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German Pages [312] Year 2012
Theorien und Experimente der Moderne
Industrielle Welt Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte Herausgegeben von Andreas Eckert und Joachim Rückert Band 82
Lutz Raphael (Hg.) Theorien und Experimente der Moderne
Lutz Raphael (Hg.)
Theorien und Experimente der Moderne Europas Gesellschaften im 20. Jahrhundert
Unter Mitarbeit von Clelia Caruso
2012 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. Umschlagabbildung: Wolfsburg, Volkswagenwerk – Parkplatz für Werksangehörige, Foto: 1955 © akg-images/Paul Almasy
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Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20857-8
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Lutz Raphael Ordnungsmuster und Selbstbeschreibungen europäischer Gesellschaften im 20. Jahrhundert .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Hartmut Kaelble Konvergenzen und Divergenzen in der Gesellschaft Europas seit 1945 . . . . . . . 21 Morten Reitmayer Politisch-soziale Ordnungsentwürfe und Meinungswissen über die Gesellschaft in Europa im 20. Jahrhundert — eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Dietrich Beyrau Rückblick auf die Zukunft: das sowjetische Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Dirk van Laak Technokratie im Europa des 20. Jahrhunderts — eine einflussreiche „Hintergrundideologie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Thomas Etzemüller Strukturierter Raum — integrierte Gemeinschaft. Auf den Spuren des social engineering im Europa des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Adelheid von Saldern „Alles ist möglich.“ Fordismus — ein visionäres Ordnungsmodell des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Benjamin Ziemann Die Metaphorik des Sozialen. Soziologische Selbstbeschreibungen westeuropäischer Gesellschaften im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Joachim von Puttkamer Gesellschaftliche Selbstbeschreibungen und soziales Krisenbewusstsein in den ostmitteleuropäischen Volksrepubliken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
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Inhalt
Wolfgang Knöbl Das Problem „Europa“. Grenzen und Reichweite sozialtheoretischer Deutungsansprüche im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Jürgen Osterhammel Fremdbeschreibungen: Spuren von „Okzidentalismus“ vor 1930 . . . . . . . . . . . . . 287
Vorwort
Europas Gesellschaften wurden im 20. Jahrhundert Experimentierfelder konkurrierender Ordnungsentwürfe und zu Laboratorien der Moderne. Gerade die radikalsten Experimente haben noch heute sichtbare Spuren hinterlassen. Neben Politikern und Ideologen beteiligten sich Sozialexperten und Sozialwissenschaftler an diesen Versuchen, die Dynamik gesellschaftlicher Entwicklungen in die gewünschten Bahnen ihrer Zukunftsentwürfe und Ordnungsentwürfe zu lenken. Gleichzeitig versuchten sie sich als Diagnostiker aktueller Trends und erhoben den Anspruch, die verwirrenden und für viele Zeitgenossen irritierenden Entwicklungsdynamiken auf den Begriff zu bringen. Die 11 Aufsätze des Bandes unternehmen den Versuch, die Spannweite dieser Ordnungsentwürfe und Selbstbeschreibungen Europas seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu vermessen. Die Lücken, die trotzdem entstanden sind, springen ins Auge: so werden hier die Versuche, für die europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert eine genuin protestantische bzw. katholische Sozialordnung zu entwerfen und sozialpolitisch umzusetzen, leider nur am Rande berücksichtigt. Besondere Aufmerksamkeit gilt dagegen der sozialplanerischen Steuerung und expertokratischen Ordnungsentwürfen, die breite Spuren über die politischen Regimegrenzen hinweg hinterlassen haben. Besondere Aufmerksamkeit gilt auch den sozialistischen Gesellschaftsmodellen im östlichen Europa. Dieser Band ist der letzte Band einer vierteiligen Serie innerhalb der „Industriellen Welt“, die sich mit der „Sozialgeschichte Europas im 20. Jahrhundert“ beschäftigt. Ihm vorausgingen die Bände zur Geschichte der europäischen Stadt (Friedrich Lenger/Klaus Tenfelde (Hg.): Die europäische Stadt im 20. Jahrhundert. Wahrnehmung – Entwicklung – Erosion Bd. 67, 2006), zur Geschichte der Religionen im Europa des 20. Jahrhunderts (Friedrich Wilhelm Graf/ Klaus Große Kracht (Hg.): Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert Bd. 73, 2007) und zur europäischen Mediengeschichte (Ute Daniel, Axel Schildt (Hg.): Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts Bd. 77, 2010). Wie seine Vorgänger wäre auch dieses Buch nicht ohne die Tagungen und Diskussionen zustande gekommen, die der Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte zu dem übergreifenden Thema organisiert hat. Mit besonderem Nachdruck möchte ich der Fitz-Thyssen-Stiftung für die Förderung danken, welche sie diesem Vorhaben bis zur Drucklegung dieses Bandes hat zukommen lassen. Besonderer Dank gilt abschließend Frau Dr. Clelia Caruso für ihre Mitarbeit bei der kritischen Durchsicht aller Manuskripte und bei der Vorbereitung der Drucklegung. Lutz Raphael (Trier)
Lutz Raphael
Ordnungsmuster und Selbstbeschreibungen europäischer Gesellschaften im 20. Jahrhundert
Die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert erfreut sich unter Historikern anhaltender Aufmerksamkeit. Dieser Eindruck entsteht zwangsläufig, wenn man den anhaltenden Strom von Reihen, Übersichtsdarstellungen, Text- und Handbüchern auf dem deutschsprachigen Büchermarkt anschaut. Dies gilt auch für die englischsprachige oder frankophone Buchproduktion. Überall, so der Eindruck, hat sich die europäische Geschichte einen festen Platz in der Geschichtskultur, aber auch im Curriculum des Geschichtsstudiums erobert. Für das 20. Jahrhundert liegt dabei der Schwerpunkt der Darstellung eindeutig auf der politischen Geschichte, deren Dramatik – zwei Weltkriege, die Spaltung Europas im Kalten Krieg, die Revolutionen und Bürgerkriege nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Regime, schließlich der Prozess der europäischen Integration seit 1990 – ausreichenden Stoff liefert. Dagegen ist nach wie vor unklar, welchen Beitrag die Sozialgeschichte eigentlich für eine europäische Geschichte leisten kann und soll. Vor gut dreißig Jahren, als entsprechende Handbücher zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte konzipiert wurden,1 waren die Antworten klar: Die Sozialgeschichte lieferte die notwendigen Grunddaten der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung jeden Landes und beschrieb bzw. erklärte die Basisprozesse wie Industrialisierung, Urbanisierung und Klassenbildung, analysierte die wirtschaftlichen Konjunkturen und gesellschaftlichen Krisen, mit denen sich die europäischen Länder konfrontiert sahen. Für Zusammenhalt sorgten im wesentlichen Makrotheorien, welche griffige Erklärungsmodelle für die übergreifenden Trends der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhunderts zu liefern schienen. Modernisierungstheorie und (westlicher) Marxismus waren die wichtigsten Orientierungspunkte für die sozialhistorische Praxis, aber es entwickelte sich auch eine breite Strömung, die theorieorientierte Festlegungen vermied und weitgehend induktiv vergleichend vorging, um Übereinstimmungen und Unterschiede in den nationalen und regionalen Entwicklungen europäischer Gesellschaften im 20. Jahrhundert zu untersuchen. Dabei knüpften die meisten sozialgeschichtlichen Studien an die sozialwissenschaftliche Praxis an, Europa als Ensemble nationalisierter Gesellschaften, also 1 W. Fischer (Hg.), Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Bd. 6 Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Stuttgart 1987.
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als Ansammlung nationaler Gesellschaftscontainer aufzufassen. Dieser methodologische Nationalismus prägte vor allem die Blütezeit sozialgeschichtlicher Forschung zwischen 1970 und 1990. Es fällt auf, dass am Ende dieser forschungsintensiven Phase von Historikerseite nur wenig Interesse für eine Synthese der Ergebnisse übrigblieb. Sieht man von einigen wenigen Ausnahmen wie Hartmut Kaelble ab2, so überließen die Sozialhistoriker das Feld den Sozialwissenschaftlern, deren Blick in die Vergangenheit europäischer Gesellschaften jedoch typischerweise äußerst selten weiter als bis zum Jahr 1945 zurückreicht.3 Erst in jüngster Zeit sind genuin historische Deutungsansätze entwickelt worden, um Grundmuster europäischer Gesellschaftsentwicklungen im 20. Jahrhundert herauszuarbeiten.4 Der Beitrag von Hartmut Kaelble in diesem Band reflektiert den Stand der vergleichenden sozialgeschichtlichen Forschung. Er mustert zunächst knapp die unterschiedlichen Ansätze für eine europäische Gesellschaftsgeschichte und wählt dann den Ausgangspunkt des 2.Weltkriegs mit seinen weitreichenden gesellschaftlichen Folgen in ganz Europa als Ausgangspunkt, um Ausmaß von Divergenz und Konvergenz der gesellschaftlichen Entwicklungen in den unterschiedlichen Regionen und Ländern abzuschätzen. Auch am Beginn des 21.Jahrhunderts, so sein Befund, besteht kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem politischen Prozess der europäischen Integration und Kornvergenzen in den europäischen Gesellschaften. Deren Vernetzung – vor allem auf der Ebene der Eliten in Politik und Wirtschaft – hat zwar zugenommen, aber regional- bzw. nationalspezifische Besonderheiten haben keineswegs an Prägekraft verloren. Die sozialgeschichtliche Forschung muss nach wie vor der Heterogenität europäischer Sozialstrukturen Rechnung tragen und in ihren Forschungsansätzen Raum lassen.
2 Hartmut Kaelble, Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft, München 1987; ders., Sozialgeschichte Europas: 1945 bis zur Gegenwart, München 2007 3 M. Bach (Hg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Opladen 2000; R. Münch, Die Konstruktion der europäischen Gesellschaft, Frankfurt 2008; H.-P. Müller, „Auf dem Weg in eine europäische Gesellschaft? Begriffsproblematik und theoretische Perspektiven“, Berliner Journal für Soziologie 17 (2007), 7–31; C. Offe, „Gibt es eine europäische Gesellschaft? Kann es sie geben?“, Blätter für deutsche und internationale Politik 46 (2001), 423–435; Colin Crouch, Social Change in Western Europe, Oxford 1999; A. Sutcliffe, An Economic and Social History of Western Europe since 1945, London 1996; Göran Therborn, European Modernity and Beyond: the Trajectory of European Societies 1945–2000, London 1995. 4 U. Herbert, „Europe in high Modernity: Reflections on a theory of the 20th century.“ Journal of Modern European History 5 (2007) 5–21; siehe auch: L. Raphael, „Ordnungsmuster der „Hochmoderne“? Die Theorie der Moderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert,“ U.Schneider, L.Raphael (Hg.), Dimensionen der Moderne: Festschrift für Christof Dipper, Frankfurt/M. [u.a.], 2008, 73–91.
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Die Öffnung der Sozialgeschichte zur Kultur- und Ideengeschichte hat nun ein Übriges getan, um die Forschungslandschaft noch vielfältiger, nüchtern betrachtet sogar unüberschaubar werden zu lassen, wenn man sich vor Augen führt, dass die große Mehrheit einschlägiger sozial- und kulturgeschichtlicher Forschungsergebnisse nach wie vor nationalbezogen, ja nationalzentriert geblieben ist und die bloße Dokumentation dieser Ergebnisse bereits großer Anstrengungen bedarf. Europäische Sozialgeschichte wird heute mit vielen Methoden und Ansätzen betrieben, ein Konsens ist nicht zu erkennen und das gesamte Feld ist eher durch eine babylonische Sprachverwirrung oder ein fröhliches Nebeneinander bestimmt: das Bild kopfhörerbewehrter Städter auf der gemeinsamen U-Bahnfahrt ist jedenfalls angemessener als das Gruppenfoto freundlich einander zugewandter internationaler Kongressteilnehmer, das gemeinhin als Ausweis wachsender Internationalität der Forschung gilt. Seit gut 15 Jahren haben sich dann auch die Referenzpunkte für eine Sozialgeschichte Europas im 20. Jahrhundert deutlich verschoben. Die boomende Globalgeschichte hat sich zu einem neuen Bezugspunkt entwickelt. Damit verschieben sich auch leitende Fragestellungen. Es geht nicht mehr exklusiv um den Vergleich europäischer und (nord)amerikanischer Sozialstrukturen, sondern um die Einbettung europäischer Trends und Strukturen in weltweite Zusammenhänge. Die (Wieder)-Entdeckung imperialer, aber darüber hinausgehend transnationaler Netzwerke durch die Sozialgeschichte hat entscheidend dazu beigetragen, dass Europa gewissermaßen von außen betrachtet und die Verbindungen und Wechselwirkungen seiner Sozialgebilde mit anderen Orten und Regionen der Welt untersucht werden. Das Europa des 20. Jahrhunderts existiert also nicht mehr als eine Art kontinentaler Supercontainer („die europäische Gesellschaft“), dem dann essentialistisch Besonderheiten zugeschrieben werden, sondern es ist zu einem Beobachtungsort übergreifender „globaler“ wie auch „regionaler“ oder „nationaler“ Vergesellschaftungsformen geworden.5 Hier seien nur einige Themen einer solchen grenzüberschreitenden Sozial- und Kulturgeschichte Europas in Erinnerung gerufen. Die Migrationsgeschichte vernetzt die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert mit allen anderen Kontinenten, die Geschichte grenzüberschreitend (regional, kontinental oder weltumspannend) agierender Berufsgruppen oder Netzwerke, die Geschichte von urbanen Knotenpunkten solcher Netzwerke und Wanderbewegungen von Ideen, Menschen und Kulturen sind „in“, ihnen gehört das besondere Interesse. Angesichts dieser Befunde scheint es nützlich, einen Schritt zurückzutreten und die Frage nach den Spezifika der europäischen Sozialgeschichte und nach Gemeinsamkeiten und Verknüpfungen in den europäischen Gesellschaften neu zu formu5 J. Osterhammel, „Europamodelle und imperiale Kontexte“, Journal of Modern European History 2 (2004), 157–81; ders., „A ‚transnational‘ history of society: Continuity or new departure?“, H.-G.Haupt (Hg.), Comparative and transnational history: Central European approaches and new perspectives, New York/ Oxford 2009, 39–51.
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lieren. Dieser Aufgabe hat sich der Arbeitskreis für Moderne Sozialgeschichte in den Jahren 2005 bis 2009 gewidmet. Mit den Themenkomplexen Sozialstaat, Religion, Urbanität, Medien und Gewalt sind in einer Serie von Tagungen fünf Schlüsselthemen behandelt worden, die zugleich auch als strukturbildende Elemente für die Gesellschaften Europas im 20. Jahrhunderts betrachtet werden können. Die Ergebnisse dieser gemeinsamen Arbeit zu Grundproblemen einer europäischen Sozialgeschichte liegen inzwischen vor.6 Der hier vorgelegte vierte Band dieser Veröffentlichungsreihe fragt nach den Analysekonzepten und Selbstbeschreibungen europäischer Gesellschaften im 20. Jahrhundert. Damit wird einer natürlichen Neigung von Sozialhistorikern entgegengewirkt, Ideen nicht allzu viel Wirkungskraft zuzuschreiben, wenn es darum geht, Massenphänomene und anonymen sozialen Wandel zu erklären oder zu verstehen. Bei den älteren Makrotheorien verband sich dieses heilsame Misstrauen vor intentionalen Fehlschlüssen mit einem Hang zur sozialen Physik, zu einem objektivistischen Missverständnis des eigenen Faches. Ein solcher Objektivismus blendet aber die vielfältigen Rückkoppelungen aus, die zwischen der Beobachtung sozialen Wandels, der zeitgenössischen Trenddiagnose gesellschaftlicher Entwicklung und dem Strukturwandel sozialer Beziehungen in den europäischen Gesellschaften zu beobachten sind. Macht man sich auf den Weg, die Kategorien zur Beschreibung europäischer Gesellschaften ihrerseits zu analysieren, öffnen sich gleich mehrere Problemhorizonte, die alle für die Sozialgeschichte Europas im 20. Jahrhundert erhebliche Relevanz haben. Drei Problemfelder werden in diesem Band eingehender behandelt: 1. Inwieweit wurden in den europäischen Gesellschaften Konvergenzen und Divergenzen der gesellschaftlichen Entwicklung reflektiert? Wann entwickelten sich eigentlich Vorstellungen über ein europäisches Sozialmodell, gar eine europäische Gesellschaft? Welche Rolle spielte die gesellschaftliche Dimension im Konzert der Europa-Modelle und Europa-Vorstellungen, mit denen das politisch und kulturell so dramatische 20. Jahrhundert reichlich gesegnet war. Die Befunde der Autoren (siehe insbesondere die Beiträge von Knöbl und Ziemann) in diesem Band sind ernüchternd: Während Europa eine zweifellos prominente Denkfigur in Kultur, Wirtschaft oder Politik war und erst recht heute ist, bleibt die Denkfigur einer europäischen Gesellschaft, im Singular oder im Plural, überraschend blass: der Beitrag der Soziologen und Historiker bestand und besteht eher darin, Heterogenität und Differenz zu analysieren. Dies hängt auch damit zusammen, dass beide Disziplinen über lange Zeit einem methodischen Nationalismus folgten und ganz eng mit der Gegenwartsdiagnose und Vergangenheitsdeutung ihrer eigenen Nationen verbunden geblieben sind. 6 F. Lenger, K. Tenfelde (Hg.), Die europäische Stadt im 20. Jahrhundert: Wahrnehmung, Entwicklung, Erosion, Köln [u.a.] 2006. F.W. Graf, K. Große Kracht (Hg.), Religion und Gesellschaft: Europa im 20. Jahrhundert, Köln [u.a.] 2007; U. Daniel/A. Schildt (Hg.), Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts, Köln [u.a.] 2010.
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2. Gerade die neuere Debatte um die Vielgestaltigkeit der Wege in die Gesellschaftsstrukturen der Gegenwart, die sich international vor allem unter dem Etikett der „multiple modernities“7 versammeln, haben erneut die Frage nach den spezifischen Ordnungsmodellen aufgeworfen, mit denen in Europa internationale Trends wie Industrialisierung, Urbanisierung oder Medialisierung ihre spezifische Ausprägungen erhalten haben. Europa war aufgrund der Vielzahl und Konkurrenz seiner Staaten, seiner religiösen Differenzen und der damit verbundenen ganz unterschiedlichen kulturellen Traditionen ein ideales Experimentierfeld für ganz unterschiedliche Ordnungssysteme, mit denen die Entwicklungsdynamik der Moderne reguliert, geformt worden ist. 3. Dabei spielte der Nationalstaat eine entscheidende Rolle. Seine Ausbreitung sorgte dafür, dass Vergesellschaftungsprozesse, staatliche Regulierung und politische Vergemeinschaftung ganz eng strukturell verklammert worden sind. Auch wenn die heroische Epoche der Nationenbildung im 19. Jahrhundert lag, so war das 20. Jahrhundert zweifellos die Epoche der effektiven Durchsetzung dieses grundlegenden Ordnungsmodells. Es war jedoch im 20. Jahrhundert – viel stärker als im 19. Jahrhundert – offen für eine Vielzahl unterschiedlicher gesellschaftlicher Ordnungsmuster, denn das bürgerlich-liberale Gesellschaftsmodell verlor angesichts der unerwünschten und unerwarteten Nebenwirkungen, die mit seiner Verbreitung verbunden waren, jede Verbindlichkeit und überall in Europa wurden seit der 2.Hälfte des 19. Jahrhunderts Alternativen zu diesem Gesellschaftstyp propagiert. Die Optionen für die gesellschaftlichen Zukünfte öffneten sich, je deutlicher Industrialisierung und Verstädterung die Gegenwart bestimmten. Aus Kapitalismuskritik und Liberalismusschelte entwickelten sich Alternativmodelle und Gegenideologien, die zahlreiche Spuren in den Gesellschaften Europas hinterlassen haben. Europas Geschichte im 20. Jahrhundert ist also nicht nur aus der Perspektive der politischen Ideengeschichte als Zeitalter der Extreme zu deuten, sondern Europa kann sozialgeschichtlich auch als Laboratorium vieler Modernen gedeutet werden. Hier haben Utopie und Planung vielfältige Spuren hinterlassen, hier haben aber auch gesellschaftliche Ordnungsentwürfe zum Aufbau von öffentlichen Institutionen geführt, die ihrerseits prägende Wirkung in den Gesellschaften in ihrem Einzugsbereich entfaltet haben: die Genese der weitgehend nationalspezifisch geprägten Wohlfahrtsregime ist ein bekanntes Beispiel und im übrigen das best erforschte Teilgebiet der europäischen Sozialgeschichte.8
7 S. N. Eisenstadt, Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000; W. Knöbl, Die Kontingenz der Moderne: Wege in Europa, Asien und Amerika, Frankfurt [u.a.] 2007. 8 G. Esping-Andersen, The three worlds of welfare capitalism, Princeton, NJ 1990; J. Alber, Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat. Analysen zur Entwicklung der Sozialversicherung in Westeuropa, Frankfurt/M. [u.a.]1982.
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4. Gleichzeitig entwickelten sich in Europa frühzeitig neue Formen der Beobachtung sozialen Wandels. Mit der Erfindung der Sozialwissenschaften, insbesondere der empirischen Sozialforschung und der Etablierung der amtlichen Statistik entstand ein spezifisches System der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung, das seinerseits aufs engste mit den Konflikten um die Deutung der sozialen Welt, vor allem um die Ordnungsmuster für ihre Zukunft verbunden war. Wie auch immer die Gemengelagen und die Prägekraft der einzelnen Komponenten gewesen sein mögen, diese neuartigen Beschreibungen der sozialen Welt sind zugleich auch mit Reinhard Koselleck als Orientierungswissen zu verstehen, mit denen die historischen Akteure „ihre Erfahrungsräume ausmaßen und ihre Erwartungshorizonte aufspannten“.9 Ohne die Verwissenschaftlichung des Sozialen10 ist die Geschichte europäischer Gesellschaften seit den 1880er Jahren nicht mehr zu verstehen. Die sozialpolitischen Debatten, ja das Alltagsverständnis vieler Europäer sind geprägt worden von Analysekonzepten und Kategorien, die ursprünglich aus den Studierzimmern, Forschungsprojekten und Konferenzen von Wissenschaftlern und Experten stammten. Europa ist in dieser Perspektive wiederum ein ausgesprochen günstiger Ort zur Beobachtung der vielfältigen internationalen bzw. grenzüberschreitenden Netzwerke sozialwissenschaftlichen Wissens, mit denen die zeitgenössischen Veränderungen in den Laboratorien der Moderne dann auch sogleich beobachtet, vermessen und interpretiert worden sind. Welche Veränderungen sich dann wiederum für die Selbstbeschreibungen aus solchen sozialwissenschaftlichen Beobachtungen ergeben haben, ist ein weiteres großes Forschungsfeld.11 Mit der Frage nach den Selbstbeschreibungen europäischer Gesellschaften ist also ein denkbar weites Feld eröffnet. Der vorliegende Band schlägt einige wenige Schneisen in dieses Forschungsgelände, wirft Fragen auf und versucht neue Forschungsperspektiven zu formulieren. Der Begriff „Selbstbeschreibung von Gesellschaften“ entstammt dem Repertoire der Luhmannschen Systemtheorie.12 Er wird aufgenommen, weil er 9 R. Koselleck, „,Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘. Zwei historische Kategorien“, ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1979, 349–75 zitiert bei Morten Reitmayer, Politisch-soziale Ordnungsentwürfe und Meinungswissen über die Gesellschaft in Europa im 20. Jahrhundert – eine Skizze, in diesem Band S. 37ff. 10 L. Raphael, „Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts“, Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), 165–193. 11 A.Kruke, Demoskopie in der Bundesrepublik Deutschland: Meinungsforschung, Parteien und Medien, 1949–1990, Düsseldorf 2007; B.Ziemann, Katholische Kirche und Sozialwissenschaften 1945–1975, Göttingen 2007. 12 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt/M. 1998; ders., „Die Selbstbeschreibung der Gesellschaft und die Soziologie“, ders., Universität als Milieu, Bielefeld 1992, 137–146.
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das eben skizzierte weite Feld ganz unterschiedlicher Ideenprodukte zusammenfasst, ohne bereits eine Denk- und Darstellungsform zu privilegieren. Methodisch ist der Begriff anschlussfähig an eine Vielzahl von Ansätzen, die von der Begriffsgeschichte über die historische Semantik bis zur Diskursanalyse alle versuchen, den Wandel in der Wahrnehmung, Bewertung und Deutung des Sozialen im 20. Jahrhundert präziser zu erfassen. Wählt man einen solchen weiten Begriff, handelt man sich das Risiko ein, diffus zu werden und Differenzen zu übersehen. Es mag nützlich sein, wenigstens knapp die Spannweite der Phänomene auszumessen, mit denen wir es zu tun haben, wenn von „Selbstbeschreibung“ die Rede ist. Zu „Selbstbeschreibung“ gehören also Kategorien, mit denen im Alltag soziales Handeln und soziale Strukturen beschrieben und verständlich gemacht werden, kollektiv bzw. gruppenspezifisch mit „Sinn“ erfüllt werden, aber auch soziologische bzw. sozialwissenschaftliche Theorien, mit denen Gesamtbilder von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einer Sozialordnung entworfen werden. Das Spektrum reicht also von dem, was Jürgen Osterhammel in seinem Beitrag mit Charles Taylors Worten social imaginary13 nennt, als dem Reich der diffusen Bilder sozialer Wirklichkeit, aber auch der auf sie bezogenen sozialen Gegen- und Wunschwelten bis zu elaborierten sozialwissenschaftlichen Analysekategorien und umfassenden Gesellschaftsbzw. Sozialtheorien. Für die europäischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts ist nun wiederum festzustellen, dass sich die Wechselbeziehungen zwischen diesen beiden Polen der Wahrnehmung und Beurteilung der sozialen Welt intensiviert haben, so dass von einer komplexen Gemengelage von Vorstellungen und Kategorien ganz unterschiedlicher Herkunft und analytischer Präzision innerhalb ein und derselben Gesellschaft, innerhalb sozialer Gruppen, ja sogar bei Individuen ausgegangen werden muss. Die rasante Entwicklung der Massenmedien und das wachsende Bildungswissen der europäischen Bevölkerung haben die Rahmenbedingungen für die Zirkulation von Deutungsmustern der sozialen Welt im 20. Jahrhundert erheblich verändert. Die Schwellen zwischen dem esoterischen Expertenwissen von Sozialwissenschaftlern, Psychologen oder Wirtschaftswissenschaftlern über die soziale Welt und dem Alltagsverständnis europäischer Bürger über ihre Gesellschaft sind im Verlauf des 20. Jahrhundert generell niedriger geworden. Die Verschränkung sozialwissenschaftlicher Analysekonzepte, rechtlich fixierten, also politisch beglaubigten Kategorien der Sozialstatistik, der Sozialdiagnosen der öffentlichen Meinungen und dem alltäglichen Deutungswissen sozialer Akteure ist jedenfalls ein Feld, dem gerade in der neueren Forschung größere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Alles deutet darauf hin, dass die Vielgestaltigkeit der Kombinationen und Vermischungen, die dabei zu beobachten sind, sich jeder vorschnellen Modellbildung entziehen. Der Komplexität der europäischen Gesellschaften entspricht so eine Pluralität ihrer Selbstbeschreibungen. 13 Zitiert in J. Osterhammel, Fremdbeschreibungen: Spuren von „Okzidentalismus“ vor 1930, in diesem Band, S. 292.
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Zwischen diesen beiden Polen lassen sich die meisten Deutungsmuster einordnen und je nach dem Grad ihrer Explikation und der Weite ihres Erklärungs- bzw. Beschreibungsanspruchs anordnen. Dabei entsteht keineswegs ein wohlgeordnetes Tableau der „Selbstbeschreibungen“ von Gesellschaft im 20. Jahrhundert durch unterschiedliche Akteure, vielmehr konkurrieren solche Beschreibungen, die sich auf „Gesellschaft“ oder besser das „Soziale“ beziehen, immer auch mit Deutungsmustern, die die Existenz einer solchen gesonderten Sphäre negieren: Politische und religiöse Weltanschauungen neigten dazu, die Eigenart des Sozialen, die Eigengesetzlichkeit von Gesellschaft bzw. der sozialen Welt zu negieren, deren Entwicklung und Gestaltung allein nach politischen oder moralischen Kriterien bzw. Kategorien zu analysieren und zu bewerten. Berühmt geworden ist die bündige Gewissheit der britischen Premierministerin Thatcher, dass so etwas Gesellschaft gar nicht existiere („there is no such thing as society“).14 Derartige Negationen waren und sind nicht nur neoliberalen Denkschulen eigen, auch andere Spielarten des politischen Denkens neigten und neigen dazu, soziale Beziehungen allein unter dem Gesichtspunkt politischer Vergemeinschaftung zu deuten und zu klassifizieren. Die wissenssoziologischen Beschreibungen des Hin und Her lassen jedenfalls erkennen, dass es keinen Grund gibt, den älteren Gewissheiten und einfachen Wahrheiten über die Prägekraft ganzheitlicher „ politischer Ideologien“ zu vertrauen, die eine mehr oder weniger geschlossene, einheitliche „Anschauung der sozialen Welt“ zu garantieren schienen. Solche Weltanschauungen waren im Europa des 20. Jahrhunderts, besonders in der ersten Hälfte, aber auch noch bis in die 80er Jahre medienmächtig und politisch sehr einflussreich, ihre Prägekraft für die alltagstaugliche Deutung zumeist viel komplexerer sozialer Wirklichkeiten jedoch ungewiss. Auch meinungsfreudige und glaubensförmige Großideologien wie der Marxismus-Leninismus oder der Nationalsozialismus waren darauf angewiesen, sich mit sozialwissenschaftlichem Expertenwissen und dessen Kategorien anzureichern, Kompromisse zu schließen, um die eigenen Deutungsmuster der sozialen Welt zu plausibilisieren und zu stabilisieren. Einen möglichen Zugang zur Beobachtung des weiten Feldes der sozialen Imagination und den schärfer konturierten wissenschaftlichen Kategorien und Theorien von Gesellschaft bildet das „Meinungswissen“ über die soziale Ordnung, auf dem in den europäischen Gesellschaften des 20. Jahrhundert in der medialen Öffentlichkeit, im politischen Meinungsstreit, aber auch in der alltäglichen Kommunikation das Gespräch über Gesellschaft und ihre Ordnung beruhte. Solches Meinungswissen ist keineswegs identisch mit wissenschaftlich exaktem, nachprüfbarem Wissen über Gesellschaft, aber es nimmt immer wieder Bestandteile solchen sozialwissenschaftlichen Wissens oder von Gesellschaftstheorien auf, transformiert es aber in Glaubenssätze und Meinungsgewissheit. Der Beitrag von Morten Reitmayer mustert vier Grundfi14 M. Thatcher, Interview for Woman’s Own, 31.10.1987, in: http/www.margaretthatcher. org/document/106689, zuletzt besucht 13.12.2011.
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guren solchen Meinungswissens, mit denen zwischen 1900 und 1970 Gesellschaft öffentlichkeitswirksam beschrieben, aber zugleich auch bewertet und politisch gestaltet worden ist: für Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Italien untersucht er, wie Gesellschaft mal als Ensemble von Klassen, mal als ständisch gegliedertes Sozialgefüge, mal als Massengesellschaft gedeutet wurde und wie die Frage der politischen Ordnung dieser Gesellschaften jeweils durch die Deutungsmuster von Führer und Gefolgschaft bzw. Elite mitgeprägt worden ist. Diese Grundmuster waren international verbreitet, sie besaßen aber nationalspezifische Ausprägungen und diese Kontextualisierungen verweisen wiederum auf die Besonderheiten der nationalen Geschichten. Bis 1945 war die Konkurrenz zwischen diesen Ordnungsmodellen heftig und vor allem die kontinentaleuropäischen Gesellschaften waren weit davon entfernt, so etwas wie Konsens über die Selbstbeschreibungen hergestellt zu haben. Die nationalistischen Diktaturen der Zwischenkriegszeit schränkten jedoch die Artikulation des Klassenmodells erheblich ein und propagierten – wiederum in nationalspezifischen Varianten und Akzenten – das Führer- und das Ständemodell. Nach 1945 begann der Aufstieg des Elitemodells, das in den demokratischen Gesellschaften Westeuropas vor allem gegenüber dem konkurrierenden Klassenmodell deutlich an Boden gewann. Eine ganz andere Situation analysiert Dietrich Beyrau in seinem Beitrag. In der Sowjetunion wurde mit dem Marxismus eine Gesellschaftstheorie zum verbindlichen „Meinungswissen“ über Gesellschaft gemacht. Die Weltsicht der Bolschewiki wurde damit Bezugsrahmen und Ausgangspunkt aller Kategorien, mit denen die neu entstehende sozialistische Gesellschaft beschrieben wurde. Das komplexe Wechselspiel zwischen Alltagsverständnis, Expertenwissen und politischer Deutung der sozialen Realität spielte sich bis zum Ende der Sowjetunion im Horizont des „bolschewistischen Projekts“ ab, das zunächst weniger eine Beschreibung sowjetischer Realitäten denn eine Utopie einer künftigen Gesellschaftsordnung und ein politisches Programm zur Veränderung einer abgelehnten gesellschaftlichen Wirklichkeit war. Die Zukunftsorientierung und der Praxisbezug von Gesellschaftstheorie tritt im bolschewistischen Fall in besonders krasser Form zutage. Beyrau untersucht, wie sich die kommunistischen Deutungsmuster angesichts der anhaltenden Diskrepanz zwischen Gesellschaftsvision und sozialer Wirklichkeit veränderten und welche neue Kategorien entwickelt wurden, um die sowjetische Gesellschaft zu beschreiben. Auffällig ist, dass im Fall der Sowjetunion der Spielraum zur Weiterentwicklung und Anpassung zentraler Kategorien für die Deutung der sozialen Welt auch nach dem Tod Stalins und dem Ende der primär gewaltförmigen Durchsetzung des bolschewistischen Ordnungsmodells so schmal blieb, dass wachsende Bereiche der gesellschaftlichen Wirklichkeit sich einer adäquaten Benennung in der offiziellen Deutung entzogen. Während Reitmayer wie Beyrau Gesellschaftsbilder analysieren, die im Europa des 20. Jahrhundert ganze Gesellschaften durchdrungen haben und enge Beziehungen zu den jeweiligen politischen Ideologien und Regimen aufweisen, richten die Beiträge von Dirk van Laak, Adelheid von Saldern und Thomas Etzemüller den Blick auf wis-
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senschaftsbasierte Analysekonzepte und Interventionsformen, welche sich auf spezifische Problemlagen innerhalb der vorgegebenen Gesellschaftsordnung und im Rahmen der herrschenden politischen Ordnung bezogen. Mit Technokratie, Fordismus und Social Engineering sind drei sich überlagernde und wechselseitig verstärkende Teilströmungen benannt, die wiederum an der Schnittstelle zwischen Beschreibung und Gestaltung von Gesellschaft angesiedelt sind. Alle drei Phänomene erlebten zwischen 1920 und 1970 ihre Hochzeit. Sie stehen alle drei für eine bestimmte Form wissenschaftsgestützter Eingriffe in die Gesellschaft: Es ging darum, dass Experten Analysen über menschliche Verhaltensweisen, über die technisch-industrielle Umgestaltung von Lebenswelten durchführten, daraus Handlungspläne für die Umsetzung ihrer Ideen und Entwürfe entwickelten und in einem letzten Schritt dann auch die gesellschaftliche Wirklichkeit nach ihren Plänen ummodelten. Die Planbarkeit gesellschaftlicher Entwicklung und die Steuerung menschlichen Verhaltens gehört zu den gemeinsamen Überzeugungen der vielen Sozialingenieure, die im Namen der Technokratiebewegung, von Taylor, Ford oder anderer wissenschaftsgestützter Expertisen in den europäischen Ländern unter ganz unterschiedlichen politischen Bedingungen tätig wurden. Das Social Engineering und die Planung gesellschaftlichen Fortschritts gewannen zwischen 1920 und 1970 erheblichen Einfluss, ihre Ideen hinterließen unterschiedlich deutliche und tiefe Spuren in den europäischen Gesellschaften. Ihre Protagonisten gingen Bündnisse mit Kapitalisten und Sozialisten, mit Demokraten, Nationalsozialisten und Bolschewisten ein, um ihre Visionen neuer Infrastrukturen und Sozialwelten realisieren zu können. Sie haben für mehr als fünf Jahrzehnte maßgeblich die Wege bestimmt, auf denen die Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Beobachtung von Gesellschaft ihrerseits Gesellschaft wiederum veränderten. Erst in den 1970er Jahren verblassten die Versprechungen der Sozialplanung und der expertengestützten Gesellschaftsintervention, wurde Technokratie zu einem Schimpfwort und der Sozialingenieur bzw. Sozialexperte zu einer zwielichtigen Figur. Darin schlägt sich auch ein tiefgreifender Wandel der Selbstbeschreibungen zunächst der west- dann nach 1980, spätestens 1990 auch der osteuropäischen Gesellschaften nieder. Auch wenn alle drei Beiträge vor allem auf die Spuren blicken, welche diese Strömungen in Europa hinterlassen haben, so machen sie doch alle darauf aufmerksam, dass es sich um internationale Phänomene handelte und die Geschichte dieser Sozialinterventionen in Europa nicht losgelöst von den Erfahrungen in den anderen Kontinenten und ohne die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen imperialen, kolonialen, später entwicklungspolitischen und europäischen Anwendungen des social engineering geschrieben werden kann.15 „Selbstbeschreibungen“ von Gesellschaft lieferten im Europa des 20. Jahrhunderts aber nicht allein Sozialexperten bzw.-ingenieure, Parteiintellektuelle, Literaten und 15 D. van Laak, Imperiale Infrastrukur: Deutsche Planungen für eine Erschließung Afrikas 1880 bis 1960, Paderborn [u.a.] 2004.
Ordnungsmuster und Selbstbeschreibung
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Publizisten, sondern auch Sozialphilosophen und Soziologen. Mit Soziologie und soziologischem Denken entstand an der Schwelle zum 20. Jahrhundert eine spezifische Form der Gesellschaftstheorie und empiriebezogener Reflexion über soziale Ordnungen, die ihrerseits in die Entwicklungsprozesse europäischer Gesellschaften eingebunden war und eingegriffen hat. Für die Sozialgeschichte ist gerade diese Form der Selbstbeschreibung bedeutsam geworden, weil ein großer Teil ihrer eigenen Konzepte seine Entstehung und Ausformung in diesem neuen disziplinären Kontext erfahren haben. Zwischen den zeitgenössischen Deutungsmustern der Soziologie und den späteren Analysekonzepten der Sozialhistoriker bestehen zahlreiche Verbindungen. Damit werden zugleich auch die aktuellen Theoriedebatten über geeignete Konzepte für eine Beschreibung europäischer Gesellschaften im 20. Jahrhundert noch einmal in ihren zeitgeschichtlichen Entstehungs- und Wirkungskontext gestellt und ihrerseits historisiert. In einer solchen Perspektive fragen die Beiträge von Wolfgang Knöbl, Benjamin Ziemann und Joachim von Puttkamer nach dem spezifischen Beitrag der Soziologien zur Beschreibung der europäischen Gesellschaften. Knöbl analysiert die Versuche der europäischen Soziologie, Spezifika europäischer Gesellschaftsformen zu identifizieren. Während der Gesellschaftsbegriff erfolgreich im Bezugssystem von Nation und innerhalb der Grenzen des Nationalstaats entwickelt wurde, dominierten in den soziologischen Analysen um 1900 Religion, Politik und Kultur als die zentralen Bezugspunkte europäischer Gemeinsamkeiten, sei es als europäische Kultur, als militärisch-politischer Zwangsverband konkurrierender Staaten und Nationen oder als Prägekraft spezifisch westlicher Christentümer. In allen Fällen erscheinen die gesellschaftlichen Strukturen gerade als Quelle der Heterogenität, belegen sie die Vielfalt Europas. Ein einheitlicheres Bild entstand erst, als sich der amerikanische Strukturfunktionalismus, vor allem in der Deutung von Parsons, nach dem 2.Weltkrieg in Westeuropa durchsetzte und nunmehr das Bild einer westlichen „modernen Gesellschaft“ entstand, deren Geburtsstunde im 18. Jahrhundert im Nordwesten des Kontinents, konkret in England und Frankreich schlug, deren Gegenwartsstrukturen jedoch maßgeblich und normsetzend von der US-amerikanischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts bestimmt waren. Wie Benjamin Ziemann und Joachim von Putkamer zeigen, blieb das Fach Soziologie im 20. Jahrhundert im wesentlichen davon geprägt, Strukturen der eigenen nationalen Gesellschaft zu analysieren und zu beschreiben. Der methodische Nationalismus dominierte bis in die Gegenwart eindeutig den Horizont der Profession, so dass die Frage nach europäischen Zusammenhängen nur am Rande eine Rolle spielte. Dagegen lieferten die nationalspezifischen Soziologien wichtige Beiträge zur Selbstbeschreibung der europäischen Nationen – gerade für die Volksdemokratien Ungarns, Polens und der Tschechoslowakei spielten sie als Quelle empirisch gehaltvoller, kritischer Darstellungen der sozialistischen Gesellschaften jenseits der offiziellen marxistisch-leninistischen Kategorien und amtlichen Verlautbarungen der
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Herrschenden eine wichtige Rolle. In Westeuropa etablierte sich, wie Ziemann verdeutlicht, die Soziologie zu einer wichtigen Referenz für die in wachsendem Maße mit quantitativen Methoden arbeitende, statistisch basierte Selbstbeobachtung der nationalen Gesellschaften. Der Beitrag der Soziologien zur „Selbstbeschreibung“ europäischer Gesellschaften setzte jedoch in den 1990er Jahren ein, als parallel zum Ausbau der europäischen Statistik nunmehr auch die ersten europäischen Forschungsprogramme über Armut, Prekarität und Exklusion in den Ländern der europäischen Union starteten und angesichts wirtschaftlicher Deregulierungen und Globalisierungsprozesse die Realitäten eines europäischen Sozialmodells kritisch untersucht wurden. Damit gewann in der soziologischen Selbstbeschreibung erstmals so etwas wie ein europäischer Sozialraum Form und Inhalt. Angesichts der Stärke nationaler Vergemeinschaftungsprozesse im Europa des 20. Jahrhunderts einerseits und der wachsenden Bedeutung der ehemaligen europäischen Siedlerkolonie, der USA, ist es vielleicht auch weniger erstaunlich, dass Europa auch in der Fremdwahrnehmung und Außensicht nur ein unscharfes Bild hinterlassen hat. Wie Jürgen Osterhammel zeigt, überblendete das Konzept des „Westens“ sehr erfolgreich die bloß geographische Einheit „Europa“, wenn Chinesen, Japaner, Inder oder Afrikaner sich mit dem Vordringen der Europäer, ihrer Zivilisation, Religion oder Gesellschaft konfrontiert sahen. Schon ab den 1870er Jahren stand jede Beschäftigung mit Europa oder dem Westen unter dem Primat der Selbstbehauptung und der Anpassung, im 20. Jahrhundert schließlich lieferten die aus Europa oder der USA entliehenen Analysekonzepte zur Beschreibung von Gesellschaft ihrerseits die Bezugspunkte für Kritik und Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse, die von Europa geschaffen oder in Europa dominant geworden waren. Der Blick des fremden, außereuropäischen Beobachter war zugleich auch ein Blick, der geschult war durch die Binnenperspektive westlicher Soziologie oder Gesellschaftstheorie. So mag am Ende der Lektüre der Leser wie der Autor dieser Zeilen möglicherweise zu der nüchternen Feststellung neigen, dass die Vorstellung von Europa und europäischen Konvergenzen im Kern ein politisches Projekt, keine taugliche sozialwissenschaftliche oder sozialhistorische Beschreibungskategorie darstellt. Abgrenzungsbedürfnisse zwischen Europäern wurden immer wieder sehr erfolgreich durch Feindbilder und Zugehörigkeitssemantiken befriedigt, diesem Zweck dienen heutzutage gern Europadiskurse, welche die Solidarität der Europäer angesichts der Gefahren ökonomischer Globalisierung, aber auch kultureller und religiöser Pluralisierung im Zeichen von Migration und internationalem Austausch von Ideen betonen wollen. Aus Sicht des Sozialhistorikers hingegen ist Europa eher ein hervorragender Beobachtungsraum, um die vielfältigen Entwicklungsdynamiken moderner Gesellschaften besser verstehen zu lernen.
Hartmut Kaelble
Konvergenzen und Divergenzen in der Gesellschaft Europas seit 1945
Die lange Serie von Tagungen, die der Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte seit den 1990er Jahren zur Geschichte der europäischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert veranstaltete, folgte immer einem Grundsatz: Gesellschaft wurde immer in Verbindung mit politischer Ordnung gesehen, nie als society with politics left out. Davon ausgehend wurde immer überlegt und mit Sozialwissenschaftlern, Juristen, Ethnologen und Theologen diskutiert, welche Analysekonzepte für die europäische Gesellschaft des 20. Jahrhunderts taugten. Auch die gesellschaftlichen Konvergenzen und Divergenzen in Europa, die Tendenzen zur Vereinheitlichung oder zur inneren Vielfalt der europäischen Gesellschaft, können von politischen Ordnungsvorstellungen und wissenschaftlichen Analysekonzepten nicht losgelöst behandelt werden. Deshalb sollen im vorliegenden Beitrag zuerst kurz die europäischen Ordnungsvorstellungen vorgestellt werden, die auf Konvergenz und Vereinheitlichung oder auf Divergenz und Vielfalt orientiert sind. Danach wird ähnlich knapp diskutiert, welche historischen oder sozialwissenschaftlichen Analysekonzepte eher Konvergenzen, welche anderen Analysekonzepte eher Divergenzen im Fokus haben. Erst dann wird ausführlicher auf Konvergenzen und Divergenzen der europäischen Gesellschaften seit 1945 eingegangen. Am Ende wird die Frage aufgeworfen, wie diese gesellschaftlichen Entwicklungen mit europäischen Ordnungsvorstellungen und mit den vorgestellten Analysekonzepten zusammenhängen.
I. Europäische Ordnungsvorstellungen Die Europäische Union und ihre Vorläufer entwickelten seit 1950 zwei unterschiedliche politische Ordnungsvorstellungen für das integrierte Europa: Sie arbeiteten auf der einen Seite mit der Vorstellung, dass ein Kernziel der europäischen Politik die Vereinheitlichung, also gemeinsame Regeln, ein gemeinsames Recht, gemeinsame Institutionen, sei, das anfangs nur in voller Einstimmigkeit aller Mitgliedsstaaten, aber nach und nach mit dem Prinzip der Mehrheitsentscheidung erreicht werden sollte. Auch die neuen Mitgliedsländer hatten diese Vereinheitlichung des Rechts zu übernehmen. Es gab zwar immer Ausnahmen wie zuletzt der britische, polnische und
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tschechische Vorbehalt gegen einzelne Artikel der Charta der europäischen Grundrechte. Aber diese Ausnahmen wurden immer begrenzt und mit Misstrauen angesehen. Vor allem die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und der Europäische Gerichtshof vertraten mit Nachdruck diesen „acquis communautaire“, diese Errungenschaft der gemeinsamen europäischen Regeln. Ohne Zweifel kann die Europäische Union nicht ohne einen Grundbestand solcher gemeinsamer Regeln auskommen. Diese europäischen Ordnungsvorstellungen zielen auf Konvergenz. Auf der anderen Seite arbeiteten die Europäische Union und ihre Vorläufer auch mit dem gegenteiligen Konzept der Divergenz, der Akzeptanz der nationalen und regionalen Vielfalt. Sie entwickelte in manchen politischen Bereichen das Prinzip der produktiven Konkurrenz zwischen einer Vielfalt nationaler Regelungen und der Durchsetzung der besten Option im Wettbewerb. Die offene Methode der Koordinierung, die die Öffentlichkeit für die beste nationale Lösung einer politischen Aufgabe mobilisiert, ist eine Weiterentwicklung dieses Prinzips. Dieser politischen Methode geht es nicht primär um europäische Vereinheitlichung von oben. Darüber hinaus übernahm die Europäische Union aus der katholischen Soziallehre das Prinzip der Subsidiarität. Demnach sucht die europäische Politik nur dann eine einheitliche Regel, wenn auf der nationalen Ebene keine Lösungen gefunden werden. Auch dieses Prinzip drängt nicht auf Vereinheitlichung, sondern lässt der nationalen Vielfalt viel Spielraum. Schließlich hat die Europäische Union vor allem in der Kulturpolitik die innereuropäische Vielfalt als Ziel ihrer Politik herausgehoben. Zuletzt wurde im Vertrag von Lissabon festgelegt, dass die Europäische Union unter den Mitgliedsstaaten „den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt“ wahrt (Art. 2 Abs.3 Vertrag von Lissabon).
II. Analysekonzepte Auch die wissenschaftlichen Konzepte, mit denen Historiker die Divergenzen oder Konvergenzen zwischen europäischen Gesellschaften untersuchen, sehen gegensätzlich aus. Man kann von der Praxis der Forschung ausgehend sieben unterschiedliche Zugänge unterscheiden, die in der Regel jeweils ohne Vordiskussion und Reflexion des Ansatzes eingesetzt werden:1 1 Zum historischen Vergleich generell vgl.: M. Detienne, Comparer l’incomparable, Paris 2000; H.-G. Haupt/J. Kocka (Hg.), Geschichte im Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt/M.1996; H.-G. Haupt, „Comparative history“, International encyclopedia of the social and behavioral Sciences, Amsterdam, 2001, Bd. 4, 2397–2403; H.-G. Haupt/J. Kocka, „Comparative history. Method, aims, problems“, D. Cohen/M. O’Connor (Hg.), Comparison and history. Europe in cross-national perspective, New York/London 2004, 23–39; H.-G. Haupt/J. Kocka (Hg.), Compa-
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1. Ein erster Zugang ist die historische Typologisierung, die sich meist mit einzelnen gesellschaftlichen oder politischen Themenfeldern befasst und die europäischen Länder unterschiedlichen Typen zuordnet. Meist werden die Typen abstrakt definiert und dann teils mit quantitativen Länderdaten, teils mit qualitativen Verfahren die typologischen Unterschiede zwischen Gruppen von europäischen Ländern heraus gearbeitet. Ein Typ repräsentiert in der Regel nicht ein einzelnes Land, sondern ganze Gruppen von europäischen Ländern. Solche historischen Typologien sind seit langer Zeit in der historischen Nationalismusforschung, aber auch in der Forschung über die Rolle des Staats während der Industriellen Revolution und in der Managementgeschichte, in der Geschichte des Wohlfahrtsstaats, der Familiengeschichte, der Geschichte von Streiks und sozialen Protesten, der Stadtgeschichte und der Bildungsgeschichte erarbeitet worden. Manche dieser Typologien stammen von Historikern. Die meisten Typologien wurden von Sozialwissenschaftlern entwickelt, werden aber von Historikern viel gelesen und eingesetzt. Diese Typologien konzentrieren sich weitgehend auf Unterschiede innerhalb Europas. Sie erschließen in der Regel Divergenzgeschichte. 2. Ein zweiter Ansatz ist der induktive historische Vergleich, der nicht Typen bildet, sondern zwei oder drei, selten mehr Fälle einander gegenüberstellt, auch die Austauschbeziehungen zwischen diesen Fällen verfolgt und die Unterschiede erklärt. Dieser Ansatz geht in der Regel nicht von einem theoretischen Modell oder einem typologischen Konzept aus, sondern kommt induktiv zu Vergleichsergebnissen, orientiert sich dabei an Fragestellungen, die in der historischen Forschung jeweils aktuell sind. Dieser historische Vergleich wurde seit den 1970er Jahren in vielen Themenfeldern praktiziert und gehört heute zu den üblichen Verfahren der historischen Forschung. In der Regel vergleicht er nationale Fälle oder Regionen und Orte im nationalen Kontext, selten ganze Gruppen von Nationen. Dieser historische Vergleich verfolgt vor allem Unterschiede. Manche Historiker argumentieren sogar, das Besondere am historischen Vergleich sei überhaupt die Erforschung von Unterschieden, nicht von allgemeinen Regeln wie in den Sozialwissenschafrative and transnational history, Central European approaches and new perspectives, New York 2009; H.-G. Haupt, „Historische Komparatistik in der internationalen Geschichtsschreibung“, G. Budde et al. (Hg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, 137–149; H. Kaelble, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1999; ders., „Der historische Vergleich seit den 1970er Jahren“, in T. Schulze et al. (Hg.), Vergleich, Transfers, histoire croisée (im Erscheinen); J. Kocka, „Comparison and beyond“, History and theory 42 (2003), 39–44; H. Siegrist, „Comparative history of cultures and societies. From cross-societal analysis to the study of intercultural interdependencies“, Comparative education 42 (2006), 377– 404; H. Siegrist, „Perspektiven der vergleichenden Geschichtswissenschaft. Gesellschaft, Kultur, Raum“, H. Kaelble/J. Schriewer (Hg.), Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2003, 305–330.
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ten. Allerdings verändert sich dies in jüngerer Zeit. Eingefahrene Unterschiede etwa zwischen deutscher und französischer Sozialpolitik oder zwischen amerikanischem und deutschem Arbeitsdienst während der Zwischenkriegszeit zu überprüfen und auch Ähnlichkeiten herauszuarbeiten, reizt jüngere Historiker. Zwei viel zitierte jüngere, globalhistorische Synthesen von Christopher Bayly und von Jürgen Osterhammel verfolgen dezidiert auch historische Ähnlichkeiten.2 Im Ganzen bleibt aber der historische Vergleich bisher ebenfalls eher Divergenzvergleich. 3. Ein dritter Zugang ist der Vergleich von Zivilisationen. Damit ist nicht der Vergleich einzelner Nationen in unterschiedlichen Weltregionen, etwa der Vergleich der japanischen und preußischen Armee vor 1914 oder der Vergleich der französischen und brasilianischen Revolution im späten 18. und im 19. Jahrhundert gemeint, sondern der Vergleich ganzer Zivilisationen. Dieser Vergleich wird von Historikern selten betrieben. Aber Sozialwissenschaftler, die diesen Vergleich zogen, wie Max Weber, Shmuel Eisenstadt, Samuel Huntington oder Göran Therborn werden von Historikern viel gelesen und rezipiert. Dieser Vergleich ist letztlich eine andere Variante der Divergenzforschung, allerdings nicht zwischen Nationen oder Gruppen von Nationen, sondern zwischen Weltregionen. Er lässt die Frage einer innereuropäischen Konvergenz oder Divergenz in der Regel eher links liegen, geht entweder unhinterfragt von einer Homogenität einer Weltregion aus oder sieht – wie in der jüngeren Debatte über die Anfänge der industriellen Revolution in englischen und chinesischen Textilregionen – die Entwicklung einer Region als symptomatisch für eine ganze Weltregion an. 4. Ein weiterer, wiederum induktiver Zugang, die internationale Trenduntersuchung, ist eher eine Darstellungsform von Historikern als eine ausgefeilte Methode. Er unterscheidet sich aber von den anderen Zugängen und wird von Historikern öfters verwandt. Diese Darstellung breiter Tendenzen in vielen europäischen Ländern erwähnt zwar immer Unterschiede, aber der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf den Gemeinsamkeiten der Entwicklung. Dieser Ansatz behandelt relativ kursorisch viele Länder, ohne auf den Kontext jedes einzelnen Landes einzugehen, weil es vor allem um den Nachweis des gemeinsamen internationalen Trends geht. Viele Handbücher zur europäischen Geschichte verwenden diesen Ansatz. Bei diesem Vergleich geht es vor allem um Ähnlichkeiten.
2 Vgl. als Beispiele von vielen: J. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009; C. A. Bayly, Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalisierungsgeschichte 1780–1914, Frankfurt/M. 2006; Catherine Maurer, Pour une histoire sociale et culturelle du fait religieux en Allemagne et en France, XIX-XX siècle, Habilitation Univ. Strasbourg 2007; K. Patel, „Soldaten der Arbeit“. Arbeitsdienste in Deutschland und den USA 1933–1945, Göttingen 2003.
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5. Ein fünfter Ansatz geht von einer Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung aus und ordnet unterschiedliche Fälle dieser Theorie zu. Dabei kann es sich um Modernitätstheorien, aber auch um liberale Wirtschaftstheorien oder um marxistische Theorien handeln. Im Hinblick auf Konvergenzen und Divergenzen lässt sich dieser Ansatz nicht eindeutig festlegen. Er kann historische Fälle unterschiedlichen Entwicklungsstufen zuordnen und dann eher ein Divergenzvergleich sein. Er kann aber auch zeitlich oder räumlich weit auseinander liegende Fälle der gleichen Entwicklungsstufe zuordnen und ist dann eher ein auf Ähnlichkeiten ausgerichteter Vergleich. 6. Ein sechster Zugang ist der anthropologische historische Vergleich. Er geht im Gegensatz zum induktiven historischen Vergleich nicht davon aus, dass jeder historische Fall seine Eigenarten besitzt, sondern sucht nach den allgemeinen anthropologischen Ähnlichkeiten quer über historische Nationen und quer über die historischen Kulturen hinweg. Er ist auch keine Theorie, schon gar keine Modernitätstheorie, sondern richtet sich oft gegen das europäische Konzept der Entwicklung. Für die Geschichte Europas seit 1945 wurde dieser Ansatz bisher selten verwandt. Er ist ebenfalls meist ein auf Ähnlichkeiten gerichteter Vergleich. 7. Eine siebte, induktive Methode von Historikern behandelt explizit gleichermaßen Unterschiede und Ähnlichkeiten, Divergenzen und Konvergenzen. Ziel dieses Ansatzes ist es, abzuwägen, ob in einer bestimmten Epoche der Geschichte Europas eher innere Divergenzen oder eher Konvergenzen vorherrschten, dies jeweils zu erklären und gegebenenfalls auch ihre Wirkung auf die Wahrnehmung und Debatten der Zeitgenossen zu verfolgen. Diesen Ansatz findet man in binationalen Vergleichen ebenso wie in Arbeiten, die viele Länder behandeln. Die Methode setzt nicht Konvergenz oder Divergenz apriorisch als Untersuchungsziel, sondern historisiert diese beiden Entwicklungsoptionen und macht es von historischen Gegebenheiten abhängig, ob Divergenzen oder Konvergenzen überwiegen. Eine solche Abwägung ist in der Regel nicht einfach. Dieser Ansatz ist besonders für den historischen Vergleich wichtig. Er ist beides, Konvergenzvergleich und Divergenzvergleich.
III. Divergenzen und Konvergenzen europäischer Gesellschaften seit 1945 Wie haben sich gesellschaftliche Divergenzen und Konvergenzen in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelt? Zuerst zur Situation direkt nach dem Zweiten Weltkrieg: Sieben gesellschaftliche Divergenzen teilten Europa damals gesellschaftlich. Sie sollen in aller Knappheit behandelt werden. Es waren teils alte, längst
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vor dem Zweiten Weltkrieg entstandene Divergenzen, teils aber auch neue, durch oder nach dem Weltkrieg geschaffene Divergenzen.3 3 Besonders wichtig für den folgenden Abschnitt über gesellschaftliche Konvergenzen: M. Bach (Hg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Opladen 2000; A. Bauerkämper/H. Kaelble (Hg.), Die Europäische Union und ihre Gesellschaft, Wiesbaden 2012; U. Beck/E. Grande (Hg.), Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt/M. 2004; E.Bussière/P.Griset/C.Bouneau/J.-P.Williot, Industrialisation et sociétés en Europe occidentale 1880–1970, Paris 1998; C.Crouch, Social change in Western Europe, Oxford 1999; A. Doering-Manteuffel/L. Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; W. Fischer, (Hg.), Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 6: Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Stuttgart 1987; F. Guedj/S.Sirot (Hg.), Histoire sociale de l‘Europe. Industrialisation et société en Europe occidentale 1880–1970, Paris 1997; S. Hradil/S. Immerfall (Hg.), Die westeuropäischen Gesellschaften im Vergleich, Opladen 1997; J. Gerhards, Kulturelle Unterschiede in der Europäischen Union, Wiesbaden 2005; B. Giese, „Europa als Konstruktion der Intellektuellen“, R. Viehoff/R. T. Seegers (Hg.), Kultur, Identität, Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion. Frankfurt/M. 1999, Seitenzahlen?; M. Heidenreich, Die Europäisierung der sozialen Ungleichheit. Zur transnationalen Klassen- und Sozialstrukturanalyse, Frankfurt/M. 2006; H. Joas/H. Wiegandt (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt 2005; T. Judt, Postwar. A history of Europe since 1945, New York 2005; H. Kaelble, Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, München 2007; H. Kaelble, Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat. Europa 1945–1989, München 2011;J. Kocka, „Die Grenzen Europas. Ein Essay aus historischer Perspektive“, G. F. Schuppert/I. Pernice/U. Haltern (Hg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2005, 275–287; C. Lahusen, „European integration and civil societies“, M. Bach et al. (Hg.), Europe in Motion. Social Dynamics and Political Institutions in an Enlarging Europe, Berlin 2004, 119–139; C. Landfried, Das politische Europa. Differenz als Potential der Europäischen Union, Baden-Baden 2005; W. Loth, Europäische Gesellschaft: Grundlagen und Perspektiven, Wiesbaden 2005; M. Marzower, Dark continent: Europe’s twentieth century, New York 1999; H. Mendras, L’Europe des européens. Sociologie de l’Europe occidentale, Paris 1997; R. Münch, Die Konstruktion der europäischen Gesellschaft, Frankfurt 2008; H.-P. Müller, „Auf dem Weg in eine europäische Gesellschaft? Begriffsproblematik und theoretische Perspektiven“, Berliner Journal für Soziologie 17 (2007), 7–31; C. Offe, „Gibt es eine europäische Gesellschaft? Kann es sie geben?“, Blätter für deutsche und internationale Politik 46 (2001), 423–435; T. Risse, „Auf dem Weg zu einer europäischen Kommunikationsgemeinschaft: Theoretische Überlegungen und empirische Evidenz“ C. Franzius/U. K. Preuß (Hg.), Europäische Öffentlichkeit, Baden-Baden 2004, 139–153; B. Stråth (Hg.), Europe and the Other and Europe as the Other, Brüssel 2000; P. N. Stearns (Hg.), Encyclopedia of European social history from 1350 to 2000, 6 Bde., Detroit 2001; A. Sutcliffe, An economic and social history of Western Europe since 1945, London 1996; G. Therborn, European modernity and beyond. The trajectory of European societies 1945–2000, London 1995; T. Wobbe, „Die Verortung Europas in der Weltgesellschaft“, B. Heintz et al. (Hg.), Weltgesellschaft. Theoretische Zugänge und empirische Problemlagen, Stuttgart 2005.
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Divergenzen nach dem Zweiten Weltkrieg
Eine erste, alte und tiefe Divergenz war der Gegensatz zwischen dem industrialisierten, reichen Zentrum und der agrarischen, ärmeren Peripherie Europas. Dieser Gegensatz war schon im 19. Jahrhundert entstanden, als die Industrialisierung in Großbritannien, Belgien, Deutschland, der Schweiz, Österreich, der Tschechoslowakei, Schweden, in großen Teilen Frankreichs und im nördlichen Teil Italiens begann. In diesen Ländern nahm damals der Wohlstand zu. Eine rasche Verstädterung begann. Das Bildungsniveau stieg. Die Zuwanderung aus den anderen Teilen Europas setzte ein. Nicht erfasst wurden von der Industrialisierung dagegen fast ganz Südeuropa, der Großteil Mittelosteuropas und Osteuropas, Südosteuropa, aber auch Finnland im Norden und Irland im äußersten Westen. Der Wohlstand und das Bildungsniveau dieser Länder fiel immer mehr hinter dem Niveau des industrialisierten Teiles Europas zurück. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte dieser Gegensatz seinen Höhepunkt erreicht und blieb zumindest für die unmittelbare Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmend. Eine zweite, ebenfalls alte, auch gesellschaftliche Divergenz innerhalb Europas waren die vielfältigen nationalen Unterschiede. Jedes Land besaß vor allem seit der Schaffung des Nationalstaats im 19. Jahrhundert nicht nur politische, sondern auch ausgeprägte gesellschaftliche Besonderheiten. In welchem europäischen Land man sich befand, erkannte man rasch am Familienleben, am Konsumstil, an den Werten, am Verhältnis von Staat und Kirchen, an der Zuwanderung und Auswanderung, an der Zivilgesellschaft und der Medienkultur, an der Stadtplanung und der Stadtarchitektur, am Bildungssystem und an der öffentlichen wie privaten sozialen Sicherung. Diese Unterschiede waren allerdings in normalen Zeiten nur dem kleinen Teil der Europäer, die internationale Reisen unternehmen konnten, aus eigener Anschauung bekannt. Die Masse der Europäer dagegen war sich der Eigenarten ihrer eigenen nationalen Gesellschaft oft gar nicht bewusst, sie galten ihnen einfach als Normalität Höchstens durch die Weltkriege lernten sie als Soldaten, als Kriegsgefangene oder als Deportierte und Zwangsarbeiter den Alltag anderer Gesellschaften kennen, und dann im Zerrbild des Kriegs. Ein dritter, alter Unterschied, der sich schon in der Nachkriegszeit sehr rasch zu wandeln begann, war der Gegensatz zwischen den europäischen Kolonialimperien, also Großbritannien, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Portugal und den übrigen europäischen Ländern, die niemals Kolonien besessen hatten oder seit Längerem nicht mehr besaßen. Dieser Unterschied war auch gesellschaftlich wichtig, weil ein Kolonialimperium andere Karriere- und Auswanderungschancen nicht nur für die Oberschicht, sondern auch für die Mittel- und die Unterschicht bot, andere Weltbilder und Vorstellungen des Fremden entstehen ließ und auch den Konsumstil stark beeinflusste. Allerdings begann sich dieser Unterschied schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit grundlegend zu ändern, weil in den Jahren nach dem Zweiten
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Weltkrieg die Entkolonialisierung einsetzte. Zeichen der Zeit waren nun die Unabhängigkeit Indiens, der wichtigsten britischen Kolonie, die Unabhängigkeit Indonesiens, der wichtigsten niederländischen Kolonie, die erfolglosen Unabhängigkeitserklärungen in Indochina, einer der beiden wichtigsten französischen Kolonien, und die Unabhängigkeitserklärung Israels gegenüber der britischen Mandatsmacht. Mit der Entkolonialisierung veränderten sich auch die innereuropäischen Divergenzen. Die Besonderheit der europäischen Kolonialländer gegenüber europäischen Ländern ohne Kolonien bestand nicht mehr darin, Kolonialbesitz zu haben, sondern mehr und mehr darin, in Kolonialkonflikte verwickelt zu sein. Ein vierter, allerdings neuer gesellschaftlicher Unterschied entstand durch den Kalten Krieg seit den späten 1940er Jahren. Der Kalte Krieg war nicht nur ein politischer und militärischer Konflikt zwischen den USA und der UdSSR und teilte Europa nicht nur politisch und militärisch. Er führte nicht nur zu völlig gegensätzlichen wirtschaftlichen Regimen, sondern schuf auch starke gesellschaftliche Kontraste: im östlichen Europa eine Familie mit höherer Frauenerwerbstätigkeit, niedrigerem Heiratsalter, kürzeren Generationsabständen und höheren Geburtenraten als im Durchschnitt des westlichen Europa; eine stärker arbeitsplatzzentrierte Gesellschaft im östlichen Europa, eine eher wohnortzentrierte Gesellschaft im westlichen Europa; im östlichen Europa eine spätere Durchsetzung der Massenkonsumgesellschaft als im westlichen Europa; eine gebremste Zuwanderung im östlichen Europa, eine starke Zuwanderung in den Industrieländern des westlichen Europa; eine unabhängige Zivilgesellschaft und Medienlandschaft im westlichen Europa, strikt von oben kontrollierte Zivilgesellschaften und Medien im östlichen Europa; starke Spannungen zwischen Staat und Kirche im östlichen Europa, eine Koexistenz oder sogar enge Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirchen im westlichen Europa; große Aufmarschplätze, Parademagistralen und ein weithin sichtbares Gebäude in den wieder aufgebauten, im Krieg zerstörten Stadtzentren im östlichen Europa, etwa Warschau und Ostberlin, und nach den Prinzipien der Charta von Athen wieder aufgebaute Stadtzentren im westlichen Europa wie Rotterdam, London, Le Havre oder Westberlin; im östlichen Europa anfangs ein stärker wachsender Bildungssektor mit günstigen Bildungschancen für Frauen und Arbeiterkindern, später eine Umkehrung mit mehr Bildungschancen im westlichen Europa; eine voll vereinheitlichte staatliche Sozialversicherung mit einem von oben verwalteten Sozialbürger im östlichen Europa und eine vielgestaltige staatliche Sozialversicherung mit mehr autonomen, teils auch privaten Elementen und einem stärker selbst entscheidenden Sozialbürger im westlichen Europa. Diese gesellschaftlichen Gräben quer durch Europa wurden immer tiefer, je länger der Kalte Krieg dauerte.4
4 Eine gute Darstellung dieser gesellschaftlichen Unterschiede findet sich bei: B.Stöver, Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters, München 2007, Kap.6–8.
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Eine fünfte gesellschaftliche Divergenz innerhalb Europas entstand durch die unterschiedliche Betroffenheit der Länder durch den Zweiten Weltkrieg. Während der Großteil der europäischen Länder durch den von NS-Deutschland ausgehenden Zweiten Weltkrieg unvorstellbare Leiden durchmachte mit vielen Kriegstoten, zerstörten Städten und Wirtschaftsanlagen, Flüchtlingen und Deportierten und Bewirtschaftung auch nach dem Ende des Kriegs, blieben einige europäische Länder wie Spanien, Portugal, Schweden, Island, Irland und die Schweiz vom direkten Kriegsgeschehen verschont. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gab es daher massive soziale Kontraste zwischen wohlhabenden Ländern ohne Kriegsschäden wie Schweden und der Schweiz und anderen, an sich ebenfalls reichen europäischen Nachbarländern, die vom Krieg getroffen waren. Dauerhafter war eine andere, durch den Krieg entstandene, moralische Divergenz: der Unterschied zwischen Deutschland, das den Krieg ausgelöst hatte, und damit verbunden das von ihm annektierten Österreich, und den Ländern, die mit den Achsenmächten alliiert gewesen waren wie Ungarn, die Slowakei, Kroatien, Rumänien und auf der anderen Seite den europäischen Ländern, die von NS-Deutschland besetzt worden waren. Vor allem der Kontrast zwischen Deutschland, das nicht nur die Kriegsschuld trug, sondern auch an Kriegsverbrechen und dem Holocaust schuld war, und den ehemals besetzten, ausgebeuteten und von NS-Deutschland gezielt zerstörten Ländern im östlichen Europa war scharf. Eine sechste, ebenfalls neue Divergenz entstand in der Gesellschaftspolitik. Einige westliche Demokratien setzten in der unmittelbaren Nachkriegszeit grundlegende gesellschaftliche Reformen des Sozialstaats, des Bildungssystems, des Gesundheitssystems und der Stadtplanung durch. Großbritannien und Schweden gingen in diesen gesellschaftlichen Reformen im westlichen Europa am weitesten und wurden internationale Vorbilder. Die anderen skandinavischen Länder, Frankreich, die Niederlande, Belgien folgten mit begrenzteren Reformen. Gleichzeitig wurden im östlichen Europa die Sozial- und Bildungssysteme nach sowjetischem Modell umgebaut. Im Gegensatz dazu wurden in anderen Ländern des westlichen Europa, in Italien, Österreich, der Schweiz, der Bundesrepublik, Spanien, Portugal und Griechenland in der unmittelbaren Nachkriegszeit keine Gesellschaftsreformen durchgeführt. Dadurch entstanden starke Gegensätze zwischen Reformländern und Ländern ohne soziale Reformen in Europa. Die Gründe für diesen neuen Gegensatz waren vielfältig: Beschleunigt wurden soziale Reformen durch schon während des Krieges formulierte Reformversprechen von Seiten verschiedener Regierungen, auch durch die generelle Aufbruchssituation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, im östlichen Teil Europas schließlich durch den Druck der UdSSR. Verhindert wurden soziale Reformen umgekehrt durch ausgebaute, seit Langem etablierte und effizient erscheinende Sozial- und Bildungssysteme, aber auch durch Misstrauen gegenüber dem Staat und gegenüber von außen, etwa vonseiten der Alliierten, kommenden Reformvorschlägen.
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Eine siebte, neue Divergenz war der Nord-Süd-Gegensatz zwischen Rechtsdiktaturen im Süden Europas, in Portugal, Spanien und Griechenland, und Demokratien im übrigen, nördlicheren Teil Westeuropas. Neu an diesem Gegensatz waren nicht so sehr die südeuropäischen Rechtsdiktaturen. Zumindest das Franco-Regime in Spanien und das Salazar-Regime in Portugal waren Überbleibsel des verhängnisvollen Aufschwungs der Diktaturen in Europa während der Zwischenkriegszeit. Neu an diesen Gegensatz war vielmehr die Durchsetzung von stabilen Demokratien im übrigen westlichen Europa, vor allem in Italien, Österreich und der alten Bundesrepublik. Aus diesem politischen Gegensatz folgten auch neue zivilgesellschaftliche Gegensätze zwischen Süd und Nord, die jeweilige Rolle der Kirchen, aber auch den Konsumstil und die individuelle Lebensführung betreffend. Konvergenzen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Diese innereuropäischen gesellschaftlichen Divergenzen verschwanden bis heute nicht völlig, gingen aber doch während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück, allerdings je nach Divergenz in verschiedenen Zeiträumen und in verschiedenem Tempo. Bis in die 1970er Jahren milderten sich vier Divergenzen ab: Die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen den kriegsbetroffenen und den kriegsverschonten Ländern waren nach der Zeit wirtschaftlicher Prosperität in den 1950er und 1960er Jahren kaum noch zu spüren. Die Schweiz oder Schweden waren nicht mehr weit wohlhabender als die alte Bundesrepublik oder Frankreich. Auch die Unterschiede zwischen Kolonialimperien und Ländern ohne Kolonien verschwanden weitgehend mit der Entkolonialisierung, die für die meisten Kolonialländer in den 1960er Jahren, für Portugal in den frühen 1970er Jahren im Kern abgeschlossen war. Besonderheiten der ehemaligen Kolonialländer wie die Immigration aus den ehemaligen Kolonien, die größere Aufmerksamkeit der Medien für Afrika und Asien, das Commonwealth und die francophonie waren nur noch Nachklänge dieses alten Unterschieds, der seine historische Bedeutung verloren hatte.5 Stark abgemildert hatten sich schon bis zu den 1970er Jahren auch die Unterschiede zwischen den Reformländern und Ländern ohne Sozialreformen in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Unter den au5 A. Eckert, „Spätkoloniale Herrschaft, Dekolonisation und internationale Ordnung“, Archiv für Sozialgeschichte 48 (2008), 3–20; A. G. Hopkins, „Rethinking decolonization“, Past & Present 200 (2008), 211–47; C. Charle, La crise des sociétés impériales, Allemagne, France, Grande Bretagne 1900–1940, Paris 2001; R. F. Betts, Decolonization, London 1998; W. Reinhard, Kleine Geschichte des Kolonialismus, Stuttgart 2008, 142–152; I. Sturm-Martin, Zuwanderungspolitik in Großbritannien und Frankreich. Ein historischer Vergleich (1945–1962), Frankfurt 2001, 296–303.
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ßergewöhnlich günstigen Bedingungen der langen Zeit wirtschaftlicher Prosperität wurden in so gut wie allen Ländern im westlichen Europa gesellschaftspolitische Reformen des Sozialstaates, des Bildungssystems, des Gesundheitssystems und der Stadtplanung durchgeführt. Die Sozial- und Bildungsinstitutionen blieben zwar von einem Land zum anderen oft recht verschieden, aber die Leistungen des Sozialstaates, der Bildungs- und Gesundheitssysteme und deren Stadtplanung glichen sich stark an. Ein neuer Gegensatz, der in den 1970er Jahren entstand, der Gegensatz zwischen der neoliberal orientierten Thatcher-Regierung in Großbritannien, und den weiterhin wohlfahrtsstaatlich orientierten Regierungen auf dem Kontinent, wirkte sich auf diese Leistungen erstaunlicherweise kaum aus.6 Schließlich endete auch der NordSüd-Unterschied zwischen Diktaturen und Demokratien mit dem Ende der Diktaturen in Portugal, Spanien und Griechenland und, was sich nicht von selbst verstand, mit dem Übergang dieser Länder zur Demokratie. Erst allmählicher milderten sich drei weitere gesellschaftliche Divergenzen ab: Der alte Gegensatz zwischen Peripherie und Zentrum schwächte sich ab, da sich auch die Länder der europäischen Peripherie industrialisierten und später mit der Durchsetzung der weniger standortgebundenen Dienstleistungsgesellschaft der alte Gegensatz zwischen Industrie- und Agrarländern an Bedeutung verlor. Das pro Kopf-Einkommen und der Lebensstandard wurden weniger verschieden; Finnland und Italien zogen sogar mit dem westeuropäischen Durchschnitt gleich. Die alten Unterschiede im Bildungsniveau, vor allem in der Alphabetisierung, gingen zurück. Der Rückstand der peripheren Länder in der Lebenserwartung schwächte sich ab. Die Abwanderung aus den Ländern der europäischen Peripherie in die europäischen Industrieländer und in die USA verlor ihre Dynamik. Die peripheren Länder wurden selbst Immigrationsländer. Die Unterschiede in der Verstädterung, aber auch in den Sozialausgaben wurden geringer. Diese Modernisierung der Peripherie wurde aller6 Vgl. J. Alber/N. Gilbert (Hg.), United in diversity? Comparing social models in Europe and America, Oxford 2010; G. Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton 1990; R. Hauser, „Soziale Sicherung in westeuropäischen Staaten“, Hradil/Immerfall, Die westeuropäischen Gesellschaften, 521–545; E.P. Hennock, „History of the welfare state“, Smelser/Baltes, Encyclopedia of Social and Behavioral Sciences, 16439–16445; H. Kaelble/G. Schmid (Hg.), Das europäische Sozialmodell. Auf dem Weg zum transnationalen Sozialstaat, Berlin 2004, 31–50; H. Kaelble, Sozialgeschichte Europas seit 1945, München 2007, Kap.11; J. Schmid, Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Soziale Sicherung in Europa: Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme, Opladen 1996; B. Tomka, Welfare in East and West. Hungarian social security in an international comparison, 1918–1990, Berlin 2004; ders., „Western European welfare states in the 20th century: convergences and divergences in the long-run perspective“, International Journal of Social Welfare 12 ( 2003), 249–260; ders., „European Integration and social policy from East Central European perspective“, Bauerkämper/Kaelble, Die Europäische Union und ihre Geselschaft,, Wiesbaden 2011,
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dings auf ganz unterschiedlichen Wegen erreicht: Durch eine vom Staat zentral geplante, rücksichtslos durchgesetzte Industrialisierung nach sowjetischem Modell im östlichen Europa, durch staatliche Wirtschaftsförderung unter Beibehaltung der Autonomie der Unternehmen und durch ausgleichende Sozial-, Gesundheits- Bildungsund Stadtplanungspolitik im westlichen Europa. Darüber hinaus nahmen auch die scharfen Gegensätze bei der Verarbeitung des NS-Regimes und der NS-Besatzung in Europa im Zweiten Weltkrieg ab. Sicher ließ sich an der besonderen Schuld Deutschlands an den Kriegsverbrechen und am Holocaust im Zweiten Weltkrieg nicht rütteln und daher war auch der Gegensatz zwischen Deutschland und anderen europäischen Ländern nicht aufzuheben. Aber der scharfe Nachkriegskontrast in der Erinnerung an die NS-Zeit schwächte sich ab. Die Aufarbeitung des NS-Regimes in Deutschland wurde in den 1960er Jahren intensiver und der politische Widerstand gegen das NS-Regime in der Öffentlichkeit aufgewertet. Gleichzeitig nahm in den vom NS-Regime besetzten Ländern die Aufarbeitung der Kollaboration zu, und in den nicht besetzten Ländern Schweden und der Schweiz wurde die Zusammenarbeit mit der NS-Kriegswirtschaft untersucht. Auch die gesellschaftlichen Divergenzen, die durch den Kalten Krieg erzeugt worden waren, verloren mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums 1989/91 und mit dem Ende des Kalten Kriegs an Robustheit. Viele durch das Sowjetregime geschaffene Gegensätze gingen rasch zurück. Aber durch die Transitionskrise entstanden nach 1989/91 für einige Zeit andere gesellschaftliche Divergenzen. Der Zusammenbruch großer Teile der Industrie im östlichen Europa und die dadurch rasch steigende Arbeitslosigkeit, der Zusammenbruch der staatlichen Sozialsysteme, die schwierige gesellschaftliche Umstellung durch den wirtschaftlichen und politischen Regimewechsel, die langsame Verbesserung des Lebensstandards, die auch nicht jedem Bürger zugute kam, schufen neue Unterschiede zwischen dem östlichen und dem westlichen Europa. Bis heute sind nicht alle diese Unterschiede verschwunden. Aber vor dem Hintergrund der gemeinsamen Demokratie und der gemeinsamen Marktwirtschaft war die gesellschaftliche Konvergenz doch prägend. Die nationalen gesellschaftlichen Besonderheiten blieben dagegen als eine besonders dauerhafte Divergenz erhalten. Allerdings veränderten sich die europäischen Nationen gesellschaftlich in ähnlicher Weise. Der Individualisierungsprozess hat in den meisten europäischen Ländern die Bindung an die Nation etwas abgeschwächt. Zudem änderte sich die Vorstellung des Fremden in den meisten europäischen Ländern. Europäer wurden immer weniger als Fremde angesehen. Dazu hat nicht nur die gemeinsame Unionsbürgerschaft der Mitgliedsländer der Europäischen Union beigetragen, sondern auch die persönliche Erfahrung anderer Länder durch Reisen und Auslandsstudium. In der Werbung wurden negative nationale Stereotypen über andere Europäer seltener verwandt. Nichteuropäer wurden zu den eigentlichen Fremden. Darüber hinaus dienten Konsum und Lebensstil immer weniger der nationalen Abgrenzung gegenüber anderen europäischen Nationen. Nationaler Konsumstil
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wurde im Gegenteil zu einer Werbestrategie für den Verkauf von nationalen Produkten in anderen europäischen oder außereuropäischen Ländern. Schließlich wurde in der öffentlichen Debatte wurde vor allem von den Politikern ein neuer Gegensatz in der Gesellschaftspolitik konstruiert: der Gegensatz zwischen der eigenen nationalen Politik und der europäischen Bürokratie. Es ist offen, ob durch diese gemeinsamen Prozesse tatsächlich nationale Besonderheiten abgeschliffen wurden. Aber die Veränderung der Nationen war doch eine gemeinsame europäische Erfahrung.7 Insgesamt haben vor allem fünf zeitgebundene Faktoren an diesen gesellschaftlichen Konvergenzen mitgewirkt, auf die nur hingewiesen sei: die Industrialisierung der europäischen Peripherie und die Durchsetzung der Dienstleistungsgesellschaft; der zunehmend enge Austausch zwischen europäischen Politikern, Spitzenbeamten, Unternehmern, Experten und Vertretern der Zivilgesellschaft, ein Elitenaustausch, der zwischen den europäischen Demokratien um ein Vielfaches leichter war als zuvor zwischen Demokratien und Diktaturen und zudem durch internationale Organisationen wie die Europäische Union, der Europarat, die ILO, die OECD stimuliert wurde; die wachsende Verflechtung zwischen den europäischen Gesellschaften durch moderne Kommunikation, Reisen, Konsum, Heirat und Alterssitz, Ausbildungs- und Berufsmobilität;8 indirekt auch über die Schaffung eines europäischen Wirtschaftsmarktes durch die Europäische Union; schließlich auch durch schwer vorhersehbare politische Ereignisse wie die Entkolonialisierung, den Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums, durch internationale soziale Bewegungen und internationale öffentliche Debatten. Die Zeitgebundenheit von gesellschaftlicher Konvergenz und Divergenz ist dabei unübersehbar. Divergenzen und Konvergenzen sind nicht Ergebnis teleologischer Prozesse im Sinne entweder einer immanenten dauerhaften inneren Vielfalt Europas oder einer immer stärkeren Konvergenz als Wesensinhalt Europas. Auch wenn Europa in den vergangenen Jahrzehnten einen zwar keineswegs widerspruchsfreien, aber 7 M. Hroch, Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich, Göttingen 2005; A.-M. Thiesse, La création des identités nationales. Europe XVIIIeXXe siècle, Paris 1999; H. Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994; H.-G. Haupt/M. G. Müller/S. Woolf (Hg.), Regional and National identities in Europe in the 19th and 20th centuries, The Hague 1998; U. von Hirschhausen/J. Leonhard (Hg.), Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich, Göttingen 200. 8 S. Mau, Transnationale Vergesellschaftung. Die Entgrenzung sozialer Lebenswelten, Frank furt/M. 2007; D. Maul, „Der transnationale Blick. Die Internationale Arbeitsorganisation und die sozialpolitischen Krisen Europas im 20. Jahrhundert“, Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), 349–371; W. Kaiser/B. Leucht/M. Rasmussen, (Hg.), The History of the European Union. Origins of a trans- and supranational polity, New York/London 2009; T. A. Glootz, Alterssicherung im europäischen Wohlfahrtsstaat. Etappen ihrer Entwicklung im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2005; M. Herren, Internationale Sozialpolitik vor dem Ersten Weltkrieg. Die Anfänge europäischer Kooperation aus der Sicht Frankreichs, Berlin 1993.
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doch im Ganzen auf gesellschaftliche Konvergenzen hinaus laufenden Prozess erlebte, kann man nicht ausschließen, dass dieser Prozess in der Zukunft wieder umschlägt und die Divergenzen wieder zunehmen. Hätte man die Frage nach Konvergenz und Divergenz für einzelne Epochen der europäischen Geschichte seit 1945 gestellt, wäre die Antwort je nach Epoche unterschiedlich ausgefallen. Nicht nur in der unmittelbaren Nachkriegszeit, sondern auch in der Prosperitätszeit der 1950er bis frühen 1970er Jahre dominierten die Divergenzen.9
IV. Schlussüberlegungen Am Ende soll wie anfangs angekündigt noch einmal auf die europäischen Ordnungsvorstellungen und auf die Analysekonzepte und ihren Zusammenhang mit gesellschaftlichen Divergenzen und Konvergenzen zurückgekommen werden. Zuerst zu den Analysekonzepten: Keines der anfangs genannten sieben Analysekonzepte zur Untersuchung der innereuropäischen Konvergenzen und Divergenzen ist den anderen generell überlegen.10 Jeder dieser Ansätze hat seine Stärken bei der scharfen und präzisen Herausarbeitung von Unterschieden oder Ähnlichkeiten. Geht es allerdings darum, die Divergenzen und Konvergenzen in Europa seit 1945 gegeneinander abzuwägen, so kommt man nicht um den Umstand herum, dass die Wahl des Analysekonzepts die Ergebnisse zu einem erheblichen Teil vorbestimmt. Typologien, klassische historische Vergleiche, teilweise auch theoriegeleitete Vergleiche tendieren dazu, Unterschiede herauszuarbeiten und Konvergenzen eher unbeachtet zu lassen oder nur als Grenzen von Unterschieden mit zu erwähnen, oft auch als tertium comparationis den technischen Voraussetzungen für einen Vergleich zuzuschlagen. Umgekehrt tendieren anthropologische Vergleiche, Trenddarstellungen, aber nicht selten auch theoriegeleitete Vergleiche dazu, vor allem Ähnlichkeiten zu beachten und Unterschiede eher als unübersehbares, aber zweitrangiges Beiwerk einzuordnen. Für die Entscheidung, ob Konvergenzen oder Divergenzen in einer Epoche der europäischen Geschichte vorherrschten, stoßen diese Analysekonzepte deshalb an ihre Grenzen, wenn eines dieser Konzepte ausschließlich verwandt wird. Dabei muss man auch in Rechnung stellen, dass die Bindung der Forscher an einzelne Analyseinstrumente oft stark ist und Reflexionen darüber, welches Analyseinstrument für welche Fragestellung geeignet ist, oft zu wenig angestellt werden. Für die Frage, die in diesem Artikel verfolgt wird, also die Frage nach dem Vorherrschen von Divergenzen oder Konvergenzen, ist deshalb der offene, siebte Ansatz am besten geeignet. 9 Getrennt nach Epochen werde ich diese Frage verfolgen in: H. Kaelble, Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat. Geschichte Europas 1945–1989, München 2011. 10 Es wird nicht weiter verfolgt, ob man die Entwicklung von Analysekonzepten historisieren könnte. Vgl. Kaelble, „Der historische Vergleich seit den 1970er Jahren“.
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Dann zu den Ordnungsvorstellungen: Die Ordnungsvorstellungen der Europäischen Union, die auf eine Vereinheitlichung der Mitgliedsländer zielen, standen nicht in einem erkennbar engen, direkten Zusammenhang mit der Konvergenz der europäischen Gesellschaften. Die Europäische Gemeinschaft interessierte sich bis in die 1990er Jahre für die gesellschaftlichen Konvergenzen kaum und holte dafür auch keine Informationen über den Eurobarometer oder über andere Quellen ein. Zu einem Ziel hat sich die Europäische Union gesellschaftliche Konvergenz nicht gemacht. Auch im Vertrag von Lissabon taucht ein solches Ziel nicht auf. Nur der soziale Zusammenhalt und die Solidarität werden als gesellschaftliche Ziele gesetzt (Art.2 Abs.3). Politische Vereinheitlichung und gesellschaftliche Konvergenz gehörten für die Europäische Gemeinschaft nicht erkennbar zusammen. Wenn Europa politisch zusammenwachsen sollte, musste es nicht auch gesellschaftlich ähnlicher werden. Nur indirekt und unintendiert hat die Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsmarkts und eines gemeinsamen Rechtsraums auch zu gesellschaftlichen Konvergenzen geführt. Einen direkten Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Konvergenzen und europäischer Integration kann man aus der Rückschau durchaus sehen, allerdings in umgekehrter Weise, nicht als Wirkung der Europäischen Union auf gesellschaftliche Konvergenzen, sondern als Wirkung gesellschaftlicher Konvergenzen auf die europäische Integration. Die europäische Integration wurde dadurch erleichtert, dass die Gesellschaften weniger verschieden und dadurch die Interessen der Mitgliedsländer weniger gegensätzlich wurden. Der Kontrast zwischen Agrarländern und Industrieländern, zwischen Kolonialmächten und Mitgliedsländern ohne Kolonien, zwischen ehemaligen Kriegsgegnern, also zwischen den Alliierten und den Achsenmächten, auch zwischen Ländern mit schwerer Kriegsschuld und durch die NS-Besatzung ausgebeuteten Ländern hat die europäische Integration in der Gründungszeit stark belastet und gebremst. Vor allem seit den 1980er Jahren, als diese Gegensätze an Gewicht verloren hatten, wurden die großen Schritte der europäischen Integration leichter. Allerdings darf man nicht erwarten, dass gesellschaftliche Konvergenz direkt zu Ordnungsvorstellungen einer politischen Einheit Europas führte. Mehr gesellschaftliche Konvergenz bedeutete nicht direkt mehr europäisches politisches Einheitsdenken. Ganz im Gegenteil war der Zusammenhang von gesellschaftlicher Konvergenz und politischem Ordnungsdenken eher paradox. In Zeiten geringer gesellschaftlicher Konvergenzen vor allem in der Gründungsphase der europäischen Integration während der 1950er und 1960er Jahre wurde das Ziel der Vereinheitlichung besonders strikt und zielgerichtet verfolgt, wenn auch nicht immer mit Erfolg, sondern oft im heftigen Konflikt. Europäische Ordnungsvorstellungen mussten die europäische Einheit herausstreichen in Zeiten, als Italien noch ein Agrarland, die Bundesrepublik und Belgien dagegen reine Industrieländer waren; in denen Frankreich und Belgien in traumatische Kolonialkonflikte in Indochina, Algerien und im Kongo verwickelt waren, in Deutschland und Italien dagegen Kolonien nur noch eine historische Re-
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miniszenz waren; in denen in Deutschland seit den frühen 1960er Jahren mit den Frankfurter Prozessen gegen KZ-Aufseher die Verarbeitung der NS-Vergangenheit erst begann, während in scharfem Kontrast dazu in Frankreich und Italien der Widerstand gegen die NS-Besatzung zur zentralen politischen Legitimierung in der Politik gehörte. In den späteren Zeiten verstärkter gesellschaftlicher Konvergenzen dagegen blieb für die Ordnungsvorstellungen einer inneren Vielfalt in Europa mehr Raum. Angesichts der spürbaren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konvergenzen mussten die verbleibenden innereuropäischen Unterschiede nicht mehr als ein Grundhindernis für die politische europäische Integration angesehen werden. Gleichzeitig wurde die europäische Integration durch die Vorstellung einer starken inneren Vielfalt für viele Europäer leichter akzeptierbar. Gesellschaftliche Konvergenz hat deshalb paradoxerweise in der europäischen politischen Öffentlichkeit vor allem seit den 1980er Jahren zu mehr Räsonnieren über die innere Vielfalt Europas geführt. Innere Vielfalt, die vorher eher als ein lästiges Hindernis galt, wurde nun mehr und mehr als ein Trumpf der europäischen Zivilisation angesehen, ohne dass dadurch die europäische Integration bedroht worden wäre.
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Politisch-soziale Ordnungsentwürfe und Meinungswissen über die Gesellschaft in Europa im 20. Jahrhundert – eine Skizze
I. Probleme der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts Eine der großen Herausforderungen, der sich die Ideengeschichte nach wie vor gegenübersieht, besteht in der präzisen Erfassung einerseits der politisch-ideellen Voraussetzungen für die weitgehend friedliche und demokratische Entwicklung der meisten westeuropäischen Gesellschaften nach 1945 und andererseits der ideengeschichtlichen Konstellationen, die in der ersten Jahrhunderthälfte häufig gewaltförmige und destruktive Formen der politischen Konfliktaustragung begünstigten. Die ältere Literatur erkannte die Ursache für die katastrophalen Zeitläufte in Mitteleuropa während der Zwischenkriegszeit in einem utopischen Überschuss der zeitgenössischen politischen Ideen, in einem „Ansturm des Geistes gegen die politische und soziale Wirklichkeit“, so Kurt Sontheimer.1 Das „Ende der Ideologien“2 habe dann nach 1945 die Erfolgsgeschichte der Demokratie ermöglicht, bevor die „Re-Ideologisierung“3 seit den späten 1960er Jahren das Erreichte erneut gefährdete – sicherlich auch eine generationsbedingte Antwort auf die mit der Chiffre „1968“ verbundene Erfahrung der Wiederkehr politischer und moralischer Militanz in Hochschulen und Öffentlichkeit. Weitgehend widerspruchsfrei dazu steht ein Erklärungsmodell, dem zufolge die politische Radikalität in den (west-) europäischen Gesellschaften nach 1918 hauptsächlich auf die Erfahrung des 1. Weltkriegs zurückgegangen sei, während nach 1945 – unterbrochen von einem kurzen, die politische Linke begünstigenden nachfaschistischen Zwischenspiel, in dem sich auch zahlreiche prominente europäische Intellektuelle für kommunistische Ideen begeisterten – der Kalte Krieg ein politisch-ideelles Klima schuf, das gemäßigt konservative, für soziale Reformen durch1 K. Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 21983, 306. 2 D. Bell, The End of Ideology. On the Exhaustion of Political Ideas in the Fifties, Glencoe 1960. 3 K. D. Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1982, 271–90.
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aus aufgeschlossene und häufig von den Kirchen unterstützte Parteien begünstigte.4 Neuere Forschungen betonen demgegenüber stärker die Wirkungsmacht der unterschiedlichen politisch-ideellen Antworten auf die Herausforderungen, die von den Massengesellschaften der Moderne ausgingen. Im Vordergrund steht dabei die Frage nach der Tiefe der Einwurzelung antiliberaler, antidemokratischer und antiuniversalistischer Muster in den nationalspezifisch unterschiedlich gestalteten europäischen Ideenlandschaften,5 sowie insbesondere das Ausmaß der Akzeptanz oder sogar des offensiven Propagierens gewaltsamer Lösungen politischer Probleme.6 Innerhalb dieses Narrativs lassen sich zwei Ansätze unterscheiden: Während im engeren Sinne eher sozialgeschichtlich argumentierende Autoren die radikalen Ideen der Zwischenkriegszeit als quasi unmittelbare Antworten auf die damaligen politisch-sozialen und wirtschaftlich-technischen Probleme deuten und von einer Akzeptanz der Werte des liberalen Individualismus und der Demokratie erst in der „dritten Generation“ seit dem Anbruch der „Hochmoderne“ im späten 19. Jahrhundert ausgehen (weshalb die beiden vorhergehenden Generationen noch gewaltsame Lösungswege verfolgt hatten),7 betonen andere Forscher eher die Eigenlogik intellektueller Produktion, indem sie das radikale Ordnungsdenken der Zeit als Resultat spezifischer Interessen und Erfahrungen von Intellektuellen und Experten interpretieren, und folgen damit einer stärker kulturalistischen Perspektive auf ideengeschichtliche Phänomene und Prozesse.8
4 T. Judt, Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, Bonn 2006, 230–60, 275–311. 5 G. Mai, Europa 1918–1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen, Stuttgart 2001, 18–51, 149–201. 6 Vgl. die Beiträge von D. Schumann, A. Gregory, A. Wirsching, B. Ziemann, D. Beyrau und P. Wróbel in: Journal of Modern European History 1 (2003). 7 U. Herbert, „Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century“, Journal of Modern European History 5 (2007), 5–20; ders., „Liberalisierung als Lernprozess. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze“, ders. (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002, 7–49. 8 Z. B. L. Raphael, „Ordnungsmuster der ‚Hochmoderne‘. Die Theorie der Moderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert“, U. Schneider/L. Raphael (Hg.), Dimensionen der Moderne, Frankfurt/M. 2008, 73–92; ders., „Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime“, Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 5–40.
Politisch-soziale Ordnungsentwürfe und Meinungswissen
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II. Soziale Ordnungsentwürfe als Meinungswissen über die Gesellschaft Im Folgenden möchte ich versuchen, ein Raster zur Systematisierung und zur Präzisierung verschiedener ideengeschichtlicher Befunde über das 20. Jahrhundert in unterschiedlichen europäischen Gesellschaften zu skizzieren und zur Diskussion zu stellen. Diese Befunde, der Aufsatztitel sagt es, beziehen sich auf politisch-soziale Zeitdiagnosen und Ordnungsentwürfe, auf Vorstellungen, wie Gesellschaften und ihre politische Herrschaft verfasst sind und sein sollen. Dabei konzentriert sich die vorliegende Studie auf solche Vorstellungen, die sich zunächst im Glauben an die Existenz bestimmter, die Gesellschaft als Ganze strukturierende Großgruppen wie „Klassen“, „Stände“ oder „Eliten“ konkretisieren. Derartige Ordnungsentwürfe dominierten das Meinungswissen über die Gesellschaft offenbar von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur zeithistorischen Epochenschwelle des endenden „Goldenen Zeitalters“ Mitte der 1970er Jahre.9 Erst die Verinnerlichung dieser Glaubensphänomene mit ihren je eigenen Handlungsimperativen, so die Arbeitshypothese, ermöglicht es den Menschen, ihre heterogenen Erfahrungen und die Kontingenzen der sozialen Welt zu bewältigen, und erzeugt jenen Sinnkosmos, ohne den politische Institutionen nicht bestehen und ohne den soziale Ordnungen nicht akzeptiert werden können. Zur Orientierung in der sozialen Welt, zur Positionierung der eigenen Person und anderer Akteure und um das eigene Handeln auf diese Positionen abstimmen zu können, verfügt deshalb vermutlich die große Mehrheit der Menschen über ein einigermaßen stabiles, in der Regel allerdings nicht hinterfragtes Wissen über die Einteilung der Gesellschaft. Aus diesen Ordnungsmodellen zur Einteilung der sozialen Welt folgen wiederum jeweils spezifische, mehr oder weniger unhinterfragte Handlungsimperative – z. B. über „klassengemäßes“ Handeln oder über das Behandeln („Führen“) von „Massen“ –, die den Akteuren „sinnvolle“10 Handlungsoptionen für unterschiedliche Situationen und Kontexte bieten und damit unterschiedlich weite oder begrenzte Handlungsspielräume eröffnen. Und gerade diese Handlungsoptionen entschieden im Politischen und im Intellektuellen Feld über die Präferenzen der Akteure für eher demokratische oder eher diktatorische Lösungen und Strategien. 9 A. Doering-Manteuffel/L. Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; M. Reitmayer/R. Rosenberger (Hg.) Unternehmen am Ende des „goldenen Zeitalters“. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, Essen 2008. 10 Im Sinne der Überlegungen Max Webers zur Notwendigkeit einer sinnhaften Ordnung der sozialen Welt und zu den Ideen als „Weichensteller“ für die Dynamik interessegeleiteten Handelns. M. Weber, „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen (Einleitung)“, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. 1, Tübingen 1920, 91988, S. 252/53.
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Weil dieses Meinungswissen über die Ordnung der Gesellschaft ständig aktualisiert wird und werden muss, verfügt die Ideengeschichte über eine Vielzahl von Aussagen und Quellen über die Ordnung und Unordnung der Gesellschaft. Die Notwendigkeit einer Systematisierung dieser Quellen ergibt sich schon daraus, dass die historischen Akteure häufig unterschiedliche Vorstellungen mit Hilfe des gleichen Begriffs artikulierten, so dass beispielsweise die Termini „Elite“ oder „Führer“ im Europa des 20. Jahrhunderts an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten ganz unterschiedliche politisch-soziale Vorstellungen ausdrückten. Andererseits wählten offensichtlich manche Akteure unterschiedliche Bezeichnungen für die gleichen Phänomene. So ist es wiederholt geschehen, dass ein Autor die Termini „Klasse“ ebenso wie „Aristokratie“ verwendete, um etwas über die Morphologie oder Funktion eines sozialen Gebildes auszusagen, hinter dem sich die Grundannahme individueller Leistungsauslese verbarg, und was demzufolge als ein zutiefst von Elite-Ideen beeinflusstes Sozialmodell angesehen werden muss. Gaetano Mosca beispielsweise gilt als Begründer der modernen Eliten-Theorie, sprach aber selbst stets von der „Politischen Klasse“ und lehnte den Elite-Begriff eigentlich ab,11 während sein Zeitgenosse und Kollege Vilfredo Pareto beide Termini synonym (und dazu noch den Begriff „Aristokratie“ zur Bezeichnung desselben Phänomens) verwendete. Obwohl diese Ordnungsmodelle also von Sozialwissenschaftlern entworfen und mit Anspruch auf Präzision konstruiert wurden, wohnte ihnen von Anbeginn an eine konstitutive Unschärfe inne. Denn um die bereits bei ihrer Konstitution beabsichtigten genuin politischen (also außerwissenschaftlichen) Effekte ihrer Verwendung erzielen zu können, mussten diese Ordnungsmodelle immer wieder ihrer analytischen Präzision entkleidet werden und den Charakter von in der Regel unhinterfragten Glaubensphänomenen12 annehmen. Erst in dieser Form als Glaubensgewissheit versprach ihr Gebrauch Orientierungs- und Handlungssicherheit in ganz unterschiedlichen Situationen und damit die in der politischen Sprache notwendige Möglichkeit zur ubiquitären Verwendung. Der Erfolg dieser Modelle beruhte also gerade auf ihrer Unschärfe, die sie so interpretationsoffen machte, dass unterschiedlich weite Deutungsspielräume entstanden, in denen disparate Erfahrungen und Erwartungen artikuliert werden konnten. Und weil diese Entwürfe je spezifische Handlungsimpe11 G. Mosca, Die herrschende Klasse. Grundlagen der politischen Wissenschaft, Bern 1950, 363. 12 Dies lässt sich u.a. zeigen an der Genese des modernen Elite-Begriffs bei Mosca und Pareto. Letzterer postulierte zwar die „logisch-experimentelle Methode“ als sein eigenes wissenschaftliches Vorgehen, präsentierte seinen Elite-Begriff jedoch nicht als analytisches Instrument mit begrenzter Aussagereichweite, sondern in der Form einer endgültigen Glaubenswahrheit. Vgl. M. Reitmayer, Elite. Sozialgeschichte einer politisch-gesellschaftlichen Idee in der frühen Bundesrepublik, München 2009, 150–51, 439–60; J. Wurster, Herrschaft und Widerstand, Theorien zur Zirkulation der Eliten, Tübingen 1968, 99; M. Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt/M. 1985.
Politisch-soziale Ordnungsentwürfe und Meinungswissen
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rative enthielten, öffneten sich den Akteuren unterschiedliche Handlungsspielräume. Diese Spielräume auszumessen erfordert allerdings vergleichende Untersuchungen. Einerseits ist es deshalb unumgänglich, die Begriffe und die Rhetorik ernst zu nehmen, in der die historischen Akteure ihre sozialen Phantasmagorien ausdrückten. Andererseits darf man – angesichts der Unschärfe, die für den Gebrauch dieser Begriffe im zeitgenössischen Meinungswissen nun einmal konstitutiv war, und aufgrund der Verschiedenheiten ihrer Bedeutungsgehalte in den jeweiligen nationalen Kontexten – an die Präzision, mit der diese Termini soziale Phänomene bezeichnen sollten, und an ihren analytischen Wert nicht unbedingt den gleichen Maßstab wie an ein soziologisches Lehrbuch anlegen. Vielmehr werden im Folgenden skizzenhaft die Entstehung und die weitere Entwicklung der besagten Ordnungsentwürfe verfolgt sowie kursorisch ihre Reichweite und ihre Ausbreitungswege vermessen. Das Ziel ist, den Raum der möglichen politisch-ideellen Positionen zu konstruieren, innerhalb dessen sich die Nähe und die Distanz und damit die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den in den (west-) europäischen Gesellschaften verbreiteten Ordnungsmodellen bestimmen lassen. Im Gegensatz zu den Bemühungen der Sozialwissenschaften, die immer wieder versucht haben, präzise und kohärente Ordnungsbegriffe zu analytischen Zwecken zu konstruieren, sollen diese Entwürfe, ihre Konstruktion, ihre Verwendung und Verbreitung hier also historisiert werden. Dies soll anhand von vier Leitfragen geschehen: Erstens muss festgestellt werden, auf welchen Einteilungen der Gesellschaft die fraglichen Ordnungsvorstellungen überhaupt beruhten, und wie viele soziale Großgruppen daraus modelltheoretisch hervorgingen: Standen sich beispielsweise nur zwei Kollektive dichotomisch gegenüber (etwa eine herrschende und eine beherrschte Klasse), oder bot der Entwurf einer größeren Anzahl von Grundeinheiten (z. B. einer Mehrzahl von „Ständen“) Platz? Zweitens ist zu fragen, anhand welcher Kriterien diese sozialen Einheiten definiert wurden: zum Beispiel durch den Besitz bzw. den abgestuften oder Nicht-Besitz materieller Güter, anhand besonderer sozialer Funktionen, die jene Gruppen ausübten oder ausüben sollten (etwa das Verbürgen wirtschaftlicher Dynamik durch innovative Unternehmer), oder durch den Zugang zu Bildungsinstitutionen, durch Verhaltensstandards und moralische Einstellungen, oder durch Arbeits- und Konsumstile. Stets ist dabei mit national je unterschiedlichen Mischungsverhältnissen zu rechnen, die zwar die analytische Tiefenschärfe und vor allem die Eindeutigkeit der Modelle im internationalen Vergleich beeinträchtigten, nicht aber die handlungsleitende Orientierungskraft in ihren jeweiligen politisch-sozialen Kontexten. Auf einer leicht verschobenen Ebene, die weniger die Entwürfe und Auseinandersetzungen professioneller Sozialwissenschaftler anspricht als vielmehr den Gebrauch besagter Termini und Modelle in der Sprache der politisch-sozialen Kämpfe, entspräche dies dem Gegensatz zwischen Bedeutungsgehalten, die stärker konkret lebensweltlich verankerte Sozialmilieus bezeichnen sollten einerseits und andererseits sozialen Großgruppen,
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die auf bestimmten, eher abstrakten Prinzipien beruhen sollten, etwa der Leistungsauslese, der Fiktion des adligen Blutes,13 besonderen Positionen in der ökonomischen Wertschöpfungskette14 oder aber der Verkörperung moralischer Werte wie Anstand, Ausgleich und Mäßigung.15 Daraus ergibt sich drittens die Frage nach der gedachten Hierarchie zwischen den vorgestellten Großgruppen und den Grundannahmen, denen diese Hierarchien folgten. Auch hier zirkulierten ganz unterschiedliche Rangprinzipien, die einander diametral gegenüberstanden: Handelte es sich um einen Traditionalismus historischer Ableitungen, um die naturrechtlich fundierte Abstufung der „Leistungsgemeinschaften“ in der katholischen Soziallehre16 oder im Gegenteil um die Ausrichtung auf geschichtsphilosophisch gestellte „letzte Ziele“, die die Rangfolge und Wertigkeiten der gedachten Einheiten bestimmte und ideologisch überhöhte. Diese Vorstellung, die Marx und Engels im Kommunistischen Manifest paradigmatisch formuliert hatten (das Proletariat erkämpft „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“),17 ging über die Zweite Internationale und das Erfurter Programm der SPD von 1891 in die Programmatik zahlreicher europäischer sozialistischer Parteien ein und gehörte zum festen Meinungswissen ihrer Aktivisten.18 Schließlich soll viertens den oben bereits erwähnten Handlungsimperativen der Ordnungsmodelle nachgegangen werden. Dies betrifft zum einen das Führungswissen der Herrschafts- und Funktionsträger. Der Zusammenbruch oder zumindest die 13 M. De Saint Martin, Der Adel. Soziologie eines Standes, Konstanz 2003. 14 Hier ist beispielsweise an die Rezeption und Verbreitung von Schumpeters emphatischer Unternehmer-Definition zu denken. 15 H.-G. Haupt/G. Crossick (Hg.): Die Kleinbürger. Eine europäische Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts, München 1998, 180–84. 16 G. Lindgens, „Die politischen Implikationen der katholischen Soziallehre“, I. Fetscher/ H. Münkler (Hg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen Bd. 5, München 1987, 93–104; F. J. Stegmann/P. Langhorst, „Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizismus“, H. Grebing (Hg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus, Katholische Soziallehre, Protestantische Sozialethik, Essen 2000, 599–862. 17 K. Marx/F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, Berlin 1945, 541987, 69. 18 Vgl. D. Geary, „The Second International. Socialism and Social Democracy“, T. Ball/R. Bellamy (Hg.), The Cambridge History of Twentieth Century Political Thought, Cambridge 2003, 219–38; aus orthodoxer Sicht mit sprechendem Titel R. Wingert: Die Genesis der Entdeckung und der ersten philosophisch-weltanschaulichen Begründung der welthistorischen Mission des Proletariats durch Karl Marx und Friedrich Engels (1841–1848). Ein Beitrag zur Auseinandersetzung mit bürgerlicher „Marxologie“, Diss Halle-Wittenberg 1981. Für französische Intellektuelle: T. Judt, Marxism and the French Left. Studies in Labour and Politics 1830–1981, Oxford 1986; ders., Geschichte Europas, 230–60, 446–73; D. McLellan, „French Marxism. Existentialism to Structuralism“, Ball/Bellamy (Hg.), Twentieth Century Political Thought, 299–318.
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Fragwürdigkeit traditional legitimierter Autorität und der Verlust der damit einhergehenden Handlungssicherheit stand den Zeitgenossen der Zwischenkriegszeit klar vor Augen. „Wo man früher befehlen konnte, muss man heute überzeugen; wo man zwingen durfte, muss man suggerieren, wo man erbte, muss man werben“, notierte 1931 der belgische Sozialist Hendrik de Man, einer der schillerndsten Intellektuellen und Politiker der Jahrhundertmitte.19 Nicht nur für ihn stellte diese neue Gegebenheit einen Zustand der „Labilität“ dar. Die Antworten auf diesen Stabilitätsverlust, gegeben von Intellektuellen, Wissenschaftlern und Politikern, die neue handlungsleitende Ordnungskonzepte zu entwerfen und anzuwenden suchten, reichten von Anstrengungen, traditionelle Autoritätsmuster wiederzubeleben, über gewaltsame Unterwerfungsstrategien und -fantasien auf der Grundlage von Befehl und Gehorsam bis hin zum Versuch, auf die eine oder andere Weise einen wirklichen Konsens über die jeweiligen Ziele der Gruppe und über die dafür einzusetzenden Mittel zu erzielen. Zum anderen bestimmten und begrenzten die Ordnungsmodelle aber auch die Handlungsoptionen von sozialen Bewegungen, ihren Anführern und Vordenkern. Angetrieben von Vorstellungen über Klassenzugehörigkeiten, Klasseninteressen und Klassenkämpfen, konnten derartige Ordnungsvorstellungen durchaus politische Ohnmacht und die Verweigerung kollektiven Handelns befördern, aber auch aus universalistisch gedachten Ordnungsvorstellungen heraus Strategien zum vermeintlichen Wohl der gesamten Großgruppe wählen oder aber aus einem eher „korporativen“ Verständnis der sozialen Ordnung heraus für das „partikularistische“ Durchsetzen nur der Interessen des eigenen kleineren Kollektivs optieren lassen. Gerade an diesem Punkt wird deutlich, wie stark die Unterstützung demokratischer oder autoritärer Institutionen und Bewegungen von der Durchsetzung und vor allem der jeweiligen Ausgestaltung sozialer Ordnungsentwürfe abhängig werden konnte. Der Ertrag dieser Art der Systematisierung von Einzelbefunden sollte gerade darin bestehen, durch die Rekonstruktion der spezifischen Ausprägung und der Bedeutungsgehalte und damit der Verwendungsmöglichkeiten beispielsweise des Klassen- oder des Elite-Begriffs in unterschiedlichen europäischen Gesellschaften die Beziehung zwischen dem sozialen Ordnungsdenken und den politisch-sozialen Handlungsspielräumen der Akteure präziser zu bestimmen. Das würde es erlauben, die bezeichnete Unschärfe in ihrer ideengeschichtlichen Relevanz zu erfassen, Prozesse der Radikalisierung und Momente der Beharrung auszuloten und ideengeschichtliche Zäsuren genauer als bisher zu verorten, die Dominanz oder das Verschwinden bestimmter politisch-sozialer Ordnungsvorstellungen zu bestimmten Zeiten bei bestimmten Gruppen präziser zu rekonstruieren und auf diese Weise das Handeln der historischen Akteure in den europäischen Gesellschaften angemessener zu erklären. 19 H. de Man: „Massen und Führer“, Europäische Revue 27 (1931), 806–26, 811.
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Für ein solches gleichermaßen sozialhistorisches wie ideengeschichtliches Unterfangen bedürfen jedoch die Produktionsbedingungen und Verbreitungswege von Ordnungsideen sowie die Formen ihrer Verwendung einer genaueren Analyse.20 Aus Raumgründen können die Verfahren einer solchen Systematisierung hier nur fallweise skizziert werden. Bei der Frage nach der Wirksamkeit dieser Ideen ist nicht nur an die großen, häufig gewaltsamen politischen Systemwechsel zu denken, sondern auch an die Ausgestaltung bestehender Institutionen, etwa des Bildungswesens, der Arbeitsbeziehungen und der betrieblichen Sozialordnung oder der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung der großen Lebensrisiken. Die Ordnungsentwürfe, die im Folgenden diskutiert werden sollen, haben sich begrifflich längst als gebräuchliche Kategorien der sozialwissenschaftlichen und der sozialhistorischen Analyse eingebürgert. Im Laufe dieses Prozesses der Verbreitung als genuin wissenschaftliche Kategorien ist jedoch das Bewusstsein dafür in den Hintergrund getreten, dass sich die Zeitgenossen (einschließlich der professionellen Sozialforscher!) mit ihrer Hilfe zunächst einfach Orientierung in der sozialen Welt zu verschaffen und ihre politischen und sozialen Phantasmagorien auszudrücken suchten, oder in der Terminologie Kosellecks: Dass es sich auch um historische Begriffe handelt, mittels derer die Akteure ihre Erfahrungsräume ausmaßen und ihre Erwartungshorizonte aufspannten.21 Anders als es die Begriffsgeschichte zum Ziel hat, lassen sich die fraglichen Termini allerdings nicht nur als Indikatoren des politisch-sozialen Wandels, für die Periodisierung einer Zeit des revolutionären Umschlags, konzipieren und verstehen, sondern auch als Einsätze im Kampf um die politische und soziale Ordnung. Rückt man diese politisch-ideellen Auseinandersetzungen in den Vordergrund, so folgen daraus einige konzeptionelle Konsequenzen. Nur drei davon sollen hier kurz erwähnt werden: Erstens ist davon auszugehen, dass diese Auseinandersetzungen in einem durchaus begrenzten Raum der Formationen von Meinungswissen über die Gesellschaft stattfanden, in dem jedoch eine heftige Konkurrenz zwischen diesen Wissensbeständen beziehungsweise ihren Propagandisten herrschte. Zweitens legt es diese Konkurrenz nahe, bei der Untersuchung der Verbreitung solcher Ideen stets die beteiligten Akteure, ihre Interessen und Bedürfnisse, sowie ihre Fähigkeiten und Chancen, zu sprechen und Gehör zu finden, im Blickfeld zu behalten. Als Akteure dieser Konkurrenzkämpfe kommen Intellektuelle, Wissenschaftler und Politiker in Frage, also die typischen Produzenten und Verbreiter sozialer Ideen. Und drittens möchte ich behaupten, dass erst im Streit über die angemessenen Begriffe zur Beschreibung der sozialen Welt die nicht-hinterfragten Grundannahmen der Akteure zu Tage treten. 20 Ausführlicher zu diesem Ansatz vgl. Reitmayer, Elite, 69–99. 21 R. Koselleck, „,Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘. Zwei historische Kategorien“, ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1979, 349–75.
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Zur Bezeichnung dieser besonderen Form des Wissens über die soziale Welt lässt sich auf Bourdieus Konzept der Doxa zurückgreifen. Bourdieu entwickelte diesen Begriff bereits in den frühen 1970er Jahren zur Analyse des unhinterfragten Meinungswissens über die soziale Welt, das seine handlungsleitende Kraft nicht zuletzt daraus bezieht, den Menschen den Glauben an die Existenz, die Identität und die Abgrenzungen distinkter sozialer Gruppen – seien dies „Klassen“, „Stände“ oder „Eliten“ – zu vermitteln und vor allem an die Sinnhaftigkeit einer durch diese Formationen strukturierten Gesellschaft.22 In diesem Horizont stellt die Überzeugung, in einer Klassen-Gesellschaft zu leben, oder in einer Nivellierten Mittelstandsgesellschaft, ein solches Entscheidungssicherheit vermittelndes Meinungswissen dar. Und noch der Streit über solche Meinungsphänomene kann ihren Status als unhinterfragte Grundannahmen verstärken. So impliziert eine – noch so heftige – Auseinandersetzung über die Elemente eines sinnvollen, realitätsangemessenen Klassen-Konzepts das grundsätzliche Einverständnis darüber, dass die Klassen-Analyse an sich ein sehr wertvolles Instrument zur Erforschung gegenwärtiger oder historischer Gesellschaften sei, und mehr noch, dass es sich bei der zu untersuchenden Gesellschaft eben um eine „Klassen-Gesellschaft“ handele. Handlungsmächtig werden jene Grundannahmen jedoch gerade nicht nur bei professionellen Sozialforschern, sondern generell bei allen Akteuren, die sich in der sozialen Welt orientieren und zwischen Handlungsalternativen wählen müssen (also bei jedermann und jederfrau). Beispielsweise ließ sich zeigen, dass es für die Ausgestaltung der betrieblichen Sozialordnung in deutschen Industrieunternehmen von großer Bedeutung war, ob sich die unternehmerischen Führungskräfte als „Führer“ (zum Beispiel im Sinne des „Betriebsführers“ des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit) oder als wertgebundene und charakterlich qualifizierte Elite-Individuen verstanden und von der Belegschaft als solche auch akzeptiert werden.23 Im Sinne des oben erwähnten begrenzten Raumes für Formen des Meinungswissens über die Gesellschaft konkurrierten und überlagerten sich in Deutschland und in Europa im 20. Jahrhundert mindestens fünf solcher Doxa über die soziale Ordnung. Selbstverständlich entbehrt diese Zusammenstellung nicht ganz der Willkür. Insofern ist die Auswahl durchaus vorläufig. Verdichtet man sie jeweils zu einem einzigen Begriff, so sieht eine Übersicht wie folgt aus: 1.) Klassen, Klassengesellschaft und Klassenkämpfe; 2.) Ständisch-Korporative Vorstellungen; 3.) Massen und Massengesellschaft; 4.) Führer, Führerprinzip und Führer-Gefolgschaft-Beziehung; sowie 5.) Elite. 22 P. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1976; ders., Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien 1990; ders., Sozialer Raum und „Klassen“, Frankfurt/M. 21985. 23 Reitmayer, Elite, 356–76; V. Berghahn, Unternehmer und Politik in der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1985, 228–57.
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Bevor dieses Tableau der Doxa über die soziale Welt im Einzelnen vorgestellt wird, sei noch bemerkt, dass in den unterschiedlichen Einzelentwürfen oder Konzepten der verschiedenen Autoren sich unterschiedliche Doxa mischen oder überlagern konnten, gerade weil es sich bei diesen ja um zumeist unreflektierte und daher nicht hinterfragte Grundannahmen handelte. Die allerwenigsten Ordnungsentwürfe drückten daher eine einzelne Doxa in gewissermaßen „reiner Form“ aus; oft verbargen sich beispielsweise hinter dem verwendeten Elite-Begriff Ansprüche auf ständische Privilegierungen, etwa in Auseinandersetzungen über das Bildungssystem oder die Repräsentativverfassung. Weil nun aber die Erörterungszusammenhänge der Reden über die soziale Welt im 20. Jahrhundert (also die Intellektuellen Felder) aller wissenschaftlich-intellektuellen Transfers zum Trotz in hohem Maße nationalstaatlich organisiert und von ebensolchen Erfahrungen geprägt waren, stellen die in diesen Diskussionsfeldern jeweils dominierenden spezifischen Mischungs- und Überlagerungsfigurationen ideengeschichtlich fortdauernde nationale Spezifika in Europa dar, die natürlich auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin überprüft werden können und müssen.
III. Klassen, Klassengesellschaft und Klassenkämpfe Die Vorstellung und Behauptung, die gegenwärtige Gesellschaft sei als Klassengesellschaft verfasst, stellte vor allem in Deutschland für zahlreiche Sozialwissenschaftler, Politiker und Intellektuelle eine Provokation und damit eine Herausforderung ihres politisch-sozialen Denkens dar. Bekannt ist das böse Wort, die Soziologie sei in Deutschland nur deshalb als akademische Disziplin etabliert worden, um zu beweisen, dass keine Klassen existierten oder ihre Existenz von keiner großen Bedeutung (mehr) sei.24 Tatsächlich stellt die Klassen-Doxa einen zentralen – meist negativen – Bezugspunkt für die Produktion sozialer Ordnungsideen und damit auch für das Entstehen und die Verbreitung der anderen Doxa dar. Auf der anderen Seite war die Vorstellung, in einer Klassengesellschaft zu leben und entsprechend handeln zu sollen, in Deutschland vermutlich selbst auf seinem Höhepunkt im späten Kaiserreich und der Weimarer Republik nur innerhalb der organisierten Arbeiterschaft sowie unter einigen dieser nahestehenden und deshalb marginalisierten Sozialwissenschaftlern und Intellektuellen verbreitet.25 Die Spaltung 24 M. Schroer, „Klassengesellschaft“, G. Kneer et al. (Hg.), Klassische Gesellschaftsbegriffe der Soziologie, München 2001, 139–78, 141; R. Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft, Stuttgart 1957, 121–23. 25 J. Kocka, „Stand – Klasse – Organisation. Strukturen sozialer Ungleichheit in Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert im Aufriß“, H.-U. Wehler (Hg.), Klassen in der europäischen Sozialgeschichte, Göttingen 1979, 137–65.
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der sozialistischen Arbeiterbewegung zementierte vermutlich auch die gegensätzlichen Wahrnehmungen der sozialen Welt in der deutschen Gesellschaft. Weil mit (M) SPD und USPD beziehungsweise SPD und KPD gleich zwei Parteien darum konkurrierten, die aus den Schriften von Marx und Engels abgeleiteten wahren Interessen und Bestimmungen des Proletariats zu vertreten, wurde die Industriearbeiterschaft (aber im Wesentlichen nur diese) mit Kategorien der Klassenanalyse und des Klassenkampfes umworben, während man schon seit dem Breslauer Parteitag 1895 andere Bevölkerungsteile (z. B. die Bauern) als Zielgruppe mehr oder weniger absichtlich ignoriert hatte.26 Die gemeinsame Grundannahme der unterschiedlichen Klassenmodelle all dieser Akteure bestand allerdings nicht so sehr in einer einzelnen kohärenten Theorie (als die man „den“ Marxismus ideengeschichtlich nicht wird bezeichnen können), sondern in der Überzeugung, die bisherigen wie die gegenwärtigen Gesellschaften seien von Klassenkämpfen geprägt, wobei „Klassen“ gesellschaftliche Großgruppen darstellten, deren Angehörige durch gleich gelagerte materielle – im Wesentlichen: ökonomische – Interessen verbunden seien. Die Interessen der unterschiedlichen Klassen wurden dabei zumeist als gegensätzlich betrachtet (so dass die Annahme ihrer zumindest teilweisen Komplementarität bereits zum „Klassenverrat“ stigmatisiert werden konnte), weshalb deren typische Handlungsweise der Kampf um diese Interessen sei. Zumindest in ihrer marxistischen Ausprägung unterstellte die Klassen-Doxa, dass sich die Reproduktion der Großgruppen durch die individuelle Weitergabe (Vererbung) des Besitzes oder Nicht-Besitzes von Ökonomischem Kapital vollziehe; und dass die gesellschaftlich relevante Herrschaftsbeziehung diejenige der Ausbeutung des Proletariats durch die Bourgeoisie sei. Die materiellen Verteilungskämpfe, in denen sich die Klassengegensätze niederschlugen, stellten in diesem Horizont in der Regel Nullsummenspiele dar, das heißt, der Vorteil der einen Seite bestand im Nachteil der anderen, weshalb ein „Klassen-Ausgleich“ kaum denkbar war und die „Klassenkämpfe“ einen oft unversöhnlichen Charakter annahmen. In diesem Sinne bedeutete die Durchsetzung „konsenskapitalistischer“ Ideen nach 1945 einen schweren Schlag, wenn nicht das vorläufige Ende der Klassen-Doxa in (West-) Deutschland.27 Klassen-Theorien und -Modelle mussten nicht, konnten aber geradezu heilsgeschichtlich überhöht werden, indem als das historische Ziel aller gesellschaftlichen Entwicklung die finale Auseinandersetzung zwischen zwei Klassen und der unvermeidliche Sieg der einen von beiden ausgegeben wurde, an dessen Ende alle Klassengegensätze überwunden sein würden. Die anzustrebende legitime gesellschaftliche Ordnung wurde damit in der Klassen-Doxa in die Zukunft (beziehungsweise in den kommunistischen 26 D. Lehnert, Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung und Regierungspartei 1848–1983, Frankfurt/M. 1983, 88–92. 27 J. Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München 2003.
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Herrschaftsbereich) verlegt, anstatt – wie in anderen Ordnungsmodellen – eine Möglichkeit der Gegenwart zu beschreiben. Es ist offensichtlich, dass ein solches politisch-gesellschaftliches Ordnungsmodell mit den nach geregelten Rahmenbedingungen strebenden Arbeitsformen einer Bürgerlichen Gesellschaft und ihren Trägergruppen nur schwer zu vereinbaren ist. Aus diesem Grund fand die Klassen-Doxa niemals eine große Verbreitung in den bürgerlichen Gruppen der deutschen Gesellschaft. In diesem Sinne stellt die sozialhistorische Modellannahme eines „klassenbewussten Bürgertums“ geradezu eine Unmöglichkeit dar.28 Ja, es lässt sich sogar die These vertreten, dass die relative politische „Schwäche“ des deutschen Bürgertums zwischen 1850 und 1950 auch und gerade aus dem Fehlen eines seiner Morphologie und seinen Reproduktionsformen adäquaten politischideellen Ordnungsentwurfs resultierte, wie die Elite-Doxa ihn nach dem 2. Weltkrieg darstellen sollte. In den europäischen Gesellschaften dominierten durchaus unterschiedliche Ausformungen des Klassenbegriffs, der Verwendungen von Klassen-Konzepten und der Rhetorik von Klassen-Auseinandersetzungen. Vor allem differierte das Ausmaß der Imprägnierung der Klassen-Doxa mit marxistischen Vorstellungen. Vermutlich in keinem Land spielte der Klassen-Begriff in der politisch-sozialen Sprache eine derart große Rolle wie in Großbritannien, und zwar spätestens nach 1945 auch in den mittleren sozialen Lagen (also der „middle class“). Bildungsinstitutionen, räumliche Segregation, Dialekte (man denke an die berühmte Debatte „U and non-U“ aus dem Jahr 1955 über die Bedeutung sozial gebundener Sprechweisen als Indikator der Klassenidentität – „U“ stand dabei für „upper class“)29 und viele andere Einrichtungen und Praktiken besorgten die lebensweltlich erfahrene Zuschreibung von individuellen und kollektiven Klassen-Zugehörigkeiten bis in die Ära Thatcher hinein. Arthur Marwick betitelt die Bedeutung des Themas „Klasse“, „Klassenidentitäten“ und so weiter für die Zeit nach 1945 als „that topic all absorbing“.30 Gleichzeitig lässt sich seinen Arbeiten ebenso wie denjenigen von Cannadine oder McKibbin entnehmen, dass „Klasse“ in Großbritannien durchaus anders definiert wurde als beispielsweise in Deutschland.31
28 A. J. Mayer, Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft 1848– 1914, München 1988, 83–128; H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849– 1914, München 1995, 716–30. 29 N. Mitford, „The English Aristocracy“, Encounter 5 (1955) 3, 5–12; A.S.C. Ross, „U and non-U“, Encounter 5 (1955) 5, 11–20. 30 A. Marwick, British Society since 1945, London 31996, 34–44. 31 A. Marwick, Class. Image and Reality in Britain, France and the USA since 1930, London 1980; D. Cannadine, Class in Britain, New Haven 1998; R. McKibbin, Classes and Cultures. England 1918–1951, Oxford 1998.
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Nur während einer verhältnismäßig kurzen Phase um 1930, also zur Zeit der ersten Labour-Regierung, scheint bei den Wortführern dieser Partei und ihr nahestehenden Intellektuellen ein dichotomes, auf dem Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit beruhendes Klassen-Bild eine größere Rolle gespielt zu haben.32 Ansonsten dominierte (außerhalb der eher marginalen Kommunistischen Partei) ganz deutlich unter den Angehörigen unterschiedlichster sozialer Lagen die Vorstellung einer in drei Klassen geteilten Gesellschaft, also in working class, middle class und upper class, wobei der Terminus middle class offenbar erst nach 1945 zur Selbst- und bis dahin nur zur Fremdbeschreibung verwendet wurde, während zur Bezeichnung der obersten sozialen Gruppen Begriffe wie the wealthy dominierten.33 Offenbar stand im Zentrum des Klassen-Begriffs, wie er in Großbritannien zur sozialwissenschaftlichen Analyse wie zur lebensweltlichen (Selbst-) Verortung verwendet wurde, nicht der marxistisch inspirierte Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Bourgeoisie und Proletariat mit all seinen geschichtsphilosophischen Überhöhungen oder zumindest ein irgendwie einheitliches sozioökonomisches Prinzip der Reproduktion, sondern die Addition von Beruf, Bildung, Sozialprestige, Konsumgewohnheiten und Kulturellen Praktiken,34 kurzum Kategorien, die in der sozialwissenschaftlichen Diskussion Deutschlands in dieser Kombination eher einer Kombination aus dem Schichten- und dem Milieu-Begriff entsprechen als der Klassen-Analyse.35 Das Ausmaß und die Rigidität der sozialen Platzierung durch Selbstund Fremdzuschreibungen von Kulturellen Praktiken, oder der spezifische Status, den das Durchlaufen besonderer Bildungsinstitutionen verlieh, scheinen eine quasiständische Aufladung und Verwendung des Klassenbegriffs in Großbritannien bewirkt zu haben. Damit entstand das Paradox, dass die britische Gesellschaft einerseits wie kaum eine andere in Europa geprägt war von Klassen-Rhetorik und „Klassengemäßem“ Handeln, andererseits jedoch von vielen kontinentaleuropäischen Beobachtern, vor allem von Konservativen, wegen der in ihr wahrgenommenen sozialen Harmonie und der scheinbaren Absenz zerstörerischer Klassenspannungen bewundert wurde. 32 Marwick, Class. 33 A. Marwick, „Mentalitätsstrukturen und soziokulturelle Verhaltensmuster“, H. Kastendiek (Hg.), Länderbericht Großbritannien. Geschichte – Politik – Wirtschaft – Gesellschaft, Bonn 1994, 109–38. 34 McKibbin, Classes and Cultures. 35 G. Berger, „Klasse“, G. Endruweit/G. Trommsdorff (Hg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 22002, 270–75, P. Hartmann, „Lebensstilgruppe und Milieu“, Endruweit/ Trommsdorff (Hg.), Wörterbuch der Soziologie, 317–21; G. Endruweit/W. Georg, „Schicht, soziale“, Endruweit/Trommsdorff (Hg.), Wörterbuch der Soziologie, 467–70; R. Peuckert, „Klasse, soziale“, B. Schäfers, Grundbegriffe der Soziologie, Opladen 2000, 171– 75; H. Gukenbiehl, „Milieu“, Schäfers, Grundbegriffe, 232–34; R. Peuckert, „Schicht, soziale“, Schäfers, Grundbegriffe, 297–301.
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So besaß Großbritannien im 20. Jahrhundert zwar „die älteste, traditionalistischste und selbstbewussteste Arbeiterklasse der Welt“.36 Doch folgten aus diesem Klassenbewusstsein und der Polarisierung der Klassen-Rhetorik innerhalb der englischen Arbeiterklasse keine oder nur wenige Handlungsimperative im Sinne eines „Klassenkampfes“.37 Und weil die starken handwerklichen Traditionen der englischen Arbeiterbewegung38 sich in einer Vielzahl von „berufsständischen“ Gewerkschaftsorganisationen mit einem entsprechenden Berufsgruppen-Egoismus verfestigten, die gerade nicht den typischerweise sozio-politisch homogenisierenden und institutionell zentralisierenden Effekten einer starken marxistischen Aufladung unterlagen, gelang es im Laufe des 20. Jahrhunderts auf betrieblicher Ebene immer weniger, die Arbeiter in einen gemeinsam auszuhandelnden Konsens über die strategischen Unternehmensziele einzubinden.39 Dagegen zeigte sich die deutsche Arbeiterbewegung, die gewiss nicht weniger als die englische von der (männlichen) Industriearbeiterschaft geprägt war, nach 1945 sehr erfolgreich darin, Institutionen der betrieblichen Mitbestimmung wie des überbetrieblichen Interessenausgleichs mit der Arbeitgeberseite, die in der Weimarer Republik noch zur Überwindung der Klassengesellschaft konzipiert worden waren, derart weiterzuentwickeln und zu verwandeln, dass sie im Zeichen des Konsenskapitalismus die Herstellung beidseitig vorteilhafter Arbeitsbeziehungen mit deutlichen Einkommenszuwächsen verbanden.40
36 Marwick, „Mentalitätsstrukturen“, 114 37 Marwick, Class, S. 79 38 E.P. Thompson, Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, Frankfurt/M. 1987, 807– 939. 39 Damit soll jedoch nicht behauptet werden, die Unternehmensleitungen, nur zu häufig von snobistischen upper-class-Attitüden geleitet, hätten sich ausreichend um die Aushandlung oder auch nur um die Konzeptionalisierung derartiger Kompromisse bemüht. Marwick, „Mentalitätsstrukturen“, S. 114/15; A. McIvor, „Industrial Relations in Britain 1900–1939“, C. Wrigley (Hg.), A Companion to Early Twentieth Century Britain, Chichester 2009, 319–36.Für die britische Automobilindustrie zeigt dieses Scheitern Andrew Mair: „From British Leyland Motor Corporation to Rover Group. The Search for a Viable British Model“, M. Freyssenet et al. (Hg.): One Best Way? Trajectories and Industrial Models of the World’s Automobile Producers, Oxford 1998, S. 395–417. 40 G. Feldman/I. Steinisch, Industrie und Gewerkschaften 1918–1924. Die überforderte ZAG, Stuttgart 1985; W. Abelshauser, „Freiheitlicher Korporatismus im Kaiserreich und in der Weimarer Republik“, ders. (Hg.): Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat, Stuttgart 1987, 147–70; G. Müller, Strukturwandel und Arbeitnehmerrechte. Die wirtschaftliche Mitbestimmung in der Eisen- und Stahlindustrie 1945–1975, Essen 1991; K. Schönhoven, Die deutschen Gewerkschaften, Frankfurt/M. 1987, 119–76, 197–250; P. Culpepper, „Employers, Public Policy, and the Politics of Decentralized Cooperation in Germany and France“, P. Hall/D. Soskice (Hg.): Varieties of Capitalism. The Institutional Foundations of Comparative Advantage, Oxford 2001, 275–304; S. Vitols, „Varieties of Corporate
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In Frankreich, um das nur ganz kurz anzufügen, dominierten innerhalb der Sozialwissenschaften vor und während der Zwischenkriegszeit und noch darüber hinaus wiederum ganz andere Vorstellungen über eine durch die Existenz von „Klassen“ strukturierte Gesellschaft. Hier herrschten Modelle vor, die das Vorhandensein von vier Klassen – Bourgeoisie oder Oberklasse, kleinbürgerlichen Mittelklassen (häufig im Plural!), Arbeiterklasse und ländliche oder bäuerliche Klasse – unterstellten.41 Aber auch 3- oder 5-Klassen-Modelle wurden diskutiert, wobei diese „Klassen“ nicht marxistisch, also durch die Verteilung von Produktionsmitteln definiert wurden, sondern (analog zu späteren Schichtungsmodellen) durch Einkommen, Vermögen, Bildungsniveau, Berufszugehörigkeit, Konsumstile und soziale Verflechtungen.42 In der Alltagssprache, außerhalb der Rhetorik der Gewerkschaften und Linksparteien, scheint der Klassenbegriff jedoch kaum präsent gewesen zu sein. Die großen politischen Konflikte um die Dreyfus-Affäre, den laizistischen Staat und die Vichy-Regierung verliefen wohl auch deshalb nicht unbedingt entlang jener „Klassenlinien“.43 Zwar propagierten kommunistische Politiker und Gewerkschafter die Notwendigkeit des Kampfes der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie, doch gerade während der großen Streikwelle zwischen 1936 und 1938, die am heftigsten in Betrieben mit schwachem gewerkschaftlichen Organisationsgrad verlief, zeigten die Arbeiter wenig (marxistisches) Klassenbewusstsein, sondern (vermutlich aus syndikalistischer Tradition) eher solidaristische und spontanistische Vorstellungen und Handlungsweisen.44 Die starke Position der KPF vor 1939/40 und der enge Handlungsspielraum der Volksfront-Regierungen resultierte in dieser Perspektive deshalb vermutlich weniger aus einem (marxistisch verstandenen) „Klassenbewusstsein“ des französischen Proletariats (oder wichtiger Teile desselben) und daraus folgender Entschlossenheit zum „Klassenkampf “, sondern aus einem „Klassen“-Verständnis, das sich aus der Mischung älterer syndikalistischer und anti-etatistischer Traditionen mit aktueller materieller Unzufriedenheit speiste, was noch einmal auf die je nationalspezifische Ausformung der Klassen-Doxa verweist.
Governance. Comparing Germany and the UK“, ebd., 337–60; R. Boyer/M. Freyssenet, Produktionsmodelle. Eine Typologie am Beispiel der Automobilindustrie, Berlin 2003. 41 H.-G. Haupt, Sozialgeschichte Frankreichs seit 1789, Frankfurt/M. 1989, 231. 42 Marwick, Class, 44–49. 43 Dagegen vertritt allerdings Jackson die These, dass zwischen Februar 1934 und 1944 in der französischen Gesellschaft ein „Bürgerkrieg“ geherrscht habe, und „the civil war was first and foremost a class war“. J. Jackson, France. The Dark Years 1940–1944, Oxford 2003, 65. 44 Marwick, Class, 139–41. Allerdings profitierte der kommunistische Flügel der CGT am meisten von der Eintrittswelle vor, während und nach den Streiks. Jackson, France, 75–77.
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IV. Ständisch-Korporative Vorstellungen Während des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts stellte vermutlich das Vertrauen auf oder die Suche nach einer (neo-) ständischen Gesellschaftsordnung den größten Konkurrenten für alle Klassen-Theorien dar. Ihr Hauptantrieb war die Furcht vor Klassenspaltungen und –kämpfen in den europäischen Gesellschaften, für die man nicht ganz zu Unrecht den liberalen Individualismus verantwortlich machte. Ständisch-Korporative Modelle entwarfen eine mehr oder weniger deutlich hierarchisch aufgebaute Gesellschaft (bei einigen namhaften, insgesamt aber eher marginalen linkskatholischen Intellektuellen trat die Betonung der Hierarchie ausdrücklich zurück, ohne dass diese die ungleiche Verteilung von Macht als solche problematisierten),45 in der die verschiedenen, im Wesentlichen beruflich definierten „Stände“ oder „Korporationen“ mit je unterschiedlichen Rechten und Pflichten versehen waren. Das Organisationsprinzip einer solchen Gesellschaft wurde als „organisch“ und auf die Realisierung einer „Gemeinschaft“ angelegt gesehen und ausdrücklich nicht als individualistisch. Folglich zielten diese Entwürfe, die ihre soziale Basis überwiegend in ländlichen Milieus und den „alten“ Mittelschichten (in Frankreich allerdings auch in den „neuen“ der cadres),46 in katholischen Teilen des gehobenen Bürgertums sowie des Adels fanden, auf eine Schwächung und institutionelle Ergänzung oder gar Ersetzung des Parlamentarismus mit seinen „zufälligen“ Wahlergebnissen (ein fester Topos des ständisch-korporativen Meinungswissens) einer atomisierten Wählerschaft. Im Kern kreisten alle diese Modelle um die Vorstellung, durch das Schaffen einer berufsständischen Gliederung sei es möglich, den Klassenkampf dergestalt lahm zu legen, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der oder den gleichen Korporation(en) die Rahmenbedingungen ihres beruflichen Handelns gemeinsam festlegten. Auch sollte das Prinzip der Subsidiarität an die Stelle eines interventionistischen („totalen“) Wohlfahrts- und Steuerungsstaates treten.47 Damit ist allerdings noch nichts über die möglichen, je unterschiedlichen nationalen Ausprägungen der Korporations-Doxa gesagt. In der Betonung von Ganzheitlichkeit, „Gemeinwohl“ und Gemeinschaft sowie in der Vorstellung, eine solche Gesellschaftsordnung sei in der göttlichen Schöpfungsordnung, zumindest aber in der Natur menschlicher Sozialbeziehungen bereits angelegt und warte nur darauf, realisiert zu werden, lag die
45 Stegmann und Langhorst, „Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizismus“; Lindgens, „Die politischen Implikationen der katholischen Soziallehre“. 46 L. Boltanski, Die Führungskräfte. Die Entstehung einer sozialen Gruppe, Frankfurt/M. 1990. 47 Für die spanische Sozialpolitik vor Franco vgl. K. Nowak, Spanien zwischen Diktatur und Republik. Korporatismus, organisierte Interessen und staatliche Sozialpolitik 1919–1936, Essen 2004.
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große Nähe zu und die häufige personelle bzw. thematisch-konzeptionelle Überschneidung mit der katholischen Soziallehre.48 Die Schwierigkeiten, dieses ständisch-korporative Meinungswissen von einem politikwissenschaftlichen Korporatismus-Begriff abzugrenzen, sind mehr als deutlich. Während es sich aber bei ersterem um eine politisch-soziale Ordnungsvorstellung handelt, die hauptsächlich auf die Ausschaltung von Klassenauseinandersetzungen abzielt, stellt letztere einen analytischen Untersuchungsbegriff für die Aushandlungen zwischen Politik und meist wirtschaftlichen Interessengruppen dar. Dennoch bleibt jenseits dieser Differenz festzustellen, dass beispielsweise nach Ende des Ersten Weltkriegs Akteure unterschiedlichster politischer Couleur in zahlreichen europäischen Ländern wirtschaftliche Interessen in neuen institutionellen Ordnungen zu verankern suchten, die sich nicht nur politökonomisch mehr oder weniger fruchtbar als „korporatistisch“ beschreiben lassen, sondern denen auch politisch-ideelle Motive und Erwartungen zu Grunde lagen, in denen die Korporatismus-Doxa als Ordnungsvorstellung handlungsmächtig wurde.49 Vor allem die katholische Kirche (mit der Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“ aus dem Jahr 1931), aber auch religiös ungebundene konservative Wissenschaftler, Politiker und Intellektuelle propagierten in der Zwischenkriegszeit Modelle einer korporativen Organisation der Gesellschaft. Diese entfalteten auch eine starke politische Durchschlagskraft, die ihren Zenit im österreichischen „Ständestaat“ unter Engelbert Dollfuß von 1934 bis 1938, im faschistischen Italien sowie in den iberischen Diktaturen Primo de Riveras, Francos und Salazars (wo sie zum wichtigsten Legitimationsfaktor des Regimes wurden),50 in Vichy-Frankreich (das heißt in den katholischen Ländern Westeuropas) und in fast ganz Osteuropa erreichte.51 Auch in der NS-Programmatik finden sich starke ständisch-korporative Züge.52 Die Erosion des ständisch-korporativen Meinungswissens begann in Deutschland jedoch schon in der Weimarer Republik, wenn nicht noch früher. Bereits die semantischen Verschiebungen, die um 1900 in der Diskussion um die sogenannte „Adelsreform“ eintraten, und die Malinowski unter dem sprechenden Titel „Vom König zum Führer“ unter48 P.C. Mayer-Tasch, Korporativismus und Autoritarismus. Eine Studie zu Theorie und Praxis der berufsständischen Rechts- und Staatsidee, Frankfurt/M. 1971. 49 C. Maier, Recasting Bourgeois Europe. Stabilization in France, Germany, and Italy in the Decade after World War I, Princeton 1975; hier auch ein Abgrenzungsversuch 9–12. 50 A. Costa Pinto, „The ,Corporatist Revolution‘ of the Portugese New State. An Introduction“, A. Mazzacane et al. (Hg.), Korporativismus in den südeuropäischen Diktaturen, Frankfurt/M. 2005, 1–7. 51 Mai, Europa, 47–49; Maier, Recasting Bourgeois Europe; P. Nolte, „Ständische Ordnung im Europa der Zwischenkriegszeit. Zur Ideengeschichte einer sozialen Utopie“, W. Hardtwig (Hg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, 233–55; A. Mazzacane et al. (Hg.), Korporativismus in den südeuropäischen Diktaturen. 52 J. Beyer, Die Ständeideologien der Systemzeit und ihre Ordnung, Darmstadt 1941.
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sucht hat, verweisen auf die Überlagerung (geburts-) ständischen Denkens durch ein rassistisch verstandenes Führer-Prinzip.53 Eine ganz andere Form der Überlagerung zweier Doxa fand in der frühen Sowjetunion statt, wo auf den Zarismus zurückgehende ständische Vorstellungen in den marxistischen Klassenbegriff eingingen, um den neuen Machthabern eine sinnvoll erscheinende und vor allem praktisch handhabbare Einteilung in Unterstützer und Gegner des Regimes zu verschaffen.54 Doch auch in der deutschen Rätebewegung während der Revolution von 1918/19 zeigte sich die politisch-ideelle Bedeutung des damaligen Vertrauens auf die Fähigkeit intermediärer Korporationen zur Vermittlung zwischen unterschiedlichen Interessen. Auch hier fand ein eigentümliches Verschmelzen mit Klassen-Vorstellungen statt, etwa in der Forderung der Berliner Arbeiterräte nach Einrichtung von „Produzentenkammern“, in denen auch das Eigentumsrecht der Unternehmer zunächst nicht angetastet wurde. Überhaupt deuten die verschiedenen zeitgenössischen Pläne, ein Rätesystem oder Institutionen der „Gemeinwirtschaft“ neben dem Parlament zu etablieren, darauf hin, dass korporatistische Vorstellungen in den Augen vieler Zeitgenossen weder einen Widerspruch zur Bejahung der parlamentarischen Demokratie darstellen mussten, noch an die Vorstellungswelten konservativer oder konfessionell stark gebundener Milieus gekoppelt waren.55 Nach 1945 befanden sich das ständisch-korporative Meinungswissen und die mit ihr verbundenen Vorannahmen und Modelle in Westeuropa auf dem Rückzug. Vor allem der offene Antiparlamentarismus und die Ablehnung des liberalen Individualismus besaßen in den von den Westalliierten befreiten Ländern keine institutionelle Realisierungschance mehr. Eine Orientierung an den iberischen Diktaturen wurde zwar in der Bundesrepublik von manchen konservativen Intellektuellen propagiert,56 erfuhr aber kaum praktische Unterstützung. Allerdings blieb die katholische Soziallehre in modernisierter Form, verbunden vor allem mit dem Namen Oswald von Nell-Breuning, zunächst sehr einflussreich (sichtbar vor allem in der Akzeptanz der Mitbestimmung und der Ausgestaltung des Sozialstaates), und ständische Vorstellungen wurden im Verlauf der 1950er Jahre auch immer wieder in die inhaltlich Füllung des Elite-Begriffs mit eingeschmolzen (etwa in der Vorstellung einer „Elite“ als „Orden“).57 53 S. Malinowski, Vom König zum Führer. Deutscher Adel und Nationalsozialismus, Frank furt/M. 2004. 54 S. Fitzpatrick, „Ascribing Class. The Construction of Social Identity in Soviet Russia“, Journal of Modern History 65 (1993), 745–70. 55 U. Kluge, Die deutsche Revolution 1918/1919, Frankfurt/M. 1985. 56 Prominent bei W. Martini, Das Ende aller Sicherheit. Eine Kritik des Westens, Stuttgart 1954. 57 Derartige Vorstellungen etwa bei E. Rack, Das Problem der Elite, Hamburg 1950; RankeGesellschaft (Hg.), Führungsschicht und Eliteproblem. Konferenz der Ranke-Gesellschaft, Frankfurt/M. 1957.
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V. Massen und Massengesellschaft Während sowohl die verschiedenen Klassen-Modelle als auch die korporatistischen Konzepte eine sinnvolle und gerechte Ordnung beschrieben oder zumindest die Möglichkeit einer solchen artikulierten, gilt das für mindestens eine der im 20. Jahrhundert verbreiteten Grundannahmen über die soziale Welt ganz und gar nicht, nämlich für die Massen-Doxa, die man ruhig als „Angst des Bürgertums vor den unterbürgerlichen Massen“ skizzieren kann. Die Ideen, denen sie zu Grunde lag, bezeichneten eine grundsätzlich illegitime politisch-soziale Ordnung. Die Warnung vor dem Zeitalter der Massen bildet zwar seit Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill einen festen Bestand der politischen Philosophie, und in den verhältnismäßig stabilen sozialen Ordnungen Mitteleuropas nach 1848 ließ sich damit eine Haltung wie Nietzsches „aristokratischer Radikalismus“ ausdrücken,58 die sich gegen die Emanzipation des Pöbels und der Frauen richtete. Doch in politischer Hinsicht konnten sich zumindest in Deutschland kaum reale Erfahrungen im Massen-Begriff verdichten, so dass beispielsweise ein Großteil der frühen Literatur über die „Masse“ nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Selbst ein überspannter Beobachter wie Walther Rathenau charakterisierte die scheinbar gefährlichste Bedrohung der bürgerlichen Ordnung vor 1914, die Sozialdemokratie, anhand ihrer Disziplin und Organisation, zweier Kategorien, die gerade für das Gegenteil der Kernattribute des (politischen) Massen-Begriffs standen, als welche nämlich Zügellosigkeit, Formlosigkeit, psychische und moralische Haltlosigkeit sowie geistig-kultureller Konformismus galten.59 Anders lagen die Dinge in Frankreich und Italien. Hier artikulierten Juristen wie Gabriel Tarde und Scipio Sighele und der Arzt Gustave Le Bon, dessen „Psychologie der Massen“ von 1895 ein riesiger Publikumserfolg wurde, die sozialen Phantasmagorien ihrer Zeitgenossen, vor allem die Ängste einer in die Defensive geratenen Bourgeoisie, gewissermaßen in einer ganz neuen politischen Sprache. Die große Mobilisierung der Arbeiterklasse60 äußerte sich in heftigen Arbeitskämpfen (wie 1886 in Decazeville, dem Vorbild für Emile Zolas „Germinal“), die staatlicherseits mit äußerster Härte niedergeschlagen wurden. Es folgten Massenbewegungen und Umsturzdrohungen wie in der Boulanger-Krise. Tarde, Le Bon und andere diagnostizierten in diesen Ereignissen ein grundsätzlich destruktives und unmoralisches Handeln, das sich durch die besondere Verführbarkeit der Masse von demjenigen von Individuen 58 S. Blättler, Der Pöbel, die Frauen etc. Die Massen in der politischen Philosophie des 19. Jahr hunderts, Berlin 1995, 193. 59 W. Rathenau, „Von kommenden Dingen“ (1917), Schriften und Reden, Frankfurt/M. 1964, 34–36. Robert Michels verließ enttäuscht die SPD wegen ihrer Bürokratisiertheit und ihrer Oligarchisierung, nicht wegen ihres ungehemmten Aktionismus‘. 60 E. Hobsbawm, Das Imperiale Zeitalter 1875–1914, Frankfurt/M. 1989, 147–80.
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radikal unterscheide.61 In beiden Ländern scheint sich dieses Bedrohungsszenario mit der Kritik an einer den Ansprüchen der Moderne nicht gerecht werdenden Oberschicht und deren mangelnder Vitalität verbunden zu haben. Diesen Eindruck teilten jedenfalls auch andere Zeitdiagnostiker, etwa Georges Sorel oder Gaetano Mosca. In der Massen-Doxa ging mithin die Warnung vor den unberechenbaren Massen mit der Anklage der unfähigen Herrschenden Hand in Hand. In ihren Lösungsvorschlägen – einer Steigerung des Nationalismus, der Kanalisierung von Massenemotionen auf Koloniale Expansion, und der Suche nach einem „Führer“, der die Masse zähmt – zeigte sich die Massen-Doxa daher als eine weit radikalere, übrigens auch weit stärker auf wissenschaftlicher Expertise beruhende Diagnose der Moderne, als es das ständischkonservative Meinungswissen darstellte.62 Die politisch-sozialen Spannungen der Zwischenkriegszeit beförderten die Verbreitung der Massen-Doxa in anderen europäischen Gesellschaften. In England entdeckten vorwiegend konservative Intellektuelle wie T. S. Eliot die Verachtung für die nicht allein inferiore, sondern die Individualität des bürgerlichen Individuums auslöschende „Massenkultur“ – dies dürfte nicht zuletzt ein Reflex auf den britischen Bedeutungsverlust nach 1919 gewesen sein, in dessen Gefolge sich ein neuer Antiamerikanismus, vor allem in Gestalt der Kritik an der amerikanischen „Massenkultur“, mit der Suche nach einer neuen britischen Identität verband.63 Allerdings existierte in allen diesen Gesellschaften neben der Bedrohungsperspektive auch ein Moment der Faszination und Attraktion der „Massen“, die durch die schiere Zahl der ihr zugehörigen Personen eine politische, aber auch tendenziell gewaltförmige Macht sui generis zu verkörpern schien. Linksmarxistische Theoretiker sahen daher in der Spontanität des Massenstreiks die wirkungsvollste Form des Klassenkampfes: „Masse“ und „Klasse“ verbanden sich hier zu einem voluntaristischen Amalgam, das eine Alternative zum Revisionismus oder zu einer Strategie des Abwartens bürokratisierter Parteiapparate darstellte. In ihrer radikalen Perspektive stellte die Faszination durch die Massen damit auch den Ausgangspunkt für die gleich zu behandelnde Führer-Doxa dar, nämlich in der Figur des Führers, der die Massen zähmt, führt (in den Kampf ) und aus seiner schicksalhaften Bestimmung heraus die Masse zum Volk (oder zur Kämpfenden Klasse) schmiedet.64 61 R. Bellamy, „The Advent of the Masses and the Making of Modern Theory of Democracy“, T. Ball/R. Bellamy (Hg.), The Cambridge History of Twentieth Century Political Thought, Cambridge 2003, 70–103; G. Klein, „Massengesellschaft“, G. Kneer et al. (Hg.), Klassische Gesellschaftsbegriffe der Soziologie, 179–207. 62 Zum Massen-Denken als Diagnose der Moderne vgl. H. König, Zivilisation und Leidenschaften. Die Masse im bürgerlichen Zeitalter, Reinbek 1992. 63 J. Carey, Hass auf die Massen. Intellektuelle 1890–1939, Göttingen 1996. 64 S. Moscovici, Das Zeitalter der Massen, München 1984, 199–230; N. Möding, Die Angst des Bürgers vor der Masse. Zur politischen Verführbarkeit des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche, Berlin 1984, 81–86.
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Nach 1945 verschwand in Westeuropa diese radikale politische Variante weitgehend aus den intellektuellen Programmen, und die Rhetorik der Massen-Doxa wurde hauptsächlich dazu verwendet, Ängste vor den inferioren kulturellen Praktiken der Masse – vor allem dem „Massenkonsum“ – und den damit verbundenen Gefahren eines kulturellen Konformismus auszudrücken.65 Die bereits in der frühen MassenDoxa dominierende Wahrnehmung der „Masse“ als eines psychologischen Phänomens leistete derartigen Vorstellungen, nicht zuletzt bei dem Le Bon-Verehrer Freud, Vorschub.66 Diese Variante der Massen-Doxa war im deutschen Bildungsbürgertum vermutlich schon während der Zwischenkriegszeit weiter verbreitet als die radikale Linie Le Bons oder Sorels, aber erst nach 1945 wurde der Schlüsseltext der entradikalisierten Ausprägung ein wirklicher Bestseller, nämlich Ortega y Gassets „Der Aufstand der Massen“ (zuerst 1931). Die Massen-Doxa wurde in der Bundesrepublik nun transformiert in die politisch harmlosere, wenngleich keineswegs folgenlose Verachtung für das „Mittelmaß“ und damit zum Ausgangspunkt für die Verbreitung der Elite-Doxa.
VI. Führer, Führerprinzip und Führer-Gefolgschaft-Beziehung Spätestens seit der Jahrhundertwende und mindestens bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs stellte der Führer-Glaube die wichtigste Idee zur politisch-gesellschaftlichen Ordnung in Deutschland dar.67 Dieser Glaube beruht auf der Vorstellung, dass der „außeralltägliche“ (im Sinne Webers: charismatische) Führer der von ihm befehligten Gefolgschaft überhaupt erst zu ihrer Bestimmung verhilft, also beispielsweise aus der „Masse“ das „Volk“ schmiedet. Der Führer übt seine Macht durch das Prinzip Befehl und Gehorsam in einer extrem asymmetrischen Machtbeziehung aus. Die Willensbildung erfolgt streng von oben nach unten, wobei sich der Führer der von ihm nach Loyalität und anderen, in der Regel charakterlichen und weltanschaulichen Kriterien auserwählten „Unterführer“ bedient. Dieser Glaube an die Kraft des charismatischen Führers, die Probleme der Zeit zu lösen, richtete sich in der Zwischenkriegszeit zunächst an die „Philosophendiktatoren“ (Gunther Mai) Mussolini
65 Einschlägig ist hier die westdeutsche Rezeption von D. Riesman, Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Mit einer Einführung von Helmut Schelsky, Hamburg 1958. 66 S. Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921); Die Zukunft einer Illusion (1927), Frankfurt/M. 1972; Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939), Frank furt/M. 1975; vgl. als Überblick Moscovici, Zeitalter der Massen. 67 W. Struve, Elites against Democracy. Leadership Ideals in Bourgeois Political Thought in Germany 1890–1933, Princeton 1973.
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und Lenin.68 Vor allem dessen Nachfolger Stalin, der in den 1940er Jahren den Titel „Führer“ („Woschd“) annahm, realisierte eine eigentümliche Amalgamierung von Elementen der Führer- mit solchen der Klassen-Doxa, die nicht nur im stalinistischen Personenkult, sondern generell im sogenannten „demokratischen Zentralismus“ mit seiner von oben gesteuerten Führerauslese ihren Ausdruck fand. Andererseits korrespondierten mit der Ausbreitung der Führer-Doxa national durchaus unterschiedliche Herrschaftspraktiken: Sowohl Mussolini als auch Hitler suchten in den 1920er Jahren durch die Berufung auf das Führerprinzip die eigene Partei beziehungsweise Bewegung unter ihre Kontrolle zu bekommen und Rivalen auszuschalten. Doch während Mussolini, der niemals Staatsoberhaupt war, sich häufig mit der Rolle eines Mediators zwischen rivalisierenden Gruppen begnügen musste, gelang es Hitler, zur vollkommen unumstrittenen Legitimationsquelle allen politischen Handelns während der NS-Herrschaft aufzusteigen.69 Im Übrigen wäre die Annahme ganz falsch, die Verbreitung der Führer-Doxa sei auf autoritär oder totalitär regierte Gesellschaften beschränkt gewesen. Kein Geringerer als Joseph Schumpeter stilisierte den Führer in Gestalt des schöpferischen Unternehmers zur Zentralfigur wirtschaftlicher Dynamik und übertrug diese Grundannahme auch auf das politische Geschehen in demokratischen Gesellschaften.70 Vor allem unter den deutschen Unternehmern, die seit der Übertragung des Führerprinzips auf die Wirtschaft als „Betriebsführer“ firmierten, erfreute sich die Führer-Doxa großer Beliebtheit: So wurde nach 1945 umstandslos an den bereits vor 1933 verbreiteten Begriff des „Wirtschaftsführers“ und entsprechende Vorstellungen angeknüpft. Die Verbreitung, ja Dominanz dieser Führer-Doxa war also keineswegs auf das Deutschland der 1930er Jahre beschränkt, sondern findet sich in ganz Süd- und Mittelost-Europa der Zwischenkriegszeit. In Deutschland dürfte der Aufstieg der FührerDoxa spätestens in der Bismarckzeit begonnen haben. Schon Wilhelm II. versuchte dann offenbar, die Selbststilisierung als „Führer“ in die monarchische Repräsentation einzubauen, konnte die damit geweckten Erwartungen aber nicht erfüllen und musste das Zerbröckeln seiner Legitimation erfahren.71 Nach 1945 war die FührerDoxa weitgehend diskreditiert und konnte im politischen Raum nicht mehr artikuliert werden – im ökonomischen Feld überdauerte sie deutlich länger, in den Feldern
68 Mai, Europa, 40. 69 S. Payne, Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung, Berlin 2001, 111–71, 265–301; I. Kershaw, Hitler 1889–1936, München 2002, bes. 663–744. 70 J. Schumpeter, „Unternehmer“, Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 8, Jena 1928, 476–87. 71 C. Tacke, „,Es kommt also darauf an, den Kurzschluss von der Begriffsgeschichte auf die politische Geschichte zu vermeiden‘. ‚Adel‘ und ‚Adeligkeit‘ in der modernen Gesellschaft“, Neue Politische Literatur 52 (2007) 1, 91–123, 117–21.
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der kulturellen Produktion mit ihrem Genie-Kult ohnehin –, aber das Vakuum, das ihr Verschwinden hinterließ, konnte erst nach einigen Jahren gefüllt werden.
VII. Elite Auch die Verbreitung und Ausformung der Elite-Doxa erfolgte in Europa auf unterschiedliche Weise. Bereits vorab lässt sich dabei folgende Differenzierung vornehmen: Während der Elite-Begriff in einigen Ländern vor allem Aspekte der Auslese betont, sei es durch Erfolg im Bildungssystem oder in der beruflichen Laufbahn, und in der Konsequenz auf die gesellschaftlich notwendigen Funktionen abhebt, die die Elite-Mitglieder ausüben („Leistungs-Elite“, „Funktions-Elite“), steht in anderen Kontexten eher der Aspekt der Machtausübung im Vordergrund („Macht-Elite“). Allerdings sind die Übergänge fließend, und es sind empirisch keine „reinen“ nationalen Elite-Begriffe aufzufinden, sondern unterschiedliche Akzentuierungen. In Deutschland spielte die Elite-Doxa als Entwurf einer politisch-gesellschaftlichen Ordnung – allen anders lautenden Behauptungen zum Trotz – vor 1933 keine Rolle. Bis 1945 beschränkte sich die Verwendung des Elite-Begriffs im Wesentlichen auf die Bezeichnung bestimmter Militärischer Spezialeinheiten („Elitetruppen“). Obwohl der Terminus seit dem frühen 19. Jahrhundert gelegentlich in den Debatten über die politisch-soziale Ordnung auftauchte, wurde bis 1933 erfolgreich der Begriff des Adels gegen ihn ausgespielt. Noch 1933 argumentierte Julius Edgar Jung, einer der wichtigsten Vordenker der Konservativen Revolution, dass Deutschland nicht eine (tendenziell auf offener und konkurrenzbasierter individueller Leistungsauslese beruhende) Elite als neue Gruppe der Herrschafts- und Funktionsträger brauche, sondern einen erneuerten Adel, der sozial aus einer aristokratisch-bildungsbürgerlichen Symbiose hervorgehen sollte, in welcher ein wettbewerbsorientiertes Leistungskonzept nur eine geringe Rolle spielte.72 Vor allem war zwischen 1933 und 1945 ein auf offener Leistungskonkurrenz basierender Elite-Begriff kein relevantes politisch-soziales Ordnungskonzept. Aus diesem Grund wäre es auch falsch, die nationalsozialistische Ordnung, selbst die SS, als „elitär“ zu bezeichnen. Die Aufnahme gerade in die SS, die sich selbst als „Orden“, „Adel“ oder „Korps“ bezeichnete, erfolgte nach weltanschaulichen und rassistischen Kriterien, nicht im Concours-System oder in Assessment-Centern. Leistungsauslese wurde zu Gunsten exklusiver völkischer Gemeinschaft und politischer Zuverlässigkeit verworfen, und politische Steuerung sollte streng hierarchisch gemäß dem „Führer-Prinzip“, das heißt in Form eines Führer-Gefolgschaft-Verhältnisses, erfolgen.73 72 J. E. Jung, „Adel oder Elite?“, Europäische Revue 9 (1933), 533–35. 73 I. Heinemann, „Rasse, Siedlung, deutsches Blut“. Das Rasse- & Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003; H. Ziegler, „Elite-Recruit-
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Nach 1945 erfolgte die Annahme und Verwendung des Elite-Begriffs als gesellschaftliches Ordnungsmodell in Westdeutschland dann überraschend schnell, und zwar zunächst in der Gestalt von Konzepten einer tendenziell christlich gebundenen Wert- und Charakter-Elite. Dieser heftige ideengeschichtliche Schwenk ist durchaus erklärungsbedürftig. Dabei muss man sich das jähe Abreißen politisch-ideeller Traditionen vor Augen führen. Führerprinzip, Reichsidee und Obrigkeitsstaat waren massivst diskreditiert; Klassen-Vorstellungen fanden im aufziehenden Ost-West-Konflikt immer weniger Anhänger, und die Massen-Doxa wurde auf Teile des Bildungsbürgertums abgedrängt. Die Suche nach einer tragfähigen politisch-ideellen Grundlage der neuen politischen Ordnung führte fast zwangsläufig zu einer Konjunktur stark moralisch aufgeladener Ordnungsentwürfe. Insbesondere vier Merkmale der westdeutschen Diskussion über „Eliten“ in den 1950er Jahren verdienen besondere Aufmerksamkeit: Erstens die geringe Offenheit für ausländische Ideen-Importe, das heißt für ausländische Elite-Theorien; ablesbar an den Lektüreempfehlungen und Übersetzungen der einschlägigen Elite-Literatur. Diese Nabelschau verweist auf ideengeschichtliche Sonderbedingungen in Westdeutschland, zuallererst natürlich bedingt durch die Verarbeitung des Nationalsozialismus. Zweitens die Dominanz publizistischer, nicht wissenschaftlicher Erörterungen des Themas („Elite“ stellte in den 1950er Jahren noch keine anerkannte sozialwissenschaftliche Kategorie dar). Drittens die Ablehnung aller „wertfreien“, also tendenziell wissenschaftlich-autonomen Elite-Konzepte. Und viertens wurde der Begriff „Elite“ ganz überwiegend im Singular verwendet; wichtig war für die zeitgenössischen Beteiligten gerade die moralische und politische Einheitlichkeit der Elite, was den Antipluralismus und Antifunktionalismus im Meinungsklima jener Zeit unterstreicht. Auf der Suche nach einem tragfähigen Elite-Begriff, der die Erfahrungen und Erwartungen der Westdeutschen auszudrücken vermöchte, des Lamentos über eine fehlende Elite, wie in der Hoffnung auf eine christlich gebundene Wert- und Charakter-Elite erkannten konservative Wissenschaftler, Politiker, Publizisten und Unternehmer in den 1950er und 60er Jahren, dass es ihnen der Elite-Terminus ermöglichte, politische Demokratie und konservative Prinzipien der sozialen, ökonomischen und kulturellen Ungleichheit miteinander zu vereinen. In der politisch-ideellen Integra-
ment and National Socialism. The SS-Führerkorps, 1925 – 1939“, H. Best (Hg.), Politik und Milieu. Wahl- und Elitenforschung im historischen und interkulturellen Vergleich, St. Katharinen 1989, 223–37; B. Wegner, Hitlers Politische Soldaten. Die Waffen-SS 1933– 1945, Paderborn 1982; E. Conze, „Adel unter dem Totenkopf. Die Idee eines Neuadels in den Gesellschaftsvorstellungen der SS“, E. Conze/M. Wienfort (Hg.), Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2004, S. 151–76.
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tion des westdeutschen Konservatismus in das System der parlamentarischen Demokratie liegt daher die große ideengeschichtliche Bedeutung der Elite-Doxa.74 Am Ende der Adenauerzeit begann dann ein rasanter Prozess der „Verwissenschaftlichung“ der Elite-Doxa in Westdeutschland, die zwischen 1960 und 1965 eine Reihe von Werken hervorbrachte, die bis heute die Maßstäbe der wissenschaftlichen Elite-Diskussion festgelegt haben, nämlich hinsichtlich der theoretischen Kohärenz und Aussagen-Reichweite einer Elite-Theorie,75 der Standards für die empirische Untersuchung von Elite-Gruppen,76 sowie in Bezug auf die gesellschafts-deutende (orientierende und legitimierende) Kraft der Elite-Doxa.77 Diese Arbeiten und die Diskussionen, die sie nach sich zogen, etablierten die Elite-Doxa endgültig in der Bundesrepublik in ihrer seitdem typischen Ausprägung, nämlich mit einer starken Akzentuierung der Leistungsauslese, die geradezu zu einem „Mythos“ geworden zu sein scheint,78 während daneben immer wieder die Vorbildlichkeit wertgefestigter Charakter-Eliten eingefordert wird. Auch hier müssen wegen des Forschungsstands wenige Sätze für einen europäischen Ausblick genügen. In Großbritannien scheint der Elite-Begriff sich zwar in den Sozialwissenschaften früher und konsequenter zur Untersuchung von Herrschaftsund Funktionsträgern eingebürgert zu haben, wohl nicht zuletzt, weil die übliche Kategorisierung in upper Class (mit der zumeist die britische Aristokratie bezeichnet wird) und upper middleclass eher lebensweltliche Milieu-Zusammenhänge beschreibt als Machtbeziehungen und Funktionsleistungen. Der Akzent liegt hier also auf der „Macht-Elite“. Offenbar hat eine spezifisch sozialwissenschaftliche Problemstellung – das Auseinanderfallen von „Klassen“ und Funktionsrollen in komplexen Systemen – die Einführung einer neuen Kategorie erzwungen, die in der politischen Sprache jedoch erst sehr viel später Eingang fand;79 dann allerdings in gelegentlich radikaler Form mit antidemokratischer (wenngleich nicht antiparlamentarischer) Stoßrich74 M. Reitmayer, „Traditionen konservativen Elitedenkens in der Adenauerzeit“, M. Hochgeschwender (Hg.), Epoche im Widerspruch. Ideelle und Kulturelle Umbrüche der Adenauerzeit, Bonn 2011, 27–51. 75 H.-P. Dreitzel, Elitebegriff und Sozialstruktur. Eine soziologische Begriffsanalyse,
Stuttgart 1962.
76 W. Zapf, Wandlungen der deutschen Elite. Ein Zirkulationsmodell deutscher Führungsgruppen 1919–1961, München, 1965. 77 R. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965. 78 M. Hartmann, Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft, Frankfurt/M. 2002. 79 P. Stanworth/A. Giddens (Hg.), Elites and Power in British Society, Cambridge 1974; W. D. Rubinstein, Elites and the Wealthy in Modern British History. Essays in Social and Economic History, Brighton 1987; Guttsmann, W. L., The British Political Elite, London 1963; ders., The English Ruling Class, London 1969; T. B. Bottomore, Elite und Gesellschaft. Eine Übersicht über die Entwicklung des Eliteproblems, München1966, 21969.
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tung.80 Die ironische Distanzierung britischer Intellektueller von der „Meritokratie“ in den 1960er Jahren drückt diese ideengeschichtliche Beharrungskraft des einmal etablierten Meinungswissens aus.81 In Frankreich wiederum war der Begriff einerseits zur Bezeichnung eines gehobenen sozialen Milieus bereits um 1900 etabliert.82 Andererseits war das Prinzip der individuellen Leistungsauslese – das Kernelement der Elite-Doxa – bereits in Form der concours an den grandes ecoles zu Beginn des 19. Jahrhunderts etabliert worden, und spätestens nach dem 1. Weltkrieg scheint der Elite-Begriff relativ schnell Eingang in die Sprache der politischen Publizistik gefunden zu haben, nachdem Vilfredo Pareto, dessen wichtigste diesbezügliche Veröffentlichungen auf Französisch erfolgten, ihn bereits in den beiden ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts in die französischen Sozialwissenschaften eingeführt hatte.83 Gleichzeitig sorgte offenbar die „Rückkoppelung“ und Abstimmung des höheren Bildungssystems auf die Reproduktionsbedürfnisse der Bourgeoisie, deren Angehörige diese Bildungsinstitutionen nahezu sämtlich durchlaufen, für eine Legitimierung der Herrschafts- und Funktionsträger als eine „Elite“ des Leistungs-Adels,84 so dass in Frankreich die Elite-Doxa eine Synthese aus Milieu-Beschreibung, Machtausübung und Leistungsauslese auszudrücken scheint.85 In Italien übrigens, dem mit Gaetano Mosca und Vilfredo Pareto die beiden Begründer der modernen Elite-Theorien entstammen, scheint sich die Elite-Doxa bis heute nicht durchgesetzt zu haben. Zwar genießt das concours-Prinzip sogar Verfassungsrang, doch in der politischen Sprache dominiert der Begriff der „Politischen Klasse“ („classe politica“), während zur Beschreibung sozialer Großgruppen Termini wie „borghesia“ und „ceti medi“ vorherrschen.86
VIII. Das Verschwinden der Großgruppen-Doxa nach dem Boom Dieses Raster für eine Systematisierung kann derzeit nur vorläufig sein und keine Vollständigkeit beanspruchen. Osteuropa wurde nur gelegentlich und dann summarisch 80 L. Field/J. Higley, Eliten und Liberalismus, Opladen 1983. 81 M. Young, The Rise of the Meritocracy. An Essay on Education and Equality, London 1958. 82 „Élite“, Grand Dictionnaire Universel du XIXe Siècle, Paris 1870, Bd. 7; „Élite“, Nouveau Larousse Illustré. Dictionnaire Universel Encyclopédique, Bd. 4, Paris 1901. 83 Übersichten über die frühe französische Eliten-Literatur bei K. Mannheim, Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, Darmstadt 21958, 95–96; G. Endruweit, „Elite begriffe in den Sozialwissenschaften“, Zeitschrift für Politik 26 (1979), 30–46. 84 P. Bourdieu, Der Staatsadel, Konstanz 2004. 85 Aus einer sehr englischen Perspektive: M Clifford-Vaughan, „Some French Concepts of Élites“, British Journal of Sociology, 11 (1960), 319–31. 86 P. Ginsburg, A History of Contemporary Italy. Society and Politics 1943–1980, London 1990.
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gestreift, die skandinavischen Gesellschaften eigentlich gar nicht erwähnt; die Lücken sind offensichtlich. Auch in chronologischer Hinsicht sind die Möglichkeiten dieses Verfahrens begrenzt: Spätestens im Verlauf der 1970er Jahre löste sich in den europäischen Gesellschaften die Vorstellung auf, dass durch die Beschreibung der Beziehungen zwischen sozialen Großgruppen eine sinnhafte gesellschaftliche Ordnung zu gewinnen wäre. Oder in den Worten von Ulrich Beck, dessen Individualisierungs-These selbst ein wichtiger Teil dieses Prozesses war: Zumindest auf der semantischen Ebene kam das „Ende der traditionalen Großgruppengesellschaft“.87 Neue Zeitdiagnosen und Leitbegriffe entstanden „nach dem Boom“.88 Nur die Elite-Doxa scheint diesen tiefen ideengeschichtlichen Wandel, in der Bundesrepublik und anderswo, überdauert und sogar an Orientierungs- und Wirkungskraft gewonnen zu haben. Identifikationskonzepte dieser Art für die mittleren und unteren sozialen Strata existieren nicht mehr oder nur noch in Residuen: Die Massen sind nicht gezähmt, die Stände nicht geordnet, der Klassenkampf ist nicht gebannt – sie sind schlicht verschwunden. Bis in die Siebziger Jahre jedoch dominierten in den angesprochenen Ländern die fünf genannten Ordnungsentwürfe das politisch-ideelle Meinungswissen über die soziale Welt. Dabei konnte allerdings „Klasse“ in Deutschland etwas ganz anderes bedeuten als in England; „Elite“ in Frankreich eine Gruppe bezeichnen, mit der sich in Italien ganz andere Vorstellungen verbanden, ohne dass es jemals zur Ausbildung „reiner“ nationaler „Typen“ derartiger Doxa gekommen wäre. Diese Unschärfen sind zu berücksichtigen, wenn man die Handlungsspielräume, Mobilisierungschancen und politisch-ethischen Affinitäten der historischen Akteure in der Vergleichsperspektive untersucht.
87 U. Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986, hier 121–60. 88 Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, 115–20.
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Rückblick auf die Zukunft: das sowjetische Modell I. Historiografie: Deutungen und Perspektiven Fast zwanzig Jahre nach der Selbstauflösung der Sowjetunion beklagte Dmitrij Medvedev, Präsident der Russischen Föderation, dass das postsowjetische Russland über die „Errungenschaften“ der UdSSR kaum hinausgekommen sei. Wie die Sowjetunion sei die Föderation ein „industrieller Rohstoffgigant“ geblieben.1 In der Tat: Wenn man vom Boom-Zentrum Moskau (bis zur Krise von 2009) absieht, verharrten die postsowjetischen Länder vielfach auf dem Status fordistischer Industrie- oder Rohstoffe liefernder Staaten. Aus ihren einstigen Industriezonen sind „Rostgürtel“2 geworden und viele Landwirtschaftszonen leiden an Bodenerosion und Verseuchung durch Chemikalien, oder sie liegen – wie im Zentrum Russlands – brach. Die einst für Außenseiter und Ausländer geschlossenen Geheimstädte – Atom-, Rüstungs- und Wissenschaftszentren – durchlebten schwere Krisen, wenige haben sich mit neueren staatlichen Rüstungs- und Forschungsaufträgen erholen können. Nur einige Rohstoffbranchen – Gas, Öl, Gold und Nickel – boomten, manche wurden modernisiert, manche fahren aber fort, die Umwelt zu vergiften. Was in Medvedevs Rede zum Ausdruck kommt, ist die „herrschende“ Sicht, die auf das sowjetische Experiment mit ambivalenten Gefühlen zurückblickt: einerseits Bewunderung, wenn nicht gar Anbetung der Macht, welche die Sowjetunion seit Stalin nach innen und außen „akkumuliert“ hatte, andererseits die nagende Kränkung, dass die Sowjetunion (und das postsowjetische Russland) den Ruf der verfehlten Moderne nicht los wurden und werden. In den Worten des Soziologen Ken Jowitt: „After 70 years of murderous effort the Soviet Union had created a German industry of the 1880s in the 1980s“.3 In den letzten beiden Jahrzehnten ist eine Vielzahl von Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Sowjetunion entstanden. Wenn man sie nach ihren „großen Er1 Poslanie prezidenta (12. Nov. 2009) Gazeta.ru vom 15. Nov. 2009; siehe auch FAZ v. 13. Nov. 2009 Nr. 264, S. 1–2. 2 S. Kotkin, Armageddon Averted. The Soviet Collapse, 1970–2000, Oxford 2001, 17. 3 K. Jowitt, „The Leninist Extinction“, D. Chirot (Hg.), The Crisis of Leninism and the Decline of the Left, Seattle 1991, 74–99, 78 (Zitat); K E Smith, „Whither Anti-Stalinism?“ T. Lahusen/P. H. Solomon (Hg.), What is Soviet now? Identities, Legacies, Memories, Berlin 2008, 153–169.
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zählungen“ sortiert, so liefert die UdSSR eines von vielen Beispielen, an denen die Probleme, Defizite und die Gewalt einer brutalen Modernisierung und verfehlten Moderne exemplifiziert werden.4 Dies gilt freilich für die erste Phase bis 1953, die mit dem Tode Stalins endete, und für die weiteren Phasen bis 1991 in ganz unterschiedlicher Weise. Im Hintergrund steht das einst maßgebende RückständigkeitsParadigma, das lange die Geschichtsschreibung über das zarische Russland bestimmt hatte; im Fall der Sowjetunion ist es allerdings seltener direkt angesprochen worden.5 Denn die sowjetische Ideologie, ihre Entwicklungsstrategien, Mobilisierungstechniken und repressiven Maßnahmen gehörten eindeutig der „Moderne“ an. Dies schließt jedoch die Fortexistenz und Evolution von älteren Traditionsbeständen wie die Ungleichzeitigkeit modernisierender Durchbrüche nicht aus. Als Gründe für die Fehlentwicklungen und manchmal für die rückständig wirkende Moderne werden je nach Blickwinkel der Autoren folgende Faktoren verantwortlich gemacht: Eine erste Sichtweise betont nationale Entwicklungspfade und damit trotz allen Wandels die Reproduktion indigener Traditionen von Herrschafts- und Volkskulturen. Dazu gehören im russischen Fall vor allem die Intransparenz und oft auch Sakralisierung der Macht, ihre „absoluten“ Ansprüche gegenüber den Untertanen und ihre faktische Exekutivschwäche, die Korrelation zwischen der Anomie staatlichen Handelns und den Ausweich- und Überlebensstrategien der Bevölkerung.6 Die zweite Perspektive richtet sich auf die Geschichte Russlands und der Sowjetunion als Imperium. Dabei sind die Kriterien für die Bestimmung imperialer Strukturen und Merkmale alles andere als eindeutig. Kontrovers wird das Verhältnis 4 Zur allgemeinen Orientierung in der sowjetischen Geschichte vgl.: M. Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998; S. Courtois et al., Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München 1998; D. Beyrau, Petrograd 25. Oktober 1917. Die russische Revolution und der Aufstieg des Kommunismus 2001; G. Schramm (Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 3/I-II, Stuttgart 1983–1992; S. Plaggenborg (Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 5/I-II, Stuttgart 2002–2003; S. Plaggenborg, Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt/M. 2006; S. Merl, „Russland und die Sowjetunion 1914–1980“, W. Fischer et al. (Hg.), Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Stuttgart 1987, 640–728; P. R. Gregory/R. C. Stuart, Russian and Soviet Economic Performance and Structure, Reading/Mass. 1998. 5 B. Moore, Soviet Politics – the Dilemma of Power. The Role of Ideas in Social Change, Cambridge/Mass. 1951; W. Hofmann, Stalinismus und Antikommunismus. Zur Soziologie des Ost-West-Konflikts, Frankfurt/M. 1970. 6 E. L. Keenan, „Muscovite Political Folkways“, Russian Review 45 (1986), 115–181; K. Jowitt, „Soviet Neotraditionalism. The Political Corruption of a Leninist Regime“, Soviet Studies, 35 (1983) 3, 275–297; S. White, „The USSR: Patterns of Autocracy and Industrialism“, T H. Rigby et al. (Hg.), Authority, Power, and Policy in the USSR, London 1983, 25–65.
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zwischen Multiethnizität, Nationskonstruktion und „Ethnozid“, zwischen Russifizierung und Sowjetpatriotismus, zwischen russischem Zentrum und russischer wie nicht-russischer Peripherie, zwischen nivellierender Integration und neuen Differenzierungen diskutiert.7 Zur imperialen Formation gehört auch die Etablierung von abhängigen Staaten im östlichen und vor allem im westlichen Vorfeld der UdSSR nach 1945. Die Folgen, die sich aus dieser Erweiterung des Imperiums ergaben – strukturelle Hegemonie der sowjetischen Seite, Ausbeutung nach 1945 und Subventionierung nach 1973 – sind bisher für die Staaten Ostmitteleuropas,8 aber kaum für die Sowjetunion untersucht. Eine dritte Perspektive ist fixiert auf den Stellenwert und die Funktion von Sozialismus, der in der Regel verantwortlich gemacht wird für das fehlgeschlagene sowjetische Experiment. Welches Gewicht kam sozialistischen Ideen als „Weichenstellern“ zu bei der Gründung wie beim weiteren Aufbau der Sowjetunion, bei der Gestaltung des politischen Lebens wie des Alltags der Menschen und bei der Sozialisierung der Bevölkerung?9 Es geht um die Frage nach dem Verhältnis zwischen sozialistischen Visionen, Praktiken der (Selbst-)Konditionierung und der Gewalttätigkeit des Regimes besonders in seiner ersten Phase bis zum Tode Stalins.10 Eine davon kaum zu trennende weitere Perspektive konzentriert sich auf die Modernisierung Russlands unter sowjetsozialistischen Vorzeichen. Was war an der Industrialisierung, der Erschließung neuer Räume, der Transformation der dörflichen Welten oder den Wellen von Bildungsoffensiven spezifisch sowjetisch und was welt7 Vgl. exemplarisch A J. Motyl, Thinking Theoretically about Soviet Nationalities. History and Comparison in the Study of the USSR, New York 1992; K. Barkey/M. von Hagen (Hg.), After Empire. Multiethnic Societies and Nation-Building. The Soviet Union and the Russian, Ottoman and Habsburg Empires, Boulder/Col. 1997; R. G. Suny/T. Martin (Hg.), Empire and Nation Making in the Age of Lenin and Stalin, Oxford et al. 2001; Chr. J. Chulos/ J. Remy (Hg.), Imperial and National Identities in Pre-Revolutionary, Soviet, and Post Soviet Russia, Helsinki 2002; A. Miller, Imperija Romanovych i nacionalizm, Moskau 2006, 171–219; G. Simon, „Waren die Republiken in der Sowjetunion Kolonien?“ G. Hausmann, A. Rustemeyer (Hg.), Imperienvergleich. Beispiele und Ansätze aus osteuropäischer Perspektive. Festschrift für Andreas Kappeler, Wiesbaden 2009, 105–22. 8 C. Gati, The Bloc that Failed. Soviet-East European Relations and Transition, Bloomington/Ind. 1990; A. C. Janos, East Central Europe in the Modern World. The Politics of Borderlands from Pre- to Postcommunism, Stanford 2000. 9 I. Halfin, From Darkness to Light. Class, Consciousness and Salvation in Revolutionary Russia, Pittsburgh/Pa. 2000; J. Hellbeck, Revolution on my Mind. Writing a Diary Under Stalin, Cambridge/Mass./London 2006; O. Kharkhordin, The Collective and Individual in Russia. A Study of Practices, Berkeley 1999. 10 M. Malia, Vollstreckter Wahn. Russland 1917–1991, Stuttgart 1994; R. Pipes, Die Russische Revolution, Bd.1–3, Berlin 1992–1993; S. Plaggenborg, „Weltkrieg, Bürgerkrieg, Klassenkrieg. Mentalitätsgeschichtliche Versuche über die Gewalt in Sowjetrussland“, Historische Anthropologie 3 (1995), 493–505.
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weit verbreiteten Modernisierungskonzepten geschuldet?11 Wo lagen die Gründe für den gescheiterten Übergang in die postindustrielle Moderne – in russischen Traditionen, im Imperium, im sowjetischen Sozialismus und falschen Modernisierungskonzepten? Trotz aller Suche nach den Ursachen und Anlässen des Zusammenbruches der Sowjetunion sollte man es allerdings vermeiden, ihre Geschichte nur vom Ende her zu erzählen. Der folgende Rückblick auf das sowjetische Experiment folgt nicht der Chronologie der Ereignisse, sondern kontrastiert die Phasen vor und nach 1953/56. Die Jahre zwischen 1953 und 1956, dem Jahr des XX. (Entstalinisierungs-)Parteitages, bilden den entscheidenden Wendepunkt von einer durch Gewalt und Terror gekennzeichneten Politik zu Verfahren, die auf Evolution und auf Befriedung setzten. Der Rückblick wird sich an Fragestellungen orientieren, die den Wandel des sowjetischen Systems vom revolutionären Aufbruch bis zur „realsozialistischen“ Stabilisierung akzentuiert und dabei zentrale Vergesellschaftungselemente und Modernisierungsschübe hervorhebt. Im Vordergrund stehen die Deutungshorizonte der Zeitgenossen, vor allem die offiziellen Vorstellungen und Visionen, die in der sowjetischen Gesellschaft schon allein wegen ihrer unentwegten Propagierung eine große Wirkungsmacht im Parteivolk und unter den aktivistischen Teilen der Gesellschaft entfalteten. Dies gilt ungeachtet der Unsicherheit über ihre Reichweite in der weiteren Bevölkerung. Am Beispiel zentraler Vorstellungskomplexe soll des weiteren die Transformation von Ideen im Vollzug ihrer Realisierung vorgeführt werden.
II. Ideen als Weichensteller: die Partei als Avantgarde Bis in die 1960er Jahre war es üblich, sich den politischen Ideen des Marxismus-Leninismus zuzuwenden, um die Vorgänge in der Sowjetunion der 1920er bis 1950er Jahre zu verstehen. Dies hing u. a. mit der Vorstellung von Ideen als maßgeblichen Gestaltern von Wirklichkeit zusammen. Das Defizit dieses Zugangs bestand darin, dass man – der marxistisch-leninistischen Wortgläubigkeit aufsitzend – sich zu sehr und manchmal kontextlos auf die ideologischen Streitereien in der KPdSU selbst wie zwischen den kommunistischen Parteien einließ. Gleichwohl ist kaum zu leugnen, dass Vorstellungen Lenins und Stalins, als Marxismus-Leninismus kanonisiert, nicht nur einen Filter für die Wahrnehmung von Realität darstellten, sondern auch als gestaltende, oft genug als zerstörerische Kraft funktionierten. Dabei mutierte der
11 D. L. Hoffmann, Y. Kotsonis (Hg.), Russian Modernity. Politics, Knowledge, Practice, New York 2000; M. David-Fox, „Multiple Modernities vs. Neo-Traditionalism: On Recent Debates in Russian and Soviet History“, Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 54 (2006) 4, 535–555.
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Marxismus-Leninismus zu vieldeutigen und interpretierbaren Zeichen und Signalen, über die sich Obrigkeit und Bevölkerung miteinander verständigten. Eine zentrale Vorstellung Lenins bestand in der Idee von der Partei als Avantgarde des Proletariats. Der damit verbundene elitäre Führungsanspruch beinhaltete von Anfang an ein beträchtliches Misstrauen gegen den eigenen Anhang – das Proletariat, das nur als ausgebeutete und kämpfende Klasse mit mythischen Eigenschaften fantasiert wurde.12 Die Idee von der Partei als Avantgarde legitimierte sehr bald Privilegien. Die von Stalin maßgeblich geprägte Kaderrekrutierung und Kaderpolitik begründete ein unionsweites Patronagesystem, das zum Merkmal sowjetischer Herrschaftskultur werden sollte und mit der Chiffre „Nomenklatura“ bezeichnet wird.13 Der Avantgarde-Anspruch hatte aber auch eine andere, auf Verhaltenskontrolle der Parteigenossen gerichtete Seite. Als Elite und Kampfverband in einem feindlichen Umfeld musste die Partei „rein“ gehalten werden. Sie durfte nicht von bürgerlichen und anderen Ideen „zersetzt“ werden. Lenins politische Existenz war durch ständige Polemiken und Kampf gegen Abweichungen aller Art geprägt. Sein Verhalten wurde zum Muster für die Etablierung einer Ideen- und Verhaltenskontrolle in der Partei mit ihren zunehmend rigiden Normen und sprachlichen Standards. Die Bewahrung der „Reinheit“ der Partei durch ihre periodische „Säuberung“ wurde als systematisches Verfahren noch zu Lenins Zeiten etabliert. Dieses bewirkte Beobachtung und Denunzierung durch Parteigenossen, förderte „Wachsamkeit“, forcierte Formen von Selbstkonditionierung, von Verstellung und „Maskierung“, von Selbstentblößung, und es produzierte eine eigenartige Kombination von revolutionärer Pose und Signalen der Unterwerfung.14 Während sich die Parteigenossen zu „offenbaren“ hatten, hüllte sich die Parteiführung zunehmend in eine Sphäre der Geheimhaltung, eines fast sakralen Arkanums, das sich nur noch in Ritualen, Zeremonien und „Signalen“ zu erkennen gab. Dies wa12 A. Krylova, „Beyond Spontaneity-Consciousness Paradigma: „Class Instinct“ as a Promising Category of Historical Analysis“, Slavic Review 62 (2003), 1–23. 13 M. Matthews, Privilege in the Soviet Union, London 1978; M. S. Voslensky, Nomenklatura. Die herrschende Klasse der Sowjetunion, Wien et al. 1980; B. Harasymiw, Political Elite Recruitment in the Soviet Union, London 1984; V. P Pasin/J. P. Sviridenko, Kadry kommunistov, nomenklatury: metody podbora i vospitanija, Moskau 1998; G. M. Easter, Reconstructing the State Personal Networks and Elite Identity in Soviet Russia, Cambridge 2000; „Patronage, Personal Networks, and Party-State: Everyday Life in the cultural Sphere of Communist Russia and East Central Europe“, Contemporary European History 11 (2002), 1–152. 14 B. Unfried, „Rituale von Konfession und Selbstkritik: Bilder vom stalinistischen Kader“, Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2 (1994), 148–164; G. Koenen, Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus? Berlin 1998, 215–270; L. Erren, „,Selbstkritik‘ und Schuldbekenntnis. Kommunikation und Herrschaft unter Stalin (1917–1953), München 2008.
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ren die Bedingungen, unter denen Parteisäuberungen in Terror auch gegen die Parteiund Funktionseliten umschlagen konnten. Nach 1956 blieb das Arkanum erhalten. Es präsentierte sich jetzt allerdings nicht mehr ganz so zeremoniell und schon gar nicht sakral. Seine Beobachtung bildete das Arbeitsfeld der westlichen „Kremlologen“. Säuberungen nach 1956 wandelten sich zu einer routinierten Verhaltenskontrolle, die je nach Status des Parteimitglieds strenger oder lockerer gehandhabt wurde. Verhaltenskontrolle begnügte sich dabei mit gelegentlichen Beweisen von Loyalität und Konformität.15 Aber demonstrativ abweichendes Verhalten konnte empfindlich sanktioniert werden. Obwohl vom revolutionären Geist seit den 1960er Jahren nichts mehr zu spüren war, behielt die Partei immer noch eine disziplinierende und Furcht einflößende Definitions- und Sanktionsmacht. Dies kam nicht zuletzt in der Standardisierung der öffentlichen Rede mit ihren „Signalen“, ihren ungewöhnlich vielen Leerformeln und in vielen Denkverboten zum Ausdruck. Der Parteisekretär Michail A. Suslow (1902–1982), stalinistisch sozialisiert, sollte unter Breschnew zur Inkarnation bürokratischer Ideologiekontrolle werden, welche das Geistesleben anhaltend drangsalierte.16 Der Avantgarde-Anspruch der Partei hatte von Anfang an jede Art von Diffamierung und von Gewalt gegen politische Gegner, „klassenfremde“ und „kulturell rückständige“ Bevölkerungsgruppen und Völker gerechtfertigt. Er transportierte aber auch ein militantes Aufklärungspathos, das in immer neuen Bildungsoffensiven umgesetzt wurde. Auffällig bleibt, wie viele Ressourcen z. B. im Bürgerkrieg in die sog. „politische Alphabetisierung“ (politgramota) gesteckt wurden, d. h. in eine Kombination von Alphabetisierung, Ausbildung, Agitation und Propaganda. Ähnliches lässt sich unter ganz anderen Umständen bei den Umerziehungs- und Umschulungsaktivitäten in der späteren Sowjetzone beobachten.17 Gewalt und „Aufklärung“ lagen in der bolschewistischen Praxis dicht beieinander. Idealerweise sollte die Bevölkerung
15 V. Turcin, Inercija stracha. Socializm i totalitarizm, New York 1978, 41–48; Y. Glazov, To be or not to be in the Party. Communist Party Membership in the USSR, Dordrecht 1988; Kharkhordin, The Collective, 329–335. 16 L.-D. Behrendt, „Der Nachlaß der Roten Kaderschmiede. Die Lebensläufe der Absolventen des Instituts der Roten Professur“, D. Beyrau, Im Dschungel der Macht. Intellektuelle Professionen unter Stalin und Hitler, Göttingen 2000, 157–169; S. Petroff, The Red Eminence. A Biography of Mikhail Suslov, Clifton/N. Y. 1988; R. Medvedev, Okruzenie Stalina, Moskau 2006, 337–507. 17 M. von Hagen, Soldiers in the Proletarian Dictatorship. The Red Army and the Soviet Socialist State 1917–1930, Ithaca/London 1990, 89–113; J. T. Andrews, Science for the Masses. The Bolshevik State, Public Science, and the Popular Imagination in Soviet Russia, 1917–1934, Ort?/Texas 2003; A. Haritonow, Ideologie als Institution und soziale Praxis: Die Adaption des höheren Parteischulungssystems in der SBZ/DDR (1945–1956), Berlin 2004.
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unter Anleitung und Kontrolle der Partei zu „Bewusstheit“ und sozialistischen Lebenseinstellungen erzogen werden. III. Wettlauf mit der Zeit und Gewalt: die UdSSR als „Kriegslager“
Die anfänglichen Vorstellungen der Bolschewiki über die soziale und wirtschaftliche Umgestaltung der Gesellschaft waren schlicht und destruktiv. Zuerst ging es in einer zusammenbrechenden Wirtschaft um die Arbeiterkontrolle. Dann übernahm man von den Menschewiki die Idee von einem Staatskapitalismus nach dem Modell der deutschen Kriegswirtschaft. Von den Sozialrevolutionären eignete man sich das Konzept des Agrarsozialismus an. Faktisch sanktionierten die Bolschewiki in diesem Fall nur, was die Landbevölkerung in eigener Machtvollkommenheit realisiert hatte. Den von den Bolschewiki nicht verursachten, aber mit vorangetriebenen Zusammenbruch der Wirtschaft „veredelte“ man in der Zeit des Bürgerkrieges zur „proletarischen Naturalwirtschaft“. Dabei handelte es sich tatsächlich eher um einen Rückgriff auf oft brutal durchgeführte Kontributionen und um eine ebenso grobschlächtige Umverteilung der wenigen Ressourcen. Perspektivisch bedeutsam waren dabei Aspekte der demonetarisierten Verteilungswirtschaft: der vorübergehende Einsatz von „Arbeitsarmeen“, faktisch von Zwangsarbeit, und die Entstehung eines Schwarzmarktes, mit dessen Bekämpfung die Tscheka18 vermutlich mehr beschäftigt war als mit der Verfolgung politischer Gegner. Nach Ende des Bürgerkrieges war nicht klar, in welche Richtung sich der antikapitalistische Furor, den die Bolschewiki mit maßgeblichen Teilen der Bevölkerung teilten, weiter entwickeln würde. Drei Ziele waren aber in der Partei unstrittig: die Verstaatlichung der großen Industrien und der Banken, das staatliche Außenhandelsmonopol und – langfristig – die Überführung der bäuerlichen Individualwirtschaften in Kooperative als Übergang zum Sozialismus. Die diesbezüglichen altersmilden Gedanken Lenins zur Erziehung der Bauern für die Kooperative wurden überlagert durch den Hass auf die Kulaken, die „Dorfbourgeoisie“. Klassenkampf, Militanz und Gewaltbereitschaft blieben konstitutiv für das „richtige“ Bewusstsein und den Alltag der Partei. Im Bürgerkrieg wurde die Politik der Partei im Wesentlichen durch Einrichtungen mit außerordentlichen Vollmachten durchgesetzt: Dazu zählten die Tscheka/(O) GPU, die Militärrevolutionären Komitees, oft anstelle aufgelöster oder nicht existierender Sowjets, Revolutionstribunale und nicht zuletzt die „Rote Arbeiter- und Bauernarmee“. Damit etablierten sich ein Herrschaftssystem und eine Herrschafts18 Tscheka – Abkürzung für „Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution, Sabotage und Spekulation“, im Dez. 1917 gegründet, 1922/23 in (O)GPU umbenannt: „ (Vereinigte) Staatliche Politische Verwaltung.
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technik, die ihre Gewaltinstrumente nicht verbargen. Bis zum Ende der 1930er Jahre war die Anwendung von Terror öffentlich, höchstens seine Dimensionen blieben undeutlich. Das eigentliche „Wunder“ des Bürgerkrieges bestand auf bolschewistischer Seite in der gnadenlosen Mobilisierung des eigenen Anhangs und in der Fähigkeit, durch Gewalt und andere Zwangsmaßnahmen, aber eben auch durch überwältigende Propaganda eine widerstrebende, aufsässige und wehrunwillige Bevölkerung nicht nur gefügig zu machen, sondern sie auch zum Mitmachen zu zwingen. In der „heroischen“ Periode des Kriegskommunismus wurden Verhaltenstechniken und -muster entwickelt, die für die Zeit Lenins und Stalins – und in milderer Form darüber hinaus – konstitutiv bleiben sollten: Dazu zählten nicht nur auf Seiten der „gläubigen“ Parteianhänger und der nachwachsenden Jugend Attitüden von Enthusiasmus, Militanz und Wortgläubigkeit sowie ein hohes Maß an Einsatzbereitschaft für gute und böse Unternehmungen. Auf der anderen Seite entwickelten sich viele Verhaltensweisen von Geiseln wie Simulation und „Maskierung“.19 Die Disposition der Bolschewiki zur Gewalt ist sehr kontrovers diskutiert worden.20 Unstrittig ist, dass sie Teil der vor 1914 gewalttätigen revolutionären Gegenkultur war. Lenin selbst rechtfertigte die vielen „außerordentlichen“ Maßnahmen u. a. mit Bezug auf das Massentöten im „imperialistischen“ Krieg und mehr noch mit der aktuellen Bedrohung durch innere und äußere Feinde. Dass ihre Vielzahl etwas mit dem eigenen Avantgarde-Anspruch, mit der Machtarroganz und mit verweigerter Konsenssuche zu tun haben könnte, ist von innerparteilichen Kritikern nur selten thematisiert worden. Zeitdruck war eine konstitutive Komponente für die Durchsetzung des für historisch notwendig und richtig erkannten Auftrags. Lenin trieb zum Revolutionsputsch an. Der Bürgerkrieg wie die Kollektivierung und Industrialisierung unter Stalin waren begleitet von einer Rhetorik der Zeitbeschleunigung und manchmal eines utopischen Sprungs in den Sozialismus. Einkreisungsängste und das Monster „Imperialismus“ mit seinen inneren „fünften Kolonnen“ blieben immer abrufbar. Stalin drückte aufs Tempo, weil die Sowjetunion wegen Rückständigkeit nicht „geschlagen“ werden sollte wie das alte Russland.21 Bei den dafür notwendigen Gewaltmaßnahmen durften die Hände nicht zittern, wie Molotow, einer der Fachleute für administrative Gewalt,
19 S. Fitzpatrick, Tear off the Masks! Identity and Imposture in Twentieth-Century Russia, Princeton/Oxford 2005; D. Beyrau, „Ketman oder ,Worte sind Masken‘“, H. Hamersky/H. Pleines/H.-H. Schröder (Hg.), Eine andere Welt? Kultur und Politik in Osteuropa 1945 bis heute, Stuttgart 2007, 71–85. 20 J. Baberowski, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2003. 21 J. Stalin, „Über die Aufgaben der Wirtschaftler“ (1931), ders., Werke, Bd. 13, Berlin 1955, 27–38, 35–36.
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sich später ausdrücken sollte.22 Zeitdruck und Kriegserwartung bildeten zentrale Rechtfertigungen für die vielen Repressalien. Über den Bürgerkrieg hinaus verstand sich die Sowjetunion als „Kriegslager“. Dies erforderte eine totale Mobilisierung aller Ressourcen und der Menschen. Die allgemeine Militarisierung zeigt sich auch in der Sprache, die viele militärische Begriffe auf das zivile Leben übertrug. Diese Transfers assoziierten Militanz, Enthusiasmus und ständige Einsatzbereitschaft. Das Spektrum reichte von der Vorstellung der Partei als Orden oder als Kaderarmee über die vielen Schlachten, die an der Erntefront, der Produktionsfront oder auch der Literaturfront in Kampagnen gegen sichtbare und unsichtbare Feinde zu schlagen waren. Der Große Vaterländische Krieg, eine weitere Katastrophenerfahrung für die sowjetische Bevölkerung, hat an der militaristischen Semantik nichts geändert, der Sieg mag sie noch befestigt haben. Allerdings koexistierten Friedenssehnsucht, die dem Sozialismus im Selbstverständnis zueigen war und nach 1948 im „Friedenskampf “ organisiert wurde,23 und militaristische Einstellungen in der „großen“ Politik. Sie ließen nicht nur – wie in den USA – einen militärisch-industriellen Komplex entstehen, die Sowjetunion verkörperte diesen geradezu durch die Massenproduktion von konventionellen Waffen und eine überbordende Atomrüstung. Die Waffen- und Atomindustrien absorbierten einen unverhältnismäßig großen Teil der intellektuellen und materiellen Ressourcen des Landes, weitgehend ohne Transfers in den zivilen Sektor.24 Ideologische Militanz und Militarisierung des öffentlichen Lebens waren in der Sowjetunion von Anfang an eine enge Verbindung eingegangen. Im Unterschied zu den 1920er Jahren wurde die Armee seit den 1930er Jahren zur wichtigsten, höchst problematischen Sozialisationsinstanz für den größten Teil der männlichen Jugend. Schon während des Zweiten Weltkrieges hatte das harte Regime in der Armee viele 22 F. Cuev, Sto sorok besed s Molotovym, Moskau 1991, 378. 23 R. Schlaga, Die Kommunisten in der Friedensbewegung – erfolglos? Die Politik des Weltfriedensrates im Verhältnis zur Außenpolitik der Sowjetunion und zu unabhängigen Friedensbewegungen im Westen (1950–1979), Münster 1992; J. C. Behrends, „Vom Panslavismus zum ,Friedenskampf ‘. Außenpolitik, Herrschaftslegitimation und Massenmobilisierung im sowjetischen Nachkriegsimperium (1944 –1953)“ Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 56 (2008) 1, 27–53. 24 C. Davis, H.-H. Höhmann, H.-H. Schröder (Hg.), Rüstung, Modernisierung, Reform. Die sowjetische Verteidigungswirtschaft in der Perestroika, Köln 1990; A. Heinemann-Grüder, Die sowjetische Atombombe, Münster 1992; D. Holloway, Stalin and the Bomb. The Soviet Union and the Atomic Energy 1939–1956, New Haven 1994; H.-H. Schröder, Sowjetische Rüstungs- und Sicherheitspolitik zwischen „Stagnation“ und „Perestrojka“. Eine Untersuchung der Wechselbeziehungen von auswärtiger Politik und innerem Wandel in der UdSSR (1979–1991), Baden-Baden 1995; L. R. Graham, „Atomic Powered Communism: Nuclear Culture in the Postwar USSR“, Slavic Review 55 (1995), 297–324.
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sowjetische Soldaten zum Überlaufen veranlasst. Seit den 1970er Jahren wurde dann das System der „dedowschtschina“ in der Armee bekannt. Es handelt sich hier um ein System physischer Unterwerfung und Demütigung der Rekruten durch die älteren Jahrgänge, offensichtlich geduldet, wenn nicht gar gefördert durch die Offiziere. In der Armee etablierte sich mithin ein unverhülltes System von Macht und Unterwerfung, von Sozialisierung durch Gewalt, bar jeden Bemühens um Legitimation, wie sie die bolschewistische Gewalt der Gründerjahre noch ausgezeichnet hatte.25 Die Armee als ein wichtiges gesellschaftliches Subsystem nahm in mancher Hinsicht vorweg, was sich in der Zeit der „katastrojka“ (A. Sinowjew), des katastrophalen Umbaus seit Ende der 1980er Jahre, auf öffentlicher Bühne zeigen sollte: Macht und Gewalt emanzipierten sich von aller ideologischen Rechtfertigung.
IV. Sowjetischer „Demokratismus“ Das Konzept von der Partei als Avantgarde blieb im Denken Lenins und seiner Nachfolger immer verbunden mit der gleichzeitigen Forderung nach „Rückkoppelung“ an das Proletariat bzw. an die Werktätigen – in der Sprache der Partei: nach ihrer „Verbindung zu den Massen“. „Demokratischer Zentralismus“ wurde zum Organisationsprinzip der Sowjets und der Partei erklärt. Die sowjetische Führung nahm für sich auch einen besonderen „Demokratismus“ in Anspruch. Immer wieder war auch von der Notwendigkeit von „Demokratisierung“ die Rede, besonders in Krisenzeiten. Die „Volksverbundenheit“ zeigte sich bereits in der Parole „Alle Macht den Sowjets“, vor dem Oktober bereits modifiziert in „Alle Macht dem Proletariat und der armen Bauernschaft“. Mit diesen Losungen eroberten die Bolschewiki die Schalthebel der Macht. Obwohl es sich faktisch um einen Putsch handelte, ließen sie sich den Oktoberumsturz durch den zweiten Allrussischen Sowjetkongress am 26. Oktober 1917 bestätigen. Die Sowjets blieben das Symbol für eine direkte „Volksherrschaft“, auf das die Partei nicht verzichtete. Das anfangs latente Konkurrenzverhältnis zwischen Partei und Sowjetexekutive wurde sehr schnell zugunsten der bolschewistischen Parteidiktatur entschieden. Gleichwohl blieben die Sowjets ein konstitutiver Bestandteil der nach ihnen benannten Sowjetunion. Spätestens seit Ende des Bürgerkrieges mit seinen vielen Einrichtungen mit außerordentlichen Vollmachten wurden die Sowjets zu einer manipulierten Repräsentanz des „werktätigen“ Volkes. Sie verfügten auch über einen administrativen Unterbau mit gewissen Gestaltungsspielräumen in den 1920er Jahren. Die Sowjetgremien wie ihre 25 Lewada, Die Sowjetmenschen, 126–139; Kharkhordin, The Collective, 310–312; „Dedovsh china: From Military to Society“, Journal of Power Institutions in Post-Soviet Societies. Special Issue Juni 2004.
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Verwaltungen blieben dabei unter Kontrolle der Partei bzw. ihrer Nomenklatura. Die Sowjets selbst fungierten darüber hinaus als Akklamationsinstanzen und als Resonanzboden für Entscheidungen, die anderswo gefallen waren. Sie blieben aber als Teil des Revolutionsmythos und des Partizipationsversprechens eine wichtige „Legitimationsressource“.26 Auf ein wechselndes Maß an Akklamation und damit verbundener Aktivierung des Parteivolks wollte die Partei selbst unter Stalin nicht verzichten. In Krisenzeiten wurde auf die Idee authentischer Sowjets immer wieder zurückgegriffen: 1921 beim Aufstand von Kronstadt und auch in den Bauernaufständen von 1921–22, meistens unter der Parole „Sowjets ohne Kommunisten“, 1956 in Ungarn und Polen, 1968 in der Tschechoslowakei und vorübergehend wieder in der Zeit der Perestroika. In den Sowjets der Revolution von 1905 und in denen von 1917/18 kam – ähnlich wie in der Arbeiterkontrolle – etwas zur Geltung, was Lenin als Voraussetzung einer proletarischen Revolution sah: die Spontaneität und Organisationsfähigkeit der proletarischen Massen. Ihr „Klasseninstinkt“ musste aber von der Partei gezügelt und zum sozialistischen Bewusstsein geführt werden, damit er sich nicht im Anarchismus oder in „kleinbürgerlichen“ und „tradeunionistischen“ Abweichungen verirrte. Spontaneität sollte sich dann in Gestalt der politischen Kampagnen institutionalisieren. Sie blieben fast bis zum Ende der Sowjetunion ein fester Bestandteil der sowjetischen Politik. In den Kampagnen zeigte sich die aktive Beteiligung des Proletariats bzw. der werktätigen Massen an der Umsetzung politischer Ziele. Sie nahmen in der Regel politische Vorgaben auf, konnten vereinzelt wohl auch aus den Milieus der Partei oder der weiteren Bevölkerung hervorgehen. Simulation und authentischer Aktivismus sind dabei nicht leicht zu unterscheiden. Die Funktion von Kampagnen war in jedem Fall, Ziele der Partei aufzunehmen und zu popularisieren. Hier konnte sich wahlweise das Proletariat, die Parteibasis oder „das Volk“ zum Klassenkampf mobilisieren oder sich selbst in harmloseren Aktivitäten wie dem Sauberhalten von Parks und Straßen „kultivieren“. Die „Volksdiskussionen“ um die Verfassungen von 1936 und 1977 sind Beispiele von Kampagnen, bei denen Steuerung von oben und (Selbst-)Mobilisierung von unten nicht leicht zu unterscheiden sind.27 26 O. Anweiler, Rätebewegung in Russland, Leiden 1958; T. H. Friedgut, Political Participation in the USSR, Princeton 1979; G. Wahl, Theorie und Praxis sozialistischer Demokratie in der Sowjetunion. Politische Partizipation im Rahmen der lokalen Sowjets, Frankfurt/M. 1984; J. W. Hahn, Soviet Grassroots. Citizen Participation in Local Soviet Government, London 1988. 27 J. A. Getty, „State and Society under Stalin: Constitutions and Elections in the 1930’s“, Slavic Review 50 (1991) 1, 18–35; M. Fincke, „Einleitung. Verfassung (Grundgesetz) der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“, Jahrbuch für Ostrecht 18 (1977), 223–236; „Die neue Verfassung der UdSSR“, Osteuropa Recht 24 (1978), 1–2; „Die Verfassungsdiskussion im Spiegel der ,Iswestija‘“, Osteuropa 28 (1978), 1, A 38–51.
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Zwischen Führung und Bevölkerung etablierten sich sehr unterschiedliche Formen der Kommunikation: Es gab das spontane oder simulierte „bolschewistische Reden“. Seit der Revolution waren Resolutionen in Betrieben und Versammlungen aller Art und Instruktionen (nakazy) von Kollektiven üblich, anfangs eher spontan, später zumeist gesteuert, sofern es um politische Fragen ging. Von großer Bedeutung waren spätestens seit 1956 Leserbriefe an die Zeitungen, mit deren selektiver Publikation in einer breiteren Öffentlichkeit die unterschiedlichsten Probleme diskutiert werden konnten. Daneben tradierten sich ältere Formen fast untertäniger Appelle, Bitten, Beschwerden, Klagen und Denunziationen an die Obrigkeit, einschließlich der Entsendung von Bittstellern (chodoki) nach Moskau.28 Die Kommunikationsformen in der Partei changierten zwischen „direktiven“ Anordnungen und manchmal verordneten Diskussionen, die eine eigene Dynamik entfalten konnten. Sie prägten schließlich auch Debatten in der weiteren Öffentlichkeit. Die großen wissenschaftlichen Diskussionen der 1940er und 1950er Jahre zelebrierten dieses „Spiel von Demokratie“. Sie wiesen gleichzeitig Merkmale von Authentizität und Steuerung auf und wurden manchmal, wie im Fall der Agrobiologie Trofim Lysenkos, „direktiv“ von Stalin entschieden.29 Der entscheidende Unterschied zur Monarchie und Autokratie vor 1914 war, dass Politik nicht einfach als Vollzug von Befehlen verstanden wurde, sondern als aktive Realisierung durch das werktätige Volk oder die Parteimassen, inspiriert und angeleitet durch die Parteiführung. Partizipation konnte aber in Zwang ausarten und erwies sich in der Praxis als eine Form sehr wirksamer kollektiver Konformitätskontrolle. Daraus erklärt sich auch die Formel vom Sprechen „mit fremder Zunge“.30
28 M. Mommsen, Hilf mir, mein Recht zu finden. Russische Bittschriften von Iwan dem Schrecklichen bis Gorbatschow, Frankfurt/M./Berlin 1987; J. Brooks, Thank You, Comrade Stalin. Soviet Public Culture from Revolution to Cold War, Princeton 2000; A. J. Livsin et al. (Red.), Pis’ma vo vlast’ 1917–1927, Moskau 1998; A. J Livsin et al. (Red.), Pis’ma vo vlast’ 1928–1939, Moskau 2002. 29 D Beyrau, Intelligenz und Dissens. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917–1985, Göttingen 1993, 80–117, 222–228; M. David-Fox, Revolution of the Mind. Higher Learning among the Bolsheviks, 1918–1928, Ithaca/London 1997; A Kozhevnikov, „Games of Stalinist Democracy. Ideological Discussions in Soviet Sciences 1947– 1952“, S. Fitzpatrick (Hg.), Stalinism. New Directions, London 2000, 142–175; E. Pollok, Stalin and the Soviet Science Wars, Princeton/Oxford 2006. 30 Z. K. Brzezinski/S. P Huntington, Politische Macht. USA/UdSSR. Ein Vergleich, Köln/ Berlin 1966, 108–122.
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V. Partei, Intelligenz und Arbeiterklasse: der Weg in die „Zeitlosigkeit“ Die Partei und die Intelligenzija
Schon im Verlaufe des Bürgerkrieges hatte sich die Partei von einer plebejischen Massenorganisation aus Soldaten, Matrosen, Arbeitern und revolutionärer Intelligenz in eine Partei der zivilen, polizeilichen und militärischen Apparate verwandelt. Der einstige Parteiaktivist war, wenn er überlebt hatte, zum Parteifunktionär und zum „Kader“ geworden. Dennoch fehlten der Partei bis weit in die 1930er Jahre hinein in fast allen Bereichen die Fachleute, unter denen die Bolschewiki nur wenige Anhänger fanden. Obwohl die führenden Bolschewiki der ersten Generation Angehörige der Intelligenz mit sehr bewegten Biografien waren, konstruierten sie einen Gegensatz zur „bürgerlichen Intelligenz“, seither als bürgerliche Spezialisten bezeichnet. Diese hasste und brauchte man. Denn durch Revolution und Bürgerkrieg hatte Russland einen enormen Aderlass unter den gebildeten (und vermögenden) Schichten erlebt. Umso größer war die Abhängigkeit von „Intelligenz“ auf allen Gebieten – von der Verwaltung über den Bildungssektor, Kultur und technische Infrastruktur bis zum Militär. In der Phase bis Ende der 1930er Jahre setzte sich gegenüber den gebildeten Schichten eine unstabile Kombination von Privilegierung und Repressalien durch. Im Bürgerkrieg kam dies in besonders drastischer Weise gegenüber ehem. Offizieren der zarischen und weißen Armeen zum Ausdruck: Einerseits wurden sie zu Tausenden erschossen, andererseits wurden ebenso viele Tausende als „bürgerliche Militärspezialisten“ für die Rote Armee rekrutiert und – wie die zumeist wehrunwilligen Soldaten – der Kontrolle der politischen Kommissare unterstellt. In der Armee wurde so ein für Jahrzehnte geltendes Modell für das Verhältnis zwischen Parteifunktionären und Bevölkerung etabliert. Ob in der Armee, in Betrieben, in Verbänden oder in der Verwaltung, Parteimitglieder bildeten in Gestalt von Führungskadern – später weitgehend identisch mit der Nomenklatura – und Parteizellen ein vernetztes System von Führung, (Selbst-) Kontrolle und Mobilisierungsreserven in Gestalt der Parteizellen. Trotz des Wandels der Partei und der Gesellschaft blieb die doppelte Struktur der Partei bis zum Ende der Sowjetunion erhalten. Nach 1956 ließ sich eine Verregelung und Bürokratisierung in Wahlverfahren und Entscheidungsprozeduren der Partei beobachten. Das Zentralkomitee der Partei fungierte als oligarchische Repräsentanz. Hier waren alle wichtigen Einrichtungen durch ihre höheren Parteifunktionäre vertreten. Dies bedeutete aber auch, dass die monolithische Fassade der Partei nach außen hin zwar aufrechterhalten wurde, die Parteiführung aber inzwischen zu einer Vermittlungsinstanz zwischen sehr unterschiedlichen Interessen geworden war. Der Ausgleich wurde nach wie vor hinter verschlossenen
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Türen gefunden. Seine Ergebnisse spiegelten sich in unendlich langweiligen Reden auf Partei- und Sowjetkongressen mit einer equilibristischen Rhetorik: Selbstlob und Selbstkritik hielten einander die Waage. An Stelle von Klassenkampf wurde eher die Harmonie des „Volksstaates“ oder der „Gemeinschaft des Sowjetvolkes“ zelebriert.31 In der amtlichen Soziologie der 1970er und 1980er Jahre wurden Parteifunktionäre und Parteiführung als „Intelligenz“ bezeichnet. Abgesehen von der absichtsvollen Camouflierung von Macht zeigte sich in diesem Begriff, der in den 1920er und 1930er Jahren eher negativ besetzt war, dass die Parteifunktionäre inzwischen auch zur breiten Schicht der Gebildeten gehörten. Im Zuge der Expansion der Bürokratien, der Industrialisierung und der Bildungsoffensiven seit den 1940er Jahren veränderte sich mithin auch das Verhältnis zwischen den intellektuellen Berufen und der Partei. Im Ergebnis bedeutete dies, dass seit den 1960er Jahren keine Schicht in der Gesellschaft in so hohem Maße in der Partei präsent war wie die Angehörigen der mittleren und höheren Bildung. Dies reichte von den Kolchosvorsitzenden über die Betriebsleiter und Offiziere bis zu den gelehrten Angehörigen der Universitäten und Akademien. An die Stelle der einstigen Distanz zwischen Partei und Intelligenzija war nun eine große Nähe getreten. Differenzen ergaben sich eher aus dem beruflichen Profil, den Funktionen und der Herkunft, als dass Parteizugehörigkeit selbst ab- und ausgegrenzt hätte. Damit veränderten sich aber auch das öffentliche Auftreten und die öffentliche Rhetorik der Partei.32 Die Expansion der tertiären Ausbildung hatte seit den 1970er Jahren zu einer „Überproduktion“ von Angehörigen der Bildungsberufe und mithin zu einer Entwertung ihrer Arbeit geführt. Waren die Durchschnittsgehälter in den Intelligenzberufen zu Stalins Zeiten noch doppelt so hoch gewesen wie die durchschnittlichen Arbeitereinkommen, so vollzog sich mit der „Vermassung“ der Intelligenzberufe (und auch mit ihrer Feminisierung) deren Absinken auf der Lohnskala. Der Prestigeverlust des Ingenieurberufs war in dieser Hinsicht symptomatisch. In der Breshnew-Zeit wog – in Umkehrung zur Stalinzeit – materielle Produktion fast mehr als intellektuelle Arbeit. Dies lässt sich als Spiegel des sowjetischen Fordismus lesen, d. h. als die Folge massiver Lobbyarbeit der alten Schwerindustrien. Diese offenbar nicht gesteuerte Entwicklung widersprach zudem der seit den 1960er Jahren lauthals propagierten wissenschaftlich-technischen Revolution. Sie lasse sich, so die optimistische Argumentation, im Sozialismus viel leichter realisie31 E. A. Rees (Hg.), Decision Making in the Stalinist Command Economy, 1932–1937, London 1997; H. G. Skilling/F. Griffiths (Hg.), Interest Groups in Soviet Politics, Princeton/N. J. 1971; G. Brunner/B. Meissner (Hg.), Gruppeninteressen und Entscheidungsprozess in der Sowjetunion, Köln 1975. 32 B. Meissner, „Neuere Daten zur sozialen Struktur der KPdSU“ Osteuropa 29 (1979), 709– 730; ders., „Das soziale Gefüge der KPdSU am Ausgang der Breshnew-Ära“ Osteuropa 35 (1985), 528–556.
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ren als im Kapitalismus mit seinen inneren Widersprüchen. Wenn Soziologen und zeitgenössische Beobachter der 1980er Jahre Motivationsverlust am Arbeitsplatz und den Mangel an Aufstiegsehrgeiz in der Jugend beklagten, so stand dies offensichtlich im Zusammenhang mit einer technisch stagnierenden Industrie und mit einem ungesteuert expandierendem Bildungssektor, der den Absolventen keine angemessenen Arbeitsplätze mehr bot. Auch in den (zivilen) Forschungseinrichtungen, oft schlecht ausgestattet, wurde wenig verdient. Hinzu kam eine ausufernde Bürokratisierung in der Wirtschaft und in den Forschungsstätten, die als politisch „kolonisiert“ galten, d. h. eine Beute inkompetenter Funktionäre waren.33 Im Unterschied zur Nomenklatura und den Eliten in den Forschungseinrichtungen wie z. B. in der Akademie der Wissenschaften fanden Gorbatschows Reformankündigungen eine vergleichsweise positive Resonanz nur unter den nicht-privilegierten Intelligenzberufen, (deren Gehälter er anhob). In diesen Milieus (und im Dissens) kursierten seit Mitte der 1970er Jahre Begriffe wie „Stagnation“ oder „Zeitlosigkeit“. Sie korrespondierten mit der „angehaltenen“ Zeit des amtlich verkündeten „entwickelten Sozialismus“ als einer der nun vielen Vorstufen zum Kommunismus, wie sie in den Lehrbüchern des „wissenschaftlichen Kommunismus“ verkündet wurden.34 Die Zeitvorstellungen der einen wie der anderen Seite standen in einem denkbar scharfen Kontrast zur sowjetischen Frühzeit. Gorbatschow versuchte eine letzte „Beschleunigung“ der industriellen Entwicklung, bevor er nach deren Scheitern zu grundsätzlichen Reformen übergehen wollte. Die Partei und die Arbeiterklasse
In der sozialen Realität der Revolutionsjahrzehnte kam Klassenbegriffen eine orientierende Funktion in der Wahrnehmung von Realität wie in subjektiven Befindlichkeiten zu. Dies galt besonders dann, wenn man eine Ausbildung oder einen verantwortlichen Posten anstrebte oder wenn man sich gegen Vorwürfe zu wehren hatte, falscher Herkunft zu sein.35 33 Für eine sehr frühe hellsichtige Kritik aus der UdSSR vgl. S. Zorin/N. Alekseev, Vremja ne zdet. Nasa strana nachoditsja na povorotnom punkte istorii/Leningrad 1969, Frankfurt/M. 1970; „Studie von Novosibirsk“ Osteuropa 34 (1984) 1, A 1- A 31; W. Teckenberg, Gegenwartsgesellschaften: UdSSR, Stuttgart 1983, 348–380; M. Yanowitsch (Hg.), The Social Structure of the USSR. Recent Soviet Studies, New York 1985. 34 V. Turcin, Inercija stracha, New York 1972, 22; B. Sragin, Protivostojanie ducha, London 1977, 25–62; A. Zimin, Socializm i neostalinizm, New York 1981, 87–106; L. Sochor, Beitrag zur Analyse der konservativen Elemente in der Ideologie des „realen Sozialismus“, Köln 1984. 35 J. Hellbeck (Hg.), Tagebuch aus Moskau 1931–1939, München 1996.
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Die Bolschewiki behaupteten, im Namen der Arbeiterklasse die Macht erobert zu haben. De facto verdankten sie diese jedoch nicht den Roten (Arbeiter-)Garden, sondern den Matrosen Kronstadts, lettischen Schützen und wenigen Truppeneinheiten der Nordfront. Die Bedeutung der wenigen bewaffneten Kräfte für den letztendlichen Erfolg sollte sich symbolisch in den jährlichen Militärparaden am 7. November zeigen. Dem 1. Mai blieb es vorbehalten, an die Tradition von Arbeiterdemonstrationen anzuknüpfen, nun freilich in Huldigungsmärsche der Werktätigen umfunktioniert.36 Der Bezug auf die Arbeiterklasse als der „führenden Klasse“ sprach der Realität Hohn – in späterer Ostberliner Diktion: „Uns jehört die Macht und sonst nuscht“. Der Bezug blieb dennoch – ähnlich wie der zu den Sowjets – nicht ohne Bedeutung. In den 1920er Jahren genossen die Arbeiter in den Großbetrieben soziale und politische Vorrechte. In Ansätzen existierten hier bereits Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherungen. Außerdem nahmen sie für sich das Streikrecht in Anspruch. Diese Situation änderte sich dramatisch mit Einführung der Planwirtschaft und der forcierten Industrialisierung. Eine autoritäre Betriebsführung, der Druck der Planvorgaben, der Zustrom unerfahrener Arbeitskräfte vom Lande, die zunehmende Disziplinierung am Arbeitsplatz und die Präsenz von Zwangsarbeit produzierten eine insgesamt unterwürfige „stumme“ und bei Bedarf jubelnde Arbeiterschaft.37 Es bestand ein merkwürdiger Gegensatz zwischen dem „Ruhm der Arbeiterklasse“, der bis in die 1970er Jahre auf Plakaten und Spruchbändern verkündet wurde, und der faktischen Entwertung besonders der körperlichen Arbeit durch die verbreitete Zwangsarbeit. Um 1930 wurde diese zwar lauthals zur „Umerziehung“ oder auch zur „Umschmiedung“ von Klassenfeinden und Klassenfremden veredelt, das änderte aber für die Masse der Häftlinge nichts am Alltag von Stigmatisierung, Hunger und Schwerstarbeit. 38 Erst nach 1956 bildete sich mit der Lockerung der Disziplinvorgaben in den Betrieben eine paternalistische Betriebsgemeinschaft heraus. Sie war das Ergebnis einer36 K. Petrone, Life has become joyous, comrades! Celebration in the time of Stalin, Bloomington/ Ind. 2000; M. Rolf, Das sowjetische Massenfest, Hamburg 2006. 37 D. Filtzer, Soviet Workers and Stalinist Industrialization. The Formation of Modern Soviet Production Relations, 1928–1941, New York 1986; W. G. Rosenberg/L. H Siegelbaum (Hg.), Social Dimensions of Soviet Industrialization, Bloomington/Ind. 1993; D. Neutatz, Die Moskauer Metro. Von den ersten Plänen bis zur Großbaustelle des Stalinismus, Köln et al. 2001. 38 J. Klein, „Belomorkanal. Literatur und Propaganda in der Stalinzeit,“ Zeitschrift für Slavische Philologie 55 (1995) 5–6, 53–98; D. Dahlmann/G Hirschfeld (Hg.), Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation. Dimensionen der Massenverbrechen in der Sowjetunion und in Deutschland 1933 bis 1945, Essen 1999; A. Applebaum, Der GULAG, Berlin 2003; L Viola, The Unknown Gulag. The Lost World of Stalin’s Special Settlements, Oxford 2007.
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seits von zunehmend verrechtlichten Beziehungen und Freizügigkeit, andererseits von gemeinsamen Interessen zwischen Belegschaft und Führung, den Planvorgaben zu entsprechen und die dafür zustehenden Prämien einzusammeln. Hinzukam eine Vielzahl von sozialen Funktionen, die erfolgreiche Betriebe schulterten – sie konnten von Kindergärten über Erholungsheime bis zur Zuteilung von Wohnraum reichen. Viele Betriebe übernahmen besonders in neu gegründeten Städten oder Industrieagglomerationen zudem oft kommunale Aufgaben.39 Der paternalistische Betrieb hatte die Arbeiterschaft der großen Unternehmen und Industriekomplexe seit den 1960er Jahren einigermaßen befriedet, zumal die Löhne und sonstigen Leistungen angesichts der Flucht aus der Produktion ständig gestiegen waren. Nach vielen Zeugnissen dominierte eine zynisch-resignative Stimmung: „Sie /die da oben/ tun so, als ob sie uns bezahlen, wir tun so, als ob wir arbeiten“. Dieser Aphorismus verweist auf die geringen Ansprüche und Erwartungen zu Beginn der 1980er Jahre. Man könnte von einem resignativen Arrangement der Industriearbeiter mit dem Regime sprechen. In dieser Zeit waren die Zufriedenheitsskalen, die sich in der UdSSR ermitteln ließen, nicht schlechter als in anderen (westlichen) Ländern.40 Neben den stationären Betrieben in den Großstädten und den zusätzlich privilegierten geschlossenen Rüstungs- und Forschungsstädten existierte bis in die 1980er Jahre aber auch eine hoch mobile, schwer zu kontrollierende Arbeiterschaft. Als Poniere in unwirtlichen Regionen, die für die Rohstoffausbeute oder Industrieansiedlung erschlossen wurden, ersetzten diese Arbeiter die früheren Zwangsarbeiter. Sie wurden in der Regel recht gut bezahlt. Es war vor allem dieser Typ von Arbeitern, der Unruhen zu Beginn der 1960er Jahre initiierte. Dabei zeigte sich eine erstaunlich geringe Präsenz von „Macht“ in Gestalt einer Miliz und sonstigen Verantwortlichen vor Ort. Die mobilen Arbeiter fielen in den 1980er Jahren durch einen besonders hohen Alkoholkonsum und hohe Kriminalitätsraten auf. Hier war eine besonders drastische Kluft zwischen parteiamtlichen Losungen und Visionen und der Realität vor Ort zu überwinden.41 39 M. E. Ruban et al. (Hg.), Wandel der Arbeits- und Lebensbedingungen in der Sowjetunion 1955–1980: Planziele und Ergebnisse im Spiegel sozialer Indikatoren, Frankfurt/M/New York 1983; W. Teckenberg, „Die relative Stabilität von Berufs- und Mobilitätsstrukturen. Die UdSSR als Ständegesellschaft im Vergleich“, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 41 (1989) 2, 299–326. 40 J. R. Millar, „The Little Deal: Brezhnev’s Contribution to Acquisitive Socialism“, Slavic Review 44 (1985) 4, 694–706; M. Ellman/V Kontorovich (Hg.), The Destruction of the Soviet Economic System, Armonk/N. Y. 1998, 12, 30–40. 41 V. A. Kozlov, Massovye besporjadki v SSSR pri Chrusceve i Brezneve (1953 – nacala 1960ch gg,), Novosibirsk 1999; S. Baron, Bloody Sunday in the Soviet Union. Novorossiisk 1962, Stanford/Cal. 2001; V. J. Semke (Red.), Alkogolizm. Regional’nyj aspekt, Tomsk 1992.
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VI. Die Partei steuert den Fortschritt Die technische und räumliche Organisation der Industrialisierung
Schon vor Ende des Bürgerkrieges hatte Lenin deklamiert, dass Sowjetmacht plus Elektrifizierung Kommunismus sei. Elektrisches „Licht“ in der Bauernhütte wurde zur Metapher für Aufklärung und technischen Fortschritt. Soziologische Basis dieser Losung war ein brüchiges „Bündnis“ mit der technischen Intelligenz, die in der Partei einen Partner für ihre technokratischen Visionen zu finden glaubte. Visionen von der Umgestaltung von Mensch, Natur und Raum einten beide Seiten. Trotz der zeitweiligen gehässigen Stigmatisierung und Verfolgung der Angehörigen der technischen Intelligenz (seit 1928 bis Anfang der 1930er Jahre) bei gleichzeitiger Anwerbung ausländischer Fachleute blieben Technikeuphorie, Wissenschaftsgläubigkeit und Fortschrittsoptimismus konstitutiv für die sowjetische Kultur. Ingenieure wurden zu einem verbreiteten Leitbild und zum Symbol für den Aufbau des Sozialismus.42 Technik- und Wissenschaftspropaganda für die „Massen“ und die Popularität von Science-Fiction (nautschnaja fantastika) gehörten dazu ebenso wie die forcierte Ausbildung technischen Personals. Die oft gigantomanische Industrialisierung und die Erschließung ferner Räume für die Rohstoffausbeute orientierten sich dabei am amerikanischen Vorbild. Unter Funktionären und technischen Kadern grassierte vor wie nach 1945 ein „sowjetischer Amerikanismus“. Die fordistischen USA lieferten nicht erst im Kalten Krieg das geheime Vorbild. 43 In den 1930er Jahren entstanden Industriebürokratien – nicht zuletzt im Volkskommissariat des Inneren mit dem Ausbau der Zwangsarbeitslager. Denn diese wurden ebenfalls mit Planvorgaben nach allen Regeln sozialistischer Betriebe geführt. Auch nach Aufgabe der Zwangsarbeit verharrte die sowjetische Industriepolitik der 1950er bis 1970er Jahre im Stadium des „fordistischen“ Industrie- und Machtstaats, als dieser im Westen bereits in die Krise geraten war.44 Rüstungs-, Planungs- und Industriebürokratien huldigten nach wie vor einer Fortschrittsrhetorik im Stil der 1930er Jahre. 42 K. E. Bailes, Technology and Society Under Lenin and Stalin. Origins of the Soviet Technical Intellientsia 1917–1941, Princeton 1978; S. Schattenberg, Stalins Ingenieure. Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren, München 2002. 43 K. Gestwa, Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus. Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte, 1948–1967, München 2010 (und dortige Literatur zur Industrialisierung und Großprojekten). 44 C. S. Maier, „Two Sorts of Crisis? The ,long‘ 1970s in the West and in the East.“ G. Hockerts, E. Müller-Luckner (Hg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des OstWest-Konflikts, München 2004, 49–62.
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Der sowjetische Fordismus wies allerdings einige Besonderheiten auf: Die eigentlich industriell-technischen Zentren, zumeist mit der Rüstung verbunden, befanden sich fast ausschließlich in der RSFSR. Kennzeichen der industriellen Allokation waren eine monofunktionale, oft auch monopolistische Spezialisierung an einem Ort (sog. Monostädte) mit komplementären Produktionen an anderen ebenso monostrukturellen Orten. Extreme Beispiele sind in der Industrie Rüstungs- und Atomstädte und nicht zuletzt territoriale Industriekomplexe vor allem in Sibirien. In der Landwirtschaft sind Beispiele für Monokulturen die Getreidezonen im Südosten und in Kasachstan sowie die Baumwollkulturen in Mittelasien.45 Diese Struktur wurde als arbeitsteilige „Integration“ verstanden, in die auch die Staaten des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW, COMECON) eingebunden waren. Vom Dorf in die Zentralsiedlung
Die Bolschewiki siegten als „Avantgarde des Proletariats“ in einem Land, dessen Bevölkerung zu mehr als 80% aus Landbewohnern bestand und mehrheitlich in der Landwirtschaft beschäftigt war. In der Bauernrevolution wurde das Gutsland enteignet und nach dem Grundsatz „Wer das Land bearbeitet, dem soll es auch gehören“ umverteilt. Diese Fixierung auf die Subsistenz der Bauernwirtschaften verschärfte den Mangel an Überschüssen, die an die Städte, Gewerbezonen und Armee hätten veräußert werden können. Hier lag eine der Ursachen für den Krieg der Bolschewiki gegen das Dorf. Nach dem Sieg über die „Weißen“ wurde der Bürgerkrieg immer mehr zu einem Konflikt zwischen der Partei als Repräsentant des industriell-städtischen Interesses und der Landbevölkerung. In dieser Zeit war die Partei und die Sowjetmacht auf dem Lande vornehmlich aktiv als Requirierungskommandos (prodotrjady), welche die Bauern malträtierten und ausplünderten, Rekruten einfingen und weitgehend vergeblich versuchten, den Klassenkampf ins Dorf zu tragen. Auffällig ist schon zu dieser Zeit die Hasspropaganda gegen die Kulaken als Ausbeuter und Dorfreiche, welche angeblich die Stadt und die Rote Armee aushungern wollten. Auf dieses Argu45 G. Leptin (Hg.), Sibirien. Ein russisches und sowjetisches Entwicklungsproblem, Berlin 1986; V. Mote, Siberia: Worlds Apart, Boulder/Colo. 1998; V. Kaganskij, Kul’turnyj landsaft i sovetskoe obitannoe prostranstvo. Sbornik statej, Moskau 2001, 135–154; T. Nefedova et al. (Red.), Gorod i derevnja v Evropejskoj Rossii: sto let peremen, Moskau 2001, 124–222; K. Gestwa, „Sowjetische Landschaften als Panorama von Macht und Ohnmacht. Historische Spurensuche auf den „Großbauten des Kommunismus“ und in dörflicher Idylle“, Historische Anthropologie 11 (2003), 72–100; V. I Korotaev, „Zwangskolonisierung, Scheinurbanisierung und Seuchen. Zur Demographie der Nordregion im Stalinschen Totalitarismus“ Jahrbuch für Kommunismusforschung 2007, 255–275; N. Baron, „New Spatial Histories of Twentieth Century Russia and the Soviet Union: Surveying the landscape“, Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 55 (2007) 3, 374–400.
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mentationsmuster sollte Stalin bei den Zwangsrequirierungen seit 1928 – der sog. sibirischen Methode – und bei der Kollektivierung zurückgreifen. Der Kulak als Feind repräsentierte alles, was die Bolschewiki an den Bauern hassten – Rückständigkeit, das Klammern an den Besitz, Aberglauben und Religion, kurz in den Worten Gorkis: Sumpf. Das Kulakentum stand im Grunde für das Bauerntum insgesamt. Es wurde als gefährliches Hindernis auf dem Weg zum Sozialismus gesehen.46 Die Neue Ökonomische Politik (NEP) in den Jahren zwischen 1921/22 und 1927/28 war ein Kompromiss mit der widerspenstigen Bauernschaft, sie war nur eine Atempause. Aus der Sicht der Bauern: „Es ist, wie wenn man eine junge Stute einfangen will: Man nähert sich ihr sachte, tätschelt sie und schwupp! hat sie den Zaum um. Und genau so wollen sie es mit uns machen, mit ihrer NEP. Haben sie uns erst einmal fest am Zaum, dann brauchen sie keine List mehr; dann können sie uns schlagen, soviel sie wollen“.47 Stalin und die seinen Vorgaben folgende sowjetische Historiografie stellten die brachiale Kollektivierung mit ihren Requisitionen und Repressalien wie die folgende (verschwiegene) Hungersnot 1932/33 als Teil des verschärften Klassenkampfes dar. Daneben gab es aber auch eine eher verborgene „Botschaft“, die mit der Zahl überflüssiger und unproduktiver „Esser“ argumentierte und auch sozialdarwinistische Argumentationsmuster durchscheinen ließ.48 Ex post erweist sich die Kollektivierung als Beginn eines wechselvollen Prozesses der Entbäuerlichung der Sowjetunion. Zunächst entstand mit den Kolchosen ein Arbeitssystem, das nicht so sehr post- sondern vorkapitalistische Züge aufwies: Der Arbeitslohn wurde nach Tagewerken berechnet und erfolgte zumeist in Naturalien. Geldeinkommen konnten nur durch den Verkauf von Produkten aus der Garten- und Hauswirtschaft auf den Kolchosmärkten realisiert werden. Sozialleistungen hatte der Kolchos zu tragen. In der Werteskala der Bolschewiki galt er als eine Genossenschaft, d. h., er bildete nur eine Vorstufe zum Sozialismus. Die Freizügigkeit war aufgehoben. Auswege aus dem Kolchos boten die Ableistung des Wehrdienstes und die folgende Entlassung in die Stadt oder die „organisierte Rekrutierung“ (orgnabor) auf die Baustellen und in die Industrie. (Inlandspässe und damit das Recht auf Freizügigkeit erhielten die Kolchosniki erst 1976.) Aus der Sicht des Staates war der Kolchos sehr praktisch und ein Gewinn, weil sich aus ihm mehr herauspressen ließ als aus der vorherigen bäuerlichen Landwirtschaft.49 46 M. Gor’kij, O russkom krest’janstve, Berlin 1922; D. Beyrau, „Janus in Bastschuhen: Die Bauern in der russischen Revolution 1905–1917“, Geschichte und Gesellschaft 21 (1995) 4, 585–603. 47 P. Grigorenko, Erinnerungen, München 1980, 62. 48 D Beyrau, Petrograd, 25. Oktober 1917. Die russische Revolution und der Aufstieg des Kommunismus, München 2001, 103–132. 49 S. Merl, Die Bauern unter Stalin. Die Formierung des sowjetischen Kolchossystems, Berlin 1990; S. Fitzpatrick, Stalin’s Peasants. Resistance and Survival in the Russian Village After
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Die Schrecken der Kollektivierung und der Hungersnöte der 1930er und 1940er Jahre wurden selbst nach 1991 eher verhalten erinnert. Dies dürfte einerseits mit dem Verschwinden vieler Dörfer als Traditions- und Erinnerungsorten zu tun haben, andererseits mit dem negativen Bild vom Kulaken als Klassenfeind, das in den Medien und Schulbüchern ständig verbreitet worden war. Zudem waren die überlebenden Dorfbewohner aktiv oder passiv in die Entkulakisierung involviert und damit nicht immer frei von Komplizenschaft. Nur dort wurden Entkulakisierung, Kollektivierung und Hungersnot zu einem großen Thema der Erinnerung, wo sie sich – wie in der postsowjetischen Ukraine – als Genozid national aufladen ließen.50 Die eigentliche agrotechnische Modernisierung, welche die Kollektivierung hatte rechtfertigen sollen, vollzog sich flächendeckend in der Sowjetunion erst seit den 1960er Jahren – mit ihrem problematischen Einsatz von Chemikalien und einer Großtechnik, die nach amerikanischem Muster vor allem für die großen Getreideflächen des Südens und Südostens geeignet war. Erst unter Breshnew begannen systematische Investitionen in die Landwirtschaft, verbunden mit der Zusammenlegung von Kolchosen zu landwirtschaftlichen Großbetrieben, mit der Umwandlung vieler (verschuldeter) Kolchosen in Sowchosen, also in Staatsbetriebe. Dies wurde verbunden mit der Schaffung ländlicher Zentralsiedlungen („Perspektivdörfer“), die städtische Annehmlichkeiten bieten sollten. Damit war die Auflassung zahlloser „perspektivloser“ Dörfer oder ihre Vernachlässigung verbunden, vielfach einhergehend mit einer Verödung des Landes. Die Modernisierungsprogramme, die auch bei den nomadischen Völkern des Nordens Anwendung fanden, liefen auf die Entstehung eines gigantischen agroindustriellen Komplexes hinaus, der Produktion, Verarbeitung und Vertrieb rationalisieren, modernisieren und koordinieren sollte. Der agroindustrielle Komplex absorbierte in den 1970er Jahren bereits einen erheblichen Teil – ca. 45% – der Landbewohner. Kaum mehr als die Hälfte war noch in der Landwirtschaft im engeren Sinne tätig.51 Seit Chruschtschow hatte sich die politische Führung das Ziel gesetzt, mit dem Modernisierungsprogramm im ländlichen Sektor die Arbeits- und Lebensverhältnisse des Dorfes an die der Stadt anzugleichen und dabei zugleich, auch in der Industrie, die Unterschiede zwischen körperlicher und geistiger Arbeit aufzuheben. Der Begriff des agroindustriellen Komplexes und die Ansätze, die Landwirtschaft nach the Collectivization, New York/Oxford 1994; L. Viola, Peasant Rebels under Stalin. Collectivization and the Culture of Peasant Resistance, New York/Oxford 1990. 50 „Vernichtung durch Hunger. Der Holodomor in der Ukaine und der UdSSR“, Osteuropa 54 (2004), 12. 51 W. Jähnig, Die Siedlungsplanung im ländlichen Raum der Sowjetunion mit besonderer Berücksichtigung des Konzepts der „Agrostadt“, Berlin 1983; Z. A. Medvedev, Soviet Agriculture, London 1987; J. Forsyth, A History of the Peoples of Siberia. Russia’s North Asian Colony 1581–1990, Cambridge 1994, 362–409; T. Nefedova et al. (Red.), Gorod, 240–277.
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dem Muster von Großbetrieben und zentralistischen Handelsstützpunkten zu organisieren, lassen auch nach 1956 noch die ältere utopische Vision von der Schaffung von Agrostädten erkennen. Dieses Ziel ließ sich nur mit erheblichen Subventionen erreichen, so dass sich die Arbeitseinkommen und Lebensverhältnisse auf dem Lande tatsächlich denen in der Stadt annäherten. Daher gelten die Jahre unter Breschnew in den bäuerlichen Erinnerungen der Zeit nach der Perestroika als „goldene Zeit“ – dies mit Blick sowohl auf die 1930er bis 1950er Jahre als auch auf die Zeit nach 1991.52
VII. Die Partei als schwächelnder Hegemon: „Realer Sozialismus“ nach 1964 Planwirtschaft und Schattenwirtschaft
Die Gewaltpolitik der Bolschewiki hatte zur Folge, dass ein zentrales Element, welches das öffentliche Leben in parlamentarischen Staaten bestimmte, in der Sowjetunion fehlte: Vertrauen in die Institutionen und ihre Berechenbarkeit.53 Stattdessen entstanden inner- wie außerhalb der Nomenklatura Netzwerke, die auf persönlichem Vertrauen, auf Tauschverhältnissen und gegenseitigen Abhängigkeiten und Verpflichtungen beruhten. Auch als nach 1956 die Institutionen – von der Partei bis zu Gerichten – berechenbarer wurden, koexistierte neben den Institutionen und ihren amtlichen Verfahren immer eine zweite Ebene informeller Netzwerke, von Handlungs- Austausch- und Informationsverbindungen. Dieses Nebeneinander offizieller und inoffizieller Sphären sprach allen Ansprüchen auf eine „wissenschaftliche“ Steuerung und Administrierung der Gesellschaft Hohn, wie sie im Rahmen der wissenschaftlich-technischen Revolution für Planungsinstanzen und Verwaltung propagiert wurden.54 Dem widersprach zudem der „Stil“ des kommunistischen Aufbaus vor wie nach 1953. Nach dem Muster der 1920er und 1930er Jahre war er nicht nur eine Sache von Planung und Arbeit, sondern erforderte den freiwilligen Einsatz, Spontaneität und Enthusiasmus. Für alle möglichen Unternehmungen wurden „Freiwillige“ mobi52 I. Koznova, XX vek v social’noj pamjati rossijskogo krest’janstva, Moskau 2000; D. L. Ransel, Village Mothers. Three Generations of Change in Russia and Tataria, Bloomington/Ind. 2000; T. Mc Donald, „Who’s Afraid of Joseph Stalin?“ Lahusen/Solomon (Hg.), What is Soviet Now, 133–152. 53 F. Fukuyama, Trust, New York 1996. 54 A. Hegedüs, Socialism and bureaucracy, London 1976, 43–44; S. Gerovitch, Newspeak to Cyberspeak. A History of the Soviet Cybernetics, Cambridge, Mass./London 2002, 268– 288.
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lisiert, die Zeitvorgaben waren immer unrealistisch und die Vorbereitungen selbst bei großen Vorhaben spotteten jeder Beschreibung. Effizienz und Kompetenz wurden durch Enthusiasmus, stoßartige Arbeitseinsätze (sturmowschtschina) und Improvisation ersetzt. In der Regel bedeutete dies besonders in den Anfangsphasen einen hohen Verschleiß an Zeit, Mensch und Material. So ging auch der erste Fünfjahresplan (seit 1928/29) im Planchaos unter, bis sich in den nächsten Planphasen eine gewisse Routine einstellte. „Enthusiasmus“ wurde nach wie vor hoch geschätzt. Abgesehen von der Zeit des Krieges, als Improvisation „auf Tod und Leben“ unvermeidlich war, blieb sie eine Konstante sowjetischer Politik. Man setzte auf Enthusiasmus, Improvisation und Dilettantismus statt auf Professionalität und Effizienz. Schon zu Stalins Zeiten waren die Perspektivpläne – wie die konkreten kurzfristigeren Pläne – das Ergebnis komplizierter, von außen kaum einsehbarer Aushandlungsprozesse zwischen mächtigen Industrielobbys, Behörden und Regionen, dies allerdings nicht nach Maßgabe ökonomisch rationalen Kalküls, sondern unter Aspekten der Machtkonzentration in den Händen Stalins.55 In der Regel setzten sich die Branchen von Rüstungs-, Schwer- und Produktionsmittel-Industrie durch, aber unter Breschnew wurde auch die Agrarlobby ein politischer Faktor. Ihren Niederschlag fanden die Verhandlungen in politischen Fünf- oder Siebenjahresplänen. In der Zeit Breschnews waren Kriterien für die Vorgaben eine Reihe von Produktionsindikatoren wie Kapitalfonds, Anzahl der Arbeitskräfte und ihre Produktivität, Lohnfonds, bereitgestellte Investitionen, Kredite, Gewinnbemessung etc. Damit ergaben sich auf beiden Seiten – bei den Planungsbehörden wie den Unternehmen – vielfältige Möglichkeiten, Informationen und Daten zu manipulieren. Oben setzte man Prioritäten, unten kämpfte man für „weiche“ Pläne, hortete Arbeitskräfte und Material (und verschwieg deren Existenz). In den Sowchosen und Kolchosen wurde öffentliches Eigentum zweckentfremdet eingesetzt und die Arbeitskräfte suchten sich dem Einsatz im Kolchos oder Sowchos zu entziehen, um den eigenen Hof und Garten zu bewirtschaften. Generell ging es in den Unternehmen darum, sich möglichst autark zu organisieren, da die Lieferungen von anderer Seite oft schlecht funktionierten. So entstand „Informationsnebel“. Da die Unternehmen es mit sehr kurzfristigen Planvorgaben zu tun hatten, die zudem noch überraschend geändert werden konnten, hatten sie ein Netz von Sicherungen und informellen Verbindungen aufgebaut. Dazu gehörten Vermittler (tolkatschi), eine Art Zwischenhändler und Informationsbeschaffer, ohne die Pläne nicht zu erfüllen waren. Und auch hier spielten horizontale und vertikale Vertrauensbeziehungen eine große Rolle. Sie wurden als „gegenseitige 55 T. Kirstein, Die Rolle der KPdSU in der Wirtschaftsplanung 1933–1953/55, Wiesbaden 1986; D. D. Shearer, Industry, State, and Society in Stalin’s Russia, 1926–1934, Ithaca/N. Y./London 1996; O. W. Chlewnjuk, Das Politbüro. Mechanismen der Macht in der Sowjetunion der dreißiger Jahre, Hamburg 1998; P. R. Gregory, The Political Economy of Stalinism: Evidence from the Soviet Secret Archives, Cambridge 2004, 49–75.
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Versicherung“ (perestrachowka) oder – politisch aufgeladen – als „Gruppenbildung“ (gruppowschtschina) in der Partei wie in der Wirtschaft und Verwaltung bekämpft, in der Stalinzeit mit gravierenden Folgen für die Beschuldigten. Angesichts ständiger Defizite und Unsicherheiten und des Zwangs zu horten, ging es nicht einfach darum, Waren zu kaufen, sie mussten „organisiert“ werden. Die Planwirtschaft „verstaatlichte“ auf diese Weise auch die Zeit der Konsumenten, da das Organisieren einschließlich des Schlangestehens viel Zeit verbrauchte.56 Je vielfältiger und differenzierter die Ansprüche an Produktion, Distribution und Konsum wurden, desto mehr wurde die Planwirtschaft ergänzt durch informelle Praktiken im Rahmen der Planerfüllung wie – zunehmend – auch außerhalb ihrer Normen und Vorgaben. So entstand eine Schattenwirtschaft. Ihre harmlosere Form war „blat“, d. h. der Austausch von Waren, Dienstleistungen und Informationen im Freundes- und Bekanntenkreis – in der DDR auch „sozialistische Beziehungen“ genannt. Angesichts ständiger, wechselnder und unvorhersehbarer Defizite erleichterte „blat“ den Alltag. Der Übergang zu Kleinkriminalität, Diebstahl an kollektivem oder staatlichem Eigentum, Bestechung und Korruption bis hin zu größer angelegten Schwarzmarktgeschäften und Korruptionsketten war fließend. Schätzungen gehen davon aus, dass in den 1970er Jahren ca. 40% aller Haushalte in der Sowjetunion in geringem oder höherem Maße an der zweiten Ökonomie teilhatten.57 Der Kampf gegen Schwarzhandel und Schattenwirtschaft nahm wiederum spezifisch sowjetische Formen an. In den 1920er Jahren war es die Arbeiter- und Bauernkontrolle (Rabkrin), die Feldzüge gegen Korruption und „Bürokratismus“ inszenierte und dafür die Parteigenossen mobilisierte. Unter Chruschtschow wie unter Breschnew gehörte es zu den Merkmalen des Sozialismus, dass „Millionen“ von Werktätigen und Parteigenossen zu Kontrollfeldzügen in den Verwaltungen und Betrieben mobilisiert wurden, um Schlendrian, Missbräuche aller Art, Korruption und Spekulation mit Devisen auszumerzen.58 Kampagnen gegen Korruption mit 56 E. A. Osokina, Our Daily Bread. Socialist Distribution and the Art of Survival in Stalin’s Russia, 1927–1941, London 2001; K. Verdery, What was Socialism and what Comes Next? Princeton 1996, 39–57. 57 A. Ledeneva, Russia’s Economy of Favours: Blat, Networking and Informal Exchanges, Cambridge 1998; Ph. Hanson, The Rise and Fall of the Soviet Economy. An Economic History of the USSR from 1945, London et al. 2003, 209. 58 J. Lévesque, „‘Into the Grey Zone‘. Sham Peasants and the Limits of the Kolkhoz Order in Post-War Russian Village, 1945–1953“, J. Fürst (Hg.), Late Stalinist Russia. Society between Reconstruction and Reinvention, London/New York 2006, 103–119; J. Heinzen, „A ,Campaign spasm‘. Graft and the Limits of the ,Campaign‘ against Bribery after the Great Patriotic War“, J. Fürst (Hg.), Late Stalinist Russia, 123–141; K. M. Simitis, USSR. Corrupt Society: The Secret World of Soviet Capitalism, New York 1982; L. A. Clark, Crime and Punishment in Soviet Officialdom. Combating Corruption in the Political Elite, 1965– 1990, Armonk/N. Y. 1993, 103–108.
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folgenden Gerichtsprozessen wurden immer wieder inszeniert, manchmal, wie unter Chruschtschow mit unüberhörbaren antisemitischen Untertönen.59 Die Realitäten der Sowjetunion seit den 1960er Jahren waren mithin weit entfernt sowohl von den krisenfreien Planfantasien der politischen Führung als auch von dem Bild einer auf ein Ziel – den Kommunismus – ausgerichteten Gesellschaft. Ihre faktische Ausdifferenzierung hatte auch schon längst jenen „Monolithismus“ unterminiert, wie er zu zeremoniellen Zwecken bei Paraden oder auf den Parteikongressen zelebriert wurde. Pluralisierung des öffentlichen Lebens
Die Existenz einer vielgestaltigen Schattenökonomie und die politische Entwicklung zu einem paternalistischen Sozialismus, der sanktionierte, aber nicht mehr systematisch terrorisierte, veränderten auch das öffentliche Verhalten und Reden. Mit dem forcierten Wohnungsbau seit den 1950er Jahren war für einen Großteil der städtischen Bevölkerung zum ersten Mal so etwas wie ein privater Raum entstanden. Gleichzeitig entwickelten sich vielfältige Formen von Öffentlichkeiten – amtlich-offizielle in den politischen Gremien, halboffizielle in den Betrieben, Forschungseinrichtungen oder Vereinen, private Zirkel und Nachbarschaften und, bei der Intelligenz, die Küche als Ort einer intimen Debattenkultur. Dem entsprachen viele Redeweisen: Auf der einen Seiten waren die Medien voll der offiziellen Leerformeln, auf der anderen Seite kursierten unendlich viele Anekdoten und Witze sowie viele Varianten einer äsopischen Sprache – im Russischen „Subtext“ oder unübersetzbar „stiob“.60 Sie lebte von ihrer Uneindeutigkeit und verriet ein eher zynisches Verhältnis zur offiziellen Rede. Es ging darum, im engeren Kreis Distanz zum Regime zu signalisieren, ohne die öffentlichen Konformitätszwänge zu brechen. Um sich im Sozialismus mental bequemer einzurichten, entwickelten sich Verhaltensmuster und Redeweisen, die als „Doppelsprachigkeit“, „doppeltes Denken“, als „gespaltene Zunge“ oder – soziologisch – als habituelle Schizophrenie bezeichnet worden sind. Aber es gab auch den Dissens und das kursierende Untergrundschrifttum (Samizdat, Tamizdat) wie den Magnizdat, die verbreitete inoffizielle populäre Lied- und Musikkultur. Sie alle beharrten auf der Authentizität ihres „Sprechens“.61 59 D. Bland-Spitz, Die Juden und die jüdische Opposition in der Sowjetunion, Diessenhofen 1980, 178–179. 60 G. T. Rittersporn/M. Rolf/J. C. Behrends (Hg.), Sphären der Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs, Frankfurt/M. 2003; A. Yurchak, Everything was forever, until it was no more: The Last Soviet Generation, Princeton 2006. 61 Beyrau, Dissens, 229–246; B. Dubin, „Gesellschaft der Angepaßten. Die Breshnew-Ära und ihre Aktualität“, Osteuropa 57 (2007) 12, 65–78.
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Der Pluralisierung von Öffentlichkeiten entsprach auch eine Pluralisierung politischer und ideologischer Sinnangebote, teils zur Legitimierung des bestehenden Regimes, teils zur Begründung notwendiger Veränderungen. Sie reichten von einem militaristischen Sowjetpatriotismus über viele Varianten eines Nationalismus bei fast allen europäischen (und transkaukasischen) Völkern bis zu sozialistischen und demokratisch-liberalen Reformvorstellungen. Was auffälligerweise seit den 1960er Jahren fehlte, war jede Form von revolutionärer Attitüde und Praxis.62 Dass sich die Sowjetunion dann ohne ausufernde Gewalt selbst auflöste, hat sicher auch mit diesen Prozessen von Pluralisierung und dem Fehlen einer gewalttätigen Opposition zu tun. Um Freiheit oder ein alternatives System wurde nicht gekämpft. Die Erosion der Macht und der Autoritäten erfolgten nach 1985 im Gleichschritt mit einer sukzessiven Zerstörung historischer Mythen und mit Amnesietechniken der Parteiführung. Die Diskreditierung von Partei und Staat, ihre chaotische Reorganisation und der Kaderaustausch unter Gorbatschow ermöglichten eine Verbindung zwischen alten und jungen Kadern, welche die Techniken des Obenbleibens gelernt hatten, und der Schattenwirtschaft und kriminellen Gruppierungen. Ihre Machenschaften verhinderten einen Übergang in eine demokratische Gesellschaft. Die Demokraten wurden in der Öffentlichkeit bald als „dermokraty“ (Scheiß-Demokraten) beschimpft. Aus der Privatisierung wurde eine „prichvatizacija“, eine räuberische Privatisierung öffentlichen Eigentums, aus den alten Kadern ging der „entrapparatschik“, der unternehmerisch-erpresserische Apparatschik hervor, der an allen ökonomischen Transaktionen beteiligt sein wollte und nach einer kurzen Übergangszeit selbst den neureichen Oligarchen (und ausländischen Investoren) jederzeit an die Gurgel gehen konnte.63
VIII. Die Sowjetunion als imperiale Formation Die bolschewistische Konstruktion der Nationen
Nach dem Sturz der Monarchie und der Etablierung der Provisorischen Regierung im Jahre 1917 tauchte sehr bald die nationale Frage auf – zunächst in Gestalt der Forderung nach nationaler und kultureller Autonomie und ebenso mit der Forderung nach nationalen Truppenverbänden. In der nationalen Frage erwiesen sich die 62 B. Kagarlitsky, The Thinking Reed. Intellectuals and the Soviet State. 1917 to the Present, London/New York 1988; V. Shlapentokh, Soviet Intellectuals and Political Power. The Post-Stalin Era, London/New York 1990. 63 Verdery, What was Socialism? 33; Kotkin, Armageddon, 11, 124; D. Sturman/S. Tiktin, Ekonomika katastrof, London 1991; S. L. Solnick, Stealing the State: Control and Collapse in Soviet Institutions, Cambridge, Mass./London 1998.
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Bolschewiki als flexibler als insbesondere ihre „weißen“ Gegner. Diese hielten verbissen an der Parole des einheitlichen und unteilbaren Russland fest, obwohl sich ihre Verbände hauptsächlich in den fremdnationalen Peripherien bewegten. Sie machten sich damit all jene Nationalbewegungen zum Feinde, auf deren Unterstützung sie vor Ort eigentlich angewiesen waren. Die Bolschewiki hingegen fanden fast in allen Völkern Verbündete, denen sie mit der Geißelung des alten Regimes (und der Entente) als kolonialistisch und imperialistisch entgegenkamen und denen sie Entscheidungsfreiheit über Unabhängigkeit oder Zusammenschluss mit Russland versprachen – dies nicht zuletzt aus taktischen Erwägungen.64 Die 1922 entstandene Sowjetunion umfasste zwar die meisten Territorien des untergegangenen Russischen Reiches, aber wie im sozialen und politischen war auch im nationalen Feld ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit vollzogen worden. Der neue Staat konstituierte sich als Union von Sozialistischen Sowjetrepubliken, die teils als strikt nationale, teils als ihrerseits wiederum föderale Republiken wie die Russische Föderative Sozialistische Sowjetrepublik (RSFSR) oder zunächst auch die Transkaukasische Föderative Sowjetrepublik (bis 1936) verfasst waren. Den kleineren und verstreuten Völkern – wie Tataren, Baschkiren, Burjaten, Deutschen etc. – wurden autonome Republiken oder Gebiete zugestanden. Die Grundidee bestand in der Entschärfung nationaler Konflikte, aber auch in nachholender Nationsbildung, die als ein unvermeidliches Durchgangsstadium zum transnationalen Sozialismus gesehen wurde. Dass die Sowjetunion doch wieder eine, wenn auch ganz neuartige imperiale Formation65 ausbilden sollte, lag an der Dominanz der straff und zentralistisch organisierten kommunistischen Partei. Ihre Mitglieder hatten sich als „internationalistisch“ zu verstehen. Kommunistisches Bewusstsein, so die Forderung an die Parteimitglieder, sollte nationale Bindungen transzendieren. „Heimat“ war nicht die Nation, sondern die Partei. Mit ihrer Programmatik, bald verkörpert und versinnbildlicht in den Führerkulten um Lenin und Stalin66 und später im Sowjetpatriotismus, übernahm die Partei ideell und organisatorisch die Funktion einer Klammer, die das in sich extrem heterogene Imperium zusammenhielt.
64 R. Pipes, The Formation of the Soviet Union, Cambridge/Mass. 1954; 1997 (6. überarb. Aufl.); H. Altrichter, Russland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderborn et al. 1997, 399–537; A. Acton, V. Iu. Cherniaev, W. G. Rosenberg (Hg.), Critical Companion to the Russian Revolution 1914–1921, London et al. 1997, 659–740. 65 Begriff entnommen bei L. Stoler, „Refiguring Imperial Terrains“, L. Stoler (Hg.), Imperial Formations, Santa Fé/N. M./Oxford 2007, 3–44. 66 B. Ennker, Die Anfänge des Leninkults in der Sowjetunion, Köln et al. 1997; J. Plamper/K. Heller (Hg.), Personality Cults in Stalinism – Personenkulte im Stalinismus, Göttingen 2004.
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Russen, Juden, aber auch Letten, Georgier und Armenier waren zunächst überproportional in der Partei vertreten, während sie bei den Bauern- und Nomadenvölkern – den Ukrainern, Weißrussen, den Moslemvölkern des Kaukasus und Mittelasiens – erst noch Wurzeln fassen musste. Daher bestand ihr offizielles Programm in den 1920er und 1930er Jahren in der sog. Indigenisierung (korenisazija) der Partei. Zunächst ging es neben der Förderung einheimischen Nachwuchses eher um eine Kooptation nicht-russischer Aktivisten und Eliten in das russisch dominierte System der Nomenklatura, der Macht- und Privilegienverteilung.67 Angesichts der Zentralisierung und der Verfügungsmacht Moskaus blieb das russische Element auch dann noch dominant, als in den Unions- und autonomen Republiken einheimische Kader Positionsgewinne erzielten. Dies geschah unter Stalin zu einem Zeitpunkt, als mit der Einführung der Planwirtschaft die Republiken immer mehr an wirtschaftspolitischen Kompetenzen verloren und ihre Repräsentanten – wie die Parteiführer russischer Gebiete – zu Bittstellern in Moskau wurden, die um Zuteilung von Mitteln und Projekten antichambrierten. Den Unionsrepubliken blieben seit Stalin – wenn man von der Zeit der regionalen Volkswirtschaftsräte unter Chruschtschow absieht – nur geringe, eher symbolische Anteile an ökonomischer Verfügungsmacht.68 Der Terror der 1930er Jahren hatte in den einzelnen Republiken sowohl die schmalen intellektuellen Eliten, die vor oder nach der Revolution aufgestiegen waren, getroffen als auch traditionelle Eliten (Mullahs, Geistliche, Schamanen, Würdenträger in den Dörfern) und zudem die soeben installierten kommunistischen Kader der ersten Generation. Sie alle wurden „liquidiert“, physisch oder symbolisch. Daher ist diese Vernichtung nationaler Eliten auch als „Ethnozid“ bezeichnet worden, weil die noch schwach entwickelten Völker ihrer traditionellen wie ihrer modernen Eliten und damit auch wichtiger Elemente ihrer eigenen Kultur beraubt wurden. An die Stelle der alt-neuen Eliten traten neben russischen Aufpassern einheimische Kader, die – welcher Herkunft sie auch sein mochten – ganz stalinistisch gepolt waren: sozialistisch im Inhalt, national in der Form. Das Nationale reduzierte sich dabei vielfach 67 Zur sowjetischen Nationalitätenpolitik vgl. G. Simon, Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion, Baden-Baden 1986; U. Halbach, Das sowjetische Vielvölkerimperium. Nationalitätenpolitik und nationale Frage, Mannheim 1992; R. G. Suny, The Revenge of the Past. Nationalism, Revolution and the Collapse of the Soviet Union, Stanford 1993; Y. Slezkine, „The USSR as a Communal Apartment, or How a Socialist State Promoted Ethnic Particularism“, Slavic Review 53 (1994), 412–452; T. Martin, The Affirmative Action Empire. Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923–1939, Ithaca, N. Y./London 2001; J. Baberowski, Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus, München 2003. 68 A. Nove, The Soviet Economic System, London u. a 1978 (2. Aufl), 64–75; H.-H. Höhmann/H. B. Sand, „Ergebnisse und Probleme der sowjetischen Wirtschaftsreform“, ders. et al. (Hg.), Die Wirtschaftsordnungen Osteuropas im Wandel, Bd. 1–2, Freiburg 1972, Bd. 1, 11–63.
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auf Folklore. Mit den Terrorwellen setzte sich besonders in den ostslavischen Republiken das Russische als Lingua franca und als Hochsprache durch. In den wichtigsten Bereichen von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft beherrschte sie in der gesamten Sowjetunion das Feld. In manchen Städten wie Alma-Ata (jetzt Almaty), Frunze (jetzt Bischkek) oder Riga war 1989 die russischsprachige Bevölkerungsgruppe (unter ihnen oft auch Ukrainer und Weißrussen) zur größten aller Gruppen geworden; manchmal wie in Riga stellten sie die Mehrheit der Bevölkerung.69 Russen waren außerhalb der RSFSR dominant in Wissenschaft, Technik und oft auch in der Fabrikarbeiterschaft, selbst in vergleichsweise entwickelten Ländern wie Lettland und Estland. Imperiale Strategien
In dem berühmten Toast Stalins vom 24. Mai 1945 auf das russische Volk als das „hervorragendste“ unter den sowjetischen Völkern war ein erster Höhepunkt erreicht in der national-russischen Aufladung von „Sowjetpatriotismus“, wie er seit den späten 1930er Jahren in Schulbüchern und in der weiteren Öffentlichkeit propagiert wurde.70 Seither war das russische Volk zum „älteren Bruder“ geworden. Bis zum Untergang der Sowjetunion benutzte man diese Formel mit wechselnder Penetranz. Die nationalen Errungenschaften, die seit den 1920er Jahren mit der Etablierung nationaler Schriftsprachen und Hochkulturen, nach dem Krieg auch mit eigenen Akademien der Wissenschaften in den nicht-russischen Republiken beglaubigt wurden, sind aber nie völlig zurückgedrängt worden. In den Wechselfällen zwischen Intensivierung oder Abschwächung der Dominanz russischer Sprache und Kultur zeigten sich nach Stalin je nach Republik unterschiedliche Formen und Kapazitäten zu nationaler Selbstbehauptung oder zur Fortsetzung des in den 1920er Jahren begonnen Prozesses sowjetischer Nationsbildung. Nach dem Abtritt der kaukasischen Entourage Stalins ist eine sukzessive „Ostslavisierung“ der zentralen Einrichtungen in Moskau zu beobachten: des Zentralkomitees, des Politbüros wie des Ministerrats. In den Republiken hingegen setzte sich der durch den Terror wenig unterbrochene Prozess der Indigenisierung der Parteikader fort.71 In der Zeit der Perestroika sollte sich zeigen, dass insbesondere in den islami69 M. N Guboglo, „Etnodemograficeskaja i jazykovaja situacija v stolicach sojuznych respublik SSSR v konce 80-ch – nacale 90-ch godov“, Otecestvennaja Istorija (1993) 1, 53–65, 55. 70 E. Oberländer (Hg.), Sowjetpatriotismus und Geschichte. Dokumentation, Köln 1967; D. Brandenberger, National Bolshevism: Stalinist Mass Culture and the Formation of Modern Russian Identity, 1931–1956, Cambridge, Mass. 2002. 71 J. H. Miller, „Cadres Policy in National Areas – Recruitment of CPSU First and Second Secretaries in Non-Russian Republics of the USSR“, Soviet Studies 39 (1977) 1 Hef-
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schen Republiken, aber auch anderswo die Parteikader keinerlei Schwierigkeiten hatten, das sowjetische gegen ein nationales Kostüm zu tauschen.72 Im Laufe der 1930er Jahre hatte ein Wandel der bis dahin geltenden Paradigmen eingesetzt. Neben die Kategorie der Klasse, die als diskriminierender oder privilegierender Faktor offiziell seit Einführung der Verfassung von 1936 keine Rolle mehr spielen sollte, traten zunehmend ethnische Kriterien, um Freund und Feind zu markieren. Schon während der Kollektivierung ließ sich in ethnisch gemischten Gebieten beobachten, dass ethnische Zugehörigkeit mit dem Status des Kulaken verbunden werden konnte. Ressourcen wurden auf diese Weise „ethnisch“ umverteilt. So eigneten sich im Süden und an der Wolga deutsche Kolonisten dafür, als Kulaken stigmatisiert zu werden. Am Kuban waren es die zumeist ukrainisch-sprachigen Kosaken, von denen als von einer „Kulaken-Nation“ die Rede war. Im Zuge der Verschärfung des Grenzregimes seit Mitte der 1930er Jahre waren es vorzugsweise ethnische Minderheiten mit konnationalen Verbindungen ins benachbarte oder auch fernere Ausland, die sukzessiv deportiert wurden. Als Erste waren die Koreaner im Fernen Osten an der Reihe. Sie standen unter dem Generalverdacht der Kollaboration mit Japan (!). In den folgenden Jahren traf es so heterogene Gruppen wie Kurden im Kaukasus, Finnen, Vepsen, Deutsche, Polen, Griechen und im Verlaufe des Zweiten Weltkrieges wieder Polen, Deutsche, Krimtataren, Kalmücken und andere Völker im Kaukasus und auf der Krim. Ein Teil der kollektiv der Kollaboration mit dem Feind beschuldigten Völker durfte nach 1956 in die Heimat zurückkehren bzw. erzwang ihre Rückkehr wie die Tschetschenen. Andere wie die Deutschen und Krimtataren wurden zwar „rehabilitiert“, durften aber nicht zurückkehren.73 Bei Kriegsende kam es zudem noch zu einem mehr oder minder regulierten Bevöl-
tangabe oder Seite?, wenn Heft, dann Komma davor weg, 3–36; Simon, Nationalismus, 301–316, 450; H. Huttenbach (Hg.), Soviet Nationalities Policies: Ruling Ethnic Groups in the USSR, London 1990. 72 E. Stölting, Eine Weltmacht zerbricht. Nationalitäten und Religionen in der UdSSR, Frankfurt/M. 1990; H. R. Huttenbach/A. J. Motyl (Hg.) The Soviet Nationalities against Gorbachev, London 1990; E. Jahn (Hg.), Nationalismus im spät- und postkommunistischen Europa/Nationalism in Late and Post-Communist Europe, T. 1–3, Baden-Baden 2008– 2009. 73 G. Simon, Die nationale Bewegung der Krimtataren, Köln 1975; K. Sword, Deportation and Exile. Poles in the Soviet Union 1939–1948, London 1994; Deportacii narodov SSSR 1930–1950-e gody, Bd. 1–3, Moskau 1992–94; A. Eisfeld/V. Herdt (Hg.), Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee. Deutsche in der Sowjetunion 1941–1956, Köln 1995; P. Polian, Against their Will: The History and Geography of Forced Migrations in the USSR, Budapest/New York 2004; V. N Zemskov, Specposelency v SSSR 1930–1960, Moskau 2005; N. L. Pobol/P. M. Poljan (Red.), Stalinskie deportacii 1928–1953, Moskau 2005.
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kerungsaustausch zwischen Polen und den benachbarten Sowjetrepubliken. Das Ziel war auf beiden Seiten der ethnisch homogene Staat.74 Seit den 1960er Jahren liefen die Migrationen und die demografischen Entwicklungen vor allem in Mittelasien und im (Trans-)Kaukasus auf eine ethnische Homogenisierung der Territorien hinaus. 75 Die baltischen Republiken bildeten die Ausnahme von der Regel. Sie wurden aus Sicht der Einheimischen zu einer „russischen Garnison“.76 Wie im untergehenden Zarenreich lassen sich auch im sowjetischen Fall eine Vielfalt und sehr unterschiedliche Stoßrichtungen bei den interethnischen Konflikten ausmachen, weil die Situationen außerhalb des russischen Zentrums sehr verschieden waren. Ebenso unterschiedlich gestalteten sich die Präsenz, die Durchsetzungskraft und auch der Durchsetzungswille des Zentrums. Ökonomische, ethnische und geostrategische Gesichtspunkte kamen hierbei in wechselnder Kombination zur Geltung. Im Unterschied zu Stalin und selbst noch zu Chruschtschow, die auf bedingungsloser Unterordnung und Abstimmung mit dem Zentrum beharrten, begnügte sich das Regime Breschnews in der Regel mit einer oft sehr nachsichtigen Delegierung im Vollzug zentraler Vorgaben. Dabei wurden den Republiksführungen vergleichsweise große Spielräume gelassen. Die Grenzen lassen sich am lettischen wie am ukrainischen Beispiel exemplifizieren. Im Falle Lettlands (1959) und der Ukraine (1972) ging es um Fragen der Kompetenzabgrenzung zwischen Zentrum und Republik: Der Stellenwert der einheimischen Sprache im mittleren und höheren Bildungswesen waren Streitpunkte. Im lettischen Fall ging es zudem um die Art, das Tempo und die Intensität von Industrieansiedlungen. Auf lettischer Seite verband sich die Angst vor massiver Industrialisierung, wie sie das Zentrum wünschte, mit der vor einer Russifizierung der Republik durch Zuwanderung. Denn aus eigener Kraft konnte sie angesichts niedriger Geburtenraten das Personal für die neuen Unternehmungen nicht stellen. Um die zentralen Vorgaben durchzusetzen, fand in den Jahren 1958 bis 1961 ein Kaderaustausch statt. Auch in der Ukraine ging es um die Sprachenfrage und um die Grenzen kultureller Autonomie. Hier spielten zudem – schon alte – Beschwerden über mangelnde industriell-technische Investitionen eine Rolle, die Hunderttausende von Ukrainern zur Auswanderung veranlassten – mit der Folge ihrer Russifizierung. Auch in der Ukraine wurde die Entlassung des ersten Parteisekretärs mit umfangreichen Kader74 St. Ciesielski (Hg.), Umsiedlung der Polen aus den ehemals polnischen Ostgebieten nach Polen in den Jahren 1944–1947, Marburg 2006. 75 R. A. Lewis/R H. Rowland/R. S. Clem, Nationality and Population Change in Russia and the USSR. The Evaluation of Census Data 1897–1970, New York 1976; R. J. Kaiser, The Geography of Nationalism in Russia and the USSR, Princeton 1994. 76 W. P. van Meurs, Die Transformation in den baltischen Staaten. Baltische Wirtschaft und russische Diaspora, Köln 1999.
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säuberungen verbunden, aber auch mit der Entlassung Tausender von Angehörigen der Intelligenz, die sich für eine Renaissance ukrainischer Kultur begeistert hatten.77 Die Zentrale intervenierte im Falle der kaukasischen und mittelasiatischen Republiken, als die Korruption überbordete und zentrale Vorgaben nicht mehr beachtet wurden. Unter diese Kategorie von Interventionen fallen die von 1969 in Aserbajdschan, von 1973 in Georgien, von 1983 in Usbekistan und von 1986 in Kasachstan, jetzt schon unter den Bedingungen von Glasnost und Perestroika. Im Umgang mit diesen Affären zeigte sich, dass die Republiksführungen über Verbindungskanäle nach Moskau und über umfangreiche Familien- und Clan-Seilschaften vor Ort verfügten. Um sie auszuschalten, bedurfte es offenbar großer Anstrengungen. Dies galt insbesondere zur Zeit der Perestroika, als solche Konflikte wie in Kasachstan bereits als nationaler Konflikt wahrgenommen werden konnten.78 Nationale Unzufriedenheit mit dem sowjetischen Regime, oft mit Russentum gleichgesetzt, organisierte sich seit den 1970er Jahren in den Republiken, vor allem in Litauen und der Ukraine, nach dem Vorbild der russischen Menschenrechts- und Dissidentenbewegung. Ging es letzterer um eine „authentische“ Kommunikation freier Bürger in einem unfreien Land, so standen in den Republiken im Dissens und Untergrund nationale Themen im Vordergrund: Es ging vor allem um alternative Deutungen der Vergangenheit, um die Repressalien unter Stalin und die aktuellen Verfolgungen. Im nationalen und oft nationalistischen Untergrund etablierte sich eine Gegenkultur mit ihren alternativen Deutungen und Mythen, die in der Zeit der Perestroika sehr schnell die Oberhand gewinnen und zur Organisation der nationalen Fronten führen sollte: Themen waren neben aktuellen Forderungen nach Autonomie oder Unabhängigkeit das historische Unrecht, das jede Seite gegen die sowjetische Führung, manchmal auch gegen die russischen Minderheiten im Lande als politisches Argument ins Feld führen konnte.79 In den transkaukasischen Republi77 R. Misiunas, R. Taagepera, The Baltic States. Years of Dependence 1940–1990, London 1993 (überarb. Aufl.), 140–146; Simon, Nationalismus, 324–30; B. Lewitzkyj, Politics and Society in Soviet Ukraine 1953–1980, Edmonton 1984, 92–144. 78 Zum Patronagesystems Berijas in Georgien vgl. C. H. Fairbanks, „Clientilism and Higher Politics in Georgia“, R G. Suny (Hg.), Transcaucasia, 339–372; U. Halbach, „Der Schock von Alma Ata. Eine Fallstudie zum Verhältnis von „Perestrojka“ und Nationalitätenproblematik in der Sowjetunion“, M. Mommsen/H.-H. Schröder (Hg.), Gorbatschows Revolution von oben. Dynamik und Widerstände im Reformprozess der UdSSR, Frankfurt/M./ Berlin 1987, 214–238; I. Zemcov, Partija ili mafija. Razvorovannaja respublika, Paris 1978; D. Vaisman, „Regionalism and Clan Loyalty in the Political Life of Uzbekistan“, In: Yaakov Ro’i (Hg.), Muslim Eurasia: Conflicting Legacies, London 1995, 102–122. 79 S. Vardys, The Catholic Church. Dissent and Nationality in Soviet Lithuania, Boulder/ Colo. 1978; T. A. Oleszczuk, Political Justice in the USSR: Dissent and Repression in Lithuania, 1969–1987, Boulder, Col. 1988; L. Veba/B. Yasen (Hg.), The Human Rights Movement in Ukraine. Documents of the Ukrainian Helsinki Group, 1976–1980, Toronto
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ken verbanden sich oft kriminelle Strukturen mit nationalistischen Bewegungen, die sich mehr gegen die eigenen Minderheiten oder benachbarte Rivalen als gegen das sowjetische Zentrum richteten. Mit dem Zusammenbruch der Pax sovietica fehlte es hier an stabilen Institutionen, um die Konflikte gewaltfrei auszutragen.80 Den 1918 untergegangenen Imperien, hier insbesondere dem Russischen Reich, war von ihren Kritikern und Feinden das Etikett des Völkergefängnisses angehängt worden. Dieses Cliché ist von der Forschung schon längst, wenn nicht falsifiziert, so doch erheblich relativiert worden. Eine ähnliche Differenzierung lässt sich auch im Fall der Sowjetunion beobachten, obwohl Zwang und Gewalt hier eine große Rolle gespielt haben und das Verhalten der Bevölkerung sicher auch noch dann bestimmt haben, als nach 1956 Gewaltanwendung eher die Ausnahme bildete. Der Gewaltaspekt ist von den Historikern hervorgehoben worden, die vor allem aus der Sicht der (nicht-russischen) Opfer geschrieben haben. Die Involvierung nationaler oder auch nationalistischer Opposition in sehr unterschiedliche Formen von Kollaboration mit der nationalsozialistischen Besatzung im Zweiten Weltkrieg hat dieser Perspektive viel von ihrer Unschuld genommen.81 So sehr Gewalt und Zwang die Phase bis 1953/1956 auch in den nationalen Beziehungen bestimmt haben, so wird man auch integrative Aspekte beachten müssen. Die Frage nach friedlicher, spannungsreicher und an vielen Orten auch beziehungsloser multiethnischer Koexistenz ist bisher kaum ein Thema der Forschung gewesen.82 Etwas besser ist der Komplex integrierender Mythen untersucht, von denen die Sowjetunion lebte. Dazu gehören die historischen Erzählungen von der ruhmreichen 1980; J. Bilecerkowycz, Soviet Ukrainian Dissent: A Study of Political Alienation, Boulder/ Colo. 1988; D. R. Marples, Ukraine Under Perestroika: Ecology, Economics and the Workers’ Revolt, London 1991. 80 V. A. Tiskov, Obscestvo v vooruzennom konflikte. Etnografija cecenskoj vojny, Moskau 2001; M. Gammer (Hg.), Ethno-Nationalism. Islam and the State in the Caucasus. Post-Soviet Disorder, London 2008; S. Kleinhauß, Die Außenpolitik Georgiens. Ein failing state zwischen internem Teilversagen und externen Chancen, Berlin 2008, 31–37; E. Reiter (Hg.), Der Krieg um Bergkarabach. Krisen- und Konfliktmanagement in der Kaukasus-Region, Wien et al. 2009. 81 R. H. Walth, Strandgut der Weltgeschichte. Die Russlanddeutschen zwischen Stalin und Hitler, Essen 1994; M. Dean, Collaboration in the Holocaust. Crimes of the Local Police in Belorussia and Ukraine, 1941–1944, London 2000; K. Richter, „Der Holocaust in der litauischen Historiographie seit 1991“, Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 56 (2007) 3, 389–416; B. J. Felder, Lettland im Zweiten Weltkrieg. Zwischen sowjetischen und deutschen Besatzern 1940–1946, Paderborn 2009. 82 U. Halbach, Ethnische Beziehungen in der Sowjetunion und nationale Bewusstseinsprozesse bei Nichtrussen, Köln 1989; ders., Nationale Geschichte. Bewusstsein. Eine Umfrage unter sowjetischen Studenten verschiedener Nationalität , Köln 1990; J. V. Arutjunjan/L. M. Drobizeva, „Russkie v raspadajuscemsja sojuze“, Otecestvennaja Istorija 1992, 3, 3–15; V. A.Tiskov, Meznacional’nye otnosenija v Rossijskoj Federacii, Moskau 1993.
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Vergangenheit der sowjetischen Völker, von ihrer „großen Freundschaft“, die durch ihre Verbindung mit Russland am Glück der Oktoberrevolution oder des Sozialismus teilhaben durften, und nicht zuletzt vom gemeinsamen Hass auf die Feinde.83 Auch der Mythos vom Sowjetvolk sollte eine neuartige übernationale, zukunftsorientierte Gemeinschaft bezeichnen. Der Begriff ist seit den 1930er Jahren in Umlauf gesetzt worden und wurde 1961 auch als offizielle Parteilosung verkündet. Er fand offensichtlich Anklang vor allem unter den ostslavischen Völkern. In der Zeit der Perestroika und im postsowjetischen Russland transformierte sich diese Losung zum weit in die Geschichte ausgreifenden „Superethnos“ (L. Gumilev) oder brach sich in der oft euphorischen Wiederentdeckung des Eurasismus. Dieser war in den 1920er und 1930er Jahren in der Emigration erfunden und verbreitet worden. Es handelt sich hier in allen Fällen um Begriffe und mit ihnen verbundene Vorstellungen, welche am Ungenügen eines engen russischen Nationalismus leiden. Russentum, so die Botschaft, finde seine Erfüllung im ausgreifenden eurasischen Raum und im Imperium, das Völker nicht unterdrücke, sondern integriere. Diese Vorstellungen von der neuen (und alten) Gemeinschaft zehren auch davon, was die sowjetische Propaganda als „Errungenschaften“ verkaufte – Kultur und Bildung, Aufstiegschancen, soziale Mindestsicherung und gemeinschaftliche Einbindung, Stolz auf technische und wissenschaftliche Leistungen und nicht zuletzt Stolz auf den Weltmachtstatus.84 Hinzu kommt der Kult um den Großen Vaterländischen Krieg, der zumindest in den nicht-besetzten Gebieten bis in die postsowjetische Zeit eine erhebliche Wirkung entfaltet hat. In den besetzten Gebieten allerdings sollten sich nach 1991 eine tiefe
83 L.Tillett, The Great Friendship: Soviet Historians on the Non-Russian Nationalities, Chapel Hill, N. C. 1969; F. Hirsch, Empire of Nations. Colonial Technologies and the Making of the Soviet Union, Ann Arbor/ Mi. 1998, 294–97; E. Vähä, „Out of Oppression into Brotherhood: The Meaning of the October Revolution as Part of National Identity in Soviet History Textbooks“, Chulos/Remy (Hg.), Imperial and National Identities, 100–112; S. Yekelczyk, Stalin’s Empire of Memory: Russian-Ukrainian Relations in the Soviet Historical Imagination, Toronto 2004. 84 P. M. Rogacev/M. A Sverdlin, „Sovetskij narod – novaja istoriceskaja obscnost’ ljudej“, Kommunist 1963, 9, 11–20; B. Lewytzkyj, „Sovetskij narod“. „Das Sowjetvolk“. Nationalitätenpolitik als Instrument des Sowjetimperialismus, Hamburg 1983; A. Kappeler (Hg.), Die Russen. Ihr Nationalbewusstsein in Geschichte und Gegenwart, Köln 1990; B. Naarden, „,I am a Genius, but no more than that‘. Lev Gumilev (1912–1992), Ethnogenesis, the Russian Past and World History“, Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 (1996) 1, 54– 82; J. Lewada, Die Sowjetmenschen 1989–1991. Soziogramm eines Zerfalls, Berlin 1992, 154–233; B. Ennker, „Sowjetgeschichte und Identitätsfindung heute. Historisches Erbe und Politik in Russland“, A. Buzogány/R. Frankenberger (Hg.), Osteuropa. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Festschrift für Gerd Meyer, Baden-Baden 2007, 109–132.
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Spaltung der Erinnerung und andauernde Konfrontationen aus den sehr unterschiedlichen Erfahrungen mit der Sowjetmacht und der deutschen Besatzung ergeben.85 Im Nachhinein wird in vielen postsowjetischen Ländern – nicht nur in Russland – die Pax sovietica sehr viel milder beurteilt als zur Zeit der großen Erwartungen während der Perestroika. Diese Nostalgien beziehen sich vornehmlich auf die Breschnewzeit, als kriegszerstörte und rückständige Länder wie Weißrussland, aber auch Litauen beachtliche Modernisierungsschübe erfuhren. In modifizierter Form gilt dies selbst für mittelasiatische und kaukasische Länder, die von implantierten modernen Strukturen profitierten. Sie sind nach 1991 zumeist zusammengebrochen. Alle Republiken hatten, wenn auch in unterschiedlicher Weise, am Aufstieg seit den 1950er Jahren teilgehabt. Sie litten und leiden wie Russland zum Teil bis heute an den Einseitigkeiten und Defiziten der sowjetischen Modernisierung.
85 „Kluften der Erinnerung. Russland und Deutschland 60 Jahre nach dem Krieg“, Osteuropa 55 (2005), 4–6; W Jilge, „The Politics of History and the Second World War in Post-Communist Ukraine (1986/1991–2005)“, Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 54 (2006) 1, 50–81.
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Technokratie im Europa des 20. Jahrhunderts – eine einflussreiche „Hintergrundideologie“
I. Einleitung Ein Nachruf auf den rumänischen Pianisten Alexis Weissenberg erinnerte vor einiger Zeit an den bisweilen vorgebrachten Verdacht, der Verstorbene sei ein „TastenTechnokrat“ gewesen. Der unzweifelhaften Virtuosität seines Spiels habe man immer wieder vorgeworfen, es an Musikalität vermissen zu lassen.1 Damit wurde an einem extremen und entlegenen, aber dennoch bezeichnenden Beispiel eine Grundspannung berührt, die sich mit der Alltagsverwendung des Begriffs „Technokratie“ verbindet: die Unterstellung einer nach Perfektion strebenden, aber im Grunde seelenlosen Bemühung. Sie impliziert das Bewusstsein, dass die technisch orientierte Optimierung von Verfahren dazu neigt, eine sozial inadäquate und tendenziell menschenfeindliche Logik zu oktroyieren. „Technokraten“ haben insofern einen schlechten Ruf; sie gelten als Figuren ohne Ausstrahlung, aber dafür mit der Tendenz, den Wert von reibungslosen Prozessen über den von menschlichen Bedürfnissen zu stellen. In jüngerer Zeit haben sich auch für historische Akteure Ausdrücke wie „Technokraten des Terrors“ etabliert, um die mitleidslose Exekution inhumaner Ziele zu kennzeichnen.2 So wurden etwa Adolf Eichmann als „Roboter“ oder der Weg in den Holocaust als „administrative Taylorisierung“ bezeichnet.3 Solche Bezeichnungen schließen sich an die modernitätskritische Interpretation des Holocaust etwa im Gefolge Zygmunt Baumans an, die diesen als Großversuch des „social engineering“ werten.4 „Die bürokratische und wissenschaftliche Versachlichung des Massenmords“, so schrieben etwa auch Götz Aly und Susanne Heim über die „Vordenker der Vernich1 J. Kesting, „Ich habe nie besseres Klavierspiel gehört. Virtuosität ist nicht unbedingt Tasten-Technokratie: Größe und Irrtümer eines Pianisten“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 165 vom 20. Juli 2009, 30. 2 G. Paul, „Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und „ganz gewöhnlichen“ Deutschen. Die Täter der Shoah im Spiegel der Forschung“, ders. (Hg.): Die Täter der Shoah, Göttingen 2002, 13–90. 3 Vgl. M. Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, 369. 4 Z. Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 21992.
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tung“, habe „moralische Skrupel gar nicht erst aufkommen“ lassen.5 Diese tendenziell negative Konnotation ist vornehmlich das Resultat einer breit geführten Technokratie-Debatte seit den 1970er Jahren. Vor dem Hintergrund des abflauenden PlanungsOptimismus‘ der 1960er und frühen 1970er Jahre wurde zunehmend eine seelenlose Verwaltung durch Funktionäre und Experten beklagt, die sich auf Sachzwänge berief und der gegenüber individuelle Einwände wenig galten. „Technokratie“ wurde in den siebziger Jahren zu einem Codewort für eine vergangenheitsvergessene Zukunftsfixierung, die auf die Lebensbedürfnisse der Gegenwart keine Rücksichten mehr nimmt. Ideologiekritische Analysen witterten hinter technokratischen Haltungen allenthalben als „entpolitisiert“ camouflierte Machtstrukturen.6 Dass zeitgleich Konservative wie Armin Mohler die „Technokratische Bewegung“ der 1920er Jahre als politische Strömung wiederentdeckten und als eine der Konservativen Revolution benachbarte Bewegung beschrieben, hat dabei sicher zusätzliches Misstrauen geweckt.7 Differenzierter argumentierende Analysen von Ingenieuren und technischer Intelligenz, die zeitgleich in den Politik- und Gesellschaftswissenschaften entstanden, gerieten durch diese forcierte Kritik der „instrumentellen Vernunft“ rasch in Vergessenheit und entsprachen in der Phase „nach dem Boom“ nicht mehr dem Zeitgeist.8 Dabei wäre es weiterführend gewesen, beide Perspektiven miteinander zu verschmelzen und davon auszugehen, dass Technokratie sich nur selten vordergründig als eine eigene Ideologie darstellte. Vielmehr gab und gibt sie sich meist ausdrücklich „un ideologisch“, zumeist sogar „unpolitisch“, und sie entfaltete ihre Wirksamkeit in aller 5 G. Aly/S. Heim, Vordenker der Vernichtung, Frankfurt/M. 1993, 484. Auch Adolf Eichmann baute, wie Irmtrud Wojak gezeigt hat, rechtfertigend eine „technokratische“ Sachbezogenheit vor den Abgründen auf, die ihn umgaben, vgl. dies., Eichmanns Memoiren. Ein kritischer Essay, Frankfurt/M./New York 2001, 86. 6 Vgl. M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt/M. 1967; C. Koch/D. Senghaas (Hg.), Texte zur Technokratiediskussion, Frankfurt/M. 1970; H. Lenk (Hg.), Technokratie als Ideologie. Sozialphilosophische Beiträge zu einem politischen Dilemma, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1973; J. Huber, Technokratie oder Menschlichkeit. Zur Theorie einer humanen und demokratischen Systementwicklung, Achberg 1978. 7 A. Mohler, „Der Weg der „Technokratie“ von Amerika nach Frankreich“, H. Barion et al. (Hg.), Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt zum 80. Geburtstag, Bd. 2, Berlin 1968, 579–596; ders., „H. Scott und die ‚Technocracy‘. Zur Geschichte der technokratischen Bewegung, II“, E. Forsthoff/R. Hörstel (Hg.), Standorte im Zeitstrom. Festschrift für Arnold Gehlen zum 70. Geburtstag, Frankfurt/M. 1974, 249–297. 8 G. Hortleder, Das Gesellschaftsbild des Ingenieurs. Zum politischen Verhalten der Technischen Intelligenz in Deutschland, Frankfurt/M. 1970; E. Kogon, Die Stunde der Ingenieure. Technologische Intelligenz und Politik, Düsseldorf 1976; W. Laatz, Ingenieure in der Bundesrepublik Deutschland. Gesellschaftliche Lage und politisches Bewußtsein, Frankfurt/M./ New York 1979; M. Mai, „Das Politik ‑ und Technikverständnis der Ingenieure“, Jahrbuch Arbeit und Technik in Nordrhein-Westfalen 1989, 83‑92.
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Regel eher im Hintergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit.9 Insofern mag es sinnvoll erscheinen, von einer technokratischen „Hintergrundideologie“ zu sprechen.10
II. Archäologie Forschungslage
In Gesellschaften mit starken politischen Zäsuren, so eine Ausgangshypothese zur bisherigen Forschungslage, haben technokratische Tendenzen eine tendenziell geringere, dafür jedoch kritischere Aufmerksamkeit erfahren als in Ländern mit kontinuierlicherer Entwicklung.11 In Skandinavien, den Benelux-Ländern oder der Schweiz ist die historische Bedeutung technischer Prägungen und Akteurs-Gruppen seit langem sehr viel anerkannter als etwa in Deutschland. Für Gesellschaften wie etwa die niederländische, deren Lebensraum stets in einem existenziellen Kampf mit Naturgewalten stand, ist die konstruktive Rolle technischer Experten besonders evident.12 Auch in einem von technischen Pionierleistungen geprägten Land wie den USA war die Konstanz einer „Machine Age Ideology“ durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch weithin anerkannt.13 Der tragende Anteil technischer Funktionseliten an der „Erfindung Amerikas“ ist unbestritten.14 Ähnliches ist für die Sowjetunion nachzuweisen. 9 Zu diesem Topos annäherungsweise D. van Laak, „Alternative oder Attitüde? Agenturen des Unpolitischen im 20. Jahrhundert“, M. Gibas/R. Stutz/J. H. Ulbricht (Hg.), Couragierte Wissenschaft. Eine Festschrift für Jürgen John zum 65. Geburtstag, Jena 2007, 15–24. 10 So J. Habermas, Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, Frankfurt/M. 1969, 81. 11 Bei der Gründung des „Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte“ sprach Werner Conze zwar von der „Sozialgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters“; dennoch hat die deutsche Sozialgeschichte die Bereiche der Technik wie des technischen Bewusstseins stets eher umkreist als zentral bearbeitet, vgl. ders., „Die Gründung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte“, Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 24 (1979), 23–32. 12 Vgl. etwa E. van der Vleuten, „In Search of the Networked Nation. Transforming technology, society and nature in the Netherlands in the 20th century“, European Review of History 10 (2003), 59–78; J. Schot et al., Techniek in Nederland in de Twintigste Eeuw, 7 Bde., Zutphen 1999–2003. 13 J. M. Jordan, Machine-Age Ideology. Social engineering and American liberalism, 1911– 1939, Chapel Hill/London 1994. 14 W. E. Akin, Technocracy and the American Dream, Berkeley 1977; D. J. Boorstin, The Republic of Technology, New York 1978; T. P. Hughes, Die Erfindung Amerikas. Der technologische Aufstieg der USA seit 1870, München 1991. Auch das politische System der USA wurde immer wieder auf „Maschinen“-Modelle hin befragt, vgl. etwa J. F. Kasson, Civilizing the Machine. Technology and Republican Values in America, 1776–1900, New York 1977; H. J. Kleinsteuber, „Die Verfassung der USA – Modell einer technologischen
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Die technokratische Grundierung des östlichen Plansystems ist ebenso unübersehbar wie ihre erstaunlichen und zugleich erschreckenden Folgen in der realsozialistischen Praxis für Mensch und Natur.15 Immer deutlicher wird zudem, wie umfassend Technokraten aller Länder aufeinander bezogen waren und voneinander lernten. Das gilt nicht nur für den „Technikdiskurs der Hitler-Stalin-Ära“, in den auch der New Deal mit einbezogen werden muss.16 Besonders ausgeprägt stellen sich technokratische Tendenzen in Frankreich dar; sie bilden geradezu politische, verwaltungstechnische und soziale Leitmotive der letzten 200 Jahre Geschichte. Detail-Forschungen liegen daher bislang vor allem über französische Technokraten vor.17 Diese Befunde einer einflussreichen technokratischen „Hintergrundideologie“ gelten besonders, wenn auch keinesfalls ausschließlich, für eine Sozialgeschichte der Technik. Thomas P. Hughes’ Werk „Networks of Power“ von 1983 hat sich für die historischen Analysen der sozialen Konstruktion von Technik, der politischen Konnotation von Artefakten, ihrer auch sozial standardisierenden Wirkung und für die Pfadabhängigkeit, wenn nicht sogar Determiniertheit von Systementscheidungen in Technik und Verwaltung als stilbildend erwiesen.18 „Does technology drive history?“
Republik? Zur politischen Logik selbstregulativer Maschinen“, M. Wala/U. Lehmkuhl (Hg.), Technologie und Kultur. Europas Blick auf Amerika vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2000, 1–22. 15 Vgl. A. C. Sutton, Western Technology and Soviet Economic Development, 1917–1930, Stanford 1968; K. E. Bailes, Technology and Society under Lenin and Stalin: Origins of the Soviet technical intelligentsia, 1917–1941, Princeton/N.J. 1978; L. R. Graham, The Ghost of the Executed Engineer: Technology and the Fall of the Soviet Union, Cambridge/ Mass. 1993; P. R. Josephson, Totalitarian Science and Technology, Atlantic Highlands/N. J. 1996; K. Gestwa, „Das Besitzergreifen von Natur und Gesellschaft im Stalinismus. Enthusiastischer Umgestaltungswille und katastrophischer Fortschritt“, Saeculum 56 (2005), 105–138; ders., Die „Stalinschen Großbauten des Kommunismus“. Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte 1948–1964, München 2010. 16 W. Emmerich/C. Wege (Hg.), Der Technikdiskurs in der Hitler-Stalin-Ära, Stuttgart 1995; W. Schivelbusch, Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933–1939, München/Wien 2005. Die deutsche Zeitschrift „Technokratie“ führte im Untertitel übrigens die Aufforderung „Wissenschaftler, Technokraten aller Länder, vereinigt Euch!“ 17 R. F. Kuisel, Ernest Mercier. French Technocrat, Berkeley 1967; R. Gilpin, France in the Age of Scientific State, Princeton/N. J. 1968; G. Brun, Les Techniciens et la Technocratie en France des 1918 á 1945, Paris 1977; C. O. Smith, „The Longest Run: Public engineers and planning in France“, American Historical Review 95 (1990), 657–692; D. Ringrose, „Work and Social Presence: French public engineers in nineteenth-century provincial communities“, History and Technology 14 (1998), 293–312. 18 T. P. Hughes, Networks of Power. Electrification in Western society, 1880–1930, Baltimore 1983.
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wurde sogar provokativ gefragt und natürlich relativiert.19 Aber dennoch steht die enorme Prägekraft großtechnischer Systeme, vornehmlich von Infrastruktursystemen, inzwischen geradezu erratisch vor Augen und wird gegenwärtig zunehmend auch historisch erforscht.20 Auch systemische Wachstumsprozesse bis hin zur Globalisierung erhielten stets starke Impulse aus den Initiativen zur technischen Vereinheitlichung und waren in aller Regel von „internationalistisch“ orientierten Agenturen wie Akteuren getragen.21 Das gilt insbesondere für die Geschichte der Naturbeherrschung während der letzten zwei Jahrhunderte, in der technokratischen Haltungen eine Schlüsselbedeutung zukommt.22 Es trifft aber auch generell auf die Neigung der Hochmoderne zu, soziale Problemlagen „wissenschaftlich“ zu klären und Gesellschaften über ein „social engineering“ aus vermeintlichen Schieflagen in einen Zustand des Gleichgewichts zurück zu überführen.23 Als Zwischenbefund kann festgehalten werden, dass der moderne Interventions-, Infrastruktur- und Wohlfahrtsstaat, die spätkoloniale Entwicklungsplanung und die anschließende Entwicklungshilfe, aber auch das Projekt der europäischen Integration in maßgeblicher Weise technokratisch grundiert waren und dabei einer eigenen Rhythmik und einer eigenen Logik folgten sowie spezifische Akteure hervorbrachten. Das gilt in abgewandelter Weise auch für die realsozialistischen Staaten im sowjetischen Einflussbereich. Dass dennoch die bisherige historische Erforschung 19 M. Roe Smith/L. Marx (Hg.), Does Technology Drive History? The dilemma of technological determinism, Cambridge/Mass./London 1994. 20 So analysieren internationale Forschernetzwerke die Geschichte Europas und seiner Integration seit etwa 1850 aus genau dieser Perspektive: „Tensions of Europe. Technology in the Making of Twentieth Century Europe“ (seit 2001) bzw. „Transnational Infrastructures and the Rise of Contemporary Europe“ (seit 2006). Erste Ergebnisse in: T. Misa/ J. Schot, Inventing Europe: „Technology and the hidden integration of Europe“, History and Technology 21 (2005), 1–19; E. van der Vleuten/A. Kaijser (Hg.), Networking Europe. Transnational infrastructures and the shaping of Europe, 1850–2000, Sagamore Beach 2006; A. Badenoch/A. Fickers (Hg.), Materializing Europe. Transnational infrastructures and the project of Europe, Houndmills 2010. 21 Vgl. A. Mattelard, Networking the World 1794–2000, Minneapolis/London 2000; M. Geyer/J. Paulmann (Hg.), The Mechanics of Internationalism. Culture, society and politics from the 1840s to the First World War, Oxford 2001; A. Iriye, Global Community. The role of international organizations in the making of the contemporary world, Berkeley 2002. 22 Vgl. D. Blackbourn, The Conquest of Nature. Water, landscape and the making of modern Germany, New York 2006; F. Duceppe-Lamarre/J. I. Engels (Hg.), Umwelt und Herrschaft in der Geschichte/Environnement et pouvoir: une approche historique, München 2008. 23 Hierzu der Beitrag von Thomas Etzemüller in diesem Band sowie ders. (Hg.), Die Ordnung der Moderne: Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009. Grundlegend L. Raphael, „Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts“, Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), 165–193.
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der Technokratie einstweilen noch hinterher hinkt, liegt auch daran, dass sich das praktische Wirken von Technokraten weniger literarisch als vielmehr in Artefakten niederschlägt. Deren Formen- und Materialsprache jedoch war ebenso Ergebnis von „Diskursen“ wie die Gedankengebäude der Geisteswissenschaften. Im Folgenden soll der Begriff erläutert und sollen Strukturmerkmale wie historische Konjunkturverläufe der „Technokratie“ skizziert werden. Begriff und Vorlauf
Technokratie, das klang bereits an, ist als Vision und als Pathologie diskutiert worden, als Verheißung und als Problem. Während verschiedener Konjunkturphasen gab es immer wieder Versuche, zu einer Phänomenologie der Technokratie zu gelangen. Meist wurde diese in der Kritik sehr viel schärfer und engagierter beschrieben als in affirmativen Darstellungen. Das Wort selbst wurde 1919 von dem amerikanischen Ingenieur William H. Smyth im Zusammenhang mit der „industriellen Demokratie“ in die politische Debatte eingeführt.24 Von „Technokratie“ kann dann gesprochen werden, wenn sich technische Rationalität mit dem Anspruch auf politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Führung verbindet, wenn Gesellschaftsmodelle überwiegend der Logik des Technischen folgen oder wenn Techniker, Ingenieure oder vergleichbare Experten „wissenschaftlich“ und „zweckrational“ orientierte Kontroll-, Regelungs- oder sogar Entscheidungsbefugnisse für gesellschaftspolitisch relevante Fragen beanspruchen.25 Technokratie kann im engen Sinne als politisch organisierte Bewegung der 1920er und 1930er Jahre definiert werden oder im weiteren Sinne als nicht organisiertes Set an bestimmten Einstellungen, die sich aus beruflichen Prägungen ergeben. In relativ unspezifischer Weise erscheint sie darüber hinaus als eine technizistische und planungsoptimistische Haltung gegenüber gesellschaftlichen Problemlagen. Daneben findet sich noch die Bedeutung einer gleichsam autonom gewordenen Technik, die aber hier vernachlässigt werden muss.26 Tatsächlich ist eine Grundspannung zwischen technokratischen Haltungen und der Sphäre der professionellen Politik zu konstatieren. Sie ergibt sich aus dem Zusam24 J. G. Gunnel, „The Technocratic Image and the Theory of Technocracy“, Technology and Culture 23 (1982), 392–416, hier 393, vgl. auch Mohler, „Der Weg der „Technokratie““, 1968, 582, Anm. 6. 25 Gunnel, „The Technocratic Image“, 1982, 392. 26 Vgl. etwa H. Freyer, Über das Dominantwerden der technischen Kategorien in der Lebenswelt der industriellen Gesellschaft, Wiesbaden 1960; L. Winner, Autonomous Technology. Technics-out-of-Control as a Theme in Political Thought, Cambridge/Mass. 1977; U. Teusch, Freiheit und Sachzwang. Untersuchungen zum Verhältnis von Technik, Gesellschaft und Politik, Baden-Baden 1993.
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menprall zweier unterschiedlicher Rationalitäten. Im Zentrum des technokratischen Denkens steht ein emphatischer, sehr westeuropäisch geprägter, durchaus reduzierter Vernunftbegriff, von dem sich fast alles andere ableitet. Er speist sich aus der Vorerfahrung einer fortschreitenden Bemächtigung der Natur durch den Menschen, beruft sich gelegentlich auf die biblische Aufforderung, sich die Erde untertan zu machen und nährt eine dem genialischen Schöpfertum verpflichtete Werthaltung. Die Auseinandersetzung mit der Natur, ihre Unterwerfung und effiziente Nutzung für menschliche Bedürfnisse nach der Maßgabe maximaler Energieausbeute bildet gleichsam die Meistererzählung des technischen Weltbildes, das zudem streng fortschrittsorientiert und an überzeitlich wirksamen Leistungen ausgerichtet ist. Als ein Teil des säkularen Programms der europäischen Aufklärung stellt die Technokratie, die bisweilen religiöse und heilsgeschichtliche Elemente in sich aufnahm, sicher eine extreme Form des abendländisch-rationalistischen Denkens dar.27 Das lässt sich besonders prägnant an der französischen Gruppierung um Claude Henri de Saint-Simon zeigen, die im frühen 19. Jahrhundert zweifellos so etwas wie paradigmatische „Technokraten“ waren. Saint-Simon, Michel Chevalier, Auguste Comte, Antoine A. Cournot – sie alle griffen nicht nur die seit längerem bestehende Tradition der utopischen Zukunftsvisionen auf, wie sie in besonders technokratienaher Weise etwa Tommaso Campanella in „Der Sonnenstaat“ von 1602 oder Francis Bacon in „New Atlantis“ von 1627 vertreten haben. Auch die neuzeitliche „Projektemacherei“ als experimentelles Fortschreiben naturwissenschaftlicher Erkenntnisse im Bereich des Sozialen wurde von den Saint-Simonisten weitergeführt, erstmals jedoch zu einer gleichsam zivilreligiösen Einheit verschmolzen, geradezu kirchlich strukturiert und politisch gewendet. Technisch orientierte „Industrielle“, so ihre Vision, sollten eine produktivistische Ordnung des „Sachzwangs“ errichten.28 Die moderne Soziologie als gesellschafts-„technisches“ Anwendungswissen hat daher eine ihrer Wurzeln im Saint-Simonismus. Auch andere tragende Elemente der Technokratie waren in ihm angelegt, etwa die Neigung zu ambitionierten und großflächigen Planungen im Bereich der Erschließungstechnik, die den Menschen nicht nur Arbeit bringen, sondern sie im Sinne eines gemeinsamen Aufbauwerks auch sozial zusammenbinden sollten. So wollte beispielsweise der Ingenieur Michel Chevalier das Militär in Arbeitsarmeen umwandeln; außerdem entwarf er bereits ein völkerverbindendes Eisenbahnsystem und schlug schon 1841 eine Vereinigung der
27 Vgl. etwa D. F. Noble, Eiskalte Träume. Die Erlösungsphantasien der Technologie, Freiburg i. Br. 1999. 28 Zu dieser Figur vgl. W. Steinmetz, „Anbetung und Dämonisierung des „Sachzwangs“. Zur Archäologie einer deutschen Redefigur“, M. Jeismann (Hg.), Obsessionen. Beherrschende Gedanken im wissenschaftlichen Zeitalter, Frankfurt/M. 1995, 293–333.
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europäischen Nationen vor.29 Politische, im Verständnis der Saint-Simonisten also „willkürlich“ gezogene Grenzen schienen der utilitaristischen Grundüberzeugung des größten Glücks für möglichst viele zu widersprechen. Eine dezidierte Orientierung am Gemeinwohl war gleichwohl nicht als demokratisch-partizipativer Ansatz miss zuverstehen. Vielmehr nährten die Saint-Simonisten bereits das Projekt eines Parlaments von Planern und technischen Experten, das elitär und streng meritokratisch ausgerichtet sein sollte. Diese forcierte Ideologie der Leistung kann sozialgeschichtlich sicher als eine Steigerungsform der bürgerlichen Abwendung vom feudalen Abstammungsprinzip verstanden werden, und es wäre weiter zu untersuchen, inwieweit der europäische Adel die fortschreitende Technisierung als gleichsam klassenkämpferisches Medium der Verbürgerlichung wahrnahm. Sie ist aber von ihren Protagonisten vor allem als Überwindung der Abhängigkeit von den wiederkehrenden Launen der Natur verstanden worden. Insofern ist Technokratie als Vision ein Teilbereich des Projekts der Moderne, als Problem zugleich ein Teilbereich ihrer Dialektik. Schon vor den Saint-Simonisten hatten Reformer wie der Freiherr vom Stein empfohlen, eine Körperschaft der wissenschaftlichen und technischen Deputationen zu bilden, „ein Parlament praktischer Arbeit, zusammengesetzt aus den berufensten Vertretern der Wissenschaft, Technik, Industrie, des Handels, der Land- und Forstwirtschaft und der Staatsverwaltung!“30 Gerade die unharmonische, kräfteverschleißende Politik des zunehmenden gesellschaftlichen Pluralismus bildete ein von Technokraten viel beklagtes Gegenbild, weil hier scheinbar endlose Energien in Abstimmungsprozeduren vergeudet wurden, statt den „einen besten Weg“ zu gehen, nämlich den einer optimalen Effizienz. Brutstätten technokratischer Haltungen sind daher alle Einrichtungen gewesen, die sich mit der „Lesbarkeit“ der sozialen Welt befassten.31 Der Staatsrechtler Johann Jacob Moser hatte schon im 18. Jahrhundert die Reichspost in diesem Sinne als eine revolutionäre und epochemachende Institution gepriesen.32 Viele der im 19. Jahrhundert zuständigen „Fachleute“ für Technik, für Normierungsprozesse, für Einrichtungen der Fürsorge oder der Verwaltung vermochten sich der Ansicht des ostpreußischen Landrats und Kameralisten Moritz von Lavergne-Peguilhen anzuschließen, der 1838 meinte: „Wie der Techniker die Kräfte 29 Dazu M. Steinert, Michel Chevalier. L‘évolution de sa pensée économique, sociale et politique (1830–1852), Diss. Saarbrücken 1956. 30 C. Matschoß, „Staat und Technik. Ein Beitrag zu den Studien über die wechselseitigen Beziehungen zwischen Staat und Technik mit besonderer Berücksichtigung der neueren Entwicklung“, VDI-Zeitschrift, 55, Nr. 29 vom 22. Juli 1911, 1185–1194, hier 1188. 31 Zu diesem Topos J. C. Scott, Seeing like a State. How certain schemes to improve the human condition have failed, New Haven/London 1998. 32 Entsprechend einflussreich war die aus dieser Sicht bislang kaum gewürdigte Rolle etwa eines Heinrich von Stephan, vgl. aber K. Beyrer (Hg.), Kommunikation im Kaiserreich. Der Generalpostmeister Heinrich von Stephan. Ausstellungskatalog des Museums Post und Telekommunikation in Frankfurt/Main, Frankfurt/M. 1997.
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der Natur und die Gesetze [...] kennen muß, um sie nach seinem Gefallen zu leiten; so muß der Staatsmann die Gesellschaftskräfte und Gesetze erkannt haben, um die Gesellschaft zu kennen [...]. In dem Verhältnis nun, in dem das Maß dieser Kenntnisse zu den Staatsaufgaben stehet, werden Mißgriffe [...] und Gesellschaftskrankheiten mehr oder weniger vermeidlich sein.“33 Hier tritt der zukunftsorientierte, analytische, planungs- und projektorientierte sowie aufbauend-internationalistische Ansatz der Technokratie bereits wie in einer Nussschale zu Tage. „Lesbarkeit“ und „Verfügbarkeit“ galten als die wesentlichen Voraussetzungen zur Herstellung des gesellschaftlichen Gemeinwohls; diese Ansicht wurde vornehmlich in denjenigen Berufszweigen genährt, die sich etwa mit der städtischen Daseinsvorsorge oder der staatlichen Leistungsverwaltung befassten.34 Das galt im Besonderen für die akademischen Ausbildungsstätten technischer Berufe, etwa die Pariser „École Polytechnique“ oder die „École des Mines“ sowie für Angehörige von Berufsvereinigungen wie den „Civil Engineers of the Kingdom“, dem „Corps des Ponts et Chaussées“, dem „Österreichischen Ingenieur- und Architektenverein“ oder dem 1856 gegründeten „Verein Deutscher Ingenieure“. Die Absolventen und Mitglieder bildeten einerseits ein ausdrücklich „unpolitisches“ Berufsverständnis aus. Andererseits nährten sie eine distinkte Unzufriedenheit über die Diskrepanz zwischen ihrer eher bescheidenen sozialen Anerkennung und dem gesellschaftlichen Bedarf an ihren Tätigkeiten im Zeitalter der zweiten Industriellen Revolution.35 Um die Wende ins 20. Jahrhundert wurde jedoch ein stetig wachsendes Selbstbewusstsein von Technikern und Ingenieuren festgestellt, in Deutschland signalisiert durch die Verleihung des Promotionsrechts an den Technischen Hochschulen des Kaiserreichs im Jahr 1899. Gerade die noch aus heutiger Sicht einzigartige Phase des „Zeitalters der Synergie“ zwischen etwa 1865 und 1914 trug zur Etablierung des tech-
33 Zit. nach B. Plé, „Das Ende der Kameralistik. Zur Krisenwahrnehmung in der Nachfolge der deutschen Kameralistik im Vergleich mit dem französischen Positivismus“, V. Drehsen/W. Sparn (Hg.), Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900, Berlin 1996, 69–88, hier 73. 34 Vgl. F. Bajohr, „Vom Honoratiorentum zur Technokratie. Ambivalenzen städtischer Daseinsvorsorge und Leistungsverwaltung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik“, ders. et al. (Hg.), Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne, Hamburg 1991, 66–82. 35 Vgl. J. Hubbel Weiss, The Making of Technological Man: The social origins of French engineering education, Cambridge/MA 1982; E. T. Layton jr., The Revolt of the Engineers: Social responsibility and the American engineering profession, Baltimore/London 1986; K. H. Jarausch, The Unfree Professions: German lawyers, teachers, and engineers, 1900–1950, New York 1990; K. Gispen, New Profession, Old Order: Engineers and German society, 1815–1914, Cambridge/Mass. 1989.
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nischen Fortschritts als einer Erfolgsideologie bei.36 Es kann kaum verwundern, dass die Geschichtsvorstellung einer unaufhaltsamen technologischen Weiterentwicklung gleichsam wie von selbst auch soziale Bereiche zu durchdringen begann. So meinte etwa der Kulturhistoriker Karl Lamprecht in dieser Zeit: „Zivilisation bedeutet Herrschaft über die leblose Natur und die organische Natur [...] durch aeußere, technische, in unserer Zeit vor allem wissenschaftlich-technische Mittel: Kraftkonzentratoren, Kraftumwandler, Arbeits und Zerstörungs Maschinen [sic!].“37 Andere Denker und Deuter wehrten solche Einsichten vorerst noch ab; sie mögen auch Konkurrenz gewittert oder sogar so etwas wie den Neid der Sozial- und Geisteswissenschaften auf die Exaktheit der Naturwissenschaften verspürt haben. So meinte etwa Max Weber auf dem Ersten Deutschen Soziologentag im Jahr 1910, „daß allen Ernstes die Techniker zu dem Glauben gelangen, als sei die Technik und ihre Evolution das ausschließlich führende Element in unserer Kulturentwickelung“.38 Die Konfrontation bezog sich vor allem auf eine fortdauernde Debatte über den „Kulturwert“ der Technik, die sich von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zog.39 Dabei waren von geisteswissenschaftlicher Seite aus zahlreiche Mahnungen über „seelische“ Gefahren zu vernehmen, welche durch die Technisierung vermeintlich drohten.40 Dem setzten vornehmlich die Ingenieure einen Optimismus entgegen, der – nach den Vorerfahrungen des 19. Jahrhunderts nicht ohne Evidenz – in der Technik die Haupttriebkraft des geschichtlichen Prozesses zu sehen glaubte.41 „Technik ist im tiefsten Wesen Fortsetzung der Schöpfung“, meinte noch 1926 36 Vgl. V. Smil, Creating the 20th Century. Technical innovations of 1867–1914 and their lasting impact, Oxford 2005. 37 Zit. in: B. Beßlich, Wege in den ‚Kulturkrieg‘. Zivilisationskrieg in Deutschland 1890– 1914, Darmstadt 2000, 172. 38 Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentags vom 19.–22. Oktober 1910 in Frankfurt a.M., Tübingen 1911, 94–110, hier 97; vgl. schon F. Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten, Braunschweig 1877. 39 Vgl. stellvertretend W. Sombart, „Technik und Kultur“, Archiv für Socialwissenschaft und Socialpolitik 33 (1911), 305–347. Als späte Bilanz ist anzusehen: Technik und Kultur. Im Auftrage der Georg-Agricola-Gesellschaft hg. von Armin Hermann und Wilhelm Dettmering, Bd. 1–10, Düsseldorf 1990–1994. Vgl. auch B. Dietz u.a. (Hg.), Technische Intelligenz und „Kulturfaktor Technik“. Kulturvorstellungen von Technikern und Ingenieuren zwischen Kaiserreich und früher Bundesrepublik Deutschland, Münster/New York/München/Berlin 1996. 40 Vgl. stellvertretend für die Debatte der frühen Bundesrepublik A. Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Hamburg 1957; H. Freyer et al (Hg.), Technik im technischen Zeitalter. Stellungnahmen zur geschichtlichen Situation, Düsseldorf 1965. 41 H.-L. Dienel (Hg.), Der Optimismus der Ingenieure. Triumph der Technik in der Krise der Moderne um 1900, Stuttgart 1998.
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der Technikphilosoph Friedrich Dessauer: „Der Schöpfer hat die Welt nicht abgeschlossen, sondern er hat dem menschlichen Geist, den er nach seinem Ebenbilde geschaffen hat, die Fähigkeit gegeben, die Erde um neue Gestalten zu bereichern, er hat nicht Räder, nicht Dampfrosse, nicht Schiffe, nicht Fernsprecher geschaffen, aber er hat den Menschen mit der Fähigkeit und mit dem Befehl ausgerüstet, nach seinem vorgedachten Plan das Schöpfungswerk in unbegrenzte Weiten fortzuführen.“42 Aus dieser Warte war die Ingenieurs-Literatur fortlaufend darum bemüht, die „Geschichtsmacht“ ihrer Gegenstände zu belegen und Ingenieure als die eigentlichen Kulturträger der modernen Industriewelt zu stilisieren. Nur Techniker seien zu einer wirklichen Kultursynthese fähig, nur sie könnten die zersplitterten gesellschaftlichen Bereiche wieder zusammenführen und integrative Synergie-Effekte erzielen.43
III. Die „klassische“ Phase der Technokratie: Weltkrieg und Zwischenkriegszeit Anlässe
Politisch wurde diese Haltung im Umfeld des Ersten Weltkrieges, als der tendenziell „totale“ Krieg gerade solche Synergie-Effekte einforderte. Hans-Peter Schwarz hat die „Kriegsgötter“ des Ersten Weltkrieges einmal als „entfesselte Technokraten“ bezeichnet.44 Das trifft im Rückblick und aus einer kritischen Perspektive auf bestimmte Personen sicher zu. In einem emphatischen Sinne werden vor allem Walther Rathenau und Wichard von Moellendorf, die Organisatoren der Kriegsrohstoff-Abteilung, in die Ahnengalerie der deutschen Technokratie gestellt.45 Ihr Gemeinwirtschafts-Konzept, das später für die Friedenszeit umgearbeitet wurde, sah die Orientierung einer politischen Organisation am Effizienz-Gedanken vor.46 Es ging von der Berechenbarkeit einer optimalen Erfüllung des menschlichen Bedarfs aus und stellte sich gegen 42 F. Dessauer, Bedeutung und Aufgabe der Technik beim Wiederaufbau des Deutschen Reiches, Berlin 1926, 14f. (zit. in B. Felderer [Hg.], Wunschmaschine – Welterfindung. Eine Geschichte der Technikvisionen seit dem 19. Jahrhundert, Wien/New York 1996, 35). 43 Vgl. W. Weber/L. Engelskirchen, Streit um die Technikgeschichte in Deutschland 1945– 1975, Münster 2000. 44 H.-P. Schwarz, Das Gesicht des Jahrhunderts. Monster, Retter und Mediokritäten, Berlin 1998, 126. 45 T. Rohkrämer, Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880–1933, Paderborn u.a. 1999, bes. 217–341. 46 F. Zunkel, „Die Bedeutung des Gemeinwirtschaftsgedankens für die technisch‑wissenschaftliche Gemeinschaftsarbeit im und nach dem Ersten Weltkrieg“, Technikgeschichte 46 (1979), 212‑226.
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die „Erweckung“ und Steigerung dieser Bedürfnisse durch den fortlaufenden Wechsel von „Moden“ oder durch Produktwerbung.47 Fragen einer intensiveren Nutzung natürlicher Ressourcen oder deren künstliche Substituierung spielten hier mit hinein. Die konzertierte Bemühung um eine wechselseitige Überbietung auf allen Kriegsschauplätzen, auch an der Heimatfront, lässt den Ersten Weltkrieg europaweit als Wegscheide für das systemische Wettrüsten im 20. Jahrhundert erscheinen. In dessen Verlauf wurden dauerhafte Koalitionen zwischen Politik, Militär und Agenturen der Effizienzsteigerung geschmiedet. Die tendenziell selbstläufig werdende Forschung und Entwicklung immer neuer Waffen sowie die Mobilisierung von angriffsfähigen Massenheeren ließen einen „militärisch-industriellen Komplex“ entstehen, vor dem seither immer wieder gewarnt wurde. In der Wahrnehmung der technischen Intelligenz waren der „Kriegssozialismus“ Rathenaus – und später die Organisationsleistungen von Fritz Todt und Albert Speer – zwar effektiv und erfolgreich. Und es gehörte zur Rhetorik von Forschung und Entwicklung, durch Innovationen ein „Ende aller Kriege“ herbeiführen zu helfen.48 Paradoxerweise haben in der Zeit der ideologischen Systemwettkämpfe Technokraten gerade dann politische und gesellschaftliche Vollmachten erhalten, wenn historische Ausnahme- oder gar Kriegssituationen postuliert wurden – und selten haben Technokraten der Versuchung widerstanden, sie zu ergreifen. Dennoch besteht zwischen Technokratie und Kriegsführung eine grundlegende Differenz: Auch wenn sicher kein Technokrat notwendigerweise auch ein Internationalist oder gar Pazifist sein muss, spricht dennoch vieles dafür, dass der Gedanke des möglichst ungestörten und kalkulierbaren Aufbaus für einen Technokraten sehr viel zentraler ist als derjenige der Zerstörung – mag man diese auch noch so „produktiv“ uminterpretieren, wie dies etwa bei Joseph Schumpeter der Fall war.49 Gerade wegen der Erfahrung umfassender Zerstörungen im Ersten Weltkrieg fühlten sich Techniker dazu aufgefordert, in die Offensive zu gehen und eine For47 Vgl. K. Zachmann, „Wirkungsgrad contra Wertgrad. Zur Entstehung des Konflikts zwischen der technischen und der ökonomischen Auffassung vom Wirtschaften“, Technikgeschichte 62 (1995) 2, 103–131. 48 In der Zeit des Kalten Krieges besonders prominent etwa bei Herman Kahn oder Edward Teller. 49 „Was kriegerische Energie war, wäre in einer rein kapitalistischen Welt Arbeitsenergie aller Art“ (zit. nach W. J. Mommsen, Imperialismustheorien, Göttingen 31987, 22). Hierzu bemerkte Heinz Gollwitzer, auch in Bezug auf die Saint-Simonisten: Im „Bestreben, die Kampf- und Rivalitätsinstinkte des einzelnen wie der Völker auf wirtschaftlichen Wettbewerb abzuleiten und dem Betätigungsdrang großartige menschliche Aufgaben philanthropischer und technischer Art zuzuweisen, haben die Vertreter des pazifistischen Internationalismus Ziele gesteckt, die in ihrer Zeit nicht erreichbar waren“ (ders., Geschichte des weltpolitischen Denkens. Bd 1: Vom Zeitalter der Entdeckungen bis zum Beginn des Imperialismus, Göttingen 1972, 445).
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derung des amerikanischen Soziologen Thorstein Veblen aus dem Jahr 1921 nach einem „Soviet of technicians“ umzusetzen.50 Inspirationen kamen vom Pragmatismus der amerikanischen Philosophie (William James, John Dewey)51, dem „scientific management“, das sich in der Person Frederic Winslow Taylors52 personifizierte, aber auch von genialischen Erfinder-Persönlichkeiten wie Thomas Alva Edison oder Charles P. Steinmetz.53 Wissenschaftliche Betriebsführung und moderne Arbeitswissenschaften, die Psychotechniken der Werbung und der Propaganda, die tiefen, etwa durch Elektrifizierung und Automobilisierung bewirkten alltagspraktischen Veränderungen sowie generell die Herausforderungen der anonymisierten Massengesellschaft schienen die Politik vor ganz neue Aufgaben zu stellen. Der rationalistischen Wahrnehmung der Ingenieure legte sie starke Parallelen zur Konstruktion einer möglichst effizient arbeitenden Maschine sowie die Gesetzmäßigkeiten einer „sozialen Physik“ nahe, um die Verwerfungen einer fragmentierten Moderne wieder einzufangen.54 In dieser Situation wurde in den USA der Begriff der „Technokratie“ geprägt, nach Europa exportiert und im Verlauf der 1920er Jahre teilweise zu einer „neuen Heilslehre“ aufgewertet, wie es eine Publikation von 1933 selbstbewusst formulierte.55 Charles Maier hat schon 1970 darauf hingewiesen, worin das spezifische Attraktionsmoment dieser Bewegung „zwischen Taylorismus und Technokratie“ lag. Beide, die „wissenschaftliche Betriebsführung“ wie die energiezentrierte Technokratie, versprachen einen Ausweg aus den endlosen Verteilungskämpfen zwischen Wirtschaft und Gesellschaft, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Denn optimierte und effektivere Arbeitsprozesse verhießen Zuwächse an Zeit und an Geld. Der Ingenieur wurde zum gesellschaftlichen Moderator oder Schiedsrichter, der Kraft seines Sachverstandes Überschüsse herbeiführen hilft, die nicht mehr erkämpft, sondern lediglich gerecht verteilt werden müssen. So schien die Notwendigkeit zu einer Regulation 50 T. Veblen, The Engineer and the Price System, New York 1963 (zuerst 1919). 51 Vgl. auch D. W. Marcell, Progress and Pragmatism. James, Dewey, Beard, and the American Idea of Progress, Westport/Conn./London 1974. 52 Vgl. R. Kanigel, The One Best Way. Frederick Winslow Taylor and the enigma of efficiency, London/New York 1999. Zur parallelen Erscheinung eines „sowjetischen Taylor“, Aleksej Gastev, vgl. M. Tatur, „Wissenschaftliche Arbeitsorganisation“. Arbeitswissenschaften und Arbeitsorganisation in der Sowjetunion 1921–1935, Wiesbaden 1979. 53 Zu beiden vgl. Hughes, Erfindung Amerikas, 1991. Zu Steinmetz speziell J. M. Jordan, „„Society Improved the Way You Can Improve a Dynamo“: Charles P. Steinmetz and the politics of efficiency“, Technology and Culture 30 (1989), 57–82; J. Gilbert, Designing the Industrial State. The intellectual pursuit of collectivism in America, 1880–1940, Chicago 1972. 54 Erwähnt werden sollte, dass hier vornehmlich die klassische Physik vor der Relativitätstheorie gemeint ist. 55 W. W. Parrish, Technokratie ‑ die neue Heilslehre. Mit Vorwort von Herman Sörgel, München 1933, der S. 14 bereits eine begleitende „Biotechnik“ einfordert.
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knapper Güter durch Zwang und Machtpolitik zu entfallen. Bis in den italienischen Faschismus hinein finden sich daher Metaphern wie die des Dynamos, in dem die Reibungsverluste gesellschaftlicher Konflikte in einen synergetischen Generator umgeformt wurden.56 Namentlich in der Sowjetunion haben nicht nur die Vorstellung, dass sich das Los des Menschen über eine Änderung seiner Umweltbedingungen werde verbessern lassen, sondern auch die Zentralisierung der Entscheidungsstrukturen sowie die Möglichkeit zur einheitlichen und langfristigen Planung technische und politische Intelligenzen vielfach miteinander kooperieren lassen.57 Auch deswegen blickten technische Funktionseliten oft überaus aufmerksam auf die offensichtlichen sowjetischen Möglichkeiten. Strukturmerkmale
Das Zeitalter der Hochmoderne war auch die klassische Phase der Technokratie: Die Erfolgskurve der technischen Forschung und Entwicklung, das schier grenzenlose Zutrauen in die angewandte Wissenschaft, der antihistorische Affekt der Zwischenkriegszeit, das scheinbare Versagen des bürgerlichen Liberalismus als Politik- und Wirtschaftsmodell, das Streben nach „Endlösungen“ aller Art – all diese Tendenzen gingen mit technokratischen Haltungen Hand in Hand und erzeugten zudem eine „Romantik des Reißbretts“, die umfassende sozialtechnische Antworten bereithielt.58 Sie strebte potenziell nach einer „Restlosigkeit“ der Erfassung sowie nach Auflösung aller verbleibenden „Welträtsel“ – um das Erfolgsbuch des sog. Monismus von Ernst Haeckel zu zitieren, in dem sich eine ausschließlich um Energie kreisende Ideologie geradezu idealtypisch äußerte.59 Als technokratische Leittechnologie ist dabei die Sta-
56 C. Maier, „Zwischen Taylorismus und Technokratie. Gesellschaftspolitik im Zeichen industrieller Rationalität in den zwanziger Jahren in Europa“, M. Stürmer (Hg.), Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas, Königstein/Ts. 1980, 188–213. 57 Vgl. S. Schattenberg, Stalins Ingenieure. Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren, München 2002, die freilich auch auf das allfällige Risiko für Ingenieure in der Stalin-Ära hinweist, im Falle von Störungen als „Saboteure“ gebrandmarkt zu werden. 58 T. Etzemüller, „Die Romantik des Reißbretts. Social engineering und demokratische Volksgemeinschaft in Schweden: Das Beispiel Alva und Gunnar Myrdal (1930–1960)“, Geschichte und Gesellschaft 32 (2006) 4, 445–466. 59 W. Sachs, „Energie als Weltbild. Ein Kapitel aus der Kulturgeschichte des Produktivismus“, Technik und Gesellschaft 3 (1985), 36–57. Zur „Restlosigkeit“ sowie zu Wilhelm Ostwald vgl. M. Krajewski, Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900, Frankfurt/M. 2006; G. Hübinger, „Die monistische Bewegung. Sozialingenieure und Kulturprediger“, ders. et al (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaft um 1900, Teil II: Idealismus und Positivismus, Stuttgart 1997, 246–259.
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tistik anzusehen, über die es gelang, auf ebenso suggestiver wie scheinbar sachlicher Grundlage Handlungszwänge zu erzeugen.60 In Phasen der internationalen Konkurrenz, in Krisen und Kriegen des 20. Jahrhunderts neigten Politiker im Sinne einer umfassenden Mobilisierung immer wieder dazu, Funktionskonzepte aus der Technik nach dem Muster integrierter Betriebseinheiten auf die Sphäre von Wirtschaft und Gesellschaft zu übertragen. Konzentrationsbestrebungen von Großkonzernen und Organisationsstrukturen der Verbundwirtschaft wurden zu Trendsettern des „Managements“ einer unüberschaubar gewordenen, arbeitsteiligen, vielschichtigen und kaum noch homogenisierbaren Gesellschaft, der „Manager“ wie der „system builder“ zu Heroen der Koordination.61 Als Vorläufer, wenn auch nicht unbedingt als Vorbild, diente zudem das Militär, weil hier der moderne Infanterist längst zu einem „Ersatzteil“ geworden war, dessen Einsätze mit Hilfe von statistischen Zuordnungen koordiniert wurden.62 Im Futurismus oder in Zeitdiagnosen wie Ernst Jüngers „Der Arbeiter“ ist die Überblendung von Schlacht- und Arbeitsordnung besonders greifbar, weil sie auf eine „totale Mobilmachung“ abzielte.63 Charakteristischer für die rein technokratische Haltung war jedoch der Verweis auf die „unsichtbaren Armeen“ der elektrischen oder mechanischen „Sklaven“, durch die körperliche Arbeit nach und nach verschwinden und der Mensch lediglich zum Dirigenten möglichst ungehinderter Energieflüsse werden sollte.64 Hatte das Credo der „industrious revolution“ in Europa gelautet, Arbeit und
60 A. Desrosières, La politique des grands nombres. Histoire de la raison statistique, Paris 1993; J. A. Tooze, Statistics and the German State, 1900–1945. The making of modern economic knowledge, Cambridge u.a. 2001. Für die Radikalisierung dieses Ansatzes in den 1930er Jahren vgl. G. Aly/K.-H. Roth, Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 2000 (zuerst 1984) sowie E. Black, IBM und der Holocaust. Die Verstrickung des Weltkonzerns in die Verbrechen der Nazis, München/ Berlin 2001. 61 B. Rizzi, La bureaucratisation du monde, Paris 1938; J. Burnham, The Managerial Revolution: What is happening in the world, New York 1941. Für den Realsozialismus später etwa M. Djilas, Die neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems, München 1958. 62 P. Berz, 08/15. Ein Standard des 20. Jahrhunderts, München 2001, 709. 63 Nach Einschätzung von Eliot Neaman waren Ernst Jüngers „Arbeiter“ und Oswald Spenglers „Jahre der Entscheidung“ als Blaupausen für die nationalistische Revolution einer technokratischen Elite zu verstehen (ders., A Dubious Past. Ernst Jünger and the politics of literature after Nazism, Berkeley/Los Angeles/London 1999, 269). 64 A. Friedrich, Die unsichtbare Armee. Das Buch der Energie, Berlin 1942. Die Freisetzung der fossil eingelagerten Sonnenenergie, so der Chemiker Hermann Staudinger noch 1947, mache auch die blutigen Kämpfe um „den Platz an der Sonne“ obsolet, vgl. ders, Vom Aufstand der technischen Sklaven, Essen 1947, 35f., 101.
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Fleiß ins Zentrum des moralischen Verhaltens zu stellen, hieß es nun bei den Technokraten: „Unnötige Arbeit wird zu einer Unmoral.“65 Man versteht das Weltbild der Technokraten sehr viel besser, wenn man sich ihre imaginären Gegner vergegenwärtigt, mit denen in der Praxis jedoch immer wieder Allianzen zu schmieden waren: Sie bestanden vornehmlich aus Kaufleuten (zu profitorientiert), Juristen (zu formalistisch und zu wenig visionär), professionellen Politikern (zu dilettantisch und zu irrational), Bürokraten (zu langsam und zu stark eingespielten Verfahren verhaftet), Gewerkschaftern (zu ideologisch und zu klassenkämpferisch) sowie „Fortschrittsfeinden“ aller Art.66 Abgelehnt wurden aber auch Korruption, Egoismus, das marktliberale „Preissystem“, dazu politische Radikalismen jedweder Couleur, aber auch Emotionalität oder gesellschaftlicher Gleichberechtigung verpflichtete Bewegungen wie etwa der Feminismus.67 Misstrauen hegten Technokraten stets gegen alles, was nicht gemessen werden kann, was scheinbar irrational und vieldeutig ist. Das betraf vor allem Fragen der Ethik, des Sozialen, des Ökologischen oder Medizinischen – sie schienen vermeintlich „rationalen“ Lösungen von Problemlagen oft „unberechenbar“ erscheinende Kriterien gegenüberzustellen. Genährt wurde dagegen eine spezifisch „technologische Geschichtsbetrachtung“ (Werner Sombart68), ein eigener Genie-Kult um Personen wie Leonardo da Vinci, Leibnitz oder Vitruv, die eine eigene technokratische „hall of fame“ füllten, aber auch ein eigener Mythenschatz des homo faber, in dem etwa Prometheus, Herkules oder Faust zu finden waren.69 Der Drang zur Anwendung
Zu keiner Zeit entstanden auf dem Reißbrett ambitioniertere und klarer technokratisch strukturierte Planungen als in der Zwischenkriegszeit – erinnert sei an den Atlantropa-Plan für das Mittelmeer des Münchner Architekten Herman Sörgel, an die sowjetischen „Großbauten des Kommunismus“ oder an das Ijsselmeer-Projekt des 65 Parrish, Technokratie, 1933, 256. Zur „industrious revolution“ vgl. etwa J. de Vries, „The Industrious Revolution and the Industrial Revolution“, Journal of Economic History 54 (1994), 249–270. 66 Hierzu R. P. Sieferle, Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1984. 67 Vgl. R. Oldenziel, Making Technology Masculine: Women and modern machines in America, 1870–1945, Amsterdam 1999. 68 W. Sombart, Technik und Kultur, 1911, 314. 69 Vgl. A. Stöcklein, Leitbilder der Technik. Biblische Tradition und technischer Fortschritt, München 1969; H. Duddeck, „Und machet Euch die Erde untertan...?“, Bauingenieur 71 (1996), 241–248.
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Niederländers Cornelis Lely.70 Zugleich war es in der Zwischenkriegszeit vergleichsweise schwer zu definieren, was originär technokratisch inspiriert war, was sich Technik lediglich anverwandelte oder wo diese instrumentalisiert wurde. Überschneidungsbereiche zur Technokratie ergeben sich insbesondere zur Mystik des „Plans“, etwa im „planisme“ Frankreichs.71 Sicher muss man die von Nordamerika ausgehende Bewegung „Technocracy Incorporated“ zum engeren Kern rechnen. Unter der Leitung des Ingenieurs Howard Scott versuchte sie, eine Art von nationaler Energiebilanz der USA zu erstellen, um „rationale“ politische Entscheidungen vorzubereiten. Dass ähnliche Tendenzen zu einer restlosen Erfassung der nationalen Potenziale in unterschiedlichen nationalen Kontexten auftauchten und relativ unabhängig vom politischen System zu allerlei philanthropischen, in schleichenden Prozessen aber auch zu gesellschaftlich stigmatisierenden und aussondernden Verfahren überleiten konnten, ist inzwischen gängige Münze der Erkenntnis. Schwierig zu erfassen ist und im Einzelnen noch weiter differenziert werden muss freilich, inwieweit originär technokratische zu anderen Arten der Expertise standen, die etwa eine Psychologisierung oder Biologisierung des Sozialen zur Umsetzung eines „radikalen Ordnungsdenkens“ betrieben.72 Zum Verhältnis von Technik und der totalitären Politik des Nationalsozialismus und Stalinismus ist mittlerweile viel geschrieben worden.73 In der Tat sind Techniker und Ingenieure wohl nur selten von sich aus engherzigen Nationalismen gefolgt. Doch konnten ihre idealistischen Vorstellungen von einem „Dienst am Gemeinwohl“ sowie ihr umfassender Aktivismus für eine energetisch optimierte Zukunft stets in ideologische Programme eingebunden werden, in denen es um nationale Selbstbehauptung durch eine Steigerung der Leistungsfähigkeit ging. Eine bis zum Chauvinismus reichende Ausschlachtung des Prestiges technischer Pionierleistungen war jedenfalls in den meisten Ländern zu finden. Zur Science Fiction hinüberspielende
70 Weitere Beispiele bei D. van Laak, Weiße Elefanten. Anspruch und Scheitern technischer Großprojekte im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999. 71 O. Dard/D. Gosewinkel, „Planung, Technokratie und Rationalisierung in Deutschland und Frankreich während der Weltkriegsära“, M. Aust/D. Schönpflug (Hg.), Vom Gegner lernen. Feindschaften und Kulturtransfers im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M./New York 2007, 209–233. 72 L. Raphael, „Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime“, Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 5–40. Vgl. auch A. Rabinbach, Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne, Wien 2001. 73 K.-H. Ludwig, Technik und Ingenieure im Dritten Reich, Düsseldorf 1974; M. Renne berg/M. Walker: (Hg.), Science, Technology and National Socialism, Cambridge/Mass. 1994; P. R. Josephson: Totalitarian Science.
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Literaturgattungen ergingen sich gern in geradezu phantasmagorischen Phantasien; technokratische Ingenieure avancierten oft zu notorischen Weltrettern.74 Insbesondere im „Dritten Reich“ wurden technische Eliten umworben und gezielt eingebunden. So meinte etwa Rudolf Heß am 3. September 1934 in einer Ansprache vor einer Versammlung internationaler Straßenbauer „Sie wissen es ja, daß wir neue Wege, besonders in politischer Hinsicht, gegangen sind, daß wir die Demokratie unseres Landes ersetzt haben durch ein System schnell entscheidender und zugleich voll verantwortlicher Männer, denen Fachleute für die Einzelgebiete beratend zur Seite stehen: ein System, das schnelle Entscheidungen unabhängig von lange sich hinziehenden und verwässernden Verhandlungen jeweiliger Parlamentsmehrheiten ermöglicht, ein System, das das einmal als richtig Erkannte auch mit Entschiedenheit und auf kürzestem Wege praktisch umsetzt. Nur diesem System ist es zu verdanken, daß gerade die Autobahnen in so überraschend kurzer Zeit nach dem Regierungsantritt Hitlers praktisch in Angriff genommen werden konnten.“75 Nach Jeffrey Herf waren es fünf Grundüberzeugungen, die Schnittmengen zwischen Technikern und Nationalsozialisten hervorbrachten: 1. Technik ist Ausdruck ethischer und ästhetischer Werte. 2. Sie ist Ausdruck des „Willens zur Macht“. 3. Sie ist unentbehrlich für eine Politikerneuerung und die Brechung der schrankenlosen Wirtschaftsmacht. 4. Das Fronterlebnis hat die Einheit von Technik und Nationalismus demonstriert. 5. Technik ist antikapitalistisch und antisemitisch.76 Das trifft sicher für viele Techniker zu, dennoch muss erneut auf eine Differenz hingewiesen werden: Technokratische Vorstellungen waren bisweilen sicher deckungsgleich mit organologischen Konzepten eines „Volkskörpers“, standen aber auch in Konkurrenz dazu, wenn diese biologistisch, vitalistisch und voluntaristisch argumentierten und eher den fortgesetzten Kampf zwischen Menschen oder Rassen hervorhoben statt den zwischen Mensch und Natur. Zweifellos fanden sich aber in technokratischen Kreisen ethisch äußerst prekäre Haltungen, insbesondere dann, wenn sie mit der sog. „Menschenökonomie“ befasst waren und hier weder vor experimentellen Anwendungen noch vor Menschenversuchen zurückschreckten.77 Auch jenseits von Deutschland stand im Zentrum technokratischer Verheißungen stets eine so deutliche Steigerung von Produktivität und Effizienz, dass schrittweise 74 Vgl. D. Brandt, Der deutsche Zukunftsroman 1918–1945. Gattungstypologie und sozialgeschichtliche Verortung, Tübingen 2007. A. Hahnemann, Texturen des Globalen. Geopolitik und populäre Literatur in der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Heidelberg 2010. 75 R. Heß, „An die internationalen Straßenbauer“, ders., Reden, München 1938, 68f. 76 Zit. nach H.-L. Dienel, Herrschaft über die Natur? Naturvorstellungen deutscher Ingenieure, 1871–1914, Stuttgart 1992, 173; J. Herf, Reactionary Modernism. Technology, culture and politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge/Mass. 1984. 77 Vgl. etwa W. Pyta, „’Menschenökonomie’. Das Ineinandergreifen von ländlicher Sozialraumgestaltung und rassenbiologischer Bevölkerungspolitik im NS-Staat“, Historische Zeitschrift 273 (2001), 31–94.
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zu einer sachgerechten Verteilung von Überschüssen übergegangen werden konnte. Diese Vision ließ sich potenziell mit den Zielvariablen von Kommunismus, Liberalismus und Faschismus kombinieren. Denn anders als das Ethos der Wissenschaftlichkeit, wie der organisierte Skeptizismus und der universalistische, gemeinwohlorientierte und interessenfreie Charakter ihres Tuns dies suggerierten, waren Technokraten in aller Regel keineswegs resistent gegenüber Dogmen aus Kirche, Wirtschaft und Politik. Von Seiten der politischen Philosophie wurde daher als Haupteinwand gegen die Technokratie ihre politische Verführbarkeit ins Feld geführt: „Die industrielle Zivilisation“, meinte etwa Hermann Lübbe, „verhält sich in ihrer Sachgesetzlichkeit einigermaßen neutral gegen den Inhalt eines sie überschreitenden Willens, der sich ihrer als Instrument bedient.“78 Tatsächlich haben sich Technokraten in der Sphäre der Machtpolitik oft als die Unterlegenen erwiesen, weil sie zu logisch dachten, zu sehr nach den Schemata von Ursache und Wirkung. Zudem erwiesen sie sich als verführbar, ja naiv gegenüber strategischen und taktischen Rochaden, nahmen aber natürlich ihrerseits Elemente benachbarter Ideologien in sich auf. Insgesamt wird man diese zentrale Frage nach Schuld und Verführbarkeit aber nur je individuell beantworten können, so wie dies oft am Beispiel Albert Speer versucht wurde.79 Charakteristisch und geradezu leitmotivisch sind jedenfalls die Selbstzeugnisse von Angehörigen der naturwissenschaftlichen und technischen Intelligenz durchzogen von Konflikten mit „der Politik“ sowie der Behauptung, man habe doch letztlich nur der Sache gedient.80
IV. Nach dem Zeitalter der Kriege: Ingenieure verändern die Welt Mit dieser seit langem vertrauten Haltung einer ausdrücklichen Distanz zum Politischen sowie der gern genährten Behauptung, mitsamt seinen Leistungen von der Politik „verführt“ und „betrogen“ worden zu sein, vermochte die technische Intelligenz jedenfalls relativ ungeschoren aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in deren zweite Hälfte zu wechseln. Gerade ihre systemunabhängige „Verwendbarkeit“ barg für technische Eliten freilich auch ein spezifisches Berufsrisiko: die Abwerbung bzw. 78 H. Lübbe, „Zur politischen Theorie der Technokratie“, Der Staat, 1 (1961), 19–38, hier 37. Bereits 1929 hatte Carl Schmitt in „Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen“ Kritik an technokratischen Tendenzen geübt und der politischen Dezision einen Primat über den „Sachzwang“ eingeräumt. 79 B. Orland, „Der Zwiespalt zwischen Politik und Technik. Ein kulturelles Phänomen in der Vergangenheitsbewältigung Albert Speers und seiner Rezipienten“, B. Dietz et al (Hg.), Technische Intelligenz, 1996, 269–295. 80 Vgl. Museum für Verkehr und Technik Berlin (Hg.), Ich diente nur der Technik. Sieben Karrieren zwischen 1940 und 1950, Berlin 1995.
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Verschleppung als „intellektuelle Reparation“.81 Im Übrigen erlebten „Wissenschaft und Technik“ wie schon nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur deswegen eine neue Blütezeit, weil etwa Deutschland die Demütigungen der Kriegsniederlagen erneut durch technische Großleistungen hatte kompensieren wollen. Vielmehr beförderten europaweit echte Kriegsmüdigkeit und ein durchaus idealistischer Aufbauwille ihr Gedeihen zusätzlich. „Ältere wie Jüngere“, schrieb Peter Hübner über die Deutschen nach dem Krieg, „lebten in einer Welt, deren Erfahrungshorizont durch amerikanischen Fordismus, sowjetischen Planoptimismus und deutsches Technikergeschick bestimmt wurde.“82 Auch die Systemwettkämpfe des Kalten Krieges boten umfassende Betätigungsfelder für ein um Effizienz und überlegene Organisation kreisendes Denken. Eine Minderheit der Techniker stellte sich zwar ethischen Fragen, etwa am Beispiel der Atombombe. Ansonsten blieb man bei Wirkungsgraden und Energie-Effizienz als Schlüsselkategorien des Sozialen, auch wenn Technokratie als politische Bewegung nun endgültig in den Hintergrund trat.83 Der Glaube an einen letztlichen Sieg von Leistung und Vernunft wurde sogar umso populärer, je irrationaler der Kalte Krieg tobte. Menschenführung wurde hierbei ebenso zur Ingenieur-Aufgabe wie die Projektierung der gesellschaftlichen Zukunft. Die Neigung, Humanität über soziale Kennziffern vermeintlich wertfrei und objektiv zu definieren und über eine „Kosten-NutzenFunktionalität“ zu normieren, nahm in der Nachkriegszeit jedenfalls schwerlich ab. Mehr denn je beanspruchten Ingenieure, Baumeister einer besseren Welt zu sein.84 In der ideologisch unübersichtlichen Landschaft der Nachkriegszeit lassen sich verschiedene Achsen technokratischen Fortlebens erkennen, die im Folgenden lediglich angedeutet werden sollen: 1. Den Kalten Krieg durchzogen das Versprechen wie die Zuversicht, dass die überlegene Beherrschung der Technik nicht nur den Wettkampf der politischen Systeme entscheiden, sondern letztlich auch den aus dem 19. Jahrhundert „geerb81 Vgl. etwa J. Gimbel, Science, Technology and Reparations: Exploitation and Plunder in Postwar Germany, Stanford 1990. 82 P. Hübner, „Menschen – Macht – Maschinen. Technokratie in der DDR“, ders. (Hg.), Eliten im Sozialismus. Beiträge zur Sozialgeschichte der DDR, Köln/Weimar/Wien 1999, 325–360, hier 343. 83 In Westdeutschland gab es den rasch versandenden Versuch Wilhelm Dreusickes, der schon in der im Juni 1933 gegründeten „Deutschen Technokratischen Gesellschaft e.V.“ führend gewesen war, eine technokratisch orientierte „Republikanische Partei Deutschlands“ zu etablieren, vgl. R. Stöss (Hg.), Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980, Bd. 4, Opladen 1986, 1995–2010. 84 F. Münzinger, Ingenieure – Baumeister einer besseren Welt, Berlin/Göttingen 31947, der in der Vorbemerkung die rasch zur rhetorischen Figur verkommene Feststellung trifft, dass seit Hiroshima die Schere zwischen rasanter technologischer Entwicklung und nachhinkender Ethik unübersehbar geworden sei.
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ten“ Klassenkampf überwinden werde. Auch setzte sich nach den Erfahrungen mit den diktatorischen Regimen der ersten Jahrhunderthälfte die Überzeugung durch, dass gesellschaftliche Ordnungen eher durch eine gezielte Steuerung von Bedürfnissen als durch Zwang zu stabilisieren seien. Damit wurde das infrastrukturell-wirtschaftliche Angebot in mancherlei Hinsicht zu einem Surrogat politischer Herrschaft. Zudem stellte die Bereitstellung einer leistenden Verwaltung und moderner Infrastrukturen nach vielfacher Erfahrung eine der erfolgreichsten antirevolutionären Strategien dar, weil sie den potenziell nivellierten Anschluss an einen gesellschaftlichen Wohlstand verhieß statt (klassen-)kämpferisch mehr Verteilungsgerechtigkeit einzufordern. Diese Überzeugung war gestützt durch die breite Erfahrung einer lebenserleichternden Technisierung und das Durchsickern der Produktivitätsregime in den Alltag, die der Technisierung eine breite Akzeptanz verschaffte, ja im Alltagsleben der Europäer sogar affektiv aufgeladen war – und nicht zuletzt auch den technokratischen Agenten „ewigwährender Prosperität“ (Burckhard Lutz), die über viele Jahre hinweg auf Vorschusskredite zählen konnten. 2 Auch im Bereich des Sicherheitsmanagements des Kalten Kriegs etablierten sich technokratische Handlungszwänge, um durch brain trusts und Verteidigungsexperten weiter lanciert zu werden. Der scheidende amerikanische Präsident Eisenhower glaubte daher 1961 noch einmal ausdrücklich vor einem „militärisch-industriellen Komplex“ warnen zu müssen, der der Politik seine Gesetze des Handelns aufnötige.85 Auch innerhalb der Blöcke gab es systemische Wettbewerbe, in denen Technokraten eine entscheidende Rolle spielten, etwa um „die amerikanische Herausforderung“ ( Jean-Jacques Servan-Schreiber) zu beantworten bzw. die Dominanz der Sowjetunion herauszufordern oder um spezifisch nationale „Technikstile“ zu pflegen. Dies zeigte sich wiederum in besonders ausgeprägter Weise in Frankreich, wo sogar unterschiedliche technokratische Ansätze miteinander rivalisierten, um Frankreich in der Atom-, der Verkehrs- oder der Fernsehtechnik einen nationalen Vorsprung zu verschaffen.86 Gerade die Vorgabe, dass es gelte, gegenüber Konkurrenten einen vermeintlichen technologischen „Rückstand“ aufzuholen, wurde zu einer der am stärksten verbreiteten Argumen-
85 Abschiedsrede von Dwight D. Eisenhower, abgedruckt in The New York Times vom 22. Januar 1961. 86 Vgl. G. Hecht, „Rebels and Pioneers. Technocratic ideologies and social identities in the French nuclear workplace, 1955–69“, Social Studies of Science 26 (1996), 483–530; dies., The Radiance of France. Nuclear power and national identity after World War II, Cambridge/Mass./London 1998; A. Fickers, „Politique de la grandeur“ versus „Made in Germany“. Politische Kulturgeschichte der Technik am Beispiel der PAL-SECAM-Kontroverse, München 2007.
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tationsfiguren des 20. Jahrhunderts, um politische und finanzielle Ressourcen für Forschung und Entwicklung zu mobilisieren.87 3. Die aus militärischen Zusammenhängen erwachsenen Spiel- und Organisationstheorien, die sich zur Metatheorie der Kybernetik fortentwickelten, wurden westlich wie östlich des Eisernen Vorhangs gefeiert und mit systemischen KonvergenzErwartungen an die weltweite „Technostruktur“ aufgeladen.88 Diese Theoreme waren Begleiterscheinung einer Revolution der Datenverarbeitung und liefen in Ideen einer Denkmaschine oder gar eines Regierungs-Computers aus, wie sie nach 1969 etwa Kanzleramtsminister Horst Ehmke nährte. Dieser Vorform des E-Government eng zugeordnet war die vermeintlich sachorientierte und überaus planungsoptimistische Politik in der Ära des Nachkriegsbooms, die auf der Basis fiskalischer Überschüsse dazu tendierte, kultur-, sozial- und wirtschaftspolitische Zwänge über gezielte Angebote zu lösen und schließlich sogar die Idee einer „Globalsteuerung“ hervorbrachte. Sie war begleitet von den Diagnosen über ein Ende des Zeitalters der (politischen) Ideologien.89 4. Die spätkoloniale Planung wie auch die frühe Entwicklungshilfe für vermeintlich „unterentwickelte“ Gebiete, die in Übersee oft eine tabula rasa des gesellschaftstechnischen Neuaufbaus sah, boten geradezu Spielwiesen für technokratische Experimente.90 Gleichwohl werden erst vergleichende Analysen die Rückkoppelungen zwischen kolonialen „Laboratorien“ und europäischen „Zentralen“ detailliert nachweisen.91 Die Orientierung auf eine möglichst effektive Industrialisierung und Technisierung zugunsten eines auskömmlichen „Lebensstandards“ blieb schon aufgrund der beispiellosen Dynamik der Ersten und Zweiten auch in der Dritten Welt nahezu ohne Alternative. Agrarische, „traditionelle“ oder vermeintlich „zurückgebliebene“ Gesellschaften knüpften forcierte Erwartungen an technokratisch grundierte Versprechen einer raschen Modernisierung. Gesellschaften 87 Vgl. dazu den Exkurs „Der Rückstand. Geschichte und Bedeutung einer Problemwahrnehmung“, B.-A. Rusinek, Das Forschungszentrum. Eine Geschichte der KFA Jülich von ihrer Gründung bis 1980, Frankfurt/M./New York 1996, 203–215. 88 Zur „Technostruktur“ vgl. J. K. Galbraith, The New Industrial State, Boston 1967, 59. Jacques Ellul sprach im selben Jahr von einer „Technologischen Gesellschaft“, vgl. ders., The Technological Society, New York 1967; vgl. auch J. Meynaud, Technocracy, London 1968. 89 So schon bei Karl Mannheim, später bei Daniel Bell. 90 Vgl. O. Ullrich, „Technologie“, W. Sachs (Hg.), Wie im Westen so auf Erden. Ein polemisches Handbuch zu Entwicklungspolitik, Reinbek 1993, 390–408. Genereller: M. Adas, Machines as the Measure of Men: Science, technology, and ideologies of Western dominance, Ithaca/London 1989. 91 A. Eckert, „Exportschlager Wohlfahrtsstaat? Europäische Sozialstaatlichkeit und Kolonialismus in Afrika nach dem Zweiten Weltkrieg“, Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), 467–488.
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wie etwa die lateinamerikanischen haben daher technokratische Politikstile vermutlich sogar „reiner“ ausgebildet, als das in Europa der Fall war. In Chile war zeitweise von der Umwandlung in einen „kybernetischen Staat“ die Rede, und die Bedeutung einzelner Technokraten wie Stafford Beer wird erst noch umfassend zu rekonstruieren sein.92 5. Die supranationalen Einrichtungen der europäischen Integration standen bemerkenswerterweise von Beginn an im Verdacht, Agenturen der Technokratie zu sein.93 Und in der Tat hat sich das auf Jean Monnet zurückgehende Politikmodell, durch die Verflechtung erst von Kohle und Stahl, dann der Landwirtschaft, der Industriepolitik und schließlich der Währung gleichsam transnationale Sachzwänge zu schaffen, als überaus erfolgreich erwiesen. Es zog Brüssel, Luxemburg und Straßburg aber auch den notorischen Verdacht zu, hierbei handle es sich um Hochburgen des seelenlosen Sachzwangs.94 Dass sich daneben ein „technokratischer Internationalismus“ seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder ebenso praxisbezogen wie erfolgreich um eine europäische Einigung durch infrastrukturelle Vernetzungen bemühte, wird mittlerweile breit erforscht.95 6. Trotz der bürgerlichen Kritik an der überbordenden Dominanz des Technischen in der Nachkriegszeit und ihrer vermeintlichen „Apokalypseblindheit“96 etablierte sich in den 1960er Jahren ein neuer bürgerlich-konservativer Denkstil. Er zeichnete sich dadurch aus, dass er in den sachlogisch operierenden Institutionen des Staates vor allem verborgene Bollwerke gegen die allfällige Pluralisierung der 92 Vgl. C. Pias, „Die Herrschaft der Sozialmaschine. Kurzschluss als Methode: Wie Chile einst zum kybernetischen Staat umgewandelt und seine Wirtschaft von einem einzigen Computer regiert werden sollte“, Frankfurter Allgemeine Zeitung 62 vom 13. März 2004, 38; P. Silva, „Die Technokratie in der chilenischen Politik“, D. Boris et al (Hg.), Sozial strukturen in Lateinamerika. Ein Überblick, Wiesbaden 2008, 73–94. Silva führt die Ursprünge der chilenischen Technokratie auf die Regierung von Oberst Carlos Ibanez del Campo zwischen 1927 und 1931 zurück. 93 Vgl. etwa schon: „Der Schuman-Plan. Der geheime Vertrag oder die Herrschaft der Technokratie“, La Libre Belgique 315 vom 11. November 1950, 3. 94 A. Fritsch, Großmacht Technokratie. Die Zukunft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1955. Differenzierend hierzu M. Bach, „Vom Zweckverband zum technokratischen Regime: Politische Legitimation und institutionelle Verselbständigung in der Europäischen Gemeinschaft“, H. A. Winkler/H. Kaelble (Hg.), Nationalismus, Nationalitäten, Supranationalität, Stuttgart 1993, 288–308. 95 Vgl. etwa R. N. Coudenhove-Kalergi, Apologie der Technik, Leipzig 1922; J. Schot/V. Lagendijk, „Technocratic Internationalism in the Interwar Years: Building Europe on Motorways and Electricity Networks“, Journal of Modern European History 6 (2008), 196–216. 96 G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Band I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956; ders., Die Antiquiertheit des Menschen. Band II: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1980.
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westlichen Gesellschaften wahrnahm.97 Dieser „technokratische Konservatismus“ beruhte auf der Einsicht, dass die technischen, infrastrukturellen und Verwaltungsstrukturen des industriellen Wohlfahrtsstaates machtvolle Garanten der Beständigkeit darstellten.98 So formulierte etwa Helmut Schelsky 1961 eine an Carl Schmitt angelehnte Definition des Politischen gleichsam „technokratisch“ um: Souverän sei, wer über die höchste Wirksamkeit der in einer Gesellschaft angewandten wissenschaftlich-technischen Mittel verfüge.99 Der Gegensatz zwischen Ökologie und Technokratie innerhalb konservativer Werthaltungen wurde dadurch zugleich weiter verschärft.100 Doch auch Sozialdemokraten wollten sich seit den ausgehenden 1950er Jahren an die Spitze der dritten industriellen Revolution stellen, um die sozialen Verwerfungen der ersten und zweiten industriellen Revolution nach Möglichkeit zu vermeiden. Dies zeigte sich etwa an der emphatischen Adaption der Kernenergie in den 1950er Jahren.101 7. Auch in den realsozialistischen Staaten des „Ostblocks“ bildete sich seit den 1950er Jahren ein spezifischer Phänotyp des Technokraten heraus, der freilich in besonderer Weise zwischen Sachfragen und Politik befangen blieb. Einerseits bildete der marxistische Materialismus einen besonderen Nährboden für technokratische Ideen der Naturbeherrschung wie auch der Gesellschaft aus. Koalitionen zwischen technischen Funktionseliten und den jeweiligen Parteiführungen lagen daher nahe, ja waren geradezu unumgänglich, um sozial-ökonomische Transformationen durchzuführen, um Produktionsregime und ein zentrales Plansystem zu etablieren. Den unzweifelhaften Erfolgen, die dabei erzielt wurden, stand andererseits das stete Misstrauen von Partei-Ideologen gegenüber einer technokratischen „Nicht-Politik-Politik“ gegenüber, so dass sich in der Geschichte nahezu sämtlicher osteuropäischer Regime in Bezug auf Technik und Politik ein kom97 J. Herf, „Belated Pessimism: Technology and twentieth-century German conservative intellectuals“, Y. Ezrahi/E. Mendelsohn/H. Segal (Hg.), Technology, Pessimism, and Postmodernism, Dordrecht 1994, 115–136. 98 D. van Laak, „Garanten der Beständigkeit. Infrastrukturen als Integrationsmedien des Raumes und der Zeit“, A. Doering-Manteuffel (Hg.), Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006, 167–180; ders., „From the Conservative Revolution to Technocratic Conservatism“, J.-W. Müller (Hg.), German Ideologies since 1945. Studies in the political thought and culture of the Bonn Republic, New York/ Houndmills 2003, 147–160. 99 H. Schelsky, „Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation (1961)“, ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf 1965, 439–480, hier 455. 100 M. Großheim, Ökologie oder Technokratie. Der Konservatismus in der Moderne, Berlin 1995. 101 Vgl. etwa B.-A. Rusinek, „„Kernenergie, schöner Götterfunken!“ Die „umgekehrte Demontage“. Zur Kontextgeschichte der Atomeuphorie“, Kultur & Technik 17 (1993) 4, 15–21.
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plexes Widerspiel zwischen Koalitionen und Machtkonkurrenzen nachverfolgen lässt. Auf die Reformvorschläge der verschiedenen „Tauwetter“-Perioden folgten jeweils ideologische Rückschläge, die, meist zum Nachteil der Produktivität, den Primat des Politischen wiederherstellten.102 „Technokratische“ Haltungen boten im Realsozialismus zwar individuelle Spielräume und z. T. auch Rückzugspositionen vor ideologischen Zumutungen. In der Praxis standen sie jedoch umso spannungsgeladener zur Sphäre der Parteipolitik. Staatssicherheits-Organe hatten alle „Entpolitisierungs“-Tendenzen daher in besonderer Weise im Visier.103 Eine Besonderheit stellt freilich dar, dass sich Naturwissenschaftler, Techniker und Ingenieure dennoch vergleichsweise häufig auch in führenden Parteifunktionen wiederfanden.104 Dies mag aus dem Umstand resultieren, dass die spezifische Nähe beider Sphären im östlichen Plansystem auch zu charakteristischen Mischformen führte, etwa zu politisch erwünschten „Befunden“ in Naturwissenschaft und Technik, aber auch zu „technokratischen“ Verfahren des Machterwerbs und Machterhalts. Daher konstatierte Peter Hübner, dass eines der Geheimnisse für die Zählebigkeit der östlichen Zentralverwaltungswirtschaften „offenbar zum guten Teil in einer Mischung Technokratie-ähnlicher und improvisatorischer Handlungsmuster der Funktionseliten“ gelegen habe.105
V. Nach dem Boom Die sich aus all diesen Tendenzen entwickelnde Hochzeit der Planungseuphorie und der Machbarkeit kann hier nicht mehr im Einzelnen dargestellt werden. In den 1970er Jahren folgte hieraus nicht nur, wie angedeutet, eine umfassende Ideologiekritik technokratischer Zugriffe, sondern auch eine große Ernüchterung. Diese beruhte auf der 102 Hierzu Hübner, Menschen – Macht – Maschinen. Vgl. auch D. van Laak, „Das technokratische Momentum in der deutschen Nachkriegsgeschichte“, J. Abele et al (Hg.), Innovationskulturen und Fortschrittserwartungen im geteilten Deutschland, Köln/Weimar/ Wien 2001, 89–104. 103 D. L. Augustine, „Frustrierte Technokraten. Zur Sozialgeschichte des Ingenieurberufs in der Ulbricht-Ära“, R. Bessel/R. Jessen (Hg.), Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996, 49–75; dies., Red Prometheus. Engineering and Dictatorship in East Germany, 1945–1990, Cambridge/Mass. 2007. 104 So konstatierte etwa Manfred Hildermeier, dass in den 1960er Jahren kommunistische Regionalführer in der Sowjetunion „typischerweise“ Ingenieure gewesen seien, vgl. ders., Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998, 778. Für die DDR verweist Peter Hübner (Menschen – Macht – Maschine, 343) auf die Namen Erich Apel, Werner Jarowinsky, Bruno Leuschner, Günter Mittag, Heinrich Rau und Gerhard Schürer. 105 Hübner, Menschen – Macht – Maschine, 360.
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Erkenntnis, dass Behauptungen des „einen besten Wegs“ keine wirkliche Überzeugungskraft mehr besaßen und man in der pluralisierten Wissensgesellschaft letztlich für jedes politisch erwünschte Ergebnis eine Expertise bekam.106 Die forschen Illusionen einer kybernetischen Gesellschaft wurden nun zunehmend von systemtheoretischen und ökologischen Gedankenmodellen herausgefordert, die sich von jeder optimistischen Geradlinigkeit verabschiedeten. In der reflexiven „Risikogesellschaft“ erschienen technokratische Ansätze nicht mehr nur als potenziell inhuman, sondern auch als hochgefährlich. In der westdeutschen Atomdebatte verbarg sich exemplarisch eine Technokratie-kritische Haltung, bei der Robert Jungk den „Atomstaat“ schließlich sogar mit dem „SS-Staat“ überblendete. Denn um eine derart komplexe Technologie vor Unfällen und Terroranschlägen schützen zu können, brauchte man im Verständnis von Jungk eine technokratische Elite, die „so gefühllos, so wachsam, so zuverlässig, so unermüdlich, so verfügbar wie sonst nur ein willenlos funktionierendes Maschinenteil“ sein müsse.107 Hierin eingefangen war die Erkenntnis, dass die Steigerung wissenschaftlicher Erkenntnis nicht notwendigerweise auch zu einer gesteigerten Handlungssicherheit führt.108 Es dauerte sehr lange, dies nicht mehr als ein Paradox zu begreifen. Als „Technokrat“ will heute niemand mehr bezeichnet werden. Technokratische Ideologien mit einer Tendenz zum Totalitären und zu Tabula-rasa-Planungen, wie sie in der klassischen Zeit zwischen den 1920er und 1960er Jahren weltweit genährt wurden, haben sich überlebt. Aber Elemente des technokratischen Denkens sind bis heute machtvoll präsent und als „Hintergrundideologie“ nach wie vor vorhanden. So bieten sich bei gesellschaftlichen Interessens-Kollisionen noch immer Experten und Fachleute als scheinbar neutrale Moderatoren an, um die Sitzkriege zwischen den Partikularinteressen durch sachlogische und vermeintlich streng gemeinwohlorientierte Argumente zu unterlaufen. Dabei verstehen es „Technokraten“ immer wieder, das hermetische Wissen ihrer Expertise in eine Strategie der Schaffung „vollendeter Tatsachen“ einzubinden, bevor diese politisch oder in endlosen Abstimmungsprozeduren „zerredet“ werden können. So werden auf durchaus klandestine Weise Prozesse auf den Weg gebracht, die sich dann vor allem über Reaktionsnotwendigkeiten fortschreiben. Weitere Funktionsmodi eines „technokratischen“ Zugriffs sind die Erzeugung von Zeitdruck und von Handlungszwängen aufgrund statistischer Suggestionen sowie die fortgesetzte Evokation von vermeintlichen Rückständen gegenüber Konkurrenten. 106 T. Schanetzky, Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982, Berlin 2007. 107 Nach J. Paulus, „Ein Flugzeug aufs Atomkraftwerk. Zwischen Terroristenangst und totaler Überwachung: Vor (fast) genau einem Vierteljahrhundert beschrieb Robert Jungk erstmals das Dilemma des „Atom-Staats““, Die Zeit 46 vom 8. November 2001, 92. 108 Schanetzky, Ernüchterung, 2007, 272.
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Doch stehen auch Technokraten vor dem Dilemma, sich zu Problemlagen verhalten zu müssen, deren Gestaltbarkeit sich durch gewachsene Ansprüche, gesellschaftliches Proporzdenken und die Neigung zu einer „Versäulung“ von Interessen zunehmend verengt. Doch gerade dort, wo soziale Prozesse einen gewissen Grad an Stabilität aufweisen, geraten Parteipolitiker in die Verlegenheit, ihre „Inkompetenzkompensationskompetenz“ (Odo Marquard) durch einen Verweis auf Expertengremien und externe Sachkompetenz nachzuweisen: „Die unüberbietbare Evidenz der Sicherheit und der Gewissheit, die solches Tatsachenwissen in alltäglicher Erfahrung vermittelt und die in der Praxis der empirischen Wissenschaften mit so großem Erfolg angewandt werden kann, soll auf das Feld des Politischen übertragen werden.“109 Gerade in den fallweisen Interessenkoalitionen zwischen Politik, Wirtschaft und der Problemlösungskompetenz von technischer Intelligenz ist wohl die eigentliche Erfolgsgeschichte der technokratischen „Hintergrundideologie“ zu verorten. Als eigenständige Denkweise verfolgt Technokratie sicher ein reduktionistisches Politikmodell und neigt zweifellos auch dazu, unliebsame Widersprüche auszublenden. Sie stellt ein Begleitphänomen der industriellen Gesellschaft dar, die sich mit einer gebauten, nach scheinbar „rationalen“ Kriterien gestalteten Kulturlandschaft umgeben hat. Man kann den meist im Hintergrund agierenden technokratischen Ansätzen, die eher als Elemente einer Surrogat-Ideologie zu bezeichnen wären, aber auch Aktuelles und Weiterführendes attestieren, etwa ihre Aufmerksamkeit für Kreisläufe, Koordinationsnotwendigkeiten und Vernetzungen oder auch das Bewusstsein für einen intensiven und damit schonenden Umgang mit natürlichen Ressourcen.110 In der technokratischen Haltung ist eine Pose enthalten, die an „unpolitische Affekte“ appelliert. Politik in ihrer professionellen Erscheinungsform erscheint hier dem Sachverstand entgegengesetzt, ja sogar als spezifischer Ausdruck einer nur unvollständig beherrschten Natur. Dazu gehört das Selbstbild vieler Technokraten, in der Vergangenheit von der Politik, der Wirtschaft oder dem Militär immer wieder missbraucht bzw. in ihrer Bedeutung als aktive wie eigenständige Schlüsselfiguren des historischen Wandels unterschätzt worden zu sein. Das hat Einiges für sich. Technik als historische Kraft zu definieren, bedarf am Beginn des 21. Jahrhunderts wohl kaum noch der Begründung. Technische Eliten haben die „gebaute“ Kulturlandschaft wie auch die „sekundären Systeme“ (Hans Freyer), die unser Leben heute prägen, maßgeblich mitgestaltet. Als eine den Primat über das Politische beanspruchende „epistemic community“ waren die Technokraten sicher vornehmlich der Hochmoderne zugeordnet, die 109 P. Morandi, „Zur Geschichte und Theorie der Technokratie“, Berliner Debatte Initial 8 (1997) 3, 117–126, hier 118. 110 So wurde schon in den 1920er Jahren die Einführung einer Energie-Währung diskutiert, vgl. F. Rapp, Art. „Technokratie“, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Darmstadt 1998, 954–958, hier 954; Parrish, Technokratie, 13.
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sich an Wachstum, Fortschrittsdenken und Produktivitätssteigerungen orientierte. Soweit man in der Gegenwart bereits von einer „postindustriellen“ Phase sprechen kann, stellen sich wesentliche Koordinaten auch für die technokratische Haltung heute verändert dar. Als „Hintergrundideologie“, die nun eher an einer Intensivierung von Energiemanagement und Ressourcennutzung arbeitet als an deren Extensivierung, hat sich eine Technokratie, die von der Annahme überlegenen Wissens sowie von quantifizierend ermittelter „Sachgerechtigkeit“ ausgeht und intersubjektive Überprüfbarkeit, Objektivität und klare Maßstäbe verspricht, aber keinesfalls überlebt. Auch nach diversen Brüchen im Industrialismus des Westens leben Heils erwartungen an einen „technological fix“ (Alvin Weinberg) sowie die Suggestionen vermeintlich „sachgerechter“ Entscheidungen weiter fort und es gilt, sie als einflussreiches Ordnungssystem weiter ernst zu nehmen. Ein weithin verwilderter Gebrauch als polemisches Etikett wie im eingangs angeführten Beispiel wird der historischen Bedeutung der Technokratie nicht gerecht.
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Strukturierter Raum – integrierte Gemeinschaft Auf den Spuren des social engineering im Europa des 20. Jahrhunderts
I. Sozialtechnologien, Ordnungsmuster und Handlungsimperative Es ist bekannt, dass mit der Industrialisierung erhebliche Veränderungen und Verwerfungen der sozialen und politischen Beziehungen einhergingen. Das betraf in der westlichen Welt alle Nationen, die diesen Prozess durchliefen, auch wenn dieser Umbruch in jedem Land unterschiedliche Probleme aufwarf. Überall jedoch wurden die Veränderungen als Herausforderung verstanden, zu der man sich gesellschaftspolitisch verhalten musste. Kulturpessimistische Denker konnten ein vormodernes, vermeintlich a-dynamisches „Goldenes Zeitalter“ beschwören, Reformbewegungen versuchten, die Menschen wieder in Einklang mit der Natur zu bringen. Die Umbrüche wurden aber auch begriffen als Eröffnung eines bislang ungeahnten Möglichkeitsraumes, der energisch gestaltet werden konnte hin auf die Utopie einer gerechten Gesellschaft und eines emanzipierten „Neuen Menschen“.1 Einen weiteren gewichtigen Versuch, die Folgen der Moderne zu bewältigen, werde ich im Folgenden unter dem Begriff social engineering vorstellen. Es war ein Versuch neben anderen, die als destruktiv wahrgenommenen Folgen der Industrialisierung in den Griff zu bekommen; zentral war das Bemühen, auf einer Mesoebene die sozialen Beziehungen zu rekonfigurieren, um die vermeintlich drohende Desintegration der Gesellschaft abzuwenden. In Deutschland konvergierte das social engineering mit dem Nationalsozialismus, doch das darf nicht einseitig als notwendige Radikalisierung dieses sozialtechnokratischen Denkens gedeutet werden. Der Begriff ist problematisch, weil er nämlich in den Quellen nur schwer zu greifen ist und analytisch höchst unspezifisch genutzt wird. Die Spannbreite reicht, um 1 Vgl. N. Stone, Europe Transformed 1878–1919, Oxford 1999; A. Nitschke et al. (Hg.), Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880–1930, 2 Bde., Reinbek b. Hamburg 1990; A. Doering-Manteuffel, „Mensch, Maschine, Zeit. Fortschrittsbewusstsein und Kulturkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts“, Jahrbuch des Historischen Kollegs 2003, München 2004, 91–119.
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es knapp anzudeuten, vom industrial betterment im frühen 20. Jahrhundert bis zum Datenklau im Internet. Will man ihn präzisieren, sollte man ihn als Verdichtung spezifischer Technologien und eines spezifischen Weltbildes in einem begrenzten Zeitraum der Moderne begreifen und durch konkrete empirische Studien plausibilisieren.2 Geht man auf diese Weise vor, gerät plötzlich eine wirkmächtige Formation in den Blick, die mit Beschreibungsmodellen wie „Technisierung“, „Planung“, „Scientific Management“, „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ oder „(radikalem) Ordnungsdenken“ nur unzureichend zu fassen ist,3 die aber an der Schnittstelle all dieser Konzeptionen angesiedelt ist. Die Charakteristika dieser Formation sind folgende: 1. Die Akteure des social engineering sind Experten. Die Figur des Experten ist im Großbritannien des 19. Jahrhunderts entstanden als eine Reaktion auf die neuartige gesellschaftliche Dynamik. Spezialisten waren gefragt, die ausgebildet waren, Prozesse und systemische Zusammenhänge zu erkennen, diese als Problem zu analysieren und dann rationale Lösungswege in die Zukunft hinein zu entwerfen. Diese Experten rückten um die Jahrhundertwende in die zahllosen Funktionsstellen ein, an denen die Gesellschaft im Alltag gestaltet und gesteuert wird, und sie gelangten zu immer größerem gesellschaftspolitischen Einfluss, weil sie nicht einfach nur Probleme lösten, sondern die Organisation der Gesellschaft deuteten.4 2. Diese Deutung nahm eine besondere Form an. Ferdinand Tönnies hat die Dichotomie von organischer, integrierter, harmonischer Gemeinschaft und atomisier2 Zur Problematisierung des Begriffs ausführlich T. Etzemüller, „Social engineering als Verhaltenslehre des kühlen Kopfes. Eine einleitende Skizze“, ders. (Hg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, 11–39. 3 Vgl. J. A. Merkle, Management and Ideology. The Legacy of the International Scientific Management Movement, Berkeley/Los Angeles/London 1980; L. Raphael, „Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts“, Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), 165–193; ders., „Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime“, Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 5–40; D. van Laak, Weiße Elefanten. Anspruch und Scheitern technischer Großprojekte im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999; M. Hård/A. Jamison (Hg.), The Intellectual Appropriation of Technology. Discourses on Modernity, 1900–1939, Cambridge, MA/London 1998; S. Willeke, Die Technokratiebewegung in Nordamerika und Deutschland zwischen den Weltkriegen. Eine vergleichende Analyse, Frankfurt/M./Berlin/ Bern 1995; A. Anter, Die Macht der Ordnung. Aspekte einer Grundkategorie des Politischen, Tübingen 2004. 4 Vgl. H. Perkin, The Rise of Professional Society. England since 1880, London/New York 1989; ders., The Third Revolution. Professional Elites in the Modern World, London/New York. 1996; E.J. Engstrom/V. Hess/U. Thoms (Hg.), Figurationen des Experten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2005.
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ter, mechanistischer Gesellschaft pointiert.5 Tönnies muss nicht rezipiert worden sein, auch muss diese Begrifflichkeit nicht explizit in den Texten der Sozialingenieure – wie ich die Experten des social engineering nennen möchte – auftauchen. Entscheidend ist, dass es eine spezifische Form der Unterscheidung war, die für die Experten des social engineering paradigmatisch geworden ist. Für sie verwandelte die Moderne die Gemeinschaft zunehmend in eine Gesellschaft, die in ihre Einzelteile zu zerfallen drohte. Der Natur gemäß dagegen, das ließ sich etwa durch Rekurs auf die Zoologie belegen, waren organische Gemeinschaften. Entsprechend konnte sich das social engineering parallel zur Biologisierung des gesellschaftspolitischen Denkens radikalisieren: „krankes“ Gewebe musste aus dem Organismus herausgeschnitten werden, um den „Volkskörper“ von der „Infizierung“ durch die Moderne „heilen“ zu können. In Skandinavien oder den USA bedeutete das „nur“ die Zwangssterilisierung unerwünschter Menschen, in Deutschland dann die Vernichtung von „Gemeinschaftsschädlingen“. In den Quellentexten ist also sehr genau der manchmal nur impliziten Metaphorik von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“, „gesund“ und „krank“ oder auch „hell“ und „dunkel“ nachzuspüren, um das social engineering identifizieren zu können. 3. Die Gegenwart wurde auf eine bestimmte Weise wahrgenommen, nämlich als Krise, und es wurde regelmäßig prognostiziert, dass sie sich in die Zukunft hinein dramatisch verschärfen und ungezügelt sogar zum Untergang führen werde. Allerdings begriffen Sozialingenieure die Krise – und das unterschied sie von kulturpessimistischen Positionen – stets als Krisis, als Punkt der fälligen Entscheidung. Der Weg in die Zukunft war offen, er konnte nach oben oder abwärts führen, je nachdem, wie man sich entschied.6 4. Das bedeutet aber, dass Nichthandeln für Experten keine Option war. Die drohende Destruktion erzwang eine Handlung. Daraus leiteten Experten die Pflicht zur Intervention ab. Sie waren auf Grund ihrer Prognosen geradezu gezwungen, Lösungswege zu entwerfen und sie den entscheidenden gesellschaftspolitischen Institutionen zu implementieren. Aus dieser Selbstermächtigung heraus versuchten sie, in die Gesellschaftspolitik der jeweiligen Regierungen einzugreifen. Das wurde ihnen grundsätzlich erleichtert, denn die Politik brauchte Daten und Handlungskonzepte, um die extensiven sozialgestalterischen Visionen der 1930er Jahre (Sozialstaat, New Deal, Volksgemeinschaft usw.) umsetzen zu können. In Deutschland eröffnete die Symbiose von Politik und Wissenschaft den Experten nach 1933 Handlungsmöglichkeiten, die ihnen in demokratischen Regimes verwehrt blieben. 5 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und Socialismus als empirischer Culturformen, Leipzig 1887. 6 Vgl. H. Grunwald/M. Pfister (Hg.), Krisis! Krisenszenarien, Diagnosen und Diskursstrategien, München 2007.
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5. Unabdingbar war der Bezug auf die Realität. Sie sollte die Legitimationsbasis für die Ordnung der Gesellschaft bieten, nicht ideologische oder metaphysische Setzungen und Annahmen. Das bedeutete, dass akribisch die Wirklichkeit danach abgesucht wurde, was die Natur an „vernünftigen“ – und das heißt: gemeinschaftlich strukturierten – Ordnungsmodellen bereithielt. Die durch die industrielle Massengesellschaft und die „liberalistische“ Weltanschauung angeblich verschütteten Keime organischer Gemeinschaften waren freizulegen und dann zu stärken. Das social engineering gab sich strikt realitätsbezogen, antimetaphysisch und antiideologisch – ohne es zu sein. Das ist der blinde Fleck der Sozialingenieure, der nicht einmal 1945 aufgehellt wurde. Sie waren der Meinung, dass sie der Natur durch eine Handreichung zu ihrem Recht verhalfen.7 6. Sozialingenieure verordneten nicht, sie setzten vielmehr auf Lernprozesse. In aufwendigen Untersuchungen erhoben sie die materiellen und geistigen Bedürfnisse der Menschen und überführten sie in Normalverteilungskurven, die zur Grundlage der Interventionen gemacht wurden. „Normal“ war dabei nicht die statistische Mehrheit, sondern das, was der Natur entsprach; diese „Normalität“ wiederum wurde nicht als starre Norm begriffen, sondern als eine flexible Zone möglicher Verhaltensweisen. Problematisch waren Menschen, die sich außerhalb dieser Zone ansiedelten. Ihnen musste beigebracht werden, sich selbst so zu konditionieren, dass sie sich „normal“ verhielten. Das geschah in den 1930er Jahren noch stärker durch (indirekten) Druck als in den 1990er Jahren – indem etwa durch die gezielte Reduzierung von Möglichkeiten Verhaltensweisen abgeschnitten wurden, während in der Nachkriegszeit gezielt die Eigenverantwortlichkeit konditioniert wurde. Grundsätzlich schrieben Sozialingenieure deshalb nicht Gesetze und Disziplinarordnungen, sondern Ratgeber. Sie setzten auf die Macht der Einsicht in die Vernunft und deren Training im Alltag. So sollten die Individuen ganz zwanglos die Grenzen der „Normalität“ gegen die Risikozonen verteidigen – eine Grenze, die übrigens beständig verschoben wurde. Dynamik und Kontingenz sollten nicht stillgestellt, sondern kontrolliert gesteuert werden, um sie auf diese Weise beherrschen zu können. 7. Zygmunt Bauman hat den Begriff der „ambivalenten Moderne“ geprägt. Weil die Welt mit der Industrialisierung vieldeutig geworden sei, sei klassifiziert und geordnet worden, um der Welt wieder eine Struktur zu geben und „Ambivalenz auszulöschen: eine Anstrengung genau zu definieren – und alles zu unterdrücken oder zu eliminieren, was nicht genau definiert werden konnte oder wollte.“ Der Staat wurde zum „Gärtner“, der „die Bevölkerung [unterteilte] in nützliche Pflanzen, die sorgsam zu kräftigen und fortzupflanzen waren, und Unkraut – das ent7 Dazu exemplarisch meine detaillierte Analyse Gunnar Myrdals: T. Etzemüller, Die Romantik der Rationalität. Alva und Gunnar Myrdal – Social Engineering in Schweden, Bielefeld 2010, Kap. V.
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fernt oder samt Wurzeln herausgerissen werden musste.“ Der Holocaust sei ein Extremfall dieser Weltsicht gewesen, aber durchaus keine Anomalie.8 Diese Metaphorik ist eingängig. Doch das social engineering läuft nicht automatisch auf eine Radikalisierung der Biopolitik hinaus, d. h. auf die Massenvernichtung von Menschen im „Dritten Reich“. Die wäre ohne das social engineering kaum denkbar gewesen, ohne die immer wieder propagierte Grenze zwischen „kranken“ und „gesunden“ Teilen der Bevölkerung. Doch in Schweden beispielsweise setzten Sozialingenieure dezidiert auf die Inklusion von Menschen, nur ein „Bodensatz“ hartnäckiger „Verweigerer“ musste in ihren Augen durch Sterilisierungen allmählich eliminiert werden. Der Blick auf die deutsche Geschichte verstellt die Tatsache, dass das social engineering im 20. Jahrhundert tendenziell eher hegte als jätete, dass es also um eine positive Biopolitik ging. Das macht normalisierende Sozialingenieure nicht sympathischer, aber interessanter für eine Analyse von Machttechniken, als wenn man ihre Arbeit in Begriffen von „Disziplinierung“ oder gar „Repression“ beschreibt.9 Denn wer erfolgreich die Evidenz zwingender „Vernunft“ erzeugen kann, dem stehen raffiniertere Techniken zur Verfügung, die Lebenspraxis von Menschen zu regulieren, ohne sie vernichten, unterdrücken oder auch nur disziplinieren zu müssen. Das social engineering war also tendenziell total, was seinen erfassenden und steuernden Anspruch betraf, nicht aber notwendig totalitär. Diese Elemente können für sich genommen in ganz unterschiedlichen Kontexten auftauchen. Sie können im Rahmen einer Architekturgeschichte, Technikgeschichte, einer Geschichte der Sozialpolitik, der Experten oder von Großprojekten beschrieben werden. In ihrer Kombination allerdings bildeten sie ein spezifisches Dispositiv: als Kombination von Sozialtechnologien, einem Ordnungsmodell und einem dezidierten Gestaltungsimperativ, das – nach einer Entstehungsphase seit den 1880er Jahren – vor allem in der Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und etwa den 1960er Jahren seine Wirkmächtigkeit entfaltete. Danach verlor dieser transnationale, Disziplinen übergreifende Versuch, mit künstlichen Mitteln eine verlorene natürliche Ordnung der Gesellschaft wieder zu erschaffen, indem man eine alle gesellschaftliche Bereiche durchdringende, soziale Ordnung entwarf, rapide an Überzeugungskraft. Die Organisation der Gesellschaft wurde mittlerweile mit ganz anderen Metaphern und gesellschaftspolitischen Szenarien verhandelt – auch wenn einzelne rhetorische und technische Komponenten des social engineering durchaus bis heute überleben konnten. Deshalb ist es sinnvoll, den Begriff des social engineering als eine Schnittmenge
8 Z. Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 2005, 22, 41–42. 9 So tendenziell G. de Bruyn, Die Diktatur der Philantropen. Entwicklung der Stadtplanung aus dem utopischen Denken, Braunschweig/Wiesbaden 1996.
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unterschiedlicher Ebenen zu verstehen. Er lässt sich nicht präzise definieren, sondern ist in konkreten empirischen Studien plausibel zu machen.10
II. Rhetoriken der Gestaltung An fünf Abbildungen möchte ich zeigen, welche neue Perspektive auf die Gesellschaftspolitik des 20. Jahrhunderts durch den Begriff des social engineering möglich wird, wie der Versuch funktionierte, eine Mesoebene zu schaffen, auf der die desintegrierende Gesellschaft als Gemeinschaft reintegriert werden sollte. Ich werde dabei den Weg von der Spülbank über die Küche, die Wohnung, die Stadt bis zur Region durchmessen, um den alles durchdringenden, organisierenden Anspruch des social engineering deutlich zu machen. Wenn man die Homologie zwischen den Bewegungen auf der Spülbank mit den Bewegungen im Raum herausarbeitet, wird sichtbar, wie die detaillierte Durchgliederung des Raumes eine spezifische Strukturierung der sozialen Beziehungen erreichen sollte. Der gebaute Raum, die Organisation des Raumes und die Struktur der Sozialbeziehungen waren für Sozialingenieure eng miteinander verwoben und vor allem: rational gestaltbar. Das Material, das ich verwende, ist auf den ersten Blick sehr heterogen. Es entstammt Texten aus den USA, Schweden und Deutschland, die in den Jahren von 1913 bis 1948 in unterschiedlichen Kontexten publiziert wurden. Für Historiker steht in solchen Fällen die Einmaligkeit dieser Quellen sowie ihre inhaltliche, regionale und zeitliche Differenz im Vordergrund, d. h. die historiografisch notwendige, sorgfältige Kontextualisierung lässt Gemeinsamkeiten gerade nicht in den Blick kommen. Unter Historikern strittiger ist das Verfahren, eine „Formation“ zu postulieren, durch die diese Differenzen bewusst aufgelöst werden. Solchen Formationen eignet keine materiell verifizierbare Qualität. Ein „Habitus“ (Pierre Bourdieu), ein „Diskurs“ (Michel Foucault) oder ein „Denkstil“ (Ludwik Fleck) – um nur drei bekannte Konzepte zu nennen – entstehen erst im analytischen Zugriff eines Soziologen oder Historikers. Sie existieren nicht unabhängig vom empirischen Material, sondern bieten eine Lesart, dieses Material auf eine neue Weise zu analysieren. Wenn man die Abbildungen also in diesem Sinne mit Hilfe des Begriffs social engineering zusammenliest, lässt sich eine Struktur sichtbar machen, die die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht mehr unter dem Primat des „Age of Extremes“, des Totalitarismus oder der „So10 Das geschieht im in Anm. 2 erwähnten Sammelband sowie in vier Arbeiten, die die Ergebnisse zweier DFG-Forschungsprojekte zum social engineering bilden, nämlich drei Dissertationen von David Kuchenbuch, Timo Luks und Anette Schlimm, die am Beispiel des Wohn-, des Fabrik- bzw. des Verkehrsraumes vergleichend das social engineering in Deutschland, Großbritannien und Schweden untersuchen, sowie in einer biografischen Mikrostudie zweier führender Sozialingenieure (Etzemüller, Romantik).
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zialdisziplinierung“ deutet, sondern als Prozess der „Normalisierung“. Das schließt die genannten Perspektiven nicht aus, stellt sie aber in einen anderen historischen Zusammenhang. Vorab knappe Hintergrundinformationen zu den Abbildungen. Die erste Grafik stammt aus einer schwedischen Haushaltsstudie aus dem Jahre 1946.11 Es ist die Horizontalprojektion der Bewegungen beim Abspülen, hier für zwei unterschiedliche Spülbeckentypen. Die Felder 1 bis 7 zeigen an, welche Sorte Geschirr bewegt Abb. 1 C. Boalt u.a., „Diskning i hemmen“, HFImeddelanden 1 (1946), H. 1, 1–117, hier S. 58.
11 C. Boalt u.a., „Diskning i hemmen“, HFI-meddelanden 1 (1946), H. 1, 1–117, 58.
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wird; die Stärke der Linien indiziert die Zahl der Handbewegungen (je Millimeter Strichstärke vier Bewegungen), differenziert für die linke und die rechte Hand; die Linien bilden außerdem das Bewegungsmuster ab. Rechts steht das Schmutzgeschirr, in der Mitte wird es gereinigt, dann unter laufendem Wasser gespült und links zum Trocknen abgelegt. Zahl, Länge und Richtung der Handbewegungen wurden in zahllosen Messungen in einer standardisierten Versuchsanordnung erhoben, um den Zeit- und Arbeitsaufwand beim Abspülen präzise zu ermitteln. Das Schema macht also alltägliche Mikrobewegungen als eine systemische Einheit sichtbar. Es visualisiert, was keine Hausfrau jemals bewusst wahrgenommen hat und macht es dadurch Rationalisierungsbemühungen zugänglich. Die Untersuchung ist vom „Hemmens Forskningsinstitut“ vorgenommen worden. Dieses Institut zur Erforschung des Haushaltes ist 1944 in Stockholm gegründet worden und wurde von Frauen der Mittelschicht genutzt, um sich zu professionalisieren und Einfluss in der schwedischen Gesellschaftspolitik zu erlangen. Vordergründig ging es darum, Haushaltsgeräte auf ihre Brauchbarkeit zu prüfen und Methoden zu entwickeln, Frauen die Hausarbeit zu erleichtern.12 Tatsächlich handelte es sich um einen Beitrag zum Aufbau des „Volksheims“, des seit den 1930er Jahren weltweit bewunderten schwedischen Sozialstaates – der als eine Art nichttotalitärer „Volksgemeinschaft“ ausgestaltet werden sollte.13 Voraussetzung dafür waren Menschen, die ihr Leben auf jeder Ebene zu rationalisieren verstanden; die Publikation, der die Abbildung entnommen ist, richtete sich an Haushaltsexpertinnen und interessierte Laien, um sie in der Rationalisierung ihrer selbst zu schulen.14 Die zweite Abbildung stammt aus einem ähnlichen Kontext, aus einem einflussreichen Haushaltslehrbuch der Amerikanerin Christine Frederick.15 Es entstand 1913, 12 Dazu B. Lövgren, Hemarbete som politik. Diskussioner om hemarbete, Sverige 1930–40-talen, och tillkomsten av Hemmens Forskningsinstitut, Stockholm 1993; B. Åkerman u.a., Kunskap för vår vardag. Utbildning och forskning för hemmen, Stockholm 1984; dies., Den okända vardagen. Om arbetet i hemmet, Stockholm 1983 (in beiden Büchern untersuchen die Protagonistinnen von einst auf anregende Weise ihre eigene Geschichte); B. Berner, Sakernas tillstånd. Kön, klass, teknisk expertis, Stockholm 1996, 223–309, bes. das Schema 298–299. 13 Vgl. T. Etzemüller, „Total, aber nicht totalitär: die schwedische ‚Volksgemeinschaft‘“, F. Bajohr/M. Wildt (Hg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 2009, 41–59. 14 Etzemüller, Rationalität, bes. Kap. IV und VI. 15 C. Frederick, The New Housekeeping. Effeciency Studies in Home Management, New York 1913, nach 52. Vgl. auch dies., Household Engineering. Scientific Management in the Home. A Correspondence Course on the Application of the Principles of Efficiency Engineering and Scientific Management to the Everyday Tasks of Housekeeping, Chicago 1919; E. Meyer, Der neue Haushalt. Ein Wegweiser zu wirtschaftlicher Haushaltsführung, Stuttgart 411931 (urspr. 1926); U. Terlinden/S. von Oertzen, Die Wohnungsfrage ist Frauensache! Frauenbe-
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Abb. 2 C. Frederick, The New Housekeeping. Effeciency Studies in Home Management, New York 1913, nach S. 52.
als zwei Entwicklungen sich kreuzten, nämlich der zunehmende Mangel an Dienstpersonal in den Haushalten und die Rationalisierung der industriellen Produktion im Gefolge Taylors und Fords. Diese „Dienstbotenkrise“ betraf – nicht nur in den USA – zunehmend die wohlgestellte Mittelschicht. Ehefrauen mussten Hausarbeit übernehmen, Frauen, die zunehmend berufstätig wurden, eine „Doppelbelastung“ stemmen. Krisensymptome waren unzufriedene Frauen, gefährdete Ehen und, etwas später, sinkende Geburtenraten. Frederick beschrieb das Dilemma, in dem sie und ihre Geschlechtsgenossinnen sich leicht verfingen: Sie wollten einen guten Haushalt führen und ihren Kindern gerecht werden, drehten sich aber mit der Arbeit, die nie zum Ende kam, nur noch im Kreis. Abends fand der Ehemann sie ausgebrannt vor. Frederick bot als Lösung die Übertragung tayloristischer Prinzipien auf den Haushalt an. Der Haushalt musste organisiert, geplant und mechanisiert werden, um ein Maximum an Arbeit mit einem Minimum an Zeit- und Kraftaufwand erledigen zu können. Dazu gehörte die sinnvolle Anordnung der Küchenmöbel und -utensilien. Die Abbildung zeigt in einem seitdem typischen Dualismus eine schlecht und eine vernünftig eingerichtete Küche. In der ersten muss man eine Reihe unnötiger Wege zurücklegen, die Zeit und Energie kosten, die zweite reduziert alle Wege auf zwei einfache Bögen. In der „Frankfurter Küche“ sollte dieses Effizienzdenken zwei Jahrwegung und Wohnreform 1870 bis 1933, Berlin 2006, bes. 61–136; M. Heßler, „Mrs. Modern Woman“. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Haushaltstechnisierung, Frankfurt/M. 2001.
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zehnte später auf die Spitze getrieben werden. Im Unterschied zu den schwedischen Haushaltsexpertinnen, die institutionell und über persönliche Beziehungen eng in die staatliche Gesellschaftsplanung eingebunden waren, inszenierte sich Frederick als Individualistin, die anderen Frauen mit ihren Büchern ein Vorbild und eine Ratgeberin sein wollte. Das Schema ihrer Küche ist als Prinzip jedoch homolog zu den Bewegungen auf der Spülbank. Auch Frederick propagierte die Autorationalisierung, um Heim, Gemeinschaft und Nation zu dienen. Und sowohl die Schwedinnen wie Frederick versprachen ihren Leserinnen durch Professionalisierung Emanzipation und eine „most glorious career“ als „clearing house“ zwischen Gesellschaft und Familie:16 Die Frau kauft vernünftig ein, bereitet ihrer Familie einen psychisch-biologisch optimierten Haushalt und stärkt diese dadurch für die Nation. Abbildung drei entstammt dem Kontext der ersten. Es handelt sich hier jedoch um eine aufwendige Zeitstudie unter dem Titel „Mutter und Kind von Morgens bis Abends“.17 Im Frühjahr 1946 waren 80 Kinder und deren Mütter in 59 Familien auf ihren Tagesablauf hin untersucht worden. Es sollte, wie üblich in diesen Untersuchungen, kein „typischer“ oder „durchschnittlicher“ Tagesablauf ermittelt werden, sondern die Spannbreite realer Tagesabläufe, die je nach Familiengröße, Wohnungstyp usw. beträchtlich variierten. In zehn Farbabbildungen wurde der Alltag exemplarischer Familien präsentiert. Ein Grundriss zeigt genau die Möblierung der Wohnung, Balkendiagramme weisen minutiös aus, wie viel Zeit Mutter und Kind(er) mit welcher Beschäftigung in welchem Raum verbracht haben, ein sehr knapper Begleittext nennt Lage und Modernisierungsgrad der Wohnung, Beruf des Vaters, Alter der Kinder sowie eine eventuelle Erwerbstätigkeit der Mutter. Die hier reproduzierte Abbildung zeigt dagegen drei Bewegungsdiagramme von Müttern in unterschiedlichen Wohnungstypen. Je stärker die Linie, desto häufiger wurde dieser Weg innerhalb der Wohnung während des Tages zurückgelegt. Wie in Abbildung 1 wird also eine Mikrostruktur des Alltags sichtbar gemacht; in diesem Fall wird dabei auf die Umweltbedingungen der Kinder geschlossen. Schnitt und Einrichtung der Wohnung, Arbeitsbelastung der Mutter und Fürsorge für die Kinder korrespondieren einander. Damit ist das Bewegungsdiagramm eingeschrieben in den Kontext einer Architekturströmung, die in Deutschland häufig als „Bauhaus-Stil“ bezeichnet wird, genereller aber „Funktionalismus“ genannt werden sollte. Es ging um die Planung und den Bau kleiner, aber sozialhygienisch optimierter Wohnungen, mit denen die verheerenden Lebensbedingungen vieler Menschen in den Städten bekämpft werden sollten. Funktionale Differenzierung der Räume und eine extreme Rationalisierung der Einrichtung sollten die Baukosten reduzieren – zugleich aber die Menschen leh16 Frederick, Housekeeping, 101, 256. 17 C. Boalt/G. Carlsson, „Mor och barn från morgon till kväll. En studie av 80 barns miljö“, HFI-meddelanden 3 (1948/49), 46–122, 93. Die Väter wurden in der Untersuchung nicht berücksichtigt, da sie, so die Begründung, berufstätig waren.
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Abb. 3 C. Boalt / G. Carlsson, „Mor och barn från morgon till kväll. En studie av 80 barns miljö“, HFI-meddelanden 3 (1948/49), S. 46-122, hier S. 93.
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ren, ihr Leben und ihre sozialen Beziehungen zu rationalisieren. Nur wenn die Mutter von Hausarbeit entlastet würde, könne die Familie ohne emotionalen Verschleiß „funktionieren“; das wiederum komme dem Aufwachsen der Kinder zugute, die als Humankapital der Zukunft gehandelt wurden.18 Die vierte Abbildung stammt aus einem Klassiker der Stadtplanung, aus Hans Bernhard Reichows Buch „Organische Stadtbaukunst“ von 1948.19 Schon in der Bildunterschrift klingt ein ganz anderer Ton durch als in den nüchternen schwedischen Untersuchungen oder Fredericks Buch: „Schema einer zellengegliederten Nachbarschaft. Auch hier – wie bei den Laderampen der Blutbahn – eine weitestgetriebene Gliederung und Zerklüftung des ‚Randes‘ der Stadtlandschaft und ihrer Glieder. Auch hier dadurch eine allseitige, maximale Berührung der baulichen und grünen Stadtlandschaft zur Erzielung des größtmöglichen, so heilsamen ‚Stoffwechsels‘ zwischen Mensch und Natur!/Dies [sic] Schema […] ist […] Sinnbild und graphischer Wegweiser. Deshalb sucht es in seiner Art und Form möglichst alle unseren Sinnen irgendwie erfaßbaren Bindungen leicht, eindeutig klar und einprägsam auszudrücken. Und dafür ist – nicht nur in Parallele zum Organischen – die geschwungene Linie vielfältiger ausdrucksfähig als die gerade. Sie zeigt das Sich-Öffnen und Schließen der Räume, die richtung- und wegweisende Ausbildung der Straßen und ihrer Zusammenschnitte, Mündungen und Abzweige, kurz, die Flüssigkeit ihrer Funktion, ja den organischen Grundgedanken des Gesamtsystems sinnfällig und einprägsam.“20 Die exzessive organizistische Metaphorik zieht sich sprachlich wie visuell durch das ganze Buch. Reichow begriff die Stadt als einen „Organismus“, dessen „Organe“ und „Blutbahnen“ – Häuser, Nachbarschaften, Einkaufszentren, Straßen, Fuß- und Fahrradwege – sinnvoll zueinander angeordnet und aufeinander abgestimmt sein mussten, damit der „Stadtkörper“ existieren könne. Die Abbildung zeigt uns eine blattartige Struktur (die auf anderen Abbildungen des Buches noch organischer wirkt), deren Mittelrippe die öffentlichen Einrichtungen der Stadt aufnimmt und sich auf ein Gemeinschaftshaus hin öffnet; direkt an den Seitenrippen sind Mehrfamilienhäuser errichtet, querstehend hinter ihnen Reihenhäuser. Gegen den Blattrand sind Einfamilienhäuser angeordnet. Alle Haustypen sind von großzügigen Grünflächen umgeben. Am Spreitengrund des Blattes ist eine Schnellstraße zu erkennen, die den Fernverkehr an der Stadt vorbeiführt. Dass dieses Blatt historisch aus dem Nationalsozialismus hervorgesprossen ist, haben Werner Durth und Niels Gutschow
18 Dazu ausführlich D. Kuchenbuch, Geordnete Gemeinschaft: Architekten als Sozialingenieure – Deutschland und Schweden im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2010. 19 H.B. Reichow, Organische Stadtbaukunst. Von der Großstadt zur Stadtlandschaft, Braun schweig 1948, 105. 20 Ebd.
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Abb. 4 H.B. Reichow, Organische Stadtbaukunst. Von der Großstadt zur Stadtlandschaft, Braunschweig 1948, S. 105.
detailliert belegt.21 Genealogisch lässt sich sein Ursprung jedoch auf den Gartenstadtgedanken zurückverfolgen und in die Stadtplanungsgeschichte der westlichen Welt seit dem 19. Jahrhundert einordnen.
21 W. Durth: Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 1900–1970, München 1992; ders./N. Gutschow: Träume in Trümmern. Stadtplanung 1940–1950, 2 Bde., Braun schweig, Wiesbaden 1988.
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Abb. 5 W. Christaller, Die zentralen Orte in Süddeutschland. Eine ökonomisch-geographische Untersuchung über die Gesetzmäßigkeit der Verbreitung und Entwicklung der Siedlungen mit städtischen Funktionen, Darmstadt 1968 (urspr. 1933), o. S.
Die letzte Abbildung schließlich stammt aus Walter Christallers „Theorie der zentralen Orte“, 1933 erschienen, 1968 unverändert nachgedruckt.22 Christaller wollte eine innere Gesetzlichkeit sichtbar machen, nämlich die Zentralisierung als grundlegendes Ordnungsprinzip jeder Gemeinschaft. Er zählte aus den Telefonbüchern die Telefonanschlüsse aus, korrigierte Verzerrungen (etwa das höhere Mitteilungsbedürfnis im Rheinland) und gewann eine mathematisch präzise Formel, mit der er die Bedeutung eines Ortes errechnen konnte. So ließen sich die Orte klassifizieren und ein verborgenes Muster erkennen: Jeder L[andeszentral]-Ort (z. B. München) bildet ein System, das aus G[au]-Orten besteht, die von einem Kranz aus B[ezirkshaupt]Orten und K-Orten (Kreisstädten) umgeben sind, diese wiederum eingekreist von A- und M-Orten (Amts- bzw. Marktstädtchen). Die Orte sind hierarchisch abstei22 W. Christaller, Die zentralen Orte in Süddeutschland. Eine ökonomisch-geographische Untersuchung über die Gesetzmäßigkeit der Verbreitung und Entwicklung der Siedlungen mit städtischen Funktionen, Darmstadt 1968 (urspr. 1933).
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gend in Kreisen umeinander angeordnet; jeweils mehrere funktional niederrangige Orte orientieren sich auf einen höherrangigen Ort, insgesamt ergibt sich ein organisches Ganzes optimal aufeinander abgestimmter Teile. „Eine elementare Form der Ordnung von Zusammengehörigem ist in der anorganischen wie in der organischen Natur die Anordnung einer Masse um einen Kern, ein Zentrum: eine zentralistische Anordnung. Diese Anordnung ist nicht etwa nur eine menschliche Denkform, nur existierend in der menschlichen Vorstellungswelt und nur entstanden aus dem Bedürfnis des Menschen zu ordnen, sondern sie ist real existent aus inneren Gesetzlichkeiten der Materie heraus.“23 Die unterschiedlichen Entstehungskontexte und Intentionen der Abbildungen stechen sofort ins Auge, aber auch die verschiedenen Professionen ihrer Urheber: Haus- und berufstätige Frauen, Architekten und Raumplaner. Was diese Abbildungen auf den ersten Blick eint, ist die Überzeugung, dass real existierende, dem ungeschulten Auge aber nicht sichtbare Strukturen visualisiert werden können, wenn man empirische Daten erhebt und die Ergebnisse in abstrahierte Schemata überführt. Noch deutlicher werden die Gemeinsamkeiten, wenn man diese Abbildungen in ein narratives Muster einbettet, wie man es beispielsweise exemplarisch in einem Klassiker der Stadtgeschichtsschreibung findet, in Lewis Mumfords „The Culture of Cities“.24 Dieses Buch repräsentiert prägnant und paradigmatisch die Weltsicht des social engineering, als ideelle Grundlage der praktischen Arbeit. Mumford entwarf ein dreigliedriges historisches Schema, das sich in unzähligen anderen Texten auch findet, etwa beim Architekten Reichow, dem Soziologen Hans Freyer oder dem Kunsthistoriker Sigfried Giedion,25 um nur wenige prominente Beispiele zu nennen. Eine heile Welt löst sich auf und wird wieder errungen. Für Mumford stellten die mittelalterlichen Städte eine Art „gesunden“ Organismus dar. Sie wucherten noch nicht amorph über ihre Mauern ins Umland hinaus, sie waren harmonisch durch ihre unterschiedlichen Stadtviertel gegliedert, die Herrschaftsordnung war vergleichsweise demokratisch; Planung war eine Sache der Gemeinschaft. Danach, so Mumford, ging die Balance verloren. Das Herrschaftssystem des Absolutismus erforderte zentralisierende Hauptstädte. Despotismus, uniforme Gesetze und die mechanische Arbeit von Bürokraten prägten die Ordnung. Festungswerke zwängten die Stadtpläne in ihr Korsett, Spekulanten der West Ends wurden durch die Slums der East Ends reich, Buchwissen und Papier ersetzen praktische Kenntnisse – selbst die Kriege wurden nunmehr in Akademien geplant –, und der Barock überwucherte Häuser und Gegenstände mit
23 Ebd., 21. Christaller weist zahllose Abweichungen von seinem Schema akribisch aus, deklariert sie aber zu Ausnahmen. 24 L. Mumford, The Culture of Cities, London 1946 (urspr. 1938). 25 H. Freyer, Revolution von Rechts, Jena 1931; S. Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte, Frankfurt/M. 1982 (urspr. 1948).
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Ornamenten und erstarrte zu einem formalistischen, „corps-like classicism“.26 Erste Verbindungen zum 20. Jahrhundert deuteten sich für Mumford an: Die Rituale der frühneuzeitlichen Prinzen ähnelten der Arbeit am Ford-Fließband, und ein sichtlich schockierter Daniel Defoe soll von wohlgestellten Frauen berichtet haben, die sich einen ganzen Nachmittag lang damit zerstreuten, durch die Geschäfte zu ziehen, ohne auch nur die Intention zu haben, etwas kaufen zu wollen! In der Industrialisierung, so Mumford, gingen Form und Balance endgültig verloren. Voraussetzung für die kapitalistische Wirtschaftsordnung war das atomisierte Individuum, gewissermaßen die demokratische Form des despotischen Prinzen: Fortan musste jeder sein eigener Despot sein, um seine Rechte und Freiheit verteidigen zu können. Die Nicht-Städte zeichneten sich durch Nicht-Planung, einfallslose Blockrandbebauung, standardisierte Slums und die Evolution zum Super-Slum aus. „Coketown, alias Smokeover, alias Mechanicsville, alias Manchester, Leeds, Birmingham, Merseburg, Essen, Elberfeld, Lille, Roubaix, Newark, Pittsburgh, or Youngstown […]: no zoning, no open spaces except the railroad yards […] or the main streets, […] no parks, no gardens, no playgrounds.“27 „A hell of depression and misery and hopeless degradition.“28 Dann steigerte Mumford seine ohnehin schon grandios kulturpessimistische Geschichte der Stadt noch einmal furios, indem er im Anschluss an Patrick Geddes ein Sechsstufen-Schema entwarf. Am Beginn habe die Eopolis gestanden, die integrierte Dorfgemeinschaft. Über die Polis habe sie sich zur Metro polis entwickelt – der spezialisierten Großstadt –, dann zur verfallenden Megalopolis. Es folgen die Tyrannopolis und schließlich die Nekropolis, die in vollständiger Auflösung begriffen ist; selbst weit entfernte Orte sind von ihr infiziert und verrotten ebenfalls. Mumford berief sich ausdrücklich auf Oswald Spengler, von daher überrascht die Art seiner Beschreibung nicht. Doch schlug er mit einem einzigen Satz eine raffinierte Volte: „But one must not, like a Spengler or a Sorokin, make the mistake of identifying the logical stages of a process, as discovered and systematized by intellectual analysis, with the living reality.“29 Während Spengler in den Abgrund rauscht, tritt Mumford zur Seite und beobachtet: „Mutations arise in human communities from unexpected sources: the social heritage makes society much less of a unity than we are compelled to conceive it, by the nature of language, when we interrupt the complex stream of actual life in order to take account of it in thought. Out of these mutations, a new social dominant may arrive: veritably a saving remnant.“30 Das ist der Bruchpunkt in Mumfords Buch. Er wollte aus einer vermeintlich linearen Entwick26 Mumford, Culture, 131. 27 Ebd., 196. 28 Ebd., 197. 29 Ebd., 292 (Hervorh. im Orig.). 30 Ebd., 293.
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lung zurücktreten, sie beobachten, dann unterbrechen und dadurch verändern. Erst jetzt macht die Dreiteilung seines historischen Schemas Sinn. Mumford skizzierte, wie sich eine positiv gewendete Zukunft in der Gegenwart in Umrissen bereits andeutete und wie sie systematisch ausgestaltet werden konnte. Die Städte dürften nicht weiterhin unkontrolliert wuchern, sondern das Habitat der Menschen müsse geplant werden. Er stellte sich eine „biotechnische“ Gesellschaft vor, deren zentrales Prinzip der Gärtnerkunst, den „biotechnics of gardening“,31 entnommen war: „[A] society whose productive system and consumptive demands will be directed toward the maximum possible nurture, under ever more adequate material conditions, of the human group, and the maximum possible culture of the human personality.“32 In dieser Gesellschaft würde die Balance gehalten zwischen den Interessen der Gruppe und denen der Individuen. Diese Balance sah Mumford als dynamisch an. Sie stellte sich nicht von alleine ein, sie musste deshalb immer neu austariert werden. Dazu mussten die Menschen durch Experten gelehrt werden, einen Mittelweg zwischen bedingungsloser Freiheit und Tyrannei zu finden, indem sie durch eine permanente Evaluation und Durchstrukturierung des eigenen Lebens eine rationale Selbstdisziplin entwickelten, die sie gemeinschaftskompatibel machte. Architekten und Raumplanern oblag es, den Raum zu gestalten. Überschaubare Gruppen von Menschen sollten in geografisch begrenzten, funktional differenzierten Nachbarschaften wohnen. Die Strukturierung des Raums und des Lebens der Menschen korrespondierten für Mumford einander. Die Freiheit der Menschen war einzuschränken, und die Menschen sollten sich selbst beschränken, um eine Ordnung zu schaffen, die sie vom repressiven Habitat der industriellen Gegenwart befreien und ihnen in der Gemeinschaft überhaupt erst eine individuelle Entwicklung ermöglichen würde. Das ist der zentrale Gedanke im social engineering, und deshalb erfüllte Mumfords Geschichte der Stadt mehrere wichtige Funktionen. Einmal machte sie durch ihr Schema den Bruchpunkt sichtbar, an dem Innehalten und Umkehr erfolgen sollten. Das wiederum legitimierte den Imperativ des technokratischen Eingriffs in die Geschichte. Wenn die Entwicklung tatsächlich von der Polis bzw. der mittelalterlichen Stadt hin zur Nekropolis zu verlaufen drohte, waren Experten nicht nur ermächtigt, sondern geradezu moralisch verpflichtet, die Entwicklungsrichtung zu ändern. Und zugleich verortete sich Mumford selbst an diesem Punkt – denn der vermeintlich historiografische Blick ist Teil des technokratischen Eingriffs –, indem er überhaupt erst die Diagnose stellte und dann in der Logik dieser Diagnose Lösungsvorschläge systematisierte. Die Beschreibung gab sich als Teil des Beschriebenen aus, um dieses zu ändern. Damit kann Mumfords Text als Blaupause für das social engineering genommen werden. In zahllosen Quellentexten finden wir dasselbe Denkmodell, nämlich den Versuch, durch rationale Planung ein soziales Equilibrium zu schaffen, das 31 Ebd., 415 (Hervorh. im Orig.). 32 Ebd.
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gleichwohl als dynamisch begriffen wurde. Die beiden wichtigsten Ansatzpunkte waren der Raum, der strukturiert, und die Menschen, denen beigebracht werden sollte, durch ihr Verhalten vernünftige Sozialbeziehungen zu generieren und sich dann in diese einzuordnen. Im Mittelpunkt der Anstrengungen standen Residuen aus der vermeintlich noch intakten Vorzeit, die sich dem Niedergang erfolgreich widersetzt hatten, seien es die „remnants“ – im Falle Ulms etwa habe eine starke mittelalterliche Tradition zu starke Verluste bei der Transition in die Moderne verhindert –, vorausschauende Planer im 16. Jahrhundert – die Amsterdams organische Einheit in das Wachstum der folgenden Jahrhunderte eingeschrieben haben sollen – oder moderne Reformansätze, wie die Gartenstadtbewegungen bzw. die neuen bürgerlichen Vororte der Großstädte.33 Diese Residuen sollten den „Kern“ der künftigen Ordnung bilden; dieser Kern war zunächst empirisch zu erfassen, zu bewahren und zu stärken, um eine neue Ordnung aufbauen zu können.
III. Krisenwahrnehmung und Utopien In diese paradigmatische Erzählung lassen sich die fünf Abbildungen einordnen. Sie sind, ungeachtet ihrer Differenzen und der hinter ihnen stehenden Intentionen, alle an jenem Bruchpunkt angeordnet, an dem die entgleisende Geschichte noch in eine positive Zukunft verwandelt werden konnte. Das macht ihre Gemeinsamkeit aus. Sie waren Teil des Versuchs, das Habitat der Menschen grundlegend zu reformieren, indem neue sozialökologische Umwelten oder Soziotope geschaffen wurden, durch die der Moderne erneut organische Ordnungsstrukturen eingezogen werden sollten. „Sozialökologische Umwelt“ bzw. „Soziotop“ bedeutet die systematische Koppelung von gebautem Raum und sozialen Beziehungen. Durch die Reorganisation des Raumes sollte das Sozialverhalten der Menschen geändert werden, das wiederum hätte die Entstehung von Gemeinschaften zur Folge. Dieses Denken war holistisch. Im Grunde gab es keine Trennung zwischen privatem und öffentlichem Leben; jedes einzelne private Leben war politisch, weil es über die Zukunft der Gemeinschaft mitbestimmte, und zwar in der Wohnung, am Arbeitsplatz oder durch die Bewegung im Raum. In einem Soziotop waren der Raum und das dynamische menschliche Leben optimal aneinander angepasst. Der Raum durfte Dynamik – etwa die mehrfach sich ändernde Größe einer Familie oder das Wachstum einer Stadt – nicht durch uniforme Lösungen strangulieren. Er musste sich dem Sozialverhalten der Menschen anpassen – dieses zugleich aber regulieren, indem er die Möglichkeit zu „irrationalem“ oder „ineffektivem“ Verhalten beschnitt. Entscheidend war, dass der Raum kein Diktat ausübte, sondern die Menschen lehrte, sich „vernünftig“ zu verhalten. Das hieß zugleich, dass die Menschen sich dem Raum anpassten, und zwar Kraft innerer Ein33 Mumford, Cities, pass.
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sicht in die eigene Situation. Eine Einzimmerwohnung für eine vierköpfige Familie bedeutete eine repressive Situation, die zu emotionalen Verschleiß und letztlich zu einer „Infektion“ des „Volkskörpers“ führte. Umgekehrt musste ein kinderloses Ehepaar einsehen, dass eine Vierzimmerwohnung reine Ressourcenvergeudung bedeutete, weil sie teuer zu bauen und aufwendig zu pflegen war. Mumfords Krisenbeschreibung war gut fundiert durch Untersuchungen, die seit dem frühen 19. Jahrhundert den sich zersetzenden Raum der Industriestädte in den Blick nahmen. Experten, die sich später in der Stadtsoziologie professionalisierten, begannen regelrechte Expeditionen in die sich rasant ausweitenden „dunklen Kontinente“ der Städte, um akribisch eine Geografie von Armut, Kriminalität, Unmoral, Krankheit und mangelnder Hygiene zu beschreiben. Wichtigstes Instrument dieser Bestandsaufnahme war die Kartierung, die neben der Anatomie der Stadt (Straßen, Plätze, Häuser) auch deren Physiologie erfassen sollte, d. h. die Verteilung von Sozialgruppen, sozialen Praktiken, biologischen Entwicklungen, medizinischen, hygienischen und anderen Charakteristika, sozialen Bewegungslinien und Ansteckungsherden.34 So entstand Stadt um Stadt eine immer umfangreichere Schadenskartierung, eine präzise Erfassung aller die Gemeinschaft zersetzenden Faktoren. Durch diese Studien schien die alte Stadtkritik nur bestätigt, die in den Städten durchweg „Vereinzelung“, „Uniformität“, „Bürokratisierung“, „Spekulanten“, „Oberflächlichkeit“, „Asozialität“ und Kriminalität ausgemacht und das Bild eines Organismus, der von Metastasen durchzogen schien, evoziert hatte.35 Im Nationalsozialismus führten diese apokalyptischen Beschreibungen zur Propagierung rücksichtsloser Sanierungsprogramme.36 Grundsätzlich wurde die Stadt jedoch vielschichtiger behandelt und als paradigmatischer Raum der Moderne wahrgenommen. In ihr häuften sich zwar die Schäden – „maladjustment“ und „urban pathology“ sind häufige Begriffe der amerikanischen Soziologie –,37 diese konnten aber geradezu unter Laborbedingungen untersucht werden. Und je genauer die Kartierungen ausfielen, desto stärker erschienen
34 Vgl. R. Lindner, Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung, Frankfurt/M., New York 2004; T. Hengartner, Forschungsfeld Stadt. Zur Geschichte der volkskundlichen Erforschung städtischer Lebensformen, Berlin/Hamburg 1999. 35 Vgl. z. B. den immer wieder zitierten Klassiker der Stadtkritik: W. H. Riehl, Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik. Erster Band: Land und Leute, Stuttgart/Berlin 1925 (urspr. 1854), 89–132. 36 Vgl. A. Walther, Neue Wege zur Großstadtsanierung, Stuttgart 1936; W. Hellpach, Mensch und Volk der Großstadt, Stuttgart 1939. 37 Vgl. beispielsweise M.R. Davie, Problems of City Life. A Study in Urban Sociology, New York/London 1932; E. E. Bergel, Urban Sociology, New York/Toronto/London 1955; W. I. Thomas, The Unadjusted Girl. With Cases and Standpoint for Behavior Analysis, Boston 1923.
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vielen Soziologen die „Desintegrationsprozesse“ lediglich als ein Übergangsphänomen, als Teil eines allgemeinen Strukturwandels.38 Ebenfalls eine solide Grundlage hatten Mumfords utopische Vorstellungen, etwa in den politischen Utopien eines Thomas Morus oder Tommaso Campanella, die ihre Gegengesellschaften explizit in genau durchdachten Siedlungen situierten, oder später in den realisierten Mustergesellschaften Robert Owens bzw. Charles Fouriers.39 Spätestens mit der Gartenstadtidee setzte sich die Überzeugung durch, dass man die durch Großstädte zersetzte menschliche Gemeinschaft in kleinen communities neu schaffen könne, wenn man nur die Natur mit ihrer organischen, zellulären Struktur zum Vorbild nehme, um amorphe Menschenmassen im zu Zellen gegliederten Raum anzuordnen und zu strukturieren.40 In kleinen Kommunen ließ sich exemplarisch untersuchen, wie eine überschaubare Gemeinschaft funktionierte,41 und Unternehmer wie Tomas Bata, Adriano Olivetti oder Walt Disney planten oder verwirklichten holistische Projekte der Lebensführung;42 im Falle Disneys als „Experimental Prototype Community of Tomorrow“, einer voll klimatisierten, verkehrsgerechten Stadt, die nie erstarren, sondern sich durch aktive Mitwirkung ihrer Bewohner immer an den neuesten Stand der Technik, der Erziehungsmethoden usw. anpassen sollte, im Falle Batas als tatsächlich realisierte Fabrikstadt, in der Privatleben und Arbeit fordis-
38 Vgl. K. Gasser, Stadt und Delinquenz. Theoretische und Empirische Beiträge der Chicago School of Sociology 1920–1937, Bern 2002. Ein Beispiel für Deutschland sind die Studien der Dortmunder Sozialforschungsstelle, z.B. H. Croon/K. Utermann, Zeche und Gemeinde. Untersuchungen über den Strukturwandel einer Zechengemeinde im nördlichen Ruhrgebiet, Tübingen 1958; R. Mackensen et al. (Bearb.), Daseinsformen der Großstadt. Typische Formen sozialer Existenz in Stadtmitte, Vorstadt und Gürtel der industriellen Großstadt, Tübingen 1959. 39 Dazu R. Saage, Utopische Profile, 4 Bde., Münster 2001–2004. Vgl. auch G. de Bruyn, Diktatur. 40 Vgl. E. Howard, Gartenstädte von morgen. Das Buch und seine Geschichte, Berlin, Frank furt/M./Wien 1968 (urspr. 1898); Resettlement Administration, Greenbelt Towns, o.O., o. J. (1936); P. Abercrombie, Town and Country Planning, London 1933; F. J. Osborn/A. Whittick, The New Towns. The Answer to Megalopolis, London 1963; Reichow, Stadtbaukunst; J. Göderitz/R. Rainer/H. Hoffmann, Die gegliederte und aufgelockerte Stadt, Tübingen 1957. 41 R. S. Lynd/H. M. Lynd, Middletown. A Study in Contemporary American Culture, New York u.a. 1929; D. Regeling, De stad der tegenstellingen. Een sociografie van Wageningen, Wageningen 1933; M. S. Allwood/I.-B. Ranemark, Medelby. En sociologisk studie, Stockholm 1943; Croon/Utermann, Zeche; H. Gans, Die Levittowner. Soziographie einer Schlafstadt, Gütersloh, Berlin 1969 (urspr. 1967). 42 Vgl. A. Olivetti, Society, State, Community, Mailand 1954; T. Bata, Wort und Tat, Zlin 1936; sowie den „Florida Film“, in dem Disney 1966 sein „Waltopia“ vorstellte (URL: [Zugriff: 10.10.2008]).
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tisch optimiert aufeinander bezogen waren.43 In diesen Planungen gibt es eine Reihe von Unterschieden. Ebenezer Howard wollte die bestehenden Großstädte durch eine kreisförmige Geometrie streng kreisförmiger Gartenstädte vollständig ersetzen; die amerikanischen Greenbelt Towns oder Reichows Sennestadt sollten „organisch“ in die Landschaft eingepasst werden und Alternativen zu den bestehenden Städten bilden; kranzförmig um die Großstädte angelegte Satellitenvororte sollten die bestehenden Städte dagegen vom Bevölkerungsdruck entlasten. Einige Planer sahen durch Bombenkrieg (Hamburg, Rotterdam), Abriss (Stockholm, Paris) oder Wildnis (Brasilia, Sennestadt) die Chance zu einer tabula rasa: „We think the need is for starting from scratch on virgin land and building a special kind of community“, formulierte es stellvertretend Walt Disney,44 und vor allem Le Corbusier hätte gerne eine Reihe wunderschöner europäischer Städte weitgehend verwüstet. Die Mehrzahl der Experten begnügte sich jedoch mit restrukturierenden Eingriffen in das bestehende Habitat. Und die Richtlinien für eine ideale Einwohnerzahl variierten von 30.000 (Howard) bis zu 3 Millionen (Le Corbusier).45 Ungeachtet dieser Differenzen, der Veränderung der Planungsvorstellungen im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts und unterschiedlicher Intentionen,46 ging es immer darum, die kartierten sozialen Verwerfungen der Gegenwart aufzuheben, indem man den gebauten Raum umgestaltete, und das heißt: von der Wohnung über die Stadt bis zur Region neu zonierte, d. h. funktional differenzierte. In den Mietskasernen der Großstädte bestanden Wohnungen oft aus ein bis zwei Räumen, in denen große Familien und eventuell noch Schlafgänger hausten; in diesen Räumen wurde geschlafen, sich gewaschen, gekocht und die Freizeit verbracht. Das stieß Sozialexperten auf, weil sie hygienische, sozialpsychologische und moralische Probleme sahen. Die Wohnungen funktionalistischer Architekten waren oft nur unwesentlich größer als diejenigen in den Mietskasernen der Spekulanten, aber sie nutzten den Raum durch eine raffinierte Planung effektiv aus. 37 bis 47 qm sollten für eine bis zu vierköpfige Familie ausreichen. In solch einer Wohnung konnten das Bad auf 2,9 43 Vgl. zur sozialen Ordnung des Fabrikraumes T. Luks, „Die ‚psychognostische Schwierigkeit der Beobachtung‘. Industriebetriebliches Ordnungsdenken und social engineering in Deutschland und Großbritannien in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts“, Etzemüller, Ordnung, 87–107. 44 Im „Florida Film“ (wie Anm. 42). Der Boden bestehender Städte konnte allerdings nie „jungfräulich“ gemacht werden. 45 Abercrombie, Town, 123. 46 Im nationalsozialistischen Hamburg oder dem Stockholm der Nachkriegszeit sollten „unhygienische“ Stadtviertel durch eine „moderne“ Bebauung ersetzt werden – in Hamburg mit, in Stockholm ohne rassistisch/eugenische Hintergedanken –, im deutschen Wiederaufbau die „autogerechte“ (und luftschutzsichere) Stadt verwirklicht, in Brasilia gleich die brasilianische Mentalität überwunden werden (dazu J. Holston, The Modernist City. An Anthropological Critique of Brasilia, Chicago 1989).
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qm, die Küche auf 6,3 qm, der Flur auf 5,4 qm und das Esszimmer auf 6,4 qm reduziert sein, der Wohnraum blieb dann 18 qm groß. So konnten Bau- und Mietkosten gespart werden, zugleich wurde die Differenzierung des Raumes ermöglicht. Die Aufteilung in Wohnzimmer, Bad, Küche und Schlafzimmer erzwang eine Trennung von Aktivitäten, portionierte den Raum für die Familienmitglieder und errichtete dadurch Barrieren. Schlafzimmer, Küche und Bad sollten aus hygienischen Gründen geschieden werden, die Schlafplätze für die Geschlechter aus moralischen, die Spiel ecken der Kinder aus pädagogischen Gründen, der Arbeitsplatz (d. h. die Küche) vom Wohnzimmer, um die Regeneration der (weiblichen) Arbeitskraft zu fördern.47 Je nach Tageszeit, Aktivität und sogar Lebensabschnitt wurden die Bewohner in der Wohnung unterschiedlich räumlich situiert (es sei denn, sie verließen sie zur Arbeit, Schule, Kinderkrippe oder zum Einkauf ). Das erleichterte gleichzeitig die Planung der Hausarbeit, denn je Raum standen zu einer bestimmten Zeit bestimmte Aufgaben an, die sich in detaillierte Zeitpläne übertragen ließen und dadurch die Arbeit rationalisierten. Entmischung und Planung sollten das Leben räumlich, zeitlich und sozial überschaubarer machen. Dieses Modell wurde von Sozialingenieuren als Angebot formuliert, stellte faktisch aber eine Verpflichtung für die Zielgruppen dar. Die rationalisierte Wohnung konnte nur funktionieren, wenn ihre Bewohner sich selbst disziplinierten und mitwirkten; zugleich erzwang der reduzierte und differenzierte Raum bereits das Verhalten, das die Menschen sich beibringen sollten.48 Auf diese Weise wurde die Wohnung zum Vehikel sozialer Erziehung – aber einer Erziehung, die die Experten als ganz beiläufig und in den Alltag integriert imaginierten: „Wie man die Menschen lehren muss, Tomaten zu essen und die Zahnbürste zu nutzen, so müssen sie auch trainiert werden zu wohnen.“49 Im Zentrum dieser erziehenden Wohnung war die Küche angeordnet. Sie sollte, ähnlich wie die Schiffskombüse oder Speisewagenküche, eine effektive Haushaltsführung ermöglichen, also durch eine optimale Anordnung der Kücheneinrichtung Küchenfläche und Küchenarbeit auf ein minimalistisches Maß reduzieren. Die maximale Reduzierung der Küche setzte eine maximale Durchdringung ihrer Mikrostruktur in Küchenstudien voraus. Das war mehr als reine Technisierung. Technik und Biologie waren gekoppelt. Die Bewegung ging buchstäblich von der Spülbank 47 Zur durch Architektur verfestigten Geschlechterdifferenz vgl. K. Dörhöfer/U. Terlinden, Verortungen. Geschlechterverhältnisse und Raumstrukturen, Basel/Boston/Berlin 1998; S. Frank, Stadtplanung im Geschlechterkampf. Stadt und Geschlecht in der Großstadtentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts, Opladen 2003. 48 Vgl. K. Saarikangas, Model Houses for Model Families. Gender, Ideology and the Modern Dwelling. The Type-Planned Houses of the 1940s in Finland, Helsinki 1993; S. M. Gaskell, Model Housing. From the Great Exhibition to the Festival of Britain, London/New York 1986. 49 So die Schwedin Brita Åkerman, zit. nach Dagens Nyheter, 20.10.1937 (Übers. a. d. Schwed. von mir).
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über die Wohnung nach oben zur Siedlung und zur Region. Die rationalisierte Küchenarbeit entlastete die Ehefrau, ebenso wie die funktional durchgestaltete, kleine Wohnung, die mit wartungsfreien Wandschränken eingerichtet und frei von Nippes, Plüsch und Teppichen sein sollte, die tägliches Putzen erforderten. In diesen Wohnungen sollten Modellfamilien entstehen, deren Mitglieder zum einen nach harten Arbeitstagen Zeit füreinander fanden, weil sie die Hausarbeit nicht auseinanderhielt, die sich zum andern aber durch die Wohnung in ihrem Sozialverhalten differenzieren ließen (Generationen, Geschlechter, Tätigkeiten). Diese Reorganisation sozialer Beziehungen fand außerhalb der Wohnung ihre Fortsetzung.50 Auf allen Ebenen musste sich der Raum den Menschen und deren unterschiedlichen sozialen Situationen geradezu anschmiegen ist. Allerdings sind menschliche Institutionen elastischer als gemauerte Umhüllungen. Deshalb durfte es keine uniforme Gestaltung der materiellen Umwelt geben, sondern es mussten eine Reihe standardisierter Musterlösungen für jeweils unterschiedliche, empirisch ermittelbare soziale Standardsituationen entwickelt werden. Eine Wohnung etwa musste entlang von Lebensstationen wie Ausbildung, Heirat, Familiengründung und Alter größer und dann wieder kleiner werden und verschiedenen Funktionen genügen, außerdem je nach Lebenszyklus in kinder- und dann altenfreundliche Viertel verlegt werden. Weil typische Lebensbahnen, Verhaltensweisen und Funktionen über statistische Verteilungen vorhersagbar schienen, konnten Regionen, Siedlungen und Wohnungen so durchgeplant werden, dass hinreichend funktional angemessener Raum zur Verfügung stand. Wechselten nun die Menschen jeweils gemäß ihrer Lebenssituation flexibel den Raum, konnte der „Bio-Körper“ der Bevölkerung optimal in den technischen Korpus eingepasst werden. Freilich durfte es nicht jeweils nur eine Lösung je Situation geben. Den Menschen musste eine Wahlmöglichkeit zwischen unterschiedlichen Typen – Wohnung, Spülen, Stadtviertel usw. – angeboten werden. Das Entscheidende war, diese Typen in ihrer Vielfalt zu reduzieren und die Menschen zu lehren, nicht zu „träumen“, sondern „realistisch“ zu wählen, d. h. zu erkennen, was die eigene Lebenslage erforderte, und dann aus dem von Experten rational durchgeplanten Angebot vernünftig auszuwählen – und eben auch mehrfach, in die jeweils angemessene Wohnung, umzuziehen. Dasselbe gilt für Funktionen der Gemeinschaft, d. h. die Lokalisierung und Ausgestaltung von Einkaufsgelegenheiten, der Industrie usw. Und deshalb bedeutete Standardisierung eben nicht eine Uniformierung des Lebens – so lautet ein in den Quellen immer wiederkehrendes Argumentationsmuster –, weil stets eine Variation der Typen möglich sei. Gerade das Geschick der Variation bringe den persönlichen Geschmack 50 Zur Raumplanung vgl. A. Leendertz, Ordnung schaffen. Deutsche Raumplanung im 20. Jahrhundert, Göttingen 2008; A. Schlimm, „‚Harmonie zu schaffen, ist Sinn und Zweck‘. Der Verkehrsdiskurs und die räumliche Ordnung des Sozialen“, Etzemüller, Ordnung, 67–86.
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der Menschen zum Ausdruck. Auf diese Weise würde soziale Dynamik nicht in Statik verwandelt, aber kanalisiert, würde Wahlfreiheit geboten, aber die Möglichkeit des sozial schädlichen Protzens mit extravaganten Luxusgütern verhindert.51 Zonierung bedeutet Anordnung von Menschen, die Reduzierung ihrer Bewegungen, also Kontrolle und Stabilität.52 Die Experten planen, die betroffenen Menschen sind Objekte dieser Planung, bekommen aber zugleich die Rolle zugewiesen, sie zu realisieren.53 Privateigentum ist das große Hindernis in dieser Perspektive. Selbst Cafés auf dem Dorf konnten als negative Auswüchse privater Initiative und fehlender Gemeinschaftseinrichtungen erscheinen.54 Statt des individualisierten sollte ein kollektiver Raum entstehen, der von der Küche bis zur Region, nach biografischen Phasen der Menschen55 und dem Rhythmus der Wochentage gegliedert sein sollte, wodurch, unter Rekurs auf vormoderne Zeiten, die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in einer neuen, klassenlosen Gemeinschaft aufgehoben werden würde. Dieser Raum würde portioniert, überschaubar und strukturiert sein. In diesem Raum würden sich die Menschen wohlfühlen, er gäbe ihnen Sicherheit und damit Freiheit. Die radikale Einordnung würde befreien, weil Strukturierung Variationsmöglichkeiten eröffnen würde; ungeregelte Freiheit dagegen machte das Leben strukturlos und deshalb unsicher, das zerstörte Freiheit.
IV. Ambivalenzen der Praxis Es gab teilweise erhebliche Differenzen zwischen den Versuchen, das Habitat zu reorganisieren, wenn man etwa deutsche, schwedische, britische oder amerikanische Ex51 Vgl. J. Curman/H. Zimdahl, „Gruppsamhällen“, T. T. Segerstedt u.a., Inför framtidens demokrati, Stockholm 1944, 123–142: Jede ideale Nachbarschaftssiedlung (gruppsamhälle) umfasst etwa 1000 Bewohner sowie drei Wohnformen (Reihenhaus, Mietshaus, Kollektivhaus) und wird von den Bewohnern selbst verwaltet. Die Individualität der Siedlungen ist gewährleistet, da keine Selbstverwaltung der anderen gleicht. So können sich die Individuen die ihnen genehme Siedlung (und Wohnform) wählen. 52 Vgl. exemplarisch Curman/Zimdahl, „Gruppsamhällen“. 53 C.-F. Ahlberg, „Vad vi vet och behöva veta för att planlägga“, ders. u.a., Bygg bättre samhällen, Stockholm 1943, 42–47, 42: „Ein guter Plan ist ein solcher, der so weit als möglich dazu beiträgt, daß alle nun oder künftig von ihm betroffene Menschen sich im Einklang mit dem Dasein fühlen.“ (Übers. a. d. Schwed. von mir). Ähnlich: E.W. Burgess/H. Blumer (Hg.), The Human Side of Social Planning. Selected Papers from the Proceedings of the American Sociological Society 1935, Chicago o. J. (1935). 54 Vgl. T. Åkesson, „Landsbygdens bostäder“, Bostadsförsörjning och samhällsplanering. Två radioföredrag av Uno Åhrén och Torvald Åkesson, Stockholm 1944, 27–40, 34. 55 L. Mumford, „Planning for the Phases of Life“, The Town Planning Review 20 (1949), 5–16.
Strukturierter Raum — integrierte Gemeinschaft
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perten oder das gewaltige Projekt in Brasilia betrachtet. Außerdem unterschieden sich Unternehmer wie Henry Ford oder Tomas Bata von Architekten oder Sozialexperten. Erstere setzten auf eine teilweise rigide, patriarchalische Kontrolle ihrer Schützlinge (und Bata unterwarf sie genau dem extrem manchesterkapitalistischen Regime, das Mumford verdammt hatte56), letztere auf eine wesentlich liberalere Rahmung von Lebenswegen, zu denen sie in der Regel keine direkte Beziehung hatten. Von den 1930er zu den 50er Jahren verschoben sich außerdem wichtige Koordinaten. Zum einen erfüllten sich technische Visionen nicht. Die Mikroküchen wurden aufgegeben, weil die Arbeitsbedingungen teilweise unerträglich waren, und weil beispielsweise die Objekte aller Planungen, die Menschen, eigensinnig auf Wohnküchen beharrten. Partizipation, Konsum- und Wertewandelsgesellschaft veränderten sowohl das Verhältnis von Experten und Laien wie auch die Möglichkeiten, das Habitat zu gestalten. Die Dynamik der Veränderung entzog sich immer stärker den Kanalisierungsbemühungen. Die radikale Zonierung des gesamten Raums wurde nirgendwo verwirklicht – außer vielleicht in Brasilia, wo sie von den Einwohnern freilich fintenreich unterlaufen wurde.57 Und natürlich waren die Intentionen einzelner Experten nicht notwendig deckungsgleich mit den Zielen des social engineering insgesamt. Insoweit muss man also für die Analyse Akteure über einen Kamm scheren, die sich selbst gar nicht als Sozialingenieure begriffen. Den meisten von ihnen ging es unzweifelhaft zuerst um eine Verbesserung von Lebensbedingungen, nicht um die Gestaltung eines Habitats. Diese musste als Mittel zum Zweck dienen. Im Effekt jedoch vollzogen sie alle das, was Michel Foucault „Normalisierung“ bzw. das Regime der „Sicherheit“ genannt hat.58 Die Sicherheit zielt auf die Bevölkerung insgesamt, indem sie Interventionsfelder bestimmt. Anders als das Prinzip der Souveränität bzw. der Disziplin zieht sie keine Grenzen und dressiert keine Körper, sondern nutzt die Statistik, mit deren Hilfe sie die Verteilungshäufigkeit unterschiedlichster Phänomene erhebt. Das Modell ist das der Normalverteilungskurve samt einer Zone erlaubter Abweichung. Die Sicherheit gewährleistet und kontrolliert freie Zirkulation innerhalb statistischer Zonen. Sie lässt gewähren, ist aber gleichzeitig beständig prognostizierend auf der Suche nach Risiken: Mit welcher Wahrscheinlichkeit wird eine zirkulierende Bewegung künftig den Raum der Normalität verlassen und sich krisenhaft verschärfen, wo muss gezielt interveniert werden, um eine Eska56 Dazu kritisch K. Roth, Das System Bata, Landau 1932. 57 Holston, City. 58 Vgl. M. Foucault, Geschichte der Gouvernementalität. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977–1979, 2 Bde., Frankfurt/M. 2004; ders., In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–76), Frankfurt/M. 2001; ders., Die Anormalen. Vorlesung am Collège de France (1974–1975), Frankfurt/M. 2003. Vgl. auch T. Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg 1997.
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lation zu verhindern? Sie ist eine steuernde Antwort auf die Realität; Ordnung wird geschaffen, indem unzählige differenzierte Normalkurven erhoben und die ungünstigen Verläufe an die günstigen angeglichen werden. Die Norm bemisst sich nicht am Erlass (Souveränität) oder der Effektivität (Disziplin), sondern an der Realität, einem dynamischen, fragilen Gewebe, das immer neu vermessen wird. Die Protagonisten des social engineering waren selten Verfechter spektakulärer und spektakulär scheiternder technischer Großprojekte zur Verbesserung der Menschheit.59 Sie wollten vielmehr die Zukunft gestalten, indem sie den historischen Prozess endlich verfügbar machten, und dieser Zugriff begann tatsächlich durch die millimetergenaue Vermessung der Ereignisse an der Spülbank. Ausgangspunkt war für sie eine reale, ernste Krise der Moderne. Die totale Durchstrukturierung des Habitats musste nicht notwendig der totalen sozialen und politischen Kontrolle durch eine totalitäre Diktatur dienen.60 Sie diente der Normalisierung. Deshalb macht es in dieser Perspektive keinen Sinn, eine „Avantgarde“ von „faschistischen“ Experten zu unterscheiden. Zum einen ist mittlerweile bekannt, wie geschmeidig die Übergänge von Experten aller politischen und weltanschaulichen Couleurs in den Nationalsozialismus und wieder hinaus ausfielen, zum andern übergriff die Sehnsucht nach „Ordnung, Ausgleich, Harmonie“ (A. Leendertz) ohnehin die politischen Lager und Zäsuren. Wie wenig aber Sozialingenieure in der Lage waren, Intentionen und ungewollte Effekte aufeinander zu beziehen, machte die österreichische Architektin und Schöpferin der „Frankfurter Küche“, Margarete Schütte-Lihotzky, in ihren Erinnerungen mustergültig deutlich: „Manche machten uns in Frankfurt den Vorwurf, […] die Problemstellung der ‚Wohnung für das Existenzminimum‘ und die ganze Rationalität des ‚Funktionalismus‘ seien derart auf die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zugeschnitten, dass sie die niedrigen Löhne und die kapitalistische Wirtschaftsordnung nur noch zementieren helfen. Auch in Bezug auf die „Frankfurter Küche“ kam mir diese Theorie zu Ohren, was mich sehr erregte. Die These wäre darauf hinausgelaufen, dass wir, weil wir für die Gleichberechtigung der Frau waren, in den zwanziger Jahren den Frauen, die durch Doppelbelastung vorzeitig alterten und sich der Erziehung ihrer Kinder nicht genügend widmen konnten, durch Arbeitsersparnis das Leben nicht erleichtern durften. […] Es ist grotesk anzunehmen, Einrichtungen für die Arbeitsersparnis im Haushalt der zwanziger Jahre hätten den Weg zur Gleichberechtigung der Frauen verbaut und die damaligen Zustände zementiert.“61 59 Vgl. dazu J. C. Scott, Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven/London 1998. 60 Dazu D. Münk, Die Organisation des Raumes im Nationalsozialismus. Eine soziologische Untersuchung ideologisch fundierter Leitbilder in Architektur, Städtebau und Raumplanung des Dritten Reiches, Bonn 1993. 61 M. Schütte-Lihotzky, Warum ich Architektin wurde, Salzburg 2004, 200–201 (kursiv im Orig.).
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„Alles ist möglich.“ Fordismus – ein visionäres Ordnungsmodell des 20. Jahrhunderts
I. Einleitung Henry Ford war es selbst, der mit dem Satz „Alles ist möglich“ sein 1923 in die deutsche Sprache übersetztes Buch mit dem Titel „Mein Leben und Werk“ beendete.1 Vorher schrieb er: „Stellt eine Ware so gut und billig her, wie es möglich ist, und zahlt so hohe Löhne, daß der Arbeiter das, was er erzeugt, auch selbst zu kaufen vermag, schaltet jede Verschwendung aus und spart vor allem das kostbarste Gut, die Zeit, lasst alle Arbeiten, die eine Maschine verrichten kann, von Maschinen und nicht von Menschen verrichten, da Menschenkraft zu wertvoll ist, erschließt immer neue künstliche Kraftquellen – und ihr müsst prosperieren.“2
In diesem Zitat kommen zentrale Botschaften Fords zum Ausdruck: Rationalisierung, Mechanisierung, erhöhte Löhne und Kampf gegen Verschwendungen. Stets ging es ihm darum, alles Überflüssige zu eliminieren, gleichgültig ob es sich, wie Ford einmal schrieb, um Schuhe, Kleider, Häuser, Maschinen, Eisenbahnen, Dampfschiffe oder Flugzeuge handelte. Allein dadurch erreiche man schon eine Senkung der Herstellungskosten.3 So versuchte Ford die Erzeugung der für die Autoproduktion bedeutsamen Rohmaterialien, wie Erze, Kohle, Gummi und Holz selbst in die Hand zu nehmen, das sich im Umlauf befindliche Material mengenmäßig zu reduzieren4 und durch eine gezielte Abfallverwertung zusätzliche Ersparnisse zu erreichen. Infolge seines vertikal aufgebauten und tief gegliederten Unternehmens sparte Ford zudem Kosten für die Lagerhaltung. Im Zentrum von Fords Bemühen stand indessen der 1 H. Ford, Mein Leben und Werk, Leipzig 1923, 328. Schon 1924 waren allein in Deutschland 200.000 Exemplare verkauft worden. E. Klautke, Unbegrenzte Möglichkeiten. „Amerikanisierung“ in Deutschland und Frankreich (1900–1933), Stuttgart 2003, 191. 2 Zit. nach dem Vorwort von C. Thesing, in: H. Ford, Das große Heute, das große Morgen, Leipzig o.J. [1926], VI–III, VII. 3 Ford, Mein Leben, 16. 4 Dazu siehe H. Weiss, Abbé und Ford. Kapitalistische Utopien, Berlin 1927, 37–41.
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industrialisierte Produktionsablauf. Ford war es, der nach dem Vorbild der Chicagoer Schlachthöfe auf der Basis systematisch erschlossener Konzepte zur Effizienzsteigerung im Jahre 1913 die integrativ angelegte Fließ(band)produktion einführte. Die Herstellung eines Produktes konzipierte er als einen fließenden, maschinengesteuerten Prozess, in den fähige und willige Arbeiter, vielfach europäische Migranten, bei einem Achtstundentag für fünf Dollar Tageslohn eingebunden wurden. Dies führte, aus der Retrospektive gesehen, zu einem nach Ford genannten Produktionsmodell, das auf Massenfabrikation und Massennachfrage beruhte. Ford stellte überdies ein Produkt her, das wie kein anderes das 20. Jahrhundert symbolisieren sollte, das Automobil. Das Ford’sche Automodell T avancierte zum Synonym des Fortschritts,5 den Kurt Tucholsky satirisch als „Fordschritt“ bezeichnete, obwohl Ford bereits um 1930 gar nicht mehr auf dem amerikanischen Automarkt dominierte. Die Ford’schen Denk- und Handlungsschemata wurden schon in den 1920er Jahren als Fordismus bezeichnet. Der Nationalökonom Friedrich von Gottl-Ottlienfeld, der als einer der Ersten diesen Begriff verwandte, verstand darunter eine „idealtypische“ Sichtweise auf Fords Wirken als „Großmeister der Technischen Vernunft“.6 Bekanntlich gab es jedoch noch andere, auf Effizienzsteigerung ausgerichtete „Großmeister der Technischen Vernunft“. Vor allem ist in diesem Zusammenhang an den Ingenieur und Arbeitswissenschaftler Frederick W. Taylor zu denken, der bereits in den 1880er Jahren mit seinen betriebs- und arbeitswissenschaftlichen Studien begonnen hatte.7 In seinem ebenfalls in der ganzen Welt bekannt gewordenen Buch über The Principles of Scientific Management aus dem Jahre 19118 plädierte er erstens für die Trennung von Planung und Arbeitsausführung und zweitens für weitgehend arbeitsteilig zerlegte Aufgaben, die eine optimale Rationalisierung der Bewegungen ermöglichten.9 Zu ihren gemeinsamen Schnittmengen gehört der gleiche Ausgangs5 Tin Lizzy hatte einen 2,9 Liter-Motor, verfügte über 20 Pferdestärke und wog nur 540 Kilogramm. Das Auto fuhr 70 Kilometer in der Stunde, verbrauchte auf 100 Kilometer zehn Liter und kostete 260 Dollar, ungefähr 1.200 Mark. H. Glaser, Das Automobil. Eine Kulturgeschichte in Bildern, München 1986, 30. 6 F. von Gottl-Ottlienfeld, Fordismus. Über Industrie und Technische Vernunft, Jena 31926, Zitat: 6. 7 Ford hat selber nie von Taylor gesprochen, und Taylor nannte niemals den Namen Ford. S. Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte, dt. Übersetzung, Frankfurt 1982, 140. 8 Das Buch wurde in viele Sprachen übersetzt, selbst ins Chinesische, Japanische und Russische und sogar ins Esperanto. R. Kanigel, The One Best Way. Frederick Winslow Taylor and the Enigma of Efficiency, Harmondsworth 1997, 13. 9 Zu nennen sind außerdem Frank und Lilian Gilbreth. Diese zerlegten die Bewegungen mittels Lichtspuraufnahmen noch genauer, als es Taylor getan hatte. In Frankreich war es Charles Bedaux, der in den 1920er Jahren Zeitmessungen mit Messungen der Geschwindigkeit kombinierte und daraus spezielle Messeinheiten entwickelte, ein System, das in
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und Bezugspunkt, der in der Effizienz steigernden Rationalisierung liegt, teils durch Einsatz technisch-organisatorischer Neuerungen, teils durch Erhöhung des Arbeitstempos und durch Intensivierung des Arbeitsprozesses. Taylor wollte wie Ford seine Erkenntnisse auf alle Gebiete des Lebens angewendet sehen.10 Ford und Taylor, aber auch andere Zeitgenossen und Wissenschaftler, übertrugen also den Rationalisierungsbegriff mittels Bildung von Analogien auch auf andere gesellschaftliche Bereiche und schufen so eine zweite Schnittmenge, wofür sich in der Literatur die Begriffe Sozialrationalisierung, Sozialfordismus und social engineering eingebürgert haben. Die dritte Gemeinsamkeit liegt in der politischen und weltanschaulichen Polyvalenz von Fordismus und Taylorismus. Soweit es sich ‚lediglich‘ um Effizienzsteigerungen handelte, ließen sich deren Grundsätze nämlich in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen diskutieren und in recht verschiedene Rahmenbedingungen integrieren.11 Viertens ‚entdeckten’ die auf den Fordismus bzw. Taylorismus bezogenen Wissenschaften früher oder später die „Seele des Arbeiters“. Wer von seinen Beschäftigten eine optimale Leistungssteigerung erreichen wolle, so das Credo, müsse die mentalen Befindlichkeiten der Belegschaften berücksichtigen und womöglich pflegen.12 Allerdings sind Taylorismus und Fordismus trotz ihrer Schnittmengen keineswegs deckungsgleiche Begriffe. Während Taylor vorrangig den einzelnen Arbeitsvorgang, wie er vom Individuum getätigt wurde, in den Blick nahm, fasste Ford mehr den gesamten Produktionsprozess auf der Basis tief greifender Arbeitsteilung und weit reichender Mechanisierung ins Auge.13 Was Taylor an Instruktionen auf Karten fixierte, übersetzte Ford auf die Fließfertigung und das Fließband, die dann automatisch und Deutschland nur vereinzelt, dafür um so mehr in Großbritannien rezipiert wurde. P. Erker, „Das Bedaux-System. Neue Aspekte der historischen Rationalisierungsforschung“, Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 41 (1996), 139–158; M. Kipping, „Consultancies, Institutions and the Diffusion of Taylorism in Britain, Germany and France, 1920s to 1950s“, Business History 39 (1997), 67–83, 68, 71. Unter den französischen Rationalisierungsreformern erlangte auch der Ingenieur Henri Fayol (1841–1925), der sich der Rationalisierung der Verwaltungen und des Managements widmete, eine besondere Bedeutung. 10 So verlangte Taylor zum Beispiel auch einen sparsamen Gebrauch von Rohstoffen. F. W. Taylor, Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung, München/Berlin 1922, 10–11 und Vorworte. Gleichwohl lag Taylors Schwerpunkt mehr auf den Mikrostrukturen des Arbeitsprozesses. 11 Siehe dazu die Aufsätze in T. Etzemüller (Hg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009. 12 Als frühe Vertreterin eines Human-Relations-Ansatzes kann die schon erwähnte tayloristisch geprägte Ingenieurin Lilian Evelyn Gilbreth gelten. T. Siegel, „Das ist nur rational. Ein Essay zur Logik der sozialen Rationalisierung“, D. Reese et al., Rationale Beziehungen? Geschlechterverhältnisse im Rationalisierungsprozeß, Frankfurt 1993, 363–396, 366–367. 13 So beispielsweise der schon erwähnte Nationalökonom Gottl-Ottlienfeld. Ders., Fordismus, 58.
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‚stumm’ dem Arbeiter zu verstehen gaben, was, wie in welcher Zeiteinheit zu tun sei.14 Ford galt vielfach als derjenige, der am wirksamsten die Taylor’schen Prinzipien umzusetzen und in die Öffentlichkeit zu transportieren verstand, weswegen er es war, der die Überlegenheit der amerikanischen Wirtschaft im Maschinenzeitalter symbolisierte.15 Obwohl Fordismus und Taylorismus demnach keineswegs als deckungsgleiche Konzepte anzusehen sind, spricht vieles dafür, beide als Komplementärentwürfe mit gleichläufigen Zielsetzungen zu begreifen, wie dies auch vielfach in den zeitgenössischen Diskussionen üblich war und in der neueren Literatur gängige Praxis ist.16 Im Folgenden werden unter Berücksichtigung europäischer Perspektiven in gebotener Kürze verschiedene Seiten des Fordismus ansatzweise herausgearbeitet. Zuvörderst fällt der Blick auf den Produktionssektor und die Volkswirtschaft, flankiert von Streiflichtern über die fordistisch geprägten Leitbilder in Bezug auf Städtebau, Wohnen, Familie und Geschlechterordnung sowie auf Freizeit, Sport und Kunst.
II. Unternehmensbezogene Diskussionen und Praktiken in der Zwischenkriegszeit Die Ford’schen und Taylor’schen Konzepte wurden nach ihrem transatlantischen Transfer in vielen diversen Ländern ausgiebig diskutiert und in eigenwilliger ‚Übersetzungsarbeit’ in die jeweiligen kulturellen, politischen und ökonomischen Kontexte eingepasst.17 In Russland, wo Fords Buch My Life and Work wie in vielen anderen Ländern ebenfalls schon in den 1920er Jahren sehr bekannt wurde,18 erfolgten mit Hilfe amerikanischer Ingenieure partielle Umsetzungen der neuen Techniksysteme. Zum 14 Giedion, Die Herrschaft, 140. 15 Klautke, Unbegrenzte Möglichkeiten, 217–218. 16 Zur Einführung in die gesellschaftliche Problematik des Fordismus/Taylorismus aus soziologischer Sicht sei hingewiesen auf B. Aulenbacher/T. Siegel (Hg.), Diese Welt wird völlig anders sein. Denkmuster der Rationalisierung, Pfaffenweiler 1995. 17 Zum Begriff der Übersetzung siehe D. Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006, 238–283; Klautke, Unbegrenzte Möglichkeiten, 237. Die Transnationalität des Fordismus und Taylorismus lässt sich allein schon daran aufzeigen, dass in den 1920er Jahren vier internationale Rationalisierungskonferenzen in Paris stattfanden. Hinrichs/Kolboom, „Industrielle Rationalisierung“, 401. 18 Hierzu und zum Folgenden J. Scherer, „’Einholen und überholen’. Amerikanische Technologie aus sowjetrussischer Sicht: Die zwanziger und frühen dreißiger Jahre“, M. Aust/D. Schönpflug (Hg.), Vom Gegner lernen. Feindschaften und Kulturtransfers im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M./New York 2007, 179–208, 186, 191–197, 200,
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großen Importschlager und Kultsymbol avancierte zeitweise der Fordson Traktor, welcher der Mechanisierung der Landwirtschaft diente. Schwieriger war es, in den neuen Betrieben das Fließbandsystem einzusetzen, weil die Leistungsfähigkeit und –bereitschaft der vom Land in die Fabriken strömenden Arbeiter dafür nicht ausreichte. Unter der Ägide von Alexei Gastev, der das Zentrale Institut für Arbeit leitete und der für eine totale Unterordnung des Menschen unter die Maschine plädierte, wurden deshalb besonders große Anstrengungen unternommen, tayloristisch-fordistische Arbeitsformen durch entsprechende Schulungsangebote für Industriearbeiter zu fördern – mit dem Ziel, auf diese Weise einen neuen Menschentypus samt einer neuen Arbeitskultur zu schaffen, wobei die Automobilindustrie als Vorreiter-Branche fungierte. In den westlichen Industrieländern gab es vereinzelt bereits moderne Rationalisierungsansätze in der Vorkriegszeit, etwa in der Elektroindustrie. Der Erste Weltkrieg mit seinen militärischen und kriegswirtschaftlichen Anforderungen wirkte dann stark stimulierend auf die Rationalisierungsbestrebungen vor allem in der französischen und deutschen Wirtschaft. In der Zwischenkriegszeit erreichten die Diskurse über Fordismus und Taylorismus schließlich in den einzelnen europäischen Ländern, vor allem aber im Deutschland der 1920er Jahre, ihren Höhepunkt.19 Ungeachtet der Streiks in den französischen Automobilfabriken der Jahre 1912 und 1913, die sich gegen die Einführung des Taylorsystems richteten,20 verzichteten die französischen Sozialisten samt der Gewerkschaft CGT nach dem Ersten Weltkrieg – im Unterschied zu den Kommunisten diesseits und jenseits des Rheins – auf eine generelle Gegnerschaft zur industriellen Rationalisierung.21 Die deutschen Sozialdemokraten und der reformistisch gesinnte Teil der Gewerkschaften polemisierten zwar gegen die durch die Bandarbeit gesteigerte Arbeitshetze,22 doch zeigten sie sich aufgeschlossen gegenüber den avisierten Möglichkeiten des Fordismus, durch Lohnerhöhungen und Massenkonsum den Klassenkonflikt zu entschärfen.23 Zudem war 204–205; T. P. Hughes, Die Erfindung Amerikas. Der technologische Aufstieg der USA seit 1870, 255–287. 19 Dazu u.a. C. Haußer, Amerikanisierung der Arbeit? Deutsche Wirtschaftsführer und Gewerkschaften im Streit um Ford und Taylor, Stuttgart 2008. Dort findet man die umfangreiche ältere Literatur. 20 G. G. Humphreys, Taylorism in France 1904–1920. The Impact of Scientific Management on Factory Relations and Society, New York/London 1986, 247. 21 Klautke, Unbegrenzte Möglichkeiten, 222. 22 Haußer, Amerikanisierung, 93. Allerdings meldeten sich auch Kommunisten und Sozialisten zu Wort, die den Fordismus/Taylorismus wegen der damit einhergehenden vermehrten Ausbeutung der Arbeiter ablehnten. Klautke, Unbegrenzte Möglichkeiten, 207–208. 23 M. Frese, Betriebspolitik in „Dritten Reich“. Deutsche Arbeitsfront, Unternehmer und Staatsbürokratie in der westdeutschen Großindustrie 1933–1939, Paderborn 1991, 23; Haußer, Amerikanisierung, 95. Gewerkschafter reisten 1926 eigens in die USA, um sich
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unübersehbar, dass das fordistische Produktionssystem keineswegs nur dequalifizierte und repetitive Tätigkeiten beförderte; vielmehr entstanden auch neue, höherwertige Tätigkeitsfelder in Form von Einrichtungs-, Kontroll- und Reparaturarbeiten.24 Der Fordismus führte infolgedessen tendenziell zu einer größeren Spaltung der Belegschaft, so dass eine allgemeine Solidarisierung der Betriebsangehörigen mit den repetitive Tätigkeiten ausführenden (ungelernten) BandarbeiterInnen eher selten erfolgte. Die durch den Maschinentakt eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten der BandarbeiterInnen förderte zudem deren Vereinzelung am Arbeitsplatz, so dass es nicht verwundern konnte, wenn sich Unzufriedenheit und Widerständigkeit meist ‚nur‘ in Form eines Firmenwechsels ausdrückten.25 Liberale, Konservative und Nationalisten sahen ihrerseits im Fordismus und Taylorismus das Potenzial, dem roten Sozialismus einen weißen Sozialismus entgegenzusetzen, wie sich der schon erwähnte Nationalökonom Gottl-Ottlienfeld ausdrückte. Ähnlich wie in Deutschland wurden auch in Frankreich die Ford’schen und Taylor’schen Ideen in diverse politische Konzepte integriert, auch in jene, die von Seiten der Konservativen und Nationalisten vertreten wurden.26 So gründeten der ganz auf den Fordismus setzende Elektro-Industrielle Ernest Mercier und seine Gesinnungsfreunde 1925/26 das konservativ-autoritäre Redressement Français, das einen entsprechenden gesellschaftlichen und politischen Wandel anstrebte und sogar zeitweise mit der rechtsextremistischen Organisation Croix de Feu zusammenarbeitete.27 Die Umsetzung fordistischer Konzepte stieß vor allem in der Automobilindustrie auf offene Türen. André Citroën, der als der französische Ford galt, begann schon
vom Fordschen Betriebssystem beeindrucken zu lassen. ADGB (Hg.), Amerikareise deutscher Gewerkschaftsführer, Berlin 1926. 24 Näheres in R. Hachtmann/A. von Saldern „‚Gesellschaft am Fließband’. Fordistische Produktion und Herrschaftspraxis in Deutschland“, Zeithistorische Forschungen 6 (2009), H. 2, 186–208. Viele Inhaber solcher Arbeitsplätze erhielten dann in der „fordistischen Phase“ nach 1945 den Angestelltenstatus. B. Lutz, „Integration durch Aufstieg. Überlegungen zur Verbürgerlichung der deutschen Facharbeiter in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg“, M. Hettling/B. Ulrich (Hg.), Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005, 284–309, 307. 25 Allerdings kam es im Verlauf der „fordistischen Phase“ nach dem Zweiten Weltkrieg in diversen europäischen Ländern, vor allem in Frankreich und Italien, zu wilden Streiks, in denen die oft von MigrantInnen ausgeführte Bandarbeit durchaus eine Rolle spielte. P. Birke, Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt/M./New York 2007. 26 Klautke, Unbegrenzte Möglichkeiten, z.B. 226. 27 K.-J. Müller, „French Fascism and Modernization“, Journal of Contemporary History 11 (1978), 75–107, 84–85; R. F. Kuisel, Capitalism and the state in modern France. Renovation and economic management in the twentieth century, Cambridge 1981, 88–89.
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1919 mit der Fließbandfertigung,28 Opel folgte 1924, Fiat ein Jahr später, und auch die führenden britischen Autofirmen, inklusive der Fordfabrik in Dagenham, stellten damals ebenfalls auf Massenproduktion um.29 Die Anhänger des Ford’schen Produktionssystems blieben jedoch unter den Industriellen in allen europäischen Industrie ländern letztlich eine kleine Minderheit.30 Dies gilt insbesondere für Frankreich, denn die französische Wirtschaft war in der Zwischenkriegszeit noch sehr kleinteilig und mittelständisch organisiert sowie protektionistisch eingestellt.31 Deshalb bestand eine größere Offenheit gegenüber Neuerungen in Form von leicht dosierbaren Taylor’schen Rationalisierungsschritten als gegenüber einer umfassenden Produktionsumstellung nach Ford’schem Muster. Ähnliches lässt sich auch für andere Länder, etwa für Großbritannien, Italien, Schweden und der Schweiz sagen.32 Um 1930 rechnete man selbst im Fordismus bejahenden Deutschland nur mit rund 80.000 Fließund Fließbandarbeitsplätzen in der Industrie.33 Bis zur Weltwirtschaftskrise hatten lediglich rund ein Prozent der Industrieunternehmen Fließsysteme eingeführt, vor allem in der Auto- und der Elektroindustrie.34 Im Allgemeinen setzte die Industrie 28 Klautke, Unbegrenzte Möglichkeiten, 216; Paul A. Gagnon, „French Views of the Second American Revolution“, French Historical Studies 2 (1962), 430–449, 439, 442. 29 J.-P. Bardou et al., Die Automobil-Revolution. Analyse eines Industrie-Phänomens, hrsg. von H. Schrader, Gerlingen 1989, 82–87; Zur deutschen Autoindustrie, insb. zur DaimlerBenz AG, siehe M. Stahlmann, Die Erste Revolution in der Autoindustrie. Management und Arbeitspolitik von 1900–1940, Frankfurt/M./New York 1993, 254. 30 Aimée Moutet, „Die Ingenieure und die Rationalisierung in Frankreich vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg“, A. Grelon/H. Stück (Hg.), Ingenieure in Frankreich 1747–1990, Frankfurt 1994, 295–316, 300; Müller, „French Fascism“, 83. 31 Müller, „French Fascism“, 89–90. 32 Auf die länderspezifischen Kontexte und Umsetzungspraktiken kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. P. Fridenson, „Unternehmenspolitik, Rationalisierung und Arbeiterschaft: französische Erfahrungen im internationalen Vergleich, 1900 bis 1929“, N. Horn/J. Kocka (Hg.), Recht und Entwicklung in Großunternehmen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 1979, 428–450, 433, 444–445; M. Fiedler, „Betriebliche Sozialpolitik in der Zwischenkriegszeit. Wege der Interpretation und Probleme der Forschung im deutsch-französischen Vergleich“, Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), 350–375; Kuisel, Capitalism, 86; Gegen Ende der 1920er Jahre wurden in Frankreich auch die deutschen Diskussionen über die Rationalisierung rezipiert – nicht jedoch umgekehrt. Klautke, Unbegrenzte Möglichkeiten, 225, 236–237. 33 R. Hachtmann, „Industriearbeiterschaft und Rationalisierung 1900 bis 1945. Bemerkungen zum Forschungsstand“, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (1996), 211–258, 218. 34 R. Hachtmann, „‚Die Begründer der amerikanischen Technik sind fast lauter schwäbischallemannische Menschen‘: Nazi-Deutschland, der Blick auf die USA und die ‚Amerikanisierung‘ der industriellen Produktionsstrukturen im ‚Dritten Reich‘“, A. Lüdtke/ I. Marßolek/A. von Saldern, Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1996, 37–66, 46.
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jedoch nach wie vor auf Typenvielfalt und flexible Qualitätsproduktion (DQP).35 Stets blieben auch Zweifel bestehen, ob sich der Fordismus im Land der Qualitätsarbeit zu einer Zeit raren und teuren Kapitals und fortbestehender niedriger Massenkaufkraft sowie kleinteiliger Märkte in größerem Ausmaße überhaupt umsetzen ließe.36 Und in der Großen Wirtschaftskrise um 1930, als das fordistische Leitbild USA beträchtlich an Vorbildfunktion verlor, wurden gar mit guten Argumenten die bis dahin erfolgten Rationalisierungsschritte als krisenverschärfende Faktoren angesehen.37 Kennzeichnend für die deutsche Entwicklung der 1920er Jahre war daher weniger die Umstellung auf Fließ(band)arbeit, sondern mehr die „Fordisierung“ der Belegschaft. Sozialfordisten sahen nämlich den Menschen als das größte Hemmnis beim Aufbau eines störungsfreien Produktionsflusses an.38 Es dauerte deshalb auch nicht lange, bis Verknüpfungen mit der experimentellen Psychologie zustande kamen und Tests entwickelt wurden, um leichter Menschen für die neuen Arbeitsplätze zu finden.39 Ziel solcher Prüfungen, die seit den 1920er Jahren vor allem in Schweden und Deutschland in Mode kamen, war es, ein optimiertes Zusammenspiel zwischen Mensch und Maschine zu erreichen, wobei der Mensch zunehmend auch als eine Art Maschine begriffen wurde. Frauen galten für Fließbandarbeit als besonders geeignet und wurden deshalb vermehrt, selbst und gerade in der NS-Zeit, in den fordistisch strukturierten Produktionsprozess eingespannt.40 Dies entsprach eigentlich nicht dem NS-Leitbild von häuslich gebundener Frauen- und Mutterschaft und außerhäuslicher 35 W. Abelshauser, „Umbruch und Persistenz: Das deutsche Produktionsregime in historischer Perspektive“, Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 503–523, 520. „Wo bleibt der deutsche Radio-Ford?“, fragte man in der Zeitschrift Arbeiterfunk vom 22. August 1930. Gefordert wurde ein hochstandardisiertes billiges Einheitsgerät analog dem Ford’schen Auto. Doch dieser Forderung wurde bezeichnenderweise erst nach 1933 auf politischen Druck hin in Form des Volksempfängers und später des Deutschen Kleinempfängers nachgekommen. 36 Zu den Kritikern siehe Klautke, Unbegrenzte Möglichkeiten, 210–212. 37 O. Bauer, Kapitalismus und Sozialismus nach dem Weltkrieg, Bd. 1: Rationalisierung – Fehlrationalisierung, Berlin 1931; vgl. auch G. Stollberg, Die Rationalisierungsdebatte 1888–1933. Freie Gewerkschaften zwischen Mitwirkung und Gegenwehr, Frankfurt/M. 1981, 102, 1 04. 38 Hierzu siehe C. Sachse, Siemens, der Nationalsozialismus und die moderne Familie. Eine Untersuchung zur sozialen Rationalisierung in Deutschland im 20. Jahrhundert, Hamburg 1990, 28–29. 39 Hier ist an den deutschen Psychologen, Hugo Münsterberg, der in Harvard lehrte, zu denken. Er gehörte zu jenen, die schon kurz vor dem Ersten Weltkrieg mit Eignungstests experimentiert hatten. Für die 1920er Jahre siehe K. Patzel-Mattern, Ökonomische Effizienz und gesellschaftlicher Ausgleich. Die industrielle Psychotechnik in der Weimarer Republik, Stuttgart 2010. 40 Vgl. auch K. Uhl, „Die Geschlechterordnung der Fabrik. Arbeitswissenschaftliche Entwürfe von Rationalisierung und Humanisierung“, http://www.zeithistorische-forschun-
Fordismus — ein visionäres Ordnungsmodell des 20. Jahrhunderts
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Erwerbsarbeit der Männer und Väter, woraus ersichtlich wird, dass die Geschlechterordnung im NS-System recht widersprüchlichen Tendenzen ausgesetzt war. Im NS-Deutschland gingen zwar die Diskussionen über Rationalisierung und Fordismus zurück, doch seit Mitte der 1930er Jahren breitete sich im Zuge der Rüstungspolitik das Fließ(band)system weiter aus.41 Hitler erwies sich als ein Bewunderer von Ford, zumal dieser nicht nur als Gewerkschaftsgegner, sondern auch als Antisemit bekannt war. Im Streben nach einer „durchrationalisierte(n) ‚Leistungsgemeinschaft‘ “42 wurde das betriebliche Lohn- und Leistungssystem (REFA-Verfahren) im Rahmen des 1924 eingerichteten Reichsausschusses für Arbeitszeitermittlung ebenfalls ‚fordisiert‘43, und die Sozialingenieure der Deutschen Arbeitsfront setzten sich ihrerseits für eine soziale Rationalisierung der Arbeiterschaft auf der Basis der Erkenntnisse der Arbeitswissenschaften und der Betriebspsychologie ein. Dazu gehörte auch, dass sich das Amt Schönheit der Arbeit um eine Verbesserung der Räumlichkeiten kümmerte.44 Durch Aufklärung, nicht zuletzt über Gesundheit und Hygiene, sollten „vernünftige“ Verhaltensweisen der Belegschaft innerhalb und außerhalb des Betriebes erreicht werden, wie am Beispiel der Firma Siemens gezeigt wurde.45 In der Kriegswirtschaft erfuhr die Rationalisierung unter dem Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion, Albert Speer, einen weiteren Entwicklungsschub, ähnlich wie dies auch in Frankreich der Fall war.46 Und als schließlich Fremd- und Zwangsarbeiter in die deutschen Fabriken strömten – für viele Unternehmer zunächst eine Notlösung – galt die Einführung der Fließbandarbeit als ein probates Mittel, die neuen Arbeiter maximal auszubeuten.47 Die mit dem Fordismus verbundenen Hoffnungen auf die Entstehung einer Massenkonsumgesellschaft blieben zwar bekanntlich in der NS-Phase unrealisiert; die Erwartungen konnten aber auf die Zeit nach einem siegreichen Krieg gelenkt werden. Das der Ford’schen Fabrik ähnelnde neue VW-Werk in gen.de/16126041-Material–2–2009