Abendlanddiskurse und Erinnerungsräume Europas im 19. und 20. Jahrhundert [1 ed.] 9783412526146, 9783412526122


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German Pages [295] Year 2022

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Abendlanddiskurse und Erinnerungsräume Europas im 19. und 20. Jahrhundert [1 ed.]
 9783412526146, 9783412526122

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Franziska Metzger / Heinz Sproll (Hg.)

Abendlanddiskurse und Erinnerungsräume Europas im 19. und 20. Jahrhundert

Erinnerungsräume. Geschichte – Literatur – Kunst Herausgegeben von Franziska Metzger und Dimiter Daphinoff Band 4

Franziska Metzger / Heinz Sproll (Hg.)

Abendlanddiskurse und ­Erinnerungsräume Europas im 19. und 20. Jahrhundert

Böhlau Verlag wien köln

Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung durch die Veröffentlichungskommission der Pädagogischen Hochschule Luzern

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande  ; Brill USA Inc., Boston MA, USA  ; Brill Asia Pte Ltd, Singapore  ; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland  ; Brill Österreich GmbH, Wien, ­Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung  : Albert Welti  : Die Entführung der Europa, 1891. Tempera auf Papier über ­Leinwand, 80 × 100 cm. © Sammlung Glarner Kunstverein (Inv. Nr. KHG 1392B). Einbandgestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52614-6

Inhalt

Franziska Metzger / Heinz Sproll

Abendlanddiskurse und Erinnerungsräume Europas. . . . . . . . . . . . . . .   7

1 ABENDLANDKONZEPTE UND -DENKMUSTER IN PHILOSOPHIE, POLITISCHEM DENKEN UND THEOLOGIE Roland Innerhofer

Vom Untergang des Abendlandes zum Verlust der Mitte. Oswald Spenglers und Hans Sedlmayrs antimoderne Meistererzählungen des Okzidents . . . . .  25 Dominik Burkard

„… erschreckt in der Mitte und berufen …“ Frankreich, Deutschland und der katholische Abendlandgedanke bei Hermann Platz . . . . . . . . . . . . .  37 Heinz Sproll

Memoria als ars: Theodor Haeckers „Vergil – Vater des Abendlandes“ (1931). Vom eschatologischen magnus ab integro saeclorum nascitur ordo (Verg ecl. 4,5) zum christlichen geschichtsontologischen Theologumenon als Schlüsselchiffre im Widerstand gegen das NS-Regime . . . . . . . . . . . . . .  79 Paul Oberholzer

Hugo Rahners Abendlandkonzept in seiner erinnerungskulturellen Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  99

2 ERINNERUNGSRÄUME DES ABENDLANDES IN LITERATUR UND KUNST Dimiter Daphinoff

„In all save form alone, how changed“. Byron und das Abendland. . . . . . . . 129 Franziska Metzger

Erinnerungsnarrative des Abendlandes und die Mythisierung von Räumen in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

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Inhalt

3 ABENDLANDDISKURSE IN DER SCHULE Melanie Stempfel

Erinnerungsnarrative des Abendlandes der Basler Mission und deren mediale Vermittlung an Schweizer Schulen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Frank Britsche

Der christlich-europäische Abendlanddiskurs als geschichtsdidaktischer Ansatz für den Geschichtsunterricht in der frühen Bundesrepublik. . . . . . . 207

4 POLITISCHER GEBRAUCH VON GEDÄCHTNISBESTÄNDEN IN ABENDLANDDISKURSEN Jan Nelis

The ‘Memory of Rome’. Identitarian, Racist and Anti-Semitical romanità Discourse in Italy from the Fascist March on Rome until the Aftermath of the leggi razziali . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Armin Owzar

Programm oder Steinbruch? Novalis’ Europa-Rede und der AbendlandTopos im Nachkriegsdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Irène Herrmann

The Sounds of Silence? The Red Cross Movement and the Concept of the ‘Occident’ (1869–1989) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

Herausgeber- und Autorenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

Franziska Metzger / Heinz Sproll

Abendlanddiskurse und Erinnerungsräume Europas Und mögen wir dies nun Untergang des Abendlandes nennen, oder vielmehr Aufgang oder Eingang desselben in eine grössere, universellere Einheit  : Etwas geht unter, und dieses Etwas ist die Einzigkeit und das Einzigkeitsbewusstsein des Abendlandes im Angesicht der Weltgeschichte.1 Woher also soll uns nun das alles von innen her übermächtigende, von innen her unser Völkerleben zur Einheit von Geist und Blut gestaltende Seelentum wieder zuwachsen  – wenn nicht aus unserer eigenen Geschichtstiefe  ? […] Nicht der Orient und nicht Amerika vermögen uns an die Wurzel unserer eigenen Wachstumskraft zurückführen.2 Wenn wir uns in diesem Sinne unserer eigenen Kultur, der Kultur des Abendlandes, zuwenden, so finden wir, dass ihre kulturelle Einheit in noch viel höherem Masse die Schöpfung einer religiösen Tradition ist.3 Jahrhundertelang haben Mittel- und Westeuropa die Geschichte bestimmt. […] Die weisse Menschenrasse schien auf der Welt zu triumphieren. Aber in den zwei blutigen Weltkriegen unseres Jahrhunderts hat Europa an Bedeutung verloren. Aus dem Chaos sind zwei Weltmächte emporgestiegen  : die Vereinigten Staaten und Russland. Das Schicksal unseres Erdteils wird heute nicht mehr unter den europäischen Staaten, sondern zwischen den Kontinenten entschieden. […] Ob wohl der Geist der Vermassung und der Versklavung ganz Europa erobern wird  ? Das Abendland muss sich gewaltig anstrengen, um das zu verhindern. Im geistigen Kampfe gegen die drohende Gefahr kann auch der Kleinstaat Anteil nehmen und Bedeutendes leisten.4

Die Zitate des linken Intellektuellen, Etruskologen und Publizisten Hans Mühle­stein, des katholischen Kulturphilosophen Kurt Gihring sowie aus dem Geschichtslehrmittel Welt- und Schweizergeschichte von Albert Hakios und Walter Rusch  – alle drei Beispiele aus der Schweiz – aus den 1920er, 40er und 50er Jahren bringen Vielschich1 Mühlestein, Die Geburt des Abendlandes (1928), S. 12. 2 Ebd., 210. 3 Ghiring, Abendland und Kultur (1947), S. 105. 4 Hakios/Rutsch, Welt- und Schweizergeschichte (1951), S. 482.

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tigkeit, Variabilität und Verschränkungslagen dessen zum Ausdruck, was sich als Abendlanddiskurs bezeichnen lässt.5 Aus den kurzen Passagen wird sichtbar, dass Abendlanddiskurse als polyvalent einsetzbare, modellier- und adaptierbare Diskurs­ komplexe nicht nur im Schnittfeld verschiedener mehr oder weniger ­miteinander verschränkter Diskursfelder – Nation, Europa, ‚Westen‘ (occident)  ; Fortschritt, Zivi­ lisiertheit, Mission  ; Krise, Erneuerung  – zu finden sind, ja durch diese definiert werden. Die Zitate zeigen auch, dass Abendlanddiskurse ganz wesentlich von vielschichtigen Gedächtnisbeständen geprägt sind und dass Erinnerungsnarrative eine wesentliche Rolle in ihrer Generierung spielen. Dem vorliegenden Band liegt erstens die Ausgangsthese zugrunde, dass Abendlanddiskurse durch den Gebrauch von Gedächtnisbeständen, durch eine Pluralität miteinander verwobener Erinnerungsnarrative konstruiert werden. ­Abendlanddis­kurse kreieren und reproduzieren zugleich Erinnerungsräume. Solche Erinnerungs­räume entstehen zweitens aus sich überlagernden Diskursfeldern, wobei diese ihrerseits durch die Chiffre ‚Abendland‘ konturiert werden, etwa durch auf Antike, Christentum, Humanismus bezogene Narrative. Drittens schreibt die Überlagerung verschiedener Erinnerungsnarrative Abendlanddiskurse fest und stabilisiert sie, macht zugleich jedoch auch deren Wandelbarkeit – diachron wie auch synchron – aus. Diese Thesen basieren zum einen auf einer Konzeptualisierung des Signifikanten ‚Abendland‘ als Metapher. Folgt man Hans Blumenberg, so haben Metaphern gegenüber Begriffen den ‚Vorteil‘, dass in ihren Semantiken Wirklichkeiten poly­ va­lent und multifunktional beschrieben werden.6 Solche Vorstellungen können sich, gerade in ihrer Polyvalenz, als Imaginationen, die zu Narrativen geformt erscheinen, ja als mythisierte Narrative konstituieren. Dies bedeutet epistemologisch, dass geschichtliche Wirklichkeit als Ganzes in ihrer Variabilität, Kontingenz und Konstanz in einem komplexen äquivoken Deutungszusammenhang mit dem sich zu dieser Wirklichkeit in Beziehung setzenden individuellen oder kollektiven Subjekt steht – eine metaphorologische Hermeneutik, die durch das Freilegen auch verschütteter Sinngehalte einen Mehrwert an Erkenntnis zu liefern verspricht.7 Un5 Diskurs wird im Sinne Michel Foucaults – und im Unterschied zu einer Ausformung in Anlehnung an Jürgen Habermas – als Formation historisch vorfindlicher Aussagen verstanden, womit Fragen nach den ‚conditions formelles‘ (Foucault), nach Regelhaftigkeiten, Bedingungen und Kontrollprinzipien der Produktion von Diskursen und deren historischer Situiertheit fokussiert werden. Foucault, L’Archéologie du savoir  ; ders., L’Ordre du discours. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ähnlich im Fokus  : Keller, „Kommunikative Konstruktion und diskursive Konstruktion“  ; ders., „Die komplexe Diskursivität der Visualisierungen“. 6 Siehe Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie. 7 Siehe Koselleck, Begriffsgeschichten  ; ders., Zeitschichten  ; ders., Vergangene Zukunft.

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ter Metaphern verstehen wir dabei Gedächtnisgeschichten, in welchen komplexe Zuschreibungs- und Geltungszusammenhänge in ihren diversen gesellschaftlichen und politischen Machtkonstellationen zum Ausdruck kommen. Erst so kann es gelingen, die Geschichte der Abendland-Metapher in ihrer jeweiligen historischen Bedeutung und normativen Geltung, in ihren Transformationen, ihrer Rekonstituierung, aber auch ihrer Dekonstruktion hinreichend zu verstehen. Essentialistischen Deutungen im Sinne von Identitäts- und Kontinuitätskonstruktionen steht diese Konzeptualisierung grundsätzlich entgegen. Zum anderen basieren die eingangs formulierten Thesen auf einer Konzeption von Gedächtnis als Selektionsraum, die – Jacques Derridas oder Michel Foucaults Archiv-­ Konzepten ähnlich – Konstruktivität, Selektivität und Kommunikation hervor­hebt.8 Gedächtnis verstanden als Selektionsraum ist immer bereits das Resultat von Kon­ struktionsprozessen und damit nie ‚neutral‘ oder ‚gegeben‘. Gedächtnisbestände werden durch verschiedene Modi der Erinnerungskonstruktion und -vermittlung – narrativ, visuell, aber auch etwa rituell – und durch verschiedene Akteurs­felder – von der Wissensproduktion, insbesondere der Geschichtsschreibung, der Philosophie und Theologie und deren Vermittlung hin zu Literatur und Kunst – geprägt und modelliert.9 In dieser Konzeption ist Erinnerung sowohl Gebrauch als auch Beobachtung von Gedächtnis. Ein solcher konstruktivistischer Zugang rückt die Analyse der Dynamiken der Produktion, Vermittlung, Festschreibung und Transformation von Gedächtnisbeständen ebenso wie von deren Kommunikationssituation ins Zen­trum.10 Die sprachliche und visuelle Begründung von Erinnerung wird entsprechend besonders hervorgehoben.11 Dass Gedächtnis eminent durch Sprache geschaffen wird, bildet die Grundlage für die in diesem Band vertretene narrativistische Position, die eine tiefenanalytische Perspektive eröffnet, die die Dekonstruktion von Erzählungen als soziokulturelle Phänomene ermöglicht. Forschungsbeiträge zu Abendlanddiskursen und Imaginationsräumen Europas haben bis anhin kaum eine Verbindung zu Fragestellungen und Zugängen der Memory Studies geschaffen. Abendlanddiskurse sind wesentlich über klassische ideen-,   8 Siehe Derrida, Mal d’Archive  ; Foucault, L’Archéologie du savoir.   9 Siehe dazu Daphinoff und Metzger, „Einleitung“  ; Metzger, „Erinnerungsräume“. 10 Zu ähnlichen, Dynamiken von Gedächtnis fokussierenden Zugängen siehe u. a.: Olick, „From Collective Memory to the Sociology of Mnemonic Practices and Products“  ; Carrier und Kabalek, „Cultural Memory and Transcultural Memory“  ; Feindt et al., „Entangled Memory“  ; Langenbacher, Niven und Wittlinger (Hg.), Dynamics of Memory and Identity  ; Erll, „Media and the Dynamics of Memory“  ; dies., „Travelling Memory“. 11 Siehe hierzu konzeptionell ausführlicher  : Metzger, „Memory of the Sacred Heart“. Grundlegend  : White, Metahistory  ; ders., Tropics of Discourse  ; de Certeau, L’écriture de l’histoire.

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intellektuellen- und politikgeschichtliche Zugänge  – teilweise auch in Verbindung mit religionsgeschichtlichen Fragestellungen – mit Fokus auf Bewegungen, Parteien und Zeitschriften sowie besonders mit Blick auf die Zeit zwischen den Weltkriegen, die 1950er und 60er Jahre sowie auf Deutschland erforscht worden.12 Ausnahmen mit Fokus auf diskurs- und narrativbezogene Zugänge stellen Publikationen zu Oswald Spengler dar.13 Ähnlich wie der Großteil der Forschungen zu Abendlanddiskursen widmen sich auch Publikationen zu Raumvorstellungen, so auch zu Konzeptionen des ‚Westens‘, von ‚Orient‘  – ‚Okzident‘, Grenzkonstruktionen, Fremd- und Feindbildern mit Bezug auf ‚Europa‘ selten der Erinnerungsdimension. Dies gilt auch für Forschungen zum Orientalismus, wenn sie auch häufig Quellenbestände für eine gedächtnisfokussierte Analyse bereithalten.14 Mit einem breiteren Blick auf Vorstellungen Europas haben in den vergangenen Jahren verschiedene Studien europäische Erinnerungsnarrative und Mythen untersucht, mit einer Fokussierung auf Figuren, Orte, Ereignisse, Kunst und Literatur sowie Raumkonstruktion15 oder mit einer solchen auf konfliktive Erinnerungslagen und Erinnerungspolitik, besonders den Holo­ 12 Siehe Schildt, Zwischen Abendland und Amerika  ; Faber, Abendland  ; Pöpping, Abendland  ; Conze, „Facing the Future Backwards“  ; dies., Das Europa der Deutschen  ; Dingel, „Der Abendlandgedanke im konfessionellen Spannungsfeld“  ; Götschel, „Abendland in Bayern“. 13 Siehe Krebs, „Kultur, Musik und der Untergang des Abendlandes“  ; Kittsteiner, „Hegels Eurozentrismus in globaler Perspektive“  ; Merlio, „Die mythenlose Geschichtsmythologie des Oswald Spengler“  ; Merlio und Meyer (Hg.), Spengler ohne Ende. 14 Siehe etwa  : Marchand, German Orientalism in the Age of Empire  ; Polaschegg, Der andere Orientalismus  ; Diederen und Depelchen (Hg.), Orientalismus in Europa  ; Mostafawy und Siebenmorgen (Hg.), Das fremde Abendland  ?  ; Giese et al., Mythos Orient  ; Bäbler und Bätschmann (Hg.), Mit Zirkel und Palette  ; Auf der Suche nach dem Orient  ; Von Ferne lässt grüssen. 15 So besonders  : Den Boer, Duchhardt, Kreis und Schmale (Hg.), Europäische Erinnerungsorte, 3 Bde.; Majerus et al. (Hg.), Dépasser le cadre national des ‚lieux de mémoire‘  : König, Schmidt und Sicking (Hg.), Europas Gedächtnis  ; Engel, Middell und Troebst (Hg.), Erinnerungskulturen in transnationaler Perspektive  ; Ostermann, Müller und Rehberg (Hg.), Der Grenzraum als Erinnerungsort  ; Buchinger, Gantet und Vogel (Hg.), Europäische Erinnerungsräume  ; Faulenbach und Jelich (Hg.), ‚Transformationen‘ der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989  ; Hobuß und Lölke (Hg.), Erinnern verhandeln  ; Bavaj, Riccardo und Steber (Hg.). Germany and ‚The West‘  ; McGetchin, „‚Orient‘ and ‚Occident‘“  ; Popp und Wobring (Hg.), Der europäische Bildersaal  ; Bottici und Challand (Hg.), Myth, Memory, and Identity  ; Bernhard et al. (Hg.), Mythen in deutschsprachigen Geschichtsschulbüchern  ; Barricelli, „‚A new, less tolerant period‘“  ; Biener, Die Kreuzzüge in deutschen Religions- und Geschichtsbüchern. – Mit Fokus auf Mythen  : Vietta und Uerlings (Hg.), Moderne und Mythos  ; Dethuren, „Europe, lieu-fantasme. Le mythe d’Europe dans l’histoire de l’art“  ; Ghervas und Rosset (Hg.), Lieux d’Europe  ; Wodianka, „Moderne Mythen“  ; dies., Zwischen Mythos und Geschichte  ; Cruz und Frijhoff (Hg.), Myth in History  ; Heinen und Sommer (Hg.), Narratology in the Age of Cross-Disciplinary Narrative Research  ; Schmale, „Mythos ‚Europa‘“  ; Oy-Marra, „Der Mythos ‚Europa‘ in der Kunst“  ; Wintle, „Visualizing Europe from 1900 to the 1950s“  ; Krüger und Stillmark (Hg.), Mythos und Kulturtransfer.

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caust, Kriege in der transnationalen Erinnerungskultur und Erinnerungskonflikte nach 198916. Im Zentrum des vorliegenden Bandes steht der variable Gebrauch von Erinnerungsnarrativen des Abendlandes in gesellschaftlichen Diskursen und zugleich das Hineinragen verschiedener Diskurse in Abendlanddiskurse. Mit Blick auf den Gewebe­charakter von Erinnerungsnarrativen des Abendlandes stellen sich folgende Leitfragen  : Welche zentralen Erinnerungsnarrative wurden in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen konstruiert und verwendet  ? Wie zeigt sich der Gewebecharakter dieser Narrative und wie wandelte er sich  ? Welche Überlagerungen mit anderen Diskursfeldern manifestieren sich – mit solchen der Nation, Europas, des ‚Westens‘, mit solchen von ‚Fortschritt‘, ‚Moral‘, ‚Zivilisiertheit‘, mit Konstruktionen des ‚Anderen‘ bis hin zu Feindbildkonstruktionen mit Bezug auf ‚Orient‘, ‚Islam‘, Kommunismus u. a.? Welche Referenzen auf die Bibel, auf antike und ‚moderne‘ philosophische, politische und literarische Texte lassen sich erkennen  ? Auf welchen geschichtsphilosophischen Metanarrativen basieren diese Narrative, implizit oder explizit  ? Was für Zeitkonzeptionen bringen sie zum Ausdruck und modellieren sie zugleich  ? Inwiefern sind diese Metanarrative heilsgeschichtlich, inwiefern kulturalistisch begründet, und welche interpretativen Strukturen prägten sie  : Narrative des Aufstiegs und Fortschritts – linear oder zyklisch – oder des Niedergangs und Verfalls – ebenso linear oder zyklisch  ? Wie werden Vergangenheit und Zukunft miteinander verschränkt  ? Weiter ist die Frage nach der Rolle der Erfahrungsdimension für Erinnerungsnarrative des Abendlandes und nach deren Gebrauch in der Kommunikation wahrgenommener Krisen wichtig.17 Wie überlagerten sich Krisendeutungen und unterschiedliche Erinnerungsnarrative des Abendlandes, solche von Krise wie solche von Stärke und Aufstieg  ? Dabei wirft die Asymmetrie zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont18 die Frage nach möglichem (politischem) Handlungsbezug auf. Wie wurden Zukunftsdiskurse des Abendlandes in und durch die Verschränkung mit Erinnerungsnarrativen geschaffen  ? Dabei ist von der Überschneidung nationaler und europäischer Erwartungsdimensionen auszugehen. Besonders in Verbindung mit 16 So besonders  : Assmann, Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur  ; Radonic und Uhl, „Zwischen Pathosformel und neuen Erinnerungskonkurrenzen“  ; Ebbrecht, Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis  ; Fenn und Kuller (Hg.), Auf dem Weg zur transnationalen Erinnerungskultur  ; Furrer, Kriegsnarrative in Geschichtslehrmitteln  ; Kissel und Liebert (Hg.), Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft. 17 Zu einem konstruktivistischen Zugang auf Krisenvorstellungen  : Mergel, Krisen verstehen  ; Fenske, Hülk und Schuhen (Hg.), Krise als Erzählung  ; Thomasson und Forlenza, Italian Modernities  ; dies., „Liminality and Experience“  ; Metzger, „The Religious Memory of Crisis“. 18 Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 349–375.

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Krisendiskursen lassen sich verschiedene Typen von Erwartungs- und Erneuerungsdiskursen unterscheiden, von solchen einer Erneuerung aus Kontinuität – linear oder zyklisch – bis hin zu solchen eines endgültigen Niedergangs. Erneuerungsnarrative setzen an einer Reihe von Erinnerungsnarrativen an und umfassen häufig Vorstellungen kultureller, moralischer oder religiöser Erneuerung. Die Frage der Ausdrucksform vernetzter Narrative und deren Bedeutung für Abendlanddiskurse ist besonders relevant im Vergleich verschiedener Akteursfelder und von deren Verhältnis zueinander. Verschiedene Akteursfelder der Erinnerungskonstruktion lassen sich mit Blick auf Tiefendimensionen von Narrativen – auf den Gebrauch von Semantiken und Diskursen, deren Mechanismen und Strategien der Darstellung – vergleichen. Dabei ist es von besonderem Interesse, unterschiedliche Gemeinschaften und Akteursfelder, die Erinnerungsnarrative mit Blick auf jeweilige gegenwärtige und zukünftige Gesellschaft kreieren und verwenden, vergleichend und in ihrem Verhältnis zueinander zu betrachten. Im Fokus des vorliegenden Bandes stehen Intellektuellendiskurse in Philosophie, politischem Denken und Theologie, Ausformungen von Erinnerungsräumen des ‚Abendlandes‘ in Literatur und Kunst sowie in der schulischen Vermittlung ebenso wie der Blick auf deren politische Aneignung und Verwendung. Dabei verfolgt der Band insgesamt eine Langzeitper­spektive vom späten 18.  Jahrhundert bis gegen Ende des 20.  Jahrhunderts, wobei die einzelnen Beiträge unterschiedliche zeitliche Schwerpunkte setzen, durch die sich Linien des Vergleichs eröffnen und Transfers, Bezugnahmen und damit Vernetzungen und Verwobenheit von Erinnerungsnarrativen und gesellschaftlichen Diskursen sichtbar werden. In den Blick genommen werden – wiederum im Gesamt des Bandes – zudem komplexe transnationale Dimensionen, die die Konstruktion von Räumen, die Transnationalität von Erinnerungsnarrativen, Transfers und Vernetzungen betreffen. Die Konstruktion von Erinnerungsräumen im Sinne von Vorstellungsräumen, die nationale und transnationale Räume verbinden, ist Erinnerungsnarrativen des Abendlandes inhärent. Welche Rolle spielen Orte und Räume wie Rom, Jerusalem, das ‚Heilige Land‘  ? Welche Rolle spielt die Definition von Grenzen und Grenz-Räumen  ? Wie wird über Erinnerungsnarrative ‚nicht-abendländisches‘ ‚Aussen‘ definiert und wie wird dieses räumlich und thematisch zum eigenen ‚Abendländischen‘ in ein Verhältnis gesetzt  ? Das Konzept der Erinnerungsräume konstituiert Form und Inhalt der einzelnen Beiträge. Im ersten Teil, „Abendlandkonzepte und -denkmuster in Philosophie, politischem Denken und Theologie“, wird gezeigt, wie die Metapher ‚Abendland‘ in der Zeit zwischen den Weltkriegen und nach dem Zweiten Weltkrieg generiert, referenziert und memoriert wurde. Roland Innerhofer (Wien) versteht Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes (1918 und 1922) und Hans Sedlmayrs Verlust der Mitte

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(1948) als atemporale Metanarrative, die die kulturellen und sozialen Verwerfungen nach den beiden Weltkriegen widerspiegeln. Er zeigt auf, wie beide Untergangsmythologien von einem naturalistischen Geschichtskonstrukt, mithin einem biologistischen Zivilisationsmodell ausgehen, das irreversible Verfallsdiagnosen und -prognosen mythologisiert. Sieht die Gedächtniskonstruktion des Philosophen Spengler in der Moderne das Endstadium eines Verfallsprozesses, der in einem Cäsarismus preußisch-deutscher Provenienz gipfelt, so sieht der Kunsthistoriker Sedlmayr in seiner Mythologisierung einer idealisierten vormodernen Kunst im Sinne eines antizipatorischen Postulats (Theodor W. Adorno) in der modernen Kunst nichts anderes als ein Symptom pathologischer Degeneration des planetarisch ausgeweiteten Abendlandes. Roland Innerhofer zeigt auf, wie im Unterschied zu Spengler, der Kulturen als in sich geschlossene inkommensurable Entitäten versteht, Sedlmayr, der dem seit dem späten 19. Jahrhundert bei den deutschen Eliten virulenten dichotomen Deutungsmuster ‚(deutsche) Kultur‘ versus ‚(westliche) Zivilisation‘ folgt, sich als Rufer zu kultureller Umkehr und Erneuerung sieht mit dem Ziel, in einer ästhetisch-religiösen Restitutio ad integrum den Untergang der Habsburgermonarchie durch ein essentialistisch konnotiertes integralistisch-katholisches Ordnungsmodell zu kompensieren. Dominik Burkard (Würzburg) interpretiert das Abendlandkonstrukt des Romanisten und Kulturphilosophen Hermann Platz im asymmetrischen Spannungsverhältnis von Erinnerung und Erwartung  : Bezug nehmend auf ein integralistisch verstandenes karolingisches christliches Mittelalter mit seiner augustinisch-scholastischen Theologie als Repräsentant der Wahrheit schlechthin, sieht Platz im modernen Nationalstaat mit seinem chauvinistischen Nationalismus als Folge der Deformation der von Gott gestifteten menschlichen ratio nicht nur die Zerstörung des ‚Abendlandes‘, sondern den Aufstand gegen dessen geschichtsontologische Bestimmung. Wie Dominik Burkard aufzeigt, entscheidet sich für Platz im Diskurs um das ‚Abendland‘ die Frage nach Sein und Sinn, Substanz und Wesen als metahistorische Entitäten auch im Hinblick auf einen Erwartungshorizont, so in seiner Programmschrift von 1924 und in der 1924 gegründeten Zeitschrift Abendland. Heinz Sproll (Augsburg) verortet den Essay „Vergil. Vater des Abendlandes“ (1931) des Philosophen und Kulturkritikers Theodor Haecker in einem Erinnerungsraum der longue durée, der bereits von den augusteischen Dichtern, vor allem von Vergil, generiert und von Constantin dem Großen bis über das Mittelalter hinaus christianisiert wurde in der Deutung der 4. Ecloge Vergils als Vorhersage der Inkarnation des Logos. Der Autor geht von folgender kulturanthropologischen Prämisse aus  : Wird bis zur Sattelzeit im Modus der lebenspraktisch verankerten ars im Sinne Ciceros in transhistorischer Geltung memoriert, so bricht mit der Aufklärung dieser Traditionsstrang ab. An Vergils Dichtung kann nur noch als vis im Sinne der historisch-philo-

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logischen Methode erinnert werden. Gegen eine solche Methode, die in den Feiern zum zweitausendsten Geburtstag des Dichters 1930 ihren Höhepunkt hatte, versucht Haecker, wie Heinz Sproll aufzeigt, vor dem Hintergrund der kulturellen Verwerfungen der Weimarer Zeit eine Memoration an eine als heilsgeschichtlich interpretierte Botschaft Vergils als ars aus dem verschütteten kulturellen Gedächtnisbestand zu befreien. Mit der Intention, die conditio humana wieder christlich zu bestimmen, hatte Haeckers auf Vergil referenzierendes Abendlandkonstrukt eine große Wirkung auf den moralischen Impetus des Widerstandskreises der Weißen Rose und auf T. S. Eliots Dichtung in ihrer universalistischen Perspektive. Paul Oberholzer (Rom) verwendet die Theorien zum kollektiven und kulturellen Gedächtnis im Sinne Maurice Halbwachs’ und Jan Assmanns und zu den Erinnerungsräumen in Anlehnung an Aleida Assmann als heuristische Interpretamente, um die ‚Theologie des Abendlandes‘ des Jesuiten und Theologen Hugo Rahner zu deuten. Rahners a priori ist der metahistorische Raum der Offenbarung  : Auf die lateinischen Kirchenväter – besonders Augustinus – Bezug nehmend, die auf die Inkarnation des Logos reflektierend antworten, entwirft er 1945 ein praktisch-theologisches Projekt zur Humanisierung der Kultur. Der Bruch mit allen christlichen und humanistischen Traditionen Europas durch den Nationalsozialismus versteht Rahner, so Paul Oberhol­zer, weniger als eine Amnesie des kollektiven Gedächtnisses als ein Vergessen des inkarnatorischen Ereignisses. Damit ist sein Abendlandkonzept mit der Philosophie der griechisch-römischen Antike, Rechtlichkeit und Inkarnation als essentiellen Elementen nicht nur auf Europa begrenzt, sondern erhält eine universalistische Reichweite und damit zugleich eine metahistorische Dimension. In Anlehnung an Jan Assmanns Verständnis der Memorialkultur spricht Oberholzer von einem Speichergedächtnis, in dem bei Rahner die inkarnatorische Substanz aufgehoben ist, um jederzeit ihre Dynamik durch Vergegenwärtigung im geschichtlichen Raum der Kirche und der politischen Öffentlichkeit zu entfalten. In einem zweiten Teil stehen Erinnerungsräume des Abendlandes in Literatur und Kunst im 19. Jahrhundert im Fokus. Die Beiträge verstehen zum einen ‚Erzählräume‘ selbst  – narrative und visuell-ikonographische Praktiken  – als Erinnerungsräume, zum anderen verstehen sie darunter durch Erinnerungsnarrative geschaffene imaginierte, ‚erzählte‘ Räume. Dabei nehmen sie die Perpetuierung, Abwandlung und Neukreation von Gedächtnisschichten besonders in den Blick. Dimiter Daphinoff (Fribourg) analysiert Lord Byrons komplexes Verhältnis zu Griechenland und Rom, wie es im zweiten und vierten Gesang von Childe Harold’s Pilgrimage (1812–1818) besonders zum Ausdruck kommt. Er zeigt auf, wie Byron den Abendlanddiskurs in mehrfacher Weise dynamisierte. Überkommenen Erinnerungsnarrativen einer Idealisierung des antiken Griechenlands stellte Byron, so Dimiter Daphinoff, eine an

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Verachtung grenzende Enttäuschung über den moralischen und geistigen Niedergang der modernen Griechen gegenüber, was wiederum die ihrerseits stets ambivalente Faszination Byrons für das osmanische ‚Andere‘ erklären hilft. Weiter zeigt er auf, wie Byron den vielschichtigen Erinnerungsraum Italiens und besonders Roms dynamisiert, indem er ihn mit zukunftsgerichtetem Handlungsbedarf auflädt und zugleich die Wahrnehmung von Resistenz und Kontinuität im zeitgenössischen Rom auf sich selbst und seine eigene imaginierte Unsterblichkeit als Dichter transferiert. So schreibt sich Byron selbst in die Kontinuität des Abendlandes ein, während seine Mythisierung durch die Rezeption in Kunst und Literatur ihn zu einem integralen Bestandteil der abendländischen Erinnerungskultur machte. Franziska Metzger (Luzern) analysiert ikonographische Aneignungen und Abwandlungen von Gedächtnisräumen und deren Verarbeitung zu Geweben von Erinnerungsnarrativen eines ‚Abendlandes‘ in der Kunst des 19.  Jahrhunderts. Sie zeigt mehrere Narrativkomplexe auf, welche Erinnerungsräume des Abendlandes schufen  : Narrative der Mythisierung eines ‚abendländischen Kulturraumes‘ mit Bezug auf die Antike, besonders in der Zelebrierung der Sublimität antiker ­Kultur und der Mythisierung von Figuren, Orten, Räumen und Erzählungen sichtbar  ; Narrative der Aufschichtung von Antike, biblischem ‚Ursprungsraum‘ und christli­ chem Europa, häufig gefasst als organische Fortentwicklung  ; eine kontinuierliche Differenzkonstruktion durch Narrative der Bedrohung und christlicher ‚Bollwerke‘, der Expansion und Mission sowie der Essentialisierung kultureller Differenz, letzteres besonders mit Bezug auf einen a-modernen, magisch-erotischen und zumindest teilweise heterotopen ‚Orient‘  ; sowie Narrative der Aneignung, etwa durch Orientalisierung von Erzählungen und Figuren, sowie der Inkorporierung sakraler, vor allem biblischer Ursprungsräume, besonders Jerusalems und des ‚Heiligen Landes‘, ins ‚Abendland‘. Die Vermittlung von Erinnerungsnarrativen des Abendlandes in der Schule steht im Fokus des dritten Teiles, wobei die beiden Beiträge ein Spektrum der Betrachtung zwischen Praktiken und Medien der Vermittlung, wie sie im missionarischen protestantischen Kontext der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden und für die Schule gestaltet wurden, und geschichtsdidaktischen Reflexionen in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnen. Melanie Stempfel (Fribourg) nimmt Formen des Transfers von Diskursen eines als ‚abendländisch‘ christlich definierten ‚Eigenen‘ über die Betrachtung eines als ‚anders‘ wahrgenommenen ‚nicht-christlichen Morgenlandes‘ in der Vermittlung der Basler Mission an die Schule als wesentlichen Multiplikator in den Blick. Die Schaffung eines missionarischen Impetus bei Lehrpersonen wie Schülerinnen und Schlülern sollte, wie die Autorin aufzeigt, wesentlich durch die narrative und ikonographische Festigung eines ‚abendländischen‘

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Erinnerungsraums bestehend aus essentialistischen, homogenisierenden Narrativen christlicher und nicht-christlich muslimischer Religion und Kultur durch eine Vielzahl unterschiedlicher Medien – von Zeitschriften der Basler Mission über Kinderliteratur zur Sammlung und Ausstellung von Gegenständen, Lichtbild- und Filmveranstaltungen  – geschehen. Der Beitrag zeigt damit auf, wie gerade die Materialität Gedächtnisschichten festigte. Frank Britsche (Dresden) widmet sich geschichtsdidaktischen Ansätzen in der frühen Bundesrepublik Deutschland, in welchen ein starker Europa-Abendland-Bezug als narrative Sinndeutungsofferte den Diskurs dominierte, der sich zunächst keineswegs auf konservative Kreise begrenzte, sondern für eine breite gesellschaftliche Mitte akzeptabel war. Das ‚Abendland‘ avancierte zum Gegenbegriff des zeittypisch gebrauchten, jedoch an ältere Wahrnehmungs- und Abwertungsmuster anknüpfenden Begriffs der ‚Amerikanisierung‘. Frank Britsche zeigt auf, wie das Narrativ sich für viele Geschichtspädagoginnen und -pädgagogen als ein Bekenntnis zur politischen Agenda der Bundesrepublik eignete und zumindest teilweise auch in Abgrenzung zur Geschichtsmethodik der SBZ und frühen DDR mit ihrer marxistisch-leninistischen Geschichtsauffassung stand. Dabei war die kulturpessimistische Emphase, so die Folgerung des Autors, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des rasanten ökonomischen Wandels Grund für den Niedergang des Metanarrativs nach den 1950er Jahren. Fragen gesellschaftlicher und politischer Funktionalisierung verfolgen die Beiträge des vierten Teils weiter. Sie thematisieren den politischen Gebrauch von Gedächtnisbeständen, welche durch den Topos ‚Abendland‘ kreiert und gefestigt wurden. Geschichtspolitik intendiert demnach die Ausübung, Erringung und Erweiterung von Macht im Sinne Max Webers, durchaus auch unter Anwendung mentaler und physischer Gewalt. Jan Nelis (Bruxelles) untersucht Genese, Inhalt und politische Funktion der romanità-Ideologie des italienischen Faschismus. Er stellt dar, wie in diesem Konstrukt das Narrativ der Aufklärung vom inklusivistischen und universalistischen Imperium Romanum enthistorisiert, mythisiert und für die exklusivistisch-nationalistische Geschichtspolitik instrumentalisiert wurde, um eine Identität mit der als überzeitlich verstandenen Ordnungsmacht Rom zu generieren. Höhepunkt dieser Geschichtspolitik, die besonders das im Dienste des Regimes stehende Istituto di Studi Romani mitbetrieb, war 1937 das Bimillenario Augusteo, das Mussolini nicht nur als neuen Augustus feiern, sondern dem Faschismus Italiens als politischer und ideologischer Großmacht mit weltweiter Ausstrahlung eine hegemoniale Position in den zeitgenössischen geschichtspolitischen Diskursen vor allem gegenüber dem Marxismus und Sowjetkommunismus sichern sollte. Das Substrat der romanità-Ideologie muss, so Jan Nelis, im kulturellen Rassismus mit seinem Kult der razza bzw. stirpe gesucht werden, der sich zwar vom biologischen Rassismus des Nationalsozialismus

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unterschied, aber nichtsdestoweniger im Kolonialkrieg gegen Äthiopien 1935 und in den Leggi razziali von 1938 institutionalisiert gegen die Juden seine genozidale Wirkung entfaltete. Armin Owzar (Paris) untersucht in seiner Diskursanalyse die geschichtspolitische Instrumentalisierung der in der Literaturgeschichte kanonisierten Europa-Rede des Dichters Novalis von 1793 als Topos vom ‚christlichen Abendland‘ in den Narrativen des politischen Katholizismus in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich nach 1945. Dabei interpretiert er die memorative Funktion des Abendland-Topos bei Novalis im Kontext der Westernisierung und des Kalten Krieges. Vor dem Hintergrund der komplexen Segmentierung der westdeutschen Gesellschaft bildete die Europa-Rede des Novalis, wie Armin Owzar aufzeigt, einen imaginativen Gravitationspunkt, auf den hin sich einige konkurrierende gesellschaftliche und politische Diskurse zur Neuorientierung organisieren ließen. Die Referenz auf ein imaginiertes, homogenes ‚christliches Abendland‘ ermöglichte eine klare Distanzierung vom ehemaligen Nationalsozialismus und einen Rechtfertigungsdiskurs im Zusammenhang mit der beginnenden Integrationspolitik Westeuropas. Mehr noch  : Als performativer Kampfbegriff beanspruchte er eine hegemoniale Diskurshoheit gegenüber sozialistischen geschichtspolitischen Diskursen der DDR und der Sowjetunion. Zugleich führte die zunehmende Diskurshegemonie von ‚Westernisierung‘ und ‚Amerikanisierung‘ dazu, dass die Erinnerungsnarrative eines neokarolingischen Kulturverständnisses vor allem in katholischen Kreisen des Rheinlandes, Südwestdeutschlands und Bayerns in den 1960er Jahren zunehmend minoritär wurden. Irène Herrmann (Genf) analysiert im Licht gegenwärtiger antikolonialer Diskurse das humanitäre Selbstverständnis des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK). Sie fragt, ob und wie das IKRK auf das aus dem Humanismus der Aufklärung stammende westliche Selbstkonstrukt der ‚okzidentalen Zivilisation‘ referenziert. Als Ergebnis ihrer Diskursanalyse hält sie fest, dass das IKRK aufgrund seines nach wie vor bestehenden selbstreferentiellen Diskurses seine ‚westliche‘ Ideologie mit ihren ethnozentrischen und stellenweise xenophoben Implikationen immer noch zu wenig öffentlich historisiert. Es weise den identitären Gebrauch dieses auf den ‚Westen‘ bezogenen Konstrukts nur zögerlich und diskret zurück, nicht zuletzt, um sein aufgeklärtes Moralkapital und sein apolitisches und überparteiliches Selbstbild zu bewahren. Erst die Dekonstruktion dieser unausgesprochenen Gedächtnisbestände würde das humanitäre Potential des IRKR in seinem Kampf gegen Rassismus, Diskriminierung und Exklusivismus gerade für eine post-koloniale, nicht mehr von der Hegemonie des unipolaren westlichen Zivilisationsmodells bestimmte Globalisierung im Dienst des inklusivistisch verstandenen Genus humanum voll zur Geltung bringen können.

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Der vorliegende Band geht auf die internationale, transdisziplinäre Tagung „Abend­­­landdiskurse und Erinnerungsräume Europas“ zurück, welche die Heraus­ geber am 30.  September und 1. Oktober 2021 an der Pädagogischen Hochschule ­Luzern organisiert haben. Die vertieften Diskussionen im Rahmen der Tagung haben die weitere Ausgestaltung des Bandes mitbeeinflusst. Die Publikation wäre ohne die Unterstützung zahlreicher Personen nicht möglich gewesen. Susanne Popp und Dimiter Daphi­noff danken wir herzlich für die zahlreichen inhaltlich-konzeptuellen Gespräche in den verschiedenen Phasen des Projekts. Svenja Grössl gebührt herzlicher Dank für das kompetente Lektorat. Dimiter Daphinoff sind wir für die wohlwollende Aufnahme der Publikation in die Reihe Erinnerungsräume – Geschichte, Literatur, Kunst und Dorothee Wunsch für die Begleitung seitens des Verlags während des Publikationsprozesses sehr dankbar. Für die Vorbereitung zum Druck und die graphische Gestaltung danken wir Celine Semenic, Michael Rauscher und Michael Haderer. Für die großzügige finanzielle Unterstützung danken wir der Veröffentlichungskommission der Pädagogischen Hochschule. Literaturverzeichnis Assmann, Aleida. Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur. Wien  : Picus, 2012. Auf der Suche nach dem Orient. Paul Klee. Teppich der Erinnerung. Hg. Zentrum Paul Klee. Ostfildern  : Hatje Cantz Verlag, 2009. Bäbler, Mathias und Marie Therese Bätschmann (Hg.). Mit Zirkel und Palette. Theodor Zeerleder (1820–1868). Berner Architekt Zeichner, Orientreisender. Bern  : Stämpfli, 2006. Barricelli, Michele. „‚A new, less tolerant period‘. Zur Darstellung der Kreuzzüge in deutschen sowie britischen, französischen und italienischen Schulgeschichtsbüchern.“ Kreuzzüge des Mittelalters und der Neuzeit. Realhistorie – Geschichtskultur – Didaktik. Hg. Felix Hinz. Hildesheim/Zürich/New York  : Georg Olms, 2015. S. 237–254. Bavaj, Riccardo und Martina Steber (Hg.). Germany and ‚The West‘. The History of a Modern Concept. New York/Oxford  : Berghahn, 2015. Bernhard, Roland et al. (Hg.). Mythen in deutschsprachigen Geschichtsschulbüchern. Von Marathon bis zum Elysée-Vertrag. Göttingen  : Vandenhoeck & Ruprecht, 2017. Biener, Hansjörg. Die Kreuzzüge in deutschen Religions- und Geschichtsbüchern. Analysen zur Verbesserung ihrer Darstellung. Göttingen  : EB-Verlag, 2014. Blumenberg, Hans. Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1999. Bottici, Chiara und Benoît Challand (Hg.). Myth, Memory, and Identity. Cambridge  : Cambridge University Press, 2013. Buchinger, Kristin, Gantet, Claire und Jakob Vogel (Hg.). Europäische Erinnerungsräume. Frankfurt 2009.

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Abendlanddiskurse und Erinnerungsräume Europas 

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1 ABENDLANDKONZEPTE UND -DENKMUSTER IN PHILOSOPHIE, POLITISCHEM DENKEN UND THEOLOGIE

Roland Innerhofer

Vom Untergang des Abendlandes zum Verlust der Mitte Oswald Spenglers und Hans Sedlmayrs antimoderne Meistererzählungen des Okzidents

Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes und Hans Sedlmayrs Verlust der Mitte sind jeweils kurz nach dem Ende eines Weltkriegs erschienen. Gestalt und Wirklichkeit, der erste Band von Der Untergangs des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, wurde 1918 im Verlag Braumüller in Wien, der zweite Band, Welthistorische Perspektiven, 1922 beim Verlag C. H. Beck in München publiziert. Hans Sedl­mayrs Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit erschien 1948 bei Otto Müller in Salzburg und Wien und erlebte, wie auch Der Untergang des Abendlandes, zahlreiche Neuauflagen, später auch bei Bertels­mann und Ullstein. Beide Bücher waren Best- und Longseller  : Für den Untergang des Abendlandes ist die Gesamtauflage auf über 300.000 Exemplare, für Verlust der Mitte auf 180.000 Exem­plare zu beziffern.1 Für Fachbücher ist das ein beträchtlicher Erfolg. Beide Bücher verbindet ein Metanarrativ, welches das europäische Abendland unter das Vorzeichen der Bedrohung und des nahen Endes stellt. Damit sind beide Werke als suggestive Reaktionen auf ein akutes Krisenbewusstsein zu verstehen. Der Untergang des Abendlandes wie Verlust der Mitte stellen in einer Zeit fundamentaler Verunsicherung durch die Niederlagen in den Weltkriegen und durch den Zusammenbruch der bis dato herrschenden Gesellschaftssysteme Orientierungsangebote bereit. Zum wirtschaftlichen Desaster kommen in der Zeit unmittelbar nach 1945 noch die Bedrohungen durch Atomwaffen und den beginnenden Kalten Krieg. Auch wenn Spenglers Geschichtsdeutung pessimistischer ausfällt als die Sedlmayrs, so bieten doch beide Meisternarrative, welche die historischen Brüche und Erschütterungen in ein sinnvolles Ganzes einbetten. Schon die eindeutige Feststellung und klare Benennung der Ursachen und Folgen der Ereignisse wirkt beruhigend. Dabei sind Strategien der Erinnerung und der Prognostik aufs engste miteinander verflochten  : Die Sicht auf die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft bedingen sich gegenseitig. Die folgende Untersuchung stellt es sich zur Aufgabe, aufzuzei1 Vgl. Männig, „Meine Forschung“.

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gen, welche historischen Phänomene selektiert und welche Vergangenheitsversionen konstruiert werden, um die Gegenwart in das gewünschte Licht zu stellen sowie bestimmte Zukunftsvorstellungen und -erwartungen zu wecken.

Die Bejahung des Untergangs Spenglers Geschichtsphilosophie beruht auf einem biologistischen Modell, das die Kulturgeschichte mythologisiert und ihr einen prognostischen Wert zuspricht. Spengler operiert dabei mit einer Metapher, die selbst wieder metaphorisch verwen­ det wird. Die erste metaphorische Ebene ist die Gliederung der menschlichen Lebens­ alter nach dem Muster des jahreszeitlichen Zyklus der Pflanzen, wie ihn ein prominent von Goethe vertretenes morphologisches Modell der Naturvorgänge verstand  : von dem Sprießen im Frühling über die Hochblüte und Reifezeit im Sommer zum Verwelken im Herbst und dem Sterben im Winter. Diesem Wechsel von Entstehen und Vergehen entsprechen im Menschenleben, mit leichter Verschiebung, Kindheit, Jugend, Reife, Alter und Sterben. Auf einer zweiten metaphorischen Ebene wird dieser Kreislauf der Jahreszeiten und Lebensalter auf die Kulturen übertragen  : Aufstieg, Reife, Niedergang und Sterben kennzeichnen nach Spengler den Lebenszyklus der Kulturen. Diese werden als Organismen betrachtet, die ihre jeweils eigene, aber parallel und analog zu anderen strukturierte Biographie haben. Mit dieser Analogie der Lebensstufen korrespondiert aber keine Ähnlichkeit der Kulturinhalte. Spengler postuliert, die neun von ihm unterschiedenen Hochkulturen – neben der abendländischen die antike, die indische, die babylonische, die chinesische, die ägyptische, die arabische, die mexikanische und die aufkommende russische – seien fundamental andersartig und in sich geschlossen, sodass keine Verständigung zwischen ihnen möglich sei. Diese Kommunikationsaporie führte nach Spengler etwa dazu, dass die mexikanische Kultur von europäischen Eroberern zerstört wurde. Aus diesem Modell folgt, dass es keine einheitliche, kontinuierliche Weltgeschichte gibt. Vielmehr entwickeln sich die einzelnen Kulturen parallel oder zeitverschoben zueinander. Es gibt keinen Fortschritt in der Geschichte, sondern bloß die Wiederholung desselben Verlaufsmusters. Die ‚abendländische Kultur‘ nimmt gegenüber den anderen keine privilegierte Stellung ein. Das Abendland aus dem Zentrum des Weltgeschehens zu rücken, bezeichnet Spengler als seine „kopernikanische Entdeckung“2 im Bereich der Geschichte. Die ‚abendländische Kultur‘ ist andersartig, aber nicht den anderen überle2 Spengler, Der Untergang, S. 24.

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gen. Vielmehr sind alle Hochkulturen in ihrer jeweiligen Eigenart gleichwertig. Die abendländische betrachtet Spengler als „faustisch“3, sie denke historisch und sei dynamisch, ins Unendliche strebend. Sie sei in Westeuropa entstanden und habe sich später auch nach Nordamerika ausgebreitet. Abendland und Europa sind für Spengler nicht deckungsgleich. Osteuropa, Russland und Griechenland rechnet er nicht zum Abendland. In einer Fußnote bemerkt er  : Hier steht der Historiker auch unter dem verhängnisvollen Vorurteil der Geographie […], die einen Erdteil Europa annimmt, worauf er sich verpflichtet fühlt, auch eine entsprechende ideelle Abgrenzung gegen „Asien“ vorzunehmen. Das Wort Europa sollte aus der Geschichte gestrichen werden. Es gibt keinen „Europäer“ als historischen Typus. […] Orient und Okzident sind Begriffe von echtem historischem Gehalt. „Europa“ ist leerer Schall.4

Zeitlich grenzt Spengler die ‚abendländische Kultur‘ von der antiken ab  : Jene entsteht ihm zufolge nicht in der Antike, sondern im Mittelalter. Nach einer vorbereitenden Phase unter den Merowingern und Karolingern (500–900) erreiche sie mit der Gotik ab 900 ihre Hochblüte. Die Spätphase beginne mit der französischen Revolution, in ihr verwandle sich Kultur in Zivilisation. Diese sei sozioökonomisch und politisch geprägt von Liberalismus, Kapitalismus und einer labilen Demokratie, die dazu tendiere, in Cäsarismus und Imperialismus, in die Herrschaft nietzscheanischer übermenschlicher Führerfiguren umzuschlagen. In dieser Endphase dominiere ein wissenschaftlicher Rationalismus, der sich in der Technik und der Bürokratie manifestiere, während die Religion zurückgedrängt werde und die Kunst erlösche. Vermassung und Verstädterung sind nach Spengler weitere Kennzeichen der Zivilisation, die durchaus mit dem zeittypischen kulturkritischen Diskurs korrespondieren. Die Annahme eines vorbestimmten Ablaufmusters jeder kulturellen Entwicklung verleiht Spenglers Geschichtsphilosophie prognostischen Wert. Kern dieser Prognose ist, dass sich die abendländische Kultur in einer irreversiblen Verfallsphase, dem letzten Stadium eines Lebenszyklus befinde. Während sich das Abendland dem Ende zuneige, blühe die russische Kultur auf. Indem Spengler die Spät- und Verfallszeit einer Kultur als Zivilisation bezeichnet, reiht er sich in eine, besonders in der deutschen Kulturgeschichtsbetrachtung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts virulente Tradition ein, als deren prominente Vertreter hier nur Julius Langbehn mit seinem Rembrandt als Erzieher (1890) und Thomas Mann mit seinen Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) genannt seien. 3 Ebd. S. 239. 4 Ebd. S. 22.

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Thomas Manns späterer Essay Über die Lehre Spenglers (1924) ist aber bereits ein Beispiel für die zeitgenössische Kritik am Fatalismus eines Verlaufsmodells, das nach Spengler jede Kultur determiniert. Mann stellt Spenglers ‚Lehre‘ in einen zeitgenössischen zivilisationsskeptischen Kontext  : „[…] indem sie die ‚Zivilisation‘ als das Kommende apokalyptisch an die Wand malt, ist sie selber ihr Ausklang und Grabgesang.“5 Wie Barbara Beßlich überzeugend darstellt, wirkte Spenglers moderne Geschichtskonstruktion „in der Unbedingtheit und Totalität der Diagnose, die mit einem Pathos der Kälte vorgetragen war“, auf Thomas Mann zugleich faszinierend und abstoßend.6 Spengler betont in seinem Werk immer wieder, dass am Schicksal des Untergangs nichts zu ändern sei.7 Wenn er aber zugleich hervorhebt, es gebe keine ewigen Wahrheiten und jede Philosophie sei historisch bedingt8, so nimmt er sein eigenes fatalistisches Dogma aus diesem Verdikt aus. Genau an diesem Punkt setzt Egon Friedell an, wenn er in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit (1927–31) Spenglers Grundgedanken widerspricht, obwohl er ihm in Vielem seine Reverenz erweist. So zitiert Friedell zwar zustimmend Spenglers Ansicht, man solle über Geschichte nicht „wissenschaftlich traktieren“, sondern „dichten“.9 Zugleich historisiert er aber  – ähnlich wie Thomas Mann – Spenglers Konzept, indem er es als Produkt eines materialistischen, agnostischen Zeitalters charakterisiert. Dem stellt Friedell die Prognose einer Erneuerung aus dem Geist des Idealismus und einer wiederbelebten christlichen Religiosität gegenüber. Die Neuzeit, so Friedells Diagnose, sei nur ein kurzes, soeben zu Ende gehendes Intermezzo zwischen dem Mittelalter und einem anbrechenden gottgläubigen Zeitalter. Dementsprechend fällt in seiner Kulturgeschichte des Altertums (1936) das Verdikt  : „Und das Abendland wird untergehen, aber nur soweit es von Spengler ist.“10 Kritisiert Friedell Spengler von einem radikal idealistischen Standpunkt aus, so ist Robert Musils frühe Auseinandersetzung mit dem Untergang des Abendlandes differenzierter. Musil veröffentlichte seinen Essay im Neuen Merkur unter dem Titel „Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind“ bereits im März 1921, bevor der zweite Band von Spenglers Werk erschien. Er illustriert seine Kritik an der Methode des Analogieschlusses in der Geschichtsschreibung mit folgendem Beispiel  :

  5 Mann, „Über die Lehre Spenglers“, S. 179.  6 Beßlich, Faszination und Verfall, S. 52.   7 Vgl. etwa Spengler, Der Untergang, S. 53, 55, 1195.   8 Ebd. S. 57.  9 Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, Bd. 1, S. 15  ; Spengler, Der Untergang, S. 129 und 141. 10 Friedell, Kulturgeschichte Ägyptens, S. 69.

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Es gibt zitronengelbe Falter, es gibt zitronengelbe Chinesen  ; in gewissem Sinn kann man also sagen  : Falter ist der mitteleuropäische geflügelte Zwergchinese. Falter wie Chinese sind bekannt als Sinnbilder der Wollust. Zum erstenmal wird hier der Gedanke gefaßt an die noch nie beachtete Übereinstimmung des großen Alters der Lepidopterenfauna und der chinesischen Kultur. Daß der Falter Flügel hat und der Chinese keine, ist nur ein Oberflächenphänomen.11

Es ist bezeichnend, dass Musil Spenglers oberflächliche, ungenaue, ja fehlerhafte „Art des Denkens“12 vermittels Analogien mit Beispielen aus der Mathematik belegt. Musil war wie Spengler Mathematiker und so auf einem Gebiet kompetent, von dem Spengler behauptete, „daß es das einzige sei, an dem sich seine Beweisführung erhärten lasse“13. Zugleich gesteht Musil Spengler zu, auf hohem Niveau gescheitert zu sein, während „andre Schriftsteller bloß deshalb nicht so viele Fehler machen, weil sie gar nicht die beide Ufer berührende Spannweite haben, um so viele unterzubringen“.14 Was Musil einfordert, ist die Verbindung von „Geist und Erfahrung“, von Ideen und Empirie. Auch Musil sieht in Spengler einen typischen Vertreter seiner Zeit, deren Fehler er wie folgt zusammenfasst  : „Oberflächlichkeit  ; Mantelwurf der Geistigkeit, unter dem die Gliederpuppe steckt  ; Überfließen einer lyrischen Ungenauigkeit in die Gevierte der Vernunft.“15 Musils Argumentation weist bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit der von Karl Popper auf. Dieser lehnte in seinem 1936 gehaltenen, 1957 als Buch veröffentlichten Vortrag Das Elend des Historizismus die Übertragung naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten auf geschichtliche Vorgänge ab. Insbesondere kritisierte er die Methode von Analogieschlüssen in der Geschichte  : Ähnliche Ausgangsbedingungen müssten nicht zu gleichlaufenden Entwicklungen führen. Mit Blick auf Denker wie Machiavelli, Vico, Spengler und später Toynbee konzediert Popper, dass sich in der Geschichte ähnliche Prozesse wiederholen können, doch nur teilweise und temporär  : Es ist jedoch klar, daß bei allen solchen Wiederholungen auch Umstände mit im Spiel sind, die höchst unähnlich sind und auf die weiteren Entwicklungen einen wichtigen Einfluß ausüben können. Wir haben daher keinen Grund, zu erwarten, daß irgendein Prozeß, der uns als Wiederholung einer geschichtlichen Entwicklung erscheint, auf die Dauer seinem Urbild parallel laufen wird.16 11 Musil, „Geist und Erfahrung“, S. 1044. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd. S. 1059. 15 Ebd. S. 1058. 16 Popper, Das Elend, S. 102.

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Popper trifft damit sehr genau eine Paradoxie in Spenglers Argumentation. Denn Spengler lehnt zum einen naturwissenschaftlich-rationales Denken und kausale Zusammenhänge als mit dem Leben inkompatibel ab, postuliert aber in der Geschichte eine unentrinnbare Gesetzmäßigkeit, die dem als überwunden erklärten Rationalismus entspricht. Spenglers Geschichtsbetrachtung und -prognostik liegt eine Mechanik zugrunde, die Musil mit der Metapher der „Gliederpuppe“ evoziert. Nach dem Zweiten Weltkrieg knüpfte Theodor W. Adorno in seinem Essay Spengler nach dem Untergang (1950) an Musils und Poppers Urteile an, wenn er Spenglers „falschen Analogieschluss“17 für einen Fatalismus verantwortlich macht, der die Überwindung von gesellschaftlichen Herrschaftsformen als unmöglich erscheinen lasse. Adorno verwahrt sich gegen eine „Schicksalslehre“, die in der Geschichte die „Wiederkehr des Immergleichen“18 für unausweichlich hält. Spenglers Geschichtsphilosophie sei, da sie historische und natürliche Prozesse gleichsetze, Mythologie. Der Zwangsläufigkeit historischer Abläufe setzt Adorno die widersetzliche Fähigkeit entgegen, die utopische Verheißung, die blinde Fatalität und das Kontinuum der Macht aufzubrechen  : Spengler standhalten hieße demnach, den „Standpunkt der wirklichen Geschichte“, die keine Geschichte, sondern schlechte Natur ist, geschichtlich aufzuheben und das geschichtlich Mögliche zu verwirklichen, das Spengler unmöglich nennt, weil es noch nicht verwirklicht ist.19

Die Rettung der Mitte Was Adorno als antizipatorisches Postulat aufstellt, nämlich die Fatalität eines zwangsläufigen Kreislaufes zu durchbrechen, behauptet Hans Sedlmayr bereits zwei Jahre zuvor in seinem einflussreichen Buch Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit als Tatsache  : Die symbolischen Formen der abendländischen Kultur sind ihm zufolge keine Wiederholung der Typologie von kulturellen Spätphasen, sondern erst- und einmalig. Zunächst fallen aber die Übereinstimmungen mit Spengler ins Auge. Spenglers zyklische, an den Jahreszeiten orientierte Betrachtung konnte an ein in der Kunstgeschichte seit Vasari eingeführtes ‚stilbiologisches Schema‘ anknüpfen, das etwa Mar17 Adorno, „Spengler nach dem Untergang“, S. 80. 18 Ebd. S. 78. 19 Ebd. S. 79.

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cus Müller herausgestellt hat.20 Spenglers Vier-Phasen-Modell bot sich, wie Maria Männig betont21, dem Kunsthistoriker und -philosophen Sedlmayr zur Übernahme an. Auch Sedlmayr unterscheidet vier Phasen der abendländischen Kultur bzw. Kunst, allerdings weicht die Periodisierung von der Spenglers ab  : Die erste Phase umfasst die Vorromanik und Romanik von 550 bis 1150. Zweck der Kunst sei in dieser Phase der „Gottesdienst“22, Gott erscheine als Herrscher. Die Gotik bezeichnet die zweite Phase, sie umfasst den Zeitraum von 1140 bis 1470. Kennzeichnend für diese Phase ist es nach Sedlmayr, dass Gott vermenschlicht werde. Das dritte Zeitalter Sedlmayrs ist das von Renaissance und Barock, in dem der Mensch als Ebenbild Gottes aufgefasst und so vergöttlicht werde. Das vierte Zeitalter in der Geschichte des Abendlandes ist schließlich die Moderne ab 1760, in der der Mensch von Gott abgefallen sei, sich als autonom begreife und Gott durch neue „Götter und Götzen“ ersetzt werde  : „Natur und Vernunft (Pantheismus, Deismus), Kunst (Ästhetizismus), Maschine (Materialismus), Chaos (Antitheismus, Nihilismus).“23 Sedlmayrs Zeitalter sind kulturelle und gesellschaftliche Ordnungssysteme, die sich durch ihre religiösen Grundlagen unterscheiden. Die Kunst ist dabei ein Ausdruck kultureller und geistiger Strömungen, geht also mit diesen vollkommen konform. In der letzten Periode, der Moderne, ist das für jede Phase ausschlaggebende, geschichtsbildende Verhältnis des Menschen zu Gott grundlegend gestört. So ist der für die Moderne diagnostizierte Verfall, der ‚Verlust der Mitte‘, in erster Linie ein Verlust des religiösen Glaubens und eines metaphysischen Wertesystems. Sedlmayr konnte dabei an die Tradition der modernen deutschen Kulturkritik anknüpfen, die, wie Georg Bollenbeck gezeigt hat, seit dem späten 19. Jahrhundert Zivilisation als Antithese zur Kultur und Kultur als etwas originär Deutsches betrachtet.24 Wiederholt zitiert Sedlmayr Karl Jaspers’ Die geistige Situation der Zeit (1933), um den Verlust der Verbindlichkeit kultureller Werte und künstlerischer Werke in einer nach Maßgabe von Naturwissenschaft und Technik eingerichteten Massengesellschaft argumentativ zu untermauern. Es drohe, so Sedlmayr mit Berufung auf Jaspers, eine „vollkommene Glaubenslosigkeit“ in einer von „Maschinenmenschen“ bewohnten Welt.25 Dem Fortschrittsnarrativ der Zivilisation setzt Sedlmayrs Kulturkritik die Diagnose eines Wertezerfalls entgegen. Die „Erfahrungen des Toten, des Chaotischen und Dämonischen“ fordern folglich „zu einer großen Auferstehung, Ordnung und Reinigung 20 Vgl. Müller, Geschichte-Kunst-Nation, S. 25–32. 21 Vgl. Männig, Hans Sedlmayrs Kunstgeschichte, S. 62. 22 Sedlmayr, Verlust, S. 220. 23 Ebd. S. 228. 24 Vgl. Bollenbeck, Bildung und Kultur, S. 270. 25 Sedlmayr, Verlust, S. 237.

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im Gesamtzustand des Menschen und seiner Welt“ auf.26 In einer idealisierten Sicht der Vergangenheit verspricht sich Sedlmayr, wie die rückwärtsgewandten Kulturkritiker des ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts, eine Restitution traditioneller Werte. Nur durch die Rückkehr zu einer ursprünglichen Ganzheit könne man die fehlgeleitete Zivilisation überwinden und einer prekären Gegenwart entfliehen. So stellt das konstruierte Ideal einer vermeintlich integren Vergangenheit die Bewertungsmaßstäbe für das Verdikt über die Gegenwart bereit. In Sedlmayrs Fortführung eines für die deutsche Geistesgeschichte typischen normativen kulturkritischen Diskurses, der die Wiederherstellung eines früheren, vermeintlich heilen Zustandes verlangt, zeigt sich eine auffallende Parallele zu Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit. Denn wie Friedell sieht auch Sedlmayr den Grund allen Übels im Verlust des Gottglaubens und einer idealistischen humanistischen Weltauffassung. Ist Friedell zufolge die gesamte Neuzeit für diesen Irrweg verantwortlich27, so spitzt sich bei Sedlmayr erst in der Moderne ab der Aufklärung der Wertezerfall zu. Auch die Krankheitsmetaphorik verbindet Friedell und Sedlmayr. Beide begreifen das materialistische Zeitalter als Symptom einer Krankheit, als deren Diagnostiker der Kulturhistoriker Friedell und der Kunsthistoriker Sedlmayr auftreten. Insbesondere die Kunst wird von Sedlmayr pathologisiert. Er reaktiviert damit die Verbindung von Kunstkritik und Medizindiskurs, die bereits für die Argu­mentation Max Nordaus in seinem einflussreichen Werk Entartung (1892/93) kennzeichnend ist. Ein zentrales pathologisches Symptom ist für Sedlmayr die Dehumanisierung, die Erniedrigung des Menschen, die er etwa am Beispiel von James Ensor zu erkennen meint.28 Wie für Nordau ist auch für Sedlmayr die Diagnose einer entarteten, von physischer und psychischer Krankheit befallenen Kunst, Kultur und Gesellschaft als Warnung zu verstehen – als Aufforderung zur Umkehr und grund­ legenden Wandlung. Die Krankheit selbst treibt dabei auf einen dialektischen Umschlag zu, sie beinhaltet das Versprechen der Heilung. Für Friedell ist die Neuzeit ein heilsames Fieber, das die Genesung und damit den Beginn eines neuen, erstarkten idealistischen Zeitalters vorbereitet.29 Sedlmayr äußert sich nicht so dezidiert zuversichtlich wie Friedell, doch auch er sieht in der ‚Krankheit‘ der Moderne, die sich ihm auch als ‚Katastrophe‘ darstellt, die notwendige Bedingung für eine radikale Erneuerung.30 Gerade weil das

26 Ebd. S. 209. 27 Vgl. Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, Bd. 2, S. 1493–1523. 28 Sedlmayr, Verlust, S. 215. 29 Vgl. Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, Bd. 1, S. 65–72. 30 Sedlmayr, Verlust, S. 250.

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Abendland nach Sedlmayr an den Zuständen und Phänomenen der Moderne leidet, liegt hier die Hoffnung auf Selbstheilung und religiöser Selbsterneuerung. Ähnlich wie Spengler beansprucht Sedlmayr als Diagnostiker seiner Zeit ­einen Standpunkt außerhalb der Zeit31, und ähnlich wie Friedell und Thomas Mann historisiert er Spenglers Position, die er als Ausdruck eines materialistischen, antihumanistischen Zeitalters beurteilt.32 Ein zentraler Unterschied zu Spengler besteht darüber hinaus in der Verneinung von dessen Auffassung der Kulturen als in sich geschlossene Einheiten, deren Geschichte parallel verläuft. Für Sedlmayr durchbricht die abendländische Kultur in der letzten Phase ihre geographische Begrenzung. Durch die Entwicklung der Technik, insbesondere der Kommunikationsmittel, so Sedlmayrs Argumentation, hat sich die abendländische Kultur „planetarisch“ verbreitet  : Sie ist zur Weltkultur geworden.33 Daher ist es nicht nur für die abendländische, sondern für die gesamte Welt entscheidend, ob der moderne „Erkrankungsprozess“34 rückgängig gemacht werden kann  : „[…] nur wenn das Abendland solcher Erneuerung fähig ist, wird es wieder Vorbild und Lichtträger der Welt werden.“35 Für Sedlmayr ist die moderne Kunst Indikator einer pathologischen Degeneration, die sich im Zerfall des barocken Gesamtkunstwerks manifestiert. Anders aber als Spengler sieht er den Untergang nicht fatalistisch als unabwendbar, sondern versteht sein Werk als Aufruf zur Umkehr. Im Kampf zwischen den zerstörenden und den heilenden Kräften der Moderne ist es der Mensch, der letztlich selbst über seine Zukunft entscheidet. Dem Abendland eröffnet sich dabei die Möglichkeit, die globale geschichtliche Entwicklung zu prägen. Der Kunst- und Kulturhistoriker hat für die Zukunft des Abendlandes eine entscheidende Mission zu erfüllen. Denn er vermittelt die Erkenntnis des gegenwärtigen Zustandes und schafft damit die Voraussetzung dafür, dass die (kultivierten) Menschen die Weichen für die Zukunft, d. h. für die Rückkehr zu einer gottgewollten natürlichen Ordnung, richtig stellen. Sedlmayrs geschichtsphilosophischem und kunsthistorischem Konzept liegt eine problematische Dichotomie zugrunde  : Schon 1950 erkannte Emil Kieser in Sedl­ mayrs Entlarvung des Atheismus „als das alles vergiftende und zersetzende Urübel“36 eine strukturelle Parallele zu Alfred Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts (1930), in dem das Weltjudentum als Ursache alles Bösen identifiziert wird. Kieser versteht 31 32 33 34 35 36

Ebd. S. 207. Ebd. S. 236. Ebd. S. 235. Ebd. S. 238. Ebd. S. 251. Kieser, „Hans Sedlmayr“, S. 162.

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Seldmayrs „persönlichen Gott als unbewußte Substitution und Überdetermination der Führeridee“37, womit eine geheiligte und hierarchische Ordnung resti­tuiert werde.

Erinnerte Zukunft Spenglers und Seldlmayrs Kultur- und Kunstgeschichtsschreibung konstruieren als Medien des kollektiven Gedächtnisses spezifische Vergangenheitsversionen. Sie beziehen dabei eine übergeordnete Beobachterposition und eignen sich gleichsam eine olympische Perspektive an, von der aus sie geographisch und geschichtlich abgegrenzte Erinnerungsräume schaffen. Sinnstiftend etablieren und bestätigen sie zugleich Wertehierarchien. Ihre Beschaffenheit ist zum einen durch dominante Bildlichkeiten, Symbole und narrative Verfahren kodiert, zum anderen durch binäre Strukturen geprägt. Solche zentralen Bildbereiche und Leitmetaphern, nach denen Gedächtnisbestände bei Spengler und Sedlmayr selektiert und konfiguriert werden, liefern die jahreszeitlichen Zyklen im Leben der Pflanzen, die Entwicklungsphasen biologischer Organismen sowie die Pathologie der Säugetiere. Die erkenntnisleitenden Konzepte stammen demnach nicht aus Kultur, Gesellschaft und Geschichte, sondern aus der Natur. Dem solcherart inszenierten kulturellen Gedächtnis wird ein dichotomes Werte- und Normensystem unterlegt. Das Denken in wertbesetzten Antinomien manifestiert sich in biologischen Gegensatzpaaren wie Gesundheit und Krankheit, Jugend und Alter, Blüte und Verfall, die sich mit historischen, sozialen und religiösen Gegenüberstellungen wie Aufstieg und Niedergang, Kultur und Zivilisation, Christentum und Atheismus, Zentrum und Peripherie überlappen. Aus derartiger Wertehierarchisierung leiten Spenglers und Sedlmayrs Geschichtsbilder und Gedächtniskonstruktionen den Anspruch ab, zukunftsweisend und – durch Beeinflussung kollektiver Einstellungen und politischer Entscheidungen  – handlungsleitend zu wirken. Erinnerung erhält so die Funktion, Zukunft zu gestalten.38 In der Rezeption der beiden Werke werden Transformationsprozesse sichtbar, die nur bedingt mit den Intentionen der Verfasser übereinstimmen. Während Sedlmayr von Verfechtern der modernen Kunst Nähe zur faschistischen Kunstpolitik vorgeworfen wurde, kehrt sein Plädoyer für eine Wiedergewinnung der Mitte abgewandelt in einem konservativen, affirmativen Austriazismus wieder  : Die ‚österreichische Eigenart‘ wird durch Österreichs geographische Lage am Kreuzungspunkt nordsüdlicher und ostwestlicher Verkehrsachsen erklärt. Dieser privilegierten Position in der 37 Ebd. 38 Zu den Zukunftsdimensionen der Erinnerung vgl.: Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 120 f.

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Mitte Europas entspreche eine Haltung des homo austriacus, die vor Extremismen zurückschrecke und nach Ausgleich polarer Gegensätze, harmonischem Gleichgewicht und dem rechten menschlichen Maß strebe. Spenglers Wirkung manifestiert sich im Vergleich dazu stärker im Widerspruch und nicht selten im Missverständnis. Ein solches besteht darin, Spenglers als neutral und indifferent intendierte Prognose als pessimistische Klage zu beurteilen. Widerspruch provozierten hingegen hauptsächlich Spenglers historischer Determinismus und Fatalismus sowie seine Verwendung von Analogieschlüssen zur Bestimmung des Geschichtsverlaufs. Während Spengler in seiner Geschichtsmorphologie der preußisch-deutschen Politik nahelegte, in der letzten Phase der abendländischen Kultur nach dem Vorbild des Cäsarismus die Führungsrolle zu übernehmen, wollte der Österreicher Sedlmayr das Trauma des (verlorenen) Weltkriegs durch eine ästhetisch-religiöse Restitutio ad integrum bewältigen und moderne Dynamiken durch katholisch-konservative, hierarchische Ordnungsvorstellungen sistieren. Sedlmayrs Postulat einer Wiederherstellung der ‚Mitte‘ setzt eine wertende Abstufung zwischen Zentrum und Peripherie voraus, in der auch habsburgische und großdeutsche imperiale Raumordnungskonzepte widerhallen. Solche politischen Implikationen eines geographischen Ordnungsbegriffs fehlen bei Spengler, da sein Konzept der Gleichwertigkeit der verschiedenen Hochkulturen einen Anspruch auf Vormacht des Abendlandes bestreitet. Spenglers Kulturkreistheorie ist im Unterschied zu Sedlmayrs Modell plurizentrisch. Die postulierte Fortführung oder erneute Durchsetzung der hegemonialen Position der abendländischen Kultur legitimiert sich Sedlmayr zufolge daraus, dass in ihr das Leiden an der leeren Mitte am stärksten empfunden wird. Die Katastrophe war in dieser Sicht für das Abendland notwendig, um die Führung in einer Erneuerungsbewegung zu übernehmen. Damit werden implizit die Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere die beiden Weltkriege, nachträglich mit Sinn belegt.

Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W. „Spengler nach dem Untergang“ [1950]. Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1976. S. 51–81. Beßlich, Barbara. Faszination des Verfalls. Thomas Mann und Oswald Spengler. Berlin  : Akademie, 2002. Bollenbeck, Georg. Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt/M., Leipzig  : Insel, 1994. Erll, Astrid. Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. 3., aktualisierte und erweiterte Aufl. Stuttgart  : Metzler, 2017. Friedell, Egon. Kulturgeschichte der Neuzeit [1927–31]. 2 Bde. 6. Aufl. München  : dtv, 1986.

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Friedell, Egon. Kulturgeschichte Ägyptens und des Alten Orients [1936]. München  : dtv, 1982. Jaspers, Karl. Die geistige Situation der Zeit [1933]. Berlin  : de Gruyter, 1998. Kieser, Emil. „Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte.“ Zeitschrift für Kunstgeschichte 13 (1950)  : S. 158–162. Langbehn, Julius. Rembrandt als Erzieher [1890]. Hamburg  : Tredition Classics, 2010. Männig, Maria. „‚Meine Forschung‘  : Hans Sedlmayr und das Geheimnis des Erfolges.“ Gastbeitrag 23.01.2013. uni  :view Magazin https://medienportal.univie.ac.at/uniview/for schung/detailansicht/artikel/meine-forschung-hans-sedlmayr-und-das-geheimnis-­deserfolges/, letzter Zugriff 28.10.2021. Männig, Maria. Hans Sedlmayrs Kunstgeschichte. Eine kritische Studie. Köln, Weimar, Wien  : Böhlau, 2017. Mann, Thomas. Betrachtungen eines Unpolitischen [1918]. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke, Briefe, Tagebücher, Bd. 13. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2009. Mann, Thomas. „Über die Lehre Spenglers“ [1924]. Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Band 10  : Reden und Aufsätze. Teil 2. Frankfurt/M.: S. Fischer, 1974. S. 172–180. Müller, Marcus. Geschichte – Kunst – Nation. Die sprachliche Konstituierung einer „deutschen“ Kunstgeschichte aus diskursanalytischer Sicht. Berlin  : de Gruyter, 2007. Musil, Robert. „Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind“ [1921]. Gesammelte Werke, Bd. 8. Reinbek bei Hamburg  : Rowohlt, 1978. S. 1042–1059. Nordau, Max. Entartung [1892/93]. Hg. Karin Tebben. Berlin  : de Gruyter, 2013. Popper, Karl R. Das Elend des Historizismus [1936/1957]. 4. Aufl. Unveränderter Nachdruck der 3., verbesserten Auflage. Tübingen  : J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1974. Rosenberg, Alfred. Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit. München  : Hoheneichen, 1930. Sedlmayr, Hans. Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit. Salzburg  : Otto Müller, 1948. Spengler, Oswald. Der Untergang des Abendlands. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. München  : dtv, 1982.

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„… erschreckt in der Mitte und berufen …“ Frankreich, Deutschland und der katholische Abendlandgedanke bei Hermann Platz

Die christliche Internationale verschanzt sich zu Luzern und Paris in zwei Lagern […]. Die französischen und belgischen Katholiken lehnen es ab, sich an dem Luzerner internationalen christlichen Arbeiterkongress, der von der Schweiz, Holland, Litauen, Österreich und Deutschland beschickt wird, zu beteiligen, und veranstalten in Paris einen eigenen Kongress. Zum Schauspiel und Gespött sind wir Katholiken so der Welt geworden. Die Heiden beschämen uns. […] Wir sind stolz auf die Universalität unserer Kirche und preisen sie nicht wenig in wortreichen Diatrieben. Doch verbindet uns denn der eine Glaube, dieselben Sakramente, ein einiges Opfer, wenn die Herzen uneins sind  ? Haben wir so ganz vergessen, was Christus fordert  : ‚Geh zuvor, dich zu versöhnen mit deinem Bruder, und dann komm und opfere  !‘  ? Dies ist auch den Nationen gesagt. Christus, der Völkerhirte, will die Völker sammeln  ; wer aber nicht mit ihm sammelt, der zerstreut. Dies gilt all denen hüben wie drüben, die ihrer Christenpflicht damit zu genügen glauben, dass sie den Hass ablegen und Gleichgültigkeit dafür annehmen. Sammeln sollen wir mit Christus  !1

Mit diesen Sätzen trat im Mai 1919 die führende Kulturzeitschrift der deutschen Katholiken, das Hochland, unter der durchaus programmatischen Überschrift „… und wir Katholiken  ?  !“ an die Öffentlichkeit. Der Erste Weltkrieg war zu Ende, Deutschland besiegt. Noch im selben Monat wurde der Friedensvertrag, das ‚Diktat von Versailles‘, unterzeichnet. Hierauf konnte das Hochland noch nicht Bezug nehmen. Dankbar und geradezu erleichtert berichtete es jedoch davon, es seien „die ersten Worte der Vernunft und Güte von Frankreich her über ein Meer von Hass und Verbitterung“ nach Deutschland gedrungen. Was war gemeint  ? In Paris hatte die sozialistische Zeitschrift Populaire einen Aufruf von Henri Barbusse (1873–1935) „an die geistigen Kämpfer der noch gestern feindlichen Länder“ veröffentlicht, der nichts anderes war als eine ausgestreckte, brüderliche Hand. Auch die französische Gruppe des Internationalen Frauenkomitees für dauernden Frieden hatte sich in einer Sympathiekundgebung an die deutschen Frauen gewandt und sie aufgefordert, „im Bunde mit ihr den Krieg aus allen Seelen zu reißen und für ihre Kinder die gemeinsame 1

… und wir Katholiken  ?  !, S. 113–116.

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Stadt des Friedens und der Liebe zu bauen“. Und schließlich übermittelte der französische Schriftsteller und Nobelpreisträger Romain Rolland (1866–1944) der Berliner Republik ein Manifest der „Vereinigung der revolutionären sozialistischen Studenten Frankreichs“ gegen eine Stellungnahme französischer Intellektueller, die sich zu „Dolmetschern des entfesselten Völkerhasses“ gemacht hatten.2 Verhaltenen Atems – so das Hochland – horchen wir, ob sich nicht auch aus der Christenheit der westlichen Völker eine Stimme der Versöhnung lösen will. Aber sieh da, wir lauschen vergebens  ! […] Wartet man darauf, wer zuerst die Rechte ausstreckt  ? Wem wäre diese Gebärde natürlicher als dem Sieger  ? Tief verwunderlich ist es, daß Frankreich, das ritterliche, christliche Frankreich, nach seinem Siege diese großmütige Geste, die ihm so leicht fallen müsste und ihm so gut stände, noch nicht gefunden hat. […] Aber dieses katholische Frankreich ist nicht frei. Vor dem Krieg schien es eine Weile, als machte es die Verfolgung frei. Nun aber hat es sich ganz in den Bann des Staates und seiner Machthaber begeben in der Hoffnung, von diesen wieder in seine Rechte eingesetzt zu werden. Drum macht es die Vergewaltigungspolitik seines Verfolgers mit, drum warten wir vergebens auf ein versöhnliches Wort von unseren Brüdern in Frankreich.3

Der Wille zur Versöhnung sei, so fuhr das Hochland fort, nicht bei den offiziellen Größen des katholischen Frankreichs zu suchen, die sich teils klug zurückhielten, meist jedoch aber einem hemmungslosen Nationalismus huldigten. Hoffnung setze man deshalb allein auf das ‚junge katholische Frankreich‘. Auf dieses hatte schon 1913, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, der damalige Düsseldorfer Religionslehrer Hermann Platz (1880–1945) in seiner Schrift Die Früchte einer sozial-studentischen Bewegung hingewiesen in der Erwartung, damit das ‚junge katholische Deutschland‘ zu erreichen.4 Nun, sechs Jahre später, erinnerte das Hochland an jenes junge katho­ lische Frankreich  : Die Sympathien, die es auf sich gezogen habe, hätten auch die Kriegsjahre nicht auszulöschen vermocht. Auf dieses Frankreich vertraue man, „daß es ein Herz, weit, tapfer und gläubig genug habe, um die Einheit der Christenheit zu ersehnen und zu verwirklichen“5.

2 Ebd., S. 113. 3 Ebd., S. 114. 4 Platz, Die Früchte einer sozial-studentischen Bewegung. 5 … und wir Katholiken  ?  !, S. 115.

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Hermann Platz – Prägung und Orientierung Es mag irritieren, einen Beitrag über Hermann Platz, den Mitbegründer der zwischen 1925 und 1930 erscheinenden Zeitschrift Abendland mit einem Artikel der Zeitschrift Hochland aus dem Jahr 1919 zu beginnen. Drei Gründe mögen der Rechtfertigung dienen  : Erstens war der ‚Abendland‘-Gedanke des 20. Jahrhunderts zwar nicht ein Produkt des Weltkrieges, wurde durch diesen jedoch wesentlich befeuert. Zweitens war der Romanist Platz, von dem im Folgenden die Rede ist, Mitarbeiter beider Zeitschriften, des Münchener Hochland 6 wie des in Köln erscheinenden Abendland  ; seine Vorstellungen, die zur Gründung der letzteren führten, formten sich vor 1925, wesentlich stimuliert durch eine intensive Rezensionstätigkeit für das Hochland. Und drittens  : Einem Brief an dessen Herausgeber Carl Muth (1867–1944) lässt sich entnehmen, dass der anonyme Artikel „… und wir Katholiken  ?  !“ von niemand anderem als Platz selbst stammte.7 Durch seine Transferarbeit in der Vermittlung der geistigen Bewegungen Frankreichs  – ein klein wenig auch Russlands, was mit seinem Kriegseinsatz zusammenhängt – wuchs Platz allmählich das zu, wofür er später vielfach in Aufsätzen und Büchern warb  : eine Vorstellung von ‚Abendland‘, in dem er den bestmöglichen Garanten des Friedens für Europa erblickte. Wer war Hermann Platz  ? Ich beschränke mich auf wenige Striche seiner Biographie.8 Platz stammte aus dem vorderpfälzischen Offenbach nahe Speyer und hatte schon als Kind französisch gelernt, weil sein Vater, der einige Jahre seiner Lehrzeit in Frankreich verbracht hatte, eine französische Zeitung hielt. Früh fühlte er sich zu romanischen Kulturen hingezogen, erwarb eine italienische Grammatik und begann Spanisch zu lernen.9 Nach dem Abitur machte Platz eine Romfahrt, wo er im Herbst 1900 auf dem ersten internationalen Studentenkongress Carl Sonnenschein (1876–1929) und Marc Sangnier (1873–1950) kennenlernte, die ihn begeisterten und für den demokratischen Gedanken einnahmen.

6 Zum Hochland vgl. insbes. Giacomin, Zwischen Katholischem Milieu und Nation  ; Pittrof (Hg.), Carl Muth und das Hochland (1903–1941). 7 Vgl. 1. Oktober 1919 Platz an Muth. BSB NL Muth (Ana 390) II.A. 8 Platz, Die Welt der Ahnen  ; Berning, „Hermann Platz“  ; ders. (Hg.), Hermann Platz 1880–1945  ; Becker, „Wegbereiter eins abendländischen Europa“  ; ders., Art. „Hermann Platz“  ; Pittrof, „Hermann Platz als Vermittler des französischen Renouveau catholique“  ; Pöpping, „Hermann Platz“. 9 Man wird kaum fehlgehen, darin den Einfluss seines Nenn-Onkels Sebastian Merkle, des Würzburger Kirchenhistorikers, zu sehen, den Platz in den Ferien im Haus seines Stuttgarter Onkels kennenlernte. Merkle, ein begnadeter Geschichtenerzähler, hatte etliche Jahre in Rom studiert und in Spanien auf abenteuerliche Weise zentrale Quellen für seine Edition zum Concilium Tridentinum gesammelt.

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Zurück in Deutschland, trat Platz den Militärdienst an, den er jedoch vorzeitig verließ, um in Würzburg Theologie zu studieren. Hier traf er auf Theodor Abele (1879– 1965), der ihm lebenslang Freund blieb, und empfing vom Reformtheologen Herman Schell (1850–1906) die Grundlagen seines geistigen Lebens. Aufgrund einer inneren Krise wechselte Platz nach zwei Jahren zur Romanistik und zusammen mit Abele an die junge Reichsuniversität Straßburg, dem Brücken­ kopf zwischen deutscher und französischer Kultur. In der CV-Verbindung Badenia trafen sie auf Heinrich Brüning (1885–1970), den späteren Reichskanzler, und Paul Simon (1882–1946), nachmals Philosophieprofessor in Tübingen, dann Dompropst in Paderborn. Zu dem Kreis stießen später von Metz her der Luxemburger Robert Schumann (1886–1963), außerdem Ildephons Herwegen OSB (1874–1946), Alois Dempf (1891–1982) und Franz Xaver Münch (1883–1940), mit dem Platz den Katholischen Akademikerverband gründete. Der Kreis ließ sich inspirieren von der von Frankreich und Belgien ausgehenden liturgischen Neubesinnung. Nachdem Platz 1905 sein Staatsexamen abgelegt und seine Promotion über ein sprachwissenschaftliches Thema abgelegt hatte, heiratete er und war von 1906–1919 Studienrat in Düsseldorf. Der Weltkrieg führte ihn von Mai 1915 bis Januar 1919 an die Front im Osten, wo er zuletzt als Dolmetscher und Eisenbahnkontrolloffizier in der ­U kraine Dienst tat. Die europäische Selbstzerstörung bewegte ihn, der stark jenseits geographischer und nationaler Grenzen dachte, tief. Er war von der Notwendigkeit eines Neuanfangs ‚aus dem Geist der Liturgie‘ – das heißt aus dem verbindenden, versöhnenden, einigenden Band des Glaubens  – überzeugt. Später nannte er dies ‚Abendland‘. Nach dem Krieg von Düsseldorf nach Bonn versetzt, erhielt Platz an der dortigen Universität zunächst einen Lehrauftrag für neue französische Literatur und französisches Geistesleben, wurde 1924 zum Honorarprofessor ernannt, musste neben seiner universitären Lehrtätigkeit aber weiterhin ein (reduziertes) gymnasiales Unterrichtsdeputat erfüllen. Gleichwohl fand er Zeit für eine reiche publizistische Tätigkeit. Am 11. August 1925 hielt Platz auf Vorschlag der Zentrumspartei im Reichstag die Rede zum Tag der Republik.10 Der Nationalsozialismus ging nicht spurlos an ihm vorüber  ; allzu offenkundig war seine Ablehnung nationalsozialistischen Gedankenguts, verdächtig seine frankophilen Ansichten. Weil er als „fanatischer politischer Katholik“11 charakterisiert wurde, entzog man ihm 1935 den Lehrauftrag.12 Nach dem Krieg wurde er durch die englischen Besatzungsbehörden zum Leiter der Kulturabteilung 10 Vgl. Pittrof, Hermann Platz, S. 104. 11 Ebd. 12 Dennoch konnte Platz auch in den folgenden Semestern offenbar weiter Vorlesungen halten.

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ins Oberpräsidium der Nord-Rheinprovinz berufen13, starb jedoch bereits am 4. Dezember 1945 an den Folgen einer Operation. Von besonderer Bedeutung sind in unserem Zusammenhang folgende Knotenpunkte seiner Biographie  : Platz war ein Grenzgänger in mehrfacher Hinsicht  : Zunächst geographisch-kulturell. Als Grenzländer war ihm die Liebe sowohl zu Frankreich als auch zu Deutschland von Haus aus mitgegeben. Grenzgänger war er auch familiär  : seine Vorfahren väter­ licherseits waren Mühlenbesitzer und Bierbrauer, die Vorfahren mütterlicherseits Winzer. Grenzgänger war Platz auch im Religiösen  : Vermutlich waren es fami­liäre Religionsprägungen, die den heranwachsenden Platz zu einer begründeten Entschiedenheit im Religiösen drängten, deren Folge das Studium der Theologie und Philosophie war. Platz damaliges Umfeld begünstigte seine Verankerung im Katholizismus, die Verheiratung mit einer protestantischen Frau seine ökumenische Brückenarbeit. Das multiple Grenzgängertum verlangte ebenso nach einem wachen, flexiblen und kreativen Geist wie nach charakterlicher Festigkeit gewonnener Überzeugungen. Ein Kontinuum war und blieb für Platz deshalb die schöpferische Spannung zwischen tiefer Gläubigkeit und grenzenlosem Wissensdurst, zwischen objektivem, erkennendem Wissen und subjektivem, einfühlendem Erleben, zwischen Tradition (als Reichtum und Wert) und Fortschritt (nicht um seiner selbst, sondern einer höheren Aufgabe willen). Die Republik Frankreich besaß im Denken und Arbeiten des Rheinländers Platz einen hervorragenden Stellenwert. In immer neuen Anläufen nahm er sich der geistigen Entwicklung des westlichen Nachbarn an. Wichtig scheint für das Verständnis des Nachfolgenden zu sein  : Berührt durch seine persönliche Begegnung mit Marc Sangnier im Rom-Erleben des Jahres 1900 und interessiert für die hoffnungsvolle Entwicklung des jungen französischen Katholizismus, beschäftigte sich Platz intensiv mit dem renouveau catholique und machte 1911 in einer ganzen Serie von Artikeln die von Sangnier initiierte, von Pius X. jedoch am 25. August 1910 verurteilte14 und deshalb aufgelöste christlich-demokratische Jugendbewegung Sillon im katholischen Deutschland bekannt15. Dazu kam in dieser ersten, bis zum Beginn des Weltkriegs anhaltenden Phase die Prägung durch die Liturgische Bewegung, die ebenfalls auf 13 Inwieweit ihm hier seine lange Freundschaft mit Robert Schuman zugute kam, der im Nachkriegsfrankreich zunächst als Abgeordneter der Nationalversammlung und Präsident des Finanzausschusses, dann als Minister und zeitweiliger Ministerpräsident eine politische Rolle spielte, wäre zu klären. 14 Vgl. das Apostolische Schreiben Notre charge apostolique, abgedr. in  : Utz und von Galen (Hg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung, S. 402–439. 15 Platz, „Der Sillon“. – 1914 folgtte  : ders., „Demokratie und Religion in Frankreich“. – Vgl. auch Becker, „Marc Sangnier und Hermann Platz“.

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eine fundamentale, aus dem Innern kommende Erneuerung der eigenen Existenz, der christlichen Gemeinschaft (Kirche) und der – dann als ‚abendländisch‘ verstandenen – Gesellschaft zielte. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs war für den, über die Grenzen hinweg Vernetzten ein Ereignis von einschneidender Tiefe.

Wider den französischen Nationalismus Die Kriegsschrift maßgeblicher Kreise französischer Katholiken, die den deutschen Katholiken Hochverrat an ihrer Religion vorwarfen16, veranlasste Platz 1915 an dem vom Münchner Kirchenhistoriker Georg Pfeilstifter (1870–1936) herausgegebenen Band Deutsche Kultur, Katholizismus und Weltkrieg mitzuarbeiten, dessen Ziel es war, die französischen Angriffe gegen die Vaterlandstreue der deutschen Katholiken zurückzuweisen.17 Drei Jahre später nahm Platz einen distanzierten und auch pointiert differenzierenden Standpunkt ein. In einer Rezension der Kriegsschrift Deutscher und französischer Katholizismus in den letzten Jahrzehnten18, die der Bonner Kirchenhistoriker Heinrich Schrörs (1852–1928) herausgegeben hatte, schrieb er im März 1918  : Die peinlichen Auseinandersetzungen zwischen französischen und deutschen Katholiken gehen weiter. Eindruckslos scheint verhallt zu sein, was die deutschen Katholiken zur Abwehr der französischen Angriffe geschrieben haben. Wir stehen schmerzlich bewegt vor der nicht aus der Welt zu schaffenden Tatsache, daß unsere Glaubensbrüder in Frankreich leichtfertig das Band der katholischen Einheit zerrissen haben und immer unheilvoller zerreißen, um die Mißachtung der ganzen katholischen Welt auf uns fallen zu lassen.19

Das Toben gegen die deutschen Katholiken habe seinen alleinigen Grund in dem überhitzten Nationalismus der auch im katholischen Volk Frankreichs herrsche und sich fatalerweise stark mit dem Religiösen verbinde. Schrörs unternehme nun einen aus der Not geborenen Gegenangriff mit dem Ziel, anhand der Geschichte zu zeigen, „wie nach den den deutschen Katholiken gegenüber befolgten Methoden der Polemik 16 La Guerre Allemande et le Catholicisme. 17 Platz, „Der französische und der deutsche Kulturkampf in ihren Ursachen und Folgen“. Vgl. auch Arnold, „La Guerre Allemande et le Catholicisme (1915)“. – Später untersuchte Platz die Geschichte des französischen Nationalismus näher  : Platz, „Zur Geschichte des französischen Nationalismus“.  – Es folgte später  : ders., „Nationalismus im Denken der Vorkriegszeit“. 18 Schrörs (Hg.), Deutscher und französischer Katholizismus in den letzten Jahrzehnten. 19 P[latz], „Deutscher und französischer Katholizismus“, S. 688.

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sich unvergleichlich Schlimmeres gegen die Katholiken Frankreichs sagen ließe, und wie ungerecht darum die gegen uns geschleuderten Anklagen sind“.20 Platz scheidet die französischen Katholiken in seiner Rezension in zwei Lager  : ‚Traditionalisten‘ und ‚Progressive‘, glaubt bei Schrörs die Traditionalisten allzu positiv, die Progressiven jedoch zu negativ bewertet. Demgegenüber betont Platz, die Passivitätskrise gehe allein auf die Rechnung der Traditionalisten. Ihr oberflächlicher „Sakristeikatholizismus“ mit seiner „verdünnten geistigen Atmosphäre“ bilde den Nährboden, auf dem die Krisen (Amerikanismus, Modernismus, der Sillon und überhaupt der ‚Demokratismus‘) erst hätten gedeihen können.21 Die Verkoppelung des Nationalismus mit dem ‚Amoralismus‘ der Action française habe im Krieg das Universalbild der Kirche empfindlich gestört. Während Schrörs mit einer fortdauernden Gegnerschaft der französischen Katholiken und eventuell des ganzen katholischen Westeuropa (einschließlich Amerika) rechnet, sieht Platz jedoch optimistischer in die Zukunft. Der Begriff ‚Abendland‘ taucht hier noch nicht auf. Aber Platz macht deutlich, dass er sich von der Idee eines ‚katholischen Universalismus‘ eine Befriedung der Völker erhofft. Auch in anderen Publikationen setzte Platz auf ein neues Miteinander der Völker, ein neues Europa als Werk der jungen Weltkriegs- und Schützengrabengeneration22, die von ihrem Hass ablässt und stattdessen „Demut und Seelenfrieden“ sucht. Nicht umsonst wurde nun in seinen Publikationen die ‚Seele‘, die Suche nach der ‚Seele‘ – gemeint ist etwas Wesenhaftes – zu einem zentralen Schlagwort.23

Verkennung und Klarstellung 1919 trat der ansonsten unbekannte französische Geistliche Marcellin Pradels24 an Platz und andere heran mit der Einladung zur Teilnahme an einer „Französisch-rheinischen Zeitschrift“. 20 Ebd., S. 689. 21 Dies war eine Hermeneutik, die Platz bei Merkle gelernt hatte. Vgl. Merkle, Die katholische Beurteilung des Aufklärungszeitalters, S. 77 f. 22 Platz, „Krieg und Seele in Frankreich“. 23 Vgl. allein die Titel (in chronologischer Reihenfolge)  : „Platz, Kultur und Seele vor dem Weltkriege“  ; ders., „Krieg und Seele“  ; ders., „Krieg und Seele in Frankreich“  ; ders., „Aufgaben der deutschen Katholiken angesichts der seelischen Lage“  ; ders., „Neue Zeit, neue Seele, neue Jugend“, S. 257 f. – Das ‚Wesenhafte‘ lag freilich im Zug der Zeit. Programmatisch fand es seinen Ausdruck etwa in dem, allerdings erst wenig später in erster Auflage erschienenen ‚Bestseller‘ von Karl Adam, Das Wesen des Katholizismus, Augsburg 1924. 24 Pradels hatte sich seit 1898 fast ununterbrochen in Deutschland aufgehalten, war 1904 in Münster mit

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Platz reagierte heftig und wies die Einladung in einem Artikel „Um Rhein und Ehre“ in äußerst scharfer Form zurück, empört darüber, „daß er mir eine zweideutige Rolle zu spielen zumutet in demselben Augenblick, wo er mir seine uns ­Deutsche und besonders uns deutsche Katholiken verunglimpfenden Schriften unter die A ­ ugen kommen läßt“25. Die alte französische Sehnsucht nach dem Rhein sei nun offenbar in „eine neue Periode unbegrenzter Möglichkeiten der Erfüllung“ getreten. Seit dem Zurückweichen der deutschen Heere versuche Frankreich auf tausend Wegen, über die Deutschen Herr zu werden. Ein „harter Kampf um die Seele des Rheinländers“ habe offenbar begonnen.26 Und die Art, wie Pradels die Sache anfasse, lasse „Unheilvolles“ fürchten. Worum handelte es sich  ? Soeben erschienen war ein Erlebnisbericht über die Kriegsgefangenschaft Pradels in Deutschland27, den Platz als ein Kompendium von Bosheiten gegen die Deutschen charakterisierte28, weil hier wieder einmal „von geistlicher Seite an hohen und höchsten katholischen kirchlichen Würdenträgern schärfste Kritik geübt“29 wurde. Denselben boshaften, gegen Deutschland gerichteten Ton glaubte Platz auch in einer weiteren Schrift Pradels En pays rhénan. Confé­ rence donnée à ‚la Démocratie‘30 feststellen zu müssen. Pradels Stellung zum Deutschtum sei völlig einseitig, er setze eine kulturelle Vormachstellung Frankreichs voraus31 und betrachte die Rheinländer als eigenes Volk, um sein Unternehmen auf eine ethnologische Grundlage zu stellen, ­während die Rheinländer doch nur einen „Stamm“ bildeten, der wisse, „daß seine geschichtliche Aufgabe nur innerhalb der deutschen Schicksalsgemeinschaft sein kann, wenn auch mit gewissen Randfunktionen“. Das von Pradels gezeichnete Bild der Rheinländer sei interessengeleitet und widersprüchlich. Einerseits werde behauptet, die Rheinländer huldigten einem Napoleonkult und freuten sich über die franzöeiner Studie über den Dichter Emanuel Geibel (1815–1884) und dessen Verhältnis zur französischen Lyrik zum Doktor der Philosophie promoviert worden und hatte von 1907 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Köln ein Französisches Institut geleitet. 25 Platz, „Um Rhein und Ehre“, hier S. 129. 26 Ebd. 27 de Lagardette, „Prisonnier civil ou histoire d’un prêtre français“. 28 Etwa wenn berichtet werde, ein geistlicher Mitgefangener habe eine lateinische Abhandlung über die Geistesverfassung der Deutschen geschrieben, deren Schlusssatz lautete  : „Die Deutschen sind nicht Übermenschen, sondern Überschweine.“ Platz, „Um Rhein und Ehre“, S. 133. 29 Ebd., S. 132. 30 Pradels, „En pays rhénan. Conférence donnée à ‚la Démocratie‘“. 31 Schon in seiner Dissertation habe Pradels versucht, den „deutschen Lieblingsdichter“ Geibel zum Plagiator der großen französischen Romantiker zu machen. Vgl. Pradels, Emanuel Geibel und die französische Lyrik.

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sischen Besatzungstruppen. Andererseits erkenne Pradels doch klar, dass der von ihm als ‚vollkommenes Werk‘ bezeichnete Friedensvertrag von Versailles nach Ansicht der Deutschen „erniedrigende und ihrer Ehre abträgliche Klauseln enthält“, die sie nicht vergessen könnten und zur Revanche treibe. Die Position Pradels empfand Platz als Zumutung  : Der französische Katholik darf also ruhig auf dem Standpunkt engsten Nationalismus stehen bleiben, er darf den Gewaltfrieden, den Frieden der Ungerechtigkeit vollkommen finden, gleichzeitig sollen aber die katholischen Rheinländer als Idealisten handeln und im Interesse Frankreichs die Forderungen des christlichen Universalismus verwirklichen. Ist dieser Idealismus nicht selbstmörderisch, wenn die andere Seite krampfhaft an ihrem engsten Nationalegoismus festhält  ? Dürfen wir Katholiken unserem Vaterland gegenüber diese selbstmörderische Haltung einnehmen, solange sich nicht wenigstens auch die französischen Katholiken auf den gleichen Standpunkt stellen und so Aussicht besteht, daß der Sauerteig beiderseits das Ganze ergreift und zur höheren Menschlichkeit durchbildet  ?32

Die französischen Katholiken seien „in ihrer gegenwärtigen Geistesverfassung“ offenbar kaum imstande, „das große Werk der Völkerversöhnung in Angriff zu nehmen“. Zwar werde als Zweck der Französisch-rheinischen Rundschau im deutschen Prospekt „Abbau des Hasses, Ausbau der Liebe“ angegeben, denn dies sei „ein Gebot der katholischen Kirche“, die „die wahre Internationale“ sei. Die französische Ankündigung nenne als Zweck der Zeitschrift hingegen recht einseitig das Ziel, „Verständnis und Liebe für Frankreich zu schaffen“33, zugleich aber auch solche Fragen „kräftig zu erörtern“, die ausschließlich Preußen und Protestanten angingen. Platz wertete dies als Beleg für die alte französische Strategie, einen immer tieferen Keil zwischen die (katholischen) Rheinländer und die (protestantischen) Deutschen zu treiben. Platz  : Der Verherrlichung Gottes dienen wir, ihr bringen wir Opfer, auf diesem Boden reichen wir jedem die Hand zu brüderlichem Wirken, nicht aber der Verherrlichung Frankreichs. Frankreichs ‚einzigartige‘ Mission und Größe ist kein Dogma. Wir wenden uns gegen den ‚Glauben, daß neue Himmelsweisheit aus Frankreich über all die andern Nationen, die im Schatten liegen, ausstrahle, daß Frankreich der neue Zionsberg des Weltalls sei‘.34

32 Platz, „Um Rhein und Ehre“, S. 136. 33 Ebd., S. 130 f. 34 Ebd., S. 137.

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Entgegen aller Beteuerung stecke bei Pradels, „der Hass in Wirklichkeit noch tief drinnen“, blitze an vielen Stellen „Ironie, Sarkasmus und Verachtung“ durch.35 Er sei also keineswegs der geeignete Mann, eine Zeitschrift zu inspirieren, die der Versöhnung zwischen dem katholischen Frankreich und dem katholischen Rheinland dienen wolle.

Erste Ahnungen von Europa und vom Abendland Im Januar 1920 ließ Platz im Hochland unter dem Titel „Frankreich am Scheideweg“ – wie schon früher in seinem Aufsatz „Krieg und Seele in Frankreich“  – ein Frankreich-Bild erstehen, das geradezu als Gegenbild zu Pradels französischem Deutschland-Bild anmuten musste. Es handelte sich um eine Rezension des von Ernst Robert Curtius (1886–1956) verfassten Buchs Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich36, das aus Bonner Vorlesungen vom Sommer 1914 erwachsen war.37 Platz, der eine öffentliche Entgegnung Pradels erwartet hatte38, suchte hier im Anschluss an Curtius eine eigene Position zu finden39. In indirekter Bezugnahme auf Pradels stellt er fest, Curtius habe „nicht hingehört auf die Stimme des geister- und seelenverwirrenden Hasses, die aus Frankreich erklungen sind“. Vielmehr sei es ihm gelungen, „mit der deutschen Unbefangenheit der Vorkriegszeit eine wunderbare anziehende Auslese dessen zu bieten, was ‚auf dem Boden des zeitgenössischen französischen Schrifttums einer gemeinsamen neuen Geisteswelt Europas zuwächst‘“.40 In André Gide (1869–1951), Romain Rolland, Paul Claudel (1868–1955), André Suarès (1868– 1948) und Charles Péguy (1873–1914) sehe Curtius Wegbereiter des neuen Frankreich. Man darf wohl annehmen, dass Platz vor allem durch diese Rezension auf die Spur seiner späteren Abendland-Konzeption gekommen ist. Die Grundüberzeugung Rollands, „daß alles Sein seine Wirklichkeit nur in der Bewegung seines Fließens hat“41 und dass dies im Rhein symbolisiert werde, könnte Platz zum Titel seines späteren 35 Ebd., S. 139. 36 Curtius, Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich. 37 Platz, „Frankreich am Scheideweg“, hier S. 458. 38 Diese Replik Pradels wurde vom Hochland zurückgewiesen. Muth nahm – von Platz munitioniert – im Februar 1920 Stellung und wandte sich ebenfalls gegen Pradels Absicht einer „moralischen Eroberung“ („conquête morale“) des Rheinlands. M[uth], „Nochmals ‚Um Rhein und Ehre‘“, S. 606 f. 39 Platz, „Frankreich am Scheideweg“, S. 458. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 460.

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Sammelbandes Um Rhein und Abendland 42 inspiriert haben. Bei Péguy fasziniert ihn dessen Lebenskonzept, das über die reine Natur hinausging ins Geistige, das selbst der Tod nicht überwindet  : „Echtes Leben, volle Wirklichkeit entsteht aber nach Péguy nur da, wo der Strom des Ewigen in das Zeitliche einschießt, wo mitten im Alltag Ewiges aufleuchtet für den, der vom Ewigen weiß und der versteht, die eingewebten Fäden des Ewigen auszusondern.“43 Dies aber sei nur die eine Seite der Medaille. Die andere sei, dass alles dränge zur „Verwirklichung“, zur „Tatsetzung“. Dies mache verständlich, weshalb Péguys Katholizismus ein „Inkarnationschristentum“ sei. Das vitalistische Streben nach „Volleben“ und „Vollwirklichkeit“ habe die von Curtius behandelten Männer veranlasst, „den Rahmen der lateinischen Tradition zu brechen und nach neuen Werten Ausschau zu halten. […] Das Abstreifen der lateinischen Tradition zeigt sich nur noch in der Form seiner Prosa.“44 Auch bei Claudel sieht Platz vor allem Tiefgang statt Oberflächlichkeit  : Claudels Christentum ist nicht religiöse Tönung des Daseins, sondern die grundlegende und universale Wahrheit über die Welt […]. Mag Claudel auch der Oberflächenbewegung gefolgt sein und Äußerungen nationalistischer Befangenheit getan haben, sein Werk ist deshalb doch die tiefste und sicherste Überwindung aller von Menschengeist erfundenen und von Menschenhand getürmten Gegensätze.45 Und  : Zu dem Glauben, den Romain Rolland seine Weltanschauung nennt, gehört als wesentlicher Bestandteil die Idee Europa, d. h. insbesondere die moralische Solidarität von Deutschland und Frankreich. Rom und Deutschland hatten ihm einst die entscheidenden Erlebnisse hiezu gebracht. Von den römischen Hügeln sah er ‚das Schauspiel unseres Okzidents, und von hier aus gesehen verschmelzen unsere getrennten Nationen alle in einer Harmonie gleich jener, die Rom am Abend vom Janikulum aus bietet. – Diese Harmonie zu verwirklichen, daran müssen wir arbeiten, wir Männer aller Rassen und aller Nationen. Die Kämpfe unserer Völker selbst dürfen uns nicht davon abhalten‘.46

Dass Platz hier Rom als Gedächtnis- und Erinnerungsort ausweist, ist sicher seinem eigenen römischen ‚Erweckungserlebnis‘ geschuldet, eignete sich aber auch deshalb besonders gut, weil Rollands Weltanschauung „geistesgeschichtlich der Sphäre der

42 Platz, Um Rhein und Abendland. 43 Platz, „Frankreich am Scheideweg“, S. 460 f. 44 Ebd., S. 461. 45 Ebd., S. 461. 46 Ebd., S. 462. Platz zitiert hier einen Brief von Rolland aus dem Jahr 1912.

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protestantisch-musikalisch verinnerlichten Persönlichkeitskultur“ nahestand47, womit die Chiffre ‚Rom‘ die Limitation des Konfessionellen verlor und erst recht zu dem das Nationale überwölbenden Horizont wurde. Als Konzentrat der Vorstellungen Rollands zitiert Platz aus dem letzten Band seines Romans von 1912  : Wer ahnt in Frankreich die Kraft der Sympathie, die so viele adlige Herzen des Nachbarlandes zu Frankreich hintreibt  ! […] Und ihr seht uns auch nicht, Brüder aus Deutschland, die wir euch sagen  : hier unsere Hände. […] Wir sind die beiden Flügel des Abendlandes. Wer den einen zerbricht, lähmt den Flug des andern.48

Damit waren für Platz entscheidende Stichwörter gefallen und vermutlich auch die entscheidenden Gedanken durchdacht, die ihn in den kommenden Jahren immer stärkeren Anschluss an den Begriff des ‚Abendlandes‘ finden ließen. Die Frage, die ihn fortan umtrieb  : Wie war eine Annäherung zu erreichen, wenn es für den französischen Geist keine Möglichkeit einer überlateinischen Entwicklung gab  ? ­Claudel und Péguy waren den Weg der lateinischen Tradition zurückgegangen. Rolland und Suarès betonten die Form, die auf den ‚klassisch-liturgischen Höhenweg‘ zurück­ führte, den die Benediktiner  – in Frankreich wie in Deutschland  – in Richtung Frieden gewiesen hatten.49 „Brauchen“ – so fragt Platz – „nicht auch wir [Deutsche] gerade das, um unserer unruhigen Seele die endgültige Form zu geben  ? Wenn in diesem Sinn hüben und drüben das Gestaltungsproblem in den Vordergrund gerückt und tätig in Angriff genommen würde, wäre nicht auch das ein Weg, dem Geiste der neuen Zeit zu dienen  ?“50

Eine entscheidende Zwischenstufe: Die ‚rheinische Aufgabe‘ In den folgenden Jahren fuhr Platz fort, in seinen Beiträgen für das Hochland, in anderen Zeitschriften und in selbständigen Schriften, seine deutschen Leser über die 47 Ebd., S. 462. 48 Ebd., S. 463. 49 Die Liturgische Bewegung gehörte seit seinen Erfahrungen in Maria Laach zu den zentralen Anliegen von Platz. Vgl. neben mehreren Aufsätzen insbes. Platz, Zeitgeist und Liturgie  ; ders., „Von Schell zu Festugière – Wie wir zur Liturgie gekommen sind“  ; ders., „Erste Begegnungen mit Maria-Laach“. – Zur Liturgischen Bewegung vgl. insbesondere die wichtige Untersuchung von  : Langenbahn, „Die Anfänge der modernen Liturgischen Bewegung“. 50 Ebd., S. 465.

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geistig-kulturelle Entwicklung in Frankreich auf dem Laufenden zu halten. 1922 publizierte Platz den Band Geistige Kämpfe im modernen Frankreich. Über seine Motive schrieb er im November 1921 an Muth  : Was das Buch über Frankreich angeht, so habe ich noch einen weitergehenden Plan. So ungern man sich jetzt mit französischen Dingen beschäftigt, wir müssen doch sehen, dass wir für eine fernere, hoffentlich bessere Zukunft arbeiten, wo der geistige Austausch zwischen Deutschland und Frankreich wieder unter normaleren und fruchtbarer Randbedingungen vor sich gehen würde. In Bezug darauf könnte man das Buch als 1. Nummer einer Sammlung ‚Studien aus dem Gebiet des französischen Geisteslebens‘ [herausgeben].51

In der Korrespondenz mit Muth gibt es im Frühjahr 1922 dann einen ersten Hinweis zu einem Buchprojekt unter dem Titel „Abendland als Aufgabe“.52 In einem Brief vom 7. August 1922 skizziert er knapp seine Überlegung, die später allerdings nicht mehr auftaucht  : „Zwischen der Tatwelt des Angelsachsentums und der Traumwelt des Ostens steht die Ideenwelt des europäischen Westens. Es gilt, unsere geistige Lage abzugrenzen. Haben das ‚Wort‘, die ‚Form‘, die ‚Logik‘, die ‚Dogmatik‘, die ‚Liturgie‘ noch eine Zukunft und welchen Anteil hat ‚der Deutsche‘ an dieser Welt  ?“53 Indes übernahm Platz ‚Abendland‘-Bücher zur Besprechung im Hochland. Im Februar 1923 versicherte er Muth, seine Besprechung komme bald, obwohl „einem z[ur] Z[eit] das Herz nicht nach Abendland steht. Es ist schrecklich hier [gemeint ist  : im Rheinland]. Die Herzen halten die Spannung bald nicht mehr aus.“54 Der Aufsatz, der noch im selben Jahr erschien, trug dann den Titel  : „Das Ringen um die abendländische Idee“55. Platz ist sich bewusst, dass damit ein Neues beginnt. Denn er publiziert noch im Jahr darauf gleich zwei selbstständige Schriften, die diese neue semantische Fassung seines Denkens aufgreifen  : In der Flugschriftenreihe der Rhei51 11. November 1921 Platz, Bonn, an Muth. BSB NL Muth (Ana 390) II.A. 52 „Dass Sie dem Verlag [Kösel] geraten haben, meinen Plan betreffend ‚Abendland als Aufgabe‘ freundlich gegenüberzutreten, hat mich zu großem Dank verpflichtet“. 12. März 1922 Platz, Bonn, an Muth. BSB NL Muth (Ana 390) II.A. – Aus dem Band bei Kösel wurde nichts. 53 7. August 1922 Platz, Bonn, an Muth. BSB NL Muth (Ana 390) II.A. Platz deutete den Fokus an  : „Es wäre eine grundsätzliche Behandlung der seinerzeit von mir in ‚Formweite und Wesenssehnsucht‘ angedeuteten Probleme“. Gemeint war  : Platz, „Wesenssuche und Formwille“. – Bereits zwei Jahre zuvor war die berühmt gewordene Schrift Gesetz der Form des Theologen und Historikers Hermann Hefele erschienen. Zur Funktion der christlichen ‚Liturgie‘ hatte Platz schon 1915 eine erste Publikation vorgelegt  : Platz, „Die Sehnsucht nach dem Organischen im Lichte unserer Liturgie“. Es folgte nach dem Weltkrieg  : Platz, Zeitgeist und Liturgie. 54 26. Februar 1923 Platz an Muth. BSB NL Muth (Ana 390) II.A. 55 Platz, „Das Ringen um die abendländische Idee“.

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nischen Zentrumspartei erscheint die nur 31 Seiten starke, programmatische Broschüre Deutschland – Frankreich und die Idee des Abendlandes56 sowie – gewichtiger – sein dickes Werk Um Rhein und Abendland57. Dass dieser Band fast ausschließlich frühere Aufsätze enthält, in denen die neue Semantik noch eine ganz untergeordnete Rolle spielte, zeigt wohl am deutlichsten, dass Platz selbst in seinem Denken eine kontinuierliche Entwicklungslinie sah. Der Abendlandgedanke erwuchs ihm sukzessive aus jahrelangem Mühen um ein vertieftes Verständnis Frankreichs. Noch 1923 scheinen  – für einen Moment  – die ‚rheinische‘ Aufgabe und die abendländische ‚Aufgabe‘ deckungsgleich, scheint Platz zu schwanken in der Entscheidung für den rechten Begriff für die gemeinte Sache. In seinem nur zweiseitigen Beitrag „Von rheinischer Art und Aufgabe“, der 1923 in Romano Guardinis (1885–1968) Rothenfelser Zeitschrift Die Schildgenossen erschien58, hat noch die alte Begrifflichkeit die Übermacht. Platz versucht in sprachlich und bildlich dichter Form zu fassen, was er zu erkennen meint und ihm zugleich zur Passion wurde  : Der Rhein ist ihm „die große westeuropäische Völkerrinne, um die Germanen- und Romanentum seit Jahrtausenden lagern und lauern“. Er rekurriert auf den Rheinländer und katholischen Revertiten Joseph Görres (1776–1848), der im 19. Jahrhundert im Blick auf eine Rheinfahrt so formuliert hatte  : „Man kömmt durch allerlei Volks, fremdes und einheimisches, und reist zugleich in einer Provinz und in ganz Europa um.“ Diesen Gedanken greift Platz auf  : Im Rheinland ist Europa, das ‚Abendland‘, zugegen. Das Rheinland ist aber auch noch in anderer Hinsicht der Boden, der immer über das Eigene hinausweist. Dafür steht ihm der Kölner Dom  : Nicht daß er gotisch ist, ist das Wesentliche, sondern daß er das Mittelalter, das Ewig­ alter ist, und daß er neben einem der größten Bahnhöfe Europas steht. Er beherrscht geistig, unsichtbar stromauf, stromab die Lande am Rhein. Nicht der Spitzbogen, sondern die Idee, die ihn geschaffen und erhält, ist das Wunderbare, das Ewige und das ewig Neuschöpferische, mit dem wir noch heute hier enge verbunden sind […] als Zeichen, daß Zeit und Ewigkeit vermählt erst Wirklichkeit ergeben. […] Die Menschen am Rhein haben die Eigenart, daß sie gleich stark im Ewigen und im Zeitlichen, im Geistlichen und im Weltlichen wurzeln. Wie heimisch sind sie noch heute, inmitten einer einseitig irdisch-materiell gerichteten Kultur, in beiden Wirklichkeitsbereichen  !59

56 Platz, Deutschland – Frankreich und die Idee des Abendlandes. 57 Platz, Um Rhein und Abendland. – Zur Rolle, die Platz dem Rheinland zuwies, vgl. auch  : Platz, „Von rheinischer Art und Aufgabe“, S. 16 f.; ders., „Religiöse Krise und rheinische Aufgabe“, S. 29 f. 58 Platz, „Von rheinischer Art und Aufgabe“, S. 16 f. 59 Ebd.

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Platz skizziert die rheinische Art als eine, die sich bei aller Diesseitigkeit den Sinn fürs Metaphysische erhalten hat, den Rheinländer als einen Typus, den die „Zweckhaftigkeit […] nicht kalt und seelenlos gemacht hat“. Die geographische ‚Mitte‘ – zwischen Frankreich und Deutschland, zwischen Westen und Osten – ist auch die Mitte einer Mentalität, die sich den ungesunden Extremen verweigert. Man fühlt sich an das bekannte Diktum vom ‚katholischen et – et‘ erinnert, das ‚sowohl – als auch‘ ist. Und tatsächlich lässt Platz seine ‚rheinische Art und Aufgabe‘ mit dieser spezifischen Abendland-Vorstellung enden  : Ein Pariser Monist hat vor dem Krieg einmal die Tatsache der christlich-katholischen Treue in einem wirtschaftlich und technisch fortgeschrittensten Lande als eine einzig dastehende Normwidrigkeit bezeichnet. Was hier als fossiler Rest bestaunt wird, ist uns furchtbare Aufgabe  : Wir fühlen uns oft erschreckt in der Mitte und berufen, das Erbe des Abendlands so zu vertiefen, daß es Ausgangspunkt christlicher Erneuerung werden kann. ‚Europa hat keine Zukunft, es sei denn eine christliche‘  ! Dieses Leitwort des ‚Weißen Reiters‘ ist der tiefsten Seele des jungen Rheinland erwachsen.60

Platz beschwört hier – im Rekurs auf die mittelalterliche Gotik des Kölner Doms – die eigentliche Leistung des anationalen europäischen Mittelalters  : die Wirklichkeit nicht im Stofflich-Weltlich-Gegenwärtigen aufgehen zu lassen, sondern die metaphysische Dimension der Realität zu bezeugen und darin das Potential des Neuschöpferischen zu erkennen. Das Rheinische wird ihm so zum Bild eines europäischen Bewusstseins, das alle Limitationen sinnstiftend überwölbt.

Ringen um die abendländische Idee Der kleine Beitrag in der Zeitschrift der bündischen Quickborn-Jugend deutete die Richtung an, die das Platzsche Denken 1923 nahm und es ist nur stringent, wenn er dem, für das Hochland lange vorbereiteten, Aufsatz einen Titel gab, der diese innere Entwicklung zum Ausdruck brachte  : „Das Ringen um die abendländische Idee“. Freilich war dieses ‚Ringen‘ auch in einem anderen Sinne gemeint  : als Auseinandersetzung mit sehr unterschiedlichen Ansätzen, um zu einer Deutung der Gegenwart und ihrer Aporie vorzudringen, als Suchbewegung ohne Scheuklappen ideologischer Art.61 60 Ebd., S. 17. 61 Platz, „Das Ringen um die abendländische Idee“.

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Platz stellt seinem Aufsatz vom Juni 1923, der nichts anderes denn eine ausführliche Sammelrezension war, einige apodiktische Sätze voran, die antithetisch als eine Art Zustandsbeschreibung gedacht waren, die die Gegenwart mit der Vergangenheit kontrastierte. Platz greift auch hier zurück auf das Mittelalter, betont aber zunächst (noch) nicht  – was nahegelegen hätte  – die Religion als einigendes Band der Völker, sondern die (mit der Religion freilich vereinbare, weil die ‚eine Wahrheit‘ erkennende) Vernunft. Dementsprechend konnte auch nicht die Religion, sondern nur die irrationale Übersteigerung der Vernunft die (alles Nationale umgreifende) Einheit zerstören. Im Mittelalter beruhte das geistige Leben auf der Grundvoraussetzung, daß das Denken bei allen Menschen in derselben Weise vor sich geht, daß jeder, der logisch richtig denkt, schließlich zu der einen allgemeingültigen, mit Gewißheit erkannten Wahrheit gelangt. Das ist heute weithin nicht mehr so. Viele kleine und große Geister, kleine und große Nationen haben sich auf ihre Selbständigkeit und Eigensendungen gestellt und verkünden laut ihre Wahrheiten, die vielfach nichts anderes als ihre Vorurteile und Legenden sind. Es ist zutiefst ein Abfall von der Vernunft, hervorgerufen durch das Übermaß dessen, was man ihr zugetraut hat. Schicksal, Rasse, Mut, Wille, Tat, Rausch, das sind die Mächte, die auch über das Denken der abendländischen Menschheit verheerend hereingebrochen sind. Dazu kommt, daß uns infolge der Kriegsgewohnheiten der Glaube an die Ehrlichkeit im geistigen Kampfe abhanden gekommen ist. Die Wahrheit steht nicht mehr wie eine Sonne über uns, sondern ist zur Angelegenheit des Fachwissens, zur Waffe im Kampf ums Dasein geworden. Die Erkenntnis dieser Tatsache ist die Voraussetzung jedes Wiederaufbaues. Europas Zukunft hängt, wenn man zum Letzten vordringt, daran, daß wir wieder der einen, einenden Wahrheit näherkommen. Von den verschiedensten Seiten wird das heute festgestellt.62

Es folgt sodann die Besprechung einer Reihe aktueller Bücher. Festzuhalten ist daraus Folgendes  : 1. Für Platz war es nicht, wie etwa der englische Schriftsteller, Historiker und Soziologe Herbert Wells (1866–1946) von seinem protestantischen Standpunkt aus in dem Buch Die Rettung der Zivilisation63 meinte, die Bibel, die einst die abendländische Zivilisation zusammenhielt, bis diese dann infolge v. a. der Erweiterung der menschlichen Gedankenwelt und der Entwicklung der Wissenschaften zerbrach. Vielmehr habe innerhalb der katholischen Kirche das mittelalterliche augustinisch-thomistische 62 Ebd., S. 308. 63 Wells, Die Rettung der Zivilisation.

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Weltbild die Einheitlichkeit und Sicherheit der Anschauungen begründet. Der Grund für das in der Gegenwart so zufällig, zusammenhanglos und zwecklos erscheinende Leben sei im Verlust des organischen Zusammenhangs mit der Geschichte zu sehen. 2. Die von dem englischen Schriftsteller Ralph Norman Angell (1874–1967) in seinem gegen Versailles gerichteten Werk Die Früchte des Sieges64 vertretene These, dass die religiösen Dogmen – in früheren Zeiten das Kerngerüst des Abendlandes – schließlich „Ideen und Leidenschaften“, Unduldsamkeit, „vergifteten Sozialtrieb“ und Religionskrieg hervorgebracht und so die europäische Gesellschaft zersetzt hätten, wird zurückgewiesen. Richtig sei jedoch, dass man „beim heutigen Laienindividualismus nicht stehenbleiben“ könne, dass es vielmehr irgendein „weltliches Sittengesetz“ oder einen „Höflichkeitskodex“ brauche, dem sich die souveränen Nationalitäten unterordnen müssten. Die Kunst des Zusammenlebens beruhe jedoch auf Ideen, die nicht „technisches Wissen“ seien, sondern eine Form „sozialer Willensbildung“. Um die früher mit Verve vorgetragenen Theorien des Utilitarismus und Sensualismus sei es ruhiger geworden. „Man spürt, daß etwas fehlt  : die große, völkerverbindende Sache, der substantielle Kern, dem einst die Völker des Abendlandes gedient, für den sie sich begeistert und geopfert haben“. Platz nennt – angebotsweise  : Treue, Askese, Caritas. 3. Im Anschluss an die Schrift Psychologische Grundgesetze in der Völkerentwicklung65 des französischen Psychologen und Soziologen Gustav Le Bon (1841–1931) sieht auch Platz in der Erhebung der ‚Rassenseele‘ zur falschen Gottheit eine Verwundung des abendländischen Geistes. Indem die Regulierung der Rassenregungen durch Vernunft, Ethik und Religion ausgeschaltet worden sei, habe man dem Nationalismus und Imperialismus die Tür geöffnet. Als richtig bezeichnet Platz die Vorstellung von der ‚Kraft der Ideen‘ als Kennzeichen des ‚Abendländertums‘. Die Idee des Abendlandes sei Hingabe an eine Idee. Gegen den Romanisten Otto Grautoff (1876–1937) und dessen Schrift Die Maske und das Gesicht Frankreichs66 sieht Platz in den unterschiedlichen Ideenwelten Frankreichs und Deutschlands keine absoluten Gegensätze, sondern Interdependenzen. Ihm scheint „ein gesunder, maßvoller, dem gemeinen Verstande nahe bleibender Realismus“ die Kernsubstanz des Abendlands zu sein. Die Dinge sind. Es gibt nicht bloß Schicksal, abstraktes Seinsollen, Verknüpfung von Beziehungen, Vorgängen und Festlegungen von Verhältnissen. Es gibt eine das Wesen der Dinge ausdrückende Wahrheit. Wir leben in einer geordneten Welt, in der wir mit 64 Angell, Die Früchte des Sieges. 65 Le Bon, Psychologische Grundgesetze in der Völkerentwicklung. 66 Grautoff, Die Maske und das Gesicht Frankreichs.

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letzten Wirklichkeiten irgendwie in Tat- und Denkverbindung treten können. Die Dinge sind erkennbar und lehrbar. Als wunderbares Werkzeug der Dingbeherrschung hat das Abendland die Idee.67

Dies bedeutet für Platz ganz praktisch  : „Ichsucht und Herrschsucht, die im Roman­ tiker und Klassizisten, im Monarchisten und Demokraten, im Klerikalen und Anti­ klerikalen stecken, wird der Erzieher und Führer um so leichter überwinden, je leuchtender und bezwingender das hehre Gut des gemeinsam Errungenen, des gnädig Geschenkten ob unsern Häuptern steht.“68 Vorrechts- und Vormachtgedanken zählen nach Platz nur zu den „Scheinsubstanzen“  ; sie müssen dem Gedanken der Schicksals- und Notgemeinschaft, der gegenseitigen Abhängigkeit, der Gleichberechtigung weichen.69 4. In Friedrich Leonhard Cromes dicker Schrift Das Abendland als weltgeschichtliche Einheit70 und in der Anti-Spengler-Schrift Die Auferstehung des Abendlands71 des Augsburger Studienrats – und frühen Nationalsozialisten – Otto Dickel (1880–1944) findet Platz einen Zugang zum Problem und die von ihm übernommene Formulierung „Abendland als Aufgabe“. Er wird den Begriff der ‚Aufgabe‘ in den Titeln seiner Aufsätze immer wieder in Anwendung bringen  : „Aufgaben der ­deutschen Katholiken angesichts der seelischen Lage“72, „Von rheinischer Art und Aufgabe“73, „Katholizismus als Aufgabe“74, „Die Kulturaufgabe der Rheinlande“75. Abendland ist nach Platz nichts Festgefügtes, Fassbares, Unveränderliches, sondern ein Zu-Realisierendes. Crome und Dickel gemeinsam ist der Gedanke, es sei Aufgabe des deutschen Volkes, zum Kristallisationspunkt für den Zusammenschluss der ‚abendländischen Völker‘ zu werden. Platz weist dies und vieles andere zurück – etwa die Vorstellung, dass das religiöse Gefühl die Transzendierung des eigenen Ich ins Göttliche hinein 67 Platz, „Das Ringen um die abendländische Idee“, S. 314. 68 Ebd. 69 Grautoff nahm 1923 in einer Rezension gegen Platz Stellung, insbesondere gegen die von ihm als ‚Hauptthese‘ erkannte Ansicht, „daß wir Deutsche aus der Erstarkung des Katholizismus in Frankreich lernen können, wie ein besiegtes Volk wieder ethische und nationale Substanz gewinnen kann“. Dem widersprach Grautoff entschieden, „weil Neukatholizismus und Nationalismus in Frankreich sich gegenseitig durchdrungen haben, identisch geworden sind“. Grautoff, „Geistige Kämpe im modernen Frankreich“, hier S. 866. 70 Crome, Das Abendland als weltgeschichtliche Einheit. 71 Dickel, Die Auferstehung des Abendlandes. 72 Platz, „Aufgaben der deutschen Katholiken angesichts der seelischen Lage“. 73 Platz, „Von rheinischer Art und Aufgabe“. 74 Platz, „Katholizismus als Aufgabe“. 75 Platz, „Die Kulturaufgabe der Rheinlande“.

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sei, oder der Gedanke, Sinn der ‚abendländischen Kultur‘ sei die Auflösung des Endlichen im Unendlichen.76 5. Mit der Schrift Die Erneuerung des Abendlandes77 des Publizisten Robert Schwellenbach (1870–1928) teilt Platz hingegen die Überzeugung, dass allein das Christentum das Abendland vor seinem Untergang bewahren und die übrige Welt zur wahren Höhe führen könne. Man merkt den Formulierungen die erste Ergriffenheit des Verfassers an  : Von der Knechtschaft zur Freiheit durch das Christentum der Tat  ! Hier ist der Gehalt, den der unruhige, fieberhafte, mit seinem Lose unzufriedene Europäer von heute, wie wir im Vorausgehenden gesehen haben, gierig sucht, sicher umgrenzt und voll besessen. Hier wird aber auch das deutlich, welch ungeheure christliche Erneuerungsarbeit zu leisten sein wird, bis die abendländisch-christliche Idee wieder Sitten und Gesinnungen durchdrungen hat, bis die Gedanken der Aszese und Disziplin, die ein solches Ideal fordert, wieder in den Willen aufgenommen sind. […] Die Form aber, in der diese Wahrheiten zusammengefaßt und zusammengehalten werden, ist selbst für einen Sozialisten wie Wells eine Art von Katholizismus, der den ‚größten synthetischen Gedanken darstellt, der jemals in die Tat umgesetzt worden ist‘. Wir sind von Gefahren umstellt und taumeln am Abgrund entlang. Wie könnten wir noch den Optimismus der liberalen Aufklärungsoder der industriellen Expansionszeit haben  ? Aber eins haben wir noch  : Die christliche Hoffnung  ! Hoffen und arbeiten wir, im Herzen den unzerstörbaren Glauben an das Reich Gottes tragend  : das muß die Losung sein.78

Eine eigene Konzeption hatte Platz damit freilich noch nicht vorgelegt. An Muth schrieb er im April 1923  : „Ich will jetzt, um nicht einseitig zu werden, verfolgen, was Deutschland zum Geistesgut des Abendlandes beigetragen hat und bitte mir Rez[ensions]-Exemplare in dieser Richtung zu senden.“79 Noch zwei weitere Male kommt Platz in seiner Korrespondenz mit Muth auf den neuen Aufsatz mit dem ursprünglichen Titel „Abendland als Aufgabe“ zu sprechen.80 Im Januar 1924 beteuert er, damit 76 Platz, „Das Ringen um die abendländische Idee“, S. 316. 77 Schwellenbach, Die Erneuerung des Abendlandes. 78 Platz, „Das Ringen um die abendländische Idee“, S. 318. 79 „Von den zuletzt angezeigten Büchern würde mich interessieren  : [Max] Bondy, Das neue Weltbild in der Erziehung. [Eberhard] Dennort  : Vom Untergang der Kulturen. [Max] Dortu  : Großstadt. [Alfred] Enzinger  : Aus Deutschlands Vergangenheit. [Hugo von] Hofmannsthal  : Deutsches Lesebuch. V[alerius] Kolatschewski  : Die Lebensanschauung Jean Pauls“. 29. April 1923 Platz an Muth. BSB NL Muth (Ana 390) II.A. 80 „Den neuen Artikel ‚Abendland als Aufgabe‘ bearbeite ich z. Zt. Haben Sie keine neue Literatur dazu  ?

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nun wirklich beginnen zu wollen81, im Mai 1924 schreibt er nahezu resigniert, noch nie sei er „so lang im Rückstand geblieben mit einem Artikel“ wie mit „Abendland als Aufgabe“. Je mehr er sich in die Materie vertiefe, desto unübersichtlicher werde sie ihm  ; wahrscheinlich müsse er erst andere Vorarbeiten machen.82 Das Erstaunliche  : Damit bricht die überaus fruchtbare Publikationstätigkeit von Platz für Hochland fürs erste ab. Erst drei Jahre später bediente er auch diese Zeitschrift wieder. Nicht jedoch mit Beiträgen zum ‚Abendland‘, wie er überhaupt nach 1928 auf Publikationen unter diesem Label vollkommen verzichtete.

Ein eigenes Konzept vom Abendland? Wir hatten das Jahr 1923 als ‚Übergang‘ zwischen der Semantik des ‚Rheinischen‘ und des ‚Abendlands‘ ausgemacht, in dem jedoch ersteres noch dominiert. Diesem Übergang gehört auch noch die dicke Sammlung früherer Aufsätze an, die – zusammengebunden – bereits in ihrem Titel beide Begriffe miteinander verbindet  : Um Rhein und Abendland83. Im ‚Waschzettel‘84 zum Band wurde mit ausgewählten Zitaten aus dem Band betont, das Bewusstsein abendländischer Verbundenheit müsse wieder deutlicher und über alle Grenzen hinweg erinnert werden (151). In der ‚Mitte Europas‘ besitze das Rheinland eine zentrale Aufgabe und bewahre „noch Dinge, die andere vergessen zu haben scheinen  : Seele und Weite (Spiritualität und Universalität)“ (19). Der Macht, die in der Vergangenheit „einseitig im Mittelpunkt staatlich-politischen Denkens“ gestanden habe, müsse „der Geist als gestalt- und gehaltschaffende Kraft endgültig wieder übergeordnet“ werden. Die Position „engherzigster Nutz- und Angstbesessen­heit“, die nur „um Tageslohn und Augenblicksvorteil“ kämpfe, müsse deshalb überwunden werden. Der Geist, an dem „die Besten aller Zeiten und Länder gearbeitet“ hätten, sei freilich weder nur vergangene Größe noch „fertiges Erzeugnis“ oder „ängstlich

Schicken Sie mir es. [Alfons] Paquet  : Rom und [oder] Moskau, [Hans] Havemann  : Der polare Mensch. Gestalten und Gespräche über das Ethos des Abendlandes. Wolf, Albr. Adam, Hannover“. 29. März 1923 Platz an Muth. BSB NL Muth (Ana 390) II.A. 81 „Meinen Artikel über das Abendland will ich jetzt auch beginnen. Was sagen Sie dazu, daß ich jetzt eine Aufforderung erhalten habe, in einer Freimaurerloge über den Kath[olizismus] zu sprechen  ? Auch ein Zeichen der Zeit.“ 17. Januar 1924 Platz, Bonn, an Muth. BSB NL Muth (Ana 390) II.A. 82 23. Mai 1924 Platz, Bonn, an Muth. BSB NL Muth (Ana 390) II.A. 83 Platz, Um Rhein und Abendland. 84 Es handelt sich um ein gefaltetes Blatt, das zugleich einen ‚Bestellzettel‘ beim Verlag Deutsches Quickbornhaus, Burg Rothenfels am Main, enthält. Expl. im Besitz des Verfassers.

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gehütetes Erbgut“, sondern „lebendiger Zeuge“ und „Schöpfertum an vernehmenden und verstehenden Menschen“ (92 f.). Platz hat ein ausgeprägtes Bewusstsein für die gegenwärtige ‚Zwischenzeit‘, spricht davon, „der Sinn der gegenwärtigen Stunde, wo die alten Ideen zerstört und noch nicht durch neue ersetzt sind“, sei es, die Anarchie zu genießen. Nur dank dieser Anarchie kann die Meinungsverschiedenheit geduldet werden. Schriftsteller, Denker und Philosophen müssen diese Epoche dankbar segnen und sich beeilen, aus ihr Nutzen zu ziehen, denn sie werden sie nicht wiedersehen. Vielleicht ist es ein Zeitalter des Verfalls, aber einer der seltenen Augenblicke in der Weltgeschichte, in denen der Gedankenausdruck freisteht. Er kann nicht von Dauer sein. Die Bedingungen der modernen Kultur treiben die europäischen Völker zu einem Zustande, der weder Meinungsverschiedenheit noch Freiheit duldet. Bis wir aber diese neue Stabilität erreicht haben, ist noch eine böse Gefahrzone zu durchlaufen. Diese wird dargestellt nicht durch Kriege und Revolutionen, sondern durch die einander ablösenden Versuche der Anpassung der neuen Ideen an die Bedürfnisse der Gesellschaft (107).

Gehört Um Rhein und Abendland als Reprint85 eigentlich noch einer früheren Zeit an, so veröffentlichte Platz 1924, nur wenige Monate nach seinem Aufsatz „Von rheinischer Art und Aufgabe“, – abermals in den Schildgenossen – einen weiteren Beitrag mit dem Titel „Von politischer Not und abendländischer Idee“.86 Es handelte sich um nichts anderes als um eine Retractatio seines früheren Kampfartikels „Um Rhein und Ehre“ gegen Pradels Übergriffigkeit. Zunächst gibt Platz Rechenschaft über das Werden seines Denkens, spricht von seinem Bestreben, „ein Geringes dazu beizutragen, daß die so verständliche Abkehr vom Westen uns nicht in gefährliche Vereinsamung oder noch gefährlichere Ostanlehnung hineingeraten“ lasse, vom „fieberheißesten Punkt eines todkranken Körpers“, von „sinnloser Gewaltpolitik“ um sich herum  : Ist denn Frankreichs Politik von allen guten Geistern verlassen  ? Ist denn Deutschlands Wirtschaft jedem großzügigen Opfer, das uns retten könnte, abgeneigt  ? […] Ohne daß ich es wollte, geriet ich ins politische Flutungsgelände, der ich eben noch nur ein Reich aus benediktinischem Frieden und alexandrinischer Gelehrsamkeit zu schaffen gedachte.87

85 Im Nachwort schrieb Platz allerdings  : Die Aufsätze „waren alle schon veröffentlicht, sind aber dem Rahmen des Büchleins angepasst, umgestaltet, zum Teil auch ganz neu geschrieben worden“. Platz, Um Rhein und Abendland. 86 Platz, „Von politischer Not und abendländischer Idee“. – Im Jahr darauf packte Platz das Thema von der anderen Seite her an  : ders., „Religiöse Krise und rheinische Aufgabe“, S. 29 f. 87 Platz, „Von politischer Not“, S. 149.

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Die bestehende Not „rein national“ zu verstehen, sei verständlich, in gewissem Sinne auch „natürlich und notwendig“. Doch „unerleuchtete Leidenschaft“ könne ebenso wenig gebilligt werden, wie „Trotzwillen und Schicksalsglauben“, was „freilich durch die unglückselige französische Politik immer wieder bestärkt“ werde. Auch ich hatte 1919 in dem erwähnten Artikel geschrieben, wir müßten vor allem erst wieder im Inneren des Landes aufbauende Arbeit leisten. Und ich fragte, was es denn für einen Sinn habe, über ein Chaos weg Fäden der Völkerversöhnung zu spinnen. Seitdem sind vier Jahre ins Land gegangen. Das Chaos ist viel ärger geworden. Die Verbissenheit hat einen in der Geschichte kaum je dagewesenen Grad erreicht. Ich studierte Taine und Maurras, Fichte und Treitschke  : die Auserwähltheits- und Machtstaatsidee, und nun wurde mir klar, warum alles so gekommen ist, warum die Völker des Abendlandes sich im 19. Jahrhundert immer mehr zerspalten haben, warum jedes sich als absolute Größe zu setzen strebte.88

Platz zeigt sich überzeugt, dass die geschichtliche Entwicklung die europäischen Völker in eine Sackgasse geraten ließ. Ein neuer Krieg werde dem christlichen Europa den Todesstoß versetzen und sei deshalb mit aller Kraft zu vermeiden. Die Trotzköpfe sagen  : Das ist dann eben Schicksal. Wir können nichts anders tun als unsere Waffenehre wiedergewinnen und so die einzige von der Geschichte gewiesene Möglichkeit verfolgen, uns als vollgeachteter d. h. machtgesättigter Nation im Rate der Völker wieder Gehör zu verschaffen. Doch da leuchtet nun von Religion und Geistesgeschichte her ein neues Licht. Das ist der Glaube, daß nicht alles in dumpfer Schicksalsverflochtenheit hingenommen werden muss, dass trotz allem der Geist ob allem wirbelndem Geschehen waltet, dass Wende- und Reifezeiten kommen, daß Neuanfänge möglich sind, daß es unsere schönste Aufgabe ist, Träger und Täter des hellen Gottesgedankens zu sein, ohne die die Welt eben in Nacht und Chaos versinken muß. Als solche erschien mir nun immer klarer die abendländische Idee.89

Platz gibt auch Rechenschaft, von der Schriftstellerin und Pazifistin Annette Kolb (1870–1967) inspiriert worden zu sein, die „ergreifend und schön das Sinnbild des Abendlandes gepriesen“ habe  : Die einzige Krone, die je der Rede wert gewesen sei, die da auffunkelte in jener Weihnacht zu Rom und von dem, der sie empfing, auf den Knien hingenommen wurde. Und da 88 Ebd., S. 149. 89 Ebd., S. 149 f.

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diese Krone ihre Zauberkraft eingebüßt hatte, seufzte Dante  : ‚O Menschheit  ! Von wie viel Stürmen und Verlust, von wie viel Schiffbrüchigen mußt du heimgesucht werden, da du ein vielköpfiges Ungeheuer geworden bist und dein Trachten auseinandergeht.‘ Ja, ist das nicht alles mit zerstörender Gewalt über uns gekommen  ! Über uns Abendländer insbesondere, die wir so stolz waren und die wir nun unseres Besitzes gedenken lernen müssen, damit wir unserer Zukunft gewiß werden können. Noch besteht die eine Lehre, die den Kämpfen mit den Häretikern gebildet und in den Schulen gehärtet wurde. Aber der Widerschein in Geist und Seelen der Abendländer ist verworren. Das Bild des Hirten, das einst allen lebendig war, ist verblasst. Jeder ist sein eigener Hirt geworden. Die Völker sind ausgebrochen aus dem Reich, haben sich eine Sendung zugeschrieben, die immer wieder zu mystischer Auserwähltheit umgedeutet und gegen andere geltend gemacht wird.90

Hier konkretisiert Platz das Mittelalter als Erinnerungsort des Abendlandes  : ­Letzter Bezugspunkt ist die christliche Lehre, die freilich nicht auseinandersetzungslos erworben wurde, die aber noch immer existiert und von daher nur ergriffen werden muss. Bezugspunkt ist auch Karl der Große – durch den Papst und doch a Deo coro­ na­tus. Weil Karl mit der Krone die Gewalt ‚kniend‘ empfing, d. h. in Demut (also im Bewusstsein, einem Höheren dienen zu müssen), konnte er zum Abbild des guten Hirten werden, der den vielen Völkern Einheit und Leben schenkt. Die Frage von Platz, wie die entstandene Lücke, wie das durch die sich paralysierenden Nationalis­ men entstandene Machtvakuum gefüllt werden könne, wird zunächst ex negativo beantwortet  : Ob man sich einen neuen Alexander, einen „neuen Napoleon“ wünschen müsse, „der wie der alte über das zitternde Europa hinfährt, niederreißen und aufbauend zugleich“  ? Oder ob der Völkerbund, ob das Papsttum die Aufgabe übernehmen und heilend wirken könne  ? Platz macht dann jedoch ein anderes Angebot, das – in der Demokratie – jeden in die Pflicht nehmen muss  : Ich weiß nur das eine, daß ich selber anfangen kann und muss, da ich glaube, hinter die Dinge einen ersten Blick getan zu haben. Man braucht dazu keine großen Gesamtanschauungen über Vaterland und Abendland. Ich habe sie selbst noch nicht. Dazu muß ich noch viel studieren. Denn die abendländische Idee, aus der das Wesensbild des neuen Europas sich entfalten muß, umfaßt alles Wesentliche, was seit dem Aufblühen des griechischen Geistes in Süden, Westen und Mitte Europas an eigentümlicher Kulturarbeit geleistet wurde. Was man dem Vaterland schuldet, sagt einem Blut und Takt und rechter Wille. Und daß man, hat das Vaterland, was ihm gebührt, ins Abendländische zielen müße, 90 Ebd., S. 150.

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das ist das Neue. Diese Blickerweiterung ist notwendig. […] Weltoffen werden, ohne seine Eigenart zu verlieren, das ist die erste Pflicht. Nie das Ganze aus dem Auge verlieren, auch wenn wir das Kleinste tun.91

Diesem Aufsatz von Platz folgte  – ebenfalls 1924  – unter dem Titel Deutschland  – Frankreich und die Idee des Abendlandes eine Broschüre, die mit Recht als ‚Programmschrift‘ bezeichnet werden kann. Es handelte sich um die erweiterte Wiedergabe eines Vortrags, den Platz am 16. Dezember 1923 auf der ersten großen Tagung des Kulturbeirates der Rheinischen Zentrumspartei gehalten hatte.92 Für Platz ist die abendländische Idee „ein landschaftlich gebundener Geistes- und Gefühlsinhalt, der einst alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens durchdrungen und durchbildet hat“, in der Gegenwart aber weithin unwirksam geworden ist. Gebunden ist die Idee „an den Lebensraum, den Karl der Große abgemessen hat“. Russland gehörte für ihn, trotz aller Verwestlichungsversuche, nie zum Abendland, England sieht er immer mehr „über abendländische Zweckzusammenhänge“ hinauswachsen. Beide verfolgten „nur gewisse geistige Anlehnungs- und Prestigeinteressen samt politischen Rückendeckungszielen“, die es ihnen immer wieder geraten erscheinen ließen, „die Fäden nach dem Abendlande nicht ganz zu zerschneiden“.93 Damit ist die territoriale Ausdehnung abgesteckt. Inhaltlich ist für Platz das Abendland „geboren aus Antike, Christentum und romanisch-germanischer Völkerwirklichkeit“, und zwar so, dass hier „helle zweckhafte Geistigkeit, praktischer, formsicherer Bauwille und grundsätzliche Fortschrittsrichtung des Einzelnen und Ganzen auf Gott und das ewige Leben“ hin miteinander verwoben wurden. Geist, Form und Gottesbezug sind ihm wesentlich. Zentral ist auch der Begriff des Organischen. Denn das Abendland ist nichts Künstliches oder Erzwungenes, sondern etwas geschichtlich Entstandenes. Die Verwobenheit von Religion und Leben sieht Platz in der Gegenwart weithin aufgelöst, und zwar „weil beide, Religion und Leben, nicht mehr als wahre Wirklichkeiten und rangstufenmässig gegliederte Werte angesehen werden“. Die Philosophen hätten den Sinn für die ‚Seinsfragen‘ verloren, Hume habe den Substanzbegriff zerstört und eine mechanisch ablaufende Gesetzeswelt konstruiert, in der „das Problem Religion und Leben sinnwidrig“ wurde. Gott und Welt seien dadurch identisch geworden, das Tragische werde hinweggedeutet, das Geheimnisvolle geleugnet. „Mit ‚Büchse, Tagebuch und Menschenrechten‘ machte man sich an die Eroberung der Welt. Das meinte der 91 Ebd. 92 Platz, Deutschland – Frankreich und die Idee des Abendlandes, hier  : Vorbemerkung. 93 Ebd., S. 3 f.

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­Osten, wenn er von unserer Entartung sprach, wenn er sich eine religiöse Aufgabe am Abendland zuschrieb.“94 Als das eigentliche Grundmotiv, „das im Ganzen dieser abendländischen Verwobenheit einst wirksam war“, macht Platz die ‚Allumfassenheit‘ namhaft, die er als ‚Ökumene‘ und ‚Universalismus‘ näher fasst. „Das Einzelne fühlte sich als Glied und Diener des Ganzen. Das Ganze war vor den Teilen da und beherrschte sie. Das gilt von den Individuen gegenüber den engeren Gemeinschaften, das gilt von den neugebildeten Nationalstaaten gegenüber dem Abendland“. Was hier in Erscheinung tritt, ist nichts anderes als das bonum commune mittelalterlicher Scholastik. Die Vereinzelung, die „stets gesteigerte Verselbständigung der Logik des rein weltlichen Macht- und Großstaates“, muss dem innerlich und wesenhaft entgegenstehen. Dementsprechend steht ein übertriebener Nationalismus, der „nur das nationalstaatliche Macht- und Ehrbewusstsein, nur die wirtschaftliche Selbstgenügsamkeit (Autarkie) des Nationalstaates, nur die kriegerische Wiedergutmachung einer erlittenen Niederlage“ kennt, dem „alten Abendland“ entgegen. Mit dem Abendlandgedanken verbunden sind „die wahren Werte“, „die ewigen Güter“, das „Wissen darum, dass man Politik nicht nur mit Soldaten und Diplomaten macht“. Mit dem Abendland­gedanken verbunden ist die Bejahung einer Rangstufenordnung, einer Hierarchie der Werte, in der „die höheren, die geistigen, die idealen, die religiösen Werte oben“, „die materiellen Dinge“ jedoch unten stehen. Die „Abkehr der Menschen vom Heiligtum, die Hinwendung zur gottentkrönten Natur, die Verwirklichung und Versachlichung des Lebens, die rein diesseits gerichtete Fortschrittsbegeisterung“ hätten nacheinander der starken Einzelpersönlichkeit, der Vernunft, dem Willen, der Phantasie und dem Gefühl, der Wissenschaft und Tat, der Kunst und dem Leben „Altäre errichtet und Allgewalt eingeräumt“. In der Politik seien „die Interessen des Staates, die Werte der Nation, die Vorzüge der Rasse immer einseitiger in den Vordergrund gerückt und dadurch die Schwierigkeiten einer stetigen, das Ganze und das Einzelne fördernden Friedenspolitik immer größer geworden“. Die politischen Einheiten hätten sich, statt „gleichgewertet, gleichgeordnet mit ihren Kräften und Vorzügen dem Ganzen zu dienen“, mehr und mehr als absolute Größen empfunden und zur Geltung zu bringen gesucht, und damit den ewigen Kampf gesucht. Dadurch sei die „Christenheit als ideale Daseinsform“ eminent gefährdet worden.95 Platz stellt die Frage, wie nach der unheilvollen Entwicklung vor allem seit dem 17. Jahrhundert wieder Anschluss an die abendländische Idee zu gewinnen sei, wie „die zweifellos noch weithin vorhandenen abendländischen Bauelemente wieder als 94 Ebd., S. 3–5. 95 Ebd., S. 4–8.

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solche bewusst und wirksam“ gemacht werden könnten. Er fordert „zunächst eine Wiedervergeistigung des Denkens und Lebens“. Die Menschen müssten sich los­ machen aus kapitalistischer Versachlichung und marxistischer Geschichtsauffassung, müssten die „Eigenmacht des Geistes“ neu anerkennen. Eine Forderung, die gerade auch in der Politik nötig sei, wo heute nur deshalb das Gefühl von der Übermacht des Wirtschaftlichen so stark ist, wenn man diese Eigenmacht selbst nicht mehr lebendig spürt, wenn man nicht mehr der Träger und Zeuge der Wahrheit zu sein vermag. Ungeistige Menschen, Fach- und Sachmenschen, Interessenvertreter sehen nicht die Durchgängigkeit, die Weltläufigkeit des Geistes, oder wenn sie das sehen, erscheint es ihnen nur in der Richtung des Rationalzweckhaften, des Utilitaristischen, nicht in der des organisch Sinnvollen.96

Als Gegenbild dient ‚Panamerika‘, das geboren sei aus der „Idee des Nutzens“. Demgegenüber müsse ‚Paneuropa‘ neu werden aus der „Idee des Abendlandes“, „wenn nur wir Abendländer unseres gemeinsamen Besitzes, unserer überwölbenden Ideale, unserer Verwandtschaft und Freundschaft schaffenden Denkformen und Fühlweisen bewusst werden“.97 Letztes Ziel abendländischen Denkens und Wollens sei immer gewesen, „durch vernünftige Zusammenarbeit der kirchlichen und weltlichen Herrschaft ein Reich zu gründen, in dem die Glieder selbständig und solidarisch zugleich sind und die Gewinnung und Sicherung des christlichen Friedens erstreben“.98 Deutlich scheint hier eine bestimmte Vorstellung vom Mittelalter und von der – den weltlichen und geistlichen Bereich umfassenden – Christianitas durch  : Idee und Zweck, Symbol und Substanz waren die Mittel der Meisterung. Dem einen Gott entsprach der eine Kosmos, durchgängige Gesetze herrschten, nicht unzugängliche Selbstheiten. Zielstrebigkeit und Fortschrittlichkeit waren vom Aufdämmern des griechischen Geistes an in der denkenden Bearbeitung der Welt wirksam. Eine Lebensgemein­ schaft, in der in auf- und niedergehendem Ringen der weltliche Geist der dunklen Stofflichkeit immer mehr helle, durchsichtige Bezirke abrang, in der der kirchliche Geist, auf 96 Ebd., S. 26 f. 97 Ebd., S. 29 f. 98 Platz rekurriert auf Max Planck. Was dieser für das physikalische Weltbild der Zukunft sage, müsse auch vom ‚Abendland‘ und seinen Teilen gelten  : „Kein einziger Zug desselben wird als unwesentlich fortgelassen werden können  ; jeder ist vielmehr unentbehrlicher Bestandteil des Ganzen und besitzt als solcher eine bestimmte Bedeutung für die beobachtete Natur und umgekehrt wird und muss jede beobachtete physikalische Erscheinung in dem Bilde einen ihr genauen entsprechenden Platz finden.“ Ebd., S. 30.

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übernatür­liche Hilfe gestützt, Natürliches und Uebernatürliches in weltweiten Symbolen darstellend, geheimnisvoll Sündigkeit in göttliche Höhe erhob. All das aber ist keine Traumbefangenheit, in der der abendländische Geist, ‚gestützt auf die Abstraktionen der Aeternität die gesamte Physis als bloßes Mittel hingibt‘, sondern Unbefangenheit, die jede Wirklichkeit, zeitliche und ewige an ihrem Ort belässt und richtig in Rechnung stellt.

Der historische Rekurs verbleibt freilich nicht in der Vergangenheit, sondern zeichnet einen Weg in die Zukunft  : Darum kann niemand uns den Glauben und den Willen nehmen, durch immer bewusstere Eingliederung in dieses Ganze den Sinn dieses Lebens zum Heil der ganzen Welt wachsend zu erfüllen. Frankreich soll bleiben, groß und stark. Aber auch Deutschland soll und muss leben groß und stark und frei. Es soll kein gestaltsloses, sondern ein gegliedertes Ganzes sein. Es sollen Grenzen sein und Staaten, die leben können. Aber der Geist muss herrschen. Ideen sollen sichtbar werden, durchgehende Weltzwecke auch in der Politik wieder Gültigkeit gewinnen. Mag man das Utopie, Traumland nennen  ! Es schiert uns wenig. Wir wissen und spüren, dass in und um uns schon etwas davon wieder auflebt  : Das Wesensbild des neuen Europa wächst langsam, aber sicher aus dem Nährboden des Abendlandes.99

Im Ganzen dieser Wiedervergeistigungs-Bewegung weist Platz den Katholiken eine besondere Aufgabe zu, weil diese „trotz der schmerzlichen Erlebnisse des Weltkrieges noch nicht so tief vereinsamt wie die Protestanten“ seien. „Das Ewige darf eben nicht fremd und fern bleiben, sondern muss, im Heiligtum gehütet, mittendrin sein. Dann allein sind Ueberwindung der uns tragisch anstarrenden Einsamkeit und dauerhafte Gemeinschaft möglich.“ Zum Leben gebracht werden müsse „die Idee der Allumfassenheit (der Oekumene)“, die einst vom Orient ausgegangen, „den Okzident als Kern und Krone gefasst und gebunden“ habe. Wenn „die große Woge der naiven Verweltlichung und Verwirtschaftlichung zurückgeebbt ist und der Nationalismus in seiner einheitszerstörenden Rasse- und Staatsvergötzung, in seiner Macht- und Kriegsverherrlichung verschwindet“, werde auch dieser Gedanke neu zu blühen beginnen.100

 99 Ebd., S. 30 f. 100 Ebd., S. 27–29.

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Nur Gesprächsforum oder Transmissionsriemen in die praktische Arbeit? Platz gelang es, mit seinen Vorstellungen zumindest innerkatholisch zu überzeugen. 1925 konnte die Zeitschrift Abendland. Deutsche Monatshefte für europäische Kultur, Politik und Wirtschaft101 erscheinen, die  – in gediegener Aufmachung und durch einen großen Herausgeberkreis auf eine breite Basis gestellt – im Grunde den deutschen und österreichischen Katholizismus repräsentierte.102 Wie Platz in seiner Programmschrift von 1924 ausgeführt hatte, sollte die Idee des Abendlandes Fleisch und Blut annehmen und in die Breite ‚wirken‘. Zu den Herausgebern gehörten neben Platz prominente katholische Politiker, so der österreichische Bundeskanzler Prälat Ignaz Seipel (1876–1932), der ehemalige bayerische Ministerpräsident Hugo Graf von Lerchenfeld (1871–1944), der Landeshauptmann der Rheinprovinz Johannes Horion (1876–1933) und der Generalsekretär der rheinischen Zentrumspartei Wilhelm Hamacher (1883–1951), ferner Journalisten und Verleger sowie der Rechtswissenschaftler Konrad Beyerle (1872–1933), die Nationalökonomen Götz Briefs (1889–1974) und Theodor Brauer (1880–1942) und der Schriftsteller und Dramaturg (auch Gründungsmitglied des Europäischen Kulturbundes) Friedrich Schreyvogl (1899–1976), der zunächst auch die Schriftleitung innehatte.103 Angesichts des bunten Kreises der Herausgeber verwundert es nicht, dass in der Zeitschrift keine homogene Abendlandvorstellung vorherrschte. Das einigende Band waren jedoch der katholische Glaube und die Überzeugung, gesellschaftlich wirken zu müssen. Die einzelnen Hefte enthalten neben Aufsätzen eine Rubrik „Streiflichter zur europäischen Lage“, wenige Besprechungen und schließlich – zur Finanzierung – Inserate. Heft 2 führt die neue Rubrik „Europäische Kongresse“ ein, die später durch „Europäische Politik“ abgelöst wird. Ab Heft 4 gibt es Themenrubriken. Insgesamt ist 101 Abendland. Deutsche Monatshefte für europäische Kultur, Politik und Wirtschaft (Köln 1925/26– 1929/30). – Mehrfach wurden Zeitschriften unter dem Titel Abendland ins Leben gerufen, die aber nie lange überlebten  : Das Abendland. Central-Organ für alle zeitgemäßen Interessen des Juden­ thums (Prag 1864–1868)  ; Abendland. Unabhängige deutsche europäische Stimmen für christliche Ge­ sellschafts­erneuerung (Prag 1938)  ; Neues Abendland. Zeitschrift für Politik und Geschichte (München/ Augsburg 1946/47–1955  ; NF 1956–1958). 102 Zur Zeitschrift vgl. eine erste Einordnung bei  : Scherzberg, „Katholische Abendland-Ideologie der 20er und 30er Jahre“. 103 Schreyvogl gab die Schriftleitung später an den promovierten Juristen und Carl Schmitt-Schüler Werner Becker (1904–1981) ab, der wiederum von Karl Klein aus dem Studentenverband Görres-Ring abgelöst wurde. Vgl. die Titelseiten des Blattes  ; auch  : Bock, „Der ‚Abendland‘-Kreis und das Wirken von Hermann Platz im katholischen Milieu der Weimarer Republik“, hier S. 346–354  ; Scherzberg, „Abendland-Ideologie“, S. 22 f. nennt auch Franz Xaver Münch und Alois Dempf, die jedoch nicht zu den Herausgebern gehörten (wohl aber – neben vielen anderen – zu den Autoren).

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ein großer Perspektiven- und Facettenreichtum festzustellen  : Neben Kultur, Geistesgeschichte und Politik wird auch die Wirtschaft und natürlich die Religion berücksichtigt. Den Autoren merkt man – zumindest im kultur- und geistesgeschichtlichen sowie im religiösen Bereich  – an, dass sie aus dem Umfeld der Herausgeber kommen.104 Es kann hier nicht um eine Analyse der Zeitschrift gehen. Platz selbst ergriff in 15 Artikeln, die vielschichtig um das Thema kreisten, das Wort.105 Es mag genügen, einige wenige Stichproben im Hinblick auf sein (weitergeführtes) Abendlandverständnis vorzunehmen. Wie sehr Platz die treibende Kraft des Unternehmens war, macht die „Abendländische Vorerinnerung“ deutlich, die er dem ersten Heft  der neuen Zeitschrift vorausschickte.106 Er beginnt dort sehr grundlegend, grenzt das Unternehmen gegenüber Missverständnissen ab und entfaltet auf drei Seiten die Grundgedanken seines abendländischen Verständnisses  : Selbstverständlich sei den Mitarbeitern der Zeitschrift der „Dienst am Vaterland“, ebenso selbstverständlich jedoch auch „der Dienst an dem Größeren, das wir hier Abendland nennen“. Gerade die Krise der Gegenwart mache die Notwendigkeit des abendländischen Denkens deutlich. Es sei „Zeit der Scheidung und Entscheidung, Tag des Gerichts und der Wende, wo Einzelne, Völker und Völkergruppen in ihre neuen Horizonte und Aufgaben hineinrücken oder untergehen müssen“. Die Gegenwart schenke deshalb den Kairos (den „Augenblick der Gnade“), der den Blick in die Weite öffne, zugleich aber auch Pflicht zur Neubesinnung sei. Die „schöpferische Kraft des rheinischen Geistes“ quelle aus abendländischer Verbundenheit. Heute gelte es, aus der „niedergehaltenen, verbitterten, verwirtschaftlichten, überorganisierten Welt“ den rechten Weg ins Freie und Schöpferische zu finden. Es gelte, „gewurzelt im Boden von Heimat und Vaterland, aber wiedererwacht zur abendländischen Gesinnung“, die neue Aufgabe zu erkennen, die darin bestehe, „daß jeder auf seinem Gebiet und mit seinen Kräften auch dem übernationalen Ganzen, dessen organische Glieder wir sind, diene“.107 Platz repliziert die ‚rheinische Aufgabe‘, allem kriegstreibenden Nationalismus entgegenzutreten, beschwört den „mystischen Strom, der die Mitte Europas majes104 Einzelprobleme, die behandelt werden, sind  : der „Kampf um das Abendland“, „Abendland und Europa“, die Abgrenzung zur Paneuropa-Bewegung, Abendland und Völkerbund, Abendland und Ökumene, Nation und Abendland sowie die Generationenfrage (Jugend). 105 Nur einige der Titel  : Platz, „Romain Rolland als Abendländer“, S. 171 f.; ders., „Wesen und Möglichkeit abendländischer Kirchenpolitik“  ; ders., „Abendländischer Geist in Frankreich“, S. 52 f. 106 Platz, „Abendländische Vorerinnerung“, S. 4–6. – Der Titel fehlt in der von Vincent Berning zusammengestellten Bibliographie (in  : ders., Hermann Platz (1880–1945). Eine Gedenkschrift, S. 151–161). 107 Platz, „Abendländische Vorerinnerung“, S. 4.

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tätisch durchzieht“, und ruft neben der deutschen Not auch eine „Abendlandnot“ in Erinnerung, nämlich die aufgewühlte Erkenntnis, daß Europa rettungslos verloren ist, wenn sich seine Völker weiter, von hohnlächelnden, erblüsternen Zuschauerkontinenten umringt, hassen und zerfleischen […] nur an ihre Interessen und nicht an ihr gemeinsames Erbe, nur an die Stimme ihres Blutes und nicht auch an die Versöhnungsmacht des Geistes und der Liebe zu glauben. Nicht auf Krieg und Rache sollen wir sinnen, so sagt uns unser abendländisch-­ christliches Gewissen. Nein  ! Wir wollen gewiß würdig und voll entfaltet leben auf deutscher Erde. Aber anders als andere und, wie wir fest überzeugt sind, wirksamer als andere, die nicht so sehr wie wir im Herzen Europas leben, sondern mehr an verantwortungslosen Rändern  ! Wir […] spüren am stärksten die Sinnlosigkeit der Stoß-Gegenstoßbewegung, die nur ein Teufel heiligen und ein Narr verewigen kann, und die aus unserem Rheinland und Deutschland das Schlachtfeld macht, auf dem germanischer und romanischer Vormachtswille um Europas Todeslose würfeln.108

Zwei sich ergänzende und nährende Tendenzen macht Platz für das Gegenwartsproblem von Hass und Gegenhass verantwortlich  : den „praktischen Imperialismus“ der Franzosen und den „theoretischen Individualismus“ der Deutschen. Allerdings  : Diese beiden Tendenzen wandern. Der Imperialismus hat im 19. Jahrhundert auch nach Deutschland in der Industrie und der Individualismus auch nach Frankreich in dessen Romantik übergegriffen. Wenden wir uns hier vor allem gegen den theoretischen Individualismus, der besonders in unserer Reichweite liegt, und der besonders gefährliche Elemente birgt. Besagt er doch, dass alle Individualitäten, also auch Rassen und Völker, Nationen und Staaten, unauflösliche Selbstheiten und Letztheiten sind […]. In Fichtes ‚Reden an die deutsche Nation‘ kam dieser Geist, von der rücksichtslosen Vergewaltigung geschichtlich gewachsener Eigenarten durch den Korsen hervorgetrieben, am stärksten und folgenschwersten zum Ausdruck und gebot der Abwehr die heftigste Betonung, Verherrlichung und Vervollkommnung des Eigenen. Dieser Geist geht seitdem im Abendland um.109

Diesem Ungeist der Übersteigerung des Individuellen und Selbstbewussten, der kein übergeordnetes Regulativ anerkennt, weil er sich selbst zur Gottheit erhebt, stellt Platz den Gedanken gegenüber, dass die Wirklichkeit nur Abbild ist, die auf ein Höheres verweist, letztlich den Geist des Christentums  : 108 Ebd. 109 Ebd.

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Was im Platonismus und in den Mysterienfeiern dunkel geahnt wurde, das wurde Wirklichkeit im Abendland. Als Meister und Vorbild hat der Menschensohn sich hingestellt in das begnadete Werden, damit die Zeit reife und wir seine Kraft und Freude, die ganze Fülle in uns haben. Was in der Bergpredigt eingesenkt, von dem Völkerapostel verkündet, von Rom gehütet gegen die Irrlehrer, von Byzanz verteidigt gegen die Barbaren, was im Kirchenrecht die Unmenschlichkeit der Völkerwanderung überwand und mit der Benediktinerregel die ersten Werkgemeinschaften in das Chaos hineinbaute, was in der Liturgie der Menschen Tage und Jahreszeiten ordnete und ins Göttliche einbezog, das bewegte sich langsam aber zielbewußt rhoneaufwärts zum Rhein. Hier erst verfestigte es sich dank dem Genius Karls des Großen, so dass es eine weithin leuchtende Gestalt gewann und ihm in jener Weihnacht eine Krone auffunkelte, die seitdem uns irgendwie sinnbildlich bleibt für unsere Reichssehnsucht.110

Platz spricht in diesem Zusammenhang von einem „abendländischen Humanismus“, der Religion und Leben nicht – „wie im norddeutschen und nordostdeutschen Prole­tariat und Bürgertum so verhängnisvoll geschehen“ – trennt, sondern bindet „zur organischen Einheit“  : „Er leugnet Sünde und Kampf nicht und glaubt doch zutiefst an Gnade und Frieden. Er anerkennt die Formen und Grenzen, Dogmen und Gesetze als äußerste Setzungen, jenseits deren der Mensch sich in Nacht und Chaos verliert, und freut sich doch der Freiheit des Gotteskindes als des hohen Ideals an umfassender Liebe.“111 Mit dem Gottesgedanken verbunden ist die Anerkennung eines unhintergehbaren göttlichen Rechts oder Naturrechts. Neben und über dem Staat gebe es Mächte, „denen gegenüber sein Maß unanwendbar, seine Sendung belanglos ist, denen er vielmehr dienen muss“. Deshalb müsse die „Idee des Dienstes“ die „Idee der Sendung“ ersetzen.112 Es gehe nicht um das Wiederaufrichten eines Vergangenen oder um die Umrisse eines politischen Programms oder einer übernationalen Staats- oder Rechtsordnung. In erster Linie gehe es allein darum, „einen Ausblick zu eröffnen, eine Anregung zum Nachdenken zu geben, eine Atmosphäre des Verstehens zu schaffen, einer neuen Gesinnung die Wege zu bereiten“. Nur aus einer neuen Gesinnung könne ein besseres Morgen entstehen, ein neues Europa, in dem „auch zwischen unserem Deutschland, an dem wir hängen mit der ganzen Liebe echtester Deutschheit, und unserem Abendland, an dessen unvergängliche Kernwerte wir glauben, der Bund sich schließe, zur Ehre Gottes und zum Heile der Welt“.113 110 Ebd., S. 5. 111 Ebd. 112 Ebd., S. 6. 113 Ebd.

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Drei Jahre später, im Dezember 1928, schaltete sich Platz in die damals mit Heftig­ keit geführte Debatte um das Krieg- und Friedenproblem ein und nahm Stellung zu einem offenen Brief des protestantischen Soziologen und Schriftstellers Werner Picht (1887–1965)114 an den vom Militär zum Pazifisten gewandelten Expressionisten Fritz von Unruh (1885–1970). Das vorsichtig abwägende Urteil Pichts sei ebenso zu loben wie seine positive religiöse Einstellung und die Ablehnung eines rein emotional, zivilisatorisch, rationalistisch eingestellten Pazifismus. Picht entspreche mit seinem „organischen Realismus“ (im Unterschied zu dem „magischen Idealismus“) in e­ inem wesentlichen Punkt dem vom Abendland vertretenen Verständnis  : „Er sucht einen mittleren Weg, der der ganzen Wirklichkeit gerecht wird, der nationalen und der übernationalen, der persönlichen und der sachlichen, der natürlichen und der übernatürlichen. Und das ist ja gerade unser abendländisches Programm.“115 Picht spreche von einem „übernationalen Verantwortungsgefühl“ und von „religiöser Opferkraft“, die den Geist des Krieges überwinden könnten, er sehe im Geist den „Träger von Erkenntnis und Offenbarung“, eine Brücke über die Generationen und die Grenzen der Völker hinweg. Damit stehe Picht der abendländischen Grundauffassung nahe, die neben der verbindenden Glaubenssubstanz auch „eine von den abendländischen Völkern gemeinsam errungene und gemeinsam zu mehrende Geistes- und Symbolsubstanz“ sowie eine dadurch bedingte, immer wieder aufs neue „zu verwirklichende Solidarität des Lebens“ annehme.116 Doch Platz sah auch deutliche Divergenzen. So insbesondere das von Picht spezifisch-militärisch gefasste Ideal von Ehre sowie dessen romantisches Ideal nationaler Individualität. Als Grund des ersteren sah Platz die  – dem Protestantismus eigene  – „Nichtbeachtung und Nichtschätzung“ der Natur des Menschen, die es Picht schwer mache, dem Menschen einen individuellen Selbstwert, eine individuelle Ehre zuzuerkennen117, und ihn so unerbittlich die Erziehung der Jugend zum „bewegtesten nationalen Schicksalsempfinden“ fordern ließ. Dies schien Platz nicht mitvollziehbar. Die Frage, die sich dem ‚abendländisch denkenden‘ Christen und Deutschen stelle  : wie er seinen Sohn erziehe, „damit er ein Mann und keine Memme werde, damit er ein Christ bleibe und kein zivilisatorisch denkender Rationalist oder Pazifist“ werde, sei zwar ernst zu nehmen. Er glaube aber nicht, dass man „die Jugend in die überheiß gewordene Luft des nationalen Unglücks hineinstoßen“ müsse, damit sie den Kontakt mit der Wirklichkeit nicht verliere. In einem „mystifizierten Wehrgedanken“ laure vielmehr die 114 Picht war Schwager des oben erwähnten, von Platz 1920 rezensierten Ernst Robert Curtius. 115 Platz, „Der Wehrgedanke in abendländischer Beleuchtung“, hier S. 78. 116 Ebd. 117 Ebd.

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Gefahr des Irrationalismus und Primitivismus. Picht vertrete in diesem Punkt „eine gefährliche Ideologie“, die „die jugendliche Seele zu nahe an das Staatliche“ bringe und durch die „massive Motivkraft dieser spezifisch modernen Wertsphäre“ zu verbiegen und zu verderben drohe. In den „rechtsgerichteten Verbänden“ sei diese Gefahr nicht weniger groß als in den linksgerichteten. Pichts Vorstellungen führten in eine gefährliche Nähe zur falschen Anschauung Joseph De Maistres (1753–1821), für die „das Blutvergießen im Kriege irgendwie die Fortsetzung der Opfertat Christi und daher notwendiger Bestandteil der Geschichte ist“. Demgegenüber gelte doch, dass der Mensch allein auf ewiges Leben hingeordnet sei  : „Sein Wiedergeborenwerden118 hat mit Krieg und Wehrbarkeit, d. h. mit den Schicksalsschlägen und Notwendigkeiten des nationalen Lebens unmittelbar nichts zu tun. Gott kann das Unscheinbarste zum Gefäße seiner Gnade machen. Es genügt, dass der Mensch durch Heimatliebe und positives Gebot zu Dienst und Treue dem Vaterland gegenüber verpflichtet ist.“119 Hatte Platz hier bereits auf die „Geistes- und Symbolsubstanz“ des Abendlands hingewiesen, so vertiefte er diesen Gedanken in seinem kurze Zeit später ­erscheinenden Aufsatz „Das Wiedererwachen des abendländischen Symbolismus“.120 Platz begreift den ‚Symbolismus‘, also ein Verständnis, das die Wirklichkeit auch als „Sinnbild und Gleichnis“ betrachtet, nicht nur als „Tatsache, die wissenschaftlich formuliert und praktisch genutzt werden will“, sondern als einem wesentlichen Charakterzug des Abendlands. Er versucht dies zu zeigen, indem er abendländische Gedächtnisinhalte in Erinnerung ruft, etwa Dantes (1265–1321) Beatrice, in der er diesen ‚abendländischen Symbolismus‘ in höchster künstlerischer Form realisiert sieht. Überhaupt lebe die Kunst als ‚symbolschöpferische Kraft‘ notwendigerweise „von Erinnerung, von Fantasie, von Sinnlichkeit und – Wissenschaft“.121 Platz geht in dem kurzen Beitrag  – ideengeschichtlich  – auf die Suche nach symbolistischem Denken und symbolistischer Ausdrucksgestaltung in Literatur, Musik und Philosophie. Eine breitere 118 Platz erkennt hier sehr weitsichtig die Gefährlichkeit der Umdeutung religiöser Vorstellungen, wie sie durch die Theoretiker des Nationalsozialisten vorgenommen wurde und politische Wirkmacht entfaltete. Vgl. dazu die Antwort der Enzyklika Mit brennender Sorge (1937)  : „Unsterblichkeit im christlichen Sinn ist das Fortleben des Menschen nach dem irdischen Tode als persönliches Einzelwesen – zum ewigen Lohn oder zur ewigen Strafe. Wer mit dem Wort Unsterblichkeit nichts anderes bezeichnen will als das kollektive Mitfortleben im Weiterbestand seines Volkes für eine unbestimmte lange Zukunft im Diesseits, der verkehrt und verfälscht eine der Grundwahrheiten christlichen Glaubens, rührt an die Fundamente jeder religiösen, eine sittliche Weltordnung fordernden Weltanschauung. Wenn er nicht Christ sein will, sollte er wenigstens darauf verzichten, den Wortschatz seines Unglaubens aus christlichem Begriffsgut zu bereichern.“ 119 Platz, „Der Wehrgedanke in abendländischer Beleuchtung“, S. 79. 120 Platz, „Das Wiedererwachen des abendländischen Symbolismus“, S. 152 f. 121 Ebd.

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symbolistische Bewegung sieht er erst nach 1885 in Frankreich wiedererstehen, beeinflusst vor allem von Nichtfranzosen, in erster Linie Richard Wagner (1813–1883). Kennzeichen dieser Bewegung sei die Abkehr von einem früheren Exaktheitsideal, die stärker sinnbildliche Erfassung und Darstellung der Gegenstände, die Intuition, die Verlängerung der Welt „ins Hintergründige, ins Ewige, ins Geheimnishafte“, letztlich eine „Rückkehr zum Sein“, zur Metaphysik. Platon hat in der vorchristlichen, Augustin in der christlichen Zeit das symbol- (und ideen-) geschichtlich Richtungsgebende gesagt, die Harmonie des Alten und des Neuen Testamentes das Wesentlichste an Stoff gegeben, damit der abendländische Mensch, von dem zum persönlichen Gott gewordenen Geheimnis angefallen, seine Stellung und Aufgabe zwischen Natur und Übernatur erkennen, gestalten und leben konnte. Von Augustin bis Thomas von Aquin glich das Leben der Christen einem Schreiten und Schauen, einem Finden und Formen in der Gotterfülltheit und Gottbezogenheit der Dinge. Alles in Natur, Geschichte und Leben war Ausdruck und Ansatz eines Unsichtbaren, weil es zutiefst eine Einheit bildet, die ihren Mittelpunkt in Gott hat. Aus diesem ausgeprägten Sinn für die Unvollendbarkeit der Dinge entstand der abendländische Symbolismus, dem die Romanen das Symbolerbe der Antike und des Orients, die Germanen ihre junge symbolschöpferische Kraft (Ornamentik, Mythologie, Recht) zugebracht hatten. Als Mittel der Verständigung, der Verbindung, der Gemeinschaftsbildung wirkte die symbolische Sprache ungleich Größeres als jedes rationale Ausdruckssystem. […] Das Symbol hatte die Kraft, das Göttliche und Menschliche aneinandergebunden zu halten.122

Im symbolistischen Denken spielen Bild und Abbild, Erinnerung und Vergegenwärtigung, nicht zuletzt Transformation und Transzendenz eine wesentliche Rolle. Platz nennt die ‚Großen‘ der abendländischen Geistesgeschichte (Platon, ­Augustinus, Thomas von Aquin, Dante), lässt andere weg und geht – bezeichnenderweise – über das Mittelalter nicht hinaus. Er sieht einen Gegensatz zwischen diesem „echten Symbolismus“ der Gottgläubigen und einem Symbolismus der „Natur-, Mode- und Ichgläubigen“, bei dem leicht alles ins ‚Spielerische‘ oder ‚Verkrampfte‘, jedenfalls ‚Unechte‘ abgleite. Erst im 19. Jahrhundert sieht Platz – zunächst in Frankreich – eine neue „Morgenröte“ symbolistischen Denkens erstehen, das in Natur und Geschichte wieder das Sinnbildhafte und auch Religiöse zu entdecken vermag. Als deutschen „Bannerträger“ dieses Symbolismus nennt Platz – neben dem ebenfalls vom Symbolismus beeinflussten Rainer Maria Rilke (1875–1926) – Stefan George (1868–1933), der allerdings „auf der Ebene des Heidnischen das verwirklicht, was die französi122 Ebd., S. 152. Das Folgende nach ebd.

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schen Symbolisten immer mehr auf der des Christlichen auszudrücken suchten“. Als Wegbereiter für die Rezeption eines noch ausstehenden großen symbolistischen und christlichen Dichters sieht Platz die Liturgische Bewegung. Die Zeitschrift insgesamt entwickelte sich offenbar nicht so, wie Platz dies wünschte. Vielleicht entwickelten sich aber auch die Zeitumstände nicht so, dass dem Abendland eine Zukunft offen schien. Denn zum einen entstanden zeitgleich andere europäische Bestrebungen, die Platz kritisch beobachtete123, zum anderen wurde der Abendland-Begriff auch von radikalen völkisch-antisemitischen Kräften in Anspruch genommen124, während sich allenthalben ein wiedererstarkter, immer aggressiver auftretender Nationalismus in Deutschland zeigte, der alles Mühen um übernationale Gemeinsamkeiten zunehmend obsolet erscheinen ließ. Auch die insgesamt desaströse wirtschaftliche Entwicklung dürfte sich ungünstig auf das Zeitschriftenunternehmen ausgewirkt haben. Wie auch immer  : Gegenüber Carl Muth bemerkte Platz in einem undatierten, wohl aus dem Jahr 1929 stammenden Brief ernüchtert  : „Es gibt im geistigen Leben Unwägbarkeiten, die todbringend sein können. Ich habe mehr als einmal das sehr schmerzlich empfunden bei ‚Abendland‘, das ja nun eingegangen ist, ohne daß ich es eben wegen gewisser Unstimmigkeiten allzu sehr bedauern könnte.“125

Resümee 1. Platz leistete seit 1910 in seinen vielen publizistischen Beiträgen eine bedeutende Transferarbeit zwischen Frankreich und Deutschland. Als Grenzgänger überschritt er sehr bewusst die nationalen, konfessionellen und weltanschaulichen Grenzen, auch die Grenzen fester Fachdisziplinen. Was den Romanisten Platz, der zunächst Theologie studiert hatte, für den Kirchen- und Theologiehistoriker so interessant macht, ist zum einen seine Persönlichkeit und seine engste Verwobenheit hinein in führende Kreise des deutschen Katholizismus, zum anderen seine bewusst theologische Konzeption von ‚Abendland‘. 123 In einem Artikel im Großen Herder konturiert Platz 1930 seine Auffassungen von Abendland gegenüber dem Völkerbund und der Pan-Europa-Bewegung  : Abendland meine „vor allem ‚geschichtliche Verwurzelung‘, ‚geistige Verantwortung‘, ‚Kraft alter Geisteswerte und Menschenbindungen‘. Gegenüber der Idee der Sendung, wie die naturalistischen Staatsgläubigen sie vertreten, umschließt es die Idee des Dienstes an der übernationalen Güterwelt‘.“ Zit. nach Schlüter-Hermkes, „Abendland als Idee und Gestalt. Hermann Platz zum Gedenken“, hier S. 70. 124 So etwa von Otto Dickels „Werkgemeinschaft des Abendländischen Bundes“. Vgl. https://www.histo risches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Deutschsozialistische_Partei_(DSP),_1920–1922. 125 o.D. Platz an Muth. BSB NL Muth (Ana 390) II.A.

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2. Wir haben zunächst versucht, die Genese des ‚Abendland‘-Denkens bei Platz zu rekonstruieren. Der Ausgangspunkt war 1919 und – im Zeichen von Versailles – eine Enttäuschung  : das Versagen der Christen auf Seiten der Kriegsgewinner, die nicht bereit oder fähig waren, die Hand zur Versöhnung zu reichen. Die Enttäuschung war umso größer, als Platz vor dem Krieg ein ausgesprochen positives Bild des ‚jungen (katholischen) Frankreich‘ gezeichnet hatte. Vor diesem Hintergrund erkannte Platz im – zweideutigen – Gesprächsangebot Pradels das Gesicht einer breiten Strömung innerhalb des französischen Katholizismus, die in vollem Bewusstsein das Nationale dem Religiösen überordnete. Er glaubte deshalb, Pradels Initiative öffentlich als Versuch einer Fortsetzung des Krieges mit friedlichen Mitteln demaskieren zu müssen. Der aufsehenerregende Artikel „Um Rhein und Ehre“ und der Konflikt mit Pradels wurden in der Folge zum Katalysator einer ‚abendländischen Bewusstwerdung‘, weil Platz sich genötigt sah, die eigene Position inhaltlich näher zu bestimmen. In der breiten Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Literatur der Zwischenkriegszeit fand Platz zum abendländischen Gedanken. Ohne Scheuklappen prüfte er brauchbare Ansätze, sah neben Falschem und Unausgereiftem manches Wertvolle und gewann durch Ideologien und Worthülsen hindurch festen Stand. Eine erste Klärung erfolgte mit den Aufsätzen „Frankreich am Scheideweg“ und „Ringen um die abendländische Idee“. Stand für Platz zunächst der Begriff des ‚Rheinischen‘ im Vordergrund, so trat diesem immer stärker der des ‚Abendlands‘ zur Seite, zunächst noch einigermaßen plakativ verwendet. 3. Von französischen und gleichermaßen deutschen Denkern und Schriftstellern inspiriert, fand Platz zur Überzeugung, die beiden Länder in der geographischen Mitte Europas könnten  – als die beiden Flügel des Abendlandes  – im Anknüpfen an ihre gemeinsame (in Karl dem Großen wurzelnde) Geschichte zum Motor einer friedlichen Zukunft werden. Ein zentraler Grundgedanke war ihm dabei die Erinne­ rung an das mittelalterliche Erbe einer religiös durchdrungenen Welt, an die – wiewohl spannungsgeladene  – Einheit von Imperium und Sacerdotium, welche die Krönung Karls des Großen zum Kaiser am Weihnachtstag des Jahres 800 in Rom symbolisierte. Erinnerung hieß freilich nicht  : Schwelgen im Pathos des Vergangenen, sondern Ermöglichung von Orientierung und Zukunft. Verweist der Rhein auf Karl den Großen und sein West- und Ostfranken sowie ganz Zentraleuropa umfassendes Reich, so steht der Kölner Dom ebenso wie das ‚Wesen‘ des Rheinländers für die Überbrückung der scheinbaren Gegensätze, für die Verneinung der Extreme und das Offenhalten der Wirklichkeit auf Transzendenz hin. Auch mit der durch die Krönung Karls angesprochenen Assoziation ‚Roms‘ ist die religiöse Dimension und Fermentierung des Abendlandes angedeutet, zugleich jedoch auch das antike Erbe integriert, insbesondere Platons Ideenlehre und der ‚Symbolismus‘.

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4. Platz sieht ‚die Ideenwelt des europäischen Westens‘ zwischen der ‚Tatwelt des Angelsachsentums‘ und der ‚Traumwelt des Ostens‘. Die letzteren gehören weder geographisch noch sächlich zu dem, was Platz ‚Abendland‘ nennt. Weitere geographische Abgrenzungen nach außen nennt Platz ebenso wenig, wie er den ‚Ort‘ anderer Länder und Nationen bestimmt. Im Zentrum sieht er Frankreich und Deutschland, die sich den Rhein und – mit diesem – eine gemeinsame Geschichte und gemeinsame Vorstellungen teilen. Keines kann ohne das andere existieren, beide sind schicksalshaft aneinander gekettet. Das Abendland ist wesentlich durch ‚Ideen‘ bestimmt, nicht durch ‚Taten‘ oder ‚Träume‘. Das ‚Wort‘, die ‚Form‘, die ‚Logik‘, die ‚Dogmatik‘, die ‚Liturgie‘ sind solche Ideen als „wunderbare Werkzeuge der Dingbeherrschung“. Und es gibt „eine das Wesen der Dinge ausdrückende Wahrheit“. Wo diese eine Wahrheit, die im Geschichtlichen und Göttlichen wurzelt und zugleich ‚Vernunft‘ ist, durch eigene, spezifische oder gar nationale Wahrheiten (die oft nicht anderes als Vorurteile und Legenden sind) ersetzt wird, geht das Abendland zugrunde. Kräfte, denen solch zerstörerische Macht innewohnt, sind Vorstellungen von ‚Schicksal‘, ‚Rasse‘, ‚Mut‘, ‚Wille‘, ‚Tat‘, ‚Rausch‘ oder spezifischer ‚Sendung‘ (als mystische Auserwähltheit, gegen andere geltend gemacht). 5. Historisch festgemacht wird das Abendland in der Geschichte  : Das Mittelalter ist für Platz der zentrale europäische Erinnerungsort, zugleich eine Chiffre für die ‚eine Wahrheit‘, die von der Vernunft logisch erkannt wird. Schöpfer und Begründer dieser Einheitlichkeit der Anschauungen ist das, auf antiken Wurzeln aufbauende, mittelalterliche augustinisch-thomistische Weltbild. Die Völker des Abendlandes ver­bindet also ein substanzieller Kern, dem sie sich selbst in ihrer (gemeinsamen) Geschichte unterworfen haben, „eine das Wesen der Dinge ausdrückende Wahrheit“. Erst mit der (neuzeitlichen) Deformierung der Vernunft im nationalen und utilitaristischen Sinn wurde die eine Wahrheit durch die ‚vielen Wahrheiten‘ ersetzt, die eine ‚Sendung‘ des ‚abendländischen Menschen‘ durch die ‚Eigensendungen‘, die man den Nationen unterstellte, die aber lediglich „Waffe im Kampf ums Dasein“ sind. So versteht Platz das Abendland als ‚Aufgabe‘, als ‚Christentum der Tat‘, als Erzählen ‚von absoluten Wahrheiten‘, als Wachhalten des ‚unzerstörbaren Glaubens an das Reich Gottes‘. Nur so kann er sich eine Zukunft denken, die den irreligiösen, keiner höheren Macht verpflichteten, ins Verderben führenden Nationalismus überwindet. 6. Die Abendland-Konzeption, die Platz dann 1924 vorlegte, zeigt eine programmatische Verdichtung früherer Ansätze. Wesentliche Gedanken sind  : Die ­Herrschaft des ‚Geistes‘, der ‚Ideen‘, nicht des Triebes  ; ein Verständnis von ‚Abendland‘ nicht als festumrissene Größe, sondern – in radikaler Anthropozentrik (die zentrale Botschaft des Christentums) – als Haltung (‚Aufgabe‘, ‚abendländischer Mensch‘, ‚Be­gegnung‘) und ‚schöpferische Idee‘, die die Frage nach Sein und Sinn, ‚Substanz‘ und ‚Wesen‘

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offenhält. Dieser Habitus tritt reiner Diesseitsorientierung, Zweckgerichtetheit sowie einem materialistischen oder utilitaristischen Weltverständnis entgegen. Zur abendländischen Füllung gehört eine gottgesetzte Ordnung, eine gegliederte Wertewelt, die hierarchische Abstufungen kennt, der Gedanke der Einheit (als Ökumene und Universalismus), die allerdings nicht gestaltlos ist, sondern ‚Form‘ und Eingliederung kennt. An die Stelle von Statik tritt Dynamik, die sich auch in der Betonung der Seinsweise in Form eines ‚Dienstes‘ der einzelnen Teile am Ganzen (auch der ‚Treue‘, ‚Demut‘, ‚Caritas‘) zeigt. ‚Abendland‘ ist freilich nichts Antiquarisches, Festgefügtes, Fassbares und Unveränderliches, sondern jeweils und immer neu zu Realisierendes, mithin ein Ethos, das als ‚Aufgabe‘ jeder Zeit anheimgegeben ist. Das Abendländische überwölbt das Nationale, erhöht es und schafft ‚Haltungen‘. Abendland ist letztlich ein Code für die ‚Verchristlichung‘ des Menschen. 7. Der semantisch aufgeladene, wortschöpferische Sprachduktus von Platz, der auch die Symbolik kennt, trägt stellenweise Züge von Emotionalität, die neben der sachlichsten Analyse geistesgeschichtlicher Entwicklungen mitunter befremdet. Mehrfach wandte Platz sich jedoch pointiert gegen irrationale, einseitige oder maßlose Vorstellungen (etwa eines formlosen Pazifismus). Das reine Gedankenspiel im elfenbeinernen Turm geistiger Auseinandersetzungen lehnte er ab, versuchte vielmehr zielgerichtet seine Überlegungen in den Raum der politischen Diskussion zu tragen. Nicht zufällig erschien seine Programmschrift von 1924 in einer Schriftenreihe der rheinischen Zentrumspartei. Platz hatte damit einen gewissen Erfolg, wie das Herausgeber-Board der ein Jahr später gegründeten Zeitschrift Abendland zeigt, die vor allem als Transmissionsriemen hinein in Politik und Gesellschaft gedacht war. Angesichts der vielen Mitarbeiter und Fachdisziplinen, die an der Zeitschrift Anteil nahmen, erstaunt es nicht, dass der Begriff ‚Abendland‘ eine stark assoziative Verwendung fand, gewissermaßen als ‚Vase‘ diente für einen bunten Strauß von Beschäftigung mit europäischen Themen. Das Ende der Zeitschrift kam nach sechs Jahren überraschend schnell. Die internen Hintergründe, die Platz gegenüber Muth andeutete, sind noch ungeklärt. Nicht unwahrscheinlich aber ist, dass Platz beileibe nicht mit allen Abendland-Vorstellungen einverstanden war, die hier zu Wort kamen.126 Doch mag zum ‚Aus‘ des Blattes nicht zuletzt der gegen Ende der 1920er Jahre immer aggressiver werdende nationale Umschwung innerhalb der deutschen Bevölkerung beigetragen haben, der nicht nur die gesellschaftliche Mitte zerklüftete, sondern für ‚europäische‘ Gedanken kaum mehr Raum ließ.

126 Vgl. dazu die Hinweise bei Weiss, Kulturkatholizismus, S. 186–194.

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Heinz Sproll

Memoria als ars: Theodor Haeckers „Vergil – Vater des Abendlandes“ (1931) Vom eschatologischen magnus ab integro saeclorum nascitur ordo (Verg ecl. 4,5) zum christlichen geschichtsontologischen Theologumenon als Schlüsselchiffre im Widerstand gegen das NS-Regime

Memoration als ars und als vis Die folgende Studie geht von zwei kulturanthropologischen Prämissen aus  : 1. Unterscheidet man die von Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) maßgeblich geprägte Kategorie der memoria im Rahmen der Mnemotechnik in ihrer Funktionsweise als ars von ihrer Funktionsweise als vis1, so verschafft man sich nicht nur einen adäquaten Zugang zu der von ihm begründeten römischen Diskurstradition, sondern man verfügt auch über ein kategoriales Instrumentarium, das das Gedächtnis in seinen operativen Funktionen als ‚Speichern‘ und ‚Erinnern‘ begreift. Ist die Dimension der Zeit bei der Operation des ‚Speicherns‘ suspendiert, so ist sie beim ‚Erinnern‘ aktiviert.2 2. Als epistemologische und geschichtsontologische Grundlage dient im Folgenden das Theorem Reinhart Kosellecks (1923–2006)  : „Die Endlichkeit des geschichtlichen Menschen [ist] der dauernde Ursprung der Geschichte [und folglich ist] die Lehre von dieser Endlichkeit […] als Eschatologie auch aller Geschichtswissenschaft ontologisch vorzuordnen.“3 Mithin wird als Prämisse angenommen, dass von der Antike bis zur Sattelzeit der Aufklärung in Europa (1750–1850) die ontologisch fundierte, metahistorisch bestimmte und atemporale, Vergangenheit und Zukunft igno­rierende4 Memoration der ars solche lebensweltliche, identitätsstiftende und 1 Vgl. Cicero, De orat 2, 352‒354  ; Rhetorica ad Herennium 3, 26‒40  ; Quintilian, Institutio oratoria 11, 2, 1‒51. 2 Vgl. A. Assmann, Erinnerungsräume, S. 29. 3 Koselleck an Carl Schmitt vom 21.1.1953, in  : Koselleck – Carl Schmitt, Der Briefwechsel 1953–1983, S. 11–12  ; vgl. Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 362. 4 Das Zeitverständnis des Hl. Augustinus als dauernde atemporale Gegenwart dürfte für die christliche Spätantike zumindest bis zum Renaissancehumanismus, ja weitgehend bis zur Sattelzeit repräsentativ gewesen sein. Vgl. hierzu Schmidt, Zeit und Geschichte bei Augustinus.

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meist oral tradierte Sinnkonstrukte des ordo temporum mit ihren ­„Regelhaftigkeiten wiederkehrbarer Abläufe“ (Koselleck)5 generierte. In der Folge vermittelte diese Memoration der ars Traditionsketten über alle Kontingenzen und Umbrüche der Geschichte hinweg im Erfahrungs- und ‚Erinnerungsraum‘ (Aleida Assmann)6 des ‚kul­ turellen Gedächtnisses‘ (Jan Assmann).7 Diese Traditionsketten besaßen a­ ufgrund ihrer handlungsstabilisierenden Verbindlichkeit in symbolischen Kommunikationsräumen hohe normative Geltung.8 Bei der in der Sattelzeit sich vollziehenden „Asymmetrie zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont“ (Koselleck)9 und der „Verzeitlichung der ­Geschichte, an deren Ende jene eigentümliche Art der Beschleunigung steht, die unsere Moderne kennzeichnet“ (Koselleck)10 und der daraus resultierenden Verschiebung der Memo­ ration als ars zur Memoration als vis erfolgte ihre De-Ontologisierung. In diesem Kontext bildete sich das bis zu drei Generationen verbindende, zeitlich eng begrenzte, kontingente und relativ instabile ‚kommunikative Gedächtnis‘ (J. Assmann)11 im Funktionsmodus des ‚Erinnerns‘. Die Memoration als vis historisierte die zur Vergan­ genheit gewordene (Vor)Geschichte der jeweiligen drei Generationen im Namen der aufgeklärten Vernunft und Moral und rekonstruierte sie in ihrer zeitlich-linearen Entwicklung mit der Folge, dass der Historismus den jeweiligen historischen Phänomenen im Rahmen der Totalität der Geschichte an und für sich eine je einmalige, zeitlich abgeschlossene Individualität zuschrieb.12 Mit dieser sich in der Aufklärung bahnbrechenden Memoration als vis brachen die als ars gespeicherten Traditionsketten mit ihren atemporalen, metahistorischen Botschaften ab. Die in ihnen bisher wirksamen Sinnbildungen wurden nunmehr als abgespaltene Symbole für obsolet erklärt, da sie mit den durch die industrielle Arbeit bestimmten Handlungsräumen inkommensurabel waren. Mithin wurden im Zuge der ‚Mortifikation‘ (A. Assmann)13 semantische Narrative und ikonografische Botschaften der Vor-Sattelzeit nicht mehr übersetzbar. Vielmehr wurden sie in kodierter Form in externe Speichermedien des epochenübergreifenden, aus Archiven, Bibliotheken, Museen, später auch aus digitalisierten Dateien bestehenden ‚kulturellen  5 Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 142 f.   6 Vgl. A. Assmann, Erinnerungsräume  ; Metzger, „Erinnerungsräume“, S. 19‒44.   7 Vgl. J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 48‒66 u. S. 293‒401.   8 Vgl. Oexle, Die Gegenwart der Lebenden und der Toten, S. 74‒107.  9 Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 366. 10 Ebd., S. 19. 11 Vgl. J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 48‒66  ; Welzer, Das kommunikative Gedächtnis, passim. 12 Vgl. u. a. Meinecke, Die Entstehung des Historismus. 13 A. Assmann, Erinnerungsräume, S. 14.

Memoria als ars: Theodor Haeckers „Vergil – Vater des Abendlandes“ (1931) 

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Gedächtnisses‘ (J. Assmann) ausgelagert und damit verfügbar gemacht. Die symbolische Kommunikation der gegenwartsfixierten Moderne bedarf keiner Narrative als artes mehr, die als Referenten auf die fremdgewordene Vergangenheit dienen ‒ einer Vergangenheit, die in der Selbstverständigung der aufgeklärten und autopoietischen Öffentlichkeit bedeutungs- und funktionslos wurde. Kaum ein anderes metaphorisches Narrativ als die 4. Ecloge Vergils und seine Aeneis hat wegen seiner komplexen und mithin vielfältig übersetzbaren Bedeutungsebenen, vor allem wegen seiner heilsgeschichtlichen Semantik im Gefolge der entpaganisierenden und allegorischen Deutung Konstantin des Großen von 31414, die memoria als ars und mithin den die abendländische Geschichtskultur konstituierenden Erinnerungsraum gerade auch mit seinem Bildungsgedächtnis geprägt, weil dieses Narrativ im Schnittpunkt von Ewigkeit und Zeitlichkeit, atemporalem Sein und geschichtlicher Kontingenz von der Antike bis in die Neuzeit15 transtemporal gedeutet wurde, bis die verzeitlichende Hermeneutik des Verdachts in der Sattelzeit die Narrative Vergils auf ihre je kontingenten Bedingungen historisierte und ihren ethisch-ästhetischen Geltungsanspruch relativierte. Mithin wurde es unter dem Abbruch dieser Deutungstradition und des damit verbundenen heilsgeschichtlich bestimmten Bildungsgedächtnisses für die modernen Geisteswissenschaften immer dringlicher, die Erinnerung als vis mithin als methodisch kontrollierte Philologie zu konstituieren. Davon profitierte im deutschen Idealismus und Klassizismus mit seinen philhellenistisch orientierten Bildungseliten vor allem die Gräzistik. Das Interesse an Vergils Narrativen ließ in dem Maße nach, wie sich die neuhumanistischen deutschen Bildungseliten als die legitimen Erben des antiken Hellas verstanden. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts schuf sich in der deutschen Bildungsgeschichte die Deutung des antiken Rom als einer eigenständigen Kulturschöpfung16 allmählich Raum, sodass die Latinistik als vis sich der Dichtung Vergils unter der Prämisse zuwandte, dass sie von allen heilsgeschichtlichen und christlichen Deutungsparadigmata absah.17 Umso virulenter wurden Bestrebungen, die Dichtung Vergils in der literarisch-ästhetischen Verarbeitung wieder als ars zu memorieren. Obwohl durch die rapide Säkularisierung das Substrat der vorsattelzeitlichen katholischen Kultur in Deutschland als ‚Sitz im Leben‘ erodiert 14 Constantin der Große, Oratio ad sanctorum coetum, S. 106‒115  ; Kapitel 18.1.2‒21, S. 200‒219. 15 Vgl. u. a. Freund, Vergil im frühen Christentum  ; v. Albrecht, Vergil. Eine Einführung, S. 187‒199  ; Ziolkowski‒Putnam, The Virgilian Tradition. Zu Dantes Vergil vgl. v. Albrecht, „Dante, Vergil und Statius“, S. 759‒774  ; Heil, Alma Aeneis. 16 Vgl. Heinze, Von den Ursachen der Größe Roms, S. 9‒27. 17 Vgl. u. a. Sproll, „Iam nova progenies de caelo demittitur alto“, S. 293‒309  ; Ziolkowski, Virgil and the Moderns.

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war, intendierte Theodor Haecker (1879–1945) in der literarischen Gattung des 1931 erschienen Vergil-Essays „Vergil. Vater des Abendlandes“18 die nunmehr als christliches Theologumenon mimetisch anverwandelte Eschatologie der 4. Ecloge und der Aeneis Vergils zur Schlüsselmetapher für das Abendland zu machen, das er von den aus den Traditionsbrüchen resultierenden kulturellen Verwerfungen und totalitären Systemen bedroht sah. Aufgrund ihres hohen eschatologischen und katechontischen Potentials fungierte dann auch dieses metaphorische Theologumenon „Vergil. Vater des Abendlandes“ als geschichtsontologisches Fundament mit großem ethischem Anspruch für den Kreis der Weißen Rose im aktiven Widerstand gegen den NS-Terror und seine Ideologie.19 Dabei entfaltete diese Metapher mitnichten als Repristination eines idealisierten Erinnerungsraums im Sinne einer konstruierten Memoration als vis, sondern als handlungsleitendes sittliches Moment ganz im Sinne der vorsattelzeitlichen ars eine das Regime dementierende Wirksamkeit. Sogar nach 1945 sorgte gerade auch die Rezeption von Haeckers Essay zu Vergil als Schlüsselmetapher des Abendlandes in einer breiten Leseröffentlichkeit für die Wiederbegründung eines geschichtskulturellen Erinnerungsraums, der vermittels der Memoration als ars für die Verortung der frühen Bundesrepublik und des werdenden Europa in einem christlich-humanistisch bestimmten Wertehorizont nicht unbedeutend war.

Die Matrix des Erinnerungsraums: Vergils Eschatologie im Kontext der Augusteer In einem kurzen intertextuellen Befund wird im Folgenden versucht, die Matrix der Eschatologie Vergils zu deuten, die den Erinnerungsraum bis in die Frühe Neuzeit präfigurierte. Liest man die an Catulls Peleus Epyllion20 angelehnte 4. Ecloge Vergils (ca. 40 v. Chr.) gegenwartsbezogen und als „Grundtext für die poetische Geschichtsdeutung der augusteischen Zeit“ (Ernst August Schmidt)21, so kann im Kontext der Bürgerkriege nach Caesars Tod 44 v. Chr. nach der sybillinischen Prophezeiung nur eine göttliche Intervention die bevorstehende Apokalypse abwenden und dann einen universalen Frieden in der bevorstehenden aurea aetas bringen  :

18 Haecker, „Vergil. Vater des Abendlandes“, (=Abendland), S. 1‒27. 19 Vgl. Moll (Hg.), Das deutsche Martyrologium des 20.  Jahrhunderts, S.  486‒489, 491‒493, 507‒509  ; Zoske, Flamme sein. 20 Catull, c. 64. 21 Schmidt, Augusteische Literatur, S. 98.

Memoria als ars: Theodor Haeckers „Vergil – Vater des Abendlandes“ (1931) 

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Ultima Cumaei venit iam carminis aetas  ; magnus ab integro saeclorum nascitur ordo. Iam redit et Virgo, redeunt Saturnia regna  ; iam nova progenies caelo demittitur alto.22

Das bis auf das 2. vorchristliche Jahrhundert zurückgehende, im Gefolge der Punischen Kriege auftretende römische Krisenbewusstsein verstand sich aitiologisch, indem die Dichter Vergil und Horaz, am Rande auch Ovid, Properz und Tibull, im Auftrag der Götter als vates, in ihrer semisakralen Rolle als weise Lehrer, Mysterienund Sühnepriester23 die Ursachen der in ihrem Erfahrungsraum sich ereignenden römischen Bürgerkriege in einem Schuldzusammenhang interpretierten, der in dem Bruderkonflikt zwischen Romulus und Remus gründete und darüber hinaus bis in den mythischen Ursprung des Krieges um Troja der priscae vestigia fraudis (= der Spuren der früheren Arglist)24 zurückreichte. Die begangene Blutschuld bedurfte nunmehr einer Sühne, die nach den erneuten Bürgerkriegen die nova progenies, mithin Augustus, nach dem Willen der Götter zu leisten berufen war. Den Wendepunkt von der Katastrophenstimmung zur Hoffnung auf Rettung brachte im Erfahrungsraum des Vergil bereits die Epiphanie des sidus Iulium (= des Sterns Julius Caesars) Ende Juli 44 v. Chr., als anlässlich der von Octavian organisierten ludi Victoriae Caesaris (= Spiele zu Ehren von Caesars Sieg)25 die Seele Caesars und damit seine am 1. Januar 42 v. Chr. vom Senat normierte Apotheose als Symbol der glückverheißenden Zeitenwende vom Volk gedeutet wurde. Mehr noch  : Octavian wusste geschickt in der politischen Kommunikation sich das sidus Iulium als omen für seine Selbstdeutung als Divi filius und mithin für seine providentielle Sendung als soter zur Überwindung der Bürgerkriege in der anbrechenden aetas aurea zuzuschreiben.26 Bereits Vergils erstes Georgicabuch mit seinem Finale (ca. 29 v. Chr.) referenzierte in inhaltlicher Parallele zur entstehenden Aeneis (29–19 v. Chr.) mit dem Gebet zu 22 Vergil, ecl. 4, 4–8  ; im Folgenden wird die Übersetzung von v. Albrecht verwendet, vgl. Vergil, Bucolica. Hirtengedichte, S. 37  : „Schon ist die letzte Zeit des cumaeischen Liedes gekommen  ; die große Reihe der Äonen wird von neuem geboren. Schon kehrt die Jungfrau zurück, die Herrschaft Saturns kehrt wieder  ; schon wird neuer Nachwuchs vom hohen Himmel herabgesandt“  ; vgl. dazu Horaz, ep 16. 23 Vgl. Schmidt, Augusteische Literatur, S. 61‒89. 24 Vergil, ecl. 4, 31  ; Vergil, Bucolica. Hirtengedichte, S. 39. 25 Vgl. Bringmann, Augustus, S. 47. 26 Plinius, n. h. 2, 93–94 mit wörtlichem Zitat aus einer Rede Octavians, in  : Bringmann/Wiegandt (Hg.), Augustus, S. 195  ; parallele Überlieferung bei  : Vergil, ecl. 9,46–49  ; Aen. 8, 681  ; Sueton, Div. Iul. 88  ; Cassius Dio 45,7,1. Vgl. Schmidt, Augusteische Literatur, S. 96 f.; Weinstock, Divus Julius, S. 370‒379.

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den Di patrii, indigetes et Romule Vestaque mater27 in Anknüpfung an die erste Ecloge (40 v. Chr.) „hic illum vidi iuvenem“28 explizit auf das Troja-Narrativ, indem es die auf die 4. Ecloge Vergils antwortende Geschichtstheologie der 7. Epode des Horaz (ca. 30 v. Chr.) rezipierte  : „[…] satis iam pridem sanguine nostro Laodemonteae luimus periuria Troiae.“29 Versteht man Vergils Georgica umgekehrt als Grundtext (E. A. Schmidt)30 für die Odenbücher I‒III des Horaz (erschienen 23 v. Chr.), darf man bereits in Carmen 1,2 seine weiter entwickelte Geschichtstheologie erkennen31, die drei Elemente enthält  : 1. Jupiter bestimmt als strafender und Sühne fordernder Gott die Geschichte Roms. 2. Die aitiologische Konstruktion des Schuld- und Strafzusammenhanges im trojanischen Krieg ist Urgrund für das Verbrechen an Julius Caesar, das im Rache- und Bürgerkrieg zu sühnen ist, der in seinem Unmaß die Existenz Roms bedroht.32 Das im Prodigium zur Sprache gebrachte fatum (= Schicksal) bezeichnet den Bürgerkrieg als Schuld und Sühne zugleich. 3. Erst die enge Beziehung von Göttern und Menschen ermöglicht die Sühne der im Bürgerkrieg erneut aufbrechenden Urschuld  : Apollo der Sieger von Actium fungiert dabei als Augur, Venus Siegerin von Pharsalus als Lächelnde, Mars der Sieger von Philippi als Beschützer Roms gegen seine äußeren Feinde und der junge Octavian der Caesaris ultor (= Rächer des Caesars) als almae filius Maiae (= der segenspendenden Maja Sohn)33 und soter (= Retter), der ­sämtliche Energien des Friedens auf sich vereinigt und damit die Zeitenwende zu einem neuen Aion einläutet. In der teleologischen Deutung der Rettungstat des Octavian aus dem aitiologischen Verkettungszusammenhang von Schuld und Sühne zeichnet sich das eschatologische Fundament eines über den Polytheismus von Vergils erstem Georgicabuch mit seinem Gebet am Finale hinausgehenden Monotheismus ab, der die gesamte Geschichtstheologie Vergils bestimmt.34 27 Vergil, georg 1, 498  ; im Folgendem wird die Übersetzung von Schönberger verwendet vgl. Vergil, Georgica. Vom Landbau, S. 37  : „Heimische Vätergötter, vergötterte Vorfahren, auch du, Romulus, und du, Mutter Vesta“. 28 Vergil, ecl. 1, 42  ; Vergil, Bucolica. Hirtengedichte, S. 11  : „Hier habe ich jenen Jüngling gesehen“  ; weitere Anspielung vgl. Vergil, georg 1, 500–501. 29 Vergil, georg. 1, 501–502  ; Vergil, Georgica. Vom Landbau, S. 37  : „Längst und genug schon büßten wir mit unserem Blut den Meineid der Laomedontischen Troja“  ; ähnlich Horaz, c 3,3, 21–22. 30 Schmidt, Augusteische Literatur, S. 83. 31 Ebd., S. 103 f.; vgl. ders., Zeit und Form, S. 209‒211. 32 Horaz, c 1, 2, 13–16. 33 Horaz, c 1, 2. 43–44  ; in Folgendem wird die Übersetzung von Kytzler verwendet. Vgl. Horaz, Oden und Epoden, S. 8. 34 Vgl. Schmidt, Augusteische Literatur, S. 105.

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Der weitere intertextuelle Zusammenhang, der zwischen der Geschichtstheologie des Horaz mit seinen Oden I–III und der Aeneis (29–19 v. Chr.) Vergils besteht, wird bereits in der Rede Jupiters im ersten Buch deutlich, das den in Carmen 1,2 in Anlehnung an die 7. Epode des Horaz das Schuld- und Sühnemythologem neu formuliert  : […] aspera tum positis mitescent sacula bellis cana Fides et Vesta, Remo cum fratre Quirinus iura dabunt […]35

Vergil referenziert das durch den actischen Sieg Octavians (31 v. Chr.) ermöglichte Ende des Bürgerkriegs und die damit anbrechende Pax Augusta geschichtstypologisch auf die divinisierten Gründer Roms, Romulus und Remus, die sich im neuen Aion des Friedens versöhnen. Parallel zu seiner Einwirkung auf die Geschichtstheologie der Aeneis entwickelt Horaz seine eigene weiter. Er lässt das in den Römeroden (Buch III) artikulierte Mythologem von Troja als Gegenmacht Roms, das seinen Weltmachtstatus seiner einzigartigen virtus (Tugend) verdankt, in dem zur Säkularfeier von Augustus in Auftrag gegebenen Carmen saeculare (= Gesang der Zeitalter) weit hinter sich. Der Herr dieser Säkularfeier, der Apollo Palatinus, wird in dem ca. 14 v. Chr. entstandenen IV. Odenbuch in Anlehnung an die Aeneis zum Herrn der Geschichte, in dessen Namen und unter dessen Schutz Octavian bereits 31–30 v. Chr. den Krieg gegen Marcus Antonius geführt und gewonnen hatte  : […] ni tuis [sc. Apollinis] flexus Venerisque gratae vocibus divom pater adnuisset rebus Aeneaue potiore ductos alite muros.36

Nach diesem Theologem sind in der römischen Friedens- und Weltherrschaft nunmehr alle inneren Antagonismen aufgehoben und äußeren Feinde überwunden. Die 35 Vergil, Aen 1, 291–293  ; im Folgenden wird die Übersetzung von Fink verwendet. Vgl. Vergil, Aeneis, S. 25  : „Die rauhen Zeiten mildern sich dann, wenn Kriege beendet sind  ; Die greise Fides und Vesta, mit dem Bruder Remus Quirinus, sprechen das Recht“. 36 Horaz, c 4, 6, 21–24  ; vgl. Horaz, Oden und Epoden, S.  205  : „wenn nicht, erweicht durch dein und der holden Venus Flehen, der Göttervater hätte gewährt der Macht des Aeneas, dass er errichte unter günstigerem Vorzeichen Mauern“.

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in unmittelbarer Vergangenheit gemachte Katastrophenerfahrung wird in dem aus der Zeitenwende hervorgehenden neuen Aion „tua, Caesar, aetas“ (= dein ­Zeitalter, Caesar)37 der Pax Augusta als eschatologisches Telos der römischen Geschichte gedeutet, auf das hin Jupiter in Verbund mit Apollo die Römer gelenkt hat. In dieser Geschichtstheologie ist Augustus kein Gott38, sondern ein Mensch, der den eschatologisch bestimmten Willen der Götter durch seine Sendung erfüllt und nach seinem Tode die Apotheose erfährt.39 Nach diesem Theologem, das sich aus dem Mythologem des auf Erden wandelnden Gottes entwickelte40, bestimmen die fata (Schicksal im Sinne der Wille der Götter) des Ovid41 Richtung und Ziel der teleologischen Geschichtstheologie, die mithin im soter Augustus die eschatologische Erfüllung der Geschichte Roms sehen. Die Geschichtstheologie Vergils im Kontext der augusteischen Ideenwelt deutet aber nicht nur den Erinnerungsraum der Geschichte Roms aitiologisch von der Gegenwart des Prinzipats her bzw. umgekehrt die mythisch konstruierten Anfänge eschatologisch auf ihre teleologische Erfüllung im neuen Aion der aetas aurea des saeculum Augustum hin, sondern gewinnt als „Synthese und Summe der bisherigen Kulturentwicklung“ (Viktor Pöschl)42 ihre universale und transkulturelle Dimension gerade dadurch, dass ihre Thematik kosmologisch fundiert ist. Das im auguste­ischen Weltverständnis angelegte geschichtsontologische Potential an Wahrheit macht es zum Paradigma der abendländischen Kultur kat-exochen  : Der Universalismus des saeculum Augustum objektiviert sich durch die Einheit von res publica und Kultur, durch sein Verständnis der Form als Abbild der kosmischen Ordnung, durch seinen verpflichtenden Willen zum Prinzipiellen, in der strengen Axialsymmetrie der Architektur sowie in den auf die jeweilige Mitte hingeordneten Bauformen der Dichtung Vergils.43 In der Wiederherstellung der Rechtlichkeit44 und in der Erziehung in einer humanen Bürgerkultur erreichen die ideellen, öffentlichkeitswirksamen Botschaften der humanitas in Dichtung und bildender Kunst in Rom als der seinshaften Mitte des Orbis terrarum ihre anthropologische, tanskulturelle und transhistorische Dimen-

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Horaz, c 4, 15, 4  ; Horaz, Oden und Epoden, S. 226. Zur Divinisierung bzw. Konsekration des Augustus vgl. Clauss, Kaiser und Gott, S. 54‒75. Horaz, c 1, 12  ; c 3, 3  ; c 3, 4  ; Vergil, Aen 1, 286–290. Vergil, ecl 1, ecl 4  ; Horaz, c 1,2  ; Vergil, georg 1, Proömium und Finale  ; georg 3 Proömium. Ovid, met. 15, 431 ff. Pöschl, „Grundzüge der augusteischen Klassik“, S. 21‒34  ; Zitat S. 26. Vgl. u. a. Vergil, ecl 1,42  ; vgl. Pöschl, Grundzüge der augusteischen Klassik, S. 26 f. Vgl. u. a. Stahl, Das Schöne und die Politik, S. 85  ; Sproll, „Aitiologische Narrative Vergils um die Res publica restituta“, S. 1‒12  ; ders., „Nec arma modo, sed iura Romana late pollebant (Livius IX 20,10)“, S. 269‒286  ; Leisner, „Der Staat des hohen Rom“, S. 471‒455.

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sion weit über die bloße legitimationsstiftende Funktion für den Prinzipat hinaus. Indem die „großen augusteischen Dichter […] das Römische, die eigene Zeit, die eigene Person als Synekdochen des Menschlichen, der ‚conditio humana‘“45 darstellen, ist die jeweilige schöpferische Subjektivität der ästhetischen Formen und Gehalte in der universalen Objektivität des augusteischen Rom und der Pax Augusta im Sinne Georg Wilhelm Friedrichs Hegels (1770–1831) aufgehoben.46 Dieses Potential der augusteischen Universalität und mit ihr Vergils Geschichtstheologie entfaltete sich im Erinnerungsraum des Bildungsgedächtnisses trotz der politischen Umbrüche in der Spätantike performativ gerade da am intensivsten, wo sie mit ihrer Heilsbotschaft zwischen der griechischen und christlichen Kultur vermittelte.

Die christianisierte geschichtsontologische Botschaft Vergils bei Haecker als Schlüsselchiffre des Abendlandes im Widerstand: Die providentia Dei in Vergils anima naturaliter christiana Geht man davon aus, dass die Dichtung Vergils zum Kanon der Grundnarrative Europas zählt, die sein Selbstverständnis in einem von der Antike bis ins 20. Jahrhundert stabilen Erinnerungsraum bestimmten, so lässt sich Haeckers Vergildeutung im Kontext einer Deutungstradition verstehen, die diesen römischen Dichter und sein Werk in der memoria als ars bis zur Sattelzeit in erstaunlicher Kontinuität vermittelte. Auf diese Deutungstradition referenziert er explizit, wenn er die das abendländische Bildungsgedächtnis formierenden Anselm von Canterbury (1033–1100), Notker Poeta (840–912), Dante Alighieri (1265–1321) in seiner Divina Commedia (1307–1320), Jean Baptiste Racine (1639–1699) und John Henry Kardinal Newman (1801–1890), die letzteren mit einer anima Vergiliana (Haecker)47 begabt, zitiert. Wurde der Dichter nach 1800 in der deutschen philhellenistischen Bildungstradition in der universitären und gymnasialen Klassischen Philologie im Unterschied zu den westeuropäischen Nachbarn in eine sekundäre Position im Rahmen der Memoration als vis abgedrängt48, so erfuhr er zugleich eine dechristianisierte Deutung, die auch nach seiner Hochschätzung in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts anhielt. Erst mit der Zweitausendjahrfeier seines Geburtstages 1930 zeigten sich erste Versuche, die so verschüttete christlich-eschatologische Deutung des Dichters aus der La45 Schmidt, Augusteische Literatur, S. 121. 46 Vgl. u. a. Zinn, Die Dichter des alten Rom und die Anfänge des Weltgedichts, S. 7‒26  ; Zitat S. 25. 47 Haecker, „Abendland“, S. 146 f. 48 Ebd.

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tenz des Bildungsgedächtnisses zu bergen.49 Der Versuch Haeckers, Vergil wieder in die Memoration als ars performativ zu implementieren, konnte sich nur dann Chancen auf Geltung zuschreiben, wenn er in christlicher Deutung und in Kontexten des in der Weimarer Zeit virulent gewordenen renouveau catholique50 erfolgte, an dem er seit seinem Übertritt zur katholischen Kirche 1921 teilnahm.51 Hierzu motivierte ihn das Œuvre Newmans und die Auseinandersetzung Max Schelers (1874–1928)52 mit dem positivistischen und naturalistischen Wertrelativismus und dem formalisierenden Kantianismus, dem Haecker eine ontologisch-personalistische Wertethik entgegensetzte. Um einer „ungeheuerlichen babylonischen Geistes- und Sprachverwirrung“53 zu entgehen, wendete er sich gleich zu Beginn seines Vergil-Essays gegen Tendenzen der modernen Anthropologie, die Konstruktion von partikularen Rassen und Kulturen gegen das von der christlichen Schöpfungstheologie begründete Verständnis von der Universalität des Menschengeschlechts in Stellung zu bringen. Unter solchen modernen anthropologischen Prämissen eines positivistischen Wissenschaftsverständnisses mit ihrer wert- und kulturrelativistischen Epistemologie sieht Haecker nicht nur die Suspendierung der „wahren Idee des Menschen, die Idee des wahren Menschen und der Menschheit“54, sondern befürchtet als ethische und politische Folge den Zerfall des universalen Menschengeschlechts in konfligierende kulturelle und nationale Monaden, zwischen denen Interaktionen aufgrund des Fehlens einer gemeinsamen Idee nicht mehr möglich seien. Von diesem erkenntnistheoretischen, ethischen und kulturgeschichtlichen Befund her entwickelt Haecker seine christlich grundierte Hermeneutik des transhistorischen Interpretaments der heilsgeschichtlichen Eschatologie, um der Gefahr philologischer Zirkelschlüsse und der Historisierung des dichterischen Werkes zu entgehen, die von seiner universalen Reichweite absehen würde. Verlange man mithin von ihm als Autor, so Haecker, […] daß ich bei Bestimmung Vergils und des Vergilischen Menschen d e n Glauben auslassen soll, den größten Gegenstand des Abendlandes, die nahe Heraufkunft des Christentums, ihn bestimmen soll n u r nach seiner Vergangenheit und punktuellen Gegenwart 49 Vgl. Sproll, „Iam nova progenies“. 50 Vgl. u. a. Hürten, Deutsche Katholiken 1918–1945. 51 Zu Vita und Werk Haeckers vgl. Blessing, Theodor Haecker. Gestalt und Werk  ; Halder, „Die Wurzeln des Widerstandes“, S. 105‒134  ; Masser, Literatur in theologischer Fragestellung  ; Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, S. 255 ff. 52 Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. 53 Haecker, „Abendland“, S. 12. 54 Ebd., S. 13.

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und nicht nach seiner Zukunft, die doch in Vergangenheit und Gegenwart liegt, so verlangt er Ungehöriges und Widersinniges von mir.55

Positiv gewendet  : Nur unter der Voraussetzung, dass die transhistorisch geltenden Paradigmen des Abendlandes den Ermöglichungsgrund historischen Erkennens liefern und als solche auch erkannt würden, kann nach Haecker Memoration als ars gelingen. Mehr noch  : Haecker versteht Geschichte sub specie aeternitatis unter eschatologischer Perspektive als metahistorische Heilsgeschichte, die ihren Sinn erst von der Vollendung in der Parusie Christi her enthüllt. Daher dürfe der in diese Heilsgeschichte eingebundene Geschichtsschreiber „niemals vergessen, daß er […] schließlich vor ein Geheimnis gestellt ist“.56 Den modus operandi der modernen Geschichtswissenschaft die memoria als vis im Sinne voraussetzungsloser methodisch kontrollierter Erkenntnis zu konstituieren, muss daher Haecker als einen dem positivistischen Historismus inhärenten Irrtum ablehnen. Dasselbe gilt auch für die moderne Klassische Philologie, die ihre Gegenstände als vis memoriert  : „Eine bloß philologisch ästhetische Erklärung Vergils ist ein Falsum, eine Zersetzung des Ganzen, ausgeführt durch zersetzte Geister.“57 Vergil als Archetypus und seine Dichtung als atemporales geschichtsontologisches Grundnarrativ der abendländischen Berufung in eschatologischer Perspektive deutend, kann Haecker sein erkenntnisleitendes Interesse so bestimmen  : „So verstanden, mit solchen Prinzipien habe ich von Vergil und vom Vergilschen Menschen geredet  ; ihn sehend nicht als einen gesonderten, verblichenen Typus des abendländischen Menschen, sondern als diesen selber […].“58 Im heilsgeschichtlichen Verständnis Haeckers kann Vergils Aeneis nur dann verstanden werden, wenn die Bestimmung des Dichters als „adventistischer Heide“59 in den Zusammenhang mit der providentiellen Funktion des Imperium Romanum gebracht wird  : […] daß das Imperium Romanum, nachdem es sich grausam mit allen Mitteln seines allmächtigen, die Gottheit selber usurpierenden Staates gewehrt hatte, schließlich doch freiwillig, durch einen freien Akt der Zustimmung, sua sponte, aus seinem Innersten heraus –

55 Ebd., S. 19. 56 Ebd., S. 25. 57 Ebd. 58 Ebd., S. 20. 59 Ebd., S. 26.

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und sein Innerstes war der Staat ‒, eine Religion, die von Anfang an und in alle Ewigkeit über dem Staat steht – zur Staatsreligion machte.60

Die von Vergil aitiologisch verarbeitete Seeschlacht von Actium 31 v. Chr.61 wird von Haecker als Entstehungskontext der Aeneis und der darauffolgenden weltgeschichtlichen Wende „als die Entscheidung zwischen dem Geist des Westens und seiner Idee und des Lichtes und des Maßes und des Vertrauens, und dem des Ostens mit seiner Maßlosigkeit und Verzweiflung, Chaos und Grauen […]“62 gedeutet. Der pius Aeneas Vergils (= pflichtbewusst und dem Willen der Götter gehorchend)63 wird von Haecker nicht nur als Gründer, sondern als Archetypus des Imperium Romanum interpretiert64, der seiner vom fatum bestimmten Sendung folgt  : „Diese Mission gründet ihrem Wesen nach nicht in brutaler Gewalt, sondern ist Macht innerhalb großer einfacher Tugenden, deren höchste die pietas ist, die pflicht­ erfüllende Liebe, deren politischste, in jener schon beschlossene, die Gerechtigkeit ist.“65 Haecker, die eschatologische und mithin geschichtsontologische Botschaft der Aeneis erkennend, die weit über das saeculum Augustum hinausreicht66, bezieht die Prophezeiung Jupiters an Venus imperium sine fine dedi67 gerade auf seine Gegenwart  : […] so lautet das fatum Iovis. Denn wir alle leben noch im Imperium Romanum, das nicht tot ist. Wir alle sind noch Glieder des Imperium Romanum, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, ob wir es wissen oder nicht, des Imperium Romanum, das nach grausamen Irrungen das Christentum sua sponte, aus eigenem Willen, angenommen hatte und es nun nicht mehr aufgeben kann, ohne sich selber und den Humanismus auch aufzugeben. Dieses Imperium Romanum, in seiner natürlichen Größe von Vergil erkannt und im Glanze der Schönheit geschaut, ist keine verschwommene Idee […] sondern eine Realität, obschon diese verschüttet werden kann.68

60 Ebd. 61 Vergil, Aen 8, 608‒731, bes. 704‒728. 62 Haecker, „Abendland“, S. 42. 63 Vergil, Aen 1, 378. 64 Haecker, „Abendland“, S. 85, 92‒94. 65 Ebd., S. 97. 66 Ebd., S. 136. 67 Vergil, Aen 1, 279  ; Vergil, Aeneis. S. 25  : „Eine Herrschaft ohne Ende habe ich ihnen vergönnt.“ 68 Haecker, „Abendland“, S. 99 f.

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Das Imperium Romanum Vergils ist in Haeckers geschichtsontologischer Deutung das paradigmatische Urbild, das im christlichen Abendland als Abbild seine eschatologische Erfüllung erfährt.69 Übersähe man dieses heilgeschichtliche Narrativ, würde man Haeckers Verständnis seines so geprägten Abendlandbegriffs in die Nähe eines wie immer strukturierten theologisch verbrämten Imperialismus im Sinne einer zeitgenössischen präfaschistischen Reichsideologie70 verstehen. Außerdem plädiert Haecker für die Renovatio imperii, die mitnichten in der Hegemonie einer Nation über die andere bestehen kann, sondern auf einen im Funktionsmodus der ars referenzierenden Erinnerungsraum  : Mithin auf „[…] das heidnische Rom, das in Vergil adventistisch wurde, [und] das christliche Rom, das auch adventistisch ist, aber in der Form der Erfüllung und der Transzendenz eines neuen Aions und in den geistlichen Formen des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe.“71 Die christlichen Kardinaltugenden dienen Haecker auch als Interpretamente der Bucolica und der Georgica Vergils  : Erstere deutet er unter dem Motto omnia vincit Amor72, letztere unter dem Leitspruch labor omnia vicit improbus.73 Dabei folgt Hae­ cker einer frühchristlichen Deutungstradition74, indem er antinomisch dem Amor der Natur, den Labor der geistigen Sphäre zuordnet. Wenn Haecker das fatum Vergils als das ‚Gesagte‘75 und christlich als das beneplacitum Dei76 deutet, löst er, im Unterschied zu einem humanistischen Immanentismus mit seinen verdinglichenden Heilserwartungen, die er scharf kritisiert77, das mit den sunt lacrimae rerum (= auch hier Tränen dem, was geschah)78 verbundene Theodizeeproblem geschichtsontologisch  : „Darum die brennende Sehnsucht, die Eschatologie des Vergilischen Menschen, darum auch die vierte Ekloge, welche auch die messianische heißt.“79 Gegen den zeitgenössischen Geniekult und die gnostische Sehnsucht der völkischen Bewegung und der nationalsozialistischen Ideologie nach dem ‚Führer‘ als Er69 Ebd., S. 146  : Haecker verweist auf Diskurse im britischen Imperialismus, die auf Vergil referenzierten. 70 Vgl. u. a. Faber, Das ewige Rom oder  : die Stadt und der Erdkreis, S. 59–60  ; ders., Roma aeterna  ; ders., Die Verkündigung Vergils  ; Breuning, Die Vision des Reiches  ; Conze, Das Europa der Deutschen. 71 Haecker, „Abendland“, S. 101. 72 Vergil, ecl. 10, 69  ; Vergil, Bucolica. Hirtengedichte, S. 89  : „Alles besiegt Amor.“ 73 Vergil, georg. 1, 145‒146  ; Vergil, Georgica. Vom Landbau, S. 14  : „Maßlose Mühsal meisterte alles.“ 74 Vgl. Freund, Vergil im frühen Christentum, passim. 75 Haecker, „Abendland“, S. 108. 76 Ebd., S. 112. 77 Ebd., S. 88, 102 f., 126. 78 Vergil, Aen 1, 462  ; Vergil, Aeneis, S. 37  ; Haecker, „Abendland“, 8. Kapitel, S. 120. 79 Haecker, „Abendland“, S. 136.

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löser plädiert Haecker für ein an Vergils Aeneas orientiertes Leitungsideal, das er in der Renovatio imperii der Karolinger und der mittelalterlichen Kaiser verwirklicht sieht  : „Aber der echte Führer, das ist zweifellos die Ansicht Vergils nach 100 Jahren Bürgerkrieg, macht sich nicht selbst zum Führer, sondern wird dazu bestimmt und auserlesen vom Fatum  ; die ohne dessen Willen zu Führer sich aufwerfen, sind Vergils theologischer Seele im Innersten verhaßt.“80 Die sich in der Renovatio imperii manifestierende universale Ordnungsidee eines Imperium mit heilgeschichtlicher Sendung dient Haecker als Interpretament für die Deutung besonders der deutschen Geschichte und seiner Zeitverhältnisse  : Mit dem Verrat am Sacrum Imperium Romanum durch die Reichsgründung 1871 hätten sich die Deutschen in die Irrwege des modernen agnostischen Humanismus verirrt, der Religion bestenfalls nur noch als Privatsache tolerieren würde81, des Nationalismus und des zeitgenössischen rassenbiologischen Nationalsozialismus.82 Aus dieser geschichtlichen Diagnose, mehr noch in seiner geschichtsontologischen Bestimmung von Kontingenz und Eschatologie leitet Haecker sein heilsgeschichtliches Postulat ab  : Wie in der Antike Vergil durch seine messianische Botschaft die Römer zur Konversion zum Christentum bewegt habe und wie umgekehrt die Christen dem Imperium Romanum zugeführt worden seien, so hat die von Haecker als ars intendierte Vergilmemoration im Anschluss an den vom Imperium Romanum und vom Sacrum Imperium geprägten Erinnerungsraum die paränetisch-pädagogische Funktion, die mit Vergil konnotierte christlich inspirierte Ordo-Idee gerade den Deutschen als verpflichtenden Imperativ zu verkünden  : „Das ‚Reich‘ ist ein katholisches Sein und eine katholische Idee und kann deshalb nur bestehen unter einer katholischen Führung und durch katholisches Denken.“83 Dieser Imperativ der Vergilmemoration als ars ist so wenig mit einer politischen Theologie zu verwechseln wie mit dem Versuch einer Repristination der mittelalterlichen Reichsidee im Sinne der politischen Romantik.84 Als dezidierte Herausforderung an die sich abzeichnende Machtübernahme durch den Nationalsozialismus

80 Ebd., S. 102. 81 Ebd., S. 88  ; vgl. ders., „Betrachtungen über Vergil“, in  : ders. (Hg.), Essays (danach zitiert), S. 433‒474, bes. S. 464. 82 Haecker, „Abendland“, S. 132. 83 Haecker, Betrachtungen, S.  464 f. Zur weiteren christlich inspirierten zeitgenössischen Vergil-Rezeption vgl. Seckler, „Der christliche Vergil“, S. 142‒150  ; Stroux, Vergil. Vergilfeier am 4. Dezember 1930  ; Halflants, „Vergil und das Christentum“, S.  846‒848  ; Kamnitzer, „Vergil und die römische Kirche“, S. 179‒193  ; Roegele, Die Botschaft des Vergil 84 Zur zeitgenössischen Reichstheologie vgl. Breuning Die Vision des Reiches, passim  ; Conze, Das Europa der Deutschen, passim.

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beschwört Haecker die katholische Kirche in Deutschland und vor allem die katholische Theologie mit ihrem damals noch virulenten Naturrechtskonzept, ein Bollwerk gegen die braune Flut zu bilden, indem sie ihre providentielle Funktion in eschatologischer Perspektive und in symbolischen Kommunikationsräumen zur Geltung bringen sollte, mithin durch die als ars in der Lebenspraxis verankerte Memoration an Vergil mit seiner anima naturaliter christiana (= die aus Natur her christliche Seele).85 In diesem Erinnerungsraum gewinnen vergilische Sittlichkeit und Rechtlichkeit sowie die römische Ordnungsidee in christlicher Deutung als artes in Haeckers Münchner Vorträgen 1942 trotz Redeverbots eine solche politische Geltung, dass sie die Mitglieder der Weißen Rose zum aktiven Widerstand gegen das NS-Regime inspirierten.86 Haeckers Archäologie der Geistesgeschichte, die die in der Sattelzeit durch den Deutschen Idealismus verschüttete christlich bestimmte Memoration von Vergils Dichtung als ars freilegte, hatte in ihrer Wirkung als Leitnarrativ des Widerstandskreises der Weißen Rose eine über diese hinausgehende universale Reichweite87: Nicht nur Thomas Stearns Eliot (1888–1965) berief sich ausdrücklich in seiner Vergildeutung als Grundnarrativ des Abendlandes auf Haecker.88 Haecker inspirierte auch Hermann Broch (1886–1951) zu seinem Werk Der Tod des Vergil (New York 1946)89, der in Analogie zu der von Vergil in seiner Aeneis narrativ antizipierten Pax Augusta nach der Überwindung des NS-Totalitarismus die imperiale Idee einer von den UN unter Leitung der USA zu gestaltenden, die gesamte Menschheit in einem universalen Versittlichungsprozess umfassenden, neuen Weltfriedensordnung auf dem Fundament der Menschenrechte entwarf, deren ethische und politische Geltung angesichts des Rückzugs der Weltmächte auf ethnozentrische und identitäre Paradigmen erst noch eingelöst werden muss.90 Daher kann über die Rezeption von T.S. Eliot und Broch auch Haeckers Vergil­ interpretation schon deswegen eine universale Geltung beanspruchen, weil sie das Werk des römischen Dichters so als ars memoriert, dass seine den europäischen Horizont transzendierende Bedeutung für die conditio humana im kulturellen Gedächtnis der Menschheit, mithin im Kanon der Weltliteratur, auch künftig verankert bleibt. 85 Haecker, „Abendland“, S. 137  ; vgl. Tertullian, Apol., 17.6. 86 Vgl. Halder, Wurzeln, S. 105 f.; Ott, Die „Weiße Rose“. 87 Eliot, „Virgil and the Christian World“, deutsch in  : T.S. Eliot, Dichter und Dichtung, S. 315‒335, bes. S. 328 f. Vgl. ders., „Was ist ein Klassiker  ?“, S. 9–25. Vgl. Büchner, Der Schicksalsgedanke bei Vergil, S. 4. Büchner bezieht sich explizit auf Haecker. 88 Vgl. Ratzinger/Benedikt XVI., Aus meinem Leben, S. 48, der Haecker als prägenden Autor zur Zeit seiner Priesterausbildung erwähnt. Vgl. weiterhin Seewald, Benedikt XVI.: Ein Leben, S. 122 f. und S. 182. 89 Broch, Der Tod des Vergil, S. 516. 90 Vgl. u. a. Eiden/Offe, Das Reich der Demokratie  ; Sproll, „Magnus ab integro nascitur ordo“, S. 59‒83.

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Fazit Als Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung kann festgehalten werden  : 1. Theodor Haeckers Vergil-Lektüre ist im Kontext einer ‚Vergil-Renaissance‘ zu sehen, die 1930 anlässlich der Erinnerungsfeiern an den Zweitausendsten Geburtstag des Dichters stattfand. Als Memorationen im Modus der vis bewegten sie sich bei aller Distanzierung vom bisherigen philhellenistischen Klassizismus immer noch im bisherigen Rahmen des vom Späthumanismus Wilhelm von Humboldts (1767–1835) an in Deutschland dominierenden Bildungsgedächtnis mit seiner ästhetisch-formalen Deutungsmethode. 2. War diese philologisch bestimmte Memoration an Vergil 1930 noch als vis geprägt, so geht Haecker vor dem Hintergrund der kulturellen Verwerfungen mit ihren Traditionsbrüchen und den politisch-sozialen Atomisierungen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg einen anderen Weg  : Indem er die, durch dieses späthumanistische Bildungsgedächtnis verschütteten geschichtstheologischen Fundamente seiner Dichtung als eschatologische Botschaft in ihrer transhistorischen Memoration als ars freilegt, ermöglicht er in Frontstellung gegen alle kulturpessimistischen Diskurse im Sinne Oswald Spenglers (1880–1936)91 eine Neubestimmung des Abendlandes in der ‚Kontinuität des Gewesenen‘ (Hannah Arendt)92 ganz im Sinne Vergils  : ­„Magnus ab integro saeclorum nascitur ordo.“93 Haecker bleibt dabei einer doppelten geschichtstheologischen Deutung verpflichtet  : Wie der pius Aeneas Vergils, der seiner vom fatum vorbestimmten Sendung folgte, das im Imperium Romanum seine Finalität hatte, so findet das Abendland seine Erfüllung, indem es sich über den sittlich verbindlichen Anspruch der Dichtung Vergils konstituiert. 3. Gerade dieses geschichtsontologische Potential macht den Essay Haeckers nicht nur immun gegen völkische identitäre Konstrukte einer homogenen arischen Rasse und gegen kommunistische Heilsversprechen einer ebensolchen sozialen Klasse, sondern auch gegen zeitgenössische Repristinationsdiskurse einer wie immer verstandenen Reichstheologie. 4. Ganz im Gegenteil  : Das Interpretament der Heilsgeschichte, das ihm zur Deutung der Dichtung Vergils dient, macht Haeckers Werk zu einem politischen Diskurs, der von Anfang an in dezidiertem Widerspruch zum Nationalsozialismus als 91 Spengler, Der Untergang des Abendlandes. 92 Arendt, Über die Revolution, S. 270. 93 Vergil, ecl 4,5  ; Vergil, Bucolica. Hirtengedichte, S. 37  : „die große Reihe der Äonen wird von neuem geboren.“

Memoria als ars: Theodor Haeckers „Vergil – Vater des Abendlandes“ (1931) 

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Ideologie und politischem Regime steht. Seine performative Geltung entfaltet es als Inspirationsquelle für den Widerstandskreis der Weißen Rose. 5. Nach dem vom NS verschuldeten Zivilisationsbruch wurde Vergil mit seiner anima naturaliter christiana und seiner dichterischen Narrative mit ihrer eschatologischen Botschaft eines universalen Friedens nach dem normativen Maßstab der Pax Augusta in der Deutung Haeckers, T.S. Eliots und Hermann Brochs in breiten Leserschichten in Westeuropa und in den USA zum regulativen Code der Rekonstruktion des friedenstiftenden Okzidents auf den Fundamenten des christlichen Abendlands auch und gerade in einer ‚postchristlichen‘ und ‚postsäkularen‘ Zeit. 6. Gegenüber dekonstruierenden Strategien und modischen postkolonialen Verdikten, Haeckers Œuvre habe in kulturimperialistischer Absicht eine Rhetorik des Eurozentrismus betrieben und zu diesem Zweck die Dichtung Vergils ‚instrumentalisiert‘ und sei daher im Hinblick auf einen globalhistorischen Diskurs obsolet, kann Kosellecks transhistorische Hermeneutik in Stellung gebracht werden  : Gerade durch das Freilegen der heilsgeschichtlichen und eschatologischen Fundamente in der Memoration an Vergils Dichtung als ars, entgeht Haecker den Fallstricken seiner zeitgenössischen Abendlanddiskurse. Vielmehr wird sein vergilisches Verständnis vom Abendland als Referenz und Repräsentation von Rom als Ordnungsmetapher jenseits aller Verzeitlichungsdiskurse auch in gegenwärtigen symbolischen Kommunikationsräumen denselben normativen Anspruch auf transhistorische und transkulturelle substantielle Geltung erheben können wie die eschatologische Heilsbotschaft des Weltgedichts Vergils und der anderen Augusteer in christlicher Perspektive.

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Paul Oberholzer

Hugo Rahners Abendlandkonzept in seiner erinnerungskulturellen Relevanz Am 6. Oktober 1945 stellte Hugo Rahner, Professor für Patrologie und Kirchengeschichte in Innsbruck, im Rahmen einer denkwürdigen Rede seine ersten Reflexionen über das Abendland vor, die den Auftakt zu zahlreichen Vorträgen und Publikationen während der kommenden zwei Jahrzehnte bilden sollten. Rahner eröffnete damit nicht nur das akademische Jahr, sondern legte auch den Grundstein für einen Neubeginn des Lehrbetriebs der dortigen Theologischen Fakultät. Diese hat ihren Ursprung in dem 1562 gestifteten Jesuitenkolleg und in der 1669 durch Kaiser Leopold I. (1658–1705) aus der Taufe gehobenen Universität.1 Neu gegründet im Jahre 1857 wurden dort junge Männer aus der Donaumonarchie, ihren Nachfolgestaaten, aus ganz Deutschland, der Schweiz, aus den USA und bis zum Ersten Weltkrieg sogar aus dem Osmanischen Reich zu Priestern ausgebildet, viele von ihnen sollten höhere Verantwortungsträger in ihren Lokalkirchen werden. Die Wiederbelebung dieser Fakultät stand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ganz unter dem Zeichen eines ultramontan orientierten Wiedererstarkens der katholischen Kirche nach der Aufhebung der Gesellschaft Jesu, dem Untergang der alten Reichskirche, der Säkularisation und der damit verbundenen Schließung der meisten Klöster. Die Lehranstalt hatte durch die Verpflichtung auf eine ausgeprägt neoscholastische Philosophie und Theologie innerhalb der von vielen Dynamiken zerrissenen Kirche eine neue Position bezogen und verschiedene Ortskirchen nachhaltig geprägt. Infolge des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich vom 14. März 1938 wurde die Theologische Fakultät mit Datum vom 20. Juli aufgehoben, was die fristlose Entlassung der neun ordentlichen Professoren und zwölf Dozenten, alles Jesuiten, aus dem Staatsdienst bedeutete. Durch die sofortige Aufnahme von Beratungen mit den zuständigen Vertretern der kirchlichen Hierarchie und den Ordensoberen erfolgte am 15. August durch Papst Pius XI. die Errichtung einer rein kirchlichen Hochschule. Darauf konnte am 13. Oktober der Vorlesungsbetrieb, allerdings mit deutlich geringeren Hörerzahlen und nicht mehr in den Räumen der staatlichen Universitätsgebäude, sondern des Jesuitenkollegs und des von Jesuiten geführten internationalen Priesterseminars, genannt Canisianum, fortgesetzt werden. Da das 1 Mraz, Geschichte, S. 31‒35  ; Oberholzer, Spuren, S. 15 f.

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nationalsozialistische Regime eine solche Untergrabung seiner Verfügung nicht hinnahm, erfolgte am 22. November die Konfiszierung des Canisianums durch die Tiroler Gauleitung. Während im Jesuitenkolleg der Ordensnachwuchs bis zum 12. Oktober 1939 weiterhin ausgebildet wurde, zogen die Canisianer noch im November 1938 mit zehn Dozenten, unter ihnen auch Hugo Rahner, nach Sitten ins Exil, wo bereits am 13. Dezember 1938 der Lehrbetrieb wiedereinsetzte. Möglichst bald nach Kriegsende, im September 1945, kehrte Rahner zusammen mit drei anderen Jesuiten nach Innsbruck zurück.2

Abendland unter dem Zeichen des Neubeginns Mit seiner Rede vom 6. Oktober 1945 setzte Hugo Rahner verständlicherweise den Akzent auf einen Neubeginn, denn bis vor wenigen Monaten hatte in Europa noch der Zweite Weltkrieg gewütet. So begann er mit einem Dank an die Studenten, die ihm vor wenigen Tagen aus den Trümmern die Lehrkanzel wiederhergerichtet hatten, die sieben Jahre zuvor „von der Macht des Ungeistes“ zerstört worden war.3 Diesen Abschnitt dunkler Vergangenheit, deren Gewalt eine Weltherrschaft aufzubauen geglaubt hatte, wollte Rahner ruhen lassen. Vielmehr rief er dazu auf, mit Dankbarkeit daran zu denken, dass Gott sie an den altbewährten Ort zurückgeführt hatte, und mit Freude auf die Wiederherstellung eines verletzten Rechts zu blicken. Mit dem neuen akademischen Jahr sollte ein langanhaltendes Bemühen einsetzen, der Innsbrucker Theologie ihre alte Bedeutung wieder zurückzugeben und damit zu retten, was von der abendländischen Kultur übriggeblieben war. Rahner machte dabei unmissverständlich klar, dass mit seinem anvisierten Wiederaufbau, der nicht nur Innsbruck, sondern der Kirche und letztlich ganz Europa gelten sollte, die ungehinderte Verkündigung der christlichen Wahrheit verbunden war. Aus ihr war, so Rahner, einst das Abendland hervorgegangen und nur sie allein konnte einen dauerhaften, edlen Humanismus garantieren.4 Die Reflexionen über ein christliches Abendland führte Rahner in den folgenden Jahren weiter. Entsprechende Beiträge zu diesem Thema wurden in Organen der Gesellschaft Jesu, vor allem den Stimmen der Zeit, veröffentlicht. Rahner fand aber auch außerhalb der Kirche Gehör. So hielt er 1960 zur Frage „Gibt es einen christlichen 2 Rahner, Geschichte eines Jahrhunderts, S. 58–65  ; Feulner, Aus dem Archiv, S. 18‒24  ; Schatz, Geschichte, S. 7‒9, 66‒70. 3 Rahner, Christlicher Humanismus, S. 11. 4 Ebd., S. 11‒13.

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Humanismus  ?“ den Festvortrag anlässlich des 500jährigen Bestehens der Universität Basel. 1966 legte er, bereits stark von der Parkinsonschen Krankheit gezeichnet, eine Sammlung von 18 zwischen 1940 und 1961 verfassten Artikeln unter dem Titel Abendland. Reden und Aufsätze vor. Im Vorwort dieses Buches macht Rahner erste Ausführungen über sein Konzept des Abendlandes, das er dann in der Artikelsammlung vertieft. Wohl geht er vom Abendland als geographischem Raum aus, den der Apostel Paulus von Palästina über Kleinasien und von Rom bis Tarragona bereist hat. Bezeichnenderweise verliert Rahner keine Worte über die Verbreitung des Christentums in der syrisch-mesopotamischen Kultur, wo es andere Verbindungen mit bestehenden Geistesrichtungen einging und über Jahrhunderte ein prägender Faktor blieb. Rahner geht es also um den Ort, in dem auf dem Hintergrund der Errungenschaften der antiken Philosophie die Botschaft der Menschwerdung des Sohnes Gottes verkündet wurde. Diesen geographischen Raum führt er aber unter Einbeziehung einer theologisch-heilsgeschichtlichen Komponente weiter zu einem geschichtlich-kulturellen Raum und bezieht sich dabei je auf ein Zitat seines Bruders Karl Rahner (1904–1984) und des Physikers Werner Karl Heisenberg (1901–1976). Das Abendland ist demnach die kulturelle und geistige Vorbedingung für die Einwurzelung des Christentums in der säkularen Geschichte und gleichzeitig das soziale und kulturelle Ergebnis seiner beginnenden Selbstrealisierung, die bis zur Vollendung der Zeiten in einer Vorläufigkeit verbleibt. Es geht Rahner beim Abendland also um die geistige Substanz, die zuerst in der Antike geformt wurde, dann in der Begegnung mit dem Christentum ihre große Umformung erfuhr und schließlich zu Beginn der frühen Neuzeit auf dem Hintergrund einer Verbindung von christlicher Glaubenspraxis und einem wieder erwachten Bewusstsein für das geistige Erbe der Antike die ganze Welt in ihrer kulturellen Vielfalt zu gestalten begann.5

Beobachtungen zu Rahners Disziplin und Methode Hugo Rahner bedient sich in seinen Ausführungen wohl einer historischen Terminologie, seine Reflexionen orientieren sich aber an der Heilsgeschichte, das heisst am Glauben an die anfangshafte Erfüllung der Schöpfung in der Menschwerdung Jesu, die fortan den Gang der Geschichte prägt und schließlich im Jüngsten Gericht zur Vollendung kommt. Rahner ist seinem Wesen nach Theologe und bewegt sich in seinen Ausführungen im Rahmen theologischer Denkkategorien. Er zeigt auch keine 5 Rahner, Abendland, S. 5 f.

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Neigung, den Verlauf der Geschichte und die Entwicklung der Gesellschaft unter Anwendung einer historiographischen Methode zu verfolgen. So sind auch keine Interessen feststellbar, das Abendland in seinem geschichtlichen Werdegang darzustellen, vielmehr sucht er einzelne Phänomene, in denen er das Aufleuchten ‚abendländischer Werte‘ lokalisiert und erläutert. Ferner sind alle seine Beiträge tief von der Überzeugung geprägt, dass die Menschwerdung Jesu das zentrale Ereignis der Weltgeschichte war. Rahner geht also davon aus, dass diese theologische Voraussetzung von historischer Relevanz ist. Dass hier aber ein Problem der Vermittlung zwischen Theologie und Historiographie besteht, thematisiert Rahner nicht  ; er unternimmt auch keine Versuche, die Inhalte seiner theologischen Aussagen den Geschichts- und Kuturwissenschaften zu vermitteln. Das ist bei Artikeln schwer verständlich, die beanspruchen, von akademischem Niveau zu sein. Denn Rahner bewegte sich keineswegs in einer homogen christlichen Geisteswelt und wusste, dass deren Inhalte im Prozess standen, sich aus den öffentlichen gesellschaftlichen Diskursen zu verabschieden. Dennoch spricht aus allen Artikeln die Überzeugung, mit diesen theologisch fundierten Reflexionen, Europa nach dem Zweiten Weltkrieg aus den Trümmern zu heben und zu einem neuen Prinzip der Weltgestaltung zu machen. Kann man die Theologie zu den Kulturwissenschaften zählen  ? Natürlich hat die Theologie in der Geistesgeschichte ihre Relevanz, die sich auch heute noch kulturwissenschaftlich niederschlägt. Dennoch bleiben Rahners Beiträge für den, der den Glauben an die Menschwerdung als Angelpunkt der Weltgeschichte nicht teilt, schwer nachvollziehbar und nur unter Ausblendung zahlreicher Wesenselemente von Rahners Denken vermittelbar, was wiederum die Beiträge ihrer Substanz berauben würde. Es wird darum in diesem Artikel der Versuch unternommen, Rahners Reflexionen über das Abendland zuerst vorzustellen und dann, in einem letzten Abschnitt, auf ihre erinnerungskulturelle Dimension zu untersuchen, um die Inhalte so für die Kulturwissenschaften verständlich zu machen.

Wiederherstellung eines reinen Urzustandes Hugo Rahner wollte mit seinem Hinweis auf die Wiedererrichtung der aus der Zeit Kaiser Josefs II. (1741–1790) stammenden Lehrkanzel, von der aus bis 1938 Theologie, das heisst die Lehre von dem an Menschen gerichteten Wort Gottes, doziert worden war, an ein Gesellschaftskonzept anschließen, das auf der christlichen Offenbarung beruht. Dieses ist Garant geistiger und sozialer Wohlfahrt und sollte nun wieder verbindliche Geltung mit dem Ziel der Gestaltung der Globalgeschichte bekommen. Der Aspekt der Wiederherstellung einer früheren Ordnung und des Hebens

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verschütteter altbewährter Werte spielt in Rahners Denken neben der genannten Eröffnungsrede verschiedentlich eine Rolle – allerdings nicht in den übrigen Artikeln zum Abendland. So findet sich in einer Darstellung der Geschichte der österreichischen Jesuitenprovinz anlässlich ihres hundertjährigen Bestehens 1929 das Motiv der Aufhebung der Gesellschaft Jesu durch die ungeordnete Dynamik ihrer Feinde, die über kurze Zeit Oberhand gewann, aber einer kleinen Gruppe von Jesuiten, die nach Weissrussland ins Exil gingen, nicht beikommen konnte. Diese, noch von Jesuiten der alten Gesellschaft Jesu ausgebildet, wurden zur Brücke für einen Neubeginn in gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen.6 In den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurden dann in Innsbruck – so Rahner – die durch den ‚destruktiven Geist der Revolution‘ unterbrochenen Vorlesungen in Theologie von Jesuiten wiederaufgenommen, was 1857 durch kaiserlichen Erlass zur Wiederherstellung der Theologischen Fakultät führte, die bald eine internationale Präsenz bekam. In der Geschichte dieser Lehranstalt, veröffentlicht anlässlich ihres hundertjährigen Bestehens im Jahre 1958 stellt Rahner deren Werdegang an mehreren Stellen unter das Zeichen der Restitution. Die Fakultät sieht er als Nachfolgerin der 1671 gegründeten und von den Jesuiten bis 1773 betreuten und schließlich 1822 aufgehobenen Bildungseinrichtung. Voraussetzung für den Neubeginn war das 1855 geschlossene Konkordat, das Rahner als „gedrucktes Canossa“ bezeichnet.7 Diese Vereinbarung zwischen Kaiserreich und Heiligem Stuhl deutet er als Reparation des durch das josephinische Staatskirchentum verursachten Schadens. Mit der Anspielung auf die Aussöhnung zwischen Gregor VII. und Heinrich IV. im Jahre 1077 macht Rahner deutlich, dass eine funktionierende gesellschaftliche Ordnung von der führenden Rolle des Papsttums abhängt. So wurde auch das Konkordat vom 5. Juni 1933 zwischen Pius XI. und Engelbert Dollfuß zum Lichtblick, während Rahner die Aufhebung der Fakultät 1938 durch den Nationalsozialismus letztlich auf dieselben Kräfte zurückführt, die 1870 das Konkordat unterminiert und schließlich der Monarchie den Untergang bereitetet hatten. In der Feindschaft des Liberalismus sieht er in kleineren Dimensionen dieselben Dynamiken, die auch im Dritten Reich wirkten.8 Rahner stellt also an verschiedenen Stellen dar, wie die Jesuiten nach Zeiten des Chaos an altbewährte Zustände anknüpften, gefördert dank der Erinnerung von Menschen an die früheren Zeiten oder dank der Weitergabe und Vermittlung des Gründergeistes von Generation zu Generation in neue Zeitumstände. Da der ‚dest6 R.[ahner], Geschichte der österreichischen Jesuitenprovinz, S. 12‒15. 7 Rahner, Geschichte eines Jahrhunderts, 8 R.[ahner], Geschichte der österreichischen Jesuitenprovinz, S. 17‒32  ; Rahner, Geschichte eines Jahrhunderts, S. 1‒5, 58‒64.

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ruktive Ungeist‘ letztlich immer derselbe ist, erübrigt sich für Rahner eine konkrete Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen und den Entwicklungen des Nationalsozialismus. Die vier bisher präsentierten Texte Hugo Rahners lassen die These formulieren, dass dieser einer heilsgeschichtlichen Weltdeutung verpflichtet war. Diese ‚theokratische Konstellation‘ wird von der Intention zusammengehalten, dass die Inkarnation in Verbindung mit der antiken Philosophie zum Prinzip weltgeschichtlicher Ordnung wird, das selbst in einer sich intensivierenden Säkularisierung gestaltgebende Geltung beansprucht. Ausgehend von dieser vorläufigen Feststellung sollen nach einem kurzen biographischen Abriss auf den folgenden Seiten die übrigen Beiträge in Rahners Sammelband zum Abendland auf ihren Aussagegehalt hin untersucht werden.

Zu Hugo Rahners Biographie Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass Hugo Rahner einer Geschichtstheologie verpflichtet war, die sich stark aus patristischen Studien, besonders aber aus der ignatianischen Spiritualität und dem jesuitischen Lebensstil nährte. So sollen an dieser Stelle folgende Elemente von Rahners Biographie hervorgehoben werden  : Geboren am 3. Mai 1900 in Pfullendorf in der Nähe von Konstanz, besuchte er das Realgymnasium in Freiburg im Breisgau, nachdem die Familie dorthin gezogen war. Nach dem Abitur 1918 leistete er einige Monate Militärdienst während des zu Ende gehenden Ersten Weltkriegs und trat dann im Januar 1919 in Feldkirch ins Noviziat der Gesellschaft Jesu ein. Sein jüngerer Bruder Karl sollte ihm 1922 auf diesem Weg nachfolgen. Darauf studierte Hugo Rahner von 1920 bis 1923 in Valkenburg und Innsbruck die, in der Ordensausbildung üblicherweise vorgesehenen, drei Jahre Philosophie. Anschließend folgte ein praktischer Dienst als Präfekt im ordenseigenen Internat in Feldkirch bis 1926. 1931 schloss er in Innsbruck mit dem Doktorat in Theologie ab. Zuerst war er für eine Professur in Dogmatik vorgesehen, wechselte dann aber auf Patrologie und alte Kirchengeschichte, weshalb er von 1931 bis 1933 an der philosophischen Fakultät Bonn Geschichte studierte und 1935 promovierte. Seine beiden Lehrer waren Josef Dölger (1879–1940), der in Fragen der Antikenrezeption eine breite Anerkennung in der akademischen Gelehrtenwelt genoss, und der Mediävist Wilhelm Levison (1876–1947), ein bekannter Frühmittelalter-Historiker und Mitglied der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica. Bei ihm reichte Rahner seine Dissertation über „Die gefälschten Papstbriefe aus dem Nachlass von Jérôme Vignier“ ein. Levison wurde 1935 wegen seiner jüdischen Herkunft in den

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Ruhestand versetzt, konnte aber 1939 nach England auswandern und in Durham weiter unterrichten. 1935 habilitierte sich Hugo Rahner in Innsbruck, wirkte fortan als Privatdozent und wurde 1937 zum Ordinarius für Kirchengeschichte an der dortigen Theologischen Fakultät ernannt. Die Lehrtätigkeit war in der Folge von dem bereits genannten Exil in Sitten von 1938 bis 1945 gezeichnet. Während des Studienjahres 1949/50 bekleidete er das Amt eines Rektors der Universität, von 1950 bis 1956 war er Rektor des Kollegs Canisianum. 1963 ließ er sich wegen einer fortschreitenden Parkinsonschen Krankheit frühzeitig emeritieren und lebte seitdem bis zu seinem Tod am 21. Dezember 1968 in München.9 Bemerkenswert im akademischen Werdegang Hugo Rahners sind die erste Bestimmung für die Dogmatik, eine systematische Wissenschaft, und dann wegen einer personellen Erfordernis der Wechsel in die Kirchengeschichte, wobei der Akzent auf der alten Kirchengeschichte und der Patristik lag. Gegenstand der letzteren ist die Theologie der Kirchenväter, auch die Kirchengeschichte der Antike orientierte sich weitgehend an theologischen Schriften. Rahner kam mit seiner Lehrtätigkeit also weder mit der mittelalterlichen Scholastik noch mit der Philosophie der Neuzeit in Berührung, welche gemeinhin mit Systematik assoziiert werden. Dennoch zeichnete sich Rahner nicht als Historiograph im engeren Sinne aus, der sich mit sozialen oder geistesgeschichtlichen Entwicklungen beschäftigte. Selbst seine historische Dissertation war als Auseinandersetzung mit Papstbriefen, die der Spätantike zugeordnet werden, ein Quellenstudium, dem im ganzen Schaffen Rahners eine groß Bedeutung zukommt. So war er nicht nur ein geachteter Kenner patristischer Schriften, sondern er zeichnete sich bereits während des Philosophiestudiums durch profunde Kenntnisse jesuitischer Gründungstexte aus. Die Publikationen über den Jesuitenorden machen insgesamt 25 Prozent des Gesamtwerkes aus, wobei Rahner vor allem darüber Popularität erreichte, was sich an den vielen Auflagen und Übersetzungen zeigte. Zahlreicher hingegen waren die Studien in Patristik, Theologiegeschichte und christlichem Humanismus, und in erster Linie über diese fand er Anerkennung in der Gelehrtenwelt. Hugo Rahner war also in seinem intellektuellen Anspruch mehr Systematiker als Historiker, und selbst bei den historischen Arbeiten ging es ihm vor allem um die Auswertung von Quellen zur Beschreibung eines Urzustandes.10

 9 Neufeld, Brüder Rahner, S. 30, 49, 60‒62, 65 f., 86, 90, 125 f.; Oberholzer, Bedeutung, S. 243 f.; Rahner, Rahner, Hugo, S. 3279. 10 Oberholzer, Bedeutung, S. 247 f.

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Das wissenschaftliche Selbstverständnis Der Versuch, mit dem wissenschaftlichen Selbstverständnis Hugo Rahners und der damit verbundenen Methode vertraut zu werden, nimmt seinen Ausgangspunkt bei dessen Reflexionen um das Mysterium der Menschwerdung. Diese hat eine Dialektik von göttlicher und menschlicher Dynamik begründet, welche fortan die Menschheitsgeschichte durchzieht. Diesem Geheimnis nähert sich Rahner über möglichst genaue Kenntnisse patristischer Texte in der Überzeugung, damit dessen Inhalt zu erfassen. Die Inkarnation als Ereignis transzendenten Charakters, das einen geschichtlichen Abdruck hinterlassen hatte, hatte sich auf dem Hintergrund der griechisch-antiken Geisteskultur vollzogen und kann mit deren Studium am besten verstanden werden, so Rahners Konzeption. Die Kirchengeschichte wird unter der Rücksicht Gegenstand von Rahners Forschungen, als er nach Personen sucht, in denen die Inhalte dieses Geheimnisses soziale Realität geworden waren. Rahner will dabei wiederum aufgrund eines akribischen Quellenstudiums aufzeigen, wie die Zeugnisse dieser Menschen mit dem patristischen Erbe übereinstimmen. Dabei lässt sich Rahner weniger von der Überzeugung leiten, dass sich die jeweilige Person über eine eigene Lektüre patristischer Texte die entsprechenden Kenntnisse angeeignet hätte. Vielmehr sei diese Person über ein geistliches bzw. mystisches Leben in eine metahistorische Sphäre gelangt, an der auch die Kirchenväter teilgehabt hätten und die sie mit ihren Schriften bezeugten. In diesem übergeordneten Raum könne man quasi anderen Gottsuchern früherer Generationen, denen ein solches Vordringen ebenso gelungen ist, die Hand reichen und aus demselben Fundus schöpfen. Es geht Rahner also weniger darum, die unüberbietbare Größe dieser gottsuchenden Personen aufzuzeigen, als um deren Eintauchen in eine übergeordnete Realität, die auch anderen Menschen offensteht, deren Erfahrungen aber nicht dokumentiert sind. So sucht Rahner in der Auseinandersetzung mit dem geistlichen Leben von Clemens von Alexandrien und Ignatius von Loyola mehr einen exemplarischen Charakter als ein singuläres Lebenswerk. Theologie ist für Rahner folglich intellektuelle Arbeit, die jemand zur Aufarbeitung einer oben beschriebenen geistlichen Erfahrung leistet. Diese werde gerade auf dem Weg solcher erfahrener Teilhabe in je unterschiedlichem Umfeld immer wieder neu geschichtliche Wirklichkeit. Rahner will also über ein Quellenstudium eine faktenspezifische Oberfläche durchstoßen und in einen metahistorischen Raum vordringen, in dem die Inhalte des Erlösungsgeheimnisses in ihrem Urzustand ruhen, welches sich auf dem kulturellen und geistigen Hintergrund der griechischen Antike als historisches Ereignis vollzogen hat.

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Ferner hat Rahner in seinem wissenschaftlichen Schaffen in der Absicht viele Quellen ediert, das Leben von Ignatius von Loyola erforscht und dargestellt, um die Leser – gedacht hat er zuerst an Jesuiten in Ausbildung – dafür zu sensibilisieren und darauf hinzuführen, ebensolche geistliche Erfahrungen zu machen. Der junge Jesuit sollte so darauf vorbereitet werden, in einem persönlichen Erlebnis das ‚ignatianische Urcharisma‘ in sich lebendig zu machen, worüber er gleichsam an das Zeugnis der Kirchenväter der Spätantike und damit an das Geheimnis der Inkarnation rückgebunden werde. Denn auf diesem Weg werde er gleichsam mit Ignatius und den Kirchenvätern in eine metahistorische Gemeinschaft treten. Für Rahner ist die geistliche Erfahrung folglich nie rein individuell, sondern sie sollte mit dem geistlichen Schatz der ganzen Kirche verbinden. Gleichzeitig aber arbeitet er heraus, dass die Teilhabe an der metahistorischen Gemeinschaft nie eine Rückkehr zu einem reinen Urzustand bedeute, sondern immer an das konkrete soziale Milieu desjenigen rückgekoppelt bleibe, der das Erlebnis macht. Dabei erfahre aber auch das Umfeld eine Gestaltung durch die Dynamik des inkarnatorischen Geheimnisses, da dieses durch die Erfahrung der jeweiligen Person konkrete neue Realität werde.11 Für Hugo Rahner liegen die Fundamente des Abendlandes in der gegenseitigen Verwiesenheit von griechisch-antiker Philosophie und der Menschwerdung Jesu. Diese Inhalte ruhen in einem metahistorischen Raum, und immer wenn diese durch die geistliche Erfahrung einer Person soziale Realität werden, werden die Inhalte des ‚Abendlandes‘ neu verwirklicht. Dieselben Schlussfolgerungen wendet Rahner auf die Kirche an. Auch ihr unwandelbares Wesen sei in einer metahistorischen Sphäre angesiedelt, das in den Schriften des Neuen Testaments und der Kirchenväter auffindbar sei. Direkt erfahrbar werde die geistliche Dimension der Kirche aber nur in einer konkreten Gestaltwerdung in einem bestimmten historischen und sozialen Kontext. Wahre Kirchlichkeit besteht für Hugo Rahner nicht in einem kompromisslosen Rekurs auf die apostolische Zeit, sondern im Rückbezug auf deren Wesen in einer verbindlichen Verwiesenheit auf eine konkrete Situation  – in der die Kirche immer auch den Aspekt der Schwäche und des Scheiterns trägt. Das Bewusstsein um die Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist für Rahner ein Wesenselement der geschichtlich fassbaren Kirche.12

11 Moosbrugger, Mystik und Methode, S.  200‒219  ; Oberholzer, Bedeutung, S.  239‒263  ; Siebenrock, Abendland oder Europa, S. 364‒380. 12 Rahner, Konstantinische Wende, S. 197 f.

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Mensch der Geschichte Hugo Rahner beschreibt in seiner Innsbrucker Eröffnungsrede den ‚abendländischen Menschen‘ anhand von drei Charakteristika, die er in seinen späteren Arbeiten verschiedentlich präzisiert. Die Rede gibt den Auftakt zum Bau einer neuen Zukunft in bewusster Absetzung von der unmittelbar vorausgegangenen Vergangenheit. Gerade von dieser Warte aus setzt er bei der Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln an  : Der Mensch des Abendlandes sei wesentlich ‚Mensch der Geschichte‘. Dass sich eine beständige Gesellschaft nicht errichten lasse, wenn man ihre Identität in die folgenden tausend Jahre projiziere, belegt der Verlauf der letzten sieben Jahre Nazi-Herrschaft in Österreich.13 Wichtig ist die Geschichte für Rahner allerdings nur insofern, als aus ihr die Gegenwart gebaut werden kann. So geht es ihm um die stets neue Vergewisserung der eigenen Wurzeln. Dabei setzt er beim griechischen Geist und der lateinischen Rechtsordnung an, die die tragenden Stützen des Imperium Romanum seien und die er als Vorbedingungen sieht, die Gott auf das Christentum hin geschaffen habe. So seien die Errungenschaften der griechischen Philosophie immer Abglanz des ‚Sonnenlichtes Christi‘. Die Reflexionen von Platon, Aristoteles und Pythagoras hätten letztlich ihren Ursprung in Gott und seien in das Geheimnis der Inkarnation hineingenommen. Und so sei es dann auch das Christentum, das die Wahrheiten der Antike aufgenommen und ihnen in der Geisteswelt den entsprechenden Platz zugewiesen habe. Nach der Menschwerdung hätten aber die antiken Weisheiten nur noch in der Rückbindung an Christus ihre Relevanz. In umgekehrter Richtung aber knüpft Rahner an Justinus den Märtyrer an, demgemäß alle Menschen, die aus dem Geist der Inkarnation lebten, Christen seien  – auch die, die sich nicht als solche bezeichnen würden14, womit der von Karl Rahner formulierte anonyme Christ in das Konzept des Abendlandes hineingenommen ist. Aus Rahners Sicht hatte das Imperium Romanum als Institution keinen Bestand. Vergils Roma aeterna habe aber eine Neubelebung durch die Verbindung mit der alttestamentlichen Prophetie Daniels erfahren. Beide seien durch die Menschwerdung Gottes verbunden worden und könnten an verschiedene nachfolgende politische Reiche vermittelt werden. Diese weltgestaltende Idee lasse so das Abendland in verschie-

13 Es bleibt hier kritisch anzumerken, dass man die Bewegung des Nationalsozialismus bei aller erforderlichen Ablehnung nicht als geschichtsvergessen bezeichnen kann. Rahner sieht den ‚Menschen der Geschichte‘ als den Menschen, der sich ganz als Erbe der Botschaft der Inkarnation sieht und seine Identität nicht auf Mythen oder andere Orientierungspunkte baut. 14 Rahner, Christlicher Humanismus, S. 17  ; Rahner, Gibt es, S. 60‒62, 66.

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denen Umständen Gestalt werden. Das kleine Westeuropa sei folglich dazu bestimmt, das Erbe der Antike mit dem Geheimnis der Inkarnation als gesellschaftlich gestaltgebende Prinzipien der ganzen Menschheit weiterzuvermitteln – ohne an konkrete kulturelle Voraussetzungen gebunden zu sein.15 Als das römische Reich in Trümmer versank, hat Augustinus von Hippo (354– 430) sein Werk De Civitate Dei verfasst, womit er den germanischen Völkern, die das Mittelalter bestimmen sollten, eine staatsbauende Lehre vermittelt habe, mit der das Abendland in neuen sozialen Verhältnissen weiterhin ausgeformt werden könne. Rahner sieht in Augustinus’ Werk die Handreichung für künftige Politiker, einen Staat auf den Fundamenten antiker Gelehrsamkeit und aus dem Geheimnis der Inkarnation zu bauen, und ein konkretes Zeugnis dafür, wie die Staatslehre Platons vervollkommnet und an folgende Generationen weitergegeben werden könne. Für Rahner ist darum wichtig, dass Karl der Große (747–814) De Civitate Dei gelesen hat.16 Es ist aber auch charakteristisch für Rahners Schaffen, dass er die karolingische Reichspolitik nicht auf die Rezeption der augustinischen Lehre untersucht. Es zeigt sich hier wie bei jeder Auseinandersetzung mit historischen Phänomenen, dass er die Antwort für den Sinn der Geschichte nicht in deren Verlauf ablesen will. Der ‚abendländische Mensch‘ der Geschichte muss sich seiner Wurzeln vergewissern und so die Gegenwart neu gestalten.17 An anderer Stelle zeigt Rahner den dynamischen Charakter der Weitergabe der Inhalte des Abendlandes an Winfrid Bonifatius (673–754) auf. Dessen Gestaltwerdung in Germanien, also die Vermittlung von antikem Erbe und inkarnatorischem Geheimnis, garantierten im 8. Jahrhundert angelsächsische Mönche. Allein sie und nicht römische oder fränkische Kleriker waren, so Rahner, fähig zur Pflege von Kultur und gediegener Schriftlichkeit, verbunden mit der Bereitschaft, materielle Unannehmlichkeiten, Strapazen und Ablehnung auf sich zu nehmen.18 Dabei war England erst im Laufe des 7. Jahrhunderts christianisiert und Teil des Abendlandes geworden. So erweist sich bei Rahner gerade an der angelsächsischen Mission die kulturelle Unabhängigkeit des Konzepts des Abendlandes  – und nicht erst mit der einsetzenden Weltmission des 16. Jahrhunderts oder im Auftakt zur Weltkirche mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Im Martyrium von Bonifatius im fernen Friesland kommt das Wesen des Abendlandes für Rahner symbolisch zum Ausdruck  : Gegen den Schwerthieb brutaler Zer15 Rahner, Vom Ersten, S. 254‒257. 16 Rahner, Geburtstag, S. 200‒202. 17 Rahner, Sinn der Geschichte, S. 69. 18 Rahner, Büchertruhe, S. 213 f.

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störungswut habe sich Bonifatius mit einem Buch geschützt, das Texte von Liturgie und Kirchenvätern enthält. Sie können auch fernab von politischer Infrastruktur ihre Wirkkraft haben. Bei der Vernichtung dieser Inhalte aber ist keiner Zivilisation mehr ein Überleben zugesagt.19 Eine gewisse Entsprechung findet dieser Gedanke in Jürgen Habermas’ Reflexionen über die abendländische Konstellation von Glauben und Wissen  : Die Entstehung des Mittelalters sei von einer verbindlichen Verantwortung kirchlicher Repräsentanten für die öffentliche Ordnung getragen gewesen. So sei es nicht dabei geblieben, von der antiken Zivilisation zu retten, was noch möglich war, sondern deren Inhalte seien zu den germanischen Völkern weitergetragen worden, was sich immer in Verbindung mit der Christianisierung vollzogen habe. So sei seit der Spätantike jeder Aufbau einer Gelehrtenkultur immer auch von christlichen Inhalten bestimmt gewesen.20 Historische Epochen, die nicht auf dem Geist des Abendlandes ruhen, haben bei Rahner keine Relevanz. Negativbeispiele vermerkt er nur am Rande und spricht auch der Reflexion auf eigenes Versagen keinen Raum zu. Weder die durch den Nationalsozialismus verfügte Suspendierung seines Lehrers Wilhelm Levison, noch das auferlegte Exil in Sitten finden irgendwelche Erwähnung. Trotz intensiver Beschäftigung mit dem Abendland nimmt er in keiner Publikation auf die Flugblätter der Weissen Rose Bezug, in denen das Abendland als Widerstandskategorie gegen Hitler und den Totalitarismus verwendet wird. Und es mutet eigenartig an, dass Rahner in seiner Festrede beim Diö­ zesankatholikentag in Freiburg im Breisgau Kardinal Adolf Bertram von Breslau als einen der Großen unter den deutschen Kirchenfürsten bezeichnet hat.21

Mensch der Einheit Ein weiteres Charakteristikum des Abendlandes sieht Hugo Rahner im Prinzip der Einheit, wobei er sich gerade hier unter dem Eindruck der ideologischen Dominanz, in welcher in den vorausgegangenen Jahren dieses Wort zentrale Verwendung gefunden hat, der Vulnerabilität der abendländischen Idee bewusst zeigt. In dem mit dem abendländischen Wert verbundenen Begriff liegt immer schon die Gefahr, diesen Wert selbst zu verraten. Dass Rahner einem sozial oder gar rassistisch verstandenen Einheitsideal eine klare Absage erteilt, liegt in der bereits ausführlich dargelegten Christozentrik begründet und braucht nicht weiter erklärt zu werden. Bezeichnen19 Ebd., S. 209 f. 20 Habermas, Auch eine Geschichte, S. 626‒634. 21 Rahner, Himmelfahrt, S. 311  ; Siebenrock, Abendland oder Europa, S. 378 f.

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derweise greift er bei der Beschreibung des abendländischen Sinnes der Einheit auf ein Ereignis zurück, das sich zeitgleich mit Hitlers Machtergreifung abspielte. Dieser stellt er den Festakt anlässlich der Heiligsprechung Albert des Großen (†1280) im Jahre 1933 in Paris entgegen, wo Theologen und Philosophen deutscher und französischer Herkunft in der Kathedrale Notre Dame und in den Hallen der Sorbonne des Erbes dieses hochmittelalterlichen Theologen gedachten.22 Dabei charakterisiert Rahner das 13. Jahrhundert als eine Zeit der direkten Gestaltwerdung des Abendlandes, als der Italiener Thomas von Aquin, der Deutsche Albertus Magnus und der Engländer Duns Scotus in Paris und Köln lehrten und verstanden wurden. In Paris, dem Ursprung universitärer Bildung, sei damals die Philosophie der Antike unter dem Licht der christlichen Offenbarung reflektiert worden, woraus für Philosophie und Theologie neue Denkrichtungen entstanden, die in kurzer Zeit das geistige Leben in ganz Zentral- und Westeuropa bestimmt hätten. Dieser abendländische Selbstvollzug par excellence habe die Basis für eine nicht nur sprachliche, sondern existentielle Verständigung verschiedener Völker geschaffen. Die Gedenkfeierlichkeiten von 1933 zeigen für Rahner, dass diese Idee des Abendlandes auch zu späteren Gelegenheiten Realität werden kann. Solche Zeugnisse mögen im Moment von anderen Manifestationen übertönt werden, behielten aber letztlich über die Jahrhunderte eine größere Stoßkraft. Diese habe aber ihren Ursprung immer in einer aktualisierenden  – also nicht traditionalistischen  – Reflexion auf die Mysterien der Inkarnation in den Denkkategorien der antiken Philosophie. Dass sich der abendländische Geist nicht nur in akademischen Reflexionen niedergeschlagen habe, würden die gotischen Kathedralen bezeugen, die der europäischen Sakrallandschaft von Skandinavien über England bis zu den normannischen Kirchen Süditaliens und Gotteshäusern am Jakobsweg in Nordspanien sowie von Caen bis Wien Gestalt gegeben hätten.23 Die abendländische Einheit ist also, so Rahner, nicht nur ein Mythos, sondern fasste tatsächlich einmal verschiedene Völker in einer gemeinsamen Denkform unter dem Zeichen des Christentums zusammen. Gerade wegen dieser einstigen historischen Konkretisierung komme Europa auf der Suche nach deren Wiedererlangung nicht zur Ruhe, und gerade unter Nichteinbeziehung der metahistorischen Grund­ voraussetzungen bestehe die Gefahr, am anvisierten Ziel und an einer neuen Realisierung der Einheit zugrunde zu gehen oder selbst eine negative Dynamik zu entwickeln. Bezeichnenderweise formuliert der Mediävist Michael Borgolte als eine zentrale These seiner hochmittelalterlichen Studien, dass Europa in dieser Zeit in einer dezentralen Einheit seine Identität gefunden habe. So habe die Gregorianische Reform 22 Rahner, Christlicher Humanismus, S. 13. 23 Ebd., S. 17‒19.

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mit ihrem Gesandtschaftswesen ein Netzwerk aufgebaut, das zahlreiche Königreiche verbunden habe und vom Papsttum zusammengehalten worden sei. Die Kreuzzüge seien zum ersten europäischen Projekt geworden, an dem sich verschiedene Reiche beteiligten. Borgolte beobachtet in dieser Zeit nicht nur einen entscheidenden Rückgriff auf die aristotelische Philosophie, sondern auch eine neue Rezeption des römischen Rechts, das in eine christliche Systematik gefasst und damit zum Grundstein einer neuen Gelehrtenkultur und Rechtsprechung geworden sei.24

Mensch der ‚schönen Mitte‘ Ein zentrales Element Hugo Rahners bei seinen Reflexionen über den Aufbau einer abendländischen Gesellschaft ist der Rückgriff auf eine transzendente Realität. Wenn die Menschheit aufgefordert wird, den Angelpunkt ihrer Existenz in einer Sphäre zu verorten, die von den irdischen Bedingungen wesentlich verschieden ist, drängt sich die Frage auf, wie sich das Christentum bzw. die Kirche, die Gestaltung der diesseitigen Welt zum Lebenssinn machen kann. Wie wird eine Verbindung zwischen den beiden Wirklichkeiten aufgebaut, die das Seelenleben einer einzelnen Person übersteigt und damit eine objektivierbare gesellschaftliche Relevanz bekommt  ? Mit anderen Worten spielt sich der Bezug zum metahistorischen Raum des inkarnatorischen Geheimnisses auch dann, wenn der Glaube daran geteilt wird, allein im Seelenleben des einzelnen Individuums ab  ? Die Welt könnte auf dem Weg lediglich mit christlichen Akzidenzien angereichert werden, während sie letztlich immer dem Christentum wesensfremd bleiben würde. Oder kann dieses Geheimnis zu einem Faktor werden, auf den sich die Gesellschaft als ganze verpflichtet  ? Kann das Christentum oder das von Rahner formulierte Konzept eines ‚christlichen Abendlandes‘ zum expliziten Programm der Weltgestaltung werden, oder sind das Reich Gottes und die Welt zwei wesentlich verschiedene Bereiche, die sich lediglich asymptotisch annähern können  ? Rahner unterstellt der Überzeugung, dass die christliche Botschaft und die Gestaltung der Gesellschaft letztlich nicht direkt vermittelbar sind, nicht prinzipiell einen antichristlichen Charakter, was er anhand des Humanismus von Rudolf Bultmann aufzeigt.25 Demnach sei der Mensch mit einer Gesinnung ausgestattet, deren Werte sich am reinsten in der Klassischen Antike niedergeschlagen hätten. In der Ausrichtung auf das darin enthaltene Bildungsideal werde der Mensch befähigt, eine Gesellschaft 24 Borgolte, Europa, S. 75‒95  ; Habermas, Auch eine Geschichte, S. 653‒675. 25 Rahner, Gibt es, S. 58.

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aufzubauen, die ein Zusammenleben in gegenseitiger Anerkennung menschlicher Würde ermögliche. Bultmann distanziert sich dabei bewusst von einem rein pragmatischen Lerneifer, in dem nur das vermittelt würde, woraus sich direkt quantifizierbarer Nutzen ziehen lässt. Im Christentum hingegen sehe Bultmann den Zuspruch Gottes an den Menschen aus dem Jenseits. Diese Kommunikation negiere er nicht, deren Inhalte könnten aber unter irdischen Bedingungen nicht transparent gemacht werden und würden darum auch nie gestaltgebendes Prinzip in der sichtbaren Welt. Ein Christ könne also zum Aufbau der Gesellschaft beitragen, eine christliche Gesellschaft werde es aber nie geben. Diese Überzeugung finde sich, so Rahner, nicht nur in säkularisierenden Tendenzen. Auch Asketen und rein spirituell orientierte Christen sähen ihre Bestimmung nur noch in einem weltabgewandten Reflektieren der Geheimnisse des Glaubens. Selbst Kirchenväter stellen Fragen wie  : Muss sich ein Mensch, der seinen Lebenssinn in Christus gefunden hat, überhaupt noch mit innerweltlichen Fragen beschäftigen und die Werte der klassischen Antike rezipieren  ? Ist eine literarisch-kritische Auseinandersetzung mit den Evangelien für ihn noch notwendig  ?26 Rahner lässt so Bultmann zum Schluss kommen  : Es gebe einen Humanismus, auch für Christen, aber keinen christlichen Humanismus. Dem hält Rahner zuerst seine bereits ausgeführte Grundthese entgegen, dass das in der Antike grundgelegte Fundament durch das Christentum an seinen Platz gerückt und so über die Jahrhunderte lebendig gehalten worden sei. Jeder Rückgriff auf das antike Erbe sei also über das Christentum vermittelt. Gerade durch die Menschwerdung, aus der dieses seine ganze Existenzberechtigung ableitet, sei die Scheidewand zwischen Himmel und Erde, zwischen Offenbarung und Geschichte durchscheinend geworden. Rahner verliert kein Wort darüber, dass die Aussage in kultur- und sozialwissenschaftlicher Hinsicht problematisch ist, da sie soziale Relevanz beansprucht, aber rein theologischen Charakters ist. Er leitet daraus aber konkrete Bedingungen für den Christen in seiner Verflochtenheit mit der Welt ab und charakterisiert so den ‚Menschen des Abendlandes‘ als Menschen der ‚schönen Mitte‘. Als solcher stehe er zwischen den beiden Polen des rein Geistigen und rein Materiellen, ohne sich an einen der beiden ganz zu verlieren. Es gehört zur Ambiguität dieser Position, dass sich das genaue Verhältnis zwischen Geistigem und Materiellem nicht positivistisch festhalten lässt, sondern in jeder Situation wieder neu bestimmt werden muss. Der am Christentum orientierte Mensch stehe immer im Spannungsfeld der Gefahr, entweder einem reinen Fideismus, losgelöst von jeder gesellschaftlichen Verortung, oder einem Materialismus zu verfallen, der die Gestaltung des bonum comune in rein innerweltlichen Kategorien verfolgt.27 26 Ebd., S. 56‒58. 27 Ebd., S. 64–66.

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So müsse sich der Christ gemäß Rahner verbindlich in die Welt hineinbegeben und an deren Gestaltung mitarbeiten, was in sich wieder eine direkte Konsequenz der Menschwerdung sei. Gleichzeitig aber müsse er zu ihr immer einen gewissen Abstand halten, zumal er den Mittelpunkt seines Lebenssinnes woanders habe. Nur in einer solchen verbindlichen und gleichzeitig distanzierten Präsenz in Welt und Gesellschaft sei Kultur möglich. Weil die Inkarnation der Wesenskern des Christentums sei, könne sich der Christ aus der Geschichte gar nie verabschieden. Und da dessen Erbe der ganzen Menschheit übergeben, der Kirche aber in besonderer Weise anvertraut sei, könne das Christentum kein privater Imperativ an Einzelpersonen sein, sondern erfordere eine konkrete, verbindliche und institutionelle Verortung. Rahner sieht hier den pädagogischen Auftrag der Theologie in der Gesellschaft, das Bewusstsein für das Oszillieren zwischen den beiden Prinzipien des Materiellen und Geistigen wach zu halten und so die Verwirklichung eines wahren christlichen Humanismus anzustoßen, der dann das Wesen des Abendlandes ausmachen würde.28

Kirche Rahner zieht aus diesen Reflexionen über den Menschen des Abendlandes direkte Schlüsse auf das Wesen der Kirche. So erteilt er – vielleicht gerade wegen der lediglich angedeuteten totalitären Vergangenheit Europas und seinem nie erwähnten Exil – einer Kirche, die sich aus der Gesellschaft zurückzieht, eine klare Absage. Während er mehrmals darauf zu sprechen kommt, dass ein Mensch, der ganz in der Gestaltung der Welt nach immanenten Kriterien aufgeht, seinen abendländischen Charakter verliere, spricht er nicht von einer Kirche, die ihre Kräfte ganz dem sozialen Engagement und allein dem Aufbau der Gesellschaft hingibt – und damit Gefahr laufe, ihrer übernatürlichen Wesenseigenschaft verlustig zu gehen. Hingegen thematisiert er wiederholt die Gefahr, dass sich die Kirche von den sie umgebenden sozialen und kulturellen Bedingungen löst, sich allein durch geistliche Werte definiert und zum reinen Charisma der Urkirche zurückkehren möchte. Obwohl Rahner den Rückgriff zu einem metahistorischen Raum, wo die Inhalte der christlichen Offenbarung ruhen, zum Zentrum seiner Reflexionen zum Abendland macht, hält er eine Rückkehr zu einem mythischen Urzustand unter der Negierung der Gegenwart nicht nur für nicht geboten, sondern für schlechterdings unmöglich. Schöpfen aus dem Reichtum des Mysteriums könne man nur in bewusster Wahrnehmung und Bejahung des konkreten Umfeldes. So arbeitet Rahner in seinem Artikel über die Konstanti28 Ebd., S. 64‒66  ; Rahner, Christlicher Humanismus, S. 20‒22.

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nische Wende klar heraus, dass bereits die Urkirche nicht aus privaten Hauszirkeln bestanden hat, die in einer heidnischen Gesellschaft ein Milieu geschaffen hat, in dem in hermetischer Abschließung die christliche Botschaft gelebt worden sei. Es entspreche also nicht dem Wesen der frühen Christenheit, dass deren Mitglieder die Werte der Kirche aus den Katakomben anonymisiert in den Alltag getragen hätten, während die Kirche selbst von Zugeständnissen an die Gesellschaft und damit verbundenen Verwässerungen ihrer Botschaft verschont geblieben sei. Vielmehr weist Rahner anhand mehrerer Kirchenväterzitate auf, dass die Kirche bereits im zweiten und dritten Jahrhundert zur Zusammenarbeit mit dem Staat bereit gewesen sei.29 Gerade das Eingehen auf diese Bedingungen, allerdings ohne sie sich völlig zu eigen zu machen, gehöre zum Wesen der Kirche. Und so hat die Kirche für Rahner auch nach Konstantin nicht einen generellen Schulterschluss mit den politischen Machthabern gemacht, sondern gegebenenfalls auch kritische Distanz eingenommen. Wie der abendländische Mensch so habe auch die Kirche sich immer wieder zwischen weltlicher Immanenz und eschatologischer Transzendenz einzumitten. Folglich gebe es keine Kirche ohne eigenständigen institutionellen Vollzug. Ist die Kirche hingegen nur noch Produkt des Staates zur Befriedigung spiritueller und ritueller Bedürfnisse, würde sie zu einer letztlich esoterischen Komponente in der Gesellschaft verkommen. Würde sie sich auf eine Ansammlung kleiner Gemeinschaften, in denen ihre Mitglieder aus einem geschwisterlichem Austausch leben, reduzieren, hätte sie sich vom substantiellen gesellschaftlichen Vollzug verabschiedet. Kommt man aber über die institutionelle Organisation und das äußerlich Sichtbare nicht hinaus, würde die Kirche zu einem toten Gebilde. In der nicht fixierten Positionierung zwischen den Polen sozialer Partizipation und transzendenter Ausrichtung sei es Aufgabe der Kirche, eine eigene Soziallehre und Pädagogik zu entwickeln, Schulen, Gewerkschaften und eine eigene Presse zu führen und sich in den Naturwissenschaften zu engagieren, womit die Kirche zum gestaltgebenden Faktor des Abendlandes würde.30

Politische Einheiten Die Spannung, in die Rahner den Menschen des Abendlandes und die Kirche stellt, wendet er auch auf politische Einheiten an. Wie bereits ausgeführt sieht er in Augus­ tinus’ De Civitate Dei einen Meilenstein des Werdeganges des Abendlandes, worin der Kirchenvater die platonische Staatsidee mit dem Geheimnis der Inkarnation ver29 Rahner, Konstantinische Wende, S. 191. 30 Ebd., S. 186‒198.

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bunden habe. Diese Magna Charta habe er, noch ganz Mensch der Antike, dem anbrechenden Mittelalter just in dem Moment vermacht, als das Imperium Romanum in Trümmer zu versinken drohte. Rahner gibt einem Staatsgebilde dort keine Überlebenschancen, wo man sich von diesem Erbe verabschiedet. Dabei zieht er Platons Evidenz – dass ein Staat von einem Recht geleitet werden müsse, das letztlich seinen Urgrund in der Gerechtigkeit hat – weiter und bindet sie an den transzendenten Wert der Menschwerdung Gottes. In Analogie zur griechischen Philosophie sieht er das römische Recht durch die Inkarnation vervollkommnet und in einer Weltordnung an seinen, ihm zustehenden Platz gesetzt. Folglich macht es Rahner zur Bedingung des Abendlandes, dass alle Angehörigen einer politischen Einheit, auch die Verantwortungsträger, sich auf ein solches Recht zu verpflichten hätten, das aber letztlich in der göttlichen Gerechtigkeit gründe. Wie es keine Kirche ohne institutionelle Voraussetzungen gebe, so müsse auch jedes politische Gebilde ein Rechtsstaat sein, dessen Grundsätze den Handlungshorizont eines Politikers übersteigen. Rahner sendet diese Botschaft in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts sowohl an die Adressen derer, die mit einem marxistisch strukturierten Staat ohne Gottesbezug die Menschen zur Glückseligkeit führen wollen, als auch derer, die philanthropisch darüber abstimmen, ob die explizite Nennung Gottes in einer Verfassung noch im Interesse der Mehrheit liege. Gerade der transzendent verankerte Gerechtigkeitsbegriff sei wesentlich damit verbunden, dass kein Staat zu dessen vollständiger Realisierung gelangen könne  ; jeder Rechtsstaat werde immer vorläufigen Charakter haben  ; Politiker des Abendlandes würden folglich in jeder Situation immer um die möglichst adäquate Umsetzung der Gerechtigkeit ringen müssen.31

Abendland als Teil des ‚kulturellen Gedächtnisses‘? In den Akten des Kongresses „Abendlanddiskurse und Erinnerungsräume Europas“ werden verschiedene Abendlandkonzepte auf kulturwissenschaftlichem H ­ intergrund reflektiert. Es ist gerechtfertigt, dabei auch einen Theologen zu Wort kommen zu lassen, zumal die Theologie in der Geistesgeschichte Europas relevant ist und Hugo Rahner selbst von kulturwissenschaftlicher Seite wahrgenommen worden ist. So wurde er während seiner Zeit in Sitten vom ‚Eranos-Kreis‘, der sich im Sommer jeweils in Ascona traf und Vertreter verschiedener Geistes- und Religionswissenschaften zum Austausch zusammenführte, als Referent eingeladen. 1959 hielt er zum Fünfhundert-Jahr-Jubiläum der Universität Basel den Festvortrag „Gibt es einen 31 Rahner, Geburtstag, S. 199‒208  ; ders., Büchertruhe, S. 213‒215.

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christlichen Humanismus  ?“. Gerade wegen dieser Präsenz mutet es eigenartig an, dass Rahner sich in all seinen Publikationen zum Abendland ganz als Theologe zeigt. In einem sich zunehmend säkularisierenden Umfeld nimmt er also auf die Problematik einer Theologie, die sich dezidiert auf die Inkarnation konzentriert, und die er in rein transzendenten Kategorien erklärt, keinen Bezug. Hielt er einen theologisch transzendenten Gedankengang, der nicht auf ein kirchliches Milieu beschränkt bleiben sollte, zum Aufbau der Gesellschaft in der Nachkriegszeit tatsächlich für realistisch  ? Rahner stieß durchaus auch auf Unverständnis, was sich am deutlichsten darin erweist, dass er nach 1948 an die ‚Eranos-Tagungen‘ nicht mehr eingeladen wurde, weil seine wohl genialen Reden letztlich wegen ihres christozentrischen Charakters nicht für angemessen gehalten wurden.32 Ferner kommt man nicht um das Fazit herum, dass mit den bisherigen Ausführungen dieses Beitrages ein theologischer Artikel vorliegt, was den Anforderungen eines kulturwissenschaftlichen Kongresses nicht ganz Genüge leistet. Es ist aber schwierig, Rahners Werk vorzustellen und dabei theologische Kategorien zu übersteigen, wenn dessen Gedanken nicht nur rein theologisch ausgerichtet sind, sondern von transzendenten Voraussetzungen ausgehen. Aufgrund dieses Defizits wird in diesem letzten Abschnitt die Frage gestellt, ob sich in Rahners Abendlandkonzept Entsprechungen in den neueren Forschungen zur Memorialkultur finden. Dazu wird ein Vergleich mit der Theorie von Jan Assmann zum ‚kulturellen Gedächtnis‘ vorgenommen. Allerdings verwendet Rahner in seinem ganzen Werk den Begriff der ‚Erinnerung‘ selten und spricht ihm auch keine zentrale Rolle zu. ‚Gedächtnis‘ und ‚Memorialkultur‘ kommen gar nie vor. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er die Theorien zum ‚kollektiven Gedächtnis‘ des französischen Soziologen Maurice Halbwachs (1877–1945) kannte  ; explizite oder implizite Bezugnahmen sind aber nicht auszumachen. Bei der Lektüre von Jan Assmann ist Vorsicht geboten. Wohl finden sich augenscheinliche Parallelen, vor allem dort, wo er über die „Theologisierung der ­Geschichte im Zeichen einer Theologie des Willens“ nach der Rückkehr Israels aus dem babylonischen Exil reflektiert. Assmann sieht im Verlesen der Thora auf einer Kanzel durch den Propheten Esra nach der Rückkehr aus dem babylonischen Exil im sechsten Jahrhundert v. Chr. einen entscheidenden Schritt, mit dem sich Israel als erstes Volk der Menschheit nach der traumatischen Erfahrung des selbstverschuldeten Exils durch die Erinnerung an die eigene Geschichte eine Identität aufbaut.33 Bei einer Parallelisierung mit Rahner bleibt aber zu konstatieren, dass Assmann Ägypthologe ist und sich mit ägyptischen und mesopotamischen Hochkulturen in den drei Jahrtausenden 32 Delgado, Hugo Rahner, S. 273 f. 33 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 253‒257.

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vor Christus beschäftigt. Er greift wohl in die Antike aus, nimmt aber keinen Bezug auf die Geschichte Europas. Rahner wiederum integriert in seinen hier untersuchten Veröffentlichungen weder Inhalte der Orientalistik noch der alttestamentlichen Exegese oder der Bibeltheologie.

Rahners Verständnis von Zeit und Geschichte Hugo Rahner hat sich weitgehend mit klassischen und patristischen Quellen auseinandergesetzt, welche seinen Zugang zur akademischen Reflexion ausmachen. Sein Geschichtsbild orientiert sich weniger an einer modernen Periodisierung mit einem linear offenen Verlauf, als an der Lehre von Augustinus, der die Zeit gemäß Altem und Neuem Testament in sechs Epochen einteilt, deren letzte mit der Inkarnation begonnen hat und nur noch ihrer Vollendung in der Parousie, dem Jüngsten Gericht, harrt. Da in der Menschwerdung Jesu die Vollendung der Welt anfanghaft aufleuchtet, sind bis dahin für die kommende Zeit keine substantiellen Veränderungen mehr zu erwarten.34 Entsprechend geht es Rahner in seinen Reflexionen zur abendländischen Gesellschaft weitgehend darum, die Inhalte der Inkarnation in einer jeweiligen Situation möglichst perfekt zu realisieren. In positiver Hinsicht kann nur noch aufleuchten, was im Geheimnis der Menschwerdung bereits vorweggenommen ist. Ein Abweichen davon bedeutet hingegen immer Werteverlust und Destruktion. Rahner geht es in seinen Abendland-Reflexionen wohl um die Zukunft der Gesellschaft. Die Analyse gegenwärtiger Bedingungen und die Auseinandersetzung damit, wie noch nicht bekannte Faktoren integriert werden müssen, spielen keine Rolle. Die Zukunft als offenen Raum menschlicher Handlungsfreiheit gibt es im Gedankengebäude Rahners eigentlich nicht, was weitgehend dem frühmittelalterlichen Verständnis von Zeit und Geschichte entspricht. Rahner zeigt sich von dieser Strömung der Geistesgeschichte weitgehend unbe­ rührt und bleibt dem skizzierten patristischen Geschichtsbild verhaftet. Daraus erklärt sich auch, warum er dem Verlauf der Geschichte wenig Aufmerksamkeit schenkt. Wohl spricht er vom Aufbau der Zukunft, dessen Gelingen aber ausschließlich davon abhängt, ob der Rückgriff auf die Substanz des historischen Ereignisses der Inkarnation gelingt. Rahner beschäftigt sich also mit der Vergangenheit auf der Suche nach einer gesellschaftlichen Identität, zeigt aber eine bemerkenswerte Distanz zu historiographischen Reflexionen. Eine Stütze finden seine Gedanken in Maurice Halbwachs’ Theo34 Le Goff, Kultur, S. 281‒295.

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rie vom ‚kollektiven Gedächtnis‘. Demnach baut sich eine soziale Gruppe eine eigene Identität auf, indem sie die Wahrheit eines historischen Ereignisses zu ihrem Wesensmerkmal macht. Dieses Element bekommt aber nicht wegen seiner Historizität, sondern wegen seiner identitätsstiftenden Relevanz Geltung. Wichtig wird es unter dem Gesichtspunkt von Eigenart und Dauer und nicht von Veränderbarkeit. Dem steht die Geschichtswissenschaft entgegen, die nach Differenzen und Diskontinuitäten sucht und wenig Interesse für wandlungslose Zeiten zeigt. Das ‚kollektive Gedächtnis‘ betont Ähnlichkeiten sowie Kontinuitäten und blendet tiefgreifende Veränderungen aus. Diese Unterscheidung bietet einen Ansatzpunkt, um Rahners Weltbild kulturwissenschaftlich verständlich zu machen und der alleinigen Beurteilung durch historiographische Kriterien zu entziehen.35 Der Vergangenheitsbezug Rahners ist eine Folge des Sinnbedürfnisses der Nachkriegszeit nach soliden Parametern, die als Garanten beim Bau der Gesellschaft dienen können. Das Ereignis der Inkarnation interessiert ihn als ewige Wahrheit, das als solche in der Welt gestaltgebend einbricht. Diese Rückorientierung ist die Folge einer traumatischen Erfahrung, die nicht weiter thematisiert wird, aber als Folge des Vergessens des inkarnatorischen Geheimnisses gedeutet wird. Die Formung der Gesellschaft hingegen ist für Rahner überall dort geglückt, wo man sich an diesem Mysterium orientiert oder – mit anderen Worten – wo man sich dessen erinnert hat und sich in Zukunft erinnern wird. Realisierungen führt Rahner als Zeugnisse für die Richtigkeit seiner Theorie an. Konkrete Unterschiede in der Ausgestaltung und die Veränderbarkeit historischer Phänomene interessieren ihn hingegen nicht. Wichtig ist die Aktualisierung der zeitlich übergeordneten Inhalte. Rahner wähnt sich einerseits als Erbe einer bereits lange wirkenden Tradition, anderseits aber hebt er nach der katastrophalen Erfahrung des Nationalsozialismus das kulturelle Phänomen der Klassik und das historische Ereignis der Inkarnation unter dem neu formulierten Konzept des Abendlandes in eine transzendente Sphäre und verleiht ihnen damit einen Absolutheitsanspruch, der letztlich nicht auf Westeuropa, das geographische Abendland, beschränkt bleibt, sondern globale Züge annimmt. Rahner ruft damit ein vergessenes Selbstbild in Erinnerung, verbindet damit aber die Forderung nach einem neuen Bewusstsein. Nicht die Zugehörigkeit zum Abendland, das Wohnen in seinem geographischen Raum sind entscheidend, sondern die Verinnerlichung der herausgearbeiteten Inhalte. Die Wesenselemente des Abendlandes  – klassische Philosophie, Rechtsdenken und Inkarnation – würden, so Rahner, zu den Grundfesten und Bedingungen einer Hochkultur, die sich in allen Gesellschaften realisieren und somit alle Menschen zu 35 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 34‒48.

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ihrer Eigentlichkeit führen könne. So haben seine Ausführungen keinen limitischen Charakter. Die Ausgrenzung gewisser Gruppen oder Menschen gibt es in Rahners Gedankengängen nicht, entsprechend baut er auch kein Wir-Bewusstsein auf. Die Bedingungen liegen in den Wesenselementen, denen sich jeder Mensch öffnen kann.36

Der metahistorische Raum als ‚externer Speicher‘ Jan Assmann spricht in seiner Auseinandersetzung mit Erinnerungskulturen von einem ‚externen Speicher‘, in dem identitätsstiftende Inhalte, die mit einem Urzustand oder einem zentralen historischen Ereignis verbinden, aufbewahrt und über Generationen weitergegeben werden. Die ursprüngliche Form der Tradierung war die rituelle Aktualisierung von Mythen, was durch die Erfindung der Schrift eine wesentliche Veränderung erfahren hat. Die Schrift wurde zum Medium, über das identitätstragende Elemente über Generationen tradiert und somit erinnert werden.37 Explizite Bezüge zu dieser Konzeption finden sich in Rahners Werken nicht. Seine ordensgeschichtlichen Studien bergen wohl Ansätze dazu, dass Jesuiten über Generationen durch die Ausbildung und Spiritualität das ‚ignatianische Urcharisma‘ weitergegeben und in neuen gesellschaftlichen Bedingungen aktualisiert haben. Darin, aber auch in den Publikationen über das Abendland, scheint Rahners Weltbild durch, wonach das historische Ereignis der Inkarnation in seiner Substanz in einem metahistorischen Raum dem Lauf der Geschichte übergeordnet ist. Über die Kenntnis patristischer Schriften und der klassischen Philosophie – aber auch über eine persönliche Glaubenshaltung – kann sich ein Mensch an diesen metahistorischen Raum anschließen und die Inhalte neu gegenwärtig setzen. Man kann so diesen Raum mit dem genannten ‚externen Speicher‘ identifizieren. Bezeichnenderweise verliert Rahner aber keine Worte über eine rituelle Kommemorierung, wozu die Sakramententheologie mit ihren Reflexionen zur Aktualpräsenz Ansätze bieten würde. Er kennt auch keine Expertengruppe, also besondere Garanten der Vergegenwärtigung beziehungsweise der Tradierung der Inhalte. Ein Kultpriestertum hat keinen Platz. Vielmehr ist es Rahner wichtig, dass Franziskus größere Verdienste hat als der zeitgenössische Papst Innozenz III.38, dass der Zugang zum metahistorischen Raum nicht an eine gesellschaftliche Position oder eine besondere Würde gebunden ist, sondern jedermann offen steht. Dessen Inhalte, verbunden mit ihrer Vergegenwärtigung, beanspruchen 36 Dazu ebd., S. 156 f. 37 Ebd., S. 22 f. 38 Rahner, Gibt es, S. 66  ; ders, Sinn der Geschichte, S. 85.

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aber eine Relevanz sowohl für kirchliche als auch gesellschaftliche Vollzüge. So übernehmen Vertreter der Kirche verbindliche Aufgaben in der Gesellschaft. Politische Verantwortungsträger verpflichten sich auf ein Recht, das in Korrelation zu einer Gerechtigkeit steht, die ihrerseits wiederum in der im metahistorischen Raum aufbewahrten inkarnatorischen Substanz gründet.

Konnektive Struktur von Generationen und Kulturen Indem Rahners ‚metahistorischer Raum‘ in diesem Beitrag mit dem Terminus eines ‚externen Speichers‘ in Korrelation gesetzt und erklärt wird, wird versucht, dessen Abendlandkonzept mit Elementen der kulturwissenschaftlichen Theorie der Memorialkultur zu verbinden. Gerade weil der Zugang zu diesem Speicher bei Rahner keinen strukturellen Bedingungen unterworfen ist, es also keine Kaste von Experten gibt, die den Zugang kontrollieren oder überhaupt repräsentieren39, stellt sich die Frage, wie denn garantiert wird, dass die Dynamik des inkarnatorischen Geheimnisses generationenübergreifend wirken kann. Rahner kennt keinen Rückgriff auf einen kanonischen Text, dessen Rezitation oder Kenntnis die für das Abendland konstitutiven Parameter gegenwärtig setzen würde.40 Wohl bringt Rahner wiederholt die Relevanz patristischer Schriften ins Spiel, wobei besonders Augustinus’ De Civitate Dei eine zentrale Funktion zukommt. Diese sind aber als Zeugnisse von Menschen – hier Theologen und Literaten  – zu verstehen, denen der Zugriff zum metahistorischen Raum gelungen ist. Die Kenntnis dieser Quellen wirkt inspirierend oder handlungsleitend, ist aber in sich kein Garant für die Vergegenwärtigung des inkarnatorischen Mysteriums bzw. den Aufbau einer auf ihm gründenden Gesellschaft, des Abendlandes. Den Schriften kommt zentrale, aber nicht konstitutive Bedeutung zu. Ebenso besteht die konnektive Struktur, die Kulturen und Generationen verbindet, und durch die die Wesenselemente des Abendlandes tradiert und gegenwärtig gesetzt werden, nicht in der Rezitation oder in der Verpflichtung auf die christologischen Dogmen. Wohl ist die Dimension des Glaubens zentral, Rahner setzt aber die Bekenner einer orthodoxen Christologie nicht mit den Bewohnern oder den ‚Konstrukteuren‘ des Abendlandes gleich. Die konnektive Struktur realisiert sich nur über Personen, die in ihren jeweiligen sozialen und historischen Verhältnissen durch einen rein persönlichen, quasi mystischen Akt in den metahistorischen Raum zum inkarnatorischen Geheimnis 39 Dazu Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 93‒97. 40 Dazu ebd., S. 88‒91.

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vordringen, wie es schon Gläubige früherer Generationen getan haben. Dieser Rückgriff kreiert eine Verbundenheit mit Vorgängern, die über denselben Weg in anderen Situationen gesellschaftsstiftend wirkten und so eine ‚Kultur des Abendlandes‘ aufbauten. Wie bereits ausgeführt kennt Rahner keine Klasse von Gedächtnisträgern, keine wissenssoziologische Elite, die eine kontrollierte Verbreitung kommemorierter Inhalte sicherstellt.41 An die einzelnen Personen, die unabhängig von sozialem Status und Herkunft eine solche Vergegenwärtigung vornehmen, erhebt er aber differenzierte Anforderungen. Durch das Eintreten in den metahistorischen Raum erweisen sie sich als ‚Menschen der Geschichte‘. Um aber wirklich zum Mit-Erbauer des Abendlandes zu werden, haben sie weitere Verpflichtungen zu erfüllen. So werden für Rahner die beiden anderen Faktoren ‚Mensch der Einheit‘ und ‚Mensch der schönen Mitte‘ gerade wegen ihrer oben herausgearbeiteten Ambiguität zum anspruchsvollen Profil. Lediglich bei der Komponente ‚Mensch der Geschichte‘ bekommt die Erinnerung eine konstituierende Funktion. Die zwei anderen Elemente fordern eine Balance zwischen einem sozialen Zusammengehörigkeitsgefühl und dem Respekt vor verschiedenen Nationen und Kulturen sowie zwischen der verbindlichen Teilnahme am Weltgeschehen und einer inneren Distanz. Rahner postuliert damit nicht eine institutionelle, gesellschaftlich fixierte, sondern eine authentische Elite, die mit spiritueller Kompetenz, Gegenwartsbezug und Realitätssinn gestaltgebend wirken und so schöpferisch das Abendland aufbauen soll. Die Reflexionen Rahners über den abendländischen Menschen lassen sich letztlich nur auf Verantwortungsträger, Protagonisten, also besondere Persönlichkeiten anwenden, die über einen eigenständigen Werdegang und eine Teilhabe am inkarnatorischen Mysterium in einer differenzierten Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Gegenwart die Gesellschaft gestalten. Auch wenn Rahner dies prinzipiell jedem Menschen zutraut, hat er geistliche und reflektierende Einzelpersonen im Blick. Einen kollektiven Akt der Kommemoration oder der Vergegenwärtigung kennt er nicht. Dass er nie eine Theologie des Volkes thematisiert, ist wohl auch eine Folge der Erfahrungen des Dritten Reichs. Vielmehr hängt der Aufbau des Abendlandes letztlich vom persönlichen Engagement einiger weniger Menschen ab. Im Zentrum stehen somit eigenständige Verantwortungsträger, die in verschiedenen Epochen und Kulturen zu finden sind und über den Zugang zum metahistorischen Raum oder externen Speicher aus demselben Fundus schöpfen. Somit bekommt das Abendlandkonzept Hugo Rahners eine erinnerungssoziologische und kulturelle Dimension. Das Apriori von transzendenten Bedingungen, welches die Theorie Rahners außerhalb des Fachbereichs der Theologie so schwer vermittelbar machte, findet eine 41 Dazu ebd., S. 53‒57.

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gewisse Rechtfertigung in Assmanns Reflexionen. So ist die Herausbildung einer personalen oder sozialen Identität nur möglich, wenn ein Individuum von einem vorgegebenen Sinnhorizont umfasst wird. Erst so wird intersubjektive Sinnhaftigkeit möglich. Für Rahner besteht dieser Sinnhorizont im Zusammenspiel des historischen Ereignisses der Inkarnation, des damit verbundenen Mysteriums sowie der klassischen Philosophie. Weil Rahner diese vorgegebenen Bedingungen klar benennt, kann seine Theorie gerade mit ihren transzendenten Voraussetzungen in einem säkularen Milieu Geltung beanspruchen.

Zusammenfassung Die eigentliche Aufgabe dieses Artikels besteht darin, das Abendlandkonzept Hugo Rahners mit den kulturwissenschaftlichen Reflexionen zum kulturellen Gedächtnis zu vermitteln. Rahner legt seinem Projekt des Aufbaus einer abendländischen Gesellschaft das Geheimnis der Menschwerdung Jesu zugrunde, das sich auf dem Hintergrund der klassischen Philosophie historisch ereignet hat. Die Verbindung der beiden Komponenten hält Rahner für die Rezeption und Ausbreitung dieses Mysteriums für wesentlich. Dessen Inhalte und Dynamik kann sich – so Rahner – ein Mensch zu eigen machen, indem er über ein spirituelles Erlebnis in den metahistorischen Raum vordringen kann, in welchem diese ruhen. Der von dieser Erfahrung geprägte Mensch macht sich fortan die Inkarnation zum handlungsleitenden Prinzip und wirkt, davon inspiriert, ausgleichend zwischen Einheit und Verschiedenheit, zwischen verbindlichem Gegenwartsbezug und innerer Distanz. So wird er Garant einer christlich humanistischen Gesellschaft. Dieses Konzept kann transparent gemacht werden auf die Theorie des kulturellen Gedächtnisses, indem der metahistorische Raum, wo die Substanz des inkarnatorischen Geheimnisses ruht, mit dem externen Speicher identifiziert werden kann, aus dem einer Gesellschaft über Generationen identitätsstiftende Inhalte vermittelt werden. Der Zugang zu diesem Speicher ist nicht einer besonderen gesellschaftlichen Klasse vorbehalten, sondern gemäß Rahner kann jede Person auf diesem Weg identitäts- und kulturstiftend wirken, wobei er damit hohe Ansprüche an intellektuelle Kompetenz und Realitätsbezug verbindet. Rahner spricht nicht von einem Wir-Bewusstsein, sondern konzentriert sich weitgehend auf einzelne Verantwortungsträger. Die abendländische Gesellschaft prägt aber letztlich doch die Identität aller Mitglieder. Zumal die Kulturwissenschaften die Zuordnung eines apriorischen Sinnhorizontes mit jeder Theorie für unabdingbar halten, kann Rahner mit seinen transzendenten und theologischen Prämissen auch in einem säkularen akademischen Umfeld rezipiert werden.

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Rahner, Hugo. „Himmelfahrt der Kirche.“ Abendland. Reden und Aufsätze. Hugo Rahner. Freiburg u. a.: Verlag Herder, 1966. S. 298‒312. Rahner, Hugo. „Die Konstantinische Wende.“ Abendland. Reden und Aufsätze. Hugo Rahner. Freiburg u. a.: Verlag Herder, 1966. S. 186‒198. Rahner, Hugo. „Sinn der Geschichte.“ Abendland. Reden und Aufsätze. Hugo Rahner. Freiburg u. a.: Verlag Herder, 1966. S. 69‒89. Rahner, Hugo. „Vom Ersten bis zum Dritten Rom.“ Abendland. Reden und Aufsätze. Hugo Rahner. Freiburg u. a.: Verlag Herder, 1966. S. 253‒269. Rahner, Karl. „Rahner, Hugo.“ Diccionario Histórico de la Compañía de Jesús IV. Roma/Ma­ drid  : Institutum Historicum Societatis Iesu, 2001. S. 3279. Schatz, Klaus. Geschichte der österreichischen Jesuiten (Manuskriptversion, Drucklegung in Vorbereitung). Siebenrock, Roman A. „Abendland oder Europa  ? Anmerkungen zur Geschichtstheologie Hugo Rahners.“ Zeitschrift für katholische Theologie 141 (2019)  : S. 364‒380.

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2 ERINNERUNGSRÄUME DES ABENDLANDES IN LITERATUR UND KUNST

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„In all save form alone, how changed“ Byron und das Abendland Als Matthew Arnold 1857 zum ersten Professor of Poetry in Oxford ernannt wurde und somit auch akademisch die Autorität erlangte, sich zur Literatur Englands zu äußern, war Lord Byron schon mehr als dreißig Jahre tot und längst zu einer europäischen Legende geworden  : Der erste paneuropäische Dichter der Moderne, gleichsam mythisiert und vielseitig benutzbar, kurz  : ein integraler Bestandteil der abendländischen Erinnerungskultur. Matthew Arnold hatte freilich, wie viele seiner viktorianischen Landsleute, ein zwiespältiges Verhältnis zum europäischen Mythos Byron. Stets um ein ausgewogenes Urteil bemüht, gesteht er Byron als Persönlichkeit zwar große Ausstrahlungskraft zu, seine Leistung als Dichter sieht er aber kritisch  : „[…] as a poet, he has no fine and exact sense for word and structure and rhythm  ; he has not the artist’s nature and gifts.“1 Dass sein Gesamturteil nicht schroffer ausfällt, ist nicht zuletzt Goethe zu verdanken, den Arnold bewunderte. Goethe hielt Byron bekanntlich für die bedeutendste Begabung seiner Zeit („sein Talent ist inkommensurabel“2) und als „eben so groß als Shakespeare“.3 Goethes Wertschätzung benutzt Arnold, um seine 1881 erschienene Auswahl von Gedichten Byrons, der das Zitat entnommen ist, zu rechtfertigen. Doch schon rund zwanzig Jahre zuvor hatte Arnold in seinem berühmten Aufsatz „The Function of Criticism at the Present Time“ (1863) Byron mit Goethe verglichen und ihm intellektuelle Tiefe und echte Lebenserfahrung abgesprochen  : […] life and the world being, in modern times, very complex things, the creation of a modern poet, to be worth much, implies a great critical effort behind it  ; else it must be a comparatively poor, barren, and short-lived affair. This is why Byron’s poetry had so little endurance in it, and Goethe’s so much  ; […] Goethe knew life and the world, the poet’s necessary subjects, much more comprehensively and thoroughly than Byron. He knew a great deal more of them, and he knew them much more as they really are.4

1 Arnold, Culture, S. 391. 2 Eckermann, Gespräche, S. 148. 3 Ebd. 4 Arnold, Culture, S. 109.

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So treffend Arnolds Urteil über Goethe ausfällt, so zugespitzt und einseitig erscheint sein Verdikt über Byron. Eine gewisse Ironie liegt darin, dass Byron Arnolds Grundanliegen in diesem wegweisenden Essay durchaus zugestimmt hätte. Darin plädiert Arnold für eine kritische und objektive Betrachtung dessen, was Goethe „Weltliteratur“ genannt hatte und wir heute als Vergleichende Literaturwissenschaft praktizieren  : […] the criticism I am really concerned with, […] is a criticism which regards Europe as being, for intellectual and spiritual purposes, one great confederation, bound to a joint action and working to a common result  ; and whose members have, for their proper outfit, a knowledge of Greek, Roman, and Eastern antiquity, and of one another.5

Eine grundlegende Kenntnis griechischer und römischer Literatur hatte sich Byron an der Elite-Schule Harrow und später in Cambridge erworben, und vom ‚Orient‘ fühlte er sich schon früh angezogen.6 Davon zeugt seine für damalige Verhältnisse ungewöhnliche Grand Tour, die ihn 1809–11 von Portugal über Spanien und Malta nach Griechenland führte und deren unmittelbare poetische Ausbeute die beiden ersten Gesänge des episch angelegten Childe Harold’s Pilgrimage sind. Die Faszination für den ‚Orient‘ prägte auch Byrons spektakulär erfolgreiche „Oriental Tales“, die er zwischen 1813 und 1815 entwarf („The Giaour“, „The Bride of Abydos“, „The Corsair“, „Lara“ und „The Siege of Corinth“). Sie fand schließlich in dem unvollendet gebliebenen Don Juan – dem letzten bedeutenden Epos der Englischen Literatur – ihren Höhepunkt. Es ist Arnolds Verdienst, nicht nur einen mit objektiven Kriterien operierenden kritischen Umgang mit Literatur eingefordert, sondern auch den bis dahin statischen, auf den Säulen der griechischen und römischen Antike basierenden Abendlandbegriff um die Komponente der „Eastern antiquity“ erweitert zu haben. Wie wir sehen werden, nahm Byron diese Dynamisierung des Abendlanddiskurses schon ein halbes Jahrhundert zuvor in der Verserzählung Childe Harold’s Pilgrimage vorweg. Die folgende Analyse von Byrons Verhältnis zum ‚Abendland‘ wird sich auf dieses Werk konzentrieren.7 5 Ebd., S. 131 f. 6 Vgl. hierzu Marchand, Byron, S. 53 f. Marchand zitiert aus einem Brief Byrons an seinen Schulfreund De Bathe (2 Februar 1808)  : „In January 1809 I shall be twenty one & in the Spring of the same year proceed abroad, not on the usual Tour, but a route of a more extensive Description. […] are you dis­ posed for a view of the Peloponnesus and a voyage through the Archipelago  ? I am […] very serious with regard to my own Intention which is fixed on the Pilgrimage.“ 7 Childe Harold’s Pilgrimage (fortan CHP) besteht aus vier Gesängen (Cantos), von denen die ersten zwei 1812 publiziert wurden  ; Canto III erschien 1816 gefolgt von Canto IV in 1818.

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Der Weg in die Vergangenheit Im ersten Gesang beschreibt der Erzähler – mit unverhohlener autobiographischer Nähe zur Titelfigur – Harolds Reise durch die von den Napoleonischen Kriegen gezeichnete Iberische Halbinsel. Im zweiten Canto geht es über Malta und das heutige Albanien nach Griechenland, die beide damals zum Osmanischen Reich gehörten. Obwohl er unterwegs „to Christian tongues a long adieu“8 (CHP II, XLIII) sagen muss, gewinnt Harold dem Abenteuer in der Fremde viel Reizvolles ab  : His breast was arm’d ’gainst fate, his wants were few  ; Peril he sought not, but ne’er shrank to meet  : The scene was savage, but the scene was new […]. (II, XLIII)

Das Neue ist natürlich das Andere und Fremde, zunächst einmal in Gestalt des albanischen Despoten Ali Pasha, der Byron mit allen Ehren empfing. Byron war von ihm so beeindruckt, dass er sich bekanntlich in „Albanian dress“ porträtieren ließ (Abb. 1). Schon hier stellen wir die für Byron typische Ambivalenz fest  : Wiewohl Harold schnell des „lawless law“ (II, XLVII) und der „Moslem luxury“ (II, LXIV) des Pasha satt wird, empfindet er andererseits die Gastfreundschaft des Stammes der Sulioten als eine geradezu edenische Idylle – frei von Heuchelei, Unterdrückung und Schuld. Und natürlich fasziniert ihn das Vielvölkergemisch in der osmanischen Provinz mit ihren bunten Farben, Gerüchen, Gewändern, Gesängen und kriegerischen Tänzen. Im Vorhof des Orients erfährt Byron das Fremde als einladend und abstoßend zugleich. Das in Albanien  – und dann auch in Griechenland  – Erlebte bildete gewissermaßen ein Reservoir an Eindrücken, Bildern und Geschichten, aus dem Byron immer wieder von Neuem schöpfen konnte und das für die Konstruktion des Orients in seinem Werk von entscheidender Bedeutung war. Ali Pashas Reich ist eine männliche Welt. Beim nächtlichen Einzug in Tepalen, den Sitz des albanischen Despoten, fällt Harold als Erstes „the sacred Haram’s silent tow­er“ (II.LVI) auf. Der Harem hat seit jeher die Phantasie von Autoren und Besuchern des Orients beflügelt9, denen  – anders als der englische Diplomatengattin Lady Mary 8 Byron, Poetical Works, S. 200. Verweise auf Childe Harold’s Pilgrimage (CHP) sind dieser Ausgabe von Byrons Werken entnommen und erscheinen fortan im Text unter Angabe des Cantos und der entsprechenden Strophe. 9 Der Harem ist von zentraler Bedeutung z. B. in Montesquieus Lettres persanes (1721), wo der in Europa weilende Herrscher Usbek die Vorzüge des Harems seiner dort gebliebenen Lieblingsfrau Roxane schmackhaft zu machen versucht (Lettre XXVI)  : „Que vous êtes heureuse, Roxane, d’être dans le doux pays de Perse, et non pas dans ces climats empoisonnés où l’on ne connoît ni la pudeur ni la vertu  ! Que vous êtes heureuse  !

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Wortley Montagu  – der Zutritt zur exklusiven Welt muslimischer Frauen verwehrt blieb.10 Auch in Byrons Werk sollte der Harem eine besondere Rolle spielen, so z. B. in „The Giaour“ und „The Corsair“ sowie in „The Bride of Abydos“.11 Im Spätwerk Don Juan, einem satirischen Epos, das eine unfreiwillige Grand Tour thematisiert und darin an Childe Harold’s Pilgrimage anknüpft, gerät der Harem sogar zum Schauplatz von Juans tragi-komischen Abenteuern im Palast des Sultans zu Konstantinopel (Don Juan, Cantos V–VI). Tepalen eröffnet Harold das Bild einer multikulturellen Gesellschaft kriegerischer Prägung (II, LVII), in der die Frau buchstäblich stumm bleibt  : Here woman’s voice is never heard  : apart, And scarce permitted, guarded, veil’d, to move, She yields to one her person and her heart, Tamed to her cage, nor feels a wish to rove […]. (II, LXI)

Umgekehrt wird die Welt des Sultans in Don Juan dereinst eine fast ausschließlich weibliche sein. Die einzigen männlichen Wesen dort sind der Eunuch, der Don Juan im Auftrag der Sultana am Sklavenmarkt erwirbt, und der Sultan selbst, der am Höhepunkt der Verwirrung Juan für eine attraktive neue Konkubine hält und sich in ihn – in sie – verliebt. Die Verkehrung von Erwartungen und Werten kennzeichnet auch die nächste Station auf Harolds Reise, Griechenland, das er als Wiege der ‚abendländischen Kultur‘, als Ursprung und Hort lebendiger Mythen, mit denen er aufgewachsen ist, erwartungsvoll begrüßt  :

Vous vivez dans mon sérail comme dans le séjour de l’innocence, inaccessible aux attentats de tous les humains  ; vous vous trouvez avec joie dans une heureuse impuissance de faillir  : jamais homme ne vous a souillée de ses regards lascifs  ; […] Heureuse Roxane  !“ Montesquieu, Œuvres complètes, S. 168. 10 Auf ihrer Reise nach Konstantinopel, wo ihr Mann zum englischen Botschafter bei der Hohen Pforte ernannt worden war, durfte Lady Mary als erste westliche Person ein Frauenbad besuchen, wo sie im Reiteranzug inmitten nackter Frauen deren Schönheit und Freundlichkeit bewunderte (Letter XXVI). In ihren zwischen 1716 und 1718 verfassten Briefen aus dem Orient hebt Lady Mary immer wieder die Vorteile türkischer Frauen und muslimischer Sitten gegenüber den im Westen vorherrschenden lobend hervor (Lady Mary Wortley Montagu, Turkish Embassy Letters [1763]). 11 In „The Bride of Abydos“ wacht der tyrannische Giaffir über die Keuschheit seiner Tochter Zuleika, die er solange fremden Blicken entzieht („Bride“, III, 38–39), bis er einen Gatten für sie bestimmt hat  ; einzig sein (christlicher) Neffe Selim, den er verächtlich für weibisch hält, darf sie sehen  ; ihm ist sogar der Schlüssel zum Harem anvertraut („the Haram’s grating key“, III, 67). Ironischerweise lieben der angeblich unmännliche Selim und Zuleika einander und planen zu entkommen, doch der Giaffir verhindert im letzten Moment die Flucht, die für Selim tödlich endet.

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Abb. 1: Thomas Phillips, Portrait of Lord Byron in Albanian Dress, 1813, public domain

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Where’er we tread ’tis haunted, holy ground  ; No earth of thine is lost in vulgar mould, But one vast realm of wonder spreads around, And all the Muse’s tales seem truly told, Till the sense aches with gazing to behold The scenes our earliest dreams have dwelt upon  ; (II, LXXXVIII)

Harold betritt in Griechenland zwar „heiligen Boden“ („holy ground“), aber das Griechenland, das er vorfindet, stimmt mit dem überlieferten Bild nicht mehr überein  : „In all save form alone, how changed  !“ (II, LXXV), ruft der Wanderer aus. Die modernen Griechen erlebt er als „[h]ereditary bondsmen“ (II, LXXVI), unfähig und unwillig, das türkische Joch abzuschütteln  : Nor rise thy sons, but idly rail in vain, Trembling beneath the scourge of Turkish hand  ; From birth till death enslaved  ; in word, in deed, unmanne’d. (II, LXXIV)

Das so unterworfene und entmannte Griechenland, ein „[l]and of lost gods and godlike men“ (II, LXXXV), ruft nach Befreiung. Doch wer soll diese „sad relic of departed worth“ (II, LXXIII) von der Sklaverei befreien („Who now shall lead thy scatter’d children forth,/And long accustom’d bondage uncreate  ?“ [II, LXXIII])  ? Die implizierte und – wie das Manuskript der ersten Fassung von Childe Harold’s Pilgrimage zeigt – auch explizite Antwort lautet  : Byron selbst. Der Dichter hat seinen Namen an dieser Stelle fünf Mal vermerkt.12 Freilich sah Byron ein, dass es nicht genügt, die Griechen zum Aufstand zu ermuntern (II, LXXVI). Der Kampf müsste von außen angestoßen und nicht nur ideell unterstützt werden. Wie wir gesehen haben, hatte sich Byron im angemahnten Befreiungskampf durchaus eine Hauptrolle zugedacht, die er zehn Jahre später mit theatralischem Aufwand, von dem seine Uniform mit selbstentworfenem extravaganten Helm zeugt, auch einzunehmen bereit war.13 Obwohl sie im Vers nur angedeutet ist, kann diese Bereitschaft als ein erstes Ergebnis von Byrons Grand Tour in der Levante gedeutet werden. Das zweite politische Fazit betrifft Byrons Einsicht in den rücksichtslosen Kolonialanspruch seines Heimatlandes, das er fortan nicht müde wurde, anzuprangern. Statt dem unterjochten Griechenland zu Hilfe zu eilen, plündert Britannien es aus. Unter dem Vorwand, die Überreste des Parthenon vor dem endgültigen Zerfall zu 12 Vgl. hierzu Eisler, Byron, S. 228. 13 Eine Abbildung von Byrons Helm findet sich in Eisler, Byron, zwischen S. 596 und 597.

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retten, ließ der damalige britische Botschafter in Athen, Lord Elgin, große Teile des Tempels der Göttin Athene auf der Akropolis nach London verfrachten  : Cold is the heart, fair Greece  ! that looks on thee, Nor feels as lovers o’er the dust they loved  ; Dull is the eye that will not weep to see Thy walls defaced, thy mouldering shrines removed By British hands, which it had best behoved To guard those relics ne’er to be restored. Curst be the hour when from their isle they roved, And once again thy hapless bosom gored, And snatch’d thy shrinking Gods to northern climes abhorr’d  ! (II, XV)

Das zwiespältige Verhältnis Byrons zu Griechenland, schwankend zwischen Bewunderung und Verachtung, mündet so in einer Anklage gegen die westliche Führungsmacht  : Byron legt nahe, dass die Briten – mehr noch als die Türken – am erbärmlichen Zustand des einst glorreichen Griechenland schuld sind. Diese überraschende Wende ermöglicht es Byron, das Osmanische Reich nirgends in Childe Harold’s Pilgrimage als Verursacher des Elends oder gar als Totengräber des ‚Abendlandes‘ anzuklagen. Vielmehr erlaubt sie ihm, das Muslimisch-Andere als das vorab Exotische zu begreifen, das poetisch verarbeitet werden kann. Sowohl in den kurz nach den beiden ersten Gesängen von Childe Harold’s Pilgrimage entstandenen Verserzählungen als auch später in Don Juan wird das Osmanische-Andere zwar durchaus auch in seiner Brutalität gezeigt  ; diese aber äußert sich weniger in staatlicher Gewalt oder religiösem Zwang als vielmehr im Verhalten von Individuen, im Charakter einzelner Figuren. Dies gilt für den Frauenmörder Hassan im „Giaour“ ebenso wie für den eifersüchtigen Vater in „The Bride of Abydos“. In Don Juan schließlich agiert der Sultan nicht so sehr als Oberhaupt eines Riesenreiches denn als Ehemann und Liebhaber. Gehörnt und verstoßen, gerät er dort zur komischen Figur. Aus dem Voraufgesagten geht hervor, dass sich Byron nicht an Erinnerungsnarrativen des ‚Abendlandes‘ beteiligte, welche dieses im Kampf gegen den Islam im Sinne eines Fortschritts- und Differenzdiskurses verwickelt sahen.14

14 Vgl. hierzu Metzger, „Erinnerungsräume“, bes. S. 33 f.

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„A ruin amidst ruins“ Individuen wiederum sind es, die Harolds Pilgerfahrt durch die Erinnerungsräume Italiens im vierten und letzten Gesang von Childe Harold prägen und welche Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart im Sinne von Kontinuität herstellen. Indem Byron Geschichte vor allem am Schicksal von Persönlichkeiten misst, daran z. B. wie Dante oder Tasso von den Machthabern in Florenz bzw. Ferrara behandelt wurden, trägt er aktiv, d. h. erzählend zu derer Mythisierung bei – ein Begriff, der in der neueren Forschung zur Erinnerungskultur, namentlich von Franziska Metzger, für dieses Phänomen verwendet wird.15 Wie wir sehen werden, hat Byrons Rezeption der römischen – und in ihrer Nachfolge der italienischen – Kultur ihrerseits zu einer Rezeption Byrons als Hüter und als Stifter abendländischen Bewusstseins geführt. Byron bzw. sein Pilger Harold wurden selbst zu gleichsam mythischen Figuren – sowohl Teil als auch Fortsetzung der abendländischen Tradition. So heißt z. B. eine bereits zehn Jahre nach Byrons Tod komponierte symphonische Dichtung von Hector Berlioz Harold en Italie (1834), und schon 1832 malte William Turner sein berühmtes Gemälde „Childe Harold’s Pilgrimage – Italy“ (Abb. 2), das von diesen Versen Byrons inspiriert wurde  : Thou art the garden of the world, the home Of all Art yields, and Nature can decree  : […] Thy very weeds are beautiful, thy waste More rich than other climes’ fertility  ; Thy wreck a glory, and thy ruin graced With an immaculate charm which cannot be defaced. (IV, XXVI)

Auch wenn der vierte Gesang von Childe Harold’s Pilgrimage erst 1817 entstanden und 1818 veröffentlicht worden ist, gibt es doch zahleiche Anknüpfungspunkte zum sechs Jahre zuvor entstandenen zweiten Canto. Vordergründig setzt Harold seine Pilgerreise fort, die ihn zuvor zwar nach Malta, nicht aber nach Italien geführt hatte.16 Auch im vierten Gesang beklagt Byron den Niedergang antiker Größe, und auch hier klingt die Verurteilung seines eigenen Vaterlandes nach, das dem Fall Venedigs tatenlos zugeschaut habe (IV, XVII). Doch anders als Griechenland, das ihn nur noch als Land15 Ebd., S. 30–34. 16 Harold gelangt – wie Byron selbst im Herbst 1816 – von der Schweiz kommend nach Italien. Byrons Aufenthalt in der Schweiz wird in Canto III von CHP thematisiert.

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Abb. 2: William Turner, Childe Harold’s Pilgrimage – Italy, 1832, public domain

schaft – „in […] form alone“ – zu beeindrucken vermag, ist Italien Byron seelenverwandt  : Er ist hier selbst eine „ruin amidst ruins“ (IV, XXV), welche ihm Geschichten von Verlust und Neubeginn erzählen. Wiederum anders als Griechenland, das selbst seine Ruinen verkauft, hat das zeitgenössische Italien seine Würde bewahrt, die Byron im Paradoxon „[t]hy wreck a glory“ (s. o.) einfängt. Und während die Griechen apathisch und unterwürfig geblieben sind, haben Roms Nachfolgestaaten ebenbürtige Dichter und Künstler hervorgebracht. Petrarca, Dante, Boccaccio, Tasso reihen sich nahtlos an die großen Römer aus Politik und Kunst an  : Brutus, Cicero, Vergil, Sylla, Caesar, Pompeius (in dieser Reihenfolge).17 Italien hat Roms Beitrag zur Kultur des Abendlandes in die Gegenwart hinübergerettet. Anders als Griechenland hat es seinen Feinden immer wieder die Stirn geboten, wie das Beispiel Petrarcas zeigt, der „arose/To raise a language, and his land reclaim/From the dull yoke of her barbaric foes“ (IV, XXX). Nirgends wird das Aufeinandertreffen von Vergangenheit und Gegenwart ergrei­ fender erfahren als in der Stadt Rom, wo der Wanderer buchstäblich über „recollections“ stolpert (IV, LXXXI) und inmitten eines „[c]haos of ruins“ (IV, LXXX) die Widerstandsfähigkeit dieser „[l]one mother of dead empires“ (IV, LXXVIII), dieser „Niobe of nations“ (IV, LXXIX) begreift. Rom, „[w]hich was the mightiest in its old command, / And is the loveliest“ (IV, XXV), hat Einfall und Katastrophen in wechselnder Gestalt erlitten und doch allen getrotzt  : „The Goth, the Christian, Time, War, Flood, 17 IV, LXXXII–LXXXVII.

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and Fire,/Have dealt upon the seven-hill’d city’s pride“ (IV, LXXX). Dieses Amalgam von Antike, Christentum und Germanentum, das Byron hier als Roms Schicksal beschreibt, wurde von Historikern lange als das Abendlandnarrativ schlechthin definiert.18 Auch Byron scheint zunächst an diesen Konsens anzuknüpfen, aber er dynamisiert, wie wir sehen werden, den überkommenen Diskurs im Laufe von Harolds Pilgerfahrt. In Rom wird Byron die Dringlichkeit politischer Veränderung bewusst  : Die Evozierung Julius Caesars ruft Erinnerungen an einen „vain man“ (IV, LXXXIX) wach, der sich als „a kind/Of bastard Caesar“ (IV, XC) entpuppt und alle Hoffnungen auf Wandel und Freiheit, die mit seinem Namen verknüpft waren, zerschlagen hat  – Napoleon  : „Can tyrants but by tyrants conquer’d be, / And Freedom find no champion […]  ?“ (IV, XCVI). Rom ist darüber hinaus ein vielschichtiger Erinnerungsraum  ; in ihm kann Geschichte in geraffter Form als zirkulär gelesen werden  : There is the moral of all human tales  ; ’Tis but the same rehearsal of the past, First Freedom, and then Glory – when that fails, Wealth, vice, corruption, – barbarism at last. And History, with all her volumes vast, Hath but one page, – ’tis better written here Where gorgeous Tyranny had thus amass’d All treasures, all delights, that eye or ear, Heart, soul, could seek, tongue ask […]. (IV, CVIII)

In Rom wird Byron schließlich auch die Dimension der Zeit einsichtig, die Zerstörerin und Bewahrerin zugleich ist  : Das einst mächtige Kolosseum ist zwar nur noch eine Ruine, doch als Ruine wird es überleben und seine Geschichte von Glanz und Elend der Gladiatoren weitererzählen. Ähnliches gilt für das Herz des Christentums, den Petersdom. Das sublime Bauwerk vermag den Betrachter nicht in Ehrfurcht erstarren zu lassen, denn auch dieser Erinnerungsraum wird von Byron dynamisch erlebt, als Ort, wo […] thy mind, Expanded by the genius of the spot, Has grown colossal, and can only find A fit abode wherein appear enshrined Thy hopes of immortality […]. (IV, CLV) 18 Vgl. Metzger, „Erinnerungsräume“, S. 31.

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Aus der Begegnung Byrons mit den lieux de mémoire römischer Größe in Antike und Gegenwart erwächst ein doppelter Handlungsbedarf, der zukunftsgerichtet ist. Zum einen leitet Byron aus der angeschauten Geschichte von Eroberung, Unterdrückung und Zerfall die Forderung ab, für Freiheit in jeder Form und überall einzustehen. Zum anderen eröffnet der dynamisierte römisch-italienische Erinnerungsraum Byron Wege zur Einsicht in sich selbst. In Rom – und dank Rom – wird der eigene Anspruch auf Unvergänglichkeit sagbar  : „there is that within me which shall tire/Torture and Time, and breathe when I expire“ (IV, CXXXVII). Angeschaute Vergangenheit ruft persönliche Vergangenheitsbewältigung hervor. So wie das antike Rom den Widrigkeiten der Zeit getrotzt und sein Erbe an Italien weitergegeben hat, so wird Byron seinen Feinden zu Hause die Stirn bieten und seine Dichtung der Nachwelt vererben. Die Gleichung ist unmissverständlich  : beide, Rom und Byron, sind unsterblich. Auf seiner Pilgerfahrt durch Italien erfährt Byron (qua Harold) historische Zusammenhänge letztlich als persönlichen Trost. Das Abendland ist in einem erbärmlichen Zustand, aber es hat Bestand und es hat Zukunft. Napoleon hat Europa nicht die erträumte Freiheit gebracht, aber Italiens Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart lehrt, dass Freiheit immer wieder gewagt werden muss. Anders als in Griechenland stellt sich in Byron daher nicht eine ohnmächtige Wut über den Gegensatz zwischen Vergangenheit und Gegenwart, einstiger Größe und jetziger Schmach ein, sondern ein – wenn auch stets ambivalentes – Gefühl der Versöhnlichkeit. Ist dieses einmal erreicht, kann die Pilgerfahrt – und mit ihr das Gedicht – getrost zu Ende gehen. In Rom hat Harold sein Ziel erreicht  : „My Pilgrim’s shrine is won, / And he and I must part“ (IV, CLXXV). So schreibt sich Byron in die Kontinuität des Abendlandes ein, das er in Griechenland und Italien als einen resonanzmächtigen, dynamischen Erinnerungsraum erlebt. Von Sokrates über Vergil und Horaz bis hin zu Dante und Petrarca hallt darin das Erbe der westlichen Kultur nach und der Wunsch, ein geistiger und auch aktiver Befreier unterdrückter Völker wie ehedem Epaminondas (II, LXXXIV) oder Rienzi (IV, CXIV) zu sein, reift in Byron im Laufe seiner Wanderschaft. In Childe Harold’s Pilgrimage ist damit der Weg vorgezeichnet, den Byron bis zu seinem Tod in Missolonghi im April 1824 beschreiten sollte – von der Unterstützung der norditalienischen Untergrundbewegung, den Carbonari, bis zum griechischen Aufstand gegen die Türken, den er mitfinanzierte und anzuführen bereit war. Dass Byron durch sein Werk und sein Wirken schon zu Lebzeiten – und erst recht nach seinem Tod – einen geradezu mythischen Status erlangen würde und dass sich einzelne Handlungsepisoden, Szenen und Figuren aus seinem Œuvre verselbständigen und in Kunst, Literatur und Musik verarbeitet und weitergereicht würden, mag Byron erahnt,

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Abb. 3: William Turner, Modern Rome – Campo Vaccino, 1839, public domain

aber in diesem Ausmaß kaum erwartet haben.19 Byron wurde gerade auch durch die unmittelbare Rezeption seiner Dichtung und seiner Persönlichkeit zu einem integralen Bestandteil des Abendlanddiskurses. Dazu trugen schon früh die vielen europäischen Künstler bei, von denen schon die Rede war. Der Maler William Turner z. B. hat sich geradezu obsessiv mit Byron befasst. Wir erinnern uns an seine in warmen Tönen gehaltene, von Childe Harold inspirierte italienische Landschaft. Turners – manche würden sagen  : romantische – Faszination für Ruinen, die er mit Byron teilte, prägt auch ein anderes Bild von ihm, das sich auf den vierten Gesang von Childe Harold bezieht (Abb. 3). Doch wohl keiner hat mehr zur Mythisierung Byrons beigetragen als der franzö­ sische Maler Eugène Delacroix. In zahlreichen Bildern stellt Delacroix Szenen aus Byrons Werken dar, so z. B. Episoden aus den „Oriental Tales“20, dem „Giaour“ (1826/1835, Abb. 4/5), dem Corsair (ca. 1831, Abb. 6) und der Bride of Abydos (1843, Abb. 7), aber auch aus Don Juan (1840)21, dem „Prisoner of Chillon“ (1834)22 und

19 Vgl. hierzu Hoffmeister, Byronismus. 20 Vgl. hierzu Garber, „Byronic Orientalism“, bes. S. 327–31. 21 Delacroix, „Le naufrage de Don Juan“, https://collections.louvre.fr/en/ark  :/53355/cl010062961. 22 Delacroix, „Le prisonnier de Chillon“, https://commons.wikimedia.org/wiki/File  :Le_Prisonnier_de_ Chillon,_illustration_d%27un_po%C3%A8me_de_Lord_Byron_(Eug%C3%A8ne_Delacroix).jpg.

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Abb. 4: Eugène Delacroix, Combat du Giaour et du Pacha, 1826, public domain Abb. 5: Eugène Delacroix, Combat du Giaour et du Pacha, 1835, public domain

Abb. 6: Eugène Delacroix, Episode du „Corsair“, 1831, public domain

Abb. 7: Eugène Delacroix, La fiancée d’Abydos, 1843–49, public domain

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Abb. 8: Eugène Delacroix, La Grèce sur les ruines de Missolonghi, 1826, public domain

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den Dramen Sardanapalus (1827)23 und Marino Faliero (1825–26)24. Sein wohl berühmtester Tribut an Byron ist das 1827 entstandene Gemälde „La Grèce expirant sur les ruines de Misso­longhi“ (Abb. 8), das George Head Hamilton „Delacroix’s memorial to Byron“25 genannt hat. *** Ich begann mit dem Urteil des englischen Kritikers und Dichters Matthew Arnold über Lord Byron. Mehr seiner Bewunderung für Goethe als seinem eigenen Geschmack folgend, gesteht Arnold Byron durchaus Größe zu, wiewohl mehr seiner Persönlichkeit denn seinem Werk. Damit ging Arnold freilich weiter als die meisten seiner britischen Zeitgenossen, namentlich die beiden poets laureate Robert Southey und Alfred Tennyson, für die Byron entweder durch sein amoralisches und unpatriotisches Leben (Southey) oder durch seine „vulgar popularity“26 sein Werk diskreditiert hatte (Tennyson). Und mit seinem Plädoyer für eine objektiven Kriterien verpflichtete Literaturbetrachtung, für die er den bis heute im angelsächsischen Raum geläufigen Begriff „criticism“ – nicht Literaturwissenschaft  ! – prägte, knüpfte Arnold, wohl unbewusst, an die von Byron praktizierte Erkundung des abendländischen Erbes an, für welches Griechenland und Rom ebenso maßgebend waren wie der Orient – allesamt Erinnerungsräume, die Byron in Childe Harold’s Pilgrimage ein erstes Mal eindrücklich besungen hat.

Literaturverzeichnis Arnold, Matthew. Culture and Anarchy and Other Selected Prose. Hg. P. J. Keating. London  : Penguin Books, 1987. Byron. Childe Harold’s Pilgrimage. In  : Byron. Poetical Works. Hg. Frederick Page. London  : Oxford University Press, 1970. S. 179–252. Byron, Poetical Works. Hg. Frederick Page. London  : Oxford University Press, 1970. Byron, The Bride of Abydos. In  : Byron. Poetical Works. Hg. Frederick Page. London  : Oxford University Press, 1970. S. 264–276. Eckermann, Johann Peter. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hg. Christoph Michel. Berlin  : Deutscher Klassiker Verlag, 2011. 23 Delacroix, „La mort de Sardanapale“, https://collections.louvre.fr/en/ark  :/53355/cl010065757. 24 Delacroix, „Exécution du doge Marino Faliero“, https://wallacelive.wallacecollection.org/eMP/eMuseum Plus?service=ExternalInterface&module=collection&objectId=65216&viewType=detailView. 25 Head Hamilton, „Delacroix’s Memorial“, S. 257–61. 26 Elfenbein, Byron and the Victorians, S. 88. Darin besonders aufschlussreich das 5. Kapitel  : „The flight from vulgarity  : Tennyson and Byron“, S. 169–205.

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Eisler, Benita. Byron  : Child of Passion, Fool of Fame. London  : Penguin Books, 2000. Elfenbein, Andrew. Byron and the Victorians. Cambridge  : Cambridge University Press, 1995. Garber, Frederick. „Beckford, Delacroix and Byronic Orientalism“. Comparative Literature Studies 18 (1981)  : S. 321–332. Head Hamilton, George. „Delacroix’s Memorial to Byron.“ The Burlington Magazine 94 (1952)  : S. 257–261. Hoffmeister, Gerhart. Byron und der europäische Byronismus. Darmstadt  : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983. Marchand, Leslie A. Byron  : A Portrait. London  : Pimlico, 1993. Metzger, Franziska. „Erinnerungsräume.“ Ausdehnung der Zeit  : Die Gestaltung von Erinnerungsräumen in Geschichte, Literatur und Kunst. Hg. Franziska Metzger und Dimiter Daphinoff. Wien/Köln/Weimar  : Böhlau, 2019. S. 19–44. Montagu, Lady Mary Wortley. Turkish Embassy Letters. Hg. Malcolm Jack. Introduced by Anita Desai. London  : Virago Press, 1996. Montesquieu. Lettres persanes. In  : Œuvres complètes. Hg. Roger Caillois. Paris  : Gallimard, 1949  ; 1996 (Bibliothèque de la Pléiade). Montesquieu. Œuvres complètes. Hg. Roger Caillois. Paris  : Gallimard, 1949  ; 1996 (Bibliothèque de la Pléiade).

Bilderverzeichnis Delacroix, Eugène. Exécution du doge Marino Faliero, 1825–1826, Wallace Collection, London. Delacroix, Eugène. Combat du Giaour et du Pacha, 1826, Art Institute of Chicago, Chicago (Abb. 4). Delacroix, Eugène. La Grèce sur les ruines de Missolonghi, 1826, Musée des Beaux-Arts de Bordeaux, Bordeaux (Abb. 8). Delacroix, Eugène. La Mort de Sardanapale, 1827, Musée du Louvre, Paris. Delacroix, Eugène. Episode du „Corsair“, 1831, Getty Museum, Los Angeles (Abb. 6). Delacroix, Eugène. Le prisonnier de Chillon, 1834, Musée du Louvre, Paris. Delacroix, Eugène. Combat du Giaour et du Pacha, 1835, Musée des Beaux-Arts de la Ville de Paris, Paris (Abb. 5). Delacroix, Eugène. Le naufrage de Don Juan, 1840, Musée du Louvre, Paris. Delacroix, Eugène. La fiancée d’Abydos, 1843–49, Musée du Louvre, Paris (Abb. 7). Phillips, Thomas. Portrait of Lord Byron in Albanian Dress, 1813, National Portrait Gallery, London (Abb. 1). Turner, William. Childe Harold’s Pilgrimage – Italy, 1832, Tate Britain, London (Abb. 2). Turner, William. Modern Rome – Campo Vaccino, 1839, Getty Center, Los Angeles (Abb. 3).

Franziska Metzger

Erinnerungsnarrative des Abendlandes und die Mythisierung von Räumen in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts In Joris-Karl Huysmans 1884 erschienenem Roman A Rebours findet sich eine mehrere Seiten umfassende Reflexion des Protagonisten Des Esseintes zu den von ihm erworbenen zwei Salomé-Werken Gustave Moreaus (Abb.  1 und 2), besonders zu Salomé dansant devant Hérode (1876)  : Un trône se dressait, pareil au maître-autel d’une cathédrale, sous d’innombrables voûtes jaillissant de colonnes trapues ainsi que des piliers romans […] dans un palais semblable à une basilique d’une architecture tout à la fois musulmane et byzantine. Au centre du tabernacle surmontant l’autel précédé de marches en forme de demi-vasques, le Tétrarque Hérode était assis, coiffé d’une tiare […]. Autour de cette statue, immobile, figée dans une pose hiératique de dieu Hindou, des parfums brûlaient […]. (104–105) […] elle [Salomé] devenait, en quelque sorte, la déité symbolique de l’indestructible Luxure, la déesse de l’immortelle Hysterie, la Beauté maudite […], la Bête monstrueuse, indifférente, irresponsable, insensible, empoisonnant […]. Ainsi comprise, elle appartenait aux théogonies de l’extrême Orient  : elle ne relevait plus des traditions bibliques, ne pouvait même plus être assimilée à la vivante image de Babylone […]. Le peintre semblait d’ailleurs avoir voulu affirmer sa volonté de rester hors des siècles, de ne point préciser d’origine, de pays, d’époque […]. (106–107) […] réunissant, fondant en une seule les légendes issues de l’Extrême-Orient et métamorphosées par les croyances des autres peuples, il justifiait ainsi ses fusions architectoniques, ses amalgames luxueux et inattendues d’étoffes, ses hiératiques et sinistres allégories aiguisées par les inquiètes perspicuités d’un nervosisme tout moderne […]. (109)1

Die zitierten Stellen bringen ein Konglomerat von Gedächtnisfeldern zum Ausdruck, das biblisches Narrativ und Vorstellungen eines antiken Orient, Byzanz, Rom und Babylon ineinanderfließen, ja ineinander aufgehen lässt. Die durch die Verschränkung verschiedener Gedächtnisfelder – ich ziehe diesen Begriff dem semantisch etwas weniger konstruktivistischen Begriff Gedächtnisbestände vor – hervorgerufene 1 Huysmans, A Rebours, Kapitel V, S. 104–109.

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Abb. 1: Gustave Moreau, Salomé dansant devant Hérode, 1876, public domain

Abb. 2: Gustave Moreau, L’Apparition, undatiert, public domain

Zeitlosigkeit, das Hin-und-Her-Oszillieren zwischen Räumen und Zeiten, lässt Salomé in Moreaus symbolistischen Werken zur (religiös) mythisierten Ursprungsfigur werden.2 Die Bilder schaffen für Des Esseintes, der das Ineinanderfließen durchaus als unsicher wahrnimmt, einen unwiderstehlichen Sehnsuchtsraum, der gar eine olfaktorische Imagination aktiviert. Szenenwechsel. In seiner Pariser Inszenierung von Arnold Schönbergs Oper Moses und Aron (2015) bringt der Regisseur Romeo Castellucci einen lebenden Stier – als ‚goldenes Kalb‘ – auf die Bühne und spielt zumindest mit dem Zeichen des Stiers als essentielle Figur des Europa-Mythos  : Entführer, Vergewaltiger, transformierter Gott, Fetisch. Dadurch ironisiert und dekonstruiert Castellucci Gedächtnisbestände  : Ein vermeintlich klarer Signifikant, durch die Verfremdung vom Kalb zum Stier geschaffen, ist radikal unsicher bis hin zu bedeutungsentleert geworden in einer von biblischen wie musikalischen Gedächtnisschichten überfrachteten und über Bilder und Trugbilder reflektierenden Oper.3 2 Zu Moreaus Salomé-Bildern siehe u. a.: Cooke, Gustave Moreau, S. 81–94  ; Darbellay, „Gustave Moreau et les charmes de la belle inertie“  ; Kukla, „A Salomé Like no Other“. 3 Castellucci, Inszenierung von Arnold Schönbergs Oper Moses und Aron, https://www.operadeparis.fr/ en/season-15-16/opera/moses-und-aron.

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Ein Jahrhundert früher – noch vor Erscheinen von Oswald Spenglers Werk – schuf Walter Ophey, Mitbegründer der expressionistischen Künstlervereinigung Junges Rheinland, das Gemälde Untergang des Abendlandes, das einen zurückgelehnten ‚Kulturkritiker‘ zeigt.4 Das Bild ist eine Ironisierung von Gedächtnisräumen von ‚Abendland‘, die alle nicht ikonographisch dargestellt werden und auf die ausschließlich semantisch Bezug genommen wird. Die Ironie wurde freilich nach Erscheinen von Spenglers Werk noch gesteigert. Ein letztes Bild  : In seinem monumentalen, für die Universität Hamburg angefertigten Triptychon Thermopylae oder Der Kampf um die Errettung des Abendlandes aus dem Jahr 1954 deutet Oskar Kokoschka die Thermopylen-Schlacht als weltgeschichtlichen Wendepunkt, aus welchem – narrativ aufsteigend – die Spartaner als sich gegen die Perser für künftige Freiheit opfernd dargestellt werden.5 Eine unmittelbare politische Verwendung dieses Narrativs in einer Überlagerung antiker und gegenwärtiger Krisenwahrnehmung6 wird eindeutig in Kokoschkas Kommentar zum Werk in einem Brief an den Geologen Leopoldo Zorzi  : „Denk an die Russen in Europa, und Du wirst die Aktualität verstehen.“7

Gedächtnisräume Die vier Beispiele öffnen den Blick auf ein Spektrum von Gedächtnisräumen und deren ikonographische Verwendung in der Konstruktion von Abendlandvorstellun­gen, indem sie zum Ausdruck bringen, wie ein Netz miteinander verwobener ikonographischer Codes und spezifischer Erinnerungsnarrative, aber auch deren Wandelbarkeit und Polyvalenz Vorstellungen von ‚Abendland‘ kreieren, aufgreifen und transformieren, gerade auch in der Kunst. Gedächtnis lässt sich als Gewebe von Codes, Interpretationsweisen und rituellen und narrativen Umsetzungen verstehen, die 4 Ophey, Untergang des Abendlandes, http://www.artnet.de/k%C3%BCnstler/walter-ophey/untergang-­ des-­abendlandes-der-kulturkritiker-leo-KssaT2ouKi1if6_aFZFbCQ2. Zu Walter Ophey siehe  : Pesch, „Walter Ophey. Künstler (1882–1930)“, https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/ walter-ophey/DE-2086/lido/5da04d78572885.08785773. 5 Kokoschka, Thermopylae oder Der Kampf um die Errettung des Abendlandes, https://fundus.uni-hamburg.de/de/collection_records/26815. Siehe auch  : Kokoschka, „Zu meinem Triptychon Die Thermopylen“. Siehe dazu  : Lehmann, „Das Triptychon Die Thermopylen“. 6 Eine Verschränkung von Erinnerungs- und Erwartungsdimension findet sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auch bei zahlreichen Autoren, so bei Christopher Dawson, bes. in  : Religion and the Rise of Western Culture (1950)  ; Understanding Europe (1952)  ; The Making of Europe (1954). 7 Zitiert in  : von Winkler, „Leonidas“, S. 617. Vgl. die Verwendung des Thermopylen-Narrativs im Hollywood-Film The 300 Spartans (Rudolph Maté, 1962).

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durch verschiedene Modi der Konstruktion – ich unterscheide deren drei – geprägt und modelliert werden.8 Sprachliche und ikonographische / visuelle Codes, einschließlich Codes des Sehens und Deutens, stellen den fundamentalen Rahmen der zwei anderen Gedächtnismodi  – symbolische und rituelle Praktiken sowie narratives Gedächtnis und Erinnerungsnarrative – dar.9 Dem liegt die Konzeption zugrunde, dass Gedächtnis linguistisch und visuell konstruiert wird, indem zum einen die Gedächtnisdimension von Sprache hervorgehoben und zugleich zugrunde gelegt wird, dass Gedächtnis eminent durch Sprache geschaffen wird. Polyvalenz, wesentlich durch Intertextualität geprägt, und Ambivalenzen schaffen dabei die Grundlage für Umschreibung, Neuinterpretation und Transformation bis hin zu radikaler Infragestellung. Letzteres lässt sich am Europa-Mythos gut aufzeigen, etwa an der Politisierung der in Variationen vielfach wiederholten ikonographischen Gedächtnisschichten bei Max Beckmann (1933)10 oder Hans Erni11. Als zweiter, aus dem linguistischen und ikonographischen Gedächtnis hervorgehender Gedächtnismodus können symbolische und rituelle Praktiken bezeichnet werden, zu welchen auch Praktiken des Zeigens und Sehens als Gebrauch von Gedächtnis in der Kunst, das Schaffen symbolischer Räume und die Inszenierung von Figuren und Ereignissen gezählt werden können.12 Als dritter, ebenfalls aus dem ersten hervorgehender und sich mit dem symbolisch-rituellen überschneidender Modus ist die Narrativität von Gedächtnis zu benennen, die narratives Gedächtnis im weiteren und Erinnerungsnarrative im engeren Sinn umfasst, insofern als Erzählen als Akt des Erinnerns bezeichnet werden kann, durch den Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbunden werden.13 Dies zeigt   8 Siehe ausführlicher zu einem Dynamiken der Konstruktion und des Gebrauchs von Gedächtnis fokussierenden kulturgeschichtlich-poststrukturalistischen Zugang  : Daphinoff/Metzger, „Einleitung“  ; Metzger, „Memory of the Sacred Heart“.   9 Für die zugrundeliegenden poststrukturalistischen Positionen siehe  : White, Metahistory  ; ders., Tropics of discourse  ; Megill, „Recounting the Past“. 10 Beckmann, Raub der Europa, https://www.akg-images.de/archive/Der-Raub-der-Europa-2UMDHU 23SZ6S.html. 11 So zumindest in den Varianten von 1955 und 1958 seiner mehrfachen Bearbeitung des Mythos  : Erni, Europa und der Stier, http://www.artnet.com/artists/hans-erni/europa-and-the-bull-_Lnb3vBRTkKn IIHZGTv4Mg2  ; ders., Nackte Frau auf Stier, https://www.worthpoint.com/worthopedia/hans-erninude-bull-1749772530. 12 Siehe ausführlicher dazu  : Metzger, „Memory of the Sacred Heart“. Konzeptuell weiterführend  : Macho, Das zeremonielle Tier  ; Morgan, Images at Work  ; Laube, Von der Reliquie zum Ding  ; Olick, „From Collective Memory to the Sociology of Mnemonic Practices and Products“  ; Popp et al. (Hg.), The EU Project „Museums Exhibiting Europe“ (EMEE). 13 Zu narrativistischen Positionen in der Gedächtnisforschung siehe neben White und Megill (Anm. 9) auch  : Erll, „Narratology and Cultural Memory Studies“  ; Nünning, „Selektion, Konfiguration, Perspek­

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sich in der Mythisierung von Räumen, Figuren und Ereignissen besonders ausgeprägt. Mythisierung verstehe ich dabei als die Kreation gut verbindbarer, oft polyvalenter symbolischer Partikel, die häufig einen großen Grad an Stabilität aufweisen, da sie in verschiedene Erinnerungsnarrative integriert und damit zugleich auch umgeschrieben werden können.14 Als zentrale Gedächtnisfelder, welche Abendlandvorstellungen in der Kunst prägten und aus denen Erinnerungsnarrative eines ‚Abendlandes‘ geschaffen wurden, während sie teilweise ihrerseits bereits als solche strukturiert waren, können unterschieden werden  : A) antike Mythen (im engeren Sinn) sowie Figuren und Ereignisse der Antike, die ihrerseits mythisiert wurden, B) biblische Narrative, C) weitere historische – v. a. als von besonderer christlicher Relevanz gedeutete – Ereignisse und Figuren, v. a. mittelalterliche, aber auch zeitgenössische des späten 18. und 19. Jahrhunderts und deren Mythisierung, D) arabische Erzählungen, besonders Narrative im Kontext der Erzählungen von 1001 Nacht, und Imaginationsräume von ‚Orient‘. Die Analyse zeigt, dass sich diese vier Gedächtnisfelder häufig verschränkten, dass sie zu textlichen wie ikonographischen Geweben von Erinnerungsnarrativen verarbeitet wurden, aus welchen wiederum neue (ikonographische) Gedächtnisräume hervorgehen konnten. Die Komplexität von Verschränkungen und Transformationen erfordert eine Tiefenanalyse, welche Mechanismen der Konstruktion in den Fokus rückt und dabei auch unser eigenes, heutiges Bildgedächtnis als Deutungsgedächtnis kritisch reflektiert. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, wie durch Affirmation und Fixierung, Aneignungen und Umwandlungen solcher Gedächtnisschichten Erinnerungsräume des Abendlandes in der Kunst des ‚langen‘ 19. und mit einigen Perspektiven ins 20. Jahrhundert geschaffen und vermittelt wurden. Dabei unterscheide ich mit Dimiter Daphinoff zwei Formen von Erinnerungsräumen15  : a) Erzählräume bzw. visuelle Imaginationsräume im Sinne von Narrativen und Praktiken in Text und Bild als Erinnerungsräume sowie b) durch Erinnerungsnarrative geschaffene imaginierte, ‚erzählte‘ Räume, die aus ersteren hervorgehen. In den

tivierung und Poiesis“  ; Neumann, „The Literary Representation of Memory“  ; Buschmann, „Geschichte im Raum“  ; Metzger, „Erinnerungsräume“. 14 Zu einem dynamischen, konstruktivistischen Konzept von Mythos siehe bes. semiotische Mythentheorien, so  : Lévi-Strauss, „The Structural Study of Myth“  ; ders., Myth and Meaning  ; Barthes, Mythologies  ; White, Tropics of Discourse  ; ders., „Catastrophe, Communal Memory and Mythic Discourse“. Narrativistische Zugänge sind in den letzten Jahren in der kulturwissenschaftlichen Mythenforschung verstärkt verfolgt worden. Siehe u. a.: Vietta/Uerlings (Hg.), Moderne und Mythos  ; Ghervas/Rosset (Hg.), Lieux d’Europe  ; Wintle, „Visualizing Europe“  ; Den Boer/Duchart/Kreis/Schmale (Hg.), Europäische Erinnerungsorte. 15 Daphinoff/Metzger, „Einführung“.

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visuellen Imaginationsräumen (a) verschränken sich Gedächtnisschichten aus verschiedenen Zeiten, verschiedene Codes und deren Reproduktion und Integration in neue Deutungszusammenhänge bis hin zur Mitführung als Negativfolien in radikaler Transformation. Als imaginierte Erinnerungsräume (b), Räume also, die durch visuelle und narrative Praktiken konstruiert werden, sind im Zusammenhang der Konstruktion von Abendlandvorstellungen Grenz-Räume und Xenotopien als „Orte der Aneignung des Fremden“ durch das „dominante Eigene“16 sowie die Mythisierung von Räumen und das Schaffen von Heterotopien im Sinne Foucaults als „gänzlich andere“ Vorstellungs- und Sehnsuchts-Orte von besonderem Interesse17. Für Mythisierung und Heterotopie, die zudem häufig ineinanderfließen, so etwa im Falle Jerusalems oder auch Roms, sind Mechanismen der Sakralisierung und Entzeitlichung zentral – in der Mythisierung durch Kontinuitätskonstruktion und eine telologische Perspektive, im Falle der Heterotopie als Herausgehobensein aus der Zeit. Sie äußern sich in der Schaffung eines ‚ewigen Raumes‘, im Präsentmachen von abwesendem Vergangenem und räumlich Entferntem sowie in der von Roland Barthes bezüglich mythisierten Narrativen festgehaltenen „Naturalisierung“18 von Geschichte. Auf diese Mechanismen der Konstruktion von Erinnerungsräumen werde ich im Folgenden vertiefter eingehen, wobei eine Systematisierung entlang verschiedener Typen von Erinnerungsnarrativen in Kunstwerken des 19. Jahrhunderts vorgenommen werden soll. Gerahmt sehe ich diese von einem teleologischen Metanarrativ, das sich in interpretativen Strukturen niederschlug und sich in Zeitkonzeptionen ausdrückte, wobei ein heilsgeschichtlicher, Abendland providentiell deutender und ein kulturalistischer Typus unterschieden werden können. Ersterer war besonders auf Räume und Orte wie Jerusalem und Rom, Personen wie Augustus oder Karl den Großen sowie Ereignisse wie etwa die Kreuzzüge ausgerichtet. Letzterer prägte – mit genealogisch gestalteter Begründungsstruktur – Kontinuitäts- und Fortschritts- sowie Überlegenheitsnarrative, aber auch kulturpessimistische  – lineare oder zyklische  – Zerfalls- und Niedergangsnarrative.

Mythisierung und Sublimität eines antiken Kulturraums Ein erster Narrativkomplex lässt sich als Narrativ der Mythisierung eines abendländischen Kulturraums mit Bezug auf die Antike bezeichnen, welcher sich als grundle16 Barth/Halbach/Hirsch, „Einleitung“, S. 17. 17 Foucault, Des espaces autres. 18 Barthes, Mythologies, S. 202.

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gendes Narrativ aus der Analyse von Kunstwerken herausarbeiten lässt, ähnlich wie eine Untersuchung von historiographischen und geschichtsphilosophischen Texten sowie von Geschichtsschulbüchern den Kulturbegriff als Masterkonzept ergeben hat.19 Es lässt sich von der Schaffung eines Gedächtnisraums als Kulturraum sprechen, in welchem das, was als ‚abendländische Kultur‘ – ja als Quintessenz davon – imaginiert wurde, mythisiert wurde. Dies geschah breit angelegt durch die Zelebrierung dieser Kultur und dessen, was als ihre Ursprünge stilisiert wurde. So wurde besonders die Sublimität antiker Mythen durch deren Neuinszenierung zum zentralen Bezugsfeld einer Genealogie ‚abendländischer Kultur‘. Für Werke zum Europa-Mythos im 19. Jahrhundert kann von einer freilich Gedächtnissichten früherer Kunstwerke mitführenden20, den Mythos als solchen feiernden Dynamik gesprochen werden, besonders im Symbolismus, welchem auch die meisten Werke zugeordnet werden können, so bei Gustave Moreau (vgl. Abb. 3). Die Zelebrierung ‚abendländischer Kultur‘ zum unmittelbaren Thema macht Jean-Dominique Ingres in seiner Apothéose d’Homer (1827) (Abb.  4), einer monumentalen Inszenierung des Homer, in der er die griechische Kultur zum Ursprung abendländischer Kultur erhebt und sich selbst zugleich formal in die Reihe griechischer Kunst und Literatur einfügt. Spezifischer wurden zentrale Figuren, Orte und Räume, denen besondere Signifikanz zugeschrieben wurde, mythisiert. Dabei wurden gerade auch antike Mythen ‚mythisiert‘ im Sinne einer neuen, dynamischen Gedächtniskonstruktion von ‚Abendland‘. Zentrale Erzählräume der Antike  – so der Europa-Mythos und insbesondere Vergils Aeneis – wurden in der Kunst zu Erinnerungsräumen ausgeformt, die die Sublimität des vorgestellten Abendlandes aufzeigen sollten. So wurden zentrale Codes (oder gar Narrative) des Ursprungsmythos Europas, die gerade dessen Ambivalenz und Polyvalenz ausmachen, ikonographisch umgesetzt  : das Spiel zwischen Liebe und Entführung / Gewalt, Verlust und Neufindung/-fundierung von Heimat (Verortung und Entortung), Einheit und Differenz, Kontinuität und Erneuerung sowie die Hybridität, welche in der Figur der Europa angelegt ist. ‚Orientalische Andersartigkeit‘ wurde nicht nur in den europäischen Erinnerungsraum integriert, 19 Essentialistische und entzeitlichte Vorstellungen eines Abendlandes finden in der Historiographie wie auch in Geschichtslehrmitteln des 20. Jahrhunderts bis in die 1960er und 1970er Jahre ihre konzen­ trierte semantische Ausformung im Kulturbegriff, der auf Einheit fokussiert, potentiell universalistisch und zugleich exklusiv ist. Der Kulturbegriff konnte mit Religion oder mit anderen Elementen wie ‚Geist‘ – in Begriffen wie ‚geistige Einheit‘ und ‚geistiges Erbe‘ – verbunden werden, die ihrerseits mehr oder weniger stark mit Religion verbunden sein konnten. 20 Dies zeigte sich besonders im frühen 19. Jahrhundert, etwa in William Hiltons Werk The Rape of Europa, https://artuk.org/discover/artworks/the-rape-of-europa-219649.

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Abb. 4: Jean-Auguste Dominique Ingres, ­L’Apothéose d’Homer, 1827, public domain

Abb. 3: Gustave Moreau, Jupiter et Europe, 1869, public domain

sondern teilweise gar als den Mythos wesentlich ausmachendes Element inszeniert, so besonders bei Gustave Moreau (Abb. 3)21 und – stärker antikisierend, griechisch und christlich fusionierend  – bei Jean-Dominique Ingres (Abb.  5). Gerade indem Gedächtnisbestände miteinander verbunden wurden, entstand der für Mythisierung zentrale Mechanismus der Eternisierung und der Schaffung einer geistigen Heterotopie. Bei William Turner wird besonders die lichtdurchflutete Landschaft, in welcher der Bulle und Europa – mehr denn die besser sichtbaren Begleiterinnen – richtiggehend verschwinden (wobei das Bild möglicherweise unvollendet blieb), mythisiert. Gerade über die örtlich-räumliche Unschärfe wird dem Mythos Sublimität verliehen.22 Darüber hinaus ist bezüglich eines antiken Kulturraums die selbstreflexive Dimension betreffend die eigene Kunst zu nennen, insofern sich Künstler – besonders des Akademismus  – selbst in eine Kontinuität ‚abendländischer‘ Kunst stellten, in den Gedächtnisraum der Antike einschrieben. Dieses Narrativ lässt sich neben solchen zum Europa-Mythos durchaus auch in den Werken zu Vergil und Augustus finden, die fast seriell besonders im Frankreich des späten 18. und frühen 19. Jahrhun21 Weiter auch  : Moreau, L’enlèvement d’Europe, https://www.musee-orsay.fr/fr/oeuvres/lenlevement-deu rope-1073. 22 Turner, Europe and the Bull, https://www.taftmuseum.org/blog/posts/2018/december/j-m-w-turner-seuropa-and-the-bull-telling-a-story-with-light-and-atmosphere.

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Abb. 5: Jean-Auguste Dominique Ingres, L’Enlèvemenet d’Europe, 1865, Harvard Art Museums/ Fogg Museum, Bequest of Grenville L. Winthrop, Photo © President and Fellows of Harvard College, 1943.378

derts entstanden, so von Jean-Joseph Taillasson (1787) (Abb. 6), Jean-Baptiste Wicar (1790), Jean-Dominique Ingres (1809/19) und Jean-Bruno Gassies (1814), aber auch von der schweizerisch-österreichischen Künstlerin Angelika Kauffmann (1788).23 Aus der Verbindung von Autor und Herrscher heraus lässt sich durchaus auch eine Kontinuität für das künstlerische Schaffen von Erinnerungsräumen bis in die Gegenwart der Künstler selber interpretieren. In einem Konglomerat von Gedächtnisschichten, in welchem christliche und antike Codes miteinander verschränkt werden, stellt sich Gustave Moreau in seinem selbstreflexivem Werk Inspiration (1893) seinerseits in eine Linie mit Poeten und Künstlern der Antike und der Renaissance.24 23 Wicar, Virgile lisant l’Eneïde devant Augustue et Livie, https://www.artic.edu/artworks/17161/virgil-reading-the-aeneid-to-augustus-octavia-and-livia  ; Ingres, Virgile lisant l’Enéide devant Auguste, Livie et Octavie, https://www.christies.com/features/Deconstructed-Ingres-Virgil-reading-from-the-Aeneid-­ 9121-1.aspx  ; Gassies, Virgile lisant son Enéide devant Auguste, https://fr.wikipedia.org/wiki/Fichier: Virgile_lisant_son_%C3%89n%C3%A9ide_devant_Auguste,_Jean-Bruno_Gassies,_Salon_1814.jpg#/ media/Fichier:Virgile_lisant_son_%C3%89n%C3%A9ide_devant_Auguste,_Jean-Bruno_Gassies,_Sa lon_1814.jpg  ; Kauffmann, Virgil Reading His Aeneid to Octavia and Augustus, https://www.hermitagemuseum.org/wps/portal/hermitage/digital-collection/01.+Paintings/38460/. 24 Moreau, Inspiration, https://www.artic.edu/artworks/104463/l-inspiration.

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Abb. 6: Jean-Joseph Taillasson, Virgile lisant l’Enéide devant Auguste et Octavia, 1787, Alamy stock photos

Überlagerung von Antike, biblischem Ursprungsraum und christlichem Europa Die Überlagerung von Antike, biblischem Ursprungsraum und christlichem Europa kann als zweiter Narrativkomplex bezeichnet werden. In der Aufschichtung verschiedener antiker Instanzen sowie von Antike und Christentum als Ursprungsmythos wurde ein Narrativ der Abfolge und Translatio als Narrativ organischer Fortentwicklung gestaltet.25 Elemente dieses Narrativs finden sich in Kunstwerken, welche die Bedeutung antiker Figuren für spätere Zeiten kreieren. Besonders wirkmächtig ge25 Dieses Narrativ lässt sich zahlreich in der Historiographie, insbesondere auch in Geschichtslehrmitteln des 20. Jahrhunderts finden. Siehe in der Schweiz beispielsweise  : Mühlebach, Welt- und Schweizergeschichte, Bd. 2  : Das Abendland, S. 1  ; Mühlebach, Welt- und Schweizergeschichte, Bd. 3  : Das Schicksal des Abendlandes, S. 1  ; Müller, Benzigers Illustrierte Weltgeschichte, bes. S. 30, 37.

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Abb. 8: Lionel Royer, Auguste au tombeau d’Ale­ xandre, 1878, Privatbesitz, public domain

Abb. 7  : François Schommer, Auguste au tom­ beau d’Alexandre, 1878, Beaux-Arts de Paris, Dist. RMN-Grand Palais / image Beaux-arts de Paris

schah dies in der Synchronisierung des Augustus und des Alexander als mythisierte Figuren eines Abendlandnarrativs, für die ein gemeinsamer Erinnerungsraum geschaffen wurde und die zugleich christlich vereinnahmt wurden. Die Überlagerung der beiden Figuren wurde in den 1870er Jahren fast seriell umgesetzt, wiederum besonders in Frankreich (in Werken, die zumeist 1878 fertiggestellt wurden26), so von Jean-Eugène Buland (1870–78), François Schommer (1878) (Abb. 7), der mit diesem Bild den Grand Prix de Rome gewann, Gustave Courtois (1878), Pascal Adolphe Jean Dagnan-Bouveret (1893)27 und in einer orientalisierenden Version von Noël Royer (1878) (Abb.  8). Das Erinnerungsnarrativ der Imitatio Alexandri, das den Bildern zugrunde liegt und das in die ausgehende römische Republik zurück reicht, wurde ins Frankreich des 19.  Jahrhunderts transportiert  : Am Grab des Alexander (oder auch des Augustus) könnte sich der Betrachter unschwer Napoleon vorgestellt haben  ; eine Verschränkung von Abendland und Nation, eine Einbettung der Nation in eine abendländisch-erhabene, heroische Kontinuität, so könnte man interpretieren. 26 Eine Ausnahme stellt Johann Heinrich der Ältere Tischbein dar mit Augustus legt eine Krone auf das Grab Alexanders (1781), https://commons.wikimedia.org/wiki/File  :Pompeo_Batoni_-_Aeneas_flee ing_from_Troy,_1753.jpg. 27 Buland, Auguste au tombeau d’Alexandre, https://commons.wikimedia.org/wiki/File  :Buland_Auguste_ au_tombeau_d%27Alexandre.jpg  ; Courtois, Auguste au tombeau d’Alexandre, https://commons.wikimedia.org/wiki/File  :Gustave_Courtois_1878.JPG  ; Dagnan-Bouveret, Auguste au tombeau d’Alexandre, https://commons.wikimedia.org/wiki/File  :Dagnan_Bouveret_Auguste_au_tombeau_d%27Alexandre. jpg.

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Die Aufschichtung von Antike und Christentum, die Synchronisierung und Kontinuitätskonstruktion ist auch in der Stilisierung des Augustus zum Proto-Christen, zur für die Translatio entscheidenden Gestalt zu finden, wie sie von Jean-Léon Gérôme in L’Age d’Auguste, la naissance du Christ (1852–54) monumental inszeniert wurde (Abb.  9)  : Apotheose des Augustus und Geburt Christi werden im Bild zusammengezogen, zentralperspektivisch miteinander verbunden, formal übereinander geschichtet und damit zu einem gemeinsamen Ursprungs- und Gedenknarrativ verflochten. Die Bedeutungskonstruktion beider Figuren im dadurch geschaffenen Erinnerungsnarrativ geschieht durch die jeweilige Bedeutung des anderen.28 Das teleologische Hinstreben Roms zu einem höchsten Ziel, dem ‚goldenen Zeitalter‘ der Pax Romana, und darüber hinaus dessen Mission für die ‚westliche K ­ ultur‘ wurde selbstverständlich schon in der Gestalt des Aeneas angelegt. Die quasi heilsgeschichtliche Bedeutung, die ihm als Ermöglicher eines künftigen christlichen Roms zugeschrieben wurde – für deren Notwendigkeit auch Didos Selbstmord Bedeutung erhält, wie etwa in Johann Heinrich Füsslis Dido (1781), welches auf die Sublimität des Liebestods verweist29 –, wird besonders in den stark narrativ gestalteten Darstellungen der Fluchtszene des Aeneas – von Pompeo Batoni (1753) bis zum Impressionisten Emmanuel Zairis im frühen 20. Jahrhundert – gut sichtbar.30 Auch Théodore Géricaults Le songe d’Enée  – dem Traum, in welchem Aeneas Anchises erscheint  – weist auf die Größe und den Geschichtsauftrag Roms voraus.31 Die Aeneas- und Augustus-Narrative in der Kunst entsprechen einer breiteren Erinnerungskonstruktion – mit Beteiligung gerade auch von Historikern – mit Langzeitwirkung noch in die 1950er und 60er Jahre. So bezeichnete der britische Historiker Christopher Dawson 1950 Aeneas als „a kind of pilgrim father […] who was charged with the providential mission to found a new city and bring the gods to Latium“, als „Same“, dessen Schicksal darin bestanden habe, eine neue Welt zu schaffen.32 Ebenso (quasi) heilsgeschichtliche – wenn auch nicht religiös gedachte – Bedeutung erhielt Alexander, so in Stepan Wladislawowitsch Bakalowitschs Alexander vor

28 Siehe zu Gérômes Werk auch  : Benson Miller, „Gérôme and Ethnographic Realism at the Salon of 1857“, S. 110–111. 29 Füssli, Dido, https://de.wikipedia.org/wiki/Datei  :Henry_Fuseli_-_Dido_-_Google_Art_Project.jpg. 30 Batoni, Enea fugge da Troia, https://commons.wikimedia.org/wiki/File  :Pompeo_Batoni_-_Aeneas_ fleeing_from_Troy,_1753.jpg  ; Zairis, Aeneas saving his father through the flames of Troy, https://www. wikiart.org/de/emmanuel-zairis/aeneas-saving-his-father-through-the-flames-of-troy. 31 Géricault, Le songe d’Enée, https://www.wikigallery.org/wiki/painting_76058/Theodore-Gericault/LeSonge-D%27enee. 32 Dawson, Religion and the Rise of Western Culture, S. 24, im Kontext eines Diskurses der Erneuerung des Abendlandes.

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Abb. 9: Jean-Léon Gérôme, L’Age d’Auguste, la naissance du Christ, 1852–54, public domain

den Toren Jerusalems (1879)33  – man vergleiche damit kurz Jean-Léon Gérômes Entrée du Christ à Jérusalem (1897)34  – oder in Gustave Moreaus monumental inszeniertem Triumph d’Alexandre le Grand (1873) (Abb. 10), mit spezifischem Bezug auf den Sieg gegen den indischen König Porus35, einem Konglomerat von Gedächtnisschichten mit bedeutender orientalisierender Dimension. Ein weit nach Indien gezogener Erinnerungsraum wird als möglicher Zukunftsraum aus Monument und Landschaft zugleich geschaffen. Auch in der antikisierenden Darstellung fränkischer Szenen der Christianisierung und christlichen Mission für ein ‚Abendland‘ manifestiert sich ein Narrativ der Aufschichtung. So stellt sich Jules Alfred Vincent Rigos Taufszene des Clovis (1871) (Abb. 11) zum einen in einen antiken Gedächtnisraum und zum anderen in einen solchen ikonographischer Umsetzung seit dem frühen Mittelalter. Wenn auch in der Mehrheit entsprechender Werke die christliche ikonographische Verankerung dominiert, ist durchaus die frühchristlich-biblisch-römisch-orientalische Verortung des Gedenkens an die ‚Christianisierung des Abendlandes‘ bedeutend, so auch in Jean 33 Bakalowitsch, Alexander vor den Toren Jerusalems, https://www.culture-images.de/ci-bildansichtci01295408/stepan-wladislawowitsch-bakalowicz-stepan-wladislawowitsch-bakalowicz-alexander-­ der-groe-vor-den-toren-von-jerusalem-bakalowitsch-stepan-wladisslawowitsch.html. 34 Gérôme, Entrée du Christ à Jérusalem, https://commons.wikimedia.org/wiki/File  :G%C3%A9r%C3%B4me_-_L%27entr%C3%A9e_du_Christ_%C3%A0_J%C3%A9rusalem_-_cadre.jpg. 35 Siehe dazu  : https://musee-moreau.fr/collection/objet/le-triomphe-dalexandre-le-grand.

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Abb. 10: Gustave Moreau, Le triomphe d’Alexandre le Grand, 1873, public domain

Alaux dit Le Romains Le Baptême de Clovis (1825).36 Der mythisierten Gestalt des Clovis sind denn auch Christustopoi zentral eingeschrieben, deren nationale und transnationale Bedeutung ineinanderfließen. Solche Szenen haben durchaus ikonographische Kontinuität in bzw. zu Jacques-Louis Davids Le sacre de Napoléon (1805– 1807).37 Nahe beim vorausgehenden Typus und auf diesem begründet sind Narrative des Fortschreitens, ja des Fortschritts und der Zivilisierung zu sehen. Sind sie in historiographischen, kulturphilosophischen und Lehrmittel-Texten häufig zu finden, so stellt 36 Alaux, Le Baptême de Clovis, https://musees-reims.fr/oeuvre/bapteme-de-clovis. 37 David, Sacre de l’empereur Napoléon Ier, https://www.louvre.fr/en/explore/the-palace/think-big.

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Abb. 11: Jules Alfred Vincent Rigo, Le Baptême de Clovis, 1871, Musée des Beaux-Arts de Valen­ ciennes

sich die Frage, wie Fortschritt in der Kunst dargestellt wurde. Instanzen von Narrativen des Fortschreitens können in der Kunst in den genannten Beispielen mit Bezug zur Antike und darüber hinaus besonders mit Bezug auf die Karolingerzeit und die frühe Christianisierung sowie auf die Kreuzzüge gefunden werden. Dabei zeigen sich nationale und transnationale Dimensionen in einem komplexen Verhältnis. Das Narrativ Karls des Großen als Erneuerer des Römischen Reiches ist ein zentrales Beispiel. In der Krönungsszene zum Römischen Kaiser im Jahr 800 von Friedrich Kaulbach (1861) zeigt sich die Translatio imperii symbolisch (niedergesunken vorne Irene von Byzanz, rechts der Biograph Einhard, der an der Vita Caroli Magni schreibt) (Abb. 12). Einige stark narrative Bilder zu Karl fokussieren explizit auf Szenen transnationaler Bedeutung des Protagonisten für ein ‚christliches Abendland‘, so etwa Jean-Victor Schnetz’s Charlemagne, entouré de ses principaux officiers, reçoit Alcuin (1830). Der wichtigste Berater Karls und Begründer der karolingischen Renaissance erhält eine teleologische Bedeutung für die Zukunft des ‚christlichen Abendlandes‘.38 Daneben steht das Narrativ der Mission der Franken für ein Abendland, das stärker national aufgeladen ist, jedoch nicht ausschließlich. Dieses kommt etwa in der Szene der Unterwerfung Widukinds, Herzog von Sachsen, als ein auf die Fortentwicklung, 38 Schnetz, Charlemagne, entouré de ses principaux officiers, reçoit Alcuin, https://collections.louvre.fr/en/ ark  :/53355/cl010062456.

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Abb. 12: Friedrich Kaulbach, Krönung Karls des Großen, 1861, public domain

Abb. 13: Carl von Steuben, Bataille de Poitiers, 1837, public domain

besonders Christianisierung des Abendlandes ausgerichtetes Ereignis zum Ausdruck, für die Paderborn zu einem wichtigen Erinnerungsort wurde, so bei Ary Scheffer in Charlemagne reçoit la soumission de Widukind à Paderborn (1835).39 Parallel zum Christianisierungsnarrativ lässt sich ein solches der Bewahrung und Verteidigung des Abendlandes feststellen, das bereits in den Schlachten von Tours und Poitiers mit Karl Martell als ‚Proto-Retter des Abendlandes‘ einsetzt, in dessen lange Kontinuität sich weitere Feldherren und Herrscher stellen sollten. Neben Delacroix’40 und Kaulbachs Werken ist mit Blick auf die Fixierung ikonographischer Codes Carl von Steubens Bataille de Poitiers (1837) besonders interessant (Abb. 13), zeigt sich hier doch die Figur der weiss strahlenden christlichen Frau, welche besonders gefährdet erscheint, eine Figur, die zeitgenössische Bedrohungsnarrative in der Kunst wesentlich prägte.

Differenzkonstruktionen und Inkorporierung von Erinnerungsräumen Aus den in den vorausgehenden zwei Kapiteln dargestellten Narrativkomplexen wird das Verständnis einer Kulturgemeinschaft  – als geistiger, moralischer, spiritueller Gemeinschaft – geschaffen, die (im religiösen Sinn und darüber hinaus) durch die

39 Scheffer, Charlemagne reçoit la soumission de Widukind à Paderborn, https://fr.wikipedia.org/wiki/ Fichier  :Ary_Scheffer,_Charlemagne_re%C3%A7oit_la_soumission_de_Widukind_%C3%A0_Pader born,_(1840).jpg. 40 Delacroix, Bataille de Poitiers (1830), https://commons.wikimedia.org/wiki/File  :Delacroix_Bataille_ de_Poitiers.jpg.

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Verschränkung verschiedener Zeiten und teilweise auch Räume sakralisiert wird und eine teleologische Mission verfolgt. Erinnerungsräume des Abendlandes in der Kunst wurden darüber hinaus auch durch kontinuierliche Differenzkonstruktion geschaffen, wobei wiederum verschiedene Varianten dieses Narrativs unterschieden werden können. In einem Narrativ der Bedrohung durch den Islam und geschichtswirksamer Kämpfe wurden lange Kontinuitäten vom frühen Mittelalter bis in die Gegenwart konstruiert, wobei sich ältere und jüngere Konfliktlagen in der Erinnerungskonstruktion überlagerten und gerade ältere Konfliktlagen durch räumliche und narrative Festschreibung aktualisiert und dadurch essentialisiert wurden. Die einzelnen Ereignisse – umgesetzt als Schlüsselereignisse, ja Wendepunkte – erhielten zukunftswirksame Bedeutung für den Erhalt und die weitere Entwicklung eines ‚christlichen Abendlandes‘. In der Produktion von Bedrohungsnarrativen im 19.  Jahrhundert überlagerten sich, so könnte man in der Analyse eines großen Samples von Bildern sagen, islamische Bedrohungslagen verschiedenster Jahrhunderte  – von Tours und Poitiers, besonders von französischen Künstlern umgesetzt, über Spanien nach Ostmitteleuropa41 mit Kontinuität bis in die damalige Gegenwart. Vergangene Siege und das Zurückdrängen der Bedrohung werden dabei teleologisch in die Zukunft gezogen, wodurch spätere Ereignisse in der Erinnerungskonstruktion durch die früheren eine Bedeutung erhalten und umgekehrt. Dabei wurde für die Gegenwart des 19. Jahrhunderts Griechenland zum bedrohten Raum schlechthin. Das Narrativ der Bedrohung ist unmittelbar mit einem Bollwerknarrativ ‚christlicher Zivilisation‘ gekoppelt. Ein zentraler Topos desselben zeigt sich in der Kunst des 19.  Jahrhunderts etwa in der Darstellung von Frauen als Allegorien des Christentums, die von muslimischen ‚Barbaren‘ bedroht, rein und (noch) unbesiegt konstruiert werden. Das prominenteste und damit selbst zum Narrativ prägenden Bild gewordene Werk ist Eugène Delacroix’ La Grèce sur les ruines de Missolonghi (1826).42 Als krudere Beispiele unmittelbaren Kampfs sind Jaroslav Čermáks Razzia von Baschi-Bosuks in einem christlichen Dorf in der Herzegowina (1861) (Abb. 14), Jean-Baptiste Huysmans Die Gefangene (1862) oder Henri Félix Philippoteaux Die Entführung (1844) zu nennen.43 Einen weiteren wesentlichen Topos stellen Unterwerfungsszenen muslimischer Herrscher dar, etwa in Horace Vernets Le giaour vainqueur d’Hafsan 41 Hier überwiegt die Zahl der ‚zeitgenössichen‘ Bilder aus dem 17. und 18. Jahrhundert, während entsprechende Szenen im 19. kaum wieder aufgenommen wurden. 42 Delacroix, La Grèce sur les ruines de Missolonghi, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Eug%C3% A8ne_Ferdinand_Victor_Delacroix_017.jpg. Siehe dazu Dimiter Daphinoffs Beitrag in diesem Band. 43 Huysmans, Die Gefangene, abgedruckt in  : Diederen, “Über die Grenzen.„‚ S. 50  ; Philippoteaux, Die Entführung, ebd., S. 53.

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(1827)44 im griechischen Kontext und zahlreich in Bildern zur Reconquista – großmehrheitlich von spanischen Künstlern umgesetzt  –, so zur Legende des ‚ultimo suspiro del moro‘ (Fall von Granada), etwa durch Francisco Pradilla45, in welchem dem Ort, ja der Landschaft besondere Bedeutung in der Erinnerungskonstruktion zukommt. Ein weiterer Typus lässt sich in Gestalten finden, die als Verteidiger des Christentums stilisiert werden konnten, etwa in Carl Rahls Graf Kollonitz, Bischof von Wiener Neustadt, befreit die Kinder der ermordeten Christen aus dem türkischen Lager (1683) (Abb. 15). Mehr oder weniger explizit auf Differenz und einem Überwinden dieser Differenz durch Aneignung von Raum basieren Narrative der Expansion und Mission. Sie sind besonders in Kreuzzugsnarrativen präsent, in welchen Expansion und Mission unmittelbar miteinander verschränkt wurden. Wiederum stark narrative Bilder inszenierten die Besitznahme – als Rückeroberung – Jerusalems in einer Verbindung von Kriegs-/Eroberungsszenen46 und religiöser Prozession, ein Erinnerungsnarrativ, in welchem die (Re-)Sakralisierung des ‚Heiligen Landes‘ durch die abendländischen Christen als religiöse Tat umgesetzt werden konnte. Dies zeigt sich paradigmatisch in Jean Victor Schnetz’s Procession des croisées autour de Jérusalem (1841) ähnlich wie in Karl von Pilotys Eroberung Jerusalems durch Gottfried von Bouillon (1861), wo die Errichtung des Kreuzes im Fokus steht.47

44 Vernet, Le giaour vainqueur d’Hafsan, http://www.artnet.de/k%c3%bcnstler/emile-jean-horace-vernet­ /le-giaour-vainqueur-dhafsan-hassanengraved-by-6JzHhaY9Y3xV_-9ENNhb2Q2. 45 Pradilla, El suspiro del moro, https://commons.wikimedia.org/wiki/File  :El_suspiro_del_moro,_por_Fran cisco_Pradilla.jpg. Siehe weiter  : ders., La rendición de Granada, https://commons.wikimedia.org/wiki/ File  :La_Rendici%C3%B3n_de_Granada_-_Pradilla.jpg  ; Dehodencq, Les Adieux du roi Boabdil à Grenade, https://www.musee-orsay.fr/fr/oeuvres/ladieu-du-roi-boabdil-grenade-921  ; Menocal, La Jura de Santa Gadea, https://en.wikipedia.org/wiki/File  :La_Jura_de_Santa_Gadea._Armando_Menocal._1889. JPG  ; Hiráldez Acosta, Jura del rey Alfonso VI en Santa Gadea, https://www.senado.es/web/conocer senado/arteypatrimonio/obrapictorica/fondohistorico/detalle/index.html?id=SENPRE_014084. Siehe auch das Werk des englischen Künstlers William Ewart Lockhart The Cid and the Five Moorish Kings (1880), https://artuk.org/discover/artworks/the-cid-and-the-five-moorish-kings-186762. 46 So in diversen Werken zu Richard Löwenherz, etwa Abraham Coopers Richard I at the Battle of Ascalon, https://www.christies.com/en/lot/lot-4302305), Edouard Henri Girardets Reprise du château de Jaffa occupé par Saladin par le roi d’Angleterre Richard Cœur de Lion (https://art.rmngp.fr/en/library/ artworks/edouard-henri-girardet_reprise-du-chateau-de-jaffa-occupe-par-saladin-par-le-roi-dangleterre-richard-coeur-de-lion_huile-sur-toile_1844) oder Eloi Firmin Férons Bataille d’Arsûf, https: //www.photo.rmn.fr/archive/13-605364-2C6NU0L98877.html. 47 Schnetz, Procession des croisées autour de Jérusalem, https://collections.louvre.fr/en/ark  :/53355/cl0102 39506  ; von Piloty, Eroberung Jerusalems durch Gottfried von Bouillon, https://www.bayern.landtag.de/ maximilianeum/landtagsgebaeude/historische-galerie/.

Erinnerungsnarrative des Abendlandes 

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Abb. 15: Carl Rahl, Graf Kollonitz, Bischof von Wiener Neustadt, befreit die Kinder der ermordeten Christen aus dem türkischen Lager (1683), 1853, public domain

Abb. 14: Jaroslav Čermák, Razzia von Baschi-­ Bosuks in einem christlichen Dorf in der Herze­ gowina, 1861, akg-images

In einem Narrativ ‚moderner Kreuzzüge‘ wurden darüber hinaus Erinnerungsnarrative aus früheren Jahrhunderten auf zeitgenössische Ereignisse und Figuren transferiert, die dadurch zusätzliche Bedeutung in der Konstruktion eines kontinuierlichen Abendlandnarrativs erhielten. Sie wurden durch eine entsprechende Synchronisierung mythisiert, so besonders Napoleon, aber – Jahrzehnte später – auch etwa Kronprinz Friedrich von Preußen. Napoleon wird wiederholt als Herrscher und Expeditionsleiter zugleich inszeniert  : von Schlachtszenen und Szenen der Überlegenheit wie in Pierre Narcisse Guérins Bonaparte fait grace aux révoltés du Caire (1806) oder Léon Cogniets La Bataille d’Héliopolis (1837)48 hin zu teilweise monumentalen Szenen Napoleons in Ägypten wie in Gérômes Bonaparte devant le Sphinx (1867/68) (Abb. 16) oder Cogniets L’Expédition d’Egypte (1827–1835).49 Die Monumentalität der ägyptischen Kulturgüter wird parallel gesetzt zu Napoleons Monumentalität. Über die Aktivierung des Erinnerungsnarrativs der Kreuzzüge wird die (Rück-)Aneignung eines durch die Kreuzzüge prädestiniert abendländischen Raumes begründet, ja legitimiert. Das deutsche Beispiel 48 Guérin, Bonaparte fait grace aux révoltés du Caire, https://fr.wikipedia.org/wiki/Fichier:Pierre-Narcisse_Gu%C3%A9rin_-_Bonaparte_fait_grace_aux_revolutes_du_Caire_23._Octobre_1798.jpg  ; Cogniet, La Bataille d’Héliopolis, https://fr.wikipedia.org/wiki/Fichier :Cogniet_Leon_Bataille_D_Heliopo lis.jpg. 49 Cogniet, L’Expédition d’Egypte, https://fr.wikipedia.org/wiki/Fichier  :L%C3%A9on_Cogniet_-_L%27Ex p%C3%A9dition_d%27Egypte.jpg. Siehe auch  : Karl Girardet, Napoléon en Egypte, in  : L’Univers illustré, https://www.pop.culture.gouv.fr/notice/joconde/06070052594. Zu Napoleon und der Ägyptomanie in der Kunst siehe  : Warmenbol, „Napoleon und die Ägyptomanie“.

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Abb. 16: Jean-Léon Gérôme, Napoléon devant le Sphinx, 1867/68, public domain

einer moderne Kreuzzugsszene schlechthin stellt Wilhelm Gentzens Kronzprinz Friedrich in Jerusalem (1876) dar (Abb.  17). Inszeniert als triumphaler Einzug durch das Tor, durch das Gottfried von Bouillon in Jerusalem eingedrungen war, und mit klarem Christustopos werden historische – nationale und transnationale – und religiöse Erinnerungsdimension miteinander verschränkt, wobei sich ikonographisch zugleich eine Aneignung des durchaus orientalisierten Raumes in der Verschränkung von militärischer Uniform und orientalischem Kopfschmuck zeigt. Die ‚abendländische‘ Signifikanz, die dem Ereignis eingeschrieben wird, zeigt sich auch in der Anwesenheit von Vertretern europäischer Mächte neben örtlichen Behörden. Ebenso häufig, wenn nicht häufiger als kriegerische oder politisch-religiöse Narrative der Differenz sind in der Kunst Narrative einer Essentialisierung kultureller Differenz zu finden. Sie zeigen sich zum einen im verbreiteten und in einer Vielzahl von Variationen auffindbaren Topos des ‚Stillstands des Orients‘ als a-modernem, dem Entwicklungsdenken entgegenlaufendem Raum, eine Perspektive, welche mehr oder weniger stark mit als abendländisch erachteten Moralvorstellungen und Werten der Zivilisiertheit einherging. Narrative eines zeitentrückten Orients zeigten sich in Darstellungen von als alltäglich erachteten Lebensweisen, etwa in Marktszenen, wie jenen von Frank Buchser (1880), Straßen-, Haus- und Hofszenen, wie jenen von John Frederick Lewis (Abb. 18)50, oder aber in speziellen, als zeitlos exotisch erachteten, 50 Buchser, Markt von Tanger, https://www.kunstmuseum-so.ch/franco-supino-markt-von-tanger  ; ­Lewis,

Erinnerungsnarrative des Abendlandes 

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Abb. 17: Wilhelm Gentz, Einzug des Kronprinzen Friedrich Wilhelm von Preußen in Jerusalem, 1876, public domain

in der Tendenz statischen und wenig ‚produktiven‘ Tätigkeiten wie dem Opiumrauchen – etwa in Jules Lecomte de Nouÿs Le Fumeur d’opium – oder dem Schlangenbeschwören – umgesetzt von Jean-Léon Gérôme in Le charmeur de serpents (1879), einem seiner bekanntesten Werke.51 Drogen, Visionen und Träume, ob sie wie in Jules Antoine Lecomte du Nouÿs Le Songe de l’eunuque (1874) (Abb. 19) oder Achille Zos Rêve du croyant (1870) ‚orientalischen‘ Männern zugeschrieben wurden52 oder viel eher Teil der Kreation eines magisch-erotischen, eskapistischen Vorstellungsraums Harem waren, stellten den wohl häufigsten und populärsten Typus in diesem Narrativ kultureller Differenzkonstruktion dar. Zeitentrücktheit prägte auch die Imagination und Ikonographie des Harem wesentlich.53 Sie wurde seit Antoine Gallands Übersetzung ins Französische

The street and mosque al Ghouri in Cairo, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:John_Frederick _Lewis_The_street_and_mosque_al_Ghouri_in_Cairo.JPG. 51 Lecomte de Nouÿ, Le Fumeur d’opium, https://commons.wikimedia.org/wiki/File  :Lecomte_du_Nouy_ Opium_Smoker.jpg  ; Gérôme, Le charmeur de serpent, https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Jean-L%C3%A9on_G%C3%A9r%C3%B4me_-_Le_charmeur_de_serpents.jpg. 52 Zo, Rêve du croyant, https://commons.wikimedia.org/wiki/File  :Achille_zo_reve_du_croyant_1870.jpg. 53 Unter der zahlreichen Literatur zu Harem-Vorstellungen und -Darstellungen siehe  : Opitz-Belakhal, „Der Harem als Projektionsraum der europäischen Aufklärung“  ; Cavaliero, Ottomania.

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Abb. 18: John Frederick Lewis, Study for The Courtyard of the Coptic Patriarch’s House in Cairo, 1864, public domain

im frühen 18. Jahrhundert wesentlich von den Erzählungen von 1001 Nacht54, aber auch etwa von François Bouchers Odalisken55 und später von Opern wie Luigi Cherubinis Ali Baba (1833) und Nikolai Rimski-Korsakows Scheherazade (1888) geformt und prägte auch den Erwartungshorizont orientreisender Künstler. Gedächtnisbe54 Galland, Les mille et une nuits  : contes arabes (1704–1717). Galland bildete die Grundlage für weitere Übersetzungen, so ins Englische durch Lane, Thousand and One Nights (1839–1841). 55 Boucher, L’Odalisque, 1742, https://collections.louvre.fr/en/ark  :/53355/cl010054816  ; ders., L’Odalisque, 1745, https://collections.louvre.fr/en/ark  :/53355/cl010066348.

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stände eines Imaginationsraums sinnlicher Projektionen – teilweise als Heterotopie –, welche die künstlerische Darstellung lasziver Harem-Szenen und spezifisch von Odalisken in Erwartung ihres fürstlichen Liebhabers ermöglichten, wurden in der Kunst durch eine Vielzahl in den ikonographischen Codes ähnlich strukturierter Werke gefestigt. Einflussreich waren besonders Jean-Auguste-Dominique Ingres La petite beigneuse (1828), L’odalisque à l’esclavage (1839) oder auch Le bain turc (1862) – sehr ähnlich etwa Charles Gleyres Les bagneuses aus der gleichen Zeit – und Eugène Delacroix mit seinem ebenfalls frühen Werk Les femmes d’Alger dans leur appartement (1834), der später besonderen Einfluss auf die Impressionisten haben sollte.56 Die Perspektive auf die weiss, ja im Kontrast mit dem orientalischen Dekor, lokalen Frauen und Eunuchen hell erleuchteten, mehrheitlich nackten Körper variierte. So fällt der Blick des Betrachters seitlich von hinten, wie in Lecomte du Nouÿs L’esclave blanche (1880) (Abb. 20) oder Jean-Léon Gérômes Après le bain (1850) oder aber frontal auf die Odaliske wie in Théodore Chassériaus Harem (1852).57 Henri Matisse, um einen unter diversen Künstlern der Moderne zu nennen, die sich mit der Thematik auseinandersetzten, transformierte zum Teil geläufige ikonographische Codes, insofern er etwa Fantasiefarben an die Stelle sachlicher Details stellte. Zugleich verwendete er jedoch auch orientalisch anmutende Teppiche und Stoffe zur Inszenierung, reproduzierte Codes der Erotik und teilweise der Exotik58  ; allein die Titel seiner diversen Werke aus den 1920er Jahren evozieren stark verankerte Gedächtnisräume.59 56 Ingres, La petite beigneuse, https://collections.louvre.fr/en/ark  :/53355/cl010059112  ; ders., L’odalisque à l’esclavage, https://commons.wikimedia.org/wiki/File  :Ingres_Odalisque_esclave_Fogg_Art.jpeg  ; ders., Le bain turc, https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Dominique_Ingres_-_Le_Bain_turc.jpg  ; Gleyres, Les bagneuses, https://www.akg-images.co.uk/archive/Les-Baigneuses-2UMDHU4JPNRY.html  ; ­Delacroix, Les femmes d’Alger dans leur appartement, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Womenof Algiers.JPG. 57 Gérôme, Après le bain, https://fr.wikipedia.org/wiki/Fichier:Jean-L%C3%A9on_G%C3%A9r%C3%B4 me_-_After_the_Bath.jpg  ; Chassériau, Intérieur de harem, https://www.musees.strasbourg.eu/oeuvre-­ musee-des-beaux-arts/-/entity/id/220488. 58 „Le thème réveille en lui l’ ,heureuse nostalgie‘ de ses séjours en Algérie, au Maroc ou à Séville. […] Ce que recherche le peintre c’est l’intégration d’un corps modelé et ombré dans un décor ornemental qui affirme la planéité du tableau. L’odalisque lui permet d’intégrer dans ses compositions l’art décoratif islamique, qu’il admirait tant, surtout depuis l’exposition de Munich en 1910.“ (Kommentar des Musée de l’Orangerie zu Matisse  : https://www.musee-orangerie.fr/fr/oeuvres/odalisque-bleue-ou-les clave-blanche-196468). 59 Matisse, Odalisque bleu ou esclave blanche, https://www.musee-orangerie.fr/fr/oeuvres/odalisque-­ bleue-­ou-lesclave-blanche-196468  ; ders., Odalisque couchée aux magnolias, https://www.christies.com/ features/Lot-8-Henri-Matisse-Odalisque-couchee-aux-magnolias-8984-6.aspx  ; ders., Odalisque à la cu­lotte rouge, https://www.musee-orangerie.fr/fr/oeuvres/odalisque-la-culotte-rouge-196473  ; ders., Odalisque, harmonie en rouge, https://www.metmuseum.org/art/collection/search/489997  ; ders., Oda-

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Abb. 19: Jules Antoine Lecomte du Nouÿ, Le songe de l’eunuque, 1874, public domain

Abb. 20: Jules Antoine Lecomte du Nouÿ, L’esclave blanche, 1888, public domain

Schaffung heterotoper religiöser Erinnerungsräume Narrative der Aneignung und Inkorporierung (und weniger der Differenz), der Sakralisierung von Raum und der Schaffung von Heterotopie stellen ein wichtiges Feld in der Kunst dar. Dabei ist die räumliche Dimension fluktuierend, wird besonders der ‚orientalische‘ Raum einbezogen  – was durchaus auch als expansiv inkorporierend gedeutet werden kann. Im Narrativ des ‚Heiligen Landes‘ kommt dies besonders klar zum Ausdruck. Insgesamt lege ich die These zugrunde, dass in der Kunst die Verschränkung verschiedener ikonographischer Gedächtnisfelder und Erinnerungsräume stark ist und dass Aneignungen, Inkorporierungen entsprechend häufig sind, gerade auch, wenn es um die Konstruktion von Kontinuität und Zeitlosigkeit geht. Häufig äusserten sich solche Verschränkungen, v. a. im Symbolismus, so auch etwa bei englischen Präraphaeliten wie Dante Gabriel Rossetti, in einer Orientalisierung, einem Ineinanderfließen von Gedächtnisräumen von Orient und Okzident.60 Dies kommt im Europa-Mythos konzentriert zum Ausdruck  : das Überschreiten von Grenzen im Narrativ erhält auch formal seinen Ausdruck durch ikonographische Gedächtnisbestände, die konglomeriert werden. Über antike Gestalten hinaus ist durchaus auch eine Orientalisierung biblischer Figuren, so auch etwa in Gustave Moreaus Cantique des cantiques lisque à la culotte grise, https://www.musee-orangerie.fr/fr/oeuvres/odalisque-la-culotte-­grise-196476. 60 Siehe Sasso, The Pre-Raphaelites and Orientalism  ; Schrader, Themes of Pre-Raphaelite Orientalism.

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(1893) oder Edward Poynters Visit of the Queen of Sheeba to King Solomon (1890)61 zu finden. Auch Figuren wie Engel wurden von Moreau orientalisiert, tragen orientalischen Schmuck wie in Jacob et l’Ange (1874–1878), welcher in die christliche Symbolik hinein montiert wird. Eine vielschichtige Orientalisierung – Licht und Landschaft betreffend – findet sich in Charles Gleyres Le Déluge (1856), einem weiten Panoramabild, dessen Ausleuchtung der Erscheinung der beiden Engel in vollem Flug ein übernatürliches Licht verleiht.62 Dass sich auch Künstler selbst in orientalischen Kleidern inszeniert haben, hat Dimiter Daphinoff eindrücklich dargestellt.63 Auch William Holman Hunt, auf den ich gleich zu sprechen komme, hat sich in einem Selbstporträt im Kontext seiner Reise in den Nahen Osten in Szene gesetzt.64 Eine weitere zentrale Form des Narrativs der Aneignung stellt die Inkorporierung sakraler biblischer Ursprungsräume, besonders Jerusalems und des ‚Heiligen Landes‘ in das Abendland dar. Die Kontinuitätsdarstellung eines zeitlosen Orients, der in zunehmender Differenz zum ‚fortschrittlichen Europa‘ dargestellt wurde, hatte in Bezug auf das ‚Heilige Land‘ eine besondere Bedeutung. Im Rahmen der Suche nach Quellen ‚europäischer Zivilisation‘, besonders des Christentums, wurde mit Fokus auf Palästina und vor allem Jersualem in der Kunst des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein heterotoper Erinnerungsraum für das vorgestellte Abendland kreiert. Bibelzentrierte Themen in der Kunst wurden sowohl durch Vertreter historischer Bibelkritik wie durch deren Kritiker, vor allem evangelikaler Provenienz propagiert, die nach Beweisen suchten, dass die Bibel wörtlich zu verstehen sei. So schufen zahlreiche Darstellungen unberührter und unveränderter Landschaft des ‚Heiligen Landes‘ einen zentralen heterotopen Erinnerungsraum. In den zahlreichen Veduten Jerusalems  – darunter besonders zu erwähnen das monumentale Jerusalem-Rundgemälde (Panorama) von Bruno Piglhein, das 1886 in München ausgestellt wurde und, da es zerstört wurde, nur noch 61 Moreau, Cantique des cantiques, https://www.ohara.or.jp/en/gallery/le-cantique-des-cantiqueshymn/  ; Poynter, Visit of the Queen of Sheeba to King Solomon, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:%27 The_Visit_of_the_Queen_of_Sheba_to_King_Solomon%27,_oil_on_canvas_painting_by_Edward_ Poynter,_1890,_Art_Gallery_of_New_South_Wales.jpg. Vgl. auch Gleyre, La reine de Saba. 62 Moreau, Jacob et l’Ange, https://fr.wikipedia.org/wiki/Fichier  :Gustave_Moreau_-_Jacob_et_l%27ange. jpg  ; Gleyre, Le Déluge, https://www.mcba.ch/collection/le-deluge/. 63 Siehe Dimiter Daphinoffs Beitrag im vorliegenden Band. 64 Holman Hunt, Self-portrait, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:William_Holman_Hunt_-_Selfportrait.jpg. Siehe dazu auch  : Landow, „William Holman Hunt’s ‚Oriental Mania‘ and His Uffizi Self-Portrait“. Siehe weiter auch das orientalisierende Porträt Horace Vernets von Frédéric Auguste Antoine Goupil-Fesquet, https://commons.wikimedia.org/wiki/File  :Costume_de_Mr_Horace_Vernet_pendant_ son_voyage_-_Goupil-fesquet_Fr%C3%A9d%C3%A9ric_Auguste_Antoine_-_1843.jpg, ebenso Wilkie, Mrs Elisabeth Young in Eastern Costume, https://www.tate.org.uk/art/artworks/wilkie-mrs-elizabeth-­ young-in-eastern-costume-n01727 und Reynolds, Mrs Baldwin, https://www.metmuseum.org/.

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in Form einer Fotoserie besteht – war die möglichst realitätsgetreue Darstellung zen­ tral, welche die religiöse Aufladung des ‚Heiligen Landes‘ in sich bergen und jeglicher Missrepräsentation standhalten können sollte.65 Dabei war zugleich die dramatische Inszenierung und der Standort der Betrachtung wichtig, der auch im Titel der Werke festgehalten wurde, so etwa in Louis Nicolas Philippe Auguste de Forbins frühem Vue de Jérusalem près de la vallée de Josaphat (1825)66 oder Frederic Edwin Churchs Jerusalem from the Mount of Olives (1870) (Abb. 21).67 Der Betrachtungsstandpunkt trug zur heilsgeschichtlichen Bedeutung der dargestellten Topographie wesentlich bei. Dabei inszenierten nicht zuletzt Künstler sich selbst auf ihren Reisen im Topos des ‚in den Fussstapfen Christi Tretens‘. Abbé Jean-Jacques Bourassé etwa (Abb. 22), dessen Werk La Terre Sainte mit Stichen Karl Girardets 1860 erschien, schrieb  : „Partout nous recueillons les traditions bibliques et nous suivons avec amour les pas de Jésus-Christ. […] Notre foi est victorieuse de toutes les attaques parce qu’elle n’a subi aucune altération dans l’Eglise romaine, à travers tous les âges, en remontant jusqu’aux apôtres et à Jésus Christ.“68 Die Landschaft wurde mythisiert, sakralisiert und spiritualisiert, was durch eine in der Authentizitätsstrategie – man könnte mit Roland Barthes von einem ‚effet du réel‘ sprechen69 – angelegte Entzeitlichung und durch die Überlagerung vergangener und gegenwärtiger Erfahrung in der Darstellung einer durch die Künstler ‚erfahrenen‘ Landschaft geschah. Der britische Präraphaelit Thomas Seddon hielt in seinen Memoir and Letters fest  : It is impossible to look today on the slopes of Zion and Olivet without feeling that one treads on holy ground. […] When I came in sight of Jerusalem, I never felt so sudden a revulsion of feeling as when I saw the very ground on which Christ had lived a life of ­pover­ty and neglect. It no longer seemed a tale of two thousand years ago, but His sufferings and agony and death for me and other sinners became such a vivid reality, that I could scarcely help burst into tears.70 65 Zehn Fotos des Jerusalem-Rundgemäldes (Panorama) von Bruno Piglhein, 1886 in München ausgestellt  : https://de.wikipedia.org/wiki/Bruno_Piglhein#/media/Datei:Piglhein_Jerusalem_Rundgemaelde. jpg. Siehe zu Piglhein auch  : De Hond, „Der religiöse Osten“, S. 140 und 144. 66 de Forbin, Vue de Jérusalem près de la vallée de Josaphat, https://collections.louvre.fr/en/ark  :/53355/ cl010062955. 67 Siehe weitere Bilder in  : Les juifs dans l’Orientalisme (Le voyage en terre sainte, S. 111–136 sowie La bible est née en orient, S. 139–155). 68 Bourassé, „Introduction“, in  : ders., La Terre Sainte, S. 12. 69 Barthes, „L’effet du réel“. 70 Seddon, Memoir and Letters of the Late Thomas Seddon, zit. in  : Boime, „William Holman Hunt’s The Scapegoat“, S. 104.

Erinnerungsnarrative des Abendlandes 

Abb. 21: Frederic Edwin Church, Jerusalem from the Mount of Olives, 1870, public domain

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Abb. 22: Jean-Jacques Bourassé, Abbé, ­Jérusalem – vue générale de la ville et des environs, in: La Terre Sainte. Gravures par Karl Girardet, public domain

Er glaubte, dass „a great work“ zu vollbringen sei, „which wants every labourer – to show that Art’s highest vocation is to be the handmaid to religion and purity […].“71 Mythisierung und Sakralisierung kommen in Seddons Jerusalem and the Valley of Jehoshaphat from the Hill of Evil Counsel (1854/55) in ihrer einen biblischen Erinnerungsraum als Heterotopie konstituierenden Wirkung besonders gut zum Ausdruck (Abb. 23).72 Seddon verschränkt verschiedene Deutungsdimensionen Jerusalems miteinander  : als sakraler Ort in der sakralen Landschaft des Tempelbergs, als Ort mit imminenter heilsgeschichtlicher, ja apokalyptischer Bedeutung (das Tal Josaphat als symbolischer Ort der Auferstehung und der Schäfer als Symbol der Wiederkunft Christi am Ende der Zeiten) und als Ort individueller religiöser Erfahrung. Die Erfahrung der Landschaft wird als Erfahrung der Heilsgeschichte gedeutet, welche ihrerseits durch den jetzt-zeitlichen Erfahrungsbezug und in der realitätsgetreuen Darstellung im Bild an Authentizität gewinnen soll. Die realistische Naturdarstellung sollte eine offenbarungsbezogene, apokalyptische Deutungsebene eröffnen. Allerdings wird das symbolische Programm Seddons nur durch Einträge in seinen Memoirs und einem dem Bild nicht beigegebenen Manuskript eines Gedichts mit dem Titel Moriah sichtbar, in welchem die Präfiguration der Heilsgeschichte im Ort des Tempelbergs entzeitlicht und ewig dargestellt wird, wie George P. Landow aufgezeigt hat.73 Jean-Léon Gérômes 1867 entstandenes Werk Golgotha. Consummatum est  ! (Abb.  24) dramatisiert den heilsgeschichtlich entscheidenden Moment auf ‚heiliger‘ Erde mit einem 71 Ibid. 72 Siehe dazu auch  : Metzger, „Erinnerungsräume“, S. 35–37. 73 Landow, „Thomas Seddon’s Moriah“. Siehe weiter auch  : Smith, „The Sublime in Crisis“.

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Abb. 23: Thomas Seddon, Jerusalem and the Valley of Jehoshaphat from the Hill of Evil Coun­ sel, 1854–55, public domain

Abb. 24: Jean-Léon Gérôme, Golgotha. Con­ summatum est!, 1867, public domain

filmisch anmutenden spektakulären Effekt des Erscheinens der drei Kreuze aus dem Off  : ein vielschichiger, heterotoper Erinnerungsraum.74 Verräumlichung wurde immer wieder mit einer detaillierten Darstellung von Menschen, besonders aus der Bibel, verbunden  : originales Setting und vermeintlich originale Menschen als Authentizitätsstrategie. Dabei zeigt sich eine arabisierende Darstellung der Juden, die der Vorstellung der Zeitlosigkeit entsprach, so etwa in Horace Vernets Jérémie sur les ruines de Jérusalem (1844).75 Diese Vorstellung ließ sich durchaus auch mit zeitgenössischen physiognomischen Studien der peinture étnographique und der Typologisierung arabischer und jüdischer ‚Rasse‘ stützen, die als Belege dafür hinzugezogen wurden, wie die Menschen zur Zeit Christi ausgesehen hätten. Codes des Sehens wurden geschaffen, welche ethnographischen und religiösen Blick verbanden. So hielt etwa Théodore Chassériau 1846 in einem Brief an Frédéric Chassériau fest  : „Dans Constantine qui est élevée sur des montagnes énormes, on voit la race arabe et la race juive comme elles étaient à leur premier jour.“76 Die entsprechenden Rassevorstellungen waren stark von historischen Denkmustern und konkret von der Suche der Quellen europäischer Zivilisation geprägt, konglomerierten sich freilich zunehmend mit Rasselehren, wie sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden und rasch populär wurden. In William Holman Hunts The Finding of the Saviour in the Temple (1854–60) hebt sich Christus physiognomisch von den jüdischen Figuren – Pharisäer, Rabbi, Musiker – ab.77 Ironischer Weise hatte Hunt auf 74 Siehe dazu auch  : Metzger, „Erinnerungsräume“, S. 35–37. 75 Vernet, Jérémie sur les ruines de Jérusalem, https://fr.wikipedia.org/wiki/Fichier  :SA_160-Jeremia_op_ de_puinhopen_van_Jeruzalem.jpg. Dazu auch  : Benson Miller, „Wissenschaftlicher Orientalismus  ?“, S. 136  ; du Bourg, „Le turban, la toge et le keffieh“. 76 Théodore Chasseriau an Frédéric Chassériau, Philippeville, 13. Juni 1846, zit. in  : Benson Miller, „Wissenschaftlicher Orientalismus  ?“, S. 117 und 280. 77 Holman Hunt, The finding of the Saviour in the Temple, https://www.birminghammuseums.org.uk/

Erinnerungsnarrative des Abendlandes 

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seiner Reise keine jüdischen Modelle gefunden, die sich für das Bild zur Verfügung stellten, so dass er dieses in England fertigstellte.78 Zur Darstellung der Juden als orientalisiertes ‚Other‘, einhergehend mit einem insbesondere evangelikalen Impetus der christlichen Erneuerung (zu der auch die Missionierung der Juden gehörte), trug gerade auch die Malerei eines Seddon und Holman Hunt durch die Schaffung eines christlich-abendländischen Ur-Raumes bei. *** Die Analyse ikonographischer Aneignungen und Abwandlungen von Gedächtnisräumen und von deren Verarbeitung zu Geweben von Erinnerungsnarrativen eines ‚Abendlandes‘, aus denen wiederum neue Gedächtnisräume hervorgehen konnten, in der Kunst des 19.  Jahrhunderts hat mehrere Narrativkomplexe zum Vorschein gebracht. Narrative der Mythisierung eines ‚abendländischen Kulturraumes‘ mit Bezug auf die Antike zeigten sich in der Zelebrierung der Sublimität antiker Kultur, in der Mythisierung von Figuren, Orten und Räumen sowie von Erzählungen – so gerade auch in der Mythisierung antiker Mythen im Sinne einer neuen, dynamischen Gedächtniskonstruktion  – und in der Selbsteinschreibung von Künstlern in den Gedächtnisraum der Antike. Narrative der Überlagerung von Antike, biblischem Ursprungsraum und christlichem Europa lassen sich in der Schaffung einer Aufschichtung von Antike und Christentum als organischer Fortentwicklung, in der Antikisierung von Szenen der Christianisierung im Mittelalter sowie in Fortschrittsund Zivilisierungsnarrativen festmachen. Weiter wurden Erinnerungsräume des Abendlandes in der Kunst durch kontinuierliche Differenzkonstruktion geschaffen, sei es durch Narrative der Bedrohung und christlicher ‚Bollwerke‘, sei es in Narrativen der Expansion und Mission – so gerade auch in Narrativen ‚moderner Kreuzzüge‘ – sowie in Narrativen der Essentialisierung kultureller Differenz, insbesondere mit Bezug auf die Konstruktion eines a-modernen, magisch-erotischen und zumindest teilweise heterotopen ‚Orient‘. Narrative der Aneignung und Inkorporierung sind in der Verschränkung verschiedener Erinnerungsräume in der Konstruktion von Abendlandvorstellungen besonders bedeutsam, wie sie sich in der Orientalisierung von Erzählungen und – gerade auch biblischer – Figuren sowie der Inkorporierung sakraler biblischer Ursprungsräume, besonderes Jerusalems und des ‚Heiligen Landes‘, ins ‚Abendland‘ zeigt. Durch die verschiedenen Narrativtypen schufen eine explore-art/items/1896P80/the-finding-of-the-saviour-in-the-temple?search_terms%5Bartist%5 D%5B%5D=William+Holman+Hunt+%28Artist%29. Zu Hunt, v. a. auch zu diesem Bild siehe  : Landow, „Shadows Cast by the Light of the World“, S. 481–482  ; Schrader, Themes of Pre-Raphaelite Orientalism. 78 Boime, „William Holman Hunt’s The Scapegoat“, S. 101–104.

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Vielzahl von Kunstwerken des 19. Jahrhunderts mythisierte, sakralisierte, heterotope entzeitlichte Erinnerungsräume des Abendlandes.

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3 ABENDLANDDISKURSE IN DER SCHULE

Melanie Stempfel

Erinnerungsnarrative des Abendlandes der Basler Mission und deren mediale Vermittlung an Schweizer Schulen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Die außer-europäische Welt war bis weit ins 20. Jahrhundert überwiegend Abenteurern, Geschäftsreisenden, Forschern und nicht zuletzt Missionaren vorbehalten.1 Nur wenige Europäer arbeiteten und lebten so unmittelbar und langfristig in der außer-europäischen Peripherie wie Missionare.2 Missionsgesellschaften, wie die Basler Mission, gehörten zu den ersten globalen Institutionen, die ihre Mitglieder aus verschiedenen Ländern rekrutierten und eine funktionierende internationale Zusammenarbeit, das heißt, auch den Austausch von Informationen, Richtlinien und Personal etablierten.3 Durch die Verbreitung von Vorstellungen ‚des Fremden‘ wird implizit immer auch das eigene, bestens Bekannte mittransferiert. Angesichts des Wissenstransfers vom Missionsgebiet nach Basel und der anschließenden Verbreitung dieses Wissens, kann die Basler Mission als Produzentin von ‚Erinnerungsnarrativen des Abendlandes‘ angesehen werden. ‚Abendland‘ verstand die europäische Bevölkerung bis weit in das 20. Jahrhundert hinein als bewusste Abgrenzung gegenüber dem ‚nicht christlichen Morgenland‘.4 Diese Abendlandvorstellungen sind in der Schnittmenge verschränkter Bereiche wie Nation, Orient  – Okzident, Fortschritt, Zivilisierung, Auserwähltsein, Missionierung, Selbst- und Fremdbild bis hin zur Feindbildkonstruktion anzusiedeln. Gedächtnisbestände werden in einem bestimmten Erinnerungsraum vermittelt und gefestigt. Die Basler Missionare waren nicht nur Überbringer des christlichen Glaubens, Forscher oder Wissenschaftler, sondern gestalteten die eigene und fremde Kultur nachhaltig mit und produzierten Erinnerungsnarrative des ‚christlichen Abendlandes‘ und des ‚nicht-christlichen Morgenlandes‘, die durch unterschiedliche Vermittlungsformen in der Schweiz verbreitet wurden.5 Der Fokus auf die Basler Mission als Produzentin und Vermittlerin von Erinnerungsnarrativen des ‚Abendlandes‘ 1 2 3 4

Vgl. Harries/Maxwell, „Europäische Missionare und afrikanische Christen“, S. 98. Vgl. Wendt, „Einleitung  : Missionare als Reporter und Wissenschaftler in Übersee“, S. 7. Vgl. Harries/Maxwell, „Europäische Missionare und afrikanische Christen“, S. 98. Vgl. Hürten, „Europa und Abendland  – zwei unterschiedliche Begriffe politischer Orientierung“, S. 9–15. 5 Vgl. Conrad/Osterhammel, „Eingeborenenpolitik in Kolonie und Metropole“, S. 107–128.

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in Schweizer Schulen und auf die mit ihr verbundenen Medien markiert den Untersuchungszeitraum dieses Aufsatzes in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts. In diesem Artikel werden die verschiedenen Vermittlungsformen von Narrativen, die in den öffentlichen Schweizer Schulen eine wesentliche Rolle spielten oder sogar für den Unterricht und das schulische Umfeld geschaffen wurden, aufgegriffen und erläutert. Überdies wird auf den Wissenstransfer der Basler Mission von der Peripherie zum Mutterhaus in Basel eingegangen, um anschließend die Bedeutung des Lehrkörpers, dessen Aus- und Weiterbildungen sowie die vermittelten Erinnerungsnarrative an Schweizer Schulen darzulegen. Die europäische Kenntnis über die Kontinente Afrika und Asien bezüglich Geografie, Kultur, Gesellschaft, Geschichte und Religion war in entscheidendem Maße ein Produkt der kolonialen und missionarischen Vergangenheit. Mit der europäischen Expansion in fremde Gebiete ging auch das Interesse an der Erforschung der nicht abendländischen Welt einher. Das neugewonnene Wissen aus der Fremde wurde bis weit in das 20. Jahrhundert nachhaltig in den europäischen Wissensstand eingegliedert  : Europäer begegneten dem neuen Wissen nicht nur in der Schule, sondern auch bei Freizeitaktivitäten wie kolonialen Brettspielen, Sammelbildern, Reiseliteratur, Vorträgen von Reisepredigern, Völkerschauen, Museen oder Lichtbildern.6 Diese breite Fächerung der Vermittlung neuen Wissens, nicht nur auf kolonialer oder missionarischer Ebene, sondern darüber hinaus, veränderte das europäische Denken.7 Das Wissen über außer-europäische Räume und die Selbstwahrnehmung der europäischen Zivilisation als Kultur entwickelte sich in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis.8 Mit ‚Wissen‘ ist sozialanthropologisches Wissen gemeint, also die Darstellung kultureller, sozialer sowie religiöser Gesellschaftsmerkmale. In Berichten und Darstellungen werden Menschen fremder Gebiete als Vertreter eines ganzheitlichen kulturellen, religiösen, sozialen und geografischen Raums betrachtet und definiert. Diese Erzählungen des Fremden werden aus einer spezifischen Perspektive und Interessenlage heraus formuliert.9 Durch den Wissenstransfer werden gleichzeitig beide beteiligten Kulturen verändert. ‚Kultur‘ wird hier als Gedächtnis sozialer Gruppen bezeichnet, das einem ständigen Wandel unterliegt. Dadurch werden Aspekte des ‚kollektiven Gedächtnisses‘ gefestigt, verändert oder sogar vergessen.10

  6 Vgl. Honold, „Ausstellung des Fremden – Menschen- und Völkerschau um 1900“, S. 172–173.   7 Vgl. Altena, „Ein Häuflein Christen mitten in der Heidenwelt des dunklen Erdteils“, S. 44.   8 Vgl. Habermas, „Wissenstransfer und Mission“, S. 258–260.   9 Vgl. Luhmann, „Gesellschaftsstruktur und Semantik“, S. 45–47. 10 Vgl. Geertz, „The Interpretation of Cultures“, S. 5.

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Die Vermittler in der Fremde versuchten, das vorgefundene Wissen dem Authentizitätskonzept des Rezipienten anzupassen, und stellten sich daher in den Missionsquellen als diejenigen dar, die dafür sorgten, dass der Fremde von der ‚frohen Heilsbotschaft‘ erfuhr und in die christliche Gemeinschaft eingegliedert wurde. Ihre Schilderungen waren somit essentiell, um das positive christliche Selbstbild und das negative ‚morgenländische‘ Fremdbild zu festigen. In diesem Sinne wäre das ‚Morgenland‘ ‚Dunkelheit‘, ‚Finsternis‘, ‚Irrtum‘, ‚Last‘ und ‚Fluch‘, das ‚Abendland‘ hingegen ‚Licht‘, ‚Weisheit‘, ‚Helligkeit‘, ‚Zivilisiertheit‘, ‚Schönheit‘ und ‚Richtigkeit‘.11

Die Basler Mission als Produzentin von Erinnerungsnarrativen des Abendlandes Die Basler Mission war durch ihre Missionare in Afrika und Asien eine Produzentin von Erinnerungsnarrativen  : Die Missionare waren verpflichtet, Berichte ans Mutterhaus nach Basel zu senden und Vorkommnisse, Erfolge, aber auch Misserfolge, zu dokumentieren. Diese subjektiven Darstellungen wurden im Mutterhaus redigiert und zum Teil veröffentlicht. Briefe aus der Peripherie wurden überarbeitet, zu internen Schulungszwecken benutzt, im Heidenboten oder in anderen Zeitschriften der Basler Mission veröffentlicht und wiederum andere lediglich katalogisiert. Der Bericht des Missionars konnte unter Umständen differenzierter sein als der publizierte Artikel in den Missionszeitschriften. Ein Missionar, dessen Arbeitsfeld die Laienmission war und der eine besondere Stellung für die Verbreitung von Erinnerungsnarrativen rund um Basel hatte, war Emanuel Kellerhals. 1898 in Basel geboren, studierte er Theologie und war zwischen 1933 und 1948 Afrikainspektor der Basler Mission, obwohl er nie außerhalb der Schweiz beruflich aktiv war. Ab 1937 war er auch Feldinspektor der sogenannten Mohammedaner-Mission und publizierte zahlreiche Artikel zum Thema Islam.12 Ab 1941 veröffentlichte Kellerhals die Zeitschrift Kreuz und Halbmond.13 In diesen Schriften ging es um Gemeinsamkeiten, aber hauptsächlich um Unterschiede zwischen den beiden monotheistischen Religionen Christentum und Islam. Kellerhals begründete die Vertiefung des Themas Islam folgendermaßen14:

11 Vgl. Gouaffo, „Wissens- und Kulturtransfer im kolonialen Kontext“, S. 185. 12 Vgl. Jenkins, „Kellerhals Emanuel“, online (29.11.2021). 13 Herausgeber war der Schweizerische Verein für die evangelische Mohammedaner-Mission in Verbindung mit der Basler Mission. Vgl. Kellerhals, „Der Islam die Versuchung der Kirche“, S. 2. 14 Vgl. ebd.

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Wenn wir über den Islam reden, dann reden wir über unseren jüngeren Bruder, an dem sichtbar wird, wie der Weg des verlorenen Sohnes in die Irre führt. […] Gott behüte uns aber, dass wir bei diesem Reden über unseren jüngeren Bruder in den Pharisäerstolz des älteren Sohnes aus dem Gleichnis fallen  ! Denn der Weg unseres Bruders ist uns gegeben zur Warnung und Mahnung, ihm nicht nachzufolgen, aber auch als Auftrag und Aufruf, ihm zu helfen.15

Des Weiteren war Kellerhals Lehrer im Missionshaus und unterrichtete angehende Missionare. Der Basler hielt mehrere Vorlesungen zum Thema Islam und beklagte sich über das fehlende Schulmaterial.16 Die Lücke für geeignetes Unterrichtsmaterial auch außerhalb der Mission versuchte er 1946 mit der Veröffentlichung des Evangelischen Lehrbuches für den Religionsunterricht, das für den Kanton Aargau für die Sekundarstufe I eingesetzt wurde, zu schließen.17 Kellerhals war also ein Akteur des Wissens- und Kulturtransfers zwischen Schule und religiösem Milieu, indem er seine eigenen, aber auch die Erfahrungen unzähliger Missionare in seinen Lehrmitteln, Büchern, Vorträgen und Lehrveranstaltungen weitergab und dadurch Narrative in die Schweizer Öffentlichkeit transferierte.

Bedeutung der Schule und des Lehrkörpers für den Missionsgedanken „Wenn es auch eine übertriebene Behauptung ist  : wer die Schule hat, der hat die Zukunft, so ist doch das gewiss, dass die Schule zur Einwurzlung von Anschauungen und Antrieben, welche Gemeingut des Volkes werden sollen, unaussprechlich viel thun kann.“18 Dieses Zitat des Missionsforschers Gustav Warneck spiegelt die Bedeutsamkeit der Schule für die Laienmission Ende des 19. Jahrhunderts wider. Die Mission sei eine ideale „Völkerlehrerin“19 in den Volksschulen, so Warneck weiter. Die Schule war dementsprechend der ideale Ort, um Missionskenntnisse zu verbreiten und dadurch den ‚Missionseifer‘ zu wecken.20 So äußerte sich diesbezüglich der deutsche Pädagoge Karl Heilmann im Jahr 1919  : 15 Kellerhals, Der Islam die Versuchung der Kirche, S. 3. 16 Vgl. Kellerhals, „Unterrichtsbericht über das Schuljahr 1935/36“, in  : ABM, Seminar Unterrichtsberichte I, 1920–1940, in  : ABM, QS-3-5. 17 Vgl. Hoffmann, Dürer und Kellerhals (Hg.), Evangelisches Lehrbuch für den Religionsunterricht, Band 2. 18 Warneck, Mission in der Schule, S. 3. 19 Ebd. 20 Vgl. Müller, „Mission und Erziehung“, S. 3.

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In ihrer schwierigen, aber hoffnungsvollen Lage wendet sich die Mission heute besonders eindringlich auch an Lehrer und Erzieher, um durch deren fachkundige [sic  !] Mitarbeit den Missionssinn der Jugend zu wecken. Sie ist aber in hohem Masse geeignet, dem Seelenleben jeden Jugendalters – von der Sonntags- und Volksschule an bis hinauf zur Hochschule – sich leicht anzupassen und es zu erfassen.21

Heilmann war der Überzeugung, dass die Erzählungen und Schilderungen der Mission Kinder und Jugendliche prägten sowie deren Fantasie und Vorstellung anregten, und hoffte, dass sich die Jugend dadurch der Mission zuwenden würde.22 Auch der Theologe Ludwig Müller legte in seiner Schrift Mission und Erziehung dar, dass kein Beruf besser geeignet sei, die Missionskenntnisse zu verbreiten und zu vertiefen, als die Lehrertätigkeit.23 Der Lehrkörper könne in unterschiedlichen Schulfächern die Kinder für die Missionsidee begeistern, da er Kinder vor sich hätte, „die sich noch begeistern lassen für das Hinaustragen des Evangeliums zu den Heiden“24, so Heilmann weiter. Die Kinder und Jugendlichen hätten noch den nötigen „Opfergeist“ und Idealismus, der für solch eine Aufgabe nötig sei. Durch die Einfühlung in die Not anderer könne sich der Jugendliche auch für etwaige Aufgaben begeistern, so der Autor weiter.25 Warneck forderte zudem, dass Lehrer schon während der Ausbildung eine gewisse Missionskenntnis erwerben sollten.26 Vor allem in den evangelischen Lehrerseminaren, wie zum Beispiel in Zürich, wurde großer Wert auf Religionsunterricht gelegt.27 Aber auch der deutsche Pastor und Afrikanist Carl Meinhof fasste in seiner Schrift Die Missionsarbeit der Laien am Missionswerk mehrere Aspekte bezüglich der Laienmission zusammen und forderte eine aktivere Mitarbeit der Laien, eine geeignete Literatur, eine fachkundige Mitarbeit der Presse, um die ‚Gebildeten‘ zu akquirieren und eine intensive Zusammenarbeit mit den Lehrern.28 Lehrer-Missions-Bund

Die Kooperation der Basler Mission mit den Lehrern wurde vor allem durch den Lehrer-Missions-Bund, der in der Deutschschweiz aktiv war, realisiert. Die Statuten 21 Heilmann, Mission und Schule, S. 14. 22 Ebd., S. 15. 23 Vgl. Müller, „Mission und Erziehung“, S. 3. 24 R., „Schule und Mission in einem Jahrbuch“, S. 52. 25 Vgl. Ebd., S. 51–52. 26 Vgl. Warnecke, „Mission in der Schule. Ein Handbuch für den Lehrer“, S. 3. 27 Eppler, Fünfzig Jahre christliche Lehrerbildung, S. 129–130. 28 Vgl. Meinhof, „Die Missionsarbeit der Laien am Missionswerk“, S. 27.

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bestimmten folgende Aufgaben  : Der Bund pflege bei seinen Mitgliedern das „Missionsinteresse“, er helfe in den Schulen, die „Heidemission“29 bekannt zu machen, und er sei durch diese Tätigkeit bestrebt, in weitere Volkskreise zu wirken. Des Weiteren stellten sich die Mitglieder des Bundes der Mission so gut wie möglich zur Verfügung, warben für Hilfskräfte in den Missionsgebieten und generierten finanzielle Unterstützung für die Basler Mission.30 Mitglieder konnten Lehrer aller Schulen und Schulstufen oder solche Personen werden, die in der Schulaufsicht waren oder den Lehrer-Missions-Bund finanziell unterstützten.31 Die Mitgliederzahlen des Lehrer-Missions-Bundes stiegen seit der Gründung im Oktober 1908 stetig und zählten 1916 525 Mitglieder. Danach sanken sie sukzessive, so dass die Vereinigung im Jahre 1924 lediglich 476 Mitglieder verzeichnete.32 Die meisten Lehrer kamen aus den Regionen Bern, Zürich, Schaffhausen, Baselstadt und Baselland.33 Otto Kägi war von Beginn an Leiter des Bundes und hatte dieses Amt bis zu seinem Tode im Jahre 1945 inne.34 Weitere Vorstandsmitglieder in der gleichen Zeit waren Jakob Keller, Sekundarlehrer aus Nänikon, der für die Rezensionsarbeit zuständig war, Edwin Stiefel, Lehrer aus Zürich, der die Ausleihe des Missionskoffers verwaltete, und Emil Heller, Lehrer aus Winterthur, der die Akquise für den Lehrer-Missions-Bund vorantrieb.35 Diese Kooperation zwischen der Basler Mission und dem Lehrer-Missions-Bund war für viele Missionare die „Krone der Laienmissionsbewegung“36 und laut dem Pädagogen Karl Heilmann eine „Quelle des geistlichen Lebens in der Schule und Gemeinde“.37 Der Lehrer-Missions-Bund sollte das Mittel sein zur Förderung der ‚Missionssache‘ bei seinen Mitgliedern und durch diese in immer weitere Kreise, vorab in der Schule, so Otto Kägi.38 Um diesen Zweck zu erfüllen, bemühten sich Lehrer-Missions-Bund und Basler Mission, die Ausbildung der Lehrpersonen zu überdenken, Weiterbildungskurse zu organisieren und Kommunikationswege zu schaffen, die im Folgenden erläutert werden. 29 Kägi, „Statuten des Lehrer-Missionsbundes der deutschen Schweiz, § 1“, S. 1. 30 Vgl. ebd. 31 Vgl. ebd. 32 Vgl. Kägi, „Jahresbericht 1923/24“, in  : QH-1.17b, Lehrer-Missions-Bund Schweiz + Deutschland, S. 5. 33 Vgl. Kägi, „Vergleichung der Mitgliederzahlen seit der Gründung des Lehrer-Missions-Bundes“, in  : QH-1.17b, Lehrer-Missions-Bund Schweiz + Deutschland. 34 Vgl. Stiefel, „Brief an Inspektor F. Würz, 27. Juli 1945“, in  : QH-1.17b, Lehrer-Missions-Bund Schweiz + Deutschland. 35 Vgl. Kägi, „Leitung des Lehrer-Missionsbundes“, Belage 1, Jahresbericht 1923/23 des Lehrer-Missionsbundes der deutschen Schweiz, in  : QH-1.17b, Lehrer-Missions-Bund Schweiz + Deutschland. 36 Zitiert nach  : Heilmann, Mission und Schule, S. 42. 37 Ebd., S. 14. 38 Kägi, Mission und Schule, S. 223.

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Ausbildung der angehenden Lehrpersonen

Die evangelischen Missionen im Allgemeinen und die Basler Mission im Speziellen waren sich bewusst, dass das ‚Missionsinteresse‘, auch während der Ausbildung der Lehrer gefördert werden sollte. So wurde mit dem Lehrer-Missions-Bund auch angestrebt, die Mission im Lehrerseminar präsent zu machen. Erstens solle die Mission im Ausbildungslehrgang der Lehrer in den Fächern Geschichte, Geografie, Religion sowie Naturkunde behandelt werden. Dadurch würden angehende Lehrer für die Missionsidee gewonnen werden. Zweitens müsse das Missionsschulwesen in die Geschichte der Pädagogik, aber auch generell bei Vorträgen, Aufsätzen oder sonstigen rhetorischen Übungen integriert werden. Drittens müssten Missionslieder gesungen, Missionsgebete und Fürbitten gesprochen sowie Missionsbücher und Zeitschriften zur Verfügung gestellt werden. Der ‚Missionseifer‘ würde den angehenden Lehrern auch anhand geselliger Abende mit Lichtbildvorträgen oder durch die Illustration des Missionskoffers nähergebracht werden. Viertens könnten die Seminaristen an den Missions- und Provinzialfesten oder sonstigen Missionsvorträgen teilnehmen. Ergänzend sollten Missionare zur Berichterstattung an die Lehrerseminare eingeladen werden. Zudem könne eine schriftliche Kommunikation zwischen den Seminaristen und den Lehrern auf dem Missionsfeld durch eine persönliche Beziehung den ‚Missionseifer‘ stärken.39 Der wichtigste Aspekt dieser Förderung war, dass die angehenden Lehrer bescheidene Missionsarbeiten wie Geldopfer durch Entsagung eines Vergnügens, die Pflege des Missionsbeetes oder des Missionsbaumes im Seminargarten tätigten oder durch Mithilfe bei Kinder- und Jugend-Missionsfesten und Jugendmissionsbünden den ‚Missionseifer‘ festigten.40 Weiterbildung der Lehrpersonen

Eine der wichtigsten Aufgaben für den Lehrer-Missions-Bund – in Kooperation mit der Basler Mission – war die Weiterbildung des Lehrkörpers bezüglich dessen Missionskenntnis. Der Bund organisierte sogenannte Lehrermissionskurse sowie Freizeitaktivitäten. Missionskurse für Lehrpersonen fanden meistens mehrere Tage statt, die unterschiedlich organisiert wurden. Beim Lehrermissionskurs im Oktober 1912

39 Vgl. Anonym, „Die Mission im Lehrerseminar“, in  : QH-1.17b Lehrer-Missions-Bund Schweiz + Deutschland. 40 Vgl. ebd.

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stand das indische Missionswerk im Zentrum der Betrachtungen.41 Neben der Morgen- und Abendandacht wurden auch Vorträge gehalten, zum Beispiel referierte der Inspektor L. J. Frohnmeyer über „Das religiöse Leben in Indien“ oder Frau M. Bono­ rand über „Die Arbeit am weiblichen Geschlecht Indiens“. Vier besonders erwähnenswerte Veranstaltungen im Rahmen dieses Missionskurses waren Hospitationen bei den Seminaristen, Führungen durchs Missionsmuseum, Lichtbildvorträge und Anleitungen zur Werbearbeit. Der Unterrichtsbesuch bei den angehenden Missionaren der Basler Mission konnte in folgenden Lektionen erfolgen  : Religionsgeschichte, ­Bibelkunde, Dogmatik, Altes und Neues Testament, Deutsch, Geografie und Geschichte.42 Während der Führungen durch das Missionsmuseum wurden den Lehrpersonen Gegenstände fremder Kulturen und Religionen gezeigt. Die Lichtbildvorträge des Missionars F. Straub über Indien präsentierte den Teilnehmern Fremd- und Selbstbilder der Basler Mission und galt als dritter Schwerpunkt der Weiterbildung. Zudem wurden Ratschläge bezüglich der schulischen Werbearbeit für die Mission durch den Vorstand des Lehrer-Missions-Bundes erteilt.43

Vermittlungsformen der Basler Mission an Schweizer Schulen Wie bereits erwähnt sollte der Missionsgedanke den Schweizer Schülern nicht nur im Religionsunterricht, sondern auch in den Geschichts- und Geografie- sowie Naturkundelektionen weitergeben werden, um durch das Aufzeigen der Not des ‚Fremden‘, den ‚Missionierungseifer‘ der Schüler zu wecken. In den Lektionen sollten die Berichte der Missionare in der Fremde gelesen oder auch Lichtbildvorträge oder Filme über die fremde Region angeschaut werden. Besonders der Geschichtsunterricht wurde als bedeutendes Unterrichtsfach für die Verbreitung der ‚Missionsidee‘ erachtet. Ausgehend von der Schweizer Geschichte, sollte die Geschichte der Menschheit veranschaulicht und sollten fremde Kulturen und Religionen thematisiert werden. Vor allem Anschauungsmaterialien wie Gegenstände oder Skulpturen aus exotischen Ländern sollten im Geschichtsunterricht gezeigt werden. Dies böte wiederum Gelegenheiten, die Missionsinteressen in den Schulunterricht einfließen zu lassen, so die Basler Mission weiter. Durch die ‚Wiederholung‘ und das Aufzeigen unterschiedli-

41 Vgl. Kägi, „Mission und Schule“, S. 224. 42 Vgl. Vorstand des Lehrer-Missionsbundes, „Plan für den Besuch des Unterrichts beim Lehrer-Missionskurs 16.–18. Oktober 1912“, in  : QH-1.17b Lehrer-Missions-Bund Schweiz + Deutschland. 43 Vgl. Der Vorstand des Lehrer-Missionsbundes, „II. Lehrer-Missionskurs im Missionshaus in Basel 16.–18. Oktober 1912“, in  : QH-1.17b Lehrer-Missions-Bund Schweiz + Deutschland.

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cher Perspektiven sollten die Schüler für die Mission gewonnen und zusätzlich das eigene, christliche Abendland klarer beurteilt und geschätzt werden.44 Zeitschriften der Basler Mission

Als einer von vielen Vermittlungskanälen ließ die Basler Mission Lehrpersonen diverse Zeitschriften zukommen. Dieser Abschnitt fokussiert ausschließlich diejenigen Schriften, die explizit Kinder, Jugendliche oder den Lehrkörper als Zielpublikum adressierten. Die wichtigste Zeitschrift, die die Basler Mission Lehrpersonen zukommen ließ, war die Zeitschrift Schule und Mission. Diese existierte zwischen 1912 und 1956, wurde selbst von der Basler Mission finanziert und verfolgte den Zweck, über das Basler Missionsschulwesen zu berichten und Ratschläge zu erteilen, wie man das Missionsinteresse bei der Jugend und vor allem in der Schule wecken könne. Schule und Mission publizierte Berichte von Missionaren vor Ort, von Missionsinspektoren, von Geistlichen und Lehrern. Zusätzlich lieferte die Zeitschrift konkrete Ideen für den Unterricht, wobei der Schwerpunkt auf Vorschlägen für Geografielektionen lag.45 Die Sammlung des Begleitstoffes für Gegografie umfasste 1922 70 Lerneinheiten, die ausschließlich der Missionsliteratur der Basler Mission entnommen wurden. Dieser Begleitstoff sollte Aufschluss über die verschiedenen Religionen, Kulturen und Völker der Länder Ostasiens, Indiens, Afrikas und Amerikas geben. Aus heutiger Perspektive waren die damaligen Anregungen eher ein interdisziplinäres Sammelsurium von Religions-, Natur-, Geografie- und Geschichtslerneinheiten.46 Des Weiteren publizierte die Basler Mission die Zeitschrift Der Heidenfreund. Diese existierte zwischen 1900 und 1937, wurde danach mehrmals umbenannt und im Zuge dessen inhaltlich jeweils leicht verändert.47 Dieses Blatt wurde explizit für Kinder und Jugendliche publiziert und war ähnlich aufgebaut wie der Evangelische Heidenbote. Die Sprache war einfacher gehalten und ähnelte eher einem schriftlich verfassten Reise- oder Erlebnisbericht von Missionaren.48 Im Heidenfreund wurden viele Zeichnungen veröffentlicht, die einen Subtext der Überlegenheit des christlichen Abendlandes in den Bereichen Religion, Kultur und Bildung transferierten.49 44 Vgl. R., „Schule und Mission in einem Jahrbuch“, S. 52–54. 45 Vgl. Kägi, „Mission und Schule“, S. 3. 46 Vgl. Kägi, „Jahresbericht des Lehrer-Missionsbundes der deutschen Schweiz 1922/23“, in  : QH-1.17b Lehrer-Missions-Bund Schweiz + Deutschland, S. 1. 47 Von 1938 bis 1974 wurde die Schrift Der kleine Wanderer genannt. 48 Vgl. Läderach, „Afrikanische Schülerhefte“, S. 9. 49 Vgl. Der kleine Wanderer, 4. Jg., Juli/August 1941, Heft 7/8.

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Melanie Stempfel Abb. 1: Titelseite Neues Missions-­ Bilderbuch in vier Teilen.

Die Basler Mission veröffentlichte verschiedene Kinderbücher, so zum Beispiel das Neue Missions-Bilderbuch in vier Teilen oder das Basler Missionsbilderbuch. In diesen Kinderbüchern wurden relevante ‚Missionsfelder‘ anhand bunter, gemalter Bilder illustriert. Auf der Titelseite des ersten Bandes des Neuen Missions-Bilderbuchs war eine Weltkarte abgebildet, die zwischen Protestantismus, Katholizismus, muslimischem und einem dunklen, noch zu missionierenden Erdteil differenzierte. Im Vordergrund waren ein indigener Mann sowie eine Frau mit Kind in traditioneller Kleidung vor einem Zelt abgebildet. Dies sollte die kulturellen Unterschiede zwischen der Peripherie und der Heimat symbolisieren. Im Hintergrund sind mehrere Häuser und Boote abgebildet. Diese symbolisieren die Missionsstation mit ihrem vermeintlich fortschrittlichen Leben in einer Zivilisation mit Häusern und einem Schulsystem.50 Auf der letzten Seite der dritten Ausgabe des Missions-Bilderbuches wurde ein Gemälde abgedruckt, das zwei Mädchen und einen Jungen an einem Tisch zeigt, auf dem ein ‚Negerknabe‘, ein sogenanntes ‚nickendes Negerlein‘ steht. Ein Mädchen wirft diesem Geld in den Hut und auf der linken Buchseite stehen die Verse  : „Ich war ein armer 50 Vgl. Basler Mission, Neues Missions-Bilderbuch in 4 Teilen, Heft 1, Titelseite.

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Abb. 2: „Die Kinder und der Negerknabe“, Heft 4 des Neuen Missions-Bil­ derbuches.

Heidensohn, Mein Gott, der war gemacht aus Thon  ; Wie alle Götzendiener sind, war ich auch geistlich tot und blind. […]“51 Hier werden mehrere Ebenen im Subtext transferiert  : Erstens gebe es noch einige Gebiete, die missioniert werden könnten respektive sollten. Zweitens bringe die Mission nicht nur das Christentum, sondern auch Bildung, Zivilisation, Fortschritt, Infrastruktur und medizinische Versorgung.52 Drittens wird gezeigt, dass es Einheimischen besser gehen würde, wenn sie sich den christlichen Missionaren anschließen würden und damit über gewisse Privilegien verfügen könnten. Viertens solle der Schweizer Christ für die Mission spenden, damit dies auch gelingen könne.53 Zu guter Letzt sollten Bilder und Verse Mitleid erzeugen – wiederum zu verstehen als subtile Aufforderung zur physischen oder finanziellen Unterstützung der Basler Mission. Der Lehrer-Missions-Bund erstellte jährlich vor Weihnachten eine Liste mit geeigneter Missionsliteratur für die verschiedenen Altersgruppen der Jugend. Wie der Lehrer-Missions-Bund in der Einleitung jener Liste schrieb, waren diese Missionsschriften 51 Anonym, Gedicht Negerknabe, S. 38. 52 Vgl. Gäbler, „Die Mitarbeit der Schule an der Mission“, S. 4. 53 Vgl. Heilmann, „Mission und Schule“, S. 41.

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für die Massenverbreitung in Sonntagschulen, Volkschulen und als Konfirmandengaben geeignet. In der öffentlichen Bibliothek der Basler Mission konnte der Laie alle Missionszeitschriften und Bücher ausleihen und in ‚Lesezirkeln‘ besprechen.54 Der Lehrer-Missions-Bund verteilte nicht nur Zeitschriften für die Bildung und Erhaltung des Missionsinteresses, sondern hielt für Lehrer weitere ‚Anschauungsmaterialien‘ zur Ausleihe bereit. Dazu gehörten Wand- und Postkartenbilder oder auch der Missionskoffer.55 Missionskoffer, Missionskorb und Arbeitskasten

Der Missionskoffer war eine ethnologische Sammlung, inklusive Erläuterungen, von Gegenständen aus den jeweiligen Regionen. In den Missionskoffern der Basler Mission befanden sich Gegenstände aus China, von der Goldküste und aus Indien. Der ‚China-Koffer‘ wurde in 53 Schulen in der Schweiz und dort mindestens 1.500 Schülerinnen und Schülern gezeigt. Der ‚Goldküstenkoffer‘ wurde an 57 Schulen, der ‚indische Koffer‘ an 36 Schulen und bei mehreren Vereinen präsentiert. Zudem hielten Lehrpersonen in den Kantonen Zürich, Schaffhausen und Basel vor Kollegen Vorträge über die Basler Mission und deren Tätigkeiten. Die Ausleihe des Missionskoffers und die Organisation übernahm der Lehrer Edwin Stiefel, der, wie schon erwähnt, zum Vorstand des Lehrer-Missions-Bundes gehörte.56 Ab 1922 gab es auch einen ‚Missionskorb‘ mit ethnologischem Anschauungsmaterial aus China, der ebenfalls Lehrern zur Verfügung stand. Zusätzlich stellte ein sogenannter ‚Arbeitskasten‘ chinesische Tonmodelle als Vorlage und Anschauungsmaterial für den Handarbeitsunterricht zur Verfügung.57 Für den ‚Missionskoffer‘, den ‚Missionskorb‘ oder den ‚Arbeitskasten‘ warben die Missionsinspektoren Hermann Witschi58 und Emanuel Kellerhals im Schweizerischen Evangelischen Schulblatt.59

54 Vgl. ebd. 55 Vgl. Kägi, „Jahresbericht des Lehrer-Missionsbundes der deutschen Schweiz 1922/23“, in  : QH-1.17b Lehrer-Missions-Bund Schweiz + Deutschland, S. 1. 56 Vgl. Kägi, „Mission und Schule“, S. 224. 57 Vgl. Kägi, „Jahresbericht des Lehrer-Missionsbundes der deutschen Schweiz 1923/24“, in  : QH-1.17b Lehrer-Missions-Bund Schweiz + Deutschland, S. 2. 58 Pfarrer Hermann Witschi (1895–1984) war zwischen 1926 und 1963 Inspektor der Basler Mission und für die Region Kalimantan (Borneo) verantwortlich. Vgl. Basler Mission Archiv, „Komitee-Mitglieder d. B. M.“, online (28.11.2021). 59 Vgl. Schweizer Evangelisches Schulblatt, „Missionskoffer“, 78. Jg., Nr. 21, 5. November 1943, S. 28.

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Missionsausstellungen

Eine weiterer Verbreitungsweg von Erinnerungsnarrativen waren die Missionsausstellungen. Ab 1860 wurden die gesammelten Gegenstände im Missionshaus in der Basler Straße ausgestellt. Nach zwei Jahren erstellte der Missionar Ziegler den ersten Katalog, der insgesamt 650 Objekte beinhaltete – und zwar aus Borneo, China, Japan, Indien, Alt-Ägypten, Afrika, Amerika, Australien und dem Nahen Osten. Der Katalog, der eher einem Ausstellungsführer glich, wurde in drei Kategorien eingeteilt  : religiöse und profane Gegenstände, Naturwissenschaftliches und Industrie- und Kunstprodukte. Im Jahre 1888 wurden 2.900 Objekte in der Ausstellung im Mutterhaus in Basel gezeigt. Zweck dieser Ausstellung war es, „den Missionsfreunden ein möglichst getreues Bild des Zustandes, vor allem des religiösen Zustandes der Völker, mit denen die Mission zu thun hat, zu geben und dadurch ihre Teilnahme an der Mission lebendig erhalten zu helfen.“60 Der Basler Lehrer König forderte im Jahr 1908, dass dieses Anschauungsmaterial auch missionsfernen Kreisen, vor allem der Jugend von Basel gezeigt werden sollte, um ein Bild der Missionsgebiete zu illustrieren. Daraufhin wurden die Missionare vor Ort nochmals aufgefordert, Gegenstände aus fremden Kulturen ans Mutterhaus zu senden, um die Menge der Objekte noch zu steigern. Der Missionar aus China ließ eine sogenannte ‚Ahnentafel‘ nach Basel senden, der Missionar der Goldküste entsendete eine sogenannte ‚Fetischhütte‘ und aus Indien wurde eine ganze Küchen­ einrichtung geschickt. Die Besucher konnten nicht nur fremdländische Objekte anschauen, sondern auch kleine Gegenstände käuflich erwerben.61 1909 präsentierte die Basler Mission ihre Ausstellung in Zürich und St. Gallen, ein Jahr später in Karls­ ruhe, Stuttgart, Strassbourg, Kassel und Wiesbaden. Die Besucherzahlen in den Jahren 1908 bis 1910 betrugen in der Schweiz 86.310 und in Deutschland 135.515 Personen. Die Basler Mission organisierte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Ländern in Europa verschiedene Ausstellungen. 1955 wurde die Ausstellung Christus – Licht aller Völker in 40 Städten der Schweiz, Frankreichs und Deutschlands gezeigt. Allein zwischen dem 17. und 25. Juli 1954 besuchten 339 Jugendliche und 1.156 Kinder diese Ausstellung in Ebingen-Kassel. Insgesamt wurden während der verschiedenen Ausstellungen rund 15.000 Objekte der Basler Mission gezeigt. Einige Mitglieder des Ehrenkomitees der Ausstellung in Ebingen-Kassel waren Oberstudienräte, Mittelschullehrer oder Rektoren. In diesem Beispiel wird die

60 Zitiert nach  : Kobel-Streiff, „Völkerkundliche Sammlung in der Schweiz“, S. 39. 61 Vgl. Ebd., S. 40.

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Verknüpfung zwischen der Basler Mission und der Schule in all ihren Ebenen vom Rektor über die Lehrperson bis hin zu Schülern deutlich aufgezeigt.62 Die Basler Mission versuchte auch durch Lichtbildvorträge63 und Filmabende64 in den verschiedenen Gemeinden das Interesse für die Mission zu wecken. Durch verschriftlichte Theaterstücke65, die in verschiedenen Schulen aufgeführt wurden, sollte die Situation verdeutlicht und zum Spenden animiert werden. Der Reisepredi­ ger hielt Ansprachen in Kirchen und Schulen und sollte so den Lehrpersonen den Lehrer-Missions-Bund und den Kindern den Jugend-Missionsbund der Basler Mission näherbringen.66

Vermittelte Erinnerungsnarrative des Abendlandes Im Folgenden werden die konkreten, in den Missionsschriften der Basler Mission vermittelten Erinnerungsnarrative aufgezeigt und analysiert. Der Untersuchungszeitraum reicht von der Gründung des Lehrer-Missions-Bundes 1908 bis zum Ersten Weltkrieg. Im Folgenden kann nur eine kleine Auswahl von Erinnerungsnarrativen, die möglicherweise in die Schulen transferiert wurden, aufgezeigt werden. Vergleich zweier monotheistischer Religionen

In einem ersten Motiv geht es um den Vergleich zwischen dem Christentum und dem Islam. Es gilt aufzuzeigen, dass in den Schriften der Basler Mission Christentum und Islam hinsichtlich verschiedenster Aspekte verglichen und dadurch Selbst- und Fremdbildkonstruktionen transferiert wurden. In mehreren Artikeln der Basler Missionspublizistik wurde den Lesern erklärt, wie der Islam in die verschiedenen Missionsgebiete der Basler Mission eindrang. In einem 1908 im Missions-Magazin publizierten Artikel über die Islamisierung Afrikas versuchte der Missionar Paccard aufzuzeigen, dass der Islam kein junges Phänomen sei, sondern bereits seit dem 7. Jahrhundert bestehen würde. Die Wahrnehmung bezüglich des Islams in Afrika hätte sich mit der Geschichte verändert. Laut 62 Vgl. Anonym, „Missionsausstellung, Allgemeines Ebingen-Kassel 1954–55 (1)“. 63 Vgl. Anonym, „Erklärung der Lichtbilder-Serien Indien A“, in  : Zwischenlager  : Ordner Indien, Listen, Indien a–k. 64 Vgl. Anonym, „Verzeichnis der Gemeinden für die Filmvorträge im Dezember Begleiter Miss. Scheibler“, in  : Schachtel E-11-21-22. 65 Vgl. Maurer, „Das Premi-Spiel“, S. 3. 66 Vgl. Müller, „Unsere Werbearbeit mit besonderer Berücksichtigung neuer Methoden“, S. 1-9.

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Paccard war der Islam im 17. und 18. Jahrhundert weniger „fana­tisch“67 gewesen als im 20.  Jahrhundert. Erst durch die Transfers und die Berührungen zwischen Okzident und Orient hätten die islamischen Völker eine Neubelebung des Missionsgeistes erlebt und seien dadurch wieder konservativer geworden, so die Einstellung des Basler Missionars. Zwischen dem Christentum und dem Islam habe es seit dem 7. Jahrhundert immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen gegeben, so Paccard weiter.68 Diese historischen Ereignisse hätten das Verhältnis des Christentums zum Islam gestaltet.69 Solche Aussagen wurden in diversen Artikeln erwähnt und veranschaulichen, dass davon ausgegangen wurde, dass historische Ereignisse zwischen dem Islam und dem Christentum die Stimmung zwischen den beiden Religionen und Kulturen prägten. In dieser religionshistorischen Narration wurde der Islam als Gegner betrachtet, der zwar Gemeinsamkeiten, aber vor allem Unterschiede aufweise. Als Gemeinsamkeiten wurden religiöse Personen wie Abraham, Adam, Moses, David und Salomon genannt. Betreffend die Gestalt Jesu erläuterten mehrere Artikel der Basler Mission, dass der Islam Jesus zwar kenne, ihn aber im Koran nicht als christlichen Sohn Gottes, sondern als Propheten erwähne. Die Differenzen zwischen Christentum und Islam waren aus Sicht der Christen die Trinitätslehre und das Verständnis der Apostel, die im Islam ihrer Meinung nach vollständig fehlten. Die Erkenntnis von Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen beiden Religionen prägte in dieser Zeit auch die Missionierungsstrategien. Bei der Bekehrung der Muslime sollten ausschließlich Glaubenssätze erwähnt werden, die der Islam nicht besäße. Daher lautete die Formel für die Christianisierung der Muslime  : „Nicht Jesus, sondern Paulus, nicht die Bergpredigt, sondern den Römerbrief.“70 In dieser religionshistorischen Narration schwang das Vorurteil der Basler Mission mit, dass die Muslime von ihrer Religion wenig wüssten und insbesondere Elemente wie die Trinitätslehre oder die Apostel aus ihrem Glauben gestrichen hätten. Eine religiös-kulturelle Narration wurde durch die Erläuterungen der kulturellen und religiösen Praktiken, Begriffe, heiligen Orte und Gegenstände des Islams mittransferiert.71 Der Leser der Basler Missionspublizistik wurde über die fünf Säulen72, über die Begriffe Muezzin, Minarett, über die religiösen Vorschriften, den

67 Paccard, Der Islam in Nordwest-Afrika, S. 282–283. 68 Vgl. ebd. 69 Vgl. Schluck, „Konferenz für Mohammedanermission in Bethel 6. und 7. August 1913“, S. 481–490. 70 Schlatter, Die Entwicklung des jüdischen Christentums zum Islam, S. 253. 71 Vgl. Mühlhauser, „Der Islam“, S. 67–68. 72 Vgl. ebd., S. 10–11.

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Koran73, die Kaaba, die Hadsch nach Mekka74, aber auch über das Leben des Religionsstifters Mohammed aufgeklärt. 1913 publizierte der Heidenbote eine vierteilige Reihe, die dem Leser religionsgeschichtliche und -kulturelle Praktiken und Hintergründe des Islams vermittelten. All diese Begriffe und Ausführungen wurden meist mit dem Vergleich zum Christentum erläutert. Daher transferieren diese religiös-kulturellen Narrationen nicht nur Fakten, sondern im Subtext auch das Selbstbild der eigenen Religion. Ausbreitung des Islams

Das zweite, in dieser Zeit in den Artikeln der Basler Mission transferierte Motiv war die erfolgreiche Verbreitung des Islams in den Missionsfeldern und in den europäischen Territorien. Die Basler Mission verspürte auf einigen Missionsfeldern Konkurrenzdruck. Ihre Missionare versuchten, die Einheimischen zu christianisieren, und bemerkten, dass der Islam erfolgreicher in der Bekehrung war. In den Missionspublikationen analysierten die Autoren mehrere Gründe für die erfolgreiche Verbreitung des Islams. Laut Carl Meinhof war der erste Grund der soziale Aufstieg der Konvertiten. In der Basler Mission herrschte die Meinung vor, dass der zu Bekehrende nicht wegen der Religion, sondern aufgrund der Verbesserung seiner sozialen Stellung innerhalb der Gesellschaft zum Islam konvertiere.75 Dieser soziale Aufstieg sei beim Christentum in den Missionsgebieten nicht der Fall, sondern der Konvertit verliere unter Umständen die sozialen Kontakte mit der eigenen Familie, könne unter Umständen keine Arbeit finden und steige in sozialer Hinsicht eher ab.76 Diese ‚soziale Narration‘ ging davon aus, dass der Islam in gewissen Missionsgebieten eine höhere soziale Stellung als das Christentum genoss. Ein zweiter Grund für den ‚Erfolg‘ des Islams war nach Meinhofs Meinung die aktive und öffentliche Ausübung der Religion. Durch den Handel wurden Kaufleute neben den Dörfern der Handelsroute sesshaft und zelebrierten ihre Religion, so der Grundgedanke des deutschen Afrikanisten.77 Das Gebet der Muslime und die rituelle Waschung entfalteten auf die Einheimischen eine besonders positive Anziehungskraft und die Missionierung würde durch das Vorleben der Religion „gewalt- und geräuschlos“78 verlaufen. Der Basler Missionar notierte im Artikel weiter, dass die 73 74 75 76 77 78

Vgl. ebd., S. 26–27. Vgl. ebd., S. 37–39. Vgl. Meinhof, „Die Mohammedanische Gefahr in Afrika und die Einheitssprache“, S. 55. Vgl. Würz, „Die lebendige Kraft im Islam“, S. 196–197. Vgl. Meinhof, „Die Mohammedanische Gefahr in Afrika und die Einheitssprache“, S. 54. Anonym, „Unter dem Mohammedanern Malabars“, S. 3.

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muslimischen Gebete und Rituale „tote, abstumpfende und einschläfernde Lippenbekenntnisse“79 seien. Der Islam sei „keine Herzensreligion, sondern ein Glaubensprinzip“,80 das sich auf die Ehrfurcht vor der souveränen Macht Allahs stütze, so der Autor im Heidenboten. Die Muslime würden fünfmal am Tag in der Öffentlichkeit beten, was der Autor als „befremdend, theatralisch, mechanisch und als unpassend“81 empfand. Die Missionare sahen im muslimischen Gebet nur eine mechanische Abfolge mit arabischen Wörtern, die selbst ein Teil der Muslime nicht verstehen würde, so das Vorurteil. Damit fühlten sich die Missionare wohl in ihrem Narrativ bestätigt, dass ihre christliche Art des Betens besser sei als diejenige der Muslime. Der dritte Grund für die erfolgreiche Verbreitung des Islams in den Missionsgebieten lag gemäß dem Missionsnarrativ in der Assimilierung der einheimischen Glaubenspraktiken und Traditionen. Friedrich Würz, der Missionsinspektor der Basler Mission, äußerte sich im Artikel „Die lebendige Kraft im Islam“ folgendermaßen82  : Einmal ist es ein Handelsmann, der den Fetischgläubigen seine zauberkräftigen Koran-Amulette verkauft und ihnen nebenbei die Herrlichkeit seiner Religion preist, dann wieder ein Koranlehrer, der sich als weltkundiger Mann einem Häuptling unentbehrlich macht oder die lernbegierige Jugend um den Koran sammelt.83

Aus der Sicht von Würz war es den muslimischen Gläubigen gleichgültig, wenn sich die Fetischgegenstände mit dem Islam vermischten, solange die Kraft der Gegenstände von Allah herstamme.84 Der vierte Grund für den Erfolg des Islams bestand dem evangelischen Pastor zufolge darin, dass Muslime keine Rassenvorurteile hätten. Für Muslime seien alle Menschen, die an Allah glaubten, gleich, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft. Die Pilgerfahrt nach Mekka wurde für die erfolgreiche Verbreitung des Islams als fünfter Grund aufgefasst. Der Pilger, der die Reise nach Mekka unternommen habe, gelte im Allgemeinen als gebildet und würde von den Muslimen verehrt. Anhand dieser Reise wäre der Pilger nicht nur ein „Hadschi“85, sondern erfahre durch die Begegnungen mit anderen Muslimen unterschiedlicher Ethnien, Kulturen und Spra79 M., „Wie die Mohammedaner beten“, S. 30. 80 Ebd., S. 31. 81 Ebd., S. 32. 82 Vgl. Anonym, „Aufruf zum Kampf gegen den Halbmond  !“, S. 1. 83 Würz, Die lebendige Kraft im Islam, S. 193. 84 Vgl. ebd. 85 Dies ist ein Ehrentitel nach der Pilgerfahrt nach Mekka. Die Männer können sich nach der Hadsch Hadschi nennen und die Frauen Hadscha.

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chen den Zusammenhalt der Umma, so der Autor weiter.86 Wesentliche Bedeutung ordneten mehrere Artikel der Missionspublizistik zudem dem sechsten Grund, der Sprache, zu. Durch die arabische Sprache verständigten sich Pilger unterschiedlichster Herkunft miteinander.87 Die Meinung des Missionars Meinhof lautete, dass der „Funke des Fanatismus“88 in der Sprache bewahrt werden würde.89 In der Sprache würde der „Ruf zur Verteidigung des Glaubens“90 getragen und dadurch eine „wilde fanatische Begeisterung“91 geweckt, so die Behauptung des Missionars Scott. Kultur- und Zivilisierungsstufen

Das dritte Hauptmotiv in der Missionspublizistik der Basler Mission zwischen 1908 und 1914 war die Hierarchisierung von ‚Kultur- und Zivilisierungsstufen‘. Missionar Paccard betonte in seinen Artikeln in den Missionsschriften, dass für den muslimischen Glauben die Bekenntnisformel, der Koran und das Überlegenheitswissen der Muslime gegenüber den anderen Religionen grundlegend seien. Die Basler Missionare vertraten die Meinung, dass es für die ‚Heiden‘ und Muslime einfacher wäre, fromm zu sein, da der Islam nicht so komplex wie das Christentum sei. „Es [der Islam  ; Anm. M. S.] lässt sich in einem Satz zusammenfassen, und man braucht nur diesen Satz auszusprechen, und man ist Mohammedaner.“92 Somit wandle der Islam die Schwäche der Einfachheit zu einer Stärke um, so der Autor weiter.93 Das Christentum ist nach Friedrich Würz viel komplexer  : „Unser Christentum ist für einfältige Seelen deswegen schwer zu fassen, weil es eine gewaltige Anstrengung des Verstandes verlangt, wie sie für primitive Völker immer schwer ist.“94 In dieser religiösen Narration bezeichnet der Missionar die Muslime und die Einheimischen als „primitive Völker“95, die das Christentum mit all seinen Komplexitäten nur schwerlich verstünden. Auch die Riten beim Islam seien einfacher. „Das Gebet findet statt zu festgesetzten Stunden  ; die Gebärden sind genau vorgeschrieben. Die Worte sind immer dieselben und werden auswendig hergesagt. Das ist alles, was man braucht,

86 Vgl. Anonym, „Rundschau  : Aus der mohammedanischen Welt, S. 275. 87 Vgl. Anonym, „Rundschau Islam und Mohammedanermission. Moslemische Bussstimmung“, S. 331. 88 Meinhof, „Die Mohammedanische Gefahr in Afrika und die Einheitssprache“, S. 51. 89 Vgl. ebd. 90 Scott, Der Kampf mit dem Islam, S. 366. 91 Ebd. 92 Paccard, Der Islam in Nordwest-Afrika, S. 292. 93 Vgl. Würz, „Die lebendige Kraft im Islam“, S. 190. 94 Ebd., S. 292. 95 Ebd.

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um ein guter Moslem zu sein.“96 Die fehlende Furcht zu enttäuschen sei ein Vorteil des Islams, so der Autor weiter. Wenn die Muslime die Gebote einhalten und beten würden, sei Allah zufrieden. Würz sinnierte weiter  : „Der Glaube, dass alles geschehe, wie das Schicksal bestimmt habe, erspart ihm jede Anstrengung und enthebt ihn der Mühe, nach den Ursachen oder Folgen dieses oder jenes Vorfalls zu fragen.“97 Daher kamen einige Artikel der Basler Missionspublizistik zum Schluss, dass der Islam eine „einfachere Religion“ sei.98 Da die ‚kulturelle Narration‘ der europäischen Christen die Muslime als „kulturarm“99 und „primitiv“100 betrachtete, beabsichtigte sie vor der christlichen Bekehrung die Unterrichtung ihrer Kultur. Das würde aber bedeuten, dass „kulturfeindliche Grundsätze des alten Islams, wie die Mekka-Pilger und die Geistlichkeit“101 eliminiert werden müssten, so der Autor weiter. Die Christen würden darauf beharren, dass die Länder mit muslimischem Hintergrund politisch, wirtschaftlich und sozial stillstehen und keinen Fortschritt erreichen würden.102 Zwei neue Vorurteile, die hier hinzukommen, sind  : Der Islam sei erstens ein „ärmlicher und trockener“ Glaube, der das Herz nicht anspreche. Und zweitens sei er eine ‚simplere‘ Religion. Das Christentum hingegen sei nach dem christlichen Verständnis viel komplexer als der Islam und dementsprechend ‚zivilisierter‘. Seine Anhänger seien gebildeter, da sie die Komplexität des Christentums verstehen würden. Gleichwohl erklärte die Basler Mission ihren teilweisen Misserfolg bei Bekehrungen mit der Komplexität des Christentums.

Fazit Die präsentierten Narrative des ‚Abendlandes‘, die durch ihre Vermittlung Erinnerungsräume schufen, sind sowohl in der Schnittmenge zwischen Orient und Okzident als auch in deren Abgrenzung anzusiedeln. In diesem Diskursfeld wurden Fortschritt, Zivilisiertheit und ‚Weisheit‘ des protestantischen Europas gegenüber dem islamischen Osten in den Bereichen Religion, Kultur und Bildung konstruiert. Das Auserwähltsein und vor allem die Missionierung kamen in den verschiedenen Narrativen diverser Zeitschriften wiederholt zum Vorschein. Durch die Darlegung des  96 Ebd.  97 Ebd.  98 Vgl. C., „Über die Stellung des deutschen Kolonialamtes zur Islam-Frage“, S. 277.  99 Simon, Das islamische Problem in den holländischen Kolonien, S. 457. 100 Ebd. 101 Ebd. 102 Vgl. Anonym, „Aufruf zum Kampf gegen den Halbmond“, S. 1.

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‚Fremden‘ wurde immer auch das Selbstbild der Basler Mission mittransferiert – zu erkennen vor allem daran, dass der Islam in der Basler Missionspublizistik meistens anhand eines Vergleichs mit dem Christentum dargestellt wurde. Der Lehrer-Missions-Bund war das Bindeglied zwischen der Basler Mission und den öffentlichen Lehrpersonen. Dieser Bund erstellte einen Lehrplan für die evangelischen Lehrerseminare, damit die Missionsinteressen bei der Ausbildung der zukünftigen Lehrpersonen genug Gewicht bekämen, organisierte Weiterbildungen, gab Anweisungen für die Gestaltung von Unterrichtseinheiten und koordinierte den Verleih eines ‚Missionskoffers‘, eines ‚Missionskorbs‘, sowie eines ‚Arbeitskastens‘. Zusätzlich gab der Lehrer-Missions-Bund jedes Jahr eine ‚Missionsliteraturliste‘ heraus, an der sich die Lehrpersonen für ihre private und schulische Lektüre orientieren konnten. Öffentliche Bibliotheken, die auch vom Lehrer-Missions-Bund gegründet und organisiert wurden, verliehen unterschiedlichste ‚Missionsliteratur‘ an Laien. Der Lehrer-Missions-Bund organisierte auch Lesezirkel, in denen entsprechende Literatur gelesen und besprochen wurde. Durch diese Vermittlungskanäle versuchte die Basler Mission, den Lehrpersonen die verschiedenen Narrative zu vermitteln, damit sie diese anschließend den Schülerinnen und Schülern an Schulen in der Deutschschweiz weitervermittelten. Oberstes Ziel war es, den ‚Missionseifer‘ zu wecken und die genannten Narrative in verschiedenen Fächern wiederkehrend zu thematisieren, und zwar mithilfe von Lichtbildvorträgen, Illustrierungen von Missionsgegenständen, Besuchen der Missionssaustellungen, Aufführungen von Theaterstücken oder Lektüren der Missionspublizistik während des Unterrichts. Literaturverzeichnis Quellen

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Bilderbücher

Basler Mission. Neues Missions-Bilderbuch in vier Teilen. Mit vielen Vollbildern in Farbdruck und Holzschnitten im Texte, Druck und Verlag von Ernst Kaufmann in Lahr, Baden, Titelseite, Heft 1, ca. 1890. Basler Mission. Neues Missions-Bilderbuch in vier Teilen. Mit vielen Vollbildern in Farbdruck und Holzschnitten im Texte, Druck und Verlag von Ernst Kaufmann in Lahr, Baden, Die Kinder und der Negerknabe, Heft 4. ca. 1890.

Sekundärliteratur

Altena, Thorsten. Ein Häuflein Christen mitten in der Heidenwelt des dunklen Erdteils. Zum

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Bildnachweis

Neues Missions-Bilderbuch in vier Teilen, Titelseite (Abb. 1). „Die Kinder und der Negerknabe“, Neues Missions-Bilderbuch, Heft 4 (Abb. 2).

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Frank Britsche

Der christlich-europäische Abendlanddiskurs als geschichtsdidaktischer Ansatz für den Geschichtsunterricht in der frühen Bundesrepublik Mit Blick auf – im weitesten Sinne – geschichtsdidaktische Ansätze für den Geschichtsunterricht nach Ende der alliierten Besatzungspolitik zeigt sich übergreifend ein auffallender Europa-Abendland-Bezug als narrative Sinndeutungsfolie und Referenzofferte für den Geschichtsunterricht, der bereits zwischen 1945 und 1949 den geschichtspädagogischen Diskurs dominierte.1 Die Möglichkeit indes, sich nach dem Ende der Besatzungszeit 1949 (weiterhin) zu behaupten, „hatten nur jene geschichtsdidaktischen Konzeptionen, die einen festen organisatorischen Rückhalt besaßen und die zugleich dem politischen Klima der entstehenden Bundesrepublik entsprachen“, so Horst Kuss.2 Dies wird im Folgenden genauer betrachtet und überprüft. Dabei soll auch nach möglichen Gründen und Zeitumständen gefragt werden sowie nach der Einordnung in den Diskurs der Zeit. Dazu werden Erinnerungsnarrative zum christlichen Abendlandbezug in Richtlinien, Lehrplänen und konzeptionellen Annahmen für den Geschichtsunterricht ebenso analysiert wie die Personen, welche die Erinnerungsnarrative distribuierten.

Vorbemerkungen zum Stand der Forschung Die Erforschung konzeptioneller Ansätze des pädagogischen und didaktischen Diskurses zum Geschichtsunterricht der frühen Bundesrepublik stellt noch immer ein Desiderat dar. Obgleich Einzelstudien vorliegen, darunter prosopografische Erkundungen, ist das diskursanalytische Feld (Bourdieu) mit Fokus auf zeittypische Denkmuster sowie Narrativkonstruktionen und personale Netzwerke noch immer nicht so bestellt, wie es das Erkenntnisinteresse fordert.3 Dies liegt darin begründet, dass 1 Zum zeittypischen Stand der Begriffsdiskussion zu ‚Europa‘ siehe  : Sattler, Französische Revolution, S. 17. Siehe darin auch die Ausführungen zu „Elementen eines europäischen Geschichtsbildes“ (S. 13– 22). 2 Kuss, „Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht“, S. 740. 3 Das Interesse an der Erforschung der eigenen Disziplin zeigt sich durch rezente Publikationen (hervorzuheben sind u. a. die Reihe Vergangenheit und Gegenwart von Wolfgang Hasberg und Manfred Seidenfuß sowie die Studien von Thomas Sandkühler), aber auch durch die Konstituierung eines eigenen

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sich die geschichtspädagogische Fachdidaktik ab 1945 neu konstituierte, dabei zum Teil an Strukturen der Weimarer Zeit anknüpfte, beispielsweise durch die Verbandsstruktur der Geschichtslehrkräfte. Als eigene akademische Disziplin erlangte die Geschichtsdidaktik seit den 1970er Jahren an den Universitäten Präsenz, weshalb sie oft erst seitdem vermehrt in den diskursanalytischen Blick genommen wurde, denn es sind konkrete Personen als universitäre Geschichtsdidaktiker/-innen auszumachen, die publizistisch in Erscheinung traten und zudem an öffentlichen Debatten partizipierten, wie die 1973 gegründete Konferenz für Geschichtsdidaktik. Weitgehend ist seither der geschichtsdidaktische (Binnen-)Diskurs durch diesen Teilnehmerkreis formal prädominiert, was zu erklären vermag, weshalb die Disziplingeschichte ab den 1970er Jahren weit besser erforscht ist als in den Jahrzehnten vor der akademischen Konstituierung, insbesondere den frühen Jahren der Bundesrepu­blik. Diese fanden in der Forschung weit weniger Beachtung, was hauptsächlich auch daran liegt, dass das ‚soziale Feld‘ der scientific community weit disparater ist  – als Diskursteilnehmende wären neben prominenten Historiker/-inne/n und Pädagog/-inn/en auch Ministerialbeamte, Unterrichtsausbildner, Lehrkräfte, Schulbuchautoren und Zeitschriftenredakteure zu integrieren.4 Nicht wenige ältere Studien zur historischen Pädagogik folgten methodisch teils einem bestimmten Verständnis von Lehrplanexegese und Schulbuchnarrationen, ohne deren komplexen Entstehungsprozess, deren personelle Einwirkungen und Handlungsspielräume einzubeziehen.5 Es geht daher im Folgenden also nicht um normativ-curriculare Vorgaben in einer chronologischen Skizze, sondern um eine Annäherung an den westdeutschen fachdidaktischen Diskurs der 1950er Jahre, einer Zeit, die bislang wenig Beachtung fand und manchem Geschichtsdidaktiker historisierend als Phase relativer „Eintönigkeit“ erscheint.6 Wenngleich sich vorliegende Erkundungen mit konzeptionellen Skizzen auch zu einzelnen Protagonisten/-innen wie Friedrich Walburg, Anna Mosolf, Ernst Wilmanns und Felix Messerschmid befassen, nehmen sie nicht selten einen eklektizistischen Blick ein.7 Der Erwartungshorizont der Untersuchungen reicht selten über die Arbeitskreises „Disziplingeschichte(n)“ innerhalb der Konferenz für Geschichtsdidaktik (KGD) im Juni 2021. Zu aktuellen forschungsmethodischen Überlegungen siehe  : Heuer, „Deutungskämpfe“, S. 35–55. 4 Prosopografische Befunde für die Generation der zwischen 1928 und 1947 geborenen ‚Geschichtsdidaktiker der Bundesrepublik‘ wurden jüngst von Thomas Sandkühler vorgelegt. Vgl. Sandkühler, Historisches Lernen. 5 Herbst, Geschichtsunterricht. 6 Mayer, „Neuaufbau des Geschichtsunterrichts“, S. 150. 7 Davon abzugrenzen sind die wenigen umfassenden wissenschaftsbiografischen Arbeiten, beispielsweise zu Georg Eckert. Vgl. Mätzing, Eckert.

Der christlich-europäische Abendlanddiskurs als geschichtsdidaktischer Ansatz 

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Koordinaten der ‚modernen Geschichtsdidaktik‘ hinaus – mit den entsprechenden Annahmen zu geschichtsdidaktischen Begriffen und Theorien heutiger Diskurse, die als Analysekategorien mitunter angewandt werden. Eine vergleichende Perspektive und eine Abmessung des diskursanalytischen Feldes verspricht sozusagen einen höheren Erkenntnisgewinn8, um die Narrativkonstruktionen und Denkfiguren in ihrem Bestimmungskontext der Zeit bewerten zu können. Dies ermöglicht, eine darüber hinausgehende Anschlussfähigkeit der Befunde in eine Disziplingeschichte der Geschichtsdidaktik einordnen zu können.

Zum historisch-politischen Zeitgeist der frühen Bundesrepublik Die Europa-Abendland-Diskussion im geschichtspädagogischen Sinne in der frühen Bundesrepublik war dabei zunächst keineswegs auf konservative Kreise begrenzt, sondern für eine breite gesellschaftliche Mitte akzeptabel.9 Walter Dirks und andere linke Intellektuelle begeisterten sich dafür, denn „darin steckte für viele die Hoffnung, die sie mit der Idee ‚Europa‘ verbanden und die Frieden und Aussöhnung im politischen Bereich versprach – und damit für unterschiedliche politische und konfessionelle Lager attraktiv war“, so Dietmar Süß.10 Die ‚christlich-abendländische Kultur‘, auf die sich in den 1950er Jahren vor allem konservative Politiker/-innen beriefen, entstammt einem Amalgam verschiedener geistesgeschichtlicher Ideen und miteinander verwobener Narrative, das seinen Ursprung im 19.  Jahrhundert hatte und eine historische Einheit von Antike, Christentum und Abendland, von Religion, Kultur und Bildung beschwor.11 Das ‚Abendland‘ avancierte zum Gegenbegriff des zeittypisch gebrauchten, jedoch an ältere Wahrnehmungs- und Abwertungsmuster anknüpfenden Begriffs der ‚Amerikanisierung‘, verbunden mit dem Topos kultureller Leere und der Reduktion auf Konsum.12 Folglich galt die „Rückkehr in die abendländische Kulturgemeinschaft“ in Deutschland als eine Art rettende Schlussfolgerung aus der Ungeistigkeit des Dritten Reiches, „verbunden mit der Rückbesinnung auf das Religiöse  – eine regelrechte Rechristianisierungsbewegung, in der sich das enorme Bedürfnis nach überzeitlicher Orientierung und Werten manifestierte“, so Ulrich Herbert.13  8 Vgl. Heuer/Hasberg/Seidenfuß, „Sommer der Geschichtsdidaktik“, S. 73–89.   9 Zum Begriff ‚Abendland‘ siehe  : Faber, Abendland. 10 Süß, „Lieb Abendland“, S. 1. 11 Ebd. 12 Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 690. 13 Ebd., S. 691. Vgl. Köhler/van Melis (Hg.), Siegerin  ; Wilhelm, „Milieu und Konzil“.

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In Verbindung mit den politischen Zielen der Regierung Konrad Adenauers, der Westbindung und Westintegration, schien der Wertediskurs des christlichen Abendlandes zudem prädestiniert zur politischen Selbst-Positionierung, zur Abgrenzung gegen das ‚östliche Europa‘ mit dem zeittypisch heraufbeschworenen ‚Schreckgespenst des Bolschewismus‘ sowie zum adäquaten Umgang mit der realen Bedrohung durch innere und äußere Feinde der jungen parlamentarischen Demokratie im Westen Deutschlands. Der hybride Terminus des ‚Abendlandes‘ stand zugleich für eine Basisideologie des Kalten Krieges, denn die Orientierung am Narrativ des Abendlandes enthielt in den Positionen nicht weniger Historiker/-innen „das Gedenken an jene Bestandteile der jahrhundertealten Gemeinschaft, die ihr heute durch die Sowjetisierung hinter dem eisernen Vorhang entfremdet erscheinen. Zugleich bringt er zum Bewußtsein, wie innig sie mit dem, was sich zum neuen Europa zusammenschließt, kraft der geschichtlichen Entwicklung mit Deutschland verknüpft ist.“14 Nach Ulrich Herberts Einschätzung wird zudem deutlich, dass das durchaus verbreitete Geschichtsbild es zuließ, „die nationalsozialistischen Massenverbrechen ebenso auszublenden wie Krieg und deutsche Besatzungsherrschaft im Westen“.15 Das christliche Europa-Abendland-Narrativ eignete sich daher auch für viele Geschichtspädagogen/-innen als ein Bekenntnis zur politischen Agenda der Bundesrepublik und zugleich, obwohl sicher nur marginal, als eine Art Abgrenzung zur Geschichtsmethodik der SBZ und frühen DDR mit ihrer marxistisch-leninistischen Geschichtsauffassung. Im Gegensatz dazu war der bildungsdidaktische Rekurs auf bestimmte kulturell formierte Werte in überzeitlicher Perspektive eine dominante Entwicklungslinie der sich entwickelnden bundesdeutschen geschichtsdidaktischen Disziplin. Hinzu kommt, dass jene westdeutschen Historiker/-innen, denen nationale Gewissheiten abhandengekommen waren, bevorzugt nach dem ‚Rettungsanker‘ E ­ uropa, und der damit zeittypisch verwobenen Abendlandidee griffen.16 Während die meisten protestantischen Historiker/-innen, darunter insbesondere Gerhard Ritter, „an der kleindeutschen Reichsidee und der daraus erwachsenden Nationsvorstellung festhielten“ – auch deshalb, weil die Hochburgen des Protestantismus in der DDR lagen und neun Zehntel der DDR-Bevölkerung Protestanten waren –, sprangen katholische Historiker/-innen wie Franz Schnabel, „die aus ihrer Minoritätenposition heraustreten konnten, weil erstmals in einem deutschen Staat eine numerische Balance zwischen Protestanten und Katholiken herrschte, viel schneller auf andere Varianten 14 Aubin, „Abendland“, S. 63, zit. nach  : Herbert Geschichte Deutschlands, S. 691. 15 Ebd. 16 Wolfrum, „Tradition und Neuorientierung“, S. 55.

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über und reaktivierten ihre eigenen älteren Vorstellungen, die nun der neuen Lage gemäß erschienen“, so Edgar Wolfrum.17 Sie versuchten, um ein Beispiel der Narrativkonstruktion anzuführen, mit der föderalen Reichsidee des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation alternative Wege der deutschen Geschichte zu entwerfen, denn, so Wolfrum weiter, die „über- und vornationalen Traditionen des Alten Reiches, seine friedenssichernden Funktionen, seine kulturelle Vielfalt und tiefe Verwurzelung im christlichen Europa schienen den Weg der Deutschen in eine überstaatliche Gemeinschaft erleichtern zu können“.18 Kritiker/-innen wie Hermann Heimpel hingegen sprachen von einer ‚Limes-Ideologie‘, weil die Abendlandidee Ostdeutschland auszugrenzen drohe.19 Gegen Ende der 1950er Jahre gerieten die Wortführer der pädagogisierten christlich-kulturgeschichtlichen Abendlandidee in die Defensive, „weil die kulturpessimistische Emphase mit dem rasanten ökonomischen und sozialen Wandel nicht Schritt halten konnte“, so Süß.20 Dass auch der Geschichtsunterricht bald in eine Krise geriet, angesichts der Hakenkreuz-Schmierereien an der Kölner Synagoge 1959, und nach neuen Ziel- und Bestimmungsfaktoren suchte, markiert dann eine neue, auch generationelle Periode des geschichtsdidaktischen Diskurses mit gesellschaftskritischer Perspektive.

Geschichtspädagogische Konzepte in den 1950er Jahren Als Anfang der 1950er Jahre Geschichte wieder als reguläres Schulfach etabliert wurde, orientierten sich die Lehrpläne und Schulbücher der Bundesländer am Geschichtsunterricht der Weimarer Zeit und damit auch an vormaligen Narrativen der Zwischenkriegszeit.21 Der Geschichtsunterricht der frühen Bundesrepublik blieb in seiner genetisch-chronologischen Abfolge überwiegend auf die deutsche Geschichte bezogen, in den Gymnasien fanden zudem europäische und globalgeschichtliche Themen Erwähnung. Die der damaligen Auffassung entsprechende Schulfachdidaktik kam ohne weitgehende Begründungen der Stoffauswahl aus, kanonisiertes Wissen wurde nur punktuell ergänzt. Die in den Unterrichtsbüchern vermittelten Erinnerungsnarrative verstanden sich als dienstbare Abbilddidaktik ihrer Bezugswissenschaft, der politischen Geschichtswissenschaft, die jedoch auf eigene geschichtsthe-

17 Ebd. 18 Ebd., S. 56. 19 Ebd., S. 57. 20 Süß, „Lieb Abendland“, S. 1. Siehe auch  : Friedeburg, Bildungsreform. 21 Mayer, „Neuaufbau des Geschichtsunterrichts“, S. 141.

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oretische Fragen weitgehend verzichtete.22 Soweit sich die Geschichtspädagogik als praxisnahe Unterrichtslehre verstand, wie ihr prominentester Exponent Hans Ebeling sie vertrat, fokussierte sie sich auf einen ebenso praxisnahen Erfahrungsschatz und eine äußerst reduzierte geschichtswissenschaftliche Methodenlehre. Vertreter/-innen der historischen Bildungsdidaktik, wie Ernst Wilmanns, setzten hingegen auf Bestimmungsmerkmale für adäquate historische Bildung, wozu ein Wertebewusstsein zählte, das sich zwischen Selbst- und Welterkenntnis entfalten sollte.23 Dieses, an universelle Werte angelehnte Narrativ korrespondierte mit den christlichen Normen und Sitten eines auf das Kollektiv abzielenden handelnden Individuums, dessen Integration in die staatspolitische Gemeinschaft oberstes Ziel der geschichtspädagogischen Bemühungen war.24 Die Vertreter/-innen traditioneller Konzeptionen des Geschichtsunterrichts setzten auf die, seit dem 19. Jahrhundert altbewährte, Abbilddidaktik mit ihren an der Fachwissenschaft orientierten Fragestellungen, Forschungsmethoden und Erkenntnissen. Auch wenn sich viele mit Begründungen der Wissenschaftlichkeit begnügten, war der Kern des Geschichtsunterrichts – wie Felix Messerschmid und Erich Weniger betonten – ein Politikum und kann ohne Berücksichtigung seiner politischen Komponenten weder zutreffend analysiert noch realistisch konzipiert werden.25 Kontroversen zwischen Georg Eckert auf der einen Seite und Erich Weniger sowie Gerhard Ritter auf der anderen Seite zeigten im Ergebnis, dass mit der Gründung des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands 1949 eine Weichenstellung insofern vorgenommen wurde, als die Kulturgeschichte im Geschichtsunterricht größeren Stellenwert erhielt und mit ihr auch die verwobenen Narrative und Erinnerungsdiskurse einer abendländisch-christlichen Kultur als gemeinsame Wertebasis.26 Die historische Kultur- und Menschenkunde mit der Flucht aus dem Politischen und der Hinwendung zum Kulturkundlichen sowie Religiösen bildete die vielleicht einflussreichste Strömung innerhalb der geschichtspolitischen Debatten über die Konzeption des Faches in der frühen Bundesrepublik.27 Friedrich Meinecke und andere Protagonisten sahen einen „Rückzug auf das ‚Herrliche‘ und ‚Heilige‘ der deutschen ‚Volks- und Kultursubstanz‘, insbesondere in der Kultur des deutschen Idealismus, für geeignet, die politische Sphäre selbst zu läutern“, verbunden mit der

22 Rohlfes, „Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik“, S. 157. 23 Ebd. 24 Arand, „Neuorientierung“, S. 226. 25 Rohlfes, „Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik“, S. 158. 26 Kuss, „Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht“, S. 739. 27 Mayer, „Neuaufbau des Geschichtsunterrichts“, S. 142.

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notwendigen Geschichtsrevision einer übersteigerten Personalisierung, Fatalisierung und Biologisierung historisch-politischer Zusammenhänge.28 Parallel diskutierte Entwürfe einer Konzeptionierung des Geschichtsunterrichts folgten ebenfalls den Ansätzen der Weimarer Republik, zum Beispiel dem soziologisch orientierten Ansatz Siegfried Kaweraus, den Fritz Wuessing in den 1950er Jahren in Berlin als Vorsitzender der dortigen Arbeitsgemeinschaft der Berliner Geschichtslehrer und auch als Schulbuchautor der Reihe Wege der Völker weiter vertrat. Kaweraus Interesse galt sozioökonomischen Zusammenhängen mit dem Bezugspunkt auf Gesellschaften  ; die Entwicklung Deutschlands stellte er im Kontext europäischer Geschichte dar. Ebenfalls aus der Sozialdemokratie stammte Anna Siemsen, die bereits in der Weimarer Zeit als linkspazifistische Pädagogin bekannt wurde. Sie schrieb in ihrem Beitrag Europäischer Geschichtsunterricht im von der Arbeitsgemein­schaft Deutscher Lehrerverbände herausgegebenen Band Geschichtsunterricht in unserer Zeit von 1951, in dem sie auch von einem „europäischen Menschheitsbewusstsein“ spricht, Folgendes  : Gelangen wir so zu einem Unterricht, der Geschichte als Prozeß des Gesellschaftslebens behandelt, so ergibt sich die Lösung unserer zweiten Aufgabe fast von selber. Gesellschaft hat sich immer nur vorübergehend, und nur zum Teil, innerhalb staatlicher Grenzen organisiert. In Europa ist das niemals der Fall gewesen. Das römische Imperium war kein Staat in unserem national beschränkten Sinn. Und der andere entscheidende konstitutive Faktor der europäischen Gesellschaft  : die christliche Kirche – besser die unsichtbare, trotz aller kirchlichen Spaltungen fortbestehende Gemeinschaft der Christen – ist ausgesprochen überstaatlich, menschliche Universalität anstrebend.29

Sie schließt mit den Worten  : „Ich habe nur andeuten können, was mir als wesenhafte Aufgabe der heutigen Schule erscheint […], daß unser Geschichtsunterricht bestimmt sein sollte, Gemeinschafts- und Menschheitsbewusstsein zu wecken.“30 Deutlich wird hierbei, wie die christliche Abendlandidee als geschichtspädagogisches Narrativ parteiübergreifend rezipiert wurde und damit Eingang in den Geschichtsunterricht fand. Ein anderer Ansatz war der christlich-normative, der nicht nur eine erneute Berücksichtigung der allgemeinen christlichen ‚Substanz‘ der abendländischen Geschichte erstrebte, sondern auch auf ein eschatologisch zugespitztes heilsgeschicht28 Meinecke, Die deutsche Katastrophe, zit. nach Mayer, „Neuaufbau des Geschichtsunterrichts“, S. 143. 29 Siemsen, „Europäischer Geschichtsunterricht“, S. 7. 30 Ebd., S. 8.

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liches Geschichtsbild zielte, wie es Hans Berendt für die höheren Schulen vertrat.31 Im angebrochenen Endzeitalter würden die Völker der Erde „vom heiligen Geist ihre metaphysische Aufgabe empfangen. Wir aber, wir Europäer, werden die Werkzeuge des Heiligen Geistes sein. Wir werden die Völker befruchten mit dem Samen des Christentums.“32 Nur wer Geschichte so erlebe, könne sie auch unterrichten und deuten, so der katholische Geschichtspädagoge Theodor von den Driesch 1951 in seinem Aufsatz „Das christliche Geschichtsbewusstsein und das christliche Geschichtsbild“.33 Die verschiedenen Varianten der Gegenposition zur Kultur- und Menschenkunde waren in mehrfacher Hinsicht politisch, denn dort wurde Geschichte in der Perspektive der politischen bzw. politisch-sozialen Verhältnisse betrachtet, die zentrale Bedeutung des Faches für die politische Bildung akzeptiert und politische Implikationen des historischen Unterrichts und der eigenen didaktischen Position erkannt.34 Zudem gab es in der frühen Bundesrepublik geschichtspädagogische Ansätze, die den selten zum Tragen gekommenen Leitvorstellungen von Libertät und Humanität, gesellschaftlichem Fortschritt und politischer Demokratie verpflichtet waren und diese mit Narrativitätskonstruktionen zum Abendlandtopos verbanden.35 Vor allem mit dem damaligen Kultusminister von Württemberg-Hohenzollern, Carlo Schmid, verbindet sich das Konzept eines europäisch-abendländischen Geschichtsunterrichts, dem sich von einem übernationalen Standpunkt aus Einzelnationen als das Ergebnis eines wechselseitigen Austausches erschließen. Bei anderen Vertretern bot sich das Abendlandnarrativ als Synonym für den Rückzug in die vorindustrielle Idylle an, bevor der Topos zuweilen zum politischen Kampfbegriff der Gegenwart wurde, wie bei Josef Schnippenkötter oder auch Gerhard Ritter.36

Konkretisierung des christlich-europäischen Abendlandnarrativs für den Geschichtsunterricht Anfänglich konkurrierten verschiedene Akteursgruppen  – Staat, Kirche und Wissenschaft – um die Ausgestaltung der Lehrpläne, die zum Teil aus privater Initiative oder von regionalen Lehrerverbänden in großer Zahl veröffentlicht wurden, da offi31 Berendt, Bildungsideal, S. 11, zit. nach Mayer, „Neuaufbau des Geschichtsunterrichts“, S. 144. 32 Driesch, Geschichtsbewußtsein, S. 187, zit. nach Mayer, „Neuaufbau des Geschichtsunterrichts“, S. 144. 33 Driesch, Geschichtsbewußtsein. 34 Mayer, Neuaufbau des Geschichtsunterrichts, S. 144. 35 Ebd., S. 145. Mayer verweist hier auf die Schrift  : Schmid, Forderungen des Tages. 36 Schnippenkötter, Wiedereröffnung  ; Ritter, Geschichtsunterricht, S. 451, zit. nach Mayer, Neuaufbau des Geschichtsunterrichts“, S. 145.

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zielle Verlautbarungen noch auf sich warten ließen. Jedoch kamen diese Curricula meist ohne didaktische Begründung oder geschichtstheoretische Reflexion aus und gelangten infolge institutioneller Rahmenbedingungen nicht zur Geltung.37 Viele der sog. Stoffkataloge bzw. Lehrpläne, oft mit deutlich konfessionellem Gepräge, waren durchdrungen vom normativen Postulat einer Orientierung am christlich-abendländischen ‚Menschendbild‘.38 In den Richtlinien von Nordrhein-Westfalen setzte sich schließlich die ‚Abendlandidee‘ mit einem darauf aufbauenden Wertekatalog durch, der deutlich an die Diskussion über die allgemeine ‚Sittlichkeit‘ und über zeitlose Werte anschloss.39 Bei einer Analyse dieser Lehrplanentwürfe und Positionen wird die Kompatibilität von Abendlandidee und christlich gedeutetem Geschichtsbild deutlich, das nicht begründet, sondern gesetzt wurde.40 Besonderer Wert wurde in den höheren Schulen darauf gelegt, die Einbindung der deutschen Geschichte in die ‚abendländische Kultur‘ und ihre Wertetradition zu erkennen. So heißt es in den niedersächsischen Richtlinien von 1951  : „Die abendländische Kultur erscheint als unsere Welt, indem hier die Idee der freien Persönlichkeit und der sittlich bindenden Gemeinschaft als ein zentraler Wert von den Menschen erfaßt und gegen ständige innere und äußere Bedrohungen behauptet worden ist.“41 Im Sinne einer ‚sittlichen‘ Restabilisierung der durch den Nationalsozialismus moralisch deformierten Jugendlichen orientierte sich der Geschichtsunterricht in der Volksschule an der sog. volkstümlichen Bildung, beispielsweise vertreten durch Eduard Spranger, der den „Bildungswert der Heimatkunde“ betonte.42 Für ­Wilhelm Flitner leitete sich, vor wie auch nach 1945, die Bildungsidee der Volksschule aus den „Wurzeln der abendländischen Volkserziehung“ ab.43 Das Ideal einer auf christlichen Werten beruhenden sittlichen Erziehung dominierte die Präambeln der Lehrpläne und Handreichungen für den Unterricht. Hans Ebeling, der für Norddeutschland auflagenstarke Geschichtsschulbücher herausgab, argumentierte, das Hochhalten „ewiger Werte“ und die Besinnung auf christliche Grundtugenden, die „Flucht ins 37 Schwarz, „Abendland und Arbeitswelt“, S.  156. 1946 wurden vom nordrhein-westfälischen Kultusminister die Reichsrichtlinien für die Volksschulen von 1939 außer Kraft gesetzt, zugleich die preußischen Richtlinien zur Aufstellung von Lehrplänen für die Volksschulen von 1922 wieder in Kraft gesetzt. 38 Ebd., S. 157. 39 Hasberg/Seidenfuß, „Modernisierung“, S. 396. 40 Ebd. 41 Niedersächsischer Kultusministerium (Hg.), Geschichtsunterricht, S. 7. 42 Vgl. auch  : Sprangers Bildungswert der Heimatkunde, zit. nach Schwarz, „Abendland und Arbeitswelt“, S. 159. 43 Vgl. hierzu  : Flitner, Quellen des Volksschulgedankens, zit. nach Schwarz, „Abendland und Arbeitswelt“, S. 159.

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metaphysisch Überzeitliche“, resultierten nicht zuletzt aus der Überzeugung, dass die jüngste Geschichte wie auch die Gegenwart keine geeigneten Anknüpfungspunkte für die propagierte „Menschenbildung“ lieferten.44 Analog waren die geistesgeschichtlichen Koordinaten für die höhere Bildung an Gymnasien ausgerichtet, wie das Beispiel Nordrhein-Westfalen zeigt. Josef Schnippenkötter, ehemaliges Mitglied des katholischen Akademieverbandes mit einfluss­ rei­­ chen Vernetzungen im Philologenverband und persönlicher Freund Konrad Adenauers, bezeichnete „das Christentum, die Antike, den deutschen Geist und das Abendland als die Grundlagen des künftigen Gymnasiums“.45 Innerhalb der Lehrplandiskussionen wurde schließlich formuliert  : „Der Geschichtsunterricht muss getragen sein von einer festen Anschauung über den Sinn der Geschichte, etwa im Sinne des christlichen Geschichtsbildes von Haecker, Reinhold, Schneider (Macht und Glaube), Litt, Berjadjew.“46 Das christliche Geschichtsbild wurde also nicht begründet, sondern gesetzt, denn nach den Erfahrungen mit der NS-Diktatur war es naheliegend, „bei der Suche nach einer kollektiven Identität auf vermeintlich ‚unverbrauchte Inhalte‘ wie Religion und traditionelle Kulturgüter zurückzugreifen“.47 Mit der prononcierten Betonung „überzeitlicher, abendländisch geprägter Werte und Normen und ihren Anleihen an das Konzept der in den 1950er Jahren sehr verbreiteten ‚volkskundlichen‘ Bildung“ entsprachen die meisten bundesdeutschen Lehrpläne und Richtlinien der dominanten intellektuellen Zeitströmung jener Jahre.48 In Anbetracht der vergangenheitspolitischen Zeitumstände in der frühen Bundesrepublik kann angenommen werden, „dass die religiös geprägte ‚Abendlandrhetorik‘, wie sie sich in den Lehrplänen und Richtlinien der Zeit finden lässt – vor allem natürlich angesichts der kollektiven moralischen Bankrotterklärung im Nationalsozialismus – als Integrations- und Identifikationsangebot an die Zielgruppe der Lehrer funktionierte und als Ausdruck einer Suchbewegung im Prozess der Selbstvergewisserung verstanden werden muss“, so Christopher Schwarz.49

44 Vgl. Ebeling, „Geschichtsunterricht“, S. 437, zit. nach Schwarz, „Abendland und Arbeitswelt“, S. 160. 45 Vgl. Schnippenkötter, Rede zur Wiedereröffnung, S. 7, zit. nach Segger, „Richtlinien und Lehrpläne“, S. 171. 46 Kulturabteilung der Nord-Rheinprovinz (Hg.). Lehrpläne für Geschichte, S.  5. Siehe auch  : Litt, Geschichte und Verantwortung  ; Buber, Reden über Erziehung, zit. nach Seeger, „Richtlinien und Lehrpläne“, S. 172. 47 Seeger, „Richtlinien und Lehrpläne“, S. 173. 48 Schwarz, „Abendland und Arbeitswelt“, S. 166. 49  Ebd., S. 161.

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Disziplingeschichtliche Vergangenheitspolitik und Gegenwartspositionierung Die Analyse der fachdidaktischen Diskussionen in der frühen Bundesrepublik legt Strategien einer disziplingeschichtlichen Vergangenheitspolitik offen, die es der Geschichtspädagogik ermöglichten, sich im Rahmen des politischen Systemwechsels auf veränderte Resonanzbedingungen einzustellen und zugleich ihre Inhaltsfelder und ihr Wissen erneut als zeitgemäß zu präsentieren.50 Das dominante Europa-Abendlandnarrativ der 1950er Jahre entfaltete sich im Rahmen des zeittypischen NS-Bewältigungsdiskurses, in dem eine Generation von um die Jahrhundertwende Geborenen dominierte, „die in Reaktion auf die alliierte Kollektivschuldthese versuchte, den historischen Ort und die Ursachen des Nationalsozialismus in geschichtsphilosophischen Großentwürfen zu identifizieren“, so Julia Kurig.51 Sie ordneten in diesem Zusammenhang den Nationalsozialismus in Prozesse neuzeitlicher Individualisierung und Säkularisierung ein und bestimmten ihn als „Ergebnis eines modernen Bindungs- und Glaubensverlustes im Rahmen einer allgemeinen ‚abendländischen‘ Krise, als deren Resultat man die ‚deutsche Katastrophe‘“ sah.52 Kurig konstatiert, im „geistigen Leerraum, den die Säkularisierung heraufgeführt habe – so die im NS-Bewältigungsdiskurs immer wieder vorgebrachte These –, habe sich der Machtanspruch einer inhumanen und selbstläufigen Technik entfalten können, so dass der moderne ‚Abfall von Gott‘ bzw. der ‚Nihilismus‘ ein beliebtes Deutungsmuster in der Schulddebatte der Besatzungszeit war“.53 Die geschichtspädagogische und fachdidaktische Profession konnte nach 1945 schon allein deswegen eine besondere gesellschaftliche Relevanz für sich beanspruchen, weil es im zeittypischen Diskurs einen Konsens darstellte, dass die im Nationalsozialismus kulminierende ‚Krise des Abendlandes‘ nur durch geistige Umorientierung bewältigt werden könne und damit eine Aufgabe von Bildung und Unterricht sei.54 Für die im pädagogischen Diskurs geforderte ‚geistige Umkehr‘ durch ‚Heilung‘ des nihilistischen Geistes der Moderne hatte die Geschichtsfachdidaktik, Kurig zustimmend, ein maßgeschneidertes wissenschafts- und bildungstheoretisches Angebot parat  : „geisteswissenschaftliche Vernunft und ‚abendländische Bildung‘ als Widerstandskräfte gegen die in Technik und Nationalsozialismus wirkende, auf ‚Zweck‘ und ‚Anwendung‘ reduzierte ‚Intelligenz‘“.55 Exemplarisch für viele Publikationen der frühen Bundesrepublik dazu 50 51 52 53 54 55

Vgl. Kurig, „Abendländische Bildung“, S. 17. Ebd., S. 18. Vgl. Albrecht, „Frankfurter Schule“, S. 507–510. Kurig, „Abendländische Bildung“, S. 18. Vgl. Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Kurig, „Abendländische Bildung“, S. 19. Vgl. Künneth, Der große Abfall. Kurig, „Abendländische Bildung“, S. 21. Ebd. Vgl. Dvorak, Technik, Macht und Tod, S. 12. Exemplarisch siehe  : Meyer, Abendländische Weltanschauung  ; Dolch, Lehrplan des Abendlandes.

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heißt es so im Vorwort zu Otto Eberhards Kompendium klassischer Texte, zusammengestellt zur Abendländischen Erziehungsweisheit  : Vor rund vierzig Jahren erschien im Bereich des ‚Christlichen Vereins im nördlichen Deutschland‘ ein schmales Büchlein ‚Elternspiegel‘. Es weitete sich in der Hitlerzeit aus zu dem ‚Buch der Eltern‘ und bot sich jener verwirrenden Zeit als ein ‚Führer durch die Erziehungsfragen und Entwicklungsnöte in der Gegenwart‘ an (Stuttgart, 2. Aufl. 1937). Und nun, da wir über den eigenen Kirchturm hinausschauen und in kontinentalem Ausmaß denken gelernt haben, hat sich der letzte Abschnitt dieser Elternlehre ausgewachsen zu einer Umschau über das Vermächtnis, das die großen Menschheitserzieher seit der Reformation dem Abendlande geschenkt und einer aus den Fugen geratenen und auch im Innersten der Menschheitsbezüge unsicher gewordenen Welt gleichsam stellvertretend – tiefgründig, stützkräftig, richtungsweisend – hinterlassen haben.56

Der Topos des christlichen Abendlandes als ein Masternarrativ der geschichtspädagogischen Fachdidaktik der frühen Bundesrepublik war so aufgrund seiner unmittelbaren politischen Funktionalität ubiquitär. Die Krise des Abendlandes, mit der eine allgemeine Kritik an Säkularisierung einherging, führte zu einer Entnationalisierung des NS. Zudem wurde die Schuldfrage der Deutschen im Zuge dessen zur ‚Erkrankung des abendländischen Geistes‘ umgewandelt.57 Das Narrativ des westlich-christlichen Abendlandes kann in diesem Sinne als eine kulturelle Form deutscher Identitätsfindung – nach dem kompletten Zusammenbruch Deutschlands – beschrieben werden, denn der NS und die Moderne wurden mit einem Ab- bzw. Wegfall von abendländischer Kultur und deren Werten interpretiert. Die neuerliche Hinwendung zu den antiken Traditionen, dem Christentum und dem deutschen Idealismus sollte diesen Wegfall überwinden.58 Geprägt blieb diese Narrativkonstruktion zwar durch das seit der Kulturkritik der Weimarer Zeit die geisteswissenschaftliche Pädagogik formende Ressentiment gegenüber der Moderne und gegenüber Individualismus, Rationalismus, Relativismus und Säkularisierung. Folglich rekonstituierte sich hier traditionelle konservative Modernitätskritik. Zugleich aber fehlte den abendländischen Bildungsentwürfen jener Jahre im Vergleich zu den 1920er Jahren der Utopie-Gedanke, weshalb der Kulturpessimismus der frühen Bundesrepublik nicht mehr zur realen politischen Gefahr wurde.59

56 Eberhard, Abendländische Erziehungsweisheit, S. VII. Ähnlich für den Bereich der Anschauung  : Simon, Abendländische Gerechtigkeitsbilder. 57 Kurig, „Abendländische Bildung“, S. 22. Vgl. Weinstock, Der deutsche Abfall, S. 4. 58 Kurig, „Abendländische Bildung“, S. 22. 59 Vgl. ebd., S. 26. Siehe auch  : Pöpping, Abendland.

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Das christlich-europäische Abendlandnarrativ ermöglichte gewissermaßen die Anpassung alter geschichtspädagogischer Programme an neue politische Bedingun­ gen und ist insofern eine Art disziplingeschichtliche Vergangenheitspolitik in Verbindung mit einer Gegenwartspositionierung, denn mit „abendländischem Freiheitspathos“ konnten auch und gerade ehemalige NS-nahe Konservative in den „anti­totalitären Grundkonsens“60 einstimmen. Der als antitotalitär konturierte Abendlandbegriff wurde zwar verstanden als Freiheit von ‚totalitärer‘ staatlicher Inanspruchnahme, letztlich war mit ‚Freiheit‘ aber eher die Freiheit des Bildungsbürgers von der Massengesellschaft gemeint, also letztlich Freiheit von ‚Egalität‘. In dieser Hinsicht steht das ‚abendländische Bildungskonzept‘ dann doch nur am Übergang von einem noch in den 1920er und 1930er Jahren verbreiteten autoritären hin zu einem demokratisierten Denken in der Pädagogik, wenngleich die emanzipatorische Geschichtsdidaktik mit Annette Kuhn und anderen erst Jahrzehnte später ihren Durchbruch erlebte.61

Ausblick zur späteren Transformation der akademischen Disziplin der Geschichtsdidaktik Unter den Geschichtspädagogen der 1950er Jahre ragt der aus der katholischen Jugendbewegung stammende Felix Messerschmid, Mitbegründer der Zeitschrift Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, heraus. Für ihn als „Überzeugten der abendländischen Kultur“ (Hasberg und Seidenfuß) markierten überzeitliche Werte die Basis für Bildung und Orientierung in einem zukünftigen Gemeinwesen, denn er erkannte schon vor Kriegsende, „dass in der Stunde der Katastrophe auch die Frage nach der Sinnbildung über Zeiterfahrung gestellt und beantwortet werden müsste“.62 Als intellektueller Impulsgeber von den Besatzungsmächten anerkannt, nahm Messerschmid maßgeblichen Einfluss auf die publizistischen Debatten und nutzte seine Funktionen als Mitbegründer und Leiter der Akademie in Calw, Vorsitzender des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands, Vorstandsmitglied des Verbandes der Historiker Deutschlands und Akademiedirektor in Tutzing, um das historische mit dem politischen Lernen in produktiver Weise zu verbinden und sich gegenüber Gegenwartsfragen offen zu zeigen. Er konzeptualisierte die historische Erinnerungsleistung der Geschichtswissenschaft – im Sinne von Jörn Rüsens kognitiver Dimension 60 Kurig, „Abendländische Bildung“, S. 27. Vgl. Weisbrod, „Geist“, S. 34. 61 Kurig, „Abendländische Bildung“, S. 28. 62 Hasberg/Seidenfuß, „Modernisierung“, S. 398.

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der Geschichtskultur – als Zentralinstanz für die Generierung und Verbreitung des ‚nationalen Gedächtnisses‘.63 Dabei gelten Schule und Geschichtsunterricht als die wirkungsvollsten Vermittlungsorgane. So schrieb er  : „Rückerinnernde Vergegenwärtigung  – das ist der Auftrag des Geschichtslehrers, und es hängt für ein Volk viel daran, daß er wirklich erfüllt wird. Die Zeit nach 1945 hat uns ein Bewusstsein davon gebracht, was geschehen kann, wenn mehrere Jahrgänge sozusagen das geschichtliche Gedächtnis verlieren. Und das, nachdem vielen Jahrgängen zuvor das geschichtliche Gedächtnis verfälscht worden war  !“64 Messerschmid weiter  : „Solches Sicher­innern kann niemals vollständig abgelöst werden vom jetzigen geschichtlichen Augenblick, denn nur von ihm aus bekomme ich das Gewesene, Getane, Geleistete gegenwärtig.“65 In den 1960er Jahren verwandte Messerschmid anstelle des Begriffes des ‚nationalen Gedächtnisses‘ den Terminus der ‚kollektiven Erinnerung‘, an der die Schüler/-innen durch den Geschichtsunterricht teilnehmen sollten. Notwendig sei die geistige Anstrengung und – im späteren Sinne einer bewussten Reflexion im Grunde als Kern des historischen Lernens – die ständige Überprüfung der Erinnerungswürdigkeit durch die Forschung, so dass der Gegenwartsbezug für diese wissenschaftliche Erinnerungsarbeit konstitutiv sei. Hingegen führe die reine politische Aktualität als Auswahlkriterium zu einem unzulässigen und propagandistischen Missbrauch von Geschichte.66 Der von Messerschmid verwandte Begriff des Geschichtsbewusstseins bezog sich auf das gesellschaftliche Leben und umfasste dabei die „Erfahrung von Grundlinien und Grundwerten der Überlieferung, also die Sicherung der kollektiven Erinnerung“, und ein „Verständnis für das politische Dasein aus seinem Gewordensein“.67 Geschichtsbewusstsein ermöglicht die Erkenntnis, dass die Ordnung des gemeinsamen Daseins unter Menschen eine ständige Aufgabe war und ist. Es erschließt mithin eine zeitliche Tiefendimension des politischen Daseins und bildet das Fundament für einen gegenwartsbezogenen Handlungsauftrag, womit Geschichtsbewusstsein die unabdingbare Voraussetzung für politische Bildung und Erziehung ist.68 Auch wenn Messerschmid dafür eintrat, die politische Bildung stärker in den Vordergrund zu rücken, betonte er doch den Stellenwert der historischen Bildung als Voraussetzung für die Orientierung in der Gegenwart – eine Sichtweise, mit der er seiner Zeit im damaligen Diskurs weit voraus war. Hauptaufgabe der Ge63 Bühl-Gramer, „Politische und historische Bildung“, S. 253. 64 Messerschmid, „Lehrer der Geschichte“, S. 674. 65 Messerschmid, „Aufgabe der politischen Bildungsarbeit“, S. 475, zit. nach Bühl-Gramer, „Politische und historische Bildung“, S. 254. 66 Bühl-Gramer, „Politische und historische Bildung“, S. 254. 67 Ebd., S. 255. 68 Ebd. Vgl. Messerschmid, „Bewußtsein und die Schule“. S. 24.

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schichtsdidaktik war nach Messerschmid, so die Einschätzung von Horst Kuss, den „Bildungssinn der Geschichte“ herauszuarbeiten.69 Der ‚Bildungssinn‘ verweist auf den später von Jörn Rüsen in die geschichtsdidaktische Disziplin eingebrachten Topos um ‚Sinnbildung‘, auf die Erfahrung von Zeitlichkeit und die Funktionalisierung der Geschichtsdidaktik als Reflexionsinstanz beim Umgang mit Zeitlichkeit.70 Hieran schlossen die Debatten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts an, jedoch zeigt sich, dass ohne die geschichtspädagogischen Diskurse der frühen Bundesrepublik und ihre Transformationsleistung der ‚Aufbruch‘ in der Geschichtsdidaktik als eigener akademischer Subdisziplin so wohl nicht möglich gewesen wäre – wenn nämlich Universitäten und Ministerialbürokratien nicht erkannt hätten, dass sich die Didaktik der Geschichte eben nicht allein im schulischen Pragmatismus erschöpft, sondern dass die grundlegenden anthropologischen Fragestellungen nur mit einem relationalen Bezug zur zeitlichen Reflexion menschlichen Handelns sinnstiftend wirksam sein können. Im Hinblick auf die Konstituierung der Vorstellungen und der Ontogenese des Terminus des Geschichtsbewusstseins als Zentralkategorie historischen Denkens, wie er ubiquitär heute mehr denn je verwendet wird, schufen die Debatten der frühen Bundesrepublik, trotz ihrer NS-Vergangenheitsverdrängung, für die Ausrichtung eines auf Basisnarrative bezogenen Geschichtsunterrichts europäisch-anthropologischer Prägung in Verbindung mit später wiederentdeckten Anleihen der transatlantischen Kultursoziologie jüdischer intellektueller Migranten dennoch eine wesentliche Grundlage.71

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4 POLITISCHER GEBRAUCH VON GEDÄCHTNISBESTÄNDEN IN ABENDLANDDISKURSEN

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The ‘Memory of Rome’ Identitarian, Racist and Anti-Semitical romanità Discourse in Italy from the Fascist March on Rome until the Aftermath of the leggi razziali Classicists and ancient historians have become increasingly interested in the ways in which classical antiquity has been appropriated for political ends, the complicity of classical scholarship in these appropriative efforts, and the lasting impact that this complicity has had on the discipline. One very peculiar, highly politicized and ideo­ logized vision of classical antiquity is that constructed by Italian fascism. To be sure, in some cases the Italian fascist reception of classical antiquity has been treated as the somewhat younger and less significant brother of its German counterpart.1 Yet valuable attempts have been made to examine the fascist ideal of romanità, ‘Romanness’.2 This latter concept could be summarized as the inheritance, the collective memory, of a distinct but at the same time very present Occidental, i.e. Roman, past. To be sure, romanità was not an entirely new idea, as it had been present in Italian (nationalist) discourse since the Risorgimento, but its scale and omnipresence during fascism were unprecedented, while some aspects, such as militarist imperial grandeur and the focus on the supremacy of Occidental culture, were also less present in pre-fascist discourse.3 As such it should be distinguished from the umanesimo principle, whose roots go back to the Renaissance. 1 This is notably the case with Mazza’s “Storia antica”, which does not wholly live up to its declared intention to clarify “the connection between the fundamental tendencies of historiography of antiquity, essentially in Germany and Italy, and the forming of reactionary ideologies into Europe” (Mazza, “Storia antica”, p. 8  ; all translations from languages other than English are my own), offering little new insights in the Italian situation. A general view of the Nazi reception of antiquity is offered by Losemann, “Nationalsozialismus und Antike”. The present study is the result of my research on romanità, which I started at the universities of Bologna and Ghent in 2001. This led to numerous publications which inspired the present article, e.g. Nelis, “La romanité (romanità) fasciste”  ; id., “Back to the Future”  ; id., From ancient to modern, and id., “Impérialisme romain et fascisme”. 2 For the most recent study, and bibliography, on romanità (including some work on Nazism as well) see Roche and Demetriou, Brill’s Companion. 3 In this context see Giardina and Vauchez, Il mito di Roma, which describes diachronically how the myth of Rome lived on through the centuries. For further information on the continuity of the idea and myth of Rome see e.g. Braccesi, Proiezioni  ; id., L’antichità aggredita  ; Bondanella, The Eternal City  ; Cagnetta, “Mare Nostrum”, and Mastrocinque, “La romanité dans le socialisme”.

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The general ideal of romanità has been traced and analyzed in the work of classicists, historians and archaeologists of the fascist period, as well as in popular culture such as cinema and theatre.4 These studies situate romanità, which had at its core a heritage from late Republican and early Imperial Rome, within the political background of the ventennio fascista (the twenty years during which fascism was in power, from 1922 until 1943).5 In this context, ideas such as empire have been quite widely treated, whereas the issue of racism has remained largely ignored for decades.6 Thus it is the aim of the present paper to make a prudent attempt at filling this gap, by presenting a selected reading of publications in which romanità, as a reference to the Roman, Occidental past, acquired a manifestly racist or also anti-Semitical dimension. Before turning to the core subject, however, I will provide a concise overview of current scholarship on fascism, whereby special attention will be paid to the role of culture in the latter movement and regime, as this latter aspect is at the heart of the debate on romanità, and, to tie in directly with the subject of the present volume, of Abendlanddiskurse in general.

Fascism studies: a brief status quaestionis Although a key thrust of modern academic research, spearheaded by scholars such as Richard Bosworth7, follows a more traditional historiographical inquest process, and is reluctant to adopt the more culture-oriented approach of scholars such as Emilio Gentile and Roger Griffin, arguably, the latter approach has undeniable value. Indeed analyses of fascism that take into account the notion of culture, including those of identity and collective memory, which are identified as integrative components of fascism, are the basis and inspiration for this paper. It all starts around the mid-1970s, when the subject of popular ‘consensus’ became the topic of a debate launched by Renzo De Felice. Opinions on this topic are widely 4 For the work of antichisti (classicists, historians and archaeologists) of the fascist period see, e.g. Perelli, “Sul culto fascista della romanità”  ; Cagnetta, Antichisti e impero fascista  ; Canfora, Le Vie del Classicismo, and Polverini, “L’impero”. For the role of romanità in architecture under fascism see Gentile, Fascismo di pietra. On romanità and cinema see Wyke, Projecting the Past  ; id., “Screening ancient Rome”, and id., “Sawdust Caesar”. On the role of romanità in theatre see Nelis, “Cesare in scena”, and Dunnett, “The Rhetoric of Romanità”. 5 In the present paper, racism is intended as an extendible concept, i.e. as a process by which an individual or group of individuals are being considered as ethnically ‘other’, this otherness generally being perceived negatively, whether directly or indirectly. 6 A notable exception is Pagliara, Antichistica italiana, which focuses on the leggi razziali. 7 See for example Bosworth, The Oxford Handbook.

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divergent, especially with regard to the role of culture, and, in a more general sense, of intellectuals in the establishment of consensus. Indeed whereas De Grand stated that the latter notion, when applied to Italian fascism, at best constituted a mere façade, a formal agreement8, in reality many scholars appear to accept the thesis that a certain degree of ‘fascistisation’ existed. Along those lines, much research of fascism since the 1970s has thus focused on two particular aspects  : the ‘reception’ of fascism, or the way in which the regime was experienced by the population  ; and above all, fascist identitarian politics, which included the development of a historicising discourse, whereby the supremacy of contemporary, Italian and Western identity is a key element. Italian fascism was of course first and foremost an ideology in the abstract sense of the word. However, it could also be argued that culture (visual propaganda, the written word, the arts etc.) was a central component to this ideology. This might at first sight seem obvious, but such awareness has not always been the case. Meaningful research on fascist culture, a series of aspects ranging from the aesthetic and more discursive field to the myths9 that were used to underpin fascism (World War I, romanità, etc.), is fairly recent. As Sergio Luzzatto indicated10, Emilio Gentile proved to be one of the most productive and original researchers, not falling into the deceptive trap of confusing fascist culture with fascism, or giving in to what could be characterised as an ‘autotelical culturalism’.11 In the context of fascist myth, Gentile notably pointed at its evolving nature. The following observation applies to the myth of Mussolini, but it could easily be transposed to the myth of romanità  : There have, in fact, been various ‘myths’ of Mussolini which manifested themselves in various periods of his life, and originated in various contexts and political and cultural situations. And each of these myths contributed to the Mussolinian charismatic aura, pre-

  8 De Grand, Italian Fascism, p. 152.   9 In the present paper, the notion of myth is intended in the classical sense, i.e. as the mythos, the story or stories which circulate in society, i.e. fascist society. We hereby follow the contemporary fascist interpretation given in Emilio Gentile’s Fascismo. Storia e interpretazione  : “Myth, for which only the great masses motivate themselves, is always the sublimation, the simplification of a long and complex spiritual and moral process, it is the superior synthesis of an entirely new and more or less organic conception of life and of the world and it always expresses itself by ways of a word, a motto, a symbol […].” (F. Di Pretoro cited in Gentile, Fascismo, p. 150). For the role of myth in the ‘political religion’ of fascism see below. 10 Luzzatto, “The Political Culture”, p. 323. 11 De Felice, “Fascism and Culture”, p. 10.

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paring the conditions for the birth of the fascist myth of Mussolini and the institution of his personality cult during the years of the regime.12

A number of studies have shed new light upon some aspects of the nature, or the inner functioning, of fascist society. Rather than focusing on abstract ideological notions, these, usually limited, case studies focus on fascist culture in some of its most diverse manifestations, with a particular focus on the aesthetic. They do not only look for the ‘fascist in culture’, but also for the ‘culture in the fascist’, as they inject contemporary research into the cultural origins of Italian fascism. Hence I will discuss some examples of these so-called ‘culturalist’ studies on Italian fascism. Having also produced a study on fascist exhibition policies13, Diane Ghirardo investigated the way in which the fascist regime used architecture to enhance popular consensus and stimulate the creation of community feeling. For example, she pointed out that the so-called fascist ‘new cities’ or città nuove were crucial elements in the regime’s attempt to literally ‘reshape’ Italy.14 Furthermore, there is also the work of Jeffrey Schnapp, author of, among other things, “Fascinating Fascism”, which highlights the thought that the fascist regime tried to create a new, ‘italo-fascist’ identity through a large-scale organisation of culture, visual as well as intellectual  ; in the words of Schnapp, it “sought answers to its identity crisis in the domain of culture”.15 Examples such as these, which evidence the fascist stress on aesthetics, confirm the existence of an, as it were, ‘aesthetic ideology’. Hopefully, scholarship pursuing similar lines of thought will continue, thus further contributing to our understanding of Italian fascism and the importance it attached to culture, an aspect that, as was observed by Mosse, was also “bound sooner or later to have its political consequences”.16 Books such as Claudio Fogu’s The Historic Imaginary. Politics of History in Fascist Italy17, as well as, for example, Lazzaro and Crum’s Donatello among the Blackshirts18, confirm this tendency, continuing the exploration of the vast field of fascist aesthetics. In addition, recent research has also investigated fascist aesthetics on a more abstract, less case-oriented level. Most interesting examples of this tendency are “The 12 Gentile, Il culto del littorio, p. 236. 13 Ghirardo, “Architects”. 14 Ghirardo, “City and Theater”. A similarly interesting study by this researcher is Ghirardo, “Città Fascista”. 15 Schnapp, “Fascinating Fascism”, p. 238. 16 Mosse, “Fascist Aesthetics”, p. 247. 17 Fogu, The Historic Imaginary. 18 Lazzaro and Crum, Donatello.

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Aesthetics of Politics” and Fascist Spectacle  : the Aesthetics of Power in Mussolini’s Italy, authored by Simonetta Falasca-Zamponi.19 Inspired by Emilio Gentile’s analyses of fascist myth and of fascism as a ‘political religion’ (see below), Falasca-Zamponi produced an imaginative study of the way in which self-representation, symbolism and public manifestations appearing under the fascist regime informed much about Italian fascism itself, of its intentions to legitimise itself and to obtain power through both literal and figurative language, i.e. the language of aesthetics. Alternatively, the roots of Italian fascism can also be traced in the discourse developed by the intellectual avant-garde (D’Annunzio, Marinetti, Corradini etc.).20 Indeed, fascist ideology, in a broad, Althusserian sense, can be seen as deeply embedded in a number of early-twentieth century intellectual currents such as for example Futurism (Marinetti), Decadentism (D’Annunzio), literary nationalism (Corradini) and the thinking of the Florentine avant-garde (Prezzolini, Papini, Soffici etc.). These discourses harboured ideas of national strength and unity, of force and virility21, and looked forward to an idealised future, glorifying both the nearby (Risorgimento) and faraway (ancient Rome) Italian and generally also Western past – except for Futurism, which was against all that was considered as passatista. In line with the above observation, a number of interesting studies have also treated the subject of fascist ‘modernism’, most notably, perhaps, Roger Griffin’s 2007 Modernism and Fascism. The Sense of a Beginning under Mussolini and Hitler, which traced the roots of (Italian) fascism back to the vitalism of modern, ‘risorgimental’ Italy, as well as to the palingenetic climate after World War I. In his analysis of fascism born ‘from Modernism’22, Griffin investigated the various expressions of fascist modernism, identifying fascism’s readiness and willingness to create ex novo.23 By taking an ‘internal’ view, as portrayed through fascist words and actions, and also through interpretations of artworks produced under fascism, Griffin argued that in essence, many acted ‘modernistically’  : the fascist State desired to be dynamic and creative, to become the progenitor of a new totalitarian fascist art and culture, inspired by the essence of Western and Italian tradition, but essentially aiming at transforming or assimilating the latter into a fascist reality  : paradoxically, it at the same time implied a break with and a continuation of the past.

19 Falasca-Zamponi, “The Aesthetics of Politics”, and Falasca-Zamponi, Fascist Spectacle. 20 In this regard, see the still highly relevant Cannistraro, “Mussolini’s Cultural Revolution”, pp. 118–119. 21 For an analysis of the fascist ideal of virility see Spackman, Fascist Virilities. 22 Griffin, Modernism and Fascism, pp. 191–218. 23 Ibid., pp. 219–249.

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The final point of this short discussion is the study of fascism as a ‘political religion’, an idea already anticipated by Dante Germino in his 1959 study of the totalitarian fascist party.24 However, it was not until the work of George L. Mosse25 and Emilio Gentile that Italian fascism was coherently defined as possessing a highly cultic, religious character – a definition precisely set out in Gentile’s Il culto del littorio (The cult of the lictor), which offered an analysis of some of the most important myths incorporated by fascism, as well as of the fascist stress on externalities.26 Combined with his analysis of the cultic character of Italian fascist mass society27, the Culto del littorio has proved truly groundbreaking in this particular field of research. Already in 1990, Gentile defined his concept of political religion as follows, placing it alongside as well as in opposition to traditional religions  : Fascist religion placed itself alongside traditional religion, and tried to syncretize it within its own sphere of values as an ally in the subjection of the masses to the state, although it did stress the primacy of politics. This, perhaps, was the most ambitious objective which the fascists set themselves, and they set about it with fanatical commitment, although they also followed a tortuous series of compromises. Moreover, although it did not have projects as regards de-Christianization, in order to succeed in this experiment fascism did not hesitate to enter into conflict with the Church, even before the 1929 conciliation, and then in 1931 and 1938. The reason behind the conflict was always the same  : the fascist state wanted a monopoly over education, in accordance with the values of its own

24 Germino, The Italian Fascist Party. In 1938, Angelo Tasca had already referred to a “religion for the poor”. (Tasca, Nascita e avvento, p. 553). 25 Mosse, who mainly focused on German Nazism, illustrated how, through massive orchestration of the masses, a phenomenon which had roots going back to the French Revolution (Mosse, “Fascism and the French Revolution”), public life under fascism (in general) acquired a cultic, theatrical character. It was from this aspect that fascist regimes drew a lot of their appeal, as they spoke to the masses not only through rhetoric and verbal discourse, but in a way through the masses themselves, which in a very tangible way became both the subject and the object of power. The aesthetic predisposition of fascism was thus also active on a higher level. The fascist masses became protagonists in the enactment of fascism, in the new religion and its cult, in the propaganda machine which was directed to themselves. Central to Mosse’s thinking was the process of ‘nationalisation of the masses’ (Mosse, The Nationalization), the way in which the nation put itself to the fore, filling the existential void provoked by increasing liberalism and secularisation. 26 Gentile, Il culto del littorio. 27 In his view, fascism was action, theatre, the enactment and at the same time the creation of the ‘fascist self ’, of the fascist ‘new State’ and ‘new man’ (Gentile, Il mito dello stato nuovo). On the theatrical side of fascism see Gentile, “The Theatre”.

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state-worshipping and bellicose ethic, and did not accept any reticence or reduction in citizens’ total obedience towards the state and the nation.28

As such, political religion is seen as the essence of fascism, as the overarching context in which the cultic and mythical aspects of fascism, including romanità, can be interpreted.29

Romanità As should by now be clear, the fascist regime attached enormous importance to self-representation, to ‘staging’ itself. It tried to claim a significant place in history while simultaneously projecting itself upon the future. The most obvious example of these ‘historicist’ politics is the Exposition of the Fascist Revolution, held in 1932, ten years after the fascist March on Rome. Showcasing, among other things, a collection of fascist memorabilia of the first hour such as Mussolini’s original Il Popolo d’Italia office, this exposition presented the quasi-mythical story of the genesis of fascism. As such, it is highly illustrative of the fascist appropriation of culture in general. This appropriation was central to the goal of obtaining popular consensus, as the government’s “promotion of a modern representational language led to a vibrant, provocative exhibition which, in turn, encouraged mass support”.30 At a purely cultural level, Mussolini came into close contact with a number of prominent figures, simultaneously absorbing, and in turn influencing, some aspects of their thinking.31 With regard to the mentioned Florentine avant-garde for ex-

28 Gentile, “Fascism as Political Religion”, p. 230. 29 This concept of political religion has been the subject of vivid debate and has at times come close to causing serious divisions among those undertaking academic studies of Italian (and not only Italian) fascism. This single question would take up an entire study in itself. Therefore, for the purpose of this study, I prefer to refer to the vast body of secondary literature dealing with the subject. – For an up-todate overview of scholarship on the notion of political religion see Roberts, “‘Political Religion’”, as well as Nelis, “The Clerical Response”, however not before noting that I personally attribute a specific value to the notion of ‘political religion’ or, alternatively, of fascism’s ‘sacralisation of politics’, even if only as a heuristic tool or device. In doing so, I am fully aware that it can be connected to a series of analytical concepts in company with which it is able to constitute a ‘cluster’ (cf. Griffin, “Cloister or Cluster  ?”) of interconnected conceptual notions  : palingenesis, revitalisation movement, revolution, new Man, new State, anthropological revolution, totalitarianism, etc. 30 Stone, “Staging Fascism”, p. 238. 31 For an analysis of Mussolini’s relationship to the Florentine avant-garde and their review La Voce see Gentile, Mussolini e ‘La Voce’. For an analysis of Italian Futurism from a socio-political viewpoint see Mosse, “The Political Culture”.

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ample, this form of symbiosis  – Renée Winegarten already labelled it ‘cultural fascism’32  – has been thoroughly studied by Walter Adamson.33 Adamson analysed the way in which Mussolini’s movement coped with the chaos after the Great War by taking recourse to a modern form of ‘myth-making’. Inspired and guided by artistic and intellectual Modernism, the movement thus conceptualised itself as a type of ‘myth in the making’, in that it not only used myth, but also became in a certain sense a discourse, a myth, in its own right. Indeed, many intellectuals appear to have shared this view  : “Partly because of the terms in which they viewed early fascism, many of the intellectuals who embraced it failed disastrously to gauge its real prospects for significant change. They were not advocating or fostering myths but thinking in mythical terms themselves.”34 Thus there is at this moment, among contemporary historians, a growing awareness of the importance of myth to Italian fascism  : the myth of the Great War  ; the myth of the nation  ; the myth of the duce  ; the myth of a descendency of ancient Rome  ; all these and many more (the uomo nuovo and Stato nuovo-idea for example) have been comprehensively studied and illustrated by a number of researchers including, once again, Emilio Gentile35 but also Pier Giorgio Zunino.36 These myths provided fascism with content, with a story, with a place in history. Through its reliance upon myth, it could disperse information about itself and its nature, in a less relative, more ethereal way, permitting a decreasingly questionable, decreasingly critical discourse. As for the importance of the notion of identity, deeply rooted in the idea of an idealised Western and Italian past, fascism did not propose a return to the past, but rather an alternative path into modernity, a terza via. Within its political religion, the concept of an ideological heritage from Roman antiquity was key to the regime’s cultural, identitarian policies, summarised in the above mentioned notion of ‘Romanness’ or romanità. The new, fascist Italy was the bearer of collective, millenarian Western memory  ; it was said to incarnate the spirit and magnitude of Roman antiquity, whose culture and greatness it would not only emulate, but surpass. With this in mind, written and visual fascist propaganda repeatedly conveyed the idea of a new Rome, simultaneously inspired by the past, while at the same time being modernised and rejuvenated.

32 Winegarten, “The Temptations”. 33 See Adamson, Avant-Garde Florence. 34 Roberts, “How not to Think about Fascism”, p. 202. 35 Gentile, Il mito dello stato nuovo, id., “Il mito di Mussolini”, and id., La grande Italia. 36 Zunino, Interpretazione e memoria del fascismo.

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As noted, the regime had a particular focus on the use of the aesthetic  ; therefore, perhaps not surprisingly, this particular field was the first to become permeated by the myth of romanità, primarily with the development of a specific, modernised, neoclassicist architectural style, the so-called stile littorio. Excellent examples of this style can be seen in many representational buildings which can be found, for example, in both Rome’s Città Universitaria and EUR-quarter. Romanità was also promoted through the medium of archaeological excavation, the subsequent ‘liberation’ of archaeological relics and the re-introduction of ‘Roman’ symbols such as the Roman salute and step. As stated above, romanità was also to some extent active in both theatre and the movies, as a reminder of ancient and above all present greatness. The memory of Rome, as a myth and a topos, was omnipresent, infusing the idea of the superiority of Italian, and by extension Western, civilisation. Romanità also actively influenced Italian society at the level of temporal organization, for example through the inauguration of the feast of the Birthday of Rome on April 21st, replacing the original and traditional date for the celebration of May 1st  ; apart from an Italo-Roman event, this Natale di Roma also came to represent the birth, in nucleo, of Western superiority, as first evidenced by the Punic Wars. Also, a new calendar was introduced in 1927, the starting date of which coincided with the March on Rome in 1922, in itself a clear imitation of Julius Caesar crossing the Rubicon two millennia before Mussolini. Much as would be the case with Augustus after him (see below), Caesar was seen as the incarnation of Western triumphalism.37 At the same time as the idea of a neo-Roman fascist State was being diffused by more popular means, the scientific and pseudo-scientific study of antiquity also played its part. Indeed in this context, the ‘bimillenarian’ celebrations of Virgil (1930), Horace (1935) and above all Augustus (1937–1938) presented themselves as excellent occasions on which to underline the greatness of the Roman past. This interest notably resulted in a number of publications and cultural events organized by scientific and cultural institutions such as, first and foremost, the Istituto di Studi Romani (see below). However, and as I have shown elsewhere, the propaganda surrounding romanità, and especially Augustus38, seems to have been as much the result of initiatives taken ‘from above’ (directives given by Mussolini and the Fascist National Party, the Istituto di Studi Romani, …) as it was the result of individual antichisti aligning themselves, for reasons of convenience, career advancement, etc., with the then generalised climate of exaltation of the Roman past.

37 On the fascist reception of Caesar see Dunnett, “The Rhetoric of Romanità”. 38 Nelis, From ancient to modern, pp. 104–120.

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The celebration of Virgil took place in 1930, five years after the official start of the Battle of the Grain or Battaglia del grano, an agrarian campaign aimed at boosting national wheat production. Consequently, Virgil became known primarily as the poet of country life (Bucolica) and most particularly of agriculture (Georgica). The Aeneis also allowed the antichisti to link him to the notions of Augustan peace, and empire. In addition, many authors used the puer episode in the fourth eclogue to associate Virgil with Christianity. Once again, Roman memory was to coincide with a focus on Western, i.e. Christian, values. Whereas in 1935 Horace, the man of Philippi, and to some extent the man of the dolce far niente, was being promoted mainly as the poet of the national poem carmen saeculare, around the same period the figure of Augustus began to dominate the spotlight. In his case, a grand scale exposition was organized, the Mostra Augustea della Romanità (Augustan Exhibition of Romanness)39, which depicted the Roman emperor as a direct predecessor of and source of inspiration for Mussolini. The scale of the 1937–1938 Augustan celebration was unprecedented  : now that the regime had conquered its own empire (after the conquest of Ethiopia in 1935–1936), Augustus, the original man of peace and of empire, became the subject of a large number of conferences, publications, as well as of the mentioned exposition.40 The Mostra was the central event during the bimillenary year 1937–1938  ; it exemplifies some of the key issues in the fascist use of the myth of Rome or romanità, and it also involved none other than Carlo Galassi Paluzzi, the key figure, together with Giulio Quirino Giglioli and a series of other scholars41, in the elaboration of the idea of the third, fascist Rome, resurrected on the Italian capital’s “fatal hills”.42 It was a hugely successful propagandistic initiative, the ideal vehicle for the promotion, by the regime and some of its foremost scientists, of the myth of Rome as the cradle of Western civilisation. Special emphasis lay on the Augustan period, whereas at the end of the percorso, in the room dedicated to fascism, spectators also got a clear vision of the ‘Roman’, neo-Augustan, present and future.43 39 In this context see Scriba, Augustus im Schwarzhemd  ?, and Scriba, “The sacralization”. For more information on the bimillenario of Virgil see Canfora, “Fascismo e bimillenario”. For more information on the bimillenario of Horace see Cagnetta, “Bimillenario della nascita oraziana”, and Citti, “Il bimillenario oraziano”. 40 The same year, the Mostra della Rivoluzione Fascista (Exhibition of the Fascist Revolution, see above), first organized in 1932, was reopened, reiterating the intimate connection between the fascist regime and ancient Rome. 41 To name but a few  : Emilio Bodrero, Roberto Paribeni, Corrado Ricci. 42 Mussolini in Susmel and Susmel, Opera Omnia, vol. 27, p. 269. 43 Today the exhibition survives, even if only in part, in Rome’s Museo della Civiltà Romana.

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As said, many of these aspects of romanità have been at the core of contemporary scholarship, with the exception of the tandem romanità-racism. Hence in the following I will take up the trail of the written imprint of this identification between Roman past and fascist present, this ‘invented tradition’, tracing its trajectory throughout the ventennio fascista, with a focus on the ways in which it increasingly incorporated a racist element.

Romanità and racism Before 1938, apart from traditionally quite widespread manifestations of European anti-Semitism, fascist Italy displayed no institutionalised racist tendencies.44 As for example evidenced in the 44 volumes of Mussolini’s Opera Omnia, the racial issue was never of particular importance to the duce. Derogatory racial remarks, for example those denigrating Jews, were very rare, and when they did occur they seemed the consequence of ignorance rather than of an innate, let alone a ‘biological’, racism. Even though it was undeniably present, anti-Semitism was arguably more widespread in Catholic circles than in those of the fascists.45 This is for example evidenced, during the 1920–30s, by the Jesuit periodical La Civiltà Cattolica, which published some highly invective papers in which Jews were referred to in a particularly depreciative manner.46 As said, in the context of romanità, the role of racism has seldom been studied, apart from a number of analyses including Cagnetta’s.47 In the light of the above observations, it is not surprising that the work of the (Catholic and) fascist Istituto di Studi Romani, and particularly its founder Galassi Paluzzi, contained a number of racist elements.48 Galassi Paluzzi’s ‘spiritual’  – as opposed to biological  – anti-­ Semitism49 can be attributed to his Catholic faith, while his anti-germanism stemmed from his classicist roots.50 These two aspects, and not merely ‘fascism’, can be viewed 44 For the use of the term racism in the context of the current paper, see above. 45 In this context see also the words of Mariella Cagnetta, in Cagnetta and Schiano, “Faschismus II”, pp. 1102–1103. 46 For more information, see Nelis, Catholicisme et altérité, pp. 107–119. 47 Cagnetta, Antichisti e impero fascista, p. 105. 48 For more information see La Penna, “La rivista Roma”, pp. 106–107, and Visser, “Storia di un progetto”, p. 53. 49 On the relationship between ‘spiritual’ anti-Semitism and Catholicism see Moro, “L’antisemitismo cattolico”. See also Moro, “Le premesse”. 50 At the beginning of the twentieth century, and certainly after the First World War, Italian antichisti started to react against the preponderance of German classicists, and of the German Altertumswis-

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as the motivation behind a statement Galassi Paluzzi made in 1927, more than ten years before fascism formally adopted the concept of racism  : “But the Jews are ‘anti-Rome’, betraying the essence of Jewdom  ; on the other hand the essence of Protestantism, with its ensuing and accompanying Germanic criticism, is anti-Rome due to the essence of the Protestant doctrine, which is a betrayal of Christianity, and of Roman thought.”51 Indeed in his paper, Galassi Paluzzi opted for a purely Catholic viewpoint on Western and Roman culture, which thus excluded, on a religious basis, Jews and Protestants. Until 1938, as has been noted above, fascism evidenced no really formal racist tendency.52 Initially, within some publications, racism and fascism-romanità were sometimes even interpreted as being highly irreconcilable concepts. For example, in 1935, just as Italy fulfilled its (supposedly) ‘civilising mission’ or missione civilizzatrice, conquering its colonial ‘empire’, Piero Pellicano was still writing about forms of ­racism and “badly understood forms of nationalism, all feelings which constitute the antithe­ senschaft tradition in Italy. One of the central figures in this debate was the nationalist Ettore Pais (see below). This ‘anti-germanism’ became problematic in the second half of the 1930s, as Italy’s ties with Germany became closer. Italians tried to forget former anti-German tendencies by denying them, and also by trying to reconcile Germanism and romanità, such as in the volume Romanità e Germanesimo by Jolanda De Blasi (De Blasi, Romanità e Germanesimo). Mussolini himself, however, does not seem to be part of the anti-German current, at least not according to Georg Zachariae, his, admittedly, German doctor  : “He considered Theodor Mommsen’s history of Rome to be a book of fundamental value, without which no Italian could rightfully make a claim to erudition. Never, thus opined Mussolini, had the historical evolution of Rome been described so clearly and comprehensively as in Mommsen.” (Zachariae, Mussolini si confessa, p. 44). On the polemics surrounding the work of Mommsen see also Braccesi, L’antichità aggredita, pp. 41–42. 51 Galassi Paluzzi, Roma e Antiroma, p. 444. 52 See for example the words of Mussolini (in Ludwig, Colloqui con Mussolini, p. 54-56)  : “Of course no pure race any longer exists, not even the Jewish one. But that’s just the point  : good mixtures often provide force and beauty to a nation. Race  : that’s a feeling, not a reality  ; 95% is feeling. I will not believe that it is possible to prove whether or not a race is biologically pure or not. Those who claim the Germanic race is noble are themselves all […] non-Germanic […] There is no anti-Semitism in Italy […] Italian Jews have always been good citizens, and brave soldiers. They occupy important positions in universities, in the army, in banks. A lot of them are generals… [on Jews in Germany  :] The scapegoat  !” Mussolini was indeed quite sceptical on the question of German anti-Semitism, as can be seen in the typescript of a 1934 speech  : “Well, my reply is that there is no Germanic race. […] It is not we who say that, nor the scientists. Hitler says that.” (Mussolini in Susmel and Susmel, Opera Omnia, vol. 26, p. 309) However, Mussolini was a contradictory, somewhat unsteady personality  ; in the same year, he also made the following claim  : “German ‘racism’, i.e. the isolation and ferocious, scientific defence of the Germanic race, or rather of the six races (apart from the secondary ones) which constitute the German people, could, perhaps, find its justification in the actual situation in which the German race finds itself, i.e. a situation showing countless and impressive symptoms of degeneration.” (Mussolini in Susmel and Susmel, Opera Omnia, vol. 26, p. 327).

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sis of empire, the negation of civilisation, the opposite of durable peace, the major obstacle to the only war worthy of that name, i.e. that war which ex novo changes the fate of humanity, or at least of a great part of it”.53 One could of course argue that these words primarily serve as a legitimization of colonial, and potentially also racist, aggression, but the fact remains that we are not here confronted with the ‘biological’ form of racism present, for example, in Nazism, but rather with a calque of racial or in any case ethnic prejudice present, at that time, to some degree in almost every section of Western society. Furthermore, the reference to a link between ‘spiritual unity’ and (Western) imperialism in Pellicano’s work once more illustrates the intertwinement between a discourse on national greatness and Western ethnic supremacy. This attitude is further illustrated in L’idea imperiale del mondo antico by Roberto Paribeni, whose entire discourse on Roman imperialism, influenced at that time by the 1936 conquest of Ethiopia and the ensuing economic sanctions proclaimed by the League of Nations, seems to have been formulated in order to bolster fascist imperialism, while at the same time offering a romano-fascist apology for some historical imperialist military actions.54 However, even in this context, any possibility of ancient and modern Roman, and by extension Western, racism is denied  : Rome has always tried to assimilate, educate, and elevate its inhabitants to the level of Rome itself and its image. Rome did not know any racial prejudice. In today’s enemy it has always seen tomorrow’s ally, friend, socius. Modern peoples never succeed in turning their colonial subjects into more than minor officials, janitors, drivers  ; Rome made them into writers, consuls, emperors.55

As shown, this focus on a Roman, Western drive to civilise non-Western populations was also highly present during the 1937–1938 Augustan bimillenario, which was bolstered by Mussolini himself, and by the Istituto di Studi Romani. In 1938 the situation regarding racism quite rapidly evolved  ; the announcement of racial laws, a calque of the German example, took most Italians by surprise. The pro­ clamation led Emilio Bodrero, in a publication entitled “Continuità della tradizione 53 Pellicano, Unità spirituale, p. 6. 54 Paribeni, L’idea imperiale. 55 Ibid., p. 10. Should these words not provide enough evidence in order to link Paribeni’s text to Italian fascism, than in any case the following do  : “Now […] we cannot deny that the idea of unifying the human family, and introducing into it peace and tranquillity, is without a doubt […] superior to all the surrogate experiments, the worst of which […] is that one which, in a mix of unctuous idealisms and treacherous violence, will always render […] the name of the city of Geneva infamous in history.” (Paribeni, L’idea imperiale, p. 1).

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romana”, to speak rather unashamedly of a pluri-millennial, international, ‘cosmic’ conflict between East and West  ; it is a simple rhetoric, presenting history as a Mani­ chean battle between black and white, Evil against Good  : “The battle between east and west is to be seen as a cosmic fact rather than as a fact of history or politics, as it has been a constant, remaining unresolved for millennia, always with the same characteristics.”56 Indirectly referring to fascism’s continuous reliance upon the development of a political religion (see above), Bodrero, who was one of the foremost romanità propagandists and a regular contributor to the activities of the Istituto di Studi Romani, paved the way for what would be a central tendency in romanità discourse during the final years of the fascist regime  : a stress on the rootedness of Western civilisation as opposed to foreign, decadent influences. A discourse on the roots of ancient Rome and Italy indeed became suddenly popular with some, although arguably not all, cultori della romanità (‘promoters of Romanness’), as is also evidenced by Pericle Ducati’s Italia preromana e stirpe italica. Il concetto di stirpe e civiltà di Roma antica.57 As with Galassi Paluzzi (see above), in this article, published by the Istituto di Studi Romani, Catholic faith and anti-Semitism align perfectly with the newly officially recognised racism. Ducati had already proposed the idea of a Roman, national Christianity  ; he now included anti-Semitism in this picture, as the “Jews are those inhabitants of Rome who were against any fusion, any amalgamation with Rome, opposed to Romanness. Hence the secular battle between Rome and the Jews.”58 Ducati’s development of such ideas seems to have been part of a wider programme intended to boost ideas of national greatness in times of increasing international tension. The Rome-Berlin Axis was becoming an ever more present reality, whereby within this new rhetoric, Rome is purported to have stood in constant opposition to ‘the other’. As fascism increasingly began to define itself by what it ‘was not’, the most virulent romanità propagandists therefore defined Roman antiquity by means of easily understood juxtapositions. Within this context racism was a very useful tool, being a totally unscientific, and thus in a sense highly unquestionable concept. The majority of contemporary publications show two main tendencies, especially during World War II  : authors conscientiously treated ‘innocent’ subjects, refraining from any mention of the political reality of the time, or when they did reflect upon the latter, did so in an exuberant, far from moderate manner. In other words, some authors

56 Bodrero, “Continuità della tradizione romana”, p. 55. 57 Ducati, Italia preromana. 58 Ibid., p. 27.

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chose to avoid by any means possible references to the political context, whereas others did exactly the contrary. Whereas the first faction is, as said, not exactly the least important one, in the context of the present study it is of course more interesting to look at the latter, which included for example hard-line fascist cultori della romanità such as Roberto Paribeni and Carlo Cecchelli, both of whom, not surprisingly, also had close ties to the Istituto di Studi Romani. They produced studies very interesting in the context of our present research, although a number make difficult reading due to their particularly unscientific, propagandist nature. In this context, it suffices to consider the following lines, taken from L’influenza dell’Italia nell’Africa Mediterranea dalla romanità all’età di mezzo by Paribeni  : “Africa has always been a country of minors  : you could almost say that it is a physiological case of collective infantileness/senility. None of the peoples which have inhabited or inhabit it have been able to express, by their own means, an original or somewhat elevated civilization.”59 Such one-sided prejudice was not uncommon in the work of Paribeni60, but the extent to which it could now be developed was unseen, this to such a point that Paribeni even launched an attack against mercantile, utilitarian Phoenicians, presenting these as incarnating the stereotypical eternally profiteering, ‘vegetating’ Jew.61 Whereas in the case of Paribeni, such ideas were the object of allusion, the mentioned Carlo Cecchelli reflected, in his Mistero del Cristo, writing the following words ‘for God and fatherland’  : In modern times the Jewish people (especially the intellectual classes) have undergone the corrosive action of illuminism  : and now Israel cannot but expect salvation to come from recuperation of the full consciousness of God, from renouncing material advantages, from the thought of celestial recompensation, and, first and foremost, from adhesion to the Christian law of Love.62

As such, these words can be considered the consequence of Cecchelli’s total adherence to the Catholic faith. However, when one considers the date of publication, i.e. at a time when Jews both in Italy and elsewhere were the object of persecution (and active genocide), this purely religious image does not entirely stand.

59 Paribeni, L’influenza dell’Italia, p. 3. 60 See for example also Paribeni, “I Giudei”. 61 Paribeni, L’influenza dell’Italia, pp. 4–5. 62 Cecchelli, Mistero del Cristo, p. 54.

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Fascism’s ‘civilising mission’ Finally, and by way of concluding this paper on a treatment of the way in which ‘soft’ – as opposed to outspoken – racism could also be present in a more subtle and more discursively embedded way, some words on fascism’s so-called self-attributed ‘civilising mission’ are in order – the term in itself is already significant. In 1935, Italy provoked an armed conflict with Ethiopia, thus initiating the conquest of its ‘empire’ in East Africa. The time had come for the European nation to ‘get its (African) share’, and the regime claimed that the Ethiopian campaign was simply a belated colonial expansion, although the action was condemned by the League of Nations. Condemnation, which was accompanied by international sanctions, notwithstanding, Mussolini went full speed ahead, allowing the Italian State to term itself impero for a number of years, and for its king to become emperor. Not surprisingly, and as has also been illustrated above, the conquest of Ethiopian territories and the accompanying atrocities against indigenous populations were legitimised through recourse to ancient Rome.63 So while racism was still officially, and highly contradictorily, condemned (see above)64, a developed discourse on empire could be noted after the Proclamazione dell’Impero in 1936.65 Italy now had its empire  ; the conquered territories needed to be ruled  ; above all they must be controlled. The Italian population waited for a reward, for some compensation for the sanctions imposed upon them by the rest of the world. In this evolving political climate, the pacifistic ‘civilising mission’ legitimised any colonial aggression. The African expansion was a ‘geographical necessity’66, the consequence of Italy’s “expansive power”67 and of “Italy’s intense geographical diversity […] which makes the Peninsula desire the breath of a continent, multiplying its features, its impulses, its desires.”68 Indeed, many antichisti 63 For fascist colonial policies see, among others, Del Boca, Le guerre coloniali, and Collotti, Fascismo e politica di potenza. 64 See Giovanni Federico, who in the context of racism spoke of an ‘ugly word’. (Federico, Orazio Flacco, p. 7.) 65 See Mussolini’s words on his recently conquered empire “of peace, because Italy wants peace for itself and for all and decides to go to war only when forced by imperious, irrepressible necessities of life. Empire of civilization and humanity for all the people of Ethiopia. […] In this supreme certainty, hold high, legionnaires, the signs, the steel and the hearts, to salute, after fifteen centuries, the reappearance of the Empire on Rome’s fatal hills.” (Mussolini in Susmel and Susmel, Opera Omnia, vol. 27, pp. 268–269). 66 This idea of Italy’s need for spazio vitale will be particularly elaborately discussed by the Jesuitical journal La Civiltà Cattolica, as evidenced by Nelis, “Negotiating the Italian Self ”. 67 Bartolozzi, Roma e Augusto, p. 32. 68 Lodolini, La storia, p. 18.

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portrayed Italy as having answered a call for light, liberty and love generated by the African nation itself  ; Mussolini was the new hero of Africa  : “The European civilisation has fought against the African barbarism, and it has won. Italy, master of law, has driven out […] the racists [sic], the merchants of human flesh […] He [Mussolini] has now become the myth of those unhappy populations which, tired of slavery, wanted compassion, light, love.”69 Popularising literature such as the above publication by Malfa developed a boasting discourse on Italian superiority, which for example portrayed the civiltà romana as being fascism’s ‘gift’ to the world. Augustus became the great example and incarnation of this mission, as can for example be seen in Luigi Arimattei’s La missione civilizzatrice di Roma  ; here the author states that the ancient Romans, notwithstanding the harsh political climate, were able to imagine, and capable of carrying out, a work of goodness and civilisation. The fertile silt of the sacred river of historical Africa, neglected, un-used by the lazy, work-shy barbarism of the same peoples that lived on its banks, again became beneficent and again produced riches, because the bright intellect, the rock-solid will of Rome was also capable of creating life  !70

Arimattei further reflected on contemporary Italy  : “The people of Italy today, as in ancient Roman times, have a sure guide. It is a Man and an Idea, but both are one thing, a compact mass, as hard and as brilliant as a diamond… […] salvation can only come from Rome and from Rome it will come.”71 Furthermore, not only Augustus, but also Caesar became important repositories of romanità propaganda. No wonder then that Caesar also became a guiding light for fascist legions, legions that, to follow the reasoning of Roberto Bartolozzi, “were not merely armed invaders, but nothing less than a part of Rome transported into the heart of the enemy. Rome extended itself in the Mediterranean with a unity of movement and a rational deployment of armed troops and a civilian population which was unique in the history of colonial conquest.”72 Indeed Bartolozzi surmised  : to get a good sense of the Roman legions, it is enough to imagine the “army sent to Abissinia by Mussolini in 1935”.73

69 Malfa, Alcuni colossi, p. 14. 70 Arimattei, La missione civilizzatrice, p. 32. 71 Ibid., p. 84. 72 Bartolozzi, Roma e Augusto, p. 74. 73 Ibid., p. 74.

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Thanks to the legacy of Roman antiquity, the example of Italy provided, officially at least, a warranty for universal justice, illuminating the world. Contextualised within our focus on empire, the Roman imperial idea “wants to unite people, because, fatally, divided peoples mean peoples without a Unitarian directive, the one thing which can guarantee the life of men, as well as the life of the cosmos”.74 Giustizia and incivilmento were key words, as evidenced in numerous publications, popularising but also academic ones, such as for example Roma dall’antico al nuovo impero by Ettore Pais, as well as many others.75 Indeed, around the time when Augustus was being celebrated, many scholars of antiquity, whether they were linked to the mentioned Istituto di Studi Romani or not, fully played the card of fascist romanità. A discourse on Western and Roman civilisation’s supremacy became common, catalysed by academic opportunism, which replied to ideas developed by fascist leaders, ideas which of course were intended to meet propagandist ends, but which in some cases even seem to have been part of their intimate habitus mentis.76 With the outbreak of the Second World War, this relatively stable situation deteriorated quite quickly. As early as the year 1940, strangers were being described as “the former barbarians who have been civilised by us”.77 The myth of an increasingly ethereal and religious form of romanità led to Augustus who, as I have shown, became a central protagonist of romanità between 1937 and 1938 and was now portrayed as the representative of an idea that will last as long as the world  : and it will always be revered or cursed, depending on whether people go in the direction of light or darkness […] depending also on the fact that the word ‘Empire’ represents a splendidly Latin concept of human solidarity and brotherhood, which makes possible the prosperity and progress of peoples under a superior form of justice …78

Clearly, there was no more room for negotiation  ; black or white, light or darkness. Giustizia was omnipresent  ; it was, from the viewpoint of Emilio Bodrero, “the best 74 Lodolini, La storia, p. 24. Fascist politician Giuseppe Bottai also praised fascist Rome’s ‘civilising mission’  : “Finally, Rome returns, not only in the material form of Empire, but with the wisdom of civilisation. Because where it fights, Italy sows and ploughs  ; where it conquers, it inhabits and proliferates  ; where it introduces the victorious signs of the Lictor, it educates and civilises.” (Bottai, Roma nella scuola italiana, p. 12) On Bottai, colonialism and romanità see Nelis, “La ‘fede di Roma’”. 75 Pais, Roma dall’antico al nuovo impero, pp.  214–215. For a more elaborate treatment of antichisti’s reception of Roman imperialism in the context of fascist romanità see Cagnetta, Antichisti e impero fascista. 76 In this context see for example Nelis, “La ‘fede di Roma’”. 77 Mancuso, Orazio maggiore, p. 9. 78 Macarini Carmignani, Augusto, p. 3.

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guarantee of an order’s stability”79, and it would create a new order, “expression of our universal humanity”80. As history has shown, it never did.

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Programm oder Steinbruch? Novalis’ Europa-Rede und der Abendland-Topos im Nachkriegsdeutschland „Wählt welche ihr wollt, wählt alle drei, es ist gleichviel“. Novalis, „Die Christenheit oder Europa“ (1799)

Ein Grundproblem aller modernen Gesellschaften ist deren sozioökonomische und soziokulturelle Segmentierung infolge der ungleichen Verteilung verschiedener Kapitalsorten und diverser, auf ethnischen (Selbst-)Zuschreibungen beruhender Inklusions- und Exklusionsprozesse. Mit der Bezeichnung ‚Grundproblem‘ ist dabei keineswegs eine pejorative Konnotation per se verbunden. Durchaus kann temporäre Selbstisolation, etwa in migrationsbedingten Subkulturen, einen Beitrag zur ersten Orientierung in einer fremden Umwelt leisten und vorläufigen Schutz bei feindseligen Reaktionen der Aufnahmegesellschaft bieten. Auch die zahlreichen in segmentierten Gesellschaften zu beobachtenden Konflikte, die um die Verteilung von Ressourcen kreisen oder die mit jenen Ideologen auszutragen sind, die die tatsächliche oder imaginierte Segmentierung zum Ausgangspunkt einer katastrophischen Gesellschaftsanalyse machen und eine Lösung durch eine Homogenisierung der Gesellschaft anstreben, zeitigen nicht zwangsläufig destabilisierende Folgen. Im Gegenteil  : Es ist gerade die omnipräsente Vielfalt von Konflikten, die der demokratischen Ordnung ihre Dynamik und Reproduktionskraft verleiht – sofern es gelingt, die Bereitschaft einer rechtskonform verbalen Austragung zu sichern und einen ideellen Gravitationspunkt zu schaffen und zu wahren. Denn ohne einen Dialog mit Anders­ denkenden und ohne einen Legitimationsglauben an die bestehende politische Ordnung, ohne einen wie auch immer zu definierenden, aber mehrheitlich zu teilenden Minimalkonsens institutioneller oder ideeller Art droht eine politisch, sozial und kulturell diversifizierte Gesellschaft auseinanderzubrechen – mit unüberschaubaren Folgen für die Stabilität des politischen Systems.1

1 Vgl. Heitmeyer (Hg.), Was treibt die Gesellschaft auseinander  ?.

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Verfassungspatriotismus und Leitkultur Wie schafft und sichert man einen solchen Gravitationspunkt  ?2 Conditio sine qua non ist sicherlich eine integrativ ausgerichtete, die sozialen Interessen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Segmente ausgleichende Politik (im Sinne von policy), die es immer auch breitenwirksam zu kommunizieren gilt. Jenseits solcher, nicht zuletzt loyalitätsstiftend wirkender Maßnahmen bedarf es eines Diskurses, der verbal wie ikonographisch an einen für alle Bürgerinnen und Bürger Verbindlichkeit beanspruchenden Konsens appelliert. Grundsätzlich lassen sich dabei zwei verschiedene Konzepte unterscheiden. Das eine basiert auf einem inklusiv ausgerichteten Verfassungspatriotismus, der ganz auf die Integrationskraft der Konstitution, der politischen Institutionen und Grundrechte setzt und auf die Überzeugungskraft des rationalen Arguments im lagerübergreifenden Dialog vertraut.3 Das andere Konzept proklamiert eine ethnisch, religiös oder sprachlich definierte Leitkultur, der sich die jeweiligen Minderheiten unterzuordnen haben. So groß seien die gesellschaftlichen Zentrifugalkräfte, dass es ohne eine solche verbindliche Leitkultur zwangsläufig zu einem Auseinanderbrechen der Gesellschaft kommen müsse – so das Kalkül derjenigen, die einer Hierarchisierung oder gar Trennung von Kulturen das Wort reden. Die zu diesem Zweck verfolgten Politiken variieren. Radikale Vertreter setzen auf bevölkerungspolitische Interventionen, wie Einwanderungsstopp oder Ausweisung. Gemäßigte Kräfte wollen sich meist mit kulturpolitischen Maßnahmen begnügen. Andere empfehlen einen Rückzug in gesellschaftliche Nischen, um die Homogenität der eigenen Gruppe zu bewahren oder im geeigneten Moment zum Gegenschlag auszuholen.4 Angesichts rezenter Gesellschafts-, Wirtschafts- und Finanzkrisen, einer weitverbreiteten Kritik der repräsentativen Demokratie und einer damit einhergehenden Europaskepsis kann die Intensität, mit der in Europa derzeit über diese beiden Integrationskonzepte gestritten wird, nicht überraschen. Wie viel heftiger erst musste diese Debatte im Nachkriegsdeutschland geführt worden sein, zu einer Zeit, in der es infolge von Vernichtungskrieg und Shoah, Niederlage und Besatzung, Flucht und Vertreibung eine doppelte Integrationskrise gab. Zum einen galt es, rund 12 Millionen Flüchtlinge zu integrieren – und das in eine Zusammenbruchgesellschaft, der es an allem, vor allem an Wohnraum und Nahrungsmitteln, mangelte. Hinzu kamen meh-

2 Vgl. Heitmeyer, Was hält die Gesellschaft zusammen  ?  ; Köppl, Was hält Gesellschaften zusammen  ?  ; Kronenberg, Was hält die Gesellschaft zusammen  ?. 3 Vgl. Müller, Verfassungspatriotismus. 4 Vgl. Götz, Deutsche Identitäten, S. 81 f., 125–128, 216–223 und 342–348  ; Herzog-Punzenberger, Leitkultur, S. 228.

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rere Millionen Displaced Persons, die ihrer Heimat entwurzelt waren, zehntausende Remigranten, von denen viele aufgrund ihrer linken Gesinnung oder ihrer jüdischen Herkunft bei zahlreichen Mitbürgerinnen und Mitbürgern auf Misstrauen, gar Ablehnung stießen, sowie Millionen ehemalige Nationalsozialisten, die vor den Trümmern ihrer Weltanschauung standen und in eines der beiden, sich seit 1947 formierenden Systeme integriert werden mussten.5 Zum anderen bestand nach Gründung der beiden deutschen Staaten im Jahre 1949 die Notwendigkeit einer Reintegration auf internationaler Ebene. So stellte sich die Frage, ob und wie sich die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik in die neuen, im Kontext des Kalten Kriegs sich herausbildenden, staatenübergreifenden Gemeinschaften in Ost und West einfügen sollten.6 Das verlangte beiden Regierungen eine Gratwanderung ab. Denn einerseits war das Misstrauen der ehemaligen Kriegsgegner, angesichts der von Deutschen in ganz Europa begangenen Verbrechen, noch immer groß und der außenpolitische Handlungsspielraum der beiden deutschen Staaten beschränkt. Andererseits mussten die auf außenpolitischer Ebene von beiden Regierungen ergriffenen vertrauensbildenden Maßnahmen der eigenen, in weiten Teilen nationalistisch kontaminierten Bevölkerung kommuniziert werden. Auf all diese Herausforderungen reagierte man in Ost- und Westdeutschland höchst unterschiedlich. Während in der DDR die Wirtschafts-, Gesellschafts- und Außenpolitik von der in allen grundsätzlichen Fragen von Moskau abhängigen SED verordnet wurde, konkurrierten in Westdeutschland verschiedene Konzepte zwischen den und innerhalb der verschiedenen Parteien und Strömungen miteinander. Fand man mit der sozialen Marktwirtschaft de facto zu einem Kompromiss zwischen Laissez-Faire-Liberalismus und Sozialismus, traf die bundesdeutsche Regierung unter Konrad Adenauer in der Außenpolitik eine klare Richtungsentscheidung. Das Scheitern des von Nationalisten und Teilen der Linken favorisierten Modells eines dritten Weges zwischen Ost und West, das auf eine unmittelbar zu erfolgende Überwindung der Teilung ausgerichtet war und ein neutrales Gesamtdeutschland anvisierte, war spätestens 1952, mit dem Zurückweisen der Stalin-Noten besiegelt. Stattdessen setzte die Bundesregierung auf die seit der doppelten Staatsgründung eingeschlagene Politik der Westintegration, die ihren ersten Höhepunkt in der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) fand – mit weitreichenden Folgen für die Deutschlandpolitik der folgenden Jahrzehnte. Denn zum einen rückte dadurch – ungeachtet aller offiziellen Lippenbekenntnisse zu einem Deutschland in den 5 Zum gesellschaftlichen Zusammenbruch Deutschlands und zu den sozialpolitischen Entwürfen zwischen 1945 und 1948 siehe Weber, Getrennt und doch vereint, S. 85–112. 6 Für einen Überblick siehe Schöllgen, Deutsche Außenpolitik, S. 21–58.

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Grenzen von 1937 – eine Wiedervereinigung in weite Ferne  ; zum anderen deutete die Übertragung wichtiger Kompetenzen an die EGKS und der Verzicht der Bundes­ republik auf die Herstellung atomarer, biologischer und chemischer Waffen im Kontext der Pariser Verträge an, dass ein Mehrgewinn an nationaler Souveränität eng mit der Abgabe von Kompetenzen an supranationale Institutionen verbunden war.7 Weil diese westdeutsche und europapolitische Weichenstellung nicht nur bei den Sozialdemokraten auf Kritik stieß, sondern auch innerhalb des konservativ-liberalen Lagers umstritten war, die Regierung aber schon aus Gründen der Machterhaltung auf die nationalistischen Kräfte angewiesen war, bedurfte es einer Integrationsideologie, die gleichermaßen christlich-liberale wie deutsch-nationale Anhänger anzusprechen geeignet war. Aber auch für die Verständigung auf internationaler Ebene, allen voran mit Frankreich, und die im Kalten Krieg verfolgte Politik der Westintegration empfahl sich die Etablierung eines länderübergreifenden Narrativs, das vor allem auf die historischen Gemeinsamkeiten zwischen Westdeutschland und Westeuropa abhob.

Topoi des Abendlandes und der deutsch-russischen Freundschaft In beiderlei Hinsicht erfüllte der Topos vom ‚christlichen Abendland‘ eine wichtige Funktion.8 Einerseits markierte der im 19. Jahrhundert aufgekommene, im D ­ ritten Reich indes marginalisierte Topos eine deutliche Distanz sowohl zum Nationalsozia­ lismus als auch zum Kommunismus, insofern er die grenzüberschreitenden kulturellen Gemeinsamkeiten Westeuropas betonte und auf jeglichen rassistischen oder 7 Für einen Überblick über die europäische Integration (und deren Grenzen) in den 1950er Jahren siehe Brunn, Die Europäische Einigung, S. 69–148  ; Loth, Europas Einigung, S. 26–74. Auf die begrenzte Supranationalität der EGKS verweist Patel, Projekt Europa, S. 32 f. 8 Zum Abendland-Topos der Nachkriegszeit siehe grundsätzlich Schildt, Zwischen Abendland und Amerika, S. 21–82  ; Conze, Das Europa der Deutschen, S. 111–206  ; Jost, Der Abendland-Gedanke in Westdeutschland nach 1945. Siehe auch Hürten, „Der Topos vom christlichen Abendland in Literatur und Publizistik nach den beiden Weltkriegen“, S. 145–154. Für einen enzyklopädischen Überblick über die Verwendung des Begriffs siehe Hochgeschwender, „Abendland“. Zur Verwendung des Topos in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts siehe Pöpping, Abendland. Zahlreiche Belege für die Verwendung des Begriffs finden sich bei Faber, Abendland. Prominente Verbreitung entfaltete der nicht nur in den Geisteswissenschaften, sondern auch im politischen Diskurs der Nachkriegszeit omnipräsente Begriff vor allem durch die Zeitschrift Neues Abendland und die mit ihr vernetzte Abendländische Aktion und die Abendländische Akademie München-Eichstätt. Siehe dazu auch Uertz, „Konservative Kulturkritik in der frühen Bundesrepublik Deutschland“, der die politischen Differenzen zwischen Aktion und Akademie betont.

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nationalistischen Superioritätsanspruch Deutschlands verzichtete. Das karolingische Reich, das man in diesem Zusammenhang in den 1950er und frühen 1960er Jahren immer wieder als historischen Ausgangspunkt des Abendlandes beschwor, wurde denn auch bewusst als transnationales Gebilde imaginiert, das (West-)Deutsche, Franzosen, Luxemburger, Belgier, Niederländer und Italiener gleichermaßen und gleichberechtigt einbezog und damit einen zwischen den beiden Supermächten gelegenen Dritten Raum schaffen sollte.9 Solche Abendland-Konzepte kursierten überall in Westeuropa  ; in Deutschland hatten sie ihren regionalen Schwerpunkt im Rheinland, in Südwestdeutschland und in Bayern.10 Verfolgt wurden sie sowohl im vorpolitischen Raum unter Intellektuellen als auch auf (regierungs-)politischer Ebene. Dabei kam es zu zahlreichen transnationalen Verflechtungen.11 Ihren Höhepunkt erreichte die zu außenpolitischen Zwecken erfolgte Inszenierung des Abendland-Topos am 8. Juli 1962, in der gotischen Kathedrale von Reims, wo Charles de Gaulle und Konrad Adenauer gemeinsam einer Messe beiwohnten. Als Taufort Chlodwigs I., der als Begründer des Frankenreichs in die Geschichtsbücher eingegangen war, als Sitz eines preußischen Generalgouverneurs im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und als ‚Märtyrerstadt‘ (ville martyre) des Ersten Weltkriegs symbolisierte die Stadt wie kein anderer Ort die wechselvolle Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen seit dem Mittelalter. Besonders eindrucksvoll ließ sich hier der Wille zur Versöhnung und künftigen vertieften Kooperation im Zeichen des ‚abendländischen Christentums‘ inszenieren. Darüber hinaus hielt die Kathedrale als Krönungsort der französischen Könige die Erinnerung an die historische Größe Frankreichs wach – wodurch der von de Gaulle vertretene Anspruch des Landes auf eine Führungsrolle in Europa untermauert wurde. Last but not least demonstrierte Adenauer durch seine Anwesenheit am Unterzeichnungsort der deutschen Kapitulation vom 8. Mai 1945, dass sich (West-)Deutschland zu seiner historischen Verantwortung angesichts der Taten des nationalsozialistischen Deutschlands bekannte.12   9 Daneben gab es auch den Gedanken eines trikonfessionellen Deutschland als Brücke zwischen dem katholischen Westen und dem protestantischen Norden Europas (siehe Schildt, Zwischen Abendland und Amerika, S. 43). 10 Zum deutschen Südwesten siehe Klöckler, Abendland – Alpenland – Alemannien, S. 81–121  ; zu Bayern siehe Götschel, „Abendland in Bayern“, S. 375. Zur besonderen Bedeutung der Stadt Augsburg als zwischenzeitlichem Zentrum der Abendland-Bewegung siehe Seefried, „Abendland in Augsburg“. 11 Zum Versuch vom Abendland-Denken geprägter transnationaler konservativer Elitenzirkel, Einfluss auf die westeuropäische Außenpolitik in den 1950er Jahren zu nehmen, siehe Großmann, Die Internationale der Konservativen, S. 45–200. Zur deutsch-österreichischen Diskussion über ein gemeinsames abendländisches Erbe siehe Pape, Ungleiche Brüder, S. 180–198. 12 Siehe auch Susini, „Reims als historischer Ort“. Allgemein zur Entwicklung der deutsch-französi-

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Andererseits handelte es sich bei dem ‚Reich‘ und ‚Karl dem Großen‘ um Begriffe, auf die bereits die Nationalsozialisten positiv Bezug genommen hatten13 und die sich seit 1945 auch aus innen- bzw. gesellschaftspolitischen Zwecken instrumentalisieren ließen. Auch der Begriff ‚Abendland‘, der zwar in der nationalsozialistischen Propa­ ganda eine eher untergeordnete Rolle gespielt14, im antidemokratischen Diskurs vor 1945 aber weite Verbreitung gefunden hatte15, erfüllte eine Integrationsfunktion nach ganz weit rechts. Schließlich rekurrierte der Abendland-Topos auf Feindbilder, die schon im Dritten Reich populär gewesen waren. Denn das ‚christliche Abendland‘ grenzte sich ja nicht nur vom jüdisch-islamischen ‚Morgenland‘ ab, sondern auch von den immer wieder als ‚materialistisch‘ kritisierten USA und vor allem vom ‚asiatischen Kulturkreis‘, vom ‚atheistischen Bolschewismus‘ der Sowjetunion. Dass der historische Referenzraum, das karolingische Reich, an der Elbe, also just da endete, wo nun, hinter dem ‚Eisernen Vorhang‘, der atheistisch-kommunistische Herrschaftsraum begann, war nur eine zufällige, aber durchaus wirkungsvolle, da gut visualisierbare Pointe. Auf viele geläuterte oder um Reintegration bemühte Nationalsozialisten musste ein solches Konzept attraktiv wirken. So wie auch die in der DDR propagierten antiwestlich und prorussisch ausgerichteten Geschichtsbilder bei vielen ehemaligen NSDAP-Mitgliedern ihre Wirkung nicht verfehlen sollten. Verwiesen sei nur auf die bis 1989 von der SED wie der Nationalen Volksarmee (NVA) forcierte Erinnerung an die mit russischer Unterstützung geführten ‚Befreiungskriege‘ gegen Napoleon und die in diesem Kontext erfolgte Kultivierung frühnationalistisch-frankophober Autoren wie Ernst Moritz Arndt. Nicht nur implizit wurde das preußisch-russische Bündnis seit den 1950er Jahren zu einem Vorläufer der ostdeutsch-sowjetischen Waffenbrüderschaft stilisiert, während die ‚französischen Okkupanten‘ der Grande Armée zu Vorläufern des anglo-amerikanisch-westdeutschen Imperialismus erklärt wurden.16 Die Popularität beider Konzepte erklärt sich nicht zuletzt aus deren Anschlussfähigkeit an zum Teil höchst unterschiedliche Strömungen und Lager. Der Topos der deutsch-russischen Freundschaft adressierte gleichermaßen an prosowjetisch orientierte Sozialisten wie an borussophile Nationalisten und an Konservative – die ja bereits im 19. Jahrhundert vielfach russophile Positionen vertreten und auch die russchen Beziehungen zwischen 1945 und 1963 siehe Defrance/Pfeil, Eine Nachkriegsgeschichte in Europa, S. 111. 13 Für einen Überblick über die nationalsozialistischen Karlsbilder siehe Kerner, Karl der Große, S. 211– 224. 14 Siehe Conze, Das Europa der Deutschen, S. 57 f. 15 Zum Verwendung des Abendland-Topos in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter Katholiken und Protestanten, Gegnern wie Unterstützern des Dritten Reiches siehe Pöpping, Abendland. 16 Siehe Owzar, „‚Deutsche Freiheit‘ oder ‚Liberté‘  ?“ S. 252 f.

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sische Außenpolitik zumeist gerechtfertigt hatten17, während der Abendland-Topos sich nicht nur an christlich-liberale oder christlich-konservative Demokraten und borussophobe Föderalisten, sondern auch an ehemalige Nationalsozialisten und an all jene richtete, die ‚der Moderne‘ und damit auch der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, die jeglichen Liberalismus als Wegbereiter des Kommunismus denunzierten, der Säkularisierung den Kampf angesagt hatten und in der Rechristianisierung Europas ein Antidot gegen die ihrer Ansicht nach mit der Französischen Revolution einsetzende Fehlentwicklung sahen. Dazu zählten vor allem Katholiken, die seit den 1930er Jahren mit christlichen Ständestaaten oder klerikal-faschistischen Systemen sympathisiert hatten und auch nach 1945 noch rechtsautoritäre Systeme wie das portugiesische Salazar- oder das spanische Franco-Regime unterstützten. Aber auch viele konservative Protestanten hatten den Begriff in ihr Repertoire aufgenommen.18 Streng genommen gab es jenseits des explizit christlichen Bezugs auf Europa und der sich schon bald als Illusion erweisenden Hoffnung auf eine Rechristianisierung sowie der implizit antikommunistischen Stoßrichtung zwischen all diesen Strömungen keinen kleinsten gemeinsamen Nenner  : weder mit Blick auf die inhaltliche Ausgestaltung des sogenannten Abendlandes noch hinsichtlich des geographischen Raums (bezogen doch viele den Kollektivsingular ‚Abendland‘ nur auf West- und Mitteleuropa, während andere ganz Europa darunter verstanden, also auch Ost- und Südosteuropa). Es war mithin weniger eine konkrete dem Abendland-Topos zugrundeliegende Idee als vielmehr dessen Vagheit und Polysemie, die diesen für so viele Gruppierungen interessant machte. Gleichzeitig – und hierin liegt eine der wesentlichen Funktionen des Abendland-Topos – trug dieser dazu bei, das katholische Milieu mit den protestantisch geprägten Milieus zu versöhnen und die, vor allem im deutsch-nationalen Lager bestehende Distanz zu Rom und Paris abzubauen. Erfolgreich wurden damit jene „Barrieren beseitigt, die bis dahin eine vollständige und fraglose Identifikation des deutschen Staates, seiner politischen und geistigen Kultur, mit der westlichen Welt verhindert hatten“19 – auch wenn die damit einhergehenden Prozesse von Amerikanisierung und ‚Westernisierung‘ der (west-)deutschen Gesell17 Siehe Jahn, Russophilie und Konservativismus, S. 77–208, insbesondere S. 108–114  ; Schröder, „‚Tiefste Barbarei‘, ‚höchste Civilisation‘“, S. 86. 18 Siehe Schildt, Zwischen Abendland und Amerika, S. 39–65 und 22 f.; Conze, Das Europa der Deutschen, insbesondere S. 119–122, 142 und 152 f.; Jost, Der Abendland-Gedanke nach 1945, passim. Zur spezifisch katholischen bzw. protestantischen Aneignung des Abendland-Topos siehe Dingel, „Der Abendlandgedanke im konfessionellen Spannungsfeld“. 19 Hürten, „Der Topos vom christlichen Abendland in Literatur und Publizistik nach den beiden Weltkriegen“, S. 146 und 153, Zitat S. 154.

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schaft20 eine Eigendynamik entfalteten, die den ursprünglichen Intentionen vieler Verfechter der Abendland-Idee zuwiderlaufen sollte. Damit der Topos zwischenzeitlich, im Rahmen der nicht nur in (West-)Deutschland auftretenden Europa-Euphorie21, eine solche doppelte Integrationskraft, nach innen und nach außen, entfalten konnte, brauchte es freilich mehr als nur einen poetisch klingenden, vielfältig ausdeutbaren Begriff. Es bedurfte auch eines Archivs einschlägiger assoziierbarer Ereignisse und Persönlichkeiten, Symbole, Monumente, Karten, Bilder und Texte, die dem Abendland-Topos eine historische Dimension verliehen und ihn zu einem zentralen Erinnerungsort – einem lieu de mémoire im Sinne Pierre Noras22 – machten, der sich mit anderen Erinnerungsorten kombinieren ließ, die ebenfalls transzendente Bezüge aufwiesen  : so die Schlacht bei Tours und Poitiers im Oktober 732 gegen die muslimischen Araber, die durch Papst Leo III. vorgenommenen Kaiserkrönung Karls des Großen am 25. Dezember 800 in Rom oder die Zweite Wiener Türkenbelagerung von 1683. Natürlich eignete sich dazu nicht jedes Ereignis, nicht jede Persönlichkeit, nicht jedes Monument oder Bild, nicht jeder Text mit historischem Europa-Bezug gleichermaßen. Bestimmte Bedingungen mussten erfüllt sein, damit deren Popularisierung und Ikonisierung erfolgen konnte. Das soll im Folgenden am Beispiel eines Textes gezeigt werden, dem für die Topos-Bildung vom christlichen Abendland eine traditionsstiftende Bedeutung zukam23 und der innerhalb des Diskurses der 1940er und 1950er Jahre in Deutschland eine nicht unwesentliche Rolle spielte  : der 1799 in Jena gehaltenen, 1802 in Auszügen und vollständig erstmals 1826 erschienenen Rede Novalis’ über Die Christenheit oder Europa.24

20 Zur Begrifflichkeit siehe Doering-Manteuffel, „Amerikanisierung und Westernisierung“. 21 Siehe dazu Brunn, Die Europäische Einigung, S. 51–57. 22 Nora (Hg.), Les lieux de mémoire. 23 Laut Gerhard Schulz kündete diese Rede „zum ersten mal öffentlich in deutscher Sprache von der Vision einer europäischen Gemeinschaft“ (Schulz, „‚An die Geschichte verweise ich Euch‘“, S. 9). Zudem wird laut Herbert Uerlings bis heute „auf keinen zweiten Text […] so oft Bezug genommen, wenn es in historischer Perspektive in der Europa-Essayistik um die Bestimmung einer kulturellen Identität des Kontinents“ gehe (Uerlings, „‚Eine freie Verbindung selbständiger, selbstbestimmter Wesen‘“, S. 46). 24 Die zwischen Anfang Oktober und Anfang November 1799 verfasste Rede hielt Novalis am 13. oder 14. November auf dem Jenaer Romantikertreffen in Anwesenheit u. a. von Ludwig Tieck, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Friedrich Schlegel und Dorothea Veit. Nachdem Johann Wolfgang von Goethe von einer Veröffentlichung im Athenäum abgeraten hatte, erschien sie erstmals 1826 in der vierten Auflage der von Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck herausgegebenen Werkausgabe. Zur komplizierten Publikationsgeschichte siehe Stockinger, „Provokantes Christentum“, S. 43–49.

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Novalis’ Europa-Rede und der westdeutsche Abendland-Topos Den Ausgangspunkt dieses Textes bildet eine im Märchenton gehaltene, nahezu ironisch klingende Beschreibung des europäischen Mittelalters, das sich durch eine idyllische Unitas von Politik, Gesellschaft und Kultur ausgezeichnet habe. Infolge einer ubiquitären Krise – hier spielt Novalis auf den im 15. Jahrhundert mit dem Niedergang der Alten Kirche einhergehenden gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Wandel Mitteleuropas an25  – sei mit der Reformation diese Einheit auseinandergebrochen. Katholische Gegenreformation, Aufklärung und Französische Revolution hätten diesen Spaltungsprozess vertieft, mit der Folge – und hier erreicht der Text seine Gegenwart –, dass sich Europa nun an einem Wendepunkt befinde, der es erlaube, auf einen ewigen Frieden zu hoffen. „Wann und wann eher  ? darnach ist nicht zu fragen. Nur Geduld, sie wird, sie muß kommen die heilige Zeit des ewigen Friedens, wo das neue Jerusalem die Hauptstadt der Welt seyn wird,“ so Novalis am Ende seiner Rede. „Und bis dahin seyd heiter und muthig in den Gefahren der Zeit, Genossen meines Glaubens, verkündigt mit Wort und That das göttliche Evangelium, und bleibt dem wahrhaften, unendlichen Glauben treu bis in den Tod.“26 Schon dieses flüchtige Referat deutet an, dass der Text eine Art philosophische Erzählung darstellt, die auf einem zyklischen Geschichtsbild mit teleologischer Dynamik basiert. Keineswegs handelte es sich also um eine Vergangenheits- und Gegenwartsanalyse, aus der sich seinerzeit irgendeine aktuell verwertbare politische Erkenntnis oder gar eine Anleitung zum konkreten politischen Handeln gewinnen ließ. Das dürfte auch den zeitgenössischen Hörern klar gewesen sein. Denn selbst wenn die Nachricht von Bonapartes am 18. Brumaire VIII, also drei Tage zuvor, durchgeführten Staatsstreich Jena noch nicht erreicht haben mochte, musste allen Anwesenden klar sein, dass eine künftige Einigung Europas nicht auf christlichem Fundament erfolgen würde. Dementsprechend stieß die Rede bei Novalis’ Zuhörerinnen und Zuhören auf zum Teil heftigen Widerspruch.27 Und auch heute noch erfährt sie höchst unterschiedliche Ausdeutungen durch Historiker, Theologen, Literaturwissenschaftler und Philosophen.28 Hier ist nicht der Ort, daran anzuknüpfen und die Europa-Rede zu analysieren, Novalis’ historische Ausführungen, seine politischen, gesellschaftlichen, religiösen 25 Für eine ausgewogene Einschätzung der Reformbedürftigkeit der Alten Kirche um 1500 siehe Rabe, Reich und Glaubensspaltung, S. 97–101. 26 Novalis, „Die Christenheit oder Europa“, S. 750. 27 Zur Reaktion der anwesenden Hörer siehe Stockinger, „Provokantes Christentum“  ; Neumann, Jena 1800, S. 134–137. 28 Siehe etwa Kleingeld, „Romantic Cosmopolitism“.

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oder philosophischen Gedanken geistesgeschichtlich zu verorten und zu bewerten. Im Folgenden geht es vielmehr um die Instrumentalisierung des Textes zu politischen Zwecken  – ungeachtet der zahlreichen damit einhergehenden Fehlinterpretationen. Denn nicht nur im 19.  Jahrhundert, sondern auch noch 150 Jahre nach ihrer Entstehung, jetzt sogar mehr denn je, fungierte die Rede als Referenztext im politischen Diskurs. Wie lässt sich dies angesichts Novalis’ undifferenzierter Diagnosen und der Realitätsferne seiner Prognosen erklären  ? Gewiss, ein notwendiges Mindestmaß an inhaltlichen Bezügen war im Nachkriegsdeutschland gegeben. Das Telos einer europäischen Einheit und einer transnationalen Vergemeinschaftung im Zeichen des Christentums nach einer Zeit kriegerischer Erschütterungen und weltanschaulicher Verwerfungen29 klang um 1950 herum recht aktuell und privilegierte Novalis’ Europa-Rede bei christlich gesinnten Lesern vor all jenen liberalen oder sozialistischen Integrations-Entwürfen, in denen Religion und Religiosität keine Rolle spielten. Auch wenn Novalis das Wort ‚Abendland‘ kein einziges Mal verwendete  : Es gab genügend andere einschlägige Catch-Words wie „ächtkatholische oder ächt christliche Zeiten“30, aufgrund derer sich die Rede als Referenztext des Abendland-Diskurses der späten 1940er und 1950er Jahre eignete. Dabei erwies es sich von Vorteil, dass sowohl dem Text als auch seinem Verfasser eine vermittelnde Position zugeschrieben werden konnte. Mehr als Friedrich Schlegel, der mit seiner 1808 vollzogenen Konversion zum Katholizismus unter Protestanten eine Art Tabubruch vollzogen hatte, mehr als Joseph Görres, der zuletzt einem christlich-katholischen Mystizismus erlegen war, eignete sich Novalis als interkonfessioneller Mediator. Auch wenn er anders als viele protestantische Romantiker nicht konvertiert war und den Reformatoren zugestand, „eine Menge richtiger Grundsätze“ aufgestellt, „eine Menge löblicher Dinge“ eingeführt und „eine Menge verderblicher Satzungen“ abgeschafft zu haben31, mussten sich gerade Katholiken von seiner Verklärung des Mittelalters angesprochen fühlen.32 Mit seinem Text hatte Novalis einen Brückenschlag zwischen den Konfessionen vollzogen, wie es ihn seit den 1830er Jahren immer seltener und seit dem Kulturkampf für Jahrzehnte kaum noch geben sollte. Man denke nur an den in letzter Instanz an Pius X. geschei29 Novalis wörtlich  : „Wer weiß ob des Kriegs genug ist, aber er wird nie aufhören, wenn man nicht den Palmenzweig ergreift, den allein eine geistliche Macht darreichen kann. Es wird so lange Blut über Europa strömen bis die Nationen ihren fürchterlichen Wahnsinn gewahr werden, der sie im Kreise herumtreibt und von heiliger Musik getroffen und besänftigt zu ehemaligen Altären in bunter Vermischung treten, Werke des Friedens vornehmen“ (Novalis, „Die Christenheit oder Europa“, S. 749). 30 Novalis, „Die Christenheit oder Europa“, S. 734. 31 Ebd. S. 736. 32 Zu der in den späten 1940er und 1950er Jahren weitverbreiteten Verherrlichung des Mittelalters gerade unter Katholiken siehe Conze, Das Europa der Deutschen, S. 117 mit weiteren Belegen.

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terten Versuch mancher Reformkatholiken, zu einer positiveren Deutung der Reformation, der Aufklärung oder gar der Französischen Revolution zu gelangen.33 Auch in politischer Hinsicht ließ sich Novalis zwischen den Fronten verorten – im Gegensatz zu jenen Autoren des Europadiskurses, die wie Victor Hugo mit einem bestimmten Lager identifiziert werden konnten.34 Deren Plädoyers für ein geeintes Europa fielen denn auch weitaus präziser und eindeutiger aus  : allen voran Claude Henri de Saint-Simons und Augustin Thierrys 1814 vorgelegter Verfassungsentwurf für die Vereinigten Staaten von Europa.35 Dagegen enthielt Novalis’ Europa-Rede Versatzstücke sowohl der katholischen Reaktion als auch des Liberalismus  : Passagen, in denen eine Sehnsucht nach einem klerikal-ständischen Staat anklang, aber eben auch Passagen, in denen positiv auf die Errungenschaften der Französischen Revolution Bezug genommen wurde.36 Das machte die Rede ebenso anschlussfähig für nicht-demokratisch, aber pro-europäisch eingestellte Konservative wie für liberal gesinnte Christdemokraten. Die Mehrdeutigkeit der Europa-Rede, die aus ideengeschichtlicher Perspektive wie ein konzeptionelles Manko erscheinen mochte, erwies sich für deren Wirkungsradius mithin als Vorteil. Da es sich bei ihrem Verfasser um einen Dichter der Frühromantik handelte, mochte die Vieldeutigkeit ohnehin der Erwartungshaltung der allermeisten Leser entsprechen. Hinzu kam Novalis’ poetische Kraft, die auf den Leser der Nachkriegszeit starken Eindruck machen musste. Die gleichermaßen anschauliche wie außergewöhnliche Sprache, mit der Novalis Vergangenheit und Zukunft verklärte, kontrastierte mit der bedrückenden Wirklichkeit der ‚Zusammenbruchgesellschaft‘ und glorifizierte den Sehnsuchtsort ‚Abendland‘. Kein Zufall, dass zahlreiche Passagen, allen voran der erste Paragraph 33 Siehe dazu Owzar, „Unmittelbar zu Gott  ?“. 34 Vgl. etwa Victor Hugos Eröffnungsansprache vor dem im August 1849 in Paris abgehaltenen internationalen Friedenskongress, abgedruckt in  : Schulze/Paul (Hg.), Europäische Geschichte, S. 356 f. 35 Saint-Simon/Thierry. De la réorganisation de la société européenne. In deutscher Übersetzung erstmals 1815 erschienen unter dem Titel Von dem Wiederaufbau der europäischen Staaten-Gesellschaft oder von der Notwendigkeit und den Mitteln, die Völker Europens, mit Beybehaltung der National-Unabhängigkeit eines jeden von ihnen, in einen einzigen politischen Körper zu vereinen. 36 „Beide Theile haben große, nothwendige Ansprüche und müssen sie machen, getrieben vom Geiste der Welt und der Menschheit. Beide sind unvertilgbare Mächte der Menschenbrust  ; hier die Andacht zum Alterthum, die Anhänglichkeit an die geschichtliche Verfassung, die Liebe zu den Denkmalen der Altväter und der alten glorreichen Staatsfamilie, und Freude des Gehorsams  ; dort das entzückende Gefühl der Freiheit, die unbedingte Erwartung mächtiger Wirkungskreise, die Lust am Neuen und Jungen, die zwanglose Berührung mit allen Staatsgenossen, der Stolz auf menschliche Allgemeingültigkeit, die Freude am persönlichen Recht und am Eigenthum des Ganzen, und das kraftvolle Bürgergefühl“ (Novalis, „Die Christenheit oder Europa“, S. 748).

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Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil bewohnte  ; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs.  – Ohne große weltliche Besitzthümer lenkte und vereinigte Ein Oberhaupt, die großen politischen Kräfte37,

auch nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder zitiert wurden. Es war nicht zuletzt dieses Zitat, dem der Text seine Aufnahme in den deutschen Bildungskanon bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts verdankt hatte. Nach dem zwischen 1933 und 1945 erfolgten Zivilisationsbruch war ein solcher Kanon wichtiger denn je  : Bezeugte er doch, dass Deutschland eine Kulturnation war, der ein ebenbürtiger Platz zwischen Frankreich und Italien, England und Russland zukam. Zu diesem Kanon, auf den man sich nach 1945 erneut, wenn auch in beiden Teilen Deutschlands auf unterschiedliche Weise berief, gehörten Goethes Gesamtwerk, Schillers Dramen und Balladen und andere Klassiker der deutschen Weltliteratur. In Westdeutschland, nicht aber in der DDR38, zählte dazu auch Novalis’ Europa-Rede. Welche Bedeutung dieser im westdeutschen Europa-Diskurs zukam, wird ersichtlich, wenn man deren Rezeption mit anderen Schlüsseltexten kontrastiert, die Europa ganz anders und zwar als Bundesstaat entwerfen, sei es als konstitutionelle Monarchie, sei es als demokratisch-parlamentarische Republik. Ein Text der sich hier für einen Vergleich als Antipode anbietet, ist Saint-Simons und Thierrys bereits erwähnter Entwurf einer europäischen Verfassung mit supranationalem Parlament – ein Text, dessen Idealvorstellung nicht wie bei Novalis die Einheit von Herrschaft, Gesellschaft und Kultur ist, sondern eine heterogene Gesellschaft, in der mittels Partizipation und Gewaltenteilung ein Interessenausgleich angestrebt wird. Während dieser Verfassungsentwurf im deutschsprachigen Raum des 19. Jahrhunderts, anders als in Frankreich, durchgehend nur auf geringe, skeptische oder ablehnende Resonanz stieß und im 20. Jahrhundert kaum noch eine Rolle spielte, entfaltete Novalis’ Europa-Rede seit ihrem Erscheinen in beiden Ländern, in Deutschland mehr noch als in Frankreich, große Wirkung. Hier waren es im frühen 19. Jahrhundert vor allem die konservativen Autoren der Restaurationszeit wie François-René de Chateaubriand, Louis Gabriel Ambroise de Bonald oder Joseph de Maistre, die sich von der theologisch akzentuierten Geschichtsphilosophie Novalis’ inspirieren ließen. In Deutschland fiel das Spektrum derjenigen, die positiv Bezug nahmen, breiter aus  : Im frühen 19. Jahrhun37 Novalis, „Die Christenheit oder Europa“, S. 732. 38 Zur negativen Einschätzung Hardenbergs und seiner Europa Rede als reaktionäre Utopie in der Germanistik der DDR siehe Uerlings, Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, S. 542–558.

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dert beriefen sich vor allem katholische Denker wie Adam Müller und Franz von Baader auf Novalis  ; in der Bismarck-Zeit erreichte die Rede mittels ultramontan ausgerichteter Zeitschriften sogar ein Massenpublikum. Um die Jahrhundertwende ließ die Rezeption zwar kurzzeitig nach  ; in der Weimarer Republik aber setzte dann eine regelrechte Novalis-Renaissance ein. In den 1920er Jahren erfreute sich der Text vor allem bei (rechts-)katholischen Intellektuellen großer Beliebtheit  : als Manifest eines christlich-katholischen Abendlandes, das gegen die Kritik linksdemokratischer Intellektueller, wie Heinrich Mann oder Stefan Zweig, verteidigt wurde. Seit den 1930er Jahren lasen viele den Text dann als „Gegenentwurf zu einem nationalistisch-totalitären Europa-Konzept, einem vereinigten Europa unter deutscher Führung“, wie es die Nationalsozialisten propagierten und im Verlauf des Weltkriegs auch umzusetzen versuchten.39 An diese christlich-antitotalitäre Deutung ließ sich 1945 anschließen. Niemals sollte die Rede eine solche Popularität erfahren, wie im Westdeutschland der ­beiden folgenden Jahrzehnte, in denen sie zu einem zentralen Referenztext des Abendland-­ Topos und zur Ikone eines christlich imprägnierten Europa-Diskurses wurde. Parallel zu dem seit Anfang der 1950er Jahre einsetzenden deutsch-französischen Verständigungsprozess im Zeichen einer (west-)europäischen Integration beriefen sich nicht nur christdemokratische Politiker wie Heinrich von Brentano40 oder konservative Schriftsteller wie der zum Katholizismus konvertierte Werner Bergengruen auf Novalis’ Abendland-Konzept41, sondern auch reaktionäre Katholiken42, ja sogar einige linkskatholische Intellektuelle wie der österreichische Historiker Friedrich Heer, der Novalis zum Vordenker eines vereinigten Europas stilisierte, Saint-Simon dagegen kaum Beachtung schenkte.43 Es fanden sich denn auch nur sehr wenige Christdemokraten, die sich wie der links-katholische Publizist Walter Dirks explizit gegen eine Instrumentalisierung von Novalis’ Abendlandkonzept aussprachen.44 39 Hierzu mit weiteren Belegen Owzar, „Vereinigte Staaten oder Kulturen  ?“, S.  48–50, Zitat S.  49  ; sowie Lützeler „Novalis oder Napoleon  ?“, S. 42–44. Es gab in den 1920er und 1930er Jahren allerdings auch namhafte Germanisten, die Novalis völkisches Denken unterstellten (siehe Kurzke, „Novalis und Maastricht“, S. 26 f.; zur Wirkungsgeschichte Novalis’ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts siehe auch Kurzke, Romantik und Konservatismus, S. 36–49). 40 von Brentano, „Der europäische Auftrag der CDU“, S. 87 f. 41 Bergengruen, „Über abendländische Universalität“, S. 296. 42 Vgl. die Ausführungen Gerhard Krolls, des Herausgebers der Zeitschrift Neues Abendland, der 1955 rückblickend die „Verschwärzung“ der Neuzeit und eine damit einhergehende, vor allem von Novalis geprägte romantische Verklärung des Mittelalters, der die allermeisten Katholiken erlegen seien, kritisierte (zitiert bei Schildt, Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik, S. 277). 43 Vgl. Heer, Europa, S. 110–112 und 231. 44 Siehe Dirks, „Die Christenheit und Europa“.

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Welche Erkenntnisse lassen sich aus dieser Wirkungsgeschichte über das politische Denken der Rezipienten, die Beschaffenheit des Abendland-Topos nach 1945 und dessen Instrumentalisierung zu politischen Zwecken in den 1950er Jahren gewinnen  ? Es liegt nahe, die Perzeption der Rede als ein Symptom des über 1945 hinaus bestehenden verfassungspolitischen Bewusstseins-Defizits, vor allem katholischer Intellektueller, auszudeuten. Warum sonst erkoren selbst diejenigen, die nach Kriegsende auf eine europäische Integration setzten und mitunter den Aufbau einer supranational verfassten Union gleichberechtigter, demokratischer Staaten favori­ sierten, Novalis’ Rede und nicht Saint-Simons Verfassungsentwurf zum zentralen Referenztext  ? Warum sonst orientierten sie sich an Leitbildern, die Europa nicht in seiner bereits historischen Diversität wahrnahmen, sondern als kulturell homogene Einheit imaginierten  ? Insofern ist es sicherlich plausibel, mittels einer vergleichenden Rezeptionsanalyse ausgewählter Schlüsseltexte des Europa-Diskurses, wie Saint-Simons Verfassungsentwurf und Novalis’ Europa-Rede, Rückschlüsse auf das Verfassungsbewusstsein ihrer jeweiligen Leser zu ziehen.45 Freilich ist ein solches Vorgehen nicht ganz unproblematisch, insofern man den Rezipienten eine methodische Herangehensweise an Texte unterstellt, die mit der eigenen übereinstimmt. Als Philologe oder Ideenhistoriker mag man es bedauern, dass kanonisierte Referenztexte flüchtig gelesen, missinterpretiert, fragmentarisch zitiert und zu gegenwartspolitischen Zwecken instrumentalisiert werden. Für einen Historiker aber, der nach der Instrumentalisierung von Texten und der Funktionsweise von Erinnerungsstrategien fragt, sind es gerade solche, durch die verschiedenen Aneignungen hervortretende Polyvalenzen, denen sein Untersuchungsinteresse gilt. Es sind eben nicht nur und auch nicht immer die programmatischen Grundaussagen eines Textes, die ihn für einen Topos wie den des Abendlandes zum Referenzpunkt machen. Oftmals ist es gerade die Vagheit, die Vieldeutigkeit, die einen Text zu einem produktiven Steinbruch werden lässt, aus dem sich dann zum Teil höchst unterschiedliche Strömungen mit ganz unterschiedlichen Konzepten bedienen  – mit durchaus integrierenden Effekten, wie sich am Beispiel der Novalis-Rede und des Abendland-Topos in toto in der Nachkriegszeit zeigt. Längst hat der Abendland-Topos seine im bürgerlich-katholischen Lager einst ausübende integrierende Kraft verloren.46 Schon vor über 30 Jahren hat denn auch der Historiker Heinz Hürten von einem „anscheinend museal gewordenen Topos“ gesprochen  : Die „Berufung auf das Abendland als Vorbild und Ziel“ sei „so stark 45 Siehe Owzar, „Vereinigte Staaten oder Kulturen  ?“. 46 Zu dem bereits Mitte der 1950er Jahre einsetzenden, allmählich erfolgenden Niedergang der abendländischen Bewegung siehe Schildt, Zwischen Abendland und Amerika, S. 68–82.

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abgeklungen, daß die Benutzung des Wortes schon als Ausdruck kaum mehr steigerungsfähiger Antiquiertheit“ erscheine.47 Heute findet der Begriff denn auch fast nur noch im rechtsradikalen oder rechtpopulistischen Milieu Verwendung. Konservativ-demokratische Intellektuelle, wie der Historiker Michael Wolffsohn, können dagegen der Idee eines ‚christlichen Abendlandes‘ kaum noch etwas abgewinnen  : Weil sie den morgenländischen Ursprung des Christentums verkenne und die zum Teil jahrhundertelange Präsenz von Naturreligionen, des Judentums wie des Islams ausblende.48 Novalis’ Rede – in der ja von ‚Europa‘ und nicht vom ‚Abendland‘ die Rede ist – hat dagegen seit einigen Jahren wieder Konjunktur und dient weiterhin als Projektionsraum auch für solche Konzepte, die Europa und eine europäische, ja kosmopolitische Vergemeinschaftung sicherlich ganz anders imaginieren, als es Novalis jemals in den Sinn gekommen wäre, die sich aber auf in seiner Rede angesprochene Fragestellungen und Probleme beziehen, die wie die Generierung eines europäischen Gemeinschaftsbewusstseins nach wir vor unsere Debatten zur europäischen Integration bestimmen.49

Literaturverzeichnis Bergengruen, Werner. „Über abendländische Universalität“ [1948]. Plädoyers für Europa. Stellungnahmen deutschsprachiger Schriftsteller 1915–1949. Hg. Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main  : Fischer Taschenbuch, 1987. S. 281–297. Braungart, Wolfgang. „Subjekt Europa. Europas Subjekt. Novalis’ katholische Provokation ‚Die Christenheit oder Europa‘“. Ders. Literatur und Religion in der Moderne. Studien. Paderborn  : Wilhelm Fink, 2016. S. 244–262. Brentano, Heinrich von. „Der europäische Auftrag der CDU.“ Erster Parteitag der Christlich-­ Demokratischen Union Deutschlands. Goslar, 20.–22. Oktober 1950. Hg. CDU Deutsch­ lands [Bonn  : Bundesgeschäftsstelle der CDU Deutschlands, 1950]. S. 86–94. Brunn, Gerhard. Die Europäische Einigung von 1945 bis heute. Stuttgart  : Philipp Reclam jun., 3 2009. Conze, Vanessa. Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichs­ tradition und Westorientierung (1920–1970). München  : R. Oldenbourg, 2005. Defrance, Corine und Ulrich Pfeil. Eine Nachkriegsgeschichte in Europa. 1945 bis 1963 (Deutsch-­ Französische Geschichte Bd. 10). Darmstadt  : WBG, 2011. Dietzsch, Steffen, „Novalis’ Europa-Idee – die poetische Entmythologisierung des goldenen

47 Hürten, „‚Abendland‘“, S. 31. 48 Vgl. Wolffsohn, „Der Begriff ‚christliches Abendland‘ ist geistiger Müll“. 49 Vgl. etwa Hildmann, „Die Christenheit oder Europa oder Von Novalis lernen  ?“  ; Braungart, „Subjekt Europa“, S. 251 und 261 f.; Dietzsch, „Novalis’ Europa-Idee“, S. 170.

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The Sounds of Silence? The Red Cross Movement and the Concept of the ‘Occident’ (1869–1989) One only needs a quick look to realize that the notion of ‘the West’, or Abendland, is a topic that intellectuals have examined with continuous attention since the beginning of the twenty-first century. Analyses of the discourse devoted to this notion show that ‘the West’ has moved from an essentially geographic term referring to one of the four points of the compass to an identity concept. Beyond the variety of interpretations, ‘the West’ refers to a historic anchorage dating from ancient Greece, from which it is said to have developed a heritage spurring validation of rationalism and individualism, expressed in Christian culture. In the course of the twentieth century, this interpretation acquired a further, political tinge when the term came to designate the non-communist world.1 This glorious genealogy encompasses several gray zones. One of the most embarrassing problems was the Jewish – possibly Oriental – origin of the shining light of the West  : Jesus Christ. This apparent aporia prompted several responses.2 One of the solutions proposed consisted of placing the Israelites in the ‘Caucasian’ category, alongside the Egyptians.3 In essence, this explanation was based mostly on linguistic interpretations. However, this solution inevitably pointed to another phenomenon. In fact, the notion of ‘the West’ seen as the place from which and where a specific Welt­ anschauung was expressed doubled as a hierarchization  : the intellectual particularities that it supposed were rapidly associated with physical characteristics, themselves invested with an idea of superiority leading to prejudices devaluing non-Westerners and expressed as discrimination and/or racism.4

1 This genealogy of the West seems commonly recognized in research, which does not preclude controversy. See for example  : Lazarus, “The fetish of ‘the West’ in postcolonial theory.” 2 To cite only some of them, one might mention the attempts art made to emphasize and appropriate the Orient of the holy sites, as well as the works of Gustave Moreau presented by Franziska Metzger. Prior to that, intellectuals imagined establishing a palpable difference between Oriental Jews and the others. (See in this regard  : Varouxakis, “When did Britain join the Occident  ? On the origins of the idea of ‘the West’ in English”.) 3 Lau, “What is meant by ‘the West’  ? A genealogical critique of a Eurocentric concept”. 4 Ibid, p. 19.

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The emphasis of this latter bias has been facilitated by the recent evolution in historiography, in particular in the area of postcolonial studies. And this epistemological development has doubtless been supported by mutations – not always pleasant5 – accelerated by the collapse of the Soviet empire.6 The end of the Cold War not only made it possible to take off the ideological blinders susceptible to mask disturbing realities  ; it also stimulated the expression and audibility of points of view theretofore in the minority or subaltern. Among these voices, one hears those of the victims of colonialism and of postcolonialism which, perhaps more than any other, have offered a particularly fertile field for the deconstruction of ‘the West’.7 The dawning awareness of the abuses committed in the name of – and by – the West, along with the shame they have aroused, also prompted some political and social actors to stop identifying openly with the West – all the more so because they no longer needed the term to position themselves in facing off with the communist world.8 This was a particular silence unrelated to dictatorial decisions or the practical impossibility of expressing oneself, imperfectly integrated into the modes of political muteness rapidly enumerated by Barbet and Honoré9, just as one cannot neatly insert it into two other categories of silence identified by Michael Freeden within the context of political thought. In fact, the West and its abuses have been theorized, contrary to ‘unconceptualizable’ phenomena, and they are thoroughly imaginable, unlike ‘unthinkable’ realities. Nonetheless, this specific muteness constitutes a variation of what the conceptualist10 calls the ‘unspeakable’, i.e. the silence that accompanies a reality too painful to be evoked, approaching the French term ineffable.11 However, in the present case, it is less a matter of refraining from describing the unspeakable than of renouncing an evocation owing to the term’s negative implications, leading to a deliberate refusal   5 Thus it was possible to present the attacks of 11 September 2001 in raising the awarness of the implications of the notion of the West. See for example Warin, “La haine de l’Occident et les paradoxes du postcolonialisme”, pp. 28–29.   6 The classic origin of reflection on the West and its excesses, besides anticolonialism, is Edward Saïd’s book, Orientalism, published already in 1978. However, most of the written work pertaining to this movement appeared later.   7 D’Adesky, “Subalternité”.   8 Regarding the silence caused by shame see  : Bruneau and Achaz, “Le silence dans la communication”, p. 43.   9 Barbet and Honoré, “Ce que se taire veut dire. Expressions et usages politiques du silence”, p. 11. 10 The distinction here is important, for Michael Freeden endeavors to approach political ideologies via concepts, i.e. the semiotic configurations inherent in a term, and it is this aspect that is being tracked here. 11 Monleau (de), “L’indicible et l’ineffable”.

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to associate oneself with them.12 Thus, currently, the abandonment of this claim to Western belonging or origin can be understood as a sort of self-censorship13 stimulated by taking into account the abuses authorized if not induced by belonging to the West, and it seems to reflect an aversion to seeing oneself associated with it. In other words, this attitude is akin to renouncing the whole of a memorial heritage in order not to be associated with some of its intrinsic but particularly dark aspects. On the other hand, it is less easy to grasp what might have motivated social actors to refrain from uttering the term even before its undesirable secondary effects were fully highlighted and denounced. This is even more surprising and intriguing when ‘the West’ corresponds in all points to the geographic and political-cultural origins of these actors, and when they resist the use of a notion or its derivatives which, moreover, enjoy a considerable admiration. It is indeed in this situation that the International Committee of the Red Cross (ICRC) found itself. This organization, deeply anchored in Swiss political culture and whose emblem willy-nilly displays its Christian origin14 practically never uses the term to describe itself officially – without our knowing really why. A recent declaration seems to bring a semblance of explanation to this muteness. On 2 July 2020, the Red Cross Movement, of which the ICRC is a major member, affirmed  : Rejection of discrimination of all kinds lies at the heart of our Fundamental Principles and values. Our principles of humanity and impartiality demand that there be no discrimination on the basis of nationality, race, religious beliefs, class or political opinions. This is key to ensuring that the suffering of anyone in need may be relieved. Our principle of neutrality does not mean staying silent in the face of racism and violence.15

12 Freeden, “Silence in political theory  : A conceptual predicament”. 13 The definition adopted here is drawn from the following definition (my translation)  : “Self-censorship is censorship applied to oneself, preventively, to one’s own utterances, acts or achievements. Self-censorship can be motivated by caution on the part of the state, an institution, a business firm or a person whom one depends on.”  : “autocensure”, La Toupie, https://www.toupie.org/Dictionnaire/Autocensure. htm, accessed 31 October 2021. 14 Herrmann, L’humanitaire en questions, Chap. 1. 15 ICRC. “International Red Cross and Red Crescent Movement statement on building an environment free from racism and discrimination.” 1st July 2020, https://www.icrc.org/en/document/international-­ red-cross-and-red-crescent-movement-statement-racism-discrimination, accessed 31 October 2021. (This is the official English version of the text. I translated all the other quotations cited here from French.)

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This text clearly denounced the biases currently considered inherent in the notion of ‘the West’. But above all, it suggests that the movement’s leaders may have awakened to the discrimination engendered by a racist vision of the world that gives preeminence to Whites and their culture. And this awakening is not supposed to be recent but anchored in the fundamental principles of the Red Cross. In the present case, the declaration mentions humanity, impartiality and neutrality. Indeed, under these or similar designations, these three notions have guided the ICRC’s action since its beginnings, even if their role was not made official and proclaimed until 1965, with the official adoption of the seven fundamental principles.16 Thus, by evoking humanity and impartiality, the proclamation situates the current reservation in the long duration. Here one might find a plausible explanation of the obvious reluctance that the ICRC manifests in attributing to itself the term ‘Western’  : by virtue of an ultimate objective of universal charity aiming to come to the aid of anybody, regardless of political, religious, social or geographic origin, the Committee would seem to have understood the discrimination caused by belonging to a way of thinking and doing inherent in Western culture, from which it, itself, has come. Following this logic, the ICRC would constitute a very early example of Western conscientization and thus of critical distancing from a still powerful ideal. This presumed precociousness makes for a case study fascinating to pick apart. With this in mind, it seemed logical to explore systematically the discourse produced by the institution and to concentrate on the periodical, which, right up to today, constitutes one of the raisons d’être of the Red Cross Movement.17 This periodical, titled from its creation in 1869 Bulletin international de la Croix-Rouge (International Bulletin of the Red Cross) then starting in 1919, Revue internationale de la Croix-Rouge / International Review of the Red Cross, presents a double advantage. From the technical point of view, it is accessible on-line, which enables research over an extended corpus, an advantage particularly welcome in a conceptual study.18 From the point of view of contents, this publication offers the particularity of being a privileged window through which the ICRC has presented itself in terms that it con16 Palmieri, “Les principes fondamentaux de la Croix-Rouge  : une histoire politique.” 6 July 2015, https:// www.icrc.org/fr/document/les-principes-fondamentaux-de-la-croix-rouge-une-histoire-politique, accessed 31 October 2021. 17 No doubt, it would have been interesting to pick apart the internal discussions. However, owing to the immensity of the documentation produced by the various bodies of the organization and given the public literature’s silences that makes it unsuitable as an indication of when the use of the term might have been discussed, such research would remain dependent on chance discoveries and turn out to be hardly feasible. Moreover, occasional surveys have not made it possible to locate such reflections. 18 Holmila and Ihalainen, “Introduction”.

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sidered most appropriate to winning the sympathy of its contemporaries.19 For this reason, the investigation of these fascicules comprising between 350 and 1.000 pages per year appears particularly appropriate for studying the silences of the Committee as well the strategies of discursive avoidance. As nothing guarantees the existence of real internal discussions of the notion, examining the terms used to replace it, to complete it or to deny it appears likely to reveal the blind spots in the thinking of the Red Cross’s advocates. Finally, the ease of the on-line inquiry makes it possible to cover a relatively long period, from the creation of the Review to 1989, i.e. the time when the disappearance of the Eastern Block reduced considerably the need to evoke a Western Block. The first part covers the decades from the last third of the nineteenth century to the Second World War. Thereupon, one can look into what the humanitarians said of the West in the second half of the twentieth century, when the term ‘Occidentalisation’ (Westernization) entered into current usage in French. Throughout this investigation, there remains the question of knowing for what reasons the International Committee of the Red Cross identifies itself so little with the West. Answering this question should give indications regarding the ICRC’s functioning and the very notion of ‘the West’. Better yet, at a time when long accepted attitudes are being called into question20, this inquiry should give indications of the axiological awakening.

West vs. Humanity (from the Origins to the Interwar Period) In 1863, at the founding of the International Committee of the Red Cross, the term ‘West’ enjoyed undeniable favour in the French-speaking world. Its use attained a high point of popularity during the several years immediately preceding the Committee’s creation. The frequency of its use is linked to the language for in French, l’occident (the West) encompasses varying realities, rendered into German by Abendland, Okzident and Westen21, whereas a single term in French for all these realities multiplied its use. In many regards, the ICRC integrated itself perfectly into the classic pyramidal Weltanschauung attributing to the West a ‘natural’ superiority relative to all the other entities to which it could be compared. Of course, Henry Dunant’s project, cham19 Palmieri, “Informer ou gouverner  ? Les 150 ans de la Revue internationale de la Croix-Rouge, 1869– 2019”. 20 The most blatant example is doubtless the Me Too movement. But it is not insignificant that this struggle seemed to sharpen the struggles of other ‘minorities’, much to the displeasure of some. See as an illustration  : Schoettl, “De Balance ton porc au ‘juridiquement correct’”. 21 The same sort of phenomenon can be observed for English usage. See Varouxakiss, “When did Britain join the Occident  ? On the origins of the idea of ‘the West’ in English”, p. 565.

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pioned and articulated by the institution, was officially to treat all combat victims equally.22 Nonetheless, the humanitarian idea had germinated in minds not only marked by Christianity but persuaded that this was the most noble and laudable religion possible. Further, its advocates were white and convinced of the cultural, technical and moral superiority of their ‘race’.23 In October 1903, the Bulletin declared  : The Whites who might undertake the movement’s initiative would find in the Niggers already won over to Christianity, or having been indirectly subjected to its influence, their first adherents capable of understanding the noble mission of the Red Cross  ; and these, in turn, would explain its principles and functioning to the rest of the population.24

This quotation rests squarely on the idea of a natural superiority of the white man who, by virtue of a ‘moral trickle-down’ theory could inspire less ‘advanced’ populations. It thus refers to a clearly Western imaginary. However, in spite of this anchorage, only several dozen articles use the term ‘West’, and they do this not in a cultural but in a geographic sense.25 One finds a striking proof of this tendency in a particularly eloquent text devoted to the death of the vice president of the Greek Red Cross. In this regard, the Bulletin indicates that the work of this man was known “also in the West”.26 One can accordingly deduce from this statement that Greece, considered the very birth place of the West, was not a part of it  ! But absence of the use of the term ‘West’ does not mean that the cultural and racial assumptions underpinning it were absent from the ICRC’s discourse. Empirical 22 Unlike analogous undertakings conceived during the Crimean War. On the one hand, the squadrons of nurses brought by Florence Nightingale operated according to a national criterion  ; on the other, the Russian caregivers helped the Orthodox and those promising to convert to Orthodoxy. Dunant, Un souvenir de Solférino, p. 89. 23 The term held less connotation, for the contemporaries also spoke of the German, French and Italian race. In 1870, the Federal Council was thus able to state  : “Switzerland, an essential character of which is this union of races, has the duty to watch over the maintenance of its principle and to make it prevail in a worthy manner in the middle of the wars of the races…” (Archives fédérales suisses, “Message from the Federal Council to the High Federal Assembly concerning the maintenance of Swiss neutrality during the war between France and Germany.”) 24 ICRC, “L’avenir de la Croix-Rouge au Congo”, 1903, p. 224. 25 The geographical usage is mainly characteristic of the period of the First World War, and thus introduces a statistical bias. By excluding this period and considering only the years 1869 to 1913, we obtain a total of 6 occurrences of the use of the term ‘Occident’ (source  : https://www.cambridge.org/core/ journals/bulletin-international-des-societes-de-la-croix-rouge/listing  ?q=West&fts=yes&filters%5B dateYearRange%5D%5Bfrom%5D=1869&filters%5BdateYearRange%5D%5Bto%5D=1913&search WithinIds=064DAF4EC9F4F8F596445CAEDDE335AE). 26 ICRC. The Committee, “La Société hellénique en 1885”, 1886, p. 137.

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research shows that these characteristics marked the Red Cross’s entire discourse. If they are not associated with the notion of ‘the West’, they are expressed by other terms especially appreciated by the international actors. One thus finds the idea of progress and development in a broader and richer context  : that of civilization.27 Until the middle of the twentieth century, the heads of the International Committee of the Red Cross imagined civilization to be the ultimate end point of moral, technical and intellectual perfection. One acceded to it incrementally. This comes across perfectly in an article published on the Red Cross in the Congo  : If our grandchildren were to think about writing a history of the Red Cross, after this institution has attained all the development to which it aspires, they would probably have interesting things to recount regarding the welcome it received from the various human races, very unequally situated on the ladder of civilization, but on which, one might hope, they will all ascend more or less rapidly. Conceived by Whites, the Red Cross had still made only two incursions outside the habitat of its first adherents […] In the Congo, the Red Cross proceeded differently in the presence of the Niggers’ excessive and inveterate savagery. It is run there at the present only by the Europeans, for the Blacks are not yet capable of cooperating other than as subaltern agents. But patience, it will come  : the example and education that the Belgians are giving their African pupils will surely act in the long term on the latter’s ideas and will make them, little by little, civilized.28

Civilization, in the singular, was opposed to civilizations, plural and primitive, in other words savagery and barbarity.29 The very proof of accession to ever higher stages of civilization and ultimate sign of accession to ‘civilized’ status was the adherence to the ideals of the Red Cross that were first efficiently expressed in Geneva. This peremptory assertion was accepted in the capitals of the colonizers and constituted one of the basic reasons for the colonial powers’ adherence to the Geneva Convention, which nonetheless restrained their national sovereignty in warfare.30 By signing this treaty, they legitimized their domination of the populations it was so important to civilize31, for their accord proved that they had the possibility to do so and the requisite ability. In other words, their commitment to the Red Cross testified that they had 27 During the period 1869–1913, there are 256 occurrences for ‘civilization’ (civilized) and 78 for ‘progress’. 28 ICRC, “L’ avenir de la Croix-Rouge au Congo”, 1903, pp. 219–220 (my emphasis). 29 Palmieri, “La perception de l’évolution de la guerre par une organisation humanitaire  : le cas du ICRC, 1863–1960”, pp. 36–38. 30 Herrmann, L’humanitaire en questions, Chap. 1. 31 Den Boer, “Civilization  : Comparing concepts and Identities”.

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reached the highest degree of civilization, attributing to them an unwavering merit that underpinned their (tendency disguised as) ‘duty’ to civilize, envisioned now as a dynamic process.32 But this logic was not limited to Westerners, as the Bulletin suggests in 1911  : “It has taken centuries of effort and patience to soften somewhat the laws and usages of the primitive civilizations […] this progress exists and persists. This conviction is a powerful encouragement for all those who […] work to achieve a higher ideal.”33 This conception of things makes it possible to bring together countries like Japan in the circle of states enjoying a high level of civilization, whereas it was not necessarily the case in all the countries of the West. Although it appeared incontestable that Geneva, indeed Switzerland34, was at the top of this civilizational hierarchy, for their having initiated this humanitarian impulsion demonstrated their excellence, other Europeans were far from sharing such a lofty rank. Thus, the Bulletin regretted that the British were “more preoccupied with assuring victory than setting up hospitals for the wounded, and thus it is that England shall remain behind the other states in voluntary assistance.”35 Justified or not, this terse judgement relegating the greatest power of the day to an unflattering stage of civilization adds valuable indications regarding the reasons leading the Red Cross’s leaders to prefer the term ‘civilization’ to that of ‘the West’. Through these various examples, one understands that ‘the West’, with its geographic and historical double anchorage, was inadequate to reflect clearly what the ICRC considered Genevan excellence and to express the dynamic conception of the humanitarian ideals that the Committee wished to diffuse throughout the world. The Genevans’ silence regarding the West thus reveals their inability to grasp that the ideas born in their homeland and seen as the paragon of civilization destined to serve as an example for the entire planet, were in reality drawn from Christianity and Swiss political culture – all very Western indeed. This silence resembles what Michael Freeden has called the ‘unconceptualizable’, i.e. a reality for which there is no heuristic material to make it intelligible and thus, to express it.36 Several phenomena could explain this absence of means. First, it is probable that, like most of their contemporaries, the Red Cross’s leaders had no opportunity to re32 French allows to play with the term ‘civilisation’, conceived as a static state or as an evolution. 33 ICRC, “Russie  : Les bureaux de renseignements sur les prisonniers de guerre”, 1911, p. 41. 34 On the troubled links between the Geneva ICRC and Switzerland, see Herrmann, “Eine ‘Genferei’ als Grundlage eidgenössischer Identität  ?”. 35 ICRC, “Grande-Bretagne  : Conférence de M. J. Furley sur la convention de Genève”, 1896, p. 199. 36 Freeden, “Silence in political theory  : A conceptual predicament”, p.  5. This notion is similar to the French term ‘impensé’, that is to say ‘what we cannot think about’ (ce ‘à quoi on ne peut pas penser’), https://www.cnrtl.fr/definition/impensé.

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flect specifically on the Western origins of their project, and therefore they hardly mentioned it, for these roots tainted with Christianity and white racism appeared to them natural and perfectly normal, in as much as such international initiatives could only emanate from Westerners37  ; an inevitable implicitness, of a sort.38 But in parallel, it is clear that this specific silence also fits perfectly with their conviction that the type of altruism that they professed existed and germinated in all the world’s populations and that this seed needed only to be fertilized. In other words, they were fixated on, if not outright blinded by, the imperative of humanité that underpinned their doctrine. In fact, the latter was conceived as an equivalent to philanthropy or universal charity, two elements that supposed a concern of the entire human species, a characteristic shared by every one of its members.39 Thus, it was very much the movement’s principle of humanity that prompted avoidance of the use of the concept ‘the West’, as the 2020 declaration seems to suggest. But the (French) polysemy of the term is deceptive. While the text emphasizes the impulse of altruism inherent in the concept, it is not really this aspect that was at the origin of the historic agents’ silence. Actually, it was rather the universalist facet of the principle that prompted them to avoid claiming to be of the West. And finally, as abundantly proven by the schema of racist thought openly prevalent until the interwar period, their silence in no way corresponded to a full realization of the abuses to which this origin could lead.

West vs. Neutrality (from the Second World War to the Fall of the Berlin Wall) The two world wars, decolonization and the Cold War played a fundamental role in the understanding and use of the notion of ‘the West’. On the one hand, the atrocities committed by and against the Nazis emanated from European countries, supposed to represent the heart of ‘the West’. Further, the liberation movements tended to counter the idea of an obvious civilizational superiority of the former colonial powers. In the end, the concept changed connotations. It was no longer (really) defined in the face of another, pagan or barbarian. With the creation of the Eastern Block, the West tended to identify the opposition with the communists40, a move susceptible to effectively 37 Although the historiography on internationalism challenges many clichés, its essentially Western origin does not seem to be controversial. See Reinish, “Introduction  : Agents of Internationalism”, p. 197. 38 von Münchow, “Theoretical and Methodological Challenges in Identifying Meaningful Absences in Discourse”. 39 Palmieri, “Les principes fondamentaux de la Croix-Rouge  : une histoire politique”, p. 2. 40 The political use of Russia to highlight the qualities of the West dates back to the nineteenth century or

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promote the ‘free’ way of life in a dynamic recognizable in the popularization of the term ‘Occidentalisation’.41 The ICRC is not absent from these developments. The discovery of the death camps and the feeling of failure provoked by the culpable ineptitude of the International Committee in the face of the destruction of the Jews42 sharply contradicted the idea of a West as the antonym of barbarism. The wars of liberation that shook what was called the Third World still held its attention even more.43 It nonetheless remained impregnated with a deep anticommunism, and continued to propose an ideal of generosity that was clearly of the right. The Soviets were anything but unaware of this state of mind and let it be known. They hesitated to sign the Geneva Conventions in 1949, and they insisted on incorporating into the humanitarian agenda highly connotated themes such as the struggle against nuclear weapons and for peace.44 Thus, the ICRC’s advocates had the opportunity to become aware of their Western identity by confronting the problems encountered by the populations involved in decolonization and to persuade themselves of their Western anchorage through opposition to the socialist world and its ideals. Nonetheless, as during the preceding period, references to the West are almost non-existent and can be counted on the fingers of one hand.45 More striking, this silence is no longer really counterbalanced by an extreme validation of the notion of civilization. Doubtless, the concept was still used – but much less. It underwent a sort of evolution such as to discourage those who might have been tempted to equate it with excellence and progress. Immediately after the war, the ICRC emphasized that ‘civilization’ had produced an incalculable number of victims, be it in allowing the

earlier, but then largely takes up the counter-concepts of barbarism and savagery (Bavaj, “‘The West’  : A Conceptual Exploration”, p. 6–7). To oppose the communists to a Western vision of things is thus not only to emphasize the specificities of the West, but also to underline the barbaric, savage, cruel character of communism. 41 [s.n.], “Occidentalisation”, p. 2425. 42 Favez, Une mission impossible  ?  ; Cahen, “Le Comité international de la Croix-Rouge (ICRC) et les visites de camps  : étude d’une controverse”  ; Herrmann, L’humanitaire en questions, Chap. 3. 43 Rey-Schirr, De Yalta à Dien Bien Phu. Histoire du Comité international de la Croix-Rouge, 1945–1955  ; Perret and Bugnion, De Budapest à Saigon. Histoire du Comité international de la Croix-Rouge, 1956– 1965  ; Blondel, De Saigon à Hô Chi Minh-Ville  : action et transformations du ICRC 1966–1975. 44 Herrmann, “Humanitaire et paix, une équation insoluble  ? (1917–1977)”. 45 Source  : Revue internationale de la Croix-Rouge, 1945–1989, https://www.cambridge.org/core/jour nals/international-review-of-the-red-cross/listing?q=Westal&fts=yes&filters%5BdateYearRange %5D%5Bfrom%5D=1945&filters%5BdateYearRange%5D%5Bto%5D=1989&searchWithinIds=C2A 38F4072C3CE37F96B9EC80AD43B44.

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development of Nazism or through the invention of nuclear weapons.46 At best, the term was used, but without indicating any presence, even Genevan or Swiss, for the Review concedes  : The Red Cross was born in this country, Switzerland, but it would be absolutely false to think that the Red Cross has roots only in this country. The idea of the Red Cross is present in all civilizations, in all religions. Its principles are to be found in the Coran, in ancient Persian civilization and in many other cultures. Everywhere that there are men and women who live, who suffer, who die, one finds in the bottom of their hearts a seed, that of the Red Cross, which asks only to germinate.47

The geographical modesty of the argumentation was counterbalanced by the increase in the number of articles recalling the Geneva origin of the movement. This phenomenon is perhaps linked to the randomness of anniversary dates, although it must be noted that before 1945 jubilees were less celebrated. On the other hand, it is clear that civilization is more and more used in the plural. Further, it was no longer envisioned officially in vertical terms, hierarchical and pyramidal, but in horizontal terms, supposing a certain equality among peoples, whose ultimate proof was still seen as the presence, revealed or developing, of humanitarian thought as the Red Cross conceives it – clearly Western in origin, however. Moreover, although veiled in the publications, the organization’s rampant racism has not entirely disappeared and can be discerned, notably, in the condescension of the Genevans visiting intervention areas in sub-Saharan Africa.48 Thus, the omission of the notion of ‘the West’ becomes more obvious without being necessarily impossible to understand. First of all, one can observe that the ideal of humanity – whose universalist acceptance had weighed heavily during the preceding period in preventing a specific claim of Western origin of the Red Cross’s humanitarian project – remains very present. In 1957, the Review stated  : “The principles of the Red Cross [among the first of which figures humanity] – which were said to spring from Asia as well as Europe – belong to all peoples.”49 Thus, the colonial struggles recall the necessity of drawing on the capital of empathy shared by every human being. But especially, they accentuate the need to take into account all the world’s populations and contribute, here again, to emphasizing the universalist facet of the concept of humanity. In parallel, this preoccupation is dis46 ICRC, L. D. “Publications diverses sur l’énergie atomique”, 1947, p. 136. 47 ICRC, “Après un symposium sur le développement La Croix-Rouge en Afrique”, 1975, p. 264. 48 Desgrandchamps, “Entre ambitions universalistes et préjugés raciaux”. 49 ICRC, Revue internationale des Sociétés de la Croix-Rouge 39,468 (1957), p. 678.

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cernible in the efforts agreed to extend international humanitarian law to civil wars, in a process that would not culminate until 1977.50 Further, the principle of humanity, in its general sense, also contributes to explaining why the term ‘West’ was not used in the context of the often stormy relations of the institution with the Soviets. After the Second World War, the Soviets reproached the International Committee for being pro-Nazi and for having neglected the Soviet prisoners of war – who weren’t protected by the 1929 Geneva Convention, which the Kremlin had not signed. The accusation is so weak that one is tempted to see in it a much deeper dissimulating excuse, of principle. Not only does the ICRC brandish an ideal of generosity of the right, that thus rivals partially the imperative of proletarian solidarity, but it does so in the name of a concurrent universalism. Universality, the other fundamental principle of the Red Cross51, draws on the same philosophical tradition of the Enlightenment as Marxism. In the context of the confrontation of universalisms, cousins but enemies52, one can understand that the ICRC did not wish to flaunt the notion of ‘the West’  : doing so would have run the risk of the Soviets seizing upon it to prove the non-universal character of the Red Cross.53 In a correlative way, this silence seems to derive from the ICRC’s obsession with presenting itself as an apolitical body. Better yet, in order to renew its distended links with the USSR the institution wished to show that even if it had its headquarters in a Western country, it was above all completely impartial and neutral, between the two superpowers. In 1968, Léopold Boissier, former ICRC president, gave valuable indications on the matter, when relating (in a fairly inaccurate way) what he claimed had been the body’s role during the Cuban missile crisis  : [The ICRC] does not get involved in politics, and the governments that call on it must be persuaded of this… Because it measured the danger of an atomic war, it accepted in 1962 the United Nations’ request to participate in a peaceful solution of the Cuban conflict […]. The Congrès, meeting in 1963 on occasion of the centenary of the founding of the Red

50 ICRC, “Historique de l’adoption des protocoles additionnels de 1977”. 16 octobre 2019, Blogs.cicr.org. https://blogs.icrc.org/cross-files/fr/historique-de-l-adoption-des-protocoles-additionnels-de-1977/. 51 It should be noted that universality is a fundamental principle relating to the organization of the Red Cross movement, even though the claim to universality is at the very basis of its existence and its action, as suggested by the analysis of the concept of humanity above (Götz and Herrmann, “Universalism vs. Particularism in Emergency Aid before and after 1970. Ambivalences and Contradictions”). 52 Herrmann, “Une universalité vue de l’Est  ? Compréhension, présentation et instrumentalisation soviétiques de la DUDH (1948–1976)”. 53 Götz and Herrmann, “Universalism vs. Particularism in Emergency Aid before and after 1970. Am­ bivalences and Contradictions”.

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Cross, congratulated the Committee on its action and enjoined it to fulfill its mission of neutral intermediary between states in conflict in order to participate in keeping peace.54

In fact, nobody had solicited the Red Cross  : it was the Red Cross itself that had wished to play this role of intermediary, necessarily impartial.55 Thus, the Cold War, far from limiting the ICRC to one camp, accentuated a desire of neutrality that it had professed from its beginnings. And this willingness, too, prevented the ICRC from proclaiming its Western identity, without appearing to position itself clearly on a political chessboard polarized around notions of East and West. The principle of neutrality thus came to reinforce the universalizing effects of the imperative of humanité, and the conviction that the core role of the Red Cross was to awaken the altruism inherent in every human being. Of course, while the International Committee’s members knew that they could declare themselves to be on the Western side, the mission that they had assumed made such a profession of faith not only counterproductive but abstruse, if not downright absurd. Their silence thus resembles what Michael Freeden has called the ‘unthinkable’.56 Nonetheless, this silence, influenced by the movement’s doctrine, allowed a political positioning that aimed at reinforcing the Committee’s possibilities of action. As such, it did not really suppose calling into question the Committee’s very Western origin, itself camouflaged by its humane universality. Thus, and once again, as the 2020 declaration affirmed, it was very much by virtue of the fundamental principle, that of neutrality or impartiality, that the ICRC abstained from trumpeting its geocultural affiliation. However, contrary to what it let be understood, these principles did not trigger a coming of awareness, for they have not always sufficed to reduce the prejudices and the racism of the humanitarians, just as the universalist ambition has contributed to masking their clearly Western anchorage.

Conclusion In spite of the methodological difficulties presented by the analysis of the silence, the deciphering of the ICRC’s reluctance to brandish the concept of ‘the West’ turned out to be rich in lessons. First of all, the organization’s attachment to the precepts of 54 ICRC, “Guerre et paix”, 1968, p. 389 (my emphasis). 55 Fischer, “The ICRC and the 1962 Cuban missile crisis”  ; Bugnion, “Confronting the unthinkable  : The International Committee of the Red Cross and the Cuban missile crisis, October-November 1962”. 56 Freeden, “Silence in political theory  : A conceptual predicament”.

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neutrality, impartiality and humanity, such they have been deployed following the Second World War, shows that the principles that the movement had adopted constituted very much an axiologic compass capable of orienting the institution’s action. Moreover, the posture of detachment that the Red Cross’s leaders assumed during its first century, at the least, represented a powerful civilizational imaginary. This took on the aspect of a ladder in constant evolution, from the top of which were diffused the values that, once revealed, allowed populations within which they were to germinate and flourish to climb the rungs leading to a better world. Subsequently, their pyramidal conception seemed to level off somewhat. Nonetheless, the Committee’s advocates continued to present themselves as the heirs of a superiority complex that is almost constitutive of the identity of the City of Calvin, which compensates thus for its weakness and its vulnerability. In 1814, the great economist Sismondi declared to his fellow citizens that the city was “in the forefront of the glorious march of the human species”.57 The institution thus ensures that this admirable place is kept for it, but also – with laudable self-sacrifice  ! – that this light is diffused among the less enlightened nations. This highly flattering awareness of the spirit of the place has implications for the use and understanding of the very notion of ‘the West’. It proves that the concept of ‘the West’ can concretely be considered ill adapted as a spatial reference. On the one hand, ‘the West’ can seem too narrow since it excludes the entities that are, geographically speaking, perceived as belonging to the East or the South, whatever their level of adherence to the values issuing from Christianity and/or their capacity to lessen the scope of white racism – not to mention its contradiction with the principle of humanity. On the other hand, it may seem too broad, notably to persons wishing to place the City of Calvin on a pedestal, even relative to England. This plural lexical mismatch renders the term ‘West’ unusable because inapt, thus ‘unthinkable’. Nonetheless, the most significant causes do not come from the principle of neutrality nor from that of humanity but from the universalist element underpinning them. In their intimate conviction of the existence of a single human nature, responding to common characteristics, the Red Cross’s advocates did not know how – or were unable – to conceive that the criteria used to describe and evaluate this universality were culturally determined, and very much Western. This inability to imagine the relativity of their own position was largely responsible for their silence, which appeared as a powerful ‘unconceptualizable’. The impossibility of conceptualizing this Western belonging has undoubtedly stimulated and been fed by a memorial configuration in which the ICRC serves as a self-referential axiological compass. It builds this memorial edifice by first proclaim57 [s.n.], “Discours pour les Promotions de 1814 prononcé par J. Ch. L. Simonde de Sismondi”, p. 60.

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ing its civilizational exemplarity. And if, after the Second World War, it attenuated its role by presenting it as a contingent force, it did so while at the same time emphasizing the glorious mission of its founding fathers. Today, despite the globalization and internationalization of the ICRC, this tendency to self-reference has not disappeared. This ‘corporate culture’ helps to explain why even the 2020 declaration seems to ignore the movement’s Western roots.58 In fact, by indicating that the ICRC had always been opposed to discrimination and racism by virtue of its fundamental principles, this text commits historical errors that allow a glimpse of the same bias as that which characterized the Red Cross at its beginnings, for it does not question the Western origin of these principles. Thus, the movement’s current leaders have reread the past so as to make it correspond to today’s absolutes. This operation was all the more necessary because the ICRC possesses a considerable moral capital, which is essential to its activities and its existence59, and because preserving it is indispensable. Hence, the necessity of rewriting the story in way that pleases the reader (and the donor) of the twenty-first century even if this means forgetting its cultural roots. However, this attitude is not only a product of the memory that the ICRC has shaped for itself or the result of the donation policy pursued by the institution. It is also typical of the way in which social actors can grasp axiological changes. It is as if the authors were unable to doubt the universalism of their message yet knew that such a discussion would inevitably turn to their disadvantage. Hence, the ICRC’s current silence derives more from the unspeakable than from awareness. One might thus speak of a sustained ‘unspeakable’, not in the figurative meaning of the term, as Michael Freeden proposes, but in the strict sense. The ICRC’s silence regarding the West thus comprises successive layers of silence whose nature changes in function of the times and circumstances. But beyond these variations, what this silence fundamentally bespeaks is the impossibility, not only practical but ontological, that the institution experiences of moving beyond the contradiction between its universalist message and its anchorage in thought and action modes that are typically… Western. This impossibility does not necessarily mean incapacity. It is due to the ICRC’s longevity, to its tendency to capitalize on a history that extends back well beyond a century, while being confronted with a recent and abrupt axiological mutation. Remaining silent is also a way of laying low – and letting others interpret this silence as they please. 58 Ibid. 59 Herrmann, L’humanitaire en questions, Chap. 2  ; id., “Décrypter la concurrence humanitaire. Le conflit entre Croix-Rouge(s) après 1918”.

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talisation soviétiques de la DUDH (1948–1976).” Histoire et postérité de la Déclaration universelle des Droits de l’homme. Eds. Valentine Zuber, Emmanuel Decaux and Alexandre Boza. Rennes  : Presses universitaires de Rennes, pp. 61–72. Holmila, Antero and Pasi Ihalainen. “Introduction.” Nationalism and Internationalism Intertwined  : A European History of Concepts Beyond Nation States. Id. (eds.). Oxford and New York  : Berghahn, pp. 1–20. Lau, Raymond W.K.. “What is meant by ‘the West’  ? A genealogical critique of a Eurocentric concept.” Hong Kong, September 2017. Lazarus, Neil. “The fetish of ‘the West’ in postcolonial theory.” Marxism, Modernity and Postcolonial Studies. Eds. Crystal Bartolovich and Neil Lazarus. Cambridge  : Cambridge University Press, 2002. Montleau de, Franck. “L’indicible et l’ineffable.” Inflexions 13,1 (2010)  : pp. 59–68. Palmieri, Daniel. “Informer ou gouverner  ? Les 150 ans de la Revue internationale de la Croix-Rouge, 1869–2019.” Revue internationale de la Croix-Rouge 100 (2018/1/2/3, sélection française)  : pp. 77–102. Palmieri, Daniel. “La perception de l’évolution de la guerre par une organisation humanitaire  : le cas du ICRC, 1863–1960.” Revue internationale de la Croix-Rouge 65 (2015/4, sélection française)  : pp. 33–46. Palmieri, Daniel. “Les principes fondamentaux de la Croix-Rouge  : une histoire politique.” 6 july 2015, https://www.icrc.org/fr/document/les-principes-fondamentaux-de-la-croixrouge-une-histoire-politique, accessed 31 October 2021. Perret, Françoise and François Bugnion. De Budapest à Saigon. Histoire du Comité international de la Croix-Rouge, 1956–1965. Genève  : ICRC/Georg, 2009. Reinish, Jessica. “Introduction  : Agents of Internationalism.” Contemporary European History 25,2 (2016)  : p. 197. Rey-Schirr, Catherine. De Yalta à Dien Bien Phu. Histoire du Comité international de la CroixRouge, 1945–1955. Genève  : ICRC/Georg, 2007. Said, Edward. Orientalism. New York  : Pantheon Books, 1978. Schoettl, Jean-Eric. “De Balance ton porc au ‘juridiquement correct’.” Commentaire 170 (2020/2)  : pp. 351–362. [s.n.]. “Occidentalisation.” Dictionnaire historique de la langue française. Ed. Alain Rey. T. 2. Paris  : Editions Le Robert, 1998. [s.n.]. “Discours pour les Promotions de 1814 prononcé par J. Ch. L. Simonde de Sismondi.” Histoire politique de la république de Genève de la Restauration à la suppression du budget des cultes  : 31 décembre 1813 – 30 juin 1907. Ed. François Ruchon, Genève  : A. Jullien, t. 1, 1953. Varouxakis, Georgios. “When did Britain join the Occident  ? On the origins of the idea of ‘the West’ in English.” History of European Ideas. 46,5 (2020)  : pp. 563–581. von Münchow, Patricia. “Theoretical and Methodological Challenges in Identifying Meaningful Absences in Discourse.” Exploring Silence and Absence in Discourse. Postdisciplinary Studies in Discourse. Eds. Melani Schröter and Charlotte Taylor. London  : Palgrave Macmillan, 2018. pp. 215–240. Warin, François. “La haine de l’Occident et les paradoxes du postcolonialisme.” L’enseignement philosophique (2010/1)  : pp. 27–41.

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Herausgeber Franziska Metzger, Prof. Dr. Professorin für Geschichte an der Pädagogischen Hochschule Luzern. Forschungsschwerpunkte  : Erinnerungskultur, Geschichte, Gedächtnis und Geschichtsdenken  ; Religionsgeschichte, besonders Religion und Gedächtnis, religiöse Transformationen seit dem 18. Jahrhundert in transnationaler Perspektive  ; Wissensund Kulturgeschichte der Jahrhundertwende von 1900  ; Geschichtstheorie. Ausgewählte Publikationen  : Franziska Metzger, Annäherungen an Staat und Historie im Geschichtsdenken des 19. Jahrhunderts, in  : Walter Pauly/Klaus Ries (Hg.), Staat und Historie, Baden-Baden 2021, 19–46  ; Franziska Metzger, Memory of the Sacred Heart. Linguistic, Iconographic and Ritual Dimensions, in  : Franziska Metzger/Stefan Tertünte (Hg.), Sacred Heart Devotion. Memory, Body, Image, Text – Continuities and Discontinuities, Wien/Köln/Weimar 2021, 23–48  ; Franziska Metzger/ Dimiter Daphinoff (Hg.), Ausdehnung der Zeit. Die Gestaltung von Erinnerungsräumen in Geschichte, Literatur und Kunst, Wien/ Köln/Weimar 2019. Heinz Sproll, Prof. Dr. apl. Professor für Geschichtsdiddaktik an der Universität Augsburg. Forschungsschwerpunkte  : Epistemologie der Geschichtswissenschaft und Geschichte der Historiographie  ; Geschichte der politischen Ideen in der Antike und im 20. Jahrhundert  ; Religions- bzw. Kirchengeschichte der Frühen Kirche und der katholischen Kirche im 20. Jahrhundert  ; Untersuchung von Erinnerungsräumen mit dem Fokus auf geschichtstheologische und geschichtspolitische Diskurse vornehmlich zum Prinzipat des Augustus. Ausgewählte Publikationen  : Heinz Sproll, „A Cubiculo Augustorum“. die Metapher von der Berufung des Augustus zum Seher der Theophanie im paganen Mythos und zum Dichter der verheißenen Incarnation des Logos im Theologumenon des römisch-christlichen Gründungsnarrativs, in  : Schweizerische Zeitschrift für Religionsund Kulturgeschichte, 113 (2019), 187–207  ; Heinz Sproll, „Katechon“ und „Eschaton“ in Wladimir Solowjows „Kurze(r) Erzählung vom Antichrist“ im Horizont apokalyptischen Denkens, in  : Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte,

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110 (2016), 207–218  ; Heinz Sproll, La „Pax Augusta“ nella prospettiva degli apologeti paleocristiani e dei Padri della Chiesa, in  : Jeronimo Leal/Manuel Mira (Hg.), L’insegnamento superiore nella storia della Chiesa  : scuole, maestri e metodi, Rom 2016, 39–53.

Autorinnen und Autoren Frank Britsche, Dr. Promovierter Historiker und Geschichtsdidaktiker, lehrt und forscht an der Universität Leipzig, vertritt derzeit die Professur für Neuere und Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte an der TU Dresden. Forschungsschwerpunkte  : Theorie der Geschichtsdidaktik  ; Methoden praktischer Geschichtsvermittlung  ; Gedächtnis- und Geschichtskultur  ; Bildungsforschung in historischer und vergleichender Perspektive  ; Systemtransformationen und gesellschaftlicher Umgang im Sinne von Diktaturaufarbeitung. Ausgewählte Publikationen  : Frank Britsche, Alles vereint  ? 30 Jahre deutsche Einheit. Bonn 2020  ; Frank Britsche (Hg.), Jüdischen Musikern in Leipzig auf der Spur. Didaktische Materialien und methodische Hinweise für Lehrkräfte zum Notenbogen-Entdeckerpass für Schülerinnen und Schüler, Leipzig 2018  ; Frank Britsche, Ausserschulische Lernorte und Demokratielernen. Didaktische Begleitangebote zum Themenfeld Deutsche Wiedervereinigung, in  : Peter Gautschi/Armin Rempfler/ Barbara Sommer Häller/Markus Wilhelm (Hg.), Aneignungspraktiken an ausserschulischen Lernorten. Beiträge zur Didaktik Band 5, Zürich/Wien/Münster 2018, 121–128. Dominik Burkard, Prof. Dr. Inhaber des Lehrstuhls für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit in Würzburg. Forschungsschwerpunkte  : Wissenschafts- und Theologiegeschichte, Geschichte des Katholizismus im 19. und 20. Jahrhunderts, Staat und Kirche, Römische Kurie. Ausgewählte Publikationen  : Dominik Burkard/Joachim Bürkle (Hg.), Heribert Schauf und sein Tagebuch zum II. Vatikanum (1960–1965), Münster 2022  ; Dominik Burkard/Jacob Tonner, Reformationsgeschichte katholisch. Genese und Rezeption von Joseph Lortz’ „Reformation in Deutschland“ (1940–1962), Freiburg i.Br. 2019  ; Dominik Burkard/Wolfgang Weiß/Konrad Hilpert (Hg.), Katholische Theologie im Nationalsozialismus. Bd. 2/1  : Disziplinen und Personen  : Moraltheologie und Sozial­ ethik, Würzburg 2018.

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Dimiter Daphinoff, Prof. Dr. Emeritierter Professor für Englische Literatur an der Universität Freiburg (Schweiz). Forschungsschwerpunkte  : Shakespeare und die Literatur des Elisabethanischen Zeitalters, Richardson und der englische Roman des 18. Jh., das moderne englische Drama, Terrorismus und Literatur. Ausgewählte Publikationen  : Dimiter Daphinoff/Franziska Metzger (Hg.), Ausdehnung der Zeit. Die Gestaltung von Erinnerungsräumen in Geschichte, Literatur und Kunst, Wien/Köln/ Weimar 2019  ; Dimiter Daphinoff, „More sinned against than sinning“  ? Shakespeare’s Cleopatra, in  : Sandra Clerc/Uberto Motta (Hg.), Eroine tragiche del Rinascimento, Bologna 2019, 79–87  ; Dimiter Daphinoff, Sakraler Raum, Erinnerungsraum und das Ringen um Deutungshoheit. T.S. Eliots Murder in the Cathedral und G.B. Shaws Saint Joan, in  : Franziska Metzger/Elke Pahud de Mortanges (Hg.), Orte und Räume des Religiösen im 19.–21. Jahrhundert, Paderborn 2016, 121–132. Irène Herrmann, Prof. Dr. Professorin für transnationale Geschichte der Schweiz an der Universität Genf. Forschungsschwerpunkte  : Konzeptgeschichte, Geschichte der Menschenrechte und des Humanitarismus. Ausgewählte Publikationen  : Irène Herrmann, L’étoffe des héros. Les étrangers dans la Résistance française, Genf 2020  ; Irène Herrmann, L’humanitaire en questions, Réflexions autour de l’histoire de la Croix-Rouge, Paris 2018  ; Irène Herrmann, 12 septembre 1814. La Restauration. La Confédération réinventée, Lausanne 2016. Roland Innerhofer, Prof. Dr. Emeritierter Professor am Institut für Germanistik der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte  : Literatur des 19., 20. und 21. Jahrhunderts  ; Phantastik, Utopie und Science-Fiction  ; Theorie und Praxis der Avantgarden  ; Medienkulturwissenschaft und Wissenspoetik  ; Wechselverhältnis von Literatur, Technik, Architektur, Film und neuen Medien. Ausgewählte Publikationen  : Roland Innerhofer, Architektur aus Sprache. Korrespondenzen zwischen Literatur und Baukunst 1890–1930, Berlin 2019  ; Roland Innerhofer/Szilvia Ritz (Hg.), Sehnsucht nach dem Leben. Tradition und Innovation im Werk Hugo von Hofmannsthals, Wien 2021  ; Roland Innerhofer/Sebastian Hackenschmidt/Detlev Schöttker (Hg.), Planen – Wohnen – Schreiben. Architekturtexte der Wiener Moderne, Wien 2021.

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Jan Nelis, Dr. Jan Nelis ist post-doctoral research fellow an der Fondation de la Mémoire Con­ temporaine/Université Libre de Bruxelles (Observatory of Religions and Secularism). Forschungsschwerpunkte  : Katholizismus und religiöses Leben in Europa  ; Nationalsozialismus und italienischer Faschismus Ausgewählte Publikationen  : Jan Nelis, Catholicisme et altérité  : La Civiltà Cattolica de la montée du fascisme à l’après-guerre, E.M.E. (Religion et Altérité), Bruxelles 2014  ; Jan Nelis/Wouter Bracke/Jan De Maeyer (Hg.), Renovatio, inventio, absentia imperii. From the Roman Empire to contemporary imperialism, Brepols (Études de l’Institut Historique Belge de Rome), Turnhout 2018  ; Jan Nelis, Fascist Modernity, Religion, and the Myth of Rome, in  : Helen Roche/Kyriakos Demetriou (Hg.), Brill’s Companion to the Classics, Fascist Italy and Nazi Germany. Brill’s Companions to Classical Reception vol. 12, Brill, Leiden-Boston 2018, 133–156. Paul Oberholzer, Prof. Dr. Professor für Geschichte an der Fakultät für Kirchengeschichte der päpstlichen Universität Gregoriana, Rom. Forschungsschwerpunkt  : Geschichte der Gesellschaft Jesu. Ausgewählte Publikationen  : Paul Oberholzer, Die Bedeutung Hugo Rahners für die Geschichtsschreibung der Gesellschaft Jesu, in  : Hugo Rahner SJ, Kirchenhistoriker in Brüchen der Zeit. Zeitschrift für katholische Theologie, 141/2019, 239–263  ; Paul Oberholzer, War Franz Xaver wirklich päpstlicher Legat in Indien  ?, in  : Michael Sievernich/Klaus Vellguth (Hg.), Christentum in der Neuzeit. Geschichte, Religion, Mission, Mystik, Festschrift für Mariano Delgado, Freiburg/Basel/Wien 2020, 449– 484  ; Paul Oberholzer, Il Constitutum Constantini come modello di corruzione o testimone di un approccio diverso alla giustizia  ?, in  : Anna Canfora/Dario Garribba (Hg.), Cristiani Chiesa e corruzione nella storia. Antichità e Medioevo (secoli I–XV), Trapani 2021, 135–150. Armin Owzar, Prof. Dr. Armin Owzar ist Professor für Histoire moderne et contemporaine des pays germanophones an der Université Sorbonne Nouvelle (Paris 3). Forschungsschwerpunkte  : Politische Sozial- und Kulturgeschichte Westeuropas  ; Religion und Politik  ; Historische Anthropologie  ; Geschichte der modernen Stadt  ; Politische Ikonographie  ; Deutsch-Französische Beziehungen. Ausgewählte Publikationen  : Armin Owzar, Das preußische Berlin. Auf dem Weg zur europäischen Metropole, 1701–1914, Berlin 2019  ; Armin Owzar, „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. Konfliktmanagement im Alltag des wilhelminischen Obrig-

Herausgeber- und Autorenverzeichnis 

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keitsstaates (Historische Kulturwissenschaft 8), Konstanz 2006  ; Armin Owzar, Sozia­ listische Bündnispolitik und gewerblich-industrieller Mittelstand. Thüringen 1945 bis 1953 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 4), München/Jena 2001. Melanie Stempfel, MA Fachdidaktikerin Religion / Dozentin ERG an der Universität Fribourg und der Päda­ gogischen Hochschule Bern sowie Lehrperson am Gymnasium. Forschungsschwerpunkte  : Missionsgeschichte  ; Geschichte des Kolonialismus  ; Glo­ balgeschichte.

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