Die Werkstatt des Dichters: Imaginationsräume literarischer Produktion 9783110466850, 9783110464931

Open Access The "poet’s workshop" is a central imaginary space of literature. What do we imagine when we thi

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German Pages 240 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Chaos des Schreibens. Die Werkstatt der Dichterin und die Gesetze des Archivs
Werkstatt, Showroom, Archiv und Pantheon. Arbeitsräume von Schriftstellern, bildenden Künstlern und Komponisten
Goethes Arbeitszimmer. Überlegungen zur Diskursivierung des Dichterhauses um 1800
Philologie im Zeichen der Tischszene. Walter Benjamin in Goethes Werkstatt
Walter Benjamins Weimar im Kontext
Büchners Bruchstücke. Dilemmata der Rekonstruktion unvollendeter Schreibprozesse
Adalbert Stifters Arbeitszimmer und andere Orte des Schreibens
Kein Ort nirgends. Zur „Dichterinnen-Werkstatt“ Marie von Ebner-Eschenbachs
Arthur Schnitzler. Schrift und Schreiben
Sommerfrische/Zweitwohnsitz. Arbeits- und Vorstellungsräume bei Peter Rosegger und Friedrich Torberg
Liebeskummerarchive. Authentizität in der autobiografischen Werkstatt Sophie Calles
Abstimmung. Kiplings Erzählung Wirleless als Lektüre von Marconis Patent 7777
Der Schreibtisch im Exil. Thomas Manns schwimmendes Arbeitszimmer
Abbildungsnachweis
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Die Werkstatt des Dichters: Imaginationsräume literarischer Produktion
 9783110466850, 9783110464931

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Die Werkstatt des Dichters

Literatur und Archiv

Herausgegeben von Petra-Maria Dallinger und Klaus Kastberger

Band 1

Die Werkstatt des Dichters Imaginationsräume literarischer Produktion Herausgegeben von Klaus Kastberger und Stefan Maurer unter Mitarbeit von Georg Hofer und Bernhard Judex

Herausgegeben am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung der Karl-Franzens-Universität Graz und am Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich/StifterHaus, Linz. Mit freundlicher Unterstützung von Land Steiermark und Land Oberösterreich.

ISBN 978-3-11-046493-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-046685-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-046687-4

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-­ NoDerivatives 3.0 Lizenz. Weitere Informationen finden Sie unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Klaus Kastberger und Stefan Maurer; publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Dieses Buch ist als Open-Access-Publikation verfügbar über www.degruyter.com. Coverabbildung: Panoramaaufnahme des Arbeitszimmers von Friederike Mayröcker, © Bodo Hell. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Klaus Kastberger und Stefan Maurer Vorwort   7 Klaus Kastberger Chaos des Schreibens Die Werkstatt der Dichterin und die Gesetze des Archivs 

 13

Bodo Plachta Werkstatt, Showroom, Archiv und Pantheon Arbeitsräume von Schriftstellern, bildenden Künstlern und Komponisten  Christiane Holm Goethes Arbeitszimmer Überlegungen zur Diskursivierung des Dichterhauses um 1800  Annegret Pelz Philologie im Zeichen der Tischszene Walter Benjamin in Goethes Werkstatt 

 65

Jürgen Thaler Walter Benjamins Weimar im Kontext 

 77

 47

Christian Neuhuber Büchners Bruchstücke Dilemmata der Rekonstruktion unvollendeter Schreibprozesse 

 93

Petra-Maria Dallinger Adalbert Stifters Arbeitszimmer und andere Orte des Schreibens  Ulrike Tanzer Kein Ort nirgends Zur „Dichterinnen-Werkstatt“ Marie von Ebner-Eschenbachs  Konstanze Fliedl Arthur Schnitzler. Schrift und Schreiben 

 139

 125

 107

 29

6 

 Inhalt

Gerhard Fuchs Sommerfrische/Zweitwohnsitz Arbeits- und Vorstellungsräume bei Peter Rosegger und Friedrich Torberg  Susanne Knaller Liebeskummerarchive Authentizität in der autobiografischen Werkstatt Sophie Calles  Wolf Kittler Abstimmung Kiplings Erzählung Wirleless als Lektüre von Marconis Patent 7777  Anne-Kathrin Reulecke Der Schreibtisch im Exil Thomas Manns schwimmendes Arbeitszimmer  Abbildungsnachweis 

 235

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 

 237

 215

 183

 199

 163

Vorwort „Die Werkstatt des Dichters“ ist ein zentraler Imaginationsraum von Literatur. Schon Friedrich Schleiermacher pflanzte die Tätigkeit des Schriftstellers und die Notwendigkeit einer tätigen Nachfolge dieser Tätigkeit im Kern seiner Methoden­ lehre auf. 1889 argumentierte Wilhelm Dilthey in einem epochemachenden Vortrag aus genau diesem Begründungszusammenhang heraus für die Einrich­ tung von Archiven für Literatur. Die in den geforderten Lagerstätten des (natio­ nalen) dichterischen Erbes gesammelten Materialien (Notizen, Entwürfe, Hand­ schriften) geben, so seine Begründung, einen unmittelbaren Einblick in die Werkstatt des Dichters frei und erlauben einen privilegierten Zugang zum Werk. Während der Interpret an den Archivmaterialen sitzt, vermeint er sich gleichsam in den Arbeitsraum des Schriftstellers versetzt und als Beobachter direkt beim lebendigen Wachstum des Werkes anwesend. Über Peter Szondi und Theodor W. Adorno, für den der methodische Weg zur Analyse des modernen Kunstwerkes über einen Reflex auf die „Logik des Produ­ ziert-Seins“ geht, machen sich geisteswissenschaftliche Disziplinen bis hin zu critique génétique und Schreibprozessforschung den etablierten Ansatz dienst­ bar. Die Materialien des Arbeitsprozesses, mit denen man es zu tun hat, beamen einen, um es mit einer Wendung aus der technischen Zukunft zu sagen, an die Stelle des Autors und damit gleichsam in den Produktionsprozess des Werkes hinein. Keine andere Disziplin hat zur Ausdifferenzierung ihrer Methodik und zur Etablierung ihrer eigenen Überzeugungskraft mehr von dieser Vorstellung profi­ tiert als die moderne Editionswissenschaft, bis hin zum genetischen Paradigma der letzten Jahrzehnte. Davon ausgehend werden in diesem Band Fragen an die „Werkstatt des Dich­ ters“ gestellt. Wie und auf der Basis welchen Inventars wurde der Vorstellungs­ raum konstruiert? In welchem Verhältnis stehen real erfahrbare Arbeitsräume und Produktionsweisen mit dem, was die Geisteswissenschaft in ihrem methodi­ schen Kern mit der „Werkstatt des Dichters“ meint? In welchem Verhältnis stehen lebendige Schreibszenen mit den musealen Inszenierungen von Arbeitszimmern? Inwieweit reflektieren Autorinnen und Autoren selbst auf die Umgebung ihres Schreibens und machen sie zu einem Teil ihres Werks? Woher kommt das rastlose Interesse an den Arbeitsräumen der Dichterinnen und Dichter? Goethes Arbeits­ zimmer ist bis heute eines der beliebtesten Postkartenmotive aus Weimar. Litera­ turtouristen, Journalisten, Fotografen und Kritiker finden in ihren Ausflugsfahr­ ten und Home-Stories an der „Werkstatt des Dichters“ einen gesuchten Ort. Welchen Inszenierungen aber folgen wir, wenn wir uns in solche Räume begeben?

DOI 10.1515/9783110466850-001, © 2017 Klaus Kastberger, Stefan Maurer. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 License.

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 Vorwort

Klaus Kastberger führt in seinem einleitenden Beitrag auf die zentrale The­ matik hin. Anhand der messie-artigen Zustände in der Wohnung der österreichi­ schen Schriftstellerin Friederike Mayröcker, in der sich Materialkonvolute auf­ türmen und der Schreibenden selbst fast kein Raum mehr bleibt, wird unmittelbar evident, dass genuine Ordnungszusammenhänge der Produktion verloren gehen, sobald die Werkstatt der Dichterin als Nachlass-Bestand in die Ablageformen eines Literaturarchivs eingefügt wird. Eine einzelne Fotografie der realen Arbeits­ umgebung besitzt oft mehr Aussagekraft hinsichtlich der Beschaffenheit literari­ scher Produktion als ein ganzer geordneter Nachlassbestand. Wissenschaften, die sich auf die Vorstellung der Werkstatt in ihrem lebendigen Zusammenhang stützen, haben diesen Umstand zu reflektieren. Gerade an den übriggebliebenen Materialien des Schaffensprozesses, die ihren Weg ins Archiv finden und dort eine neue Form des Daseins führen, muss eine dies berücksichtigende Quellen­ kritik ansetzen. Bodo Plachta stellt in seinem Beitrag die Frage, wie die idealtypische Werk­ statt eines Künstlers aussieht bzw. sich aus musealer Sicht formiert. In Francesco Petrarcas De vita solitaria findet sich die Vorstellung, dass der Arbeitsraum eine Möglichkeit bieten soll, sich aus der Welt zurückzuziehen. Dieser Typus des zweckmäßig eingerichteten Studiolo ist Sinnbild eines störungsfreien Raumes der künstlerischen Produktion geblieben. Die auf den Personenkult des 19. Jahrhun­ derts zurückgehende museale Nutzung von Ateliers und Schreibstuben blieb ihrerseits nicht ohne Einfluss auf die gezielte Inszenierung der Arbeitsumgebung. Die Werkstatt wird hier gleichsam zu einem Porträt des Künstlers. Solche Künst­ lerwerkstätten werden bis heute museal genutzt und erfahren innerhalb größerer institutioneller Einrichtungen selbst eine Archivierung, wie beispielsweise im Fall von Thomas Mann oder dem Maler Francis Bacon. In einen ikonischen Raum der literarischen Produktion führt der Beitrag von Christiane Holm. Die Eröffnung des Goethe-Nationalmuseums (später GoetheSchiller-Archiv) im Jahr 1885 schuf die Grundlage für die Musealisierung des Hauses und des berühmten Arbeitszimmers des Dichters, als dessen besonderes Merkmal neben der heterogenen Vielzahl einzelner Objekte (darunter sieben Arbeitstische verschiedener Stilepochen) die einfache Einrichtung gelten kann. Die Schwierigkeit, die Werkstatt des Dichters quasi „außer Betrieb“ zum sinnlich erfahrbaren Objekt seiner ehemaligen Atmosphäre zu gestalten, wird durch die Tatsache begleitet, dass Goethe nach 1790 kaum mehr allein, sondern mit Sekre­ tären gearbeitet hat. Seitens vieler Besucher des 19. Jahrhunderts gab es ent­ täuschte Reaktionen auf die Schmucklosigkeit und Schlichtheit des Hauses sowie der Schreibstube, die im starken Kontrast zu Goethes Genialität zu liegen schien. Die Praxis der kulturellen Wahrnehmung von Dichterhäusern musste erst ent­ sprechend eingeübt werden.

Vorwort 

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Ausgangspunkt der Beiträge von Annegret Pelz und Jürgen Thaler ist Walter Benjamins Text Weimar (1928). Benjamin verfasste den kurzen Aufsatz nach einem Besuch im titelgebenden Ort, den er zu Recherchezwecken für eine Arbeit zu Goethe eingelegt hatte. Er hielt sich dabei, so Pelz, zuerst bewusst vom Goethe­ Kult und einer „Epigonenwallfahrt“ (Hans Blumenberg) fern und besuchte die Werkstatt des Dichters vorrangig als Philologe. Weimar, das ihn als ein Symbol­ raum kollektiver Erkenntnis interessierte, erschloss sich ihm, als Gast im Hotel Elephant, zuallererst durch Betrachtung. Am Beginn seiner Schilderung steht das Markttreiben, dann schon bald das Goethe- und Schiller-Archiv, in dem das weiße Mobiliar, das die kostbaren Autografen beherbergt, ihn an ein Hospital erinnert und Bedeutungstiefe evoziert. Im Goethe-Haus fokussiert Pelz den Blick auf den Schreibtisch des Dichters sowie auf die Schwelle zwischen Arbeits- und Schlafkammer. Der Arbeitstisch wird im Fall Goethes zum Mittler und Medium. Wohnen bedeutet Spuren zu hinterlassen, denen in dem Beitrag auch mit Verwei­ sen auf den Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl nachgegangen wird. Jürgen Thaler setzt Benjamins knappe Ausführungen in den Kontext von Berichten anderer prominenter Weimar-Pilger. Franz Kafka und Max Brod haben das Haus am Frauenplan im Jahr 1912 besucht. Ihre Texte dazu können als Beschäftigung mit der Entstehung von Literatur ganz allgemein, aber auch als Erfahrungspotenzial einer damals noch neuen musealen Aufbereitung von Dich­ terwerkstätten gelesen werden. Sowohl bei Brod und Kafka als auch bei Benjamin findet die räumliche Trennung der beiden Weimarer Goethe-Orte und ihrer Auf­ gaben (im Archiv – forschen; im Museum – erinnern und einfühlen) eine Refle­ xion. Anders als Benjamin schreiben die beiden Prager Schriftsteller im Archiv Autografen ab und formulieren Gedanken zu den Handschriften. Noch einige Jahre vor seinem Weimar-Besuch hatte sich Kafka ablehnend gegenüber dem „Getue“ rund um das Goethe-Haus geäußert, aus dem eine Pilger- und Gedenk­ stätte gemacht worden sei. Bei seinem Besuch im Jahre 1912 aber ließ auch ihn die Atmosphäre des Ortes nicht kalt. Ausgehend von inhaltlichen, szenischen und dialektalen Bruchstellen zeigt Christian Neuhuber, wie sich Georg Büchners omnipräsentes Dramenfragment Woyzeck durch editorische Eingriffe und Rekonstruktionsübergriffe seit dem ersten Teilabdruck von 1875 verändert hat. Welchen Anteil der Editor an der Werk­ entstehung und dadurch auch an der Rezeption hat und wie sehr er dabei die Werkstatt des Dichters usurpiert, wird u. a. an der Tatsache deutlich, dass Büchner dem Text keine verlässliche Struktur hinterlegt hat. Aufgrund der „Nach­ lasslosigkeit“ des Autors existiert im Fall Büchners nur ein internalisiertes Vor­ stellungsbild der Werkstatt. Gerade aber der immanente Werkstattcharakter des Stückes hat zu seinem Erfolg beigetragen.

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 Vorwort

Den Differenzen zwischen der realen Arbeitsumgebung und deren musealer Inszenierung geht Petra-Maria Dallinger in ihrem Beitrag am Beispiel von Adal­ bert Stifter nach. Auch in diesem Fall wurden sowohl im Geburtshaus des Dich­ ters in Oberplan (Horní Planá, Tschechien) als auch in seinem Sterbehaus in Linz klassische ikonografischen Vorgaben umgesetzt. Stifter selbst blieb von solchen Fragen nicht unberührt: Raumstrukturen zwischen Ordnung und Unordnung spielen in seinem literarischen Werk eine entscheidende Rolle. Dies hatte Auswir­ kungen auf die Gestaltung der realen Umgebung seines Schreibens und auf die Gestalt seiner Manuskripte. Mit der Frage, wie sich ein Arbeitszimmer im Nach­ lass abbildet, setzt sich Dallinger dann auch am Beispiel der österreichischen Autorinnen Enrica von Handel-Mazzetti und Marlen Haushofer auseinander. Letzterer diente im familiären Verband ein simpler Küchentisch als freigeräumter Ort des Schreibens. Die Absenz eines spezifischen Erinnerungsortes steht im Zentrum des Beitra­ ges von Ulrike Tanzer über die österreichische Schriftstellerin Marie von EbnerEschenbach. Als Tochter der adeligen Familie Dubský 1830 auf Schloss Zdislawitz in Mähren geboren, verbrachte die Schriftstellerin die meiste Zeit ihres Lebens in Wien, wo sie 1916 verstarb. Das seit dem Jahr 2000 leerstehende, baufällige und in Privatbesitz befindliche Schloss bietet ein Beispiel für die Schwierigkeit trans­ nationaler Kulturpolitik. Auch das Sterbehaus Ebner-Eschenbachs in Wien wurde bislang weder als schützenswertes nationales Kulturgut ausgewiesen noch ent­ sprechend gewürdigt. Dabei steht das Fehlen offizieller Erinnerungsorte in krassem Gegensatz zum damaligen Erfolg und der heutigen Bedeutung EbnerEschenbachs als Ausnahmeerscheinung in einer von männlichen Autoren domi­ nierten Literaturwelt des spätbürgerlichen 19. Jahrhunderts. Wie sehr EbnerEschenbach selbst an der Etablierung ihres eigenen (Nach-)Ruhms mitwirkte, zeigt sich an ihren Bemühungen, für die Nachwelt nur ausgewählte Dokumente zu erhalten. Korrespondenzen, auf die sie keinen Zugriff hatte, entwerfen ein wesentlich differenzierteres Bild ihrer Person und bieten Einblicke in ihre ansons­ ten eher verborgene Arbeitsweise. Konstanze Fliedl setzt sich in ihrem Beitrag mit der schwer lesbaren Schrift Arthur Schnitzlers auseinander und beschreibt auf der Basis der konkreten Gestalt seiner Manuskripte einen Schreibprozess, der nicht zuletzt von einer unbewussten Zensur von Inhalten geprägt ist. In der bisherigen Forschung spielte die Auseinandersetzung mit Schnitzlers Schrift eine eher unbedeutende Rolle. Dabei hat aber auch der Medienwechsel, der sich im Schreiben des Autors um 1900 vollzog, als Schnitzler von der eigenhändigen Niederschrift seiner Texte zum Diktat überging, eine weitreichende Bedeutung für das Verständnis seines Werkes. Aus Materialien des Nachlasses destilliert Fliedl vor dem Hintergrund der von Rüdiger Campe vorgeschlagenen Terminologie einzelne „Schreibszenen“

Vorwort 

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und „Schreib-Szenen“ und entwirft dabei ein detailliertes Bild vom Schauplatz der Schrift. Mit dem Schreiben in der Sommerfrische und am Zweitwohnsitz beschäftigt sich Gerhard Fuchs. Peter Rosegger war der Ort seiner Kindheit, das steirische Krieglach, ein notwendiger Ort des Rückzugs, den er in seinem Werk nicht nur literaturhistorisch fixierte, sondern mit realutopischen Qualitäten auflud. Fuchs stellt diese Vorstellungen in einen Zusammenhang mit Michel Foucaults Begriff der Heterotopie. Rosegger rekurriert auf eine inverse „Schreib-Szene“, indem er den Widerstand des Schreibgeräts geradezu zu einer formbildenden Vorausset­ zung seines Schreibens macht. Friedrich Torberg, dem städtisch­jüdischen Milieu entstammend, verfasste in seiner Schreibstube im steirischen Altaussee nach 20 Jahren der Romanabstinenz sein letztes großes Buch Süßkind von Trimberg (1972). Diese Wiederaufnahme des Schreibprozesses dient Fuchs als Illustration einer Überlegung von Martin Stingelin, derzufolge der Schriftsteller durch das von ihm gewählte Schreibwerkzeug förmlich „engagiert“ wird. Die Sommerfrische und der Zweitwohnsitz heben sich vom Raum einer dauerhaften Werkstatt auch inso­ fern ab, als sie in einem engen Zusammenhang mit besonders auffälligen Formen der Selbstinszenierung stehen. Zumindest legen dies die beiden gewählten Bei­ spiele nahe. Der ohnehin nur als Fiktion existente, störungsfreie Raum, wie ihn noch das Studiolo von Petrarca darstellt, wird im Beitrag von Wolf Kittler anhand der Erzählung Wireless (1902) von Rudyard Kipling dekonstruiert, finden sich doch hier Verschaltungen neuester technologischer Verfahren, wie dem Patent „7777“ des italienischen Radiotechnikers Guglielmo Marconi, mit Schreibweisen der Écriture automatique, die aufgrund terminologischer Parallelen (Medium, Äther, Induktion) aufeinander referieren. Kittlers Überlegungen zeigen die besondere Funktionsweise dieser speziellen, von Kipling dargestellten „Werkstatt“, die bereits bestehende Werke, in diesem Fall die Lyrik von John Keats, bloß reprodu­ ziert und als ein Ort der Übertragung fungiert, also auch als ein Beitrag zur Geschichte künstlerischer Inspiration im Zeitalter drahtloser Kommunikation verstanden werden kann. Begriffe wie Autorschaft, Archiv und Werkstatt verhandelt Susanne Knaller in ihrem Beitrag anhand des multimedialen Œuvres der französischen Künstlerin Sophie Calle. Ausgehend von der bereits im Surrealismus und Situationismus verfolgten poetologischen Reflexion von Kunst und den Fragen nach deren Pro­ duktions- sowie Rezeptionsbedingungen, der Auslotung der Grenzen gegenüber Alltag und Nicht-Kunst und zwischen Privatem und Öffentlichkeit, lassen sich Calles Projekte als mitunter schwer greifbare Szenarien und prozesshafte Trans­ formationen kultureller Praktiken verstehen, die auf den Werkstattcharakter und das Sammeln von lebensgeschichtlichem Dokumentationsmaterial fokussieren.

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 Vorwort

In der Öffnung privater Räume und im Spiel mit medialen Formen, das sie in ihrem Werk betreibt, rührt Calle an archivtheoretische Fragen. Dabei steht nicht das fertige Werk im Zentrum, sondern seine Entstehung im Atelier als einem Ort tatsächlicher künstlerischer Arbeit. Im letzten Beitrag des Bandes widmet sich Anne-Kathrin Reulecke dem „schwimmenden“ Schreibtisch von Thomas Mann, den dieser auf seinen Statio­ nen durch das Exil mit sich führte. Der Schreibtisch diente dem Autor nicht allein als Instrument seines Schreibens, sondern auch als ein Mittel der Selbstvergegen­ wärtigung und als Symbol ungebrochener Identität. In Manns Bericht Meerfahrt mit Don Quichote, der seine Überfahrt in die USA im Mai 1934 beschreibt, wird die Abhängigkeit des Autors von geregelten Schreibsettings und -praktiken deutlich. Auch die Nachgeschichte des schwimmenden Möbels zeigt Reulecke auf. Im sogenannten „Gedenkzimmer“ des Zürcher Thomas-Mann-Archivs steht der Tisch heute im Verband von Manns rekonstruiertem Arbeitszimmer. Auch eine FilmDoublette wurde angefertigt, die heute im Feldafinger Thomas-Mann-Museum zu sehen ist, wo an den Wänden Fotografien all jener Orte angebracht sind, an denen, wie der Museumsführer weiß, „das Original seinem Besitzer zur Rettungs­ insel“ wurde. Zweck der Inszenierung auch hier: die Herstellung einer unmittel­ baren Präsenz des Autors. Die Werkstatt des Dichters ist niemals leer. Denn gerade auch dann, wenn der Autor oder die Autorin in ihr abwesend ist, evoziert die Umgebung die Person. Dazu und eben nicht allein zu dem Zweck, dass Schriftstellerinnen und Schrift­ steller darin ungestört arbeiten können, ist das Setting der Werkstatt da. Mit Untersuchungen zu diesem Setting begründet der vorliegende Band die Reihe „Archiv und Literatur“. Das Ziel dieser Reihe ist es, im Kreuzungsbereich der beiden Begriffe zwischen Literatur- und Editionswissenschaft, Archivtheorie, Archiv- und Kulturwissenschaft sowie der Praxis heutiger Archive ein gemeinsa­ mes Gesprächsfeld zu etablieren. Dabei ist vorerst an eine Reihe von zumindest fünf Bänden gedacht, die im Jahresabstand erscheinen werden. Der zweite Band der Reihe widmet sich im Frühjahr 2018 jenem Raum, an den hin die aus der Werkstatt des Dichters geretteten Werkmaterialien gemeinhin verschwinden: den Archiven für Literatur sowie dem Nachlass und seinen Ordnungen. Die Herausgeber danken Michaela Thoma-Stammler (Lektorat) und Gerhard Spring (Grafik) für die Zusammenarbeit. Graz, November 2016

Klaus Kastberger/Stefan Maurer

Klaus Kastberger

Chaos des Schreibens Die Werkstatt der Dichterin und die Gesetze des Archivs Zwischen den Begriffen „Altersvorsorge“, „Altersweisheit“ und „Altertum“ findet sich im Duden das schöne Wort „Alterswerk“ eingetragen. Seit Johann Wolfgang von Goethe versteht man darunter im Leben des Dichters eine letzte Phase, die sein Gesamtwerk zu einem runden Abschluss bringt. Zehn Jahre vor seinem Tod machte sich Goethe daran, seine Schriften und Briefe zu ordnen und seine Bio­ grafie zu schreiben, außerdem nahm er die Arbeit an einigen fragmentarisch gebliebenen Schreibprojekten wieder auf. In einem kleinen, aber sehr bedeut­ samen Aufsatz mit dem Titel Archiv des Dichters und Schriftstellers berichtet der Autor, wie man sich die Ordnungsarbeiten vorzustellen hat, die die Grundlage all dessen bildeten. Unter Heranziehung eines jungen Gehilfen namens Friedrich Theodor David Kräuter, der gleichermaßen Bibliothekar und Archivar ist, räumt der Dichter, so könnte man den Text schlicht paraphrasieren, im Jahr 1822 seinen Schreibtisch, sein Arbeitszimmer und einige der angrenzenden Räumlichkeiten seines Weimarer Hauses auf und schafft damit in seiner Werkstatt ein neues Gesetz der Ablage. Damit setzt er nicht nur einen entscheidenden Schritt zu seiner Selbsthistorisierung im Alterswerk, sondern auch einen Gründungsakt des literarischen Archivs.1 Auch bei der österreichischen Autorin Friederike Mayröcker (geb. 1924) war, um den spezifischen Charakter ihrer jüngsten Bücher zu fassen, da und dort schon von einem Alterswerk oder – etwas abgemildert – von einem Spätstil die Rede. Die Autorin selbst aber zeigte sich bislang nicht bereit, ihrem umfangrei­ chen Gesamtwerk, das bis dato mehr als einhundert Bücher umfasst, eine finale Ummantelung zu geben. Das hängt damit zusammen, dass sie das Ende des Lebens ähnlich radikal wie ansonsten nur Elias Canetti sieht: als etwas, das keinen Sinn macht. In Interviews erklärt Mayröcker seit vielen Jahrzehnten, dass sie am liebsten gar nicht sterben möchte, und wenn es unbedingt sein muss, dann erst im Alter von 120 Jahren.

1 Goethes Aufsatz Archiv des Dichters und Schriftstellers (1823, 25–28) begründet die Ideenge­ schichte des Nachlasses und des modernen Literaturarchivs. Wilhelm Dilthey stellte erstmals die Forderung zur Einrichtung zentraler Literaturarchive auf (vgl. Dilthey 1970 [1889], 1–16). Zum Literaturarchiv und seinen Beständen vgl. Flach (1955), Sprecher (2006), Thaler (2011), CudréMauroux und Wirtz (2013) sowie Sina und Spoerhase (2017). DOI 10.1515/9783110466850-002, © 2017 Klaus Kastberger. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 License.

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 Klaus Kastberger

Eine der Motivationen für ein derartig langes Leben sind die vielen Bücher, die es noch zu schreiben gibt. Jedes dieser Bücher setzt am anderen etwas fort, aber keines zieht aus den vorherigen eine Summe. Nicht nur der Begriff des Alterswerkes wird solcherart desavouiert, sondern alle Vorstellungen, die sich mit ihm verbinden. Mayröcker, die das Werk Goethes über die Maßen schätzt und sich in manch einem ihrer Bücher in einzelne seiner Formulierungen geradezu hineingegraben hat, ist in diesem Sinn ein programmatischer Anti-Goethe. Diese Schriftstellerin ordnet ihr literarisches Archiv nicht, weil es an einer Ordnung des Vorlasses für sie nichts zu lesen gibt. Wenn Mayröcker sich selbst liest, und das tut sie in fast jedem ihrer Bücher, liest sie sich so, wie es in der Unordnung ihrer Werkstatt vorgegeben ist. Die Bilder aus Mayröckers Werkstatt, die, wenn man die letzten 60 Jahre überblickt, im Eigentlichen zwei Wohnungen in einem Haus in der Wiener Zenta­ gasse umfasst, haben etwas Faszinierendes. Mehrere Jahrzehnte lang hat die Autorin in einer knapp 60 Quadratmeter großen Wohnung im vierten Stock des Hauses gelebt und gearbeitet. Nach dem Tod ihres Lebensgefährten Ernst Jandl ist sie dann einen Stock höher in das Dachgeschossappartement umgezogen, in dem Jandl seine letzten Lebensjahre verbrachte. Einmal hat es ein Foto aus May­ röckers unterer Wohnung auf die „Schöner Wohnen“-Seite der damals noch jungen österreichischen Tageszeitung Der Standard geschafft. Eine ganze Reihe von Fotografinnen und Fotografen haben des Environment des Mayröckerʼschen Schreibens festgehalten: Bodo Hell in einer wunderbaren Aufnahme, angefertigt mit einer Kamera, die man ansonsten verwendet, um Berggipfelpanoramen ein­ zufangen. Viele Besucher lichteten die Werkstatt der Dichterin in verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung ab, darunter auch der bekannte Fotograf Joseph Gallus Rittenberg, der die Autorin mit einem Buch in Händen auf ihr von Materialbergen zugewachsenes Bett gelegt und sie dann auch noch mit einer Lichterkette geschmückt hat. Ganz ohne zusätzliche Inszenierung kommt ein Foto von Isolde Ohlbaum aus, das relativ aktuell ist und die Autorin an ihrem derzeitigen Schreib­ platz zeigt. In einem sehr eindrücklichen Film der Südtiroler Regisseurin Carmen Tartarot­ti aus dem Jahr 2008, der Das Schweigen und das Schreiben heißt, sagt Mayröcker über die Wohnungsumgebung, in der sie schreibt und ohne die ihr Schreiben für sie nicht denkbar ist: „Ja, es schaut aus wie ein Chaos, aber es ist kein Chaos. Zu einem Chaos wird das Ganze erst dann, wenn jemand anderer daran rührt.“ Dass kein anderer an die scheinbare Unordnung rühren darf, die in der Werk­ statt der Dichterin herrscht, ist ein starkes Statement. In ihm drückt sich die Wei­ gerung aus, die eigenen literarischen Papiere schon zu Lebzeiten so zu behan­ deln (oder von anderen so behandeln zu lassen), als wären sie ein Nachlass. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod, also dem Zeitpunkt, ab dem der Nach­



Chaos des Schreibens 

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lass dann ganz bei sich selbst ist, wird von Mayröcker dabei aber durchaus nicht verdrängt. In den konkreten Lektüren, die sie in ihren Werken an den Materialien ihrer Werkstatt unternimmt, ist der Gedanke an das Nachher ständig präsent. Als eine Einschreibung an literarischen Texten und nicht als eine reale Ordnungs­ macht wie bei Goethe tritt die Sorge um den eigenen Nachlass hier auf. Rein phänomenologisch gesehen verschreibt sich die Autorin mit dem äußeren Erscheinungsbild ihrer Wohnung einer Tendenz, die man als einen extre­ men Gegenpart zu allen Entwicklungen des modernen Archivwesens bezeichnen kann. Erst seit den 1970er-Jahren gibt es dafür (zuerst in den USA und später in allen anderen Teilen der hochentwickelten Welt) einen Begriff, eine Diagnose und Behandlungsmethoden. „Messie“ ist die Bezeichnung, die von den Betroffe­ nen selbst und aus Selbsthilfegruppen stammt. In der psychotherapeutischen Fachliteratur wird heute im Allgemeinen von „Compulsive Hoarding“ (zwanghaf­ tem Horten) oder „Hoarding Disorder“ gesprochen. Im englischen Wort „disorder“ steckt eigentlich schon alles, was man zum Verständnis des Phänomens braucht, denn dieses Wort meint gleichermaßen „Unordnung“ wie „Störung“ und „Krankheitsbild“. Die Unordnung selbst ist beim Messie die Krankheit, insofern sie zur sozialen Bürde wird. In seiner Wohnung vermag er es nicht, ein Archiv zu schaffen. Ein kurzer Blick zu den Anfängen des europäischen Archivwesens erhellt den Zusammenhang. Expandierende Kanz­ leiapparate brachten – über die ursprünglich einzig verwahrten Urkunden hinaus – wachsende Aktenberge hervor. Materialien, die die Verwaltung aktuell brauchte und solche, die später nur noch der Dokumentation abgeschlossener Vorgänge dienten, mussten separiert und räumlich getrennt werden. Dabei kamen Fragen der Skartierung, Registratur, Ordnung, Ablage und Verfügbarkeit der vom aktuel­ len Aktenlauf gesonderten Materialien auf. Auf die besondere Relevanz, die innerhalb dieser Entwicklungen der Vorgang des „cancellare“ hat, also eines Abstreichens und Außerkraftsetzens von Schriftstücken im juristischen Sinn, hat die leider viel zu früh verstorbene Kulturwissenschaftlerin Cornelia Vismann in einer umfangreichen Studie zur Medientechnik von Akten hingewiesen. Die Antwort auf alle Probleme und Fragen, die sich dabei stellten, ist das moderne Archiv (vgl. Friedrich 2013; Vismann 2011). In seiner Wohnung verweigert der Messie diese Antwort: Hier hortet er alles, was ihm zufällt. Wirft nichts weg. Streicht nichts aus. Verwendet zur Ablage alle offenen Flächen und auch den Fußboden. Türmt das Gesammelte ohne erkenn­ bare Ordnung meterhoch auf. Im Extremfall braucht es in Messie-Wohnungen Stunden, bis eine einzelne Person (für Fremde sind die Räume dann nicht mehr betretbar) von einem Ende des Raumes zum anderen kommt. Türme von Material werden im Zuge solcher Bewegungen vor sich ab- und hinter sich wieder auf­ gebaut. Wie eine Wühlmaus bewegt sich der Messie durch seine Materialien,

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 Klaus Kastberger

sorgsam darauf bedacht, die komplexe Unordnung nur ja nicht zu zerstören. Die Krankheit, die er hat, ist eine Archivkrankheit, nämlich die Unfähigkeit, sich selbst, seinen Körper und seinen Lebensraum vom Archiv zu trennen. Die Wohnung von Mayröcker trägt messie-artige Züge, auf den Fotos und im Film kann man es sehen. Dabei steuert der Raum auch die möglichen Umgangs­ formen mit einem Besucher. In Mayröckers Wohnung findet gerade noch ein ein­ zelner Gast Platz. Ein schmaler Weg, seitlich bewachsen von Papierstapeln, führt ihn in einen zentralen Raum, wo auf ihn hinter bewachsenen Tischen ein freige­ räumter Bereich wartet. Auf dem vorbereiteten Klappstuhl, der – und ich spreche aus eigener Erfahrung – manchmal auch zusammenbrechen kann, nimmt der Besucher Platz und findet auf der Ablagefläche vor sich gerade so viel Raum, dass eine Kaffeetasse und ein Glas Wasser hinpassen. Hinter einer Komposition aus Tischen, die sich in der Mitte des Zimmers befindet und auf der Papiermaterialien gut dreißig Zentimeter hoch (Stand Februar 2016) flächig aufgeschichtet sind, sitzt ihm dann im Gespräch und wie eingewachsen in die Umgebung die Autorin gegenüber. Andere als solch intime Begegnungen, bei denen der einzelne Besucher stets sorgsam bedacht sein muss, an den Stapeln nur ja nichts zum Einsturz zu bringen, lässt der Raum nicht zu. Im Arrangement des Zimmers stecken somit nicht nur die Voraussetzungen für die spezifische Art von Mayröckers Schreibens, es steckt in ihm auch ein Drehbuch für den Umgang mit jedem Besucher. Der Gast, so könnte man sagen, betritt diese Wohnung stets auch in Stellvertretung des Lesers. Und tatsächlich bilden die Lektüre von Mayröckers Texten und das Betreten ihrer Werkstatt ein Äquivalent. Der Besucher ist ein Emissär des Lesers. Er betritt den Raum wie einen Dschungel aus Sprache, in dem es nur schmale freigehackte Wege gibt. Diese schränken seine Bewegungsmöglichkeiten ein. Ja, fast könnte man das Gefühl gewinnen, dass der Raum, der einem in dieser Wohnung gegeben ist, sich nach dem Besuch sofort wieder schließt und für den nächsten Besucher, in einigen Tagen vielleicht, erst wieder mühsam neu hergestellt werden muss. Offenbarte Geheimnisse hat man an den einsehbaren Oberflächen entdeckt, diese ergaben sich als singuläre Momente der räumlichen Inszenierung. Der Raum selbst und die Einschränkungen, die er mit sich bringt, geben in dieser Wohnung alle Bewe­ gungsmöglichkeiten vor. Wie unhintergehbar dies ist, zeigt sich im Film. „Ein Team“, sagt Mayröcker dort in all der Dezidiertheit, die man von ihr auch kennt, „[e]in Team also“, so sagt sie, „kann ich hier [in dieser Wohnung] nicht aushalten. Bei dieser Enge ein Team, das ist nicht zu machen.“ Mit einer Handkamera und von der Regisseurin allein, also ohne separaten Tonmeister, wurden die Aufnahmen in der Wohnung gemacht. Die Autorin spricht im Film aus dem Off, weil die Regisseurin, die ohne Team war, in der Enge des Raums nicht gleichzeitig mit Kamera und Tonbandgerät unterwegs sein



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konnte. „Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn jemand da ist“, klagt May­ röcker einmal. Und dann kommt ein Satz, der nicht nur das Team und den einzel­ nen Besucher, sondern auch die Autorin selbst von dem ausschließt, was in ihrer Werkstatt passiert: „Ich bin selbst schon zu viel fürs Schreiben.“ * Dass jemand in der Werkstatt, die er zum Schreiben braucht, selbst keinen Platz mehr findet, ist die extremste Form der Archivkrankheit. Das Archiv überwuchert den Körper der Autorin und schreibt sich gleichsam selbst weiter. Vor dem realen Hintergrund ihrer Wohnung entwirft Mayröcker im imaginären Raum ihrer Litera­ tur von jenem finalen Stadium allen literarischen Messietums Bilder. In ihren Texten ist es wirklich so, als ob man das Archiv anziehen und darin völlig ver­ schwinden könnte. Zahlreiche Zitate ließen sich dafür als Beleg bringen, hier nur eines aus dem Buch brütt oder Die seufzenden Gärten aus dem Jahr 1998: Und wenn ich das ganze Papierzeug verkehrt herum ausziehe, über den Kopf ziehe, sage ich zu Blum, ziehe ich es auch verkehrt herum wieder an am nächsten Morgen, nicht wahr, aber am nächsten Abend, wenn ich es verkehrt herum ausziehe, abermals verkehrt herum aus­ ziehe, ist es auf der richtigen Seite!, so daß ich es auf der richtigen Seite anziehen kann am folgenden Morgen, undsofort, sage ich, seltsam genug, sage ich, du fragst wovon handelt die ganze Sache?, ES HANDELT VON NICHTS, sage ich zu Blum […]. (Mayröcker 1998, 134)

Das Chaos, das in der Werkstatt herrscht, lässt zwischen der Autorin, dem ent­ stehenden Werk und den Materialien, die gehortet werden und die das Werk zu seiner Entstehung braucht, keinen Platz. Alles, was sich in Mayröckers Werkstatt befindet, ist kontingent. Ein Gesetz der Berührung, das die Papiere neben- und aufeinander liegen lässt, steuert hier die Ablage und die Sedimentation der anei­ nandergrenzenden Schichten ins Archiv. Zur Aufbewahrung ihrer Materialien hat die Autorin so gut wie keine geschlossenen Behältnisse. Keine Schublade, kein Schrank, kein Kästchen, kaum eine Box und kaum eine Schachtel finden sich für sie. In der Wohnung liegt alles offen zu Tage, stapelt sich auf und macht sich, in­dem es im Anwachsen langsam das Untenliegende verbirgt, im Laufe der Zeit selbst unzugänglich. Die Autorin lebt in einem lebendig aufgeschichteten Gebirge von Papier. Aus der Überfülle des vorhandenen Materials nährt sich der Schaffens­ prozess der Schreibenden. Gleichzeitig aber sinken die Überbleibsel des Schrei­ bens stetig in den Raum zurück. Das Verschwinden von Material unter den ständig neu anwachsenden Schichten beschreibt Mayröcker in ihren Texten als ein kontinuierlich erlebtes Drama. Material versinkt in dieser Wohnung und wird unzugänglich. Papiere, an denen die Autorin vor Zeiten entflammt war, hauchen ihren Geist aus und trock­

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nen (metaphorisch gesagt) aus. Bald (nämlich spätestens dann, wenn die Schreib­ arbeit an dem einen Buch abgeschlossen ist und es an das nächste geht) entbeh­ ren all die Zettel, die es gebraucht hat, ihrer unmittelbaren Aktualität. Sie haben kein Fieber mehr und archivieren sich selbst, indem Neues auf ihnen zu liegen kommt. Da und dort taucht später aus den unteren Schichten aus Zufall oder Berechnung vielleicht noch die eine oder andere Notiz auf. Vorsätzlich gewühlt wird in den alten Materialschichten aber nicht, Papier altert hier in Würde. Wer Mayröcker liest, kennt diese Vorgänge, denn in ihrem Schreiben reflek­ tiert die Autorin die eigene Poetik und macht deren Beschreibung zu einem unverzichtbaren Teil ihres Werks. Im Prozess der Textproduktion muss das Mate­ rial zähflüssig gehalten werden wie ein Teig. Wenn es zu lange abliegt, ist es nicht mehr zu gebrauchen. Zu den aktuellen Zetteln und Notizen, die die Autorin auf der Maschine dann meist in kauernder Haltung zu Typoskriptfassungen macht, unterhält sie einen hochemotionalen Bezug. Als oberste Schicht lagert das ak­tuelle Material in der Nähe des Schreibplatzes. Dieser ist im Arbeitszimmer der Autorin selbst nichts anderes als ein gerade einmal leergeräumter Fleck. Die aktuelle Keimschicht des Schreibens liegt oben auf, gleichwohl ist auch ihr schon ihr künftig Vergangenes, nämlich die Patina des Archivs, eingeschrieben. Auch in einem Kontingenz-Archiv, wie die Mayröckerʼsche Werkstatt eines ist, gibt es Archivtechniken. Die Autorin nimmt sie teilweise aus der Waschküche. In früheren Zeiten hat sie Zettel auf Wäscheleinen gespannt, auf Styroporplatten gepinnt oder in kleinen Versionen von Wäschekörben gestapelt. Seit einiger Zeit jedoch hat in ihrer Wohnung die Wäscheklammer die alleinige Herrschaft über­ nommen. Mit Kluppen (wie es in Österreich heißt) fasst die Autorin überschau­ bare genetische Konvolute einzelner Gedichte, meist nicht mehr als fünf bis zehn Blatt mitsamt einzelner zugehöriger Zettel zusammen und legt sie dann in dieser Form in einem offenen Regal im Vorzimmer ab. Aufgrund der unterschiedlichen Formate der Blätter und wegen der Materialität der Kluppen kommt es auch in diesem Gedicht-Archiv zu wüsten Verwerfungen. Nichts liegt hier ordentlich auf einem Stapel, die einzelnen Bündel, die ohne äußere Hülle sind, fransen aus, verschieben sich und scheinen heillos ineinander verhakt. Auch mit der Institution des Literaturarchivs hat Mayröcker schon vor einiger Zeit Bekanntschaft gemacht. Nachdem im Jahr 1980 bei Suhrkamp ihr großes Prosabuch Die Abschiede erschienen war, wandte sich die Wiener Stadt- und Lan­ desbibliothek an die Autorin, weil als Cover, ohne nach den Rechten zu fragen, ein Stich aus der Bibliothek verwendet worden war. Um die Gemüter zu beruhi­ gen, die im Übrigen nicht sehr aufgeregt waren, schenkte Mayröcker der Hand­ schriftensammlung der Bibliothek, in der neben Grillparzers Nachlass auch jener von Nestroy und der von Ferdinand Raimund liegt, eine Box, die sie damals für so etwas Ähnliches wie einen Teil eines möglichen Nachlasses hielt. In eine Schuh­



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schachtel packte Mayröcker alle möglichen Materialien aus ihrer Wohnung: Zettel, Gummiringe, Filzstifte, Kluppen, leere Medikamentenschachteln – teilweise von der Autorin beschriftet, teilweise auch nicht. Außen beklebte sie die Schachtel mit Materialien und schrieb auf sie das Wort „DADA-Box“. Grob gerechnet gingen sich aus dem heutigen Wohnungsinhalt der Autorin einige tausend solcher Boxen aus. Wäre das, so könnte man fragen, eine adäquate Form, um einen solchen Bestand ins Literaturarchiv zu nehmen und an ihm etwas von seinem genuinen Zusammenhang zu bewahren? Eine Erwartung der Literaturwissenschaft ist es ja, dass sie, wenn sie ins Archiv geht, dort etwas von der Werkstatt des Dichters oder der Dichterin findet. Wie aber bildet sich die Werkstatt des Dichters in unseren Archiven ab? * Vielfach geht der Literaturwissenschaftler heute so ins Literaturarchiv, wie der Historiker vor 150 Jahren in seine Archive gegangen ist. Von den versammelten Materialien erwartet er sich authentischen Einblick in literarische Schaffenspro­ zesse, unentdeckte Texte, biografische Auskünfte über den Autor und neue Inter­ pretationsmöglichkeiten am Werk. Auf dem Platz, der ihm zur Benutzung der Bestände zugewiesen wurde, atmen die aus Archivboxen oder ähnlichen Behält­ nissen genommenen Originale gleichsam ihren historischen Geist. Wie die Blätter dorthin gekommen sind und warum sie so sind, wie sie sind, wird kaum hinter­ fragt und auch das Gefühl, dem Autor oder der Autorin in den Materialien, die er von sich hinterlassen hat, nahe zu sein, eher genießerisch hingenommen als kri­ tisch reflektiert. Anders als vergleichbare Disziplinen, denen im 19. Jahrhundert aus der Emer­ genz des Archivs ebenfalls eine Gloriole erwuchs, ist die Literaturwissenschaft von einer kritischen Reflexion ihres methodischen Begründungszusammenhan­ ges weit entfernt. Historiker haben erkannt, dass der Aussagewert des Dokuments von der Formation des Archivs abhängt, in dem es steckt und aus dem es gezogen wurde. Wissenschaftstheorie gründet sich heute im Allgemeinen auf eine Topo­ logie des Wissens. Nicht die leitende Prämisse, sondern der konkrete Ort, der – eingebunden ins soziale Feld – für die Wissensproduktion geschaffen wurde, bringt die Ergebnisse hervor, also das Arrangement des Experiments und die Meublage des Labors.2

2 Dazu grundlegend Latour und Woolgar (1979) und spezifisch: Krajewski (2002), te Heesen et al. (2007), Ecker (2006) sowie Holm (2012).

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Literarische Nachlässe hingegen tun innerhalb der Szenarien, in denen sie stecken, oft noch immer so, als wären sie unschuldige Kinder. Aber auch sie haben eine spezifische Geschichte und spezifische Formationsprinzipien. Die Geschichte des literarischen Nachlasses führt über Goethe und Wilhelm Dilthey zum modernen Literaturarchiv. In einem berühmten Vortrag aus dem Jahr 1889 hat Dilthey die Einrichtung von Archiven für Literatur gefordert und das Erkennt­ nispotenzial, das in ihnen steckt, im Wesentlichen vitalistisch begründet.3 Eben deshalb, weil wir in solchen Beständen Einblicke in die Werkstatt des Dichters und in die inneren Lebensumstände von Autorinnen und Autoren, damit aber auch in die Entstehung von Werken und regionalen und nationalen Literaturen gewinnen, sollten literarische Nachlässe gesammelt, gepflegt und benutzbar gemacht werden. Ohne die Hintergründe des allgemeinen Archivwesens jedoch sind die inneren Strukturgesetze in der Formierung literarischer Nachlässe nicht zu ver­ stehen. Das fängt schon bei Goethe an, denn, so könnte man pointiert sagen, nicht der Schriftsteller Goethe hat, indem er einen eigenen Nachlass schuf, die Formation des literarischen Nachlasses erfunden, sondern jener Teil in Goethe, der ein Beamter in Weimar und, wie sein letzter Amtsgehilfe berichtet, als solcher ein ausgesprochener „Actensportler“4 war. Verschlungene, manchmal aber auch

3 „Aus der Gesellschaft dieser mächtigen Personen, gleichsam aus deren Aufnahme in das eige­ ne Seelenleben entsteht seinen Hörern oder Lesern eine dauernde Erhöhung seiner Kraft. So liegt die tiefste und dauerndste Wirkung literarischer Werke auf uns eben darin, daß die Dichter und Denker selbst zu einem Teil unseres eigenen Lebens werden.“ „Darum ist uns der Atem des Menschen so lieb, welcher uns aus Entwürfen, Briefen, Aufzeichnungen entgegenkommt. Was würden wir heute darum geben, könnten wir vermittels solcher direkten einfachen Äußerungen in der Seele des Äschylos oder Plato lesen!“ „Das handschriftliche Material […] ergießt Farbe, Wärme und Wirklichkeit des Lebens über die unzählig wirkenden Kräfte die hier [in der Werk­ statt des Dichters, Anm. K. K. ] tätig gewesen sind“ (Dilthey 1973 [1889], 4–6). 4 „Das alte Wort, daß der oberste Vorgesetzte sich um das Kleinste nicht kümmere […] hat Er [Goethe, Anm. K. K.] nicht anerkannt. Ja, mit einer gewissen Beflissenheit hat Er sich um das Kleinste gekümmert, es ließen sich ergötzliche Belege dafür finden. Von Lessing hat Goethe ein­ mal gesagt, er habe für sein mächtig arbeitendes Innere ein Gegengewicht gebraucht. Bei Les­ sing war es das Spiel. Bei Goethe, scheint mir, war es, wenigstens von Zeit zu Zeit, der Acten­ sport“ (Suphan 1892, XXIII–XXIV). Von Fährnissen berichtet der letzte Amtsgehilfe Goethes: „Das Mechanische der Geschäfts-Behandlung war ihm weniger geläufig, da er die niederen Dienstes-Stufen übersprungen hatte. […] So war denn auch er, der so sehr liebte, über alle Vor­ kommnisse, selbst seines Privatlebens, Acten zu führen, doch nichts weniger als das, was man einen rechten Actenmann zu nennen pflegt. Ungeachtet Goethe’s übrigens ausgezeichnete[r] Ordnung[s]liebe, befanden sich in der That seine, wenn auch höchstsauber gehaltenen Acten niemals im Zustande bequemer Brauchbarkeit. […] Die beabsichtigte Erleichterung fand er zum Theil in sorgfältigen Niederschreibungen selbst unwichtigen Inhalts“ (Vogel 1834, 4–5). Grund­



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offen zu Tage tretende Verbindungslinien knüpfen (insgesamt weitgehend uner­ forscht) den literarischen Nachlass an die Paradigmen staatlicher Verwaltungs­ tätigkeit und privatwirtschaftlicher Buchführung. Ohne den Begriff des moder­ nen Archivs aber, der sich daraus entwickelte, ist der Begriff des modernen Nachlasses nicht denkbar. Erst dadurch, dass der literarische Nachlass zum „Bestand“ von Institutio­ nen wurde, prägte er sich als solcher aus. Dazu gehört eine Verschiebung in der Verfügungsmacht. Nicht mehr die Familie oder andere meist noch vom Nachlas­ ser selbst eingesetzte Verwalter entscheiden fortan über ihn. Bis weit ins 19. Jahr­ hundert hinein waren, sofern literarische Papiere überhaupt aufgehoben und gesammelt wurden, Privatpersonen die alleinigen Herren der Nachlässe. Noch Goethes letzter Enkel Walther Wolfgang vermachte im Jahr 1885 den handschrift­ lichen Nachlass seines Großvaters nicht etwa dem Staat Sachsen-Weimar und Eisenach (an den Staat ging lediglich das Haus am Frauenplan), sondern übergab die Papiere als persönliches Geschenk an Großherzogin Sophie. Als anerkannte Kulturgüter, an denen staatliche Stellen direkte Eigentums­ rechte übernehmen (ein frühes Beispiel ist die Übernahme des Grillparzer-Nach­ lasses durch die Stadt Wien im Jahr 1878),5 unterliegen literarische Nachlässe per se anderen, nämlich staatlich festgeschriebenen Gesetzen. Die Definition dessen, was ein Nachlass ist und wie mit ihm verfahren wird, erfolgt jetzt nicht mehr im Bereich des privaten Ermessens, sondern in einem neu definierten Raum. Die Prinzipien seiner Aufarbeitung, Ordnung, Ablage und Verzeichnung werden in Regelwerken festgeschrieben und Zugänglichkeiten sowie alle andere Lizenzen, die der Benutzer hat, in Ordnungen festgelegt, die allgemein gelten. Für Außenstehende, die sich im Sinn der Definition früherer Handschriften­ sammlungen unter einem literarischen Nachlass nur Werke, Werkmaterialien und Briefe vorstellen, ist es oft erstaunlich, welch heterogene Materialien ein moderner Nachlass in einem modernen Literaturarchiv umfassen kann. Die Regeln zur Aufarbeitung von Nachlässen und Autographen (RNA), die der heu­ tigen Erschließungspraxis zugrunde liegen, zählen unter anderem auf: Akten, Ausweise, Ausgabenbücher, Diplome, Zeugnisse, Formulare, Haarlocken, Land­ karten, Medaillen, Pässe, Privatfotos, Prospekte, Quittungen, Rechnungen, Rezepte, Speisekarten, Tabellen, Kalender, Tonbänder, Kassetten, Schallplatten, Verträge und Zeichnungen. Auch Fragmente von Joghurtbechern (von Erich Fried als Lesezeichen verwendet), Bleistiftstummel (von Peter Handke auf kaum einen

legend für eine kulturwissenschaftliche Betrachtung von Goethes Aktenführung als Teil huma­ nistischer Lebensform: Curtius (1951) sowie Irmtraud und Gerhard Schmid (1999). 5 Zur Geschichte der Literaturarchive in Österreich vgl. Danielczyk (2008).

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Zentimeter zugespitzt) oder leere Büromaterialien, die ein Autor (Andreas Oko­ penko) hortete, um in seinen Materialien irgendwann einmal Ordnung zu schaf­ fen, können Teil literarischer Nachlässe sein. Vor allem in den archivalischen Ordnungsgruppen „Lebensdokumente“ und „Sammlungen“ wuchert heterogens­ tes Material. Bei Archivaren besonders gefürchtet sind sogenannte Sachkonvo­ lute, die vom Nachlasser gebildet wurden, ohne dass sich aus ihrer Zusammen­ stellung irgendein Sinn erschließt: Kraut und Rüben in Aktenordnern, Mappen, Schachteln und Kisten. Wer jemals ein modernes Literaturarchiv betreten und dort nach heute gel­ tenden Prinzipien geordnete Bestände eingesehen hat, weiß, dass die Ablagefor­ men dieser Bestände mit deren ursprünglichen Lage in den Werkstätten der Dichter oft nicht mehr das Geringste zu tun haben. Vielleicht hat sich Dilthey die künftige Tätigkeit von Archiven und Archivaren anders vorgestellt.6 In modernen Archiven jedenfalls erschließt sich die Werkstatt des Dichters in ihrer Topologie im Normalfall gerade nicht. Völlig unterschiedliche Ordnungsprinzipien sind am Werk, selbst dort oder gerade dort, wo Autoren und Autorinnen ihre Materialien vorab in Ordnung bringen und zur Übergabe präparieren. Auch dabei agiert kein Autor im luftleeren Raum. Seit es Literaturarchive gibt, blickt der Archivar dem Schriftsteller in jedem singulären Akt des Schreibens über die Schulter. Alles, was geschrieben wird, ist heute potenzieller Teil eines Literaturarchivs. In der Werkstatt des Dichters ist die Ordnung funktional. Topologien des Hauses, der Wohnung, des Arbeitsraumes, des Schreibtisches und der inneren Architektur des Computers geben literarischen Materialien ihre Lage und ihre Ablagemöglichkeiten vor. In Schränken, Regalen, Kästchen, Hängeordnern, Schubladen, Fächern, Aktenordnern, Mappen, Boxen und Schachteln landen Papiere meist dann, wenn der Autor mit einem Werk zu Ende ist oder sich zu grö­ ßeren Aufräumaktionen entschließt. Materialien, die aktuell gebraucht werden, stapeln sich meist auf offenen Flächen oder liegen einfach herum. Kaum eine Spur dieser vielfältigen Ordnungen findet sich im Archiv. Ein einziges Foto des Arbeitszimmers sagt über die Werkstatt des Dichters oft mehr aus als sein gesam­ ter Nachlassbestand im Zustand der Ordnung von Archiven. *

6 „Aus der Natur des Nachlasses bedeutender Schriftsteller wird der Charakter und das Gesetz der Archive sich entwickeln, die ihnen gewidmet sind. Ein eigener Geist muß in den Räumen wehen, die das vertrauliche und intime Leben der ersten Schriftsteller unseres Volkes umschlie­ ßen; eine eigene Art von Beamten muß für solche Archive sich ausbilden“ (Dilthey 1970 [1889], 8).



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„Das Archiv“, so heißt es bei Michel Foucault, „ist […] das Gesetz dessen, was gesagt werden kann“. Diese prägende und hier nur verkürzt zitierte Wendung aus der Archäologie des Wissens gibt dem, was sich heute „Archivologie“ nennt, eine Leitlinie vor.7 Von einer Ideengeschichte im herkömmlichen Sinn setzt Foucault den in seinem Buch entwickelten Ansatz scharf ab. Einer Archäologie des Wissens, so sagt er, geht es nicht darum, zu untersuchen, wo und von wem ein Gedanke erstmals formuliert wurde. Gefragt wird stattdessen nach den Voraussetzungen neuer Aussagen in den Strukturen von Diskursen. Nicht wer und wann etwas zum ersten Mal gesagt hat, ist entscheidend, sondern die Möglichkeiten von Sagbar­ keit, die er hatte. Das Archiv als Regelungssystem von Diskursen ist der Ort, der die Sagbarkeit vorgibt. Als ein solcher Ort kann das Archiv stets nur historisch erschlossen werden, denn der aktuelle Hintergrund von Sagbarkeit entzieht sich der Analyse. Erst an historisch gewordenen Diskursen treten die Äußerungsbe­ dingungen hervor, die den Diskurs konstituierten. Auch der Autor ist für Foucault eine diskursive Formation. „Wie lässt sich“, so fragt er, „aus den Millionen von Spuren, die jemand nach seinem Tod hinterlässt, ein Werk definieren?“ (Foucault 2003, 240). Muss man jeden Schmierzettel, jeden ersten Entwurf, alle Korrekturen und Streichungen dazuzählen? Die verworfenen Skizzen und alle Anmerkungen? Welchen Status haben all die Briefe und berich­ teten Gespräche, in denen sich der Autor zum Werk äußerte? Jedes Individuum hinterlässt nach seinem Tod ein „Gewimmel sprachlicher Spuren“, die in einem „unbestimmten Verkreuzen“ (Foucault 1973, 38) viele verschiedene Sprachen und eben nicht nur die in eins gedachte Sprache des Werks und des Autors sprechen. „Unbestimmtes Verkreuzen“ ist, als materielles Phänomen gedacht, genau das, was sich in der Mayröckerʼschen Werkstatt aktiv vollzieht. Aus einer Verkreu­ zung ihres Zettel-Werks, das noch kein Werk ist, aber seine künftigen Potenzen

7 Der Sammelband Archivologie (Ebeling und Günzel, 2009) stellt Grundlagentexte zu Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten zusammen. Zum Thema vgl. Pompe und Scholz (2002), Eastwood und MacNeil (2010), Weitin und Wolf (2012) sowie Schmieder und Weidner (2016). Ungekürzt lautet das Foucault-Zitat: „Das Archiv ist zunächst das Gesetz dessen, was ge­ sagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse be­ herrscht. Aber das Archiv ist auch das, was bewirkt, daß all diese gesagten Dinge sich nicht bis ins Unendliche in einer amorphen Vielzahl anhäufen, sich auch nicht in eine bruchlose Lineari­ tät einschreiben und nicht allein schon bei zufälligen äußeren Umständen verschwinden; son­ dern daß sie sich in distinkten Figuren anordnen, sich aufgrund vielfältiger Beziehungen mit­ einander verbinden, gemäß spezifischen Regelmäßigkeiten sich behaupten oder verfließen; was bewirkt, daß sie nicht im gleichen Schritt mit der Zeit zurückgehen, sondern daß diejenigen, die besonders stark wie helle Sterne glänzen, in Wirklichkeit von weither kommen, während andere, noch völlig junge, bereits außerordentlich verblaßt sind“ (Foucault 1973, 187–188).

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trägt, gewinnt die Autorin in einem Prozess, den sie selbst eher beobachtet als bewusst steuert, ihre Texte. Egal, ob es sich dabei um Gedichte, Prosaarbeiten oder um all die in ihrem Schreiben etablierten Mischformen handelt: In poetolo­ gischen Metaphern, vorzüglich des Nähens, der Wäsche, des Kochens oder des pflanzlichen Wachstums, in ihren späteren Büchern aber zusehends auch in Ver­ weisen auf die krude Materialität ihres Tuns, hält sie diesen Prozess literarisch fest. An der Werkstatt der Dichterin kann man sehen, was das literarische Schrei­ ben nicht ist, nämlich eine Tätigkeit, die sich im luftleeren Raum eines reinen und erstmaligen Gedankens oder vor einem leeren Blatt Papier abspielt. Autoren und Autorinnen sitzen niemals vor einem leeren Blatt Papier. Stets machen sie, wenn sie zu schreiben beginnen, an einem anderen Schriftstück weiter. Auch zur Abkühlung der hysterischen Debatten, die heute da und dort um die Frage des Plagiats in der Literatur geführt werden, wäre es sinnvoll, sich darauf zu besinnen: Literarisches Schreiben, und das wusste schon Goethe, ist immer ein Ab­schreiben, Weiterschreiben und Paraphrasieren eines bereits Vorhandenen. Bei Friederike Mayröcker steht Autorschaft stets neu auf dem Spiel. Dass das Zettel-Werk sich in den Glücksakten des Schreibens zu einem Werk fügt, ist bei dieser Autorin nicht sicher. Und auch die Frage, ob diese Fügungen, vollzögen sie sich allein aus den Zetteln heraus und damit ganz ohne steuernden Eingriff von außen, nicht noch weit überzeugender wären und damit die Schreibweise ganz bei sich wäre, ist nie ganz abzuweisen. Weiter als bis zu den Punkten, die Mayröcker in ihrem Schreiben erreicht, lässt sich die Vorstellung einer Subjektlosigkeit des Schreibens jedenfalls kaum treiben. Nicht nur in dem allgemeinen Sinn, in dem sich in der literarischen Moderne die Sprache selbst spricht, sondern in einem konkret vorhandenen sprachlichen Archiv, das seine spezifische Materialität und seine spezifische Ordnung hat, gründet Schreiben hier auf sich selbst. Einschreibungsakte von Autorschaft, in denen sich das Archiv in seiner Eigengesetzlichkeit in das andere der Literatur wandelt, zeigen sich immer nur retrospektiv. Die Schreibende selbst erlebt solche Wandlungsakte an den gerade bearbeiteten Materialien oft wie ein äußeres Wunder und berichtet davon in ihrer Literatur. Über die Literatur aber führt kein Weg in das Archiv zurück, denn gerade aus einer Überwindung des Archivs, das ihr zugrunde liegt, hat Literatur sich hier zu sich selbst gemacht. Auch in Mayröckers Literatur tritt uns das Geschehen in der Werkstatt immer nur retrospektiv vor Augen. Weil es im Schrei­ ben bewältigt und transformiert wurde, konnte aus ihm Literatur werden. Ein Nachlass, so könnte man sagen, ist das Werk plus das Werk-Außerhalb minus dem Autor. Nachlassbewusstsein, wie von Goethe entwickelt, ist die Fähig­ keit, diesen Zustand zu denken, bevor es so weit ist. Verbunden damit tritt bei Goethe – und soweit ich das sehe: erstmals – die Bestrebung auf, in den Materia­ lien der Werkstatt schon zu Lebzeiten eine Ordnung herzustellen, in der sich das



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Werk und das Werk-Außerhalb genuin verbinden. Funktionen oder besser gesagt: Potenzen von Autorschaft gehen so auf den Nachlassbestand über und können von den Personen, denen man testamentarisch die Obhut über den Bestand gibt oder in deren Hände die Materialien geraten, für ihre eigene Tätigkeit genutzt und geltend gemacht werden. Sowohl in seinem Alterswerk als auch in den Verfügun­ gen, die er bezüglich seines Nachlasses trifft, nähern sich bei Goethe Heraus­ geberschaft und Autorschaft tangential an. Es ist eine frühe Reise an der Grenze zwischen Werk und Werk-Außerhalb, die der deutsche Dichterfürst hier in seinem letzten Lebensjahrzehnt unternimmt. Jacques Derrida sagt, dass die Grenze zwischen dem Werk und dem WerkAußerhalb in einem Nachlass niemals genau bestimmt werden kann. Das sei ein Apriori aller Nachlassphilologie und Textgenetik.8 Wo fängt in den Nachlass­ materialien das Werk an? Welche der frühen Notizen gehören dem genetischen Konvolut gerade noch an und welche schon nicht mehr? Wo verliert sich der erste eigene Gedanke, wenn es so etwas wie einen ersten eigenen Gedanken überhaupt gibt? Bis zu welchem Zettel reicht und wo endet das geistige Eigentum? Das moderne Urheberrecht, das in seinen wesentlichen Gründungsakten zu Beginn des 19. Jahrhunderts selbst einer Emergenz des bedruckten Papiers und des Archivs folgt (vgl. Bosse 1981), schützt das besondere geistige Band, das zwischen dem Autor und seinem Werk herrscht. Als Beweis für die kreative Leistung gilt die spezifische sprachliche Ausprägung des Werks. Wohin aber bindet der Autor das geistige Band, das ihn mit seinem Werk verbindet, in seinem Nachlass zurück? Wo enden seine geistigen Besitzrechte und wo liegt das Fundament seiner Autor­ schaft? In einer Lücke, die das moderne literarische Archiv setzt, um sich selbst zu setzen? In Ketten der Genese, der Genealogie, des Genus und des Genres vollzieht sich die Ablösung des Werks vom Werk-Außerhalb. Wo aber, so fragt Derrida in einem Vortrag, den er anlässlich der Übernahme des literarischen Archivs von Hélène Cixous durch die französische Nationalbibliothek hielt, könnte in diesen Ketten der Ort der einmaligen und singulären Unterbrechung sein, also der Schnitt, den Derrida mit dem Begriff des literarischen Genies bezeichnet? Ist ein literarisches Werk vorstellbar, das – wie von Theodor W. Adorno als Grenzwert seiner eigenen Methode angedacht – seine Genese vollkommen ver­ zehrt9 und für sich einen Ort jenseits von Genealogien und Genres schafft? Ist das

8 Vgl. das Gespräch, das Derrida mit prominenten Vertretern der critique génétique führte (Derrida et al. 1998, 189–209). 9 „In der Kunst ist der Unterschied zwischen der gemachten Sache und ihrer Genese, dem Machen, emphatisch: Kunstwerke sind das Gemachte, das mehr wurde als nur gemacht. Daran

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Genus eines solchen Schreibens, das der Heteronomie die Macht gibt, weiblich? Und wie stünde es um dieses einmalige Ereignis, den „absolut einmaligen, eröff­ nenden“ Schnitt, der „ohne mögliche Vergangenheit und ohne mögliche Nach­ ahmung“ ist? Wie könnte er „ohne Vater und Mutter, ohne Kind, ohne Namen, ohne Erben und ohne Schule“ sein? Indem sich all das, wovon er sich abschnei­ det oder „dessen Faden er trennt“, dann doch wieder klandestin in ihm „wieder­ angenäht“ (Derrida 2003, 81)10 findet? Genial in diesem Sinn, nämlich sich selbst aus sich heraus schaffend, so sagt Derrida, ist niemals das Subjekt, weder das reale noch das imaginäre und auch nicht das symbolische. Genial ist der „verschwiegene Augenblick“ (Derrida 2003, 82) des Werkes, der sich an ein Du richtet. Wie aus simpel vorhandenen Materia­ lien ein Werk und warum aus diesen Materialien ausgerechnet dieses eine Werk werden konnte, gehört zu den letzten und eigentlichen Geheimnissen des litera­ rischen Schreibens. An ihm haben die Textgenetik und alle künftigen Wissen­ schaften des literarischen Archivs eine methodische Grenze, denn der spezifische Grund des einen Werks, sein Anfang und seine erste Einschreibung ins Material, kann im Material nicht lokalisiert werden, egal ob es sich bei ihm um einen nach heutigen Standards eingepflegten Nachlassbestand oder um etwas handelt, das sich im Schreiben gleichsam selbst hinterlassen hat. Wenn wir in die Werkstatt der Dichterin gehen, befinden wir uns nahe am Pro­zess. Eine Archäologie des literarischen Wissens könnte sich hier dem Wort­ sinn nach durch Schichten graben. Auch in diesen Schichten jedoch bleibt das punctum des Werkes verborgen. Was sich in der Werkstatt zeigt, ist die Potenzia­ lität des Werkes und darin vor allem auch, dass das Werk auch ganz anders hätte sein können. Hohes Misstrauen gegen die Ordnungen des Archivs, die so tun, als könnten sie einzelne Werke mit sicherer Bestimmung aus der Ganzheit eines Nachlasses lösen, scheint angebracht. Um solche Schnitte setzen zu können, musste der Nachlass erst einmal als solcher konstruiert werden. Die Ordnungsprinzipien, die moderne Literaturarchive entwickelt haben, sind von einem hochgradig editorischen Ansatz geleitet. Was an einem Bestand herausgegeben werden kann und ein Werk ist, erfährt im Archiv eine vollkom­ men andere Behandlung als all das, was mit einem Werk nicht in diesem Sinn zu tun hat. Nachlässe sind aber nicht nur zum Edieren da. Wenn Nachlassbewusst­

wird gerüttelt erst, seitdem Kunst sich als vergänglich erfährt. Die Verwechslung des Kunstwerks mit seiner Genese, so als wäre das Werden der Generalschlüssel zum Gewordenen, verursacht wesentlich die Kunstfremdheit der Kunstwissenschaft: denn Kunstwerke folgen ihrem Formge­ setz, indem sie ihre Genesis verzehren“ (Adorno 1973, 267). 10 Zur Grundlegung seines Archiv-Begriffes vgl. Derrida (1997).



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sein der Akt ist, über den sich der moderne Nachlass konstituiert und die Ordnung der Dinge auf die Ordnung des literarischen Archivs überträgt, so zeitigt der Blick in die Werkstatt des Dichters eine andere Möglichkeit der Lektüre. Nicht das Werk findet man in ihr, sondern wie es auch anders hätte sein können.

Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W. Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973. Bosse, Heinrich. Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn u. a.: Schöningh UTB, 1981. Cudré-Mauroux, Stéphanie, und Irmgard Wirtz (Hg.). Literaturarchiv – Literarisches Archiv. Zur Poetik literarischer Archive. Göttingen: Wallstein, 2013. Curtius, Ernst Robert. „Goethes Aktenführung“. Die Neue Rundschau 62.2 (1951): 110–121. Danielczyk, Julia. „Editionsunternehmungen oder hilfswissenschaftliche Institutionen? Ein Beitrag zur Geschichte der österreichischen Literaturarchive (1878–1918)“. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 33.2 (2008): 102–144. Derrida, Jacques. Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. Berlin: Brinkmann + Bose, 1997. Derrida, Jacques. „Archive et brouillon. Une discussion avec Jacques Derrida“. Pourquoi la critique génétique. Méthodes, théories. Hg. Michel Contat und Daniel Ferrer. Paris: CNRS Editions, 1998. 189–209. Derrida, Jacques. Genesen, Genealogien, Genres und die Geheimnisse des Archivs. Wien: Passagen, 2003. Dilthey, Wilhelm. „Archive für Literatur“ [1889]. Gesammelte Schriften. Bd. 15: Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Hg. Ulrich Herrmann. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1970. 1–16. Eastwood, Terry, und Heather MacNeil (Hg.). Currents of Archival Thinking. Santa Barbara, Ca: ABC Clio, 2010. Ebeling, Knut, und Stephan Günzel (Hg.). Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten. Berlin: Kadmos, 2009. Ecker, Gisela. „Literarische Kramschubladen. Portraits – Privatmuseen – Zwischenspeicher“. Das Gedächtnis der Literatur. Konstitutionsformen in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Hg. Allo Allkemper. Berlin: Erich Schmidt, 2006. 19–31. Flach, Willy. „Literaturarchive“. Archivmitteilungen 5.4 (1955): 4–10. Foucault, Michel. Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973. Foucault, Michel. „Was ist ein Autor?“. Schriften zur Literatur. Hg. Martin Stingelin. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003. 234–270. Friedrich, Markus. Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte. München: Oldenbourg, 2013. Goethe, Johann Wolfgang von. „Archiv des Dichters und Schriftstellers“. Über Kunst und Altertum 4.2 (1823): 25–28. Heesen, Anke te, und Anette Michels (Hg.). auf \ zu. Der Schrank in den Wissenschaften. Berlin: Akademie-Verlag, 2007.

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Bodo Plachta

Werkstatt, Showroom, Archiv und Pantheon Arbeitsräume von Schriftstellern, bildenden Künstlern und Komponisten 1 Ein „wahrer“ Raum für künstlerische Arbeit Lutz Seiler berichtete im November 2015 in der Wochenzeitung Die Zeit von der Einrichtung seines temporären Arbeitsraums in der Villa Massimo. Er war mit der Hoffnung nach Rom gekommen, dort endlich ungestört an einem Romanprojekt arbeiten zu können, das bislang über erste Recherchen und Notizen nicht hinaus­ gekommen war, fühlte sich aber schnell von dem „zehn oder zwölf Meter hohe[n] Atelier, diese[m] riesigen Hallraum mit Fensterfront und Licht ohne Ende“ (Seiler 2015, 54) schier erschlagen. Es klingt daher wie ein Hilferuf, wenn Seiler als Gewährsmann, der seine Nöte verstehen kann, Gaston Bachelard heranzieht und aus dessen berühmtem Essay Die Flamme einer Kerze zitiert: „Der wahre Raum für eine einsame Arbeit ist in einem kleinen Zimmer der von der Lampe erhellte Kreis“ (Bachelard 1988, 104). Seiler bekam die riesigen Atelierräume der Villa Massimo auch durch ein neues Arrangement vorhandener Möbel nicht in den Griff. Es entstand nur ein „Kabuff“, in dem er beim Schreiben „hinter einem Schrank“ (Seiler 2015, 54) saß. Bei der Errichtung des Atelierflügels der Villa Massimo im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hatte man sich an den Bedürf­ nissen von Bildhauern und Malern orientiert, die noch monumentale Skulpturen und Gemälde schufen. Diese historische, innovative Konzeption, die der dama­ lige Bauherr Eduard Arnhold und sein Architekt Maximilian Zürcher mit dem Bau der Ateliers im Stil sachlicher und uniformer „Reihenhausarchitektur“ (Windholz 2016) auch als Muster für eine explizit soziale Bauweise favorisierten, kollidiert zweifellos mit Vorstellungen von einer kreativen Umgebung und einer Arbeits­ welt von Schriftstellern, bildenden Künstlern und Komponisten, die heute als Stipendiaten in die Villa Massimo kommen (vgl. Ortheil 2015). Wenn Lutz Seiler sich verständlicherweise nach einem „Raum für eine einsame Arbeit“ sehnt, dann ruft er einen prototypischen Arbeitsraum auf, wie ihn Francesco Petrarca 1366 in seinem Traktat De vita solitaria (Über das Leben in Abgeschiedenheit) beschrieben hat und wie er auch in dem, gegen Ende des 15. Jahrhunderts auf­ kommenden Bildtypus des heiligen Hieronymus im Gehäuse zu sehen ist. Der Rückzug aus der Geschäftigkeit des Alltags an einen idealen Ort der Stille, der Einsamkeit und Muße galt Petrarca als Voraussetzung für jegliche schöpferische Tätigkeit (Petrarca 2004, 104). Erst an einem solchen Ort lasse sich durch Studium, DOI 10.1515/9783110466850-003, © 2017 Bodo Plachta. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 License.

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Meditation und Kontemplation Wissen und Weisheit erwerben. Michelangelo bestätigt dieses Askese-Modell, wenn er sagt: „Die Kunst heischt Nachdenken, Einsamkeit und Gemächlichkeit und kann Zerstreuung nicht vertragen“ (zit. n. Hoh-Slodczyk 1985, 9). Das Haus des Künstlers, Dichters oder Komponisten als bewusst gestalteter Ort des „rein Zweckmäßigen“ (Hoh-Slodczyk 1985, 9), als studiolo, Refugium und Rückzugsort hat hier seinen Ursprung und lässt sich nicht nur an Petrarcas eigenem Haus und Arbeitszimmer in Arquà bei Padua besichti­ gen, sondern wurde jahrhundertelang weiterverfolgt, z.B. in den eindrucksvol­ len Landsitzen Claude Monets in Giverny und Max Liebermanns am Berliner Wannsee sowie in den abgeschiedenen Häusern Achim und Bettina von Arnims in Wiepersdorf, Annette von Droste-Hülshoffs im Rüschhaus bei Münster, Hugo von Hofmannsthals in Rodaun, Hans Falladas in Carwitz oder Guiseppe Verdis in Sant’ Agata und Giacomo Puccinis in Torre del Lago (vgl. Plachta 2011 und 2014a). In besonderem Maße aber hat Giorgio de Chirico dieses Konzept in seinem Atelier an der römischen Piazza di Spagna verwirklicht, indem er sich einen Arbeitsort mit geradezu klösterlicher Weltabgewandtheit geschaffen hat. Der Raum wird allein von dem durch die großen Deckenfenster einfallenden Tageslicht beleuch­ tet. Die anderen Fenster hielt de Chirico stets geschlossen und verdunkelt, so­dass kein Blick nach außen und beim Arbeiten keinerlei Ablenkung möglich war, gemäß seiner mehrfach geäußerten Devise, man müsse das malen, was man nicht sieht. Eine solche Arbeitsumgebung korrespondiert zweifellos mit de Chiricos hermetischen Bildern, die stets philosophisch-metaphysische Dimensionen berühren. Als Mittelpunkt eines Lebens in Abgeschiedenheit hatte schon Petrarca das studiolo, das Studierzimmer, betrachtet, das seinerzeit allein Fürsten und Päpsten als Ort für Kontemplation und gelehrte Studien und damit als Ausweis von Bildung sowie Zeichen herrschaftlicher Stellung vorbehalten war. Das studiolo war nicht nur mit kostbaren Wandvertäfelungen, Trompe-l’oeil-Fresken und Gemälden geschmückt, sondern auch mit Kunstwerken jeglicher Art, Studienob­ jekten und Büchern ausgestattet. Im Laufe der Zeit fand das studiolo als Raum­ typus seinen Platz auch in reichen Bürgerhäusern (vgl. Liebenwein 1977). Das zeitlich parallele Aufkommen von Arbeitszimmer und Atelier, wodurch die studiolo-typischen Aspekte eines Ortes der Kreativität und Repräsentation aufgegrif­ fen und im Laufe der Zeit erweitert wurden, markierte gleichzeitig den entschei­ denden Schritt der sozialen Emanzipation, den die Vertreter der artes liberales in die frühneuzeitliche Gesellschaft hinein machten. Die zunehmende soziale Bedeutung der Künste und ihrer Protagonisten schlug sich in bemerkenswerten Häusern und regelrechten Gesamtkunstwerken nieder, die sich Andrea Mantegna in Mantua, Giorgio Vasari in Arezzo und Florenz, Federico Zuccari in Rom oder später Peter Paul Rubens in Antwerpen, und noch einmal später Richard Wagner in Bayreuth, Franz von Stuck und Franz von Lenbach in München bauten und



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ausstatteten. Aber auch Schriftsteller der Frühen Neuzeit – zu denken ist an Michel de Montaigne in Saint-Michel-de-Montaigne bei Bordeaux, Miguel de Cer­ vantes in Valladolid, Félix Lope de Vega in Madrid und Martin Luther in Witten­ berg – schufen sich in ihren Häusern ein Lebens- und Arbeitsumfeld, in dem studiolo-Aspekte erkennbar das Interieur bestimmten, die Häuser sich aber ansonsten von den repräsentativen Palazzi der nobili unterschieden (vgl. Hüttinger 1985, 9). Solche Vorstellungen – flankiert von einschlägigen Architekturdiskur­ sen – von einem bescheidenen Dichter- und Künstlerhaus, das gleichzeitig den neu gewonnenen sozialen Rang betonte, blieben lange geläufig und illustrieren den schwierigen Prozess, bis der soziale Status, die wirtschaftliche Unabhängig­ keit und die Autonomie des Künstlers sowie sein weltmännischer Habitus eine allseits anerkannte Tatsache waren (vgl. Warnke 1985, 162–164). Seitdem werden Häuser von Schriftstellern, Künstlern und mit einer gewissen Verzögerung auch die von Komponisten immer öfter als „architektonische Selbstporträts“ wahr­ genommen (Schwarz 1989, 10). Die Bilder, die wir uns von Häusern machen, „bewegen sich“, so Gaston Bachelard, „in zwei Richtungen: sie sind in uns ebenso, wie wir in ihnen sind“ (Bachelard 2011, 26–27). Daher sind Dichter-, Künstler- und Komponistenhäuser ein „Konstrukt“ (Brandlhuber 2013, 9) des Künstler-Ich und entsprechend mit Bedeutung aufgeladen, weil sie sowohl in der Realität als auch in der Imagination „erlebt“ (Bachelard 2011, 25) werden. Ein später Reflex solchen „Bedeutungstheater[s]“ – wie Wilhelm Genazino (2009, 140) dieses Phänomen bezeichnet – ist die spektakuläre Villa von Curzio Mala­ parte auf Capri, die der Schriftsteller selbstbewusst „casa come me“ taufte und hoffte, das Haus sei wie sein Erbauer „triste, dura, severa“ (vgl. McDonough 1999). Sämtliche Häuser reflektieren nicht nur Biografien, sondern ihr Außen und Innen sind Abbild von Erfolg und sozialer Anerkennung, stellen aber auch archi­ tektonische Kompetenz, Geschmack bei der Gestaltung von Interieurs, Lebens­ stil, Bildung, ein Geschick für Selbstinszenierung und nicht selten auch Aufge­ schlossenheit für neue Wohn- und Arbeitsformen unter Beweis (vgl. Hendrix 2008, 1–11). Aber, auch das zeigen diese Häuser, die genannten Aspekte können sich in ihr Gegenteil verkehren und Häuser zu aberwitzigen, bisweilen kitschigen Museen zu Lebzeiten und verwirrenden Pantheons mutieren lassen, wie sich dies im patriotisch aufgeladenen und bombastischen Vittoriale von Gabriele D’Annunzio am Gardasee, in Pierre Lotis extravagant-exotischem Palast in Rochefort-sur-Mer, Rosa Bonheurs „Reich der Tiere“ in Thomery, Karl Mays „Villa Shatterhand“ in Radebeul, Richard Wagners Bayreuther Götterburg „Wahnfried“, Thomas Bernhards Ohlsdorfer Bauernhof oder in Walter Kempowskis schulmeis­ terlich-didaktischem Anwesen im norddeutschen Nartum besichtigen lässt. Häuser, in denen Dichter, bildende Künstler, Musiker, Politiker oder Wissen­ schaftler gelebt und ihr Tagewerk verrichtet haben und die im Laufe der Zeit

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musealisiert wurden, präsentieren sich uns heute vielmals noch immer als typi­ sche Produkte von Personenkult und Künstlerverehrung des 19. Jahrhunderts. Sie „geben sich als jene biographische Orte zu erkennen“ (Kahl 2012, 85), an denen Literatur, Kunst und Musik entstanden ist, und stehen stellvertretend für eine Entwicklung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in der das Künstlergenie als alles bestimmende Kategorie die kulturelle Bühne betrat (vgl. Kahl 2015, 265). Heute sind sie „topografische Fixpunkte“ (Schwarz 1989, 9; vgl. Bohnenkamp et al. 2015) in einer immer mehr ausufernden Erinnerungskultur und werden daher gern als „Leuchttürme“ (Raabe 2006, 33) des nationalen Kulturerbes zertifiziert und nobilitiert. Obwohl es sich bei diesen Häusern jeweils um einen „posthum konservierte[n] Aktionsraum“ (Behrens 2012, 28) und weitgehend um museale Rekonstruktionen ihres ursprünglichen Zustands handelt und Aleida Assmann sie zu Recht als Resultate einer „Architektur aus dem Archiv“ (Assmann 2010a) bezeichnet hat, bilden sie „eine Klammer um Leben und Werk“ (Assmann 2010b, 9). Gerade diese Verklammerung macht sie zu geeigneten Gedächtnisstützen, die uns helfen, eine Beziehung zu unserer Kulturgeschichte aufrechtzuerhalten, indem hier, „von der Person und ihrem Leben ausgehend, das Mikro-Universum ihres Werkes in seiner räumlichen Verankerung und dinglichen Verkörperung erschlossen und zugänglich gemacht“ wird (Assmann 2010b, 9); Hans Wißkir­ chen (2002, 5) bezeichnet Dichterhäuser als „‚Propagandisten‘ der Literatur“ und sieht in ihnen das „Eingangsportal, durch das man die Welt der Literatur betritt“. Viele dieser Häuser – ihre Zahl ist groß und wächst ständig – sind heute gut besuchte Gedenkstätten oder Museen mit angeschlossenen Archiven und For­ schungseinrichtungen, manche gelten sogar als nationale Denkmäler, andere wiederum zählen zum Weltkulturerbe. Sie sind touristische Attraktionen und Ins­ titutionen des Kulturbetriebs.

2 Raum und Werkgenese Obwohl Arbeitszimmer, Ateliers und Räume, in denen musiziert und komponiert wird, vielfach dem Diskurs über ein altes Raumkonzept verpflichtet sind, folgen sie keinem „architektonisch fixierten Reglement“ (Klier 2009, 6), zeichnen sich vielmehr durch ein großes Spektrum an Formen und Funktionen aus. Schriftstel­ ler können eigentlich überall schreiben, während bildende Künstler eine feste Apparatur in Ateliers und Werkstätten benötigen, sofern sie ihren Arbeitsplatz nicht in der freien Natur haben. Komponistenwohnungen sind durch Instrumente und Gegenstände wie Notenpulte, Metronome und Schränke mit unterschied­ lichstem Notenmaterial geprägt, die zum Musizieren und Komponieren benötigt werden. Nicht selten steht gleich neben dem Schreibtisch das Klavier, um eine



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Melodie oder Harmonie zu improvisieren oder zu überprüfen, bevor sie notiert wird. Aber auch dieses Arrangement unterlag einem grundlegenden Wandel von Auffassungen, wie zu komponieren sei. Im frühen 19. Jahrhundert begegnen wir immer öfter Komponisten, die ihre Musik nicht mehr im inspirierenden und improvisierenden Kontakt mit einem Instrument gewinnen. Komponieren entwi­ ckelte sich zu einer Denkform, die sich autonom am Schreibtisch oder Schreib­ pult erledigen ließ; in einem Brief an Nikolaus Zmeskall von Domanovecs am 20. Oktober 1800 bezeichnet Beethoven daher seinen Arbeitsraum anschaulich, wenn auch scherzhaft gemeint als „laboratorium artificiosum“ (Beethoven 1996, 53). Doch insgesamt schaffen Arbeitszimmer stets den gleichermaßen festen wie veränderbaren, mal privaten, dann wieder öffentlichen Rahmen für kreatives Schaffen, für die Präsentation vollendeter Werke oder die Begegnung mit Kunden, Freunden, Kollegen und Kritikern. Zum Mythos wurden diese Arbeitsstätten aber zweifellos dadurch, dass sie einen Blick in die private „Werkstatt und Ideen­ schmiede“ (Conzen 2012, 13) des Künstlers gewähren und die materialen Um-­ stände für das Entstehen von Texten, Kunst- und Musikwerken zu einem Zeitpunkt erfass- und erfahrbar machen, bevor diese Werke einer breiten Öffentlichkeit überhaupt erst zugänglich wurden. So neugierig, manchmal sogar voyeuristisch dieser Blick in Arbeitsräume auch immer sein mag, er schärft die Wahrnehmung des Betrachters für die Tätigkeit und das Selbstverständnis des Künstlers, zumal dieser immer wieder programmatisch in Wort und Bild seine Arbeitsstätte zum Sujet der Reflexion gemacht hat. Auch heutzutage gewähren Künstler, Schriftstel­ ler und Komponisten bereitwillig Einblick in ihre Arbeitsumgebungen und lassen sie fotografisch oder in Homestories dokumentieren (vgl. Koelbl 1998; Krementz 1996; Krumme 1986; Chaigneau 2012). Die Arbeitszimmer von Goethe und Schil­ ler etwa sind schon im 19. Jahrhundert durch Bilder, Stiche und Fotos ebenso zum populären Mythos von Schriftstellerarbeit überhaupt geworden wie das Atelier von Jackson Pollock in East Hampton, das zu Lebzeiten des Künstlers den Hinter­ grund für die fotografische und filmische Dokumentation des Malvorgangs bildet und noch heute die farbigen Spuren seines ‚Drip-Painting‘ auf dem Fußboden bewahrt (vgl. Behrens 2012, 23). In den meisten, heute musealisierten Arbeits­ räumen suggerieren Schreibtische, Staffeleien, Notenpulte, Musikinstrumente oder die sonst für den Arbeitsprozess benötigten Instrumente wie Schreibfedern, Pinsel, Meißel, Schreibmaschinen, Brillen, Paletten, Bücher, Noten, Metronome sowie der individuelle „übliche Krimskrams“ (Weyrauch 1978, 6), der sich auf jedem Arbeitstisch findet, Authentizität der einstigen Arbeitsatmosphäre und des Arbeitsalltags. Sämtliche dieser Gegenstände haben aber nur Stellvertreter­ funktion (vgl. Autsch 2005, 46). So sehr diese Arbeitssituationen „eingefroren“ (Seibert 2009, 39) und von „abgelebten Dingen“ umgeben sind, also keine „leben­ digen“ Räume mehr zeigen, scheint doch in diesen Raumsituationen trotzdem ein

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„Hauch ihrer einstigen Vitalität“ auf, der dem interessierten Betrachter den Weg zum Werk und seiner Entstehung bahnen kann (Genazino 2009, 137–138; vgl. Plachta 2011b). Beispiele für eine gelungene Verklammerung von Raum und Werkentstehung lassen sich besonders anschaulich in Häusern bildender Künstler finden. Werfen wir daher einen Blick auf die Atelier- und Wohnhäuser von Gustave Moreau in Paris und Auguste Rodin in Meudon, um einen Maler und einen Bildhauer kennen­ zulernen, die beide – ähnlich wie Goethe und viele andere nach ihm – bereits zu Lebzeiten zu „Organisator[en]“ (Forest 2013, 169) ihres jeweiligen Werks wurden und dazu eigens Archive angelegt haben, die nicht nur zu ihren Lebzeiten Teil der kreativen Infrastruktur waren, sondern späteren Betrachtern auch die Genese ihrer Werke und ihre Arbeitsweise anschaulich machen sollten. Beide Häuser präsentieren sicherlich nur ein kleines, wenn auch bedeutendes „Segment[] der authentischen Überlieferung“ (Wizisla 2000, 407) des Werkes von Moreau und Rodin. Sie eignen sich deshalb als Beispiele, weil sie ebenso wie Schriftsteller­ nachlässe der Gefahr unterliegen, im Laufe der Zeit von archivarischen, denkmal­ pflegerischen oder kuratorischen Strategien überlagert zu werden, weil man anfangs eher ratlos war, wie man mit dieser Form von Hinterlassenschaft um­gehen sollte und wie sie als Teil des künstlerischen Gesamtwerks von Moreau und Rodin präsentiert werden könnten. Das Wohn- und Atelierhaus Gustave Moreaus liegt im Pariser Künstler- und Literatenviertel Nouvelle Athènes, das seit den 1830er-Jahren zu den angesagtes­ ten Quartieren zählte. Den Status eines ‚Heiligtums‘ erhielt das Haus, nachdem Marcel Proust es als „halb Kirche, halb Haus des Priesters“ geadelt hatte (Proust 1992, 516). Das samt Inventar komplett überlieferte Haus zählt noch immer zu den merkwürdigen Beispielen unter den Künstlerhäusern, die sich überall in Europa zahlreich erhalten haben. In Moreaus Haus herrschte bereits zu Lebzeiten des Malers eine extravagante Atmosphäre. Es bot Moreau, der mit seinen symbolisti­ schen Gemälden ein nachgefragter Künstler und ein gern gesehener Gast in den Pariser Salons war, die Bühne, um sich als Einsiedler zu inszenieren, der sich bewusst aus dem Kunstbetrieb zurückgezogen hatte und es immer entschiedener ablehnte, seine Bilder in der Öffentlichkeit zu zeigen, geschweige denn zu ver­ kaufen. Doch aus dem Kunstgeschehen war Moreau weder verschwunden, noch versiegte seine Produktion. Warum also begann er nach dem Tod seiner Eltern (1862, 1884) deren Haus eingreifend umzugestalten und ihm die Form eines „Wohn-“ und „Bildungsmuseums“ (vgl. Hoh-Slodczyk 1985, 16–26) zu geben, die es noch heute hat? Im Dezember 1862 hatte Moreau notiert: Ich denke an meinen Tod und an das Schicksal meiner armen kleinen Arbeiten und an alle die Werke, die ich mit Mühe zusammengetragen habe. Vereinzelt werden sie verschwinden,



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vereint werden sie ein wenig von der Idee Zeugnis ablegen, wer ich als Künstler bin und in welcher Umgebung ich mich meinen Träumen hingegeben habe. (zit. n. Mathieu und Lacambre 1997, 41, Übers. B. P.)

Die Umgestaltung des Hauses hatte demnach keine praktischen Gründe und diente nicht der Verbesserung der Wohn- oder Arbeitsqualität. Vielmehr sollte das 1895/96 neugestaltete Gebäude mit seiner monumentalen Fassade Zeugnis von Moreaus Künstlerschaft ablegen, wie sie sich nirgends authentischer als an diesem Ort manifestierte. Die Räume seiner Eltern in der ersten Etage blieben als Erinnerungsräume unangetastet. Erst in seinen letzten Lebensmonaten gestaltete Moreau sie um, sodass neben einem Flur ein kombiniertes Arbeits-/Empfangs­ zimmer, ein Esszimmer und ein salonähnliches Schlafzimmer mit unzähligen familiären Erinnerungsstücken entstanden ist. Moreau hat in diesen Räumen ein artifizielles und bis ins kleinste Detail geplantes Ausstattungskonzept realisiert, das den Lebens- und Arbeitsort zu einem Museum aufwertet. Doch die Person, die hier gewohnt und gearbeitet hat, drängt sich nicht in den Vordergrund, sondern tritt hinter der riesigen Sammlung von Kunstwerken zurück. Bilder – eigene und fremde –, Fotografien, Bücher, Skulpturen, Andenken jeglicher Art, Möbel und die zahllosen wertvollen kunsthandwerklichen Gegenstände wählte Moreau bewusst aus und arrangierte sie nach musealen Kriterien. In der Mehr­ zahl handelt es sich um Erinnerungsstücke mit persönlichem Wert und nicht um kunsthistorisch bedeutende Objekte. Sie sicherten Lebensspuren sowie die Bezie­ hung zu Eltern, Freunden, Kollegen und künstlerischen Vorbildern und doku­ mentieren dauerhaft entscheidende Phasen im Leben und Werk des Malers. Diese Lebenszeugnisse bilden quasi ein Museum im Museum. Dahinter steht die zuge­ gebenermaßen egozentrische Idee von der Schaffung eines archivalischen Uni­ versums, in dem die Unterschiede zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie Mythos, Kunst und Leben aufgehoben sind und sich zu einer großen Geschichts­ erzählung akkumulieren. Die beiden Obergeschosse wurden zu großen Atelier­ räumen umgestaltet. Durch diesen Umbau gewann Moreau nicht nur mehr Fläche, um seine Bilder auszustellen, sondern auch Höhe, um den großformati­ gen Werken die entsprechende Wirkung zu verschaffen. Beide Etagen sind mit einer kunstvoll gearbeiteten Wendeltreppe verbunden. Diese Räume sind das eigentliche Zentrum des Hauses, denn in ihnen werden die bedeutendsten Werke Moreaus gezeigt und im Falle der Aquarelle, Zeichnungen oder Gipsabgüsse von Skulpturen in eigens konstruierten Schränken, Vitrinen, drehbaren Kästen mit aufklappbaren Fächern und Staffeleien immer in der Absicht aufbewahrt, den jeweiligen Entstehungszusammenhang oder die Beziehungen zwischen den Werken sichtbar werden zu lassen. Ein späterer Besucher hat diese Präsentation zutreffend als „eine Art riesige Alben“ (zit. n. Forest 2013, 170) charakterisiert.

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Moreau hat die Bilder für die Ausstellung in den Atelierräumen teilweise überar­ beitet oder überhaupt erst fertiggestellt. Die Mehrzahl blieb jedoch unvollendet. Ihre Hängung in mehreren Reihen übereinander zeigt einerseits Moreaus maleri­ sche Überfülle und macht andererseits durch die Möglichkeit des Vergleichs sein diffiziles Arbeitsverfahren anschaulich, das sich eklektisch bei Literatur, Kunstund Kulturgeschichte bedient. Das Arrangement der Bilder lässt nun die zwi­ schen ihnen bestehenden Verbindungslinien zutage treten. Exemplarisch kann man dieses Verfahren an dem Polyptychon Das Leben der Menschheit studieren, das nicht nur aus der Bibel und Mythologie wie aus einem riesigen Reservoir schöpft, sondern auch einen zentralen Platz unter den ausgestellten Bildern ein­ nimmt und zum Referenzwerk für alle anderen gezeigten Bilder wird. Seit 1897 litt Moreau an Magenkrebs. Im Wissen um den nahen Tod ordnete er seine Skizzen­ bücher sowie die übrige malerische und sonstige Hinterlassenschaft. Im Septem­ ber 1897 verfasste er ein Testament, in dem er sein Haus mit dem Inventar und allen Kunstwerken dem französischen Staat vermachte. Im Gegenzug erwartete er „für alle Zeiten – was mein größter Wunsch wäre – oder doch so lange wie möglich diese Sammlung zu erhalten und sie als Ganzes zu bewahren, so dass man stets die Summe der Arbeit und der Mühen des Künstlers zu seinen Leb­ zeiten ermessen kann“ (zit. n. Mathieu und Lacambre 1997, 190, Übers. B. P.). Etwa 25.000 Werke – Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen –, viele unvollendet, gehören zu diesem künstlerischen Inventar. Mit seinem Vermächtnis hatte Moreau einen Präzedenzfall geschaffen, denn noch nie zuvor war das komplette Haus eines bildenden Künstlers postum zu einem öffentlichen Museum und Archiv geworden. Erst 1902 nahm der französische Staat nach langem Zögern die Schenkung an und im Januar 1903 öffnete das Haus seine Pforten. Es stieß aller­ dings beim Publikum lange auf Skepsis und Unverständnis, weil – anders als man es von einem Museum gewohnt war – die vollendeten Werke in der Minder­ zahl waren, wohingegen das Hauptaugenmerk auf die Werkentstehung und ihre Kontexte sowie auf das Unvollendete gerichtet war. „Es ist wirklich unheimlich“, so überliefert Paul Valéry eine Äußerung von Edgar Degas nach einem gemeinsa­ men Besuch des Hauses, „man könnte glauben, in einer Totengruft zu sein ... Alle diese hier vereinigten Bilder wirken auf mich wie ein Thesaurus, ein Gradus ad Parnassum“ (zit. n. Mathieu und Lacambre 1997, 191, Übers. B. P.). Der Bildhauer Auguste Rodin hatte 1895 ein Haus gekauft, das malerisch oberhalb der Seineschleife bei Meudon lag, um neben dem Pariser Stadtatelier, das sich nicht mehr vergrößern ließ, noch eine zweite Arbeitsstätte zu haben. Die Villa des Brillants in Meudon wurde schon bald mehr als ein Ausweichquartier, denn Rodin erweiterte hier seine Arbeitsmöglichkeiten durch An- und Neubauten beträchtlich. Obwohl Rodin weiterhin täglich in sein Pariser Atelier fuhr, entwi­ ckelte sich Meudon schnell zum Zentrum der kreativen Arbeit. 1901 ließ er im



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Garten jenen Pavillon etwas verkleinert wieder aufbauen, der ihm ein Jahr zuvor während der Pariser Weltausstellung als Ausstellungsort für seine Werke gedient hatte. Rodin nutzte ihn als weiteres Atelier und als Raum, in dem er seine Werke archivierte und sie einer immer größer werdenden Schar von Besuchern aus vielen Ländern präsentierte. Der Pavillon, in dem die Skulpturen wie „ein steiner­ ner Wald“ standen und auf die „innere Endgültigkeit ihrer Konturen“ warteten – wie Stefan Zweig meinte (1987, 121) –, war halb Atelier halb Museum. Rodin selbst bezeichnete ihn als „musée“. Mit der Zeit baufällig geworden, wurde der ursprüngliche Pavillon 1930/31 durch ein Gebäude ersetzt, das sich architekto­ nisch an den Vorgängerbau anlehnte. Viele Besucher, die in Rodin einen neuen Künstlertypus erkannten, waren von diesem Ateliermuseum begeistert, so auch Rainer Maria Rilke, der im September 1902 erstmals nach Meudon kam und später als Rodins Sekretär zeitweise in einem Nebengebäude der Villa des Brillants lebte. Seiner Ehefrau Clara Westhoff schreibt er am 2. September 1902 tief beein­ druckt: Es ist ein ungeheuer großer und seltsamer Eindruck, diese große helle Halle mit allen ihren weißen, blendenden Figuren, die aus den vielen hohen Glastüren hinaussehen wie die Bevölkerung eines Aquariums. Groß ist dieser Eindruck, übergroß. Man sieht, noch ehe man eingetreten ist, daß alle diese hundert Leben ein Leben sind, – Schwingungen einer Kraft und eines Willens. Was da alles ist – alles, alles. Der Marmor von La prière: Gipsab­ güsse von fast allem. – Wie das Werk eines Jahrhunderts ... eine Armee von Arbeit. (Rilke 2001, 43)

Rilke begriff nicht nur kongenial die Funktion dieses Ateliermuseums für den unmittelbaren Arbeitsprozess, sondern erkannte auch das im ‚Skulpturenwald‘ verborgene Selbstbild des Bildhauers als das eines permanent arbeitenden Hand­ werkers. Das scheinbar unstillbare Bedürfnis nach Raum hatte mit Rodins Arbeitsweise zu tun. Bevor er seine Skulpturen in Marmor oder Bronze ausführte, fertigte er zahlreiche Studien aus Gips, die sich zu regelrechten Serien erweiterten und ihm zur Überarbeitung oder Neu-Kombination bereits bestehender Werke dienten. Diese Entwürfe und Fragmente dokumentierten die einzelnen Phasen der Werkentstehung, auf die der Bildhauer immer wieder zurückgriff; Justus Fetcher (2001, 573) bezeichnet sie „als Dispositive unzähliger Körper-Teil-Torsi, die immer neu, aber niemals endgültig konfiguriert werden können“. Die Ergeb­ nisse wurden sorgfältig – teilweise in Vitrinen oder auf Podesten – aufbewahrt, weil in ihnen auch die Entwicklung der skulpturalen Sprache des Bildhauers bewahrt war, die Rodin ständig überprüfte. Im Laufe der Zeit entstand ein riesiges Archiv von Entwürfen, das natürlich seinen Platz beanspruchte. Die Villa des Brillants vermachte Rodin ebenso wie seine letzte Pariser Wir­ kungsstätte im Hôtel Biron dem französischen Staat; heute sind beide Häuser viel

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besuchte Museen, wobei Meudon eher als Studien- und Arbeitsort mit einem Archiv beeindruckt, in dem Rodins Werk in allen Arbeitsphasen bewahrt wird. Meudon ist die Verwirklichung von Rodins Maxime, „dass alles im Werden war und nichts eilte“ (Rilke 2009, 154). Betrachten wir noch eine weitere programmatische Inszenierung eines Arbeitsraums, die zunächst auf die Werkgenese scheinbar keinen Einfluss zu haben scheint und dennoch ins Zentrum des Schreibens vordringt. Es handelt sich um das Arbeitszimmer von Anna Seghers in Berlin-Adlershof, ein kleines Zimmer, dessen Wände – wie auch der Rest der Wohnung – mit Bücherregalen vollgestellt sind. Der Schreibtisch ist eine schlichte Schreineranfertigung mit extra­ großer Arbeitsplatte, mehr Tisch als Möbel mit Seitenteilen und Schubladen. Im Zentrum des Schreibtisches steht die Remington-Schreibmaschine, die Seghers von Freunden bei ihrer Ankunft 1941 im mexikanischen Exil zum Geschenk erhielt und auf der von nun an alle Texte geschrieben wurden. Die anderen Gegenstände sind übliche Arbeitsutensilien (Schale mit Bleistiften, Ständer für Postkarten) oder haben vorwiegend biografischen Erinnerungswert. Die Erfah­ rung von Exil und der Wunsch nach durchgreifender gesellschaftlicher Neuge­ staltung sind nicht nur literarisches und soziales Anliegen der Autorin, sie lassen sich in mehrfacher Hinsicht in der Gestaltung des Zimmers erkennen. An der gegenüberliegenden (bücherfreien!) Wand des Schreibtisches hing über dem Sofa das Autograph eines Briefes von Heinrich Heine an seine Mutter vom 27. Mai 1848 (das Original vermachte Anna Seghers der Berliner Staatsbibliothek, heute hängt hier ein Faksimile). Trotz zunehmender gesundheitlicher Beschwerden, Schreibschwierigkeiten und der deprimierenden Erfahrung des Scheiterns der Märzrevolution von 1848 („kein Zuckerjahr“) berichtet Heine in diesem Brief seiner Mutter von einem herrlichen Maitag, den er in einem „schönen Garten­ haus“ im Pariser Vorort Passy verbringt. Er beschließt den Brief scherzhaft: „Der Papagey schreit, und meine Frau läßt grüßen. | Eur getreuer | H. Heine“ (Heine, Säkularausgabe, Bd. 22, 276–277). Dieses Heine-Autograph hatte Anna Seghers von ihrem Vater Isidor Reiling, einem Kunst- und Antiquitätenhändler, 1933 kurz vor ihrer Flucht aus Deutschland als Geschenk und Notgroschen erhalten. Anna Seghers bewahrte diesen Brief während der Emigration und trennte sich auch in extremen Notzeiten nicht von ihm. Heine war einer ihrer Lieblingsdichter, von dem sie sagte, er sei ihr „Schutzpatron“ gewesen und habe „alle Stationen der Emigration mit uns geteilt: Die Flucht und die Heimatlosigkeit und die Zensur und die Kämpfe und das Heimweh“ (Seghers 1970/71, Bd. 1, 205, 207). Aber Heine war nach ihrer Rückkehr aus dem Exil auch entscheidender Stichwortgeber für den gesellschaftspolitischen Neuanfang und sollte in dieser Funktion dauerhaft im Blickfeld der am Schreibtisch sitzenden Autorin bleiben. Im letzten ihrer Exil­ essays zitiert Seghers wiederum programmatisch Heine, diesmal das berühmte



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Zitat aus der Schrift über die Französischen Maler: „Indessen, die neue Zeit wird auch eine neue Kunst gebären, die mit ihr selbst in begeistertem Einklang seyn wird“ (Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 12.1, 47).

3 Archivierte Arbeitsräume Während die Ateliers von Moreau und Rodin sowie das Arbeitszimmer von Anna Seghers an ihrem Ursprungsort verblieben sind, gibt es zahlreiche Beispiele dafür, dass Arbeitsorte an anderer Stelle wieder errichtet und quasi archiviert wurden. Zunächst machte man aus der Not eine Tugend: Wenn man schon nicht das komplette Haus eines Dichters, Künstlers oder Komponisten erhalten konnte, sollte doch wenigstens der Ort der künstlerischen Arbeit bewahrt werden und als spezifischer Erfahrungsraum zugänglich bleiben. Thomas Manns letztes Arbeits­ zimmer wurde 1961 komplett in ein eigens geschaffenes Archiv ‚umgesiedelt‘, und zwar in das frühere Haus des Dichters Johann Jakob Bodmer in Zürich (vgl. Bernini und Sprecher 2006). Nur der Blick aus dem Fenster bietet eine andere Aussicht, ansonsten hat man das Gefühl, das „gefriedete Reich“ eines Autors zu betreten, „wo er die Rolläden herunterläßt, die Schreibtischlampe andreht und sich zu seiner Arbeit setzt“ (Mann 1974, Bd. VIII, 639), wie es in der Erzählung Unordnung und frühes Leid heißt. Arbeitsstätte und literarisches Archiv des Autors bilden auf diese Weise an einem für die Literaturgeschichte prominenten Ort eine symbolträchtige Einheit. Aber es geht nicht nur um Symbolik, denn wie bei kaum einem anderen Autor haben der Schreibtisch und die auf ihm versam­ melten Gegenstände auch eine Transformation in das literarische Werk erlebt (vgl. Plachta 2014b); Thomas Mann sprach von den Gegenständen seiner Schreib­ tischlandschaft sogar als seinem „epischen Hausgerät“ (Mann 1974, Bd. XI, 408). Einem ähnlichen Konzept folgten auch die Wiederaufstellung der Arbeits­ zimmer von Nelly Sachs in der schwedischen Nationalbibliothek in Stockholm, von Wolfgang Koeppen in seinem Greifswalder Geburtshaus, von Arnold Schön­ berg im Wiener Arnold Schönberg Center, von Ernst Bloch im Ludwigshafener Ernst Bloch Zentrum oder das legendäre Londoner Atelier von Francis Bacon in der Dubliner City Gallery. In allen genannten Fällen gehen ursprünglicher Arbeitsort, der archivierte Nachlass und die einstige Privatbibliothek mit For­ schungsaktivitäten und Vermittlungsarbeit höchst erfolgreich Hand in Hand und greifen wie Zahnräder ineinander. Dafür muss man in Kauf nehmen, dass die ursprüngliche Ordnung dieser Räume in die neue Aufgeräumtheit einer per­ manenten Ausstellung übertragen wurde, ein Verfahren, das jede Form von Archivierung mit sich bringt, aber – so wird gern betont – einen „unausgesetzten Energie-Austausch“ (Methlagl 2009) fördert. Auch das Chaos von Bacons Atelier

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wurde beim Umzug von London nach Dublin ‚gebändigt‘. Kunsthistoriker und Archäologen bargen über 7.000 Gegenstände, darunter 1.500 Fotos, 570 Bücher oder Kataloge, 1.300 aus Büchern herausgerissene Seiten, 2.000 Stück Maluten­ silien, 100 zerstörte Leinwände und 70 Zeichnungen, unzählige Notizzettel, Briefe, Zeitungen, Zeitschriften, leere Champagnerkartons und Schallplatten aus dem Durcheinander des Ateliers (vgl. Cappock 2005). Jedes Einzelteil wurde foto­ grafiert und seine Fundstelle kartografiert. Sämtliche Ergebnisse dienten nicht nur dem originalgetreuen Wiederaufbau des Ateliers, sondern wurden auch in einer Datenbank archiviert und damit einer weiteren Erforschung zur Verfügung gestellt. Während der Umzug von Thomas Manns, Arnold Schönbergs, Ernst Blochs und Francis Bacons Arbeitsplatz ins Archiv als gelungen angesehen werden kann, muss man dies im Fall von Marcel Proust und dem Bestand seiner letzten Pariser Wohnung am Boulevard Haussmann verneinen, obwohl dies der Ort war, wo Prousts großes Erinnerungswerk Kontur erlangte. Das Mobiliar aus diesem mit Korkplatten gegen andringenden Lärm ausgeschlagenen Zimmer, das Proust gleichzeitig als Schlaf-, Arbeits- und Empfangszimmer diente und – wie Rainer Moritz findet – mehr einer „Isolierstation“ (Moritz 2015, 98) ähnelt, gelangte in das Pariser stadtgeschichtliche Musée Carnavalet. Dort werden Möbel und Acces­ soires seitdem auf engstem Raum in einem Verschlag ähnlichen Display gezeigt. Der Fall Proust zeigt überdies, welche diffusen Konsequenzen solche Umzüge ins Museum oder Archiv haben können. Während das nur bedingt authentische Haus der „Tante Léonie“, die im wirklichen Leben Françoise Elisabeth Joséphine Amiot hieß, in Illiers-Combray weniger als Station in der Biografie Prousts und mehr als Vorbild für den Schauplatz der fiktiven Erinnerungswelt des Erzählers in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als touristisches Highlight gepflegt wird, wird das „vielleicht berühmteste Schriftstellerzimmer der Literaturgeschichte“ (Moritz 2015, 98) als kontextlose Ansammlung von Requisiten aus dem Fundus gezeigt. Das Beispiel Proust zeigt die „Wesensveränderungen“ und den „Wirkungs­ verlust“ solcher Arrangements auf (Autsch 2005, 27), macht aber auch erkennbar, dass Lebensort, Arbeitstopografie und Werkgenese nicht automatisch eine Ein­ heit bilden, vielfach ein Konstrukt als Ergebnis kuratorischer Bemühungen sind. Der oft beschworene ‚genius loci‘ mit seinen scheinbar inhärenten Hinweisen auf den Ursprung bedeutender Kunstwerke wird damit grundsätzlich in Frage gestellt. Berühmtes Beispiel für diese Diskussion ist das rekonstruierte Atelier von Constantin Brancusi in einem von Renzo Piano errichteten Pavillon neben dem Pariser Centre Pompidou. Mit dieser Archivierung wurde einem Wunsch des Bildhauers entsprochen, der Atelier und Werke dem französischen Staat mit der Auflage vermacht hatte, sie mögen in ihrer ursprünglichen Form erhalten bleiben. Hinter diesem Wunsch stand die Befürchtung, dass seine Skulpturen außerhalb



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des Ateliers ihre Aura und Wirkung verlören. Brancusi sah allein im Atelier und nicht im Museum oder in der Galerie den einzig authentischen Ausstellungsraum. Mit dem Piano-Pavillon waren die räumlichen Voraussetzungen geschaffen worden, um Brancusis Atelier bis ins kleinste Detail am neuen Standort aufzu­ bauen. Nicht nur die Skulpturen erhielten ihre Werkstattumgebung und damit ihre Harmonie im Raum wieder, sondern auch Werkzeuge, Arbeitstische, Fotos, Bücher oder Schallplatten kehrten an ihren ursprünglichen und angestammten Platz zurück. Dennoch löste dieses Projekt kontroverse Diskussionen aus, die durch Äußerungen von Daniel Buren befeuert wurden, der das rekonstruierte Brancusi-Atelier für eine Manipulation hielt, weil nicht mehr Brancusis Wunsch, „die Gemachtheit seiner Arbeiten zu zeigen“, erkennbar sei, vielmehr seien die Skulpturen „von einem Installateur des Museums auf einen lächerlichen Sockel gehoben worden“ (Buren 2003, 61).

4 Das „Atelier im Kopf“ Das Renaissance-studiolo hatte man optimistisch als intellektuelles Tor zur Welt betrachtet. Diese Auffassung teilten viele Schriftsteller, bildende Künstler und Komponisten, wenn sie die Ausstattung ihrer Arbeitszimmer und Ateliers in Angriff nahmen. Arbeitszimmer und Atelier wurden daher lange als prädestinier­ ter und authentischer Ort der Werkentstehung sowohl von Künstlern selbst als auch von postumen Kuratoren idealisiert, obwohl diesem Konzept komplizierte Inszenierungen zugrunde liegen, die in musealisierter Form, wie wir sie heute besichtigen, leblos sind bzw. erst durch Erklärung lebendig und erlebbar werden. Jedes Arbeitszimmer oder Atelier, das wir besichtigen, ist die hybride Vermittlung „von Alt und Neu, Original und Reproduktion, Bild und Text, Kunstwerk und Medien“ (Autsch 2005, 52). Wenn der französische Maler und Bildhauer Daniel Buren feststellt, sein Atelier befinde sich ausschließlich in seinem Kopf (vgl. Buren 2003, 60), dann verbirgt sich hinter kunsttheoretischen Erwägungen auch die Sorge, der Künstler verliere die Deutungshoheit über das eigene Werk und dessen Entstehung, wenn er die Verantwortung für sein Atelier delegiere. Ähn­ liche Sorgen äußert Elias Canetti in Die Fliegenpein: Daß andere an meinem Leben herumfingern werden, erfüllt mich mit Widerwillen. Unter ihren Händen wird es ein anderes Leben werden. Ich will es aber so haben, wie es wirklich war. Ein Mittel finden, sein Leben so zu verbergen, daß es nur für die sichtbar wird, die klug genug sind, es nicht zu entstellen. (Canetti 1992, 126)

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Canetti hat im Gegensatz zu Victor Hugo dieses „Mittel“ nicht gefunden. Als weithin sichtbares Lebensdokument schuf sich Victor Hugo ein Haus in spekta­ kulärer Lage und mit sehenswertem Interieur auf der Insel Guernsey, wo er sich zwischen 1855 und 1870 im Exil befand. Die Gestaltung von Hauteville House mit seinen unzähligen kunst- und kulturhistorischen Anleihen steht ganz in der Tra­ dition des Künstler- oder Dichterhauses, wie wir es als Typus seit der Renaissance kennen und wie es seit der Romantik vielfältig wiederbelebt wurde. Es war weitab von den literarischen Zentren eine trotzige Demonstration von Überleben und Schreiben im Exil: Hauteville House ist Stein gewordene Literatur und Chiffre einer großen Freiheitssehnsucht. Das eindrucksvolle und ungemein rätselhafte Haus verbirgt wohl gerade deshalb die existenziellen Abgründe, die sich zwi­ schen exiliertem Dichter und dem Gestalter des eigenen Hauses nur wenige See­ meilen vom Heimatland entfernt auftut, wenn Hugo vermeintlich selbstironisch gegenüber dem Architekten Eugène-Emmanuel Viollet-le-Duc bekennt: „C’est dommage que je sois poète. Quel architecte j’aurais fait“ (zit. nach: Claretie 1902, 19; vgl. Charles 2003).

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Christiane Holm

Goethes Arbeitszimmer Überlegungen zur Diskursivierung des Dichterhauses um 1800 Goethes Weimarer Wohnhaus wurde gefeiert, lange bevor das Dichterhaus als Museumsformat in Europa institutionalisiert war. Daran wirkte der Dichter durchaus mit und er durfte davon ausgehen, dass das Haus auch nach seinem Tod für Einheimische wie Touristen diese privilegierte Stellung im Stadtraum behalten würde. Umso erstaunlicher ist es, dass Goethe bei aller sorgfältigen Kon­ zeption seines Testaments ganz offenkundig nicht damit rechnete, dass auch seine Wohnräume musealisiert werden könnten. In seinem Testament nämlich unterschied er erstens zwischen dem Haus mit Mobiliar, das die Familie erbte, zweitens den Handschriften, die er den Mitarbeitern bereits zu Lebzeiten in Form eines Archivs für die Editionsarbeiten überantwortet hatte, und drittens den Kunst- und Naturaliensammlungen, deren Verkauf erst nach der Volljährigkeit der Enkel und dann möglichst in eine öffentliche Einrichtung erfolgen sollten. Mit der vertraglichen Einsetzung von Friedrich Kräuter als Kustos und Archivar sowie von Johann Peter Eckermann, Friedrich Riemer und Friedrich von Müller als Herausgeber seiner nachgelassenen Werke war sowohl die Pflege als auch die Bearbeitung seines materiellen wie textuellen Nachlasses geregelt. Als jedoch nach seinem Tod diese Mitarbeiter begannen, die gesamte Ausstattung, nicht also nur die Manuskripte und Bücher, sondern auch alle Objekte und das Mobi­ liar des Arbeitszimmers zu inventarisieren, machten sie es zum Teil des schrift­ stellerischen Werks, und dehnten dieses Verfahren zunehmend auf weitere Wohnräume aus, was zu vielen Konflikten bis hin zu einem Rechtsstreit mit der Familie führte. Die Entstehung des europäischen Dichterhauses wurde in den letzten Jahren verstärkt zum Gegenstand kulturgeschichtlicher Forschung (vgl. Plachta 2011; Bohnenkamp-Renken et al. 2015; Kahl 2015). Gesichert ist nun, dass sich das musealisierte Wohnhaus als Format der Personengedenkstätte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts etablieren konnte, wobei die Dichterhäuser bezeichnenderweise den Großteil ausmachen (vgl. Breuer 2015). Dieser markante Befund einer privile­ gierten Verbindung von Wohnhaus und Literatur wird mit der Herausbildung nationaler Identität begründet, die durch die Dichter nicht nur als Denker, sondern als prominente Vertreter der Nationalsprache repräsentiert wird (vgl. Breuer und Kahl 2015; Kahl 2015). Ein weiterer Impuls wird in der longue durée der Säkularisierung gesehen, in deren Zuge Formen des katholischen Reliquien­ kultes und der protestantischen Andacht auf weltliche Personen übertragen DOI 10.1515/9783110466850-004, © 2017 Christiane Holm. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 License.

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wurden (vgl. Laube 2012, 197–264; Rhein 2015; Kaufmann 2015). Die einschlägigen Studien von Paul Kahl zur Musealisierung von Schillers und Goethes Weimarer Wohnhäusern können die skizzierte These durch die Erschließung und Auswer­ tung eines umfänglichen Quellenkorpus von amtlichen und journalistischen Schriften sowie autobiografischen Besucherberichten belegen, in denen die Rede von deutscher Identität mit der von „Heiligtum“ und „Tempel“ verkoppelt wird (vgl. Kahl 2008, 2010, 2012, 2015). So plausibel diese institutionsgeschichtliche und symbolpolitische Begründung ist, so bleibt doch die Frage nach der konkreten Anbindung des Werks an die pragmatische Einrichtung dieser bedeutsam gewor­ denen Häuser im blinden Fleck der Argumentation. Bezieht man die Kulturpraxis des Wohnens, und hiermit verbunden die Szenarien des Schreibens, mit ein, dann ergibt sich ein verändertes Bild. Es zeigt sich nämlich, dass – und an dieser Stelle sei die zentrale These des Beitrages bereits formuliert – die Diskursivierung des Dichterhauses als ‚Werkstatt des Dichters‘ einen eigenen und nicht zu unter­ schätzenden Anteil an der Etablierung des neuen Museumsformats hat. Am Beispiel von Goethes Einlassungen auf die Konzeption des Dichterhauses wird im Folgenden zuerst die Außenperspektive auf das Haus als Baukörper im öffentlichen Raum mit der Verschiebung in die Innenperspektive kontrastiert, in der die Werkstatt in den Blick kommt. Zweitens wird nach der Spezifik der Goetheʼschen Textwerkstatt gefragt, um auf dieser Folie drittens die Vermitt­ lungsarbeit von Goethes Kustoden und Philologen zu untersuchen, die die Idee eines Andachtsortes deutscher Kulturnation allein deshalb aufbrechen mussten, weil sie schon qua Amt die Praktiken der Werkstatt repräsentierten. Insofern wird der top-down-Perspektive nationaler Symbolpolitik eine bottom-up-Perspektive der Fortsetzung des Werkstattwesens aus dem Kreise der Mitarbeiter hinzuge­ fügt.

1 Hausdenkmal versus Wohnmuseum Anlässlich des 50-jährigen Regierungsjubiläums von Großherzog Carl August am 3. September 1825, in dem zugleich das 50-jährige Arbeitsleben Goethes am Wei­ marer Hof geehrt wurde, zeigte sich Goethes Wohnhaus am Frauenplan mit einem maßgeschneiderten, mit acht allegorischen Vignetten versehenen Girlanden­ schmuck (Abb. 1 a–c). Die gelehrten Bilder sollen den Besuchern zu denken geben, so führt die Festschrift aus; verraten wird nur, dass sie auf die literarischen wie auf die naturwissenschaftlichen Arbeiten verweisen, wie die eiserne Hand des Götz oder der farbgewaltige Regenbogen nahelegen. Bereits zwei Jahre vor diesem Festakt hatte das Journal des Luxus und der Moden in mehreren Folgen Kupferstiche der Wohnhäuser der vier Weimarer Klas­



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Abb. 1a: Goethes Hause im Festschmucke des 3ten Septembers 1825, kolorierter Kupferstich aus: Weimars Jubelfest am 3ten September 1825, Weimar 1825/26, Tafel 3.

Abb. 1b–c: Allegorische Vignetten des Hausschmucks (Ausschnitte aus Tafel 5).

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siker veröffentlicht. Dass die Hausherren Herder, Schiller und Wieland inzwi­ schen seit 20, 18 und 10 Jahren nicht mehr lebten, machen die Bildunterschriften mit dem Hinweis auf die aktuelle Nutzung der Häuser durch Familie oder Amts­ nachfolger kenntlich. Die in Bauzeilen eingefassten Stadthäuser werden durch eine leichte Untersicht sowie durch die Wahl des Bildausschnitts, im Falle von Schillers Haus mittels einer geschickten Blickführung durch die Baum bestan­ dene Esplanade, als solitäre massige Baukörper vorgeführt. Diese Monumentali­ sierung wird zudem durch die menschenleere Umgebung betont, da die für Stadt­ ansichten genreüblichen Staffagefiguren fehlen. Begleitet werden die HausAnsichten durch Sonette des Weimarer Schriftstellers Stephan Schütze. Sie begeben sich in die Wahrnehmungsperspektive eines Besuchers, der die Weima­ rer Dichter nicht bzw. nicht mehr persönlich kennenlernte, mit deren Werk aber bestens vertraut ist, sodass er „[f]ragt, wo der gelebt, der lebend ganz ihn füllt, – –“ (Schütze 1823, 63). Das dichterische Werk wird folglich nicht im Inneren der Häuser, sondern im Leser lebendig. Dieses allegorische Konzept entspricht dem zwei Jahre später montierten Hausschmuck zum Regierungsjubiläum: Das Haus fungiert als Denkbild, das durch das Lektürewissen des Lesers zum Werk führt. Sein sur plus gegenüber anderen Formen des Denkmals wie etwa dem DichterPorträt ist, so beschreibt es Johann Gottfried Schadow, dass „wir seine [in diesem Falle Luthers, Anm. C. H.] Nähe hier noch unmittelbarer fühlen als im Bilde“ (Schadow 1825, 93). Die gefühlte Nähe zum Autor vollzieht sich auf affektiver Ebene, die Vergegenwärtigung des Werkes jedoch führt vom konkreten Baukör­ per weg. Insofern funktioniert das Haus als Behältnis im Sinne der allegorischen Schale-Kern-Figur, denn die Schale ist substanziell nicht mit dem Kern verbun­ den, sondern sie birgt einen dichtenden Geist bzw. seine Texte. Der plastische Baukörper verweist auf das geschlossene Werk, nicht auf die Prozesse in der Werkstatt. Entscheidend für das Hausdenkmal ist, dass und was der Dichter, nicht wie er dort geschrieben hat. Nach Eckermann ging Goethe selbst mit dieser Art Haustourismus gelassen um; so kommentierte er etwa die Nachricht, dass man Rom-Touristen derzeit eine falsche Casa di Goethe zeige: „Aber das tut nichts; solche Dinge sind im Grunde gleichgültig, und man muß der Tradition ihren Lauf lassen“ (Eckermann 1976 [1836], 352).1

1 Goethe hatte selbst Teil an dieser Form des Haustourismus, etwa als er 1786 die „Casa di Palla­ dio“ in Vicenca aufsuchte und notierte: „ich hatte immer eine besondere Vorliebe dafür; aber in der Nähe ist noch weit mehr, ist es erst was man sich gar nicht abwesend denken kann“ (Goethe 1998 [1786], Bd. I, 1, 229). In einem vergleichbaren Sinne greift Goethe auf den Baukörper als Stellvertreter des Autors zu, als er sein Konzept von Weltliteratur im Vorwort zur Übersetzung



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Auch das Haus am Frauenplan beginnt ein mediales Eigenleben außerhalb literaturtouristischer Aneignungen: In den letzten Wochen seines Lebens erhält der Hausherr ein Schreiben mit seinem eigenen Haus im gedruckten und kolorier­ ten Briefkopf. Ein ehemaliger Besucher seines Hauses und engagierter Leser seines Werks, der Entomologe Carl August Dohrn, präsentiert ihm sein neues Briefpapier mit dem „merkwürdigen Haus“, das er in „reichlichen Exemplaren für [s]eine Freunde“ hat herstellen lassen, „die es nicht kennen, aber den Besitzer hoch verehren“ (Dohrn 1832, 1r). Dieses Haus braucht bezeichnenderweise keinen Untertitel mehr, es ist zur Ikone geworden. Das populäre Konzept des Hausdenkmals als statuarischer Baukörper im öffentlichen Raum wird um 1800 durch unabhängig von prominenten Bewoh­ nern entwickelte Zeigeformate modelliert, die auf die Innenseite des Haus fokus­ sieren. Dabei bildet sich das Wohnen als Kulturmuster aus, das nicht mehr auf Repräsentation des Bewohners durch die Einrichtung, sondern auf die Identität von Einrichtung und Bewohner zielt (vgl. Böhmer et al. 2012, 167–169). Das lässt sich durch das Aufkommen neuer Text-, Bild- und Raumformate belegen. Einrich­ tungsratgeber, und hier spielt das schon genannte Journal des Luxus und der Moden eine tonangebend Rolle, propagieren einen individuellen, dem Leib wie den Eigenarten des Bewohners angepassten Wohnraum, das Genre der literari­ schen Zimmerreise erforscht das Interieur zeit- und lebensgeschichtlich (vgl. Wichard 2012, 47–135; Stiegler 2010). Eine aussagekräftige Gattungsinnovation der Bildkunst findet sich im Zimmerbildnis: Porträtiert wird nicht mehr der Bewohner mit seinen um ihn herum arrangierten Einrichtungsgegenständen, sondern gezeigt wird ein Zimmer in Abwesenheit seines Bewohners, das heißt das Parergon wird zum Ergon (vgl. Chapeaurouge 1960; Arburg 1997). Der Porträt­ charakter entsteht durch die Spannung zwischen intentionaler Einrichtung und unwillkürlicher Unordnung. Die Aufmerksamkeit für Wohnspuren und ihre Les­ barkeit wird vom bereits auslaufenden physiognomischen Trend des 18. Jahrhun­ derts gestützt, sie werden jedoch zunehmend der semiotisch nicht fassbaren Atmosphäre zugeschlagen (vgl. Oesterle 2013, 550–555). Die in den neuen Textund Bildgattungen erfolgende Diskursivierung des Wohnens wird zudem in Mus­ terzimmern fassbar, wenn englische Innenarchitekten wie Thomas Hope und John Soane ihre Programmtexte an der eigenen Hauseinrichtung plausibilisieren und ihre Häuser als geschmacksleitende Wohnmuseen für Besucher öffnen (vgl. Holm 2015, 235–240, 249–251). Vor dem Hintergrund dieser weitreichenden For­

von Thomas Carlyles Schiller-Biografie anhand der buchgestalterisch in Szene gesetzten Gegen­ überstellung der Schreibhäuser von Schiller in Weimar und Jena mit dem von Thomas Carlyle in Schottland reflektierte (vgl. Holm 2015, 238–240).

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matierung des Interieurs wird nachvollziehbar, dass Dichter wie Horace Walpole und Walter Scott die Einrichtung ihrer Häuser zum Beiwerk des literarischen Werks machen und sie prominent in die Werkpolitik einbinden. Goethe hat sich nicht nur mit dem etablierten Typus des Hausdenkmals, sondern auch mit dem neuen Konzept des Wohnmuseums befasst, als er sich 1817 für die Gestaltung von Schillers ehemaligem Jenaer Gartenhaus einsetzte, das bereits von Einheimischen wie Reisenden aufgesucht wurde. Das kleine, turm­ ähnliche Häuschen, Goethe nannte es auch die Gartenzinne, bestand einzig aus einem Arbeitsraum. Aufgestellt werden sollte eine Schiller-Büste, an die Wände gebracht eine gerahmte Handschrift sowie Goethes Epilog auf die Glocke für Schillers Trauerfeier. Für das eigentliche Zentrum war eine Schreibszene vorgese­ hen: „Hierzu wünscht‘ ich nur einen Stuhl, einen kleinen Tisch, dessen er sich bedient. Vielleicht Tintenfaß, Feder oder irgendeine Reliquie“ (Goethes Werke, Abt. IV, Bd. 28, 34). Das Originalmobiliar, und Goethe nennt bezeichnenderweise nur die Objektgattung, war allein durch die Beigaben als Inszenierung gekenn­ zeichnet: Die Papiere liegen nicht auf dem Tisch, sondern erhalten unter Glas und an der Wand den Status von Bildern, die Büste holt den Abwesenden als Kunstwerk in den Raum. Von Schillers Arbeitsgewohnheiten, die Goethe andern­ orts beschrieben hatte, vermittelt er nichts: Dann nämlich hätte er neben jeder Menge Kaffee und Tabakware auch gammlige Äpfel in Greifnähe positioniert und das kleine Zimmer mit topografischen Ansichten tapeziert, da der Verstorbene, wie Goethe später überlieferte, während seiner Arbeit am Wilhelm Tell „alle Wände seines Zimmers mit soviel Spezialkarten der Schweiz […] bekleben [ließ], als er auftreiben konnte“ (Goethes Gespräche 1998 [1822], Bd. 5, 175). Goethes Musealisierungsinitiative scheiterte und bereits zwei Jahre später wurde die Gartenzinne abgetragen. Die Erfahrung, dass dieser kleine, auf ein Arbeitszimmer konzentrierte Bau nicht bewahrt werden konnte, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Vor diesem Hintergrund war es tatsächlich undenk­ bar, dass ein gutes Jahrzehnt später in Goethes Falle der mehrräumige Arbeits­ trakt und sogar das ganze Wohnhaus am Frauenplan musealisiert werden konnten. Zudem wird gerade auf der Folie des Einrichtungskonzepts für Schillers Gartenzinne deutlich, wie viel dagegen sprach, Goethes Arbeitstrakt auf Dauer zu stellen. Erstens zeigte er den Dichter nicht als solitären Schreiber, sondern einge­ bunden in einen Werkstattbetrieb mit zahlreichen und wechselnden Mitarbei­ tern, und zweitens mussten die Räume diese Werkstattfunktion beibehalten, denn mit Goethes Tod war die Arbeit am Text keineswegs abgeschlossen.



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2 Goethes Textwerkstatt Goethes Textwerkstatt war in einem abgeschlossenen Trakt im Hinterhaus situ­ iert und bestand aus einem zentralen Raum mit Ofen (siehe Abb. 2), Goethe nannte ihn „Wohnzimmer“, umgeben von einem Vorraum mit Mineralienschrän­ ken, einer Bibliothek, einem Schlafzimmer und einem Schreiberzimmer (Goethes Werke, Abt. IV, Bd. 13, 289). Selten war Goethe in diesem Raum allein, neben den Schreibern unterstützte im letzten Jahrzehnt ein Stab von Mitarbeitern die Erstel­ lung der Werkausgabe letzter Hand. Auffällig ist zudem, dass der Hausherr, solange es die Räume erlaubten, seine Mitarbeiter gern zu Mitbewohnern machte, so lebten Meyer und später Riemer jahrelang in der Mansarde, Eckermann war regelmäßig Tischgast. Nachdem im Zuge einer Umbaumaßnahme des Hauses in den frühen 1790ern der Arbeitstrakt eingerichtet war, änderte sich Goethes Schreibverhalten dahin­ gehend, dass er nun fast ausschließlich diktierte – selbst die Aufzeichnungen im Tagebuch. Seine Vorliebe für das Diktat hat er mehrfach mit der ihm angenehme­ ren Körperhaltung und Bewegungsmöglichkeit begründet. Einer seiner Korres­ pondentinnen gegenüber erklärte er, dass die visuelle Fixierung auf das weiße Blatt sein Vorstellungs- und somit auch Schreibvermögen ungünstig beeinflusse, hingegen „wenn ich im Zimmer auf und ab gehe mich mit entfernten Freunden vertraut unterhalten kann und eine vertraute Feder meine Worte auffängt; so kann etwas in die Ferne gelangen“ (Goethes Werke, Abt. IV, Bd. 20, 179). Zum

Abb. 2: Goethes Arbeitszimmer im Wohnhaus am Frauenplan in Weimar.

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Ende seines Lebens befinden sich sieben Arbeitstische in seinem Zimmer, die ver­ schiedenen Stilepochen angehören: etwa eine etwas gedrungene frühklassizisti­ sche Schreibkommode neben einem eleganten Bureau Plat, ein mit Zierelemen­ ten versehenes Zeichenpult neben einem schmucklosen, aus nachgenutzten Einzelteilen zusammengesetzten Stehpult. Der zentrale runde Tisch diente nicht nur kleinen Mahlzeiten, sondern hier nahm auch der Schreiber Platz. Dieses räumliche Zentrum ist von der alle vier Wände umlaufenden Schreibtischland­ schaft gerahmt, durch die sich der Diktierende bewegen konnte. An der West­ wand war der wichtigste Arbeitstisch des Hausherrn positioniert, den er „mein Schreibtisch“ oder auch den „großen Schreibtisch“ nannte (Goethes Werke, Abt. IV, Bd. 27, 134; Abt. IV, Bd. 21, 212). Er enthielt nicht nur Schreibpapiere, wichtige Arbeitsdokumente, Urkunden, Geld sowie die Schlüssel zu all den anderen Behältnismöbeln, sondern auch Mappen und Schachteln mit persönlichen Erin­ nerungsstücken (vgl. Böhmer et al. 2012, 216–220). Dieses künstlerisch anspruchs­ vollste Stück des Möbelensembles des Arbeitszimmers erfuhr mehrere Umbau­ maßnahmen, in deren Verlauf es fragmentiert und neu zusammengefügt wurde, um seine Tischfläche auf eine Länge von über drei Metern und seine Aufsatz­ schränkchen um verschiedene Repositorien zu erweitern, was die Ablage­fläche sowie den Stauraum nahezu verdoppelte (vgl. Holm 2012, 116). Auch an anderen Schreibmöbeln des Arbeitszimmers sind mehrere Umbauten nachvollziehbar. Das große Stehpult besteht aus einzelnen Schrank-Modulen, die später durch den Pultaufsatz verklammert wurden, und in den 1795 gefertigten Schreibtisch an der Nordwand wurde zwischen den Kästen ein Einlegeboden für Großformate einge­ zogen. Durch die räumliche Anordnung der Schreibtische an den Wänden um das Zentrum des runden Tisches herum wird das materialästhetisch und stilge­ schichtlich äußerst heterogene Mobiliar zu vielfach gestaffelten Vertikalen gefügt. Im Zustand von 1832 sind neben den Papiersachen eine große Zahl an hand­ lichen Gegenständen, vor allem Fundstücke und seriell gefertigte Nippes-Sachen, auf den Tischen und in den Repositorien verzeichnet, und an den Wänden befan­ den sich Schriftstücke, jedoch kein einziges Kunstwerk (vgl. Acta Goethescher Nachlaß 1832; Wahl 1942). Wie Briefdokumente bezeugen, wurden auf den umlau­ fenden Stellflächen wechselnde Arrangements von Büchern sowie Dingen des aktuellen wissenschaftlichen und ästhetischen Interesses oder auch Andenkens vor Augen gestellt. Als Kommentar auf dieses Ausstellungsverfahren im Wohn­ raum lässt sich eine von Eckermann überlieferte Aussage heranziehen: Ich bin in einer prächtigen Wohnung, wie ich sie in Karlsbad gehabt, sogleich faul und untätig. Geringe Wohnung dagegen, wie dieses schlechte Zimmer, worin wir sind, ein wenig unordentlich ordentlich, ein wenig zigeunerhaft, ist für mich das Rechte; es lässt meiner



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inneren Natur volle Freiheit, tätig zu sein und aus mir selber zu schaffen. (Eckermann 1976 [1836], 329)

Mit den durch die Schreibtischlandschaft vagabundierenden Objekten vermi­ schen sich verschiedene Lebensbereiche und Arbeitsinhalte. Goethe beschrieb sein auf situative sinnliche Eindrücke gerichtetes Verfahren an anderer Stelle auch als „Gespräche mit den Dingen“ (Goethe 1998 [1786], Bd. I, 1, 229). Diese dialogische Perspektive, die den Objekten den Status von Akteuren einräumt, ist Teil der Goetheʼschen Arbeitseinrichtung.

3 Die Musealisierung der Werkstatt des Dichters durch Goethes Mitarbeiter Als Carl August Böttiger bereits zwei Monate nach Goethes Tod in der Augsburger Allgemeinen Zeitung die Musealisierung von Goethes Weimarer Wohnhaus mit der gesamten Inneneinrichtung und somit einen bis dahin in Deutschland völlig neuen Museumstyp forderte, setzte der über ein halbes Jahrhundert andauernde Musealisierungsprozess ein, der durch Interessenkonflikte zwischen Familie, ehemaligen Mitarbeitern und Herzogtum, schließlich auch des deutschen Bundes, immer wieder abbrach und neu einsetzte.2 Als 1886 das Haus mit der Reinszenierung der Wohnräume als Goethe-Nationalmuseum öffnete, waren die Manuskripte bereits in das Goethe-Archiv verbracht worden, die Zeitzeugen des Werkstattwesens lebten nicht mehr und eine neue Philologengeneration simu­ lierte angesichts der Archivalien die Werkstattsituation in methodischer Hinsicht (vgl. Kruckis 1994; Thaler 2011; Sina und Spoerhase 2013). Bei der Inventarisierung von Goethes Arbeitszimmer wendeten die philolo­ gisch geschulten Mitarbeiter das von ihm selbst in einem Aufsatz über den Umgang mit den Manuskripten formulierte Nachlass-Prinzip auf die komplette Einrichtung an, wonach jedes, auch das vermeintlich geringste Stück archivie­ rungswert ist (vgl. Goethes Werke, I. Abt., 41,2. Bd., 25–28). Ihre Arbeit am Nach­ lass führte schließlich dazu, dass der ganze Arbeitstrakt verschlossen und folg­ lich der im Haus lebenden Familie der Zutritt unterbunden wurde. Dass Ottilie von Goethe es letztlich akzeptierte, hing sicherlich mit der pragmatischen Werkstatt­ funktion für die Werkausgabe zusammen, da die Papiere schließlich irgendwo

2 Die folgende Auswahl an Zeugnissen konnte aus der überaus kenntnisreich zusammengestell­ ten Quellensammlung von Paul Kahl und Henrik Kalvelage (2015) schöpfen, einer Arbeit, der auch der vorliegende Beitrag viel verdankt.

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gelagert und bearbeitet werden mussten. Interessanterweise veröffentlichten alle Bearbeiter der nachgelassenen Schriften, Eckermann, Riemer und Müller, Gespräche mit Goethe, und stellten darin die Arbeit in dieser Werkstatt zu dessen Lebzeiten dar. Ergeben die drei Gesprächsbücher auch kein widerspruchsfreies Bild von der Einrichtung der Werkstatt, so zeichnet sich in ihnen doch eine gemeinsame Imagepolitik ab (vgl. Botor 1999). Es ging erstens, gerade mit Blick auf die Vorwürfe der jungdeutschen Autoren, darum, Goethe vom Vorwurf des devoten Fürstendieners zu befreien. Zweitens wird die Einfachheit der Einrich­ tung, insbesondere die Form und Oberflächengestaltung des raumbestimmen­ den Mobiliars, als gezielt eingerichtete Wahrnehmungssituation zur Steigerung der Kreativität präsentiert. Jedoch erscheinen diese Räume keinesfalls leer, sondern, das wird bei Eckermann hervorgehoben, sie werden durch eine Fülle wechselnder Objekte bespielt, die in die Arbeit eingebunden sind oder zu Gesprächsanlässen dienen. Die zahlreich erhaltenen Berichte von Besuchern nach Goethes Tod notieren, dass Kräuter, Eckermann und Müller in ihren Präsentationen des Arbeitszimmers auch auf die Fülle der vermeintlich unscheinbaren Objekte eingegangen sind. Dabei scheinen sie sich vornehmlich auf solche konzentriert zu haben, die Modellcharakter für nicht greifbare Zusammenhänge haben. Der auf dem Steh­ pult positionierte Tetraeder, eine selbst gefertigte Papierarbeit, setzt die vier See­ lenvermögen Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft und Phantasie miteinander ins Verhältnis. Durch den Zeilenlauf der Beschriftung ist die Sinnlichkeit der grün kolorierten Grundfläche zugeordnet und erhält somit eine Basisfunktion für gedankliche wie kreative Seelenarbeit (vgl. Böhmer et al. 2012, 180–181). Beson­ ders erstaunen musste die Besucher, dass nicht nur im Arbeitsraum, sondern auch im Schlafzimmer Tabellen aufgehängt waren. Sie zeigten einen Entwurf von Goethe an der Tonlehre, Meyers Tabelle zur Kunstgeschichte und einen Quer­ schnitt des Geologen Henry Thomas de la Bèche durch das Erdreich. Alle drei Tabellen visuali­sierten also die Erschließung neuer Wissensfelder (vgl. Böhmer et al. 2012, 192–193). Aufmerksamkeit erhielt auch der auf dem großen Stehpult vor einem Spiegel positionierte Parfümflakon in Form einer Napoleonbüste, den Goethe wegen seiner prismatischen Effekte gleichermaßen als farb- und als genieästhetisches Reflexionsangebot schätzte (vgl. Holler und Knebel 2011, 114–115). Gerade diese Objekte, die wegen ihrer seriellen oder dilettantischen Machart zunächst wertlos wirken, werden als zentrale Reflexionsmedien model­ liert, welche die Werkstatt ganz im Sinne eines „Gesprächs mit den Dingen“ zum sinnlich erfahrbaren Denkraum machen. Die Berichte der Besucher unterscheiden sich grundsätzlich danach, ob diese das Haus erstmals betreten oder ob sie es bereits zu Lebzeiten des Hausherrn von innen kennenlernen konnten, jedoch erstmals den bisher konsequent verschlos­



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senen Arbeitsbereich einsehen durften. In beiden Fällen nehmen sie keinesfalls ohne Weiteres eine Haltung der Andacht ein, weil die Erfahrung der Enge domi­ niert. So notiert Carl Gustav Carus, der das Vorderhaus zu Goethes Lebzeiten gut kannte, von seinem Besuch 1836: Ich habe wohl im Scherz gesagt: „es müßte hübsch sein, wenn man Häuser aus Gummielasticum zu bauen wüßte, damit sie nach dem Bedürfnis der Bewohner bald erweitert, bald zusammengezogen werden könnten“, nun, dieses Haus schien mir wirklich jetzt ganz zusammengeschrumpft und klein, wie es mir damals, als Goethe dort noch waltete, mächtig und palastartig erschienen war. Es gab ein eigenes, wehmütiges Gefühl, das seinen Höhe­ punkt erreichte, als das kleine Kämmerchen sich öffnete, worin das alte Hölzerbett stand, auf welchem er starb! (Carus 2015 [1865], 86)

Das kleinteilige Hinterhaus wird nicht als eigener Baukörper vom Vorderhaus unterschieden, zudem wird der dort situierte Arbeitsbereich völlig ausgeblendet. Carus reflektiert seine Raumwahrnehmung als Effekt der Raumpraxis, und so wird nachvollziehbar, dass eine Werkstatt außer Betrieb nicht darstellbar ist. Jüngere, andächtig gestimmte Besucher, die das Haus erstmals betreten, reagieren mitunter geschockt auf die Innenräume. Wenige Monate nach Goethes Tod tritt der junge Leipziger Verleger Brockhaus zwar „[m]it einer Art Schauer ein“, ist dann aber „wunderbar überrascht, wenn man alles so einfach und bescheiden, fast ärmlich findet“ (Brockhaus 2015 [1884], 71). Der russische Litera­ turwissenschaftler Stepan Schewyrjow notiert wenige Jahre später unumwunden „kleine, enge, bis zur Armseligkeit dürftige Räume“, und der österreichische Jour­ nalist Zacharias Konrad Lecher drückt sich 1849 noch unmissverständlicher aus: Diese eigentlichen Wohnräume des großen Mannes sind, gerade herausgesagt, ein hygieni­ scher Scandal sondergleichen; keine Sanitätscommission von heute […] würde den Woh­ nungsconsens für solche Anlage geben. […] Welche eiserne Gesundheit musste Goethe von seinem Urgroßvater, dem Grobschmied, ererbt haben, dass er da nicht vorzeitig an Rheuma­ tismus und dessen Folgeleiden dahinsiechte; die Wände beider Zimmer sind grün gefärbelt; in Wien besorgt so was jeder Hausmeister wenigstens ebenso schön. Sie sind niedrig, die Fenster eng und klein, schmal […]. Alle Möbel aus unpoliertem, nicht einmal geöltem NaturEichenholz weisen auf einen bescheidenen Tischler, der sorgsam, aber wenig geschickt, die Modeformen, die dem eigentlichen Empirestil vorausgegangen sind, nachzuahmen sich bemühte. (Lecher 2015 [1899], 558)

Neben den unverrückbaren Maßstäben der Haushygiene und handwerklichen Qualität zieht Lecher zumindest als relativierenden Faktor die stilgeschichtliche Distanz mit ein. Ganz in diesem Sinne fangen viele Besucher die Verwunderung über die vermeintliche Ärmlichkeit der Einrichtung mit entsprechenden ge‑ schmacks- und mentalitätsgeschichtlichen Begründungen auf. So datiert Lechers

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Landsmann, der Schriftsteller Alexander von Ungern-Sternberg, bei seinem Haus­ besuch 1840 den Arbeitstrakt gleich um ein Jahrhundert zurück: Unsere modernen Dichter werden dieses alles sehr wunderlich finden. Und je mehr dieses kleine Stückchen achtzehntes Jahrhundert, das in diesen engen Räumen eingeschlossen ist, von unsern Tagen weiter gerückt wird, desto wunderlicher müssen diese Zimmer weiter erscheinen. (Ungern-Sternberg 2015 [1840], 115)

Jedoch auch die konsequente Historisierung der Einrichtung vermochte nicht immer die Verunsicherung beim Blick in Goethes Werkstatt auszuräumen. So geht es Karl Immermann bei seinem Erstbesuch des Hauses 1847, der zunächst sein durch Besucherberichte geformtes Bild der Empfangsräume durch den „Style früherer Einrichtungsart“ und „Wohnung eines Altvaters“ zu korrigieren weiß, jedoch greifen diese kultur- und lebensgeschichtlichen Argumente im Arbeitszimmer nicht: Ich erinnerte mich aus Eckermanns Gesprächen der gelegentlichen Aeußerung Götheʼs, die mich hohe Simplicität erwarten ließen, aber wieder war die Wirklichkeit anders. Dieses kleine, niedrige, schmucklose, grüne Zimmerchen mit den dunkeln Rouleaux von Rasch, den abgeschabten Fensterbrettern, den zum Theil morsch gewordenen Rahmen war also der Ort, von dem aus sich eine solche Fülle des glänzendsten Lichtes ergossen hatte! (Immermann 2015 [1837], 95–96)

Hier hatte sich offenkundig durch die Hausführungen bereits ein Muster etab­ liert, das zunehmend durch die publizierten Gespräche mit Goethe gestützt werden konnte: Zunächst wird die ästhetische Verunsicherung der Besucher exponiert, indem die Kargheit der Einrichtung, insbesondere das Fehlen von Raumtextilien und die Dominanz der unpolierten Holzflächen thematisiert wird, um diese dann mit der überbordenden Produktivität bis ins hohe Alter hinein zu kontrastieren und in ein Verhältnis zu setzen. Schließlich sind es die durchaus Goethe-kritischen Jungdeutschen, die diese nunmehr etablierten Muster in den Luxusdiskurs einspannen und mit ihren jour­ nalistischen Publikationen die Werkstatt weiter modellieren, indem sie die Frage nach der künstlerischen Kreativität in ihre Gegenwart überführen. Walter Benja­ min wird, das sei zumindest an dieser Stelle angemerkt, daran anknüpfen.3 Hein­

3 Annegret Pelz und Jürgen Thaler untersuchen Walter Benjamins Neuformulierung dieser be­ reits bestehenden deskriptiven Muster in der Darstellung von Goethes Arbeitszimmer. Vgl. die Aufsätze in diesem Band.



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rich Laube spielt auf die Präsenz des Dichterhauses in den kleinformatigen Publi­ kationen4 an: Unweit des Theaters bückt sich ein kleines Häuschen, zusammengeknickt und von grünen, ausgeblichnen Jalousieen versperrt wie ein abgegriffenes Taschenkalenderchen – das war Schillers Haus. Fast überall, wo ich Schillers häuslicher Wirksamkeit nachgespürt habe, sind mir kleine, niedrige Räume begegnet; man sollte denken, die hoch auffliegenden Gestalten seiner Poesie hätten sich die Köpfe einstoßen müssen an der niedrigen Decke. […] Stattlicher ist allerdings das Goethesche [Haus], aber man muß sich keine Palastvor­ stellungen machen, wie manche Beschreibungen veranlassen könnte: […] istʼs eben nur ein hübsches Wohnhaus, wie es der Berliner Banquier schöner hat […]. Goethes eigentliche literarische Häuslichkeit nun hat nicht einmal etwas mit diesem artigen Hause zu thun, sie ist in einem kleinen Hinterstübchen zu suchen, was gar nicht in die volle Figur des neuen Hauses zu gehören scheint. Dies Arbeitszimmer ist klein, einfach und schmucklos, und nur diese größte Einfachheit, der Mangel allen modernen Komforts, der Mangel der Gardinen, eines Sophas erinnert an antike Schmucklosigkeit, eine antike Mahnung, die manches andere Dachstübchen mit ihr gemein hat. (Laube 2015 [1837], 80)

Und Karl Gutzkow knüpft bei seinem zeitnahen Besuch an diese Überlegung an, gibt ihr jedoch eine andere Wendung, die er 1838 unter dem Titel Ein Besuch bei Goethe publiziert: Auch dies Arbeitzimmer hab‘ ich gesehen. Es ist allgemein bekannt, daß es ausnehmend einfach ist, ohne Sofa, nur mit eichnen unpolierten Stühlen und Tischen besetzt; aber weniger bekannt ist es, daß auch in dieser Einfachheit ein großer Luxus liegt. Wenigstens muß es für einen vornehmen Geist Genuß sein in einer solchen Umgebung nur sein Inners­ tes als das Kostbarste auszustellen. Sind wir in unsern Wohnzimmern abgespannt, der Erre­ gung bedürfend, ja dann mögen die glänzenden Möbel und die Goldleisten an den Wänden für uns geistreich sein. Dann mag die schimmernde Astrallampe das sagen, was uns nicht einfällt, und die seidenen Tapeten reden, während wir stillschweigen. Wer kann schaffen, wenn man rings mit Schöpfungen umgeben ist? […] Nein, der echte Dichter wohnt wie Goethe und findet es sogar pikant und jedenfalls am anregendsten, in einem Zimmer zu schaffen, wo nichts als nackte Wände, ein eichener Stuhl, ein gleicher Tisch ihm zu Gebote stehen. Das übrige wird die Phantasie hinzutun. (Gutzkow 2015 [1838], 98–99)

Anders als bei den stil- oder modebewussten Zeitgenossen, verlegen Laube und Gutzkow das Arbeitszimmer nicht in das 18. Jahrhundert, sondern überführen es in das duale Zeitregister von Antike und Moderne. Als antike Einrichtung erhält

4 Neben der schon genannten Abbildung im Journal des Luxus und der Moden ist besonders an die auf einen blasstürkisfarbenen Umschlag gedruckten Abbildungen von Schillers Weimarer Stadt- nebst Jenaer Gartenhaus auf der 1830 erschienenen Schiller-Biografie von Thomas Carlyle zu denken (vgl. Holm 2015, 238–239).

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Goethes Werkstatt normative Kraft, jedoch nicht mit Blick auf das klassizistische Simplizitätspostulat, sondern in zeitkritischer Manier als bewusster Ausstieg aus der Konsumkultur. Bezeichnend ist, dass in der daraus abgeleiteten Typisierung genau das Spezifikum der für viele Menschen und Dinge eingerichteten Goetheʼ­ schen Werkstatt ausgeblendet wird: Die vollgehängten Wände werden bereinigt, die vielen Tische und Stühle werden auf den Singular dezimiert. Wie unterschiedlich die Besucher mit Blick auf ihre Beziehung zu Goethe, aber auch in generationeller und nationaler Hinsicht ausgerichtet sind, ihr Blick in die Werkstatt des Dichters ist eher mit dem idealtypischen Konzept der Ein­ raumwohnung von Schillers Gartenzinne kompatibel als mit dem dicht gefügten Arbeitstrakt Goethes. Entgegen der realen Werkstattsituation also obsiegt das Erzählmuster, dass ein Minimum an Innenraumgestaltung ein Maximum an dich­ terischer Produktivität eröffnet. Zugleich führen die zahlreichen Besucherbe­ richte vor der Institutionalisierung des Dichterhauses vor, dass die kulturelle Wahrnehmung eines Stückes aus der Zeit gefallener Arbeitsumgebung erst einge­ übt werden musste.

Literaturverzeichnis Acta den pp. von Goethe’schen Nachlas betr. und zwar insbesondere die Verzeichnung der in dem Arbeitszimmer, in dem Deckenzimmer und in dem Bustenzimmer vorgefundenen Gegenstande betr. In Gegenwart des Herrn Geheimen Rats und Kanzler von Müller als Testamentsvollstrecker weiland sr. Exzellenz des Herrn Geh. Raths und Staatsministers von Goethe. Herr Hofrath und Bibliothekar Riemer, Herr Dr. Eckermann und Herr Bibliothekssekretar Krauter als Kustos der von Goetheschen Sammlungen. Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Sign. 38/N1. Arburg, Hans-Georg von. „Seelengehäuse. Das Raumproblem im physiognomischen Diskurs vom ausgehenden 18. bis ins frühe 19. Jahrhundert“. Symbolik von Ort und Raum. Hg. Paul Michel. Bern: Lang, 1997. 33–69. Böhmer, Sebastian, Christiane Holm, Veronika Spinner und Thorsten Valk (Hg.). Weimarer Klassik. Kultur des Sinnlichen. München: Deutscher Kunstverlag, 2012. Bohnenkamp-Renken, Anne, Constanze Breuer, Paul Kahl und Stefan Rhein (Hg.). Häuser der Erinnerung. Zur Geschichte der Personengedenkstätte in Deutschland. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2015. Botor, Michael. Gespräche mit Goethe. Studien zu Funktion und Geschichte eines biographischen Genres. Siegen: Böschen, 1999. Breuer, Constanze, und Paul Kahl. „Nationalmuseen als personalisierte Erinnerungsorte. Zu einem Phänomen des 19. Jahrhunderts am Sonderfall des Goethe-Nationalmuseums in Weimar“. Häuser der Erinnerung. Zur Geschichte der Personengedenkstätte in Deutschland. Hg. Anne Bohnenkamp, Constanze Breuer, Paul Kahl und Stefan Rhein. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2015. 197–209.



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Annegret Pelz

Philologie im Zeichen der Tischszene Walter Benjamin in Goethes Werkstatt Im Juni 1928 macht Benjamin in Weimar Station, um sich, wie er in einem Brief an Gershom Scholem schreibt, „zum Gedeihen meines Enzyklopädie-Artikels wieder einmal die Goethiana, die ich länger als zehn Jahre nicht sah, [zu] vergegenwärti­ gen“ (Benjamin GS, IV.2, 991). Während politische und ästhetische Differenzen mit den Moskauer Herausgebern der Große[n] Sowjetische[n] Enzyklopädie das Erscheinen des geplanten Artikels verzögern (vgl. Papst 2015; Lindner 2011), druckt die Neue Schweizer Rundschau das Denkbild Weimar (Benjamin GS, IV.1, 353–355) im Oktober 1928. In Briefen an Hugo von Hofmannsthal und Scholem bezeichnet Benjamin diese Miszelle als Komplement zu Marseille und als „Neben­ produkt“, „kleines Weimar“ und „Essenz“ des Goethe-Artikels (Benjamin GS, IV.2, 991). Das Denkbild macht die geschichtshaltige Stadt und Goethes Arbeitszimmer zu einem Modell philologischer Reflexion, die an den Gegebenheiten im Labor (vgl. Latour 2005) bzw. in der Werkstatt des Dichters ansetzt. Im Unterschied zu der industrialisierten, gegenwärtigen Hafenstadt Marseille, deren Darstellung einem „erbitterten Kampf“ gleicht (Müller Farguell 2011, 629), erscheint Weimar, der Symbolraum literaturwissenschaftlicher Theorien- und Methodenentwick­ lung, als ein geeigneter Ort für die Forderung nach einem philologischen Para­ digmenwechsel. Benjamin gibt seinem philologiekritischen Artikel jedoch nicht die Form einer Abhandlung, sondern die eines dialektischen Bildes, zu dessen Erkenntniskraft er zeitgleich erste Überlegungen anstellt (vgl. Hillach 2000, 190, 192). Formal führt das Denkbild seinen Gegenstand über eine Folge von drei dia­ lektisch auf die Austragung von Gegensätzen hin angelegten Miniaturen ein, die den drei Stationen Hotel Elephant, Goethe-Schiller-Archiv und Goethes Arbeits­ zimmer gewidmet sind. Wie die Epigonenwallfahrt des neunzehnten Jahrhun­ derts gipfelt auch Benjamins Besuch in der stets als „rührend“, „klein“, „niedrig“ und „schmucklos“ beschriebenen Werkstatt Goethes (Blumenberg 1990, 277). Doch signalisieren der nüchtern konstatierende Stil und die unpersönliche Erzählhaltung – „Man weiß, wie primitiv das Arbeitszimmer Goethes gewesen ist“ (Benjamin GS, IV.1, 354) – sogleich, dass es hier um etwas anderes als um Klassikerverehrung geht.

DOI 10.1515/9783110466850-005, © 2017 Annegret Pelz. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 License.

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1 Stadtraum Die erste Miniatur erschließt den Stadtraum von Weimar über die breiten Fenster­ bretter des Weimarer Hotel Elephant und macht dem erwachenden Betrachter „das Zimmer zur Loge“ (Benjamin GS, IV.1, 353). Der Fensterblick erinnert an E.T.A. Hoffmann und an eine Stelle im Passagen-Werk, wo der Salon des Privat­ manns „Loge des Welttheaters“ und Zufluchtsort vor der Warenwelt ist (Benjamin 1982, I, 52). Im Denkbild Weimar gewährt das Fenster einen Ausblick auf ein vital orchestriertes „Ballett“ des morgendlichen Marktgeschehens. Das Schauspiel der anfangs leeren städtischen „Bühne“ steigert sich zu einer frühmerkantilen „Orgie“ (Benjamin GS, IV.1, 353), verliert aber seinen inszenatorischen Wert, als der Betrachter den Fensterblick aufgibt und den städtischen Raum zu ebener Erde betritt. Nur in dieser ersten der drei Miniaturen ist ein beobachtendes Ich Teil der szenischen Darstellung, in den folgenden beiden Passagen nimmt ein kollektives „wir“ und unpersönliches „man“ Bezug auf allgemein Bekanntes, kul­ turell Gegebenes und Tradiertes. Die erste Miniatur schließt mit einer Betrach­ tung über den Bruch zwischen dem vergangenen Glanz der morgendlichen Sze­ nerie und der jetzt erfahrenen Realität.

Abb. 1: Das 1696 gegründete Hotel Elephant am Weimarer Markt in einer Aufnahme aus den 1920er-Jahren. Das Gebäude wurde 1937 abgerissen.



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2 Archiv In der zweiten, dem Goethe-Schiller-Archiv gewidmeten Miniatur geht die ästhe­ tische Gegenüberstellung von Betrachterstandpunkt und Bühne über in die kom­ plexe Zeichensphäre der Archiv-Inszenierung. Im Treppenhaus, in den Sälen, Schaukästen und in der Bibliothek herrscht unbuntes Weiß. Im Text ist von einem „barschen Lichte“ die Rede, in dem das Auge „nicht auf einen Zoll [trifft], wo es ausruhen könnte“ (Benjamin GS, IV.1, 353). Störend, zugleich aber auch produk­ tiv für eine Neuperspektivierung, erweist sich die Inszenierung eines Werk-Gan­ zen, das „uns heut bewußt und stämmig als Goethes ‚Werke‘ in unzähligen BuchGestalten“ entgegentritt (Benjamin GS, IV.1, 354). War im Stadtraum das lebendige Marktgeschehen Gegenstand der Beobachtung, steht jetzt im Archiv das Betrach­ ten von Literatur selbst auf dem Prüfstand. Zu sehen sind Schriften, die in Schau­ kästen wie „Kranke in Hospitälern“ (Benjamin GS, IV.1, 353) hingebettet liegen, die aber „nicht umsonst wie Leidende auf ihren Repositorien“ lagern,1 da sie den Blick auf die körperhaft und lebendig aufgefasste „Mimik“ (Benjamin GS, IV.1, 354) der Exponate und auf zeitspezifische Momente von Krise und Gebrechlich­ keit lenken.

Abb. 2: Goethe-Schiller-Archiv, historische Aufnahme. 1 Vgl. die entsprechende Stelle: „Nicht umsonst vollzieht sich das am Torso“ in Benjamins Habi­ litationsschrift Ursprung des deutschen Trauerspiels [1928] (Benjamin GS, I.1, 352).

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3 Werkstatt Zu ihrem eigentlichen Gegenstand aber kommt Benjamins philologische Spuren­ lese erst mit der Besichtigung von Goethes Arbeitszimmer, wo sich die Dinge „wahrhaftig“ und in ihrer „Lebensführung“ verstehbar mitteilen (Benjamin GS, IV.1, 354). Der Befund der Einrichtung – „keinen Teppich, keine Doppelfenster. Die Möbel [...] unansehnlich“, aber durch einen Willen zu „Figur und Formen in Schranken gehalten“ (Benjamin GS, IV.1, 354) – und der Nachhall der für Benja­ min so wichtigen Stille (vgl. Garber 2005, 59–97) geben Auskunft über ein räum­ lich nahes, aber zeitlich fernes Arbeitsleben. Und sie geben den Bildanstoß für eine Vision von Goethe als einem alten Dichter, der hier „abends im Schlafrock, die Arme auf ein mißfarbenes Kissen gebreitet, am mittleren Tische saß und stu­ dierte“ (Benjamin GS, IV.1, 354).2 Aus der Lektüre der Materialspuren am Ort der Schriftproduktion erwächst schließlich die Perspektive für eine zukünftige (Goethe-)Philologie: „Noch warten wir auf eine Philologie, die diese nächste, bestimmendste Umwelt – die wahrhafte Antike des Dichters – vor uns eröffne“ (Benjamin GS, IV.1, 354).

Abb. 3: Goethes Arbeitszimmer in den 1920er-Jahren. 2 Heute geht man davon aus, dass Goethe nicht wie in Johann Joseph Schmellers Gemälde Goethe seinem Schreiber John diktierend (1834) stand, sondern Schreiber und Einrichtung diktie­ rend und gehend umkreiste (vgl. Holm 2013, 171).



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Programmatisch kontrastiert das Denkbild die Sphäre des frühmerkantilen Lebens und die Mitteilungsarmut der Archivexponate, um in Goethes unmittelba­ rer Arbeitsumgebung einen gegenwärtigen Zugang zur Historizität von Goethes Werken zu eröffnen. In kritischer Distanz zum philologischen Positivismus und zu den Aktivitäten der Goethe-Gesellschaft, die den Materialzuwachs im GoetheSchiller-Archiv lediglich verwaltet (vgl. Mandelkow 1993; Kruckis 1995), bezieht Benjamin, wie schon in der Abhandlung über Goethes Wahlverwandtschaften (1919–1922), Position gegen eine Philologie, die ihr Wissen lebensphilosophisch und biografisch aus der geistigen Gestalt des Dichters bezieht (vgl. Lindner 2011). Insbesondere zu Friedrich Gundolfs vielgelesenem Goethe-Buch (1916) hatte Ben­ jamin gleich nach Erscheinen die unveröffentlicht gebliebene Rezension „Bemer­ kung über Gundolf: Goethe“ verfasst (Benjamin GS, I.3, 826–828). Eine Polemik gegen die „triviale Denkgewohnheit“ und das „gedankenloseste Dogma des Goe­ thekults“ (Benjamin GS, I.1, 157, 160), welcher den „historischen Menschen Goethe“ (Benjamin GS, I.3, 827) zum mythischen Heros stilisiert und mit dem Werk zu einer undifferenzierten Einheit vermengt (vgl. Hühn 2015, 320). In seiner kritischen Betrachtung zum Verhältnis von Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft (1931) wird Benjamin der Literaturwissenschaft drei Jahre darauf attes­ tieren, „durch und durch unphilologisch“ zu sein und dem Fach nur unter der Bedingung eine Zukunft einzuräumen, dass dieses seinen musealen Charakter aufgibt, die Nivellierungen von Gegenwärtigem und Gewesenem überwindet und bereit ist, seine Gegenstände in einer fruchtbaren Durchdringung von histori­ scher und kritischer Betrachtung darzustellen (Benjamin GS, III, 289, 290).3

4 Am mittleren Tische Während das Ensemble von Arbeits- und Schlafräumen in Goethes Werkstatt auf Schwellensituationen einstimmt, geht von dem Bild des alten Goethe am „mittle­ ren Tische“ ein philologischer Erneuerungsimpuls aus. Die Tischszene gerät durch eine Ausweitung der deutenden Tätigkeit auf die Dinge in den Blick, in denen historische Zeit gleichermaßen sedimentiert und produktiv ist (vgl. Kranz 2011, 145–155). Benjamin veranschaulicht mit der Tischszene, wie die Praxis der philologischen Wahrnehmung ihre Zeugnisse – hier im Akt eines indizienwissen­ schaftlichen Spurenlesens (vgl. Ginzburg 2002, 7–57)4 – überhaupt erst zu bedeu­

3 Zu Benjamins kritischer Auseinandersetzung mit den antiphilologischen Tendenzen der Geis­ tesgeschichte vgl. Garloff (2003), Hamacher und Richter (2009), Benne (2005, 324). 4 Zur Philologie als Indizienwissenschaft vgl. Krämer, Kogge und Grube (2007).

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tenden Objekten macht. Auf diese Weise erinnert Benjamin daran, dass die Philo­ logie an der Herstellung von Präsenz arbeitet, dass diese aber immer auf einer vermittelten Beziehung zu den Gegenständen der Vergangenheit beruht (vgl. Gumbrecht 2003). Dass es eine Tischszene ist, die letztlich den Denkanstoß gibt, entspricht einer ausgeprägten Aufmerksamkeit auf die Medialität dieses alten Möbels (vgl. Seitter 2002, 69–80), die auch an anderen Stellen in Benjamins Werk deutlich wird: In Berliner Kindheit um Neunzehnhundert ([1933–1938] Benjamin GS, IV.1) ist von verschwiegener Allianz zwischen dem Pult und seinem Besitzer die Rede (vgl. Benjamin GS, IV.1, 280–282), im Baudelaire-Buch werden die städtischen Mauern zum Schreibpult der Flaneure (Benjamin GS, I.2, 539), Benjamins Briefe sind voll von Tischszenen auf Reisen, in Bibliotheken, in Provisorien, im Exil und auf der Flucht. In seinen Kafka-Studien notiert Benjamin, man habe die „Urszene von Kafkas Werk“ in einem „Blick in fremde Fenster[,] [der] auf einen einsamen, mit rätselhaft Nichtigem beschäftigten Mann unter der Hängelampe am Tische trifft“ (Benjamin GS, V.1, 288). Aber gerade in Benjamins Goethe-Studien und -Träumen (vgl. Weissberg 2003; Schneider o. J.) haben die Tische einen besonde­ ren Auftritt. Das schließt zum einen an Goethes Interesse an Schreibmöbeln (vgl. Schrader 2003), zum anderen an die Figur des Mittlers an,5 in dessen Name sich, so Benjamin in seiner Abhandlung über Goethes Wahlverwandtschaften, einzig und allein das Wesen der Mittlertätigkeit mitteilt, keinesfalls aber ein Verweis auf den Autor (vgl. Benjamin GS, I.1, 135). Die sprachphilosophische Intention der Abhandlung liegt ja auch gerade darin, zu vermitteln, dass sich etwas in der Sprache und nicht in der Biografik manifestiert.6 Wenn im Denkbild Weimar nun also die Hoffnung auf eine zukünftige Goe­ the-Philologie mittels einer Tischszene aufscheint,7 betrifft das natürlich nicht das, was an diesem konkreten Tisch in Goethes Werkstatt wirklich gesehen werden konnte. Es betrifft vielmehr ein bestimmtes Bilddenken, das die Notwen­ digkeit eines Paradigmenwechsels möglichst einfach in Szene setzt. Dafür bedient sich Benjamin eines probaten Mittels, das gerade in den von Paradigmenwech­ seln geprägten Zwanzigerjahren für die Darstellung und Popularisierung von etwas wissenschaftlich Neuem besonders gerne in Anspruch genommen wurde.

5 In Goethes Wahlverwandtschaften verweist der Mittler u. a. auf die Notwendigkeit einer ande­ ren Textauslegung und auf das Hinterfragen überkommener Dogmen (vgl. Hildmann 2003, 61). 6 Vgl. Hühn und Urbich (2015, 17): „Die kritische Erkenntnis des Romans soll sich orientieren an dem Sinngeschehen, das sich in der Sprache vollzieht, und nicht an dem durch die Sprache Gesagten.“ 7 Zu Benjamins „Logik des Aufscheinens“ vgl. Hühn (2015, 335).



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Abb. 4: Der „mittlere Tisch“ mit „mißfarbenem Kissen“.

Fritz Heider, Wiener Psychologe und Verfasser des Buches Ding und Medium, bindet 1926 seinen physikalischen Medienbegriff (wonach die Wahrnehmung eines Dings nur in einem vermittelnden Medium, einem normalerweise überse­ henen Mittelkörper möglich ist) an die Wahrnehmung von Tisch und Stuhl (vgl. Heider [1926] 2005). Gleichzeitig nutzt der schottische Physiker Arthur S. Edding­ ton das Möbel, um das Übersetzungsproblem der Naturwissenschaften von einem abstrakt wissenschaftlichen Konstrukt in eine allgemein verständliche Sprache als etwas zu beschreiben, das in die Lücke zwischen zwei Schreibtische, zwi­ schen scientific table und commonplace table, fällt (vgl. Eddington 1929, XI–XIX). Wie Eddington das Vermittlungsproblem wissenschaftlicher Erkenntnisse an zwei verschiedenen Möbeln exemplifiziert, setzt Benjamin in Weimar, dem Ort, an dem sich die Wissenschaft von der neueren deutschen Literatur als Goethe-Philo­ logie etablierte, mit der Tischszene ein Tableau, auf dem die Spannungen zwi­ schen Vergangenheit und Zukunft registriert, komprimiert und bildlich ausge­

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handelt werden können. Diese im Denkbild Weimar auf der Schwelle von Schlaf- und Arbeitszimmer situierte Tischszene wird in dem Speisesaal über­ schriebenen Goethe-Traum von 1928 außerdem zu einem Ort für die Zusammen­ kunft mit den Ahnen (vgl. Schneider o. J.) und – im Brennpunkt des Traumes – für den Austausch antiker Dinge: In einem Traume sah ich mich in Goethes Arbeitszimmer. Es hatte keine Ähnlichkeit mit dem zu Weimar. Vor allem war es sehr klein und hatte nur ein Fenster. An die ihm gegenüberliegende Wand stieß der Schreibtisch mit seiner Schmalseite. Davor saß schrei­ bend der Dichter im höchsten Alter. Ich hielt mich seitwärts, als er sich unterbrach und eine kleine Vase, ein antikes Gefäß, mir zum Geschenk gab. Ich drehte es in den Händen. Eine ungeheure Hitze herrschte im Zimmer. (Benjamin GS, IV.1, 86)

5 Wahrhafte Antike und nächste, bestimmendste Umwelt Aus welchem Grund das antike Gefäß im Goethe-Traum am Schreibtisch und nicht am Esstisch überreicht wird, und warum die künftige Philologie an der Antike der nächsten, bestimmendsten Arbeitsumwelt des Dichters ansetzen sollte, darüber kann, mehr noch als Goethes eigene Kunst- und Antikenrezeption, Benjamins Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen kunstwissenschaftli­ chen Forschung einige Auskunft geben. Wolfgang Kemp hat darauf hingewiesen, dass Benjamin sich explizit in die Nachfolge des Wiener Kunsthistorikers Alois Riegl einordnete (vgl. Kemp 1985, 225). Riegl war „als erster Kunsttheoretiker überhaupt der Frage systematisch nachgegangen, welche Qualitäten einem Kunstwerk (im weitesten Sinne) im Verlauf seiner Geschichte zuwachsen“ (Kemp 1985, 236). Er bestimmte den Alterswert eines Kunstwerks als etwas, das „nicht an dem Werke in seinem ursprünglichen Entstehungszustande [haftet], sondern an der Vorstellung der seit seiner Entstehung verflossenen Zeit, die sich in den Spuren des Alters sinnfällig verrät“ (Riegl 1903, 8). Dieses Verständnis von Zeit­ lichkeit wirkt im Denkbild Weimar ebenso nach wie die Tatsache, dass Riegl zu den ersten Kunsthistorikern gehört, die Unbedeutendes – Möbel und Innendeko­ ration einer Epoche – aus kunstwissenschaftlicher Perspektive dargestellt und gedeutet haben (vgl. Brüggemann 2007, 26).8 In dem Wahlverwandtschaften-Essay wird dieses Alltägliche, Auffallende, Befremdende zur Vorbedingung der auf den

8 Die Abbildungen in Möbel und Innendekoration des Empire [1898] (Riegl 1929, 10–27) zeigen vor allem Schreibtische und Arbeitszimmer.



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Wahrheitsgehalt des Kunstwerks gerichteten kritischen Deutung (vgl. Benjamin GS, I.1, 125).9 Der durch das zeitliche Wirken entstandene Wahrheitsgehalt – Riegls Alters­ wert – wird im Denkbild Weimar zum Gegenstand einer philologischen Deutung. Das Forschungsinteresse richtet sich nicht auf den musealisierenden Umgang mit einem möglichst unverfälschten Originalzustand, es werden vielmehr all jene Signale aufgenommen, durch die sich die Dinge in ihrer Lebensführung wahrhaf­ tig und verstehbar mitteilen. Benjamin erkennt die sozialhistorische Formation der Goethezeit in den Gebrauchsspuren, im zeitlichen Verfall, in der Gebrechlich­ keit und Unansehnlichkeit der Dinge. Riegls Begriff der „Lebenswahrheit“ scheint hier als etwas durch, was die moderne Ästhetik von der Kunst erwartet (vgl. Riegl 1929, 28–39, 35). Sichtbar wird der Alterswert in den Veränderungen, die die ver­ flossene Zeit bewirkt, in dem unmodernen Aussehen, dem Mangel und der Unvollkommenheit, in Symptomen der Auflösung und in den Spuren des Alters (vgl. Riegl 1903, 22). Ausgehend von Symptomen der Auflösung erklärt Benjamin die Grenze zwischen dem historischen Wert eines Werkes und dessen kritischer Transformation zum Gegenstandsbereich der Philologie. Auf diese Weise bildet sich in Goethes allernächster Arbeitsumwelt eine Vorstellung von der philologi­ schen Tätigkeit als einer zeitlich zwischen Vergangenheit und Gegenwart gespannten Schwellenkunde heraus, in der der Tisch als gegenwärtiges epistemi­ sches Objekt dasjenige verkörpert, was man noch nicht weiß, aber herausfinden will. Mit Hans Jörg Rheinberger und in heutiger Perspektive auf die Entstehung des wissenschaftlich Neuen hat man in dem Denkbild der Tischszene mit dem alten Goethe eine paradigmatische Vorrichtung von Fragen, die die Goethe-Philo­ logie betreffen (vgl. Rheinberger 2001, 25). Die Tischszene mit ihren besonderen Materialien, Gebrauchsspuren und Auffälligkeiten lässt sich so als eine Verkörpe­ rung eines Wissens begreifen, das darauf wartet, geschrieben zu werden.10

9 Sigrid Weigel erinnert daran, dass Benjamin seine „Theorie des ‚wahren Kunstwerks‘ [...] aus der Lektüre von Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften“ gewann (Weigel 2014, 114). Zum Verhältnis von Sachgehalt, Wahrheitsgehalt und Kritik im Zusammenhang des Wahlverwandtschaften-Essays, zuletzt Hühn und Urbich (2015, 22–25). 10 Der Beitrag ist Teil einer Publikation, die Benjamins philologischen Erneuerungsimpuls zum Ausgangspunkt nimmt.

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Jürgen Thaler

Walter Benjamins Weimar im Kontext Auf einen Längsbalken, der die Decke von Brechts Arbeitszimmer stützt, sind die Worte gemalt: „Die Wahrheit ist konkret.“ Auf einem Fensterbord steht ein kleiner Holzesel, der mit dem Kopf nicken kann. Brecht hat ihm ein Schildchen umgehängt und darauf einge­ schrieben: „Auch ich muß es verstehen.“ (Walter Benjamin)

Die „Dichterwerkstatt“ hat einen Namen und eine Adresse: Weimar, Goethehaus am Frauenplan 1. Kaum einen Ort verbindet man derart stark mit dem, was man landläufig die „Werkstatt des Dichters“ nennt. Das Wohnhaus Goethes zog seit dessen Tod – und auch schon davor – interessierte Besucher an, die diesen ein­ maligen Ort der Literatur erleben wollten. Was Weimar bot, gab es im deutschen Sprachraum kein zweites Mal. Zumal es seit der Einrichtung des Goethe-Archivs 1885 (seit 1889 Goethe- und Schiller-Archiv) durch die Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar und Eisenach zwei vollkommen unterschiedliche Orte gab und gibt, die einen Einblick in die „Werkstatt des Dichters“ institutionell ermöglichen. Aufzeichnungen und Reiseberichte dazu sind zahlreich.1 Zu den Weimar-Reisen­ den zählten auch Franz Kafka, Max Brod und Walter Benjamin. Kafka und Brod besuchten die Stadt vom 29. Juni bis zum 5. Juli 1912, Walter Benjamin hielt sich Anfang Juni 1928 dort auf.2 Benjamins Städte- oder Denkbild Weimar3, das er unmittelbar nach seinem Besuch im Juni 1928 abgefasst hat, wurde erstmals im Oktober 1928 in der Neuen Schweizer Rundschau veröffentlicht. Nachgedruckt hat es Die literarische Welt im Goethe-Jahr 1932.4 Franz Kafkas und Max Brods Besuch fand im Rahmen einer längeren Reise statt, im Gepäck hatten sie den nie verwirk­ lichten Plan, ihre Reisetagebücher, die sie individuell führten, als einen gemein­ samen Text zu veröffentlichten (vgl. Kafka 1990a, 1021–1057; Brod 1987, 223–237). Vergleicht man die Aufzeichnungen der drei genannten mit der Vielzahl anderer Reiseberichte, dann wird man feststellen müssen, dass die Texte, die Brod, Kafka

1 Vgl. für das 19. Jahrhundert den Aufsatz von Christiane Holm im vorliegenden Band. Generell gibt es eine Vielzahl von Anthologien, in denen diese Texte gesammelt vorliegen (vgl. GreinerMai 1977; Hecker 1998; Seemann 2006; Weinkauf 2011; Kahl und Kalvelage 2015). 2 Benjamin hatte seinen Artikel Goethe für die sowjetische Enzyklopädie zu schreiben und woll­ te sich, wie er an Gershom Scholem schreibt, wieder einmal die Goetheana vergegenwärtigen (vgl. Benjamin 1995, 226). 3 Benjamin hat Weimar aufgenommen in die „Nachtragsliste zur Einbahnstraße“, deshalb sind Weimar und alle erhaltenen Vorstufen jetzt greifbar auch in der neuen Gesamtausgabe seiner Schriften (vgl. Benjamin 2009, 121–122 und 242–247). 4 Vgl. die bibliografischen Angaben der Erstdrucke (Benjamin 1991, 991). DOI 10.1515/9783110466850-006, © 2017 Jürgen Thaler. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 License.

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und Benjamin, auf je unterschiedliche Weise abfassten, zu jenen gehören, die sich mit Abstand am intensivsten mit den Weimarer Gegebenheiten auseinander­ setzten.5 Im Folgenden soll deshalb zumindest ansatzweise herausgearbeitet werden, in welcher Weise sich diese Autoren zu den Angeboten der Weimarer „Dichterwerkstatt“ positionieren, durchaus auch vor dem Hintergrund des bei Kafka und Benjamin stark ausgeprägten Interesses an den jeweiligen Schreibma­ terialien, welche Vor- und Nachgeschichten ihre Besuche in Weimar in ihrem Werk begleiten, aber auch, vor welchem ideengeschichtlichen Hintergrund ihre Ausführungen zu „Weimar“ zu verorten sind.

1 Konglomerat Weimar Benjamins, Brods und Kafkas Ausführungen zum Konglomerat Weimar können generell verstanden werden als Kommentare zu den Spuren literarischer Pro­ duktion, aber auch zu einer neuen literaturwissenschaftlichen Praxis, nämlich der Edition moderner literarischer Handschriften. Sie können als Kommentare gelesen werden zu einem neuen Verständnis des Dichterischen, das sich auf der einen Seite – akademisch – mit der Entstehung von Literatur beschäftigt und sich auf der anderen Seite als „Autorenpoetik“ mit der eigenen literarischen Produk­ tion auseinandersetzt. Die genannten Weimar-Texte können aber auch als Kom­ mentare zu einer damals neuen Form des Museums, der Dichtergedenkstätte, und einer neuen Form musealer Gegenständlichkeit, nämlich der literarischen Handschrift, gesehen werden. Dieses Ensemble von Aspekten kann man im weitesten Sinne als Ausprägung des Sprechens von der „Werkstatt des Dichters“ verstehen. Jene „Dichterwerk­ statt“, von der Benjamin in seiner Briefsammlung Deutsche Menschen schreibt, dass sie „selten mehr als eine abgenutzte Metapher“ (Benjamin 1997, 171) sei. Der Ausspruch fällt in einem Kommentar zu einem Brief Hölderlins, dem Benjamin attestiert, dass er in einzigartiger Transparenz den Blick ins „Innere von Hölder­

5 Es liegt auf der Hand, dass die Berichte in der Regel dem Goethehaus gelten. Berichte über Besuche im Archiv sind die rare Ausnahme, schon deshalb sind die Texte von Brod, Kafka und Benjamin bedeutsam. In diesem Zusammenhang ist ein weiterer, aus anderer Perspektive be­ merkenswerter Artikel zu nennen. Darin schildert der leider nicht identifizierbare Verfasser einen Besuch im Archiv und formuliert Wünsche an das dort zu Zeigende. Zum Beispiel: „Da die Neugier des Menschen immer wach ist und sich so gern mit den privatesten und menschlichsten Angelegenheiten eines Großen beschäftigt, wäre es gewiss nicht uninteressant, einmal die Brie­ fe, die etwa im Laufe einer Woche in dem Haus am Frauenplan ein- und ausgingen, nebeneinan­ der zu sehen“ (B-r 1935).



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lins Werkstatt“ freigebe, hier alleine käme die „Wendung [von der ‚Dichterwerk­ statt‘, Anm. J. T.] zu ihrem Sinn“ (Benjamin 1997, 171). Benjamin meint dabei nicht den Blick in Entstehungszusammenhänge von Dichtung, auch nicht in die von Hölderlin, sondern vielmehr die Art und die Qualität des Schreibens von Hölder­ lin als solche. Es sei dieser Brief deshalb ein Blick ins Innere der Werkstatt, weil er als Textzeuge sichtbar mache, dass es „für Hölderlin in jenen Jahren keine sprachliche Verrichtung, und sei es die alltägliche Korrespondenz, mehr gibt, der er nicht mit der meisterhaften, präzisen Technik seiner späten Dichtungen nach­ ginge“ (Benjamin 1997, 171). Seine Verweise auf das „Innere“ und die „Technik“ nennen zwei wichtige Begriffe der sogenannten „Autorenpoetik“, wie sie sich von Edgar Allen Poes Die Methode der Komposition (The Philosophy of Composition, 1846) über Paul Valérys Über die literarische Technik (Introduction à la Poétique, 1937/38) bis hin zu Stefan Zweigs Das Geheimnis des künstlerischen Schaffens (1938) konstituierte. Alle diese Versuche, etwas über den eigenen literarischen Schaffensprozess zu behaupten, beruhen auf einer Blickrichtung, die nicht vom literarischen Werk ausgeht, sondern sich vom abgeschlossenen Werk zurück zu dessen „Ursprüngen“ bewegt und so alles versucht in den Fokus zu bekommen, was dem Werk vorgelagert, was aus dem Werk verdrängt ist, was rund um das Werk passiert, aber auch beschreibt, welche Produktionstechniken und -prozesse angewendet wurden: vom Geist bis zum Bleistift, von der Idee bis zum Manu­ skript usw. In diesen Kontext muss man auch die „Dichterwerkstätten“ als Dispo­ sitive einer jeweils historischen Poetik verstehen, als jeweils spezifisches Spre­ chen über das (eigene) Dichten und Denken, das sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt anders konfiguriert. Es ist deshalb sicher kein Zufall, dass der Begriff der „Dich­ terwerkstatt“, wie Benjamin konstatiert, gerade in den hier angesprochenen Jahr­ zehnten rund um die Jahrhundertwende an Attraktivität zunimmt.6 Kaum ein Text folgt diesem Prinzip der Autorpoetik klarer, sachlicher, radikaler als Walter Ben­ jamins Ankleben verboten. Die Technik des Schriftstellers in 13 Thesen mit der starken, mittlerweile überstrapazierten und überzitierten letzten These „Das Werk ist die Totenmaske der Komposition“ (Benjamin 2009, 34), die, so kann man fortsetzen, vom Leser abgenommen werden will. Die Nennung der „Komposition“ kann man getrost als Verweis auf Poes Text verstehen. Die Autorenpoetik blickt in der Tat ins Innere und weiß, dass dieses Wissen exklusiv dem Autor gehört. Nichts anderes versucht und verführt die Besucher von literarischen Gedenkstätten und Archiven. Sie wollen ins Innere der Häuser sehen, wo das Werk entstanden ist, sie wollen, anhand der ausgestellten Handschriften sehen, wie dieses Werk sich in

6 Dies zeigt deutlich das Ergebnis einer quantitativen Suche nach „Dichterwerkstatt“ via Ngram Viewer von Google Books.

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der Handschrift zeigt. Sie wollen die mediale Distanz, die der Druck eingeführt hat, für kurze Zeit aufheben. Sie wollen den Platz des Autors einnehmen, seinen Schreibort erfahren, um so mehr über das zu erfahren, was an diesem Ort ent­ standen ist, und das sind nicht nur literarische Texte. Der Autorenpoetik dieser Jahre steht erstmals auch ein akademisches Inter­ esse gegenüber, das sich ebenfalls gegen Ende des 19. Jahrhunderts bemüht, Ant­ worten auf Fragen der Werkentstehung zu geben. Erwähnt seien hier lediglich die skizzenhaften Überlegungen zur Logik der Hervorbringung von literarischen Werken in der Poetik von Wilhelm Scherer, der unter der Überschrift „Die schaf­ fenden Seelenkräfte“ ebenfalls versucht, ins „Innere“ des Autors zu blicken. Sein Konzept steht unter dem Begriff der „Phantasie“ und wirkt hinein ins Feld der Psychologie. Als Beispiel zitiert Scherer eine von Gustav Freytag erstmals 1866 präsentierte Stelle von Otto Ludwig in einem Beitrag mit dem zeittypischen Titel Aus dem Arbeitszimmer des Dichters Otto Ludwig. Wilhelm Scherer kommentiert sein Unterfangen aber resignativ: „Hätten wir doch mehr solche Selbstbekennt­ nisse von Dichtern! Das, was etwa vorhanden, wäre sorgfältig zu sammeln“7 (Scherer 1977, 114). Von dieser Aussage ist es nicht mehr weit zu Wilhelm Scherers Freund Wilhelm Dilthey, er ist der andere Kronzeuge, der in diesem Zusammen­ hang zu nennen ist. Auch ihn interessiert die „innere Erfahrung“ der Dichter, die er versucht unter größten methodischen Schwierigkeiten und ohne ausreichen­ des empirisches Material zu abstrahieren, um seine Poetik als Psychologie des literarischen Schaffens zu formulieren (vgl. Dilthey 1887, 303–482). Es ist auch in diesem Kontext zu sehen, dass Dilthey, drei Jahre nach Scherers Tod, 1889 „Archive für Literatur“ (Dilthey 1889) einfordert, ohne (!) aber später jemals mit ihnen gearbeitet zu haben.8 In dieses geistesgeschichtliche Panorama von Autoren­ poetik und neuer wissenschaftlicher Herangehensweise an die Dichtkunst passt sich auch die gerade mit Weimar eng verknüpfte Editionsphilologie ein, die den Blick weg vom Werk hin zu den Vorstufen, Entstehungsprozessen und – im engsten Sinne – nicht literarischen Gattungen wie Briefe und Tagebücher lenkt. Es ist hinlänglich bekannt, dass mit der Übernahme des Nachlasses von Goethe zwei Projekte angebahnt wurden: „eine neue vollständige Ausgabe seiner Werke“ (darunter eben auch Tagebücher und Briefe) und eine neue „vollständige Lebens­ beschreibung Goethes“ (Kahl und Kalvelage 2015, 722–723). Beide Projekte beruhen, so der Vorstand der eben gegründeten Goethe-Gesellschaft am 1. Juli

7 Die interessante Schilderung des realistischen Paradeautors Otto Ludwig findet sich in den Grenzboten (Freytag 1866, bes. 51–56). 8 Vgl. zu Dilthey und darüber hinaus zu dem hier nur angedeuteten Komplex des Machens von Literatur die ausgezeichnete Arbeit von Köhn (2005, 9–68).

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1885, auf der Erforschung und Sichtung des Nachlasses. Damit ist der Hinter­ grund aufgerissen, vor dem das reale Weimar erfahrbar wird. Die Werkstatt Goethes ist zerrissen, sie ist geteilt in Dichterhaus und Archiv, in Goethehaus und Goethearchiv. Ein Modell, das Schule machen wird. Die reale Werkstatt des Dich­ ters trennt sich von den Werkstücken, Papier ist für den Zweck der Schauräume kaum zu gebrauchen. Was bleibt, ist folgendes Raumprogramm:

2 „20 Minuten allein“ Die Räume des Dichterhauses werden zu Erinnerungs- und Gedenkstätten, das Private wird öffentlich, mit allen daran sich anschließenden Sakralisierungsmus­ tern und Sakralisierungshandlungen. Davor ist niemand gefeit. Zum Beispiel: Im Goethehaus ist man am liebsten allein, ungestört, auserwählt. So auch Walter Benjamin, der als ersten Satz im ersten Entwurf zu seinem Text Weimar niederge­ schrieben hat: „Über Weimar zeichne ich auf: Entscheidend, daß ich 20 Minuten in Goethes Arbeitszimmer allein blieb“ (Benjamin 2009, 242). An Alfred und Grete Cohn schreibt er am 6. Juni 1928: „Und wie ich nur – pour me documenter – ins Goethehaus kam, bin ich auf einmal – hier ganz seltener Fall – zwanzig Minuten im Arbeitszimmer allein, ohne auch nur die Silhouette eines Aufsehers“ (Benja­ min 1997, 386). Informationssuche wird zur spirituellen Erfahrung, die geklärt werden will. Im veröffentlichten Denkbild steht: Wem ein glücklicher Zufall erlaubt, in diesem Raume sich zu sammeln, erfährt in der An-­ ordnung der vier Stuben, in denen Goethe schlief, las, diktierte und schrieb, die Kräfte, die eine Welt ihm Antwort geben hießen, wenn er das Innerste anschlug. (Benjamin 2009, 123)

Das Dichterhaus wird so zur Echowand, die das Innerste in Schrift verwandelt. Es ist dies, man kann es nicht leugnen, eine mystische Formel der Literaturproduk­ tion, die Benjamin aber dazu verwendet, seine Zeit von der Goethes radikal abzu­ grenzen. Er setzt – dies ist überhaupt der letzte Satz des Denkbildes – zum Schluss die Aussage: „Wir aber müssen eine Welt zum Tönen bringen, um den schwachen Oberton eines Innern klingen zu lassen“ (Benjamin 2009, 123). Die gedanklichen Anstrengungen von Benjamin zielen geradezu darauf, diese spezifische Vergan­ genheit, die spezifische Situation Goethes in Weimar am Frauenplan 1, wie sie sich im Dichterhaus als quasi mythischer Ort realisiert, als uneinholbare Ver­ gangenheit zu präsentieren. Benjamin installiert einen Umgang mit der Lebens­ welt um 1800, die auf Mythos-, Traum- und Rauschbilder setzt. Im HaschischRausch-Konvolut notiert Benjamin: „Kann aus dem Goethehaus die londoner

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Oper machen“ (Benjamin 1991, 286); bei Kafka und Brod gehen die Anstrengun­ gen nicht so weit. Den von Benjamin angesprochenen glücklichen Zufall, der es ihm ermög­ lichte, zwanzig Minuten allein im Goethehaus zu sein, erlebten auch Kafka und Brod, die durch den abstrusen Flirt Kafkas mit Margarethe Kirchner, der Tochter des Hausmeisters des Goethehauses, unkomplizierten Zugang zu den GoetheRäumen und dem Garten auch außerhalb der Öffnungszeiten hatten.

3 „ein intensives, nicht registriersüchtiges Leben“ Jahre bevor Kafka mit Brod nach Weimar fuhr, echauffierte er sich über das Wei­ marer „Goethehaus-Getue“: Sein enger Freund Oskar Pollak muss ihm brieflich im August 1902 seine Eindrücke von seinem Besuch in Weimar geliefert haben. Es ist leider so, dass sich weder der Brief von Pollak – der spätere Kunsthistoriker fiel 1915 am Isonzo – in irgendeiner Form erhalten hat, noch der Brief Kafkas heute im Original überliefert ist. Max Brod hat die Briefe von Kafka an Pollak für seine erste Briefausgabe 1937 noch bei den Nachkommen Pollaks eingesehen, für die Neuausgabe der Briefe waren die Originale für Brod schon nicht mehr verfügbar, vermutet wird, dass sie während der Besetzung Prags durch Hitler-Deutschland verloren gingen. Das ist sehr schade, denn so werden wir bis auf Weiteres nicht erfahren, was Kafka in diesem eminenten Brief tatsächlich über August Sauer, jenen österreichischen Germanisten, bei dem er in Prag Vorlesungen besuchte, an Pollak geschrieben hat. Brod rechtfertigt sich folgendermaßen für seine Aus­ lassungen: Einen großen Teil dieses ausführlichen Briefes (im Original zehn Seiten) habe ich weggelas­ sen, weil er eine sehr unhöfliche, ja derbe Polemik gegen einen damaligen Prager Universi­ tätsprofessor der Literaturgeschichte enthält, deren posthume Veröffentlichung gewiß nicht im Sinne Kafkas wäre. (Kafka 1999, 391)

Bevor Kafka in dem umfangreichen Brief zu der von Brod behaupteten „heftigen Polemik“ gegen Sauer (vgl. Höhne 2011), der in die Geschichte der Germanistik mit seiner 1907 gehaltenen Rektoratsrede zur Verbindung von Volkskunde und Literaturgeschichte und als Vorläufer, Lehrer und Referenz von Josef Nadler ein­ gegangen ist, kommt, kommentiert er die Ausführungen von Oskar Pollak über dessen Besuch in Weimar: Aber ganz und gar verkehrt und falsch scheint mir das, was Du vom Goethe-Nationalmu­ seum schreibst. Mit Einbildungen und Schulgedanken bist Du hineingegangen, hast gleich am Namen zu mäkeln angefangen. Freilich der Name ‚Museum‘ ist gut, aber ‚National‘



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scheint mir noch besser, aber beileibe nicht als Geschmacklosigkeit oder Entheiligung oder dergleichen, wie Du schreibst, sondern als feinste wunderfeinste Ironie. Denn was Du vom Arbeitszimmer, Deinem Allerheiligsten, schreibst, ist wieder nichts anderes als eine Ein­ bildung und ein Schulgedanke und ein klein wenig Germanistik, in der Hölle soll sie braten. Das war, beim Teufel, eine Leichtigkeit, das Arbeitszimmer in Ordnung zu halten und es dann zu einem ‚Museum‘ für die ‚Nation‘ zu arrangieren. Jeder Zimmermann und Tapezierer –, wenn es ein rechter war, der Goethes Stiefelknecht zu schätzen wußte –, konnte das und alles Lobes war es wert. (Kafka 1999, 12)

In der Kafka-Literatur wurde oftmals übersehen, dass sein berühmtes Wort von der Germanistik, die in der Hölle braten solle, im Kontext von Erläuterungen über Weimar (und eben nicht im Kontext über Auslassungen zu August Sauer) gefallen ist; dass dieser Brief mit einer ausführlichen Schilderung „Ich saß an meinem schönen Schreibtisch“, einsetzt, also die eigene Schreibwerkstatt evoziert, sei wenigstens erwähnt, auch die kritische Distanz zu Dichterverehrung und Germa­ nistik sei angedeutet; zehn Jahre später steht Kafka nun selbst in Weimar vor dem Goethehaus. Man kommt in der Nacht von Leipzig aus an und geht gleich, im Dunkeln, zum Goethehaus. Im Tagebuch notiert Kafka: „Gang in der Nacht zum Goethehaus. Sofortiges Erkennen. Gelbbraune Farbe des Ganzen. Fühlbare Betei­ ligung unseres ganzen Vorlebens an dem augenblicklichen Eindruck“ (Kafka 1990a, 1024).9 Der emotionalen Religion dieser Sentenz folgt am nächsten Tag der Besuch im Goethehaus. Kafka notiert: „Goethehaus. Repräsentationsräume. Flüchtiger Anblick des Schreib- und Schlafzimmers, Trauriger an tote Großväter erinnernder Anblick“ (Kafka 1990a, 1025).10 Wo Benjamin angefangen hat, über das Verhältnis seiner Zeit zur Vergangenheit nachzudenken, wendet sich Kafka rasch ab und sieht das blühende Leben. Die 16-jährige Tochter des Hausmeisters. Brod notiert in seinem Tagebuch über diesen Sonntagmittag: Dann Goethehaus. Ausführlicher Führer gekauft. – Die Repräsentationsräume sind schön. Aber Schreibzimmer dunkel (Bäume allerdings damals niedrig), und Schlafzimmer kläglich dumpf eng. […] In Garten. Herrlich. Kafka kokettiert erfolgreich mit der schönen Tochter des Hausmeisters. Deshalb also hat man sich jahrelang an diesen Ort gewünscht. (Brod 1997, 226)

9 Ähnlich schreibt er an Felice Bauer Jahre später, das Weimar-Erlebnis reflektierend: „Liebe Felice – für 2 Tage in Karlsbad geschäftlich. Ottla ist mit. Unser erster Weg gestern abend war – ähnlich wie wir in Weimar in der ersten Mitternacht zum Goethehaus gingen – zur Villa Tann­ häuser“ (Kafka 1999, 234). 10 Vgl. den Aufsatz von Sina (2013), der versucht, ausgehend von Kafkas Dilthey-Lektüre und seinem Besuch in Weimar, dessen testamentarische Anordnung zu erklären.

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Man verabredet sich auch für die restlichen Tage des geplanten Aufenthalts mit der jungen Frau. Geht jeden Tag zum, aber nicht immer ins Goethehaus. Man macht Fotos – auch weil der Hausmeister selbst fotografiert, ist man beschäftigt mit Ausarbeitung und Entwicklung. Auch an Kafkas Geburtstag, dem 3. Juli, trifft man sich im Goethehaus. Man fotografiert wieder. Auf einmal: „Öttingen schaut durchs Fenster und verbietet Max und mir, die wir gerade allein beim Apparat stehn, das Photographieren“ (Kafka 1990a, 1029). Gemeint ist der damalige Leiter des Museums, Wolfgang von Oettingen, bislang von der großen, unüberschauba­ ren Schar der Kafka-Kommentare einfach übersehen, der verbietet, dass sich Max Brod und Franz Kafka, der gerade die Betrachtung auf dieser Reise vertraglich fixierte, im Garten Goethes fotografieren lassen. Eine Szene wie aus einem Film, das Foto hat sich erhalten. Dass Kafka sich den Namen des Direktors gemerkt hat, zeugt aber doch von Institutionenwissen, die das Tagebuch sonst in der Regel verschweigt. Max Brod verwendet die Weimarer Konstellation für seinen Roman Zauberreich der Liebe fünfzehn Jahre später: Es hat zur Folge, daß Barta und mit ihm Christof in die Wohnung des Beschließers eingela­ den werden, daß sie dann mit dem schönen Mädchen in der Wohnung Goethes aus- und eingehen wie zu Hause, daß sie in den sonst nicht zugänglichen Garten Einlaß haben, in den Zimmern Goethes außerhalb der Besuchstunden, also ungestört von Touristen-Getrap­ pel sich umtun dürfen. Es ist ihnen, als gehörten sie, wenn auch nur im entferntesten, im altrömischen Sinne, zur ‚Familie‘ Goethes. (Brod 1928, 77)

Der Erzähler konstatiert, dass Barta wegen seinem Kokettieren von den Weimarer Denkmälern nicht viel sieht, er führe, „ein intensives, nicht registriersüchtiges Leben“ (Brod 1928, 78), schöner kann man den Unterschied kaum benennen. Das dominante fotografische Moment der Aufzeichnungen spielt auch beim Besuch des Goethe- und Schillerarchivs eine Rolle. Was Kafka sich aneignet, ist das Abschreiben von ausgestellten Handschriften. Auch Brod versucht sich als Editor. Beiden fällt auf, dass die meisten Manuskripte „ohne Strich gearbeitet“ (Brod 1987, 232) seien. Kafka: „Lied der Mignon ohne einen Strich“ (Kafka 1990a, 1032). Brod: „Die meisten Ms. ohne Strich gearbeitet! z. B. das Lied der Mignon, da steht es!“ (Brod 1987, 232). Kafka erwähnt im Tagebuch weiters: „Briefe an Lenz“, das Gedicht des achtjährigen Goethe „Erhabne Gros Mama!“, die „Werther-Mittei­ lung“ Karl Wilhelm Jerusalems an Johann Christian Kestner „Dürfte ich Ew. Wohl­ geboren wohl zu einer vorhandenen Reise um Ihre Pistolen gehorsamst ersu­ chen?“, ausführlich schreibt Kafka den Brief der Frankfurter Bürger zu Goethes Geburtstag am 28. August 1830 ab: Einige Bürger der alten Maynstadt, seit langem hier gewöhnt, den 28. August mit dem Becher in der Faust zu begrüßen, würden die Gunst des Himmels preisen, könnten sie den

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seltenen Frankfurter, den dieser Tag gebracht, im Weichbild der Freistadt selbst willkom­ men heißen. Weil es aber von Jahr zu Jahr bei Hoffen und Harren und Wünschen bleibt, so reichen sie einstweilen über Wälder und Fluren, Marken und Mauten den schimmernden Pokal nach der glücklichen Ilmstadt hinüber und bitten ihren verehrten Landsmann um die Gunst, in Gedanken mit ihm anstoßen und singen zu dürfen: Willst du Absolution Deinen Treuen geben, Wollen wir nach deinem Wink Unabläßlich streben, Uns vom Halben zu entwöhnen und im Ganzen Guten Schönen resolut zu leben. (Kafka 1990a, 1032)

Kafka und Brod haben wohl ihren Rundgang durch die ausgestellten Schrift­ stücke gemeinsam gemacht, haben sich zusammen über die Vitrinen gebeugt, neben den „Oden an Behrisch“ in der „Reinschrift des Buches Annette von Behrisch, mit Vignetten“ und des Manuskripts der Goethe’schen Übersetzung des „Hohen Liedes“ fokussiert sich nämlich auch Brods Blick auf die Mitteilung Jeru­ salems, die Briefe von Lenz und auf das Kindergedicht Goethes (Brod 1987, 233). Die beiden Kurzzeit-Philologen, Kafka liest im Geburtstagsbrief „schimmernden“, wo von einem „schäumenden Pokal“ die Rede ist,11 bleiben in ihren Reflexionen beim Befund stehen, vieles in Weimar ist ihnen bemerkenswerter als die Hand­ schriften Goethes.12 Neben Johannes Schlaf besuchen sie auch Paul Ernst, bei dem sie einen leibhaftigen Germanisten treffen. Brod notiert: „Sehr interessant, da auch der großartige dicke Pater Expeditus Schmidt (der hier an einer OttoLudwig-Ausgabe arbeitet) hinkommt. Sehr fideler, dicker Geistlicher, Franziska­ ner, in seiner Kutte. Raucht. Wünscht, daß man im Archiv wenigstens Nargilhes rauchen kann“ (Brod 1987, 236).13 Bei Kafka liest es sich ähnlich, ergänzend ver­ merkt er, dass er mit dem Philologen schon einmal auf der Hotel-Treppe zusam­

11 An dieser Stelle herzlichen Dank an die Weimarer Kolleginnen und Kollegen vom Goetheund Schiller-Archiv für die zur Verfügungstellung von Reproduktionen der von Kafka und Brod in ihren Tagebüchern registrierten Handschriften, die sich alle identifizieren lassen. Auf die Nen­ nung der Signaturen wird an dieser Stelle verzichtet. 12 Es ist mir leider nicht gelungen herauszufinden, welche Handschriften zu dieser Zeit insge­ samt ausgestellt worden sind. Man kann aber davon ausgehen, dass die Vitrinen vollgeräumt waren. 13 Interessant, dass die beiden gerade einen Editor jenes Autors treffen, der auch von Scherer über die Vermittlung von Gustav Freytag ins Visier produktionsästhetischer Fragen genommen wird. Ebenfalls mit den Handschriften von Otto Ludwig befasst sich Hecker (1925, 77).

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mengestoßen sei. Auch die Rauchfantasien des Editors sind ihm erwähnenswert (Kafka 1990a, 1035). Brods und Kafkas Verweis auf den Pater Expeditus Schmidt lenken den Blick auf Weimar als die Stadt der Philologen. Diese jungen Germanisten saßen im Archiv zu Weimar über Goethes Schriften, Frühling kam und ging, es ward wieder Herbst, Nietzsche sank in Geistesnacht, der alte Kaiser starb, ihm folgte der Sohn, folgte der Enkel auf den Thron, Bismarck ging, Bismarck starb, Deutschland schwoll, stark und reich und neu, dem Deutschen ward enge, Volk zog aus, übers Meer, in die Welt, Deutschland wurde kühn und laut, ein neues Geschlecht wuchs auf, Krieg brach aus, aber jene saßen noch immer tagaus, tagein dort im Archiv zu Weimar über Goethes Schriften. Sie lasen Goethe, darin bestand ihr Leben: es hat etwas Heroisches, und es hat etwas Mönchisches, und es hat auch etwas Monomanisches zugleich. (Bahr 1923, 23)14

Kafkas Tagebuch ist erst in Prag entstanden, wohl nachdem er die Betrachtung verlagsfertig gemacht hat.15 Von Weimar aus ist er nach Jungborn zur Kur weiter‑ gefahren, mit seinem Weimarer Schwarm Margarethe Kirchner hält er brieflich Kontakt. An Brod schickt er am 13. Juli 1912 einen Brief mit einer Abschrift eines Briefes von ihr und setzt dazu: „Es ist bis auf die Unterschrift nachgebildet“ (Kafka 1999, 159). Man sieht, zumindest Editionswissen nimmt Kafka aus Weimar mit. Er weiß, wie man Handschriften anderer mitteilt, aber auch wie man mit ihnen verschmilzt. In Weimar selbst hat er sich noch einen Scherz mit einer Unterschrift erlaubt. Im Gästebuch des Goethehauses findet er die Unterschrift von Thomas Mann, macht sie nach, streicht sie wieder durch (vgl. Kafka 1990b, 259; Kafka 1990c, 68). Die Signatur, ihre Dialektik von Absenz und Präsenz, ihr überwältigendes Angebot über das Verhältnis von Hier und F/Dort, von Anwe­ senheit und Abwesenheit nachzudenken, hat auch Walter Benjamin mit Weimar assoziiert. Allerdings bevor er seine Reise auf der Fahrt von Frankfurt nach Berlin im Juni 1928 für einige Tage in Weimar unterbrochen hatte.16

14 Vgl. dazu Pöthe (2003, 249–270, bes. 251). 15 Am 9. Juli schickt Kafka aus Jungborn, wohin er von Weimar gereist ist, an Brod sein Tage­ buch mit der Bemerkung, dass er „ein wenig geschwindelt habe“ (Kafka 1999, 157). Am 16. Au­ gust schreibt er ins Tagebuch „Ein paar Seiten im Weimarer Tagebuch geschrieben“ (Kafka 1990a, 430). 16 Paul Koopmann (1993) erinnert in seinem Aufsatz zu Benjamins Weimar, dass Benjamin schon 1914 im Rahmen seines Engagements für die Freie Studentenschaft in Weimar gewesen sei. Zeugnisse, dass er auch Goethehaus und -Archiv besucht hat, sind keine bekannt (vgl. Ben­ jamin 1995, 226).



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4 Raumesoterik im Dichterhaus, Vernunft im Archiv Benjamins Weimar hat eine Vorgeschichte: In der Einbahnstraße findet sich ein Traumstück, betitelt mit „Nr. 113“, das aus drei Teilen besteht: Souterrain, Vesti­ bül und Speisesaal und so die Struktur des späteren Weimar-Denkbildes in sich trägt. Der erste Traum gibt den Auftakt, in ihm vermeint der Träumende einen alten Freund zu treffen, der unter dem Schutt befreit wurde: „Im Erwachen war mir klar: was die Verzweiflung wie ein Sprengschuß an den Tag gelegt, war der Kadaver dieses Menschen, der da eingemauert war und machen sollte: wer hier einmal wohnt, der soll in nichts ihm gleichen“ (Benjamin 2009, 12). Mit diesem Traumgleichnis macht sich Benjamin an seine beiden Goethe-Träume, die den Träumenden immer weiter in Goethes Nähe bringen. Der erste beginnt mit „Besuch im Goethehaus.“ Der Träumende will sich ins „Fremdenbuch“ eintra­ gen. „Wie ich hinzutrete, finde ich beim Blättern meinen Namen schon mit großer ungefügter Kinderschrift verzeichnet“ (Benjamin 2009, 13). Der dritte Abschnitt „Speisesaal“ träumt sich in Goethes Arbeitszimmer. „Es hatte keine Ähnlichkeit mit dem zu Weimar.“ Während im Vestibül-Traum Benjamin noch mit zwei älteren englischen Besucherinnen zusammen ist, ist er im Arbeitszimmer allein mit Goethe. Goethe schenkt ihm eine antike Vase. Sie gehen zusammen in einen Nebenraum, in dem eine lange Tafel gedeckt ist. Für Benjamins Verwandte und auch, so meint der Träumende, für seine Ahnen. Der Traum endet folgenderma­ ßen: „Als das Mahl vorüber war, erhob er sich mühsam und mit einer Geberde erbat ich Verlaub, ihn zu stützen. Als ich seinen Ellenbogen berührte, begann ich vor Ergriffenheit zu weinen“ (Benjamin 2009, 13). Es gibt augenscheinliche Korre­ spondenzen zwischen diesen drei Traumbildern und den der drei Abschnitte des Städtebildes Weimar. Auch dieses beginnt außerhalb der Gedenkstätten, in der Schilderung eines Blicks aus einem Hotel, dem berühmten „Elephanten“. Der zweite Abschnitt trägt sich im Goethe- und Schiller-Archiv zu, es dreht sich um die dort ausgestellten Manuskripte, während der dritte und letzte Abschnitt im Goethehaus angesiedelt ist. Die Reihenfolge dieser einzelnen Stücke hat Benja­ min im Laufe der Arbeit an Weimar, bis sie ineinander fugten, stetig geändert (vgl. Benjamin 2009, 242–247). Man könnte meinen, Benjamin wäre aus den Träumen der „Einbahnstraße“, die ein Kind, einen Schüler vorstellen, erwacht, um als Erwachsener sein Weimar-Städtebild zu schreiben. Es ist nicht der Traum, der ihn dabei leitet, sondern die möglichen Erfahrungen, die ein Besuch im Zeichen Goethes bereithält. Auf die Verflechtungen zwischen Traum- und Stadt­ bild weist alleine schon der erste Abschnitt von Weimar hin, in dem das ‚Ich‘ erwacht, um dem Treiben auf dem Platz vor seinem Hotel zu folgen. Die zweiten Abschnitte sind verbunden in der Geste des Anblicks der Handschrift. Während im Traumbild das träumende Ich sich gewahr wird, dass es schon als Kind zu

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Besuch bei Goethe war, indem es seinen eigenen Namen im Fremdenbuch des Dichters in „großer ungefügter Kinderschrift verzeichnet“ liest, blickt man im korrespondierenden zweiten Teil von Weimar in einem Licht, das alle Träumen­ den erwachen lässt, auf ‚vernünftige‘ Handschriften. Die Korrespondenzen der beiden dritten Abschnitte sind ebenfalls produktiv: „Man weiß, wie primitiv das Arbeitszimmer Goethes gewesen ist“, heißt es im Städtebild. Auch der Träumende wusste es: „In einem Traume sah ich mich in Goethes Arbeitszimmer. Es hatte keine Ähnlichkeit mit dem zu Weimar.“ Diese Korrespondenzen bündeln sich im Verhältnis von Traum, Vorge­ schichte, Urgeschichte, Erwachen, Erkenntnis, die Forschung hat viel dazu beige­ tragen, um ihr kompliziertes Verhältnis im Werk von Benjamin zu klären.17 Auch das Städtebild Weimar ist ein Beispiel, das mit dem Verhältnis von Traum und Erwachen explizit die Korrespondenz mit den Goethe-Träumen der Einbahnstraße sucht, aber auch innerhalb der drei Abschnitte virtuos mit dieser Opposition umgeht.18 Im ersten Abschnitt, in dem das ‚ich‘ nach einem ersten Erwachen wieder einschläft, um im zweiten Teil so wach zu sein wie es möglich ist, damit es im dritten Teil in die Nachtwelt Goethes einsteigen kann. Im Gegensatz zu den Erfahrungen im Goethehaus steht der Besuch im Goethe-Schiller-Archiv im Zeichen der Vernunft und Leiblichkeit. Im Goethe-Schiller-Archiv sind Treppenhaus, Säle, Schaukästen, Bibliotheken weiß. Das Auge trifft nicht einen Zoll, wo es ausruhen könnte. Wie Kranke in Hospitälern liegen die Handschriften hingebettet. Aber je länger man diesem barschen Lichte sich aussetzt, desto mehr glaubt man, eine ihrer selbst unbewußte Vernunft auf dem Grunde dieser Anstalten zu erkennen. Wenn langes Krankenlager die Mienen geräumig und still macht und sie zum Spiegel von Regungen werden läßt, die ein gesunder Körper in Entschlüssen, in tausend Arten auszugreifen, zu befehlen zum Ausdruck bringt, kurz, wenn ein Krankenlager den ganzen Menschen in Mimik zurückverwandelt, so liegen diese Blätter nicht umsonst wie Leidende auf ihren Repositorien. Daß alles, was uns heut bewußt und stämmig als Goethes „Werke“ in ungezählten Buch-Gestalten entgegentritt, einmal in dieser einzigen, gebrech­ lichsten, der Schrift, bestanden hat und daß, was von ihr ausging, nur das Strenge, Läu­ ternde kann gewesen sein, was um Genesende oder Sterbende für die wenigen, die ihnen nahe sind, waltet – wir denken nicht gerne daran. Aber standen nicht auch diese Blätter in einer Krisis? Lief nicht ein Schauer über sie hin, und niemand wußte, ob vom Nahen der Vernichtung oder des Nachruhms? Und sind nicht sie die Einsamkeit der Dichtung? Und das Lager, auf dem sie Einkehr hielt? Sind unter ihren Blättern nicht manche, deren unnenn­ barer Text nur als Blick oder Hauch aus den stummen, erschütterten Zügen aufsteigt? (Ben­ jamin 2009, 121–122)

17 In dem hier dargestellten Zusammenhang vgl. Purdy (2011, 271–281); Fleming (2010, 587–592); Koopman (1993). 18 Vgl. zu Benjamins Weimar generell Garber (1995).



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Hier liegen sie, die Manuskripte, abgetrennt vom Ort ihres Wirkens, vom Ort, an dem sie geschaffen wurden, blutleer, unbewegbar, Leidende, auf Hilfe wartend, auf Genesung oder Erlösung, Ruhm oder Vernichtung. Benjamin nähert sich diesen Gegenständen als der Verfasser des Buches über das barocke Trauerspiel. Er versucht in konzentrierter Weise anhand der Manuskripte in diesen Räumen zu zeigen, wie sich in der Werkentstehung Schöpfungsszenen exegieren lassen, indem er Erkenntnisse durch Ähnlichkeiten zu generieren versteht. Wenn die Manuskripte wie Allegorien der barocken Welt erscheinen, in der, wie Benjamin es in seinem Trauerspielbuch skizziert hat, durch den Wegfall aller Eschatologie, Trost im bloßen Schöpfungsstand gefunden werden musste, dann zeichnet das vorliegende Sprechen über Manuskripte jene Welthaltigkeit aus, die zu allen Fan­ tasien der Werkentstehung, die auch das Dichterhaus suggeriert, gegenläufig ist. Im Gegensatz zu den beiden Pragern nennt er in der veröffentlichten Version keine Autorennamen, sondern reflektiert auf die reine Gegenständlichkeit der Handschrift. In einer der erhaltenen Vorstufen zum Denkbild schreibt er, die Ver­ bindung zum Goethehaus andeutend: „Auf ihnen [den Manuskripten, Anm. J. T.] ist der Geist der Dichtung wieder eingegangen in Schrift, Handschrift geworden vor unseren Augen“ (Benjamin 2009, 246). Was er über die ausgelegten Hand­ schriften sagt, muss deshalb für alle Handschriften gelten, auch, und nicht zuletzt, für seine eigenen. Die schwache Schrift ersteht, geläutert, als Werk wieder auf. Benjamins Beschreibung der Handschriften als Zeugen, von denen ausge­ hend er auf den kritischen Prozess der Entstehung literarischer Werke in der Ein­ samkeit der Dichterwerkstatt verweist, ist treffend formuliert, am Material aber schwer nachzuvollziehen. Über die Lynkeus-Handschrift von Goethe schreibt er: „Steht nicht zwischen den Zeilen, ja den Lettern der Lynkeus-Handschrift schon der wartende Tod auf den Dichter: die Züge die das lebenstrunkene Bekenntnis festhalten, sind das Abbild eines Skeletts“ (Benjamin 2009, 246). Blickt man heute auf diese Handschrift, fällt es schwer, Benjamins Interpretation zu folgen; gleichwohl verspricht der „materielle“ Blick Benjamins, Goethes Todesjahr vor Augen, eine punktuelle Verquickung von Handschrift, Gehalt und Materialität. Vor allem sein Gebrauch des Wortes „Letter“, das auch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts dem Druckhandwerk vorbehalten war (Deutsches Wörterbuch Bd. 12, 793), weist noch einmal zurück auf die uneinholbare Vergangenheit der Welt Goethes. Seine Beschreibung der Manuskripte steht den esoterischen, quasi mythologischen Erfahrungen im Goethehaus (sei es im realen oder im geträum­ ten) konträr gegenüber und steht doch mit ihnen in geheimer Korrespondenz. Die Stärke dieses Denkbildes liegt gerade darin begründet, dass es die nebulöse, jen­ seitige Erfahrung, die die Goethe-Räume bieten und die der Goethe-Träumer macht, mit der eminenten Beschreibung der diesseitigen Welt der Manuskripte konterkariert. Bis heute wartet man auf einen Text, der ähnlich impulsiv litera­

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rische Handschriften beschreibt; ambivalent bleibt aber bis zum Schluss, ob es erst die Ausstellungsarchitektur ist,19 die Benjamin solche Einsichten ermöglicht (die im übrigen auch Max Brod aufgefallen ist: „Alles weiße Kästen“ (Brod 1997, 233), bei Kafka keine Erwähnung); freilich arbeitet das Denkbild mit der Darstel­ lung unterschiedlicher Raumerfahrungen, in den Schauräumen des Archivs ist es die Innenausstattung und die Lichtsituation, die den Eindruck des Krankenla­ gers evoziert, erst die Raumerfahrung versetzt den Betrachter in die Lage, die Ähnlichkeiten zwischen den Manuskripten und den Siechenden zu finden. Gleichwohl steht die Gültigkeit der Aussage auf dem Spiel. Was auffällt: In keiner Weise thematisiert Benjamin das, was ihn selbst umtreibt, exquisite Schreib­ stoffe, Schreibwerkzeuge, Papiersorten etc. Der Nüchternheit der Beschreibung steht der emphatische Umgang mit eigenen Schreibmaterialien und auch Schreib­ räumen gegenüber. Man muss sich vor Augen halten, dass Benjamin den Entwurf seines Denkbilds in ein Notizbuch geschrieben hat, von dem er spricht als „mär­ chenhaftes Pergamentheft“, und dass er dem Gedanken, ohne es schreiben zu müssen, „gar nicht in die Augen sehen“ (Benjamin 1997, 433) mag. Es zeigt sich an diesem Beispiel, aber auch an den vorgestellten Texten, dass der Kult der Hand­ schrift, den wir heute hin und wieder betreiben, bei Kafka und Benjamin und auch bei Brod durchwegs für das eigene, kaum aber für das Schreiben anderer gilt. Dies gilt noch weit bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein und wäre eine eigene Untersuchung wert: An der Rezeption von Benjamins Weimar ließe sich diese Diskrepanz zwischen eigenem Schreibhabitus und materieller Überliefe­ rung punktuell festmachen: Zum Beispiel hat Peter Szondi Weimar in seine Auswahl der „Städtebilder“ von Walter Benjamin aufgenommen. In seinem Nach­ wort „Benjamins Städtebilder“ zitiert er auch die Passage aus dem Abschnitt über die Manuskripte, die wie Kranke in Hospitälern in den Schaukästen liegen würden. Die Stelle dient ihm aber lediglich als Beispiel, wie Metaphern bei Ben­ jamin (und nicht nur bei ihm) zu verstehen seien, auf die Gegenständlichkeit und den Status der Handschrift, die Ausführungen von Benjamin zu diesem Thema insgesamt, geht er hingegen nicht ein (vgl. Szondi 1978, 307).

19 Die architektonische Gestaltung des Archivgebäudes lag in Händen des Architekten Otto Minckert, der wohl auch in Absprache mit Großherzogin Sophie für die Innenausstattung zu­ ständig war. Seine Wahl für den klassizistischen Bau fiel auf die „weiße Antike“, die Vitrinen sollten das Gebäude im Inneren nachstellen. Vgl. zum Bau des Goethe-Archivs Mende (1996) sowie Rosenbaum (2012). Vgl. auch den (historisch) interessanten Text zum Archiv des damali­ gen Archivars Max Hecker (1925).



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 Jürgen Thaler

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Christian Neuhuber

Büchners Bruchstücke Dilemmata der Rekonstruktion unvollendeter Schreibprozesse Kein Drama der Weltliteratur hat mehr ‚Werkstatthaftes‘ an sich als das zurzeit weltweit meistinszenierte Theaterstück.1 Georg Büchners Woyzeck wird pro Jahr auf hunderten Bühnen in Dutzenden Ländern gespielt, ist fest verankert als Schullektüre, verbildlicht, verfilmt, veropert und Material unzähliger Workshops unterschiedlicher Intention und Ausrichtung. Und doch können wir nicht mit Sicherheit sagen, welche endgültige Gestalt der Autor seinem Werk gegeben hätte. Denn noch vor der Drucklegung verstarb der gerade einmal 23-jährige Dozent der Vergleichenden Anatomie im Zürcher Exil an einer Typhuserkran­ kung. In seinem Sterbezimmer fand sich ein Autographenkonvolut, das zunächst in den Besitz seiner Verlobten Minna Jaeglé überging.2 Es enthielt u. a. drei Hand­ schriften zu vier einander ergänzenden, sich teils überschneidenden bzw. einan­ der ersetzenden Entwürfen eines titellosen Proletarierdramas. H1 ist ein erster übergreifender Entwurf und gibt den groben Handlungsverlauf wieder, eine Eifersuchtsmordgeschichte um einen verwirrten Soldaten und seine Geliebte. Die Entwurfshandschrift H2 profiliert das soziale Umfeld, sodass die Abhängigkeits­ verhältnisse und die gezielt geförderte psychische Erkrankung des Protagonisten deutlich zutage treten. H3 bringt zwei spät verfasste Szenen als Ergänzung zum bereits vorhandenen Material, die die Symptome der Psychose verstärken bzw. den Handlungsverlauf klar machen. H4 schließlich ist ein Versuch der Finalisie­ rung, der neue Szenen und starke Überarbeitungen enthält, noch vor der Gewalt­ tat aber abbricht. Nach Abzug der Streichungen von Autorhand bleibt ein Text­ korpus von 36 Szenen, die bei den Editionsbemühungen in verschiedenen Lese- und Bühnenfassungen zum Teil recht unterschiedlich angeordnet, mitein­ ander verschmolzen bzw. auch verworfen wurden (vgl. Neuhuber 2009, 153–157). Diese vier Entwürfe sind die einzigen überlieferten Zeugnisse eines Arbeitsund Produktionsprozesses, der nicht mehr in eine autorisierte Fassung münden konnte und darum umso intensiver zur Konstitution und zum Verständnis des

1 Zur Aktualität und Dominanz des Woyzeck im internationalen Theater vgl. meine Studie (Neu­ huber 2016); allein im Büchner-Gedenkjahr 2012 wurde die Proletariertragödie auf zumindest 270 Bühnen in 44 Ländern in Szene gesetzt. 2 Zur Überlieferung vgl. Burghard Dedners minutiösen und kenntnisreichen Kommentar im Woyzeck-Band der Marburger Ausgabe (Büchner 2005b). DOI 10.1515/9783110466850-007, © 2017 Christian Neuhuber. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 License.

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 Christian Neuhuber

H1

1 Buden. Volk

H2

H3

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1 Freies Feld

1 Freies Feld

2 Die Stadt

2 Marie (mit ihrem Kind am Fenster) Margreth

3 Oeffentlicher Platz. Buden. Lichter

3 Buden. Lichter. Volk

4 Handwerksbursche 2 Das Innere der Bude

5 Unterofficier. Tambourmajor

3 Margreth, (allein)

4 Marie, sitzt, ihr Kind … 5 Der Hauptmann. Woyzeck 6 Marie. Tambour-Major 7 Marie. Woyzeck 6 Woyzeck. Doctor

8 Woyzeck. Der Doctor

7 Straße. Hauptmann. Doctor 4 Der Casernenhof

8 Woyzeck. Louisel

10 Die Wachtstube

5 Wirthshaus

11 Wirthshaus. Die Fenster offen, Tanz

6 Freies Feld

12 Freies Feld

7 Ein Zimmer. Louis und Andres

13 Nacht. Andres und Woyzeck in einem Bett 1 Der Hof des Professors

8 Kasernenhof 9 Der Officier, Louis 10 Ein Wirthshaus. Barbier. Unterofficier 11 Das Wirthshaus. Louis

15 Woyzeck. Der Jude 12 Freies Feld

9 Louisel, allein. Gebet

16 Marie (allein, blättert in der Bibel.)

13 Nacht. Mondschein. Andres und Louis

17 Kaserne. Andres. Woyzeck

14 Margreth mit Mädchen 15 Margreth und Louis 16 Es kommen Leute 17 Das Wirthshaus 18 Kinder 19 Louis, allein 20 Louis an einem Teich

2 D. Idiot. D. Kind. Woyzeck

21 Gerichtsdiener. Barbier. Arzt. Richter.

Abb. 1: Tabellarische Synopse des überlieferten Materials mit von Autorhand gestrichenen Szenen, Kursivierung bei ungesicherter Positionierung.



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Texts hinterfragt werden muss. Seit Beginn der Editionsgeschichte des Werks ist der Blick in die Werkstatt des Dichters deshalb immer schon ein besonders neu­ gieriger, intensiver und forschender gewesen, und noch immer lohnt es, sich des einen oder anderen Details zu versichern. Denn auch nach Abschluss der monu­ mentalen Werkausgabe der Marburger Forschungsstelle sind noch lange nicht alle Schwierigkeiten gelöst. Die intensive Auseinandersetzung mit dem verfügba­ ren und dem fehlenden Material hat jedoch gezeigt, wie die Sehnsucht nach einer allgemein gültigen Fassung im Laufe der Editionsgeschichte immer wieder zu durchaus bedenklichen Rekonstruktionsübergriffen, aber auch -unterlassungen geführt hat und immer noch führt. Die Motivation ist stets dieselbe naheliegende und prinzipiell ehrenwerte: Man möchte den tragisch abgerissenen Arbeitspro­ zess fortsetzen und den Text in einer Weise präsentieren, die den Schreibgewohn­ heiten, Vorstellungen und Absichten des Dichters möglichst nahekommt. Die Ergebnisse und Konsequenzen dieses imaginativen Nachvollzugs an der Grenz­ linie zwischen Textkonstitution und Interpretation können freilich durchaus unterschiedlich, ja konträr ausfallen. Offensichtlich hatten die Editoren ganz unterschiedliche Vorstellungen von dem, was Büchner mit seinem Drama inten­ dierte. Sie projizierten ihre eigenen Ideen in die Rekonstruktion, extrapolierten angebliche Büchner’sche Eigenheiten oder versteckten sich skrupulös hinter dem Material. Diese verschiedenen Zugänge und ihre entsprechend voneinander abweichenden Ergebnisse werfen die Frage auf, welchen Anteil der Editor bei der Werkentstehung denn eigentlich haben kann oder darf, wie sehr er – bildlich for­ muliert – in die vorzeitig verwaiste Werkstatt des Dichters eindringt und diese usurpiert. Brisant wird das zumal bei einem Fragment, dessen ästhetischer und literarhistorischer Stellenwert eine möglichst differenzierte Veröffentlichung dementsprechend notwendig erscheinen lässt. Im Folgenden wird an drei Fallbeispielen gezeigt, wie die Bearbeitung des Materialbestands im Lauf der Zeit die Rezeption von Büchners revolutionärem Drama entscheidend prägte. Sowohl die teleologische Ausdeutung als auch die restriktiv-quellenbasierte Wiedergabe oder die quasi-forensische Analyse des Materials brachten Dilemmata mit sich, die das Verständnis des Dramas im Lauf seiner Editions- und Rezeptionsgeschichte maßgeblich beeinflusst haben. Im ersten Fall verführte der Werkstattcharakter zu einer folgenschweren Umarbei­ tung, die bis heute Auswirkungen sowohl im inszenatorischen als auch interpre­ tatorischen Bereich zeitigt; im zweiten löste er einen nach wie vor nicht gänzlich ausgefochtenen Streit um Sprach- und Schreibmuster des Dichters aus; im dritten Fall schließlich wird die Fragmenthaftigkeit in einer Weise festgeschrieben, die den unbedarften Erstleser vor Rätsel stellen wird.

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1 Woyzeck und das falsche Ende Diejenigen aus Büchners Umfeld, die noch am ehesten mit seinen Zielen vertraut waren, hatten sich nicht für die nachgelassenen Tragödienfragmente erwärmt. Jaeglé schien sie für nicht edierbar zu halten und schickte dem ersten Heraus­ geber der unveröffentlichten Arbeiten, Karl Gutzkow, nur Abschriften der Erzäh­ lung Lenz, der Komödie Leonce und Lena und ausgewählter Briefe.3 Auch die erste Gesamtausgabe, die die Brüder Ludwig und Alexander Büchner 1850 besorgten, verzichtete auf einen Abdruck, weil es „durchaus unleserlich“ und „durch das Ausfallende so wenig unter einander in Zusammenhang zu bringen [sei], daß nichts davon in der Sammlung mitgetheilt werden konnte“ (Büchner 1850, 40). Transkribiert aber hatten sie es in großen Auszügen schon und den Umständen entsprechend durchaus geschickt.4 So werden es neben der verwirrenden Lagen­ anordnung der Manuskripte wohl auch inhaltliche und ästhetische Gründe gewesen sein, die sie vor einer Veröffentlichung zurückschrecken ließen. In den Druck kam das Stück erst ein halbes Jahrhundert nach seiner Entste­ hung auf Initiative des österreichischen Autors Karl Emil Franzos, zunächst als Teilabdruck 1875 in der Neuen Freien Presse, 1878 als Journaldruck in der Wochen­ schrift Mehr Licht! und schließlich 1880 in seiner Büchner-Gesamtausgabe (Hau­ schild 1985, 109–157). Franzos, der sich schon während seiner Grazer Studienzeit für Büchner begeistert hatte, ließ sich von Ludwig Büchner sämtliche Unterlagen zusenden und versuchte der Tintenblässe mit einer Schwefel-Ammoniak-Lösung abzuhelfen (Franzos 1875 [3. Nov.]). Weiteren Transkriptionsschwierigkeiten auf­ grund der unleserlichen Handschrift des Autors und der ihm unverständlichen Reihenfolge des Szenen versuchte er durch zusätzliche Recherchen Herr zu werden. Für die Vergegenwärtigung der Schreibumstände kontaktierte er u. a. auch den Naturforscher Johann Jakob Tschudi, der oftmals der einzige Teilneh­ mer in Büchners Zürcher Anatomieprivatissimum gewesen war (vgl. Hauschild 1985, 379–396). Denn damit dieses überhaupt zustande kam, hatten sich auch fachfremde Freunde eingetragen. Tschudi erstellte u. a. eine schlichte Skizze von Büchners Privatzimmer, das diesem als Wohnraum, Laboratorium und Seminar­ raum gedient hatte.5

3 Die genauen Umstände rekonstruierte erstmals Hauschild (1985), dessen Schlussfolgerungen im Großen und Ganzen auch noch Dedner (Büchner 2005b) folgt. 4 Vgl. die kommentierte Wiedergabe der Transkription sowie die Erläuterungen (Büchner 2005b, 57–70, 141–143). 5 Vgl. den Abdruck des ‚Situationsplans‘ aus einem Brief Tschudis an Franzos vom 2. November 1877 in Geus (1987, 364); das Original liegt in der Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftenab­ teilung Aut–H.I.N.-64237.



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Abb. 2: Johann Jakob Tschudis eigenhändige Skizze von Büchners Zimmer in Zürich.

Hier entstanden die späteren Entwürfe des Woyzeck ebenso wie zahlreiche Prä­ parate für seinen Unterricht, den er gleichfalls in diesem schlicht möblierten Raum abhielt. Er lag in einem Zinshaus des späteren Bürgermeisters Hans Ulrich Zehnder, das vorwiegend mit radikaldemokratischen Asylanten belegt war. Nebenan wohnten die Eheleute Schulz, seit der Straßburger Zeit eng befreundet mit Büchner, den sie bei seiner Todeskrankheit auch pflegten. 80 Jahre später logierte im Nebenhaus ein anderer Revolutionär: Lenin. Außer dieser späten Erinnerungsskizze haben wir nur noch einige wenige Andeutungen Büchners zu seiner Arbeitssituation in Zürich. „Ich sitze am Tage mit dem Skalpell und die Nacht mit den Büchern“ (Büchner 2012, 112), berichtet er etwa seinem Bruder Wilhelm im Herbst, und seiner Verlobten schreibt er einen Monat vor seinem Tod: Das Beste ist, meine Phantasie ist thätig und die mechanische Beschäftigung des Präpari­ rens lässt ihr Raum. Ich sehe dich immer so halb durch zwischen Fischschwänzen, Frosch­ zehen etc. [...] O, ich werde jeden Tag poetischer, alle meine Gedanken schwimmen in Spiri­ tus. (Büchner 2012, 116)

Aus den wenigen Hinweisen rekonstruierten die Kuratoren der großen BüchnerAusstellung 2013 im Darmstadteum das Arbeitszimmer des Autors, das die Aura des Schöpfungsprozesses stilecht wiederzugeben versucht, ohne dem Besucher tatsächlich Originales bieten zu können. Die eklatante Nachlasslosigkeit ist Resultat eines Lebens der Konspiration, der Flucht, des U-Boot-Daseins im Exil, des ständigen Umzugs und nicht zuletzt wohl auch der bewussten Verweigerung bürgerlicher Eigentumsakkumulation. Aus den räumlichen Umständen des krea­ tiven Schaffens wäre ohnehin wenig abzuleiten, denn Büchner hatte, wie Wilhelm Schulz rückblickend konstatierte, „[k]einen in die stille Werkstätte seines rastlo­ sen Geistes blicken“ (Grab 1985, 66) lassen. Die Werkstatt des Dichters ist hier tatsächlich internalisiert, ein Vorstellungsbild, das vorrangig über die Annähe­ rung an das Denken Büchners erfassbar ist. Undurchschaubar scheint für Franzos das nachgelassene Material auch noch nach der mühevollen Transkription gewesen zu sein. Eine vergleichsweise lässli­

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che Sünde war seine Fehllesung des Namens, sodass das Stück als Wozzeck bekannt wurde. Erst dreißig Jahre später wurde die Beziehung zum historischen Woyzeck-Fall hergestellt (vgl. Grab 1985, 66). Weitaus problematischer war, dass Franzos weder eine kausale Abfolge der einzelnen Szenen erkennen konnte, noch die eigentliche Intention des Stücks erfasste. Da für die „Anreihung der Scenen [...] nicht die leiseste Andeutung vorlag“,6 konstruierte er eine eigene Handlung, indem er den Büchnertext mit eigenen Erfindungen vermischte. Seine oft willkür­ liche Szenenanordnung erweckt den völlig falschen Eindruck, die einzelnen Teile des Stücks seien beliebig austauschbar. Schon der Beginn der Franzos-Fassung mit der Rasierszene ist in diesem Sinn eine ungerechtfertigte Manipulation des Bestands, konnte sich aber über Jahrzehnte halten. Am nachhaltigsten aber wirkten sich die Veränderungen aus, die Franzos mit dem Dramenende vornahm. Stellt man heute die Frage nach dem Ende des Woyzeck-Dramas, werden sich nicht wenige an einen ertrinkenden Titelhelden erinnern, wie er auch in Alban Bergs berühmter Oper Wozzeck oder in Werner Herzogs bekannter Verfilmung mit Klaus Kinski in der Titelrolle präsentiert wird. Mitnichten war dies allerdings die Absicht Büchners, den vielmehr die gerichtspsychiatrische Streitfrage um die Schuldfähigkeit geisteskranker, sozial determinierter Straftäter interessierte. Und mit ebendieser Frage sollte das Publikum am Schluss des Dramas konfrontiert werden, um es zum Nachdenken über gesellschaftliche Verhältnisse, problemati­ sche Rechtslagen und psychiatrische Diskurse zu zwingen. Einem Täter, der vorher ertrinkt, konnte jedoch kein Prozess mehr gemacht werden. Franzos hatte als Kind seiner Zeit das bürgerliche Trauerspiel vor Augen, als er einen der ver­ hängnisvollsten Übergriffe in der Geschichte der Editionsphilologie beging. Wie er das bewerkstelligte, zeigt die synoptische Gegenübergestellung der entspre­ chenden Passagen aus der ersten Buchfassung und der aktuellen Marburger Edition: Wozzeck. [...] So! da hinunter! (wirft das Messer hinein.) Es taucht ins dunkle Wasser wie ein Stein. Aber der Mond verräth mich — der Mond ist blutig. Will denn die ganze Welt es ausplaudern?! — Das Messer, es liegt zu weit vorn, sie findens beim Baden oder wenn sie nach Muscheln tauchen. (geht in den Teich hinein.) Ich find’s nicht. Aber ich muß mich waschen. Ich bin blutig. Da ein Fleck — und

[H1,16] Es kommen Leute. 1. P[erson]. Halt! 2. P[erson]. Hörst du? Still! Dort 1. [Person.] Uu! Da! Was ein Ton. 2. [Person.] Es ist das Wasser, es ruft, schon lang ist Niemand ertrunken. Fort s’ist nicht gut, es zu hören. 1. [Person.] Und jezt wieder. Wie ein Mensch der stirbt.

6 Erstmals aufmerksam auf den Konnex zum historischen Fall machte der bedeutende HeineForscher Hugo Bieber (1914); als erster Editor korrigierte Georg Witkowski Franzos’ Fehllesung.



noch einer. Weh! weh! ich wasche mich mit Blut — das Wasser ist Blut … Blut … (ertrinkt.) (Es kommen Leute.) Erster Bürger. Halt! Zweiter Bürger. Hörst du? Dort! Erster Bürger. Jesus! das war ein Ton. Zweiter Bürger. Es ist das Wasser im Teich. Das Wasser ruft. Es ist schon lange Niemand ertrunken. Komm — es ist nicht gut zu hören. Erster Bürger. Das stöhnt — als stürbe ein Mensch. Hans! da ertrinkt Jemand. Zweiter Bürger. Unheimlich! Der Mond roth und die Nebel grau. Hörst? — jetzt wieder das Aechzen. Erster Bürger. Stiller, — jetzt ganz still. Komm! komm schnell. (eilen der Stadt zu.) (Büchner 1879, 199–200)

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2. [Person.] Es ist unheimlich, so duftig – halb Nebel, grau und das Summen der Käfer wie gesprungne Glocken[.] Fort! 1. [Person.] Nein, zu deutlich, zu laut. Da hinauf. Komm mit. [H1,20] Louis an einem Teich. So da hinunter! (er wirft das Messer hinein) Es taucht in das dunkle Wasser, wie Stein! Der Mond ist wie ein blutig Eisen! Will denn die ganze Welt es ausplau­ dern? Nein es liegt zu weit vorn, wenn sie sich baden (er geht in den Teich und wirft weit) so jezt[,] aber im Sommer, wenn sie tauchen nach Muscheln, bah es wird rostig. Wer kann’s er­kennen[?] hätt’ ich es zerbrochen. Bin ich noch blutig? ich muß mich waschen[.] Da ein Fleck und da noch einer. (Büchner 2005b, 9–11)

Franzos’ zahllose Abänderungen, Hinzudichtungen und Auslassungen lassen die Fassungen auseinanderklaffen und verfälschen das Original in vielerlei Hin­ sicht. Der eigentlich fatale Kunstgriff aber ist die Umstellung der Szenen H1,16 und H1,20. Bei Büchner belauschen die beiden Personen das Tötungsdelikt und laufen hin zum Tatort, sodass sie in der Folge vom Mord berichten können und Woyzecks Angst vor der Entdeckung handlungslogisch begründet ist. Bei Franzos werden sie dagegen Ohrenzeugen von Woyzecks im Nebentext dezidiert herbeige­ schriebenem Ertrinkungstod und „eilen der Stadt zu“. Franzos war sicherlich überzeugt, den geplanten Schaffensprozess im Sinne Büchners bestmöglich vollendet zu haben, hatte aber dessen Zielsetzungen völlig missverstanden. Seine spekulative Deutung einer ‚höheren Gerechtigkeit‘, der sich Woyzeck in seiner Schuld ausliefert, war allerdings so suggestiv, dass sie selbst durch die folgenden kritischen Editionen von Georg Witkowski (1920) und Fritz Bergemann (1922) nicht erledigt wurde. Im Gegenteil, Bergemann, der als Erster die eigentliche Reihenfolge der Doppelblätter durchblickte, erklärt in einer späteren Ausgabe, dass das ursprüngliche „philologische Verfahren [...] nur den Forscher befriedigen konnte“, und so versuchte er, „des Dichters fragmentarische Ausführung aus den noch nicht benutzten Teilen der Entwürfe zu vervollständi­ gen und ihr auch durch Umstellung einiger Szenen eine möglichst dramatische Form zu geben“ (Büchner 1926, 473–474). Bis Ende der 1960er-Jahre zerriss man so bewusst die zeitliche und handlungslogische Komposition, um ein falsches Ende effektvoll in Szene zu setzen. Durch wirkungsmächtige Multiplikatoren wie Bergs Opernklassiker oder Herzogs Film, aber auch durch veraltete, gemeinfreie

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Aus­gaben, die im Netz kursieren bzw. nach wie vor im Handel erhältlich sind und die Grundlage vieler Übersetzungen bilden, geht auch heute noch ein Gutteil der aktuellen internationalen Inszenierungen von der irreführenden Idee eines er­‑ trinkenden Woyzeck aus. Ist Franzos allerdings für seine editorischen Übergriffe zu verurteilen? Immerhin haben wir es ihm, der gegen vielfachen Widerstand und Skepsis anzu­ kämpfen hatte, letztlich zu verdanken, dass Woyzeck überhaupt rezipiert werden konnte. Und vielleicht waren es ja gerade seine Verfälschungen, die Wedekind zu Frühlings Erwachen inspirierten, Hofmannsthal dazu bewegten, das Stück für die Uraufführung zu bearbeiten, Berg so begeisterten, dass er beschloss, daraus eine Oper zu machen, die eine eigene äußerst wirkungsmächtige Rezeptionsgeschichte entfaltete. Vielleicht hätte ja eine spätere kritische Edition nicht mehr den Nerv der Zeit getroffen; vielleicht wäre der Danton-Dichter Büchner heute gänzlich ver­ gessen.

2 Woyzeck und der Dialekt Mit Lehmanns Edition von 1967 haben sich zwar viele Fragen der Textkonstitu­ tion durch den verbindlichen Fokus auf H4 gelöst, das Problem unsicherer Lesun­ gen aber ist geblieben. Büchners schwer leserliche Handschrift, sein Hang zu Abkürzungen und Verschleifungen sowie die Entwurfhaftigkeit der meisten Text­ teile, in denen so manches nur angedeutet ist, machen jeden Entzifferungsver­ such zur Herausforderung. Seit den Transkriptionsbemühungen der BüchnerBrüder hat zwar eine ebenso aufwändige wie erfolgreiche Quellenrecherche vieles geklärt, was in Büchners ‚stiller Werkstätte‘ umging. Aber noch immer gibt es Stellen, die unsicher bleiben; so etwa eine bis heute kryptische Passage aus H4,7:

Abb. 3: Autograph Büchners (Quarthandschrift II–3).



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Es ist das bekannte Streitgespräch zwischen Woyzeck und Marie, wo er sie einer Affäre mit dem Tambourmajor bezichtigt. Woyzeck: „Ich hab ihn gesehn.“ Marie: „Man kann viel sehn, wenn man 2 Augen hat u. man nicht blind ist u. die Sonn scheint.“ Woyzeck entgegnet etwas und Marie erwidert „keck“: „Und wenn auch“ (Büchner 2005a, 69). Was hat Woyzeck hier gesagt? Die flüchtigen Kringel wur‑ den von den Editoren verschieden gedeutet.7 Franzos fabulierte „Du bei ihm“ (Büchner 1879, 184), Bergemann vermutete „Mußt sterben“ (Büchner 1922, 730), von Egon Krause auf „Mußt sterben Luder“ (Büchner 1969, 64) erweitert. Lehmann schlug „Mit dießen Augen“ (Büchner 1967, 366) vor, Gerhard Schmid konterte 1985 mit einem deftigen „Mit seinem Arsch“ (Schmid 1985, 291), da er eine Derbheit hinter der (absichtlichen) Verschleifung vermutete; länger hielt sich Henri Posch­ manns „Wirst “ (Büchner 1962, 92). Die aktuell maßgebliche Marburger Ausgabe behilft sich mit Platzhaltern: „Mi+t s++ A++“ (Büchner 2005/2, 49), von ehemaligen Mitarbeitern der Forschungsstelle später als „Mit seinen Armen“ (Büchner 2013, 160) gedeutet. Was Büchner wirklich sagen lassen wollte, werden wir wohl nie mit Sicherheit wissen. Aber auch dort, wo Wortlesungen prinzipiell als geklärt akzeptiert wurden, können sich unterschiedliche Schreibweisen ergeben, da oftmals nicht klar zwi­ schen den Schriftabkürzungen Büchners und den bewussten individualsprachli­ chen Redeverkürzungen seiner Figuren zu unterscheiden ist. Der Entfall von Buchstaben am Wortende (Apokopen) oder im Wortinneren (Synkopen) kann demnach als schreibökonomisch bzw. flüchtigkeitsbedingt angesehen und dem­ entsprechend normalisiert werden. Er kann aber auch als ästhetisches Distinkti­ onsmittel verstanden werden, das wiedergegeben werden muss, da es in den hes­ sischen Dialekten eine ausgeprägte Tendenz zur Apokope gibt. Je mehr also die Editoren die handschriftlichen Verschleifungen und Abbrechungskürzel als von standardsprachlichen Formen abweichenden dialektalen Endsilben- und End­ lautschwund verstehen, desto deutlicher wird in den jeweiligen Ausgaben das mundartliche Gepräge der Figurensprache. Klar ersichtlich werden die unter­ schiedlichen Zugangsweisen in der Gegenüberstellung von Textauszügen der ‚dialektaleren‘ Münchner Ausgabe mit der stärker emendierenden Marburger Ausgabe: Hauptmann. Kerl, will Er erschoß, will ei paar Kugeln vor den Kopf haben? Er ersticht mich mit sein Auge, [...]

Hauptmann. Kerl, will er erschossen, will ein Paar Kugeln vor den Kopf haben[?] er ersticht mich mit seinen Augen, [...]

7 Zu den Deutungsschwierigkeiten dieser Stelle vgl. bereits Walter Hinderers (1993) Rezension der Frankfurter Büchner-Ausgabe Henri Poschmanns.

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Doctor. [...] Wieviel Haare hat dir dei Mutter zum Andenke schon ausgerissen aus Zärtlich­ keit? [...] Wirt. Uu Blut. Woyzeck. Ich glaub ich hab mich geschnitte, da an die rechte Hand. Wirth. Wie kommt’s aber an de Ellenbog? Woyzeck. Ich hab’s abgewischt. Wirth. Was mit der rechten Hand an de rechte Ellboge? Ihr seid geschickt. (Büchner 1988, 245, 251, 254)

Doctor. [...] Wieviel Haare hat dir deine Mutter zum Andenken schon ausgerissen aus Zärt­ lichkeit, [...] Wirth. Uu Blut. [Woyzeck.] Ich glaub ich hab’ mich geschnit­ ten, da an die rechte Hand. Wirth. Wie kommt’s aber an den Ellenbogen? [Woyzeck.] Ich hab’s abgewischt. Wirth. Was mit der rechten Hand an den rechten Ellbogen. Ihr seyd geschickt. (Büchner 2005b, 18, 20, 10)

Ist die Ergänzung der Apokopen zu standardgemäßen Endungen gerechtfertigt oder nicht? Zweifellos setzte Büchner Dialekt zur Charakterisierung seiner Figuren ein; gerade die in die Handlung integrierten Volkslieder, die er ja über alles liebte, sollten offensichtlich hessisch gesungen werden.8 Und auch in sorg­ fältiger niedergeschriebenen Passagen finden sich offensichtlich bewusst gesetzte Dialektsynkopen und -apokopen. Büchner liebte die regionale Sprache des Volks; in ihr manifestierte sich nicht zuletzt die verlorene Heimat. Trotzdem spricht gegen eine allzu umfassende mundartliche Auslegung fehlender Buchsta­ ben, dass sich ähnliche Abbreviationsmuster auch in Büchners philosophischen Vorlesungskonzepten finden lassen, die ganz sicher nicht mundartlich intendiert waren (vgl. Bockelmann 1991, 234–236).9 Es wird wohl sein wie in den zeitglei­ chen Werken des Wiener Volkstheaters, wo Dialekt nicht phonetisch transkri­ biert, sondern mit gelegentlichen grafischen Hinweisen als gewünschte, auf das jeweilige Publikum abgestimmte Realisierungsform markiert wird. So erschwerte man die Lektüre nicht unnötig, zumal für ein überregionales, dialektfernes Lese­ publikum, suggerierte aber eine mündlichkeitsnahe Umsetzung im privaten Lesevergnügen bzw. im Spielbetrieb. Insofern haben beide Formen des editori­ schen Umgangs mit den Apokopen ihre Berechtigung, ohne dass aber die Verab­ solutierung der zugrundeliegenden Prinzipien eine tatsächlich zufriedenstel­ lende Lösung sein könnte.

8 Zur bewussten Verwendung dialektaler Formen in den implementierten Volksliedern vgl. Mar­ tin (2013). 9 Allgemein zur Frage einer ästhetischen Funktionalisierung regio- bzw. soziolektaler Varie­ täten vgl. das Nachwort von Burghard Dedner (Büchner 1999, 195–200) sowie den detaillierten Editionsbericht (Büchner 2005b, 178–213).



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3 Woyzeck und die Positionierung der H3-Szenen Zuletzt möchte ich noch einmal den Blick zurückwenden auf die problematische Anordnung der Szenen. Die von Franzos initiierte Beliebigkeit wirkt insofern nach, als der Woyzeck noch heute unsinnigerweise gerne als Modellfall für ein offenes Drama herhalten muss, trotz des sorgfältig durchkomponierten Zeit- und Handlungsverlaufs, der zudem von einem dichten motivisch-metaphorischen Netz zusammengehalten wird. In der Forschung geht inzwischen jede Edition von H4 aus, denn hier wird Büchners beabsichtigte Gesamtkonzeption in ihrer letzten Ausformung sichtbar. Weil dieser Reinschriftversuch aber unvollendet blieb, stellt sich nicht zuletzt die Frage, wie die beiden Ergänzungsszenen aus H3, ‚Der Hof des Professors‘ und ‚Der Idiot. Das Kind. Woyzeck‘ zu bewerten und zu positionieren sind. Schon die seit Bergemann und Lehmann etablierte Benen­ nung des Quartblatts weist auf seine Problematik hin, ging man doch davon aus, dass die beiden Szenen noch vor dem Reinschriftversuch H4 entstanden. Da sie dort allerdings nicht berücksichtigt sind, tendierte man in der Marburger For­ schungsstelle zunächst dazu, sie als verworfenes Material zu deuten, das in der Edition dementsprechend auch nicht zu berücksichtigen sei. Dagegen wurde viel­ fach Einspruch erhoben.10 Um Klarheit zu schaffen, gab der Doyen der Büchner­ Forschung, Burghard Dedner, eine Tintenanalyse in Auftrag, deren Ergebnis ihn überraschte: Denn das Labor wies nach, dass die Niederschrift von H3 eindeutig nach der Entstehung der beiden ersten Lagen von H4 erfolgte (Büchner 2005b, 89–104, 128). Aus den verworfenen Alternativentwürfen waren also zum Vorhan­ denen bewusst hinzukomponierte Zusätze geworden, die in den Handlungsab­ lauf integriert werden mussten. Zumal bei der Hof-Szene konnte dabei bislang noch keine Einigung erzielt werden. Lehmann positioniert sie inhaltlich wenig schlüssig nach der ‚Testament-Szene‘, da er die Szenenabfolge von H4 für ver­ bindlich erachtet (Büchner 1967, 425–426), Poschmann stellt sie in seiner ‚kombi­ nierten Werkfassung‘ an das Ende der Arbeitslücke für die Budenszene (Büchner 1992, 152–153 und Büchner 2008, 14–15), die Marburger Ausgabe empfiehlt, sie „am besten wohl nach H4,9“ (Büchner 2005b, 112) einzurücken, nach­dem Mayer (Büchner 1990) und Dedner (1999) in ihren ‚Lese- und Bühnenfassungen‘ noch ganz auf sie verzichtet hatten. Ich dagegen sehe sie am stimmigsten zwischen H4,13 und H4,14 – also am Vormittag nach Woyzecks nächt­lichen Mordhalluzina­ tionen und vor der mittäglichen Prügelei mit dem Tambourmajor – aufgehoben;

10 Am vehementesten forderte Henri Poschmann eine Neubewertung der ‚Ergänzungsentwürfe‘ und – daraus resultierend – eine Umbenennung der Handschriften H3 und H4 ein (vgl. Büchner 1992, 693; Büchner 2008, 135–136).

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denn nur hier haben wir in dem ansonsten eng geknüpften Zeitkonzept eine etwas längere Pause, die Büchner wohl zu füllen beabsichtigte, um die Orientie­ rung des Publikums im Zeitnexus sicherzustellen und die menschenfeindliche Zweckrationalität der Wissenschaft herauszustreichen. Weniger Möglichkeiten der Platzierung bieten sich für die zweite Szene, die insofern so wichtig ist, als Woyzeck hier offensichtlich triefnass auftritt und somit nicht ertrunken ist („der is in’s Wasser gefallen“; Büchner 2005b, 46). Sie wird üblicherweise vor H1,21 positioniert, zuweilen auch danach; auch als Ersatz für diese Schlussszene wäre sie denkbar. Weil diese Probleme bislang nicht konsensuell gelöst werden konnten, ver­ zichtet die Marburger Ausgabe und in ihrem Gefolge etwa auch die neueste, von Ariane Martin erstellte Reclam-Ausgabe auf die Erstellung einer Lese- und Büh­ nenfassung – eine meines Erachtens redliche, konsequente, aber dennoch nicht unbedenkliche Entscheidung mit möglicherweise kontraproduktiven Auswirkun­ gen: Denn so wird der Leser alleingelassen mit den Fragmenten, aus denen er sich selbst ein sinnvolles Ganzes bilden soll; Beliebigkeit ist auch hier wieder vorprogrammiert. Zu wünschen wäre, dass die aus dem Editionsprozess gewon­ nenen Erkenntnisse auch explizit für die Erstellung einer wissenschaftlich fun­ dierten Lesefassung genützt werden. * Jede textgenetische Auseinandersetzung mit Büchners Woyzeck ist eine Glei­ chung mit vielen Unbekannten. Es gibt keine autorisierte, ja nicht einmal eine annähernd abgeschlossene Fassung, es gibt kaum poetologische Ausführungen des Autors, die uns das ästhetische Programm näherbringen würden, nur einige wenige kryptische Kommentare zur Tragödie, die offenbar für einen geplanten Band mit „Ferkeldramen“ (Büchner 2012, 281) gedacht war, was auch immer dar­ unter zu verstehen ist. Aus diesem Mangel heraus fokussiert die Büchner-For­ schung seit jeher und exzessiver als bei vergleichbaren kanonisierten Autoren auf die ungewöhnlich karge Materialbasis, auf die Rekonstruktion des Produktions­ prozesses, auf die minutiöse Erfassung des Schreibvorgangs, auf die Analyse aller Umstände, die die kreative Entwicklung beeinflusst haben könnten. Das Spannende an dieser Situation ist ja, dass einem Werk, das noch nicht bereit war, die Werkstatt zu verlassen, deren Disposition viel stärker eingeschrieben ist als dem fertigen Produkt. Dieser immanente ‚Werkstattcharakter‘ ist letztendlich auch mitverantwortlich für die immense Beliebtheit des Woyzeck bei den Thea­ terschaffenden, für die der Text vor allem erweiterbares Spielmaterial ist. Für den Philologen ist das Unfertige eine andere Herausforderung, weil hier textgeneti­ sche Fragen aufs Engste mit interpretatorischen Schlussfolgerungen verknüpft



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sind, die durchaus weitreichende Folgen haben können, wie zu zeigen versucht wurde. Im Gegensatz zur künstlerischen Adaption hat sich das wissenschaftliche ‚Weiterarbeiten‘ in der Werkstatt des Dichters prinzipiell der Versuchung zu ent­ halten, die Rolle des Schaffenden zu übernehmen. Wohin das führen kann, lässt sich an den hartnäckigen Residuen der Franzos-Fassung ablesen. Aber auch das hermetische Verschließen der Werkstatt kann keine Lösung sein. Die Aufgabe des Philologen muss es vielmehr sein, die Logik des Schaffensprozesses aus dem Hin­ terlassenen zu durchblicken und weiterzudenken.

Literaturverzeichnis Bieber, Hugo. „Wozzeck und Woyzeck“. Das literarische Echo 16.17 (1914): 1188–1191. Bockelmann, Eske. „Von Büchners Handschrift oder Aufschluß, wie der Woyzeck zu edieren sei“. Georg Büchner Jahrbuch 7 (1988/89) [1991]: 219–258. Büchner, Georg. Nachgelassene Schriften. [Hg. Ludwig Büchner.] Frankfurt a. M.: Sauerländer, 1850. Büchner, Georg. Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Erste kritische GesammtAusgabe. Eingel. und hg. von Karl Emil Franzos. Frankfurt a. M.: Sauerländer, 1879. Büchner, Georg. Sämtliche Werke und Briefe. Hg. Fritz Bergemann. Leipzig: Insel, 1922. Büchner, Georg. Werke und Briefe. Hg. Arnd Beise, Tilman Fischer und Gerald Funk. Darmstadt: Lambert Schneider, 2013. Büchner, Georg. Werke und Briefe. Hg. Fritz Bergemann. Leipzig: Insel, [1926]. Büchner, Georg. Sämtliche Werke und Briefe. Hg. Ariane Martin. Stuttgart: Reclam, 2012. Büchner, Georg. Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar. Hg. Werner R. Lehmann. Bd. 1. Hamburg: Wegner, 1967. Büchner, Georg. Woyzeck. Texte und Dokumente. Hg. Egon Kraus. Frankfurt a. M.: Insel, 1969. Büchner, Georg. Woyzeck. Faksimileausgabe der Handschriften. Bearb. Gerhard Schmid. Leipzig: Edition Leipzig, 1981. Büchner, Georg. Woyzeck. Gezeichnet von Dino Battaglia. Nachwort von Thomas Michael Mayer. Osnabrück: Altamira, 1990. Büchner, Georg. Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden. Bd. 1: Dichtungen. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1992. Büchner, Georg. Woyzeck. Studienausgabe. Nach der Edition von Thomas Michael Mayer. Hg. Burghard Dedner. Stuttgart: Reclam, 1999. Büchner, Georg. „Woyzeck“. Marburger Ausgabe. Bd. 7.1. Text. Hg. Burghard Dedner und Gerald Funk unter Mitarbeit von Per Röcken. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005a. Büchner, Georg. „Woyzeck“. Marburger Ausgabe. Bd. 7.2. Text, Editionsbericht, Quellen, Erläuterungsteile. Hg. Burghard Dedner unter Mitarbeit von Arnd Beise, Ingrid Rehme, Eva-Maria Vering und Manfred Wenzel. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005b. Büchner, Georg. Briefwechsel. Marburger Ausgabe. Bd. 10.1. Text. Hg. Burghard Dedner, Tilman Fischer und Gerald Funk. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005c.

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Büchner, Georg. Woyzeck. Mit einem Kommentar von Henri Poschmann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008. Franzos, Karl Emil. „Aus Georg Büchner’s Nachlaß“. Neue Freie Presse 4020 [3. Nov.], 4022 [5. Nov.] und 4039 [23. Nov.] (1875). Geus, Armin. „Georg Büchners letzte Krankheit. Ein Beitrag zur Geschichte des Typhus im 19. Jahrhundert“. Georg Büchner 1813–1837. Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler. Katalog der Ausstellung Mathildenhöhe, Darmstadt 2. August – 27. September 1987. Basel, Frankfurt a. M.: Stroemfeld, Roter Stern, 1987. 267–275. Grab, Walter: Georg Büchner und die Revolution von 1848. Der Büchner Essay von Wilhelm Schulz aus dem Jahr 1851. Text und Kommentar. Königstein/Ts.: Athenäum, 1985. Hauschild, Jan-Christoph. Georg Büchner. Studien und neue Quellen zu Leben, Werk und Wirkung. Mit zwei unbekannten Büchner-Briefen. Königstein/Ts.: Athenäum, 1985. Hinderer, Walter. „Kastriert oder Kosack? Eine vorzügliche Büchner-Ausgabe“. Frankfurter Allgemeine Zeitung 145 (26. Juni 1993). Martin, Ariane. „Geschlecht, Gewalt, soziale Frage. Die Volkslieder in Büchners Dramen“. Dichter der Immanenz. Vier Studien zu Georg Büchner. Hg. Ariane Martin und Bodo Morawe. Bielefeld: Aisthesis, 2013. 45–128. Neuhuber, Christian. Georg Büchner. Das literarische Werk. Berlin: Erich Schmidt, 2009. Neuhuber, Christian. „Woyzecks Weg zur Weltliteratur – Anmerkungen zur aktuellen Bühnenrezeption. Mit einem Verzeichnis der Aufführungen 2012“. Georg Büchner Jahrbuch 13 (2013–2015) [2016]: 301–325. Schmid, Gerhard. „Zur Faksimileausgabe von Büchners ‚Woyzeck‘. Eine nachträgliche Problem­ erörterung“. Impulse. Aufsätze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik. Folge 8. Berlin, Weimar: Aufbau, 1985. 280–295.

Petra-Maria Dallinger

Adalbert Stifters Arbeitszimmer und andere Orte des Schreibens Wenn man also die Porträts von Raffael und seiner Geliebten, den Ritter d’Assas und die Schäferin in den Alpen rechts liegenläßt und links an der Fensterseite entlangfährt, ent­ deckt man meinen Schreibtisch: Er ist der erste und auffälligste Gegenstand, der sich den Blicken des Reisenden bietet, wenn er dem angegebenen Weg folgt. Er wird überragt von einigen Fächern, die als Bibliothek dienen; – das Ganze wird gekrönt von einer Büste, die den Abschluß der Pyramide bildet, und das ist der Gegenstand, der am meisten zur Verschönerung der Landschaft beiträgt. Zieht man auf der rechten Seite die erste Schublade auf, so findet man dort Schreib­ zeug, Papier aller Art, vorgeschnittene Federn und Siegelwachs. – Das alles würde den trägsten Menschen zum Schreiben verführen. – […] Zwischen diesen beiden Schubladen ist eine Vertiefung, in die ich alle Briefe nach Erhalt hineinwerfe: man findet dort sämtliche Briefe, die ich in den letzten zehn Jahren bekommen habe; die ältesten sind nach dem Datum in Bündeln geordnet; die neueren liegen durcheinander; ich habe mehrere, die aus meiner frühen Jugend stammen. (de Maistre 2005, 83–85)

In dieser ‚Zimmerreise‘ fallen unterschiedliche Stichworte – Gemälde, Biblio­ thek, Büste, Schreibzeug, Briefe, Material zur Erinnerung wie Anregung –, denen man als stereotype Versatzstücke von Dichterinterieurs über lange Zeit begegnen wird. Im Folgenden werden einige Überlegungen zum Arbeitszimmer von Schrei­ benden angestellt; – zu seiner Bedeutung, seinem Aussehen beziehungsweise seiner Inszenierung anhand von konkreten Beispielen sowie zur Frage nach seiner Abbildung in Archivmaterialien. Als Beispiele dienen: Adalbert Stifter mit seinem zum Gedenkraum gewordenen Arbeitszimmer innerhalb der öffentlich zugänglichen Dichterwohnung, Marlen Haushofer mit einem kaum greifbaren, vermutlich nur ideellen „Mansardenzimmer“ und schließlich Enrica von HandelMazzetti mit einer in vielfältiger Gestalt ins Materielle übertragenen PhantasieSchreib-Welt, die sich in ihrem Nachlass noch in etlichen Details rekonstruieren lässt.

1 Das Arbeitszimmer und seine Bedeutung Das Arbeitszimmer ist für Schreibende in erster Linie selbstverständlicher Ort für den Arbeitsprozess, so scheint es jedenfalls, wenn es auch gar nicht so wenige (Gegen-)beispiele für ein ‚unbehaustes Schreiben‘, wie ein Schreiben an öffentli­ DOI 10.1515/9783110466850-008, © 2017 Petra-Maria Dallinger. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 License.

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chen Orten, etwa im Kaffeehaus, gibt, oder eines ohne einen dafür bestimmten dauerhaft notwendigen Raum. Eine andere Zielrichtung erhält die Frage nach der Bedeutung der Werkstatt der Künstlerin/des Künstlers im Kontext von Geniekult, kollektiven Erinnerungsformen und kulturellem Gedächtnis (wie es sich u. a. in Gedenktafeln, die an Werkentstehungen erinnern – „hier schrieb …“ – zeigt); in Verbindung mit musealen oder wissenschaftlichen Einrichtungen kann das Dichterhaus sein kulturpolitisches Potenzial im Besonderen entfalten. Als Beispiel für den Wunsch nach Begegnung mit dem Dichter, nicht nur in seinen Texten, sondern an konkreten biografischen Orten, sei das dem Oberöster­ reichischen Literaturarchiv/Adalbert-Stifter-Institut übergebene „Konvolut Willy Stadler“ kurz angesprochen: Der Stifter-Leser Stadler unternimmt im Herbst 1925 eine Reise, die ihn an zahlreiche ihm relevant erscheinende Stifter-Orte führt, eine Spurensuche, die sich in einer sorgfältig angelegten Mappe mit Fotokarten und Korrespondenzen niederschlägt. Lackenhäuser im Bayerischen Wald, Prag, Wien, Linz werden aufgesucht, eine zentrale Stellung nimmt Oberplan/Horní Planá (Tschechien), Stifters Geburtsort, ein, wo Stadler auf die „letzte lebende Nichte des Dichters“ (wie sie sich selbst bezeichnet), Ida Mayer-Stifter, trifft, die ihm eine Widmungsfotografie überlässt und die Übergabe von Erinnerungs­ gegenständen in Briefen ankündigt.

Abb. 1: „Adalbert Stifters Geburtshaus in Oberplan“, heute Horní Planá (Tschechien).



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Am Geburtshaus in Oberplan war am 25. August 1868, kurz nach Stifters Tod am 28. Jänner des Jahres, eine Erinnerungstafel angebracht worden; 1910 erwarb die Gemeinde das Haus, – vielleicht im Zusammenhang mit der von der „Gesell­ schaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen“ betreuten, ersten historisch-kritischen Edition der Werke und Briefe des Dichters. Seit 1960 ist das Haus museale Gedenkstätte. Neben einer Fotografie des Geburts­ hauses gibt es in der Sammlung Stadler zahlreiche Aufnahmen des gesamten Ortes Oberplan, während Linz nur mit einem Bild, nämlich dem des Hauptplat­ zes, vertreten ist. Kenntnis vom oder Interesse am Wohnhaus des Dichters schei­ nen beim Stifter-Verehrer offenbar nicht gegeben gewesen zu sein.

Abb. 2: Hotel Weinzinger um den Ersten Weltkrieg, mittig: Stifters Linzer Wohnhaus.

In eben jenem Haus, in dem Stifter von 1847/48 bis zu seinem Tod 1868 gelebt und gearbeitet hatte, konnte das Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich 1957, wenige Jahre nach seiner Gründung 1950, Räume beziehen.1 Am 1844 erbau­ ten Haus mit der Adresse „Hartl’sches Haus 1313“ (später: Untere Donaulände 6, heute: Adalbert-Stifter-Platz 1) befand sich seit 1903 eine Gedenktafel mit

1 Bereits früher hielt sich Stifter zur Sommerfrische in Linz auf, erstmals nahm er 1847 im Hartl’schen Haus Quartier, vom 6. Mai 1848 bis zum 1. Juli 1849 bewohnte er Räume im 1. Stock des heutigen StifterHauses, dann bezog er eine nordseitige Wohnung mit Donaublick im 2. Stock.

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Reliefmedaillon,2 darin waren Wohnungen von Mitarbeitern der Donau-Dampf­ schifffahrts-Gesellschaft untergebracht. Mit dem Einzug in Stifters Wohn- und Sterbehaus wurde zwischen dem damals noch kleinen wissenschaftlichen Insti­ tut (das als über seine Institutsmitglieder überregional vernetzte Forschungsein­ richtung stark ideellen Charakter hatte) und dem neu geschaffenen Gedenkraum – Stifters ehemaligem Arbeitszimmer – eine unmittelbare Verbindung geschaf­ fen, die gewissermaßen bis heute nachwirkt. Institutsgründung und Gedenkstät­ teneinrichtung befördern und befestigen einander.3 Das Adalbert-Stifter-Institut ist nicht nur nach dem Dichter benannt, sondern an einem tatsächlichen Schreib­ ort angesiedelt: zentrale Aufgabenbereiche – Sammeln, Forschen, Vermitteln – werden an eben diesem Ort, in den 1993/2013 als Literaturmuseum gestalteten ehemaligen Wohnräumen Stifters, sichtbar.

2 Wie sah/sieht ein Arbeitszimmer aus? Oder wie hat es auszusehen? Mit der Schiller- und Goethe-Verehrung haben sich bereits im 19. Jahrhundert gewissermaßen klassische ikonografische Muster entwickelt, die sowohl für die Reinszenierung von Arbeitszimmern als auch für die Selbstinszenierung von Schreibenden beinahe so etwas wie verbindliche Modelle wurden.4 […] das Ganze so herzustellen, daß man zu dem obern Zimmer gelangen und Fremde dahin führen könne. Diese wallfahrten häufig hierher, und meine Absicht ist den hergestellten Raum nicht leer zu lassen, sondern des trefflichen Freundes Büste daselbst aufzustellen, an den Wänden in Glas und Rahmen ein bedeutendes Blatt seiner eigenen Handschrift, nicht weniger eine kalligraphische Tafel, meinen Epilog zur Glocke enthaltend. Hiezu wünscht

2 Die Gedenktafel entstand auf Initiative von Museumskonservator Josef Straberger, von Bild­ hauer Hans Rathausky wurde unentgeltlich der Entwurf beigestellt und mit Unterstützung eines Budweiser Fabrikanten realisiert (vgl. Hein 1904, 648). 3 Der Ankauf von Stifters Salongarnitur durch das OÖ. Landesmuseum, Brief vom 6. November 1954, wird mit der geplanten Einrichtung eines Gedenkraumes argumentiert (vgl. Hanna und Herbert Schäffer 2016, 47). 4 Franz Grillparzer berichtet über seinen Besuch im Schillerzimmer in Weimar: „Am meisten interessirte mich Schillers Haus, vor allem aber der Umstand, daß in des Dichters Arbeitszimer, einem eigentlichen Dachstübchen im zweiten Stockwerke, ein Greis, der noch zu Schillers Zeit als Souffleur beim Theater gestanden haben soll, einen kleinen Knaben, seinen Enkel, im Lesen unterrichtete. Die offene und geistig angeregte Miene des Kleinen gab der Illusion Raum als ob aus der Studierstube Schillers dereinst ein neuer Schiller hervorgehen könnte, was freilich nicht eingetroffen ist“ (Grillparzer 1994, 164).



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ich nur einen Stuhl, einen kleinen Tisch dessen er sich bedient. Vielleicht Tintenfaß, Feder oder irgend eine Reliquie. (zit. n. Schmälzle 2012, 57)

Der rekonstruierte Arbeitsplatz mit Autograph und Büste – die Ikonografie eines klassischen Dichterzimmers – wird über unterschiedliche Narrative zunehmend popularisiert: Mit Schreibtisch, Werken, Schreibgerät usw. ist ein andachtsfähi­ ges Interieur geschaffen, wobei ein Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch nach Authentizität und der jeweiligen zeitgenössischen „mise en scène“ nicht immer vermieden werden kann. Dem teils ins Bizarre abgleitenden Personenbzw. Reliquienkult versucht man durch die Idee, im Repräsentierten werde das Geistige verehrt, beizukommen.

3 Adalbert Stifter (1805–1868) Beschrieben wird das Zimmer des Dichters Adalbert Stifter, der selbst begeistert von Lage und Aussicht seiner Wohnung war – „in deren Fenstern ein Kranz prächtiger Hügel liegt“ (Stifter, PRA, Bd. 22, 220, Brief Nr. 879) –, von Zeitgenos­ sen als Mischung aus Maleratelier, Werkstätte für Möbelrestaurierung und Pflan­ zenzucht und nicht zuletzt doch Dichterstube wie folgt: Wenn man ihn besuchte, so trat man in das Gemach eines Sonderlings, der er auch war. […] Anderer Art [als das Prunkzimmer, Anm. P. D.] war sein eigenes Zimmer, man arbeitete sich hinter mehreren Staffeleien hervor, die mit angefangenen Gemälden bedeckt waren; während unserer vieljährigen Bekanntschaft habe ich ihn nicht eines davon vollenden sehen. An der Hauptwand hing ein Ölbild, sorgfältig von einem seidenen Vorhang bedeckt, da die weibliche Gestalt, die es darstellte, aller andern Bekleidung entbehrte. [...] In den drei Fenstern, die auf die Donau gingen, standen ganze Familien von Cakteen, für die Stifter eine Leidenschaft hatte, gewöhnlich war es ein trauriger Anblick, für den allerdings zuwei­ len eine zauberhafte Blüte entschädigte; die Temperatur des Zimmers mußte sich diesen heißsaftigen Fremdlingen bequemen, und war manchmal zum Schlagtreffen. Dann standen da zwei herrliche Zimmerzierden, ein Kleiderschrank aus der Vorrokokozeit mit dem schönsten Holzmosaik, von ihm selbst auf das sorgfältigste hergestellt. Schon im Winter 1849 brachte er, wenn er Abends zu uns kam, gewöhnlich ein Stück dieses Schranks als Handarbeit mit, an dem er polierte. […] Das zweite noch weit prachtvollere Möbel war ein Schreibtisch aus der Renaissancezeit, in Sarkophagform, auf Delphinen ruhend, mit Karya­ tiden und Statuetten reich verziert; 48 oder mehr Schubfächer schließt ein einziges Schloß. Das Ganze war mit einer Genauigkeit und Zierlichkeit gearbeitet, welche die besten engli­ schen Arbeiten auszeichnet. Noch andere gut hergestellte Rokokomöbel enthielt dieses Gemach, das sonst auf das einfachste mit Strohstühlen und einem einfachen Ruhebett ein­ gerichtet war. Auf diesem lag er in den letzten Jahren oft, wenn er von seiner Zimmerprome­ nade ermüdet war. (Binzer 1868, o. S.)

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Die (teils anekdotischen) Berichte durch Freunde Stifters, das Verzeichnis der 1849 von Wien nach Linz übersiedelten Gegenstände (vgl. Jungmair 2006, 11), in Briefen mitgeteilte Ankäufe von einzelnen alten Möbelstücken, die Verlassen­ schaftsakte nach Adalbert Stifter und das Feilbietungsprotokoll nach dem Tod seiner Frau Amalia5 geben einen Eindruck vom Inventar, aber keinen von der Anordnung, vom Arrangement; bislang ist keine Detailansicht (oder Fotografie) von Stifters Studiolo bekannt, mit Ausnahme einer Zeichnung.6 Die seit Mitte der 1950er-Jahre erfolgten Gestaltungen des Gedenkraumes konnten nie ein Versuch einer auch nur annähernd getreuen Rekonstruktion sein, wurden aber dennoch von Besucherinnen und Besuchern in diesem Sinne rezipiert; inklusive einer auch im Gästebuch wiederholt geäußerten Verunsicherung infolge des Gegen­ satzes von Vorstellung und gebotenem Bild.

Abb. 3a: Gedenkraum in Stifters ehemaligem Arbeitszimmer, Anfang der 1960er-Jahre.

5 Das Nachlassinventar nach Adalbert Stifter (26. Februar 1868) und nach Amalia Stifter (14. Februar 1883) befindet sich im OÖ. Landesarchiv (Feilbietungsprotokoll, 9. Mai 1883; Stifter­ akten, Schachtel 11, folio 6024–6072); die Nachlassbibliothek listet Erwin Streitfeld (1977) auf. 6 Zeichnung von Josef Maria Kaiser, 1867, im Besitz der Adalbert-Stifter-Gesellschaft Wien. Stifter wird in Bildern nicht in der Dichterstube oder am Schreibtisch in Szene gesetzt, wiewohl ihn Bartholomäus Székelyi im bekannten Ölgemälde von 1863 in seinem Arbeitszimmer – das aller­ dings in unbestimmtem Dunkel bleibt – gemalt hat (vgl. hierzu Stifters Brief an Gustav Hecken­ ast vom 10. Dezember 1862 (Stifter, PRA, Bd. 20, 170–174, Brief Nr. 533) sowie Jungmair 1958, 217).



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Abb. 3b: Gedenkraum in Stifters ehemaligem Arbeitszimmer, OÖ. Literaturmuseum, 1993–2013.

Abb. 3c: Stifters ehemaliges Arbeitszimmer, OÖ. Literaturmuseum, 2013.

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4 Was sagt der Dichter im Werk zu Arbeitsumgebungen? Raumstrukturen, Ordnung und Unordnung spielen in Erzählungen Stifters eine zentrale Rolle: Erinnert sei an „liederliche Interieurs“ (Schneider 2009, 158, 161, 167) wie beispielsweise im Hagestolz, an Plunder und Truhe in Die Mappe meines Urgroßvaters, worin das Haus als Raum für Erinnerungen konstituiert wird, das Zwischengeschoß als Ort zur Aufbewahrung und zum Verbergen von vernähten Manuskripten dient. Das Schreiben/die Schrift bietet die Möglichkeit zu Distan­ zierung bzw. umgekehrt eine zur Stiftung von Sinn-Zusammenhang und ist dabei doch immer bedroht vom ‚Klaffen der Fugen‘ (vgl. Stifter, HKG 1.5, 22), vom Zerfall der Ordnung. In der Narrenburg sind Schreiben und Ablegen Thema, weniger der Ort des Schreibens steht im Fokus als das Archiv und der Zwang zur Lektüre. Peinlich eingehaltene Ordnung, Rituale, nahe an Zwangshandlungen, charakte­ risieren das Verhalten der Figuren untereinander, aber auch ihren Umgang mit Raum generell, seien es Bauvorhaben, Architekturkonzepte oder die Ordnung der Landschaft. Ansichten zur Nutzung von Räumen werden im Nachsommer geäu­ ßert: „Die gemischten Zimmer, wie er sich ausdrückte, die mehreres zugleich sein können, Schlafzimmer, Spielzimmer und dergleichen, konnte er nicht leiden. Jedes Ding und jeder Mensch, pflegte er zu sagen, könne nur eines sein, dieses aber muß er ganz sein“ (Stifter, HKG 4.1, 11).

5 Was teilt das Archivmaterial diesbezüglich mit? Die Ordnung der Schrift ist bei Stifter eine nie abgeschlossene, eine nie erreichte, und dennoch spiegelt sich ein Wille zur Ordnung noch in den Ausschraffierungen und Käfigen getilgter Textpassagen wider, sieht Stifter den eigenen Arbeitspro­ zess offenbar als geordnetes Handeln. So schreibt er an seinen Verleger: Die Arbeit meiner Bücher ist so: Zuerst Hauptidee im Gedanken, 2. Ausarbeitung von Einzel­ heiten in Gedanken 3. Abriß von Einzelheiten Säzen Ausdrüken Scenen auf lauter einzelnen Zetteln mit Bleistift. (Hiezu müssen die erlesensten Stunden benüzt werden) 4. Textirung mit Dinte auf Papier. 5. Durchsicht dieser Textirung nach einiger Zeit mit viel Ausstreichun­ gen Einschaltungen etc. 6. Durchsicht der Durchsicht nach geraumer Zeit. Verschmelzung mit dem Ganzen. Reinschrift. (Stifter, PRA, Bd. 20, 45, Brief Nr. 470)

Auch für den Text selbst verwendet Stifter ein räumliches Bild, wenn er in einem anderen Brief an Heckenast von einer Idee als einem „klaren Tempel“ spricht und davon, dass sich die geplante Konzeption nicht realisieren ließe (Stifter, PRA, Bd. 18, 207, Brief Nr. 286).



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In einer Anekdote berichtet der Maler J. M. Kaiser, dass Stifters Hund Lidy gerne im „geräumigen, in der Regel bis gegen den Rand mit Abfällen vom Dichter­ tische gefüllten Papierkorb“ beziehungsweise manchmal „auch tief in dieselben vergraben“ lag, was die Annahme unterstützt, Stifter habe keine Notizbücher verwendet, wiewohl der Biograf Alois Raimund Hein an anderer Stelle davon schreibt, dass in den Anfängen „festgenähte Hefte“ verwendet worden seien (Hein 1904, 464, 456). Notizzettel des Dichters haben sich in wenigen Beispielen erhalten; zahlreich dagegen sind sogenannte „abgelegte Blätter“ zum Nachsommer. Auf Konzeptbögen wird bis zu ca. ein Drittel der Fläche für Revisionen reser­ viert. Die Reinschrift, die ‚schönen Seiten‘, sind für den Autor wichtig, er verlangt sie nachdrücklich vom Verleger zurück. Der Text bleibt nicht nur im Materiellen immer Mappe und damit offene Form, die Umordnungen erlaubt. Adalbert Stifter schreibt: in Wien an unterschiedlichen Adressen (vgl. Gugitz 1952), in Linz im Arbeitszimmer in seiner Wohnung (seltener in seinem Amtszim­ mer im Linzer Landhaus),7 auf Erholung in Lackenhäuser, in Kirchschlag usw., auf Inspektionsreisen als oberösterreichischer Schulrat. Er scheint den inneren, schon früh imaginierten Schreibraum mitnehmen zu können und in seiner litera­ rischen Arbeit nicht an einen einzigen Ort im Realen gebunden zu sein. Wie dieser innere und später in etwa auch so verwirklichte Ort aussehen könnte, schildert der Maler Albrecht in Feldblumen: Ich möchte eine Wohnung von zwei großen Zimmern haben mit wohlgebohnten Fußboden, auf dem kein Stäubchen liegt, sanft grüne oder perlengraue Wände, daran neue Geräthe edel, massiv, antik einfach, scharfkantig und glänzend, seidne graue Vorhänge, wie matt geschliffnes Glas, an den Fenstern in kleinen Falten gespannt, und von seitwärts gegen die Mitte derselben zu ziehen. In dem einen der Zimmer wären ungeheure Fenster, um Licht­ massen hereinzulassen und mit obigen Vorhängen für trauliche Nachmittagsdämmerung. Rings im Halbkreise auf Gestellen stünde eine Blumenwildniß, und mitten darin säße ich mit meiner Staffelei, und versuchte endlich jene Colorite zu erhaschen, die mir ewig im Gemüthe schweben, und Nachts durch meine Träume dämmern – ach jene Farbenwunder, die in Wüsten prangen, über Oceanen schweben und den Gottesdienst der Alpen feiern helfen. An den Wänden hinge ein oder der andere Ruisdael oder ein Claude, dann ein Gau­ ermann und Kindergesichtchen von Ammerling. [...] Stünden noch etwa zwischen dunkel­ blättrigen Tropengewächsen ein paar weiße Marmorbilder von Canova, dann wäre freilich des Vergnügens letztes Ziel und Ende erreicht. Sommerabends, wenn ich für die Blumen die Fenster öffnete, daß ein Luftbad hereinströme, säße ich im zweiten Zimmer, das das gemeine Wohngehäuse mit Tisch und Bett und Schrank und Schreibtisch ist, nähme auf ein

7 In einem Brief an Gustav Heckenast vom 6. Dezember 1850 schreibt Stifter: „Ich gehe täglich schon vor 8 Uhr in mein Amt, wo ich in der tiefsten Stille, ehe die andern kommen (9½–10) dich­ te […]. Wenn ich vormittags in Schulen bin, ist der Dichtungstermin von 6 – 8 – 9 Uhr Abends“ (Stifter, PRA, Bd. 18, 54, Brief Nr. 195).

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Abb. 4: Adalbert Stifter im Arbeitszimmer seiner Linzer Wohnung; Bleistiftzeichnung von Josef Maria Kaiser, 1867.



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Stündchen Vater Hans Paul zu Handen oder schriebe, oder ginge hin und wider [...]. Dann stellte ich wohl den guten Refractor von Fraunhofer, den ich auch hätte, auf, um in den Licht- und Nebelauen des Mondes eine halbe Stunde zu wandeln […]. Doch dieß führt mich auf den zweiten Wunsch, nämlich außer obiger Wohnung von zwei Zimmern noch drei dar­ anstoßende zu haben, in denen die allerschönste, holdeste, liebevollste Gattin der Welt ihr Paphos hätte […]. (Stifter, HKG 1.1, 44–46)

Zum Abschluss dieser ersten Skizze: Adalbert Stifters Arbeitszimmer zeigt sich als Werkstatt eines „Wissenschafters im Allgemeinen“ (Stifter, HKG 4.1, 17), mit „einem Gewirr an Staffeleien“, „Glasverschlägen für die von Stifter gezüchteten Kakteen“,8 vielleicht einem der neun Vogelbauer, Stellagen mit abgelegten Blät­ tern, Holzteilen für die Restaurierung von Möbelstücken, Ruhebetten (auf einem derer er den Tod fand), Stühlen mit Strohgeflecht, einem Intarsienschrank, dem Delphinschrank mit verborgenen Fächern (siehe allgemein Jungmair 2006), die man im Sinne von Gaston Bachelards Poetik des Raumes als Kästchen, als Erlaub­ nis für Geheimnisse, deuten könnte (vgl. Bachelard 2014, 96–97). Aus einem Sch­ reiben Stifters an Amalia Stifter weiß man, dass der Dichter das Witiko-Manu­ skript „im schönen Schreibkasten [d. i. der sogenannte Delphinschrank, Anm. P. D.] im untersten Fache rechts in einer Linzer Zeitung“ (Stifter, PRA, Bd. 21, 90, Brief Nr. 651) aufbewahrte.9 Man wird nicht fehlgehen, sich dieses ‚Dichter-Atelier‘ als sehr privates Inte­ rieur eines Mannes zu denken, inklusive des erwähnten, einen weiblichen Akt zeigenden Gemäldes hinter einem Vorhang. Ein so ganz anderer Raum innerhalb der konventionell möblierten, repräsentativen Wohnung, der die Spaltung zwi­ schen bürgerlicher und künstlerischer Existenz Stifters spiegelt. Autonomie auf begrenztem Raum, auf losen Blättern, verschanzt hinter der Dinglichkeit seiner Interessenslagen. Die Idee einer Wunderkammer – ein wenig querstehend zur Vorstellung von biedermeierlich-geselliger Wohnkultur –, die in eben dem Zustand der Unordnung ein Gespräch mit den Dingen, die als Reflexionsmedien den Dichter zahlreich umgeben, ermöglicht.10 Dass Stifter Interesse an idealtypischen Vorbildern eines Dichterzimmers im Stile des von ihm verehrten Goethe hatte, belegt ein Brief vom 16. Mai 1865 an seinen Bruder Jacob Mayer:

8 So der Stifter-Biograf Alois Raimund Hein in einer Beschreibung von Stifters Wohnung, die er kurz nach dem Tod des Dichters besuchte (zit. n. Jungmair 2006, 14). 9 Auch die Kenntnis über andere in Schubladen untergebrachte Gegenstände verdankt sich Briefen mit Anweisungen an Amalia. 10 Vgl. hierzu den Beitrag von Christiane Holm in diesem Band.

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Ich habe mit Andacht und mit Ergriffenheit meines Gemüthes die Stellen besucht, von denen ich wußte, daß sie sein Fuß betreten hat. Wenn doch die Besizer des Hauses, in dem Göthe gewohnt hat, die Zimmer, die er zu verschiedenen Malen innegehabt hat, gelassen hätten, wie sie unter ihm waren – aber davon kam nichts in ihr Haupt, ist doch heut zu Tage nicht einmal eine Tafel auf den geweihten Häusern außer der Schild, der Preußen, Walla­ chen und Türken zu neuem Besuch einladet. (Stifter, PRA, Bd. 24, 218, Brief Nr. 953)11

Eine Anleitung, wie man das Arbeitszimmer Stifters in diesem Sinne zu betrach­ ten habe, beziehungsweise ein von der geschilderten durchaus anarchisch wir­ kenden Bohème-Atmosphäre abweichendes Stimmungsbild (mit deutlich redu­ zierter Ausstattung) gibt Otto Jungmair (2006, 32): Wenn wir heute Adalbert Stifters einstige Wohnung betreten und die stummen Zeugen seines Menschentums vor uns sehen, dann ergreift uns ein Gefühl tiefer Ehrfurcht. Hier, an seinem kleinen, schmalen Biedermeierschreibtisch, hinter einem Lichtschirm bei Kerzen­ beleuchtung sitzend, schrieb der Dichter mit ungefügem Gänsekiel die vielen Briefe […], hier schuf er die großen Werk seines leidgeprüften Alters […].

Tatsächlich wird das Hartl’sche Haus, der Innenraum, für Stifter ganz zum Ende seines Lebens zum letzten und idealen Rückzugsort: „So lösen sich die Tage, die Wochen ab. Meine Wohnung ist mein Königreich“ (Stifter, PRA, Bd. 22, 163, Brief Nr. 833).

6 Marlen Haushofer (1920–1970) Nimmt man Marlen Haushofers oft zitiertes – „ich schreib am Küchentisch“12 – ernst, so scheint es, dass die Autorin dem materiellen Teil ihrer Arbeit keine allzu große Beachtung beigemessen hat; sei es aus einem Mangel an Möglichkeiten oder aufgrund einer ihr eigenen Art von Selbstdistanzierung. Ein ironisierender Umgang mit den eigenen Fähigkeiten und ‚Produkten‘ zeigt sich im Werk, aber auch in Hinblick auf den physischen literarischen Nachlass. (Erlernte) Selbstbeschränkung als Methode vermitteln die von Haushofer häufig verwendeten Pressspanhefte, seltener sind es lose Blätter, gearbeitet wird auf wenig Papier, auf dem sich meist nur sparsame Korrekturen finden. Der

11 Während seines Karlsbad-Aufenthaltes 1865 besucht Stifter Lotte Kästners Sohn und berich­ tet vom Anblick eines „Papier[es] [...] auf dem Göthes Hand geruht hat“ (Stifter, PRA, Bd. 20, 298, Brief Nr. 598). 12 In Briefen an Jeannie Ebner spricht Haushofer die Schreibsituation wiederholt an, vgl. den Brief vom 31. August 1968 (vgl. Schmidjell 1990, 27).



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geringe Raumbedarf, ganz gegen Virginia Woolfs Forderung nach A Room of One’s Own (1929; dt. Übersetzung: Ein Zimmer für sich allein), scheint den not­ wendigen Platz zum Schreiben auf die Fläche des Tisches beziehungsweise letzt­ lich auf das Blatt Papier zu reduzieren. Das Arbeitszimmer ist als ein ideelles, als ein innerer Raum vorstellbar, obgleich der Befund vielleicht ein wenig anders ausfällt, wenn man literarische Texte auf Arbeits-, Rückzugs- oder Fluchtorte befragt (vgl. Strigl 2007). Ich wußte ihn also gut versorgt und stieg hinauf in die Mansarde und setzte mich an meinen Zeichentisch. Die Mansarde gehört mir. Selbst Hubert betritt sie nur, wenn ich ihn ausdrück­ lich einlade. Das kommt selten vor und ist eher ein Ritual. Wenn er nämlich ausnahmsweise mir eine vertrauliche Mitteilung gemacht hat, und ich weiß, daß er sich daraufhin unbehag­ lich fühlt, biete ich ihm zum Ausgleich und als Wiedergutmachung eines meiner Geheim­ nisse an. Meine Geheimnisse sind winzig und unbedeutend […]. (Haushofer 1969, 20)

Der Schreibtisch als Objekt wird ambivalent bewertet: „Er [d. i. Hubert, Anm. P. D.] sitzt an seinem Schreibtisch, und ein Schreibtisch ist ein einsames Möbel. Niemals sitzen zwei Leute an einem Schreibtisch. […] [U]nd Hubert strebte seinem Schreibtisch zu, als wäre dort der einzige Ort der Welt, wo es ein bißchen Sicher­ heit gibt“ (Haushofer 1969, 119, 206).

7 Enrica von Handel-Mazzetti (1871–1955); wie bildet sich ein Zimmer im Archiv/im Nachlass ab? Der sehr umfangreiche Bestand zu Enrica von Handel-Mazzetti im OÖ. Literatur­ archiv/Adalbert-Stifter-Institut umfasst neben dem eigentlichen literarischen Nachlass u. a. auch Materialien und Sammlungen der Familie, einen Teil der Nachlassbibliothek, zahlreiche nachträglich beigefügte Rezeptionszeugnisse sowie einige Möbelstücke. Im Nachlass enthalten sind Bausteine eines Arbeits­ zimmers: ein Schreibtisch, eine Glühbirne der Tischlampe der Dichterin, Gemälde, Fetische, die als Inspiration dienten oder aus dem Schreibprozess heraus gezogen wurden (wie Papier- oder Kartonfiguren) und Fotografien von Wohnadressen der Dichterin in Wien und Steyr sowie von Innenräumen der Wohnung in Linz, Spittelwiese 15. Über die Arbeitsweise und -umgebung der Dichterin veröffentlicht eine Schweizer Leserin, Freundin und Kritikerin (und leidenschaftliche Briefpartne­ rin) nach einem Besuch im November 1911 in Linz einen Bericht, der deutlich macht, wie ein aus dem Werk abgeleitetes (Ideal-)Bild und Wirklichkeit auseinan­ derdriften: „Die Dichterin lebt in der grössten Abgeschlossenheit. […] [D]ie reale Welt zieht wie in einem Traume an ihr vorbei, […] sie arbeitet 2 Stunden pro Tag

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Abb. 5: Salon in der Wohnung Enrica von Handel-Mazzettis, Linz, Spittelwiese 15.

mit der Feder, ja gegen 4 Stunden, wenn der Stoff sie ganz überwältigt und ihre Kräfte es erlauben“ (Anklin 1912, 1). Nach einer Schilderung der Wohnung, mit einem „grossen Saal“ mit Barock­ mobiliar, Familien-Porträts, Flügel, Sakralkunst (wie einer Kreuzabnahme) usw., beschreibt Marguerite Anklin den intimsten Raum, in den ihr Einblick gewährt wurde:

Abb. 6: Enrica von Handel-Mazzetti vor ihrem Schreibtisch, 1928.



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Zum Abschied zeigte sie mir noch ihr Schlafzimmer, das nur wenige Freunde betreten. Es ist in ergreifender klösterlicher Genügsamkeit gehalten. Dieses Genie bedarf nicht der Anre­ gung durch tausend üppige Äusserlichkeiten. An einem kleinen einfachen Schreibtisch ent­ stehen die Prachtwerke ihrer Phantasie. Aber neben der klösterlichen Strenge bemerkte ich auch eine kindliche Naivität. Ihr, von aller Blasiertheit ganz unberührter, optimistischer Sinn freut sich an jedem „Helgerl“ [d. i. ein handgemachtes oder gedrucktes Heiligenbild bzw. ein Papierbild eines Bilderboges; vgl. Schweizerisches Idiotikon, Bd. 2, 1885, 1199] und die Einfachheit und Sorgfalt ihrer Bewegungen beim Zeigen all der teuren Gegenstände war rührend. […] Mit grossartigem Vergnügen stellte sie mir Jakob Zettl [d. i. ein Protagonist in Die arme Margaret, Anm. P. D.] vor. In mächtiger Halskrause und pompösem schwarzem Mantel steht er emphatisch auf dem Salontisch, ein gelungenes Werk der Sekretärin. (Anklin 1912, 8)

Das Setting ist im Falle von Handel-Mazzetti außergewöhnlich komplex gestaltet, im Gegensatz dazu tendiert die Selbstinszenierung für ein breites Lesepublikum in Richtung eines Rückzuges aus der wirklichen Welt in eine, die äußere Ablen­ kung und Strapaze der Nerven vermeidet. In der sogenannten „Abgeschieden­ heit“ (Handel-Mazzetti lebte mit Onkel und Tante und Personal im Haushalt) erreichen umgekehrt zur behaupteten Kargheit Artefakte zur Schreibinspiration, Erinnerungsgegenstände, Fotografien, Zettelchen, Zeichnungen etc., eine gera­ dezu bedrückend wuchernde Dichte. Zum Verständnis eines literarischen Schreibens im Sinne eines „Dienstes am Volk“ und vom Schaffensprozess als Gnadengabe oder geradezu mystische

Abb. 7: Enrica von Handel-Mazzetti an der Donau (nahe Maria Taferl), 1921, Foto: Josef Graf.

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Begegnung äußert sich Handel-Mazzetti selbst mehrfach (vgl. Handel-Mazzetti 1958). Ein entsprechend vorbereitetes räumliches Szenario scheint notwendig oder begünstigend für die sich offenbarende Dichtung. Zahlreiche Beispiele zeigen, wie der fiktionale Raum seinerseits materiell ins Lebensumfeld hinein­ wächst beziehungsweise mit der Alltagswelt verknüpft wird. Ein beliebtes offizielles Bild, eine Fotografie aus dem Jahr 1921 (vgl. Doppler 2005), bettet die Dichterin nahe Maria Taferl/Pöchlarn am Donausteig in die Natur ein, aller üblicher Dichterinnenausrüstung ledig – Dichtung scheinbar ohne irgendein Hilfsmittel empfangend – und unterscheidet sich wesentlich von einer 1928 entstandenen Aufnahme, die Handel-Mazzetti vergnügt und zeitge­ mäß gekleidet am Schreibtisch einfängt. Beide Situationen bilden wohl nicht ansatzweise die tatsächliche Situation des Schreibprozesses ab, der vermutlich hinter einem Versteck aus Papiergestrüpp stattfindet.

8 Zu einem vorläufigen Ende Wie sich ein realer Schreibraum – von Sigmund Freud in einem Brief an Arnold Zweig beispielsweise als „Autorkäfig“ (Freud 1968, 51) bezeichnet – gestaltet, ist von ganz unterschiedlichen Faktoren abhängig. Ob die Möglichkeit zu einer umfassenden Inszenierung der Schreibszene, zur Schaffung eines „architektoni­ schen Selbstporträts“ in einer Wechselwirkung von Identität und Raumgestal­ tung gegeben ist, oder umgekehrt Schreibstrategien vom zur Verfügung stehen­ den Raumangebot determiniert werden, ist am Einzelfall zu prüfen (vgl. Perrig 2011). Zustimmen wird man der allgemeinen Aussage, dass der Raum jedenfalls in irgendeiner Form Bedeutung für den darin befindlichen Schreibenden hat und diese Bedeutung auch von interessierten Lesenden angenommen wird. Dem Phä­ nomen Schreibort scheint jenseits seiner unterschiedlichen Ausformulierungen und Inszenierungen eines gemeinsam zu sein: dass der Ort – sei es ein konkreter, nach eigenen Vorstellungen gestalteter Raum, sei es ein nur gedachter, verinner­ lichter, utopischer – Schutzraum sein muss für den kreativen Prozess, der viel­ leicht als eine Form von sich Anvertrauen oder Ausgeliefert-Sein erlebt wird und sich eben nur innerhalb eines geschützten Rahmens entfalten kann. Die Strategien der Abgrenzung, Ummantelung, Ritualisierung sind letztlich sehr verschieden: real gebaute Bühnen (vielleicht Vorbildern angeähnelt), origi­ nelle sichere Verstecke, innere Denk- und Gefühlsräume. Davor liegt die Frage nach den historischen, gesellschaftlichen, sozialen Rahmungen, den unverfüg­ baren Bedingungen bzw. grundsätzlichen materiellen und ideellen Möglichkei­ ten einer Gestaltung von Schreibraum; nach dem Einfluss von kulturell gepräg­ ten, idealtypischen Imaginationen, vor dessen Hintergrund private Sehnsüchte



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und psychische Dispositionen des Schreibenden sich organisieren. In der Musea­ lisierung von Schreibszenen und der Rekonstruktion von Dichter-Interieurs treten Architekturen aus dem Archiv an Stelle des den Künstler ursprünglich umgebenden Raumes.13

Literaturverzeichnis Anklin, Marguerite. Enrica von Handel-Mazzetti. Ein Besuch bei ihr in Linz. Zürich, [1912]. Bachelard, Gaston. Poetik des Raumes. 10. Aufl. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 2014. Binzer, Emilie von. „Adalbert Stifter“. Beilage zur Augsburger Allgemeinen Zeitung Nr. 46 (15. Februar 1868). Doppler, Bernhard. „Vier Fotos“. Enrica von Handel-Mazzetti „und küsse ihre Busipfötchen.“ – Ein Leben in Briefen. Hg. Petra-Maria Dallinger. Linz: StifterHaus, 2005. 10–18. Freud, Sigmund, und Arnold Zweig. Briefwechsel. Hg. Ernst L. Freud. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1968. Grillparzer, Franz. Selbstbiographie. Hg. Arno Dusini. Salzburg: Residenz Verlag, 1994. Gugitz, Gustav. „Unbekannte Dokumente zum Leben Adalbert Stifters“. Vierteljahresschrift des Adalbert-Stifter-Institutes 4 (1952): 81–91. Handel-Mazzetti, Enrica von. „und nie geschah mir das“. Eine Einführung zum Romanfragment „Günthers Tod“. Hg. Kurt Vancsa. Graz, Wien, Köln: Styria, 1958. Haushofer, Marlen. Die Mansarde. Hamburg, Düsseldorf: Claasen, 1969. Hein, Alois Raimund. Adalbert Stifter. Sein Leben und seine Werke. Prag: Selbstverlag des Vereines für Geschichte der Deutschen in Böhmen, 1904. Hettche, Walter. „Die gemischten Zimmer. Ordnung und Chaos in Adalbert Stifters Handschriften“. Ordnung – Raum – Ritual. Adalbert Stifters artifizieller Realismus. Hg. Sabina Becker und Katharina Grätz. Heidelberg: Winter, 2007. 235–259. Jungmair, Otto. Adalbert Stifters Linzer Wohnung. Linz: StifterHaus, 2006. Jungmair, Otto. Stifters Linzer Jahre. Ein Kalendarium. Graz: Stiasny, 1958. de Maistre, Xavier. Reise um mein Zimmer. Aus dem Französischen von Caroline Vollmann. Frankfurt a. M.: Gerd Haffmans bei Zweitausendeins, 2005. Perrig, Severin. Am Schreibtisch großer Dichter und Denkerinnen. Eine Geschichte literarischer Arbeitsorte. Zürich: rüffer & rub, 2011. Schäffer, Hanna, und Herbert Schäffer. Blickwinkel, Raritäten. Bewahrtes, Überliefertes und Wissenswertes um und im Hagen/Linz. Linz, 2016. Schneider, Sabine. „Vergessene Dinge. Plunder und Trödel in der Erzählliteratur des Realismus“. Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Hg. Sabine Schneider und Barbara Hunfeld. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009. 157–174

13 Vgl. auch den Beitrag von Bodo Plachta in diesem Band.

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Schmälzle, Christoph. „Weltliche Wallfahrt. Schillers Reliquien in den Gedenkstätten des 19. Jahrhunderts“. Literatur ausstellen. Museale Inszenierungen der Weimarer Klassik. Hg. Hellmut Seemann und Thorsten Valk. Göttingen: Wallstein, 2012. 57–84. Schmidjell, Christine. Marlen Haushofer 1920–1970. Linz, 1990. Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache. Bd. 2. Bearbeitet von Friedrich Staub, Ludwig Tobler und Rudolf Schuch. Frauenfeld: J. Huber, 1885. Stifter, Adalbert. Sämmtliche Werke (= Prag-Reichenberger-Ausgabe). Hg. August Sauer. Calve u. a.: Prag u. a. 1901ff. [Textbelege aus dieser Ausgabe erfolgen unter der Sigle PRA mit Band, Seitenzahl sowie Briefnummer.] Stifter, Adalbert. Werke und Briefe. Historisch-Kritische Gesamtausgabe. Hg. Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald [seit 2000 Alfred Doppler und Hartmut Laufhütte]. Stuttgart u. a.: Kohlhammer, 1978ff. [Textbelege aus dieser Ausgabe erfolgen unter der Sigle HKG mit Band und Seitenzahl.] Streitfeld, Erwin. „Aus Adalbert Stifters Bibliothek. Nach den Bücher- und Handschriftenverzeichnissen in den Verlassenschaftsakten von Adalbert und Amalie Stifter“. Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft (1977), 103–148. Strigl, Daniela. „Wahrscheinlich bin ich verrückt …“ Marlen Haushofer – die Biographie. Berlin: List, 2007. Woolf, Virginia. A Room of One’s own. London u. a.: Penguin Books, 2004.

Ulrike Tanzer

Kein Ort nirgends Zur „Dichterinnen-Werkstatt“ Marie von Ebner-Eschenbachs 1 Als die Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach 86-jährig am 12. März 1916 in ihrer Wohnung in der Spiegelgasse 1 (Wien, I. Bezirk) verstirbt, wird sie in den Zeitungen ausführlich gewürdigt. So heißt es etwa im Nachruf, erschienen in der (Österreichischen) Volks-Zeitung vom 13. März 1916: „Unsere größte Dichterin ist nicht mehr. Eine Frau, so stark und gewaltig, daß sie Tausende von Männern in ihren Bann zwang, daß sie neidlos neben die Größten gestellt wurde, die je gelebt, daß der Name der ersten deutschen Dichterin das Postament der Unsterblichkeit ihr schon bei Lebzeiten verliehen werden durfte.“ Das Begräbnis drei Tage später gleicht einem Staatsakt. Nach der Aufbahrung auf dem „Paradebett“, umgeben von Blumen und Kränzen, wird Ebner-Eschenbachs Leichnam von der Spiegel­ gasse in den nahen Stephansdom überführt. Toute Vienne wohnt dem Requiem bei, vom Ministerpräsidenten Graf Stürgkh und dem Bürgermeister der Stadt Wien, Richard Weiskirchner, bis zur Genossenschaft der Uhrmacher, die ihrer Fahnenmutter die letzte Ehre erweist. Mit der Nordbahn wird der Sarg anschlie­ ßend nach Zdislavice (Zdislawitz) in Mähren überführt. In der Familiengruft der Grafen Dubský findet Marie von Ebner-Eschenbach an der Seite ihres Ehemannes Moriz ihre letzte Ruhestätte (vgl. N. N. 1916, 11). Damit schließt sich der Lebens­ kreis der Schriftstellerin: Am 13. September 1830 war sie hier in Schloss Zdislavice als zweites Kind des Freiherrn Franz Dubský von Třebomyslic und seiner zweiten Ehefrau Marie, geborene Freiin von Vockel, geboren worden. In der Kapelle des Schlosses hatte sie am 3. Juli 1848 ihren Cousin Moriz Freiherrn von EbnerEschenbach geheiratet. Es gehört zu den unrühmlichen Kapiteln österreichisch-tschechischer Kul­ turpolitik, dass weder das Geburtsschloss noch das Sterbehaus als schützenswer­ tes nationales Kulturgut erachtet noch mit besonderen Markierungen versehen wurden (vgl. Plachta 2011). Bis heute blieben Initiativen erfolglos, eine Gedenkta­ fel am Haus Spiegelgasse 1 anbringen zu lassen. Schloss Zdislavice in der Nähe von Kroměříž (Kremsier) befindet sich in Privatbesitz und ist seit Jahren dem Verfall preisgegeben. Das Mobiliar wurde nach 1945 versteigert, das Schloss ent­ eignet und zunächst militärischen, dann sozialen Zwecken zugeführt. In den 1990er-Jahren erhielten die in Brasilien lebenden Nachkommen des ursprüngli­ chen Besitzers Josef Hlavnička das Schloss zurück. Versuche, dieses zu verkau­ DOI 10.1515/9783110466850-009, © 2017 Ulrike Tanzer. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 License.

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Abb. 1: Der Geburtsort: Schloss Zdislawitz (Zdislavice) in Mähren.

fen, schlugen allerdings fehl. Seit dem Jahr 2000 steht Schloss Zdislavice leer. Erst kürzlich wurde das Anwesen von einem österreichischen Privatmann erwor­ ben. Ebner-Eschenbachs Grabstätte befindet sich im Mausoleum, das nach Plänen ihres Ehemannes Moriz von Ebner-Eschenbach errichtet wurde. Die Gruft wird im Unterschied zum Schloss vom Regionalmuseum in Kroměříž verwaltet und derzeit saniert. Das beinahe vollständige Fehlen von offiziellen Erinnerungsorten ist umso augenfälliger, zieht man einen Vergleich zu Autorinnen und Autoren der Zeit. Ein Blick etwa auf die Website der Theodor-Storm-Gesellschaft (www.storm-gesell­ schaft.de) genügt, um die Unterschiede in der Rezeption deutlich zu machen. In Husum, dem Geburtsort Theodor Storms (1817–1888), wurde im Juni 2006 das „Storm-Zentrum“ eröffnet, das Archiv, Forschungsbibliothek und Museum mitei­ nander verbindet. Die 1948 gegründete Theodor-Storm-Gesellschaft mit derzeit 1.150 Mitgliedern aus aller Welt zählt zu den größten literarischen Vereinigungen Deutschlands. Seit 1952 verantwortet sie die Herausgabe der Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft und betreut die Reihe Husumer Beiträge zur Forschung sowie die Reihe der Storm-Briefwechsel. Die Droste-Gesellschaft wiederum, die erste einer Dichterin gewidmete literarische Vereinigung, wurde 1928 gegrün­det (vgl. www.droste-gesellschaft.de). Unter ihrer Patronanz entstand u. a. die um‑ fangreiche Historisch-Kritische Droste-Ausgabe. Wohnstätten der Schriftstellerin und ihrer Familie im Münsterland und in Meersburg am Bodensee sind heute als Museen zu besichtigen und Anziehungspunkte für ein kulturell interessiertes



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Publikum. Nach Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848) sind zudem zwei Lite­ raturpreise benannt: Der Droste-Preis ist der älteste deutschsprachige Literatur­ preis, der ausschließlich an deutschsprachige Autorinnen vergeben wird. Der Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis, auch westfälischer Literaturpreis, wird davon unabhängig verliehen. Zahlreiche Gedenktafeln sowie eine Ausstellung im Bank­ haus Schroders am Central 2 erinnern in Zürich an den Schweizer Schriftsteller Gottfried Keller (1819–1890). Für die Historisch-Kritische Ausgabe, die mittler­ weile abgeschlossen vorliegt, wurde 1993 eine eigene Stiftung eingerichtet, u. a. mit Vertretern der Universitäten Basel, Zürich und der ETH Zürich, der GottfriedKeller-Gesellschaft sowie des Kantons und der Stadt Zürich. Die 1931 gegründete Gottfried-Keller-Gesellschaft zählt rund 600 Mitglieder (vgl. www.gottfriedkeller. ch). Der nach Gottfried Keller benannte schweizerische Literaturpreis wird seit 1921 von der Martin-Bodmer-Stiftung gestiftet und in der Regel alle drei Jahre ver­ liehen. Komplexer gestaltet sich die Situation im Falle Adalbert Stifters. Das Stifter­ Haus in Linz beherbergt in den Räumlichkeiten des ehemaligen Wohnhauses Adalbert Stifters (1805–1868) das seit 1950 bestehende Adalbert-Stifter-Institut, das als Anlaufstelle für die internationale Stifter-Forschung fungiert. Dazu kommen ein Adalbert-Stifter-Gedenkraum und ein neu gestaltetes Oberösterrei­ chisches Literaturmuseum sowie das 1992 begründete Oberösterreichische Lite­ raturhaus. Preise und Stipendien sind nach Adalbert Stifter benannt, ebenso Schulen und Straßen. Im Geburtshaus in Horní Planá (Oberplan) ist seit 1960 eine Gedenkstätte eingerichtet. Gefördert durch Mittel der Europäischen Union zur Regionalentwicklung, sind länderübergreifende weitere, auch touristische Initia­ tiven entstanden. Die weit gediehene Arbeit an der Historisch-Kritischen StifterAusgabe, an der Forscherinnen und Forscher der Universitäten Innsbruck, Salz­ burg, Wien und München beteiligt sind, wird durch eine eigene Redaktionsstelle an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften koordiniert und unterstützt. Der Adalbert-Stifter-Verein, 1947 von sudetendeutschen Schriftstellern und Künstlern gegründet, ist eine staatlich geförderte Einrichtung mit Sitz in München zur Förderung des kulturellen Austausches zwischen Deutschland und Tsche­ chien.

2 Obwohl Ebner-Eschenbach um 1900 vom männlich dominierten Literaturbetrieb als Ausnahme unter den Schriftstellerinnen gefeiert und mit Ehrungen überhäuft wurde, kam es zu keiner Gründung einer nach ihr benannten literarischen Gesell­ schaft, auch in den späteren Jahrzehnten nicht. Strukturelle Defizite wie diese

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haben letztlich dazu geführt, dass es kein wie immer geartetes „Ebner-Eschen­ bach-Zentrum“ weder in Österreich, Deutschland noch in Tschechien gibt. Der Nachlass liegt verstreut, überwiegende Teile in der Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus und im Mährischen Landesarchiv in Brno (Brünn). Die Bibliothek Ebner-Eschenbachs, die nichts mit der sogenannten EbnerEschenbach-Bibliothek auf Schloss Lysice (Lissitz) in Okres Blansko (Bezirk Blanz) im heutigen Tschechien zu tun hat, ist großteils verloren gegangen. Die Bibliothek der Familie Dubský befindet sich, für die Öffentlichkeit nicht zugäng­ lich, auf Schloss Vranov nad Dyjí (Frain) in der Nähe von Znojmo (Znaim). Die durch die Wirren des Zweiten Weltkriegs stark dezimierte Uhrensammlung EbnerEschenbachs bildet heute den Kernbestand des Uhrenmuseums in Wien. In dem kleinen Gedenkraum finden sich neben den Uhren ein Porträt der Schriftstellerin und ihr Schreibtisch. Im Arkadenhof der Universität Wien erinnert eine Gedenk­ tafel, keine Büste (!), an deren erste Ehrendoktorin. In Wien-Währing wurde ein Park nach der Schriftstellerin benannt. Wohnstätten wie das „Haus zu den drei Raben“ in der Rotenturmstraße, das durch die erste Ehe des Vaters mit Konradine von Sorgenthal in dessen Besitz gekommen war, bestehen nicht mehr. Ein weite­ rer Ort, der im Leben der Schriftstellerin eine wichtige Rolle spielte, ist St. Gilgen am Wolfgangsee. Dort verbrachte Marie von Ebner-Eschenbach gemeinsam mit ihrer Freundin Ida von Fleischl-Marxow von 1889 bis 1898 ihre Sommer im Kreis von Gelehrten und Künstlern sowie deren Familien. Der Chirurg Theodor Billroth, der Physiologe Sigmund Exner sowie der Hoftheatermaler Johann Kautsky, Vater des sozialdemokratischen Theoretikers Karl Kautsky, sind hier zu nennen. Emilie Exner und Minna Kautsky, beide Schriftstellerinnen, waren in der Frauenbewe­ gung aktiv. In deren Häusern verkehrten Musiker wie Johannes Brahms und Schriftsteller wie Gottfried Keller. Marie von Ebner-Eschenbach wurde zur Ehren­ bürgerin von St. Gilgen ernannt. Eine Straße trägt ihren Namen, eine Büste und eine Gedenktafel erinnern an sie. Das Archiv für Ortsgeschichte verwahrt ein­ zelne Autographen Ebner-Eschenbachs mit St.-Gilgen-Bezug (vgl. Ebeling-Wink­ ler 2002).1 Dass im Falle Marie von Ebner-Eschenbachs kein „Dichterinnen-Haus“ exis­ tiert, hat nicht nur mit der Marginalisierung schreibender Frauen zu tun. Ähnlich verhält es sich bei ihrem Schriftstellerkollegen Ferdinand von Saar, an den nur ein Denkmal im Wertheimsteinpark und der „Saarplatz“ in Wien-Döbling erin­

1 Seit 2003 finden jährlich Mitte September Ebner-Eschenbach-Tage statt – eine LiebhaberIn­ nen-Veranstaltung im besten Sinne des Wortes mit Vorträgen und Lesungen, organisiert von Nachfahrinnen alteingesessener Sommerfrischegäste, aber kein einschlägig wissenschaftliches Kolloquium.



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nern. „Die österreichische Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat keinen leichten Stand“ (Wagner 2016, 4–5). Dieser nach wie vor zutreffende Satz des Germanisten Karl Wagner findet seine Entsprechung in der Positionierung der beiden Schriftsteller in der Dauerausstellung des kürzlich eröffneten Litera­ turmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek – in die Ecke gedrängt und von den Autoren Jung-Wiens überlagert.

3 Von Marie von Ebner-Eschenbachs Arbeitszimmern in Wien und Zdislavice exis­ tieren nur mehr Fotografien. In den Erinnerungen ihres Neffen Franz Graf Dubsky wird das Arbeitszimmer im Schloss, das ihr Stiefbruder Adolph Graf Dubsky als ältester Sohn geerbt hatte, nicht näher beschrieben, vielmehr als Tabuzone defi­ niert: Was aber ging dort in der Zwischenzeit vor, da es strenge verboten war, es ungerufen zu betreten? „Tante Marie arbeitet“, hieß es dann, „und darf nicht gestört werden.“ Worin bestand es wohl, dies geheimnisvolle Arbeiten, das mir als der Inbegriff alles Wissenswer­ ten erschien, weil es keine Störung vertrug und sich immer hinter verschlossenen Türen abspielte? (Dubský 1923, 12–13)

Nicht nur für Kinder war der Zutritt verboten, auch die erwachsenen Familienmit­ glieder näherten sich dem Zimmer mit gehörigem Respekt. Als der neugierige Neffe überraschend das Zimmer betritt, sich einigermaßen enttäuscht umblickt und fragt, wann sie denn „etwas“ tue, nimmt die Schriftstellerin einen Papierbo­ gen und befüllt ihn mit Zeichnungen und Versen. Zwischen dem phantasiebegab­ ten Kind und seiner dichtenden Tante ist dies der Beginn einer besonderen Bezie­ hung. Auch hier steht – wie in Ebner-Eschenbachs autobiografischem Text Meine Kinderjahre – das Schreiben im Zentrum. In der kleinen Episode nimmt das erin­ nernde Ich die Perspektive eines noch leseunkundigen Kindes ein, dem sich eine neue, bislang unbekannte Welt eröffnet. Dass die Tante in der Geschichte schließ­ lich als „eine gute Fee“ (Dubský 1923, 15) auftaucht, die dem Kind einige Verhal­ tensregeln mit auf den Weg gibt, fügt sich nahtlos in die (Selbst-)Stilisierung Ebner-Eschenbachs als „Dichterin der Güte“. Ebner-Eschenbach war wie ihr Kollege Ferdinand von Saar mit den Mecha­ nismen des öffentlichen Auftretens eines Schriftstellers am Ende des 19. Jahrhun­ derts vertraut (vgl. Stieb 2015). Autorenfotografien dienten der Positionierung und Selbstinszenierung. Neben Porträtfotos, die „das altfrauliche und entsexua­ lisierte Image Ebners“ (Pfeiffer 2008, 22) über Jahrzehnte festlegten, kursierten auch Aufnahmen der betagten Schriftstellerin am Schreibtisch und mit Familien­

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mitgliedern sowie – tarockspielend – mit ihren langjährigen Freundinnen Ida Fleischl und Betty Paoli. Bilder des Arbeitszimmers in der Spiegelgasse zeigen einen Raum mit mächtigem historistischem Schreibtisch, umgeben von halbho­ hen Bücherschränken, schweren Vorhängen, Uhren und Ölgemälden an den Wänden, daneben ein Salontischchen mit Sitzmöbeln. Mehrere Objekte sind auf dem Schreibtisch arrangiert: eine Stehlampe, eine Stehuhr, Figurinen, Fotogra­ fien, darunter ein Bild Ida Fleischls.

Abb. 2: Arbeitszimmer in der Spiegelgasse mit dem Bild Ida Fleischls auf dem Schreibtisch.

Einige topografische Spuren finden sich auch in Ebner-Eschenbachs Œuvre. Pro­ minentestes Beispiel ist die Wohnung im dritten Stockwerk des „Drei-Raben-Hau­ ses“, die den Schauplatz des 1880 erschienenen Romans Lotti, die Uhrmacherin bildet. Dessen Entstehung ist eng mit Ebner-Eschenbachs persönlicher Leiden­ schaft für Uhren verbunden. „Ich fange an, mir eine kleine Uhrensammlung anzulegen“ (Ebner-Eschenbach 1993, 1), notiert sie am 21. März 1879, und zwei Monate später heißt es: „Ich verleihe [Fräulein Lotti] alle Uhren, die ich selbst gern besitzen möchte“ (Ebner-Eschenbach 1993, 2). Nicht nur die Uhren werden



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in der Ouvertüre des Romans detailliert beschrieben, auch der Ort des Gesche­ hens. Das Wohnzimmerfenster sah auf einen kleinen Platz […] – einen sehr kleinen, denn er wurde von nur vier Häusern gebil­ det; doch war er luftig und hell und gewährte den Anblick eines beträchtlichen Stückes Himmel, was gewiß kein geringer Vorzug war. Es will etwas heißen, im Herzen der Zivilisa­ tion zu wohnen, im Mittelpunkt der Hauptstadt, tausend Schritte vom Dome, […] und dabei von seinem Fenster aus […] Wolken und Vögel ziehen, und der Sonne und dem Mond ins Gesicht zu sehen. (Ebner-Eschenbach 2014, 36)

Das einzige Fenster mit Aussicht auf den Himmel, das die „ganze im übrigen ziemlich finstere Wohnung“ (Ebner-Eschenbach 2014, 36) erhellt, eröffnet auch den Blick auf die Nachbarschaft: auf Kleinbürgerfamilien, die sozial unter den Feßlers rangieren, aber ebenfalls die oberen billigen Stockwerke bewohnen – ein Damenschneider, ein Pfeifenschneider, eine Naschwarenhändlerin. Im dritten Stock des laut Roman „gegenüberliegenden Hauses, das den Platz gegen Osten in einem stumpfen Winkel abschnitt“ (Ebner-Eschenbach 2014, 36–37), wohnte in Marie Dubskýs Kindertagen der kleine Ferdinand von Saar mit seiner früh verwit­ weten Mutter. Bei ihrer ersten Begegnung in der Landstraßer Hauptstraße wurden sie sich dessen gewahr. Der Blick ging natürlich auch in die andere Richtung, von Saars zu Dubskýs: „Ich konnte also von unseren Fenstern aus nach jenen der gräflichen Wohnung sehen. Wie oft mochte ich da die kleine Komtesse erblickt haben […]!“ (Saar [1908], 163). Ebner-Eschenbachs Roman entwirft nicht nur das Porträt einer selbstständigen, beruflich überdurchschnittlich erfolgreichen Frau Mitte der dreißig, die vor dem Hintergrund der Zeit eine „Ausnahmeerscheinung“ (Polt-Heinzl 2014, 7–19) darstellt; der Text kann auch als Kommentar zum Kunst­ verständnis der Autorin gelesen werden. Lotti, die Uhrmacherin stellt – so Daniela Strigl – „den seltenen Fall eines Künstler- oder besser: Künstlerinnenromans dar, dessen Heldin eine Handwerkerin ist“ (Strigl 2016, 251). Kunst und Handwerk, so lautete denn auch der ursprüngliche Titel der längeren Erzählung, ein Thema, das Ebner-Eschenbach in einer Reihe von Werken durchdekliniert. Mit diesem Roman sollte Marie von Ebner-Eschenbach der Durchbruch gelingen.

4 Ebner-Eschenbachs Verhältnis zur Literaturwissenschaft war durchaus ambiva­ lent. In unpublizierten Aufzeichnungen lässt sie ihren Gefühlen freien Lauf: In einer Zeit dichterischen Unvermögens, wie die in der wir leben, blüht die Litteraturge­ schichte, blähen die Litteraturhistoriker sich auf, kochen, rühren, filtrieren, brauen, u.

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bereiten uns wahre Festgelage. Das Material das sie verwenden, ist die Frucht ihrer Wühlund Minierarbeit. Sie haben verschüttete Gänge eröffnet, Moder ausgeschaufelt u. vertrock­ nete Knochen u. laden uns zu Tische ein. (Ebner-Eschenbach, undat.)

Gleichzeitig verstand es Ebner-Eschenbach aber auch, sich mit Anton Bettelheim einen Biografen zu halten, der ihre Vorstellungen entsprechend ausführte (vgl. Tanzer 1997, 74–76). Bettelheim genoss als Biograf Berthold Auerbachs oder Ludwig Anzengrubers einen hervorragenden Ruf. Von 1907 bis 1910 leitete er das gesamtdeutsche Unternehmen der „Allgemeinen deutschen Biographie“ und zählte zu den einflussreichsten Männern im kulturellen Wien des Fin-de-Siècle. Marie von Ebner-Eschenbach hatte den damaligen Feuilleton-Redakteur der Presse bei einer Soiree ihrer Freundin Ida von Fleischl-Marxow Anfang der 1880er-Jahre kennengelernt (vgl. Strigl 2012, 112–130). Etwa zwanzig Jahre später, also am Zenit ihres Erfolges, ordnete sie ihren Nachlass und fertigte Auszüge aus ihrem umfangreichen Tagebuch an. (Ein Zusammenhang mit der begonnenen Arbeit an ihren autobiografischen Schriften liegt nahe.) 1915 stellte sie ihrem Biografen die Auszüge von 1867 bis 1904 zur Verfügung, nach ihrem Tod überant­ wortete ihm die Familie die Jahrgänge bis 1916. Bettelheims erste Biografie erschien im Jahr 1900 zu Ebner-Eschenbachs 70. Geburtstag, unter kräftigem Zutun der Porträtierten: Desto freundlicher stellte sie mir […] auf meine Bitte Familien-Papiere, literarische Brief­ wechsel mit Eduard Devrient, Laube, Halm, verschollene Erstlingsdrucke, Handschriften etc. zu Gebote. Gemehrt durch gütig und reichlich gewährte Antworten auf mündlich und schriftlich gestellte Fragen und manche Mitteilungen aus dem Freundeskreis der Dichterin fand meine anspruchslose Gelegenheitsschrift […] freundlichen Willkomm […]. (Bettelheim 1920, VIII)

Bettelheim verwendet für die erste Biografie Ebner-Eschenbachs deren autobio­ grafischen Text Aus meinen Kinder- und Lehrjahren und die Memoiren ihres Gatten Moriz von Ebner-Eschenbach mit dem Titel Denkwürdigkeiten eines Veteranen: die Lebensgeschichte hält sich strikt an die ermittelten autobiografischen Angaben und konzentriert sich auf das Werk (vgl. Strigl 2012, 121). Die Schriftstel­ lerin ist sich einer diskreten Vorgangsweise sicher. Unangenehmes oder Peinli­ ches wird nur angedeutet oder überhaupt vermieden – ein Vorwurf, den die ame­ rikanische Germanistin Doris Klostermaier (1996, 15–43) erhoben hat. Für die zwanzig Jahre später erschienene Biografie, die von der Autorin selbst als defini­ tive, postume Biografie geplant worden war, spielen die Tagebücher eine zentrale Rolle. Zwar weiß Bettelheim um die Abweichungen zwischen den originalen Textstellen und den Auszügen, die Gründe für die Veränderungen harmonisiert er aber: „So wenig in ihrem kristallhellen Lebenslauf zu verbergen war und ist,



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Schonung der Geheimnisse, ja selbst nur Empfindlich­keiten Dritter ließen ihr Zurückhaltung als Gewissenspflicht erscheinen.“ Und weiter: „Das Übermaß moderner, zumal posthumer Generalbeichten verdroß Marie Ebner, so daß ihr sogar die uneingeschränkte Wiedergabe von Grillparzers, Hebbels, Gottfried Kellers Tagebüchern fragwürdig blieb“ (Bettelheim 1920, 248–249). Dass EbnerEschenbach sehr wohl an einem ,zensierten‘ Bild für die Nachwelt interessiert war, bezeugen nicht bloß die Tagebuchauszüge, sondern auch die gesichtete Familienkorrespondenz, wo sich in den Briefen der Brüder etwa keinerlei Kritik an den schriftstellerischen Ambitionen der Schwester findet. (Ihr Tagebuch spricht in diesem Zusammenhang eine ganz andere Sprache!) Ihr Biograf Bettel­ heim übermittelte der Nachwelt das Bild einer Dichterin ohne Ecken und Kanten. In der ersten Biografie entsteht somit das Bild einer „superwoman“ (Klostermaier 1996, 22), in der zweiten wird die Schriftstellerin religiös überhöht. Erst der tsche­ chische Literaturwissenschaftler Jiři Veselý veröffentlichte als Erster Stellen aus den Originaltagebüchern und wies mit Nachdruck darauf hin, wie groß der Unter­ schied zwischen den „authentischen Aufzeichnungen und den ,zensierten‘ bzw. ,selbstzensierten‘ Tagebuch-Auszügen ist“ (Veselý 1971, 212). Daniela Strigl konnte für ihre 2016 erschienene Biografie neben den mittlerweile vollständig publizierten Tagebüchern das Manuskript des bislang unbekannten Briefwech­ sels zwischen Marie von Ebner-Eschenbach und Josephine von Knorr benützen (vgl. Ebner-Eschenbach und Knorr 2016).

5 Auf ihre Briefe an Josephine von Knorr hatte Marie von Ebner-Eschenbach offen­ bar keinen Zugriff mehr. Mit der Lyrikerin und Übersetzerin verband sie eine jahr­ zehntelange Freundschaft. Der umfangreiche Briefwechsel, der vor einigen Jahren in Privatbesitz aufgefunden wurde, ist somit eine wichtige Quelle, gerade für die frühe Schreibphase Ebner-Eschenbachs.2 Der Briefwechsel beginnt mit dem Jahr 1851. Dies ist für die Forschung inso­ fern bedeutsam, weil damit die Korrespondenz ein Jahrzehnt früher einsetzt als

2 Der umfangreiche Briefwechsel zwischen Marie von Ebner-Eschenbach und Josephine von Knorr umfasst einen Zeitraum von 57 Jahren. Die Briefe Josephine von Knorrs (264 Briefe und Karten) befinden sich zum überwiegenden Teil im Nachlass Marie von Ebner-Eschenbachs im Mährischen Landesarchiv in Brünn, die Briefe Ebner-Eschenbachs (515 Briefe und Karten) im Nachlass Josephine von Knorrs (Privatbesitz). Einige Stücke der Korrespondenz (Briefe, Karten und Briefbeilagen) werden im Nachlass Marie von Ebner-Eschenbachs in der Handschriftenab­ teilung der Wienbibliothek aufbewahrt.

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die überlieferten Tagebücher der Autorin. Über die 1850er-Jahre ist bislang sehr wenig bekannt. In Anton Bettelheims erstem biografischen Porträt Marie von Ebner-Eschenbachs heißt es über diese Zeit nur lapidar: Wie viel Gedichte und Stücke sie [Marie von Ebner-Eschenbach, Anm. U. T.] in jenem Jahr­ zehnt von 1848 – 1858 begonnen und vollendet, weiß sie heute selbst kaum mehr. Wie viel von den Vorwürfen jener Werdezeit in den Werken der Meisterzeit auflebten, vermögen wir nicht zu sagen. Allʼ das ist verloren oder im Zdislavicer Archiv vergraben. Und nur ein freundliches Ungefähr hat uns kürzlich das erste Büchlein in die Hand gespielt, das Marie Ebner 1858 anonym in die Welt gehen ließ [Aus Franzensbad, Anm. U. T.]. (Bettelheim 1900, 42–43)

Wir verfügen damit also erstmals über Originaldokumente Ebner-Eschenbachs, die ihre Znaimer Jahre als jungverheiratete Ehefrau und angehende Schriftstelle­ rin näher beleuchten und damit neue Einsichten, auch in ihre „DichterinnenWerkstatt“, ermöglichen (vgl. Tanzer 2014, 244–258). Marie von Ebner-Eschen­ bach ist familiär stark gefordert. Jahrelang leidet ihre Schwiegermutter, die im gemeinsamen Haushalt lebt, an einer schweren psychischen Erkrankung. Die Sorge um den verwitweten Vater lastet ebenso auf ihren Schultern wie zahlreiche Verpflichtungen als Tante. Als die Ingenieur-Akademie 1850 nach Klosterbruck bei Znaim verlegt wird, folgt sie ihrem Mann von der Haupt- und Residenzstadt in die mährische Provinz. Fernab vom gesellschaftlichen und künstlerischen Leben, vom Theater und vom geistigen Austausch mit Gleichgesinnten besteht EbnerEschenbachs einziger Kontakt mit den Kollegen ihres Mannes und deren Fami­ lien. In Jetty von Tunkler, der Ehefrau des Hauptmanns Tunkler von Treuimfeld, findet sie eine Freundin; im Dramatiker Josef Weil (Ps. Josef von Weilen), der 1855 als Professor der deutschen Literatur nach Klosterbruck versetzt wird und später auch Kronprinz Rudolf in literarischen Angelegenheiten beraten sollte, einen Ratgeber (vgl. Bettelheim 1920, 76–107). Im Briefwechsel zwischen Marie von Ebner-Eschenbach und Josephine von Knorr geht es vor allem um Lektürehinweise und Schreibpläne, um Vorschläge und Korrekturen. Schon hier zeigt sich Ebner-Eschenbachs beharrliches Bemühen, sich als Schriftstellerin einen Namen zu machen. Trotz ihrer Affinität zum Drama, immerhin wollte sie „der Shakespeare des 19. Jahrhunderts“ (Ebner-Eschenbach 1989, 103) werden, schreibt sie Gedichte und Versepen, die sie Josephine von Knorr und ihrem Lehrer Karl M. Böhm, bei dem sie in Wien Unterricht in deut­ scher Sprache und Literatur genommen hat, vorlegt. Zum weiteren Beraterkreis Marie von Ebner-Eschenbachs zählen Friedrich Halm (Ps. für Eligius Freiherr von Münch-Bellinghausen), später Faustus Pachler und Heinrich Laube, alle heute weitgehend vergessene Schriftsteller. Ein Versuch, ihre Gedichte Bettina von Arnim-Brentano zur Prüfung vorzulegen, endet im Fiasko. Das Urteil – nicht von



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der Schriftstellerin selbst, sondern von ihren Töchtern niedergeschrieben – lautet „niederschmetternd, ebenso oberflächlich als ungerecht“. Marie von EbnerEschenbach ist enttäuscht und verunsichert, auch wenn ein späterer Befund von Karl August Varnhagen von Ense ermutigend klingt.3 Ebner-Eschenbach veröf­ fentlicht die Gedichte nicht, sondern wendet sich historischen Studien, dem Drama und der Erzählprosa zu. Und sie sucht konsequent und penibel ihre lückenhafte Komtessenausbildung zu vervollständigen. Die gebildetere Jose­ phine von Knorr, die in ihren Briefen wie selbstverständlich zwischen Deutsch und Französisch wechselt, ist hier Instanz. Marie von Ebner-Eschenbach geht in ihrem Bildungsstreben aber noch einen Schritt weiter, indem sie naturwissen­ schaftliche und philosophische Studien betreibt – ein völlig aus der Norm fallen­ des Unterfangen für Frauen ihrer Zeit. Die junge Ebner-Eschenbach, die auch eine begeisterte Reiterin war, besticht durch Unangepasstheit und Liberalität des Denkens, aber auch durch Witz und Humor. Nicht von ungefähr zählen die Stücke des Wiener Volkstheaters, insbesondere von Ferdinand Raimund und Johann Nestroy, zu den prägenden Theatererlebnissen der Schriftstellerin. Die Briefe aus den 1850er-Jahren geben detailliert Auskunft über zahlreiche Schreibprojekte. Ebner-Eschenbach arbeitet in diesem Jahrzehnt an einem Vers­ epos mit dem Titel Segeste, das sich an einem antiken Stoff um Octavian orien­ tiert, am Trauerspiel Strafford aus der englischen Geschichte und am „Gedicht“ Stauffenberg, das auf einer Sage aus Achim von Arnims Zeitroman Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores (1810) basiert. Sie schreibt an einem nicht näher bezeichneten Roman, der auf eine Episode im Leben ihrer Freundin, der Hofschauspielerin Louise Neumann (verheiratete von Schönfeld), zurück­ geht, an historischen Aufsätzen und an einem Lustspiel Ovid bei Hofe nach Wilhelm Heinrich von Riehls gleichnamiger Novelle aus dem Jahre 1855. Textpro­ ben der genannten Werke, die (vermutlich) unvollendet und unveröffentlicht geblieben sind, werden in einer handgeschriebenen Zeitung mit dem Titel Die Parzen an die Freundin verschickt. Die Zeitung erscheint in mehreren Nummern und kursiert schnell innerhalb eines ausgewählten Kreises. Josephine von Knorr kopiert einzelne Abschnitte und gibt sie an gleichgesinnte Freundinnen wie Minna Brenner von Felsach (verh. Gräfin Mottet) weiter. Die Manuskripte gelten als verschollen. Die Briefe Ebner-Eschenbachs an Josephine von Knorr sind deshalb für diese frühe Schreibphase von eminenter Bedeutung. Sie verweisen auf Themen und Quellen, enthalten teilweise Handlungsskizzen und zeigen eine

3 Die hier genannten Expertisen kommen in Bettelheims Ebner-Eschenbach-Biografien mit kei­ nem Wort vor. Vgl. die Briefe Marie von Ebner-Eschenbachs an Josephine von Knorr vom 19. April und 7. Mai 1854 (Ebner-Eschenbach und Knorr 2016, 94–95, 97–98).

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weitaus größere formale Bandbreite als lange Zeit angenommen. Bislang galt die 1858 anonym publizierte Schrift Aus Franzensbad, die Ebner-Eschenbach in einem Brief an die Freundin als „das tolle Kind einer übermüthigen Laune“ (Ebner-Eschenbach und Knorr 2016, 171) bezeichnet, als Erstlingswerk der bekannten Schriftstellerin. Dies ist nunmehr zu revidieren. Bereits 1854, also vier Jahre vorher, publizierte Ebner-Eschenbach unter Verwendung eines Pseudo­ nyms neben einem Gedichtzyklus die historische Studie Carl I. von England und die hervorragenden Charactere seiner Zeit in der Wochenschrift Der Salon (EbnerEschenbach 1854). Der Text zeigt eine intensive Auseinandersetzung mit der eng­ lischen Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts. Thomas Babington Macaulays Geschichte von England und François Guizots Geschichte der englischen Revolution sind – dies zeigt der Briefwechsel – wichtige Quellen. Offenbar fanden Szenen des heute verschollenen Stücks Strafford Eingang in die historische Studie. Sechs Jahre später sollte Maria Stuart in Schottland, ihr erstes uns voll­ ständig erhaltenes Drama, erscheinen, eine Replik auf Friedrich Schillers Tragö­ die und Ebner-Eschenbachs erster Erfolg als Dramatikerin. Das Stück wurde 1861 unter der Intendanz von Eduard Devrient auf der Karlsruher Hofbühne urauf­ geführt. Marie von Ebner-Eschenbach stand ihrem Frühwerk in späteren Jahren dis­ tanziert gegenüber. Aus Franzensbad wurde zu ihren Lebzeiten in keine der Werk­ ausgaben aufgenommen, ein Nachdruck wurde 1913 – laut ihrem Biografen Bet­ telheim gegen den Willen der Autorin – herausgebracht (vgl. Bettelheim 1920, 97). In ihrem Zeitlosen Tagebuch aus dem Jahr 1916 vermerkte sie: „Ich habe gegen das Büchlein Aus Franzensbad dieselbe Abneigung, die manche Mutter gegen ein vor der Ehe geborenes Kind hat“ (Ebner-Eschenbach 1956, 719). Die Schriftstelle­ rin verschwieg nicht erst 1894 in dem Buch Die Geschichte des Erstlingswerks die Existenz der fiktiven Briefe (vgl. Ebner-Eschenbach 1894, 67–83), sondern sie erwähnte schon 1880 in ihrem Schreiben an Fanny Lewald ihre anonyme Adels­ schelte mit keinem Wort mehr (vgl. Ebner-Eschenbach 1879 und 1880). Erst der durch Karlheinz Rossbacher 1985 herausgegebene Neudruck der Ausgabe von 1858 ermöglichte ein wesentlich klareres und um überraschende Aspekte berei­ chertes Bild der frühen Ebner-Eschenbach (vgl. Ebner-Eschenbach 1985). In dem satirischen Text finden sich – wie auch im Briefwechsel mit Josephine von Knorr – selbstbewusste Entwürfe der eigenen Autorschaft, die sich deutlich unterschei­ den von den Zuschreibungen des Biografen Anton Bettelheim, aber auch vom Leidenspathos der Autobiografie Meine Kinderjahre (1905). Wir erleben hier eine Autorin, die ihr Repertoire virtuos ausbreitet und das literarische Feld selbstbe­ wusst und ehrgeizig betritt.



Kein Ort nirgends 

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Literaturverzeichnis Bettelheim, Anton. Marie von Ebner-Eschenbach. Biographische Blätter. Berlin: Paetel, 1900. Bettelheim, Anton. Marie von Ebner-Eschenbachs Wirken und Vermächtnis. Leipzig: Quelle & Meyer, 1920. Dubsky, Franz Graf. „Erinnerungen an Marie von Ebner-Eschenbach“. Marie von EbnerEschenbach: Letzte Worte. Hg. Helene Bucher. Wien, Leipzig, München: Nikola Verlag, 1923. 11–30. Ebeling-Winkler, Renate. „Uns geht es recht gut … in der behaglichen Ruhe, dem tiefen Frieden und dem ruhigen Leben …“ Marie von Ebner-Eschenbach in St. Gilgen (1889–1898). Hg. Heimatkundliches Museum St. Gilgen und Archiv für Ortsgeschichte St. Gilgen. St. Gilgen, 2002. Ebner-Eschenbach, Marie von. Notizbuch mit Aphorismen und Gedichten. Sign. I.N. Ia 79.170, Wienbibliothek im Rathaus. Ebner-Eschenbach, Marie von. Skizzenbuch 1879 und 1880. Sign. I.N. Ia 81.424, Wienbibliothek im Rathaus. Ebner-Eschenbach, Marie von (Pseud. Emaéri). „Carl I. von England und die hervorragenden Charactere seiner Zeit“. Der Salon. Wochenschrift 2.1 (1854): 14–25, 53–57, 82–89. Ebner-Eschenbach, Marie von. „Aus meinen Kinder- und Lehrjahren“. Die Geschichte des Erstlingswerks. Hg. Karl Emil Franzos. Berlin: Concordia Deutsche Verlagsanstalt, 1894. 67–83. Ebner-Eschenbach, Marie von. „Aus einem zeitlosen Tagebuch“. Erzählungen. Autobiographische Schriften. München: Winkler, 1956. 701–746. Ebner-Eschenbach, Marie von [Anon.]. Aus Franzensbad. Sechs Episteln von keinem Propheten. Reprint der Ausgabe von 1858. Hg. Karlheinz Rossbacher. Wien: Österreichischer Bundesverlag, 1985. Ebner-Eschenbach, Marie von. Autobiographische Schriften I. Hg. Christa-Maria Schmidt. Tübingen: Niemeyer, 1989. Ebner-Eschenbach, Marie von. Tagebücher III. 1879–1889. Hg. Karl Konrad Polheim et al. Tübingen: Niemeyer, 1993. Ebner-Eschenbach, Marie von. Leseausgabe in vier Bänden. Hg. Evelyne Polt-Heinzl, Daniela Strigl und Ulrike Tanzer. St. Pölten, Salzburg, Wien: Residenz, 2014–2015. Ebner-Eschenbach, Marie von. Lotti, die Uhrmacherin. Unsühnbar. Hg. und mit einem Vorwort von Evelyne Polt-Heinzl. Salzburg, Wien: Residenz, 2014. Ebner-Eschenbach, Marie von, und Josephine von Knorr. Briefwechsel 1851–1908. Kritische und kommentierte Ausgabe. Hg. Ulrike Tanzer et al. 2 Bde. Berlin, Boston: de Gruyter, 2016. Klostermaier, Doris. „Anton Bettelheim. Creator of the Ebner-Eschenbach Myth“. Modern Austrian Literature 29.2 (1996): 15–43. N. N. „Marie Freiin Ebner v. Eschenbach“. Neue Freie Presse, 16. März 1916: 11. Pfeiffer, Peter C. Marie von Ebner-Eschenbach. Tragödie, Erzählung, Heimatfilm. Tübingen: Narr Francke, 2008. Plachta, Bodo. Dichterhäuser in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Stuttgart: Reclam, 2011. Rossbacher, Karlheinz. Literatur und Liberalismus. Zur Kultur der Ringstraßenzeit. Wien: Jugend & Volk, 1992.

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 Ulrike Tanzer

Saar, Ferdinand von. Sämtliche Werke in 12 Bänden. Hg. Jakob Minor. Leipzig: Max Hesse, o.J. [1908], Bd. 11. Stieb, Magdalena. Der Wahrheitsapparat Literatur. Ferdinand von Saars Novellensammlung Camera obscura und die Fotografie. Masterarbeit. Universität Salzburg, 2015. Strigl, Daniela. „Der Biograph als Testamentsvollstrecker. Anton Bettelheim erfindet Marie von Ebner-Eschenbach“. Der Dichter und sein Germanist. Symposium in Memoriam Wendelin Schmidt-Dengler. Hg. Stephan Kurz, Michael Rohrwasser und Daniela Strigl. Wien: new academic press, 2012. 112–130. Strigl, Daniela. Berühmt sein ist nichts. Marie von Ebner-Eschenbach. Eine Biographie. Salzburg, Wien: Residenz, 2016. Tanzer, Ulrike. Frauenbilder im Werk Marie von Ebner-Eschenbachs. Stuttgart: Heinz, 1997. Tanzer, Ulrike. „Unbekannte Briefe Marie von Ebner-Eschenbachs und Ferdinand von Saars“. Unerwartete Entdeckungen. Beiträge zur österreichischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Hg. Julia Danielczyk und Ulrike Tanzer. Wien: Lehner, 2014. 244–258. Vésely, Jiři. „Tagebücher legen Zeugnis ab. Unbekannte Tagebücher der Marie von EbnerEschenbach“. Österreich in Geschichte und Literatur 15.4 (1971): 211–241. Wagner, Karl. „Ein Blick für Rabiate und Verzweifelte“. Der Falter, 16. März 2016: 4–5.

Konstanze Fliedl

Arthur Schnitzler. Schrift und Schreiben 1 Schreib-Szenen Dass die Materialität des Schreib-Akts – die Physis des Schreibenden und die Stofflichkeit seines Werkzeugs – am Niederzuschreibenden unverkennbar mit­ wirkt, steht seit bald einem halben Jahrhundert außer Frage. Die medien- und diskursgeschichtliche Befassung mit dem Phänomen ‚Schreiben‘ hat die meta­ physische Vorstellung verabschiedet, es handle sich dabei um quasi automati­ sche Aufzeichnungen von Ideen, an denen selbst nichts Irdisches mehr haftet. Nietzsches Diktum: „UNSER SCHREIBZEUG ARBEITET MIT AN UNSEREN GEDAN­ KEN“ (2003 [1882], 18) ist zum expliziten oder impliziten Motto einer Fülle von Studien geworden, die sich mit den linguistischen, instrumentellen und gesti­ schen Aspekten des ‚Schreibens‘ befassen. In literaturgeschichtlicher Hinsicht ist dabei jener produktionsästhetische Komplex von Interesse, den Rüdiger Campe (1991) ‚Schreibszene‘ (oder ‚Schreib-Szene‘) genannt hat: die Inszenierung des Schreibens durch Autoren, die dessen Reflexion hervorbringt oder auslöst. Die Schreibszene als Dispositiv eines kreativen Prozesses unterscheidet sich von jeder bloß mechanischen Nieder- oder Abschrift durch eine Distinktion, die häufig auch durch den Rückgriff auf dichterische Stereotypen – zum Beispiel die ikonische Vorstellung von Goethe am Schreibtisch – markiert ist; entsteht in der Schreibszene ein ‚Werk‘, so wird aus ihr das Szenario der künstlerischen Arbeit, die auch noch in der Moderne durch besondere Dignität ausgezeichnet wird. Im ‚Theater‘ der Schreibszene geht es daher um die Dramaturgie einer Textgenese. Martin Stingelin hat den fakultativen Bindestrich von Campes Terminus darüber hinaus als Differenzmerkmal genommen, für die ‚Schreibszene‘ als historische und individuelle, je persönliche „Konstellation“ und für die ‚Schreib-Szene‘ als Moment der Autoreflexion des Schreibens (vgl. Stingelin 2004, 15). Solche Selbst­ problematisierung ist oft genug ins Paradox des geschriebenen ‚Ich kann nicht schreiben‘ ausgelaufen. Zu den häufig thematisierten Charakteristiken der Schreib-Szene gehören daher auch die Widerstände, die sich ihr entgegensetzen: Die Widerspenstigkeit des Werkzeugs – von der tropfenden Feder über die klemmenden Typenhebel der Schreibmaschine bis zum Computerabsturz – ist dabei eben nicht nur die Metapher der Schreibhemmung, sondern ihr materielles Korrelat. Ein anderer ‚Wider­ stand‘ kann im Schreiben hingegen herabgesetzt sein: die Zensur des Bewusst­ seins. Im Schreib- oder Tippfehler können sich sehr wohl unbewusste Inhalte manifestieren, und ob sich eine betreffende Sofortkorrektur der Kontrolle des DOI 10.1515/9783110466850-010, © 2017 Konstanze Fliedl. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 License.

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ästhetischen oder des moralischen Über-Ich verdankt, mag im Einzelfall schwer zu entscheiden sein. Das Ergebnis der von Roland Barthes sogenannten ‚scription‘1 – also der Bewegung, der Geste der schreibenden Hand – ist die entstandene Schrift. Über die Schrift selbst ist, ebenfalls schon seit geraumer Zeit, gründlich nachgedacht worden, wobei sich die Tendenz abzeichnet, Schrift keinesfalls als Repräsenta­ tion gesprochener Sprache, aber auch nicht (nur) als ein maschinelles Aufzeich­ nungssystem zu sehen. Schrift ist daneben auch ein heuristisches Instrument; sie erscheint als „ein Werkzeug und Medium zugleich, in dem Strukturen so sichtbar werden, dass sie Akten der präzisen Veränderung und Neukonfigurierung zugänglich werden“ (Kogge 2005, 162). Zuletzt hat Christian Benne diese Autono­ mie der Schrift, ihre Souveränität gegenüber der phonographischen und seman­ tischen Registratur herausgestellt: Die motorische Geste des Schreibens produziert in vielen konkreten Schreibprozessen nebenbei andere Darstellungen (z. B. Kritzeleien) und beileibe nicht nur die Aufzeichnung von Lauten. Es muss geradezu als Leistung und raison dʼêtre der Schrift gelten, diskrete Einheiten in neue Konstellationen zu bringen, die rein gar nichts mit ihrer Aussprache zu tun haben, sondern z. B. semantischen Kriterien folgen. Ferner muss man kein Graphologe sein, um den Spurencharakter des Schreibens anzuerkennen, in dem sich auch leiblichmotorische Eigenheiten niederschlagen, die weder mit Laut noch Bedeutung im engeren Sinne etwas zu tun haben. Die Hand nimmt auch die Sprache in den Dienst. (Benne 2015, 595)

Bemerkenswerterweise hat die individuelle Handschrift eines Autors dabei selten mehr als exemplarische Funktion erhalten; das ist umso auffälliger, als sie ja nicht nur Ergebnis der Schreibszene ist, sondern auch ihr Dispositiv, insofern, als sie dem betreffenden Autor als unverwechselbares Kennzeichen, als Habitus, immer schon angehört. Mit wenigen Ausnahmen – etwa den Mikrogrammen Robert Walsers (vgl. Groddeck 1997) – werden die Eigenheiten eines persönlichen Schreibduktus kaum mitreflektiert; das hat wohl damit zu tun, dass man, und mit einigem Recht, nicht aufs unsichere Gebiet graphologischer Spekulation geraten will. In den folgenden Überlegungen zu Arthur Schnitzlers Schreib-Szenen soll seine Schrift jedoch auch zur Sprache kommen – schon deswegen, weil sie in der Praxis gar nicht anders als unter dem Aspekt des ‚Widerstands‘ zu betrachten und zu entziffern ist.

1 Von Hans-Horst Henschen mit „Schreibung“ übersetzt (Barthes 2006 [1973], 6–7).



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2 Umbrüche Schnitzlers Nachlass ist nicht nur unter werkgenetischen, sondern auch unter schrift- und mediengeschichtlichen Gesichtspunkten ein Beispiel für die Innova­ tionen nach 1900. Das betrifft zunächst die Schriftart: Als Schulschrift erlernte Schnitzler Kurrent; Lateinschrift diente ihm – wie allgemein üblich – lediglich zur Hervorhebung von Fremdwörtern oder Eigennamen. Die – um zwei Tage vor­ verlegte – Feier zu seinem 55. Geburtstag am 13. Mai 1917 nahm Schnitzler dann aber zum Anlass für den Schriftwechsel (vgl. Schnitzler 1985, Faksimile nach 43) –, wobei er im Tagebuch dann den Schreibstoff änderte und von Tinte zu Bleistift überging. Offenbar hatten die im Januar 1917 einsetzenden Werbefeldzüge Fried­ rich Soenneckens für die Antiqua bzw. die Lateinschrift und die Aktivitäten des im März 1917 von ihm gegründeten ‚Deutschen Altschriftbundes‘ an dieser Ent­ scheidung mitgewirkt; gerade während des Krieges plädierte Soennecken für die Angleichung an die europäische Schreib- und Druckschrift, um das Ansehen Deutschlands im Ausland zu heben. Lateinschrift galt jedenfalls als die internati­ onale, ‚modernere‘ und politisch fortschrittlichere Schreibform, weshalb die Gegenpartei am nationalen (= kurrenten) ‚Schriftpatriotismus‘ festhielt (vgl. Hartmann 1998, 76–78). Dass Schnitzler sich zu dieser doch tiefgreifenden auto­ graphischen Veränderung entschloss, entsprach seiner anti-nationalistischen und pazifistischen Haltung: Die Wahl der neuen Schrift war in der Tat auch ein ideologisches Signal. Schon zuvor allerdings hatte sich Schnitzlers ‚Schreib‘-Weise drastisch geän­ dert. Sein Frühwerk, zu dem die Einakterzyklen Anatol und Reigen oder die Novellen Sterben und Lieutenant Gustl gehören, ist in Manuskriptform überlie­ fert. Stark überarbeitete Entwürfe ließ er dabei gelegentlich abschreiben; solche Kopisten konnten über Schreibbüros für wenig Geld angeheuert werden (im Schauspiel Liebelei arbeitet Christine beispielsweise um ein Geringes als Notenkopistin).2 Ab 1904 konnte sich Schnitzler Schreibkräfte leisten, die stun­ denweise ins Haus kamen und eine Schreibmaschine bedienten; 1909 schließlich engagierte er die Sekretärin Frieda Pollak (1881–1937), die ihm unentbehrlich wurde und bis zu seinem Tod 1931 mit ihm arbeitete. Damit wechselte die Arbeits­

2 Sabine Mainberger hat eingehend gezeigt, wie sich die Literatur der Moderne des ‚Kopisten‘ als einer poetologischen Figur der Selbstverkleinerung bedient. Bei Schnitzler ist die subalterne Tätigkeit hier aber noch einfach ein Zeichen für soziale und geschlechtsspezifische Marginalität. – Als sein eigener Abschreiber war Schnitzler im Tagebuch (aus Notizbüchern in Einzelblätter) und in Hinblick auf Stoffeinfälle (aus Einzelblättern in Notizbücher) tätig; bei dem Gewicht, das er auf die Tagebuchführung und die Archivierung von skizzierten Handlungsideen legte, er­ scheint aber auch da das Kopieren nicht als poetische „Verringerung“ (Mainberger 1995, 136).

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weise von der eigenhändigen Aufzeichnung zum „Dictat“, das Manuskript zum Typoskript fremder Hand. Wohl wurden dabei noch handschriftliche Notizen mit­ verwendet, auch hat Schnitzler die von Pollak erstellten maschinschriftlichen Fas­ sungen vielfach von Hand korrigiert; trotzdem markiert dieser ‚Medien­wechsel‘ einen entscheidenden Einschnitt in Schnitzlers literarischer Produktion. Das Diktat nämlich stellt in dieser Epoche der neuen maschinellen Schreib­ technik eine besondere Schreibszene dar: Der Diktierende fällt in die Rolle des Sprechers zurück. Bei Erzähltexten fungiert er als mündlicher Narrator, in der Dramatik vollzieht er in performativer Weise die Dialoge, nimmt gewissermaßen die Darstellung durch den Schauspieler vorweg. Seine Rede verläuft akustisch linear; diese Linearität war im Vorgang des eigenhändigen Niederschreibens noch abgebildet worden. Nun aber setzt das Medium ‚Typistin‘ das Gesprochene in einer neuen Schreibweise um. Wie Hans-Jost Frey sehr einleuchtend argumen­ tiert hat, verläuft zwar auch die typographische Aufzeichnung noch ‚linear‘, also im Nacheinander der Typenanschläge; die Schreibbewegung hingegen bringt die einzelnen Buchstaben auf der Tastatur, dem „Vor-Bild“ der durch sie entstehen­ den Schriftbilder, in eine spatiale Beziehung, zeigt sich „als ein kombinatorisches Hin und Her in einem geschlossenen Raum“ (Frey 1988, 54, 53). Das Diktat spaltet also zwar die Schreib-Szene, in der nun zwei Akteure auftreten, verbindet aber andererseits die sehr archaische Weise des mündlichen Vortrags mit der Nieder­ schrift im ‚modernen‘ Medium; zugleich setzt es auch eine komplizierte Relation von Linearität und Spatialität des Schreibens frei. Damit wandelte sich Schnitzlers Schreiben zu einem zwangsweise hochkon­ zentrierten Sprechakt. Und auf diese Weise veränderte sich auch der Charakter der Schreibszene von der völlig autonomen Niederschrift zu einer durch Arbeits­ zeiten geregelten Ansage. Dies hatte nun in der Tat poetologische Konsequenzen. Zu Beginn der 1890er-Jahre hatten die Autoren des ‚Jungen Wien‘ das Schreiben als einen sehr undisziplinierten Akt der anfallweisen Inspiration inszeniert. Frei­ lich gab es reale Verhinderungen, etwa Schnitzlers ärztliche Tätigkeit, die bis 1893 wenigstens sporadisch ausgeübt wurde, oder Hofmannsthals Militärdienst; dazu kam Richard Beer-Hofmanns notorische Schreibfaulheit. Trotzdem ist es markant, dass die jeweiligen Schreibszenen im Grunde als deren Ausbleiben inszeniert wurden; das Forum verschob man auf die Korrespondenz, mit dem betreffenden Doppelsinn wurde ausgiebig gespielt. „Sie können auch viel und geistreich schreiben“, teilte Schnitzler etwa Beer-Hofmann im Mai 1891 mit, oder: „Nächstens werden Sie etwas schreiben müssen“; Beer-Hofmann revanchierte sich mit: „Ich verdiene es nicht – aber schreiben Sie – ich meine Briefe an mich“.3 3 Schnitzlers Briefe vom 23. 5. und 6. 6. 1891 und Beer-Hofmanns Brief vom 18. 10. 1894 (Schnitz­ ler – Beer-Hofmann 1992, 29, 20, 64).



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Auch Hofmannsthal ließ häufig offen, ob man in der Wendung „schreiben Sie mir“ nicht doch einen Dativus ethicus vermuten soll; einmal wurde er deutlich und doppelt: „Also schreiben Sie. Schreiben Sie auch“.4 Schnitzler wiederum ent­ schuldigte sich bei Hofmannsthal für nichtgeschriebene Briefe mit den „tote[n] Stellen“ des Schriftstellerischen. Die produktiven Phasen seien die des Begin­ nens und die des Abschließens; die letztere beschrieb Schnitzler so: „wo man die alten Blätter nimmt und einem alle möglichen Worte, Punkte u Gedankenstriche einfallen, – die man vergaß“5 – eine Stelle, die nicht nur selbst durch einen Gedankenstrich markiert ist, sondern auch auf eine Interpunktionsregie hin­ weist, die nicht so sehr phonetisch als vielmehr semantisch funktioniert. Diese Periode blieb allerdings kurz; in den folgenden Jahren fiel der Doppel­ sinn des Schreib-Imperativs in sich zusammen, für das literarische Schreiben wurde zunehmend das Vokabel ‚Arbeit‘ eingesetzt. Nach 1900 bekam der Termi­ nus, jedenfalls für Schnitzler, auch einen Aspekt der Disziplinierung und der kontinuierlichen Anstrengung, und zwar so sehr, dass Hermann Bahr 1904 andeuten konnte, bei Schnitzler habe eine Verbürgerlichung der ästhetischen Produktion stattgefunden (vgl. Bahr 1904, 1196).6 Tatsächlich heißt es im 1927 veröffentlichten, aber aus zum Teil sehr viel früher entstandenen Aufzeichnun­ gen bestehenden Buch der Sprüche und Bedenken: „Als Künstlernatur bezeichnen wir im allgemeinen die Summe von Eigenschaften, die den Künstler im Produzie­ ren behindert.“ Zu den Kriterien des Kunstwerks werden „Einheitlichkeit, Inten­ sität, Kontinuität“ gezählt (Schnitzler 1967, 5–133, 111, 96). Im Tagebuch wird diese Einheitlichkeit und Kontinuität nun durch die Frequenz der Eintragung „Dictirt“ angezeigt. Darüber hinaus übernahm Frieda Pollak nach und nach die Funktionen einer Organisatorin, Redakteurin und Archivarin. Die Arbeitsbezie­ hung eines Autors zu seiner Sekretärin ist theoretisch einigermaßen überschattet durch die Ausschließlichkeit, mit der Klaus Theweleit (1988, 81–96) im Anschluss an Friedrich Kittler (1986, 271–379) die ‚Liebes‘-Beziehungen zwischen dichten­ den Männern und tippenden Frauen als Ausbeutungsverhältnisse dargestellt hat; und zweifellos gilt es, dass zahlreiche Partnerinnen von Autoren als SchreibMedien benützt und verbraucht wurden. Aber wenn Kittler im Titel den engli­ schen Begriff „typewriter“ wählt, um dessen Doppeldeutigkeit zu nutzen – „der Zusammenfall eines Berufs, einer Maschine und eines Geschlechts sagt die Wahr­ heit“ (Kittler 1986, 273) –, oder wenn etwa Vilém Flusser kon­statiert: „Die Typis­

4 Brief vom 26. 1. 1892 (Hofmannsthal – Beer-Hofmann 1972, 6). 5 Brief vom 17. 7. 1891 (Hofmannsthal – Schnitzler 1964, 9). 6 Bahr bezog sich im Dialog vom Marsyas auf Schnitzlers Drama Der einsame Weg (1904), in der Tat eine radikale Kritik des ‚impressionistischen‘ Künstlers.

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tin schreibt nicht: sie ist eine Schreibmaschine für einen anderen“ (Flusser 1991, 43), so wird die reale Degradierung der Frau dem berühmtesten medientheoreti­ schen Diktum zufolge ja immerhin abgefangen, insofern, als das (weibliche) ‚Schreibzeug‘ an den (männlichen) Gedanken mitarbeitet. Frieda Pollak jeden­ falls sicherte ihren Status durch Professionalität, die auch dadurch nicht erschüt­ tert wurde, dass man im Familienkreis ihren Namen entstellte: Die kindliche Ver­ ballhornung von „Pollak“ zu „Kolap“ durch Schnitzlers Tochter Lili setzte sich durch.7 Einigermaßen ironisch wirkt dabei der Umstand, dass die Anrede durch eine Buchstabenumstellung zustande kam – eine ‚Fehlleistung‘, vor der man sich in der beruflichen Arbeit der Angeredeten sicher wusste. Freilich trifft es zu, dass auch Schnitzler von neuen Aufzeichnungstechniken besessen war und mit seiner Sekretärin und ihrer Schreibmaschine den optimalen Anschluss an die Kommu­ nikationsnetze des literarischen Feldes suchte; aber die mit ihr zusammen insze­ nierte Schreibszene bildete ein Regulativ nicht nur der Textgenese, sondern auch der Poetik: Mit Frieda Pollak bezog Schnitzler eine Schreib-Kraft im doppelten Sinn, die sich poetologisch in einer Konsolidierung ästhetischer wie ethischer Parameter zeigte. Gerade die ‚modernen‘ Medienwechsel haben bei Schnitzler eine profunde Kritik der zeitgenössischen kommerzialisierten Produktionswei­ sen hervorgerufen.

3 Schrift In Hinsicht auf die Interferenz von Schrift und Schreiben muss man daher auf die erste Schreibszene zurückkommen; die folgenden Beobachtungen gelten also, mit wenigen Ausnahmen, Schnitzlers Frühwerk der 1890er-Jahre und den aus dieser Zeit erhaltenen Manuskripten. Und der erste und notorische Befund zu Schnitzlers Schrift ist ihre Unleserlichkeit. In der Bestandsaufnahme zu den rund 40.000 Blättern des an der Cambridge University Library aufbewahrten WerkNachlasses hielten Gerhard Neumann und Jutta Müller seinerzeit bedauernd fest, dass Schnitzlers Handschrift „in vielen Fällen kaum oder gar nicht zu entziffern“ sei (Neumann und Müller 1969, 17). Aber auch die Zeitgenossen hatten mit der Schrift ihre liebe Not. „Lieber Arthur! Ihre Karte gestern, heute Ihren Brief vom 9. erhalten. Ich habe ihn mehr errathen als gelesen“, schrieb Richard Beer-Hofmann im September 1899 etwas verzweifelt und verlangte Aufklärung über eine unent­ zifferbare Stelle (Abb. 1), wobei er Schnitzlers Schriftzüge grafisch wiedergab

7 Im Tagebuch wird die Sekretärin zum ersten Mal am 7. 9. 1916 so genannt (vgl. Schnitzler 1983, 312).



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(Abb. 2).8 Ähnlich heißt es bei Otto Brahm in einem Schreiben vom September 1905: „Was Sie mir über Reinhardt freundlichst anvertrauen, wird umso mehr ‚unter uns‘ bleiben, als ich es nur zum Teil entziffern konnte“.9 Olga Schnitzler

Abb. 1–2.

8 Beer-Hofmanns Brief vom 12. 9. 1899 und Schnitzlers Brief vom 9. 9. 1899 (Schnitzler – BeerHofmann 1992, 136, 134–135). – Die Stelle lautet: „[Ich bin] recht sehr gequält, durch allerlei; – durch das Ohr wohl am meisten und tiefsten augenblicklich“ (Schnitzler litt an Otosklerose). 9 Brief vom 17. 9. 1905 (Schnitzler – Brahm 1975, 200).

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wiederum sah sich genötigt, an Brahm einmal einen Nachsatz zu senden: „der Brief meines Gatten ist, ich versichere Sie, von sprühendem Witz, es ist nötig, das zu sagen, denn Sie werden ihn nicht lesen können.“10 In der Tat setzt die Schrift dem Lesen mitunter entschiedene Widerstände entgegen, wie etwa beim folgen­ den Aphorismus:11

Abb. 3.

Für die Entzifferungsprobleme verantwortlich sind mehrere Faktoren (vgl. Schnitzler 2011, 2–3). Da ist zunächst der Schreibstoff: Schnitzler verwendete in der Regel einen weichen Bleistift, was zu einer undeutlichen Schriftkontur führte, die sich außerdem durch Abrieb beim Schichten der Blätter weiter verwischte. Dazu kommt zweitens der Umstand, dass bestimmte, in der Kurrentschrift ähnli­ che Graphen wie „e“ und „n“, „l“ und „t“ oder „s“ und „h“ ihre distinkten Merk­ male verlieren und ununterscheidbar werden, ebenso wie etwa die Allographen „D“/„d“ und „H“/„h“. Drittens fallen Diakritika, also der „i“-Punkt und die Umlaut-Zeichen, der „u“-Überstrich oder das „n“- und „m“-Makron bei gesteiger­ tem Schreibtempo immer wieder fort. Schließlich zeigt Schnitzlers Schrift eine generelle Neigung zur ‚Verschleifung‘: Einzelne Graphe gehen in den vorange­ henden oder nachfolgenden auf. Im Wortinneren gilt das besonders für die nur aus Auf- und Abstrich bestehenden Kleinbuchstaben „i“ und „c“, vor allem im Di- oder Trigraph („ie“, „ch“, „sch“). Am Wortende verschleifen Graphfolgen wie „-nt“, „-nd“ häufig zu einem gerundeten Aufstrich, Endsilben wie „-ing“ und „-ung“ zu einem Auslaufbogen; Endungen auf „-er“ oder „-en“ erscheinen oft nur als winzige angehängte Schnörkel. Zuweilen entsteht so ein kurzschriftlicher

10 Brief vom 3. 5. 1908 (Schnitzler – Brahm 1975, 260). 11 Entzifferung von Reinhard Urbach: „Liebe ist die triebgewordne Schönheit“ (Schnitzler 2012, 203).



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Duktus, wobei es sich – Schnitzler hatte Kurzschrift nie erlernt – nicht um syste­ matisch eingesetzte Abbreviaturen handelt. Die intendierten Graphe ähneln eher den in der Stenographielehre sogenannten ‚Sinnbildern‘: Sie werden bloß in der Strichverlängerung, -verbreitung oder -verstärkung sichtbar. Zuletzt werden im Schreibfluss wiederkehrende Wörter gelegentlich nur mehr angedeutet; die Wie­ derholung eines zunächst korrekt ‚ausbuchstabierten‘ Wortes erlaubt solche schriftökonomische Reduktion.12

Abb. 4.

Im Zusammenhang mit der Transkriptionsproblematik wirft sich die Frage auf, ob und wieweit es Korrelationen gibt zwischen Schrift und Geschriebenem, die sich nicht schon im schönen Doppelsinn von ‚Unlesbarkeit‘ – nämlich Unleserlichkeit und Undeutbarkeit – verbergen. Schnitzler ging gewiss nicht so weit wie Jean Pauls Schulmeisterlein Wutz, das auf den Spuren Klopstocks unverständliche Hexameter produzieren will und dabei auf den Einfall kommt, sie unleserlich zu schreiben: „Durch diese poetische Freiheit bog er dem Verstehen ungezwungen vor“ (Jean Paul 2000 [1793], 441). Dennoch gilt, dass Unlesbares, ob intendiert oder nicht, gegebenenfalls neue Lektüren motivieren kann; obwohl Edition, nach Manfred Windfuhrs altem Diktum (1957, 440), generell Interpretation ist, muss sich jede Transkription vor Zurechtlegungen des plausibelsten Sinns entschieden hüten.13 Darüber hinaus gilt es also, einen möglichen Zusammenhang von Schriftbild und Sinn-Bild im Auge zu behalten.

4 Schreibphasen Die Genese von vielen Werken Schnitzlers folgt einem vierphasigen Muster: Stoff­ einfall – Skizze oder Szenario – Ausarbeitung – Druckvorlage. Interessanterweise sind die ‚Einfälle‘ in der Regel auf endgültigere und haltbarere Weise aufgezeich­

12 Mundartliche und grafische Verschleifung des Wortes „Kappe“ („Kappel“, „Kappl“); Schnitz­ ler (2011, 478, 486, 504). 13 Zu den Entzifferungsfehlern etwa in Gabriella Rovagnatis Edition der sogenannten „Urfas­ sung“ von Schnitzlers Reigen vgl. die Rezension von Peter Michael Braunwarth (2005).

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net: Sie werden mit Tinte und durchaus leserlich geschrieben (vgl. Schnitzler 2011, 12). Bis zur Jahrhundertwende sammelte Schnitzler diese Ideen auch in einem eigenen Notizbuch;14 auch dieses erscheint vom Duktus her bemerkens­ wert diszipliniert. Offenbar funktionierte es als dauerhafte Ressource: Schnitzler griff oft erst Jahre später auf eine dort enthaltene Kernfabel zurück. Als Ideen­ sparbuch verdiente es daher eine Sorgfalt der Aufzeichnung, die den folgenden genetischen Schritten fehlte. Denn die Skizze oder das Szenario, in der der Plot daraufhin entwickelt wurde, ist eine oftmals sehr flüchtige und tastende Ver­ suchsanordnung. Schnitzler legte sie manchmal schon insofern als vorläufige Einteilungen des Stoffes an, als er die betreffenden Schreibblätter durch Längs­ faltung teilte; die linke Spalte wurde beschrieben, die rechte blieb für Umstellun­ gen und Korrekturen frei. Reinhard Urbach hat angemerkt, dass diese Arbeits­ phase auch den „stilistisch tiefsten Punkt“ zwischen der „Vision des Entwurfs“ und der ersten ausgearbeiteten Textstufe markiert (vgl. Schnitzler 1977, I–IX, III). ‚Stil‘ scheint hier oft wirklich nur ‚stilus‘ zu bedeuten, den Griffel, der sowohl schreibt als auch, mit dem Schaft, das Geschriebene wieder von der Wachstafel löscht; bei Schnitzler ist der Bleistift hier eine Aufzeichnungsmaschine, die ebenso tilgt wie festhält. Mit der Ausarbeitung begannen nun Perioden der Elocu­ tio sehr verschiedener Art. Manche Texte (wie Lieutenant Gustl) wurden sehr schnell und in einem Zug niedergeschrieben, andere, wie die Liebelei (1895), immer wieder neu begonnen und überarbeitet. Bei bestimmten, durch zahlreiche Korrekturen unübersichtlich gewordenen Manuskripten wurden zwischendurch die schon erwähnten Abschreiber beauftragt: So ist etwa der Text von Die Frau des Weisen (1897) in zwei Abschriften fremder Hand überliefert, die jeweils durch Überarbeitung noch eine weitere Textschicht enthalten (vgl. Schnitzler 2016a, 27–271). Grundsätzlich lässt sich ein Prozess der Straffung und Ökonomisierung beobachten. Bei Liebelei etwa mendelt sich aus einer Fülle von Schauplätzen – eine Tanzschule, Ort der ersten Begegnung von Christine und Fritz; das Haus von dessen verheirateter Geliebten; ein Park als Begegnungsort; die ländliche Kulisse eines Ausflugs der beiden Liebespaare und so weiter – die sparsame Topografie mit nur zwei Dekorationen und die dichte Konzentration der Handlung allmäh­ lich heraus (vgl. Schnitzler 2014, 25–263). Bei längeren Texten, wie etwa dem fünfaktigen Professor Bernhardi (1912), gab es auch über Jahre hin gewaltige Stoffmutationen: Der erste Einfall von 1899 lautete schlicht: „Ein Arzt wirft den Priester zur Türe hinaus, der einen Sterbenden versehen will. Denn dieser Ster­

14 Undatiertes Notizbuch, Nachlass Arthur Schnitzler, Cambridge University Library, A 193,2.



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bende hält sich für gesund, ahnt nicht, daß er dem Tode nah ist“.15 An diesen Stoffimpuls heftete sich dann aber ein Themenkomplex, die Euthanasie betref­ fend; die Medizinerproblematik kreuzte sich danach mit ethischen Aspekten des Künstlertums. Aus diesem Stoffamalgam wurde zuerst das Schauspiel Der einsame Weg (1904) ausgefällt, und erst zu dieser Zeit kam es zur präziseren Handlungsidee: „Bernhardi. Er hat ein großes Institut gegründet, wird von stre­ berischen Antisemiten verfolgt“.16 Nach weiteren acht Jahren war die Ausarbei­ tungsphase abgeschlossen. Ein Charakteristikum der Textgenese bei Schnitzler ist die Diskretion, mit der die biografischen Hintergründe verschiedener Motive allmählich verschwinden. Es lässt sich zeigen, dass beispielsweise bestimmte, vielsagende topografische Signale aus den Entwürfen gestrichen wurden, wenn sie eine zu große Nähe zur Vita Schnitzlers aufwiesen. Ein markantes Beispiel ist die Novelle Frau Bertha Garlan (1901), die, wie in der Sekundärliteratur vielfach erörtert, auf eine reale Episode zurückgeht: Im Mai 1899 hatte Schnitzler seine ‚Jugendliebe‘ Franziska Lawner, geborene Reich, wiedergetroffen, die, inzwischen verwitwet, in der schlesischen Provinz lebte; sie versprach sich offensichtlich eine neuerliche Beziehung mit dem inzwischen berühmten Autor. Nach einer einzigen erotischen Begegnung zog sich Schnitzler auf recht schnöde Weise zurück. Gleichsam als literarische Wiedergutmachung folgte die Erzählung dann der Perspektive der enttäuschten Frau. Mehrere Einzelheiten der Affäre sind in den Manuskripten festgehalten. So ist in einer ersten Handlungsskizze noch von einer Stickerei die Rede, die dem Jugendgeliebten zum Geburtstag übersandt wird; tatsächlich hatte Schnitzler im Tagebuch vom 15. Mai 1899 notiert, einen „Brief von Fännchen, mit Handarbeit“ erhalten zu haben (Schnitzler 1989, 306). Auch der Riedhof, ein Wiener Restaurant mit Chambres séparées, laut Tagebuch vom 22. Mai 1899 Schauplatz der sexuellen Eskapade – „so wird ein Wunsch erfüllt“ (Schnitzler 1989, 307) –, taucht im Entwurf noch auf. Beide Details (vgl. Schnitzler 2015, 26, 40) fehlen im Drucktext (vgl. Schwentner 2017). Diese typische Tilgung von Lebens­ daten ist eine Variante der verschiedenen Fiktionalisierungsstrategien, denen Schnitzlers Ausarbeitungen folgen. Dabei spielt nicht nur die ratsame Verhüllung des Selbsterlebten eine Rolle. Mit der erhöhten Fiktionalisierung findet zugleich ein Prozess der kompositionellen und ästhetischen Durcharbeitung statt. Am Ende dieser Phase setzte die stilistische Überarbeitung ein, die Schnitzler „Feile“ nannte. Anders als etwa bei Musil, der Synonyma addierte, um eine be-­ stimmte semantische Färbung zu erreichen, sind diese Korrekturen bei Schnitzler

15 Notiz aus dem Nachlass, zitiert nach Rey (1971, 85). 16 Notiz aus dem Nachlass (1903/1904), zitiert nach Rey (1971, 86).

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oftmals syntaktischer Art und betreffen Rhythmik und Satzmelodie. Die aller­ letzte Textstufe – wohl immer eine Abschrift von fremder Hand – ist in der Regel nicht erhalten, da diese an den Verlag gesandten Druckvorlagen im S. FischerArchiv entweder nicht aufbewahrt wurden oder in Krieg und Emigration verloren gingen. Das jeweils letzte erhaltene Manuskript weicht also von der Druckfas­ sung meist noch erheblich ab. Eine vorliegende Handschrift deshalb ‚Urfassung‘ zu nennen, ist einigermaßen unvorsichtig, da erste Niederschriften nicht unbe­ dingt erhalten sein müssen und gerade die Genese von Schnitzlers Texten dem Begriff ‚Fassung‘ widerspricht, ganz abgesehen von Roland Reußʼ prinzipiellen Einwänden, der eine ‚Fassung‘ nicht für ein quasi-natürliches genetisches Produkt, sondern grundsätzlich für eine editorische Konstruktion hält (vgl. Reuß 2010, 160).

5 Korrektur und Zensur Die durch Streichungen und Überschreibungen entstehenden Varianten können mitunter auch als ‚Schichtung‘ von unbewusstem Symptom und bewusstem Zen­ sureingriff verstanden werden. Die Annahme, sowohl das Corrigendum als auch seine Tilgung bzw. Ersetzung verdankten sich einem völlig bewussten schriftstel­ lerischen Kalkül, trifft etwa nicht auf Schreibversehen zu, also auf psychoanaly­ tisch als Fehlleistung klassifizierbare Verschreibungen. Gerade beim ‚Skandalau­ tor‘ Schnitzler und seinen vielen, die Zeitgenossen schockierenden Verstößen gegen eine heuchlerische Sexualmoral gilt es hier zu differenzieren, da der Bruch mit gesellschaftlichen Normen ja durchaus wissentlich erfolgen und das betref­ fende Selbst-Verbot hinterher, mit Rücksicht auf die Veröffentlichung, erfolgt sein kann. Nun hatte sich Schnitzler beispielsweise im Reigen ohnehin gegen alle Regeln der Theaterzensur vergangen – das Stück galt ihm als unaufführbar –, aber in dem 1900 veröffentlichten Privatdruck fehlten dennoch sehr explizite Dialoge wie der folgende aus einer Vorstufe zur zehnten Szene: Graf [...] (hat ihr an die Brust gegriffen Dirne .. Was, ich hab eine feste. Das kommt halt vom soliden Leben ..17

Allerdings gibt es in den Manuskripten auch Beispiele für eine Schwebe zwischen bewusster Kontrolle und (vor-)bewusstem Eingriff. Das gilt etwa für Lieutenant

17 Faksimile in: Bellettini und Hutchinson (2010, 97). Die Herausgeberin transkribiert aller­ dings: „Was, ich hab ne feste. Da komm halt einen Blick haben …“ (Schnitzler 2004, 231).



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Gustl, einen der beiden Texte, die Schnitzler unmittelbar nach der Lektüre von Freuds Traumdeutung niederschrieb, durchaus überzeugt von den Mechaniken des Unbewussten, die dort entwickelt werden. Umgekehrt ist der Text natürlich auch einer psychoanalytischen Lektüre unterzogen worden. Besonderes Augen­ merk galt dabei einer Stelle, an der sich Gustl an seine Stationierung in der gali­ zischen Garnison Przemyl erinnert: … war doch eine schöne Zeit … obzwar … die Gegend war trostlos und im Sommer zum Ver­ schmachten … an einem Nachmittag sind einmal Drei vom Sonnenstich getroffen worden … auch der Corporal von meinem Zug – ein so verwendbarer Mensch … Nachmittags haben wir uns nackt auf’s Bett hingelegt – einmal ist plötzlich der Wiesner zu mir hereingekom­ men, ich muß g’rad’ geträumt haben, und steh’ auf und zieh’ den Säbel, der neben mir liegt … muß gut ausg’schaut haben … der Wiesner hat sich halbtodt gelacht – der ist jetzt schon Rittmeister ... (Schnitzler 2011, 536–537)

Klaus Laermann las diese Passage seinerzeit ganz im Sinn von Freuds Symbolthe­ orie und ließ den Säbel für den Phallus stehen, was dann für eine unbewusste homoerotische Neigung Gustls sprach (Janz und Laermann 1977, 119). Auf der betreffenden Manuskriptseite (Abb. 5) wird die Wendung „ganz nackt“ noch mehrfach gestrichen oder durch „halbnackt“ ersetzt (Schnitzler 2011, 312–313).

worden, darunter der Korporal von meiner Compagnie, ein so verwend barer Mensch – und Nachmittag ganz nackt ich bin von 2–6 auf dem Bett gelegen ganz nackt auf dem Bett gelegen .... einem schöne Figur der ganze August .. zeitig im August – und den Säbel neben mir Nachmittag haben wir uns alle ganz halbnackt auf die Betten hinge Abb. 5.

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Eindeutig zensuriert wird dann eine Sequenz, an der sich Gustls Misogynie unverhüllt zeigt; es handelt sich wohl um die kürzeste Liebesgeschichte der deut­ schen Literatur: … im Volksgarten hab’ ich einmal Eine ang’sprochen – ein rothes Kleid hat sie angehabt – in der Strozzigasse hat sie gewohnt – nachher hat sie der Rochlitz übernommen … (Schnitzler 2011, 547)

Das Manuskript (vgl. Schnitzler 2011, 446) mildert durch Sofortkorrektur eine noch abwertendere Formulierung (Abb. 6): „dann hab ich sie dem“ erfordert als Verbum ganz offenbar „weitergegeben“ oder „überlassen“. Ein letztes Beispiel betrifft ebenfalls Gustls frauenfeindliche Tendenzen, eine Überlegung zu seiner Freundin Steffi (die aber von einem anderen Geliebten ausgehalten wird): „… ob so ein Mensch Steffi oder Kunigunde heißt, bleibt sich gleich – –“ (Schnitzler 2011, 538). In der Handschrift ist die Stelle mehrfach überschrieben (vgl. Schnitz­ ler 2011, 330; Abb. 7). Für die Textgenese blieb es sich eben nicht gleich, welcher Name hier einzusetzen war: „Paula“ hieß etwa die Frau Richard Beer-Hofmanns, „Wilhelmine“ die Schwester Adele Sandrocks, mit der Schnitzler von 1893 bis 1895 ein Verhältnis gehabt hatte. Der Name „Anna“ hingegen ist in der Novelle bereits besetzt; mit „Kunigunde“ war dann ein ungefährlicher, schon zur Entste­ hungszeit veralteter Name gefunden (Schnitzler 2011, 330).

Abb. 6–7.



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Ein letztes Beispiel, das vor Schnitzlers Freud-Lektüre liegt und an dem nun ‚wilde‘ Psychoanalyse hinter dem Rücken des Autors betrieben werden soll, stammt aus der Erzählung Der Ehrentag von 1897. An der betreffenden Stelle ist eine Sängerin im Begriff, in die versperrte Garderobe eines kleinen Statisten ein­ zudringen. Die Umstände sind tragisch – der Darsteller hat, wie befürchtet, Selbstmord begangen –, aber die Szenerie ist eine nächtlich-traumhafte mit vielen erotischen Indizien. Die Passage lautet im Drucktext: Sie suchte in ihrer Tasche und atmete erleichtert auf. Vielleicht paßt er, flüsterte sie und hielt ihren eigenen Garderobeschlüssel in der Hand. Sie gab dem Portier die Laterne wieder zu halten, und hastig versuchte sie den Schlüssel. Er paßte. Sie drehte ihn ein-, zweimal im Schlosse um; sie drückte auf die Schnalle, die Tür ging auf. (Schnitzler 1961, Bd. 1, 294)

Abb. 8.

Im Manuskript jedoch (Abb. 8)18 sind mehrfache Tilgungen des Wortes „steckte“ zu sehen, das im veröffentlichten Text nicht mehr vorkommt. Das Schriftbild führt das ‚Steckenbleiben‘, das Stocken des Schreibflusses unmittelbar vor, Indiz einer vielsagenden ‚Hemmung‘. Freuds Traumdeutung identifiziert das Traum­ symbol ‚Zimmer‘ schlechterdings mit ‚Frauenzimmer‘; es heißt dort: „Welcher Schlüssel das Zimmer aufsperrt, braucht dann nicht ausdrücklich gesagt zu werden“ (Freud 1972 [1900], 349). Manifest findet hier zwar ein ‚Geschlechter­ tausch‘ statt; im Zusammenhang mit der Triangulierung der Figuren – die Prota­ gonistin steht zwischen ihrem Geliebten und dem Komparsen – und den verhan­ delten Themen von männlicher Konkurrenz und Versagensangst stützt der Nachdruck, der schließlich darauf liegt, dass es nicht ein ‚fremder‘, sondern der eigene Schlüssel ist, der schließlich ‚passt‘, doch eine psychoanalytische Lektüre.

18 Handschrift Der Ehrentag, Nachlass Arthur Schnitzler, Cambridge University Library, A 146,2, 118.

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Derartige ‚Zensur‘-Eingriffe gibt es in Schnitzlers Manuskripten viele; sie muten gelegentlich paradox an, da der kritische Tenor der betreffenden Texte ja dezidiert gegen die gesellschaftlichen Tabus der ausgehenden k. u. k. Monarchie gerichtet ist. Deren verdrängtes Unbewusstes wird gleichsam permanent freige­ legt. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen war es nötig, den Affront nicht auf die einzelne anstößige Formulierung zu verkürzen. Wohl auch mit Rücksicht auf das Lektorat des S. Fischer-Verlags, das sich mitunter durchaus prüde ver­ hielt, dämpfte Schnitzler den Ausdruck, und zwar nicht nur auf erotischem Gebiet. Eine vermiedene Sperrzone war auch der Antisemitismus. Für das jahre­ lange Zögern Samuel Fischers, den Reigen in seinen Verlag aufzunehmen, könnten durchaus nicht nur sittliche und juristische Bedenken verantwortlich gewesen sein, sondern auch die – wie sich zeigte, berechtigte – Furcht vor juden­ feindlichen Reaktionen.19 Schnitzler seinerseits sprach sich zwar vielfach gegen jüdischen Opportunismus aus, hat aber die explizite Darstellung des antisemiti­ schen Vorurteils selbst einmal zurückgenommen, und zwar etwa in Der Weg ins Freie (1908). Während der Roman mit aller Deutlichkeit vorführt, wie seine jüdi­ schen Figuren immerfort auf die sie umgebende Feindseligkeit reagieren müssen, kommen Antisemiten selbst kaum zu Wort, jedenfalls nicht in der Unverblümt­ heit, mit der sie sich in den Entwürfen äußern. Ein reichsdeutscher Konzertmeis­ ter, der in der Druckfassung gerade noch einmal erwähnt wird, hat hier Folgen­ des zu sagen: Er verachtete überhaupt den österreichischen Antisemitismus in seiner Unaufrichtigkeit und Verpfaffung und lobte sich den gesunden deutschen Standpunkt, sich einfach die Ver­ treter dieser fremden Rasse vom Leibe zu halten. „Für mich“, sagte er einmal, „gibt es keine Judenfrage, so wenig als es eine Neger- oder Chinesenfrage für mich gibt.“ […] Er leugnete auch durchaus nicht, dass bei den Juden allerlei gute Eigenschaften vorkommen mögen, nur seien sie eben Menschen andrer Rasse, anderer Art, ja das sei er bereit zu schwören, anderen Geruch[s] – mit denen es für einen Arier nun einmal eine innere Gemeinschaft so wenig geben könne, als mit irgend einem Tier, das ja auch in seiner Art etwas vorzügliches bedeuten könne ...20

19 Noch Ende 1930, als die Übernahme des Reigen durch den Verlag bereits feststand, lehnte es Fischer ab, eine Einleitung voranzustellen, die die ‚Skandalgeschichte‘ des Buches und der In­ szenierungen dokumentiert hätte: „Wir stehen […] augenblicklich unter dem Druck der national­ sozialistischen Bewegung und die Wirkung dieser Einleitung wäre zweifellos die, dass die anti­ semitische Presse die Beunruhigung, die aus der Lektüre und den Aufführungen entstanden ist, zu einer neuen Aufrollung der Frage missbrauchen würde“ (Brief v. 10. 11. 1930, Fischer – Fischer 1989, 162). 20 Verworfene Passagen zu Der Weg ins Freie, Nachlass Arthur Schnitzler, Cambridge University Library, A 133,3, 1056–1057.



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Solches findet sich also in der Veröffentlichung nicht. Dies entspricht allerdings wiederum der Perspektive der Hauptfigur, dem in der ‚Judenfrage‘ völlig indiffe­ renten und indolenten Baron Georg von Wergenthin: Was er nicht sehen will, wird auch von der Erzählinstanz weggeblendet.

6 Sprechende Schrift Darüber hinaus vermittelt sich der Inhalt des Geschriebenen mitunter tatsächlich an den Schreibduktus selbst. Ein Beispiel aus dem Lieutenant Gustl: Der Text beginnt mit einer durchschnittlichen Schriftgröße, in der etwa 11–12 Zeilen auf einem Blatt Platz haben. In der Demütigungsszene – Gustl wird von einem Bäckermeister beleidigt – verkleinert sich die Schrift, die Zeilenzahl wächst auf 13 an (vgl. Schnitzler 2011, 120); Gustls ‚kleinlaute‘ Reaktion findet so grafischen Ausdruck (Abb. 9). Anders am Ende: Nach der Nachricht vom Tod des Bäckers

Abb. 9.

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jubiliert Gustl, vergisst seine verletzte Ehre und den geplanten Suizid und freut sich auf ein bevorstehendes Duell; der letzte Satz lautet bekanntlich: „[Dich hau ich] zu Krenfleisch!“ (Schnitzler 2011, 508). Sein Triumph konvergiert mit dem Beendigungsschwung des Manuskripts und ist der Schriftgröße der letzten Seite abzulesen.

Abb. 10.

Ein anderes Beispiel ist das ‚Fräulein‘. Die Anrede erscheint sehr oft flüchtig und verkürzt, zumal in der Figurenrede, die sich der Mundart annähern kann. Hier – wie an anderen Stellen – ist es mitunter schwer zu entscheiden, ob es sich bei der fehlenden Endung um eine Schrift-Verschleifung oder eine intendierte Elision handelt. Der soziale Rang der Figuren kann dabei ein Kriterium sein: In Die Toten schweigen (1897) spricht ein Kutscher, und da sein Wiener Dialekt auch sonst imi­ tiert wird, ist die Entzifferung „Fräuln“ – als „Fräul’n“ erscheint die Anrede dann in der Druckfassung – mit einiger Sicherheit legitim (vgl. Schnitzler 2016b, 138 passim; Abb. 11). Anders verhält es sich mit Anatol, der sich der gehobenen



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Abb. 11.

Umgangssprache bedient. Sein ‚Fräulein‘ ist trotz Verschleifung korrekt wieder­ zugeben. Nun gibt es im Anatol-Zyklus aber eine Szene, in der sich der Protago­ nist der Anrede in einem Affekt der Empörung bedient. Anatol trifft auf eine ehe­ malige Geliebte, die sich seiner nicht mehr erinnert. Obwohl auch er in diesen Dingen nicht immer gedächtnisstark ist, bildet dieser Rollentausch doch eine herbe narzisstische Kränkung. Die betreffende Stelle lautet im Drucktext: Anatol (näher tretend). Fräulein ... Max. Was sagen Sie zu der Ueberraschung, Bibi? Bianca (etwas verlegen, sucht augenscheinlich in ihren Erinnerungen). Ah, wahrhaftig, wir kennen uns ja ... Anatol. Gewiß – Bianca. Bianca. Natürlich – wir kennen uns sehr gut ... Anatol (erregt mit beiden Händen ihre Rechte fassend). Bianca ... Bianca. Wo war es nur, daß wir uns trafen ... wo nur ... ach ja! Max. Erinnern Sie sich ... Bianca. Freilich ... Nicht wahr ... es war in St. Petersburg ...? Anatol (rasch ihre Hand fahren lassend). Es war ... nicht in Petersburg, mein Fräulein ... (Wendet sich zum Gehen). (Schnitzler 2012, 925–926)

In der Handschrift aber unterscheiden sich die beiden ‚Fräuleins‘ eminent: Im Vergleich zum ersten (Abb. 12) drückt das zweite (Abb. 13) die persönliche Distan­ zierung aus (Schnitzler 2012, 326, 328). Und so wechselt der Schriftduktus einmal in Schönschrift: Steht die Kalligraphie gewöhnlich im „Zeichen des Respekts“

Abb. 12–13.

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(Frey 1988, 77), wird sie hier zur Antwort auf Biancas despektierliche Vergesslich­ keit. Die Entfernung von der ehemaligen Geliebten wird gleichsam amtlich ver­ schriftlicht. Damit semantisiert sich der Schriftzug einmal tatsächlich selbst, das Schrift- wird zum Sinn-Bild. Ein letztes Beispiel, noch einmal aus dem Lieutenant Gustl, ist insofern viel­ sagend, als es sich hier in der Tat um eine Schreib-Szene handelt, wenn auch um eine gescheiterte. Gustl überlegt, vor seinem Suizid Abschiedsbriefe zu schrei­ ben, ist dem Vorhaben aber weder mental noch auch stilistisch gewachsen. „Brief schreiben? . Wozu denn?“ (Schnitzler 2011, 326; Abb. 14). Besonders den Gedan­ ken an die Trauer seiner Familie hat Gustl, autoritärer Charakter auch da, schon zuvor immer abgewehrt. Als es darum geht, die Schwester Clara um Trost für Papa und Mama zu bitten oder sich von der Geliebten Steffi zu verabschieden, wird der Schreibduktus nicht nur massiv verkürzt; in den betreffenden Sätzen wird auch das Wort „schreiben“ zu „schrei“ (Schnitzler 2011, 448, 454; Abb. 15 u. 16). Der laute Schrei, den Gustl unterdrückt hat – „ich fang noch an zu schreien mitten in der Nacht“ (Schnitzler 2011, 298) –, bricht auf dem Papier aus, erwächst aus dem Schreiben. Die Schrift bringt hier zum Vorschein, was im Text zwar sati­ risch arrangiert wird – Gustls Todesnot –, aber insofern ernst genommen werden muss, als es, sozialkritisch, die Verzweiflung eines Individuums ausdrückt, das die identitätsstiftenden Regulative seiner Ingroup verloren hat. Schrift wird hier durchsichtig, hin auf das ultimative Schreiben, das ja immer eine Verabschie­ dung bedeutet; sie wird nicht nur sprechend, sondern schreiend. Als nachgelas­ sene Schrift des Gustl hat das Manuskript seinen Inneren Monolog so noch zu einem existenziellen Ausdruck gebracht.

Abb. 14.

Abb. 15–16.



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Gerhard Fuchs

Sommerfrische/Zweitwohnsitz Arbeits- und Vorstellungsräume bei Peter Rosegger und Friedrich Torberg Wer hätte in seinem Stadt- und Weltleben nicht manchmal das Gefühl tiefer Ermüdung und Verstimmung, ohne eigentlich die Ursache davon zu kennen! Ich leide gar manchmal unter solchen Stunden der Abspannung und des Unbefriedigtseins, habe dagegen aber einen Talisman. Ich öffne ein Kästchen an meinem Schreibtische, in demselben liegt ein eiserner Schlüssel. [...] Der Anblick dieses Schlüssels erquickt mich, er erinnert mich an köstliche Zeiten und verspricht mir wieder solche, er ist mir ein Anker, an den ich mich anhake, wenn beim Schwimmen im Meere des Weltlebens meine Kraft erlahmen, mein Muth sinken will – es ist der Schlüssel zu meinem Sommerhause im Gebirge. (Rosegger 1888, 355)

Als Peter Rosegger die autobiografische Miszelle aus seiner Zeitschrift Heimgarten 25 Jahre später, also 1913, in seine Gesammelten Werke aufnimmt, sperrt der Schlüssel nunmehr zu seinem „Sommerhause in der Waldheimat [meine Hervor­ hebung, G. F.]“ (Rosegger 1913b, 36) – eine aufschlussreiche Korrektur, die die nunmehrige Etablierung dieser mythopoetischen Ortsbezeichnung unterstreicht. Der Autor hatte diesen fingierten, geografisch zwischen dem Mürz- und dem Feistritztal in der Obersteiermark verorteten Sehnsuchtsraum der Waldheimat mit dem Titel seiner schon sehr früh (Rosegger 1877) erschienenen Publikation nicht nur literarhistorisch fixiert, indem er seine anekdotischen Jugenderinne­ rungen mit entsprechenden Narrativen und Motiven so wirkungsmächtig ausstaf­ fiert hatte, dass in den folgenden Jahrzehnten neben der epigonalen Fortschrei­ bung des Genres eine per Literatur implementierte geografische Bezeichnung sogar kartografisch relevant wurde. Das oft zitierte „Einkerben“ oder „Einritzen“ durch die Schrift in „Graphien des Raums“ (Böhme 2004, XVIII), das Anlegen von „Wegen, Routen oder Landstrichen“ im Sinn einer topografischen Konstituierung von literarischen Räumen führte im Fall Rosegger zu einer Markenbezeichnung, von der noch heute viele Bereiche der örtlichen Tourismusindustrie zehren.1

1 Der Erfolg des Autors lässt sich m. E. in diesem Zusammenhang nicht ausschließlich ideologie­ kritisch mit einer seriellen Produktion regressiver Utopien im Vorfeld der späteren „Heimat­ kunst“ erklären, die mit ihren Dichotomien von gesund/krank, ländlich/städtisch, Innenkreis/ Eindringling, Bauerntum/Fabriksarbeit um die Jahrhundertwende reüssierte. Diese auch bei Rosegger nachweisbaren, in seiner Erzählkonstruktion meist sehr holzschnittartig umgesetzten inhaltlichen Topoi gewinnen durch ein geschicktes Andocken an rezeptive Erwartungshaltungen DOI 10.1515/9783110466850-011, © 2017 Gerhard Fuchs. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 License.

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1877 also, dem Erscheinungsjahr der Waldheimat-Erzählungen, errichtet der seit zwei Jahren verwitwete, unter dem Verlust seiner bei der Geburt des zweiten Kindes gestorbenen Frau Anna noch immer massiv leidende Autor, der nun – nicht zuletzt aufgrund der Versorgungsnotwendigkeit für die beiden kleinen Kinder – eine neue Partnerin sucht, sein Sommerhaus, ein Wunschprojekt, auf das er seit Jahren gespart hat.

Abb. 1: „Krieglacher Sommerhaus“ (eh. Zeichnung Roseggers).

Es liegt, wie der Autor anmerkt, „[n]ur wenige Stunden von der Tummelstätte meines Kindes- und Jugendlebens, im Dorfe Krieglach“ (Rosegger 1888, 356), ist aber eben, wie hinzuzusetzen ist, bezüglich der Erreichbarkeit und Infrastruktur eben nicht mit der nahezu alpinen, ausgesetzten Lage von Roseggers Geburts­ haus vergleichbar, wohl eine Konzession an die familiäre Vereinbarkeit und Bequemlichkeit, was erst später, wo „der Dichter die Verherrlichung der Waldhei­ mat“ in den „Rang einer Universalheilsbotschaft erhoben“ (Philipoff 1993, 103) hatte, auf Kritik stieß. 1877 wohnte der Autor in einer von unterschiedlichen Grazer Wohnungen, erst ab 1880 findet er, nunmehr mit seiner zweiten Frau Anna

Kontur, die sich von den fiktionalen Inszenierungen Realitätshaltigkeit erwarten, eine Beglaubi­ gung durch die autobiografische Evidenz oder das Zutreffen von sozialen oder ökonomischen Zustandsschilderungen. Roseggers journalistisches Talent, wie es insbesondere in seinen Beiträ­ gen in seiner Zeitschrift Heimgarten deutlich wird, die er 34 Jahre führt, würzt die unterhalt­ samen Jugenderinnerungen mit einer als realhistorisch dekodierbaren Grundierung, oder ein­ facher: der Mann weiß, wovon er schreibt – glaubt zumindest der Leser.

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(Heirat 1879), ein dauerhaftes Domizil mit der großzügigen Wohnung in der damaligen Burggasse 12. Kaum der Winter seinen Höhepunkt überschritten hat, werden schon die Monate, die Wochen und endlich die Tage gezählt, bis das Landhaus zu beziehen ist. Die Stadt wird lästig und lästiger, die Menge und der Verkehr mit ihr unbehaglicher [...]. Ich fühle mich welk, abgehetzt, stumpfsinnig, langweilig, ich empfinde eine Abneigung gegen mich selbst, und der Verkehr mit Leuten macht diese Empfindung nur noch ärger. [...] Und eines Tages packe ich urplötzlich meinen Handkoffer und übersiedle aufʼs Land inʼs Sommerhaus, wo durch die Sorge der wackeren Gattin Alles in guter Bereitschaft steht. Die Familie bleibt einstweilen noch in der Stadt, die Kinder werden noch monatelang in den Schulen zurück­ behalten und ergötzen sich im Gedanken, wie gut es dem Vater sein mag. Dem Vater ist es wirklich gut. Die leibliche Atzung findet er im Gasthause, dann zieht er sich in sein stilles Haus zurück [...]. Unser Ziel sei der Frieden des Herzens! Nie lebendiger wird mir dieser Gedanke, als wenn ich im Frühjahre das stille Haus betrete. (Rosegger 1913b, 40–41)2

Die Sentenz vom anzustrebenden Ziel, dem „Frieden des Herzens“, besitzt noch einen postmortalen Zeichencharakter als performative Aufforderung an die Gegenwart: Sie ist nämlich auf einer Tafel in Krieglach eingraviert, auf dem Orts­ friedhof, in den der Autor nach seinem Tod vom Sommerhaus aus im Jahr 1918 überführt wurde. Die Realutopie, die Rosegger seinem Sommerhaus zuschreibt, erinnert an Foucaults Konzept jener Utopien, die „einen genau bestimmbaren, realen, auf der Karte zu findenden Ort besitzen und auch eine genau bestimm­ bare Zeit, die sich nach dem alltäglichen Kalender festlegen und messen lässt“ (Foucault 2005, 9). Diese Gegenräume, die sich allen anderen Orten „widersetzen und sie in gewisser Weise sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren und reinigen sollen“ (Foucault 2005, 10), bringt er mit der Erfahrungswelt der Kinder in Verbin­ dung, die ihren Garten, das Indianerzelt auf dem Dachboden oder das Ehebett der Eltern zu solchen Gegenorten, zu Heterotopien, imaginieren. Die Heteroto­ pien der Erwachsenen konkretisiert Foucault dann zum Großteil mit institutiona­ lisierten realen Orten wie Irrenanstalten, Bordellen, Gefängnissen, aber auch mit den „Dörfern des Club Méditerranée“, quasi die kollektivierte, durchorganisierte Form der Sommerfrische.

2 Den Aufenthalt in seinem Sommerdomizil darf man sich allerdings nicht als einsame Klausur vorstellen. Beim apostrophierten Gasthaus dürfte es sich wohl um sein Stammlokal in Mürzzu­ schlag, das Hotel „Post“ seines Freundes Toni Schruf, handeln. „Man diskutierte über Politik und Kunst, über Gott und die Welt, man pflegte die Geselligkeit [...]. Auch das Krieglacher Land­ haus des Dichters stand immer seinen Freunden und Bekannten gastfreundlich offen [...]“ (Marketz 1993, 29).

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Abb. 2: „Roseggers Sommerhaus in Krieglach mit dem Töchterchen Martha“.

Die Faszination des Zweitorts besteht für Rosegger darin, Gewohntes und Erwart­ bares vorzufinden, so etwas wie eine geregelte Infrastruktur der Abläufe und Dinge. In dieser Orientierungssicherheit entsteht dann ein Verhaltens- und Wahr­ nehmungsspielraum, der paradoxerweise gewohnte Rituale durchbricht, indem gewissermaßen nichts geschieht. Die Befreiung aus vorgestanzten Erwartungs­ konstellationen offeriert eine Leerstelle, die noch nicht besetzt scheint und sich als Projektionsraum des individuellen Entwurfs anbietet. Hand in Hand mit der asozialen Selbstbezüglichkeit, der Negation der sozialen Ansprüche, geht die weitgehend unauffällige Deviation innerhalb eines – wohl geschützten und mit

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Regeln versehenen – Ortes. Foucault spricht von „Abweichungsheterotopien“ und denkt hier neben den psychiatrischen Anstalten auch an Altersheime, „denn in einer so beschäftigten Gesellschaft wie der unseren ist Nichtstun fast schon abweichendes Verhalten“ (Foucault 2005, 13). Die Freisetzung von einem entwe­ der sozial vermittelten oder als Selbstanweisung internalisierten Arbeitsethos scheint zumindest für Rosegger höchst attraktiv: „Da sitze ich im Stübchen und blicke hinaus auf die Felder [...]. Ein Buch halte ich vielleicht in der Hand, aber ich kann nicht lesen, ich bin zu glücklich, ich kann nicht denken, ich kann nur träumen und die himmlische Ruhe empfinden, die um mich und in mir ist“ (Rosegger 1913b, 41). Die spezifische Schreibumgebung evoziert differente Text­ sorten: „Meine erzählenden Werke sind größtenteils auf dem Lande oder durch dessen Befruchtung entstanden, die nachdenklichen und räsonierenden fast alle in der Stadt und durch deren Einfluss“ (Rosegger 1913b, 42). Der Autor ortet und verortet den kreativen Impetus für die favorisierten Erzählungen in der reizenden ländlichen Reizlosigkeit, die eine diskursiv-reflexive Ebene minimiert und eine selbstgewisse Autorenrolle samt dazugehöriger Autonomieästhetik in Szene setzt, so als ob für den narrativen Schreibprozess eine Minimierung reflexiver Anteile Voraussetzung sei. Die physische Gesundheit und Kraft, die Ausgegli­ chenheit und Lebensfreude durch das rurale Umfeld wird als Gegenmodell zur städtischen Neurasthenie perspektiviert und als Motor für den kreativen Schreib­ akt aufgefasst, wobei dem Autor aber die dialektische Verschränkung der beiden Pole bewusst ist: Und doch muß ich gestehen, daß mir für zeitweiligen Aufenthalt die Stadt unentbehrlich geworden ist. Nicht allein wegen äußerer Bequemlichkeit und aus Gesundheitsrücksichten in den scharfen Wintermonaten, sondern auch wegen der geistigen Regsamkeit, die wie gesagt nicht eigentlich befruchtend auf meine Arbeiten wirkt, mir aber persönlich wohlbe­ kommt, wenn sie einen gewissen Grad nicht überschreitet und nicht nervös macht. (Roseg­ ger 1913b, 42)

Der gelungene Schreibprozess hat bei Rosegger also so etwas wie eine imagina­ tive Naivität zur Voraussetzung. Entscheidend ist dabei der nahezu entrückte Zustand des Schreibens, der als existenzielle Notwendigkeit definiert wird: „Das Wichtigste und das Genußreichste, der einzige Zustand im Leben, der sich ganz entschieden des Lebens lohnt“ (Rosegger 1913a, 6). Dermaßen apodiktisch defi­ niert der Autor für sich den Stellenwert der literarischen Selbstentäußerung in einer Selbstdarstellung mit dem Titel Mein Arbeiten, in der Rosegger aus seiner Sicht detailliert Auskunft über die Faktoren eines gelungenen Schreibakts gibt. Und wenn Martin Stingelin in einer Einleitung auf Lichtenbergs Hinweis auf die unabdingbare Notwendigkeit einer „guten Feder“ für das Führen einer guten Feder verweist, auf dass „der Gedankenfluß mit dem Schreibfluß nicht ins

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Stocken gerät, weil der Schreibende sich nicht lange körperlich beim Drücken aufhalten muß, sondern seinen Einfällen freien Lauf lassen kann“ (Stingelin 2004, 9), so ist – als unerwartete intertextuelle Trouvaille – diese Betonung der materiellen Schreibvoraussetzungen Rosegger ebenfalls bewusst, er relativiert aber deren Bedeutsamkeit für den tatsächlichen kreativen Schreibakt: Eines solchen Tages, zumeist gegen Abend, wenn schon das helle Lampenlicht auf ein weißes Blatt Papier fällt, setze ich mich hin und beginne zu schreiben. Sonst ist die glatte oder störrische Feder oft maßgebend für das Gelingen der Arbeit, und das Sprichwort, das man einem gewandten Schriftsteller anzuwenden pflegt: er hat eine gute Feder! ist nicht nur bildlich. Bei einem solchen erwachten Arbeitsdrange aber ist jede Feder gut genug, und steht nur erst ein Satz, auch nur ein Wort auf dem Papier, dann belebt sichʼs, formt sichʼs, die Stimmung wird zum Gefühle, das Gefühl zum Gedanken, der Gedanke zum Wort, das Wort zur Gestalt. Das aber alles erst, wenn die Feder schon naß ist oder die erste Zeile auf dem Blatte steht. (Rosegger 1913a, 7)

Dieser besondere Zustand, der wie auch bei vielen anderen Autoren Isolation, Abkapselung von äußeren Einflüssen wie Licht, Geräuschen und optischen Ablenkungen voraussetzt, wird hier als Ablaufmodell skizziert und er rekurriert auf den Zentralbegriff der Schreibmotivation wie jenen der Hermeneutik um die Jahrhundertwende: den des Lebens bzw. der Lebendigkeit. Diltheys Initialtext für die sich entwickelnde Institution des Archivs sieht denn auch die Notwendigkeit für die Errichtung in einem Nachvollzug von Lebensäußerungen begründet, der selbst eine solche darstellt: Und darum ist uns der Atem des Menschen so lieb, welcher uns aus Entwürfen, Briefen, Aufzeichnungen entgegenkommt. [...] Wir verstehen ein Werk aus dem Zusammenhang, in welchem es in der Seele seines Verfassers entstand, und wir verstehen diesen lebendigen seelischen Zusammenhang aus den einzelnen Werken. Diesem Zirkel in der hermeneutischen Operation entrinnen wir völlig nur da, wo Entwürfe und Briefe zwischen den vereinzelt und kühl dastehenden Druckwerken einen inneren lebensvollen Zusammenhang herstellen. (Dilthey [1889] 1970, 5)

Konsequenz ist die Forderung an den Ästhetiker, der „die Natur der Einbildungs­ kraft, ihre Formen, die Regeln des Schaffens und die Entwicklung der Technik erkennen“ will, um den Schaffensprozess noch einmal nachzuvollziehen: „Das erfordert den intimsten Einblick in das Leben des Dichters: er muß bei ihm in seiner Werkstatt sitzen“, eben um „[d]as Leben, das von den Handschriften aus­ strömt“ (Dilthey [1889] 1970, 6), für die Erkenntnis von Kausalzusammenhängen fruchtbar zu machen.

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Abb. 3: Rosegger im Arbeitsraum seines Landhauses in Krieglach.

Die Entwicklung von der somatisch eingeschriebenen „Stimmung“ zur Form, wie sie Rosegger beschreibt, ist aber auch für ihn keine unproblematische, kein, wenn einmal angestoßen, automatisch ablaufender Prozess: Ist aber die Stimmung eine zu günstige, fliegt die Feder zu glatt dahin, so laufe ich allemal Gefahr, geschwätzig und weitläufig zu werden, was erst später beim „Feilen“ oder gar nicht bemerkt wird; während, wenn der Stoff einmal lebendig ist, eine gewisse Schwere oder Mühe in der Wahl der Ausdrücke, im Komponieren, ja selbst ein bißchen physische Anstren­ gung im Schreiben, den Text gedrängter und gehaltvoller macht. Je lästiger das Schreiben, je kürzer sucht man sich zu fassen. (Rosegger 1913a, 7)

Vergegenwärtigt man sich dieses Zitat, so gilt Martin Stingelins Hinweis, dass „die Körperlichkeit und die Instrumentalität des Schreibakts als Quelle von Widerständen, die im Schreiben überwunden werden müssen, in der Literatur­ wissenschaft bislang weitgehend ausgeblendet worden“ (Stingelin 2004, 12) seien, gerade im Fall Rosegger für beherzigenswert, bei einem Autor, der über seinen Schreibprozess erstaunlich differenziert Auskunft gibt, der aber aufgrund seiner ästhetischen Defizite und seiner ideologischen Problematik ja nicht eben zu den Liebkindern der akademischen Germanistik zählt. Für die Schreibprozess­ forschung interessant ist jedenfalls der Verweis des Schreibenden auf die Not­ wendigkeit eines Schreibmaterial-Widerstands für die ästhetische Qualität, da sich auch Roseggers textgenetisches Ensemble, wie Davide Giuriato (2005, 8) im

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Anschluss an Martin Stingelins Definition der Schreib-Szene zusammenfasst, „in seiner widerstrebenden Heterogenität und Nicht-Stabilität [...] selbst aufhält und problematisiert“. Rosegger formuliert zudem quasi die Gegenposition zu jener folgenreichen Klage von Autoren, dass die instrumentellen Voraussetzungen eines inadäquaten Schreibgeräts im Rahmen der handschriftlichen Fixierung den eiligen Gedankenfluss nicht abzubilden vermögen, als deren Konsequenz die als Entlastung und Befreiung erlebte Beschleunigung der Aufzeichnung durch Schreibmaschine und Computer eine medienhistorische Revolution einleitete, den Siegeszug des Apparats. Roseggers Distanzierung gegenüber der „glatten Feder“ ist demgegenüber als ein Akt der Selbstdisziplinierung zu sehen, der den Widerstand des Schreibgeräts als formbildende Schreibvoraussetzung instru­ mentalisiert. Die Verknappung und die Ökonomisierung als Resultat des „lästi­ gen Schreibens“ stellen sich dabei auch als Folge eines selbstreflexiven Innehal­ tens ein, welches das bewusstlose Aufgehen in einem Schreibstrom konterkariert. Die Mühsal der Handschrift protegiert den Formwillen, die Aufzeichnung ist kein Produkt der rauschhaften Selbstvergessenheit, der Überantwortung an den Lebensstrom, sondern entsteht vor dem Hintergrund der Eigenwahrnehmung. Der Rückbezug auf das Schreibsubjekt erfolgt dabei einerseits über die kognitive Formulierungsarbeit, die das durchlässige Schreibmedium als konstruktivisti­ sche Entwurfsinstanz rematerialisiert, aber eben auch durch eine als außerge­ wöhnlich intensives Erleben erfahrbare Selbstrepräsentanz zwischen Erinnerung und literarischem Neuentwurf. Birgit Neumann bringt in einem Aufsatz den funktionalen Selbstbestätigungs­ aspekt auf den Punkt: „Erinnerungen sind keine Reproduktionen vorgängiger Realität, sondern eine dynamische Form der Aktualisierung von identitätsrele­ vanten Erfahrungen“ (Neumann 2005, 152). Diese Aktualisierung versteht sich bei Rosegger als großteils autobiografisch angelegter narrativer Schaffenspro­ zess, in der Erzählung gewinnen die zeitweilig anscheinend verschwundenen Erinnerungspartikel plötzlich Präsenz und Bedeutsamkeit. „Ich weiß das, denn ich habʼs erzählen gehört.“ „Von wem?“ „Von mir selber.“ (Rosegger 1913a, 12)

Durch die zeitliche Sukzession, die topografische Inszenierung und die Kausali­ tätsmotivierung der Handlungselemente entwickelt sich ein System der Selbstor­ ganisation, das als sinn- und identitätsstiftende Verortungsmatrix der Erinne­ rung fungiert. Diese verleiht dem – auch fiktional ausgestalteten – Selbsterlebten den interpretativen Rahmen nicht zuletzt dadurch, dass es sich als Fremdes im Eigenen emanzipiert und die Hervorbringung dem Urheber als Spiegel dient, der

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sich im nunmehr anderen Eigenen als Selbst wahrnimmt. Jene so oft von Autoren beschriebene Aufspaltung liest sich bei Rosegger so: „Vieles, was ich schrieb, habe nicht ich gedichtet, hat sich vielmehr in mir selbst gedichtet, ohne sich leiten zu lassen von Erwägungen und Absichten. Als ich begann, war es dieses, und als es fertig geworden, war es jenes“ (Rosegger 1913a, 12–13). Gemeint ist hier weniger das Verschwinden des Autors in einem selbstreferenziellen Spiel der Zeichen, sondern das im Verlauf des Entstehungsprozesses freigesetzte Flottieren innerhalb von Erzählwelten, deren Aggregation sich erst im Moment der Nieder­ schrift entscheidet. Der Autor bleibt dabei durchaus genieästhetischen Vorstel­ lungen verpflichtet, welche den Anteil der handwerklichen Konzeptions- und Korrekturtätigkeit im Rahmen der Schreibwerkstatt ausblendet, was gerade beim bienenfleißigen Viel- und Umschreiber, beim Textarbeiter und Mehrfachverwer­ ter Rosegger merkwürdig anmutet. Voraussetzung für das Gelingen des emphati­ schen Höhenflugs beim narrativen Schreiben bleibt in dessen Modell demgegen­ über die vorhin apostrophierte Stimmung, die sich für ihn im städtischen Raum viel schwerer einstellt, dort, wo weniger der Autor in einem emphatischen Sinn als vielmehr die „Misere der Welt“ zu Hause ist: „Der hohle Prunk, der geistige Hochmut, der Tratsch im großen Stile, unfruchtbare, herzvergiftende politische Gehetze und soziale Gezänke [...] – alles das und viel anderes noch widert mich an, wenn ich vom Lande komme“ (Rosegger 1913b, 43). Das Mittel der ersten Wahl ist die Isolation: „Ein Rückzug in seine vier Mauern steht auch in der Stadt frei und in diesen vier Mauern vermag die Erinnerung wieder eine schöne sommerli­ che Welt hervorzuzaubern. [...] Und gehtʼs einmal schief, so nehme ich den Talis­ man aus dem Kästlein und schwelge in dem Bewußtsein des Sommerhauses und seiner reineren Freuden“ (Rosegger 1913b, 43–44).

Abb. 4: Landhaus, heute Rosegger-Museum Krieglach.

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Sogesehen ist die Dichotomie der beiden Lebensmittelpunkte Stadt/Land für Rosegger und andere eine praktikable Einrichtung: Im Winter sehnt man sich nach dem Energieschub im Sommerhaus als gerahmtem Fenster mit Ausblick auf die Kindheit, im Sommer nach dem anregenden Stadtleben mit seinen Bequem­ lichkeiten, kulturellen Verlockungen, Verpflichtungen und Herausforderungen. Die Heimgarten-Redaktion ist in der Stadt verortet, der Erzählgarten Eden lockt auf dem Land in Krieglach. Das zehn Jahre vor Roseggers Tod, also 1908, in Wien geborene Großstadt­ kind Friedrich Ephraim Kantor-Berg, das diversen Landaufenthalten eher abhold gewesen war, sollte erst mit 12 oder 13 Jahren erstmals nachhaltig mit einer ver­ gleichbaren ländlich-prächtigen Naturkulisse konfrontiert werden, die dem „Schneiderpeterl“ von Geburt an vertraut gewesen war. Kurz vor seinem Tod im Jahr 1979 erinnert sich der mit Der Schüler Gerber von 1930 schlagartig bekannt gewordene Friedrich Torberg an seinen ersten Kontakt mit Altaussee und formu­ liert seine Rückschau als Erweckungserlebnis, wobei der Titel die autobiografi­ sche Ausrichtung als erwartbare Eloge akzentuiert – „Alt-Aussee oder Die Erfül­ lung eines Kindertraums“: Ich ging freiwillig spazieren, ich verlangte von selbst nach Ausflügen und Wanderungen, ich war beglückt und beseligt von allem, was ich sah, ich konnte gar nicht genug bekom­ men von dieser Landschaft, von den Streifzügen durch ihre Wälder, vom Rundgang um den See, von der Seewiese, von der Klause, vom Tressenstein, von der Blaa-Alm. [...] Es könnte übrigens sein, daß meine literarischen Neigungen, die sich bei mir sehr frühzeitig zu Wort gemeldet hatten, dort und damals einen entscheidenden Anstoß empfingen. (Torberg 1985c, 134)

Der Autor habe, wie er behauptet, schon damals auf die Frage, was er sich „vom Leben wünsche, Erfolg und Ruhm, Reichtum und Ansehen, Titel und Rang oder was immer, nur eines geantwortet“: „Ich möchte ein Haus in Altaussee haben“ (Torberg 1985c, 134). Warum will er das? Vom kindlich-intensiven3 Faszinosum Altaussee führt uns nun ein kurzer Umweg um den See herum und dann wieder zurück. Nun ist Friedrich Torberg kein Schwärmer, sondern ein eher nüchterner, (selbst)ironischer, witziger, bisweilen polemischer Autor, ein durch das Exil, die abenteuerliche Flucht und den finanziellen Überlebenskampf ziemlich abgehär­ teter Bursche, ein scharfer Beobachter, der sich – trotz seiner eher sozialdemo­

3 „Niemand erlebt die Sommerfrische bekanntlich intensiver als Kinder. Durch ihren Stellen­ wert in den Kindheitserinnerungen erhalten die Landaufenthalte erst ihre sentimentale Aufla­ dung“ (Kos 1995b, 10).

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Abb. 5: „Königsgarten-Villa“ in Altaussee 2016 (Torberg-Unterkunft 1961–1974).

Abb. 6: Friedrich Torberg über Altaussee 1977.

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kratischen Gesinnung – im Österreich der 1950er-Jahre aus Überzeugung als „Kommunistenfresser“ profiliert und dessen Zeitschrift FORVM über den Umweg des „Kongresses für kulturelle Freiheit“ vom CIA finanziert wird,4 ein Schlawiner, der augenzwinkernd den eigenen Vorteil sucht und aus dem Zugeständnis dieser Tatsache noch Kapital schlägt. Ziemlich bezeichnend etwa die häufig von ihm erzählte Anekdote, als er auf die Umfrage einer Zeitschrift, welche Aussicht er beim Schreiben beim Blick aus dem Fenster präferiere, antwortet: „die Aussicht auf Vorschuss“.5 Gerade in literarischen Belangen ist Torberg aber wahrlich nicht frei von sentimentalen Versatzstücken, der verklärende Blick in die Vergangen­ heit ist gleichzeitig ein idealisierender wie ein den Wahrheitsstatus ebendieser Behauptung negierender, das lässt sich auch an seinen Reminiszenzen an seine Schreiborte ablesen: Wer kennt sie nicht, die weihevolle Stimmung, in der man das Geburtshaus eines berühm­ ten Dichters betritt, das im Glücksfall auch noch sein Sterbezimmer war und wo jetzt sein Arbeitszimmer gezeigt wird, für dessen naturgetreue Erhaltung eine in seinem Namen agie­ rende Gesellschaft e.V. museale Sorge trägt. Mit frommem Schauder betrachtet man den Schreibtisch oder gar das Stehpult, an dem er manche Weile sinnend stand, ehe er nach dem Federkiel griff, der immer noch gebrauchsfertig daliegt, ein ausgetrocknetes Tintenfaß und ein Näpfchen mit Streusand daneben. Wahrlich, hier war gut dichten. Hier vollzog sich in jenem steten, störungsfreien Gleichmaß, welches der kreativen Tätigkeit so ungemein zuträglich ist, ein Lebens- und Schaffensweg, wie er sich heute nicht mehr vollziehen könnte. Heute dichten sie direkt in die Schreibmaschine, und der Anblick einer solchen, neben der vielleicht ein Ersatzfarbband oder ein Radexblättchen liegt, wird im Beschauer – so er sich überhaupt einfindet – keinerlei Ehrfurcht hervorrufen, sondern höchstens die Neugier, ob sichʼs um ein Büromodell oder eine Portable handelt. (Torberg 1985b, 69)

Selbst in Bodo Plachtas Aufsatz über das „epische Hausgerät“ ist ja eine gewisse ironische Distanzierung gegenüber der Auratisierung von Gegenständen am und

4 Sehr detailliert geht Frank Tichy in seinem Buch über Torberg auf die Geschichte des 1950 ge­ gründeten „Kongresses für kulturelle Freiheit“ ein, der bei seiner Finanzierung von prominenten europäischen Kulturzeitschriften, wie seit 1966 offiziell bekannt ist, vom CIA gesponsert wurde (vgl. Tichy 1995, 187–234). Eine Mitwisserschaft Torbergs kann laut Tichy vermutet werden, Ak­ tenbelege fehlen allerdings aufgrund der Geheimhaltungspolitik seitens der USA. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die wiederholten Konflikte zwischen Torberg und dem „Kongress“, der bisweilen den rabiaten Antikommunismus in der Blattlinie rügte, weil er – vor allem im Rahmen des Entspannungskurses nach 1955 – den US-amerikanischen Interessen nicht zuträglich sei (vgl. Tichy 1995, 228–231). 5 Mitgeteilt im Rahmen eines Interviews des Verfassers mit der langjährigen Sekretärin Torbergs in Altaussee, Ursula Kals-Friese, 15.4.2016, Audio-Archiv des Franz-Nabl-Instituts für Literatur­ forschung.

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um den Dichterschreibtisch zu konstatieren, wenn er diese „in Literaturausstel­ lungen allein schon durch ihre museale Präsentation mit Bedeutung aufgeladen“ sieht, wo man sie „mit großer Geste in das kulturelle Gedächtnis zu überführen versucht“ (Plachta 2014, 290). Torberg selbst maß der dinglichen Ausstaffierung der Schreibumgebung ja keine allzu große Bedeutung bei, wichtig war ihm nur das Schreibensemble „mit einem Schreibtisch und ein paar Büchern. Das ist mir wichtiger als alles andere. Das ist das einzige unantastbare Heimatgefühl, das ich habe“ (Torberg 1985b, 72). Deutlich mehr Aufmerksamkeit widmete er den Schreibgeräten. Er hat seine Texte in erster Linie sowohl handschriftlich als auch mit der Maschine hergestellt, wobei er auch immer wieder Handschriftliches von auf Zeit angemieteten Sekretärinnen oder (selten) von Beziehungspartnerinnen abtippen ließ. Sehr aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist sein „Arbeits­ journal“, das die Entstehungszeit seines letzten großen Romans, Süßkind von Trimberg, von 1966 bis 1971 dokumentiert und in Auszügen publiziert wurde. Gleich am Beginn der Eintragungen berichtet Torberg nämlich Folgendes: Merkwürdiges „technisches“ Erlebnis. Ich nehme die Arbeit an der „Theaterkolleg“-Sen­ dung fürs Bayrische Fernsehen wieder auf, und muß, da die Schreibmaschine beim Richten ist, mit der Hand schreiben – was aus vielen fast schon tabuisierten Gründen der „wirkli­ chen“ Arbeit (dem sogenannten „Dichten“) vorbehalten ist und was ich schon seit vielen Jahren nicht mehr getan habe. Ich beginne also mit einem Zweierbleistift auf Fahnenpapier zu schreiben, wechsle nach einigen Zeilen zum gewohnten (d.h. ungewohnten) Einserblei­ stift: und verspüre plötzlich eine vehemente Lust, wieder zu „dichten“, ja ich kannʼs mir sogar vorstellen, mit einer geradezu kindischen Deutlichkeit, und freue mich darauf. (Torberg 1985a, 44)

Torberg, der sich seit Jahrzehnten in einer Mühle von notwendigen Verpflichtun­ gen (Theaterkritiker, Vortragender, Interviewpartner, Drehbuchschreiber, PENClub-Intrigant, Symposiumsteilnehmer, Zeitschriftenherausgeber) sieht, der in der Öffentlichkeit bisweilen, wie sein Biograf David Axmann vermerkt, als „Schnittlauch auf allen Suppen“ betitelt wird (vgl. Axmann 2008, 272), trauert offenbar seiner ureigenen Domäne nach, dem „Romanschreiben“, das für ihn untrennbar mit der Handschrift verbunden ist. Es wirkt wie eine Illustration von Martin Stingelins im Anschluss an den „écriture“-Begriff von Barthes vorgebrach­ ten Überlegungen, ob nicht ein „Schriftsteller durch die Begleitumstände seines Schreibens, etwa durch das von ihm gewählte Schreibwerkzeug ‚engagiert‘ wird“, indem dieses ihn „zum Tanz auffordert“ (Stingelin 2004, 12). Der Bleistift fordert auf – und Torberg nimmt an, beginnt endlich die lang geplante Niederschrift an seinem letzten großen Roman, Süßkind von Trimberg, der Geschichte des jüdi­ schen Minnesängers, die er im Juli 1971 nach vielen Rückschlägen abschließt. „Du musst Dein Schreiben ändern“, das scheint die Botschaft des Einserbleistifts

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zu sein, und es ist für den Autor eine Regression, nicht im Sinn eines Festhaltens an überlebten Phasen, sondern eines Anschlusses, einer Wiederaufnahme des alten Traums, in einem emphatischen Sinn Schriftsteller zu sein, jenseits von Broterwerb, dem Strampeln in der Literaturbetriebsmühle und der ständigen kul­ turpolitischen Positionierung. Aus den weiteren Eintragungen wird ersichtlich, dass der Maschinschrift beim „richtigen Dichten“ eher die Funktion der späteren Reinschrift zukommen sollte: Während dem Manuskript eine tentative, erpro­ bende, prozessuale Qualität anhaftet, fixiert das Typoskript diesen Explorations­ prozess und gießt ihn in das objekthafte Schriftbild der Schreibmaschinenlettern. Ganz verunsichert beobachtet der Autor, dass bei seinen bisherigen Romanen nur die Hälfte der Handschrift-Seiten in die Typoskript-Fassung Eingang fand, während es jetzt ungleich mehr sind, als ob, dieses Bild sei gestattet, die Schreib­ maschine als gefräßiges Tier auf die Handschrift-Seiten warten würde, um sie möglichst bald auf der Unterlage zu fixieren, um damit, wie Torberg schreibt, den „Gültigkeitsanspruch“ zu erhöhen und damit die „Lockung“ zu verstärken, „das einmal Geschriebene stehen zu lassen, weilʼs eben schon ‚dasteht‘“ (Torberg 1985a, 50).

Abb. 7: Schreibmaschine Torbergs (Literaturmuseum Altaussee).

Was den Autor nach 20 Jahren Romanabstinenz ebenfalls höchst irritiert, ist die vergleichsweise nur in Grenzen sich einstellende „Arbeitsbesessenheit“: „Ich habe ‚Lust‘ zum Schreiben, aber keine unstillbare. Weit entfernt von jenem (mir noch dumpf erinnerlichen) Stadium der ‚Besessenheit‘, in dem überhaupt nichts mehr anderes existiert als der Roman“ (Torberg 1985a, 53). Die Selbstbefragung im Journal stößt auch auf Gründe (fortgeschrittenes Lebensalter, langes Liegen­ bleiben des Stoffs) für diese Veränderung, er findet sich damit ab, immer abge­ klärter gegen Schluss, wenn die Fertigstellung winkt (vgl. Torberg 1985a, 61–62).

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Torberg wird, an vorher bei Rosegger Angesprochenes anschließend, quasi zum Bindestrich der Schreib-Szene gezwungen, versucht, die instrumentellen funkti­ onalen Inkompatibilitäten von Handschrift und Typoskript, von einem stottern­ den Arbeitsrausch-Motor und von Zweifeln am „epischen Atem“ oder am „großen Bogen“ (Torberg 1985a, 63) in einem weitgehend pragmatischen, am Ergebnis, dem unbedingt noch erwünschten großen Roman, orientierten Vorgehen not­ dürftig zu assimilieren.

Abb. 8: Friedrich Torberg am Schreibtisch in der „Villa Rath“ in Altaussee (1975–1979, hier 1977).

Zwischen dem „Arbeitsjournal“ und dem Text über Altaussee liegen etwa zehn Jahre, Mitte der 1970er-Jahre schreibt er in einem Brief von seiner großen Zufrie­ denheit im Poetenwinkel, denn er „liebe jeden Winkel der Gegend und jeden Aus­ blick“, er könne sich „einer Menge lästiger Verpflichtungen entschlagen“ und ein „allseits geachteter und gegrüßter Fast-Einheimischer“ sein (Axmann 2008, 271). Anders als im beruflichen Umfeld der Großstadt Wien ist der 1942 in einem Emig­ rationsgedicht so intensiv beschworene Heimwehort Altaussee Rückzugsmög­ lichkeit, ein bekanntes, angenehmes Milieu, in dem das Umfeld genau definierte Rollen erfüllt. Die intensiven sozialen Beziehungen zu Schriftstellerkollegen, wie sie in den 1930er-Jahren bei den ersten Aussee-Aufenthalten noch zu verzeichnen waren und die in Freundschaften mündeten, etwa zu Gina Kaus, Hermann Broch und Robert Neumann,6 dürften in den fast zwei Jahrzehnten bis zu seinem Tod

6 Vgl. den Hinweis auf die Treffen zwischen Broch, Torberg und Neumann in Altaussee während der Sommermonate 1936/37 bei Stadler (2013, 36).

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Abb. 9: Friedrich Torberg in der „Villa Rath“ in Altaussee (1975–1979, hier 1977).

1979, in denen Altaussee zum zweiten Wohnort geworden war, eine geringere Rolle gespielt haben. Ähnlich wie bei Rosegger ist das Sommerdomizil vielmehr ein mit Kindheit und Jugend assoziierter Imaginationsraum, der landschaftlich nahezu eine Uterus-Situation nachbildet. Sicherheit, Zugehörigkeit, Beschützt­ sein üben jene Anziehungskraft aus, die der literarischen Kreativität vor Ort för­ derlich ist oder die ein auch noch später abzurufendes Reservoir an Arbeitsener­ gie zu erzeugen vermag. „Die Berge“, schreibt Torberg, „‚liegen‘ nicht einfach am See, sie umfassen und umhegen ihn, sie bilden beinahe eine Art Festung, in der man sich wohlig geborgen fühlt“ (Torberg 1985c, 135). Der Raum von Altaussee wird quasi zum größeren Arbeitsraum geweitet, in dem sich Landschaft, Häuser und Personen zu einem Ensemble gruppieren, das den topografischen Nexus für das Erinnern bildet. Die Dinge, Situationen, Ausblicke, Geräusche der Umgebung werden vom individuellen Bewusstsein als bekannt identifiziert, treten bisweilen so stark in den Hintergrund, dass sie kaum noch wahrgenommen werden; para­ doxerweise ist die vorgängige Öffnung nach außen, das scheinbar bewusste Wahrnehmen von Natur und sozialem Umfeld gleichzeitig ein Akt der radikalen Vereinzelung, der Konzentration nach innen. Der Blick aus dem Fenster des Arbeitszimmers zeigt eine Postkartenansicht, die ein Draußen simuliert, eine weitere Rahmung innerhalb des Schreibszenenrahmens der Innenwelt mit der

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Abb. 10: Blick von der „Königsgarten-Villa“ (Torberg-Unterkunft 1961–1974) auf den Altausseer See 2016.

Funktionalität einer Vitalisierung in der Abgeschiedenheit durch das erstarrtdynamische Draußen.7 Das regelmäßig bezogene Sommerfrische-Domizil oder der Zweitwohnsitz im Grünen übernehmen die Funktion eines kompensatorischen Gegen-Raums, der bei Schriftstellern wie Rosegger oder Torberg nicht nur mit Wohlfühl-Erwartungen konnotiert ist, sondern als Hort der eigentlichen Schriftsteller-Identität in Szene gesetzt wird, jener des Erzählens, eines topologisch exterritorialen Bereichs, in dem mit den Erinnerungspartikeln der Vergangenheit alternative Erzählwelten von einem angeblich autonomen Subjekt modelliert werden. Der dabei prinzipi­ ell angestrebte entrückte Zustand, der Schreibrausch, lässt sich durch das ent­ sprechende Schreibgerät oder andere optimierte Begleitumstände vielleicht leichter erreichen – unumgängliche oder gar intendierte Widerstände instrumen­ teller oder körperlicher Herkunft sind allerdings integrale Bestandteile dieser Wunschproduktion. Die Selbstimago, die den Schreiber als handlungsfähigen Akteur der Schreibszene voraussetzt, benötigt den überwundenen Widerstand

7 „Wirkt das museale Dichterzimmer auch noch so leblos und tot, mit Hilfe von Fenstern belebt es sich erstaunlicherweise wieder. [...] So gesehen half der damalige Blick hinaus auf eine in- und auswendig vertraute, seltsam nahe Garten-, Landschafts- oder Häuseraussicht gegen Schreib­ hemmungen“ (Perrig 2011, 147).

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Abb. 11: Blick aus der „Königsgarten-Villa“ (Torberg-Unterkunft 1961–1974) in Altaussee 2016.

für die Bestätigung der Größenphantasie, die parallel dazu durch die Abwertung von Nebenproduktion bekräftigt wird. Das Eigentliche, der Roman, die Erzäh­ lung, sollte eigentlich in einem zeitlichen und topographischen Außenbereich während eines Ausnahmezustands ins Leben gerufen werden, leider in seiner Entstehung stets gefährdet durch defekte oder falsche Schreibinstrumente oder durch inadäquate Schreibumgebungen, welche die herbeigesehnte „Stimmung“ oder „Arbeitsbesessenheit“ torpedieren. Krieglach oder Altaussee gelten als meto­ nymisch codierte Orte der Kindheitserinnerung, die für ein vitalistisch aufgelade­ nes Unmittelbarkeitsphantasma stehen, in dem die Selbstdefinition als Schrift­ steller weniger gefährdet erscheint. Dieser imaginierte Schaffensraum ist keine Werkstatt, in welcher der Arbeit des Texteproduzierens nachgegangen, sondern in der gedichtet wird. Das Dingsymbol des Schlüssels im städtischen Schreibtisch verweist jedenfalls nicht nur auf einen realen Ort, sondern auch auf einen utopi­ schen innerhalb der eigenen Identitätskonzeption und soll etwas öffnen, was verloren gegangen zu sein scheint.

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Dabei ist der außerstädtische „Schreibtisch mit Aussicht“ ein einigermaßen wohliges Plätzchen an der Übergangszone zwischen Stadt und Natur, in der sich in entspannter Atmosphäre zwei Perspektiven verbinden, jene „des urbanen Kul­ turbetriebes, dessen Logik man auch dann nicht entkommt, wenn man auf Wald­ bänken dichtet, und die des idyllischen Naturgenusses“ (Kos 1995a, 12). Die bis zum Zweitwohnsitz prolongierte Sommerfrische ist in der Kombination mit der (groß)städtischen Verankerung im Kulturbetrieb insbesondere für jene attraktiv, die, so wie auch der Schauspieler Klaus Maria Brandauer, einen biografisch sedimentierten Bezug zu ihren Kindheitsorten aufweisen: „Altaussee, Wien, New York – nirgends möchte ich immer und ausschließlich leben müssen. Ich brauche das Spiel der Möglichkeiten. Ich brauche die Möglichkeiten des Spiels“ (Bran­ dauer 1991, 222). Die paradoxerweise identitätsstiftende Multiplikation von Lebensentwürfen verbindet das Versuchslabor der Literatur mit der räumlichen Mehrfachbeheima­ tung – eine Strategie der Möglichkeitserweiterung, die (trotz aller Unterschiede) beide, der (vorgebliche?) „Heimatschriftsteller“ Peter Rosegger wie auch der (als Emigrant unfreiwillig) kosmopolitische Friedrich Torberg verfolgt haben. Regres­ sion und Utopie, Heimat und Fremde, Bleiben und Aufbruch sind dabei zentrale Kategorien innerhalb eines biographischen Netzes von Arbeits- und Vorstellungs­ räumen, das der Offenheit verpflichtet bleibt.

Literaturverzeichnis Axmann, David. Friedrich Torberg: Die Biographie. München: Langen Müller, 2008. Böhme, Hartmut. „Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie“. Topographien in der Literatur: Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, DFB-Symposion 2004. Hg. Hartmut Böhme. Stuttgart: Metzler, 2005. IX–XXIII. Brandauer, Klaus Maria. Bleiben tu’ ich mir nicht. Wien: Jugend und Volk, 1991. Dilthey, Wilhelm. „Archive für Literatur“ [1889]. Gesammelte Schriften 15: Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Hg. Ulrich Herrmann. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1970. 1–16. Foucault, Michel. Die Heterotopien. Der utopische Körper: Zwei Radiovorträge. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005. Giuriato, Davide. „(Mechanisiertes) Schreiben: Einleitung“. „SCHREIBKUGEL IST EIN DING GLEICH MIR: VON EISEN“: Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte. Hg. Davide Giuriato, Martin Stingelin und Sandro Zanetti. München: Fink, 2005. 7–20. Kos, Wolfgang. „Lesen mit Aussicht“. Schreibtisch mit Aussicht. Österreichische Schriftsteller auf Sommerfrische. Hg. Wolfgang Kos und Elke Krasny. Wien: Ueberreuter, 1995a. 7–16. Kos, Wolfgang. „Riten der Geborgenheit: Wenn Landschaft zum ,schönen Zimmer‘ wird“. Architektur der Sommerfrische. Hg. Eva Pusch und Mario Schwarz. St. Pölten, Wien: Verlag Niederösterreichisches Pressehaus, 1995b. 7–20.

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Marketz, Sabine. „Biographie Peter Roseggers“. Peter Rosegger: 1843–1918. Hg. Gerald Schöpfer. Graz: Kulturreferat d. Steiermärkischen Landesregierung, 1993. 13–35. Neumann, Birgit. „Literatur, Erinnerung, Identität“. Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hg. Astrid Erll und Ansgar Nünning. Berlin, New York: de Gruyter, 2005. 149–178. Perrig, Severin. Am Schreibtisch großer Dichter und Denkerinnen: Eine Geschichte literarischer Arbeitsorte. Zürich: rüffler & rub, 2011. Philipoff, Eva. Peter Rosegger: Dichter der verlorenen Scholle. Graz, Wien, Köln: Styria, 1993. Plachta, Bodo. „,episches Hausgerät‘“. Text – Material – Medium: Zur Relevanz editorischer Dokumentationen für die literaturwissenschaftliche Interpretation. Hg. Wolfgang Lukas, Rüdiger Nutt-Kofoth und Madleen Podewski. Berlin, Boston: de Gruyter, 2014. 289–303. Rosegger, Peter. „Mein Sommerhaus. Bekenntnisse aus dem Leben“. Heimgarten 12.5 (1888): 355–360. Rosegger, Peter. „Mein Arbeiten“. Gesammelte Werke 40: Mein Weltleben. Leipzig: Staackmann, 1913a. 5–24. Rosegger, Peter. „Mein Heim“. Gesammelte Werke 40: Mein Weltleben. Leipzig: Staackmann, 1913b. 25–53. Rosegger, Peter. Waldheimat. Erinnerungen aus der Jugendzeit. Preßburg, Leipzig: Heckenast, 1877. Stadler, Franz. „Einladung zu Robert Neumann“. Robert Neumann: Mit eigener Feder. Aufsätze, Briefe, Nachlassmaterialien. Hg. Franz Stadler. Innsbruck, Wien, Bozen: StudienVerlag, 2013. 21–67. Stingelin, Martin. „Schreiben: Einleitung“. „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“: Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. Hg. Martin Stingelin, Davide Giuriato und Sandro Zanetti. München: Fink, 2004. 7–21. Tichy, Frank. Torberg: Ein Leben in Widersprüchen. Salzburg, Wien: Otto Müller, 1995. Torberg, Friedrich. „,Arbeitsjournal‘ zum Süßkind-Roman“. Auch Nichtraucher müssen sterben: Essays – Feuilletons – Notizen – Glossen. München, Wien: Langen Müller, 1985a. 44–64. Torberg, Friedrich. „Meine viel zu vielen Arbeitszimmer (1979)“. Auch Nichtraucher müssen sterben: Essays – Feuilletons – Notizen – Glossen. München, Wien: Langen Müller, 1985b. 69–72. Torberg, Friedrich. „Alt-Aussee oder Die Erfüllung eines Kindertraums (1978)“. Auch Nichtraucher müssen sterben: Essays – Feuilletons – Notizen – Glossen. München, Wien: Langen Müller, 1985c. 133–136.

Susanne Knaller

Liebeskummerarchive Authentizität in der autobiografischen Werkstatt Sophie Calles 1 Die künstlerische Gruppe, die zum ersten Mal konsequent und poetologisch reflektiert Verhältnisse wie Werk, Kunst und Nicht-Kunst bzw. Kunst und Leben in Frage gestellt und auch entsprechende Programme formuliert hat, ist zweifellos jene rund um André Breton, also die Gruppe des französischen Surrealismus. Sicherlich waren dabei mehrere Vorläufer von Einfluss, aber der Surrealismus hat im Kontext seiner Zeit eine für spätere Avantgarden und Künste gültige Messlatte gelegt. Im Zusammenhang mit dem Thema der Werkstatt und des Archivs und den damit verbundenen Fragen zu Produktion und Rezeption von künstlerischen Arbeiten, zu Räumen und Orten wie Medien, Modi und Formen dieser produkti­ ven und rezeptiven Prozesse und schließlich ihrer Kategorisierung und Wertung in Diskursen und Paradigmen wie „Kunst“, „Kultur“, „Literatur“, „Kritik“ usw. interessieren im Folgenden vor allem die prekäre Grenze zwischen den Künsten und – eng damit zusammenhängend – die zwischen Kunst und Nicht-Kunst. Letz­ tere wird nicht nur als eine Grenzziehung etwa zwischen Kunst und Wissenschaft, Kunst und Geschichtsschreibung, also zwischen Diskursformen verstanden, sondern auch als eine zu Leben oder Welt. Weder die Künste untereinander noch Kunst und Nicht-Kunst lassen sich spätestens seit dem Surrealismus ohne Weite­ res mehr trennen oder als different denken. Der Kunstbegriff, der im 18. Jahrhun­ dert mit der Ausdifferenzierung der Künste ansetzte und mit einer Ausdifferenzie­ rung der Systeme konsolidiert wurde, wird schon bald mit dem französischen Realismus, danach konsequent und radikal von den Avantgarden des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Frage gestellt. Was also im Folgenden zur Debatte gestellt werden soll, ist die Frage, wie Werkstatt und Archiv und die Verhältnisse von Kunst und Leben, Kunst und Nicht-Kunst sowie das Verhältnis der Künste zueinander nach den Avantgarden gedacht werden können. Als Beispiel sollen die Arbeiten der zeitgenössischen Künstlerin Sophie Calle dienen. Ihre Projekte sind nur schwer bis gar nicht zu kategorisieren – die Arbei­ ten umfassen Fotografien, Videos, Installationen, Performances, Texte, Erzäh­ lungen, Objekte und Bücher. Fast alle ihre Arbeiten sind mehrfachen Prozessen ausgesetzt, werden immer wieder aufs Neue aufgegriffen, umgeformt, ergänzt, recycelt, in andere Medien und Präsentationsformen übertragen, sind Grundlage für andere Künstler und Literaten wie umgekehrt deren Arbeiten auch für Calle. DOI 10.1515/9783110466850-012, © 2017 Susanne Knaller. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 License.

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Jedoch lassen sich Konstanten ausmachen, die für das hier diskutierte Thema interessant sind: Die Arbeiten basieren stets auf Werkstattprozessen, Formen des Sammelns, des Archivierens, des Bildens von Sammlungen und Archiven. Haupt­ akteurin wie Hauptobjekt ist dabei fast immer Sophie Calle selbst. Ihre Arbeiten sind stark autobiografisch, Akteure wie Objekte stets faktisch in ihrer Grundlage. Calles Objekte sind Objekte des Alltags, des alltäglichen, realen Austausches, sind Dokumente von Reisen, Briefen und Fotos von ihr selbst bzw. anderen. Gleichzeitig sind diese Fotos auch oft inszeniert, sind die Objekte installiert und in Rituale eingebunden. Die künstlerische Geste von Calle ist also die des auto­ biografischen Sammelns, Archivierens, Dokumentierens von authentischen wie nicht-authentischen Prozessen und Materialien. Provokant ist dabei die Aufhe­ bung zwischen Öffentlichem und Privatem. Calle öffnet und gestaltet nicht nur persönliche Archive, sondern auch die von anderen. Den Blick ins Private anderer provoziert sie oft auch ohne Einwilligung der Beteiligten – zumeist Männer, die Sophie verehrt, liebt oder geliebt hat oder zu lieben vorgibt. Daher bleibt in ihren Arbeiten stets ein Rest, ein ambiguer, verstörender Rest. Diese emotionsästheti­ sche Werkstatt und Authentizitätsspiele will ich im Folgenden anhand ihres Archiv- und Werkstattbegriffs und anhand der Arbeiten Douleur exquise und Prenez soin de vous beschreiben.

2 Davor noch einmal kurz zur „Tradition“: Die surrealistischen Programme sowie ihre Arbeitsweisen, ihre Versuche der Aufhebung all der genannten Dichotomien und Kategorien wie Werk, Kunst, Nicht-Kunst, haben die französische Kunst bis heute geprägt. Neben der Entdifferenzierung der Künste und Medien sowie der Grenzauflösung zwischen Kunst und Leben – und damit auch der Aufhebung eines strengen Werkstatt- und Werkbegriffs – sind vor allem auch die Erfahrung der Stadt durch physische Bewegung und die Zusammenführung von Werkstatt­ prozessen und Produkten bis heute praktizierte Ansätze. Denn den Surrealisten geht es um Prozesse, um Montagen des Realen und der Medialisierung (also der Versprachlichung und Visualisierung) sowie die Reflexion dieser Vorgänge, um die Reziprozität von Schreiben, Gehen, Sprache, Bild und Text. Beispiele dafür sind etwa Bretons Nadja (1928) oder L’Amour fou (1937) oder – konkreter – aktio­ nistische Begehungen der Stadt Paris. An diese lebensbezogenen „déambula­ tions“ knüpfen später die Situationisten mit ihren „dérives“ an, die sie so defi­ nieren:

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Mode de comportement expérimental lié aux conditions de la société urbaine: technique de passage hâtif à travers des ambiances variées. Se dit aussi, plus particulièrement, pour dési­ gner la durée d’un exercice continu de cette expérience. (N. N. Juni 1958, 13) [An die Bedingungen der urbanen Gesellschaft gebundene experimentelle Verhaltensweise: Technik des hastigen Durchquerens verschiedenster Ambiente. Ebenso im engeren Sinn verwendet, um die Länge einer andauernden Übung dieser Erfahrung zu bezeichnen. (Übers. S. K.)]

Wie Francesco Careri (2013, 87–88) erinnert, sind die surrealistischen Bewegun­ gen im realen Raum gebunden an Wahrnehmungsordnungen, die auch wieder Aufzeichnungsformate entstehen lassen, welche sich an objektivierenden, doku­ mentierenden wie an emotionalen, physischen Modi orientieren (vgl. auch Knaller 2015, 224–225). Es gibt also immer auch ein faktisches, authentisches Moment, das entgegen der Kritik der Situationisten schon im Surrealismus wichtig war. André Breton schreibt in L’Amour fou: C’est sur le modèle de l’observation médicale que le surréalisme a toujours proposé que la relation en fût entreprise. Pas un incident ne peut être omis, pas même un nom ne peut être modifié sans que rentre aussitôt l’arbitraire. La mise en évidence de l’irrationalité immédi­ ate, confondante, de certains événements nécessite la stricte authenticité du document humain qui les enregistre. (Breton 2013 [1937], 58–59) [Der Surrealismus hat immer empfohlen, den Bericht solcher Fakten nach dem Muster der ärztlichen Beobachtung vorzunehmen. Keine Einzelheit darf übergangen, nicht einmal ein Name verändert werden, weil sonst gleich alles der Willkür verfällt. Damit die unverhüllte, bestürzende Irrationalität gewisser Vorkommnisse zutage tritt, ist die strengste Authentizi­ tät des sie verzeichnenden menschlichen Dokuments unerläßlich. (Breton 1985, 47)]

3 Sophie Calles Poetik steht stark in dieser surrealistischen und situationistischen Tradition. Ein paar Beispiele aus ihrem Œuvre: Im Projekt Suite Vénitienne ver­ folgt sie einen Unbekannten, den sie später zufällig kennenlernt, von Paris bis nach Venedig (vgl. Calle und Baudrillard 1983; dazu auch Knaller 2007, 185–186; Scarpetta 1987). Mühsam findet sie seinen Aufenthaltsort heraus, geht ihm nach und fotografiert ihn tagelang. Dabei verkleidet sie sich, beobachtet ihn aus anderen Wohnungen und notiert alle Ereignisse in einem Tagebuch. An diese Arbeit schließt sich Hôtel an. Calle beginnt als Zimmermädchen vom 16. Februar bis 6. März 1981 in einer Pension in Venedig zu arbeiten. Sie fotografiert und beschreibt alle von ihr betreuten Zimmer vor dem Aufräumen. 1983 beauftragt die

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Zeitung Libération Calle mit der Publikation von mehreren Artikeln. Kurz davor hatte Calle ein Adressbuch gefunden, das sie heimlich kopiert, bevor sie es an den Besitzer zurücksendet. In der Folge kontaktiert sie die vermerkten Leute und bittet sie, den Besitzer zu beschreiben. Daraus entstehen 28 Artikel und zusätz­ lich der Ärger des Besitzers, der seinerseits ein Nacktfoto von Sophie publiziert. Er verbittet sich in der Folge, sehr zum Leidwesen von Sophie, die sich in die aus den Beschreibungen entstandene Kunstfigur verliebt hat, jede weitere Publika­ tion dieser Arbeit. Elemente dieses Adressbuch-Projekts bilden in Paul Austers Leviathan (1992) den Plot mit aus. Aus Austers Roman entsteht wiederum ein Kunstprojekt von Calle, das Auster auch miteinbezieht. Dezidiert mit dem Genre der Autobiografie spielt das Video No sex last night, das die kurze und geschei­ terte Ehe mit Greg Shepard als Roadmovie schildert. Die reale Hochzeit in einer Drive-in-Chapel in Las Vegas ersetzt Calle später durch eine Fake-Hochzeit im weißen Hochzeitskleid. Wie aus den kurzen Beschreibungen hervorgeht, hat man es mit unzähligen archivierenden Werkstatt-Genres zu tun – dem Tagebuch, dem Reisetagebuch, der Dokumentation, dem Notiz- und Adressbuch, dem Foto, dem Video, der Zeitung usw. Wobei sich als roter Faden die unglückliche Beziehung zu Männern und die damit einhergehenden Liebeskummerarchive herausstellen. In den hier untersuchten Arbeiten Douleur exquise und Prenez soin de vous nimmt diese emotionale Komponente auf komplexe Weise Gestalt an. Das, was Calle den Surrealisten sowie Situationisten entgegensetzt, ist ein deklariert feministischer Zugang. Ihre Arbeiten sind in mehrere Richtungen als „weiblich“ markiert. Zunächst durch die persönlichen Liebesverhältnisse und anhand der Offenlegung kultureller und gesellschaftlicher Codes, die das Handeln, Kommunizieren, den Körper und die Sprache, die Bilder und die Texte bestimmen bzw. kategorisieren. Dabei zitiert Calle diese Ordnungen, wie sie sie radikal provoziert. Sie sagt, tut und kommuniziert das, was man und Frauen – noch mehr – nicht immer und überall dürfen. Etwa abgesehen vom obsessiven Verfolgen und der offensiven Wahl eines Geliebten auch das Eingeständnis von Demütigungen, Verlassenwerden. Dabei geht es allerdings nicht um narzisstische Aufarbeitungen, auch nicht um selbstreflexive, ästhetische Inspirationen oder Rituale (wie etwa in Bretons Nadja oder L’Amour fou), sondern um radikale kul­ turkritische Gesten, mit denen Archivformen, Werkstattfragen und Emotionsfor­ men poetologisch behandelt werden. Zu diesen drei Punkten nun genauer: Archiv Jacques Derrida (1995) beschreibt das Archiv als gesetzgebendes sowie gesetzbil­ dendes System und spricht ihm die Funktion der Autorisierung, Authentifizie­ rung und Auslegungshoheit zu. Dieses legalistische Moment interessierte im

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Kontext des Archivs auch Michel Foucault. In Zusammenarbeit mit der Histori­ kerin Arlette Farge entwirft er die weitgehend unbeachtete Geschichte der kleinen Rechtsfälle einfachster Menschen im 17. und 18. Jahrhundert. Ein wesentlicher Impuls für sein Interesse an den Dokumenten ist das singuläre, emotionale Mo­ment der „Fälle“, das er in den Archiven erfahren hat: Ce n’est point un livre d’histoire. Le choix qu’on trouvera n’a pas eu de règle plus importante que mon goût, mon plaisir, une émotion, le rire, la surprise, un certain effroi ou quelque autre sentiment, dont j’aurais du mal peut-être à justifier l’intensité maintenant qu’est passé le premier moment de la découverte. (Foucault 1994, 237) [Dies ist kein Geschichtsbuch. Die Auswahl, die man darin finden wird, hat als Regel nichts Bedeutenderes als meinen Geschmack, meine Lust, eine Emotion, das Lachen, die Überra­ schung, ein gewisses Erschrecken oder irgendein anderes Gefühl gehabt, dessen Intensität ich vermutlich schwer rechtfertigen könnte, jetzt, wo der erste Moment der Entdeckung ver­ gangen ist. (Foucault 2003, 310; Übers. leicht verändert S. K.; vgl. Knaller 2016, 179–180; Geisenhanslüke 2014, 55–56)].

Die an den französischen König zwischen 1660 und 1760 gerichteten Briefe mit der dringlichen Bitte um eine Lösung für kleine, aber mitten ins Existenzielle rei­ chende „Fälle“ werden für Foucault zu einer besonderen Sprache, die Wirklich­ keit schafft und materialisiert. Foucault nennt das eine „Dramaturgie des Wirkli­ chen“ (2003, 314; 1994, 240). Diese Lust am Wirklichen, die er hier erfasst, ist genau der Moment, der das Archiv wie das Recht prägt. Die legalistische, patriarchalische Grundgeste des Archivs bildet also nur die eine Seite ab. Ihre anderen Momente sind die nie statische Interrelation zwischen Konservierung, Wiederholung und Erneuerung und vor allem die Emotion, der leidenschaftliche Wunsch nach Archiven. Arlette Farge (1989) nennt es kulina­ risch-doppeldeutig „Le goût de l’archive“, Derrida (1995) pathologisch-doppel­ deutig „Mal d’archive“. Das Archiv steht wie das Recht, das es begründet und von dem es begründet wird, niemals still. Es zeigt sich erst durch seine Wiederholun­ gen und damit wieder durch seine Umformungen. Daher begünstigt der Rückgriff auf Archivformen auch Calles Werkstatt-Prozess, ihre Verfahren des Recycling, der Intertextualitäten, der Neuaufbereitungen, der Ergänzungen und Umformun­ gen. Und schließlich bleibt die Eigenschaft des Archivs an Medien gebunden und dieses selbst als Raum und Ort sichtbar. Räumlichkeit und Medienform des Archivs, seine sich damit stets verschiebenden Authentizitätswerte, bilden ein künstlerisches Grundgerüst, mit dem weder der Dokumentationscharakter (also das Faktisch-Authentische, das Empirische) noch das Diskursive (also die Regeln, das Sag- und Machbare, das sich vor und in den Raum schiebt) begünstigt werden.

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Calles Poetik lässt sich dementsprechend – ganz in der Tradition der Surrealisten und Situationisten – als eine Praxis, als existenziell-konzeptuell beschreiben. Werkstatt Arbeiten wie die von Calle tragen ihre Arbeitsplätze stets mit sich. Sie changieren und bewegen sich konstant zwischen Machen und Material, zwischen produkti­ ver und rezeptiver Geste. Ganz im Sinne der Schreibprozessforschung, die sich in diesem Zusammenhang nennen lässt, geht es in solchen Poetiken nicht um Werke, Produkte und fixe Orte der Produktion (vgl. Grésillon 1997; Hay 1984; Stingelin 2004; Zanetti 2012). Der Ort der künstlerischen Arbeit ist unbestimmt und wechsel­ haft. Die Etymologie des französischen Wortes „atelier“ wird dem gerecht, denn es ist der Ort, an dem gehobelt wird und die Späne (astele/attula, astula) fliegen. Emotion Gefühle sind psychophysische Ereignisse, die als solche einerseits ungesteuert, uneinsehbar und unkontrolliert agieren sowie agieren lassen. Gleichzeitig zählen sie als Ausdruck von Emotionsmodellen zu den wichtigsten und konsequent regulierten kulturellen Codes. Die Liebe, dieses zentrale Moment in Calles Arbei­ ten, ist zwar keine Emotion per se, aber von Emotionen und Gefühlen getragen sowie gebildet. Die Liebe ist ein höchst dichter Komplex von Psychophysis, Emo­ tionskonstellationen und medialen Formationen. Daher kümmern sich auch alle möglichen Disziplinen um sie: die Soziologie, die Psychologie, die Neurologie, die Biologie, die Kulturwissenschaften, die Kunstgeschichte usw. Die Liebe ist kein Gefühl an sich, sondern an Emotionsparadigmen und Gefühle gebunden – von Aufgeregtheit bis Zorn. Es gibt aufgrund ihrer starken Gebundenheit an unterschiedliche Paradigmen, Codes und Diskurse wenig interessantere Motive als das der Liebe für die Künste. Da es viele verschiedene Formen der Liebe gibt, geht es auch in Calles Projekten um eine ganz besondere Liebe – die leidenschaft­ liche Liebe. Die Passion ist nun eine spezielle Liebesform, die schon Breton pro­ pagierte – sie ist bedingungslos, exklusiv, sexuell, unkontrollierbar, unvorher­ sehbar, neu und inspirativ. Sie ist all das, was schon die Surrealisten an der Kunst interessierte. Ein emotionsästhetischer Ansatz über die Liebe ermöglicht Calle also, auf extrakünstlerische Handlungsformen, Verhaltensmodelle, Motive, Schreibwei­ sen und Diskurse zurückzugreifen und diese in Frage zu stellen, zu provozieren und auch umzuwandeln. Mit Emotionsmodellen wird eines der wichtigsten kul­ turellen Archive verhandelt. Sie ermöglichen zudem, den Werkstatt-Prozess gegen einen Werkbegriff und die damit verbundenen Implikationen einer Tren­ nung von Produktion, Werk, Rezeption und Leben einzutauschen. Denn die emo­

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tionalen Modelle und deren produktive/rezeptive Aktivierung durch Gefühlsmo­ mente und -codes schafft die für die Arbeiten wichtigen Konkretisierungsmomente und Authentizitätseffekte, die Materialität und Realitätswerte: Die Arbeiten Calles sind stets greif- und erfahrbar, sie sind existenziell und diskursiv. Künst­ lerin wie Rezipientenschaft müssen Praktiken reflektieren sowie provozieren.

4 In den beiden Arbeiten Douleur exquise und Prenez soin de vous schafft Calle ein Liebeskummerarchiv. Sie dokumentiert, rekonstruiert und verhandelt anhand von Beweisstücken, Narrationslinien, Fotografien, eigenen und fremden Geschichten und Zeugenschaften zwei Fälle einer gescheiterten Liebe. In Douleur exquise ist es die Beziehung zu einem älteren Mann, die dieser lapidar beendet. In Prenez soin de vous schreibt der Freund ein E-Mail, in dem er die Beziehung mäandernd und mit vielen Ausreden aufkündigt. In beiden Arbeiten handelt es sich um reale Personen: Im ersten Fall ist es Martial Raysse, ein Künstler, der schon rund um die Nouveau réalistes (Yves Klein, Christo usw.) aktiv war. Im zweiten handelt es sich um den jungen Schriftsteller Grégoire Bouillier. Beider Namen werden in den Arbeiten nicht genannt, wobei es jedoch einige Hinweise gibt, die die auf pikante Affären begierige französische Kritik rasch richtig deuten konnte. Martial Raysse hat das Spiel insofern aufgenommen, als er einen bösen Artikel in Le Monde veröffentlichte und sich von der Darstellung Sophies distan­ zierte. Nichts konnte Sophie Calle lieber gewesen sein, als den Fall nicht zum Abschluss bringen zu können, sondern ihn, anders als in juristischen Situatio­ nen, in denen es irgendwann kein weiteres Rechtsmittel oder keine weitere Rechtsinstanz mehr gibt, fortzuspinnen. Abgesehen davon, wusste nach dem Artikel ganz Paris, wer in der viel beachteten Installation und Publikation gemeint war. Der E-Mail-Schreiber Grégoire Bouillier (2002) hingegen nahm den Ball auf und die Rolle an. Sicherlich auch deshalb, da er, als Schreiber semi-autobiografi­ scher Texte über Schriftsteller, seinen eigenen „Fall“ damit stärken konnte. Nun fällt auf, dass beide Geliebte auch bestimmte Kunstrichtungen vertreten, die sich in Calles eigenen Arbeiten – zumindest partiell – spiegeln. In beiden Arbeiten gibt es also einen externen Aspekt in der Wahl der Männer. Damit zeigt sich hier eine provokante Entgrenzung von Kunst und Leben. Denn präsent bleibt in diesen Verhältnissen immer auch das diskursive, gesellschaftliche, kulturelle Moment, das diese Beziehungen zu regeln versucht. Calle arbeitet in beiden Pro­ jekten mit dem legalistischen, räumlichen und strukturellen System „Archiv“ als „Werkstatt“.

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Im Folgenden konkreter zunächst zu Douleur exquise: Die Installation und Buchproduktion Douleur exquise (2003) ist ein Höhepunkt der autobiografischen Poetik Calles (vgl. Knaller 2003, 192–196). Zwei zusammenhängende Geschichten werden erzählt: Die erwähnte unglücklich endende Liebesgeschichte und die trotz Widerstandes des Geliebten angetretene Reise zu einem Stipendiumsaufent­ halt nach Japan, die sie per Zug über die Sowjetunion und China bewältigt. Diese Reise führt in das abrupte Ende der Liebesbeziehung in einem Hotelzimmer in Neu-Delhi, in dem Sophie vergeblich die ganze Nacht auf ihren Freund wartet, der erst nach einer faulen Ausrede telefonisch kurz und bündig zugibt, eine andere Frau gefunden zu haben. In einem ersten Teil erzählt Calle in CountdownStruktur aus der Perspektive der auf ein glückliches Wiedersehen Wartenden.

Abb. 1: Douleur J–2 (Calle 2003, 194–195).

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Das Gespräch, das die beiden am Telefon führen, ist kurz und markiert mit seiner zeitlichen Diskrepanz zur langen Warte- und Vorbereitungszeit auf das Wiederse­ hen die Prägnanz der Katastrophe. Der zweite Teil der Arbeit besteht aus immer wieder erzählten Versionen dieser Nacht, die dokumentiert wird durch ein Foto des Hotelzimmers mit rotem Telefon. Diese als Schmerztherapie deklarierte Repe­ titionsstrategie wird unterstützt durch Erzählungen von anderen, Bekannten oder Unbekannten, die Sophie auffordert, über ihr schmerzvollstes Erlebnis zu berichten: De retour en France, le 28 janvier 1985, j’ai choisi, par conjuration, de raconter ma souf­ france plutôt que mon périple. En contrepartie, j’ai demandé à mes interlocuteurs, amis ou rencontres de fortune: ‚Quand avez-vous le plus souffert?’ Cet échange cesserait quand j’aurais épuisé ma propre histoire à force de la raconter, ou bien relativisé ma peine face à celle des autres. La méthode a été radicale: en trois mois j’étais guérie. L’exorcisme réussi, dans la crainte d’une rechute, j’ai délaissé mon projet. Pour l’exhumer quinze ans plus tard. (Calle 2003, o. S.) [Zurück in Frankreich, am 28. Jänner 1985, beschloss ich, wenn ich gefragt wurde, lieber über mein Leiden als über meine Reise zu erzählen. Im Gegenzug fragte ich meine Gesprächspartner, Freunde oder zufälligen Bekanntschaften: ‚Wann haben Sie am stärks­ ten gelitten?‘ Dieser Austausch sollte so lange weitergehen, bis ich meine eigene Geschichte aufgrund des Erzählens verbraucht oder meinen Schmerz, in Konfrontation mit dem der anderen, relativiert hätte. Diese Methode war effektiv: innerhalb von drei Monaten war ich geheilt. Obwohl der Exorzismus gelungen war, beschloss ich aus Angst vor einem Rückfall, das Projekt sein zu lassen. Um es fünfzehn Jahre später wieder auszugraben. (Übers. S. K.)]

Im Gegensatz zum ersten Teil, der im Countdown auf ein Wiedersehen hin kon­s­ truierten Reisegeschichte, zählt Calle die einzelnen Wiederholungen aufsteigend, bis zur Auslöschung des Schmerzes und der Geschichte. Verbildlicht wird dieser Prozess durch die Schrift, die mit dem jeweiligen Neuerzählen der Ereignisse in dem Hotelzimmer in Delhi immer blasser wird, bis der – auch immer kürzer wer­ dende – Text am Ende unlesbar bzw. verschwunden ist. Verschiedene Strategien verunsichern aber den Eindruck autobiografischer Authentizität. So sind die Herkunft der Bilder und ihre Entstehungsgeschichte keinesfalls eindeutig. Die Feststellung, dass Calle ihre Geschichte erst 15 Jahre nach den Ereignissen in Angriff nehmen konnte, wird durch die Tatsache wider­ legt, dass eine 1984 entstandene Arbeit, nämlich Anatoli – ein Bericht von einer Reise mit der transsibirischen Eisenbahn –, Bilder und Narration mitbilden. Offen bleibt daher, ob die Reise mit der transsibirischen Eisenbahn (auch) in einem ganz anderen Kontext stattgefunden hat. Daher lässt sich die Geschichte je nach Zugang in eine jeweils andere verändern.

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Schließlich ist Calles künstlerische Umsetzung vom Ende als gleichzeitig stetem Anfang höchst ironisch schon im mehrdeutigen Titel enthalten – Douleur exquise steht für akute, lokalisierbare Pein oder Lust am Schmerz. Diese Ambigu­ ität ist auch dadurch gegeben, dass, während sich der eigene Schmerz in der Geschichte langsam aufzulösen scheint, die Geschichten der anderen in wieder­ holbarer Unveränderbarkeit und überwältigender Tragik erstarrt bleiben: C’était une fin d’après-midi hivernale, en 1974. Je ne me souviens ni du mois ni du jour. Ce devait être un samedi. Une demi-heure plus tôt, rue Scribe, alors que j’étais follement épris de lui, T. m’avait annoncé notre rupture. Je ne sais plus quels mots il avait employés, mais ils avaient un caractère définitif. Je me suis retrouvé seul, place de l’Opéra. J’ai descendue les marches du métro, tandis que sortait de mon estomac, sortait de ma gorge, sortait de ma

Abb. 2: Jour 40 (Calle 2003, 242–243).

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voix nue voix que je n’avais jamais entendue. Je poussais des braillements qui me stupéfiai­ ent, me tordaient le ventre, ouvraient grande ma bouche. Je hurlais dans le métro. Par hasard, j’avais entre les mains une pile de quarante-cinq tours: les tubes de l’été. Je me suis effondré sur un banc. Alors, un Noir assis à côté de moi m’a retiré très doucement les disques des mains, il en a lu les titres à haute voix, en les chantonnant au fur et à mesure. Love me Baby, Sugar Baby Love… Le métro est arrivé, j’ai répris les quarante-cinq tours. Mes cris avaient cessé, mes larmes ruisselaient. (Calle 2003, 243) [Es geschah an einem späten Nachmittag im Winter 1974. Ich erinnere mich weder an den Monat noch an den Tag. Es muss ein Samstag gewesen sein. Eine halbe Stunde zuvor, in der Rue Scribe, hat T., in den ich wie verrückt verliebt war, unsere Beziehung beendet. Ich kann mich nicht an die Worte erinnern, die er verwendete, aber es war endgültig. Jetzt war ich allein am Place de L’Opéra. Ich ging die Stufen zur U-Bahn hinunter, und dort, aus meinem Magen, aus meinem Mund, aus meiner Stimme, kam diese Stimme, die ich nie zuvor gehört hatte. Ich brachte ein Geheul zustande, das mich betäubte, das meinen Magen verknotete und meinen Mund weit aufschraubte. Ich schrie in der U-Bahn. Ich brach auf einer Bank zusammen. Ich hatte zufällig einen Stapel von Singles in meinen Händen, die Hits jenes Sommers. Ein Schwarzer, der neben mir saß, streckte seine Hand aus, nahm sie sanft aus meinen Händen und las nacheinander singend die Titel vor. Love Me Baby, Sugar Baby Love… Der Zug kam an. Ich nahm die Platten zurück. Das Geheul hatte aufgehört, meine Augen strömten über. (Übers. S. K.)]

Sophies selbst-therapeutische Taktik der Reproduktion des Unglücks anderer gestaltet sich nur auf den ersten Blick als aneignend und egozentrisch. Denn die Geschichten sind tragisch und berührend, wie sie schön sind. Der Schmerz ist aber nicht nur ästhetisch („exquise“) – er ist auch nicht auslöschbar, nur die Schrift der Geschichten davon und Bilder darüber. Der Schmerz ist ein Ereignis, das dokumentiert, erzählt, beschrieben, verstanden, erklärt, aber nicht bewältigt und beendet werden kann. Der Verlust als Ausgangspunkt der Geschichte ist ihr Ende und ihr Anfang. Was Calle hier zur Debatte stellt, sind einerseits die emotionsästhetischen Potenziale von Fotografie und Erzählungen, von Materialitäten und Praktiken. Das zeigt auch ein Vergleich zwischen Installation und Buchobjekt. Während in der Installation das Ritual der archivarischen Wiederholung und Selbstinterpre­ tation auf Tüchern gestickt ist und die Fadenabfolge immer weniger wird, ist es im Buch gedruckt (vgl. Jordan 2007). Mehr noch als im Buch ist der partizipatori­ sche Moment durch die Bewegung, durch unterschiedliche, voneinander getrennte Räume aktiv, die die Zeit vor und nach der Trennung sowie die Schmerz­ therapien dokumentieren. Im Buch andererseits dominiert die Emotionalität der einzelnen Geschichten durch ihr Gedrucktsein, ihren Literaturcharakter. In beiden ist aber der Schreibvorgang als eine besondere Praxis sichtbar. Die Sticke­ rei ist dabei dezidiert weiblich markiert, die Archivierungs- und Dokumentations­ modi changieren daher. Was explizit bleibt, ist der Gestus zwischen Intimität und

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Öffentlichkeit, persönlichen und öffentlichen Geschichten und Medien. Die daraus entstehenden Leerstellen, Lücken, Spuren, Ränder und Reste werden materialisiert. Diese Verfahren treten noch viel deutlicher in der Arbeit Prenez soin de vous (2007) zutage, die wie das eben beschriebene Projekt ebenfalls mehrdimensional realisiert wurde. Ausgangspunkt ist das E-Mail von Grégoire Bouillier, in dem er mäandernd und mit vielen verschlungenen, rhetorisch aufgeblähten Sätzen in der zweiten Person Plural, also in der Höflichkeitsform, mehr oder weniger mit­ teilt, dass er wieder begonnen habe, seine anderen drei Freundinnen zu sehen, und dass es daher nicht nur keine Beziehung mehr geben könne, sondern auch keine Freundschaft, so die Spielregeln von Sophie. Dass er das alles bedauere, sie sehr liebe. Der letzte Satz ist der wahre Ärger des Briefs: Prenez soin de vous, passen Sie auf sich auf. Sophie Calle bittet daraufhin 107 Frauen um Folgendes: J’ai reçu un mail de rupture. Je n’ai pas su répondre. C’était comme s’il ne m’était pas destiné. Il se terminait par les mots : Prenez soin de vous. J’ai pris cette recommandation au pied de la lettre. J’ai demandé à 107 femmes, dont une à plumes et deux en bois -, choisies pour leur métier, leur talent, d’interpréter la lettre sous un angle professionnel. L’analyser, la commenter, la jouer, la danser, la chanter. La disséquer. L’épuiser. Comprendre pour moi. Parler à ma place. Une façon de prendre le temps de rompre. A mon rythme. Prendre soin de moi. (Calle 2007, o. S.) [Ich habe eine Trennungs-Mail erhalten. Ich wusste nicht, wie ich antworten sollte. Es war so, als ob sie nicht für mich gedacht war. Sie endete mit den Worten: Passen Sie auf sich auf. Ich habe diese Empfehlung wörtlich genommen. Ich fragte 107 Frauen (zwei davon aus Holz und eine mit Federn), die ich wegen ihres Berufs, ihrer Fähigkeiten, den Brief zu interpretie­ ren, ausgesucht hatte: Ihn zu analysieren, zu kommentieren, zu tanzen, zu sezieren, ihn auszureizen. Für mich zu verstehen. An meiner Stelle zu antworten. Eine Art, sich die Zeit zur Beendigung der Beziehung zu nehmen. In meinem Rhythmus. Mich um mich selbst zu kümmern. (Übers. S. K.)]

Daraus folgt 2007 eine Installation im französischen Pavillon der Biennale in Venedig sowie eine extrem erfolgreiche in der alten Bibliothèque nationale de France in Paris, in der bis heute wertvolles Archivmaterial zu den Künsten lagert (vgl. Jordan 2013). Im traditionsreichen ‚Salle Labrouste‘, mittlerweile verstaubt und ohne Bücher, stellt Calle ihre Fotografien der die E-Mail professionell, seriös und engagiert interpretierenden und beurteilenden Frauen auf, zeigt auf Monito­ ren gleichzeitig die Schauspielerinnen, Sängerinnen usw. und ihre Performances.

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Daraus entsteht ein für einen ehrwürdigen Lesesaal ungewöhnlicher Lärm, ein Stimmengewirr, in dem man frei navigieren kann. Deutlicher noch als in Douleur exquise wird hier ein „Fall“ verhandelt: Es geht nicht nur um eine hermeneu­ tische Lösungsfrage, um herauszufinden, was der Schreiber mit seinem Text eigentlich sagen will, sondern verhandelt werden alle in der E-Mail aufgerufe­nen Redensarten, Rhetoriken der Liebe, der damit verbundenen Emotionen und Gefühlsparadigmen, von Codes männlichen und weiblichen Selbstverständnis­ ses. Der feministische, kulturkritische Aspekt ist hier extrem weit gespannt, inso­ fern als Sophie Calle selbst in der Arbeit nur kurz explizit auftritt, den Fall hinge­ gen von über hundert Frauen aus unterschiedlichen Berufen verhandeln lässt.

Abb. 3: Von Valérie Lermite bearbeitetes Mail (Calle 2007, o. S.).

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Das wunderbare Buchobjekt schließlich sammelt all diese Verhandlungen durch Abbildungen der Korrekturen, Interpretationen, Statements, Urteile und Briefe sowie durch elektronische Datenträger, in denen die Performances aufge­ zeichnet wurden. Calle selbst ordnet diese Äußerungen an und macht jeweils Fotos von den Frauen in einer sehr tradierten Haltung: der Lektüre eines Briefes.

Abb. 4: Die Schriftstellerin Christine Angot (Calle 2007, o. S.).

Was in Douleur exquise die Stickerei war, ist in dieser Arbeit die weibliche Lektüre eines Briefs. Der Liebeskummer gerät hier zur intelligenten Farce, um über Zu­schreibungen, Sprache und Bilder zu verhandeln.

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5 Sophie Calle spielt genau nach den Regeln des Archivs (vgl. Bertron 2012, 16). Sie ist „archon“, das heißt Authentifikatorin, Deuterin, Rechtssprecherin, wie sie diese Kompetenzen an andere „archontes“ weitergibt. Sie spielt mit den notwen­ digen Archivfunktionen der Vereinheitlichung, der Identifizierung, der Klassifi­ kation von Material, gibt diesem einen Ort und baut Medien auf. Es darf, wie Derrida an Freuds Auseinandersetzung mit dem Archivprinzip in der Psychoana­ lyse vorführt, im System des Archivs keine Dissoziationen, keine Heterogenitäten oder Geheimnisse geben. Das archontische Prinzip ist das des Sammelns, des Zusammenstellens. „Le principe archontique de l’archive est aussi un principe de consignation, c’est-à-dire de rassemblement“ (Derrida 1995, 14) [„Das archonti­ sche Prinzip des Archivs ist auch ein Prinzip der Konsignation, das heißt der Ver­ sammlung“ (Derrida 1997, 13)]. Stellt man aber dieses Prinzip mit den dafür stets notwendigen Prämissen und Modellen in Frage, wie Freud das tut, werden Grenzen und Relationen zwischen Privatem und Öffentlichem, zwischen den Gesetzen, zwischen dem Offenen und dem Verborgenen, zwischen Person, Name/ Signatur (also „Freud“) und Theorie (die Psychoanalyse) zum Thema. Nicht mehr eindeutig zuzuordnen sind dann Stile, Gattungen und Objekte: Q’est-ce qui relève du système? De la biographie ou de l’autobiographie? De l’anamnèse personnelle ou intellectuelle? Dans les œuvres dite théoriques, qu’est-ce qui est digne de ce nom et qu’est-ce qu ne l’est pas? […] Dans tous ces cas, les limites, les frontières et les dis­ tinctions auront été secouées par un séisme qu ne laisse à l’abri aucun concept classifica­ toire et aucune mise en œuvre de l’archive. L’ordre n’est plus assuré. (Derrida 1995, 16) [Was gehört zum System? Zur Biographie oder zur Autobiographie? Zur persönlichen oder intellektuellen Anamnese? Was in sogenannten theoretischen Werken ist dieses Namens würdig und was ist es nicht? […] In all diesen Fällen werden die Schranken, die Grenzen und die Unterscheidungen von einem Beben erschüttert worden sein, das keinen klassifizieren­ den Begriff und keine eingerichtete Ordnung des Archivs unbehelligt (à l’abri) lässt. Die Ordnung ist nicht mehr gesichert. (Derrida 1997, 15)]

Nichts drückt solche produktiven Krisen in der Kunst so sehr aus wie der Liebes­ schmerz, die leidenschaftliche Liebe ohne Ausweg. Der emotionsästhetische Ansatz Calles, so könnte man abschließend sagen, bearbeitet als prozesshaftes Ereignis die produktive Werkstatt sowie deren Voraussetzungen.

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Literaturverzeichnis Bertron, Juliette. „Sophie Calle, Douleur exquise: Le récit de l’intime comme objet de la démarche artistique“. Sociétés & Représentations 33.1 (2012): 13–23. Bouillier, Grégoire. Rapport sur moi. Paris: Allia, 2002. Breton, André. L’Amour fou. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985. Breton, André. L’amour fou. Paris: Gallimard, 2013 [1937]. Calle, Sophie. Douleur exquise. Paris: Actes Sud, 2003. Calle, Sophie. Prenez soin de vous. Arles: Actes Sud, 2007. Calle, Sophie, und Jean Baudrillard. Suite Vénitienne. Please Follow Me. Paris: Édition de l’Étoile, 1983. Careri, Francesco. Walkscapes. La marche comme pratique esthétique. Arles: Actes Sud, 2013. Derrida, Jacques. Mal d’archive. Une impression freudienne. Paris: Galilée, 1995. Derrida, Jacques. Dem Archiv verschrieben. Berlin: Birkmann + Bose, 1997. Farge, Arlette. Le goût de l’archive. Paris: Seuil, 1989. Foucault, Michel. „La vie des hommes infâmes“. Dits et écrits III. 1954–1988. Hg. Daniel Defert und François Ewald. Paris: Gallimard, 1994. 237–253. Foucault, Michel. „Das Leben der infamen Menschen“. Dits et Ecrits. Schriften Bd. III. 1976–1979. Hg. Daniel Defert, François Ewald und Michael Bischoff. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003. 309–332. Geisenhanslüke, Achim. Die Sprache der Infamie. Literatur und Ehrlosigkeit. Paderborn: Fink, 2014. Grésillon, Almuth. „Literarische Schreibprozesse“. Domänen- und kulturspezifisches Schreiben. Hg. Kirsten Adamzik, Gerd Antons und Eva-Maria Jakobs. Frankfurt a. M.: Lang, 1997. 239–253. Hay, Louis. „Die dritte Dimension der Literatur. Notizen zu einer critique génétique“. Poetica 16.3/4 (1984): 307–323. Jordan, Shirley Ann. „Exhibiting Pain: Sophie Calleʼs Douleur exquise“. French Studies LXI (2007): 196–208. Jordan, Shirley Ann. „Performance in Sophie Calleʼs Prenez soin de vous“. French Cultural Studies 24.3 (2013): 249–263. Knaller, Susanne. Zeitgenössische Allegorien. Literatur, Kunst, Theorie. München: Fink, 2003. Knaller, Susanne. Ein Wort aus der Fremde. Theorie und Geschichte des Begriffs Authentizität. Heidelberg: Winter, 2007. Knaller, Susanne. Die Realität der Kunst. Programme und Theorien zu Literatur, Kunst und Fotografie seit 1700. Paderborn: Fink, 2015. Knaller, Susanne. „Die Lust am Recht. Literatur, Recht und Emotion um 1900“. Ästhetische Emotion. Formen und Figurationen zur Zeit des Umbruchs der Medien und Gattungen (1880–1939). Hg. Susanne Knaller und Rita Rieger. Heidelberg: Winter, 2016. 179–200. Scarpetta, Guy. „Sophie Calle, le jeu et la distance“. Art Press 111.16 (1987): 16–19. N. N. „Définitions“. Internationale situationniste. 1 (Juni 1958): 13–14. Stingelin, Martin. „Schreiben. Einleitung“. „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. Hg. Martin Stingelin, Davide Giuriato und Sandro Zanetti. München: Fink, 2004. 7–21. Zanetti, Sandro. Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. Berlin: Suhrkamp, 2012.

Wolf Kittler

Abstimmung Kiplings Erzählung Wireless als Lektüre von Marconis Patent 7777 Die Werkstatt, die Rudyard Kipling in der Erzählung Wireless beschreibt, ist unge­ wöhnlich aus zwei Gründen: Erstens ist das „Werk“, das darin entsteht, alles andere als neu, sondern eine mehr oder weniger korrekte Reproduktion der Verse eines Dichters, der schon seit achtzig Jahren tot ist. Und zweitens geht es dabei nicht um den Akt des Schreibens, also um die Speicherung von Daten, sondern um deren Übertragung, also um die dichterische Inspiration in einem der beiden Stränge der Geschichte und um die Funkentelegrafie in dem anderen. Ort der Handlung ist eine Apotheke auf der Isle of Wight, welche im Unter­ schied zu allen anderen Gebäuden und Geschäften des Ortes schon elektrifiziert ist und deren Besitzer, ein gewisser Mr. Cashell, der zugleich der Gouverneur der Insel ist,1 seinem Neffen, dem jungen Mr. Cashell, erlaubt hat, ein Funkexperi­ ment durchzuführen, das zu beobachten er den Ich-Erzähler eingeladen hat. Zeit der Handlung ist die Nacht vom 20. zum 21. Januar 1901. Terminus post quem ist Guglielmo Marconis berühmtes Patent „vier Sieben“ vom 26. April 1900, auf das die Erzählung eindeutig anspielt, terminus ante quem aber ist der 12. Dezember 1901, der Tag, an dem es Marconi gelang, eine Funkver­ bindung zwischen dem Poldhu Point im Südwesten Englands und St. John’s in Neufundland, also über eine Entfernung von mehr als 2900 km herzustellen, ein Ereignis, das Kipling mit Sicherheit erwähnt hätte, wenn es ihm zur Zeit der Nie­ derschrift bekannt gewesen wäre.2 Denn Kipling ist bestens informiert. Er weiß, dass man – auf die Gefahr hin, Damen in der Badewanne Elektroschocks zu ver­ passen – Funkantennen durch Anschluss an die Wasserleitung erdet (vgl. Kipling 1902, 129), nennt die Frequenz von Cashells Empfänger, die 230 MHz beträgt3 und damit, wie das in der Frühzeit der Funkentelegrafie üblich war, im Ultrakurz­

1 „... he being the guvnor’s nephew ... (Kipling 1902, 129) und „... the gov – old Mr. Cashell ...“ (Kipling 1902, 134). Wikipedia zufolge hatten Jersey, Guernsey und die Isle of Wight bis 1959 einen Gouverneur, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war das allerdings nicht ein Mann na­ mens Cashell wie in Kiplings Erzählung, sondern Prinzessin Beatrice of the United Kingdom. 2 Es ist möglich, aber, wie mir scheint, unwahrscheinlich, dass der Autor die Handlung in das Jahr 1902 vorverlegt hat, in dem die erste Fassung dann im Augustheft von Scribner’s Magazine erschien. 3 „Charged with Hertzian waves which vibrate, say, two hundred and thirty million times a se­ cond“ (Kipling 1902, 136). DOI 10.1515/9783110466850-013, © 2017 Wolf Kittler. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 License.

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wellenbereich liegt, und er gibt im Namen seines fiktiven Funkamateurs eine sehr präzise Beschreibung des Schaltkreises, den dieser sich zusammengebastelt hat (vgl. Kipling 1902, 136). Der sogenannte Fritter (A), englisch „coherer“, „ein luftleeres Glasröhrchen mit zwei Silberkontakten, zwischen denen [...] Metallfeilspäne [...] eingefüllt waren“,4 ist ein Funksignaldetektor. Unter dem Einfluss hochfrequenter Schwin­ gungen in der Antenne werden die Feilspäne leitend und wirken so, wie das Kipling sehr schön am Beispiel der Dampfmaschine beschreibt, als „Stromventil“: Der Fritter gleicht einem Dampfventil. Jedes Kind kann das Ventil öffnen und eine Dampf­ maschine starten, weil es ja nur einer Handbewegung bedarf, um die Hauptdampfleitung zu öffnen. Und diese Batterie hier, die dazu da ist, den Morseschreiber zu betreiben, speist den Dampf in die Hauptdampfleitung ein. Der Fritter ist das Ventil, das jederzeit geöffnet werden kann. Die Funkwelle ist die Kinderhand, die es öffnet. (Kipling 1902, 136)

Abb. 1: Marconi-Empfänger, 1896. 4 „Man hatte herausgefunden, dass Eisenfeilspäne unter Einfluss hochfrequenten Stroms lei­ tend wurden und als ‚Stromventil‘ wirkten. Aufgrund dieser Erkenntnis entwickelte man den ‚Kohärer‘ (auch ‚Fritter‘ genannt), ein luftleeres Glasröhrchen mit zwei Silberkontakten, zwi­ schen denen etwa ein Millimeter Metallfeilspäne (oder Metallgranulat, Graphitpulver) eingefüllt waren. Vor Eintreffen eines weiteren hochfrequenten Signals musste die Leitfähigkeit durch me­ chanische Erschütterung des Röhrchens wieder aufgehoben werden. Dies bewerkstelligte ein sogenannter Klopfer, der wie der Schwengel einer Klingel konstruiert war. Über ein Relais wurde ein Morseschreiber betätigt, der daraufhin einen oder mehrere ‚Punkte‘ auf einen vorbeigeführ­ ten Papierstreifen niederschrieb“ (Grabau 2010, 45).

Abstimmung 

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Das heißt, in einen Schaltplan übertragen: Beim Empfang von Hochfrequenz­ schwingungen durch die Antenne (A) schließt der Fritter (C) den Stromkreis über der schwachen Batterie (B1). Infolgedessen schaltet das Relais (R) einen zweiten Stromkreis durch, der von der starken Batterie (B2) gespeist wird. Der Stromkreis von Batterie (B1) entspricht dem Ventil, das von einer schwachen Kinderhand geöffnet oder geschlossen werden kann. Der Stromkreis von Batterie (B2) ent­ spricht der Hauptdampfleitung, die die Dampfmaschine, das Äquivalent des Mor­ seschreibers (S), betreibt.5 Der Schreiber stanzt die Signale, kurze oder lange Phasen von An/Aus, also Dit und Da des Morsecodes, in der Form von Punkten und Strichen in einen laufenden Papierstreifen. In Kiplings Erzählung wird diese Schaltung genutzt, um eine Fernverbin­ dung („long-range installation“; Kipling 1902, 130) mit der Station in Poole an der Südküste Großbritanniens herzustellen, allerdings mit dem Unterschied, dass der Fritter, wie zu zeigen sein wird, nach der berühmten Neuerung, die Marconi im Jahr 1900 patentieren ließ, nicht mehr in Reihe mit der Antenne geschaltet, sondern induktiv mit ihr verkoppelt ist. Der Amateur Cashell unternimmt also den Versuch, die erste große Funkverbindung, die Guglielmo Marconi im Jahr 1897 zwischen dem Royal Needles Hotel auf der Isle of Wight und dem Haven Hotel in Poole hergestellt hatte, noch einmal nachzustellen, nur dass seine Station nicht in einem Hotel, sondern in der Apotheke seines Onkels unterge­ bracht ist. Die Handlung ist in die Nacht verlegt, weil Experimente bewiesen hatten, dass elektromagnetische Wellen sich am besten dann ausbreiten, wenn die Kennelly-Heaviside-Schicht, die zu der Zeit, in der Kiplings Geschichte erschien, gerade erst entdeckt worden war und für die Robert Wattson-Watt dann im Jahr 1926 den Begriff Ionosphäre prägte, nicht unter dem Einfluss von Solar­ eruptionen steht. Während der junge Mr. Cashell noch mit Stanniolpapier und Draht, den Bauelementen von Spulen („tin-foil“, „a frail coil of wire“; Kipling 1902, 130, 132) und Kondensatoren, herumfummelt, die wiederum Bauelemente von Oszillatoren sind, unterhält sich der Erzähler mit Mr. Shaynor, dem Assisten­ ten des Apothekers, der an diesem Abend Nachtdienst hat. Seltsame Dinge ereignen sich in diesem zweiten Strang der Geschichte. Ein junges Mädchen namens Fanny Brand betritt den Laden, um Mr. Shaynor zu einem Spaziergang „um St. Agnes herum“ (Kipling 1902, 132) einzuladen. Dann beobachtet der Erzähler, wie Mr. Shaynor krampfhaft in sein Taschentuch hustet, darauf „zwei helle rote Flecken“ oder, wie es in einer offensichtlichen Anspielung auf den anderen Strang der Geschichte heißt, „hellrote Alarmsignale“ („bright-

5 Um der Übersichtlichkeit willen ist der in Anmerkung 4 erwähnte Klopfer, ein ebenfalls von der Batterie (B2) gespeister Wagnerscher Hammer, nicht in dem Schaltplan (Abb. 1) dargestellt.

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red danger-signals“; Kipling 1902, 132) hinterlässt, und wie er das Tuch nach einem flüchtigen Blick auf diese Flecken wieder einsteckt. Schließlich beginnt Mr. Shaynor, nachdem er einen vom Erzähler aus den verschiedensten Drogen gebrauten Apothekerscocktail getrunken hat und daraufhin in eine somnambule Trance geraten ist, in einer Art von Écriture automatique Gedichte und ein kurzes Brieffragment zu schreiben. Die Gedichte, die er produziert, während der Erzäh­ ler mit wachsendem Grauen zusieht, sehen aus, als wären es mehr oder weniger genaue Zitate aus zwei Werken von John Keats, beide aus dem Jahr 1819: St. Agnes Eve und Ode to a Nightingale. Das Rätselhafte daran ist, dass Mr. Shaynor, wie er glaubhaft versichert, weder eine Zeile von diesem Dichter gelesen noch je etwas von ihm gehört hat,6 vor allem aber dass er dessen Texte nicht etwa zitiert, sondern sie vielmehr selbst erst zu verfassen oder genauer: einschließlich von Entstehungsvarianten an Ort und Stelle zu erfinden scheint, und zwar von Varianten, die der Erzähler gele­ gentlich sogar für besser hält als das Original von Keats: Mr. Shaynor kehrte zu seinem Werk zurück, indem er schnell ausstrich und korrigierte [meine Übersetzung von „rewrote“, W. K.] wie zuvor. Er warf zwei oder drei leere Seiten weg. Dann schrieb er vor sich hin murmelnd: The little smoke of a candle that goes out.7 Der kleine Rauch einer verlöschenden Kerze. „Nein“, murmelte er. „Kleiner Rauch – kleiner Rauch – kleiner Rauch. Was sonst?“ Er deutete mit dem Kinn auf die Lichtreklame [die ein junges Mädchen zeigt], unter dem die letzte der Blaudett’s Cathedral Pastillen in ihrem Ständer rauchte. „Ah!“ Dann erleichtert: The little smoke that dies in moonlight cold. Der kleine Rauch, der im kalten Mondlicht erstirbt. Offenbar hatte er sich in den Reimen der ersten Strophe verstrickt, denn viele Male schrieb und korrigierte er [meine Übersetzung von „wrote and rewrote“] „gold – cold – mould.“ [„Gold – kalt – Schimmel“, Übers. W. K.] Dann ließ er sich wieder von der Lichtreklame inspirieren und schrieb die Zeile, die ich ihn hatte sagen hören, ohne irgend etwas auszu­ streichen auf:

6 William B. Dillingham basiert zwar eine ganze Interpretation der Erzählung auf der Annahme, dass Shaynor lügt (vgl. Dillingham 2012, 138), aber das bleibt so lange eine leere Behauptung, als die einfache Frage, welchen Grund er haben könnte, seine Kenntnis von Keats’ Werken zu ver­ leugnen, nicht einmal gestellt, geschweige denn beantwortet ist. 7 „Its little smoke, in pallid moonshine, died: […]“ (Keats 1978, 308).

Abstimmung 

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And threw warm gules on Madeline’s fair breast. [Vgl. Keats 1978, 309] Der Magdalens Brust mit rotem Glühen schmückte. Nach meiner Erinnerung steht im Original ‚schön‘ – ein abgedroschenes Wort – anstatt ‚jung‘, und ich ertappte mich dabei, wie ich zustimmend nickte, obwohl ich großzügig ein­ räumen musste, dass der Versuch, die Zeile „Its pallid smoke in moonlight died“ wiederzu­ geben, misslungen war. (Kipling 1902, 140)

Der Begriff Écriture automatique geht auf Hippolyte Taine zurück, der im Vorwort zum ersten Band der dritten Auflage seines Buches De l’intelligence den folgen­ den Fall beschreibt: Ich habe eine Frau gesehen, die zusammenhängende Sätze und sogar ganze Seiten schreibt, während sie plaudert, während sie singt, ohne ein Bewusstsein dessen zu haben, was sie schreibt. [...] Die Bewegung ihrer Finger und ihres Stiftes ist steif und automatisch. (Taine 1878, 17–18)

Der Dichter, klassische Philologe und Begründer der Society for Psychical Re­search Frederic William Henry Myers griff den Gedanken auf und erhob die Begriffe „automatic writing“, „automatic script“, „automatic messages“ und „spirit writing“ zu termini technici des Spiritismus (vgl. Myers 1895, 64–70). Es ist kein Zweifel, dass Kipling, dessen Schwester Alice selbst ein Medium war, das Écriture automatique praktizierte und mit Myers auf diesem Wege kom­ munizierte, mit dessen Schriften vertraut war. Der Erzähler in Wireless aber gibt sich nicht mit spiritistischen Erklärungen zufrieden, sondern stellt eine ganze Reihe von mehr oder weniger wissenschaftlichen Überlegungen an, um das auto­ matische Schreiben Shaynors zu erklären. Ein erster Versuch ist das folgende Selbstgespräch: Wenn er Keats gelesen hat, beweist das gar nichts. Wenn er ihn nicht gelesen hat – müssen gleiche Ursachen die gleichen Wirkungen erzeugen. Dieses Gesetz lässt keine Ausflucht zu. Du solltest dankbar sein, dass du „St. Agnes Abend“, ohne das Buch zu brauchen, kennst; unter den gegebenen Umständen wie Fanny Brand, die der Schlüssel zu dem Rätsel ist und annäherend den Längen- und Breitengrad von Fanny Brawne darstellt; und in Anbetracht des hellroten arteriellen Blutes auf dem Taschentuch, über das du dir gerade im Laden den Kopf zerbrochen hast; und wenn man die Wirkung des beruflichen Umfelds in Betracht zieht, das hier nahezu vollkommen verdoppelt ist – dann ist das Resultat logisch und unvermeidlich. So unvermeidlich wie Induktion. (Kipling 1902, 140)

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Nach dieser Theorie ist John Shaynor ein Doppel- oder besser Wiedergänger von John Keats. Wie dieser hat er einen Pferdeknecht zum Vater,8 wie dieser ist er ein ausgebildeter Apotheker, wie dieser lebt er zeitweilig auf der Isle of Wight (vgl. Forman 1878, XIX–XX), wie dieser leidet er an Schwindsucht, wie dieser diagnos­ tiziert er das hellrote Blut, das er beim Husten ausspuckt, als ein deutliches Symptom dieser Krankheit (vgl. Brown 1937, 34), und schließlich ist er in eine junge Frau verliebt, deren Name, Fanny Brand, auf unheimliche Weise an den Namen von Keats’ Geliebter Fanny Brawne erinnert. Dazu kommt, dass Shaynors und Fanny Brands Abendspaziergänge um die St. Agnes-Kirche führen. Fazit: Gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen – Shaynor schreibt wie Keats, weil er in jeder Hinsicht dessen Doppelgänger ist. Aber damit gibt sich der Erzähler nicht zufrieden. Er erwägt vielmehr noch eine ganze Reihe anderer Erklärungen. Wenn er Keats gelesen hat, dann ist es der Chloräther. Wenn er ihn nicht gelesen hat, dann ist es der identische Bazillus oder die Heinrich-Hertz-Welle der Tuberkulose plus Fanny Brand und der Berufsstand, welcher in Konjunktion mit dem Hauptstrom des unterbewuss­ ten Denkens, das der ganzen Menschheit gemeinsam ist, vorübergehend einen induzierten Keats hervorgebracht hat. (Kipling 1902, 140)

In diesem Zitat kommen die verschiedenen Stränge der Geschichte, die bis hierher streng getrennt nebeneinander hergelaufen sind, in äußerster Verdich­ tung zusammen. Der Erzähler sucht einen Grund für das abnormale Verhalten Herrn Shaynors in sechs verschiedenen Bereichen der zu seiner Zeit aktuellsten Wissenschaften. Erster Erklärungsversuch: Das Verhalten Mr. Shaynors ist eine Folge des Chloräthers, dessen Potenzial als Anästhetikum James Young Simpson im Jahr 1847 entdeckt hatte. Zweite Erklärung: Der Tuberkulosebazillus, den Robert Koch 1882 entdeckte, hat den Zustand Mr. Shaynors induziert. Dritte Erklärung: Die Erscheinung ist auf den „Hauptstrom des unterbewuss­ ten Denkens, das der ganzen Menschheit gemeinsam ist“, zurückzuführen, ist also ein Fall für Spiritisten wie Frederic W. H. Myers. Die letzten Erklärungen, vier, fünf und sechs, spielen mit dem Doppelsinn des Wortes Induktion, das gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts drei ver­ schiedene Bedeutungen haben kann: Es ist ein Kernbegriff der Lehre von den

8 Shaynor bezeichnet seinen Vater als einen „small jobbing-master“ (Kipling 1902, 130) und ge­ braucht damit ein Synonym des Wortes „hostler“, von dem sonst die Rede ist, so etwa bei Git­ tings (1968, 11).

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wissenschaftlichen Methoden, dient zur Erklärung bestimmter spiritistischer Phänomene und spielt schließlich eine zentrale Rolle in der Elektrotechnik. Demnach wäre die vierte Erklärung die, dass zwei Personen, die einander wie ein Ei dem andern gleichen, ein genau gleiches Leben führen und also auch die glei­ chen Werke produzieren werden. Die fünfte Erklärung ist – wie der gesamte Spiritismus – der Abklatsch einer wissenschaftlichen Theorie, also in diesem Fall des physikalisch technischen Begriffs der Induktion. So heißt es in der Konklusion eines Aufsatzes Über einige mit abnormen Bedingungen des Geistes verbundene Phänomene, die der Physiker und Parapsychologe William F. Barrett im Jahr 1883 im ersten Band der Proceedings of the Society for Psychical Research publizierte: Das Beweismaterial, das ich angeführt habe, [...] deutet darauf hin, dass die mit dem Denken verbundene Nerventätigkeit einer Person, die in die hypnotische oder passive Bedingung versetzt ist, durch die entsprechende Tätigkeit in einem angrenzenden Indivi­ duum angeregt werden kann – und dies durch den Raum und ohne das Dazwischentreten der bekannten Sinnesorgane. Und das scheint durchaus keine unglaubliche Tatsache zu sein. Die Energie der Elektrizität äußert sich auf zwei Weisen – durch die Übertragung entlang eines materiellen Leiters und durch Einfluss oder Induktion, wie man sagt, durch den Raum. Kann nicht auch die Nervenenergie, was immer ihr Wesen sein mag, ebensogut durch Leitungsübertragung oder durch Einfluss wirken? Ich bin seit vielen Jahren dieser Ansicht gewesen, und sie hat sich durch Ereignisse bestätigt, deren Zeuge ich von Zeit zu Zeit gewesen bin. Ich bringe der Gesellschaft diesen Aufsatz hauptsächlich deshalb zur Kenntnis, weil ich die Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand richten möchte und zwar in der Hoffnung, dass diejenigen, die irgenwelches Beweismaterial zur Bestätigung dieser Ansicht oder aber auch Gründe, die ihr entgegen stehen, besitzen, so gut sein mögen, ihre Erfahrung mit mir zu teilen. (Barrett 1882–1883, 244)

Frederic W. H. Myers, der Begründer der Society for Psychical Research und Her­ ausgeber der Proceedings, nahm den Begriff der Induktion dann auch in das Glos­ sarium seines Buches Über die menschliche Persönlichkeit und deren Überleben nach dem Tode auf: Induziert. – Von Phantasmen, &c., sofern sie absichtlich hervorgebracht sind. (Vgl. Myers 1903, XV)

Es ist, wenn auch nicht sicher, so doch höchstwahrscheinlich, dass Kipling mit dieser Diskussion vertraut war. Schließlich war seine Schwester Alice K. oder auch kurz, Trix Fleming, alias Mrs. Holland, selbst ein Medium, von der es hieß, dass sie, allerdings erst nach der Lektüre von Myers’ Buch Über die menschliche Persönlichkeit und deren Überleben nach dem Tode, also nach der Veröffentli­ chung der Erzählung Wireless, Nachrichten von keinem Geringeren als dem eben verstorbenen Frederic Myers selbst empfange – und zwar genau auf dem Weg, auf

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dem auch Mr. Shaynor, der induzierte Keats in der Erzählung ihres Bruders, mit seinem toten Doppelgänger kommuniziert, nämlich auf dem Weg der Écriture automatique (vgl. Keeghan 1995–2015). Die sechste und letzte Erklärung bezieht sich schließlich auf die Technik, mit der sich Mr. Cashell im Hintergrund herumschlägt, während der Erzähler zusieht, wie Mr. Shaynor Keats-Gedichte schreibt. Funkwellen oder, um den englischen Fachausdruck zu zitieren, „Hertzian waves“, die Träger des Mediums, das erst drahtlose Telegrafie, später Sprechfunk und schließlich Radio hieß, wurden von James Clerke Maxwell schon im Jahr 1865, also fast zwei Jahrzehnte, bevor es Heinrich Hertz 1887 gelang, ihre Wirkungen vor Augen und Ohren zu führen, aus rein rechnerischen Gründen postuliert. Im Jahr 1902, in dem Kiplings Erzählung erschien, nahm man noch an, dass sich diese Wellen durch ein Fluidum, den sogenannten „Äther“, und nicht, wie Einstein nur drei Jahre später bewies, durch den leeren Raum ausbreiten. Und Induktion, der Terminus für das Entstehen eines elektrischen Feldes durch Änderung der magnetischen Flussdichte, spielte in der Frühzeit von Marconis Experimenten, zum Beispiel im Patent 7777, eine zentrale Rolle. Kiplings Darstellung der technischen Bedingungen von Mr. Cashells Versuch, eine drahtlose Verbindung zu der Station Poole herzustellen, ist also bemerkenswert genau. In der Frühzeit der drahtlosen Telegrafie war es schon ein Triumph, wenn es überhaupt gelang, ein Signal zu übertragen. An Tonfunk war nicht zu denken, es war schon viel, wenn das An/Aus des Morsecodes deutlich übertragen werden konnte. Aber nachdem dieses Problem gelöst war, ergab sich, und zwar gerade weil es gelöst war, eine neue Schwierigkeit. Seit Marconi es geschafft hatte, zahl­ reiche Sendestationen nicht nur an Land, sondern auch und vor allem an Bord der größeren Schiffe der British Royal Navy einzurichten, war der Äther von so vielen sich gegenseitig überlagernden Nachrichten erfüllt, dass es äußerst schwie­ rig geworden war, einzelne Sender aus diesem Wirrwarr von Funksprüchen her­ auszufiltern. Ich zitiere aus dem Buch Wireless. From Marconi’s Black Box to the Audion von Sungook Hong, der die Lösung dieses schwierigen Problems wie folgt beschreibt: Physiker und Ingenieure begannen sich darüber zu einigen, dass der Hauptgrund dafür darin lag, dass die Geräte von Hertz und Marconi sehr stark gedämpfte Wellen produzierten. Obwohl die Meinungen darüber, was die Gründe für diese Dämpfung waren, am Anfang auseinander gingen, beschloss man schließlich, dass eine stark gedämpfte Welle physika­ lisch und mathematisch als eine Überlagerung vieler verschiedener Wellen aufgefasst werden könne, jede mit ihrer eigenen Frequenz. In der Tat wird ja der Fourier Analyse zufolge eine Welle um so schneller gedämpft je breiter ihr Frequenzbereich ist. Diese „mehr­ fach Resonanz“ galt als eines der schwierigsten Probleme der von Hertz begründeten

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Physik. Je homogener (oder „kontinuierlicher“, wie die Ingenieure dieser Zeit es beschrie­ ben) umso enger der Frequenzbereich. Um also gute Syntonie [das heißt, Abstimmung auf eine Resonanzfrequenz, Anm. W. K.] zu erreichen, musste man homogene oder kontinuierliche Wellen erzeugen (oder zumin­ dest nahe daran kommen zu erzeugen). Es war zwar nicht möglich, kontinuierliche Wellen mithilfe von Knallfunksendern zu erzeugen, aber es gab ein Verfahren Dämpfung zu verringern. (Hong 2001, 95)

Eben dieses Verfahren ließ Marconi unter der Nummer 7777 patentieren. Es ist die sogenannte Vier-Kreis-Schaltung, die an jedem Ende des Kanals aus zwei, also insgesamt vier Schwingkreisen bestand, die induktiv gekoppelt waren und, wenn es gelang, sie auf ein und dieselbe Frequenz abzustimmen, miteinander resonier­ ten. Ich zitiere die einleitende Zusammenfassung aus Marconis Patent: Das Ziel dieser Erfindung besteht nicht nur darin, die Effizienz der bis jetzt gebrauchten Apparate zu erhöhen, sondern auch deren Wirkung so zu kontrollieren, dass verständliche Kommunikation ausschließlich mit einer oder mehreren Funkstationen aus einer Gruppe von verschiedenen Empfangsstationen hergestellt werden kann. (Marconi 1900, Zeile 4–8) Die Anordnung funktioniert wie folgt: Wenn man die Taste (b) drückt und damit die Induktionsspule (c) auflädt (um ein Signal zu erzeugen), wird der mit dem Umformer d-d' in Reihe geschlossene Kondensator (e) aufgeladen und entlädt sich danach über die Funkenstrecke. Wenn die Kapazität, die Induktivität und der Widerstand der Schaltung die angemessenen Werte haben, dann ist diese Entladung periodisch mit dem Resultat, dass die Hochfrequenzschwingungen durch die Primärspule (d) des Umformers fließen und ähnliche Schwingungen in der Sekundär­ spule (d') induzieren, die dann ihrerseits auf den ausgespannten Leiter [das heißt, die Antenne, Anm., W. K.] übertragen werden. (Marconi 1900, Zeile 26–33) Die Schaltung der Antenne sollte diesem Zweck entsprechend abgestimmt sein. Der Effekt dieser Schwingungen in der Antenne besteht darin, ähnliche Antennen in der Ferne induktiv zu beeinflussen, wenn die Selbstinduktion und Kapazität dieser Anten­ nen einen angemessenen Wert oder angemessene Werte hat. (Marconi 1900, Zeile 34–38)

Ich habe diese Beschreibung so ausführlich zitiert, weil sie belegt, dass der Kern­ punkt von Marconis Patent darin besteht, dass die Antenne jetzt nicht mehr in Reihenschaltung mit den Schwingkreisen von Sender und Empfänger steht, sondern vielmehr induktiv daran gekoppelt ist. Das erklärt, warum Mr. Cashell in Kiplings Erzählung ausdrücklich sagt: „Es ist also wichtig zu bedenken, dass der Strom [der den Fritter durchläuft, Anm. W. K.] ein induzierter Strom ist – –“ (Kipling 1902, 136). Marconi fasst noch einmal zusammen: Wenn man diese Erfindung nutzt, um die Übertragung von Information von einer Station nur auf einen einzigen aus einer Gruppe von mehreren Empfängern einzuschränken, dann muss die Frequenz der Schaltungen beider dieser Stationen so abgestimmt sein, dass sie

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untereinander gleich, aber verschieden von den Frequenzen der anderen Stationen sind. Die Frequenz der Sendeschaltung muss so lange abgestimmt werden, bis sie in Resonanz mit der Frequenz einer der Empfangsstationen ist, so dass diese eine allein aus der Gruppe aller anderen darauf anspricht, vorausgesetzt, dass die Entfernung zwischen Sender und Empfänger nicht zu groß ist. (Marconi 1900, Zeile 35–42)

Mit anderen Worten: Um die […] Voraussetzung[] einer hohen Leistung zu erfüllen, müssen nicht nur Geber und Empfänger gleichgestimmt (synton) sein, sondern es müssen auch sowohl an der Gebe- als auch an der Empfangsstelle die primäre und sekundäre Leistung des Umformers gleichge­ stimmt sein, indem das Produkt von Selbstinduktion und Kapazität für die vier in Betracht kommenden Leistungen den selben Wert hat. (Erb 1991, 36)

Genau diese Bedingung haben die Funker am Ende von Kiplings Erzählung nicht erfüllt, und zwar weil sie entweder ihre Geräte nicht richtig abgestimmt haben oder aber weil sie Marconis Patent 7777 noch nicht in ihre Schaltungen eingebaut haben: Das Morse Instrument war wild am Ticken. Mr. Cashell interpretierte: „‚K.K.V. Kann keinen Sinn in Ihren Signalen finden.‘“ Eine Pause. „‚M.M.V. M.M.V. Signale unverständlich. Beabsichtige in Sandown Bay vor Anker zu gehen. Werde morgen Instrumente prüfen.‘“ „Wissen Sie, was das heißt? Es handelt sich um ein paar Kriegsschiffe, die Marconi Signale vor der Isle of Wight absetzen. Sie versuchen, miteinander zu sprechen. Keiner kann die Nachrich­ ten des anderen lesen, aber ihre Botschaften werden von unserem Empfänger hier aufge­ fangen. Sie sind schon eine ganze Weile dran. Ich wünschte, Sie hätten es gehört.“ „Wie schön!“ sagte ich. „Wollen Sie sagen, dass wir mithören, wie Schiffe aus Ports­ mouth versuchen, miteinander zu sprechen – dass wir sie über halb Südengland hinweg belauschen?“ „Genau das. Ihre Sender sind in Ordnung, aber ihre Empfänger sind nicht in Ordnung, deshalb empfangen sie nur ein Dit hier und Da dort. Nichts klar.“ (Kipling 1902, 142–143) [...] „Warum ist das so? “ „Weiß Gott – und die Wissenschaft wird es morgen wissen. Vielleicht kommt keine Induktion zustande; vielleicht sind die Empfänger nicht dazu abgestimmt, genau die Anzahl von Schwingungen zu empfangen, die das Übertragungsgerät sendet. Nur hie und da ein Wort. Gerade genug um einen Tantalusqualen auszusetzen.“ (Kipling 1902, 143)

Anstatt Signale von dem Sender Poole zu empfangen, wie er es beabsichtigt hatte, fängt Mr. Cashell Nachrichten von Kriegsschiffen auf, deren Telegrafisten ihrer­ seits vergeblich versuchen, ihre Empfänger so fein abzustimmen, dass sie keine anderen Signale als die der Sender auffangen, mit denen sie in Funkverbindung treten möchten. Es ist, als ob Sie auf einer lauten Party, statt der bedeutenden Persönlichkeit zuzuhören, die Sie in ein Gespräch verwickeln wollten, gezwun­

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gen wären, an der Konversation zweier völlig unwichtiger Personen am anderen Ende des Raumes teilzunehmen. Dass das Problem der Kanaltrennung damit keineswegs gelöst war, zeigte sich im Jahr 1903, als Marconis Ingenieur John Ambrose Fleming einen Vortrag über das Thema „Elektrische Resonanz und drahtlose Telegraphie“ vor der Royal Institution hielt, in dem er behauptete, „dass Marconis Patent 7777 ‚die Bedin­ gungen schaffe, um mehr oder weniger kontinuierliche Wellenzüge auszustrah­ len‘“ (zit. n. Hong 2001, 98). Um diese These zu bekräftigen, hatte er vor, einen im Saal aufgestellten Empfänger vor den Augen aller auf die Wellenlänge eines Mar­ coni-Senders in Chelmsford abzustimmen. Kurz vor dem Beginn dieses Experi­ ments bemerkte Arthur Blok, einer der Assistenten Flemings, ein Flackern in den Bogenlampen, und als geübter Morsefunker konnte er zuerst das Wort „rats“, „Ratten“, und dann auf dem Streifen des Morseschreibers den folgenden Knittel­ vers entziffern: Kam ein junger Typ aus Italien her und beschummelte die Leut’ gar sehr.

Aber Fleming kam noch einmal mit einem blauen Auge davon, denn, so fährt Blok fort: Die Geschichte nahm ein glückliches Ende, zumindest was den Vortrag anbelangte. Einen Bruchteil von Sekunden vor dem vorher ausgemachten Chelmsford Moment brachen die herumstreunenden Signale ab, und mit so viel Kaltblütigkeit als ich nur irgend aufbringen konnte riss ich den Papierstreifen mit den lächerlichen Dits and Das ab und steckte ihn in meine Tasche. Die Nachricht aus Chelmsford folgte unmittelbar darauf, und Flemings Glücksstern hatte sich inmitten von ahnungslosem Applaus bis zum Schluss bewährt. (Zit. n. Hong 2001, 110)

Aber zurück zu Kiplings Wireless. Während Mr. Cashell immer noch verzweifelt darum kämpft, endlich eine Funkverbindung zum Sender Poole herzustellen, überstürzen sich die Ereignisse in dem anderen Strang der Geschichte. Mr. Shaynor wechselt plötzlich die Gattung und beginnt, einen Brief zu schreiben, der im Stil den Briefen gleicht, die Keats in den Jahren 1819 bis 1820 an seine Geliebte Fanny Brawne geschrieben hatte und die, als sie im Jahr 1878 postum erschienen, großes Aufsehen erregt hatten wegen ihrer Leidenschaftlichkeit. Shaynor schreibt: Wenn der Wind Regen und Hagel mitbringt, ist es morgens sehr kalt. Ich habe den Hagel außen an der Fensterscheibe gehört und dachte an dich, mein Schatz. Ich denke immer an dich. Ich wünschte, wir könnten beide wie zwei Liebende in einem Sturm wegrennen und die kleine Hütte am Meer erwerben, an die wir immer denken, mein einziger lieber Schatz.

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Wir könnten da sitzen und auf das Meer unter uns schauen. Das wäre ein Feenreich, das uns ganz allein gehört – ein Feenmeer – ein Feenmeer ... (Kipling 1902, 141)

Zu diesem Text gibt es kein Pendant in den Briefen von John Keats. Kipling hat ihn frei erfunden. Der Text schlägt eine pseudo-biografische Brücke von der Flucht der beiden Liebenden am Ende von St. Agnes Eve zu dem Phantasiege­ bäude, das in der vorletzten Strophe der Ode to a Nightingale beschworen wird. Dieser Wechsel von einem Gedicht zum andern bringt den Erzähler auf die Idee, nun seinerseits ein Experiment durchzuführen, um die Frage, ob Mr. Shaynor „ein induzierter Keats“ ist oder nicht, ein für alle Mal zu klären. Ich zitiere: Meine Kehle war ausgetrocknet, aber ich traute mich nicht zu schlucken, um nicht den Zauber zu brechen, der ihn näher und näher dem hohen Pegelstand brachte, den nur zwei der Söhne Adams jemals erreicht haben. Man bedenke, dass es unter all den Millionen, die einen Anspruch darauf haben, nur fünf – fünf kleine Zeilen – gibt, von denen man sagen kann: „Die sind reine Magie. Die sind die klare Vision. Der Rest ist bloß Dichtung.“ Und Mr. Shaynor spielte Heiß/Kalt mit zwei von eben diesen. Ich gelobte, dass keiner meiner unbewussten Gedanken die mit verbundenen Augen herumtappende Seele beeinflussen solle, und nagelte mich selbst verzweifelt an den anderen drei dieser Zeilen fest, indem ich wieder und wieder wiederholte: Ein heiliger Hain, so wild und verrucht, den der schwindende Mond hat heimgesucht wie das Weib der dämonische Buhle. (Kipling 1902, 141–142)

Mit diesem Trick stellt der Erzähler eine Hypothese auf die Probe: Ist es meine Kenntnis der Gedichte von John Keats, die auf dem Weg einer telepathischen Übertragung dem Geist Mr. Shaynors zugesandt wird? Denn wenn das der Fall wäre, dann müsste Mr. Shaynor meinem Gedankengang folgen. Er müsste seine Aufmerksamkeit von meinen Lieblingszeilen aus der Ode an eine Nachtigall abziehen und auf „die anderen drei Zeilen“ richten, die für mich, wie es im Text heißt, „die reine Magie sind“, nämlich auf die Zeilen 14 bis 16 von Samuel Cole­ ridges Gedicht Kubla Khan. Aber anstatt das Signal, das der Erzähler versucht auszusenden, aufzufangen, bleibt Mr. Shaynor standhaft auf John Keats abge­ stimmt: Aber obwohl ich meinen Geist so beschäftigt glaubte, hingen all meine Sinne an der Schrift unter der trockenen, knochigen, von Chemikalien und Zigarettenrauch ganz braunen Fingern. Unsere Fenster gegenüber gefährlichem Schaum, (schrieb er nach langen unentschiedenen Versuchen), und dann – Unsere Fenster auf gefährliche Meere hinaus Verlorn – verlorn – (Kipling 1902, 142)

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Es ist, als dichte Mr. Shaynor den berühmten Übergang von der vorletzten zur letzten Strophe der Ode an eine Nachtigall noch einmal. Deshalb weicht seine Version leicht von dem Original ab, in dem die entsprechende Stelle lautet: Das gleiche, das so oft Magie in Zauberfenster trug, umtost Vom Sturmmeer, im verlornen Märchenland. Verlorn! – (Keats 1995, 145)

Lange bevor es Mr. Cashell im Hinterhaus gelungen ist, seinen Empfänger so ab­zustimmen, dass er ausschließlich die Signale des Senders Poole und nicht noch alle möglichen Nachrichten von anderen Sendern empfängt, hat Mr. Shaynor schon eine perfekte Senderauswahl getroffen. Nahezu identisch konstruiert wie der Dichter Keats, ist er präzise auf die Frequenz der Nachrichten eben dieses toten Dichters abgestimmt. Für Interferenzen von anderen Sendern wie zum Bei­ spiel von der Welle Coleridge hat er buchstäblich keine Antenne. Deshalb emp­ fängt er nicht nur ein gelegentliches Dit oder Da, sondern bemerkenswert klare und ungestörte Signale, allerdings mit dem Unterschied, dass er, statt über große Entfernungen und mit einer kleinen Verzögerung, die unsere Sinne auf dem kleinen Planeten, den wir bewohnen, nicht einmal registrieren, die Dimension sowohl der Zeit als auch des Raums verlässt, indem er Nachrichten von jenseits des Grabs empfängt. Das Gespenst oder der Geist von Kiplings Geschichte ist also der Geist der Technik selbst. Shaynor, der selbst alle spiritistischen Medien „für Betrüger“ (Kipling 1902, 143) hält, personifiziert eine exemplarische Lösung für das Problem der Abstimmung, das dringendste Problem der Radiotechnik seiner Zeit.

Abb. 2: Superheterodyne Empfänger: Blockdiagramm. A1: Radiofrequenzverstärker, M: Mixer, O: Örtlicher Oszillator, F: Filter, A2: Zwischenfrequenzverstärker, D: Demodulator, A3: Ton­ver­‑ stärker.

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Erst knapp zwanzig Jahre später, nämlich im Jahr 1918, gelang dann schließ­ lich einem Radioingenieur die Lösung des Problems, dem der Amateur Mr. Cashell so hilflos gegenüberstand und das für Mr. Shaynor, das spiritistische Medium, kein Problem war. Der superheterodyne Empfänger-Schaltkreis Edwin Armstrongs (Abb. 2), der feinste Senderwahl erstmals möglich machte, schuf die Bedingung der Möglichkeit für den Sprechfunk. Man mixt die ankommende Radiofrequenz mit einer anderen im Empfänger selbst generierten Frequenz, schickt die aus dieser Mischung resultierende Inter­ ferenzfrequenz erst durch einen Filter, dann durch einen Verstärker und hat damit alle nicht genau auf den jeweiligen Sender abgestimmten, also alle stören­ den Wellen eliminiert. In zwei weiteren Schritten wird das Audiosignal durch einen Gleichrichter geschickt und schließlich seinerseits verstärkt. Das ist der Beginn dessen, was James Joyce „dieses drahtlose Zeitalter“ genannt hat (Joyce 1975, 489–490, vgl. 53 u. 449), und der Grund, weshalb ein Transistorradio seit den frühen sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zur Grundausstattung auf dem Schreibtisch eines Dichters wie zum Beispiel Arno Schmidts gehört.

Abb. 3: Arno Schmidts Schreibtisch in Bargfeld.

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Literaturverzeichnis Barrett, William. „On Some Phenomena Associated with Abnormal Conditions of Mind“. Proceedings of the Society for Psychical Research 1 (1882–1883): 238–244. Brown, Charles Armitage. Life of John Keats. Hg. Dorothy Hyde Bodurtha und Willard Bissell Pope. London, New York, Toronto: Oxford University Press, 1937. Dillingham, William B. „Eavesdropping on Eternity. Kipling’s ‚Wireless‘“. English Literature in Transition, 1880–1920 55.2 (2012): 131–154. Erb, Ernst. Radios von Gestern. Luzern: M + K Computer-Verlag, 1991. Forman, Harry Buxton (Hg.). Letters of John Keats to Fanny Brawne written in the years MCCCIX and MDCCCXX and now given from the manuscripts. New York: Scribner, Armstrong & Co., 1878. Gittings, Robert. John Keats. London: Heinemann, 1968. Grabau, Rudolf. „In 100 Jahren vom Fritter zum Digitalempfänger“. Funkgeschichte 190 (2010): 45–48. http://www.radiomuseum.org/forumdata/upload/190_45_empfangsprinzipien_1_ grabau.pdf; (21. November 2016). Hong, Sungook. Wireless: From Marconi’s Black-Box to the Audion. Cambridge, Mass.: MIT Press, 2001. Joyce, James. Finnegans Wake. London, Boston: Faber & Faber, 1975. Keats, John. Werke und Briefe. Hg. Mirko Bonné. Stuttgart: Reclam, 1995. Kipling, Rudyard. „Wireless“ Scribner’s Magazine XXXII.2 (August 1902): 129–143. http://www.unz.org/Pub/Scribners-1902aug-00129 (21. November 2016). Myers, Frederic W. H. „The Experiences of Stainton Moses. – II: Section B. – Examination of Automatic Writing“. Proceedings of the Society for Psychical Research XI (1895): 64–70. Myers, Frederic W. H. „The Subliminal Self. Chapter IX. The Relation of Supernormal Phenomena to Time.– Precognition“. Proceedings of the Society for Psychical Research XI (1895): 408–593. Myers, Frederic W. H. Human Personality and its Survival of Bodily Death. London: Longman Green and Co., 1903. Marconi, Guglielmo. „Improvements in Apparatus for Wireless Telegraphy of April 26, 1900“. http://www.alternativaverde.it/sttlcing/documenti/Marconi/1900/marc26041900a7777. pdf (21. November 2016). Keeghan, D.R.T. Medium Alice Holland, England. U.K. http://www.psychictruth.info/Medium_ Alice_Holland.htm. 1995–2015 (21. November 2016). Taine, Hippolyte. De l’intelligence. Bd. 1. 3. Aufl. Hachette: Paris, 1878.

Anne-Kathrin Reulecke

Der Schreibtisch im Exil Thomas Manns schwimmendes Arbeitszimmer Als Thomas Mann 1938 nach mehreren Kurzbesuchen offiziell in die Vereinigten Staaten übersiedelte, galt er neben Albert Einstein als wichtigster Vertreter der deutschen Emigranten im Exil und als ‚Stimme der Vernunft‘. Und so wurden die Statements des angesehenen Nobelpreisträgers und „greatest living man of letters“ (Vaget 2005, 69–70), wie ihn die Presse immer wieder bezeichnete, als gleichsam offizielle Verlautbarungen rezipiert. Gleich nach seiner Ankunft in New York am 21. Februar 1938, noch auf dem Dampfer „Queen Mary“, baten Reporter der New York Times den Dichter um eine Stellungnahme zur Entwicklung im nati­ onalsozialistischen Deutschland. Sie stellten ihm die Frage, ob er das Exil als eine schwere Last empfinde. Manns Antwort wurde zu einer vielzitierten Losung, die in signifikanter Weise die aktuelle politische Situation in Deutschland von einem inneren und zugleich grenzenlosen kulturellen Deutschland unterschied: Es ist schwer zu ertragen. Aber was es leichter macht, ist die Vergegenwärtigung der vergif­ teten Atmosphäre, die in Deutschland herrscht. Das macht es leichter, weil man in Wirklich­ keit nichts verliert. Wo ich bin, ist Deutschland. Ich trage meine deutsche Kultur in mir. Ich lebe im Kontakt mit der Welt und ich betrachte mich selbst nicht als gefallenen Menschen.1

Anders als die selbstsicheren politischen Botschaften, die stets die Überlegenheit über den Faschismus betonten, die die Souveränität der Vernunft gegenüber dem faschistischen Barbarentum aussprachen und zugleich in der Person ihres Spre­ chers Gestalt annahmen, sprechen Thomas Manns Tagebücher auch von der Not des Exils und vom Leid des Exilanten.2 Dass es Mann dennoch möglich war, wei­ terhin schriftstellerisch produktiv zu sein und die aus Deutschland exterritoriali­

1 „It is hard to bear. But what makes it easier is the realization of the poisoned atmosphere in Germany. That makes it easier because it’s actually no loss. Where I am, there is Germany. I carry my German culture in me. I have contact with the world and I do not consider myself fallen“ (Hansen 1991, 177). 2 Neben der Erwähnung von Angst und Depression finden sich Notizen zu psychosomatischen Symptomen, wie besonders die Tagebucheinträge des Jahres 1933 zeigen (vgl. Mann 2003a). Mann litt in den Exiljahren auch unter der Entwurzelung und dem Verlust intellektueller Partner, und er klagte über seine unzureichenden Englischkenntnisse wie auch über die mangelhafte Übertragung seiner Werke, die die Feinheiten seines literarischen Stils verschliffen (vgl. Lubich 1993, 464–477). DOI 10.1515/9783110466850-014, © 2017 Anne-Kathrin Reulecke. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 License.

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sierte Kultur, wie er sagte, im Exil ‚in sich zu tragen‘, ja sogar weiterzutragen, war in besonderer Weise an die weitgehende finanzielle Sicherheit und an die Mög­ lichkeiten geknüpft, die gewohnte großbürgerliche und künstlerisch-intellektu­ elle Lebensweise beizubehalten. Damit verbunden war, dass Thomas Mann seine familiäre ‚Produktionswerkstatt‘ samt Mitarbeiterinnen, vor allem der Ehefrau Katia und später auch der ältesten Tochter Erika, mit sich nehmen konnte. Das heimische Setting gewährleistete, wie wir aus den zahlreichen biografischen Zeugnissen wissen, den berühmt-berüchtigten Schriftstelleralltag mit genau geregelten Arbeits- und Ruhestunden und Mahlzeit-Ritualen, mit festen Zeiten für Schreiben, Lektüre, Mittagsschlaf, Korrespondenz und Korrekturlesen, den wohldosierten Gaben von Familienleben und sozialen Kontakten. Während Katia bzw. „Frau Thomas Mann“, wie sie sich im Briefkopf nannte, Abschriften und Typoskripte erstellte, die Privatadministration und Finanzorganisation erledigte und für die Umzüge samt Wiedereinrichtung der Wohn- und Arbeitsräume ver­ antwortlich war, übernahm Erika Mann, ironisch vom Vater „Tochter-Adjutantin“ genannt (Mann 2003c, 219), redaktionelle Arbeiten und half als Übersetzerin bei den zahlreichen Vorträgen des Dichters aus. Als Sinnbild, aber auch als ganz kon­ kretes Medium für die Kontinuität der schriftstellerischen und politischen Arbeit im Exil kann Thomas Manns Schreibtisch angesehen werden.3

Abb. 1: Der Schreibtisch Thomas Manns im Thomas Mann-Museum, Zürich. 3 Einschlägig zur Schreibtisch-Forschung vgl. Pelz (2003).



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1 Der Schreibtisch im Exil Der schwere, neubarocke Schreibtisch aus Mahagoni, der heute im Thomas-MannMuseum in Zürich steht, begleitete den Dichter auf allen Stationen seines Lebens ab dem Jahr 1928:4 von der Münchner Villa in der Poschinger Straße über die Exilorte Küsnacht, Sanary in Südfrankreich, Princeton und Pacific Palisades zurück zu den Alterswohnsitzen Erlenbach und Kilchberg in der Schweiz. Aus persönlichen Schriften wissen wir, welch eminente Bedeutung Thomas Mann dem Ensemble seiner „Lieblingsmöbel“ (Mann 2003a, 80), bestehend aus Schreibtisch, Fauteuil mit Taburett, Arbeitsbibliothek und Grammophon, beimaß und wie geradezu existenziell wichtig es ihm war, insbesondere den eigenen Schreibtisch zur Verfügung zu haben. So beschreibt er im Tagebuch vom 7. Okto‑ ber 1938 die Aufstellung des gerade eben aus Europa herbeigeschifften Arbeitsti­ sches als den Höhepunkt der Reetablierung der räumlich-häuslichen Ordnung im Princetoner Haus: Mein Schreibtisch, Umstellung in der Library. Mein Münchner Lesestuhl, Medis Kopf, die Schweizer Uhr. Höchste Phantastik, die Dinge hier wieder um mich zu haben. Genaue Wie­ derherstellung des Schreibtisches, jedes Stück, Medaillen, ägyptischer Diener, genau an seinem Platz wie in Küsnacht u. schon in München. Ein paar Schubladen verwechselt, Ver­ wirrung, Sperrung, dann Wiederherstellung. (Mann 2003b, 306)

Erst nachdem der Schreibtisch in seiner massiven Präsenz vor ihm stand und die Schubladenordnung wiederhergestellt war, erst als die Tischgegenstände wieder exakt an ihrem üblichen Platz standen, fühlte sich Thomas Mann wirklich ange­ kommen und fähig, das literarische Werk fortzusetzen. Die Wiederaufnahme der gewohnten Schriftstellerexistenz war nun nach dem interimistischen Arbeiten an provisorischen Schreibtischen, wie dem in den Tagebüchern mehrfach erwähn­ ten grün bespannten Spieltisch in Sanary, wieder möglich (vgl. Jens 2013, 17–46) und wurde sogleich in einem ersten Einweihungs-Schreibakt performiert: „– Dies das Erste, was ich am eigenen Tische schreibe, angesichts des schönen SiamKriegers“ (Mann 2003b, 306). In einem Brief an Erich von Kahler einige Tage später schrieb Thomas Mann, dass er nun, „da alles Stück für Stück genau so dasteht“, entschlossen sei, sein „Leben und Treiben mit größter Beharrlichkeit fortzusetzen wie eh und je, unalteriert von Ereignissen, die mich schädigen, aber nicht beirren und demütigen können“ (zit. n. Jens 2013, 72).

4 Thomas Mann hatte den Schreibtisch in den zwanziger Jahren bei dem Münchner Kunst- und Antiquitätenhändler Kurt Bernheimer erworben (vgl. Jens 2013, 11).

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Abb. 2: Schreibtisch Thomas Manns im Thomas-Mann-Museum, Zürich.

Im Sinne des Dispositivs von der „Werkstatt des Dichters“ hatten auch die Gegen­ stände auf dem Schreibtisch von Thomas Mann mehr als eine dekorative Funk­ tion und reichten weit in das Leben und Werk des Autors. Auf der polierten Arbeitsfläche befanden sich Gebrauchsgegenstände, wie das Petschaft, die Lupe oder der Umlegekalender, der an jedem Silvester in einem feierlichen Ritual durch einen neuen ersetzt wurde. Zudem standen dort familiäre Erinnerungsstü­ cke, wie die Fotografie der jungen Katia Mann und später eine der beiden Enkel Frido und Toni, der Söhne Michael Manns; daneben Hinweise auf Lieblingsdich­ ter Thomas Manns, die im Exil wichtige Orientierungspunkte waren, wie eine sil­ berne Tolstoi-Plakette und zwei sakral anmutende Messingleuchter, die ihrerseits den Schreibtisch von Friedrich Schiller zierten. Zudem waren in immer gleichem Arrangement Figurinen deponiert, die für Ideale Manns standen, so der schon erwähnte bronzene Buddha aus Siam, der ihm der „Inbegriff des schönen Jünglings“ (http://idwebhost-202-52.ethz.ch/ gedenkzimmer) war. Ganz direkten Bezug zum literarischen Werk hatten etwa eine Holzfigurine mit Lendenschurz und Perücke, eine ägyptische Dienerstatu­ ette, die als Vorbild für die Figur des Joseph der gleichnamigen Tetralogie diente, sowie eine russische Zigarettendose mit einer Troika darauf, die der ähnelt, die Madame Chauchat im Roman Der Zauberberg bei sich trägt. Diese Gegenstände stehen für eine Doppelbewegung: zum einen für den Vorgang der „erzählerischen



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Integration einzelner Schreibtischgegenstände“ (Plachta 2014, 293), bei welchem reale Dinge ihre Spuren im Werk hinterließen und so zu Realien in der Literatur wurden; zum anderen für den rückläufigen Prozess, in dem die realen Dinge im Nachhinein zu Erinnerungszeichen für das literarische Werk wurden, in das sie zuvor integriert worden waren. Die Schreibtisch-Gegenstände Thomas Manns sind somit Zeugen seiner Bindungen und Passionen wie auch Zeugnisse der Aus­ tauschprozesse zwischen Realität und Fiktion beim Dichten. In ihrem Ensemble haben die Dinge auf dem Schreibtisch die Funktion einer Sammlung. Und so wie jede Sammlung auf ihr Zentrum, ihren Sammler und Kurator, zurückverweist und identitätsstiftend ist (vgl. Pomian 1988), konnte auch die Schreibtisch-Sammlung Thomas Manns, sobald die identische Ordnung der Dinge an den wechselnden Orten des Exils wiederhergestellt worden war, die ‚unalterierte‘ Identität des Sammlers suggerieren. Bedenkt man noch dazu die Sturzuhr, den Elefantenstoßzahn und die Versteinerung einer Seerose, die sich auch auf dem Schreibtisch befanden, ergibt sich gar das Bild einer privaten Wun­ derkammer. Begegnen sich doch auf dem Schreibtisch Manns Naturalia und Arti­ ficialia, Technisches, Urzeitliches und Kurioses, Ägyptisches und Asiatisches, Gebrauchsgegenstände, Erinnerungsstücke und Nippes (vgl. Daston und Park 2000). Das heißt also, der Autor versicherte sich am Schreibtisch des Gewohnten und Eigenen und öffnete sich zugleich dem Fremden – in historischer und kultu­ reller Hinsicht. Im Exil wurde der Schreibtisch schließlich zum Ausgangspunkt, um Fremdheit in weit größerem Maße zu bewältigen, mit dem Unterschied aller­ dings, dass diese nun gegenwärtig war. In ihrem 2013 erschienenen Buch Am Schreibtisch. Thomas Mann und seine Welt verfolgt die Tagebuch-Editorin Inge Jens das Projekt einer Doppelbiografie von Gegenstand und Mensch, indem sie am Beispiel der Geschichte von Thomas Manns Schreibtisch das Leben und Schaffen des Dichters in den Jahren von 1933 bis 1955 rekonstruiert. Ihr Konzept ist es dabei, „anhand eines Möbels Familienund Zeitgeschichte zu beschreiben“ (Jens 2013, 12). Von einschlägigen Tagebuchund Briefstellen ausgehend vollzieht Jens chronologisch die jeweiligen Orts­ wechsel der Familie Mann, die Häusersuche, die Umzüge und die Einrichtungen der neuen Wohnstätten nach. Sie will zeigen, wie inmitten des Wandels und durch die räumliche Bewegung hindurch der Schreibtisch für Thomas Mann zum „Garant[en] einer neuen Beheimatung, eines Lebens-Stetigkeit verbürgenden Mittelpunktes“ wurde, „gleichgültig, unter welchem Himmel er gerade stand“ (Jens 2013, 8). In erster Linie liest Inge Jens dabei den Schreibtisch des von ihr verehrten Thomas Mann symbolisch: Einmal ist der Schreibtisch „Symbol für schwer errun­ genes Überleben, für Erfolg und öffentliche Anerkennung und zugleich Zeuge von Niederlagen und Demütigungen“ (Jens 2013, 12); ein anderes Mal ist er „Symbol

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beharrlicher Ausdauer“ (Jens 2013, 121), dann „Symbol für gelingendes Leben“ (Jens 2013, 163) und schließlich „Symbol des ungebrochenen sozialen und künst­ lerischen Ansehens seines Besitzers“ (Jens 2013, 186). Das heißt also, so kann man präzisieren, dass der Schreibtisch hier in erster Linie als Zeichen für die Erfahrungen und Charaktereigenschaften seines Besitzers gelesen wird. Die Bio­ grafin stellt eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Ding und Mensch her, die darüber funktioniert, dass beide, den Zeitläuften und historischen Verwerfungen zum Trotz, in ihrer Substanz gleich geblieben sind: der Schreibtisch in seiner reinen Materialität und der Dichter in seiner menschlichen und künstlerischen Integrität. An anderen Stellen lässt sich jedoch anhand von Jens’ reichhaltigem Material auch nachvollziehen, inwiefern der Schreibtisch in seiner Form und seinem Aufbau ganz konkret in die Mann’sche Arbeitsweise ‚eingriff‘. So war der Schreib­ tisch Thomas Manns maßgebliches Vehikel für Ordnungen, Grenzziehungen und Hierarchisierungen der Papiere. Er war der Ort, an welchem der Autor persönli­ che oder gar geheime Schriften verbarg; und er war das Instrument, mit welchem er diese von anderen Arbeitsmaterialien getrennt hielt. Dies betrifft insbeson­ dere, wie Jens zeigt, die Tagebüchernotizen aus der Zeit vor 1933, die im rückwär­ tigen verschließbaren Teil untergebracht wurden, zu dem nur Thomas Mann selbst die Schlüssel besaß, bis 1944 und 1945 der größte Teil der Tagebücher vom Autor eigenhändig verbrannt wurde. Jens sieht in der Verbannung der Diarien aus dem Schreibtisch und ihrer Verbrennung einen Akt, mit dem sich der im Exil zum Weltbürger gewordene Autor von seiner „obsolet gewordenen Vergangen­ heit“ (Jens 2013, 130) und seinem „abgelebten (deutschen) Leben“ (Jens 2013, 131) habe verabschieden wollen, und nicht, wie die Mann-Biografik gemeinhin annimmt, einen Akt, mit dem Thomas Mann primär Hinweise auf seine Homo­ sexualität vernichten wollte. Während also die Rückseite des Schreibtischs als „Tresor“ (Jens 2013, 130) fungierte, stellte besonders die vordere rechte Schub­ lade ein Depot für Arbeitsmaterialien des jeweils aktuellen Projekts dar. Produktionsästhetisch relevant ist die Tatsache, dass im Jahr 1943 einige wenige Tagebücher, und zwar diejenigen, die aus der Zeit des Schwabinger Künst­ lerlebens in den Jahren von 1918 bis 1921 stammten und offenbar dem Autodafé des Dichters entgangen waren, in die Produktions-Schublade überführt wurden, da Thomas Mann sie für die Schilderungen der Münchner Zeit seines Protagonis­ ten Adrian Leverkühn aus dem Doktor Faustus benötigte. Damit ging das intime Material via Arbeitsschublade in das literarische Werk ein: Es wanderte sozusa­ gen von der privaten Rückseite in die offizielle Vorderseite – ein für Thomas Manns Arbeitsweise eher unüblicher Vorgang. Im Zuge der öffentlichen Politisierung Thomas Manns in der Zeit des US-ame­ rikanischen Exils (vgl. Vaget 2011) erweiterte sich die Funktion des Schreibtisches



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maßgeblich. So mussten auf der Schreibtischoberfläche die Papiere der rein lite­ rarischen Produktion und der privaten Korrespondenzen zunehmend den Platz mit solchen Papieren teilen, die mit Thomas Manns Funktion als ‚Sprecher der deutschen Emigranten‘ zusammenhingen. Auf dem Schreibtisch sammelten sich nun, wie Jens beschreibt, zahllose Ersuchen um öffentliche Stellungnahmen zur aktuellen Weltsituation, Einladungen zu Treffen von politischen Verbänden sowie Bittschreiben, Hilfegesuche und Notrufe von Flüchtlingen in Europa, die um symbolische oder finanzielle Unterstützung bei der Einreise in die USA baten. Der Schreibtisch wurde daher zum „Entstehungsort unzähliger bürokratischadministrativer Schriftstücke zur Rettung Verfolgter“ (Jens 2013, 75). Die schiere Masse dieser Korrespondenzen ließ buchstäblich weniger Raum zum literari­ schen Schreiben. Zudem war der Schreibtisch „so etwas wie eine Kanzel oder ein Katheder zur öffentlichen Verkündigung von Überzeugungen und Warnungen“ (Jens 2013, 122) für die Welt. Allerdings, so ist hinzuzufügen, hatte Thomas Mann für das politi­ sche Engagement und das damit verbundene Schreiben ex cathedra einen nicht geringen Preis zu zahlen, der ihm bewusst war. Mussten doch die Texte, etwa für die BBC-Radiosendung Deutsche Hörer! (1940 bis 1945), nach der Logik der Adres­ sierung an ein breites Publikum im Sinne einer politischen Agitation wie auch nach den Gesetzmäßigkeiten universeller humanistischer Botschaften zu einem großen Teil auf Zweifel, Zwischentöne und differenzierte Analysen verzichten. Anstelle der von Mann so hochgeschätzten „Nuancen“, deren Verlust er als Folge der NS-Ideologie ansah (vgl. Mann 1986 [1946], 18), traten zunehmend Schlag­ worte, Polemiken und einfache binäre Oppositionen: Amerika versus Deutsch­ land, Demokratie versus Barbarei, die Menschheit versus das Böse. Um als Reprä­ sentant eines anderen Deutschlands Position beziehen zu können, sah sich Thomas Mann sogar gezwungen, den Schreibtisch tatsächlich als Kanzel zu nutzen und auf religiöse Sprechweisen zurückzugreifen (vgl. Hamacher 2000, 57–74). Die Feinheit, die Differenz und das Detail – so lässt sich sagen − blieben dabei vor allem dem literarischen Werk vorbehalten, das sich den großen Fragen der abendländischen Tradition und den religions- und kulturhistorischen Grund­ lagen der europäischen Kultur widmete. Der Schreibtisch wurde somit zu einem Raum, auf dem Politik und Literatur einander zwar begegneten. Doch er wurde zugleich zu einem Medium der Aufrechterhaltung der Grenzen beider Sphären. Weder gingen die geliebten, durch das Literarische verbürgten Nuancen in die politischen Schriften ein, noch migrierte der Alltag des Exils und der amerikani­ schen Lebenswelt und Tagespolitik – zumindest namentlich – ins literarische Werk.

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2 Der Schreibtisch an Bord Bisher ist die Rede davon gewesen, dass der Schreibtisch Thomas Manns als Selbstvergegenwärtigungs-, Arbeits- und Kommunikationsmedium fungierte und dass er den ständigen Ortswechseln des Dichters im Exil entgegenwirken und Identitätsirritationen kompensieren sollte. Welche Konsequenzen aber hatte es, wenn der Dichter an einen provisorischen Schreibtisch wechselte, der noch dazu in Bewegung versetzt wurde, da er sich auf einem Schiff befand – auf der Passage vom alten Europa in die „Neue Welt“ Amerika? Im Mai 1934, also noch in der Zeit des europäischen Exils, fuhr Thomas Mann gemeinsam mit seiner Frau Katia erstmalig über den Atlantik in die USA, um den Roman Joseph und seine Brüder zu promoten. Die Erfahrungen der zehntägigen Schiffsreise in der ersten Klasse des holländischen Luxusliners „Volendam“ von Bologne-Maritime nach New York City nahm der Dichter zum Anlass, um einen essayistischen Bericht über das, wie er es nannte, „gesittete Abenteuer“ (Mann 2002 [1934], 7) einer Schiffsreise und über das Abenteuer einer Lektüre, der des ersten großen europäischen Romans, Miguel de Cervantes’ Don Quijote, zu ver­ fassen. 5 Mit leichter Hand verknüpft Mann in Meerfahrt mit Don Quijote Kommentare zu seiner Reiselektüre mit den Schilderungen des Mikrokosmos ‚Luxusdampfer‘. Amüsiert über und zugleich fasziniert von der perfekten Organisation und Insze­ nierung der Überfahrt, beschreibt er die mehrgängigen exquisiten Mahlzeiten mit exotischen Früchten, wie die ihm bis dahin unbekannten „Grape fruits“, die Tee­ stunden im Blauen Salon, „hier Social Hall genannt“ (Mann 2002 [1934], 46), samt Bordorchester, das elegante Interieur, das Unterhaltungsprogramm mit Bordzeitschrift, „Cinéma“ (Mann 2002 [1934], 61) und „Shuffle board“ auf dem

5 Die fiktionalisierten Tagebuchaufzeichnungen des Essays, die sich von den privaten Tage­ buchaufzeichnungen der betreffenden Tage unterscheiden und die nach der eigentlichen Reise im August 1934 entstanden, waren zunächst nur für eine Publikation in der Neuen Zürcher Zeitung gedacht, wurden jedoch 1935 in den bei Gottfried Bermann Fischer publizierten Essayband Leiden und Größe der Meister aufgenommen. Sie traten damit an die Stelle eines Aufsatzes über Gerhart Hauptmann, den Thomas Mann aufgrund der Sympathien Hauptmanns mit dem NSRegime zurückgezogen hatte. Nach dem 16. März 1933 hatte Hauptmann eine Loyalitätserklärung der Deutschen Akademie der Dichtung, Sektion der Preußischen Akademie der Künste, mit den neuen Machthabern unterschrieben. Ursprünglich sollte der Band Deutsche Meister heißen, doch mit dem Wegfall des Hauptmann-Essays und mit der Entscheidung, an seiner Stelle Meerfahrt mit Don Quijote aufzunehmen, wurde der Titel in Leiden und Größe der Meister geändert. Der Band erschien 1935 und erlebte noch im selben Jahr zwei weitere Auflagen (vgl. Mann 1982 [1935]).



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Promenadendeck (Mann 2002 [1934], 44) sowie die bunt zusammengewürfelte internationale Reisegesellschaft: holländische Familien, amerikanische EuropaTouristen auf der Rückreise und – ganz nebenbei erwähnt − jüdische Auswande­ rer. Doch gleichsam unter der Hand verwandelt sich der Reisebericht in eine subtile Reflexion über Fragen der Zivilisation, die kulturhistorischen Bedingun­ gen des Nationalsozialismus und die Möglichkeiten des Schreibens im Exil. Es sind zunächst die physischen Erfahrungen der Meerfahrt selbst, die den Dichter beschäftigen. So wie körperlich wahrnehmbare Umstände von Tempera­ tur oder Hunger die Dramaturgie eines Traumes beeinflussen, so gehen unmerk­ lich die bewegte und unsichere Existenzweise im Element des Wassers, das Schwanken und Balancieren in die Gedanken und Reflexionen des Dichters ein: Unausbleiblich der Nervenchoc der ersten Stunden nach Vertauschung der gewohnten sta­ bilen Grundlage mit einer labilen. Es hat tagelang etwas Unglaubwürdiges, eine unter einem wogende, zerweicht sich hebende und wegsinkende Treppe hinunterzugehen: man fasst an den schwindelnd protestierenden Kopf und möchte es einen schlechten Scherz nennen. (Mann 2002 [1934], 18)

Obwohl die Überfahrt tatsächlich bei eher ruhigem Wetter stattfindet und nur sanfte Irritationen nach sich zieht, imaginiert der schiffsreisende Autor – gespeist durch bereits andernorts literarisierte Darstellungen – einen Sturm, der ihn von oben nach unten wirft, der den Gleichgewichtssinn und die festen Orientierungs­ punkte vollständig durcheinanderbringt: Das Betreten des Decks ist verboten, [...] man sieht besser nur durch das stark versicherte Bullauge. Du liegst befestigt in deiner Bettstatt, du steigst, du stürzest, es ist die kompli­ zierte, die Richtungen vermischende, Hirn und Magen umkehrende Taumelbewegung gewisser Marterbelustigungen der Festwiesen. Aus schwindelnder Höhe siehst du deinen Waschtisch auf dich zukommen und auf der wechselnd schiefen Ebene der Kabine treiben sich, karambolierend, in plumpem Reigen deine Koffer umher. Es herrscht ein grauenhaf­ ter, ein Höllenlärm, hervorgerufen teils durch die außen rasenden Elemente, teils durch das kämpfend immer noch vorwärtsstrebende und bis in seine letzten Bestandteile durcheinan­ dergerüttelte Schiff. (Mann 2002 [1934], 10–12)

Es ist bemerkenswert, wie rapide sich aus dem bloßen Verlust einer stabilen Grundlage und einer schwer begehbaren Treppe ein übersteigertes und gerade slapstickartiges Szenario entwickelt. In diesem gerät der Raum in Schieflage, bewegen sich die Gegenstände von selbst und werden im wahrsten Sinne des Wortes zu Möbeln. Der Autor muss sogar das Aufrecht-Sein in der Vertikale mit der horizontalen Existenzweise in einem Bett vertauschen, das darüber hinaus noch steigt und fällt. Die hyperbolische Darstellung stellt den Mann’schen Alp­ traum einer koordinatenlosen Existenzweise dar; steht doch die reale Bewegung

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des nautischen Denkraums in völligem Kontrast zur üblichen beständigen Lebens- und Arbeitsweise und zum soliden Arbeitssetting des Dichters. Doch Thomas Mann beschreibt nicht nur die derart in Bewegung geratene Existenzweise. Er nimmt die physisch wahrnehmbare Erfahrung der doppelten Mobilität – von Osten nach Westen und von unten nach oben – und die Erfahrung des Ausgeliefertseins in der Unendlichkeit des Ozeans auch zum Anlass, um über das Verhältnis von elementarer Natur und Zivilisation zu reflektieren. Immer wieder staunt der Dichter darüber, wie schutzlos die Passagiere den elementaren Gewalten doch eigentlich ausgeliefert würden, wie dünn der Boden zwischen Dampferwelt und Ozean sei. Immer wieder merkt er an, dass die Inszenierungen von Komfort und Großbürgerlichkeit auf dem Schiff die Funktion haben, die trotz allem weiter bestehende Nähe zur elementarischen Natur vergessen zu machen: Auf Vergessen, auf Erzeugung von Gedankenlosigkeit ist alles angelegt auf einer solchen Reise, und aus angeborener Unfolgsamkeit blicke ich zuweilen [...] zum Fenster hinaus und wieder durch das Fenster des Wandeldecks draußen auf die graugrüne, beschäumte Wildnis und den Horizont, der aufsteigt, ein paar Sekunden verweilt und wieder hinabtaucht. (Mann 2002 [1934], 48)

Ohne dass es explizit ausgesprochen werden muss, wird die Meerfahrt auf dem Luxusdampfer zu einem Denkbild für die Fragilität der Zivilisation, die sich zu Beginn der dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts offenbart. Thomas Mann stellt die Frage, ob die Werte der Zivilisation – wie Wohlstand, Bildung, Ästhetik, Internationalismus und Toleranz −, die auf dem Dampfer beschworen werden, Bestand haben inmitten einer zivilisationsmüden Welt, die sich eben anschickt, in eine vorzivilisatorische Barbarei zurückzufallen; oder aber ob die Insignien der Zivilisation nur noch die exklusiven Vorrechte einer großbürgerli­ chen Klasse darstellen, der, wie mehrfach betont wird, nur spärlich besetzten „ersten Klasse“. Und Thomas Mann geht noch einen Schritt weiter. So spürt er seiner eigenen Faszination für die Fährnisse der Seereise nach, die entsteht, gerade weil die See­ reise sich niemals gänzlich von den elementaren Gewalten emanzipieren lässt. Die Reise mit dem Schiff hat „trotz vollendetem Komfort etwas Primitives, dem Element Überlasseneres, Unexakteres, auf den Zufall Gestellteres behalten“ (Mann 2002 [1934], 71). Kaum ist die Faszination ausgesprochen, wird sie vom Autor auch schon kritisch befragt: Setzt sich auch bei mir in diesem Gefallen, auf gut deutsch, der Überdruß am Mechanismus der Zivilisation durch, − die Neigung, ihn aufzugeben, ihn zu verleugnen, ihn als tödlich für Seele und Leben zu verwerfen und eine Daseinsform zu bejahen und suchen, welche dem Primitiven, Elementaren, Ungesicherten, Kriegsmäßig-Improvisierten und Abenteuerlichen



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wieder näher wäre? Spricht auch aus mir die überall grassierende Begier nach dem „Irrati­ onalen“ […]? (Mann 2002 [1934], 71)

Thomas Mann fühlt sich an sein eigenes philosophisches Kokettieren mit dem Irrationalismus erinnert, das, angeregt durch eine emphatische Nietzsche-Lek­ türe, in den zehner Jahren in jener Zivilisationskritik und in einer Faszination für den Mythos seinen Ausdruck fand. Doch anders als die tonangebenden „Möchte­ gern-Barbaren“ der Gegenwart, die auch auf diese Tradition rekurrierten, aber das „Herumtrampeln auf Vernunft und Zivilisation“ (Mann 2002 [1934], 72) ein­ seitig zum Programm erhoben hätten, hält sich Mann zugute, eine Vereinigung von Irrationalem und Rationalität, von Mythos und Vernunft angestrebt zu haben. Sieht er doch seine Literatur, wie den gerade im Entstehen begriffenen „Joseph“-Roman, als Versuch an, den „Mythus“ zu „humanisiere[n]“ (Mann 2002 [1934], 72). Das heißt also, dass Thomas Mann, angeregt durch die leiblich wahr­ nehmbaren Fährnisse und die nautischen Konditionen seiner „Meerfahrt“ die Dialektik von Natur und Zivilisation sowie von Mythos und Aufklärung neu durchdenkt. Er räumt ein, dass die als ‚Möchtegern-Barbarei‘ chiffrierte national­ sozialistische Ideologie wohl als Teil einer ‚gut deutschen‘ Tradition zu gelten hat, in die der Intellektuelle Mann seiner Einschätzung nach selbst involviert war. So wie das körperliche Ausgesetzt-Sein auf dem Ozean die Frage nach der Verlässlichkeit der zivilisatorischen Apparaturen und der kulturellen Errungen­ schaften der Zivilisation aufruft, so wird der bewegte Schreibtisch im Arbeitszim­ mer des Ozeandampfers zum Auslöser, die Bedingungen des vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Schreibens auszuloten: Was ich tue, sollte ich nicht tun, nämlich gebückt sitzen und schreiben. Es trägt zum Wohl­ sein nicht bei, denn das Meer ist, wie unsere amerikanischen Tischgenossen sagen, „a little rough“, und die Schwankungen des Dampfers, denen man Ruhe und Gemessenheit zubilli­ gen muß, laden in dem oberen Stockwerk, wo dies Schreibzimmer gelegen ist, natürlich empfindlicher aus als weiter unten. Durch das Fenster zu sehen, ist nicht wohlgetan, denn das Steigen und Wegsinken des Horizontes setzt dem Kopf auf eine aus früherer Erfahrung vertraute, aber vergessene Weise zu; doch ist auch das Niederblicken auf Papier und Schrift nicht von der glücklichsten Wirkung. Sonderbarer Eigensinn, die Lebensgewohnheit, nach der Morgenbewegung, dem Frühstück stilistisch tätig zu sein, auch gegen so widrige Umstände durchzusetzen. (Mann 2002 [1934], 16)

Allen Unannehmlichkeiten zum Trotz bemüht sich Thomas Mann, wie er hier selbstironisch konstatiert, auch an Bord die bereits geschilderten Routinen des Schreibens beizubehalten und den alltäglichen Stundenplan seines ‚normalen‘

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Lebens auf dem Dampfer „Volendam“ möglichst weitgehend einzuhalten. Die Beeinträchtigungen des Schreibens am bewegten Schreibtisch aber – die Erfah­ rung des gebückten Sitzens und des Verlustes des stabilen Horizonts – führen dem Dichter noch einmal vor Augen, wie existenziell abhängig sein Schreiben tatsächlich von den gewohnten Schreibsettings und -praktiken ist. Und plötzlich steht zwischen den Zeilen die Frage im Raum, ob das Schreibprovisorium des Exils, das zu diesem Zeitpunkt – 1934 − von Thomas Mann noch als vorüberge­ hend angesehen wird, sich verstetigen wird. Welchen Bedingungen wird das Sch­ reiben zukünftig unterworfen sein? Welchen Preis wird es kosten, jenseits des Zuhauses und widrigen Umständen zum Trotz den Blick weiter auf „Papier und Schrift“ zu heften? Wird es möglich sein, das Dichten in der Fremde mit größter Beharrlichkeit genau fortzusetzen wie eh und je, unberührt von Beeinträchtigun­ gen, die der politischen Realität geschuldet sind? Auch wenn der Essayist Mann die Fragen nicht expliziert und sich deutlich bemüht, die anekdotischen und touristischen Seiten der Schiffreise hervorzuhe­ ben; auch wenn er die Kurzzeitigkeit und das Transitorische des kommenden Auf­ enthalts in der Fremde, in den USA, betont, finden die Zeichen einer Verunsiche­ rung über den gegenwärtigen und zukünftigen Ort als Dichter kein Ende. In einer zentralen Szene kommt deutlich die Furcht zum Ausdruck, die Passage in die USA könne tatsächlich ein endgültiger Abschied aus der Heimat sein, einer Heimat, deren Bedeutung immer zweifelhafter wird. Während einer Notfallübung an Bord, an der Katia und Thomas Mann belustigt und neugierig teilnehmen und die Mann interessiert, weil sie inmitten des „übertünchende[n] Komfort[s]“ an den eigentlichen „Ernst der Lage“ (Mann 2002 [1934], 28) erinnert, gerät ein Oberste­ ward ins Visier des Dichters. Der uniformierte „joviale[] Dutchman“ (Mann 2002 [1934], 30), der auf dem offenen Promenadendeck routiniert durch das Prozedere der Übung führt, erläutert so „leichthin und gemütlich den Vorgang des Einboo­ tens“ (Mann 2002 [1934], 30), dass der durchaus mögliche Ernstfall wie eine Spa­ zierfahrt erscheint. Als er die Schilderung mit den Worten „und dann […] bringe ich Sie nach Haus“ (Mann 2002 [1934], 30) beendet, hallt die unschuldig-naive Wendung im Dichter nach: Nach Haus, sonderbare Formulierung! Es klingt, als sollten wir ihm auf den Wellen unsere Adresse sagen, und dann fährt er uns hin mit dem Rettungsboot. Nach Haus, was heißt das überhaupt? Soll es heißen: Küsnacht bei Zürich im Schweizerland, wo ich seit einem Jahr wohne und mehr zu Gast als zu Hause bin, so daß ich’s als rechtes Ziel für ein Rettungsboot noch nicht ansehen kann? Bedeutet es, weiter zurück, mein Haus im Münchner Herzog­ park, an der Isar, wo ich meine Tage zu beschließen gedachte, und das sich auch nur als vorübergehendes Obdach und pied-à-terre erwiesen hat. Nach Haus – das müßte wohl noch weiter rückwärts gehen, ins Kinderland und ins Lübecker Elternhaus, das an seinem Platze steht und doch tief versunken ist ins Vergangene. Sonderbarer Bootsführer und Rettungs­



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mann mit deiner Brille, deinen goldenen Triangeln auf den Ärmeln und deinem unbe­ stimmten „Nach Haus“! (Mann 2002 [1934], 30–31)

Inmitten der eher konventionellen Narration von den vielfältigen Häusern, die ein Mensch im Laufe seines Lebens besitzt, bewohnt und verlässt, vom Eltern­ haus bis zum Alterssitz, machen sich also kleine Risse bemerkbar. Auch wenn Thomas Mann das Wort „Exil“ explizit nicht nennt – wie übrigens an keiner Stelle des „Meerfahrt“-Textes −, machen seine Fragen deutlich, dass die Bedeutung der Formel „nach Haus“ mit der Expatriierung des Dichters ihre Unschuld verloren hat. Nicht nur wird es kein Rettungsboot geben, das die Gestrandeten zurück nach Deutschland bringen kann, noch sind die Orte der Heimat dieselben geblie­ ben. Sie stehen zwar noch „an ihrem Platz“, heißt es, aber ihre Funktion als Schutz und Obdach sei „versunken […] ins Vergangene“. Einmal mehr wird dabei deutlich, dass der Schreibtisch Thomas Manns, um den herum sich ja die Ordnung der heimischen Häuser stets gruppiert hatte, als reales pars pro toto der aufgege­ benen Häuser diente und als solches zum Zentrum der Reetablierung und Behei­ matung in der Fremde werden konnte. Im Zuge der leibhaftig erfahrenen Instabilität und mit der sukzessiven Umco­ dierung der eher touristischen Dienstreise zur Probefahrt für die Emigration bekommt auch der Terminus der „Reiselektüre“ eine neue Bedeutung. Je mehr der Dampfer „Volendam“ sich von Europa entfernt, bei dem man nie wisse, was es „anstellt, kaum daß man den Rücken kehrt“ (Mann 2002 [1934], 68), desto wichtiger wird die europäische Kulturtradition als innerer Bezugspunkt. Zwi­ schen den täglichen Aufzeichnungen und den Zerstreuungen an Bord wendet sich Mann regelmäßig den „vier orangefarbenen Leinenbändchen“ (Mann 2002 [1934], 7) des Romans Don Quijote zu, der für ihn im Laufe der Lektüre immer mehr zum richtungsweisenden „Volks- und Menschheitsbuch“ (Mann 2002 [1934], 25) wird. Der Weltreisende ist erfreut, ja entzückt über dieses „Meer von Erzählung“ (Mann 2002 [1934], 16), das als erster moderner europäischer Roman bereits sämtliche Spielarten der Fiktion virtuos beherrscht. Thomas Mann bewun­ dert die gleichsam „romantisch-humoristische[n] Stilmittel“ (Mann 2002 [1934], 20), wie die Verfasserfiktion, mit der Cervantes den Romantext als bloße Überar­ beitung des arabischen Manuskriptes eines Mauren namens Cide Hamete Benen­ geli behauptet. Und er amüsiert sich über die abenteuerliche Metalepse, in der die literarischen Figuren des zweiten Teils sich über den Erfolg des ersten Teils in der realen Welt unterhalten (vgl. Mann 2002 [1934], 36). Je tiefer aber Thomas Mann in die Lektüre einsteigt, desto stärker interessiert er sich auch für die poli­ tischen Spuren im Roman. Von zentraler Bedeutung ist die Episode vom Morisken Ricote. Ähnlich wie schon Heinrich Heine in seinem Cervantes-Aufsatz (vgl. Heine 1997, 149–170) ver­

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sucht auch Thomas Mann, die politische Widersprüchlichkeit Cervantes’ heraus­ zuarbeiten, der einerseits Soldat und treuer Untertan Philipps III. war und sich andererseits als Dichter eine kritische Distanz zu bestimmten politischen Ent­ scheidungen seines Königs, wie den grausamen Verfolgungen der Reconquista, bewahrte. Beinahe Wort für Wort erzählt Mann die zu Herzen gehende Geschichte des Mauren Ricote nach, der im Zuge der grausamen Edikte sein Vaterland verlas­ sen muss, es aber vor Heimweh kaum aushält und sich in Pilgerkleidung wieder in Spanien einschleicht. Thomas Mann bewundert den literarisch-ideologischen Kniff Cervantes’, der gerade dem verfolgten Morisken königsloyale und versöh­ nende Worte in den Mund legt und so ausgerechnet den expatriierten Mauren zum treuesten Untertanen seiner Majestät macht. Es ist deutlich, warum auf der Schiffspassage das „Weltbuch“ Don Quijote zu einer Art ‚Weltkarte‘ für Thomas Mann wurde. Beschäftigte den Autor doch in jenen Wochen sehr, wie sich die Konzepte der nationalen Identität in den frühen dreißiger Jahren im öffentlichen Diskurs der deutschen Gesellschaft maßgeblich geändert haben, etwa indem den Juden, den Vertretern der politischen Linken und den liberalen Intellektuellen zuallererst der Anspruch auf eine ‚deutsche‘ Identität und Staatsangehörigkeit streitig gemacht wurde. Wiederholt hatte Thomas Mann, wenn er sich an die neuen Machthaber gewendet hatte – so im Schreiben an das „Reichsministerium des Inneren, Berlin“ vom 23. April 1934 −, „durch Kränkungen herausgefordert“ gesehen, sich selbst als „deutsche[n] Schriftsteller“ bezeichnen und sich rechtfertigen zu müssen, dass er „seinem Vaterlande niemals Unehre gemacht“ (Mann 1986 [1934], 116) habe. Doch die „Ricote“-Episode spiegelt nicht nur die Gegenwart, sondern sie weist auch in die nahe Zukunft − darauf nämlich, dass auf den Akt der symboli­ schen „Ausstoßung“ (Mann 1986 [1934], 112), wie Mann in der Ricote-Passage for­ muliert, die reale „Ausmerzung“ folgt. Insofern wird das „Weltbuch“ für den expatriierten Dichter auf der Reise ins Ungewisse zu einem inneren Koordinaten­ kreuz: Inmitten der unsicher gewordenen kulturellen Grenzen und Horizonte ermöglicht es Orientierungspunkte − und zwar indem es die herrschende Logik des Unrechts aufzeigt und ausspricht.

3 Der Schreibtisch als Museumsstück Heute steht der Schreibtisch Manns im Museum des Thomas-Mann-Archivs in Zürich: genauer im sogenannten „Gedenkzimmer“, welches eine Rekonstruktion des Mann’schen Arbeitszimmers samt Bibliothek darstellt. Die Homepage des Archivs verspricht dem Besucher des Zimmers, des „Herzstück[s] des Museums“, eine Nähe zum Dichter: „Betritt man den Raum, wähnt man sich unmittelbar in



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Abb. 3: Rekonstruktion von Thomas Manns Arbeitszimmer samt Schreibtisch mit Absperrkordel im Zürcher Thomas Mann-Museum.

die Arbeitsatmosphäre des grossen [sic!] Schriftstellers versetzt!“ (Thomas-MannArchiv, Zürich). Das Angebot entspricht gängiger literaturmusealer Praxis. Setzt diese doch auf die Aura des Interieurs, die dadurch entsteht, dass das Interieur metonymisch – nämlich durch Berührung und Gebrauch – mit dem Autor ver­ bunden ist. Die Besichtigung der originalen Schreibwerkstatt will dabei dem Bedürfnis der Besucher entgegenkommen, einen Einblick in die ‚Blackbox‘ der literarischen Produktion, in den unsichtbaren Schaffensprozess zu gewinnen. So wie das Ensemble der Gegenstände auf dem Schreibtisch Thomas Manns einst als Privatmuseum des Dichters fungierte, so hat der Schreibtisch als Ganzer mit seinem Einzug ins Dichter-Museum nun selbst den Status eines Museums­ stücks erhalten. Er ist damit zu einem „Semiophor“ im Sinne der Museumstheo­ rie geworden (vgl. Pomian 1988, 49–50). Zu einem Gegenstand also, der, seiner früheren Gebrauchsfunktion beraubt, nur mehr als Zeichen für Abwesendes fun­ giert: hier für den Dichter Thomas Mann und sein Schreiben. Diese neue Funk­ tion erlaubt es, das fortzusetzen, was sich auch bei Inge Jens andeutet: die Kon­ vertierung des einstigen Mediums Schreibtisch für seinen Benutzer in ein Symbol für die Nachlebenden. Dass dieser Vorgang nicht ganz unproblematisch ist, weil er der Idealisierung Vorschub leistet, zeigen die Worte des langjährigen Leiters des Archivs, Thomas Sprecher. Dort wird der Schreibtisch geradezu zum Sieges­ zeichen des künstlerisch wie moralisch integren Dichtergenies Thomas Mann

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nobilitiert. Sieht Sprecher doch in Manns Schreibtisch gar ein „Symbol für das Überleben, das Siegen also, und als solches Grund zu tiefster Genugtuung. [...] Der Schreibtisch avancierte zum Symbol der Lebens- und Schaffenseinheit, der Beständigkeit, Festigkeit, Unbeirrbarkeit, ja einer letzten triumphalen Unberühr­ barkeit“ (Sprecher 2002, 97). Bei so viel auratischer und symbolischer Aufladung wundert es nicht, dass Thomas Manns Schreibtisch sogar einen Doppelgänger erhalten hat. Gemeint ist der Film-Schreibtisch, der für den dreiteiligen deutschen Fernsehfilm von Hein­ rich Breloer Die Manns. Ein Jahrhundertroman (2001) exakt nachgebaut wurde. Und mehr noch: Das Film-Arbeitszimmer und der Film-Schreibtisch, die nach den Dreharbeiten über zehn Jahre lang im Depot der „Bavaria Film“ gestanden hatten, wurden 2013 vom Münchner Thomas-Mann-Forum erworben. Das Ensem­ ble befindet sich nun im Feldafinger Thomas-Mann-Museum (vgl. Feldafinger Thomas-Mann-Museum), in dem ‚Villino‘ genannten Haus, das Thomas Mann in seiner Jugend mehrmals bewohnte. Es steht dort – wie in der Museumsbeschrei­ bung zu lesen – „samt Fotos all derjenigen Orte der Welt, an denen das Original seinem Besitzer zur Rettungsinsel hatte werden können“ (Heißerer 2013). Noch das Double des Schreibtischs kann also die Verbindung zum abwesenden Autor herstellen und atmosphärisch wirken. Und so mag man sich freuen, wenn andernorts die Stillstellung des Schreib­ tisches als Symbol und die Erhöhung als auratisches Objekt konterkariert werden, wenn nämlich der Schreibtisch zum Anlass wird, weiterhin Geschichten zu gene­ rieren. Im Berliner Museum der Unerhörten Dinge befindet sich neben Exponaten wie dem Beuys’schen „Urhasen“ und zwei Rollen aus Walter Benjamins Schreib­ maschine, mit der dieser seinen „Kunstwerk“-Aufsatz geschrieben habe – jenen Aufsatz, der den Begriff der „Aura“ in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt hat –, ein Stein. Diesen Stein habe Thomas Mann, so die Informationen zum Aus­ stellungsobjekt, im Sommer 1925 am Strand von Ahlbeck auf Usedom gefunden. „Liebe Gertrude“, wird aus einem Brief aus demselben Jahr an eine gewisse Ger­ trude Rauf zitiert, „seit ich einen Stein am Strand gefunden, ihn mitnahm und selbigen heute in meiner Hosentasche fand, ist mir wohler ...“. Seitdem, so infor­ miert das Museum, lag der Stein auf allen Schreibtischen Thomas Manns, und zwar exakt „rechts von ihm, ca. 20 cm vom Schreibtischrand entfernt“, und begleitete ihn „durch die meisten Länder und Bücher“ (Museum der Unerhörten Dinge). Weiter heißt es im Begleittext: Für Thomas Mann muss dieser Stein große Bedeutung gehabt haben. Zu denken wäre an einen inspirierenden Fetisch, an eine Beseelung des Steines, an einen klassischen Über­ gangsgegenstand und oder Ähnliches. [...] Vielleicht war es für Thomas Mann die Brust der Muse, aber er muss unter dem Stein auch gelitten haben, denn anders ist der Satz „...ich



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Abb. 4: Erdbrust-Stein aus dem Museum der Unerhörten Dinge (Berlin). kann von meinem Stein nicht lassen...“, den er 1938 in einem Brief an Arnold Schönberg schrieb, nicht zu verstehen. [...] In seinem Werk tauchen immer wieder Hinweise auf diesen Stein auf: „...Ihre Brust war so rund wie ein Stein...“, ‚...das Nährende eines Steines...‘, beide Dr. Faustus, „...Er umfasste die Brust wie einen weichen Stein...“, Krull, „...die Warze des Steines...“, 3. Band Joseph, „...sie ließ ihn an die Härte seiner Mutter denken...“, Budden­ brooks [...]. Die größte Huldigung dieses seines Steines liest sich in seinem Spätwerk ‚Der Erwählte‘. Eine ernährende Brust aus Stein wird dort zum zentralen Überlebensgegenstand. [...]. Drei Seiten lang beschreibt Thomas Mann im ‚Erwählten‘ ausführlichst die Erdenbrust und es kann angenommen werden, dass diese Hingabe an einen Stein, das Bekenntnis dazu und ihre Verarbeitung zu einem Wesentlichen eines Romans nur in einem Alterswerk, im Zuge der Altersweisheit, umgesetzt werden und gelingen kann. Nach dem Roman ‚Der Erwählte‘ tauchen weder in Briefen noch sonst im Geschriebenen Thomas Manns Hinweise auf einen Stein auf.

„Obwohl“ – so endet der Kommentar des Museums – „obwohl dieser noch lange Zeit auf seinem Schreibtisch lag“ (Museum der Unerhörten Dinge). Gekonnt parodieren die Kuratoren des Museum der Unerhörten Dinge den Schreibtischkult und den häufig fetischisierenden Umgang mit nachgelassenen Dingen berühmter Autoren in vielen Literaturmuseen; gekonnt persiflieren sie den Diskurs biografisch-psychologisierender Philologen, die bisweilen einen Kurzschluss von Ding, Dichter und Deutung herstellen. Aber ein solcher Einwurf kann wohl nur in humorvoller Weise geschehen. Denn es gibt wohl keine Litera­ turwissenschaftler/innen, deren Interesse am Materiellen des Schreibwerkzeugs und an schreibhistorischen Gegenständen sich nicht auch der Aura des Originals

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schuldete. Ist diese Aura doch an die Qualität der „Echtheit einer Sache“ gebun­ den, die „der Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft“ (Benjamin 1980, 477) ist. Und die Echtheit von materiellen Dingen und damit auch von SchreibDingen steigt in dem Maße im Kurs, in dem sich der Schreibprozess durch den Gebrauch von elektronischen Medien der Sichtbarkeit einmal mehr entzieht.

4 Schluss Es konnte gezeigt werden, in welcher Weise der Schreibtisch für den Dichter Thomas Mann das war, was er wohl – wenn auch in unterschiedlicher Akzentuie­ rung – für jeden Autor, jede Autorin ist: nämlich ein Instrument des Schreibens, eine Fläche für Verräumlichung und Anordnung der Arbeitsprojekte und ein Raum für die Sammlung von Schreibwerkzeug und Erinnerungsstücken. Es wurde nachvollzogen, wie dem Schreibtisch im Verlaufe des Exils noch weitere Funktionen zukamen. So geriet er – als materielles Relikt des heimischen Arbeits­ zimmers aus der Zeit vor der Emigration – für Thomas Mann selbst immer mehr zum Beweis für die Kontinuität der deutschen Kultur außerhalb Deutschlands. Und er wurde, was noch wichtiger ist, zum Medium, mit dem der Dichter diese Kontinuität herzustellen und die eigene Identität aufrechtzuhalten versuchte. Der Schreibtisch in seiner physischen Unversehrtheit und Stabilität half Mann, inmitten des politischen und räumlichen Wandels seine gewohnte Arbeitshal­ tung einzunehmen und somit auch seine symbolische Position als Autor zu reetablieren, aus der heraus es ihm möglich war weiterzuschreiben. In einer gegenstrebigen Fügung konnte gezeigt werden, wie Thomas Mann in seinem autobiografischen Reiseessay Meerfahrt mit Don Quijote die Konse­ quenzen eines buchstäblich in Bewegung geratenen Arbeitszimmers samt insta­ bilem Schreibtisch imaginierte. Es ist deutlich geworden, dass dem Schriftsteller die im wörtlichen Sinne verkehrten Lebensbedingungen an Bord eines Dampfers zum Anlass wurden, um über das Verhältnis von elementarer Natur und Zivilisa­ tion zu reflektieren. Die misslichen und zunächst als eher kurios empfundenen Schreibbedingungen im Bord-Arbeitszimmer münden dabei unversehens in Reflexionen über das Beheimatet-Sein und schließlich das Exil. Und aus der bloßen Reiselektüre des Don Quijote wird ein „Weltbuch“, das eine ganze Biblio­ thek ersetzen und gleichsam als Quellcode der europäischen Kultur der Gegen­ wart dienen kann. Die nachträgliche Musealisierung des realen Schreibtischs Thomas Manns wirft schließlich die offene Frage auf, ab wann genau die Wertschätzung der ‚Dinge der Dichter‘ im Literaturmuseum in eine Fetischisierung umschlägt. Mit



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ihr verknüpft ist die weitere Frage, inwieweit es den Literatur- und Kulturwissen­ schaften im Zuge des ‚Material Turns‘ und der Schreibszenen-Forschung gelingt, einer solchen Bewegung entgegenzuwirken und die Beziehungen von ‚Dichter­ schreibtisch‘, Autorschaft und poetischem Prozess in ihrer Dialektik herauszu­ stellen.

Literaturverzeichnis Benjamin, Walter. „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935)“. Gesammelte Schriften, Bd. I.2. Hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1980. 471–508. Daston, Lorraine, und Katharine Park. Wunder und die Ordnung der Natur 1150–1750. Berlin: Eichborn, 2002. Die Manns – Ein Jahrhundertroman. Reg. Heinrich Breloer. Deutschland: Westdeutscher Rundfunk 2001. Feldafinger Thomas-Mann-Museum. http://www.feldafing.de/index.php5?link_ id=49&anzeige=tourismus&s=3_8 (23. November 2016). Hamacher, Bernd. „Die Poesie im Krieg. Thomas Manns Radiosendungen „Deutsche Hörer!“ als Ernstfall der Literatur“. Thomas-Mann-Jahrbuch 13 (2000): 57–74. Hansen, Volkmar. „,Where I am, there is Germany.‘ Thomas Manns Interview vom 21. Februar 1938 in New York. Textkonstitution bei mündlicher Überlieferung“. Textkonstitution bei mündlicher und schriftlicher Überlieferung. Hg. Martin Stern. Tübingen: Niemeyer, 1991. 176–188. Heine, Heinrich. „Miguel Cervantes de Saavedra. Der sinnreiche Junker Don Quixote von La Mancha (1837)“. Sämtliche Schriften. Hg. Klaus Briegleb. Bd. 4. München: dtv, 1997. 149–170. Heißerer, Dirk. „Wo er stand, war Deutschland“. Münchner Abendblatt, 29. Dezember 2013. Jens, Inge. Am Schreibtisch. Thomas Mann und seine Welt. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 2013. Lubich, Frederick Alfred. „Probleme der Übersetzung und Wirkungsgeschichte Thomas Manns in den Vereinigten Staaten“. Weimarer Beiträge 39.3 (1993): 464–477. Mann, Thomas. „An das Reichsministerium des Inneren, Berlin (23. April 1934)“. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe. Hg. Peter de Mendelssohn. Bd.1: An die gesittete Welt. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1986. 111–124. Mann, Thomas. „Leiden an Deutschland. Tagebuchblätter aus den Jahren 1933 und 1934. (1946)“. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe. Hg. Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1986. 7–90. Mann, Thomas. „Leiden und Größe der Meister. Goethe, Richard Wagner, Platen, Cervantes, Theodor Storm (Berlin 1935)“. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hg. Peter de Mendelssohn. Frankfurter Ausgabe, Bd. 8. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1982. Mann, Thomas. Meerfahrt mit Don Quijote (1934). Frankfurt a. M.: Fischer, 2002. Mann, Thomas. Tagebücher 1933–1934. Hg. Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M.: Fischer, 2003a. Mann, Thomas. Tagebücher 1937–1939. Hg. Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M.: Fischer, 2003b.

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Abbildungsnachweis Cover: Panoramaaufnahme des Arbeitszimmers von Friederike Mayröcker, © Bodo Hell. S. 49: Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle (Saale), Sign. Pon Wc 1167 (1), © ULB Halle. S. 53: © Klassik Stiftung Weimar. S. 66: Archiv Louis Held, © Stefan Renno. S. 67: SLUB Dresden/Deutsche Fotothek, © Richard Peter sen. S. 68: Fotoatelier Louis Held, © Stefan Renno. S. 71: SLUB Dresden/Deutsche Fotothek, Foto Klaus G. Beyer, © Constantin Beyer, Weimar. S. 94: © Christian Neuhuber. S. 97: © Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, Aut-H.I.N.-64237. S. 100: © Klassik Stiftung Weimar, GSA 10/3,1, p. 33. S. 108: © OÖ. Literaturarchiv/Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich. S. 109: © Archiv der Stadt Linz. S. 112: Foto Max Eiersebner, © Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich. S. 113 oben: © Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich. S. 113 unten: Foto Otto Saxinger, © Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich. S. 116: © Adalbert Stifter-Gesellschaft, Wien. S. 120: © OÖ. Literaturarchiv/Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich. S. 121: © OÖ. Literaturarchiv/Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich. S. 126: Creative Common License Michael Eisenriegler, https://www.flickr.com/photos/ mikeemesser/15941752879/in/photolist-6piqNE-qhBjJ5-qz6whW-qhHBYc-qhBjuY-qh AGwo-pCaLmm-qhHDJg-pCaKU9. S. 130: gemeinfrei. S. 145–158: © Cambridge University Library, Schnitzler Papers. S. 164: © Steiermärkische Landesbibliothek. S. 166: © Steiermärkische Landesbibliothek. S. 169: Steiermärkische Landesbibliothek, © Franz J. Böhm. S. 171: Rosegger-Museum Krieglach, © Gerhard Fuchs. S. 173 oben: © Gerhard Fuchs. S. 173 unten: © Barbara Pflaum, Imagno. S. 176: © Gerhard Fuchs. S. 177: © Barbara Pflaum, Imagno. S. 178: © Barbara Pflaum, Imagno. S. 179: © Gerhard Fuchs. S. 180: © Gerhard Fuchs. S. 190: Actes Sud, © Bildrecht, Wien, 2016. S. 192: Actes Sud, © Bildrecht, Wien, 2016. S. 195: Actes Sud, © Bildrecht, Wien, 2016. S. 196: Actes Sud, © Bildrecht, Wien, 2016. S. 200: © Wolf Kittler. S. 211: © Wolf Kittler. S. 212: © Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld. S. 216: © ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv, Fotograf: Frank Blaser. S. 218: © ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv, Fotograf: Frank Blaser.

DOI 10.1515/9783110466850-015, © 2017 Klaus Kastberger, Stefan Maurer. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 License.

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 Abbildungsnachweis

S. 229: © Jörg Schmitt / dpa Picture Alliance / picturedesk.com. S. 231: © Museum der Unerhörten Dinge (Berlin), Roland Albrecht.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Petra-Maria Dallinger, Leiterin des Adalbert-Stifter-Institutes/StifterHauses des Landes Ober­ österreich. Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Wien. Arbeiten zu mediävistischen bzw. geschlechterspezifischen Themen. Lehrtätigkeit an der Universität Wien und der Kunstuniversität Linz. 1992 Promotion und Tätigkeit in der Direktion Kultur des Landes Oberösterreich. Bandherausgeberin der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Adalbert Stifters, Kuratorin von Ausstellungen. Konstanze Fliedl, Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Wien. Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Theologie an der Universität Wien, Dis­ sertation über Elisabeth Langgässer, Habilitation 1997 mit einer Arbeit über Arthur Schnitzler. Seit 1998 Präsidentin der Arthur Schnitzler-Gesellschaft, Forschungsaufenthalte in Marbach am Neckar, Cambridge, Harvard und Yale sowie zahlreiche Gastdozenturen an diversen euro­ päischen Universitäten. Seit 2014 wirkliches Mitglied der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Herausgeberin der Historisch-kritischen Ausgabe des Frühwerks Arthur Schnitzlers bei de Gruyter. Gerhard Fuchs, Assistenzprofessor für Germanistik am Franz-Nabl-Institut und Lehrbeauftragter am Institut für Germanistik der Karl-Franzens-Universität Graz. Mitherausgeber der Buchreihe Dossier u. a. zu H. C. Artmann, Peter Handke, Peter Rosei, Hans Lebert, Werner Schwab, Peter Henisch, Norbert Gstrein und Reinhard P. Gruber. Diverse Publikationen zur österreichischen und steirischen Literaturgeschichte. Georg Hofer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Adalbert-Stifter-Institut/StifterHaus des Landes Oberösterreich. Studium der Deutschen Philologie an der Universität Wien. Doktoratsstudium Germanistik (Neuedition der spätmittelalterlichen Moraldidaxe Des Teufels Netz). Arbeiten an Literaturausstellungen, Symposien und Publikationen. Christiane Holm, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Germanistischen Institut der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg. Promotion mit der Untersuchung Die Arbeit am Mythos von Amor und Psyche zwischen Text, Bild und Alltagskultur von 1765 bis 1840. Forschungen zu Text- und Dingkulturen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Teilprojektleiterin im BMBF-Verbund „Parerga und Paratexte“, Kuratorin von Ausstellungen, z.B. zum Tagebuch oder zur materiellen Kultur der Weimarer Klassik. Bernhard Judex, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Adalbert-Stifter-Institut/StifterHaus des Landes Ober­österreich. Studium der Deutschen Philologie sowie Publizistik- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Salzburg. 2002 Dissertation Utopisches Wasser und Literatur. Eine Poetologie des Flüssigen. 2003 bis 2007 Aufarbeitung und Erschließung des Nachlasses von Johannes Freumbichler, 2006 bis 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Thomas-Bernhard-Archiv (Gmunden). Publikationen zu Thomas Bernhard (u. a. Bandherausgeber der Thomas Bernhard Werkausgabe) sowie zur deutschsprachigen Literatur der Moderne.

DOI 10.1515/9783110466850-016, © 2017 Klaus Kastberger, Stefan Maurer. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 License.

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 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Klaus Kastberger, Professor für Neuere deutschsprachige Literatur am Franz-Nabl-Institut der Karl-Franzens-Universität Graz und Leiter des Literaturhauses Graz. Von 1996 bis 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek und Privatdozent an der Universität Wien. Arbeit als Literaturkritiker u. a. für Falter, Die Presse und ORF. Juror beim Bachmannpreis 2015 und 2016. Kuratierung von Ausstellungen und Veranstaltungsreihen, Leitung mehrerer FWF-Forschungsprojekte, darunter www.handkeonline.onb. ac.at. Zahlreiche Bücher, Aufsätze und Vorträge v. a. zur österreichischen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Herausgeber der historisch-kritischen Ausgabe Ödön von Horváths (ab 2009 bei de Gruyter, als Leseausgabe bei Reclam). Wolf Kittler, Professor für Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der University of California, Santa Barbara. Studium der Germanistik und Romanistik in Freiburg und Toulouse. 1979 Promotion an der Universität Erlangen-Nürnberg. 1986 Habilitation an der Albert-LudwigsUniversität Freiburg. Lehre u. a. an den Universitäten Erlangen-Nürnberg, Freiburg, Konstanz, München, Berlin, Cornell und Princeton. Forschungsschwerpunkte u. a. westliche Literatur von der griechischen Antike bis zur Gegenwart, Philosophie, Wissenschaftsgeschichte, Medientechnologien, Kritische Theorie. Susanne Knaller, Außerordentliche Universitätsprofessorin am Institut für Romanistik der KarlFranzens-Universität Graz. Studium der Romanistik und Germanistik an der Universität Graz. Promotion im Fach Romanistik, 2002 Habilitation an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt a. M. Seit 2013 Leiterin des Zentrums für Kulturwissenschaften an der Karl-FranzensUniversität Graz. Stefan Maurer, Universitätsassistent am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung. Studium der Germanistik, Theaterwissenschaften und Philosophie an der Universität Wien. 2010 bis 2014 Mitarbeiter des FWF-Projekts „Diskurse des Kalten Krieges“. 2014/15 Austrian Ministry of Science Fellow am Center Austria, New Orleans. Dissertation zum österreichischen Literatur­ betrieb nach 1945. Forschungsschwerpunkte u. a. österreichische Literatur nach 1945 und Kalter Krieg. Christian Neuhuber, Dozent für Neuere deutsche Literatur an der Karl-Franzens-Universität Graz und Mitarbeiter des Franz-Nabl-Instituts für Literaturforschung. Studium der Germanistik, Kunst­ geschichte und Deutsch als Fremdsprache an der Universität Graz. Lektor an der Universität Olmütz (1996–2001). 2001 Promotion mit Das Ernste in der Komödie. Ab 2002 Lehrbeauftragter und Forschungsassistent am Grazer Institut für Germanistik. 2008 Habilitation zum Problem der Bildlichkeit in Büchners Lenz. Arbeitsschwerpunkte u. a. Literatur des Barock, Editionsphilologie, Theaterwissenschaft und Dialektkultur. Annegret Pelz, Universitätsprofessorin für Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Wien. 1990 Promotion an der Universität Hamburg. 1986 bis 2007 Lehrtätigkeit u. a. an den Universitäten Potsdam, Hamburg, Oldenburg und Tübingen. 2001 bis 2002 Vertretungsprofessur für Medienwissenschaft und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Paderborn. 2003 Habilitation an der Universität Paderborn mit Tischszenen. Inszenierung und Verobjektivierung des Schreibens in der Moderne. Forschungsschwerpunkte u. a. kulturwissenschaftliche, medien- und literaturtheoretische Fragestellungen, mobile Kulturen und Gemeinschaften, kulturelle Transformation von Räumen und Dingen, Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts.



Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 

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Bodo Plachta, Studium in Münster und Osnabrück, Promotion (1982) und Habilitation (1993) in Osnabrück, arbeitete als Germanist an den Universitäten Osnabrück, Darmstadt und Braunschweig sowie an der Vrije Universiteit Amsterdam. Sprecher der „Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition“ und Mitherausgeber des editionswissenschaftlichen Jahrbuchs editio. Arbeitsschwerpunkte: Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, Zensur, Literaturbetrieb, Literatur und Musik/bildende Kunst, Exil, Editionswissenschaft. Anne-Kathrin Reulecke, Universitätsprofessorin für Neuere deutschsprachige Literatur an der Karl-Franzens-Universität Graz. 2003 bis 2009 Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Literaturwissenschaft, Deutsche Philologie, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Technischen Universität Berlin (Lehrstuhl Sigrid Weigel). 2010 bis 2012 Forschungsprojekt „Blindheit als Figur des Wissens in Literatur und Film“ am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung. 2010 Max Kade Distinguished Visiting Professor of German University of Virginia, Charlottesville (USA). Jürgen Thaler, leitender Literaturarchivar am Franz-Michael-Felder-Archiv der Vorarlberger Landesbibliothek/Vorarlberger Literaturarchiv. Studium der Germanistik, Publizistik und Kommunikationswissenschaft in Wien, 1995/96 Junior Fellow am Institut für Kulturforschung Wien, 1996/97 Doktoratsstipendiat an der FU Berlin, Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. 1997/98 Stipendiat am Franz-Rosenzweig-Forschungszentrum der Hebrew University Jerusalem. 2001 Promotion an der FU Berlin. Ulrike Tanzer, Universitätsprofessorin für Österreichische Literatur an der Universität Innsbruck und Leiterin des Forschungsinstituts Brenner-Archiv. Studium der Deutschen Philologie und Anglistik/Amerikanistik an den Universitäten Wien und Salzburg. 1996 Promotion, 2008 Habilitation zur Universitätsdozentin, anschließend Außerordentliche Universitätsprofessorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Salzburg. Forschungsschwerpunkte u. a. Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Gegenwartsliteratur, Editionstechnik, Leseforschung.