35 mm Farbfilm, 117 min.

dem, was die Wohnmaschinen der Moderne genannt wird, sondern auch über das Innenleben von Fabriken. 46 Monsieur Hulot muss während des Films in der Kunststofffabrik seines Schwagers arbeiten; diese Fabrik namens »Plastac« ist die ideale Produktionsstätte: ein riesiger cleaner Komplex, aus dem Arbeiter Massen an Kunststoffschläuchen heraus tragen, ohne dass diese Un-Dinge je einem Zweck zugeführt würden. Der Ursprung der synthetischen Waren, die Maschine, welche diese nicht-kommunizierenden Röhren produziert, stellt das unendlich banale Zentrum der Fabrik dar. Bedient wird die merkwürdige Maschinerie von Jacques Tati alias Monsieur Hulot (Abb. 6).47 Dieser versucht wie der Tramp Charlie sich in die rationalisierte Welt einzuordnen. Das heißt, er begibt sich in die Ordnung, Kälte und Monotonie der Fabrik - die bei Tati in einer sterilen Sauberkeit gehalten ist. Auf diesem Weg zeigt er die filmische Fabrik als eine andere, reinere Welt. Dabei wird »die kalte Rationalität des sich selbst überlassenen Objekts« zur Schau gestellt.48 Die Dinge entwickeln Hulot, dem zärtlichen, freiheitsliebenden Chaoten gegenüber einen Eigensinn, und nach kurzer Zeit produziert die zentrale Anlage der PlastacFabrik statt Schläuchen wurstähnliche Plastikschlangen - ja, sie spuckt die Ungetüme mit viel Dampf und Getöse aus, auf dass sie zu tanzen beginnen und für Hulot zu Plagegeistern werden.49 Tati zeigt also eine formierende Wunschmaschine, wie sie Gilles Deleuze und Felix Guattari beschrieben haben: »aufbauende Maschinen, deren Fehlzündungen selbst noch funktional sind«.50

125 FABRIKEN ALS ERKENNTNISORTE

7.

Serge Spitzer: Essen. Food for Thought,

1995-1996

Hulots A u f b e g e h r e n gegen N o r m u n d F o r m der M a s c h i n e ist auch eine weit verbreitete Strategie für die k ü n s t l e r i s c h e Arbeit in der Fabrik. Der Ents t e h u n g s p r o z e s s einer 1 9 9 5 - 1 9 9 6 e n t s t a n d e n e n Arbeit Spirale von Serge Spitzer in der e h e m a l i g e n K r u p p - S t a d t Essen ist d a f ü r ein gutes Beispiel (Abb. 7). Der in R u m ä n i e n g e b o r e n e u n d in N e w York lebende Spitzer hat über zwei J a h r e h i n w e g I n g e n i e u r e , M a t e r i a l e n t w i c k l e r , Arbeiter u n d M a s c h i n e n an ihre G r e n z e n g e f ü h r t . In s e i n e m A u f t r a g forschten v e r s c h i e d e n e U n t e r n e h m e n n a c h M a t e r i a l e i g e n s c h a f t e n , die sich eigentlich a u s s c h l i e ß e n : Es w u r d e e t w a nach u n b e h a n d e l t e m S t a h l gesucht, dessen O b e r f l ä c h e nicht g l ä n z e n d , sondern verzundert sein sollte; zugleich m u s s t e das Metall e x t r e m korrosionsb e s t ä n d i g sein - M a t e r i a l e i g e n s c h a f t e n , die u n v e r e i n b a r w a r e n . N o c h merkw ü r d i g e r für die T h y s s e n AG und die z e h n weiteren involvierten G r o ß b e triebe w a r e n j e d o c h die im S t a h l w e r k herzustellenden Formen. 5 1 D e n n Spitzer bestellte, d a r i n Hulot ä h n l i c h , s p i r a l f ö r m i g e Doppel-T-Träger, die er auf den

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Boden schichten wollte. Zweck und Funktion eines Doppel-T-Trägers richtet sich üblicherweise nach der Statik, das heißt er wird aufgrund seiner extremen Belastbarkeit in tragender Funktion eingesetzt. Einen solchen Stahlträger - eine Inkunabel des Verhältnisses von Material und Form - einfach auf dem Boden abzulegen, ihn von seinem konstruktiven Zweck zu befreien, war für viele der beteiligten Fachleute kaum nachvollziehbar. Zudem konnten die Maschinen nur genormte Träger, also gerade Elemente und keine gerollten Doppel-T-Träger produzieren. Eine zweckfreie Matrix, die Irrationalität der Dinge, die auf rationale Weise geplant wurden, war für die Ingenieure bis dahin weder denkbar - da nicht berechenbar -, noch an den Maschinen walzbar. Die Grenze zum Machbaren wurde erreicht, als die Maschinen Metallplatten falten sollten, die wie überdimensionale Putzlappen zwischen die Stahlreifen gekeilt wurden. Diese gefalteten Lumpen übernahmen die tragende Funktion und ließen die Stahlträger zu einem funktionslosen Materialstil werden - wie Hulot aus sinnlosen Plastikröhren plötzlich Würste zaubert.

4. Die Fabrik als Fabrik Es existiert allerdings eine zweite, bereits kurz erwähnte visuelle Quelle in den Massenmedien, auf die sich die künstlerische Arbeit in der Fabrik ebenfalls bezieht, und die sowohl Chaplin für Modern Times als auch Richard Serra ausgewertet hat. Es handelt sich um dokumentarisch anmutende Werbefilme, wie sie von Fabrikbesitzern in Auftrag gegeben wurden. So bilden die »Krupp-Propaganda-Filme«, oder die »Ford-Propaganda-Filme« in Amerika, fast ein Subgenre des Dokumentarfilms. Zu nennen wären etwa die in der Serie Als der Ruhrpott noch schwarz-weiß war von Paul Hofmann verwendeten Bildquellen.52 Allerdings bieten die damit verbundenen tropischen und ikonografischen Allusionen, im Gegensatz zum Slapstick, kaum Widerstände. Richard Serra griff im Laufe der Jahre ebenfalls auf diese filmische Ästhetik zurück, die deutlich die Fotografien seiner Werkprozesse geprägt hat, um die Schwierigkeiten künstlerischer Arbeit in Fabriken aufzuzeigen, insbesondere 1977 für Steelmill / Stahlwerk. Serra und seine Filmcrew wurden sicherlich durch Stacka (Streik) von Sergej Eisenstein aus dem Jahr 1925 angeregt, vor allem jedoch orientierten sie sich bei ihrer Darstellung der Produktionsabläufe an Entuziazm (Simfonija Donbassa) von Dziga Vertov (1930). Allerdings verweigerten sie sich im Unterschied zum sowjetischen Dokumentarexperiment jeglicher propagandistischen Heroisierung der Arbeiterschaft (Abb. 8).53 Der Gang der Kunst in die Produktion stellt bekanntlich eines der großen Ideale der klassischen sowjetischen Avantgarden dar. Ziel war es, die Kunst auf das zeitgenössische Niveau der gesellschaftlichen Produktion zu bringen und dem Kunstwerk eine neue soziale Aufgabe zu geben. So sollte im Anschluss an die Oktoberrevolution die materielle Kultur des Alltags von Künstlern neu entworfen und von Arbeiterhänden gestaltet werden. Diese Modernisierung

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9.

Richard Serra und Clara Weyergraf:

29 min.

Steelmill/Stahlwerk,

1977,16 nun

f/w-Fihn,

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der Produktion mit neuen Materialien, neuen Technologien und neuen Verarbeitungsweisen sollte die rückständige, bäuerlich geprägte Kultur Russlands in eine hoffnungsvolle Zukunft katapultieren. 54 Allerdings spitzte diese Arbeitsteilung nur die strukturelle Teilung in Entwerfer und Arbeiter zu, wie sie in der Feier Vladimir Tatlins als neuem Künstlertyp des Maschinenzeitalters gipfelte. In den 1970er Jahren zielte eine ortsspezifische Kunst im öffentlichen Raum dagegen eher darauf, die Kunst zu den Menschen zu bringen. Der 1977 von Richard Serra gemeinsam mit Clara Weyergraf im Ruhrgebiet realisierte Film Steelmill/ Stahlwerk greift diese Praxis auf und führt die konkrete alltägliche Arbeitswelt der Schwerindustrie zum Zeitpunkt ihres allmählichen Verschwindens in Deutschland vor. Gedreht wurde im Stahl-Schmiedewerk »Heinrichshütte« der Firma Thyssen in Hattingen bei Bochum. Die Filmaufnahmen zeigen die Arbeiten an einem monumentalen Kubus von siebzig Tonnen aus Magnesium-Kohlenstoff-Stahl, der auf 1280 Grad Celsius bis zur Weißglut erhitzt wurde. Ein über 25 Meter hoher hydraulischer Hammer - ein Nachfahre des legendären »Fritz« - komprimiert den Metallblock, der am Ende eine monumentale Skulptur Serras sein wird, bis seine Dichte die üblichen Stahls um 30 Prozent übersteigt. Gleichzeitig treibt der Schmiedehammer den Kubus - dieses buchstäbliche »Heavy Metal« - bis auf fünf Millimeter genau in die projektierte Form (Abb. 9). Dabei werden die extremen Arbeitsbedingungen der Werkshallen deutlich. Stehen bei Tati und Chaplin die Sauberkeit der Fabriken für die Rationalität und Kälte der Produktionsbedingungen, so wird bei Serra deutlich, wie belastend und gefährdend die schmutzigen Vorgänge der Schwerindustrie für die Beteiligten sind. Der dreißigminütige Film zeigt nicht nur den Arbeitsprozess, sondern dokumentiert auch die Entfremdung der dort tätigen Arbeiter. Das geschieht durch gezielt eingesetzte Disjunktionen, die sich deutlich an Dziga Vertovs erstem Tonfilm - der Simfonija Donbassa und den daran angelehnten zeitgenössischen Experimenten einer akusmatischen Montage etwa bei Jean-Luc Godard - orientieren. Der Film von Serra und Weyergraf gliedert sich in zwei Teile: er beginnt mit Fragen an die Stahlarbeiter, deren Antworten (auf Deutsch) zu hören und (auf Englisch) zu lesen sind, während die interviewten Arbeiter selbst unsichtbar bleiben, da sie Repressionen durch die Werksleitung fürchteten. Zu sehen ist lediglich Schwarzfilm: die Arbeiter erhalten keine visuelle Entsprechung, kein Gesicht, mit dem die Zuschauer sich identifizieren können. Es wird nach dem Verhältnis zur Arbeit und den Arbeitsbedingungen gefragt und ebenso knapp wie desillusionierend geantwortet. Die Trennung von Stimme und Körper durch den Verzicht auf ein gegenständliches Bild entspricht der Entfremdung der Stahlarbeiter von ihrer Tätigkeit. Der zweite Teil verstärkt diesen Eindruck, er zeigt - zum ohrenbetäubenden Lärm, der in der Fabrik herrscht - Bilder der Herstellung von Serras Plastik. Waren die Arbeiter im ersten Teil körperlos, nur Stimme und transkribierter Text, so bleibt ihnen im Lärm der unübersichtlichen Werkhalle eine

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Körpersprache der Gesten. Nach dem Schwarzfilm entfalten die Aufnahmen des zur Weißglut erhitzten Stahlblocks eine faszinierende Lichtintensität, und es entsteht der Eindruck, das Zelluloid selbst würde jeden Augenblick Feuer fangen. Die Leuchtkraft des glühenden Volumens kann mit dem 16-Millimeter-Material kaum eingefangen werden. Der Stahlblock fungiert im Film als innere Lichtquelle: Im nur spärlich beleuchteten Raum, eine Folge der extremen Blendeneinstellung für den strahlenden Block, zeigt Serra immer wieder auf ihren Einsatz wartende Gruppen von Arbeitern. Sie sind nicht zu einem Kollektiv formiert, sondern werden von Serra in loser Anordnung gezeigt. Der Künstler filmt mit der Kamera zusätzlich die Dinge, Werkzeuge und Vorrichtungen, welche den technischen Ablauf bestimmen. Beide Filme - Entuziazm wie Steelmill - brechen immer wieder die Wirkung ihrer Bilder, den schönen Schein der industriellen Hochöfen, durch die Tonspur, der eine ungebändigte Rauheit und Intensität zugebilligt wird. Doch während Dziga Vertov mit Entuziazm versuchte, eine Utopie zu visualisieren und Bilder einer produktiven Symbiose von Mensch und Industrie lieferte, hoben Serra und Weyergraf die Entfremdung der Arbeiter hervor. Ihre Bilder und Töne scheinen eher einer Hölle zu entspringen. Vertovs Filmexperiment führt eine Beziehung zwischen Mensch und Maschine vor, in der eine Versöhnung von Arbeit und Spiel verwirklicht scheint. Inmitten von ohrenbetäubenden Lärm, gefahrvollen Arbeitsvorgängen und bedrohlichem Qualm entsteht ein Spiel der Arbeit, bei welchem die Entfremdung als Spielregel vorgeführt wird. Steelmill / Stahlwerk entwirft ein anderes Bild abstrakter Arbeit: dystopische Verzweiflung - doch zeigt der Blick in die Werkshalle zugleich für die Kunst einen neuen Aktionsraum. Obgleich die Bilderfolge im zweiten Teil des Films dem Herstellungsprozess entspricht, ist es unmöglich, eine genaue Vorstellung von dessen Verlauf zu gewinnen. Der Film erklärt nicht, er fügt den zerhackten Arbeitsprozess, in dem jeder Arbeiter nur für einen Teil zuständig ist, ohne den ganzen Werkvorgang zu überblicken, nicht zu einem ideellen Ganzen zusammen. 5 5 War Hand Catching Lead auf eine minimale Struktur reduziert, die mit der Mechanik des kinematografischen Apparats korrelierte, so ist in Steelmill/Stahlwerk kaum ein koordiniertes Geschehen auszumachen. Serra selbst hat dies so beschrieben: »Jemand, der nie in einem Stahlwerk war, wird [...] kaum bemerken, dass diese Nebeneinanderstellung die tatsächliche Abfolge der Operation im Werk darstellt.« 56 Diese Unübersichtlichkeit schlägt sich auch in der auf unbekanntem Terrain immer wieder Positionen und Abstände suchenden Kamera nieder. Dennoch gibt der Film eine linear geschnittene Abfolge der Produktion wieder: Der siebzig Tonnen schwere Block wird eingeführt, schwebend durch die Halle transportiert und unter dem gigantischen Schmiedehammer platziert, bearbeitet, wieder durch den Raum zur anderen Seite geführt, wo zum Abschluss die Schlacke abgebrannt wird. Dann brechen die Filmbilder mitten in einer finalen Arbeitshandlung ab, als sei der Arbeitsprozess noch nicht abgeschlossen. Durch das abrupte Ende wird beim Betrachter die Vorstellung wachgerufen, dass sich dieses Szenario

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10. Richard Serra: Berlin Block (for Charlie Chaplin), 1977, Schmiedestahl, 191 χ 191 χ 191 cm, Neue Nationalgalerie, Berlin

aus Lärm, Schmutz und Gefahr Tag für Tag wiederholt. Serras Bilder der eigenen Skulptur wirken wie aus der Perspektive eines Unbeteiligten aufgenommen, Bilder, in denen sich Faszination und Befremden mischen. Der Arbeitsprozess erscheint als Abstraktion, die sich an den Menschen gewaltsam vollzieht. Lediglich die Dauer, die mitunter quälend langsam verstreichende Zeit ist für die Zuschauer eine vertraute Kategorie und diese abstrakte Lebenszeit wird, wie es der erste, aus Schwarzfilm bestehende Teil demonstriert, mit Lohn vergolten. Dabei erklärt Serra nicht, idealisiert nicht; kennt weder Hauptdarsteller noch Helden und ordnet die Wirklichkeitsfetzen keiner allwissenden Narration oder Montage unter: »Der Film steht nicht über, sondern mitten im Produktionsprozess.« Dabei lässt er »im unvermittelten Gegeneinander von sozialkritischen Fragen und offensichtlicher Begeisterung für das optische Spektakel des Schmiedens exakt den Abstand erkennen, der den Künstler von den Arbeitern trennt, die ein von ihm entworfenes Stück herstellen. Was i h m zum Werk wird, bleibt für sie entfremdete Arbeit.« 57 Im Gegensatz zum traditionellen Atelier liefert die Fabrik kein fertiges künstlerisches Werk, der Gang in die Produktion bringt lediglich Halbzeug hervor. Der Stahlkubus allein war noch kein Kunstwerk, dafür musste er erst einen bestimmten Platz einnehmen. Eine Werkhalle macht noch keine Kunst, denn durch die Vorstellung einer ortsspezifischen Kunst ist es erst die Mon-

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tage der Skulptur, welche der Kunst ihren Ort in der Öffentlichkeit gibt und das Werk vollendet. Erst in der Montage, die wiederum von Ingenieuren und Facharbeitern mit schwerem Gerät bewerkstelligt werden muss, kommt für Serra der Schaffensprozess zu einem Ende. Oder wie es Douglas Crimp formuliert hat: »Der Standort der Skulptur wird zum Ort ihrer Herstellung, ihre Herstellung aber ist das Werk anderer.«58 Allerdings wird der abschließende Vorgang nur äußerst selten überliefert. So vollendete Serra seine Arbeit durch die öffentliche Aufstellung, zugleich manifestierte er aber auch die Entfremdung der Arbeiter vom Endprodukt. Ende der 1970er Jahre erhoffte sich der Künstler, insbesondere im politisierten Europa, ein Umschlagen der Repräsentation in Demonstration. Die von den Menschen in den Fabriken erfahrene Repression und Gewalt sollte in einen öffentlichen Streik münden und sich mit der Gewalt des deutschen Herbstes verbinden. 59 Die gemeinsam gefertigten Objekte waren dabei als kreatives Widerlager gedacht - tatsächlich entstand einfach nur Kunst. Bei dem im Film Steelmill/Stahlwerk gezeigten Stahl-Kubus, der heute, von einer aufwendigen, unsichtbaren Unterkonstruktion getragen, vor der Berliner Neuen Nationalgalerie - also in direktem Bezug zur modernen Architektur von Mies van der Rohe - steht, bekommt dies einen leicht zynischen Beiklang, denn der Titel lautet: Berlin Block (for Charlie Chaplin) (Abb. 10). Mit der gewaltsamen Abstraktion seines starren Monuments stößt Richard Serra die Arbeiter letztlich in ihre Fabriken zurück, wohingegen Chaplin 1936 doch gerade versuchte, sie für einen Moment aus ihren Werkstätten zu befreien. Serras Berliner Block müsste also genau die Versöhnung erfahren, für die Chaplins Filme geliebt werden - da es ihnen gelingt den »Dingen ihr unkenntliches Leben zu entlocken«.60 Deshalb stellte Chaplin seinen Filmbildern in Modern Times ein Motto voran, das durchaus ironisch verstanden werden kann, es lautet: »Modern Times - A story of industry, individual enterprise - humanity crusading in the pursuit of happiness.«

1

D e r Text g e h t a u f d e n l a n g j ä h r i g e n A u s -

2

Siehe K. Tenfelde (Hg.): Bilder von

t a u s c h u n d die K o o p e r a t i o n m i t Olaf P a s c h e i t

Fotografie

z u r ü c k . S e i n e r a n s t e c k e n d e n B e g e i s t e r u n g für

M ü n c h e n 1994.

R i c h a r d S e r r a u n d d i e k ü n s t l e r i s c h e A r b e i t mit

3

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S c h w e r m e t a l l gilt m e i n h e r z l i c h e r D a n k . E i n i g e

A. G e i s t h ö v e l u n d H. K n o c h (Hg.): Orte der Mo-

Ü b e r l e g u n g e n u n d B e o b a c h t u n g e n in d i e s e m

derne.

A u f s a t z b a s i e r e n a u f u n s e r e m g e m e i n s a m ver-

derts, F r a n k f u r t / M . 2 0 0 5 , S. 1 6 3 - 1 7 3 , d a s Zitat

fassten B u c h Richard Serra in der Hamburger

findet sich a u f S. 163.

Kunst-

halle a u s d e m J a h r 2 0 0 3 .

4

Erfahrungswelten

des 19. und 20.

Siehe F. D. K l i n g e n d e r : Kunst und

R. S e r r a : E r w e i t e r t e N o t i z e n v o n Sight Point

elle Revolution

R o a d (1982), in: A u s s t . - K a t . Richard Serra.

d e n A u s s t . - K a t . Die zweite Schöpfung.

Skulpturen

in Europa.

c h u m 1985, S. 6.

1977-1985,

Neuere

G a l e r i e m , Bo-

industriellen genwart,

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industri-

(1947), D r e s d e n 1974 u n d z u l e t z t

Welt vom 18. Jahrhundert

Bilder

der

bis in die Ge-

M a r t i n - G r o p i u s - B a u , Berlin 2 0 0 2 .

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5 Siehe allgemein R. Benedikter (Hg.): Postmaterialismus, 3 Bde., Wien 2001. 6 Siehe M. von Osten: »This Fish does not Swim Anymore«. Arbeitsbegriffe bei uns im Atelierkomplex, in: Texte zur Kunst 49, März 2003 (Sondernummer zum Atelier), S. 138-143, vor allem aber L. Boltanski und E. Ciapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003, eine Analyse der »Künstlerkritik«, die in der Lebensform der Bohème wurzelt, findet sich auf den Seiten 81ff. 7 Z. Bauman: Liquid Modernity, 2000, S. 3.

Cambridge

»Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.« K. Marx und F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (1848), zit. nach dies.: Werke, MEGA Bd. 4.6, Berlin 19726, S. 465. 8

9 Siehe O. Bätschmann: Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem, Köln 1997 und B. von Bismarck: Künstlerräume und Künstlerbilder. Zur Intimität des ausgestellten Ateliers, in: Ausst.-Kat. Innenleben. Die Kunst des Interieurs. Vermeer bis Kabakov, Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt/M. 1998, S. 312-321. 10 Siehe B. Latour: Von der Realpolitik zur Dingpolitik oder: Wie man Dinge öffentlich macht, Berlin 2005. 11 Siehe hierzu inzwischen D. Rübel: Dinge werden Kunst - Dinge machen Kunst. Über das Verhalten eigensinniger Objekte, in: K. Ferus und D. Rübel (Hg.): »Die Tücke des Objekts« - Vom Umgang mit Dingen, Berlin 2009, S. 128-157. 12 Siehe D. Billier: The Artist's Studio: From Local to Global, in: D. Billier, T. Froehlicher und J.-B. Joly (Hg.): Work Space in Art, Science and Business, Stuttgart 2006, S. 14-26. 13 So die Formulierung von Robert Smithson, mit der er 1972 eine Teilnahme an der documenta 5 ablehnte. R. Smithson: Kulturelle Gefängnisse, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von E. Schmidt und K. Vöckler, Köln 2000, S. 185186. Siehe allgemein C. A. Jones: Machine in the Studio. Constructing the Postwar American Artist, Chicago 1996.

Ich nenne hier nur stellvertretend für eine Reihe von Aktivitäten die Veranstaltungen im Rahmen des »Post-Studio«-Programms von John Baldessari am California Institute of the Arts, wo Baldessari viele Jahre lang lehrte, und den mittlerweile kanonischen Text von Daniel Buren: Funktion des Ateliers (1971), in: Ders.: Achtung! Texte 1967-1991, hrsg. von G. Fietzek und 14

G. Inboden, Dresden 1995, S. 152-167. Siehe allgemein A. Rorimer: New Art in the 60s and 70s. Redefining Reality, London 2001. 15 M. Kelley: Künstler-Kritiker, in: J. Miller: When Down is Up. Ausgewählte Schriften 19871999, hrsg. von C. Keller und J. Meyer, Frankfurt/M. 2001, S. 15-21, hier S. 17. 16 Siehe zu diesen neuen Arbeitsverhältnissen allgemein den Ausst.-Kat. Art & Economy, Deichtorhallen, Hamburg 2002 und als alternative Sicht den Ausst.-Kat. Ökonomien der Zeit, Museum Ludwig, Köln 2002. 17 Donald Judd ließ zu dieser Zeit seine Arbeiten bei »Bernstein Brothers Steel Metal« fertigen, siehe J. Perreault: Union-Made. Report on a Phenomenon, in: Arts Magazine 5, März 1967, S. 26-31. 18 »Ich mache mir nicht viel aus Technologie und so. In erster Linie verwende ich eine altmodische Technik - im Grunde eine Metallverarbeitungstechnik aus dem späten 19. Jahrhundert. Ich romantisiere die Technologie nicht, wie es Robert Smithson und einige andere tun. Ich denke, dass man allgemein zur modernen Technik gezwungen ist, aber die Technik soll nur jemandes Zielen dienen. (...) Ich wollte alle diese von außen kommenden Bedeutungen loswerden - die Verbindungen zu Sachen, die für die Kunst nichts zu bedeuten haben.« J. Coplans: An Interview with Don Judd, in: Artforum 10, Juni 1971, S. 40-50, hier S. 49. 19 Ich verwende hier eine Formulierung, mit der Walter Benjamin eine wichtige Strategie der Surrealisten beim Umgang mit Geschichte umschrieb, bei der sie »auf die revolutionären Energien« stießen, »die im >Veralteten< erscheinen«. W. Benjamin: Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz (1929), in: Ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von

H. Schweppenhäuser und R. Tiedemann, Frankfurt/M. 1980, Bd. II.l, S. 295-310, hier S. 299. Siehe den Bericht von G. R. Scott in: A Report on the Art and Technology Program of the Los 20

133 FABRIKEN ALS ERKENNTNISORTE

Angeles County Museum of Art. 1969-1971, hrsg. von M. Tuchman, Los Angeles 1971, S. 298-304. 21 »Haufwerk« ist ein Begriff von László Moholy-Nagy: »der vierte oft schwer bestimmbare materialzustand ist die regelmäßige, rytmisch gegliederte oder unregelmäßige häufung. sie ist meist leicht veränderbar, organische zusammenhänge sind bei häufungen schwer festzustellen; als ganzes sind sie nicht syntese, sondern addierung, oft sind sie mit »faktur« verwandt, so daß an sich nichts dagegen spricht, die häufung (das haufwerk) zum zwecke einer Vereinfachung dieser begriffsweit faktur zu nennen.« L. Moholy-Nagy: von material zu architektur (1929), hrsg. von H. M. Wingler, Mainz und Berlin 1966, hier zit. nach D. Rubel, M. Wagner und V. Wolff (Hg.): Materialästhetik. Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur, Berlin 2005, S. 296. 22 Richard Serra im Interview mit D. Crimp: Richard Serras urbane Skulptur (1980), in: Ausst.Kat. Richard Serra. Schriften, Interviews. 1970-1989, Kunsthaus Zürich 1990, S. 133-151, hier S. 138.

»Plastik ist Fließen von Formen, und Klastik bedeutet gebrochene oder vorhandene Teile, die man zusammensetzen oder auseinandernehmen kann, ohne sie zusammenzukleben«. R Tuchman: Ein Interview mit Carl Andre (1970), in: G. Stemmrich (Hg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden 1995, S. 141-161, hier S. 146. 23

Zur Bedrohlichkeit der Arbeiten Serras siehe W. Kemp: Zeitgenössische Kunst und ihre Betrachter. Positionen, Positionszuschreibungen, in: Ders. (Hg.): Zeitgenössische Kunst und ihre Betrachter (= Jahresring: Jahrbuch für moderne Kunst, Bd. 43), Köln 1996, S. 13-43 und A. C. Chave: Minimalismus und die Rhetorik der Macht, in: G. Stemmrich (Hg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden 1995, S. 647-677. 24

25 Siehe T. Timm: Atelierbesuch: Richard Serra, in: Zeit Magazin 31,27. Juli 2007, S. 40-42. 26 Siehe O. Pascheit und D. Rubel: Richard Serra in der Hamburger Kunsthalle, Hamburg 2003. 27 Siehe R. J. Williams: After Modern Sculpture. Art in the United States and Europe 1965-70, Manchester 2000. 28 Siehe den Ausst.-Kat. L'informe. Mode d'emploi, Centre Georges Pompidou, Paris 1996. 29 Siehe O. Pascheit: Richard Serra. Arbeiter in Blei, in: Im Blickfeld. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle 2,1997, S. 61-81.

30 »Neun Zehntel meines Werks involvieren solche Extensionen [in Stahlwerken].« Richard Serra zit. nach G. Hovagymyan: Rigging. Interview mit Richard Serra, in: Ausst.-Kat. Richard Serra. Schriften, Interviews. 1970-1989, Kunsthaus Zürich 1990, S. 106-112, hier S. 107. 31 B. H. D. Buchloh: Richard Serra's early Work: Sculpture between Labor and Spectacle, in: Ausst.-Kat. Richard Serra. Sculpture: Forty Years, Museum of Modern Art, New York 2007, S. 43-58, insbesondere S. 56f. Zum historischen Kontext vgl. R. Morris: Some Notes on the Phenomenology of Making: The Search of the Motivated (1970), in: Ders.: Continuous Project Altered Daily. The Writings of Robert Morris, Cambridge, London 1993, S. 71-93. 32 Siehe zuletzt Ausst.-Kat. Ateliers: L'artiste et ses lieux de création, Centre Pompidou, Paris 2006. 33 David Smith by David Smith. Sculpture and Writings, hrsg. von Cleve Gray, London 1968, S. 52. 34 N. Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1995, S. 9. 35 Ausnahmen sind etwa Jean-Luc Godards Passion (1982) oder Aki Kaurismäki mit Tulitikkutehtaan tyttö (Das Mädchen aus der Streichholzfabrik, 1990) - heute neben Kindersendungen vor allem die Nachtprogramme von Nachrichtensendern, welche Dokumentationen über die Produktion von Lebensmitteln aus Werbegründen ausstrahlen. 36 Siehe auch H. Farocki: Arbeiter verlassen die Fabrik, in: Meteor 1 (1995), S. 49-55. 37 B. Brecht: Über Film, in: Bertolt Brecht. Werke, hrsg. von Elisabeth Hauptmann, 20 Bde., Bd. 18: Schriften zur Literatur und Kunst 1, Frankfurt/M. 1967, S. 169. 38 K. Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (1867), MEGA Bd. 1, Buch I: Erstes Buch: Der Produktionsprozeß des Kapitals, Berlin 1962, S. 674. 39 Siehe allgemein zu den Filmen R. Krauss: Passages in Modern Sculpture, Cambridge und London 1977, S. 279f. und daran anschließend B. H. D. Buchloh: Prozessuale Skulptur und Film im Werk Richard Serras, in: Ausst.-Kat. Richard Serra: Arbeiten 66-77, Kunsthalle Tübingen 1978, S. 175-188 sowie O. Pascheit und D. Rübel: Richard Serra in der Hamburger Kunsthalle, Hamburg 2003.

134 DIETMAR RÜBEL

40 Siehe P. Hinrichs und I. Kolboom: Taylor, Ford, Fayol: Wissenschaftliche Arbeitsorganisation in Frankreich zwischen Belle Epoque und Weltwirtschaftskrise, in: Ausst.-Kat. absolut modern sein. Zwischen Fahrrad und Fließband. Culture technique in Frankreich 1889-1337, Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin 1986, S. 75-94. 41 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (1867), MEGA Bd. 1, Buch I: Erstes Buch: Der Produktionsprozeß des Kapitals, Berlin 1962, S. 402. 42 Siehe zu Chaplin die Anthologien von D. Kimmich (Hg.): Charlie Chaplin. Eine Ikone der Moderne, Frankfurt/M. 2003 und die verschwiegene Vorlage von W. Wiegand (Hg.): Über Chaplin, Zürich 1978. Zu »Modern Times« die Monografie von J. Mellen: Modern Times, London 2006.

S. Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte (1948), hrsg. von H. Ritter, Hamburg 19942, S. 151. Giedion zitiert hier wohl eine anonyme Besprechung aus dem Herald Tribune von 1936. 43

44 Siehe zuletzt Ausst.-Kat. Smile Machines. Humor, Kunst, Technologie, Akademie der Künste, Berlin 2006 und Ausst.-Kat. Nothing But Pleasure, BAWAG Foundation, Wien 2006.

So eine Formulierung von Robert Smithson - »an uncanny materiality«, wie es in dem frühen Artikel des Künstlers wörtlich heißt R. Smithson: Donald Judd, in: Ausst.-Kat. Seven Sculptors, Philadelphia Institute of Contemporary Art 1965, zit. nach ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von E. Schmidt und K. Vöckler, Köln 2000, S. 19-21, hier S. 21. Vgl. D. Judd: Spezifische Objekte (1965), in: G. Stemmrich (Hg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden 1995, S. 5973 und allgemein zur Diskursgeschichte der Minimal Art J. Meyer: Minimalism. Art and Polemics in the Sixties, New Haven, London 2001. 45

46 Siehe den Ausst.-Kat. Die Stadt des Monsieur Hulot. Jacques Tatis Blick auf die Moderne Architektur, Architekturmuseum München 2004.

Siehe M. Chion: The Films of Jacques Tati, New York 2003. 47

48 G. Deleuze: Kino, 2. Bde., Bd. 2: Das ZeitBild, Frankfurt/M. 1991, S. 92. Gilles Deleuze versucht damit die Differenz zwischen dem Slapstick bei Chaplin und den Filmen von Jerry Lewis und Jacques Tati zu beschreiben.

49 Marx vergleicht den Übergang vom Rohstoff zum Produkt - also genau den Moment den Monsieur Hulot zu überwachen hat und den er nachhaltig stört - mit einem gespenstischen Tanz: Die Ware erscheint als »übersinnliches Ding«, als ob es »aus freien Stücken zu tanzen begänne«. K. Marx: Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis, in: Ders.: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (1867), MEGA Bd. 1, Buch I: Erstes Buch: Der Produktionsprozeß des Kapitals, Berlin 1962, S. 85. Siehe hierzu Jacques Derrida: Marx' Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt/M. 1995. 50 G. Deleuze und F. Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt/M. 1974, S. 369. 51 Siehe S. Spitzer (Hg.): Essen. Food for Thought, Köln 1996, darin insbesondere T. Ladwein: Die Suche nach dem geeigneten Werkstoff, S. 11-16. 52 P. Hofmann: Als der Ruhrpott noch schwarzweiß war, eine 2005 für den WDR produzierte Film-Trilogie: 1: Eine Landschaft wie keine zweite, 2. Das lange Elend mit der Kohle, 3: Eine Heimat mit Ecken und Kanten, die Filmcollagen haben jeweils eine Länge von 44 Minuten.

Im Interview mit Annette Michelson gibt Serra Auskunft über seine filmischen Vorlieben und distanziert sich - nach den konkreten Erfahrungen während der Dreharbeiten - von Vertov und Eisenstein. Über »Streik« und »Entuziazm« heißt es dort: »Wahrscheinlich würde mir [wenn ich die Filme jetzt wieder sehen würde] die idealistische Narration über den heroischen Arbeiter suspekt sein, obwohl sie doch im Dienste der Revolution steht.« A. Michelson: Die Filme von Richard Serra. Interview mit Richard Serra und Clara Weyergraf (1979), in: Ausst.-Kat. Richard Serra. Schriften, Interviews. 1970-1989, Kunsthaus Zürich 1990, S. 75-103, hier S. 101. 53

54 Siehe hierzu das Kapitel »Materialkultur« in: D. Rübel, M. Wagner und V. Wolff (Hg.): Materialästhetik. Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur, Berlin 2005, S. 270-297 und B. H.D. Buchloh: From Faktura to Factographie, in: October 30,1984, S. 83-119. 55 »Wenn ein Film über das Problem [der Arbeitsabläufe und -bedingungen in Stahlwerken] gemacht wird, dann gibt es einen narrativen

135 H E N N I N G RITTER

Text, der der Klasse, die im Film erscheint, ihre

58

D. Crimp: Serras öffentliche Skulptur:

Situation so erklärt, dass entweder die Gewerk-

Ortsbezogenheit neu definiert, in: Ausst.-Kat.

schaft, die Verwaltung oder die Macht, die den

Richard Serra, Westfälisches Landesmuseum für

Film finanziert, davon profitieren. So zementie-

Kunst und Kulturgeschichte, Münster u. a. 1987,

ren die meisten Dokumentarfilme schamlos den

S. 28-43, hier S. 32.

Status quo und perpetuieren die Unterdrük-

59

Serra schildert die Situation 1977 wäh-

kung.« Richard Serra in A. Michelson: Die Filme

rend der Dreharbeiten zu Steelmiü /

von Richard Serra. Interview mit Richard Serra

folgendermaßen: In »Deutschland [war gerade]

und Clara Weyergraf (1979), in: Ausst.-Kat.

Schleyer ermordet worden. Um zum Stahlwerk

Richard Serra. Schriften,

zu gelangen, musste ich am Gefängnis vorbei,

Interviews.

1970-1989,

Kunsthaus Zürich 1990, S. 75-103, hier S. 91.

Stahlwerk

in dem drei Leute, die angeblich an dem Atten-

Richard Serra in A. Michelson: Die Filme

tat beteiligt waren, einsaßen, [...] das ging mir

von Richard Serra. Interview mit Richard Serra

nicht aus dem Sinn.« Richard Serra in A. Mi-

und Clara Weyergraf (1979), in: Ausst.-Kat.

chelson: Die Filme von Richard Serra. Interview

Richard Serra. Schriften,

mit Richard Serra und Clara Weyergraf (1979),

56

Interviews.

1970-1989,

Kunsthaus Zürich 1990, S. 75-103, hier S. 98. 57

S. Germer: Elevations, in: R. Serra und

D. Reinartz: La Mormaire, hrsg. von A. von Berswordt, Düsseldorf 1997, S. 15f.

in: Ausst.-Kat. Richard Serra. Schriften, 1970-1989,

Interviews.

Kunsthaus Zürich 1990, S. 75-103,

hier S. 96f. 60

S. Kracauer: Geschichte

Dingen, Frankfurt/M. 1971.

- vor den letzten

PHILIP U R S P R U N G

Arbeiten in der globalen Kunstwelt Olafur Eliassons Werkstatt und Büro

Dank der stagnierenden Wirtschaft, günstigen Ateliers und billigen Altbauwohnungen gehört Berlin seit der Mitte der 1990er Jahre zu den attraktivsten Städten kultureller Produktion. 1 Während Kunsthändler New York und Sammler Miami bevorzugen, befinden sich die Ateliers in Berlin. Olafur Eliasson, geboren 1967, aufgewachsen in Dänemark, ist nur einer von vielen Künstlern, Architekten, Designer, Filmemachern, Studenten und Kunsthistorikern, die von der Lebendigkeit und Offenheit des wiedervereinten Berlin angezogen werden. Nachdem er zwei Jahre in Köln gewohnt und sein Studium an der Königlichen Akademie in Kopenhagen abgeschlossen hatte, zog er 1995 in ein altes Fabrikgebäude in Berlin. Dank wachsenden Erfolges und immer größerer Projekte - namentlich die Vorbereitung für The Weather Project in der Turbinenhalle der Tate Modern 2003 - änderte er die Struktur seines Ateliers grundlegend. Er entschied sich, die Produktion von Werken nicht mehr zu vergeben, sondern durch ein eigenes Team ausführen zu lassen. Er zog 2002 in ein größeres Atelier um, wo er zwischen 15 und 50 Mitarbeiter beschäftigt, in der Regel etwa 35.2 2007 erwarb er eine alte Brauerei auf dem PfefferbergAreal im Prenzlauer Berg, wohin das Atelier 2008 umgezogen ist und wo sich seit 2009 auch das von Eliasson im Rahmen seiner Professur an der Universität der Künste Berlin geleitete Institut für Raumexperimente befindet. Er selbst pendelt zwischen Berlin und Kopenhagen, wo seine Familie wohnt. In Kopenhagen hat er ein weiteres kleines Atelier, eine Art Studiolo, wo er mit ein bis zwei Assistenten arbeitet und Zeit zum »Zeichnen und Lesen«3 findet. Bis 2007 befand es sich, wie seine Privatbibliothek, in seinem Wohnhaus. 2008 hat er ein neues Atelier in der Nachbarschaft bezogen. Das frühere Berliner Atelier lag in einem ehemaligen Lagerraum unmittelbar neben dem Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart (Abb. 1). Eliasson teilte sich das Gebäude mit zwei weiteren berühmten Künstlern, Tacita Dean und Thomas Demand. Es bestand aus einer gut beleuchteten Haupthalle, in welcher Installationen aufgebaut, Werke und Modelle ausgestellt, photographiert und begutachtet wurden. Auf einer Galerie über der Haupthalle war eine Gruppe von Architekten untergebracht. Daneben gab es

138 PHILIP U R S P R U N G

separate Räume für Büros, Sitzungen und das Archiv. Das große Untergeschoss diente in erster Linie als Werkstatt. Das Team besteht aus Architekten, Elektrikern, Schreinern, Handwerkern, Designern, Künstlern und Kunsthistorikern. 4 Einige sind fest angestellt, andere arbeiten auf Stundenlohnbasis für bestimmte Projekte. Die meisten entstammen dem unerschöpflichen Reservoir an Kreativarbeitern, welche derzeit in Berlin verfügbar sind. Manche arbeiten auch für andere Künstler oder verfolgen eine eigene Künstlerkarriere. Die Struktur des Ateliers gleicht derjenigen eines mittelgroßen Architekturbüros. Zwanzig- bis vierzigjährige Menschen diskutieren auf Deutsch, Englisch, Dänisch oder Spanisch über Computerprogramme, neue Bücher und Ausstellungen. Eliasson selber hatte im Berliner Studio am Hamburger Bahnhof keinen eigenen Raum. Er geht herum, bespricht Projekte, unterschreibt Briefe, wählt Photographien aus, trifft Entscheidungen. Er erinnert an eine Mischung von peintre erudii, deutschem Ingenieur und amerikanischem Geschäftsmann, irgendwo zwischen Ernst Haeckel, Buckminster Fuller und dem jungen Bill Gates. Seinen Mitarbeitern gegenüber tritt er weniger als Chef auf denn als »Kunde«, wie ein Mitarbeiter meinte. 5 Er geht mit Ideen auf sie zu, fragt, wie diese umgesetzt werden können - sei es ein neues Museum in Island, ein Wandrelief an einem Gebäude von Tadao Ando oder die Fassade des Hirshhorn Museum and Sculpture Garden in Washington D.C. In den letzten Jahren hat Eliasson eine räumlich und organisatorisch flexible Struktur entwickelt, welche es ihm erlaubt, den gesamten Produktionsprozess seiner Kunst zu kontrollieren, von der ersten Idee über die Recherchen, den Modellbau, das Testen von Strukturen bis hin zur Fertigstellung, entweder im eigenen Studio oder außer Haus durch Spezialisten. Die Produktion ist allerdings nicht auf Objekte beschränkt, denn auch die »Wissensproduktion«, wie Caroline Jones es nennt, ist in seiner Hand. 6 Zu seinen engsten Mitarbeitern gehören mehrere Kunsthistorikerinnen, die ihm bei der Redaktion von Interviews, dem Austüfteln von Werktiteln oder auch der Durchführung von Seminaren assistieren. Diese Strukturen erlauben es seinem Unternehmen, je nach Nachfrage zu wachsen oder zu schrumpfen. Er kann rasch Ausstellungen verändern, Bücher herstellen und sogar Architekturprojekte durchführen. Die Ergebnisse sind beeindruckend und der Ausstoß des Studios ist atemberaubend. Nicht nur richtet er jedes Jahr mehrere große Museums- und Galerieausstellungen ein, er stellt auch eine erstaunliche Menge an Kunstwerken, Installationen und Fotografien her, arbeitet an langfristigen Projekten wie dem Art Car für BMW, entwickelt architekturbezogene Projekte und veröffentlicht außerdem noch eine Fülle von Monographien, Katalogen und Interviews.

139 ARBEITEN IN DER GLOBALEN KUNSTWELT

1.

Life in Space Symposium, Studio Olafur Eliasson, Berlin 2006

Forschung Inwiefern ist diese flexible S t r u k t u r der G r u n d für Eliassons Erfolg in der heutigen Kunstwelt? Und wie hängt seine Popularität mit der Globalisierung z u s a m m e n ? Obwohl er selbst den A u s w i r k u n g e n der Globalisierung gegenüber sehr kritisch eingestellt ist und auf der Autonomie von Kunst und Kunstwelt beharrt, ist es offensichtlich, dass sein Erfolg, wie auch derjenige von vielen anderen Kollegen, durch die globalisierte Wirtschaft, ein entsprechend großes Publikum, einen blühenden Kunstmarkt und durch seine eigene Flexibilität begünstigt wird. In jüngster Zeit hat sich die Kunstwelt den Strukturen der Globalisierung angepasst, indem sie kulturelles Kapital konzentrierte, ein hohes Preisniveau für ein Portfolio von lebenden und verstorbenen Künstlerstars hält und nationale G r e n z e n weitgehend negiert. In diesem Umfeld sind Künstlerateliers nicht zuletzt deshalb so anziehend, weil sie uns helfen, die Formen menschlicher Arbeit in der heutigen Gesellschaft besser zu verstehen. Einerseits verkörpern sie eine gleichsam vorkapitalistische Einheit der Produktion. In einer Welt, die von Bürokratie und Informationstechnologien dominiert ist, sind die Ateliers von Künstlern und Architekten Orte, wo Kreativität lokalisiert werden k a n n und die Entstehung von Produkten ganz in der H a n d einiger weniger M e n s c h e n liegt. Andererseits können die Ateliers erfolgreicher Künstlern durchaus als Vorbilder für Industrie und Universitäten gelten. Caroline Jones geht beispielsweise davon aus, dass »die kultu-

140 PHILIP URSPRUNG

relien Protagonisten in den 1970er und 1980er Jahren Praktiken der Informatik umsetzten, welche industrielle Praktiken vorwegnahmen oder prägten, die sich erst in den 1990er Jahren durchsetzten.« 7 Sie sieht auch Eliassons Atelier in dieser Tradition - als Vorboten größerer Veränderungen. Man könnte sogar fragen, ob die Ateliers erfolgreicher Künstler für Investoren und Manager vorbildlich sind, weil sie bei geringem Kapitalbedarf sehr hohe Gewinne abwerfen. Für Vertreter der universitären Forschung sind sie in jedem Fall als Projektionsfläche für Wünsche und als Gegenstand der Analyse attraktiv, gerade weil sie ein alternatives Modell zur fortschreitenden Segmentierung der Wissenschaften bieten. Wo sonst können Ideen so einfach umgesetzt werden? Wo sonst läuft Forschung so spielerisch und genussvoll ab? Eliasson insistiert fast obsessiv darauf, dass es in seinem Studio nicht in erster Linie um Produkte, sondern um Forschungsprozesse gehe. Dennoch: Was das Studio verlässt, sind vornehmlich Objekte. Diese sind es, welche beim überwiegenden Teil der Betrachter Eindruck machen. Obwohl Eliasson viel Energie in Studien, Diskussionen und Forschungen steckt und, um ein Beispiel zu geben, den Katalog zu The Weather Project mit Daten, Diskussionen und den Ergebnissen von Befragungen füllte, stand die Rezeption letztlich ganz im Bann der ikonischen Installation in der Turbinenhalle. Dies wirft die Frage auf, wie sich Eliassons Kunstwerke zum Atelier als Topos verhalten. Fühlten sich die zwei Millionen Besucher, welche The Weather Project ansahen und sich dafür teilweise lange Zeit auf den Boden legten, wie in einem Atelier? Auch die Besucher der Ausstellung Your Waste of Time in der Galerie Neugerriemschneider in Berlin 2006 dürften angesichts der durch ein Kühlsystem konservierten uralten Eisblöcke aus Island kaum an ein Forscherteam, das im Hintergrund wirkte, gedacht haben. Die Wirkung von Eliassons Kunst fußt auf der Schönheit handfester Objekte, auf visuellen Effekten und der überraschenden Wahrnehmung von Farbe, Raum und Zeit. Look oder Stil seiner Kunst sind eine Kombination von High Tech und Bricolage und beruhen auf Naturphänomenen und Eindrücken ferner Landschaften, die er festhält, rahmt und in den Ausstellungsraum überträgt. Die Art und Weise, in der die Dinge gemacht sind, bleibt dabei stets sichtbar, und die grundlegenden Ideen sind meist einfach und pragmatisch. Dennoch ist jede Installation, jede Serie von Fotografien ein fertiges Produkt, welches sich deutlich vom Ort seiner Entstehung unterscheidet. Es gibt in seiner Kunst kein non finito, kein Fragment, kein work in progress. Auch der Model room, eine Installation, die in verschiedenen Ausstellungen in jeweils neuen Formen zu sehen war und an eine Ateliersituation erinnert, ist kein wirkliches Atelier und bezieht sich auch nicht explizit auf das Berliner Atelier. Der Ansicht von Caroline Jones, die Ausstellungen, Installationen und Publikationen seien nichts weiter als »Ausschnitte seines Ateliers«, ist deshalb nicht zuzustimmen. 8 Eher behandelt Eliasson das Atelier so, als ob es ein eigenes, »natürliches« Phänomen wäre, komplex und spektakulär, welches er vergleichbar den Landschaften von Island erkunden und darstellen kann.

141 ARBEITEN IN DER GLOBALEN KUNSTWELT

Warum ist die Diskussion über das Atelier so wichtig für das Verständnis von Eliassons Schaffen? Ein Resultat seiner Omnipräsenz in der Kunstwelt und seines Erfolgs auf dem Kunstmarkt ist eine wachsende Kluft zwischen seinem Image als romantischem Künstler aus einem skandinavischen Wohlfahrtsstaat, der Ideale von Gemeinschaft und Partizipation vertritt, und seinem Image als smarter Unternehmer, der sich geschickt in die Netzwerke globaler Beziehungen einzufügen weiß. Der Bezug auf das Atelier scheint es ihm zu erlauben, zwischen diesen beiden Bildern zu vermitteln und fast allen zu gefallen, weil fast alle sich mit ihm oder seinem Team identifizieren können. Der an politischem Engagement interessierte Kritiker, welcher Eliassons Kunst nach gesellschaftlicher Relevanz befragt, wiederholt bereitwillig die Statements zu Zusammenarbeit, Partizipation und Kritik der kulturellen Institutionen. Die pragmatische Kuratorin, die in ihrem Alltag zwischen den Interessen der Besucher, der Medien und der Trustees ihres Hauses vermitteln muss, begrüßt seine Art, stets um die Bedingungen und Probleme der Museen zu kreisen. Ein Autofabrikant, der von der Deregulierung profitiert und den Globalisierungsprozess aktiv vorantreibt, ist möglicherweise inspiriert vom Wissensmanagement, mit dem im Atelier die kreativen Prozesse begleitet werden und dem fein gesponnenen internationalen Beziehungsnetz. Das Atelier hat eine Hauptrolle im Diskurs übernommen, weil es erlaubt, dass Ausstellungen und Installationen mehr als reine Objekte sind und weil es das Image des Autors diversifiziert, seine diskursive Oberfläche erweitert. Erst in jüngster Zeit ist die Debatte über das Atelier zur Diskussion über die »Forschung«, beziehungsweise das »Experiment« hinzugekommen, die seit dem Beginn von Eliassons Karriere den diskursiven Horizont der Rezeption bestimmen. Schon bald nach 2002 wussten Eingeweihte von einem »Quantensprung« (H. U. Obrist) des Ateliers in diesem Jahr zu berichten. 9 Erste Aufnahmen, die das Atelier zeigen, finden sich in dem 2002 erschienenen Katalog Chacque matin je me sens different, chaque soir je me sens le meme des Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris. Aber erst 2006 wurde das Thema innerhalb von Eliassons Selbstdarstellung mit einem ausführlichen Interview im New Yorker zentral.10 Im Oktober 2007 wurde der bereits erwähnte Aufsatz von Caroline Jones zu seinem Atelier im Artforum veröffentlicht. Im November desselben Jahres erschien der erste Band von Take Your Time, einer Zeitschrift ohne Text mit ausschließlich schwarzweißen Impressionen des Atelieralltags, die gratis von der Website des Ateliers heruntergeladen werden kann. Das Ziel, so heißt es in einer Karte, welche den Versand der ersten Nummer begleitet, ist folgendes: »To organize the current research at Studio Olafur Eliasson in Berlin and present it to a broader audience in a magazine format. As an ongoing project, TYT focuses on the development and exchange of ideas in and outside the Studio.«11 Vorläufiger Höhepunkt der Beschäftigung mit dem Atelier ist die 2008 im Taschen Verlag erschienene, monumentale Monographie Studio Olafur Eliasson: An Encyclopedia, bei der das Studio als Herausgeber fungiert und die das Thema des Ateliers einer internationalen Leserschaft nahebringt.

142 PHILIP URSPRUNG

Die Energie, mit der das Atelier in die Diskussion eingebracht wird, ist Teil von Eliassons Strategie, die Rezeption des eigenen Werks zu steuern. Für die Betrachter ist es wichtig, an das Atelier zu denken, weil dies die einzelnen Kunstwerke in einen größeren Zusammenhang rückt. Das Atelier ersetzt gleichsam das, was man früher als künstlerisches Genie, oder, seit den 1960er Jahren, als Kunst-Star bezeichnet hat. Es ist die Garantie, dass die Kunstwerke, die von einem Künstler hergestellt wurden, ihren symbolischen und materiellen Wert behalten werden, weil sie aus einer anscheinend unversiegbaren Quelle von Kreativität stammen. Und der Aufwand lohnt sich. Wer einmal ein Bild des Ateliers gesehen hat, wer darüber gelesen hat, wird die Installationen stets auch in diesem Zusammenhang wahrnehmen. So wie jemand, der eine Fotografie oder einen Film von Hans Namuth sah, der Jackson Pollock buchstäblich auf der Leinwand tanzend zeigt, später ein Gemälde von Pollock mit anderen Augen sehen wird, nämlich als Bühne einer Performance oder Ansammlung von Spuren des Lebens, so wird jemand, der vom Atelier gehört hat, auch Eliassons Werk anders sehen. Indem der Künstler nicht nur vom Atelier spricht, sondern es manchmal auch Olafur Eliasson Werkstatt & Büro nennt, identifiziert er es als Ort, wo sowohl Dinge hergestellt als auch verwaltet werden. Er demystifiziert und remystifiziert zugleich das Atelier als Institution künstlerischer Produktion und kommt damit sowohl der traditionellen Vorstellung der Arbeitsstätte wie auch der zeitgemäßen Idee der Verwaltung entgegen. Der Akt der Benennung gleicht der Entdeckung eines neuen Territoriums und zugleich der Schaffung einer Marke. Obwohl der Titel einige Zeit auf der Website erschien, wird er nicht systematisch verwendet, und Eliasson ist unsicher, ob er ihn beibehalten soll. Aber er hat eine tragfähige Basis für die Entwicklung des Ateliers gefunden, weil er diversen Ansprüchen entgegenkommen und genau das sagen kann, was sein heterogenes Publikum hören will. Das Atelier wird als Produktionsstätte, Labor und partizipatorische Maschine dargestellt. Im neuen Atelier auf dem Prenzlauer Berg hat er noch weitere Funktionen hinzugefügt, namentlich Seminarräume für Studenten und Büros für Forscher. Vielleicht wird es damit zum Ausgangspunkt einer »interdisziplinären Schule, die auf räumliche Themen fokussiert«, wie Eliasson in einem Interview mit Hans Ulrich Obrist gesagt hat.12 Caroline Jones nennt es a »dynamic aggregate of flows and productions (informational, material, economic) [...] a four-dimensional object in space-time.«13 Für Eliasson ist es ein Mikrokosmos, eine »kleine Stadt«, ja, ein Modell für Gemeinschaft. 14 Wenn das Künstlerimage von Eliasson zweigeteilt ist, dann gilt dies auch für sein Atelier. Eines ist das tatsächliche Atelier in Berlin, wo Dinge hergestellt werden. Das andere ist das symbolische Atelier, das wir im Kopf haben, wenn wir an seine Kunst denken. Diese beiden sind natürlich nicht institutionell getrennt, wie beispielsweise das Office of Metropolitan Architecture (OMA) von Rem Koolhaas und dessen 1995 gegründeter »think thank«, das AMO, oder wie die 1994 gegründete Fabrica von Benetton, eine kleine Privat-

143 ARBEITEN IN DER GLOBALEN KUNSTWELT

2.

Test für Space reversal, Studio Olafur Eliasson, Berlin 2007

A k a d e m i e für j u n g e Kreative unter 25 Jahren, die unmittelbar neben der Unternehmenszentrale in Treviso steht. Vielmehr spiegeln das reale und das symbolische Atelier einander. Man könnte von einem narzisstischen Atelier sprechen, welches, wie die m y t h i s c h e Figur des Narziss, fasziniert ist vom eigenen Spiegelbild und versucht, es festzuhalten (Abb. 2). Ähnlich der Geschichte des Narziss verwickelt uns auch diese Erzählung unweigerlich. Wie die N y m p h e Echo, die von Narziss angezogen wurde, werden auch wir vom narzisstischen Atelier absorbiert - und enden sprachlos oder als Echo dessen, was w i r aus dem Atelier vernehmen. Wir finden unser Bild, unsere Erwartungen und Interessen in den Facetten des Ateliers gespiegelt. Und wer könnte dem Spiegelbild ewiger Kreativität auch widerstehen? Dieses narzisstische Studio genügt sich selbst und trägt sich selbst. Es kann sozusagen alles ins sich a u f n e h m e n und fruchtbar machen - auch die Kritik. Bei verschiedenen Besuchen in den Jahren 2006 und 2007 im Atelier in Berlin und im Studiolo in K o p e n h a g e n erlebte ich dies selbst. Trotz der Rede von der Partizipation ist das Atelier natürlich nicht öffentlich zugänglich. Aber als Professor für Kunstgeschichte erhielt ich Zugang. 1 5 Wie erwartet, waren tatsächlich die meisten Mitarbeiter mit Experimenten befasst. Sie verfolgten, so schien es, ihre Interessen ohne äußeren Druck. Ich konnte somit Eliassons Aussage, dass seine Mitarbeiter m e h r Freiheit haben als beispielsweise in einem Architekturbüro (wo die G e w i n n s p a n n e n geringer und die Zeit für ein Projekt entsprechend teurer ist) möglich wäre, durchaus zustimmen. Tatsächlich schien der Zweck des Ateliers neben der Herstellung von

144 PHILIP URSPRUNG

3.

Studio Olafur Eliasson, Berlin, Foto: Philip Ursprung,

27.10.2006

handhabbaren Objekten in erster Linie zu sein, Fragen zu stellen und neue Bereiche zu erkunden, also Forschung zu treiben, die später eventuell, aber nicht zwangsläufig, eine Basis für Eliassons Kunst abgeben würde. Ein Künstler arbeitete beispielsweise zum Thema »Weiß« und untersuchte alle Weißtöne, welche die Industrie zur Verfügung stellt. Eine Architektin zeichnete diverse Pläne für eine Camera Obscura, die vielleicht eines Tages für ein Projekt verwendet werden würde. Ein anderer Künstler arbeitete an einem Harmonographen, einem Apparat, der Schallwellen in Harmonogramme umsetzt, ein Prozess, den Eliasson zur Generierung architektonischer Formen verwenden wollte. Was ich nicht erwartet hatte war, dass die Mitarbeiter, die ich interviewte, plötzlich ihrerseits zu fragen begannen. Sie bezogen mich in ihre Untersuchungen ein. Meine Rolle änderte sich vom Beobachter zum Beobachteten. Ich erlebte das Atelier als Maschine, die Eliasson und seine Mitarbeiter auch mir zur Verfügung stellten und fühlte mich sozusagen aufgefordert, die Maschine zu bedienen, hier ein Ventil zu öffnen, da eine Schraube festzuziehen. War ich es, der die Maschine benutzte, oder manipulierte sie mich? Würde sie am Ende meine Autonomie als Kunsthistoriker absorbieren?16 Ich wurde gewahr, dass das Atelier nicht passiv darauf wartete, von mir untersucht zu werden, sondern dass es aktiv testete, wie es mich verwenden konnte. Und tatsächlich lud mich Eliasson einige Monate nach dem ersten Besuch ein, bei einem Buchprojekt mitzuwirken, dem schon erwähnten Buch des Taschen Verlages, das

145 ARBEITEN IN DER GLOBALEN KUNSTWELT

er zum Thema des Ateliers plante.17 So wurde ich selbst Teil des Ateliers, das sich als Maschine entpuppte, welche die Mitarbeiter in Gang hielten - und welche diese ihrerseits auf Trab hielt. Was diese Maschine herstellte, war weniger wichtig als die Frage, wie sie funktionierte. Dem vergleichbar versuchte Caroline Jones herauszufinden, »just what is being researched and produced?«,18 um zum Ergebnis zu kommen: »Wissen.« Aber es lässt sich kaum sagen, um was für ein Wissen es sich handelt. Noch erstaunlicher ist es, dass es niemanden zu stören scheint, dass das Ziel der Forschung unbekannt ist. Kann es sein, dass es sich um Pseudo-Forschung handelt, dass Eliassons Interesse an Wissenschaft pseudo-wissenschaftlich ist? Ist die Beteiligung des Betrachters, von der er und die meisten Berichterstatter ausgehen, eine Pseudo-Beteiligung? Und ist die Selbstreflexion, die er betont, in Wirklichkeit eine Pseudo-Reflexion? Sind wir beruhigt, zu wissen, dass es läuft, so lange wir uns nicht zu kümmern brauchen, was es macht und wie es funktioniert? Ist die schiere Tatsache beruhigend, dass, in einer Zeit, in der die meisten Menschen nicht mehr forschen sondern suchen (in den Suchmaschinen des Internet), jemand noch immer ergebnisoffen forscht? Ist dieses Atelier deshalb so anziehend, weil es eine Maschine ohne Ziel, ohne Plan, ohne Kontrolle ist? Ist es ein Pseudo-Atelier, ein riesiges Trompe l'oeil (Abb. 3)?

Jenseits der Factory Um der Frage nachgehen zu können, wie das Atelier von Eliasson sich zur globalisierten Wirtschaft verhält, ist es hilfreich, den Vergleich mit Andy Warhols Factory zu ziehen - zweifellos das erfolgreichste Modell für ein Künstleratelier der Zeit vor der Globalisierung. 19 Um Warhol, der sein Atelier professionell organisierte, sammelten sich Assistenten wie der Filmemacher Gerard Malanga, Schauspielerinnen wie Edie Sedgwick, Bands wie The Velvet Underground oder Kritiker, Sammler und Kuratoren wie Henry Geldzahler. Gemeinsam experimentierten sie mit neuen Medien, redeten, gaben Interviews oder feierten Parties. Auch nachdem Warhol umgezogen war, blieb die Factory ein Symbol für seine Produktivität, untrennbar verwoben mit New York als dem damaligen Zentrum der Kunstwelt. In der »Stadt, die niemals schläft«, gab es eine Factory, die nie stillstand. Sie war Ort der Produktion, Bühne, Tanzboden, Filmstudio, Konzertsaal, Galerie und Wohnraum zugleich. Damit unterschied sie sich grundlegend von früheren Künstlerateliers, etwa denjenigen von Constantin Brâncuçi oder Jackson Pollock. Hier wurde künstlerische Arbeit nicht als vormodernes, mysteriöses »Schaffen«, das von einer heroischen Einzelperson bewerkstelligt wurde, sondern als kollektives Unternehmen dargestellt, teils freudvoll, teils anstrengend, basierend auf der Anwesenheit des Stars, Warhols, sowie diverser berühmter Freunde und Mitarbeiter, aber undenkbar ohne moderne Arbeitsteilung. Im Unterschied zu den Ateliers von Brâncuçi oder Pollock änderte sich die interne Struktur der

146 PHILIP URSPRUNG

Factory ständig. Der »organische« Arbeitsrhythmus des einzelnen Künstlers wurde durch das »mechanische« Tempo künstlerischer Zusammenarbeit ersetzt, die rund um die Uhr stattfand. Während die Kreativität des individuellen Künstlers um 1900 durch Phasen der Melancholie oder der künstlerischen Krise gefährdet war, war die Produktivität der Factory nur durch momentane Rivalität und Eifersüchteleien unter den Mitarbeitern unterbrochen. Das Atelier von Eliasson verdankt Warhols Vorbild viel. Aber trotz einiger Ähnlichkeiten überwiegen die Unterschiede. Das Innere der Factory war silbern ausgemalt, die Fenster waren verdeckt. Der Raum war nach außen hermetisch abgeschlossen. Er reflektierte Warhol, den Star, aber nicht sich selber als Arbeitsstätte. Er war eine Bühne für den Narzissmus von Warhol, aber nicht für das Atelier als solches. Außerdem war die Factory nie eine Marke im Sinne von Eliassons Atelier. In der Factory von Warhol verschmolzen Kunst und Leben symbolisch. Leben und Arbeit waren verflochten. Im Atelier von Eliasson hingegen gibt es weder ein Sofa noch einen Schlafraum. Leben und Arbeiten verschwimmen nicht. Natürlich haben auch bei Eliasson die Mitarbeiter freie Zeit, die sie für Gespräche oder zum herumsitzen und nachdenken nützen. Aber die kreative Arbeit des Teams ist nie völlig unstrukturiert. Die Phasen, in denen nichts produziert wird, sind formalisiert. Statt Parties gibt es Seminare. Statt gescheiterter Projekte gibt es ein Archiv. Und statt ennui gibt es die Atelier-Zeitschrift Take Your Time. Caroline Jones sieht Andy Warhols Factory in ihrem Buch Machine in the Studio als Höhepunkt der Firmenkultur der frühen 1960er Jahre. Sie nennt es a »function of the palpable strength of the burgeoning postwar economy and the power of large-scale aggregative, automated, homosocial corporate environments.«20 Dem ist nicht zuzustimmen. Obwohl die Factory als Arbeitsplatz funktionierte, war sie auch eine Bühne für Produktion - und zwar einer Produktionsform, welche der Manufaktur des 19. Jahrhunderts näher lag als den bürokratischen Strukturen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Aufstieg der Factory in Manhattan ging Hand in Hand mit dem Verfall der Leichtindustrie - und dem Verschwinden von Fabriken in den amerikanischen Industriezentren. Die symbolische Funktion als Ersatz für eine frühere Produktionsform war für Kritiker und Sammler attraktiv. Mit anderen Worten: Ich sehe die Bedeutung der Factory genau in ihrem Anachronismus. Sie evozierte symbolische eine im Verschwinden begriffene Produktionsform. Der Anachronismus von Eliassons Atelier liegt, so die These, in der Beziehung zur derzeitigen Transformation der Arbeitswelt in den Industrienationen, also zu einem Phänomen, das viele Theoretiker als Immaterialisierung der Arbeit beschrieben haben. Michael Hardt und Antonio Negri zufolge kann immaterielle Arbeit in drei Typen unterschieden werden. Zum einen die Industrieproduktion, welche »informatisiert« wurde, dann die »immaterielle« Arbeit von symbolischen und analytischen Aufgaben, wie beispielsweise die Wissensproduktion oder kulturelle Arbeit. Und schließlich die »affektive« Arbeit, also die Herstellung und Manipulation von sozialen Beziehungsgeflechten,

147 ARBEITEN IN DER GLOBALEN KUNSTWELT

4. Olafur Eliasson seinem Studio in Berlin, Foto: Philip Ursprung, 27.10.2006

Formen der Gemeinschaft, Bio-Macht. 21 Das Berliner Atelier von Eliasson fügt sich in das Bild dieser Veränderungsprozesse gut ein. Im Keller findet die Transformation von Industrie zur Informationstechnologie statt. Im Parterre geht es um Analyse und Symbole, um den Fluss von Informationen, um Design und Austausch. Zugleich ist es die Basis für Eliassons erweitertes Atelier, also ein wachsendes Netz des akademischen und kuratorischen Jet-Sets, mit dem Eliasson in Berlin oder Kopenhagen, aber auch in Flugzeugen oder bei Island-Expeditionen zusammentrifft, wie etwa mit Hans Ulrich Obrist (Abb. 4). Aber wie geht das Atelier mit einem anderen, weit problematischeren Aspekt der immateriellen Arbeit um, nämlich der Tatsache, dass Arbeiter heute an kostengünstigeren Standorten zu finden sind, weit entfernt von den Konsumenten, während sie gleichzeitig in den Industrieländern zunehmend unsichtbar werden? 22 Anders gefragt, wie steht es mit der Sichtbarkeit, beziehungsweise Unsichtbarkeit nicht der Arbeit, sondern der Arbeiter? Die globalisierte Wirtschaft verfügt über viele Arten, Konsum darzustellen, aber sie unterdrückt gleichzeitig die Repräsentation von Arbeit. Die Produktion wird zunehmend unsichtbar, je weiter entfernt sie von der Konsumption stattfindet. Diese wird entweder zum Spektakel verklärt - zum Beispiel in der Gläsernen Manufaktur in Dresden, wo seit 2001 die Luxuswagen von VW produziert werden als ob sie in Handarbeit entstünden. Oder der Produktionsprozess wird symbolisch durch den Konsumptionsprozess ersetzt, wie dies beispielsweise bei IKEA der Fall ist. Niemand weiß etwas über die Arbeiter, welche in den aus dem Unternehmen ausgelagerten Swedwood-Fabriken die Möbel herstellen. Dies wird auf symbolischer Ebene dadurch aufgehoben, dass die passive Konsumption durch den eigenhändigen Zusammenbau der halbfertigen

148 PHILIP URSPRUNG

Möbel im Eigenheim - hunderte Kilometer von der Fabrik entfernt - zur aktiven Partizipation wird, die einen emotionalen Mehrwert schafft. Wie die Industrie hat auch die moderne Kunst keine Mittel, um Arbeit adäquat darzustellen. Natürlich kann die Situation junger Kreativarbeiter, welche ja durchaus freiwillig für Eliasson arbeiten, nicht mit den SwedwoodMöbelarbeitern verglichen werden. Aber dennoch ist Eliassons Versuch, Kunstwerke in mehr als Artefakte zu verwandeln, durchaus den Strategien von Firmen vergleichbar, welche die unsichtbare Produktion mit einer zum emotionalen Ereignis, ja zum Event verklärten Konsumption verbinden. Im Unterschied zu vielen seiner Kollegen, welche sich einfach nicht über ihr Atelier äußern, hat Eliasson diese Zusammenhänge verstanden. Das narzisstische Atelier, das sich in ein Bild seiner selbst verwandelt und zugleich »Arbeit« zur »Forschung« erklärt, ist mit dem Prozess vergleichbar, bei dem die Wahrnehmung zu einer performativen Handlung gemacht wird. Liest man, wie Eliasson und Obrist ein Interview an Bord eines Privatflugzeugs führen - Teil des Honorars an den Künstler für einen Entwurf von Decken, welche sein Atelier für eine Fluggesellschaft herstellte - kommen die Mitarbeiter, welche die Decken entworfen und produziert haben ebenso wenig zum Zug wie diejenigen, die den gesprochenen Text abtippten und redigierten. 23 Aber als Leser ist man beruhigt zu wissen, dass das Atelier gut läuft und dass die Angestellten höchstwahrscheinlich ihre Arbeit schätzen, weil sie nicht entfremdet ist. Auch wenn sich die Existenz des Ateliers in einer Ausstellung nicht buchstäblich festmachen lässt, kann man doch davon ausgehen, dass die gemachten visuellen Erfahrungen aus einem größeren Unternehmen hervorgehen, dessen Mitarbeiter in diesem Sinne zu Performern eines weitergehenden Projekts werden. So wie die Objekte, welche das Atelier verlassen, mehr als gewöhnliche Produkte sind, so möchte auch der Besucher der Ausstellung annehmen, dass er mehr tut als bloß als passiver Konsument im Museum herumzugehen. Dieser Prozess ist selbstreproduzierend. Trotz aller Verweise auf Partizipation und kollektive Strukturen ist am Ende stets Eliasson der künstlerische Autor. Die Namen der Mitarbeiter erscheinen auf der Rückseite der Kataloge, sind im Impressum oder den Danksagungen angegeben. Mit Ausnahme von Einar Thorsteinn werden sie kaum als Individuen wahrgenommen. (Dies hat sich jüngst in immerhin einem Fall geändert, nachdem seine enge kunsthistorische Mitarbeiterin Anna Engeberg-Pedersen mittlerweile eigenständig in Publikationen erscheint.) Einige seiner früheren Mitarbeiter sind zwar inzwischen selbst erfolgreiche Künstler, so beispielsweise Jeppe Hein, Daniel Lergon, Henrik Olesen oder Tomas Saraceno, aber sie werden nicht auf Anhieb mit seinem Atelier in Verbindung gebracht. Mit Ausnahme der Atelierzeitschrift TYT zeigen die Aufnahmen vom Atelier nur ganz selten Mitarbeiter. Das Atelier wird als menschenleerer Ort dargestellt, vergleichbar den unbewohnten Einöden Islands. Wir kennen Warhols Factory als Kulisse für zahllose Gruppenbilder der Mitarbeiter. Und wir kennen das Studio Eliasson von zahlreichen Aufnahmen, wo die Arbeiter wie Staffagefiguren in der Landschaft wirken.

149 ARBEITEN IN DER GLOBALEN KUNSTWELT

Hier liegt, so meine Behauptung, der blinde Fleck in Eliassons Atelier. Seine Intention ist es, die heutige ökonomisch diktierte Trennung zwischen den heutigen Praktiken, der Kunstwelt, der Kunstgeschichte, des Designs und der Architektur zu überwinden. Dennoch bildet das Atelier nicht wirklich eine organische Einheit. Die Mitarbeiter werden bezahlt und ihre Aufgabe ist, Mehrwert zu produzieren. Ihre Arbeitsplätze hängen unmittelbar vom hohen Preisniveau für Gegenwartskunst ab, sowie von der Tatsache, dass sich Eliasson derzeit seine Kunden aussuchen kann. Man kann die Stellung der Mitarbeiter nicht wirklich mit dem Status von lose mit dem Atelier verbundenen Forschern gleichsetzen - also von Menschen wie mir, welche das Studio als vorübergehenden Ort für Experimente und Austausch empfinden, aber nicht davon abhängen. Divide et impera, »teile und herrsche«, ist der Schlüssel zu jeder Art von bürokratischer Machtausübung, sei es im Römischen Imperium, sei es die derzeitige Wirtschaft. So lange jede Praxis auf ihre eigenen Räumlichkeiten reduziert und in Selbstbespiegelung absorbiert ist, kann sie leicht kontrolliert und manipuliert werden. Eliasson weiß das. Sein Versuch, die wachsende Vielfalt von Berufen, vom Schmied zum Kunsthistoriker, von Funktionen wie der Publikationsabteilung über die Schule bis zum Museum miteinander zu vereinen, ist eine Reaktion auf die rasche Veränderung, welcher Arbeit und Institutionen heute unterworfen sind. Und es ist eine Methode, um im dynamischen Kontext der Kunstwelt zu bestehen. So wie Modekonzerne stets neue Kreationen entwerfen müssen, um in einem von Konkurrenzkampf geprägten Umfeld bestehen zu können, erschließt auch Eliasson stets neue Terrains und versucht damit, den Fallen von Formalismus und Kommerzialisierung zu entgehen. In diesem Vorgehen hat das Atelier zur Zeit eine zentrale Funktion, sowohl als effektive Maschine wie auch als Marke. In dem Projekt sind sowohl utopischer Idealismus als auch clevere Business-Strategie enthalten. Es ist ein Experiment, dessen Ausgang wir nicht kennen. Aber am Ende geht es um Kunst, nicht um Leben und Tod. Oder, in Allan Kaprows Worten: «Experimental art is never tragic. It is a prelude.24

Für Gespräche, Hinweise und Kommentare

in the Poststudio Era am Kongress der College Art

danke ich Sebastian Behmann, Wouter Davidts,

Association in New York sowie am 5. März 2008

1

Michael Diers, Nikola Dietrich, Caroline Eggel,

auf Einladung des Centre Marc Bloch in Berlin in

Olafur Eliasson, Anna Engeberg-Pedersen, Kim

der Galerie Aedes am Pfefferberg (Berlin) vortra-

Paice, Einar Thorsteinn und Monika Wagner.

gen.

Frühere Versionen dieses Textes durfte ich auf Einladung von Michael Diers und Monika Wag-

2

Olafur Eliasson: »A couple of years ago it

really expanded and I went from fifteen people

ner am 3. Februar 2006 in der Hochschule für

to twenty-five, thirty-five, forty-five. At some

bildende Künste Hamburg anlässlich des Sym-

point, I even had fifty, but now we're back down

posiums Topos Atelier: Werkstatt und

to around thirty-five people.« Olafur Eliasson,

Wissensform,

auf Einladung von Wouter Davidts und Kim

Interview mit Hans Ulrich Obrist, «The vessel

Paice am 14. Februar 2007 innerhalb der Sektion

interview, part II, flight Dubrovnik to Berlin,

The Fall of the Studio: Reassessing

2007«, in: Olafur Eliasson Hans Ulrich Obrist, The

l'atelier

d'artiste

150 PHILIP URSPRUNG

Conversation Series, Bd. 13, Köln 2008, S. 143178, hier S. 172. 3

Olafur Eliasson, Interview mit Hans Ulrich

Obrist, »A post-medium artist«, Copenhagen,

12

from Eidar to Reykjavik, Iceland, 2006«, in: Eliasson 2008 [wie Anm. 2], S. 125-140, hier: S. 131.

December 23, 2005, in: Eliasson, 2008, S. 79-90,

13

hier: S. 79.

14

4

»I have two electricians, two blacksmiths,

a carpenter, a furniture builder, as well as geo-

Olafur Eliasson, Interview mit Hans Ulrich

Obrist, »It's the journey, not the destination, Flight

Jones 2007 [wie Anm. 6], S. 323. Olafur Eliasson, Gespräch mit Philip Ur-

sprung, August 2006. 15

Ich besuchte das Atelier in Berlin im Janu-

metricians and artists. I also have two people

ar, August und Oktober 2006, das kleine Atelier

who are educated in stage design and theater.

in Kopenhagen im Oktober 2006 und im Januar

Then, of course, I have a group of architects, but

2007.

even within that group there are large differ-

16

Diverse international bekannte Theoreti-

ences: some of them are from the world of gra-

ker sind mit dem Atelier lose verbunden, bei-

phic design, some do very sophisticated 3D-dra-

spielsweise Mieke Bal, Beatriz Colomina, Jona-

wings, and some are more hands-on. 1 have an

than Crary, Rem Koolhaas, Bruno Latour, Hans

electrical engineer, and I have a light planner.

Ulrich Obrist, Peter Sloterdijk, Paul Virilio und

Occasionally, I have one or two model makers,

Peter Weibel. Dieses lose Netzwerk ist Teil eines

just as architectural offices do. Finally, the office

weiteren Netzes, welche Kuratoren, Architek-

itself is divided into rather diverse areas: I have

ten, Planer und Kritiker umfasst.

a publication department and an archive with two or three art historians. An then there's the bookkeeper and a project manager.« Olafur Eliasson, Interview mit Hans Ulrich Obrist, »The vessel interview, part II, flight Dubrovnik to Berlin, 2007«, in: Eliasson, 2008, S. 172. 5

Sebastian Behmann, Leiter des Architek-

tenteams in Eliassons Atelier, Gespräch mit Philip Ursprung, Januar 2006. 6

C. Jones: The Server/User Mode, in: Art-

forum XLVI, Nr. 2, Oktober 2007, S. 316-324. 7

Jones 2007 [wie Anm. 6], S. 317, Überset-

zung Philip Ursprung. 8

Jones 2007 [wie Anm. 6], S. 323, Überset-

zung Philip Ursprung. 9

H. U. Obrist, Interview mit Olafur Elias-

son, A post-medium artist, Copenhagen, De-

17

Studio Olafur Eliasson, An Enyclopedia,

Köln

2008. 18 19

Jones 2007 [wie A n m . 6], S. 318. Zur Beziehung zwischen De-Industriali-

sierung und Künstleratelier vgl. S. Zukin, Loft Living: Culture and Capital in Urban Change, Baltimore 1982. 20

C. Jones: Machine in the Studio,

ing the Postwar American

Construct-

Artist, Chicago 1996,

S. 263. 21

M. Hardt und A. Negri: Empire, Die neue

Weltordnung, Frankfurt a. M. 2002, S. 300ff. 22

Vgl. J. Rifkin: The End of Work, The Decline

of the Global Labour Force and the Dawn of the PostMarket Era, New York 1995. 23

Olafur Eliasson, Interview mit Hans Ul-

rich Obrist, »The vessel interview, part I, Flight

cember 23, 2005, in: Eliasson 2008 [wie Anm. 2],

from Berlin to Dubrovnik, 2007, in: Eliasson

S. 79-90, hier: S. 80.

2008 [wie A n m . 2], S. 143-161, hier S. 143-144.

10

C. Zarin: Seeing Things: The Art of Ola-

fur Eliasson, in: The New Yorker, 13. November 2006, S. 76-83. n

Begleitkarte zum Versand des gedruckten

Ausgabe von TYT [Take Your Time], Bd. 1, »Small partial experiments«, Berlin, November 2007.

24

A. Kaprow: Experimental Art, (zuerst in

Art News 65, Nr. 1,1966), wieder in A. Kaprow: Essays in the Blurring of Art and Life, hrsg. von Jeff Kelley, Berkeley 1993, S. 66-80, hier S. 80.

VIKTORIA SCHMIDT-LINSENHOFF

Re-Lokalisierung des Ateliers Zur Produktionsästhetik und Rezeption der Installationen von Georges Adéagbo

Man sollte niemals glauben, dass ein glatter Raum genügt, um uns zu retten. Gilles Deleuze und Félix Guattari, 1980 Der Beitrag diskutiert die Frage nach der künstlermythologischen und geographischen Topologie des Ateliers im Zeichen der aktuellen Globalisierungsprozesse und Migrationsbewegungen. Dabei sind vor allem künstlerische Praktiken von Interesse, die von der dominierenden Tendenz zur kulturellen Entdifferenzierung unter westlicher Vorherrschaft abweichen und in der Auseinandersetzung mit dem kolonialen Trauma Modelle postkolonialer Interkulturalität antizipieren. Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist weniger die seit 1990 gewachsene Akzeptanz und Mobilisierung von Künstlersubjekten aus Ländern der Dritten Welt, die ihre Ateliers in die erste verlagern, als vielmehr die Mobilisierung von Objekten, die in Subjektkonstitutionen eingreift. Beispielhaft für eine ästhetische Praxis der Aktivierung von fremden Dingen zu Akteuren einer neuen Art der Transkulturalität sind die Installationen des westafrikanischen Künstlers Georges Adéagbo. Welche Art von Subjektivität resultiert aus seinem Umgang mit objets trouvés, die sich umgekehrt proportional zur Tradition der Verdinglichung von Afrikanerinnen in der transatlantischen Sklaverei verhält?

Biographie und Verfahren Georges Adéagbo wurde mit der Installation Der Entdecker und die Entdecker vor den Entdeckungen. Das Welttheater für die Documenta 11 (2002) einem breiteren Publikum bekannt (Abb. 1). Nachdem das Museum Ludwig in Köln die für Kassel ortsspezifisch konzipierte Installation aufgekauft hatte, arbeitete der Künstler sie mit lokalen Bezügen zu dieser Stadt um, wo sie 2005 ausgestellt wurde.1 Die Rezeption nahm die Thematisierung der geteilten europäisch-afrikanischen Kolonialgeschichte kaum zur Kenntnis und ethnisierte

152 VIKTORIA SCHMIDT-LINSENHOFF

1. Georges Adéagbo: Der Entdecker und die Entdecker vor den Entdeckungen. Das Welttheater, 2002, Installation auf der Documenta 11, Kassel

stattdessen das Künstlerimage in Diskursmustern, die Kerstin Schankweiler kritisch untersucht hat. 2 George Adéagbo wurde 1942 in der französischen Kolonie Dahomey geboren, aus der mit der Unabhängigkeit 1960 die Republik Benin hervorging. Nach dem Studium von Jura und Betriebswirtschaft in Frankreich kehrte er 1971 unfreiwillig unter familiärem Druck in seine Heimatstadt Cotonou zurück und wurde mehrfach psychiatrisiert. Als ihn der französische Kunstagent Jean Marie Rousset 1993 entdeckte, hatte Georges Adéagbo in einer extremen sozialen Isolation seine kulturelle Praxis des Sammeins und Auslegens von Fundstücken und Texten als eine Form der indirekten, vermittelten Rede bereits seit gut zwei Jahrzehnten ausgeübt. Adéagbo setzte seine eigene Entdeckung als Künstler in der Installation Le Voudun/le Fetiche (1997) mit der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus gleich (gestützt durch das Zahlenspiel 1492/1942) 3 und stellte damit die Anerkennung seiner Person und seiner Arbeit in der monde de I 'art in einen kolonialgeschichtlichen Zusammenhang. Die Installationen sind ausnahmslos Auftragsarbeiten, deren Themen mit den einladenden Ausstellungsinstituten vereinbart werden: Sklaverei, Archäologie, Sozialismus, Kunst, Raum, Religion usw. oder die Hommage von Märtyrern und Helden wie Abraham Lincoln oder Napoleon (unter ihnen als einzige Frau Edith Piaf). Die Assemblagen bedecken teppichartig Fußboden und Wände des Ausstellungsraumes.

153 RE-LOKALISIERUNG DES ATELIERS

Sie bilden ein komplexes Flechtwerk aus Gegenständen, Bildern und Texten, dessen Rhizom-Struktur über die Grenzen des Galerieraumes hinausdrängt. Georges Adéagbo sammelt und verarbeitet lokale und globale Konsumgüter, Bücher, Tageszeitungen, Kalender, Plakate, Werbebroschüren, Wandschmuck, Nippes, Schallplatten, Textilien und Schuhe, geleerte Weinflaschen, Zigaretten und Streichholzschachteln usw. Hinzu kommen wertvolle afrikanische Skulpturen und Zeremonialgewänder, einige wenige Naturalia und die Dokumente einer Selbstarchivierung, die an frühere Ausstellungen erinnern und sie mit den Kuratorinnen und Institutionen der jeweils aktuellen verbinden. Die in einer schönen, altväterlichen Handschrift notierten Aufzeichnungen halten Tageseindrücke, Erinnerungen und Lektüren fest und kommentieren öffentliche und private Ereignisse. Daten- und Zahlenanalogien, Zitate und Selbstzitate, Orts- und Personennamen verknüpfen Hochkunst und Trivialkultur, Vergangenheit und Gegenwart, die engste, soziale Umgebung mit welthistorischen Horizonten, wobei sämtliche Hierarchien mit atemberaubender Selbstverständlichkeit außer Kraft gesetzt werden. Entscheidend ist die mehrfache Ortsbezogenheit der Exponate im Spannungsfeld zwischen dem Wohnort des Künstlers in Westafrika und den Ausstellungsorten der Installationen. Er entwickelt das Thema zunächst mit seinen Sammlungen im Rahmen der täglichen Routine des Auf- und Abbauens von Installationen in Cotonou.4 Während eines etwa zweiwöchigen Aufenthaltes am Ort der Ausstellung recherchiert er seine lokalen Aspekte mit Spaziergängen, Archivund Bibliotheks-, Museums- und Flohmarktbesuchen. Einige der vor Ort gesammelten Materialien werden - oft in Form von Fotokopien - nach Cotonou transportiert, wo Adéagbo Handwerker mit ihrer Übersetzung in westafrikanische Schildermalerei und Holzskulpturen beauftragt, die wiederum zurück an den Ort der Ausstellung transportiert und in die Installation integriert werden. Dazu ein Beispiel: Für die Installation Hommage à Napoleon le Grand in der Villa Medici (2000) recherchierte Adéagbo die Geschichte der französischen Akademie in Rom, die den Klassizismus der französischen Kunst seit dem 17. Jahrhundert prägte. Er ließ mehrere Gemälde Jacques-Louis Davids u. a. das Porträt Napoleons von 1812 - in Holzreliefs im Stil der Airport Art, bzw. in afrikanische Schildermalerei übersetzen. 5 Es ging dabei nicht um eine polemische Herabsetzung der akademischen Hochkunst der ehemaligen Kolonialherren oder eine Karikatur der europäischen Aneignung der art nègre in der primitivistischen Moderne am Anfang des 20. Jh., sondern um eine durchaus ernst gemeinte Korrektur der Einseitigkeit des Vorgangs. Das heißt, nicht nur der Künstler sondern auch seine Sammlungen reisen und wechseln - teilweise mehrfach - den kulturellen Kontext, der ihre Bedeutung konstituiert, ehe sie ihren Ort in der Installation finden, der keineswegs der ultimative, sondern nur eine von vielen Stationen ihrer Biografie ist.6 Adéagbos künstlerische Arbeit kann als ein zeitlich und räumlich intermittierender Prozess der Organisation und Transformation von mobilen Materialien beschrieben werden, was Homi Bhabha veranlasste, die Installationen als »Wanderarchive«

154 VIKTORIA SCHMIDT-LINSENHOFF

zu bezeichnen. 7 Die Frage nach dem Ort von Adéagbos Atelier erscheint angesichts des geographischen und medialen Hin und Her zwischen Kontinenten und Kulturen sinnlos. Dennoch soll sie hier gestellt werden, ist doch die Deterritorialisierung der künstlerischen Produktion eine dominierende Tendenz der Gegenwartskunst, die wesentlich zur kulturellen Akzeptanz einer beschleunigten Mobilität von Menschen und Gütern, Bildern und Ideen beiträgt, auf die der neoliberale Kapitalismus angewiesen ist. Adéagbo ist jedoch kein nomadisierender global player der transnationalen Kunstkonzerne; seine Sammlungen, die aus einer jahrzehntelangen Arbeit außerhalb des Kunstkontextes hervorgegangen sind und seine Installationen, die substantiell auch außerhalb des Kunstsystems funktionieren, sind ebenso wenig ortlos, wie sein Blick auf das Welttheater und die Kolonialgeschichte. Ich möchte zunächst den westlichen Rezeptionsrahmen skizzieren, der diesen Eindruck erzeugt und in einem zweiten Schritt die Arbeit des Künstlers in Cotonou/Benin relokalisieren. Es geht mir dabei nicht um eine Ethnisierung des Künstlers, sondern um die produktionsästhetische Relevanz einer westafrikanischen Metropole, deren Existenz die westliche Kunstkritik (und eine andere liegt nicht vor) negiert.

Integration Adéagbo ist sowohl in der regionalen Kunstszene Benins mit seinen Zentren in Cotonou, Porto Novo und Abomey als auch in den internationalen Kunstzentren des afrikanischen Kontinents - Dakar, Johannesburg, Luanda - so gut wie unbekannt. Die Institutionen, die den Künstler einladen, Kunstkritik und Publikum, die seine Arbeit zur Kenntnis nehmen, gehören einem Kunstbetrieb an, dessen Internationalität den afrikanischen Kontinent ausschließt. Diese Situation einer markanten Kluft zwischen den Orten der Produktion und denen der Rezeption ist für die meisten international agierenden Künstler in Westafrika charakteristisch. 8 Auf den ersten Blick entsprechen die Installationen den monströs uniformen Erwartungshaltungen der globalisierten Kunstszene, stimmen sie doch nicht nur mit den gängigen, künstlerischen Verfahren der Moderne und Postmoderne überein, sondern auch mit europäischen Traditionen der Interkulturalität. So lobte Edouard Beaucamp anlässlich der Documenta 11 Adéagbos »ethnologische Adaption des Nordens durch den Süden« in der »synkretistischen Installation«. 9 Beat Wyss fühlte sich an Kunstkammern erinnert und verglich seine Arbeit mit Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas.10 Bruchlos scheint sich Adéagbos ethnographischer Blick auf die europäische Kultur und sein fetischisierender Umgang mit objets trouvés in die Tradition einer surrealistischen Objektkunst einzufügen, für die André Bretons Sammlung in seinem Pariser Atelier exemplarisch ist (Abb. 2). Zeitgleich mit Adéagbos endgültiger Akzeptanz auf dem Kunstmarkt nach der Documenta 11 wurde Bretons Sammlung in der Surrealismus-Ausstellung

155 RE-LOKALISIERUNG DES ATELIERS

2.

Gisèle Freund: André Breton in seiner Atelierivoiinung Paris, Rae Fontaine 24,1954

des Centre Pompidou 2001 musealisiert. Nicht nur die Heterogenität von Objekten der Avantgarde-,Volks- und Stammes-Kunst, sondern auch deren akkumulierende Präsentation in offenen Etageren und die Rhizom-Struktur der Anordnung sind mit Adéagbos Installationen vergleichbar, wobei allerdings Künstler wie Picasso, Miró oder Giacometti nicht wie in Bretons Sammlung durch Originale, sondern durch Kunstbücher und Postkarten vertreten sind. Mit der Einbeziehung von Bretons Sammlung als Schlüsselwerk des Surrealismus in den Rundgang der Dauerausstellung definierte das Centre Pompidou 2002 die Tätigkeit des Sammeins und Anordnens von vorgefundenen Objekten unterschiedlicher Kategorien als genuin künstlerisches Verfahren. Es bestätigte damit die Aktualität eines europäischen Primitivismus, der sich nicht nur - wie der Kubismus - auf Formkonzepte, sondern auch auf kulturelle Aneignungs-, Austausch- und Abgrenzungsprozesse bezieht. Als Sammler praktizierte Breton von 1923 bis zu seinem Tod im Jahre 1966 die primitivistischen Grundideen des Surrealismus, ohne deren politischen Funktionswandel im Kontext der Dekolonisierung zu reflektieren. War die Entkolonialisierung Benins 1960 die Voraussetzung, dass Adéagbo heute als künstlerisches Subjekt auf der kulturellen Bühne der ehemaligen Kolonialherren überhaupt auftreten kann, so bleibt seine Anerkennung doch an primitivistische Konzepte einer art magique gebunden, zu deren Popularisierung Breton noch 1957 mit einer Buchpublikation beitrug und die das Centre Pompidou 2002 mit der Musealisierung seiner Großen Wand kanonisierte." Adéagbos Installationen lassen sich jedoch nicht nur mit surrealistischer Ethnologie und Objektkunst, sondern auch mit jüngeren Trends in Verbindung bringen, etwa mit dem Gen-

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re der Künstlermuseen, für die Marcel Broodthaers Departement des Aigles von 1972 oder Claes Oldenburgs Mouse Museum aus den Jahren 1965 bis 1977 stehen. Letzteres war als Teil der ständigen Sammlung gleichzeitig mit Adéagbos Welttheater im Kölner Museum Ludwig zu sehen und forderte damit zum Vergleich der Sammlungen und der kuratorischen Stile der beiden Künstler heraus. Schließlich fügen sich Adéagbos Arbeiten in postmoderne Konzepte eines Künstlersubjekts ein, das sich in einem weiteren kulturellen Feld mit kulturanthropologischen Methoden der Selbstarchivierung verortet, für deren Wertschätzung die Ausstellung von Andy Warhols Time Capsules im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt (2003) oder Sophie Calles Selbstfiktionalisierungen, wie sie etwa 2003 im Centre Pompidou in Paris gezeigt wurden, genannt seien. Viele Künstlerinnen - z.B. Anna Oppermann, Sigrid Sigurdsson, Mark Dion, Karsten Bott, Thomas Hirschhorn oder Jonathan Meese - arbeiteten in den 1990er Jahren mit archivierenden Verfahren, kuratorischen Gesten und musealen Präsentationsformen, derer sich auch Adéagbo bedient. Die Assimilierung seiner Installationen an westliche Geschmacksund Diskursmuster wird nicht zuletzt von dem postmodernen Image des Künstlers als »Organisator ästhetischer Prozesse« gesteuert, dessen Beschreibung von Michael Wetzel Adéagbo geradezu modellhaft entspricht: »An die Stelle des Schöpfers tritt der Autor-Künstler als Sammler, Archäologe/Ethnograph, Spurensicherer, Journalist, Publizist, aber auch als Interpret, Kritiker und Theoretiker seines eigenen Tuns.«12 Adéagbos Installationen lassen sich also bruchlos in surrealistische Traditionen des Primitivismus, in postmoderne Künstlermythen und in die Kontext- und Archivkunst der 1990er Jahre 13 integrieren, deren Spektren sie allenfalls durch das Thema der Kolonialgeschichte erweitern. Darüber hinaus gelten die Installationen Adéagbos heute als künstlerische Belegstücke für Theorien des Postkolonialismus, wie sie in den vergangenen dreißig Jahren an nordamerikanischen Universitäten von Edward Said, Gayatri Spivak, Stuart Hall und Homi Bhabha entwickelt wurden.14 Diese Theorien rekurrieren nicht auf eine vorkoloniale, vermeintlich authentische Identität indigener Gesellschaften, sondern betonen die kulturelle Produktivität von Prozessen der Kreolisierung und die kulturelle Handlungsfähigkeit der Kolonisierten. Die meisten Künstlerinnen der afrikanischen Diaspora, deren Auseinandersetzung mit Kolonialismus und Rassismus der Kunstmarkt seit 1990 mit wachsendem Interesse zur Kenntnis nimmt, gehen, wie Fred Wilson, Renée Green, Kara Walker oder Yinka Shonibare, von Fragestellungen der postcolonial studies aus, wie sie etwa in Berkeley oder am Londoner Goldsmiths College gelehrt werden. Das hohe Reflexionsniveau ihrer konzeptuellen Arbeiten hat wesentlich zum Diskurs beigetragen und die Grenzen zwischen Kunst- und Theorieproduktion tendenziell verwischt. Obwohl sich Adéagbo für diese akademischen Debatten wenig interessiert und seine Installationen schwerlich in deren Sinn rational auflösbar sind, scheinen sie doch die grundlegenden Theoreme der postcolonial studies zu veranschaulichen: Selbstartiku-

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lation der Subalternen, Nomadismus und Hybridität. Insbesondere die Transkulturalität der Objektensembles und der diasporisch-nomadische Charakter der Installationsräume legen das Deutungsmuster der Hybridität nahe, das in den 1990er Jahren zum wichtigsten Paradigma postkolonialer Theoriebildung avancierte. Die Revision der Erfolgsgeschichte dieses Begriffs stellt eine bemerkenswerte Ambivalenz fest. In den globalisierungskritischen Kulturwissenschaften bezeichnet er einen postkolonialen Multikulturalismus, in der Sprache der transnationalen Konzerne und der Werbewirtschaft Homogenisierung und einen kommerzialisierten Differenzkonsum. 15 Während die Kunstkritik der 1990er Jahre die Installationen von Adéagbo oft im Paradigma der Hybridisierung als Überwindung nationalistischer Identitätspolitiken gedeutet hat, greift Homi Bhabha 2004 in einem Katalogbeitrag über Adéagbo nicht auf diesen von ihm selbst in die postcolonial studies eingeführten Schlüsselbegriff zurück. Er betont stattdessen einen »exzessiven Überschuss von Zeichen« und eine Sprache der »Mittelbarkeit«, die zwar für jede Symbolisierung gilt, hier jedoch auf das koloniale Trauma verweise.16 Der Erfolg von Adéagbos Installationen ist nicht nur in ihrer Konformität mit dominierenden Tendenzen der Gegenwartskunst begründet, sondern auch in ihrer Lesbarkeit mit Paradigmen der postcolonial studies, die - wie der Künstler selbst - die aktuellen Globalisierungsprozesse auf den historischen Hintergrund einer verleugneten Kolonialgeschichte beziehen. Vor diesem Hintergrund lässt sich nach dem ästhetischen Widerstand fragen, den die Installationen gegen ihre vollständige Integration in hegemoniale, westliche Geschmacks- und Deutungsmuster leisten. Welche neuen Bedeutungsfelder eröffnen sie, wenn man - nur ein wenig - auf Assimilierung und Projektion verzichtet?

Produktionsästhetik: Cotonou Entscheidend für die besondere Wirkung von Adéagbos Installationen ist ein Umgang mit Dingen, Bildern und Texten, der - unabhängig von den Themen der Installationen - affektiv berührt und ergreift. Es lässt sich die These aufstellen, dass diese Wirkung in dem produktionsästhetischen Kontext der westafrikanischen Metropole Cotonou begründet ist, der von der westlichen Rezeption bislang vollständig unbeachtet geblieben ist (Abb. 3,4). Durch einen Aufenthalt an der Universität Cotonou 2001/2002 hatte ich Gelegenheit, frappierende Analogien zwischen der Struktur der Stadt und Georges Adéagbos Installationen festzustellen. Die westafrikanische Metropole, die sich unter Schwaden giftiger Abgase wie ein wucherndes Geschwür ausbreitet, erscheint auf den ersten Blick von abstoßender Hässlichkeit und bestürzender Armut: ein amorphes Agglomerat, an dessen exzessiver Fülle und wüsten Brachen Architektur und Urbanistik als Ordnungsmächte scheitern. Die Urbanität Cotonous setzt sich über alle Regeln europäischer Stadtbaukunst und des internationalen Funktionalismus hinweg, ist jedoch keineswegs regellos. In

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3.

Cotonou, Postkarte, 2001, Foto: Emile Hazoumé

ihrer ästhetischen, sozialen und ökonomischen Logik ist unschwer die Struktur von Adéagbos Installationen wiederzuerkennen. Strukturanalog sind: das rhizomatische Wuchern, das Ephemere und das Provisorische, die temporäre Nutzung von Räumen und Dingen, ihre permanente Transformation, die Armut der Materialien und der Reichtum der Symbolisierung, das Fehlen eines Masterplans, die Schildermalerei, die Gleichrangigkeit von Bild und Schrift, die glamouröse Vitalität der Popular- und die Sterilität der Hochkultur, die vollkommene Abwesenheit von Nostalgie, die Nonchalance der Kontraste, vor allem aber eine verschwenderische Vielfalt, die sich markant von der Uniformität der Städte unterscheidet, in denen Adéagbo seine Arbeiten ausstellt. Weitere Parallelen sind: die Lust an der maßlosen Akkumulation von gleichartigen Dingen, die nicht identisch sind und die bedenkenlose Aneignung globaler Konsumgüter zum lokalen Gebrauch, der in den subsistenzwirtschaftlichen Gesellschaften Westafrikas neue Bedeutungen produziert.17 Michel de Certeau hat einen von den Produzenten nicht vorgesehenen Gebrauch von Produkten einer »herrschenden Ökonomie« als Technik subversiven Handelns beschrieben und historisch aus dem kolonialen Kontext des Entdeckungszeitalters abgeleitet.18 Die Ästhetik der Stadt und die der Installationen sind in einer Ökonomie der récupération begründet, die quer zu den Zwecken und Geographien der globalisierten Produktion und Konsumtion verläuft. Verbrauchte Industrie- und Konsumgüter werden nicht als Müll oder Metapher behandelt, sondern transformiert und als Ressource genutzt. Die im Alltagsleben in Benin weit verbreitete Wieder- und Weiterverwendung von zerschlissenen und disfunktional gewordenen Dingen spielt auch in der

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4. Georges Adéagbo: Das pythagoreische Zeitalter (Das Wohn- und Atelierhaus von Georges Adéagbo und Stephan Köhler am Stadtrand von Cotonou), 2000

dortigen Gegenwartskunst eine wichtige Rolle. Unverzichtbar für die Subsistenzwirtschaft des informellen Sektors und den improvisierten Wohnungsbau der Mehrheit der Stadtbevölkerung ist récupération zugleich dominierende Kunstpraxis. Das Verfahren wird jedoch sehr unterschiedlich genutzt - so etwa von Romuald Hazoumé, den Brüdern Calixte und Théodore Dakpogan oder Dominique Zinkpé - so dass récupart keinen einheitlichen Stil bezeichnet, sondern eher die lokalen Rahmenbedingungen beschreibt, unter denen auch Adéagbos Werk entsteht. Die Spannung zwischen dem Mangel an internationalen Konsumgütern und der Virtuosität der bricolage, zwischen materieller Not und symbolischem Überschuss verbindet seine Installationen mit den ökonomischen Überlebenskünsten der Stadt, in der er sein Leben verbracht hat und in der er nur mit Hilfe seiner Installationspraxis psvchisch überleben konnte. Anders als viele Künstler in Benin konstruiert Adéagbo nicht Skulpturen aus alten Kotflügeln oder Fahrradteilen, aus Plastikkanistern oder chinesischen Emailleschüsseln, sondern lässt die Gestalt seiner Fundstücke unverändert und intakt, so dass ihre ursprüngliche Funktion erhalten - man kann die Bücher und Zeitschriften in der Installation lesen -

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oder zumindest wiedererkennbar bleibt. Seine künstlerische Handlung der récupération ist eine des Bewahrens, sie hat einen stark konservatorischen Aspekt und erschließt neue Bedeutungen nicht durch gewaltsame Eingriffe ins Material, sondern durch behutsame Zuwendung zu den Dingen. Im Unterschied zur pittoresken Ästhetisierung des Mülls und zur provokativen Kraft des Ekels, mit denen Künstler wie Jonathan Meese im Kontext der westlichen Konsumkultur rechnen, zielt Adéagbos fürsorglicher Umgang mit verbrauchten Materialien und mit vom Schicksal gebeutelten Dingen darauf, gefährdete oder zerstörte symbolische Ordnungen und soziale Beziehungen zu rekonstruieren. In diesem Zusammenhang sind Beobachtungen der afrikanischen Stadtsoziologie von Interesse. So betont Elikia M' Bokolo, dass Metropolen in Afrika zwar zum einen als schlechtes koloniales Erbe und Inbegriff einer fremdbestimmten Modernisierung, als mal urbain, gelten, zugleich aber auch mit neuen, Urbanen Solidargemeinschaften die Rekonstruktion der zerstörten traditionellen Sozialsysteme mit ihrem System wechselseitiger Verpflichtung erlaubt.19 Xavier Crépin definiert als Spezifikum afrikanischer Metropolen eine kollektive Symbolisierung, die Dinge und Orte mit Personen und Ereignissen erinnernd verbindet, deren Zusammenspiel die Stadt strukturiert: »II s'agit plus d' une ensemble d'objets et de lieux qui sont liés à des personnes ou à des groupes et evennements qui sont attachés [.. .]«20 Und Gwendolyn Wright sieht die ambivalente Modernität der afrikanischen Stadt, die der Westen aus seinem Bewusstsein gelöscht habe, vor allem in einer kreativen Reaktion auf koloniale Unterdrückung und in der produktiven Aneignung des Fremden, mit der die afrikanische Metropolenkultur aus der kolonialen Not der Vergangenheit eine Tugend der Postmodernität machen konnte. 21 In diesem Sinn ist auch Adéagbos Kunst nicht ironisch dekonstruktiv, sondern stellt gestörte Beziehungen wieder her und regeneriert beschädigtes Leben.

Medialität und Markt Bei meinem Aufenthalt im Jahr 2002 war auffällig, dass im Unterschied zu vielen anderen Ländern der Dritten Welt in Benin das Fernsehen an öffentlichen Orten und in privaten Haushalten eine erstaunlich geringe Rolle spielte. Niemand käme hier auf die Idee zu behaupten, dass Bilder Wirklichkeit ersetzen. Weit und breit keine Spur von den medialisierten ethnoscapes und ethnisierten mediascapes, die Arjun Appadurai 1997 als emanzipatorische Potentiale einer deterritorialisierten Kultur der Globalisierung idealisiert hat.22 Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass die Urbanität Cotonous vormodern oder ursprünglich sei. Sie ist im Gegenteil hochgradig medialisiert: Gesten, Frisuren, Kleiderstoffe, Schildermalerei, T-Shirts, Mofa-Taxis, ambulante Garküchen oder Voudou-Altäre sind urbane Medien, die sich durch ihre Materialität von den elektronischen unterscheiden. Nicht virtuelle Räume oder digitale

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Bilder vermitteln das Imaginäre, sondern Dinge und Bilder, deren Symbolkraft - wie beim Fetisch in der staatlich anerkannten Voudou-Religion, die ein Drittel der Bevölkerung praktiziert - an ihre materielle Substanz gebunden ist. Adéagbos konsequenter Verzicht auf Fernseher, Bildschirme, Video, Internet und digitale Fotografie lässt sich mit der Medienrealität der Stadt erklären, in der er lebt und arbeitet. Die im Vergleich zum benachbarten Nigeria überraschend geringe Bedeutung von Fernsehen und Internet sowohl für die urbane Kultur als auch für die Gegenwartskunst in Benin ist vor allem in ökonomischen Gegebenheiten begründet, etwa in der Anzahl der elektrifizierten Haushalte. Ihre Abwesenheit in den multimedialen Installationen Adéagbos ist nicht als Plädoyer gegen die neuen Medien gemeint. Die Installationen polemisieren nicht gegen technischen Fortschritt oder totalitäre Medienherrschaft, der Künstler arbeitet vielmehr mit der Medienkultur eines Landes, das von den globalen Bilderströmen nicht erreicht (man könnte auch sagen verschont) wird. Die abendliche Nachrichtensendung des staatlichen Fernsehens beschränkt sich überwiegend auf regionale Ereignisse, weil die Bilder der internationalen Agenturen unerschwinglich sind. Die Stadt und ihre Märkte liefern Georges Adéagbo nicht nur den größten Teil der Objekte in seiner Sammlung, sie prägen auch die Präsentationsformen der Installationen, die bis 2007 auf Vitrinen, Sockel und Schachteln verzichten, wie sie in der konzeptuellen Museums- und Archiv-Kunst emblematisch geworden sind. Die Exponate werden haptisch wahrgenommen und treten in ein körperliches Verhältnis zu den Betrachterinnen. Für das westliche Kunstpublikum erinnert die ambulante Betrachterposition ohne vorgeschriebene Leserichtung an den Habitus eines Flaneurs oder Ethnologen oder an die verschlungenen Wege der Psychoanalyse und der oral history, die die lineare Fortschrittslogik offizieller Geschichtsschreibung relativieren. Von Cotonou aus gesehen impliziert die Präsentationsästhetik jedoch keineswegs Institutionen- oder Ideologiekritik, sondern Konformität mit der Warenästhetik des Marktes. Nicht die wenigen auf den Autoverkehr zugeschnittenen Verkehrsachsen der kolonialen Verwaltungszentren, sondern die differenzierte Typologie der Märkte strukturiert die Stadt. Der große Dantopka-Markt - dessen Einzugsgebiet ganz Westafrika ist - besteht aus einem labyrinthischen Meer flacher Marktbuden, aus dem ein riesiger Betonbunker machtvoll herausragt. Offene Markthallen, deren Wellblechdächer auf fragilen Holzstangen aufliegen, dienen dem täglichen Bedarf der Stadtteile, kleine Fetischmärkte machen in entlegenen Quartieren spezialisierte Angebote, der ambulante Straßenhandel - überwiegend in der Hand von Frauen und Kindern - verdichtet sich spontan zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten, so etwa während der rush hour auf den Brücken. Die Formen und Funktionen der Märkte, die Topographie und Klassifizierung der Güter und die Ästhetik ihrer Zurschaustellung sind von einer Mannigfaltigkeit, die jedem Versuch entgegensteht, die westafrikanische Warenästhetik zu definieren. 23 Als gemeinsames Merkmal kann eine semantische Aufladung der Dinge bestimmt werden, die nicht

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in ihrem Tausch- oder Gebrauchswert aufgeht. Sie zirkulieren als Waren und sind zugleich soziale Medien, deren Wanderwege den öffentlichen Raum strukturieren. Um den geringen Unterschied zwischen agrarischer und industrieller Subsistenzwirtschaft in westafrikanischen Metropolen zu verdeutlichen, rekurriert der Soziologe Xavier Crépin auf die Warenästhetik des Verkaufs: Ein Haufen Früchte oder ein Haufen Wasserrohre am Straßenrand sehen nicht nur ähnlich aus, sie funktionieren auch auf eine ähnliche Art und Weise in der Ökonomie des informellen Sektors, der der afrikanischen Großstadt den Charakter einer permanenten Baustelle verleiht, in der bedenkenlos aufgebaut und abgerissen wird - ein andauerndes Provisorium, das sich zugleich auf ewige Gründungsmythen beruft. 24 Die ephemeren Installationen, die Georges Adéagbo für seine Auftraggeber im Ausland erarbeitet, werden wesentlich von seiner Praxis der Tages-Installationen in Cotonou geprägt. Der Rhythmus der täglichen Montage/Demontage und die Entfaltung historischer Narrative aus den Exponaten ist dem elan culturel des westafrikanischen Marktes verpflichtet. Nicht zufällig haben zwei Kunstkritiker afrikanischer Herkunft, Okwui Enwezor und Simon Njami, auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht. Enwezor schreibt 1995: »The African market place: as pure contingency, as a perpetual site of accumulation and collocation, mercantile exchange and cultural entropy is the sensibility which Adéagbos installation both suggest and replicate.« 25 Simon Njami berichtet in der Revue Noir im selben Jahr über die Literatur- und Kunstszene Benins, wobei er den Städten als Orten künstlerischer und literarischer Produktion mehr Aufmerksamkeit schenkt als einzelnen Autoren- und Künstlerportraits, unter ihnen Adéagbo, dessen Installation La paix dans le Monde für eine Ausstellung des Völkerbundes in Genf er ausdrücklich in Cotonou verortet und für das Kunstleben dieser Stadt reklamiert. 26 Enwezor schreibt Adéagbo das Verdienst zu, den Beitrag Afrikas zur Postmoderne zu antizipieren: »by means of its transcription, translation and transformation of a cultural sphere into an aesthetic one. Thus the cultural space (the market place) represents a shifting, unfixed universe which the aesthetic space (Adéagbo's installations) encounters and renders allegorically.« 27 Beide Autoren vergegenwärtigen Hoffnungslosigkeit und Schönheit der Stadt Cotonou und vermitteln die Tristesse einer von internationalen Märkten und Diskursen abgeschnittenen Kunstszene. 28 Allein ihre Ortskenntnis erlaubte es ihnen, in Georges Adéagbos Installationen die ästhetische Produktivkraft einer Urbanen Kultur zu erkennen, die in den Präsentationsformen des Marktes am deutlichsten hervortritt.

White Box: Berlin, Ulm Um die Jahreswende 2006/07 hat Adéagbo mit einem DAAD-Stipendium als artist in residence in Berlin gearbeitet (Abb. 5). Das Atelier im Kreuzberger Künstlerhaus Bethanien ist ein hoher, weiter Raum, der - gerade erst reno-

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5. Georges Adéagbo's Boxen im DAAD-Künstlerprogramm Atelier, Künstlerhaus Bethanien, 2006-2007, Foto: Stephan Köhler

viert, blendend weiß gestrichen und blitzsauber - den white cube modellhaft vergegenwärtigt. Hier entstanden die weißen Holzkästen, die Adéagbo als ein neues Gestaltungselement verwendet. Flach und mit Plexiglasscheiben verschlossen erinnern sie an museale Schrankvitrinen oder altmodisch provinzielle Schaukästen, weniger an Container oder an die Gehäuse, in denen die surrealistische Objektkunst in Konkurrenz zur Museumsvitrine präsentiert wurde und die Breton mit den offenen Etageren für seine koloniale Kunstkammer variierte. Die produktionsästhetischen Zusammenhänge zwischen dem Berliner Atelier und dem neuen Gestaltungselement sind ebenso offensichtlich wie die pragmatischen Gründe für seine Einführung. Die offene, ephemere Präsentation von vielteiligen Ensembles, die Rhizomstruktur und die symbiotische Bindung der Installation an ihren jeweiligen Ausstellungsort schränken die Verkäuflichkeit ein. Privatsammler können sie schwerlich als Dekoration in ihre Wohnräume integrieren, für die Museen bedeutet die konservatorische Betreuung zusätzlichen Arbeitsaufwand. Die steigende Nachfrage des Marktes, die Ausdruck einer wachsenden Wertschätzung afrikanischer Gegenwartskunst im Allgemeinen und der besonderen Eigenart von Adéagbos Installationen ist, scheint diese in einer paradoxen Weise aufzuheben, wenn die oben beschriebene Integration auf der Rezeptionsseite in die Produktion eingreift. Die Konsequenzen der weißen Kästen für die Präsentationsästhetik der Exponate sind weitreichend. Sie kasernieren die Dinge

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6. Georges Adéagbo: Créer le monde en faisant des Collections (Hommage à Christophe Weickmann), 2007, Installation, Ulmer Museum und distanzieren sie von den Betrachterinnen. Die Schaukästen beschneiden das Wuchern der Assoziationsketten und Materialensembles, die auf den Kastenrahmen wie auf einen Bilderrahmen hin komponiert sind und den Betrachterstandpunkt wie vor einem Gemälde fixieren. Der erste Einsatz der in Berlin hergestellten Kästen in einer Installation im Februar 2007 gab Gelegenheit, ihre Wirkung außerhalb des DAAD-Ateliers zu überprüfen. Das Ulmer Museum hatte eine Installation für die GruppenAusstellung Weickmanns Wunderkammer. Hommage mit Georges Adéagbo, Matthins Beckmann, Candida Höfer in Auftrag gegeben (Abb. 6, 7). Der Grundgedanke war, den ältesten Bestand des kulturgeschichtlichen Museums und seine institutionelle Vorgeschichte zu aktualisieren und mit den Abteilungen zur Kunst des 20. Jahrhunderts zu verbinden. Die Hommage galt der um 1650 entstandenen Kunstkammer des Ulmer Kaufmanns Christoph Weickmann, von dessen durch alte Inventare bestens belegten Sammlung rund hundert Objekte erhalten sind. Matthias Beckmann katalogisierte Sammlungsobjekte und Präsentationsorte in Umrisszeichnungen, Candida Höfers Fotografien aus der Serie In ethnographischen Sammlungen (1972-2007) thematisieren den musealen Apparat der Völkerkunde. 29 Während die gerahmten Federzeichnungen und Fotografien in neutralen Ausstellungsräumen gehängt waren, besetzte Georges Adéagbo einen historischen Schauraum des 17. Jahrhunderts mit der Installation Créer le monde en faisant des Collections (Hommage à Christoph

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7. Georges Adéagbo: Créer le mande en faisant de·? Collections ( Hommage à Christoph Weickmann) Weickmann) - Welten und Sammeln. Druck- und Fundsachen, Nippes, Krippenfiguren, Plakate, Zeitungsausschnitte, handschriftliche Texte, Fotos, afrikanische und schwäbische Masken, Gemäldekopien von afrikanischen Ethnographica aus der Weickmannschen Kunstkammer und deutsche Ethnographica, die Adéagbo in Berlin und Ulm gesammelt hatte, waren zu gleichen Teilen in den weißen Schaukästen untergebracht und als ungeschützte Ensembles frei ausgelegt oder an den Wänden angebracht. Beide Präsentationseinheiten bezogen sich formal und thematisch auf den historischen Raum, den Festsaal des so genannten Kiechel-Hauses. Die reiche dekorative Ausstattung des 17. Jahrhunderts und die historisierende Möblierung mit Truhen und Stühlen, Renaissanceschränken und Ehepaarbildnissen des 18. Jahrhunderts dokumentierten die Wohnkultur des reichsstädtischen Patriziats, dem Weickmann angehörte, dessen Kunstkammer in zwei angrenzenden Ausstellungsräumen sorgfältig rekonstruiert ist. Westafrikanische Königsgewänder, ein Zeremonialschwert aus dem heutigen Ghana, ein Elfenbeinlöffel der Owo (heute Nigeria) und ein mit figurativen Reliefs verziertes Wahrsagebrett aus dem ehemaligen Königreich der Ife (heute Benin) wurden von Weickmann über Augsburg von den holländischen Handelsniederlassungen an der westafrikanischen Sklavenküste erworben. Das Inventar von 1656 führt sie unter der Kategorie Fremde/Kunst-und Curiose Sachen. Ihre handwerkliche und ästhetische Qualität vermittelt die hohe Wertschätzung afrikanischer Kunstfertig-

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keit und erzeugt die Vorstellung von einer interkulturellen Beziehung zwischen gleichberechtigten Handelspartnern. 30 Adéagbo stellte die nicht ganz alltägliche Begegnung mit den westafrikanischen Artefakten, deren kulturelle Biographie sich seit mehr als 350 Jahren in Ulm abspielt, jedoch nicht in den Mittelpunkt der Installation. Die kleinformatige Gemäldekopie des IfeBretts, die der Schildermaler mit dem Künstlernamen Esprit in Cotonou nach Fotos angefertigt hatte, hing nicht an zentraler Stelle, sondern wie eine beiläufige Vignette neben der Tür, die die Weickmannsche Kunstkammer mit Georges Adéagbos Installationsraum verband. Der Künstler fokussierte nicht die afrikanischen Exotika der schwäbischen Kunstkammer, sondern die Ulmer Ehepaarportraits des 18. Jahrhunderts, die er mit verkleinerten, westafrikanischen Kopien kommentierte. Die Kopien unterzogen die nach Stand und Geschlecht identifizierten und in Pendants fixierten Porträts einem systematischen Partnertausch, der sie in ein neues Verhältnis zueinander, zum historischen Raum und zur Sammlung von Georges Adéagbo setzte. Entscheidend war dabei nicht allein die Umgruppierung der Ehepaare, sondern auch die Mobilisierung der signifizierenden Attribute. Ein gemalter Blumenstrauß in der Hand einer Ulmer Patrizierin verband sich über den Bilderrahmen hinweg mit der Fotografie eines Blumenstraußes in einem Zeitungsausschnitt, die gemalte Amtskette eines Patriziers mit den Gliedern einer grob geschnitzten, afrikanischen Kette, die auf der Wand neben dem Gemälde hing. Die Lockerung der historischen und aktuellen, gemalten und dinglichen Signifikantenketten, die sich in der rigiden Geschlechter- und Standesordnung der Ehepaarbildnisse kreuzten, entsprach der Funktion der white boxes. So wie die Installation mit der Verflüssigung der Zeichensysteme die Betrachterinnen überzeugte, dass alles auch ganz anders hätte sein können, stellte sie Bezüge zwischen den Objektensembles innerhalb und außerhalb der weißen Kästen, zwischen den Kästen und dem Museumsraum her. Die Kästen vermittelten zwischen dem historischen Raum und seiner historistischen Musealisierung, zwischen Weickmanns kolonialer und Adéagbos postkolonialer Sammlung. Sie bezogen sich auf Fenster und Türen, auf Schränke und Truhen, auf Museumsvitrinen und didaktische Schautafeln. Weit davon entfernt, die mit dem white cube behauptete soziale Beziehungslosigkeit der modernen Kunst zu bestätigen, vergegenständlichten sie vielmehr die Abhängigkeiten des Modells von seinem Gegenteil. Hatten sie in Adéagbos temporärem Berliner DAADAtelier wie eine mimetische Anpassung an den Raum und den Kunstbegriff der Gastgeber gewirkt, so funktionierten sie hier wie Gelenke, die den Zusammenhang zwischen antagonistischen Kunstbegriffen und Präsentationsstilen sichtbar machten. Die Ensembles waren keineswegs - wie oben beschrieben in den Vitrinenkästen kaserniert oder bildhaft still gestellt, sondern setzten sich jenseits der Glasscheibe fort, so dass die gläserne Grenzlinie zwischen Innen und Außen, zwischen dem Interieur der Schaukästen und dem Raum der Betrachterinnen durchlässig wurde. Der Fluss der Installation schien die scharfen Kanten der Kästen wie ein beweglicher Saum zu umspielen und

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lenkte die Aufmerksamkeit auf den Übergang von visueller und taktiler Wahrnehmung. Schließlich lag es nahe, die elegant proportionierten Schaukästen auf die wuchtige Schrankvitrine zu beziehen, in der die fragilen Kunstkammerstücke der Weickmannschen Sammlung hinter schwerem Panzerglas zu ersticken drohten. Reduziert auf historische Dokumente mit einer institutionell kontrollierten Aussage boten die Dinge den Anblick trauriger Überreste, der eher die Melancholie des Verlustes als die leibhaftige Präsenz des Überlieferten vermittelte. Georges Adéagbos Kommentar zu einer Kunstkammer, die an den spezifisch deutschen Beitrag zur Kolonialkultur der Frühen Neuzeit erinnert, war nicht ideologiekritisch, sondern ästhetisch konzipiert. Er thematisierte weder die handwerkliche Qualität afrikanischer Artefakte als Beweis der umstrittenen Kulturfähigkeit von Afrikanerinnen, noch das fragwürdige Interpretations- und Besitzrecht europäischer Museen an ihnen. Stattdessen forderte er das Publikum zum Vergleich der musealen Präsentationsästhetik mit seiner eigenen heraus. Am Kampf um die Definitionsmacht über afrikanische Artefakte mit Mitteln der Präsentation hat sich die europäische Avantgarde seit dem Almanach Der Blaue Reiter von 1912 leidenschaftlich beteiligt. Mit der typographischen Freistellung von Masken und Fetischen im Foto-Kunstbuch und mit einer isolierenden Präsentation in Vitrinen erschien in den 1920er Jahren der autonome Kunstcharakter von Negerplastik endgültig bewiesen. Adéagbo lenkt mit seinen weißen Vitrinenkästen die Aufmerksamkeit auf diese, für das Verhältnis von Kunst und kultureller Differenz neuralgische Ebene der Bewertung außereuropäischer Artefakte. Die weißen Kästen verweisen sowohl auf die Vitrine als Leitmotiv des europäischen Museums als auch auf den white cube als Metapher der Autonomie der modernen Kunst. Obwohl keineswegs als Institutionenkritik am Museum oder als Ideologiekritik des Modernismus intendiert bindet der Künstler sie gleichwohl als Gestaltungselement und Kunstmetapher in ein transkulturelles Bezugssystem ein, das weder dem Betrachter noch dem Kunstwerk, weder dem Subjekt noch dem Objekt Autonomie erlaubt.

Der glatte und der gekerbte Raum »Der glatte Raum und der gekerbte Raum - der Raum des Nomaden und des Sesshaften [...] sind ganz verschieden. Manchmal finden wir einen einfachen Gegensatz zwischen den zwei Arten von Raum. Manchmal müssen wir eine viel komplexere Differenz feststellen [...] und manchmal müssen wir uns auch daran erinnern, dass die beiden Räume nur wegen ihrer wechselseitigen Durchmischung existieren: der glatte Raum wird unaufhörlich in einen gekerbten Raum übertragen und überführt; der gekerbte Raum wird ständig umgekrempelt, in einen glatten Raum zurückverwandelt [...] Die faktischen Vermischungen sind allerdings kein Hindernis für eine Unterscheidung in der Theorie, die abstrakte Unterscheidung dringt in beide Räume ein [...]«31

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Die von Gilles Deleuze und Félix Guattari entwickelten Kategorien des glatten und gekerbten Raumes lassen sich für die Interpretation von Georges Adéagbos Installationen heranziehen, weil sie - anders als die Kulturtheorien des Postkolonialismus - von ästhetischen Phänomenen ausgehen, deren Bedeutung sie politisch interpretieren. In Mille Plateaux (1980) geht es den Autoren um eine Theorie der Mannigfaltigkeiten, als deren wichtigste Merkmale sie das Rhizom, Deterritorialisierung und Decodierung anführen. 32 Im Kapitel 1440 - Das Glatte und das Gekerbte - stellen sie die nomadischen und sesshaften Raumkonzepte gegenüber und beschreiben an verschiedenen Modellen deren wechselseitige Abhängigkeit als Konnexionen. Der nomadische, glatte Raum konstituiert sich in Allianzen, er dehnt sich allseitig aus und wird weniger visuell als körperlich erfahren; er ist ungerichtet wie Wüste und Meer oder wie die Textur von Filz und Patchwork. Der gekerbte Raum dagegen ist gerichtet und kartographisch vermessen, er wird in visueller Fernsicht erfasst und entspricht der Webtechnik von Kette und Schuss. Mit dem Modell der Ästhetik beziehen sich Deleuze und Guattari auf eine kunstwissenschaftliche Debatte des frühen 20. Jahrhunderts um eine primitive, nomadische Kunst, die von Wilhelm Worringer und Alois Riegl geführt wurde, und greifen das für die Abstraktion der klassischen Moderne zentrale Paradigma der Linie auf. Die Signatur des glatten, nomadischen Raumes ist eine Linie, die ständig die Richtung ändert und keinen Umriss zieht; die des gekerbten Raumes der Sesshaftigkeit ist die imperiale Linie, die abgrenzend Form definiert. Zur Interpretation der ästhetischen Struktur und politischen Bedeutung von Georges Adéagbos Installationen sind die Modelle des Rhizoms und der nicht abgrenzenden Linie relevant. Die von Deleuze und Guattari emphatisch als subversiv beschworene Verflüssigung der Signifikanten und die Dezentrierung des westlichen Subjekts sind die wesentlichen Effekte von Georges Adéagbos Installationen. Wie bereits ausgeführt lassen sie sich mit der Ästhetik der Stadt erklären, in der der Künstler lebt. Für Deleuze und Guattari ist die (europäische) Stadt zwar »im Gegensatz zum Meer der gekerbte Raum par excellence«, aber so wie das Meer durch die Navigationsinstrumente der Renaissance gekerbt wurde, gehen von der Stadt wie in einem »Gegenschlag« auch wieder glatte Räume aus: »gewaltige, kurzlebige Elendsviertel, Nomaden und Höhlenbewohner, Metall- und Stoffreste, Patchwork, die nicht einmal mehr für die Einkerbungen des Geldes, der Arbeit oder des Wohnungsbaus interessant sind [...] eine retroaktive Glättung.«33 Den von der französischen Kolonialverwaltung und der internationalen Moderne gekerbten Raum der Stadt Cotonou durchlöchern die ausgedehnten, glatten Zonen der architektonischen Provisorien des informellen Sektors und der Märkte (mit der brutalen Einkerbung des Dantokba-Marktes durch einen Betonbunker). In ähnlicher Art und Weise glätten Adéagbos ephemere Installationen die gekerbten Räume der Häuser, die der Künstler in Cotonou besitzt und die der Institutionen, die seine Arbeiten ausstellen. Die Kategorien und Modelle von Deleuze und Guattari werden hier zur Beschreibung von Georges Adéagbos Installationen

169 RE-LOKALISIERUNG DES ATELIERS

genutzt, weil sie es erlauben, deren produktionsästhetisch bedingte Besonderheit zu definieren, ohne sie als afrikanische Folklore zu exotisieren. Mit der Einführung der weißen Kästen, die in der Ulmer Ausstellung wie altarähnliche Stelen oder Leuchttürme aus dem sachte wogenden Papiermeer herausragten, nahm der Künstler eine westlich konnotierte Einkerbung seiner eigenen Installationen vor - jedoch nicht im Sinne einer neokolonialen (Selbst-)Unterwerfung, sondern als Ineinander-Verschachtelung. Das Prinzip des ständigen Umkrempeins des Glatten ins Gekerbte und vice versa setzt die Dynamik von wechselseitigen Abhängigkeiten frei und hebt Hierarchien auf ohne dabei Differenzen zu nivellieren. Während das Paradigma der Hybridität die den binären Oppositionen inhärente Machtstruktur nur um den Preis der Homogenisierung aufheben kann, können Deleuze und Guattari mit ihrem Modell Heterogenität aufrecht erhalten.34 Adéagbo überführt die hierarchischen Oppositionen - das Gekerbte und das Glatte, Europa und Afrika, Sesshaftigkeit und Nomadentum, internationale und afrikanische Moderne, Subjekt und Objekt oder einfach »wir« und »sie« - nicht in ein hybrides Inbetween, sondern in ein mehrdimensionales Gefüge reziproker Bezogenheit. Der dritte Raum der Installation zwischen den Kulturen ist nicht der Schauplatz des Verschwindens, sondern der Vervielfältigung und Akzentuierung von Differenzen, in deren Anordnung der Künstler in einer schwindelerregenden Art und Weise Hierarchien außer Kraft setzt. Die weißen Kästen in Adéagbos Installationen sind weder affirmatives Bekenntnis zum hegemonialen Kunstbegriff noch seine Art der Ideologiekritik. Vielmehr verarbeitet der Künstler mit ihnen eine kulturelle Differenzerfahrung, die durch seine Reise- und Ausstellungstätigkeit in den vergangenen Jahren zunehmend komplexer geworden ist. Dieser gesteigerten Komplexität standzuhalten und sie auf dem von den Globalisierungsprozessen vorgegebenen Niveau ästhetisch zu verarbeiten, ohne dem Assimilierungsdruck nachgegeben zu haben, ist eine bedeutende künstlerische und psychische Leistung. Sie ist nicht beschränkt auf die Durcharbeitung der Kolonialgeschichte oder auf eine europäische Ethnographie aus afrikanischer Sicht. Adéagbo antizipiert im Umgang mit seinen Sammlungen und ihren Präsentationsformen eine neue Art der Transkulturalität, die aus dem Schatten des kolonialen Traumas heraustritt.

Tout de moi à tous Mon Magasin. Tout de moi à tous ist der Titel der Installation, die die Berliner DAAD-Galerie im Sommer 2007 ausstellte. Eine Fotografie auf der elektronischen Einladungskarte zeigt den artist in residence aus einiger Entfernung bei der Montage der weißen Kästen, deren Invasion den gekerbten white cube glättet und die perspektivisch verkleinerte Rückenfigur des Künstlers zu überschwemmen scheint (Abb. 8). Anders als in der Ulmer Ausstellung stehen in der Installation nur wenige Kästen auf dem Boden, die meisten hängen an

170 VIKTORIA SCHMIDT-LINSENHOFF

8. Georges Adéagbo beim Aufbau der Installation »Tout de moi a tous« in der daadgalerie Berlin, Juni 2007, Foto: Stephan Köhler

den Wänden wie Supraporten oder Gemälde, an die kleine Farbtöpfe in einem der Kästen erinnern. Der Ausstellungstitel Tout de moi à tous evoziert die überwältigende Großzügigkeit und die rückhaltlose Verausgabung, die der Armutsökonomie der Stadt Cotonou und der Installationen gleichermaßen verpflichtet sind. Der Titel erinnert aber auch an die von Marcel Mauss beschriebene Logik der Gabe, die eine Verpflichtung zur Gegengabe impliziert und mit der Zirkulation von Dingen soziale Beziehungen gestaltet. 35 Die Eröffnung der Ausstellung durch den Botschafter der Republik Benin evozierte den Ort von Adéagbos Ateliers in Cotonou, der dadurch für das Vernissagepublikum kurzfristig einen gewissen Realitätscharakter annahm, ohne dass dieser dauerhaft im Rezeptionsrahmen hätte verankert werden können. Die Idealisierung des Ortes, an dem die Installationen von Adéagbo zwar nicht ausgestellt werden, von dessen urbaner Kultur sie jedoch geprägt sind, ist das Merkmal einer »Kunstkritik als Kontextraub«, die bedenkenlos einen ganzen Kontinent aus der globalisierten Kartographie der site specifity löscht.36 Die westafrikanische Stadtkultur hat sich seit 1960 einschneidend verändert. Aus der Ge-

171 RE-LOKALISIERUNG DES ATELIERS

schichtlichkeit der Stadt, die die spirituellen Praktiken und die ökonomischen Improvisationskünste des informellen Sektors ebenso wie die Installationen von Adéagbo vergegenwärtigen, resultieren die Motive und Energien einer »Ökonomie des Widerstandes, die den Armen eine Würde verleiht, wo ansonsten die Logik des Marktes in die absolute Verzweiflung führt.«37 Die Globalisierungsprozesse werden die westafrikanische Küstenregion bis 2015 in einen Urbanen Mega-Slum von bisher nicht bekannten Ausmaßen verwandeln, den Soziologen als zukünftig größten Ballungsraum der Armut bezeichnen. 38 Adéagbo partizipiert an der Kreativität, die die Stadt Cotonou im Widerstand gegen ihre neokoloniale Pauperisierung entwickelt und an der er das internationale Kunstpublikum (unter Ausschluss des afrikanischen) in einem ästhetisch geschützten Raum partizipieren lässt. Das Publikum absorbiert die modellhaft verdichtete Vitalität der afrikanischen Metropole und die beträchtliche psychische und organisatorische Arbeit des Künstlers, ohne deren produktionsästhetische Unkosten zur Kenntnis zu nehmen. Es konsumiert die fremde Gabe, ohne die Verpflichtung zu einer Gegengabe auch nur in Betracht zu ziehen. Die territoriale und kulturelle Abtrennung afrikanischer Produzenten von dem afrikanischen Kontinent ist eine alte Gewohnheit der transatlantischen Sklavenhaltergesellschaften, die die transnationalen Kunstkonzerne übernommen haben. Problematisch sind nicht allein die in diesem Marktsegment besonders hohen Profite, sondern vor allem die Vermarktung von kulturellen Werten, die im Widerstand gegen materielle Verarmung durch Globalisierungsprozesse geschaffen und von den Profiteuren der Globalisierung genutzt werden, um ihre eigene kulturelle Verarmung ästhetisch zu kompensieren. Die Re-Lokalisierung von Georges Adéagbos Arbeit in einem Kontinent, der in die globalen Zirkulationsströme nur als Lieferant von billigen Rohstoffen und Arbeitskräften einbezogen ist, könnte die Asymmetrie von Produktion und Rezeption zumindest bewusst machen. Wenn wir die Installationen als eine Gabe verstehen - Tout de moi à tous -, so wäre die Anerkennung der sozialen Wirklichkeit und der kulturellen Produktivität der Stadt, in der der Künstler lebt, eine Gegengabe: Sie stiftet eine soziale Beziehung und erlaubt uns, künstlerische Arbeit auch unabhängig von der Profitlogik unseres Marktes zu bewerten.

Zu der Installation in Kassel vgl. Documen-

Die Dissertation von Kerstin Schankweiler (Uni-

ta 11, Kurzführer, Kassel 2002, S. 8. Zu der Version

versität Trier) zu Georges Adéagbo steht kurz

im Besitz des Museums Ludwig vgl. den Aus-

vor dem Abschluss.

1

stellungskatalog Georges Adéagbo. Der und die Entdecker vor der Geschichte der

Entdecker Entdeckun-

2

K. Schankweiler: Künstlermythos und kul-

turelle Differenz. Selbstverständnis und Projek-

gen, Museum Ludwig, Köln 2004. Den besten

tion am Beispiel von Georges Adéagbo, in: Ethni-

Überblick über die Arbeiten zwischen 1995 und

zität und Geschlecht. (Post-)koloniale

2001 bietet Silvia Eiblmayr (Hg.): Georges

in Geschichte,

bo. Archäologie

der Motivationen.

Adéag-

Geschichte

Verhandlungen

Kunst und Medien, hrsg. vom Gra-

neu

duiertenkolleg Identität und Differenz, Köln,

schreiben, Galerie im Taxispalais, Innsbruck 2001.

Weimar und Wien 2005, S. 175. Exemplarisch für

172 VIKTORIA SCHMIDT-LINSENHOFF

eine ethnisierende Rezeption der Installation in

von Gisèle Freund, Sabine Weiss u.a. als ein

Kassel sind die Beiträge in Kunstforum

Interna-

starkes Subjekt auf, das den minoritären Ethno-

tional 161,2002, S. 72 und 278, für die Kölner Ver-

graphica der Sammlung erst Bedeutung und

sion vgl. J. di Blasi: Im Treibsand der Welten,

Kunstrang verleiht.

Kölner Stadtanzeiger, 30. Oktober 2004. 3

Th. Fillitz: Zeitgenössische

14 Künstler

12

Kunst aus Afrika.

aus Cote d' Ivoire und Benin, Wien

2002, S. 163. 4

M. Wetzel: Der Autor als Künstler. Von der

Wiederkehr eines ästhetizistischen Konzepts in der Kunstpraxis der Gegenwart, in: M. Hellmold, S. Kampmann u.a. (Hg.), Was ist ein Künst-

Georges Adéagbo lebte bis 2000 in seinem

Elternhaus in dem Quartier Aidjeo in Cotonou,

ler? Das Subjekt der modernen

Kunst, München

2003, S. 238. Vgl. auch H. Knobeloch: Portrait

in dessen Hof er seine Tages-Installationen seit

des Künstlers als Nomade und Bastler, in: Ebd.,

1972 auslegte. Seit 2000 wohnt und arbeitet er

S. 213ff. Zur Männlichkeit des nomadischen

zusammen mit Stephan Köhler in dem Wohn-

Künstlermythos vgl. B. Haehnel: Regelwerk

und Atelierhaus Villa Dieu seul sait, das nach

Umgestaltung.

Plänen von Stephan Köhler außerhalb der Stadt

Kunstwahrnehmung

am Strand gebaut wurde.

13

5

Abb. in: Eiblmayr 2001 [wie Anm. 1], S. 70,

6

Zu dem Konzept der kulturellen Biografie

Nomadistische

Denkweisen

und

in der

nach 1945, Berlin 2006.

Vgl. die Ausstellungskataloge: Deep

rage. Arsenale der Erinnerung. Sammeln,

Sto-

Speichern,

Archivieren in der Kunst, München 1997 und Inter-

72.

archive. Archivarische

Praktiken

von Dingen, deren Status und Bedeutung Wan-

räume im zeitgenössischen

derbewegungen verändern, vgl. I. Kryptoff: The

2002.

cultural biography of things, in: A. Appadurai

14

und

Handlungs-

Kunstfeld,

Lüneburg

M. Do Mar Castro Varela, N. Dhawan:

(Hg.): The Social Life of Things. Commodities in Cul-

Postkoloniale

tural Perspective,

Bielefeld 2005. Zu den Konsequenzen für die

Cambridge 1986, S. 64-91.

Theorie.

Eine kritische

Einführung,

H. Bhabha: La Question Adéagbo, in: Aus-

Kunstgeschichte vgl. V. Schmidt-Linsenhoff,

stellungskatalog: Georges Adéagbo 2004 [wie

Postkolonialismus, in: U. Pfisterer (Hg.): Metzler

Anm. 1], S. 25.

Lexikon

7

8

Didier Houénoudé hat dies für Bruly Boua-

bré (Elfenbeinküste) und Romuald Hazoumé

der Kunstwissenschaft.

15

Differenzkonsum

struktur in Benin vgl.: Entre stéréotypes et affirma-

techniken im Spätkapitalismus,

que occidentale, 9

d'Afri-

Phil. Diss. Trier 2007, S. 264.

E. Beaucamp: Die Entdeckten entdecken

die Entdecker, in: Frankfurter Allgemeine

Zeitung,

B. Wyss: Kreolität für Europa! Georges

Adéagbos Installation in der Binding-Brauerei, in: Frankfurter Allgemeine

und postmoderne

Kultureller Verwertungs-

Bielefeld 2005.

16

Bhabha 2004 [wie A n m . 7], S. 28.

17

H. P. Hahn: Global Goods and the Process

of Appropriation, in: P. Probst und G. Spittler (Hg.): Between Resistance

and Expansion.

Dimen-

sions of Local Vitality in Africa, Beiträge zur Afri-

14. Juni 2002. 10

Methoden,

K. Nghi Ha: Hype um Hybridität.

(Benin) festgestellt. Zur künstlerischen Infration identitaire. Quatre artistes contemporains

Ideen,

Begriffe, Stuttgart und Weimar 2003, S. 278.

Zeitung, 9. Juni 2005.

kaforschung 18, Münster 2004, S. 213-231. 18

M. de Certeau: Kunst des Handelns

(Paris

1980), deutsche Ausgabe Berlin 1988, S. 13. Cle-

Paris 1957. Zur

mentine Deliss hat De Certeaus Kunst des Han-

Sammlung Breton vgl. A. de la Beaumelle: Le

delns zuerst auf die Artikulation von afrikani-

11

A. Breton: L'art magique,

André

schen Subjektpositionen in der Gegenwartskunst

Centre Pompidou,

bezogen, vgl. Lotte oder die Transformation des

grand atelier, in: Ausstellungskatalog: Breton. La beauté convulsive,

Paris 1991, S. 48 ff. Die Sammlung kam 2002 als

Objekts, Stadtmuseum Graz und Grazer Kunst-

Schenkung an das Musée Nationale Moderne,

verein, 1990, in: Durch 8/9,1990, S. 3-15.

Centre Georges Pompidou. Die Objekte der Gro-

19

E. M' Bokolo: La ville africaine, in: O. Sul-

ßen Wand sind auf der Website des Museums

tan: Africa Urbis. Perspectives Urbaines, Sépia 2005,

aufgelistet. Im Unterschied zu Adéagbo, der

S. 7-12.

sich als Sammler mit der schriftlichen Formel ma personne de Georges den Dingen seiner Sammlung angleicht, tritt Breton in den Fotografien

20

X. Crépin: La ville africain, in: Revue Noir

31,1999, S. 51.

173 RE-LOKALISIERUNG DES ATELIERS

21 G. Wright: The Ambiguous Modernism of African Cities, in: Ausstellungskatalog: Short Century, München 2001, S. 225-233.

31 G. Deleuze und F. Guattari: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie (Paris 1980), deutsche Ausgabe Berlin 1997, S. 658.

22 A. Appadurai: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis und London 1997.

S. II.

Hahn 2004 [wie Anm. 17] berücksichtigt vielleicht aus diesem Grund nicht die warenästhetischen Aspekte in seiner Analyse der westafrikanischen Konsumkultur. Erste Anhaltspunkte für eine ästhetische Analyse bietet die deskriptive Annäherung von K. Mercer: Kunst und die Erfahrung aus afrikanischen Städten, in: C. Himmelheber, M. Jongbloed und M. Odenbach (Hg.): Der Hund ist für die Hyäne eine Kolanuss. Zeitgenössische Kunst und Kultur aus Afrika, Jahresring 49, Köln 2002, S. 19-27. 23

24

Crépin 1999 [wie Anm. 20], S. 52.

O. Enwezor: The Ruined City: Desolation, Rapture and Georges Adéagbo, in: NKA. Journal of Contemporary African Art, Spring 1996, S. 16. 25

S. Njami: Waiting for Rain, in: Revue Noir 18, Paris 1995, S. 5ff. 26

27

Enwezor 1996 [wie Anm. 25], S. 16.

Zu der aktuellen, künstlerischen Infrastruktur in Benin, die sich seit 2002 mit Ausnahme der Gründung der privaten Stiftung Fondation Zinsou 2006 nicht wesentlich verändert hat, vgl. Houénoudé 2007 [wie Anm. 8], S. 251-270. 28

29 Zu der von Brigitte Reinhardt konzipierten Ausstellung erschien kein Katalog. Die Installation von Georges Adéagbo wurde vom Museum erworben. Zur Weickmannschen Kunstkammer vgl. B. Reinhardt (Hg.), Kurzführer Ulmer Museum, Ulm 2002, S. 66. Die lose Blattfolge Kunstwerk des Monats, bearbeitet von M. Roth, Ulmer Museum 1992-2001 und den Ausstellungskatalog: D'un regard l'autre. Histoire des regards européens sur l'Afrique, l'Amérique et l'Océanie, hg. von Y. Le Fur, Musée du Quai Branly, Paris 2006.

Zu den einzelnen Objekten vgl. Roth [wie Anm. 29], 10

32

33

Deleuze und Guattari 1997 [wie Anm. 30], Deleuze und Guattari 1997 [wie Anm. 31],

S. 667. 34 D. Th. Goldberg hat darauf hingewiesen, dass der Begriff der Hybridität im 19. Jahrhundert aus der Biologie in die Demographie übertragen wurde, um das Problem der im Zeichen der kolonialen Expansion wachsenden Heterogenität der Bevölkerung europäischer Metropolen zu diskutieren. Der Begriffstransfer naturalisierte die gewaltsame Homogenisierung einer multikulturellen Stadtbevölkerung, vgl. Heterogenity and Hybridity: Colonial Legacy, Postcolonial Heresy, in: H. Schwarz und S. Ray (Hg.), A companion to postcolonial studies, Oxford 2000, S. 12-86. 35 M. Mauss: Essai sur le don. Forme et raison de l'échange dans les sociétés archaïques, 1924, deutsche Ausgabe: Die Cabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt am Main 1990. 36 W. Kemp: Kontexte. Für eine Kunstgeschichte der Komplexität, in: Texte zur Kunst 2, 1991, S. 89, kritisiert eine »Kunstgeschichte als Kontextraub«, in deren Windschatten die Kunstkritik arbeite. Miwon Kwon weist auf die Idealisierung von sozialen Orten durch ortsspezifische Kunst hin, vgl. From one place to another. Site specific art and location identity, Cambridge 2002, S. 112. 37 M. Davis: Planet der Slums, Berlin 2007, S. 207. Ähnliche Feststellungen trifft für die Favelas in Rio de Janeiro der Stadtplaner Jorge Maria Jáuregui, dessen Projekt auf der Documenta 12 ausgestellt war. Vgl. das Interview in der taz, 4. Juli 2007. 38

Davis [wie Anm. 37], S. 11.

PETER J. S C H N E E M A N N

Das Atelier in der Fremde 1

»Mein Fensterplatz war grossartig: Blickte auf die süddeutschen und österreichischen Wolken, auf Italien und die slawischen Länder, die vielen Inseln danach, das Mittelmeer und den Strand von Afrika. Im Sinkflug auf Kairo am Wüstenrand zwei große, stille Quadrate: Pyramiden. Dann hat mich langsam die Hitze erschlagen. Es war ein Rekordsommer mit hoher Luftfeuchtigkeit und langer Dauer. Ich wurde schwach, aß kaum, trank zuwenig, litt an Kopfschmerzen und starkem Augeninnendruck und kippte ohnmächtig vom Stuhl. Durchwanderte Kairo in endlosen Spaziergängen. Unmengen von Bildern, Farben und Strukturen soff ich in mich rein. Verzehrte die Stimmungen und Begebenheiten auf Strassen und Plätzen, ließ Lärm und Musik in mich fließen, und wurde mit jedem Schritt und von Tag zu Tag leerer und ärmer, und kein inneres Bild war mehr da und keine Gedanken. Nackt und gänzlich öd saß ich am Tisch und blickte auf meine Arme, Hände und den Bauch und konstatierte, dass an mir immer mehr Haare wuchsen und fragte mich, ob das etwas mit dem Klima zu tun hätte. So, mit dem Kinn auf der Brust, empfand ich eine tiefe Trauer über das Vergehen des Schönen und die fünftausend zermanschten und gegrillten Amerikanerinnen. Morgen verlasse ich Kairo in der Nacht. Diese Stadt, in der ich nicht zur Ruhe kam, und alle Kraft zum Überleben einsetzen musste, und so wenig gearbeitet habe wie nie zuvor, wird mir fehlen. Masr kalass! (Ägypten vergehe!) Dieses Wüstenland mit einem Streifen Grün und der uralten, wunderbaren Kultur, den Menschen mit ihren ewigen Geschichten, die ich wenig verstehen gelernt habe, dem unglaublich schlechten Essen, den lauten Männern und den verhüllten Frauen werd ich in guter Erinnerung halten und in meine Arbeiten einfließen lassen.«2 Ich zitiere aus einem offiziellen Dokument. Es ist der Pflichtbericht eines jungen Künstlers, der aus dem Ausland zurück in die Heimat kehrt und im Archiv der Kulturkommission der Stadt Thun liegt. Der damals 35-jährige Künstler Reto Leibundgut hatte ein Stipendium erhalten, um sechs Monate in Schabramant bei Kairo im Atelierhaus der Konferenz der Schweizer Städte

176 PETER J. SCHNEEMANN

für Kulturfragen (KSK) zu verbringen (Abb. I).3 Atelier und Stadt-Wohnung teilte er mit zwei weiteren Künstlern aus der Schweiz. Auch wenn das Atelier in Kairo denkbar ungeeignet war für die Arbeit des Installationskünstlers und die Hitze ihn in totale Apathie stürzte, so versicherte er ganz pflichtbewusst, dass dieses »Erlebnis« in seine zukünftigen Arbeiten »einfließt«. Natürlich gehört zum Atelierstipendium auch die Möglichkeit, als Heimkehrer in der Schweiz eine Ausstellung angeboten zu bekommen. Die Bürger haben schließlich das Recht zu sehen, inwieweit die Arbeit des Künstlers durch die fremde Umgebung nachhaltig beeinflusst wurde. Die Begründung des damaligen Entscheides der Kommission lautet: »Die Wahl ist auf Leibundgut gefallen, da sein künstlerisches Schaffen als ebenso stetig wie innovativ beurteilt wird. Mit dem Eidgenössischen Preis für freie Kunst 1999 sowie zwei Werkstipendien fanden seine Arbeiten schweizweit Resonanz. Da er bisher keine Möglichkeit zu einem Atelieraufenthalt hatte, öffnet sich ihm mit dem Thuner Entscheid eine neue Tür.«4 Die Beteiligung an dem Programm der KSK kostet die kleine Stadt Thun jährlich 7.500 Schweizer Franken. »Die KSK zahlt jedem Künstler 500,- SFr./Monat sofern die Herkunftsstadt einen Betrag in mindestens gleicher Höhe gewährt.« 5 Viele Städte bieten ihren Künstlern Ateliers an, die über die ganze Welt verstreut liegen. Wenn die Stadt Bern oder Zürich ein Atelier in New York betreiben, dann können auch Anträge beim Kanton gestellt werden, und schließlich gibt es

177 DAS ATELIER IN DER FREMDE

auch noch diejenigen Atelierprogramme, die in New York oder Berlin vom Bundesamt für Kultur betrieben werden. In anderen Ländern sieht es ähnlich aus. Die gewährte Dauer reicht von einem halben bis zu einem ganzen Jahr.6 Der Titel dieses Aufsatzes klingt romantisch - Das Atelier in der Fremde. Unmittelbar denken wir an zahlreiche verklärende Texte, die die Bedeutung eines Arbeitsaufenthaltes einer Künstlerin oder eines Künstlers in der Fremde verhandeln. Obwohl noch nicht geschrieben, ist eine Geschichte des Auslandsateliers nicht Ziel der Arbeit, vielmehr möchte ich drei Aspekte ansprechen, die die Signifikanz dieses bisher unbearbeiteten Phänomens verdeutlichen: »Ort und Ortlosigkeit«, »Vom Arbeitsort zum Schaufenster« und schließlich »stiller Einfluss oder edle Wirkung«. Es sollen Perspektiven auf den Bezug zwischen Außen- und Innenwelt des Ateliers eröffnet werden. Was passiert, wenn der Künstler mit seinem Atelier auf Reisen geht? Verlagert er seinen Rückzugsort, nimmt er seine »Behausung« und definitorische Rahmung für seine Tätigkeit mit? Oder aber hat er den Anspruch, in die Welt zu gehen, das Künstlersein unabhängig von einem Heimatort zu leben? Zur Diskussion steht also die Komplexität der wechselseitigen Beziehung zwischen Einfluss und Wirkung.

Ort und Ortlosigkeit Sieht man sich Studien zum Atelier im 19. Jahrhundert oder das Texte zur Kunst-Sonderheit zum Atelier7 an, findet sich kein Hinweis auf das Atelier in der Fremde. Dies mag daran liegen, dass sich mit dem Atelier eine starke Metaphorik des Ortes verbindet. Der Topos des Ateliers als Ursprungsort des Kunstwerkes, dessen Bedeutung sich zum Kultraum wandelt und in dessen Wänden sich erst die Originalität des Kunstwerkes entfalten kann, analysiert Wolfgang Ruppert in seiner Sozial- und Kulturgeschichte des modernen Künstlers. 8 Die zunehmende Bedeutung des Ateliers als Rückzugsort des Künstlers, als Privat- und Schutzraum steht der Idee des Reisens diametral entgegen. Noch im 18. Jahrhundert wurde das Atelier in Frankreich als gesellschaftlicher Ort verstanden. Im 19. Jahrhundert änderte sich dies: So zeigt beispielsweise eine 1852 im Rahmen der Serie Visites aux ateliers in der Zeitschrift L'Illustration veröffentlichte Grafik des Ateliers der Tiermalerin Rosa Bonheur die Künstlerin und ihre Lebensgefährtin in einem hinteren Raum bei der Arbeit, während der Vorraum als Stall für die zahlreichen Tiere der Künstlerin genutzt wird (Abb. 2). Die Grafik spiegelt deutlich die veränderte Auffassung des Ateliers als privater, von der Öffentlichkeit abgeschirmter Ort. Dieses Konzept vom Raum dient einer komplexen Verortung des Werkes. Daniel Buren hat diese Charakteristika in seinem Text »Fonction de l'atelier« (1971) folgenden Funktionen zugeordnet: »1. C'est le lieu d'origine du travail. 2. C'est un lieu privé (dans la grande majorité des cas), cela peut être une tour

178 PETER J. SCHNEEMANN

2.

Atelier von Rosa Bonheur in Paris, Lithographie ans L'Illustration, 1852

d'ivoire. 3. C'est un lieu fixe de création d'objets obligatoirement bles.«9

transporta-

Die rein topographische Verortung des Ateliers führt in ihrer Übersteigerung zu Prozessen der Identitätsbildung. Die Gesetzmäßigkeiten des Raumes »Atelier«, verbunden mit seiner eigenen Geschichtlichkeit, beschreiben Bedingungen künstlerischer Produktion und werden als Präfiguration auf das Werk projiziert. Gerade Künstlermonographien im Coffetable-Format legen eine solche Rezeption nahe, als paradigmatisch ist etwa David Seidners Beschreibung von Louise Bourgeois' Atelier zu nennen: »With all its contents, the studio that Louise Bourgeois occupies in Brooklyn is like a giant version of one of her installations.« 1 " Wenn Georg Simmel den »Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft« 1908 in seiner soziologischen Abhandlung Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung11 beschreibt, so taucht der Künstler in seinem Atelier gleichgesetzt mit dem Kaufmann und dem Handwerker auf, der sich

179 DAS ATELIER IN DER FREMDE

um seinen Arbeitsort einen Radius absteckt. Demgegenüber präsentiert sich seit den 1990er Jahren jeder mehr oder weniger erfolgreiche Künstler als Nomade.12 Die Heimatlosigkeit gilt als der ultimative Qualitätsbeweis oder doch zumindest als Beleg erfolgreicher Zeitgenossenschaft. Frei nach Vilém Flusser, Gilles Deleuze, Félix Guattari oder auch Paolo Bianchi 13 beschreibt er sich gerne als ständig Reisender, der keinen festen Standort mehr kennt. Dieses Selbstverständnis greift dann auch in ähnlicher Art und Weise auf Kuratoren und Kritiker über. Harald Szeemann beispielsweise fügte sorgfältig seine Kofferbanderolen zu einer Skulptur in seinem Arbeitszimmer zusammen. Miwon Kwon, Spezialistin für das Thema der Ortsspezifität in der zeitgenössischen Kunst, analysierte diese Situation in einem Aufsatz mit dem Titel: »The Wrong Place« und stellte fest, dass wir uns ständig am falschen Ort befänden: «The more we travel for work, the more we are called upon to provide institutions in other parts of the country and the world with our presence and services; the more we give into the logic of nomadism, one could say, as pressured by a mobilized capitalist economy, the more we are made to feel wanted, needed, validated, and relevant.14 Und schließlich liegt die Versuchung nahe, künstlerische Identität, künstlerische Prozesse und künstlerisches Werk ganz vom konkreten Ort zu lösen. Es gibt jedoch auch Gegenstimmen, die an eine fast romantische Verklärung von Heimat erinnern. Kwon verweist etwa auf Lucy Lippards Buch The lure of the local von 1997. Lippard beschwört, eher konservativ, die Bedeutung von Ortsgebundenheit. Den >Ort< selbst beschreibt sie als »a portion of land/town/cityspace seen from the inside, the resonance of a specific location that is known as familiar [...] >the external world mediated through human subjective experience.««15 Es gibt verschiedenste Phänomene, die darauf hinweisen, wie der scheinbare Widerspruch zwischen diesen beiden Paradigmen gelöst werden könnte - Strategien, die beide Qualitäten miteinander zu verbinden suchen. So fallen etwa die angestrengten Versuche auf, im internationalen Ausstellungsgeschäft die Qualität des Ateliers als Ort des Werkes und des Künstlers aufrechtzuerhalten, um sie marktgerecht einzusetzen. Bruce Naumans Aussage, dass alles, was er in seinem Atelier mache, Kunst sei,16 darf hierzu als programmatisch gewertet werden. Auch für Tomoko Takahashis Ausstellung in der Kunsthalle Bern reichte 2002 der Verweis auf die Einzigartigkeit der Installation nicht aus (Abb. 3). Nicht nur die Zusammenarbeit mit dem städtischen Bauhof und anderen öffentlichen Institutionen wurden als Belege angeführt, dass es sich um eine ortspezifische Arbeit handle. Es musste auch betont werden, dass die Künstlerin während des Aufbaus in der Installation selbst auf einer Krankenhausliege genächtigt habe. Eine solche Verschränkung von prozessual begriffener Ausstellung und temporärem Atelier ist in vielen Institutionen zu beobachten.17 Mein Interesse gilt jedoch dem Verlangen, den ortlosen, vagabundierenden und dislozierten Künstler mit seiner Arbeit wiederum eine »production de

180 PETER J. SCHNEEMANN

3. Ansicht der Ausstellung Όοη Tomoko Takahashiin der Kunsthalle Bern, 2002

l'espace«18, ganz im Sinne einer kulturellen Praxis, leisten zu lassen. Hier ergibt sich eine Schnittstelle zwischen dem Atelier als Ort und einer Kunstpraxis, die sich in der Begrifflichkeit der Intervention versteht - einen neuen Raum, an einem neuen Ort entstehen zu lassen, einen sozialen und diskursiven Raum. Interessanterweise wird in den Beschreibungen dieser künstlerischen Praxis der Topos Atelier als Gegenstück beschrieben - »From studio to situation«19 oder in den Worten des chilenischen und heute in New York lebenden Künstlers Alfredo Jaar: »Mein Studio ist die Welt.«20 Doch wie funktionieren tatsächlich die institutionalisierten Künstlerateliers im Ausland? Die unzähligen Programme, die sich mit dem Projekt »Artists in Residence« schmücken?

Vom Arbeitsort zum Schaufenster Der in Bern geborene und in Zürich tätige Künstler San Keller konnte 2003 als Stipendiat ein halbes Jahr in New York im Atelierprogramm des P.S.l verbringen. Er setzte sich eine Krone auf, die in goldenen Lettern »New York« als Auszeichnung verkündete (Abb. 4). Der Gang in das Atelier im Ausland versinnbildlicht als Karriereschritt des Künstlers aus der kleinen Schweiz. In New York angekommen bot der Aktionskünstler in pointierter Form verschie-

181 DAS ATELIER IN DER F R E M D E

4.

San Keller: Aktionsobjekt (goldene Papierkrone, geziert mit den Lettern

NEWYORK),

2003, Auflage 300 5.

San Keller: The Great Lightening, New York 2004 (hier: Aufnahme der Probe in Berti)

dene Alltagstätigkeiten als Dienstleistung an: »San Keller sleeps for you« oder »San Keller walks you home«. Oder er zerrte einen Sandstein aus seinem Heimatort durch die Straßen von New York (Abb. 5). Ursprünglich so schwer wie sein eigenes Körpergewicht, schliff sich der Brocken durch m ü h s a m e s Ziehen ab, w u r d e l a n g s a m leichter und hinterließ nichts anderes als Staub. 2 1 Künstler, die nach New York k o m m e n und in den zahllosen, von der Heimat finanzierten A t e l i e r p r o g r a m m e n unterkommen, fühlen sich mitunter in höchst eigenwilliger Form aufgefordert, sich ihrer »Herkunft« zu erinnern und in einen Prozess der Aufarbeitung einzutreten. Der Belegungsplan der Atelierhäuser liest sich wie eine alternative Weltkarte (Abb. 6). Auf j e d e m Türschild findet sich neben dem N a m e n des Künstlers das entsendende Land. Im ISCP 2 2 , dem International Studio & Curatorial P r o g r a m N e w York, sehr zentral in der 39. Straße gelegen, beziehen die Gäste je nach Finanzstärke ihres Herkunftslandes große oder kleine Räume, teure mit Fenster oder kleine nur mit Kunstlicht. Die Basiskosten für das Atelier belaufen sich auf monatlich ca. 1.600 USD, diverse Nebenkosten und Unterkunft nicht mitgerechnet. Das Bundesland Hessen zahlt gut - die Künstler haben ca. 20 m 2 Arbeitsraum und zwei Fenster. C h i n a zahlt wenig und so hat dagegen der chinesische Stipendiat nur ein kleines Innenatelier ohne natürliches Licht. Er versteht kein Englisch und malt g a n z kleine Bilder mit sehr vielen Punkten nach Postkarten. »You are the Country«, beschreibt der schwedische Künstler die Situation der Stellvertreterfunktion für sein Land. 2 3 Sind diese R ä u m e wirklich funktionierende Ateliers? Klassische Tafelmalerei, kleinere Skulpturen - das scheinen die Möglichkeiten, die diese Ateliers

182 PETER J. SCHNEEMANN

FLOOR 8 Kitchen ÊATMSÔOM

Nicole Sfa, PaulPétritscb

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Jayeon Kov/n South Kotta

Amt Sepfcil Starle ifewtw*

Carlos Roque

Ron l i r a d a Off««

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Luis Biatkaller

Miguel Angel RebÎiHô Si«,» ti f.VATOR

6.

Floorplan ISCP, New York

bieten. Eine Werkstatt oder andere Infrastrukturen fehlen. Und doch sind Plätze im ISCP heiß begehrt und gelten im Vergleich zum Programm des P. S.l, das 2004 eingestellt wurde, als »erfolgreich«. Bewertungsmaßstab ist dabei weniger die Qualität der entstehenden Arbeiten sondern die Frage nach dem Nutzen, den ein Künstler aus diesem Aufenthalt für seine Laufbahn zu ziehen in der Lage ist. Und dieser misst sich wiederum an den Kontakten, dem Netzwerk von Galeristen, Kritikern und Kuratoren, das er während dieser Zeit aufbauen kann. Das Angebot, das der Leiter, Dennis Elliott, bereitstellt, besteht nur zu einem geringen Teil aus dem kleinen weißen Atelier. Vielmehr sieht Elliott den Sinn und die Potenzen des Projektortes im Herzen von Manhattan in dem von ihm organisierten Begleitprogramm. Dieses besteht vor allem darin, die Ateliers für Besucher zu öffnen und für diesen Tag intensiv Werbung zu betreiben. Zusätzlich zu den »open ateliers« bezahlt er Kuratoren und Kunstkritiker, die sich die Arbeiten einzelner Gäste ansehen. Auf der Homepage wird dies als besonderer Vorteil des ISCP gepriesen: »The Guest-

183 DAS ATELIER IN DER FREMDE

Critic Series is the hallmark of ISCP programming and an effective vehicle for introducing the artists' work to New York museums, galleries and alternate spaces.« Anschließend folgt eine lange Auflistung mit Namen bekannter Persönlichkeiten der Kunstszene, die in den vorangegangenen Jahren dem Atelierhaus als »guest critics« einen Besuch abgestattet haben. Bereits kurz nach ihrer Ankunft sind die Künstlerinnen und Künstler dazu angehalten, diese wichtigen Kontaktpersonen zu empfangen und sich zu präsentieren. In der Konsequenz bedeutet dies, dass die Kunstschaffenden häufig Projekte nach New York mitnehmen und vor Ort primär an ihren Präsentationsmappen arbeiten. Die Gäste suchen die jungen Hoffnungsträger in einem Atelier auf, auch wenn dieses nur noch als Metapher einen Produktionsprozess verspricht. Aber es kommt noch schlimmer. Klopft man bei einem Künstler aus Korea an, so erwarten wir authentische koreanische Kunst. In einer globalen Kunstszene bietet das Auslandsatelier ein doppeltes Versprechen Lokalkolorit, geborgte Identität und Produktionsort. Das Atelier als Topos mutiert zum Schaufenster des »ethnic marketing«. Ist ein Auslandsstipendium erst einmal gewonnen, klappen die Anschlussstipendien meist schnell. Der Rückzugsort Atelier wird in der Form des modernen Auslandsateliers ein Instrument zur Vermarktung. Die Zielsetzung beschränkt sich auf die Kontaktpflege, Ausstellungspraxis und die Suche nach einer Galerie. So treffen sich die beiden Konzepte in der Realität.

»Stiller Einfluss« oder »Edle Wirkung« Das Auslandsatelier gehört inzwischen zu den wichtigsten Instrumenten der staatlichen Kulturförderung, die Kulturinstitutionen in so genannten Kunstzentren anbieten. 1989 formulierte die öffentlich rechtliche Kulturstiftung Pro Helvetia ihr Anliegen der Einrichtung eines Ateliers in Kairo folgendermaßen: »Seit einigen Jahren ist bei Kulturschaffenden das Interesse an Ägypten sehr gestiegen, wohl auch darum, weil hier wie kaum anderswo in der Welt die Spannung einer fünftausend Jahre alten reichen Tradition und einer ungewissen Zukunft spürbar ist.«24 Dieses Konzept ist natürlich ein historisches, das etwa in der Tradition des Prix de Rome und dem obligatorischen Aufenthalt der Preisträger in Rom steht.25 Martin Warnke hat die Auslandserfahrung bereits als Wert bei den Hofkünstlern beschrieben: »Eines der Grundmotive für die Betrauung der Gesandten mit der Beobachtung und Vermittlung von Künstlern war gewiss die Notwendigkeit, über die internationalen Geschmacksrichtungen auf dem Laufenden zu bleiben. Das Anspruchsniveau, dem sich die Höfe gegenseitig aussetzten, zwang zu einem ständigen Kontakt mit der allgemeinen Entwicklung künstlerischer Vorlieben. Unter befreundeten Fürsten konnte es deshalb zu einer Art Hilfeleistung kommen, indem man sich einander Künstler zusandte oder sie auch voneinander ausbat. [...] Bis weit in das 18. Jahrhundert

184 PETER J. S C H N E E M A N N

hinein bildeten die Künstler, die mit Hofstipendien ihre Studienreisen unternehmen konnten, das Hauptkontingent unter den auslandreisenden Künstlern. Sobald sie in ihre Heimat oder an den Hof zurückkehrten, wurden sie in der Regel auch fest angestellt.«26 Versatzstücke dieses Modells haben als Erwartungshaltung gegenüber der Bedeutung des Auslandsaufenthaltes für den Künstler im 20. Jahrhundert eine erstaunliche Kontinuität bewiesen. Die Künstlermonographien zu den Helden der Avantgarde nutzen den Parisaufenthalt des amerikanischen Künstlers als Wendepunkt. 27 Man Ray, Alexander Calder oder Sam Francis sind die bekanntesten amerikanischen Künstler, die in Paris ankamen und angeblich zu einer neuen Bildsprache fanden. 28 Begegnungen mit unbekannten Kunstströmungen, Auseinandersetzungen mit innovativen Kunstformen, das sind die Konstanten in dieser Narration. Die Schweiz gehört zu den Ländern, welche sich in den internationalen Atelierprogrammen besonders stark engagieren. Hintergrund dessen mag eine beinahe panische Angst davor sein, als kleines Alpenland ins provinzielle Abseits zu geraten. Gottfried Keller trug bereits 1882 in der Neuen Zürcher Zeitung folgende Analyse vor: »Die Bedeutenden unter unsern Schweizerkünstlern leben meist in einer Art freiwilliger Verbannung; entweder entsagen sie der Heimat und verbringen das Leben dort, wo Sitten und Reichtümer der Gesellschaft, sowie Einrichtungen und Bedürfnisse des Staates die Träger der Kunst zu Brot und Ehren gelangen lassen, oder sie entsagen, gewöhnlich in zuversichtlichen Jugendjahren, diesen Vorteilen und bleiben in der Heimat, wo ein warmes Vaterhaus, ein ererbter oder erworbener Sitz in schöner Lage, Freunde, Mitbürger und Lebensgewohnheiten sie festhalten. Gelingt es auch dem einen und andern, seine Werke und seinen Namen in weiteren Kreisen zu Geltung zu bringen und sich zu entwickeln, vermisst er auch weniger den grossen Markt und die materielle Förderung, so ist es doch bei den besten dieser Heimsitzer nicht leicht auszurechnen, wie viel sie durch die künstlerische Einsamkeit, den Mangel einer zahlreichen ebenbürdiger Kunstgenossenschaft entbehren.« 29 1896 schlug Hans Auer, Architekt des Bundeshauses und damals Mitglied der Eidgenössischen Kunstkommission, Reise- und Studienstipendien für Künstler vor, die ihre Befähigung und Reife bereits bewiesen hätten, damit das Durchschnittsniveau der Schweizer Kunst nicht länger hinter anderen Ländern zurückstünde. Ende 1898 wurden die ersten Künstler mit dem Eidgenössischen Kunststipendium ausgestattet, um ein Kunstzentrum wie Florenz, München oder Paris aufzusuchen. Der Kreditrahmen wurde auf 12.000 CHF festgesetzt. Zudem behielt sich die Eidgenössische Kunstkommission das Recht vor, »den Ankauf von Werken, die während der Dauer der Stipendien geschaffen wurden, vorzuschlagen.« 30 Nimmt man alle heute existierenden Programme zusammen, so werden pro Jahr etwa 150 Schweizer Kunstschaffende, hauptsächlich aus dem Bereich der bildenden Kunst, in Auslandsateliers entsendet. Hintergrund ist noch immer die Feststellung Paul Nizons von 1970, wonach die Schweiz »einen Künstler

185 DAS ATELIER IN DER FREMDE

anscheinend nicht gross machen kann. Mit der Kunst ist es dasselbe wie vordem mit dem Reisläuferwesen: die Schweiz lässt ihre Söhne an die weltbedeutenden Zentren des Auslands ziehen, und nimmt die Rückwanderer und Heimkehrer wieder auf [...]. Anders ausgedrückt, sie bringen geistige Beute oder >Welt< nach Hause.«31 Die Antwort auf die Frage jedoch, wie sich in der heutigen Praxis dieser Ausbruch aus Nizons »Diskurs in der Enge« darstellt, muss differenzieren. Als Instrument einer Karriereförderung, die auf Vernetzung und Aufwertung auf dem Kunstmarkt ausgerichtet ist, funktioniert das Förderungssystem im Sinne allgemeiner Professionalisierung. Entsprechend pragmatisch wird es auch vom Bundesamt für Kultur heute angesehen. Fragt man jedoch nach den konkreten Arbeitsprozessen, nach Befruchtung, Austausch oder Auseinandersetzung mit dem Ort, der über die üblichen Kontakte im Betriebssystem Kunst hinausgeht, wird es problematisch. Der eine oder andere Künstler versucht, Arbeiten von seinem Auslandsaufenthalt mitzubringen, die als Beleg für den Sinn der temporären Verlagerung seines Ateliers in die Fremde dienen sollen. Ist es überzeugend, wenn Chantal Michel aus Kairo Porträts einer »Ägyptischen Familie« mitbringt? Und Martin Guldimann in New York von »Menschen in der U-Bahn« beeindruckt ist oder glücklich mit dem Fahrrad den Broadway entlang fährt und dabei versucht, die Menschen zu zählen? Ja natürlich, auch der Fotokünstler Beat Streuli war von der Vielfalt der Menschen angetan. Dagegen setzt sich der Kunstschaffende unweigerlich dem Vorwurf aus, den Aufenthalt im Auslandsatelier nicht angemessen genutzt zu haben, wenn offensichtliche Einflüsse der fremden Kultur in seinen, in diesem Zeitraum entstandenen Arbeiten fehlen. Die Heimat belohnt den Heimkehrer mit einer Ausstellung, manche steigen in der Ferne sogar zu internationalen Stars der Kunstszene auf - wie etwa Olaf Breuning, der 1999 das Atelierstipendium der Stadt Zürich für New York erhielt. Er schaffte es, binnen kürzester Zeit bis weit in die vorderen Ränge des alljährlich von der Zeitschrift Bilanz vorgenommenen >Künstlerratings< vorzudringen. Berichte aus den Auslandsateliers zeigen aber auch, wie schwierig diese Vorstellung einer konkreten und nachhaltigen Rückwirkung des Ortes auf den temporär zugezogenen Künstler sein kann: »Die Hälfte der Zeit ist man eh abwesend, oder man muss zügig an einem älteren Projekt arbeiten - für die nächste Ausstellung«, hört man von zurückgekehrten Künstlern überraschend häufig. Ausserdem erweisen sich auch die Wände des Ateliers als erstaunlich dick. Bei allem >Networking< bleiben viele Nutzer des Auslandsateliers isoliert. Auch die Frage nach »Interventionen« läuft schnell ins Leere. Die Stadt New York etwa, so die wiederholte Aussage, würde schrecklich ablenken. In überspitzter Form könnte man sagen, dass der Topos des Ateliers in diesen Programmen seine Potenz, einen Ort zu bezeichnen, verloren hat. Das Auslandsatelier, das sich über den Funktionsraum definiert, vermag keine

186 PETER J. SCHNEEMANN

7.

Superflex, Supergas, 1997

Beziehung zum Ort aufzubauen. In der Untersuchung der Soziologin Andrea Glauser zum Schweizer Auslandsatelier, die mit Interviews und Auswertungen der Atelierberichte arbeitet, fällt auf, wie die redundante kritische Auseinandersetzung mit den mangelhaften Bedingungen des architektonischen Raumes zum Topos wird für das Ringen mit der eigenen Befindlichkeit. Die üblen Gerüche im Atelier, die Musik aus der nahe gelegenen Bar in Brüssel, die Kälte und Feuchtigkeit im Prager Atelier oder der Teppichboden, auf dem man nicht arbeiten könne. Hier wird das Atelier in der Fremde zur selbstbezüglich anmutenden Situation. Es verhindere geradezu, so der einvernehmliche Tenor vieler beteiligter Künstler, dass man arbeiten könne.32 Dennoch findet der Aufenthalt im Atelier in der Fremde einen prominenten Platz in den Lebensläufen und in der autobiographischen Selbstreflexion erhält er einen hohen Stellenwert als einmalige Erfahrung. Mit dieser Beschreibung steht das Atelier in der Fremde, als institutionalisierter Raum, im krassen Widerspruch zu einem ganz anderen, moderneren künstlerischen Interesse an einem Ort. Die Absage an den alten Topos des Ateliers als Behausung steht dem Diktum des Anspruches, sich an den verschiedensten Orten der Welt verorten zu können, gegenüber. Mit dieser Verortung ist dann die Bildung eines spezifischen gesellschaftlichen Raumes gemeint. Der künstlerische Arbeitsprozess ist dabei auf eine Interaktion ausgerichtet. Künstler wie Jeremy Deller kaufen Land, Künstler gestalten Gärten, errichten Gebäude oder erstellen Biogasanlagen wie die dänische Künstlergruppe Superflex (Abb. 7). Künstlerische Interventionen dieser Art bedeuten

187 DAS ATELIER IN DER FREMDE

8.

George Steinmann: Centre for Sustainable Forestry, Work in Progress, ab 1997, Komi,

Russland

den Auszug aus dem Atelier und den Gang in die Welt. Bereits in den 70er Jahren bezeichneten sich Künstler, deren Arbeiten nicht mehr in institutionalisierten Ateliers stattfanden, als Feldforscher.33 Mit der Verabschiedung aus dem geschützten Raum des Ateliers geht eine Akzentverschiebung des künstlerischen Werkes einher, in deren Folge sich seine gesellschaftliche Relevanz verstärkt. Das Paradigma »Einfluss« wird eingetauscht gegen das Paradigma »Wirkung«. Und tatsächlich finden Künstler wie George Steinmann aus Bern Unterstützung für Ihre Arbeitseinsätze in Sibirien (Abb. 8) bei der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA vom Eidgenössischen Departement des Äußeren.

1

Dieser Beitrag profitiert von der Forschungs-

arbeit A n d r e a G l a u s e r s , die bei C l a u d i a H o n e g ger (Soziologie) u n d m i r e i n e D i s s e r t a t i o n z u m T h e m a »Der e n t s a n d t e K ü n s t l e r « verfasst. :

R. L e i b u n d g u t : Heiss, wenig spassig

interessant,

halt, Stadt T h u n o n l i n e , h t t p : / / w w w . t h u n . c h / d / aktuelles/archiv/files/161.htm. ?

D i e s s i n d die offiziellen A n g a b e n der K S K

f ü r die S t i p e n d i a t e n des A u s l a n d s a t e l i e r s

und sehr

B e r i c h t z u s e i n e m A u f e n t h a l t i n Kai-

in

Kairo. 6

Detaillierte Informationen zur Struktur

ro, 1. J a n u a r 2002, A r c h i v der K u l t u r k o m m i s s i o n

d e r K u l t u r f ö r d e r u n g in der S c h w e i z finden sich

der S t a d t T h u n .

unter http://www.artists-in-residence.ch/. Die

Seit 2 0 0 4 b e f i n d e t sich d a s A t e l i e r h a u s der

m e i s t e n K a n t o n e b i e t e n Ateliers in m e h r e r e n

K S K n i c h t m e h r i n S c h a b r a m a n t s o n d e r n auf

e u r o p ä i s c h e n u n d a m e r i k a n i s c h e n S t ä d t e n an:

der J a c o b s i n s e l i m Nil vor »Alt-Kairo«.

der Kanton Aargau beispielsweise ermöglicht

1

4

Reto

Künstler

Leibundgut

ein Stipendiat

erhält für einen

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s e i n e n K u n s t s c h a f f e n d e n A t e l i e r a u f e n t h a l t e in

Ägypten-Aufent-

Paris, L o n d o n , Prag u n d Berlin, der K a n t o n B e r n

erster

188 PETER J. SCHNEEMANN

in New York, Paris und Barcelona, die Kantone Basel-Land und Basel-Stadt in Paris und Berlin oder der Kanton Fribourg in Paris, Berlin und Barcelona. 7 Texte zur Kunst 49, 2003, Themenschwerpunkt »Atelier, Raum ohne Zeit«. 8 W. Ruppert: Von der Werkstatt zum Kultort. Das Atelier als Repräsentation mentaler Muster, in: ders.: Der moderne Künstler. Zur Sozial· und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. undfrühen 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1998, S. 316-326. 9 D. Buren: Fonction de l'atelier, in: Daniel Buren. Les Écrits (1965-1990), Bd. 1, Musée d'art contemporain, Bordeaux 1991, S. 195-204. Siehe hierzu ebenfalls: Das Atelier im Kopf. Ein Interview mit Daniel Buren von Isabelle Graw, in: Texte zur Kunst 49,2003, S. 59-65. 10 D. Seidner: Artists at Work. Inside the Studios of Today's Most Celebrated Artists, New York 1999. Vgl. auch M. Cappock: Francis Bacon - Spuren im Atelier des Künstlers, München 2005.

" G. Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908. S. 460-526: »Mit der Zusammendrängung der Bevölkerung oder dem Wachsen ihrer Bedürfnisse tritt an Stelle dieser nur qualitativen, gegen die Raumbestimmtheit notgedrungen indifferenten Arbeitsteilung die lokalisierte: der Handwerker, Künstler, Kaufmann sitzt in seinem Atelier oder Laden und beherrscht von da aus eine Abnehmersphäre von bestimmtem Radius, möglichst so, dass die Produzenten eines gewissen Gebietes sich nicht ins Gehege kommen.« 12 Vgl. Auf, und, davon. Eine Nomadologie der Neunziger (steirischer Herbst), hrsg. von H. G. Haberl, Graz 1990. 13 P. Bianchi: Der Künstler, Narr und Nomade, in: Kunstforum International 112,1991.

M. Kwon: The wrong place, in: From studio to situation, hrsg. von C. Doherty, London 2004, S. 30-41, hier S. 30. 14

L. R. Lippard: The lure of the local. Senses of place in a multicentered society, New York 1997, S. 11. 15

16 Siehe etwa J. Simon: Breaking the silence. An interview with Bruce Nauman, 1988 (Januar 1987), in: Please pay attention please. Bruce Nauman s words, writings and interviews, hrsg. von J. Kraynak, Cambridge, London 2002, S. 317-338.

17 The catalogue of all most [i. e. almost] all the works done by Tomoko Takahashi (between 19852002). Ausst.-Kat. Kunsthalle Bern 2002. In ähnlicher Weise konstruierte etwa Berndt Höppner 2002 eine Arbeits- und gleichsam Ateliersituation im Museumsraum. Im Laufe der Ausstellung füllte er den anfänglich leeren White Cube im Centre PasquArt in Biel mit Wegwerfartikeln und verwies dadurch auf den Entscheidungsund Entstehungsprozess des Werkes. 18

H. Lefebvre: La production de l'espace, Paris

19863. 19

Doherty [wie Anm. 14].

Vortrag von A. Jaar The world as the studio, gehalten am 22. Juni 2003 anlässlich der Tagung Leitbild Atelier: Projektionen und Projekte in Bern. Vgl. P. J. Schneemann: Sehnsuchtskonstruktionen. Künstlerreisen im Zeitalter hybrider Identitäten, in: Ausst.-Kat. Orte der Sehnsucht. Mit Künstlern auf Reisen, LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Westfälisches Landesmuseum Münster, Regensburg 2008, S. 62-67. 20

21 P. J. Schneemann/J. Welter: Deployment abroad-art produced in the name of a homeland, in: Ausst.-Kat. Shifting Identities. (Swiss) Art Now, Kunsthaus Zürich, Zürich 2008, S. 15-20. 22

http://www.iscp-nyc.org/.

Diese Gespräche mit den Künstlern im ISCP führte ich gemeinsam mit meinen Studenten im Rahmen unserer, von der amerikanischen Botschaft unterstützten, Exkursion nach New York im Sommer 2005. 23

24 In: Gesuch zur Finanzierung eines Atelierhausesfür Schweizer Kulturschaffende in Ägypten, 07. Juli 1989, der Pro Helvetia unterzeichnet von Ursula Rindiisbacher an die Konferenz der Schweizer Städte für Kulturfragen, Archiv der KSK (Biel). 25 Zur Geschichte des Prix de Rome vgl. P. Grunchec: Les Concours des Prix de Rome de 1797 à 1863,2 Bde., Paris 1986-1989. 26

M. Warnke: Hofkünstler, Köln 1996, S. 136-

137. 27 Siehe hierzu Americans in Paris, 1860-1900, Ausst.-Kat. National Gallery, London, Museum of Fine Arts, Boston und Metropolitan of Art, New York 2006; Four Americans in Paris: The Collections of Gertrude Stein and her Family, Ausst.Kat. The Museum of Modern Art, New York 1970.

189 DAS ATELIER IN DER FREMDE

28 Vgl. P. Selz: Amerikaner im Ausland, in: Amerikanische Kunst im 20. Jahrhundert. Malerei und Plastik 1913-1993, hrsg. von C. M. Joachimides und N. Rosenthal, München 1993, S. 201-210.

G. Keller: Ein bescheidenes Kunstreischen, in: Neue Zürcher Zeitung, 22/23. März 1882. 29

50 Schweizerisches Bundesamt für Kultur und Kunsthalle (Zürich): Prix conseillé: 18991999, 100 ans de Concours fédéral des beaux-arts = über Preise lässt sich reden: 1899-1999, 100 ]ahre Eidgenössischer Wettbewerb für freie Kunst, Zürich 1999, S. 30. 31 P. Nizon: Diskurs in der Enge, in: Paul Nizon, Diskurs in der Enge. Verweigerers Steckbrief. Schweizer Passagen, hrsg. von P. Henning, Frank-

furt a. M. 1990, S. 137-226, hier S. 148. Bereits 1970 erschien Diskurs in der Enge. Aufsätze zur Schweizer Kunst, Bern 1970. 32 »Aufgrund aller dieser Umstände, die eine gewisse Gewöhnung verlangen, kann es sein, dass die Kulturschaffenden sich zeitweise in ihrer Arbeit eingeschränkt fühlen und Zeiten der Entmutigung erleben«. Zitat aus dem offiziellen Informationsblatt für die zukünftigen Bewohner des Auslandsateliers über die zu erwartenden Lebens- und Arbeitsbedingungen in Kairo. 33 Siehe hierzu etwa G. Metken: Spurensicherung, Köln 1977.

NINA MÖNTMANN

Das Verlassen des Ateliers Zwischen emanzipatorischer Einmischung und neoliberaler Flexibilisierung

Als Kuratorin bei NIFCA, dem 2006 aufgrund politischer Entscheidungen geschlossenen Nordic Institute for Contemporary Art in Helsinki, arbeitete ich unter anderem mit einem umfangreichen Residency-Programm. 1 NIFCA war eine Dach-Institution für die nordischen Länder Island, Finnland, Schweden, Dänemark, Norwegen, Grönland und die Faröer-Inseln sowie für die baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland. Die Büros befanden sich auf der Helsinki vorgelagerten Insel Suomenlinna. Von dort wurden Ausstellungen, vornehmlich in den genannten Ländern, kuratiert, darüber hinaus fanden Symposien, Workshops und Filmprogramme statt und Reader und Ausstellungskataloge wurden publiziert. Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit war das oben erwähnte Residency-Programm, in dessen Rahmen jährlich fünfzig Atelier-Stipendien an Orten in den nordischen und baltischen Ländern vergeben wurden. Weiterhin wurden f ü n f z e h n Plätze in Kooperation mit den westlichen Balkanstaaten vergeben, weitere sechs innerhalb des so genannten »Global Program« in Beirut, Neu Delhi, Buenos Aires, Kairo, Shanghai, Singapur oder Yangon (Burma). Auf Suomenlinna selbst befinden sich acht Ateliers, in denen die Künstler nicht allein Ruhe und Abgeschiedenheit in beeindruckender Natur vorfanden, sondern wo ihnen in den weitläufigen Räumen ideale Arbeitsbedingungen zur Verfügung standen. In dem großen Bildhaueratelier stand sogar ein Kran bereit, der die Arbeit an großformatigen und materialintensiven Objekten ermöglichte. Jedoch ließen sich hier eher in ihrer Dimension winzig erscheinende Stipendiaten, förmlich in eine Ecke gepfercht, am Laptop sitzend beobachten. Daneben wurde dieser Raum auch gern als Versammlungsort und Treffpunkt genutzt. Für alles andere, was weitgefasst als Inspiration oder Recherche für die Arbeit angesehen werden kann, war eine fünfzehnminütige Überfahrt mit der Fähre in Helsinkis Innenstadt erforderlich. Es stellt sich die Frage, ob solch ein zurückgezogener Atelier-Ort mit seinen traditionellen Arbeitsbedingungen heute überflüssig geworden ist - im Zeitalter von Vernetzung und Mobilität, durch die Künstlerrollen und Praxisformen neu definiert sind.

192 NINA M Ö N T M A N N

Auch in anderen, international angelegten Atelier-Programmen zeichnet sich in den letzten Jahren die Tendenz ab, die Künstler nicht mehr an abgelegene Orte zu schicken, an denen sie zurückgezogen, ungestört und möglichst kontemplativ arbeiten können, sondern der Sinn internationaler ResidencyProgramme wird zunehmend darin gesehen, Künstler in pulsierende Großstädte zu schicken, in denen sie Kontakte knüpfen, sich austauschen, Anregungen von Außen erhalten und Teil einer lebendigen internationale Szene werden sollen. Bevorzugt werden Metropolen im Wandel oder in einer spezifischen politischen Situation. In diesem Sinne sind die Metropolen Südamerikas und Südostasiens zur Zeit die beliebtesten Zielorte europäischer Künstlerprogramme, neben dem »Klassiker« New York. Diese Tendenz korrespondiert mit veränderten Produktionsbedingungen, in denen Kommunikation, Kooperation, Orts- und Kontextbezug, Interdisziplinarität, Vernetzung, Präsenz und Partizipation von großer Bedeutung sind. Viele Künstler nutzen die sich bietenden Möglichkeiten und verbringen nach dem Hochschulabschluss einige Jahre mit aufeinanderfolgenden, jeweils stipendienfinanzierten Auslandsaufenthalten - eine Zeit, in der Arbeitsbedingungen und Ateliersituation provisorisch sind. Schließlich verbringt man nicht drei bis sechs Monate in einer aufregenden und unbekannten Großstadt allein in seinem Atelier. Die Erfahrung der Adaption an unterschiedliche Orte und die Reflexion globaler Bedingungen, die man nicht nur aus den Medien kennt, wird mittlerweile für eine erfolgreiche Karriere vorausgesetzt. Dadurch ist das provisorische, temporär genutzte Atelier zu einem Standart geworden. In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll, den Blick noch einmal zurückzuwenden und danach zu fragen, in welchem Zusammenhang des künstlerischen Produktionsprozesses der Ort des Ateliers traditionell angesiedelt ist. Ort und Autorschaft künstlerischer Handlungen lassen sich in der traditionellen Kunstproduktion leicht zuordnen: Handelnder ist der Künstler, Ort der Handlung das Atelier. Und wenn eine Arbeit ausgestellt wird, verbleibt sie in unverändertem Zustand: Die ersten Besucher einer Ausstellung sehen dasselbe wie die letzten. Unter diesen Prämissen werden die Aktionsformen der Rezipienten deutlich von denjenigen der Produzenten getrennt. Sobald der Ausstellungsraum für die Öffentlichkeit zugänglich ist, sind die künstlerischen Handlungsabläufe beendet, und der Prozess der Rezeption ist mit deren >traumatischen< Effekten befasst. Daniel Buren betonte 1970/71, dass der Ort des Aufeinandertreffens von Kunstwerk und Rezipient, also das Museum oder die Galerie, den Akzent einer Arbeit verschiebe, was sich als eine von den Künstlern nicht beeinflussbare Kontextverschiebung darstellt. Seiner These zufolge stellt einzig der Ort, an dem das Werk gemacht wurde, dessen reale Umgebung dar. Daraus abgeleitet gelangte er zu folgender Bestandsaufnahme des künstlerischen Produktionskontexts: »Entweder ist das Werk an seiner eigenen Stätte, dem Atelier, und findet (für die Öffentlichkeit) nicht statt, oder es befindet sich an einer

193 DAS VERLASSEN DES ATELIERS

Stelle, die nicht seine Stätte ist, dem Museum, und findet dann (für die Öffentlichkeit) statt.«2 Buren konstatierte damit einen notwendig öffentlichen Charakter von Kunst - wobei das Museumspublikum als repräsentative Öffentlichkeit auch noch einmal infrage gestellt werden kann - und so lag die Schlussfolgerung für ihn nahe, das Atelier aufzugeben und >in situ< im Museum an Orten im Urbanen Raum zu arbeiten. Bereits im Umfeld der Minimal Art entwickelt sich das Bestreben, die Kunstproduktion von dem Ort des Ateliers abzulösen und mit damit auch der Begriff der »post-studio art«, der in diesem Zusammenhang das Vertrauen in die industrielle Anfertigung des künstlerischen Materials meint. Scott Burton griff die Bezeichnung 1969 in seinem Artikel für den Ausstellungskatalog »When Attitudes Become Form« auf und erweiterte sie auf ephemere konzeptuelle Ansätze oder materialintensiv ausufernde, ortsspezifische Arbeiten, also auf Ansätze aus, die aus materialtechnischen Gründen oder infolge einer veränderten Anforderung an den Ort der Kunst aus den als Begrenzung empfundenen Räumen des Ateliers ausbrechen. In den frühen 1970er Jahren differenzieren sich die Gründe, das Atelier als Produktionsstätte zu verlassen und andere, kommunikativere Orte zu schaffen, weiter aus. So eröffnete beispielsweise Gordon Matta-Clark 1971 das Restaurant »Food« in New York. Durch die Lage im damaligen Kunstquartier Soho und durch die sozialen Netzwerke der dort kochenden Künstlerinnen entwickelte es sich zum lebendigen Treffpunkt einer bestimmten Kunstszene. Ein weiterführendes öffentliches Interesse von Seiten der Künstler ist mit dem Schritt gekoppelt, entweder das eigene Atelier für Personengruppen, die nicht aus dem Kunstbetrieb rekrutiert sind, zu öffnen und umzuwidmen, um einen Raum für Interaktion und Partizipation zu schaffen, oder das Atelier gänzlich zu verlassen, um dort zu intervenieren, wo diese Öffentlichkeiten anzutreffen sind. Die türkische Künstlerinnengruppe Oda Projesi beispielsweise verfolgt einen Ansatz, der auf die Bildung sozialer Situationen innerhalb spezifischer Stadträume konzentriert ist. Oda Projesi heißt übersetzt »Raum-Projekt«, und »Raum« ist auch der Schlüsselbegriff für die Arbeit der drei Künstlerinnen Özge Acikkol, Günes Savas und Secil Yersel. In Galata, einem zum Großteil von Immigranten der ersten Generation bewohnten Stadtteil im Zentrum von Istanbul, wo die drei Künstlerinnen selbst leben, mieten sie seit 1997 eine Wohnung an, in der sie Veranstaltungen mit Bewohnern der Gegend, Workshops mit Kindern und Ausstellungen organisieren oder andere Künstler einladen, Projekte durchzuführen, die einen Bezug zu diesem spezifischen Ort haben. Oda Projesi sieht ihre Kunst als Mittel an, neue Möglichkeiten des Zusammenlebens zu gestalten. Dabei werden die Grenzen von privatem und öffentlichem Raum zur Disposition gestellt, wie auch die Abgrenzungen zwischen Künstler, Kunst-Rezipienten und gesellschaftlichen »communities«. Mit ihrer Arbeit beziehen sich Oda Projesi nicht nur auf die soziale Funktion eines Wohnraums, sondern sie produzieren in ihren Projekten auch einen

194 NINA M Ö N T M A N N

Handlungsraum, der sich aus den sozialen Beziehungen der Teilnehmer bildet. Die angenommene Privatheit der Produktion im Atelier, die hier zugunsten einer kommunikativen, partizipatorischen Situation bewusst aufgegeben wird, ist eng mit der autonomen Rezeption innerhalb der Ausstellungsinstitution verbunden. Isabelle Graw hat in einem Themenheft zum Atelier der Zeitschrift »Texte zur Kunst« darauf hingewiesen, dass das Atelier in all seinen phantasmatischen Aufladungen seit den 60er Jahren stets negativ besetzt erscheine. Dabei ziele die Kritik zunächst auf die Privatheit der Produktion - der Künstler ist ohne direkte gesellschaftliche Zwänge und Auseinandersetzungen allein mit seinem Material. »Positive Bezugnahmen« auf den Atelierraum hingegen, so Graw, standen »prinzipiell unter Ideologieverdacht,«3 und wurden dafür kritisiert, dass sie sich gesellschaftlichen Anforderungen entziehen und das Bild eines frei schöpfenden Künstlergenies aufrechterhalten würden. Spätestens seit Buren wurde bezweifelt, dass sich die Arbeit im Atelier mit einem öffentlichen Interesse verbinden ließe. Die Ambition lag demzufolge darin, soziale Situationen zu schaffen, in die in einem weiteren Schritt nicht nur der traditionelle Museumsbesucher involviert wird, der immer nur eine Teilrepräsentanz einer Öffentlichkeit darstellt, sondern an der möglichst unterschiedliche Teile der Bevölkerung partizipieren. Zahlreiche Künstler haben versucht, dieses Ziel durch den Gang auf die Straße umzusetzen. Im Folgenden sollen jene von ihnen betrachtet werden, die sich im Speziellen mit der Schaffung neuer Räume oder Situationen befasst haben. In zeitgenössischen Kunstausstellungen ist die künstlerische Arbeit in situ, also außerhalb des Ateliers, längst zur gängigen Praxis geworden, wobei sich die Definition des Ortes der Kunst, um den in den 1990er Jahren heftig debattiert wurde, geändert hat. Das noch bis in die frühen 1990er Jahre geltende Verständnis von >Site Specificity< als untrennbarer Verbindung des Kunstobjekts mit seinem physischen Ort stellt im Zeitalter von Mobilität und Vernetzung kein adäquates Modell mehr dar. Ein kulturelles Symptom der politischen und sozialen Realität im späten Kapitalismus ist vielmehr das »feeling out of place«, wie Miwon Kwon es bezeichnet hat. Zeitgenössische ortsbezogene Vorgehensweisen, in denen die spezifischen geographischen, historischen und sozialen Kontexte des Ausstellungsorts als relationale Matrix für die Arbeit herangezogen werden, können deshalb eher mit James Meyers Begriff des »funktionalen Orts« (»functional site«)4 beschrieben werden, den er vom »Ort im wörtlichen Sinn« unterscheidet. Letzterer ist eben jener physische, »spezifische, unverwechselbare Ort«, an dem die Arbeit der Künstler in situ erfolgt, was als gleichbedeutend mit >Site-specific< verstanden werden kann und deren Abbau ihre Zerstörung bedeuten würde. Gegenwärtig »geht [es jedoch] um einen Prozess, ein Agieren zwischen den Situationen, ein >Mapping< von institutionellen und diskursiven Verwandtschaftsverhältnissen und der Körper, die sich darin bewegen (vor allem jener der Künstler).« Meyer macht deutlich, dass der Ort nicht mehr durch seine »Authentizität« über-

195 DAS VERLASSEN DES ATELIERS

zeugt, sondern als bewusst temporäre Bestimmung, über sich selbst hinausgehend, aufgefasst wird: als Funktion zwischen den Orten. Wie aber arbeiten Künstler zwischen den Orten? Was bedeutet dies für den Arbeitsraum der Künstler, für das fertige »Produkt« und für die Rolle des Künstlersubjekts? Mit dem Titel ihres 2004 erschienenen Buchs »Contemporary Art: From Studio to Situation«5 bringt Ciaire Doherty diese Tendenz auf einen Nenner: Zeitgenössische künstlerische Arbeitsprozesse begreifen Kommunikation und Partizipation als Kernelemente ihrer Arbeit. Das Interesse gilt dabei nicht nur den Teilnehmern aus der Kunstwelt, die Künstler sind eher an einem Austausch mit verschiedenen Öffentlichkeiten interessiert. Ihr Arbeitsprozess erfordert demnach grundlegend andere Bedingungen als jene, die von einem Atelier geboten werden. Vielmehr handelt es sich um die Möglichkeiten eines sozialen Raums, der unmittelbare und strukturelle soziale Gefüge abbildet, beziehungsweise mit ihnen produziert wird. Ein konsequentes und vielschichtiges Beispiel, das für die 1990er Jahre kennzeichnend war, ist Rirkrit Tiravanijas Ausstellung Untitled, 1996 (tomorrow is another day) im Kölnischen Kunstverein. Die Ausstellung bestand aus einer voll funktionstüchtigen und benutzbaren Replik seines damaligen New Yorker Appartments, die er in den Kölner Ausstellungsräumen aufstellen ließ. Badezimmer, Küche und Wohnzimmer waren voll funktionstüchtig ausgerüstet und konnten von den Kunstvereinsbesuchern benutzt werden. Daran, dass es sich um gewöhnliche Wohnräume handelt, wird schon deutlich, dass Tiravanija für seine Arbeit keinen spezifischen Atelierraum benötigt, sondern seine lokale Basis in New York ihm lediglich als Bleibe dient. Als elementarer Bestandteil des Projekts wurde die Institution in dieser Zeit 24 Stunden am Tag offen gehalten. Tiravanija, der gern »lots of people« als Material seiner Arbeiten anführt, war zu Anfang anwesend, dann überließ er die Struktur komplett den Besuchern. Diese Geste impliziert sowohl das Öffnen des eigenen privaten Raums, das Teilen und die Herstellung einer kommunikativen Situation, und gleichzeitig - dadurch dass es nur eine Replik ist und zudem an einen anderen Ort transferiert - eine Ent-Mythologisierung dieses Künstler-Raums, der zudem eben kein Atelier ist, das er weder besitzt noch benötigt, sondern eine durchschnittliche kleine Wohnung. Die Frage, wann Tiravanijas Arbeit »fertiggestellt« ist, kann nicht beantwortet werden, genausowenig wie diejenige nach der Autorschaft der Produktion, also genau jene Aspekte, die dieses Projekt von einer Atelierarbeit unterscheiden. Die Arbeit entsteht in einem kollektiven Prozess, der nicht auf die Fertigstellung eines Produkts hinausläuft, das ausgestellt und betrachtet wird, sondern die Teilhabe an diesem Prozess verschmilzt mit der Rezeption der Arbeit, die Rollen der Produzenten und Rezipienten fallen in eins, die Arbeit konstitutiert eine »temporäre Gruppe von Subjekten«, wie Nicolas Bourriaud es ausgedrückt hat.6 Bourriaud zählt Tiravanija mit Liam Gillick, Maurizio Cattelan, Angela Bulloch oder Philippe Parreno zu einer Gruppe von Künstlern, die er für den Diskurs der 1990er Jahre als prägend erachtet. Ihre Arbeiten versieht er mit

196 NINA M Ö N T M A N N

dem Begriff der »Relational Aesthetics«. Diese zeige sich in Arbeiten, die versuchen, »Beziehungen jenseits institutionalisierter Beziehungsmuster und über diese hinaus entstehen zu lassen«. Ein institutionalisiertes Beziehungsmuster wäre etwa das des klassischen Rezipienten, der im Museum in distanzierter Betrachtung einem Kunstwerk gegenübersteht und in keinerlei Austausch mit anderen Besuchern tritt. - Man kann Bourriaud wie auch einigen der Künstler, mit denen er seine These belegt, vorwerfen, dass sie sich lediglich für kunstbetriebsinterne Beziehungen interessieren, also für Arbeiten, die innerhalb einer Ausstellungsinstitution stattfinden, die üblicherweise ein relativ festgelegtes Publikum anzieht und in vielen Fällen auch nicht von einem Thema außerhalb handeln, wodurch zwar funktionierende Situationen entstehen können - und Tiravanijas Arbeit ist eines der besseren Beispiele dafür - jedoch die Qualität der Beziehungen relativ belanglos bleibt. Generell haben Strategien von Mobilisierung und Flexibilisierung des Ortes im Zeitalter der Globalisierung an kritischem und befreiendem, öffnendem und emanzipatorischem Potential eingebüßt. Miwon Kwon hält treffend fest: »The increasing institutional interest in current site-oriented practices that mobilise the site as a discoursive narrative is demanding an intensive physical mobilisation of the artist to create works in various cities throughout the cosmopolitan art world.«7 Damit gehen der nomadisierende Künstler, für den in den 1990er Jahren Tiravanija eine Art Prototyp war, als auch seine jeweils lokal adaptierten Arbeiten ein appropriierendes und möglicherweise affirmatives Verhältnis zu den Formen von Relationalität ein, die gegenwärtig in einem weiter gefassten gesellschaftlichen Zusammenhang stattfinden, in dem die Begriffe Mobilität, Flexibilität, »Self-promotion«, oder Vernetzung eng mit dem Fortschreiten einer neoliberalen Wirtschaftsordnung verknüpft sind. Wie Angela McRobbie in »Everyone is Creative. Artists as Pioneers of the New Economy« dargelegt hat, ist die Subjekt-Konstitution innerhalb des kulturellen Felds ein politischer Prozess, der als ein Vorbild für die spätkapitalistische Unternehmenskultur dienen kann. Die Übernahme prekärer sozialer Situationen und Überlebensstrategien wie Selbstmanagement, permanente Kreativität, flexible und mobile Lebensstile, wie sie, mehr oder weniger freiwillig gewählt, im Kunstfeld praktiziert werden, wurden bereits im Entstehungsstadium der New Economy aufgegriffen und haben bis heute in der Etablierung von Firmenstrukturen und dem Entwurf von Arbeits- und Lebensphilosophien in der neoliberalen Geschäftswelt Bestand. 8 Umgekehrt fließen spätkapitalistische Unternehmensstrukturen in die Führungspolitik und Arbeitsweisen von zunehmend privatisierten Institutionen ein, was auch die neuen persönlichen Qualifikationen und Fertigkeiten vorgibt. So muss man als Direktor einer größeren Institution zum einen die Qualitäten eines Managers aufbringen und zum anderen diejenigen eines populistischen Politikers. Richard Sennett analysiert diesen »Idealmenschen des neuen Kapitalismus«, der ständig nach Neuem sucht und dafür noch völlig intakte alte Güter wegwirft, der von einem Ort zum anderen reist und dabei seine Bodenhaf-

197 DAS VERLASSEN DES ATELIERS

tung und Gewohnheiten aufgibt. 9 Dieser »flexible Mensch«, den Sennnett als Prototyp des Bürgers im neuen Kapitalismus ansieht, gibt feste soziale Bindungen auf oder wird dazu gezwungen, um sich in unsichere kurzfristige Arbeitsverhältnisse und temporäre, unverbindliche Sozialstrukturen zu begeben. Sennetts etwas moralisch angehauchter Schlussfolgerung über den allgemeinen Verfall sozialer Fähigkeiten muss man nicht mehr folgen, die Analyse der Situation erscheint jedoch sehr treffend. Angesichts der so beschriebenen immanenten Dynamik postfordistischer Produktionsweisen und ihrer sozialen Effekte ließ sich Isabelle Graw gar zu der These verleiten, dass der Arbeit im Atelier heute wieder etwas Emanzipatorisches anhaftet. Sie meint damit, dass der ortsgebundene Künstler mit Atelier sich den Anforderungen des Kunstmarkts wie Mobilität, Omnipräsenz oder Selbstvermarktung entzieht. Zwar ist die dahinter stehende Überlegung durchaus nachvollziehbar, dennoch erscheint die These etwas kokett, und greift angesichts »klassischer« Atelierproduktionen ins Leere. Man denke beispielsweise an die großformatigen Gemälde der »Leipziger Schule« mit Vertretern wie Neo Rauch, die eine deutschtümelnde Imageproduktion bedient, die vor allem in Amerika den gewinnbringendsten Kunstexport aus Deutschland darstellt. Wenn man sich Listen der marktführenden Künstler ansieht, kann man sich leicht zu der These verleiten lassen, dass die auf dem Markt erfolgreiche Kunst immer noch im Atelier hergestellt wird, während die Kunst, die außerhalb produziert wird und eine temporäre, ephemere Qualität hat, vornehmlich im Ausstellungsbetrieb erfolgreich ist. Dieser Umstand hat zu einer Trennung zwischen diskursiv orientiertem Ausstellungsbetrieb und Kunstmarkt geführt, als deren Höhepunkt die »Documenta 11« angesehen werden kann. Ein Großteil der dort ausgestellten Künstler, die zu mehr als der Hälfte aus Ländern der südlichen Halbkugel kamen, hatte keine Galerie und die meisten Arbeiten waren unter den Kriterien des Kunstmarktes betrachtet wenig interessant. Vielmehr waren sie Positionen einer diskursiven Ausstellung, die post-koloniale Tendenzen neu verhandelte und die Perspektiven einer Globalisierung von unten vorstellte. Mittlerweile fanden jedoch wieder Annäherungen statt, vor dem Beginn der Wirtschaftskrise 2008 verkaufte sich zeitgenössische Kunst insgesamt so gut, dass auch »schwierige« Arbeiten ihre Abnehmer fanden. Das Phänomen der Mobilisierung schlägt auch auf kuratorischer Ebene zu Buche, wofür das weltweit expandierende Ausstellungsformat der Biennale symptomatisch ist. Einerseits sind Biennalen häufig mit einem Eventcharakter verbunden und lösen einen Boom von Kunst als Standortfaktor aus. Auf der anderen Seite verschaffen sie Produktionsbudgets für lokale Szenen in Regionen, in denen die institutionelle Kunstlandschaft nicht sehr ausgeprägt und vernetzt ist, und bieten dort die Möglichkeit, in einem internationalen Rahmen auszustellen. Dies trifft auf weite Teile Asiens zu, wo die fast zwanzig Biennalen und Triennalen für die lokalen Kunstszenen und ihre internationale Anbindung einen extrem hohen Stellenwert haben.

198 NINA MÖNTMANN

Auf diese Weise können Biennalen Position beziehen und Modelle vorstellen, in denen Mobilität und Vernetzung dauerhaft positive Auswirkungen für lokale Kunstszenen mit sich bringen, so beispielsweise die Biennalen in Istanbul, Gwangju oder Sao Pâulo. Ein anderer Weg besteht darin, Globalisierungsund Flexibilisierungsprozesse selbst zum Thema der Ausstellung zu machen, wie dies bei der »Documenta 11« der Fall war. Auf einer noch unmittelbareren Ebene geben die eingangs erwähnten internationalen Studioprogramme Künstlern die Möglichkeit, sowohl mobil zu sein als auch längere Zeit an einem Ort zu verbringen und verschiedene lokale Kontexte für ihre Arbeit zu aktivieren. Das temporäre Atelier kann für den Künstler, der für seine Arbeit an sich keinen dauerhaften festen Raum benötigt, einen physischen, gedanklichen oder sozialen Freiraum bedeuten, in dem konzipiert, experimentiert, gewohnt und sich ausgetauscht werden kann.

1

Weitere Informationen zu NIFCA und der

Schließung der Institution: http://www.mfca. org/2006/. 2

5

D. Buren, Funktion des Ateliers, in: G. Fiet-

zek und G. Inboden (Hg.): Daniel Buren, tung!, Texte 1967-1991,

Ach-

Dresden und Basel 1995,

S. 152-167, hier S. 159. 3

I. Graw, Vorwort, in: Texte zur Kunst 49,

März 2003, S. 5-9, hier zit. S. 5. 4

vorliegt: J. Meyer: Der funktionale Ort, in: Springer Bd. II/Heft 4, S. 44-47, alle Zitate S. 44.

>The Functional Site< wurde erstmals mit

C. Doherty (Hg.): Contemporary

Art.

From

Studio to Situation, London 2004. 6

N. Bourriaud: Berlin Letter about Rela-

tional Aesthetics, in: Doherty 2004 [wie Anm. 5], S. 43-49, hier S. 49. 7

M. Kwon: One Place After Another,

Cam-

bridge (Mass.) 2002, S. 46. 8

A. McRobbie: Everyone is Creative. Artist

unbefriedigender deutscher Übersetzung im

as Pioneers of the New Economy, in: T. Bennett

Ausstellungskatalog >Platzwechsellive< beizuwohnen, relativierte dessen Inhalte. Im Katalog zum Deutschen Pavillon wurde das als besonderer Vorzug gerühmt. So fand Christoph Stölzl in diesem Künstler-Atelier mit seiner Aura lebendiger Entwicklung sogar eine Antwort auf die Frage »Was ist Deutschland?«: »Deutschland - das sind die Menschen, die sich und ihr Land bewegt haben und noch bewegen.« Er betonte, es sei »bisher wohl nicht dagewesen [...] in einer nationalen Selbstdarstellung [...] so viel liebevolle Ironie walten zu lassen«.1 Lobte er also, dass statt klarer Thesen ein vieldeutiges Erscheinungsbild geboten sei, so heißt es in einem weiteren Katalogbeitrag: »So unabgeschlossen die Arbeit an den Bildnissen ist, so offen ist die Verständigung über die Identität eines Landes, das in stetem Wandel begriffen ist.«2 Das Pavillon-Atelier wird in beiden Fällen zum Sinnbild für Veränderung und Flexibilität. Man zelebrierte, in den Worten Nietzsches, eine »Unschuld des Werdens«.3 Vor allem aber ging es um ein Kreativitäts-Postulat, eine bildhafte Variante des Nationalklischees vom Volk der Dichter und Denker. Die Besucher sollten sich von der Anmutung eines einfachen Ateliers ähnlich wie von einer High-Tech-Präsentation und verblüffenden Multimedia-Effekten in den Bann ziehen lassen. Was 2000 in Hannover passierte, verrät viel über Sinnerwartungen und Sehnsüchte, die sich allgemein mit dem Ort des Künstler-Ateliers verknüpfen. So ist das Interesse daran repräsentativ für ein - oft tatsächlich nietzscheanisch konnotiertes - Interesse am Werden, an Ursprung, Genese und Gestaltung, an produktivem Chaos, eruptiver Schöpfung, geheimnisvoller creatio ex nihilo. Kreativität gehört bekanntlich sogar zu den Leitbegriffen der modernen, von Individualisierung gekennzeichneten Gesellschaft. Und das muss auch nicht verwundern. So muss der zum Individuum gewordene Mensch seine Beschränktheit zu kompensieren suchen, indem er sich als eigendynamisch, potent und produktiv erfährt. Nur wer kreativ ist, kann Individualität

201 »ERWIN ANRUFEN« - ODER: WIE WIRD KÜNSTLERISCHE KREATIVITÄT (MIT)GETEILT?

als etwas Positives begreifen. Früher war Kreativität hingegen Gott (als einzigem Individuum) vorbehalten und für den Menschen undenkbar; sogar Künstler waren bis zur Neuzeit auf göttliche Eingebung oder die Inspiration durch Musen angewiesen, um schöpferisch sein zu können. Noch im 19. Jahrhundert, etwa im Grimmschen Wörterbuch, taucht Kreativität als Begriff überhaupt nicht auf. Selbst im Duden-Fremdwörterbuch aus dem Jahr 1966 wird >kreativ< erst als »selten[es]« Synonym für >schöpferisch< bezeichnet. 4 In den USA kam es zur selben Zeit jedoch bereits zu einem Boom an Kreativitätsforschung, der sich bald international ausbreitete; seither werden Kreativitätstechniken ersonnen und Kreativitätsratgeber publiziert. Jedes Mehr an Kreativität gilt dabei als Mehr an Erfolg, Lebensqualität und Glück. Einer der großen Mythen der Gegenwart besteht darin, dass Kreativität ansteckend ist. Auch wenn es bisher nicht gelungen ist, zuverlässige Infektionswege zu entdecken, scheint weithin der Glaube zu existieren, die Nähe zu kreativen Personen, der Aufenthalt an Orten, an denen bereits etwas Besonderes entstanden ist, und die Teilhabe an schöpferischen Prozessen wirkten sich stimulierend aus. Die Hoffnung geht um, eine kreative Atmosphäre mache jeden kreativ, der sich ihr aussetzt. Insbesondere Künstler profitieren von der Karriere der Kreativität und dem Mythos, es könnte sich dabei um etwas Übertragbares handeln. So erwerben viele Unternehmen Kunst oder laden die Künstler selbst zu Workshops ein, weil sie sich davon eine Steigerung der Arbeitsleistung ihrer Mitarbeiter erhoffen. Der Unternehmensberater Roland Berger drückt dies, stellvertretend für viele, so aus: »Kunst fördert Kreativität. Sie bringt auf neue Gedanken.«5 Künstler haben aber erst recht Erfolg mit Inszenierungen, die direkte Teilhabe an der Kreativität verheißen. Dadurch machen sie gerade Menschen neugierig, die sonst mit heutiger Kunst kaum etwas anzufangen vermögen. Allerdings kommt es auch häufig zu seltsamen Verkürzungen in der Selbstdarstellung vieler Künstler, die auf einmal mehr Wert auf ihre Rolle als Kreativitäts-Vermittler denn auf eine gute Repräsentation ihrer Arbeiten legen und die dann nicht einmal vor kitschig-banalen Tricks zurückschrecken. Ein Schlaglicht auf das Interesse des Publikums an Teilhabe werfen Äußerungen von Sammlern, die zugeben, dass sie ihr Geld nicht etwa nur wegen der Werke, sondern ebenso für ein Flair von Kreativität ausgeben: »Die Gespräche, die Freundschaften, die Atelierbesuche, das ganze Drum und Dran sind mir genauso viel wert wie die Exponate« - bekennt der Sammler Karsten Schmitz. 6 Friedrich Christian Flick erklärt, sich als Sammler auf zeitgenössische Kunst zu beschränken, weil es ihm wichtig sei, die Künstler persönlich kennenzulernen, denn sie seien »dem Schöpfungsprozess näher«.7 Er sammelt Kunst, um zu den wenigen zu gehören, die einen Künstler wie Bruce Nauman ganz privat, abgeschieden in New Mexico, besuchen dürfen: Für einen, der schon alle Partys und Events erlebt hat, ist die Nähe zum Künstler der letzte große Kick. Die hohen Summen, die er ausgibt, stehen für ihn somit

202 WOLFGANG ULLRICH

weniger für die Werke als für die Zugangsberechtigung zur Welt der Kunst, zu den Orten gesteigerter Lebendigkeit. Andere Sammler lassen sich für eine Homestory aus demselben Grund lieber im Atelier eines Künstlers als in den eigenen vier Wänden fotografieren. Sie wollen demonstrieren, dass sie in der Welt der Kunst zuhause sind. Die Nähe zur Kreativität ist ihr liebstes Statussymbol. Generell wird gerade der Atelierbesuch als Privileg empfunden. Ein paar Beispiele mögen das illustrieren: Gleichsam als Gegenleistung für die Stipendien, die sie vergeben, laden sich die Jury-Mitglieder des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft, überwiegend Manager und Unternehmer, in die Ateliers der vorgeschlagenen Künstler ein. Einmal im Jahr Ölfarbe riechen oder über einen mit Arbeitsresten bedeckten Boden laufen zu dürfen, ist für sie ein ähnlich exklusives - und offenbar anregendes - Erlebnis wie eine Karte für Bayreuth oder den Wiener Opernball. Etliche Künstler nutzen den Nimbus ihres Ateliers seit einigen Jahren auch, indem sie es abendweise für Dinners oder gepflegte Partys vermieten. In Dresden gibt es sogar den Verein Atelierbegegnung e.V., der angehenden Sammlern und anderen Interessenten die Gelegenheit bietet, Künstler an ihrem Arbeitsplatz kennenzulernen und gemeinsam mit ihnen zu essen und zu trinken. Auf einen solchen Verein sind die wirklich Mächtigen jedoch nicht angewiesen. So hatte Gerhard Schröder jederzeit Zugang zum Atelier von Markus Lüpertz und verbrachte als Kanzler manchen Abend dort, um sich vom Regieren zu erholen. Aber auch viele Unternehmensvorstände sind von kaum etwas so zu begeistern wie von einem Besuch im Atelier ihres jeweiligen Lieblingskünstlers. Sie schwärmen dann von den Werken, die gerade in Arbeit sind, vom Licht, das durch die Fenster fällt, von einer Einheit von Kunst und Natur, wie sie ein Atelier außerhalb der Städte erlaubt. Der Wert des Erlebnisses besteht darin, den eigenen Alltag, eine Welt aus Routinen sowie großen und kleinen Pflichten, für ein paar Stunden vergessen zu können - und sich dafür zurückversetzt in eine Kindheit oder Jugend zu fühlen, als noch alles möglich schien. Die besuchten Künstler dürfen umgekehrt die Nähe zur Macht ihrer prominenten Besucher spüren und profitieren von deren Aura. So taugt die Begegnung von Kunst und Macht als Beispiel einer Win-win-Situation: Zwei Männer laden sich gegenseitig in ihrer Männlichkeit auf. Der eine labt sich an der Potenz des Künstlers, der andere genießt die exekutive Gewalt des Regierenden. Das Atelier ist dann eine männliche Version der Gebärmutter. 8 Auch Filme über Künstler zelebrieren das Atelier häufig als Ort von Kreativität, als Brutstätte und Gebärmutter, wobei zwischen Dokumentarbeiträgen und Spielfilmen ikonographisch keine großen Unterschiede bestehen. Tritt das Fernsehen auf den Plan, wird ebenfalls vor allem offenbar, wie sehr Künstler als Atelierbesitzer - und nicht unbedingt wegen ihres Werks - interessant sind. Auch hierzu ein Beispiel: Als eine junge Künstlerin, über die ein Kurzfilm für ein Kulturfeature gedreht werden sollte, als Arbeitsplatz nur

203 »ERWIN ANRUFEN« - ODER: WIE WIRD KÜNSTLERISCHE KREATIVITÄT (MIT)GETEILT?

eine aufgebockte Holzplatte mit Computer in ihrer Wohnung vorzuweisen hatte, da ihr Werk einem ethnographischen Ansatz folgt und sich zu großen Teilen aus Internetrecherchen speist, drohte das Fernseh-Team mit sofortiger Abreise. Man gab sich erst zufrieden, nachdem die Künstlerin von Freunden eilig einen Raum zur Verfügung gestellt bekommen hatte, der sich gut als typisches Atelier einrichten und filmen ließ. Die Sehnsucht nach der Erfüllung eines Klischees war offenbar groß. Dieses Beispiel liefert einen Hinweis darauf, dass das Interesse am Atelier als dem Ort des kreativen Prozesses aber auch einem Defizit geschuldet ist. So sind die Werke heutiger Kunst selbst oft nicht telegen oder sogar unanschaulich. Und wenn sie zudem keine Geschichten erzählen oder sich spröde und schwer zugänglich geben, dann muss das Bedürfnis nach Narration, nach Anekdote und Unterhaltung auf andere Weise erfüllt werden. Künstler, die darum wissen, achten darauf, dass sie dem Kunstpublikum durch die Inszenierung ihrer Person, durch Legendenbildung oder eben auch aufgrund eines markanten Ateliers Stoff bieten. Das Pittoreske, ehedem eine Wertkategorie bei der Beurteilung von Kunstwerken, findet hier seinen outgesourcten Platz.

Die Symbolik des Ateliers und seiner Accessoires In Monographien und Katalogen dient eine Abbildung des Ateliers häufig auch als Authentizitätsbeweis, als Beleg dafür, dass es sich bei dem betreffenden Künstler wirklich um einen kreativen Menschen handelt. Das Atelierfoto, gerne am Anfang oder Ende des Buchs piaziert, wird so zum metonymischen Porträt. Zu sehen sind meist Dosen oder Gläser voller Pinsel, farbverfleckte und zerknüllte Papiere oder Fußböden sowie halbfertige Arbeiten, umgeben von Materialien und Arbeitsspuren (Abb. 2). Atelier-Accessoires oder ganze Ateliers werden sogar konserviert und musealisiert. So lockt etwa das Giorgio-Morandi-Museum in Bologna mit einer genauen Rekonstruktion des Ateliers des Malers. Francis Bacons Atelier wurde posthum von London nach Dublin transloziert. Den Ateliers einzelner Künstler sind schließlich eigene Bücher gewidmet. Manchmal zeigen sie nur die Spuren der Arbeit, manchmal aber auch den Künstler bei diversen Tätigkeiten im Atelier. So fotografiert Benjamin Katz, der über Jahrzehnte hinweg das Leben zahlreicher Künstler dokumentierte, Gerhard Richter beim Zigarettenanzünden oder beim Telefonieren (Abb. 3), so als wären diese Tätigkeiten genauso konstitutiv für den Künstler wie das Malen oder der kritische Blick auf die eigene Arbeit. Der Sinn solcher Fotos besteht aber gerade darin, den Rezipienten ein Gefühl der Teilhabe zu vermitteln: Nichts, was auch nur am Rande zum Tagesablauf eines Künstlers gehört, bleibt verborgen; wer will, darf als Augenzeuge fast überall dabei sein. Zugleich fungieren die Fotos aber auch als Prominenz-Postulat: Dass sonst unbedeutende Ereignisse festgehal-

204 WOLFGANG ULLRICH

2.

Atelier Georg Baselitz

3.

Benjamin

Katz:

Richter in seinem

4. und5.

Atelier von Auguste

Rodin

Gerhard

Atelier

205 »ERWIN ANRUFEN« - ODER: WIE WIRD KÜNSTLERISCHE KREATIVITÄT (MIT)GETEILT?

ten und publiziert werden, soll dazu veranlassen, die fotografierte Person für bedeutend zu halten. Sie wird damit zum Star erhoben. Der erste Star, der sein Atelier zur Bühne einer Kreativitäts-Inszenierung werden ließ, war Auguste Rodin. Ab 1896 zirkulierten zahlreiche Fotos, die sogar als Postkarten und Fan-Artikel vertrieben wurden. Den von ihm bestellten Fotografen, vor allem Eugène Druet und Jacques-Ernest Bulloz, kam dabei ein ebenso großer Anteil an der Erfindung einer Ikonographie der Genialität und Kreativität zu wie dem Bildhauer selbst.9 Waren die Ateliers der Künstlerfürsten des späten 19. Jahrhunderts - von Hans Makart, Franz von Lenbach, Franz von Stuck - noch repräsentative und prunkvolle Räume, die das Publikum zu festgesetzten Zeiten als Weihestätten der Kunst wie eine Kirche oder ein Schloss besichtigen durfte, wurden bei Rodin Arbeitswerkzeuge neben einer Skulptur piaziert (Abb. 4,5). Sogar Reste des abgeschlagenen Steins sind auf dem Boden zu sehen. Starke Hell-Dunkel-Kontraste lassen den unbeleuchteten Teil der Skulpturen nur ungenau erkennen, während andere Partien hell angestrahlt sind und sich in immaterielles Gleißen auflösen. Statt eines statischen Stücks Stein meint der Betrachter etwas vor sich zu haben, das gerade seinen Aggregatszustand ändert. Der Atelierraum selbst wirkt eher düster, damit auch unergründlich, in seinen genauen Proportionen wie in seiner Einrichtung rätselhaft. Andere Fotos vermitteln zwar einen klareren Raumeindruck, doch erscheinen die Werke auf ihnen wie Untote - verleiblichte Emanationen einer bizarrunermüdlichen Phantasie. Als amorphe Wesen bevölkern sie Boden, Säulen und ein Podest. Sie haben keine festen Plätze, sondern können, den Launen des Künstlers entsprechend, herumgeschoben werden, sich drehen und in immer wieder andere Konstellationen treten. Es geht dem Fotografen - und wohl auch Rodin selbst - um fließende Genese, schöpferische Beweglichkeit und eine ebenso spielerische wie drängende Kreativität. Obwohl weder der Künstler noch andere Menschen zu sehen sind, soll das Atelier als lebendiger Ort erscheinen. Wer sich als Künstler anders inszenierte, war seit Rodins populären Atelier-Fotos, die auch bei zahlreichen Diavorträgen über den Künstler europaweit vorgeführt wurden, in der Defensive. So fühlte sich der Kunstschriftsteller Fritz von Ostini 1909 verpflichtet, in einem Bericht über das Münchner Atelier Franz von Stucks ausdrücklich davor zu warnen, dort eine geheimnisvolle Aura kreativen Überbordens zu erwarten: »Von genialer Unsauberkeit wird keiner ein Stäubchen entdecken. Nichts >liegt herum«. Keine Zufälligkeiten, keine interessanten Trümmer und Fetzen.«10 Als interessant wird hier also gerade das mittlerweile Uninteressante, nämlich das Unzeitgemäße einer fürstlichen Kunst-Repräsentation zu verteidigen versucht. Zwar gab es während der gesamten Moderne zahlreiche Ateliers, die ebenfalls jegliche Form von Unordnung ausschlossen und nüchtern-klar, büroartig unauffällig oder geradezu klinisch-sauber waren, doch bei einem breiteren Publikum beliebter waren die gänzlich unbürgerlichen, gar leicht verruchten,

206 WOLFGANG ULLRICH

6.

Atelier Francis Bacon

chaotischen Räume. Hoffend, in der Kunst das g a n z Andere gegenüber allem G e w o h n t e n finden zu können, enttäuscht die Neugierigen und Schaulustigen alles, was i h n e n keinen Stoff zur Spekulation über geheime A b g r ü n d e und mysteriöse S c h ö p f u n g s a k t e bietet. Aber noch aus e i n e m weiteren G r u n d ist es ihnen wichtig, Kreativität als etwas Fremdes - gerne auch bizarr Befremdliches, Exotisches - gezeigt zu b e k o m m e n . Das Entsetzen über das >kreative Chaos< versöhnt die Rezipienten n ä m l i c h damit, dass sie selbst nicht kreativ sind. Von Künstlern k a n n extreme U n o r d n u n g daher auch in apotropäischer Funktion eigens forciert werden: Die Ereiferung des P u b l i k u m s schützt sie vor dem totalen Zugriff; je heftiger die Unordnung, desto besser gelingt es, doch noch D i s t a n z zu wahren. Einen extremen Fall von Künstler-Chaos bieten A u f n a h m e n von Francis Bacons Atelier (Abb. 6). Hier ist die pittoreske, aber auch die apotropäische D i m e n s i o n superlativisch entfaltet; von einer »Unschuld des Werdens« lässt sich k a u m n o c h sprechen. Der Künstler w i r d als Messie porträtiert oder, zutreffender, pathologisiert. Bilder, die jeden anderen M e n s c h e n als verwahrlost oder völlig überfordert erscheinen ließen, sollen b e i m Künstler das Klischee von Exzentrik und Genialität bestätigen. Doch ist z u fragen, ob hier nicht nur eine etwas obszöne Schaulust befriedigt wird, ob die minutiöse

207 »ERWIN ANRUFEN« - O D E R : WIE W I R D K Ü N S T L E R I S C H E KREATIVITÄT ( M I T ) G E T E I L T ?

7.

Mouse-Pad ynit Motiv von Francis Bacons Atelier

f o t o g r a f i s c h e E r f a s s u n g einer A t e l i e r - U n o r d u n g den V o y e u r i s m u s also nicht z u weit treibt u n d in e i n e n p o r n o g r a p h i s c h e n Blick u m s c h l a g e n lässt, der K u n s t auf ein W a h n s i n n s - S p e k t a k e l reduziert. D a s s M u s e u m s s h o p s A u f n a h m e n von Bacons Atelier s o g a r als M o u s e - P a d offerieren (Abb. 7), bestätigt diese Sorge: V e r w a h r l o s u n g w i r d z u m k o m m e r z i a l i s i e r b a r e n Spektakel. N e b e n den Fotos g r e l l - b u n t e n T o h u w a b o h u s e n t s t e h e n aber n a c h w i e vor viele A u f n a h m e n von Ateliers in S c h w a r z - W e i ß u n d oft auch in starken HellD u n k e l - K o n t r a s t e n . Ein auf Ateliers spezialisierter Fotograf w i e B e n j a m i n K a t z nutzt diese T e c h n i k , u m seine Sujets z u ü b e r h ö h e n (Abb. 8). Oft scheint es, als e n t s t ü n d e n die W e r k e in einer a l c h e m i s t i s c h - v e r w u n s c h e n e n A t m o sphäre, m a n c h m a l sogar, als k ä m e n sie aus g e h e i m n i s v o l l e n , u n d u r c h d r i n g lichen Tiefen. A u c h w i r d weiterhin, wie s c h o n bei Rodin, gern der E i n d r u c k erzeugt, die Werke seien n o c h in B e w e g u n g , nichts A b g e s c h l o s s e n e s und Endgültiges, s o n d e r n jederzeit veränderlich und voller M ö g l i c h k e i t e n der Fortentw i c k l u n g (Abb. 9). Ein g ä n g i g e s Stilmittel der I n s z e n i e r u n g von Mobilität sind Paletten, auf d e n e n S k u l p t u r e n stehen. Z w a r m a g das a u c h p r a k t i s c h e G r ü n d e haben, da z u m a l s c h w e r e S t ü c k e n u r mit e i n e m solchen Untersatz t r a n s p o r t a b e l sind; d o c h w e r d e n die Paletten häufig so s e h r in den V o r d e r g r u n d gestellt, d a s s sie auch als gestalterisches E l e m e n t dienen. A n d e r s als ein traditioneller S o c k e l signalisiert eine Palette aber nicht n u r Beweglichkeit, s o n d e r n erzeugt e b e n s o den E i n d r u c k des P r o v i s o r i s c h e n ; sie verleiht dem, was auf ihr steht, den C h a rakter der S k i z z e oder s p o n t a n e n Geste. A l s o scheint - e i n m a l m e h r - der k ü n s t l e r i s c h e A k t selbst zu s e h e n zu sein: ein n o c h offenes - u n d entsprec h e n d s p a n n e n d e s - Ereignis, das d e m n e u g i e r i g e n B e t r a c h t e r nicht vorent-

208 WOLFGANG ULLRICH

halten werden soll. Was bei Rodin relativ dezent begann, ist bei zeitgenössischen Künstlern wie Markus Lüpertz oder Tony Cragg (Abb. 10) zum Teil des Werks, vor allem aber zur Inszenierung der Kreativität geworden. AtelierAccessoires haben den Status einer autonomen Kunst erlangt, die den Rezipierten animieren soll, indem sie ihm möglichst große Nähe zum Werkprozess suggeriert. Manche Künstler gehen mittlerweile so weit, ihre gesamten Ateliers auszustellen oder gar zu rekonstruieren. So zeigte Yoshitomo Nara auf der Yokohama Triennale 2005 innerhalb einer größeren Installation sein erstes Atelier: das Jugendzimmer eines Zeichenfreaks, dessen Präsentation seine vielen jugendlichen Fans ansprechen und zu eigener Maltätigkeit ermuntern sollte. Es blieb unklar, ob dieser Raum als biographische Dokumentation oder selbst als Kunstwerk fungierte. Wichtig war auch hier nur, den Besuchern Nähe und Teilhabe zu versprechen. Andere Künstler stellen zwar nicht ihr Atelier aus, übernehmen jedoch dessen Kreativitätsflair und Formklima direkt für ihre Arbeiten. So könnte man von einer Geburt der Trash-Art aus dem Geist der Atelier-Unordnung sprechen. Das Pittoreske ist dann nicht länger ins Umfeld ausgelagert, sondern kehrt in die Werke selbst zurück. Schon bei Dieter Roth, aber ebenso bei John Bock, Thomas Hirschhorn oder Jonathan Meese variieren die Installa-

it .

Benjamin Katz: Atelier Wolfgang Laib

9.

Markus Lüpertz: Die

Aphrodite,

2003

Augsburger

209 »ERWIN ANRUFEN« - ODER: WIE WIRD KÜNSTLERISCHE KREATIVITÄT (MIT)GETEILT?

10.

TonyCragg:

Untitled,

1988

tionen lediglich die Ästhetik, die seit rund einem Jahrhundert als typisch für viele Ateliers bekannt geworden ist (Abb. 11). Auf den ersten Blick ist manchmal nicht einmal zu erkennen, ob eine Abbildung ein Atelier oder eine Arbeit zum Sujet hat. Erst Bildlegenden verraten, worum es sich jeweils handelt - ob um Jonathan Meese in seinem Atelier in der Hochschule für bildende Künste in Hamburg oder um eine Installationsansicht seiner Arbeit Schergentoni's

Old

Wien von 1997 (Abb. 12).

¡jgiseAcK

Atelier Jonathan

Meese

12. 1997

Jonathan

Meese:

Schergentoni's

Old

Wien,

210 WOLFGANG ULLRICH

Doch statt ursprünglicher Formlosigkeit und »Unschuld des Werdens« verkörpert Trash-Art eine Unordnung, die gegen herkömmliche Ordnungsvorstellungen protestiert und als präpotente Bürgerschreckästhetik, als verspielt-aggressive Männlichkeit auftritt. Vieles ist achtlos weggeworfen, anderes mit starken Strichen oder in großer Schrift übermalt, wieder anderes hastig überklebt. Kreativität erscheint nicht als frei fließende Produktivität, sondern wird zu einem konfliktträchtigen Geschehen dramatisiert. Wer will kann hier aber auch den Topos der zerrissenen Künstlerseele, deren heroische innere Kämpfe vergegenwärtigt finden. Das Drama von Bacons Atelier wiederholt sich dann in der Installation. Dabei scheint Intensität jedoch wichtiger zu sein als ein bestimmter Inhalt, dem sie gelten könnte. Wie bei den AtelierAufnahmen fällt vielmehr eine Verlagerung des Interesses auf. Eigentliches Thema der künstlerischen Arbeit ist ihr eigener Prozess.

Die Nachstellung des kreativen Prozesses Aber nicht nur Ateliers und ihre Paraphrasen eröffnen die Chance, Kunst als Hort der Kreativität in Szene zu setzen. Ein gutes Forum dafür bieten vielmehr ebenso Kataloge und Künstlerbücher. Darin werden seit einigen Jahren nicht mehr nur Œuvres versammelt, sondern regelrecht Rhetoriken der Kreativität entwickelt und zelebriert. So füllen Künstler wie Stephan Balkenhol die Seiten mit Fotos, die das fertige Werk - das an keiner Stelle gezeigt wird - in seine Bestandteile auflösen, indem sie vorbereitende Skizzen, Notizzettel, Materialproben, das Handwerkszeug oder ihre Arbeitsbedingungen zeigen. Assoziationen stellen sie mit Hilfe von Collagen aus Zeitungsartikeln, Privatfotos und Fundsachen nach (Abb. 13). So soll der Weg von der Idee bis zum Endprodukt nachvollzogen und der Mentalitäts- und Stimmungsraum des Künstlers rekonstruiert werden. Das erinnert an die Making-of-Movies auf einer Spielfilm-DVD, die ebenfalls ungeahnte Einblicke versprechen. Wer in einem Kunstkatalog blättert, darf sich entsprechend als Voyeur fühlen, zum Augenzeugen geadelt, der fast >live< dabei ist, wenn Kreativität waltet. Künstler relativieren somit jedoch ihre Werke; sie stellen sie in der Reproduktion nicht besser oder sogar schlechter als eine Schreibtischunterlage, ein Tagebuchblatt oder einen Zeitungsausriss. Man könnte den Verdacht haben, sie trauten ihren eigenen Arbeiten nicht und müssten sie mit Authentizitätsund Kreativitäts-Spektakeln eskortieren. Der Verdacht verstärkt sich, wenn man erkennt, dass die in einem Katalog versammelten Dokumente oft Bedeutungsträchtiges apportieren und Geheimnisse aufbauen. Statt ein Werk zu erklären, parfümieren sie es lieber mit schweren Begriffsdüften. »Liebe«, »Leiden«, »Leere«, »Langeweile« liest man etwa auf einem Notizblatt, das Stephan Balkenhol im Katalog zu seiner Ausstellung im Sprengel-Museum in Hannover im Jahr 2003 abdruckte. Auch Hamlet und Antigone, Peer Gynt und Parzival müssen darauf noch erwähnt werden, vermutlich um zu suggerieren,

211 »ERWIN ANRUFEN« - ODER: WIE WIRD KÜNSTLERISCHE KREATIVITÄT (MIT)GETEILT?

13.

Stephan Balkenhol, Doppelseite aus dem Katalog Sprengel-Museum,

Hannover 2003

der Künstler schaffe aus einem geistigen Tiefenraum von zweieinhalb Jahrtausenden. Dass dies ganz selbstverständlich und alltäglich geschieht, soll der etwas aufmerksamere Betrachter an der Rückseite des fotografisch reproduzierten Notizblattes erkennen, deren Beschriftung durch das relativ dünne Papier hindurchschimmert. Hier hat Balkenhol untereinander die Anfangsbuchstaben von Wochentagen notiert und mit Anmerkungen wie Ortsangaben versehen. Pragmatische Selbstverwaltung und paraphilosophische Spekulation finden somit auf demselben Stück Papier Platz. Zwei übereinandergeklebte Zeitungsausrisse auf der gegenüberliegenden Katalogseite verstärken den enigmatischen Charakter noch, bleibt doch unklar, welchen Bezug zum Werk des Künstlers ein Filmstill besitzen soll, das im Kultur-Teil von Le Monde abgedruckt war. Ist es die Konstellation der Figuren auf dem Bild, die Balkenhol zu den Reflexionen anregte, welche er auf dem Notizzettel festhielt? Doch warum konnte er das Zeitungsbild dann nicht vollständig und ohne Textfetzen abdrucken? Wieso war es ihm wichtig, die Datumszeile einer anderen Zeitungsseite darüberzukleben anstatt unter dem Bild zu vermerken, von wo und wann es stammte? Und was dachte er sich dabei, als er die Zeitungsausrisse in die obere linke Ecke der Katalogseite piazierte, während er den Rest der Seite frei ließ? Es scheint, als werde hier auf DIN A4-Format die Kreativitäts-Unordnung nachgestellt, die sonst auf Atelier-Fotos ins Auge fällt. Auch andere Seiten desselben Katalogs geben Einblicke in das Atelierleben (Abb. 14). So präsentiert Balkenhol einen Zeitplan vom Aufstehen zu heroisch früher Uhrzeit bis zur anvisierten Vollendung seiner Skulptur pünktlich zu >High Noon