Theorien der Lebendsammlung: Pflanzen, Mikroben und Tiere als Biofakte in Genbanken 9783495817285, 9783495489758


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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I. „Leben sammeln“ als Technik: Wie, warum und wozu?
Stefan Lobenhofer: Theophrast von Eresos: Über Samen, die sich gut oder weniger gut erhalten lassen (Übersetzung und Kommentar)
I. Übersetzung von Theophrast: Historia plantarum VIII, 11, 1-6
II. Kommentar
Nicole C. Karafyllis: Die Samenbank als Paradigma einer Theorie der modernen Lebendsammlung. Über das Sammeln von Biofakten und ihre Liminalitäten
1. Einleitung: Sammlungen nichtmenschlichen Lebens
2. „Lebendsammlung“ und zugehörige Sammlungslogiken
2.1 Sammlungslogiken
2.2 Experimentalsysteme
3. Die Samenbank als Paradigma
3.1 Das Sammeln von Samen als Instanz von Kultur-, Wissenschafts- und Weltgeschichte
3.2 Paradigmatisch: Das Sichern von selektierten Samen
3.3 Sammeln als Lesen als Sortieren
4. Exploring vs. Collecting vs. „Zufallstechnik“: Sammelnals Abenteuer, Kulturtechnik oder Geschehnis?
4.1 Der Sammler zwischen Abenteurer und Instandhalter
4.2 Sammelweisen: exploring, survey collecting, bioprospecting
4.3 Sammeln zwischen Sichern von Möglichkeiten und Aneignen fremden Eigentums
5. Lebendsammlungen sammeln Samen als Biofakte als Bestände
5.1 Biofakte
5.2 Was ist für Samenbanken „Same“? Über Samen, Keimplasma, Klone und ihre Erhaltungstechniken
5.3 Spérma im Verständnis von Aristoteles und Theophrast
5.4 Keimplasma-Systeme (germplasm systems)
5.5 Es geht um’s Ganze: Die Welt als Bestand, der lebende Bestand als „Weltsortiment“
5.6 Das virtuelle Weltsortiment als digitaler Bestand: Von der Samenbank zur Datenbank
6. Schluss: Die Samenbank als Heterotopie
Heinz Martin Schumacher: Vollständig erstarrt, aber nicht tot: Kryolagerung von Pflanzen bei ultratiefen Temperaturen
1. Samen, der Ursprung der Landwirtschaft und die Fortsetzung der Evolution durch den Menschen
2. Die Erhaltung der ‚samenlosen‘ Pflanzen – Vom Feldanbau zur Zellkultur in vitro
3. Kryokonservierung als eigenes Forschungsfeld
4. Kryokonservierung pflanzlicher Zellen und Gewebe
5. Vom Verbinden der ‚Fäden‘ im Braunschweig der 1990er Jahre, oder: Von der Methodenentwicklung zur praktischen Anwendung
6. Weitere Entwicklungen
7. Zusammenfassung und Ausblick
Johannes M. M. Engels and Lorenzo Maggioni: Managing germplasm in a virtual European genebank (AEGIS) through networking
1. Introduction
2. The importance of Europe as a region of crop diversity
3. Overview of the conservation efforts in Europe and worldwide
4. Need for collaboration between European countries
5. Establishment and operation of ECPGR
6. Legal Framework: CBD and “Plant Treaty”
7. The establishment and operation of AEGIS
8. Current status of AEGIS/European Collection
9. Some challenges and an outlook towards future developments
9.1 The dynamics of the European Collection and its accessions
9.2 Germplasm conservation, methods used and longevity
9.3 Maintaining the genetic integrity and identity of accessions
9.4 Complementarity between in situ and ex situ conservation approaches
9.5 Potential ‘conflict’ between conservation and use?
10. Some conclusions and outlook
II. Samenbank, Genbank, Datenbank, Biologisches Ressourcenzentrum: Lebendsammlungen des Kultivierten
Andreas Graner: Bewahren und Nutzen: Die Sammlungen von Kulturpflanzen am IPK Gatersleben
1. Einleitung
2. Ernährungssicherung und Agrobiodiversität
2.1 Domestikation und Ausbreitung von Nutzpflanzen
2.2 Sesshaftwerdung und gesellschaftlicher Wandel
2.3 Von der Malthusianischen Katastrophe zur Grünen Revolution
3. Biofakte der Agrikultur
4. Aufgabenspektren und rechtliche Rahmenbedingungen pflanzlicher Genbanken
4.1 Erhaltung, Dokumentation und Erforschung
4.2 Rechtliche Rahmenbedingungen
5. Historie und Objekte des IPK Gatersleben
6. Die Genbank am IPK Gatersleben
6.1 Sammlungsstruktur und Erhaltungsmanagement
6.2 Artenvielfalt versus genetische Diversität
7. Von der Erhaltung zur Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen
7.1 Bereitstellung von Material
7.2 Sequenzinformation
7.3 Phänotypisierung
7.4 Biodiversitätsinformatik
8. Zusammenfassung und aktuelle Herausforderungen
Jörg Overmann: Konzeption, Relevanz und Zukunftsperspektiven moderner mikrobiologischer Ressourcenzentren am Beispiel des Leibniz-Instituts DSMZ-Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen
1. Historisch-systematische Vorbemerkungen zum Konzept des Mikrobiellen Ressourcenzentrums
2. Das Leibniz-Institut DSMZ: ein Mikrobielles Ressourcenzentrum
3. Diversität und Rolle von Mikroorganismen in der Umwelt
4. Was ist anders bei Mikroorganismen? – Die spezifische Motivation und Vorgehensweise für das Sammeln von Mikroorganismen
4.1 Populationsgröße und Gefahr des Aussterbens
4.2 Biogeographie und Endemismus
4.3 Sammeln von Mikroorganismen, Isolierung von Reinkulturen
4.4 Vermehrungsfähigkeit, Einzigartigkeit, genetische Stabilität
5. Prinzipien und Praxis der Konservierung
6. Nutzung und zukünftige Bedeutung von Mikroorganismen
7. Wert und Eigentumsrechte von Mikroorganismen, „Biopiraterie“
Erika Maul: Weinsorten digital: Die Reben (Vitis L.)-Datenbanken als bibliographisches und virtuelles Register
1. Einleitung
2. Geschichte, Domestikation, frühe Klassifikation
3. Historie und Objekte des Instituts für Rebenzüchtung Geilweilerhof
4. Aufgaben: Erhaltung, Dokumentation und Erforschung
5. Generosion und moderne Vitis-Sammlungen: Virtualisierung und Molekularisierung
6. Dokumentation: Das bibliographische Register VIVC, die virtuellen Register European Vitis Database und Deutsche Genbank Reben
6.1 Bibliographisches Sortenregister VIVC
6.2 Regeln
6.3 Deskriptoren
6.4 Programmierung
6.5 Bibliographische Quellen
6.6 Virtuelles Register Europäische Vitis-Datenbank
6.7 Virtuelles Register Deutsche Genbank Reben
7. Identifikation: Ampelographie, Herbar, Genetischer Fingerabdruck
8. Die Sprache der Biofakte als Problem: Homonyme, Synonyme, Markerprofile
8.1 Sortenbestimmung im Rahmen der COST-Aktion FA1003
8.2 Identische Akzessionsnamen und unterschiedliche Markerprofile
9. Digitalisierung der Bestände
10. Zukünftige Herausforderungen
Henryk Flachowsky und Monika Höfer: Äpfel, Birnen, Beeren: Die Deutsche Genbank Obst, ein Netzwerk von Lebendsammlungen mit besonderen Herausforderungen
1. Einleitung
2. „Der ganze Baum“ (Feld- oder Aktivsammlung)
3. Sammlungen obstgenetischer Ressourcen haben bereitseine lange Tradition
4. Starker Rückgang der Obstvielfalt im 20. Jahrhundert
5. Geschichte, Sammlungen und Aufgaben des Instituts für Züchtungsforschung an Obst des JKI in Dresden-Pillnitz
6. Das Netzwerk der Deutschen Genbank Obst (DGO)
7. Die Datenbank der Deutschen Genbank Obst
8. Ausblick: Welchen Wert haben Obstgenbanken?
III. In situ- oder Ex situ-Erhaltung? Lebendsammlungen des (fast) Wilden
Lothar Frese: In situ: Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen am Ort ihres Werdens
1. Hintergrund: Rapide Umweltveränderungen bedrohen die Biodiversität
2. Natur setzt der Ex situ-Erhaltung von Wildpflanzenarten Grenzen und erzwingt Paradigmenwechsel
3. In situ-Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen
4. Das Erhaltungsobjekt Pflanzenpopulation
5. Praktische Umsetzung der In situ-Erhaltungsstrategie
6. Technologische Pfadabhängigkeit verlangsamt Umsetzung der In situ-Erhaltungsstrategie
7. Der Mensch als Weltnaturgärtner?
John B. Dickie: Conserving Seeds of Wild Species in the Millennium Seed Bank: ‘One size does not fit all’
1. Introduction and Context
2. Seed viability and longevity
3. Maximising seed longevity in storage
4. Priorities and targets
5. Challenges and research needs
6. Conclusion
Nicole C. Karafyllis und Uwe Lammers: Garten, Genbank oder „Samenmuseum“? Konzeptuelle Abgrenzungsprobleme am Beispiel der Loki Schmidt- Genbank für Wildpflanzen am Botanischen Garten Osnabrück und ihrer Braunschweiger Vorgeschichte
1. Einführung
2. Botanische Gärten als Genbanken?
3. „Wildpflanzen“? Biodiversitäts- und Naturschutz durch ex situ-conservation
4. Die Loki Schmidt-Genbank für Wildpflanzen und ihre Vorgeschichte
4.1 Vorgeschichte: Loki Schmidts Sammlung als Teilsammlung der Braunschweig Genetic Resources Collection (BGRC)
4.2 Technisierung: Wildheit in Konserven und Angst vor einem „Samenmuseum“
4.3 Der Biofaktcharakter der Objekte: Eingedoste Wildheit
4.4 Weiterentwicklung der Wildpflanzen-Sammlung in Osnabrück: WEL und WIPs-De
5. Juristische und politische Aspekte
6. Zusammenfassung und zukünftige Herausforderungen
6.1 Allgemeine Erkenntnisse zu Werte- und Normenbereichen
6.2 Erkenntnisse zur Wildpflanzenthematik
6.3 Erkenntnisse zur Abgrenzungsproblematik Botanischer Garten/Genbank
Charli Kruse und Philipp Ciba: Die Deutsche Zellbank für Wildtiere ‚Alfred Brehm‘ (Cryo-Brehm) als naturkundliche Sammlung
1. Die Gründung der Deutschen Zellbank für Wildtiere und ihre Ziele
2. Leitlinien der Zellbank-Arbeit
3. Sammlungsbestand und benötigte Techniken
4. Anwendungsbeispiel
Anhang
Regelwerke (Ausschnitte)
A. The Convention on Biological Diversity (CBD) (1992/1993)
B. The Nagoya Protocol on Access and Benefit Sharing (2010/2014)
C. International Treaty on Plant Genetic Resources for Food and Agriculture (ITPGRFA) (2001/2004)
Abkürzungen
Die Autorinnen und Autoren
Personenregister
Verzeichnis der biologischen Arten, Gattungen etc.
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Theorien der Lebendsammlung: Pflanzen, Mikroben und Tiere als Biofakte in Genbanken
 9783495817285, 9783495489758

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https://doi.org/10.5771/9783495817285 .

LEBENSWISSENSCHAFTEN IM DIALOG

A

https://doi.org/10.5771/9783495817285 .

Lebenswissenschaften im Dialog Herausgegeben von Kristian Köchy und Stefan Majetschak Band 25

https://doi.org/10.5771/9783495817285 .

Nicole C. Karafyllis (Hg.)

Theorien der Lebendsammlung Pflanzen, Mikroben und Tiere als Biofakte in Genbanken

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817285 .

Nicole C. Karafyllis (ed.) Theories of living collections Plants, microbes and animals as biofacts in gene banks Collecting and storing seeds are ancient cultural techniques. In the twentieth century, high-tech seed banks are emerging, that are then transformed into gene banks and more recently into biological resource centers. Thereby they also reconfigure the collected objects: e. g. as genes, genomes and cryopreserved tissues. Plants, but also microbes and animals are negotiated as biofacts, i. e. as living entities that have both been made and have become. This is expressed, for example, in the reflexive relationship between wild and cultivated plants. In the book, leading experts in biobanking address structures and techniques of collecting and relate them to values and norms, particularly in the fields of breeding and biodiversity.

The Editor: Nicole C. Karafyllis, born 1970, Professor at the Department of Philosophy at TU Braunschweig since 2010.

https://doi.org/10.5771/9783495817285 .

Nicole C. Karafyllis (Hg.) Theorien der Lebendsammlung Pflanzen, Mikroben und Tiere als Biofakte in Genbanken Sammeln und Lagern von Samen sind alte Kulturtechniken. Im 20. Jahrhundert entstehen hochtechnisierte Samenbanken, die sich zu Genbanken und jüngst zu Biologischen Ressourcenzentren transformieren. Damit konfigurieren sie auch die Objekte des Sammelns neu: z. B. als Gene, Genome und kryokonservierte Gewebe. Pflanzen, aber auch Mikroben und Tiere werden dabei als Biofakte verhandelt, d. h. als lebende Entitäten, die sowohl gemacht als auch geworden sind. Dies drückt sich etwa im reflexiven Verhältnis von Wild- und Kulturpflanze aus. Im Band thematisieren führende Expertinnen und Experten des Biobanking Ordnungsstrukturen und Techniken des Sammelns und setzen sie in Bezug zu Werten und Normen, vor allem in den Feldern Züchtung und Biodiversität.

Die Herausgeberin: Nicole C. Karafyllis, geb. 1970, ist seit 2010 Professorin am Seminar für Philosophie an der TU Braunschweig.

https://doi.org/10.5771/9783495817285 .

®

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www.fsc.org

FSC® C083411

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: Frank Hermenau, Kassel Einbandgestaltung: Ines Franckenberg Kommunikations-Design, Hamburg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-495-48975-8 E-ISBN 978-3-495-81728-5

https://doi.org/10.5771/9783495817285 .

Für Karl Poralla (1938–2016) Biologe – Universitätsprofessor – Künstler

https://doi.org/10.5771/9783495817285 .

https://doi.org/10.5771/9783495817285 .

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

I. „Leben sammeln“ als Technik: Wie, warum und wozu? Stefan Lobenhofer Theophrast von Eresos: Über Samen, die sich gut oder weniger gut erhalten lassen (Übersetzung und Kommentar). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Nicole C. Karafyllis Die Samenbank als Paradigma einer Theorie der modernen Lebendsammlung. Über das Sammeln von Biofakten und ihre Liminalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Heinz Martin Schumacher Vollständig erstarrt, aber nicht tot: Kryolagerung von Pflanzen bei ultratiefen Temperaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Johannes M. M. Engels and Lorenzo Maggioni Managing germplasm in a virtual European genebank (AEGIS) through networking . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

II. Samenbank, Genbank, Datenbank, Biologisches Ressourcenzentrum: Lebendsammlungen des Kultivierten Andreas Graner Bewahren und Nutzen: Die Sammlungen von Kulturpflanzen am IPK Gatersleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

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Inhalt

Jörg Overmann Konzeption, Relevanz und Zukunftsperspektiven moderner mikrobiologischer Ressourcenzentren am Beispiel des LeibnizInstituts DSMZ-Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Erika Maul Weinsorten digital: Die Reben (Vitis L.)-Datenbanken als bibliographisches und virtuelles Register . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Henryk Flachowsky und Monika Höfer Äpfel, Birnen, Beeren: Die Deutsche Genbank Obst, ein Netzwerk von Lebendsammlungen mit besonderen Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

III. In situ- oder Ex situ-Erhaltung? Lebendsammlungen des (fast) Wilden Lothar Frese In situ: Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen am Ort ihres Werdens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 John B. Dickie Conserving Seeds of Wild Species in the Millennium Seed Bank: ‘One size does not fit all’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Nicole C. Karafyllis und Uwe Lammers Garten, Genbank oder „Samenmuseum“? Konzeptuelle Abgrenzungsprobleme am Beispiel der Loki SchmidtGenbank für Wildpflanzen am Botanischen Garten Osnabrück und ihrer Braunschweiger Vorgeschichte . . . . . . . . 361 Charli Kruse und Philipp Ciba Die Deutsche Zellbank für Wildtiere ‚Alfred Brehm‘ (Cryo-Brehm) als naturkundliche Sammlung . . . . . . . . . . . . . . . 417

https://doi.org/10.5771/9783495817285 .

Inhalt

11

Anhang Regelwerke (Ausschnitte): A. The Convention on Biological Diversity (CBD) (1992/1993) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 B. The Nagoya Protocol on Access and Benefit Sharing (2010/2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 C. International Treaty on Plant Genetic Resources for Food and Agriculture (ITPGRFA) (2001/2004) . . . . . . . . 434 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der biologischen Arten, Gattungen etc. . . . . . . . . .

https://doi.org/10.5771/9783495817285 .

439 447 451 455

https://doi.org/10.5771/9783495817285 .

Vorwort

„Atomkriege, Pandemien, Vulkanausbrüche: Die Apokalypse, wie sie sich Forscher für die Erde ausmalen, könnte ganze Länder und Kontinente ausradieren. Doch für unsere Kulturpflanzen, die uns Nahrung bieten, gibt es eine moderne Arche: den Svalbard Seed Vault auf dem Archipel Spitzbergen, nur 1300 Kilometer vom Nordpol entfernt. Der Stollen […] hütet Millionen von Samen aus aller Welt – geschützt gegen Explosionen, Erdbeben und den steigenden Meeresspiegel. Es sind Sicherheitskopien der Bestände aus den wichtigsten der weltweit 1750 Gen-Banken: Mais aus Mexiko, Gerste aus Japan […]. Mitarbeiter des Welttreuhandfonds für Kulturpflanzenvielfalt1 in Bonn füllen den Tresor im ewigen Eis zweimal jährlich mit neuen Proben. 864.000 von weltweit 2,5 Millionen Nutzpflanzen haben sie schon gesammelt. Bei minus 18 Grad Celsius sollen die Samen bis zu 1200 Jahre lang fruchtbar bleiben. Selbst, wenn ein Asteroid die Erde trifft – das Saatgut im Bunker überlebt.“2

Seit der Eröffnung des internationalen „Saatgut-Tresors“ Svalbard Global Seed Vault (SGSV) in der norwegischen Arktis 2008 wird die weltweite Öffentlichkeit mit derartigen Sensations- und Falschmeldungen scheinbar darüber informiert, was eine Samenbank ist und warum man Samen sammeln sollte: aus Angst vor der ultimativen Katastrophe. Die vielen ästhetischen Bilder und in ambivalent erlösender wie alarmierender Diktion geschriebenen Texte über die „moderne Arche“ haben die mediale Öffentlichkeit beeinflusst. Sie gewinnt den Eindruck, eine Samenbank sei nur ein Kühllager und Samen seien so mobilisierbar wie tote Dinge. Biodiversität könne man zukünftigen Generationen scheinbar ohne eine Welt ‚draußen‘ garantieren, man habe die generative Natur aller möglichen Samen durch bloße Lagerung in dem alten norwegischen Bergwerksschacht 1 2

Gemeint ist der Global Crop Diversity Trust mit Sitz in Bonn. Menn, Andreas, „Der Saatgut-Tresor Svalbard Seed Vault“, in: Wirtschaftswoche, 19.6.2015, online unter: http://www.wiwo.de/technologie/forschung/spitzbergender-saatgut-tresor-svalbard-seed-vault/11900820.html (letzter Aufruf: 17.12.2017).

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Vorwort

im Griff. Sie sind im „Bunker“ vor jeglichen Angriffen gesichert, damit seien wir – die ganze Menschheit – in der Existenz gesichert. In obiger Passage kommt nicht in den Sinn, dass es die Menschheit selbst sein könnte, v. a. die der Nordhemisphäre, die durch ihre Wirtschafts- und Konsumweise die Biodiversität im weiten Sinne bedroht und deshalb, wenn auch nicht nur deshalb, der Samenbanken und anderer Lebendsammlungen bedarf. Dass der arktische „Saatgut-Tresor“ wegen der zu warmen Umgebungstemperatur von Anfang an technisch nachgekühlt werden musste, um die von der Welternährungsorganisation FAO standardmäßig vorgeschriebene Kühltemperatur von -18 °C zu erreichen, wird nicht gesagt. Im Mai 2017 trat sogar Wasser ein, weil der Permafrostboden taute.3 – Der vorliegende Band möchte einen Beitrag dazu leisten, die theoretische und praktische Arbeit von wirklichen Samenbanken verstehbar zu machen. Das hier skizzierte Gegenbeispiel des SGSV ist nicht der Anlass für dieses Buch, sondern dient gegebenenfalls nur als einführende Lesehilfe zur Überprüfung der breit gestreuten Vorurteile: was eine Samenbank ist. Denn wie man am obigen Zitat sieht, werden für Lebendsammlungen zentrale Termini offenbar gar nicht verstanden oder bewusst vereinfacht. So werden zur Sammlung im SGSV nicht 2,5 Millionen „Nutzpflanzen“ geplant (dies überschreitet die Zahl der weltweit genutzten Pflanzen, die mit ca. 20.000 Arten angegeben wird, um das 100-fache), sondern eingesammelt waren im Frühjahr 2015 laut Zitat 864.0004 der 2,5 Millionen5 Muster oder Proben von Nutzpflanzensorten, die in Samenbanken bzw. Genbanken 3 Schon 2016 war Wasser eingedrungen. Mittlerweile wird der Eingangstunnel des SGSV wasserdicht umgebaut. Dafür wird mit Kühlaggregaten ein künstli­ cher Permafrost erzeugt. Das Bauprojekt soll 2019 abgeschlossen sein. Vgl. Wen­ ge, Jörn, „Die Saat soll nicht aufgehen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.12.2017. 4 Stand am 9.3.2017: 930.591 Muster; Stand am 17.12.2017: 890.886 Muster. Si­ cherheitsduplikate wurden u. a. abgegeben an die exilierte Genbank ICARDA, vor dem Krieg im syrischen Aleppo situiert. Zahlen nach Abfrage über das Datenportal von NordGen unter http://www.nordgen.org/index.php/skand/ content/view/full/1400 (Abfrage: 9.3.2017) sowie https://www.nordgen.org/ sgsv/index.php?app=data_unit&unit=sgsv (Abfrage: 17.12.2017). Die Zahl der Donor-Institutionen wird am 17.12.2017 mit 73 angegeben, die Zahl der gela­ gerten Gattungen mit 993, der Spezies mit 5.403. 5 Diese Zahl ist ihrerseits begründungsbedürftig, vgl. die deutlich höhere Anzahl an Mustern für pflanzliche Lebendsammlungen in den Beiträgen von Karafyllis sowie Graner, in diesem Buch. Wichtig ist z. B., ob Botanische Gärten als Horte von Nutzpflanzen mit gezählt werden oder nicht.

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Vorwort

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des Agrarbereichs lagern. D.h. nach Zahlen (nicht Arten) lagert der SGSV etwa ein Viertel des ohnehin schon anderswo gesammelten Bestands. Dazu gehören auch mit Kultur- oder Nutzpflanzen verwandte Wildpflanzen. Viele der über 1.750 Institutionen von pflanzlichen Lebendsammlungen beliefern den SGSV mit Sicherheitsduplikaten und machen ihn somit zu einer Meta-Samenbank. Weniger philosophisch ausgedrückt nennen Angestellte an Samenbanken den SGSV abwertend ein „Lager“, um ihre wissenschaftlichen Institutionen und konservatorischen Anstrengungen davon abzugrenzen. Samen spenden ihm viele aber dennoch. Sammlungsobjekt einer Samenbank ist weder ein Pflanzenindividuum noch eine Spezies, sondern das sogenannte Muster (sammlungstheoretisch: die Akzession), d. h. die in einem Behältnis verschlossene und nach Kriterien bestimmte Anzahl von Samen einer Sorte6 sowie die zugehörigen Referenzdaten. Für den SGSV sind die Muster in kleinen Aluminiumverbundbeuteln verpackt, an den meisten Samenbanken besteht das Muster aus einem mit Samen befüllten Einweckglas in der Kühlkammer. Seltener handelt es sich um kryokonservierte Gewebeproben in cryovials, die in Tanks mit Flüssigstickstoff lagern. Häufig aber ist das Muster eine reale Pflanze in einer Feldgenbank, z. B. in Form von Obstbäumen oder Weinstöcken, die über Stecklinge vermehrt werden. Als 2010 die umfangreiche Obst- und Beerensammlung des russischen Vavilov-Instituts (VIR), genauer: die alten Obstbäume und Stauden der 1926 gegründete Außenstelle in Pavlovsk (nahe St. Petersburg), durch Immobilienprojekte bedroht war, betraf dies die vom russischen Genetiker Nikolai I. Vavilov gegründete Mutter aller modernen Samenbanken. Die mögliche Rodung des Geländes löste in der Fachgemeinschaft weltweiten Protest aus, beherbergt die Sammlung doch alte Landsorten u. a. aus dem Kaukasus und aus Kasachstan, die es heute dort gar nicht mehr gibt. Im Zuge der Berichterstattung wurde auch Nicht-Botanikern klar, dass man diese Pflanzen nicht in den arktischen SGSV überführen konnte. Denn: „few of the fruits and berries held at Pavlovsk produce seeds that would survive freezing. To be saved, they would need to be planted elsewhere, a huge logistical task.”7 Präziser wäre die Aussage gewesen, dass die Unmöglichkeit 6 Bei Wildpflanzen: einer Population. 7 Pearce, Fred, „The battle to save Russia’s Pavlovsk seed bank“, in: The Guardian, 20.9.2010, online unter: https://www.theguardian.com/environment/2010/sep/20/ campaign-russia-pavlovsk-seed-bank (letzter Aufruf: 19.12.2017). Das Zitat wird

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Vorwort

der Lagerhaltung nicht nur an der kälteempfindlichen Natur der Samen lag, sondern dass Beeren und Obst Resultate von Insektenbefruchtung und daher nicht über Samen sortenrein zu erhalten sind, wie man im Beitrag zur Deutschen Genbank Obst in diesem Buch nachlesen kann. Implizit weiß das auch jede Hobby-Gärtnerin, die für die Anpflanzung einer bestimmten Obstsorte in der Baumschule einen vorgezogenen Baum oder einen Steckling, d. h. einen Klon ausgehändigt bekommt; oder im Falle von Kartoffelsorten Pflanzgut und keine Samen. Es kommt also maßgeblich auf die Natur der Pflanze bzw. die von Tier und Mikroorganismus an, wenn über das Wo und Wie der Langzeitlagerung entschieden wird. Die Vereinfachung der diffizilen konservatorischen Aufgaben in der Außendarstellung führt zur Verknappung von Mitteln und Personal, was alle Lebendsammlungen beklagen. Viele sind bedroht, auch in Industrieländern – und zwar selten durch Naturkatastrophen oder gar Atomschläge, sondern durch beständige Unterfinanzierung und steigende Grundstücks- und Pachtpreise. Denn Samenbanken brauchen Fläche und Boden zur regelmäßigen Verjüngung der Saaten. Bei tierischen und mikrobiellen Lebendsammlungen, die mit Geweben und Zellen arbeiten, ist der Flächenanspruch deutlich geringer. Aber auch Zoologische wie Botanische Gärten, die ebenfalls zu den Lebendsammlungen zählen, sind in städtischer Lage von Immobilienspekulationen bedroht. Laut den medial inszenierten Fotos vom betonierten Tresor im „ewigen Eis“ hält die arktische Kälte die Samen ewig am Leben, dabei freuen sich Mitarbeiter in wirklichen Samenbanken schon über durchschnittlich 30 Jahre Langzeiterhaltung mit konventionellen Kühlmethoden. Auch scheinen die Samen keinen Boden mehr zu benötigen – aber für wie lange? Sollte der Samenbanker von heute nicht besser zum Weltnaturgärtner von morgen werden? Oder soll man Natur als unterteilt in zu bewahrende Reservate und zu nutzende Sortimente verstehen? Ist eine Samenbank überhaupt eine Bank und nicht eher ein Archiv oder ein Museum? Welche Pflanzen sind widerständig gegen bestimmte Methoden der Langzeiterhaltung? Welchen Einfluss haben Digitalisierungsstrategien auf Lebendsammlungen? Sammelt man Samen, Gene, Genome oder Daten, und wovon – von Arten, Sorten oder Populationen? Was beim Artikel Cary Fowler zugeschrieben, dem langjährigen Verantwortlichen für den SGSV bei der Welternährungsorganisation FAO in Rom.

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Vorwort

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deutet eigentlich „Same“ und inwieweit lebt er? Was haben uns antike Philosophen und moderne Seed Scientists dazu zu sagen? Wie erhält man biologische Reproduktionseinheiten auch des tierischen und mikrobiellen Bereichs langfristig am Leben? Und warum sollte man dies tun? Wo liegen Hindernisse und Schwierigkeiten für Lebendsammlungen, seien sie konzeptioneller, technischer, ökologischer oder politischer Art? Lassen sich trotz der Vielfalt von Lebewesen und Lebensformen universelle Merkmale von modernen Lebendsammlungen finden? Der vorliegende Band geht diesen und weiteren Fragen nach. Er möchte über die schwierige wie notwendige Arbeit in Lebendsammlungen aufklären, verschiedene Ansätze aufzeigen und theoretische Gemeinsamkeiten analysieren. Die Autorinnen und Autoren stellen dar, dass die Realität des Sammelns von „Leben“ ganz anders aussieht als mit Blick auf die Arktis evoziert; aber auch weitgehend anders, als es sammlungstheoretische Ansätze für Totsammlungen wie Archive, Bibliotheken und Museen nahelegen. Moderne Samenbanken8 und andere Lebendsammlungen sind wissenschaftliche Institutionen, die als Forschungsinfrastrukturen zahlreichen Nutzern zur Verfügung stehen und auch Lebendmaterial abgeben: an den Privatmann bis zur kommerziellen Züchterin, an Universitäten bis zu Kleingartenvereinen. Eine Sammlungstheorie für Lebendsammlungen ist bislang nicht vorhanden. Der Band betritt demnach Neuland und versammelt Experten mit leitender Funktion im Biobanking des nichtmenschlichen Bereichs. Die Natur-, Agrar- und Gartenbauwissenschaftler berichten von ihrem komplexen Tagesgeschäft im hortenden Umgang mit dem Lebenden und stellen ihre Sammlungen sowie die zugehörigen Erhaltungstechniken erstmals einer geistes- und sozialwissenschaftlich orientierten Leserschaft vor. Ihr Schreiben geschah in enger Diskussion mit den philosophischen Autoren und Autorinnen des Sammelbandes sowie mit den

8 Mit „modernen“ Samenbanken sind diejenigen Institutionen ab ca. 1920 ge­ meint, die im Zuge der Verwissenschaftlichung der Landwirtschaft durch die Genetik, v. a. die frühe Populationsgenetik, entstanden sind und schon damals nationale Institutionen waren. Literaturhinweise zur Geschichte finden sich im Beitrag von Karafyllis, in diesem Buch. Davon zu unterscheiden wären lokale oder genossenschaftlich organisierte Samenbanken von Kleinbauernkollektiven, die im vorliegenden Band außen vor bleiben mussten. Sie sind gegenwärtig aber gerade für die Stärkung von farmers’ rights, für den Öko-Landbau und für den Schutz der Agrobiodiversität in Entwicklungsländern wichtig.

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Vorwort

Teilnehmern der gleichnamigen Ringvorlesung im Sommersemester 2016 am Seminar für Philosophie der TU Braunschweig. Deutlich wird, was gesammelt wird: z. B. Samen und Gewebe von Kultur- und Wildpflanzen, Zelllinien von Wildtieren im Zoo, Bakterienstämme und andere Mikroorganismen als Isolate in Reinkulturen. Warum gesammelt wird, ist höchst unterschiedlich und in fast allen Lebendsammlungen mehrzweckorientiert: Ernährungssicherheit, Kulturschutz, Natur- und Biodiversitätsschutz, Medikamentenentwicklung, Wirkstoffforschung etc. Der Buchtitel „Theorien der Lebendsammlung“ verwendet bewusst den Plural, denn je nach Sammlungszielen und -objekten kann die theoretische Ausrichtung des für relevant befundenen Wissens und Handelns unterschiedlich ausfallen. Eine vereinheitlichende Funktion nimmt die Rolle der Technik, insbesondere der Kühltechnik und der ITSysteme ein. Auf ihre Dimension und deren technikphilosophische Analyse wurde ein besonderes Augenmerk gelegt. Zur Technik (des Land- und Gartenbaus) gehören auch der Acker und der Garten. In diesen von der Wildnis abgegrenzten Räumen wachsen Kulturpflanzen. Im philosophischen Sinne sind sie Biofakte: Lebewesen, die wachsen können, aber auf verschiedenste Weise technisch zugerichtet wurden. Sie wachsen zwar noch selbst, aber nicht mehr von selbst. Die bis ins Neolithikum zurückreichenden Geschichten und Grade ihrer Biofaktizität, seien es Züchtungs- oder Migrationsgeschichten, müssen entborgen und rekonstruiert werden, damit wir unsere von Biofakten durchsetzte Lebenswelt besser verstehen können. Dazu möchte dieses Buch beitragen. Denn jedes Biofakt beginnt mit der Kontrolle über den Samen. Entsprechend eröffnet der in drei Kapitel gegliederte Band mit Kap. I zur Frage: „Leben sammeln“ als Technik: Wie, warum und wozu? Die erläuterten Techniken umfassen, beginnend mit Theophrast von Eresos und endend mit dem virtuellen Genbankverbund AEGIS, über zwei Jahrtausende Sicherung von reproduktivem Lebendmaterial. Die Samenbank wird hier als Paradigma einer Theorie der modernen Lebendsammlung nachgezeichnet. In Kap. II werden verschiedene Institutionen und ihre Selbstdefinitionen vorgestellt, die von Samen- und Genbank bis hin zum Biologischen Ressourcenzentrum reichen, aber maßgeblich auch durch Datenbanken strukturiert sind. Im Zentrum stehen Pflanzensammlungen mit Kulturpflanzen des Acker-, Wein- und Obstbaus, die durch die Mikrobenbank DSMZ kontrastiert werden. Das dritte Kapitel (III) behandelt die Frage „In situ- oder Ex situ-Erhaltung?“ und prob-

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Vorwort

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lematisiert damit den natürlichen sowie den technisierten Ort des Werdens von Lebewesen, oder anders: das Wilde (Wildpflanzen und Wildtiere). Eine vermittelnde Position nehmen darin naturkundliche Sammlungen wie Zoologische und Botanische Gärten ein. Ihre Zukunft wird womöglich, wie die Autoren aufzeigen, nicht ohne Gen- bzw. Zellbanken zu denken sein. Darauf deuten auch die im Anhang auszugsweise abgedruckten Regelwerke zum Umgang mit genetischen Ressourcen hin, auf die sich die Autorinnen und Autoren des Buches häufig beziehen. Aber auch in hochtechnisierten Umgebungen wie Samenbanken verbleibt dem Samen stets etwas Unkontrollierbares, das man als „natürlich“ kennzeichnen kann – sei es, dass sich der Same (als Universalsingular gemeint) rein anatomisch der Kühllagerung widersetzt oder dabei seine genetische Integrität beeinträchtigt wird; sei es, dass die aus ihm entstehende Pflanze bei der Auswilderung bzw. im Anbau nicht mehr ‚in der Natur‘ angesiedelt werden kann; sei es, dass der Klimawandel aus züchterischer Sicht fordert, dass man Eigenschaften und damit Gene aus alten, lange vergessenen Landsorten oder sogar Wildpflanzen wieder benötigt, um neue Biofakte in die sich wandelnde Natur funktional integrieren zu können. Biofakte und ihre Samen erscheinen hier im Spannungsfeld von Kultur, Natur und Technik. Im Naturschutz zeigt sich dies als Streit zwischen in situ und ex situ conservation, dem Bewahren des natürlichen oder naturnahen Habitats versus der Verbringung in mehr oder weniger geschlossene Räume: vom Naturschutzgebiet bis zum Botanischen Garten, von der Bewahrung von Kulturpflanzen on farm bis zur jahrzehntelangen Kühllagerung in der Genbank. Stets geht es dabei um Grenzziehungen, bis wo und ab wann etwas als „natürlich“ erachtet werden kann. Damit sind sehr verschiedene Bedeutungen verbunden, die vom Bewahren bis zur Nutzung reichen können, sich aber stets auf produktive Möglichkeiten und Handlungsoptionen beziehen. Was vielleicht überraschen mag: In Biobanken stellen das Gros an naturbelassenen Lebewesen die Bakterien dar, von denen ohnehin erst ein Bruchteil bekannt ist. Auch im Arten- und Gattungsregister, das im Anhang zur Auffindbarkeit der gesammelten Lebendobjekte abgedruckt ist, machen Mikroben den kleinsten Anteil aus. Der vorliegende Band ist im Rahmen des BMBF-Verbundprojekts „Die Sprache der Biofakte. Materialität und Semantik hochtechnologisch kultivierter Pflanzen entstanden“ (2015–2017). Das am philosophischen Seminar der TU Braunschweig angesiedelte

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Vorwort

Teilprojekt A trug den Obertitel „Sammeln auf Eis gelegt?“.9 Ich danke dem Zuwendungsgeber und auch dem Projektträger DLR für die Unterstützung. Den wissenschaftlichen Mitarbeitern und Hilfskräften des Projekts danke ich für die gute Zusammenarbeit, spannende Diskussionen und tatkräftige Unterstützung beim Fertigstellen des vorliegenden Bandes, insbesondere Dr. Stefan Lobenhofer, Uwe Lammers, Verena Kappler und Fabian Ott. Den Autorinnen und Autoren sei dafür gedankt, dass sie sich auf das lohnende Experiment, über ihre Tätigkeit zu ‚philosophieren‘, eingelassen haben und die editorische Arbeit eine einzige Freude war. Dazu hat auch die umsichtige Erstellung der Druckfahne durch Frank Hermenau beigetragen. Nicht zuletzt möchte ich mich beim Verlag Karl Alber und den Reihenherausgebern von „Lebenswissenschaften im Dialog“ bedanken, dass dieses Buch in einer so prominenten Buchreihe erscheinen konnte. Der Band erscheint zum achtzigsten Geburtstag meines Doktorvaters Karl Poralla, den er nicht mehr erleben durfte. Seinem Andenken sei der Band gewidmet. Braunschweig, im Dezember 2017

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Nicole C. Karafyllis

BMBF-Förderkennzeichen: 01UO1501B.

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I. „Leben sammeln“ als Technik: Wie, warum und wozu?

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Theophrast von Eresos: Über Samen, die sich gut oder weniger gut erhalten lassen (Übersetzung und Kommentar)

I. Übersetzung von Theophrast: Historia plantarum VIII, 11, 1-61 1. Die Samen haben nicht alle das gleiche Vermögen zu keimen (dýnamis eís tḗn blástēsin)2 und sich gut bevorraten zu lassen (dýnamis eís thēsaurismón). Einige keimen und reifen sehr schnell und lassen sich sehr gut bevorraten, wie die Kolbenhirse (élumos) und die Rispenhirse (kénchros).3 Andere keimen zwar gut, verderben (sḗpesthai) aber schnell, wie die Bohne (kýamos),4 v. a. diejenige, die zum Kochen geeignet ist. Auch Futter-Wicke (aphákē)5

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Textgrundlage der Historia Plantarum (nachf.: HP) ist die griech.-engl. Ausgabe Theophrastus, Enquiry into plants, and minor works on odours and weather signs, übers. von Arthur Hort, Cambridge/MA, London, Bd. 1 1916, Bd. 2 1926 (nachf. HP). In runden Klammern stehen die altgriech. Ausdrücke, in eckigen Ergänzungen des Übersetzers. Murr identifiziert kénchros mit Panicum miliaceum und élumos mit Panicum italicum (Synonym: Setaria italica), vgl. Murr, Josef, Die Pflanzenwelt der antiken Mythologie, Innsbruck 1890, S. 161. Vgl. auch Cancik, Hubert (Hg.), Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike (nachf.: DNP). Bd. 4, Stuttgart 1998, S. 1036: „Es gab zwei kultivierte Arten der Hirse, nämlich die Setaria italica (μελίνη/melínē […]) und Panicum miliaceum (κέγχρος/kénchros […]).“ Die Ausdrücke élumos und melínē sind Synonyma, vgl. Hort, in: HP, Bd. 2, S. 142, Anm. 3. Hierbei handelt es sich um die Acker- oder Fababohne (Vicia faba), auch als Saubohne bekannt; diese ist zum einen von der Kuhbohne (Vigna unguiculata) zu unterscheiden, die, aus Afrika stammend, v. a. in Rom kultiviert wurde, zum anderen auch von der neuweltlichen Grünen Bohne (Phaseolus vulgaris), vgl. Hondelmann, Walter, Die Kulturpflanzen der griechisch-römischen Welt. Pflanzliche Ressourcen der Antike, Berlin 2002, S. 49. Gemeint ist die Schmalblättrige Wicke (Vicia angustifolia), vgl. Frisk, Hjalmar, Griechisches etymologisches Wörterbuch. Bd. 1, Heidelberg 1960, S. 194. Hort identifiziert die aphákē mit Vicia sativa var. angustifolia, vgl. HP, Bd. 2, S. 442. Heute gilt die Schmalblättrige Wicke als eine Unterart der Futterwicke (Vicia sativa). Vgl. hierzu auch Hondelmann, Kulturpflanzen, 2002, S. 54.

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und Helmbohne (dólichos)6 verderben schnell, und Gerste (krithḗ) schneller als Weizen (pyrós). Zudem [verdirbt] das „staubige Korn“ (koniortṓdēs sîtos) [schneller] und [Korn] in gekalkten Räumen schneller als in ungekalkten. 2. Wie erwähnt, entstehen aus Samen, wenn sie verderben, spezifische Lebewesen (ídia zōa), außer bei der Kichererbse (erébinthos),7 die als einzige keine [Lebewesen] erzeugt. Wenn sie verderben, erzeugen alle [Samen] eine Larve (skṓlex), wenn sie zerfressen werden (kóptesthai), erzeugen sie jeweils spezifische [Lebewesen]. Von allen hält sich die Kichererbse und die Linsen-Wicke (órobos)8 am besten, noch besser als diese jedoch die Lupine (thérmos);9 aber diese scheint so wie eine Wildart zu sein. 3. Die verschiedenen Gebiete und Klimabedingungen unterscheiden sich wohl [hinsichtlich der Frage], ob die Samen zerfressen werden oder nicht. Zumindest sagt man, dass in Apollonia am Ionischen Meer die Bohnen gar nicht zersetzt (esthíesthai) und deswegen in die Vorratskammer (thēsaurismós) verbracht werden. In Kyzikos halten sie sich sogar noch länger. Hinsichtlich der Langlebigkeit macht das Ernten in der Trockenheit [einen] großen [Unterschied], denn die Restfeuchte ist dann geringer. Hülsenfrüchte werden feuchter geerntet, um sie zahlreicher und leichter einzusammeln; wenn sie vertrocknen, fallen sie schnell [herunter] und platzen auf.10 Weizen und eine Art der Gerste lässt man nicht austrocknen, weil sie so besser zu Graupen verarbeitet werden können. 4. Deswegen bildet man mit dem Weizen und der Gerste Haufen, denn es scheint, dass sie im Haufen eher reifen (hadrúnesthai) als an Nährwert verlieren (liposarkeîn). Das Korn wird nicht zerfressen, wenn es regennass geerntet wird. Das nicht geerntete Weizenkorn (athéristos pyrós) hält sich am besten, noch besser jedoch das der

6 Nach Hort ist Vigna sinensis gemeint, vgl. HP, Bd. 2, S. 445. Strömberg identifi­ ziert mit dólichos fälschlich Phaseolus vulgaris, vgl. Strömberg, Reinhold, Theo­ phrastea. Studien zur botanischen Begriffsbildung, Göteborg 1937, S. 107. Diese wurde erst nach dem 15. Jh. in Europa eingeführt. 7 Gemeint ist Cicer arietinum L.; vgl. Hondelmann, Kulturpflanzen, S. 51. 8 Hier ist Vicia ervilia (Linsen-Wicke) gemeint; vgl. ebd., S. 53. 9 Lupinus albus; vgl. ebd., S. 45. 10 Gemeint ist das Aufplatzen der Hülsen.

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Lupine, die man nicht eher erntet als es geregnet hat; durch das [trockene] Ernten springt [die Frucht] auf und der Same geht verloren. 5. Für die Keimung (ékphysis) und insgesamt für die Aussaat scheinen die einjährigen Samen die besten zu sein, die zwei- und dreijährigen weniger gut. Die [noch älteren] sind nahezu keimunfähig, für die Ernährung aber ausreichend. Denn jeder Samen hat hinsichtlich der Keimfähigkeit eine begrenzte Lebensdauer. Des Weiteren unterscheiden sie sich in ihrer (Keim)fähigkeit auch durch den Ort, an dem sie bevorratet (thesaurízōntai) werden. Zumindest sagt man, dass sich an einem Ort in Kappadokien namens Petra die Samen 40 Jahre keimfähig und zur Aussaat verwendbar gehalten haben, für die Ernährung 60 bis 70 Jahre. Denn sie werden überhaupt nicht zerfressen, wohingegen die Gewänder und die anderen Schätze durchaus zerfressen werden. 6. Denn die Gegend ist erhöht und immer einem frischen Wind (eúpnous) von Osten, Westen und Süden ausgesetzt. Man sagt, dass in Medien und in den anderen hochgelegenen Gegenden die bevorrateten [Saaten] (thēsaurizómena) sich eine lange Zeit halten. Es ist klar, dass die Kichererbse, die Lupine, die Linsen-Wicke, die Rispenhirse und die anderen sich [dort] viel länger halten als jene Samen, die etwa in den Gegenden von Hellas [bevorratet werden]. Aber das hat, wie gesagt, mit den speziellen Eigenschaften der Regionen zu tun.

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II. Kommentar Der vorliegende Text wurde ausgewählt, weil er die wahrscheinlich erste Beschreibung einer Samenbank der abendländischen Geistesgeschichte enthält und nicht nur die eines Vorratslagers oder Getreidespeichers. Um diese These zu erhärten, werden die beschriebenen baulichen Kriterien, die zugehörigen Bezeichnungen und die Gütekriterien der Saaten im Hinblick auf ihre Keimfähigkeit herangezogen. Ferner unterrichtet uns Theophrast über Sortenunterschiede11 von Kulturpflanzen im 3. Jh. v. Chr., die über das gesamte botanische Werk verteilt sind. Gegen den Einwand, dass es das Konzept einer Samenbank erst mit der wissenschaftlichen Botanik des 18. Jh.s und der zugehörigen binären Nomenklatur geben könne, ist darauf hinzuweisen, dass Theophrast den verschiedenen Sorten in seinem Werk ebenfalls Namen gibt, z. T. mit binärer Struktur. Diese beziehen sich auf die jeweilige Herkunftsregion und meinen entsprechend agrikulturelle,12 nicht botanische Klassifikationen. Um jedoch entscheiden zu können, ob die Klassifikationen auch für Sorten hinreichend wären, bräuchte es Aussagen zu Einheitlichkeit und Differenzierbarkeit unterhalb der Speziesebene. Diese liegen uns ansatzweise vor, z. B. in Form von Münzen mit Darstellungen von zwei- oder sechszeiligen Ähren.13 Theophrast von Eresos (ca. 370/1–287/6 v.Chr.) ist der bekannteste Schüler des Philosophen und Naturforschers Aristoteles (384– 322 v.Chr.). Berühmt sind Theophrasts Schriften Charaktere14 und Metaphysik.15 Heute weniger bekannt und seit dem 19. Jh. nicht mehr in die deutsche Sprache übersetzt16 sind seine umfangreichen botanischen Schriften Historia plantarum (Übers. Sprengel: „Naturgeschichte der Gewächse“) und De causis plantarum („Über die

11 So auch Isager, Signe und Jens E. Skydsgaard, Ancient Greek Agriculture. An Introduction, London, New York 1995, S. 42, mit Hinweis auf HP VIII, 5, 1. 12 Dazu gehören implizite Hinweise auf erreichte Züchtungsziele sowie Anforde­ rungen an Boden und Klima. 13 Vgl. Isager und Skydsgaard, Agriculture, S. 22f. 14 Vgl. Theophrast, Charaktere. Griech.-dt., hg. u. übers. von Dietrich Klose, Stutt­ gart 2000. 15 Theophrast, Metaphysik. Griech.-dt., hg. von Gregor Damschen, Dominic Kaegi und Enno Rudolph, Hamburg 2012. 16 Die letzte dt. Übersetzung leistete der Botaniker Kurt Sprengel (1766–1833), vgl. Theophrast, Naturgeschichte der Gewächse, Altona 1822.

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Ursachen der Gewächse“).17 Allgemein geht es Theophrast um eine nähere Bestimmung der Natur (griech. phýsis), und zwar insofern sie als „Gewächs“ (phytón) in zahlreichen Erscheinungsformen vorliegt.18 Erst die Römer gingen begrifflich vom Gepflanzten (lat. planta) aus, woraus das deutsche „Pflanze“ abgeleitet ist.19 Der Missstand der heute unzureichenden Rezeption von Theophrasts Pflanzenschriften, der sich durch fehlende Übersetzungswie Forschungsarbeit20 auszeichnet und auf den die hier vorgelegte Übersetzung eines Ausschnitts aus Historia plantarum nur hinweisen kann, wird umso deutlicher, als Theophrast mit einigem Recht als der Gründervater der wissenschaftlichen Botanik angesehen werden kann: „Theophrast ist der erste in der langen Liste von Naturforschern, die sich bemühten, jene Ordnung zu entdecken, die ihrer Überzeugung nach in der verwirrenden Vielfalt der natürlichen Welt verborgen sein musste.“21 Zwar ist es richtig, dass sich Theophrast um eine Ordnung der Pflanzenwelt verdient gemacht hat. Ganz in der Tradition seines Lehrers lässt er die systematische 17 Auch De causis plantarum liegt in der Loeb Classical Library vor. Vgl. Theo­ phrastus, De causis plantarum. 3 Bd., übers. von Benedict Einarson, Cambridge/ MA, London 1976–1990 (nachf.: CP). 18 Vgl. zur griechischen Naturphilosophie Karafyllis, Nicole C. und Stefan Loben­ hofer, „Chaos, Logos, Kosmos“, in: Kirchhoff, Thomas; Karafyllis, Nicole C. et al. (Hg.), Naturphilosophie. Ein Lehr- und Studienbuch, Tübingen 2017, S. 5-18. 19 Diesen Hinweis verdanke ich Nicole C. Karafyllis. Vgl. dies., Die Phänomenologie des Wachstums. Habilitationsschrift Philosophie, Universität Stuttgart 2006. 20 Die letzte monographische Untersuchung zu den botanischen Schriften Theo­ phrasts in deutscher Sprache stammt aus dem Jahr 1985, vgl. Wöhrle, Georg, Theophrasts Methode in seinen botanischen Schriften, Amsterdam 1985. Schon Regenbogen betont die Notwendigkeit der Editierung der botanischen Schriften, vgl. Regenbogen, Otto, „Theophrastos“, in: Pauly, August; Wissowa, Georg und Wilhelm Kroll (Hg.), Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswis­ senschaft. Neue Bearbeitung (1894–1980) (nachf.: RE). Supplementband VII, Stuttgart 1940, Sp. 1354-1562. In einer jüngeren Kurzdarstellung Theophrasts wird die Botanik wiederum gänzlich ignoriert, vgl. Rudolph, Enno, „Theophrast. Destruktion der Metaphysik?“, in: Erler, Michael und Andreas Graeser (Hg.), Philosophen des Altertums. Von der Frühzeit bis zur Klassik, Darmstadt 2000, S. 204-214. Ausdrücklich positiv zu erwähnen sind die schon zahlreichen Veröf­ fentlichungen in der Reihe „Theophrastus of Eresus. Sources for his Life, Wri­ tings, Thought, and Influence“, die im Brill-Verlag erscheint; exemplarisch sei der fünfte Kommentar-Band genannt, der Theophrasts Botanik beinhaltet, vgl. Shields, Christopher, Sources on Biology (Human Physiology, Living Creatures, Botany: Texts 328-435), Leiden u. a. 1995. 21 Pavord, Anna, Wie die Pflanzen zu ihren Namen kamen. Eine Kulturgeschichte der Botanik, Berlin 22008, S. 33. Dass Theophrast gleichwohl Vorläufer gehabt hat, betont Regenbogen, Theophrastos, Sp. 1467.

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und ätiologische Untersuchung des Bereichs der pflanzlichen Natur mit einer empirischen Bestandsaufnahme beginnen; sie findet sich in Historia plantarum.22 Mit dieser Schrift zeigt sich Theophrast aber nicht nur als Botaniker, sondern auch als Vorläufer der später in der römischen Antike zahlreichen Autoren, die über Landwirtschaft geschrieben haben.23 Auch Isager und Skydsgaard betonen, dass Theophrast in seinem Pflanzenwerk als „experienced botanist“ über „cultivated plants“ geschrieben habe, wenngleich nicht aus Perspektive der Landwirte.24 Botanik und Agrikultur (zumeist auch pharmazeutische Anwendungen von Pflanzen) sind weder bei Theophrast noch bei Plinius dem Älteren voneinander getrennt. Demnach verfasste Theophrast, anders als etwa Sprengel übersetzt, nicht nur eine „Naturgeschichte“ der Pflanzen, sondern auch eine Kulturgeschichte. Bei den betrachteten Pflanzen handelt es sich um gezüchtete Landsorten, d. h. um Gewächse, die sich technischer Handlungen verdanken und somit Biofakte sind. In historisierender Absicht meinen Biofakte ein Kontinuum, in dem das Gemachte in das Gewordene vorgedrungen ist. Theophrast hebt das „Wilde“ der Lupine im Vergleich zu Weizen, Gerste und Bohne als Pflanzen der Agrikultur hervor (Abs. 2). Dass Lupine und Weizen, die botanisch sehr weit voneinander getrennt sind, in Abs. 4 hinsichtlich des optimalen Erntezeitpunkts gemeinsam untersucht werden, weist auf ein agrikulturelles Interesse hin. Dieses tritt auch hinsichtlich der Bevorratung von Pflanzensamen hervor. Der Philosoph themati22 Die Ähnlichkeit im Titel mit Aristoteles’ Schrift Historia animalium ist nicht zufällig: „Theophrast orientiert sich mit seiner Botanik grundsätzlich an der Zoologie des Aristoteles, der die Biologie (als Abteilung der Naturwissenschaft) als theoretische Wissenschaft konstituiert hat.“ So Wöhrle, Theophrasts Metho­ de, S. 3-4. 23 Hier wären zu nennen: Cato der Ältere (234–149 v.Chr.) mit De agri cultura (Cato, Marcus Porcius, Vom Landbau/Fragmente. Lat.-dt., hg. u. übers. von Otto Schönberger, Düsseldorf, Zürich 22000), Varro (116–27 v. Chr.) mit De re rustica (Varro, Marcus Terentius, Über die Landwirtschaft. Hg., eingeleitet und übers. von Dieter Flach, Darmstadt 2006), Columella (4-ca. 70 n. Chr.) mit Res rustica (Columella, Lucius Iunius Moderatus, Zwölf Bücher über Landwirtschaft. Buch eines Unbekannten über Baumzüchtung. Lat.-dt., Bd. 1, hg. u. übers. von Will Richter, München 1981), Plinius der Ältere (23/24–79 n. Chr.) mit dem 18. Buch seiner Naturalis historia (Plinius Secundus d. Ä., Naturkunde. Buch XVIII. Bo­ tanik: Ackerbau. Lat.-dt., hg. u. übers. von Roderich König, Zürich 1995) und Palladius (spätes 4. Jh. n. Chr.) mit seiner Schrift Opus agriculturae (Palladius, Rutilius Taurus Aemilianus, Das Bauernjahr. Lat.-dt., hg., übers. u. eingeleitet von Kai Brodersen, Berlin 2016). 24 Vgl. Isager und Skydsgaard, Agriculture, S. 7.

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siert, welche Pflanzen sich gut bzw. weniger gut lagern lassen und was man baulich dafür tun muss, um sie möglichst lange keimfähig halten zu können. Theophrast unterscheidet die Pflanzensorten hinsichtlich ihrer Keimfähigkeit (dýnamis eís tḗn blástēsin) und ihres Potenzials zur Aufbewahrung (dýnamis eís thēsaurismós). Der letztgenannte Punkt, der mit dem griechischen Ausdruck thēsaurismos bezeichnet wird, hat mehrere Bedeutungsebenen: Zum einen ist das Bevorraten der Samen zum späteren Verzehr gemeint, mit dem Ziel, Schädlingsbefall und Nährwertverlust zu vermeiden (Abs. 4), zum anderen die Erhaltung der Samen im Sinne des Bewahrens ihrer Keimfähigkeit zur weiteren Aussaat und Züchtung. Letzteres steht zumindest in Aristoteles’ Politik im Kontext der Sicherung des zukünftigen Wohlergehens einer politisch-ökonomischen Einheit (s. u.). Im obigen Textausschnitt, der mit dem Hinweis auf die Keimfähigkeit beginnt, überwiegt dieser Aspekt. Nicht umsonst weist Theophrast auf die Differenz hin, dass man in Petra gelagerte Samen zwar „60 bis 70 Jahre“ noch essen könne, aber allenfalls „40 Jahre“ aus­säen (Abs. 5). Die meisten Samen seien schon im dritten Jahr ihrer Lagerung nicht mehr hinreichend keimfähig, beobachtet er – was sich mit den Verjüngungsintervallen (alle drei Jahre) moderner Samenbanken vor Einführung der technischen Kühlung deckt.25 Um eine optimierte Lagerung von Samen in den entsprechenden Bauten zu ermöglichen, müssen bestimmte natürliche Bedingungen der Dormanz26 technisch simuliert werden. Diese Bedingungen betreffen v. a. klimatische Voraussetzungen (Trockenheit, Luftzirkulation, Kühle). Aber auch die spezifischen Merkmale der Saaten selbst haben Einfluss auf die Langlebigkeit. Theophrast stellt fest, dass Bohnen sich schlechter lagern lassen als Getreide (Abs. 1) – eine Beobachtung, die auch heute noch gültig ist: Bohnen haben einen höheren Fettgehalt als Getreide, weswegen sie schneller verderben. Aber nicht alle Beobachtungen sind mit heutigen Erkenntnissen in Einklang zu bringen; so widerspricht die Feststellung, dass Gerste die Keimfähigkeit schneller verliert als Weizen (Abs. 1) heutigen 25 Vgl. dazu etwa die Praxen am IPK Gatersleben bis Ende der 1970er Jahre, ge­ schildert in Stubbe, Hans, Geschichte des Instituts für Kulturpflanzenforschung Gatersleben der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 1943–1968. (Studien zur Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Bd. 10), Berlin 1982. 26 Vgl. Karafyllis, Nicole C., „Samenbank und Weltkollektion: Über die dritte Na­ tur der agrarischen Biofakte“, in: Dritte Natur, 1(1)/2018, S. 25-39.

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Erkenntnissen. Das heißt aber nicht zwingend, dass Theophrast im Irrtum war; vielmehr ist es möglich, dass der frühzeitigere Verlust der Keimfähigkeit der Gerste damals genotypisch bedingt war.27 Die Landwirtschaft und die Frage nach der Aufbewahrung der Samen hatten und haben immer auch politische Relevanz. In diesem Sinne verwendete schon Aristoteles den oben erwähnten Ausdruck thēsaurismós in einer Bedeutung, die den ethischen Aspekt des Wohlergehens einer Hausgemeinschaft (oîkos) oder einer politischen Gemeinschaft betont.28 Eine etymologische Deutung des verwandten thēsaurós führt den Ausdruck auf ein Kompositum von the- (von títhēmi setzen, legen, stellen) und aûros (Luft) zurück: „Seiner Bildung nach bedeutet […] θησαυρός oder vielmehr θήσαυρος, ‚den in die freie Luft gestellten (Vorrats)bau‘ oder auch den, ‚der ihn errichtet hat‘.“29 Dazu fügt sich eine Bedeutung des Ausdrucks oíkēma, den Theophrast in Abs. 1 für die Bauten zur Lagerung der Samen verwendet; wie so oft bei altgriechischen Ausdrücken gibt es auch in diesem Fall eine große semantische Bandbreite: oíkēma kann Wohnraum, Etage, Stall, Lagerraum, Gefängnis, sogar Bordell bedeuten.30 Eine deutlich positive Konnotation hat oíkēma, wenn es in einer weiteren Bedeutung, nämlich als „Schatzhäuschen“, das sich in Heiligtümern oder Tempeln befindet, verwendet wird.31 Gerade die Kombination der beiden Ausdrücke thēsaurismós und oíkēma weist auf den hohen gesellschaftspolitischen Wert des Bevorratens hin. Auch die bauliche Umsetzung des Bevorratens und Erhaltens gerät in den normativen Blick, und die politische Relevanz überträgt sich auf die entsprechenden landwirtschaftlichen Gebäude: „Getreidespeicher dienen also nicht einfach der Vorratshaltung, 27 Schriftl. Mitt. von Lothar Frese vom 13.2.2017. Vgl. hierzu auch Nagel, Ma­ nuela; Rehmann Arif, Mian Abdur; Rosenhauer, Maria und Andreas Börner, „Longevity of seeds – intraspecific differences in the Gatersleben genebank collections“, in: Züchtung und Genressourcen gegen abiotische Stressfaktoren, markergestützte Selektion in der Praxis. (Vereinigung der Pflanzenzüchter und Saatgutkaufleute Österreichs, 60), Irdning 2010, S. 179-181, hier zit. S. 181: „Al­ though barley […] seeds show a long-living tendency […] the genotypes vary in germinations.“ 28 Vgl. Aristoteles, Politik. Übers. u. mit einer Einleitung hg. von Eckart Schütrumpf, Hamburg 2012, S. 18 (I, 8, 1256b27-39). 29 Maaß, Ernst, „Thesauros“, in: Rheinisches Museum für Philologie, 74/1925, S. 235-253. 30 Vgl. Liddell, Henry G. und Robert J. Scott, A Greek-English Lexicon, Oxford 9 1996, S. 1203. 31 Schriftl. Mitt. von Alexander von Kienlin vom 20.2.2017.

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sondern eröffnen politische Möglichkeiten dadurch, dass man Getreide (wie auch andere Vegetabilien) gezielt einsetzen kann“.32 Was für Getreidespeicher gilt, gilt umso mehr für Samenbanken. In den Worten von Nicole C. Karafyllis (in diesem Buch) dienen Samenbanken der „Bevorratung von Mitteln“, damals womöglich in strategischer Hinsicht noch weitaus mehr als heute. Wenigstens durch die römischen Schriftsteller sind wir vergleichsweise gut über agrarische Vorratsbauten, die als granaria oder horrea bezeichnet werden, informiert.33 Es sind verschiedene Arten bekannt:34 Das horreum pensile ist ein hölzerner, auf Säulen stehender Bau, der die Luft von allen Seiten an das gelagerte Korn und ggf. andere Fruchtarten herankommen lässt.35 Weitere Varianten stellen ein ebenerdiger Bau aus Lehmziegeln, der von oben gefüllt wird und luftundurchlässig ist, sowie unterirdische, mit Spreu ausgelegte Gruben oder Schächte dar.36 Neben eigenständigen Gebäuden sind die píthoi (lat. dolia) für die Lagerung von Lebensmitteln aller Art wichtig. Dabei handelt es sich um fassähnliche Vorratsgefäße aus Ton, die teilweise auch im Boden vergraben wurden.37 Dass schon die Griechen über ein entsprechend differenziertes Wissen verfügt haben, ist zwar durch Inschriften belegt,38 allerdings fehlt uns eine entsprechende literarisch-wissenschaftliche Darstellung.39 Bei Theophrast finden sich jedoch Hinweise auf 32 Kloft, Hans, „Antike Wirtschaftsbauten. Ein Werkstattbericht“, in: Fellmeth, Ul­ rich; Krüger, Jürgen; Ohr, Karlfriedrich und Jürgen J. Rasch (Hg.), Wirtschafts­ bauten in der antiken Stadt, Karlsruhe 2016, S. 37. 33 Vgl. die Literaturangaben ebd., Anm. 28. 34 Vgl. hierzu RE VII.2, Sp. 1812-3. 35 Vgl. Plinius, Ackerbau, S. 183 (XVIII, 73, 302); Varro, Landwirtschaft, S. 241 (57, 1) und Palladius, Bauernjahr, S. 82 (I, 19, 1). 36 Vgl. Plinius, Ackerbau, S. 185 (XVIII, 73, 306). 37 Schriftl. Mitt. von Alexander von Kienlin vom 20.2.2017. 38 Vgl. Curtis, Robert I., „Food storage technology“, in: Irby, Georgia L. (Hg.), A Companion to Science, Technology, and Medicine in Ancient Greece and Rome. Vol. 2, Chichester 2016, S. 595. 39 In der Hauptsache ist dieser Umstand der schlechten Überlieferungssituation geschuldet. Theophrast selbst berichtet von dem Schriftsteller Androtion (vgl. HP II, 7, 3), dessen Werk über Agrikultur nur fragmentarisch überliefert ist. Ari­ stoteles nennt Charetides von Paros und Apollodoros von Lemnos, deren Werk verloren ist, vgl. Aristoteles, Politik, S. 89 (I, 11, 1258bf). Dass die Landwirtschaft in der griechischen Antike einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert hatte, zeigte schon Hesiod mit seinem Epos Werke und Tage. Darin entwickelt er das, was man eine „bäuerliche Moral“ nennen könnte, vgl. Hesiod, Theogonie/Werke und Tage. Griech.-dt., hg. und übers. von Albert von Schirnding, Berlin 52012,

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Vorratsbauten, an denen wir uns bzgl. des auch für Samenbanken zu erzielenden Mikroklimas orientieren können und die neben der Bodenbeschaffenheit,40 den äußeren klimatischen Bedingungen und den Eigenschaften der Samen selbst einen so wichtigen Einfluss auf die Erhaltung von Samen haben. Eine der Bedingungen ist Trockenheit bzw. eine niedrige Raumfeuchte. Theophrast hat genau diese Anforderung im Blick, wenn er in Abs. 1 davon spricht, dass sich ungekalkte Räume besser zur Aufbewahrung von Samen eignen als gekalkte.41 Denn in der Antike war es üblich, als Wandbelag Kalkputz zu verwenden, der manchmal sogar mehrere Zentimeter dick aufgetragen wurde. Der Kalkputz gab dann für lange Zeit Feuchtigkeit ab.42 Vor diesem Hintergrund ist die Feststellung Theophrasts sehr gut nachvollziehbar. Es ist auch heute noch richtig, dass eine trockene Lagerung ausschlaggebend für die Langlebigkeit von Samen ist.43 Ein weiterer Vorteil ungekalkter Räume besteht in der verbesserten Luftzirkulation, eine Anforderung, die Theophrast in Abs. 5 und 6 hervorhebt. Hier charakterisiert er die hochgelegenen und gut belüfteten Gegenden als präferabel für die Samenlagerung. In der Region des östlichen Mittelmeerraums mauerte man Gebäude aus Bruchsteinen ohne Mörtel, was eine gute Luftzirkulation innerhalb des Gebäudes gewährleistete.44 Als weitere Bedingung führt Theophrast die niedrige Lagertemperatur an; auch hierbei handelt es sich um eine noch heute gültige Anforderung. Am Ende von Abs. 1 schreibt Theophrast über das „staubige Korn“, das schneller verdirbt als „unstaubiges“. Damit meint er Verschmutzungen, die etwa durch das Dreschen des Korns verursacht werden. In De causis plantarum äußert sich Theophrast genauer zu den Folgen dieser „Staubigkeit“: „[…] das Korn hat dadurch mehr Hitze (thermótēs) (denn der Staub [koniortós] ist heiß, da er trocken ist und der

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S. 136-142 (694-763). Hesiod gibt allerdings keine Hinweise auf die Struktur von agrarischen Bauten. So auch Isager und Skydsgaard, Agriculture, S. 7. Vgl. hierzu jüngst die archäologische Arbeit von McHugh, Maeve, The Ancient Greek Farmstead, Oxford, Philadelphia 2017, S. 50f. Bei Varro findet sich der Hinweis, dass gekalkte Räume zum Schutz vor Mäusen und Würmern zu empfehlen sind, vgl. Varro, Landwirtschaft, S. 241 (57, 1-2); Plinius wiederum schließt sich der Meinung Theophrasts an, vgl. Plinius, Acker­ bau, S. 183 (XVIII, 73, 301). Schriftl. Mitt. von Alexander von Kienlin vom 20.2.2017. Vgl. auch McHugh, Farmstead, S. 59. Schriftl. Mitt. von Lothar Frese vom 13.2.2017. Schriftl. Mitt. von Alexander von Kienlin vom 20.2.2017.

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Kalkputz [tò koníama] behält die Hitze, nachdem er sie einmal aufgenommen hat).“45 Durch den „Staub“ erhitzt sich das Korn und erlangt die Möglichkeit, früher zu verderben. Bei den Pflanzen selbst ist eine niedrige Feuchte der Samen bei und nach der Ernte, heute „Saatgutrestfeuchte“ genannt, ein wichtiges Kriterium für die angestrebte Lagerdauer: Theophrast betont, dass es diesbezüglich einen großen Unterschied macht, ob die Samen bzw. Früchte trocken oder feucht geerntet werden (Abs. 3). Das Wort „ernten“ (therízein) ist dabei so weit gefasst, dass es im Falle des Weizens vom Schneiden der Getreidehalme46 mit der Sichel47 bis zum Herauslösen des Korns aus der Ähre (d. h. dem Fruchtstand) durch Dreschen reichen kann. In Abs. 3 wird auf das Herauslösen der Samen aus der Frucht (Hülse der Lupine) bzw. dem Fruchtstand (Weizenähre mit Ährchen und Spelzen) abgehoben, das zeitlich versetzt zum Schnitt zu erfolgen hat. Bei Getreide schließt dies eine Zwischenphase der Lagerung in den in Abs. 4 genannten „Haufen“ auf dem Feld ein. Diese nennt man Diemen, die wiederum aus Getreidegarben, also Bündeln von Getreidehalmen gebildet werden.48 Dass Hülsenfrüchte, wie Theophrast im selben Abschnitt schreibt, feucht geerntet werden sollen, steht nicht in Widerspruch zum Lagerkriterium der möglichst trockenen Samen. Denn diese befinden sich innerhalb der zu erntenden Hülsen. Dass Theophrast hier mit dem griechischen spérma nicht konsequent zwischen Fruchtstand, Frucht und Samen unterscheidet, liegt zum einen an seinem agrarischen Blickwinkel, zum anderen an der aristotelischen Verwendungspraxis von spérma, die man als ‚embryologisch‘ bezeichnen kann. Theophrast fokussiert auf dasjenige, was landwirtschaftlich „Korn“ genannt wird und auch die Samen der Körnerleguminosen wie Bohne und Erbse einschließt. Mit der Forderung, Hülsenfrüchte feucht zu ernten, macht er uns auf ein züchterisches Problem aufmerksam: Anders als damals haben viele der heutigen Kulturformen der Hülsenfrüchtler (Fabaceae; veraltet: Leguminosae) platzfeste Hülsen, die auch bei Trockenheit geschlossen bleiben, wenngleich sie durch die Erschütterung bei der Ernte aufplatzen können. In

45 CP IV, 16, 1; übersetzt aus dem Altgriechischen von SL. 46 Früher wurde schon bei sogenannter „Gelbreife“ geerntet, d. h. wenn das Korn sich von Grün nach Gelb verfärbt. 47 Die Sense wurde erst in der römischen Antike erfunden, vgl. Isager und Skyds­ gaard, Agriculture, S. 52f. 48 Schriftl. Mitt. von Lothar Frese vom 27.3.2017.

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der Antike galt aber umso mehr: Durch eine Ernte am frühen Tage, wenn die Hülsen noch taufeucht sind, lässt sich der Samenverlust reduzieren. Theophrast hebt hier die Lupine hervor, weil Platzfestigkeit der Hülsen ein Züchtungsziel ist und dieses bei der Lupine – etwa im Vergleich zur Bohne – nicht erreicht wurde.49 Entsprechend erachtet er die Lupine als wilder. „Wild“ bedeutet hier: noch nicht ausreichend an die Agrikultur und damit an menschliche Vorgaben angepasst (zu anderen Wildheitskonzepten siehe Karafyllis und Lammers, in diesem Buch). Was geschieht, wenn Samen verderben, beschreibt Theophrast in Abs. 2: Zuerst bringen die Samen alle die gleiche Larve (skṓlex)50 hervor, danach entwickeln sich jeweils „spezifische Lebewesen“. Hier spricht Theophrast den Unterschied zwischen der Larve des Insekts und dem sich daraus entwickelnden erwachsenen Tier (Imago) an. Denn die Larven der verschiedenen Arten ähneln sich bei oberflächlicher Betrachtung, die Imagines der Arten unterscheiden sich dagegen deutlich. Zu denken wäre an den Kornkäfer, der unterschiedliche Getreide befällt, oder bei Hülsenfrüchtlern an den Speisebohnenkäfer. Mit den „spezifischen Lebewesen“ könnten auch Lebewesen wie Milben oder Pilze gemeint sein.51 Theophrast erklärt die Entstehung der sogenannten Larven mit der Theorie der Spontangeneration (lat. generatio spontanea),52 die von Aristoteles u. a. in der Schrift De generatione animalium ausformuliert wurde.53 Dies ist, neben der geschlechtlichen und vegetativen Fortpflanzung, eine dritte Art der Zeugung, und zwar aus toter Materie. Aus der Sicht Theophrasts handelt es sich also nicht um einen Befall der Samen, sondern um deren Umwandlung in Lebewesen. Für Theophrast spielen Pathogene auch auf dem Feld eine wichtige Rolle. Er analysiert, dass nicht nur für die Lagerung, sondern 49 Dass die Platzfestigkeit der Hülsen auch heute noch eine Herausforderung für die Züchtung darstellt, betont etwa die Thüringer Landesanstalt für Landwirt­ schaft (Hg.), Landessortenversuche in Thüringen – Blaue Lupine. Vorläufiger Versuchsbericht (Stand: 5.1.2016), Jena 2017, 4 (Unterpunkt 8), online unter: http://www.tll.de/www/daten/publikationen/voe/lsv/lv_lupb.pdf (letzter Aufruf: 21.12.2017). 50 Vgl. Liddell und Scott, Lexicon, 1996, S. 1618; mit Bezug auf die diskutierte Stelle übersetzen sie mit „Made“ oder „Larve“. Auch Aristoteles verwendet den Ausdruck skṓlex für Larve, vgl. Aristotle, Generation of Animals. Hg. und übers. von Arthur Leslie Peck, Cambridge/MA, London 1963, S. 134f. (II, 1, 732a26-32). 51 Schriftl. Mitt. von Lothar Frese vom 24.2.2017. 52 CP III, 22, 3. 53 Aristotle, Animals, S. 356f. (III, 11, 762a18-27).

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auch für das Gedeihen der Pflanzen erhöhte und windreiche Gegenden vorteilhafter sind als tiefliegende und windarme, die er hier mit Hellas in Verbindung bringt: das Hervortreten von Getreiderost (erysíbē) wird durch viel Wind verhindert, weil Wind das Wasser von der Pflanze ‚abschüttelt‘.54 Zu viel Wasser in Kombination mit der Hitze der Sonne begünstige das Entstehen von Rostkrankheiten.55 In De causis plantarum56 betont Theophrast wiederum, dass es auch für windarme Gegenden die „geeigneten Samen“ (tá oikeîa spérmata) gäbe, die vom Getreiderost verschont würden. Sie brächten Pflanzen hervor, deren Ähren geneigt sind und so das Wasser besser ableiten. Gesteigerte Aufmerksamkeit galt demnach auch der Kultivierung und Züchtung von Sorten für suboptimale Standorte. Mit Bezug auf dieselbe Stelle urteilt auch Burford: „Theophrastus shows that farmers were concerned to improve yields by seed selection as well as by methods of cultivation […].“57 Im Hinblick auf die Kultivierungsanstrengungen lässt sich zudem der Anbau der Lupine verstehen. Zwar wurde sie als Nahrungsmittel angebaut, aber auch für andere Zwecke:58 Zumindest für die römische Antike ist nachgewiesen, dass die Lupine als Bodenverbesserer verwendet wurde.59 Aus dieser Sicht kann man die gemeinsame Nennung von Lupine und Weizen in Abs. 4 als rhetorische Kontrastfigur nachvollziehen, da Weizen einen nährstoffreichen Boden benötigt, die Lupine aber nicht. Auch aus pharmazeutischer Sicht ist die gemeinsame Nennung plausibel, insofern sie zwei Pole eines Temperaturkontinuums beschreibt. Schon Hippokrates (ca. 460–370 v. Chr.) hatte die medizinische Wirkung der Lupine als „erhitzend“ angesehen,60 während er das Dekokt aus Weizen oder Gerste als kühlend beschrieb und zur Verabreichung bei fiebrigen

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HP VIII, 10, 2 und CP III, 22, 2. CP III, 22, 2. CP III, 22, 1. Burford, Alison, Land and Labor in the Greek World, Baltimore 1993, S. 128. Als Nahrungsmittel galt die Lupine oft als „Indiz für völlige Verarmung“, vgl. Dalby, Andrew, Essen und Trinken im alten Griechenland. Von Homer bis zur byzantinischen Zeit, Stuttgart 1998, S. 131. Zur römischen Antike Columella: Landwirtschaft, 151 (II, 10, 1-3). Dort schreibt er, dass die Lupine bei Missernten als Nahrungsmittel gebraucht wurde. 59 Vgl. Schneider, Helmuth, Einführung in die antike Technikgeschichte, Darmstadt 1992, S. 58. 60 Vgl. Dierbach, Johann Heinrich, Die Arzneimittel des Hippokrates, Heidelberg 1824, S. 38.

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Krankheiten empfahl.61 Wegen dieser Eigenschaft könnte die Lupine ihren griechischen Namen erhalten haben: thermós bedeutet „heiß“. Die Gegensätze kalt-heiß (oder: warm) und trocken-feucht spielen in der sog. Vier-Elemente-Lehre eine wichtige Rolle.62 Diese naturphilosophische Lehre besagt, dass alles, was es gibt, aus Feuer, Wasser, Erde und Luft zusammengesetzt ist. Jedem dieser stofflichen Elemente entspricht ein Verhältnis von zwei der sog. Primärqualitäten (kalt, warm, trocken, feucht): „Denn das Feuer ist Warmes und Trockenes, die Luft Warmes und Nasses (denn wie Dunst ist die Luft), das Wasser aber ist Kaltes und Nasses, die Erde Kaltes und Trockenes […]“.63 In der antiken Humoralpathologie und Medizin wird dieser Ansatz von Hippokrates ausgearbeitet und später von Galen (ca. 130–200 n. Chr.) übernommen. Der Gesundheitszustand und die körperliche Konstitution hängen von einer ausgeglichenen Mischung (eukrasía) der „vier Säfte“ Blut, Schleim, Gelbe und Schwarze Galle ab. Auch hier entspricht jedem der Säfte ein Verhältnis von jeweils zwei der vier Primärqualitäten (z. B. ist die Schwarze Galle kalt und trocken). Eine unausgeglichene Mischung (dyskrasía) der vier Säfte ist die Ursache von Krankheiten. Durch Zuführen des richtigen Arzneimittels soll der Zustand der eukrasía wiederhergestellt werden. Das Konzept der ‚vier Säfte‘ wird auch in die sog. Temperamentelehre integriert; so liege beim Melancholiker ein Überschuss an Schwarzer Galle (mélan cholḗ) vor. Die enge Verbindung von agrikulturellen und medizinischen bzw. charakterkundlichen Fragen ist dem antiken Denken nicht fremd und zeigt sich auch im Werk Theophrasts, etwa wenn er in Charaktere verschiedenartige Schwächen des Menschen beschreibt. Eine weitere Verbindungslinie im Text besteht zwischen Agrikultur und Geographie. Dass Theophrast Kenntnisse von nicht-einheimischen Sorten hatte, lässt sich anhand biographischer Hinweise vermuten: Theophrast stammte von der Insel Lesbos, auf der er auch einen Teil seines Forscherlebens verbracht hat. Mit der Hafenstadt Mytilene besaß Lesbos einen in der Antike wichtigen Umschlagund Handelsplatz für Waren und somit auch Saaten aus der den Griechen bekannten und erreichbaren Welt. Es ist kein Zufall, dass 61 Ebd., S. 15. 62 Vgl. Karafyllis und Lobenhofer, Chaos, S. 11f. 63 Aristoteles, Über Werden und Vergehen. De generatione et corruptione. Griech.dt., übers., mit einer Einleitung und Anmerkungen hg. von Thomas Buchheim, Hamburg 2011, S. 101 (II, 3, 330b3-5).

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Theophrast im hier übersetzten Text Städte und Regionen nennt, mit deren Waren man Handel trieb: Apollonia am Ionischen Meer,64 Kyzikos65 (Abs. 3) und die Region Medien66 (Abs. 6). Das in Abs. 5 genannte Petra ist schwierig zu lokalisieren; Theophrast verortet es in der antiken Region Kappadokien in Kleinasien.67 Das berühmte Petra im heutigen Jordanien, das auch den Griechen schon bekannt und zugänglich war,68 liegt aber recht weit außerhalb der Grenzen Kappadokiens.69 Eine weitere Möglichkeit ist, dass Theophrast die Hafenstadt Patara in der antiken Region Lykia gemeint hat.70 Ob nun jordanisches Petra oder türkisches Patara – die These, dass die verschiedenen Saaten, die aus diesen entfernten Regionen stammten, ebenso wie die heimischen Sorten separat gelagert wurden, lässt sich mit einem Blick auf De causis plantarum untermauern. Dort beschreibt Theophrast die jeweils geeignetsten Sorten für die unterschiedlichen Bodenbeschaffenheiten und verschiedenen klimatischen Bedingungen.71 So sei z. B. für nährstoffreichen Boden der Libysche Weizen (Lybikós), der Drakonische Weizen (Drakontías), 64 Eine Stadt in der antiken Region Illyrien, deren Reichtum im 5. Jh. v. Chr. ver­ bürgt ist und auch von Aristoteles erwähnt wird, vgl. Aristoteles, Politik, S. 138 (IV, 4, 1290b); sie liegt im heutigen Albanien (Pojani), vgl. DNP, Bd. 1, Sp. 870. 65 Eine Stadt in der antiken Region Mysien, an der Südküste des Marmarameers gelegen, in der heutigen Türkei (heute heißt die Stadt Erdek). Auch hier handelt es sich um eine in der Zeit Theophrasts wohlhabende Stadt mit einem sog. Dop­ pelhafen, vgl. DNP, Bd. 6, Sp. 1026. 66 Eine antike Region, deren Kerngebiet im heutigen Iran liegt; auch hier nimmt Theophrast als Beispiel eine wohlhabende Gegend; vgl. DNP, Bd. 7, Sp. 1095f. 67 Auch diese Region war agrarisch reich, sowohl im Ackerbau als auch in Vieh­ haltung und -zucht, vgl. DNP, Bd. 6, Sp. 262. 68 Der Geschichtsschreiber Flavius Josephus (37/8–  nach 100 n. Chr.) berichtet, dass die Griechen die von den Arabern mit Rekem bezeichnete Stadt eben Petra nannten, vgl. Flavius Josephus, Jewish Antiquities. Books I-IV. Hg. u. übers. von H. St. J. Thackeray, Cambridge/MA, London 1978, S. 553 (IV, vii, 1, 161); die Hafenstadt Aqaba, unweit von Petra gelegen, war zur Zeit Theophrasts ein wichtiger Han­delsknoten, der zeitweise unter griechischer Herrschaft stand. 69 Es ist zu beachten, dass sich die Grenzen der antiken Regionen ständig verscho­ ben haben: Der Geograph Strabon (ca. 63 v. Chr. bis nach 23 n. Chr.) betont dies in Bezug auf Kappadokien, vgl. Strabon, Geographika. Bd. 3: Bücher IX-XIII. Text und Übersetzung, hg. u. übers. von Stefan Radt, Göttingen 2004, S. 274 (XII, 1). 70 Schriftl. Hinweis von Alexander von Kienlin vom 20.2.2017. Vgl. auch Bach­ mann, Martin, „Dachwerk über steinernem ‚Fruchtkasten‘. Der Speicherbau des Karasis“, in: Kienlin, Alexander von (Hg.), Holztragewerke der Antike. (BYZAS 11), Istanbul 2011, S. 179. Der Karasis wurde zwar erst von Kaiser Hadrian er­ baut, die Hafenstadt selbst war aber schon in der griechischen Antike besiedelt, vgl. DNP, Bd. 9, Sp. 392f. 71 CP III, 21, 2.

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der Stlengias (stleggías) oder der Selinusische Weizen (Selinúsios) gut geeignet, weil diese Weizensorten viele Nährstoffe benötigen.72 Diese Beobachtungen setzen empirische Versuche mit den verschiedenen Sorten voraus,73 was wiederum bedeutet, dass die Sorten entsprechend aufbewahrt und eindeutig identifizierbar sein mussten. Dass mit diesen Sorten geforscht wurde, ist ein weiterer triftiger Grund, die Gebäude zur Erhaltung der Samen, die Theophrast beschreibt, als antike Samenbanken zu verstehen. Sie sollten die Kulturpflanzenvielfalt der damaligen Welt der Griechen zu verschiedenen Zwecken sichern.

Danksagung: Ich danke der Herausgeberin Prof. Dr. Nicole C. Karafyllis, dass sie mich auf die o. g. Theophrast-Passage aufmerksam gemacht, mir die Übersetzung sowie Kommentierung angeboten und deren Erstellung durch gewinnbringende Diskussionen begleitet hat. Ein herzlicher Dank gilt auch den Herren Dr. Lothar Frese (JKI Quedlinburg) und Prof. Dr. Alexander von Kienlin (TU Braunschweig) für die überaus hilfreichen Kommentare und Anregungen zu Botanischem bzw. Bauhistorischem. Herrn Prof. Dr. Dr. Claus-Artur Scheier (TU Braunschweig) danke ich für die wertvollen Diskussionen der altsprachigen Texte.

72 Die verschiedenen Weizensorten wurden benannt nach ihrer Herkunft (Libyen; Selinus in Sizilien, vgl. Liddell und Scott, Lexicon, S. 1590) oder nach ihrem Aussehen: so führte ein gesprenkeltes Erscheinungsbild zur Verwendung von drákō für Schlange; stleggías bedeutet gebogen, wie bei einem Stockgriff, vgl. Hondelmann, Kulturpflanzen, S. 36. 73 Dass sich fremdes Saatgut (tá xeniká tōn spermátōn) binnen drei Jahren in ein­ heimisches (tá epichṓria) verwandelt (metabállei), schreibt Theophrast in HP VIII, 8, 1. Diese Passage lese sich, so Hondelmann, wie ein „früher Hinweis auf das jedem Pflanzenzüchter bekannte Einwirken der natürlichen Selektion […]. Die Wechselwirkung zwischen Pflanze und Umwelt war Theophrast, wenn auch nicht begründbar, bekannt.“ (Hondelmann, Kulturpflanzen, S. 37).

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Die Samenbank als Paradigma einer Theorie der modernen Lebendsammlung Über das Sammeln von Biofakten und ihre Liminalitäten

Abstract: The article explores elements of a theory of living collections to be developed and expands the theory of biofacts concerning the technical act of collecting living entities. The seed bank functions as paradigm for such a theory. By the same token, the narrower concept of „seed“ is expanded in order to encompass several kinds of biological reproduction units and their biotechnological preconditions, which are fixed as „Bestand“ (Heidegger), i. e. as stock or standing reserve. Concerning an allencompassing biodiversity research, the article critically analyzes terms, models and frameworks involved in biobanking and how they relate to liminalities and gradualities of the living. At last, the seed bank is imagined as heterotopy (Foucault). Zusammenfassung: Der Beitrag sondiert Bausteine einer ausstehenden Theorie der Lebendsammlung und leistet eine Erweiterung der Theorie der Biofakte um die technische Handlung des Sammelns sowie der Sicherung ihrer Objekte als „Bestand“ (Heidegger). Als paradigmatisch steht die Samenbank im Fokus. Dabei wird der Begriff „Same“ erweitert hin zu einer biologischen Reproduktionseinheit unter biotechnischen Vorzeichen, womit er auch Zellen und Gewebe umfasst. Verschiedene Lebendsammlungen werden anhand von Liminalitäten und Gradualitäten thematisiert und bezüglich der Biodiversitätsforschung kritisch analysiert. Der Beitrag schließt mit der Idee von der Samenbank als Heterotopie (Foucault).

1. Einleitung: Sammlungen nichtmenschlichen Lebens Wie kann man Leben sammeln? Immer mehr Pflanzen, Mikroben und Tiere leben „in der Bank“, und zwar quantitativ in dieser Reihenfolge. Mit Beginn bei den Pflanzen wurde sie auch im Untertitel des vorliegenden Buches gewählt: um zu zeigen, dass man sich beim Thema Biobanken kaum auf ‚natürliche‘ Hierarchien und Ontologien des Lebenden berufen kann, in denen in der Moderne immer die einzellige Mikrobe, genauer: das Bakterium,1 basal wäre 1

Noch genauer: das Archaebakterium.

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bzw. originär zuerst käme. Das Sammeln in Biobanken folgt anderen Ordnungsvorgaben, die maßgeblich durch Technik und deren Nützlichkeitsanspruch bestimmt sind. Aber nicht nur. Der vorliegende Beitrag zielt darauf ab, eine noch ausstehende Theorie der modernen Lebendsammlung (Biobank) zu denken.2 Es handelt sich um eine Form von Sammlungsinstitution, die in den letzten Jahrzehnten rapide Zuwächse zu verzeichnen hat,3 aber gemeinhin weder verstanden noch allgemein verstehbar gemacht wird. Für dieses Anliegen liefert der Beitrag Theoriebausteine, mit denen nachfolgende Arbeiten weiterbauen können. Dies geschieht aus der Perspektive der Philosophie, deren Aufgabe es ist, Begriffe zu klären anstatt Definitionen zu liefern. Bislang ist aber, wenig überraschend, auch in Biologie, Medizin und Agrarwissenschaften keine hinreichende Definition der Lebendsammlung oder auch nur der Biobank gelungen, wie überhaupt schon „Sammlung“ an einer übergreifenden Definition scheitert. Was akkumuliert und wie es diversifiziert wird, ist immer abhängig von den Sammlungszielen und der Grenze der zu besammelnden Welt. Beides zusammen ermöglicht erst anzunehmen, dass eine Sammlung vollständig ist oder hingegen noch der Erweiterung durch Sammeln harrt. (Was Kinder mit dem Einkleben von Sammelstickern in Panini-„Sammelalben“ lernen, ist nicht Sammeln, sondern Kaufen und Inventarisieren. Die Sticker und das Album sind bereits kategorial fixiert und standardisiert). Der Gesichtspunkt eines Sammlers und die Eigenschaften von Dingen müssen zusammenkommen, damit eine Sammlung sich spezifisch bezeichnen kann. Dabei sind Begriffe leitend. In den Worten des Philosophen Manfred Sommer: „Kann aber jemand grundsätzlich nicht angeben, was er sammelt, fehlt ihm also nicht allein der

2 Vorüberlegungen dazu habe ich formuliert in Karafyllis, Nicole C. und Uwe Lammers, „Big Data in kleinen Dosen. Die Geschichte der westdeutschen Gen­ bank für Kulturpflanzen ‚Braunschweig Genetic Resources Collection‘ (19702006) und ihre Biofakte“, in: Technikgeschichte, 84(2)/2017, S. 163-200. 3 Um die Jahrtausendwende waren schon etwa sechs Millionen Akzessionen pflanzlichen Lebendmaterials in Samenbanken gesammelt, davon ca. ein Drittel Getreidesorten. Vgl. Scarascia-Mugnozza, Gian T. und Pietro Perrino, „The His­ tory of ex situ Conservation and Use of Plant Genetic Resources“, in: Engels, J. M.; Rao, V. Ramanatha; Brown, A. H. D. und M. T. Jackson (Hg.), Managing Plant Genetic Diversity, New York 2002, S. 1-23, hier S. 1.

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sprachliche Ausdruck, sondern der Begriff, so sammelt er überhaupt nicht.“4 Was also wird in Biobanken gesammelt und ist die Frage nach dem Was überhaupt die richtige? Es wäre einfach, es mit der Aussage bewenden zu lassen: In Biobanken werden „biologische Dinge“ gesammelt. Aber wesentlich sind sie keine Dinge,5 weil sie das Potenzial zum Wachsen und Werden haben. Sie sind, wenn auch nur partiell, latent und somit im weitesten Sinne Lebewesen und manifestieren Lebensformen: Pflanze, Mikrobe, Tier. Biologisch handelt es sich um „Domänen“ des Lebens. Gesammelt werden aber nicht Lebewesen, sondern Teile von Lebewesen, genauer: von typischen Lebewesen, die sowohl auf das Lebewesen wie auch auf eine größere Kategorie des biologischen Lebens hinweisen, zuvorderst auf die Spezies oder die Population. Semantisch gesehen, werden Referenten gesammelt. Materiell gesehen, soll der gesammelte Teil ermöglichen, das Ganze zu regenerieren oder genetisch zu ‚restaurieren‘ – und Teil wie Ganzes können biologisch sehr verschieden gefasst und bezeichnet werden. Der Teil mag ein Same, ein Klon, eine Zelle, ein Gen sein; das Ganze ein Lebewesen, ein Organismus, ein Genom, eine Spezies, eine Population oder ein Genpool. Ferner können sich Teil und Ganzes je nach eingesetzter Biotechnik und Objektkonfiguration interpretatorisch vertauschen, so dass z. B. die Zelle eines Klons ein Teil desjenigen Ganzen ist, das in der Biobank als „klonales Gewebe von xy“ firmiert. Metaphysisch gesehen, werden lebende Potenziale gesammelt. Alternativ sprechen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Biobanken oft davon, dass sie „Optionen“ oder „genetische Ressourcen“ sammeln, und damit Potenziale und Möglichkeiten des Lebenden. Aber Gene, Ressourcen und Optionen leben nicht. Sie fallen dem Begriff nach nicht unter „Biobank“. Derartige ontologische und metaphysische Probleme durchziehen die Frage nach der Lebendsammlung und können hier nicht als solche eigens bearbeitet, aber wenigstens markiert und differenziert werden. Ziel ist vielmehr, das Denken von Einheit(en) in der Vielfalt der Objekte sowie der Bezeichnungen in und von Biobanken pragmatisch zu ermöglichen – ein Wagnis, das vielleicht Widerspruch 4 5

Sommer, Manfred, Sammeln. Ein philosophischer Versuch, Frankfurt a. M. 1999, S. 27. Vgl. Schark, Marianne, Lebewesen versus Dinge. Eine metaphysische Studie, Ber­ lin 2005.

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bei den jeweiligen Spezialisten hervorrufen wird, was billigend in Kauf genommen werden muss. So nimmt die Untersuchung ihren gedanklichen Ausgang von der bislang nur dem pflanzlichen Bereich zugeordneten Samenbank und legt hypothetisch zugrunde, dass alle Biobanken des nichtmenschlichen Bereichs6 „Samen“ im weitesten Sinne sammeln. Denn der Same erscheint wie ein verdinglichtes Wesen seiner selbst. Er ist geronnene Zeit, der Vergangenheit und Zukunft gegenwärtigt. Er kann je nach wissenschaftlichem Kontext ein oder mehrere Lebewesen (eine Population) oder eine Spezies indizieren, mehr noch in aggregierter und gelagerter Form im Einweckglas in der Samenbank. Abb. 1: Blick in einen Kühlraum der Genbank am IPK Gatersleben. Abgebildet ist der Ausschnitt eines Regals mit Akzessionen in Form von Einweckgläsern, in denen in Plastiktütchen verpackte Muster mit Samen einer Sorte oder Varietät lagern. In diesem Fall handelt es sich um Akzessionen der verschiedenen Strahlenmutanten des Großen Löwenmauls (Antirrhinum ma­ jus), einem genetischen Experimentalobjekt des langjährigen Sammlungsleiters Hans Stubbe sowie dessen Lehrers Erwin Baur.

Ähnliche Indexfunktion haben in Biobanken auch die Petrischalen mit klonalem Gewebe von Pflanzen und Tieren oder die Glasröhrchen mit Isolaten von Bakterienstämmen. All diese Sammlungsobjekte verkörpern lebende Wachstumspotenziale, Handlungsoptionen und Möglichkeiten, ohne jedoch selbst einen Körper zu haben. Sie sind auch in ihrer nur durch Glasbehältnisse fixierten Vorläufigkeit „Samen“. Damit wäre die Begriffsintension der Biobank als Samenbank hypothetisch zunächst geklärt (weiterführend s. Abschn. 3 u. 5). Ihre Begriffsextension lässt sich dabei nicht als 6 Selbst wenn Vieles des Folgenden auch für Biobanken des Humanbereichs gilt, so doch nicht für Blut- und Serumbanken. Dort werden nicht Einheiten des Lebens, sondern Medien gesammelt. Im genaueren Blick teilen sich auch diese wieder in Einheiten auf, weshalb es parallel zur allgemeineren Kategorie der Blutbank auch die spezifische der Plasmabank gibt.

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feste bestimmen, aber in Form von Liminalitäten und Graduali­ täten fassen, die ihren Fluchtpunkt in einem spekulativen Begriff von „Same“ haben. Der Grund für diese Komplizierung liegt in dem Wunsch, der allgemeineren Komplexität vieler (nicht aller) Biobanken gerecht zu werden. Denn wie zu zeigen sein wird, kann die Extension zumeist nicht eindeutig in der biologischen Domäne und ihrer Bezeichnung gefunden werden, derart, dass dem Namen nach mikrobielle Sammlungen nur Mikroben,7 tierische nur Tiere,8 pflanzliche nur Pflanzen und auch die humanen Biobanken nur Lebendmaterial von Menschen beherbergen würden. Ein Grund liegt darin, dass Biobanken nicht nur Sammlungs-, sondern auch Forschungsinstitutionen sind. Sie stellen u. a. Forschungsmaterial bereit, in ihnen wird aber auch selbst geforscht.9 Die Weisen des Ordnens und Zusammenstellens, die hier bezüglich Samenbanken ausgeführt werden, sortieren Formen der „Lesbarkeit der Welt“ vor. Welcher Art diese Welt ist und inwieweit sie sich noch auf „Natur“ und „Leben“ bezieht, wird zu diskutieren sein. Wie Hans Blumenberg betonte, ist zur Ausleuchtung einer lesbaren Welt neben der fundamentalen Anschaulichkeit qua universalisierender Begrifflichkeiten – „die Welt als Buch“, das „Buch der Natur“ sowie hier: die „genetische Ressource“, die „Genbank“ und die „Samenbank“ – auch der „hintergründigen Anschaulichkeit“ philosophisch zuzuarbeiten. Zu einem Buch würden etwa die Seiten, das Papier, der Leser, der Text, die Autorin, die Bibliothekarin und das Ordnungssystem Bibliothek gehören; zur Bank der Banker, das Kapital, das Sichern und Investieren, und zwar in Form von Gütern, Werten wie auch von Daten (Datenbank). Zum „Gen“ das 7 Die deutsche Mikrobenbank DSMZ sammelt z. B. auch menschliche Zelllinien (vgl. Overmann, in diesem Buch) sowie pflanzliches Gewebe (vgl. Schumacher, in diesem Buch). 8 Die Zellbank für Wildtiere „Cryo-Brehm“ sammelt auch menschliche Zellen, weil sie zur Stammzellforschung arbeitet (vgl. Kruse und Ciba, in diesem Buch). 9 Wolf et al. sprechen deshalb von „biobank research systems“, die auf einer Drei­ teilung beruhen: 1.) den material- und datenliefernden Sammler-Forschern, 2.) die Biobank selbst, inklusive der in ihnen arbeitenden ForscherInnen, 3.) exter­ ne und somit „sekundäre“ ForscherInnen, die Zugriff auf Material und Daten der Biobank haben oder gewährt bekommen. Vgl. Wolf, S. M.; Crock, B. N.; Van Ness, B. et al., „Managing incidental findings and research results in genomic research involving biobanks and archived data sets“, in: Genetics in Medicine, 14(4)/2012, S. 361-384. Die genannte Dreiteilung trifft konzeptionell auch auf die Sammlungsform des Archivs zu, kann also nicht als spezifisch für Biobanken betrachtet werden.

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Genom und die Genesis (Zeugung), und zum „Same“ die Pflanze, die Samenbank und die Agrikultur. Denn „gerade bei einer Metaphorik der Totalität von Natur und Welt kommt es auf das Maß der Stimmigkeit an, mit der die Aussagemittel […] ineinandergreifen, sich gegenseitig stützen und erhellen oder auch stören.“10 Im Folgenden wird es vordringlich um das Hervorheben von Störungen gehen, die von der raumzeitlichen Liminalität der Institutionen und ihrer Sammlungsobjekte herrühren, aber auch auf der Gradualität technischer und natürlicher Parameter beim Bewahren des Lebenden beruhen, wie überhaupt auf der Gradualität von le­ bend und tot, die sich im Same zeigt. Die Ausdrücke bringen in die Anschauung, dass es bei Lebendsammlungen darum geht, nicht nur Entitäten, sondern auch Prozesse aufzubewahren. Ein Ausblick visio­ niert die Samenbank als Heterotopie. Im Kern der Betrachtung liegen nominell ausschließlich die Biobanken des nichtmenschlichen Bereichs, womit eine erste Liminalität benannt ist: die zu reflektierende Grenze zum Menschen als einem biologischen, natürlichen und kulturellen Wesen. Sie kann für das Nachfolgende nicht durch einfache Negationen definiert werden, etwa indem man schlicht darauf verweist, dass der Mensch kein Tier, keine Pflanze und auch keine Mikrobe ist, und damit die Sammlung humanbiologischen Materials grundsätzlich verschieden von dem seiner nichtmenschlichen Mitwesen sei. Unter den Standardisierungserfordernissen der Biotechnologie und der Interdisziplinarität der Genomforschung, die alle Biobanken durchdringen und umfassen, trifft dies nicht zu. In der Perspektive der Koevolution von Mikrobe, Pflanze, Tier und Mensch sind ebenfalls Zweifel an einer scharfen Trennung angebracht, weshalb zur Infektionsforschung arbeitende Sammlungen, zuvorderst die Mikrobensammlungen, oft Humanmaterial mitsammeln. Umgekehrt fühlen sich Sammlungen mit Humanmaterial bisweilen auch für Mikroben zuständig, und zwar weit jenseits der klassischen Infektionsforschung. Versteht man z. B. den Menschen medizinisch als einen Super-Organismus, der mit seiner Darmflora ein „erweitertes Genom“ habe, dann gehören die entsprechenden Mikroben nahezu notwendig zum Menschen. So hängt für die Sammlungsziele vieles davon ab, wie „Mensch“, „Tier“, „Pflanze“ und „Mikrobe“ modelliert werden. Auch die für humane Biobanken geltenden ethischen und rechtlichen Regularien, die vordringlich auf den „informierten 10 Blumenberg, Hans, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 1986, S. 15.

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Spender“ von Lebendmaterial und damit auf eine Person abzielen,11 ergeben für das wissenschafts- und technikphilosophische Anliegen, das in diesem Beitrag verfolgt wird, kaum Eingrenzungskriterien. Denn sie beziehen sich auf die Herkunft des Materials, aber nicht auf den praktischen Umgang mit ihm in der Sammlung. Aus diesem lassen sich potenzielle Zukünfte des Materials erst entwickeln. Hinter dem im Biobanking oft benutzten Ausdruck „Material“ bzw. „Lebendmaterial“ verbirgt sich bereits ein tiefgreifender Reduktionismus, der das Lebende als Totes und das Biotische als Abiotisches verhandelt. Er wird unschwer erkennbar, wenn man eine Lebendsammlung mit einer Materialsammlung12 gleichzusetzen versucht und sie damit ihrer differentia specifica beraubt: dem Lebendstatus ihrer Objekte. Die einleitende Frage nach dem Was des Sammelns muss daher in ihrer Verschränkung mit dem Wie des Sammelns gestellt werden. Die scheinbar fixe Grenze zwischen ‚humanem‘ und ‚nichthumanem‘ Biobanking existiert demnach nicht bezogen auf die allgemeinere Form des biologischen Sammlungsobjekts als (re)generative Einheit, die zu einer solchen in der Bank erst gemacht werden muss;13 ferner nicht bezogen auf dessen sammlungstechnische Objektkonfiguration sowie bezogen auf die zugehörigen Erhaltungstechniken, unter Einschluss derjenigen der Kryotechnologie, der Bioinformatik und der Datenbanksysteme. An diese Liminalität des als spezifisch menschlich zu bezeichnenden Sammlungsobjekts schließt eine nor11 Als Überblick und für weiterführende Literatur siehe Solbakk, Jan Helge; Holm, Søren und Bjørn Hofmann (Hg.), The Ethics of Research Biobanking, Dordrecht 2009; Dabrock, Peter; Taupitz, Jochen und Jens Ried (Hg.), Trust in biobanking. Dealing with ethical, legal and social issues in an emerging field of biotechno­ logy, Heidelberg, New York 2012. Das Biobanking im Humanbereich wird nach­ folgend wegen des genannten Fokus des Beitrags nicht weiter explizit behandelt. 12 Entsprechende Kritik findet sich bei Flitner, Michael, Sammler, Räuber und Gelehrte. Die politischen Interessen an pflanzengenetischen Ressourcen 1895– 1995, Frankfurt a. M. 1995. Dass das Tote auch bei der Biopatentierung maßgeb­ lich für das Lebende ist, analysieren Braun, Veit und Bernhard Gill, „Biofakte auf dem Weg vom Labor ins Patentamt“, in: Gill, Bernhard; Torma, Franziska und Karin Zachmann (Hg.), Mit Biofakten leben. Sprache und Materialität von Pflanzen und Lebensmitteln, Baden-Baden 2018, S. 129-154 (im Erscheinen). 13 Selbst bezogen auf humane Tumorbanken wäre festzuhalten, dass auch pflanzli­ che Samenbanken sowie Mikrobenbanken bisweilen Pflanzentumore sammeln. Ein Unterschied besteht auf der Ebene der allgemeinen Sammlungsziele, d. h. darin, dass sich aus menschlichen Tumorzellen bis dato kein menschliches Lebe­ wesen regenerieren lässt (was auch kein Ziel von humanen Tumorbanken ist), wohingegen Pflanzenzellen theoretisch alle totipotent sind (vgl. Abschn. 5.1).

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mative Gradualität an: Anders als menschliche Personen14 können Mikroben, Pflanzen und Tiere weder sich noch ihre Teile bewusst spenden, sondern in der Denkart von Biobanken des nichthumanen Bereichs werden sie im Prozess des Sammelns an verschiedenen Orten „(ein)gesammelt“, „(auf)bewahrt“ und „(bereit)gestellt“. Deutlich wird, dass auch „Sammeln“ auf Gradualitäten fußt, zuvorderst der von sichernden Handlungen. In der „Sammlung“ finden diese eine ihrer Grenzen. Eine weitere finden sie im Tod der Objekte, der diesseits und jenseits der Sammlung eine objekt- wie weltkonfigurierende Rolle spielt. Denn vordringlich geht es bei Biobanken unter der heutigen Dominanz der Biodiversitätsforschung (s. u.) und damit auch der Populationsgenetik darum, ob das Objekt und die Kategorie von Lebewesen, die es indiziert, in der Welt „drinnen“ in der Bank oder „draußen“ besser aufgehoben ist. Der allgemeine Hinweis, dass man „Vielfalt“ oder „Biodiversität“ sichern wolle, hilft dabei wenig weiter. Vielmehr wird damit die Frage nach dem Was und Wie des Sammelns mit der nach dem Wozu des Sammelns verwoben, was weitere begriffliche Klärungsbedarfe nach sich zieht. Anders als in der Bioethik oft vermutet,15 bezieht 14 Diese Einschränkung verweist auf die bio- und medizinethische Problematik nicht zustimmungsfähiger Menschen, um deren Personenstatus gerungen wird. 15 Nicht ganz zu Unrecht wird einigen Bioethiken, zuvorderst der Tierethik und der Pflanzenethik, ein Spezies-Essenzialismus (species essentialism) unterstellt, der sich nicht zuletzt wegen der Vielzahl an biologischen Spezies-Konzepten kaum halten lässt. Prominent wird diese Engführung gegenwärtig verhandelt in den unterschiedlichen Werten und Normen, die für den Schutz des Wildtiers Wolf einerseits und des Haustiers Hund andererseits in Anschlag gebracht wer­ den, obgleich beide keine Kreuzungsbarriere haben, biologisch unter die gleiche Spezies Canis lupus fallen (wie auch der Dingo) und der Hund züchterisch aus dem Wolf hervorgegangen ist. Ferner wandert der Wolf in Deutschland jüngst in die domestizierte Sphäre des Menschen ‚ein‘ bzw. kommt in sie zurück. Vgl. Köchy, Kristian, „Von Wölfen, Hunden und Menschen. Zur Rolle der Natur­ philosophie in der Tierethik“, in: Kirchhoff, Thomas, Karafyllis, Nicole C. et al. (Hg.), Naturphilosophie. Ein Lehr- und Studienbuch, Tübingen 2017, S. 303312. Die Bioethik der Humangenetik hat hingegen bereits mit Blick auf die men­ schenverachtenden Forschungen an menschlichen Rassen, spätestens aber beim sammlerischen Zugriff auf Lebendmaterial der genetisch lange Zeit hochgradig isolierten Bevölkerung Islands eine kritische Perspektive auf den Speziesismus eingenommen und populationsgenetisches Denken beleuchtet, das immer auch eugenisch und züchterisch wegweisend war. In Konsequenz geht es in der Ethik der Humangenetik u. a. um Fragen der Solidarität und des Schutzes der kulturel­ len Vielfalt. Überblicksartig siehe Knoppers, Bartha Maria und Ruth Chadwick, „Human genetic research: emerging trends in ethics“, in: Nature Reviews Ge­ netics, 6(1)/2005, S. 75-79. Dort auch ein Hinweis auf die Rolle von Biobanken.

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sich Biodiversität in der nutzenorientierten Forschung eher seltener auf die Diversität von biologischen Arten (zwischenartliche Diversität; engl. interspecies diversity),16 sondern auf Populationen, Varietäten und Mutanten, oder in der Sprache der Züchtung: auf Sorten, Rassen und deren „wilde Verwandte“17 (innerartliche Diversität; engl. intraspecies diversity). Die äußere Welt ist hier nicht nur die einer mehr oder weniger natürlichen Umwelt (unter Einschluss von Garten und Acker), sondern auch eine des kapitalistischen Marktgeschehens und seiner Verdrängungsmechanismen. Dies wird etwa an folgender Standarddefinition einer Saatgutbank deutlich: „A seed bank is an organization or facility used to store and preserve plant seeds, in particular varieties that are rare, have fallen out of commercial use, and/or may have unique desirable genetic characteristics.“18 Die Definition versucht, das ‚innere‘ wie ‚äußere‘ Weltgeschehen von Kulturpflanzen und ihren Sorten zu würdigen, d. h. sie operiert bereits auf der Ebene der Agrobiodiversität als einer Variante von innerartlicher Diversität (die bei Pflanzen eigentlich mit Bezug auf die Gattung, lat. genus, „innergenerische Diversität“ heißen müsste, da die Art hier zumeist keine Kreuzungs- oder Züchtungsbarriere darstellt). Jenseits der Samenbank werden die zu sammelnden Objekte als einerseits bedrohte Varietäten von ‚Lebewesen‘ übercodiert, andererseits auf ihre „genetischen Ressourcen“ reduziert und damit als Reservoire von DNA betrachtet.19 Im Inneren der Bank sind die Objekte Samen (engl. seeds), d. h. lagerfähige lebende Potenziale. Mit diesem Zuschnitt reproduziert die Definition diejenigen ambivalenten Ziele, die seit den 1960er Jahren mit der ökologisch und

16 So noch in der naturschutzfachlichen und in der taxonomischen Forschung. 17 So im sammeltechnischen Fachausdruck crop wild relative (CWR), dem wil­den Verwandten einer Kulturpflanze, die im Falle von Getreiden bestimmte Wild­ gräser sind und jüngst prioritär besammelt werden (vgl. die Beiträge von Frese sowie Karafyllis und Lammers, in diesem Buch; dort auch weiterführende Lite­ ratur). 18 Cohen, Shayna, „Seed Banking, Seed Saving, and Cultivating Local Varieties“, in: Thompson, Paul B. und David M. Kaplan (Hg.), Encyclopedia of Food and Agricultural Ethics, New York 2014, S. 1642-1648, hier S. 1642. 19 Vgl. kritisch etwa Juma, Calestous, The Gene Hunters: Biotechnology and the Scramble for Seeds, Princeton/NJ 1989; Cummings, Claire H., Uncertain peril: Genetic engineering and the future of seeds, Boston 2009.

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v. a. züchterisch motivierten plant genetic resources movement20 entstanden und durch die FAO institutionell gerahmt wurden: Ernährungsgrundlagen für die Zukunft sichern, globale Generosion aufhalten und Agrobiodiversität als kulturelles Erbe der Menschheit bewahren. Dies führte im pflanzlichen Bereich ab ca. 1970, und damit zur Anfangszeit der Gentechnik, zu zahlreichen Gründungen von modernen Samenbanken. Viele von ihnen nannten sich Gen­ banken, zumindest in der Sphäre der NATO-Staaten. Bei genauerem Hinsehen war dies aber schon die zweite Welle der Institutionenbildung. Denn vergleichbare Ziele wurden mit anderen Termini schon vor dem Zweiten Weltkrieg formuliert, als sich nach Vorbild des um 1920 gegründeten Vavilov-Instituts die britische Samenbank und das deutsche Kaiser-Wilhelm-Institut für Wildsippenfor­ schung (ab 1938)21 als Sammlungsinstitutionen formierten.22 Der Definition nach operieren Samenbanken sowohl vergangenheits- wie auch zukunftsorientiert. Dies ist in der Tat ein Kerncharakteristikum, was sie an andere Sammlungsformen wie v. a. Bibliothek und Archiv anschlussfähig macht. Denn jene Sammlungen beherbergen nicht nur Objekte, sondern bewirtschaften bestimmte Zeitpolitiken. In diesen Zeitpolitiken werden die Objekte z. B. entweder, vergangenheitsorientiert, als solche des „kulturellen Gedächtnisses“, des „kulturellen Erbes der Menschheit“ und 20 Pistorius, Robin, Scientists, Plants and Politics. A History of the Plant Genet­ ic Resources Movement, Rome 1997. Zur Entstehung des Ausdrucks genetic erosion vgl. S. 9. Zur europäischen Perspektive vgl. Saraiva, Tiago, „Breeding Europe. Crop Diversity, Genebanks, and Commoners”, in: Disco, Nil und Eda Kranakis (Hg.), Cosmopolitan Commons. Sharing Resources and Risks across Borders, Cambridge/MA 2013, S. 185-212. 21 Hier handelt es sich um die Vorläuferinstitution des heutigen IPK Gatersleben. Häufiger wird das vormalige KWI mit dem alternativen Zusatz „für Kultur­ pflanzenforschung“ zitiert, was auch richtig ist, sich aber erst einige Jahre nach den Gründungsdokumenten als Eigenbezeichnung manifestierte. „Wildsippen­ forschung“ entstammt dem formalen Gründungszeitpunkt 1938 und der ent­ sprechenden biologischen Sinngebung des Botanikers Fritz von Wettstein (1895– 1945). Siehe dazu den Aktenbestand im BA Berlin, Signatur R3601/3106b. Ute Deichmann (Biologen unter Hitler, Frankfurt a. M. 1992, S. 138, Fn. 18) fand auf anderer Aktenbasis auch den Namen KWI für „Kulturpflanzen-Primitivfor­ schung“. 22 Für die dt. Aktivitäten s. Heim, Susanne, Kalorien, Kautschuk, Karrieren. Pflan­ zenzüchtung und landwirtschaftliche Forschung in Kaiser-Wilhelm-Instituten 1933–1945, Göttingen 2003; ferner Flitner, Sammler, Räuber und Gelehrte. Für die USA vgl. jüngst Fullilove, Courtney, The Profit of the Earth. The Global Seeds of American Agriculture, Chicago, London 2017.

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des „enzyklopädischen“ oder „dokumentierten“ „Wissens“ konfiguriert und gegenwärtig gemacht (als Samen); oder sie erscheinen zukunftsorientiert als Einheiten und Orte möglicher Forschungsanstrengungen und Innovationen (als genetische Ressourcen). Das „oder“ meint hier keine ausschließende Disjunktion, sondern eine ambivalente Disposition der Objekte, die man auch als „flexibel“ bezeichnen könnte. Sie können Verschiedenes zur Sprache bringen und als Mittel zu verschiedenen Zwecken dienen. Für Samenbanken hat sich jene ambivalente Disposition der lebenden Objekte durch die Convention on Biological Diversity (CBD) sedimentiert. Denn in der CBD sind Samenbanken und andere Lebendsammlungen terminologisch festgelegte Horte der exsitu-conservation.23 Sie haben die Aufgabe, Biodiversität (wie auch immer diese ausbuchstabiert wird)24 jenseits der natürlichen Orte25 von Arten, Populationen etc. zu schützen (vgl. dazu kritisch Frese, in diesem Buch). Wir haben es also mit zwei Formen von Sprachspielen zu tun, die durch die Kühlkammern der Samenbank materiell und semantisch getrennt werden. In ihrem Inneren leben die Objekte „gesichert“ und „bewahrt“ vor Verfall und Vernichtung (im Englischen oft als safeguarding ausgedrückt), wohingegen im Außen die Risiken von Klimawandel, Bodendegradierung, indus­ trieller Landwirtschaft und Monokultur lauern, wenigstens für Tiere und Pflanzen (potenziell auch für Mikroben). Die Ziele reichen demnach vom Aufbewahren über das Bewahren bis zur Nutzung von „Samen“. Die mit den obigen Zielen verbundenen Ambivalenzen sind charakteristisch für alle modernen Lebendsammlungen, d. h. auch jen23 Vgl. Art. 9 der Convention on Biological Diversity (1992) der UN, s. Anhang A in diesem Buch. 24 Vgl. schon die frühe Kritik von Thomas Potthast, Die Evolution und der Natur­ schutz. Zum Verhältnis von Evolutionsbiologie, Ökologie und Naturethik, Frank­ furt a. M. 1999. 25 Dieser Ausdruck ist nicht unumstritten, weil er mindestens evolutionsbiolo­ gisch oder kulturhistorisch verstanden werden kann, ebenso wie „Herkunft“. Im Fachjargon der Konservierung genetischer Ressourcen betont man umgekehrt den Zielort und spricht von introduction. Die vor ca. 500 Jahren von Latein­ amerika nach Europa transportierten und dort weitergezüchteten Kartoffel-, Tomaten- und Maisvarietäten mögen dies verdeutlichen, ebenso wie umgekehrt die durch europäische Migranten in die USA verbrachten Apfelsorten, die es zum Teil in Europa nicht mehr gibt. Man spricht deshalb mit Bezug auf den ‚Sortenerhalt‘ durch Migration und damit in ethnologisch-anthropologischer Stoßrichtung auch von trans-situ conservation.

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seits des pflanzlichen Bereichs. Sie sollen sowohl zum Naturschutz, zum Erhalt des kulturellen Erbes wie auch zur züchterischen oder medizinischen, oder allgemein: anwendungsorientierten Forschung beitragen. Ein Großteil dieser Ansprüche entsteht zu Beginn des 20. Jh.s. Sie kennzeichnen die Institutionen als „moderne Samenbanken“ und grenzen sie von älteren und kontextspezifischeren Lebendsammlungen ab. Die Lebewesen leben in hochtechnisierten Umgebungen, in denen Kryotechnik, Informationstechnik und Biotechnik interagieren. Die Sammlungen sollen sich heute ferner diversifizieren, mit „Kernsammlungen“ (core collections) profilieren und international vernetzt sein. Sie bezeugen damit Ansprüche eines globalisierten und marktorientierten Wissens- und Wissenschaftsverständnisses, wozu auch gehört, dass sie dem Zugriff kommerzialisierter Forschung ausgesetzt sind. Dabei stehen sie unter zunehmend hohem Rationalisierungsdruck, der Sammlungsökonomien26 folgt, z. B. dem Aussondern von Duplikaten. Dies fällt unter „Deakzessionieren“ oder einfacher „Entsammeln“ und orientiert sich am Aussondern von Dubletten in Bibliotheken – aber kann man Lebendsammlungen und ihre Objekte wirklich mit Büchern oder Dokumenten vergleichen? Bislang fehlen begrifflich angeleitete Untersuchungen, die darlegen könnten, was eine Lebendsammlung ist. Der definitorische Versuch, darunter alle Formen von gesammeltem Leben und wiederum dessen Formen zu verstehen, ist wenig hilfreich. Eine weitere theoretische Vakanz betrifft die Leitdifferenzen lebend/tot und natürlich/technisch mit Bezug auf Sammlungstheorien. Bisherige Sammlungsgeschichten nehmen fast ausschließlich Artefakte und damit tote Objekte in den Blick: Bücher in Bibliotheken, Akten in Archiven, Gemälde, Vasen, Knochen und Präparate in Museen. Daran sind auch die existierenden sammlungstheoretischen Ansätze und ihre Begrifflichkeiten orientiert – wenngleich Lorraine Daston jüngst mit Blick auf das Archivieren von Daten und anderem Ungewöhnlichen gefragt hat, ob man nicht „Archiv“ neu denken müsse, denn: „the historians’ archives dominate our collective imagination of all archive research“.27 Dabei könnten auch die Metaphern von 26 Weiterführend Güttler, Nils und Ina Heumann (Hg.), Sammlungsökonomien, Berlin 2016. 27 Daston, Lorraine, „Introduction: Third Nature”, in: dies. (Hg.), Science in the Archives. Pasts, Presents, Futures, Chicago 2017, S. 1-14, hier S. 3.

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der „Unsterblichkeit“ der Objekte im Archiv bzw. ihrer unendlichen „Lebensdauer“ hinterfragt werden. Denn in Lebendsammlungen kommen diese Metaphern zu sich selbst. Wenig produktiv ist der kulturwissenschaftliche Reflex, mit dem durchaus berechtigten kritischen Blick auf das Präfix „Bio“ die Biobank als Dispositiv der „Biomacht“ oder „Biopolitik“ pauschal zu brandmarken,28 ohne sich mit ihren Praxen, Objekten und Zielsetzungen genauer auseinandergesetzt zu haben. Samenbanken stehen selbst unter einem immensen politischen Druck von Ministerien wie Lobbyisten, sich für die biotechnologische Forschung nützlich zu machen.29 Aussichtsreich für ein theoretisierendes Anliegen ist der Versuch, mit den Konzepten Akkumulieren, Diversifizieren und Indizieren zu arbeiten, wie sie in der Sammlungsphilosophie von Sommer vorgeschlagen wurden.30

2. „Lebendsammlung“ und zugehörige Sammlungslogiken „Lebendsammlung“ bleibt der vorerst wichtigste Oberbegriff, um darunter fallende Objekte immerhin als lebende Objekte von den Artefakten der Totsammlung (Bibliothek, Museum, Archiv) abzugrenzen. Der Ausdruck „Biobank“ ist etwas präziser und dem der „Lebendsammlung“ untergeordnet, weil er sich bereits auf biologische Lebensverständnisse und eine räumliche Begrenzung konzen­

28 Michel Foucault, dessen Spätwerk diese Begriffe entstammen, hat dies meines Wissens nicht getan, und hätte doch eingedenk seines Werks Die Ordnung der Dinge (Frankfurt a. M. 1974), in der die klassifikatorischen Bemühungen um Pflanzen u. a. mit Rückgriff auf botanische Gärten abgehandelt werden, eine auch später noch naheliegende Möglichkeit dazu gehabt (s. dazu Abschn. 6 des vorliegenden Beitrags). Für Biobanken sähe seine Einschätzung womöglich an­ ders aus. 29 Einige der politischen Auseinandersetzungen habe ich geschildert bzw. die Ak­ teure schildern lassen in Karafyllis, Nicole C., „Biofacts, Bioprospecting, Bioban­ king: a reality check of seed banks“, in: Maasen, Sabine; Dickel, Sascha und Chris­ toph Schneider (Hg.), TechnoScienceSociety: technological reconfigurations of science and society, Heidelberg, Berlin: Springer 2018 (im Erscheinen). Am Beispiel der italienischen Kulturpflanzenbank in Bari wird dort hervorgeho­ben, wie die von staatlicher Seite bewusst mangelnde Finanzierung von Kühl­technik und deren Instandhaltung dazu führen kann, staatliche Lebendsammlungen in biotechnologisch innovativ orientiertere Institutionen integrieren zu ‚müssen‘. 30 Sommer, Sammeln.

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triert.31 Diese Kennzeichen machen die Biobank zu einer vergleichsweise jungen Institutionsform. Wenn wir uns auf den weiter reichenden Ausdruck „Lebendsammlung“ beziehen, so gehören auch gesammelte Tiere und Pflanzen in Zoologischen und Botanischen Gärten dazu, d. h. deutlich ältere Sammlungen. Die gemeinsame Zugehörigkeit von Gärten (inklusive Arboreten) und Biobanken zu Lebendsammlungen wird genealogisch wie funktional begründet (s. u.). Als Sammlung umfassen Zoos und Botanische Gärten aber ein anderes, älteres System von Referenzen, das weitgehend unverträglich ist mit dem von modernen Biobanken. Wir können auch sagen, dass beide unterschiedlichen Sammlungslogiken folgen. Dies wird insbesondere dann zum Problem, wenn sie, wiederum mit Bezug auf den Universalisierungsanspruch von „Leben“ und „Bio“, für eine allumfassende Biodiversitätsforschung auf einen sammeltechnischen und sammlungstechnischen Nenner gebracht werden sollen;32 oft sogar noch unter Einbeziehung desjenigen, was gelebt hat, d. h. von Totsammlungen in Naturhistorischen Museen.33 Aus deren Präparaten kann man mittlerweile DNA isolieren und biotechnisch wieder 31 Dass „Biobank“ selbst nur im humanen Anwendungsbereich sehr Verschiede­ nes bedeutet und wegen Regulierungsauflagen sogar dazu führen kann, eine Le­ bendsammlung bewusst nicht als „Biobank“ zu titulieren, erläutern Shaw, David M.; Elger, Bernice S. und Flora Colledge, „What is a biobank? Differing defini­ tions among biobank stakeholders“, in: Clinical Genetics, 85/(3)/2014, S. 223227. Ein anderer Artikel versucht, eine „common language“ des Biobanking im humanmedizinischen Bereich quantitativ zu definieren, räumt aber ontologische Probleme und die nationalen Grenzen relevanter juristischer Termini ein. Zur Eingrenzung der Definition dienten die folgenden zehn Deskriptoren: „biobank, sample/specimen, sample collection, study, aliquot, coded, identifying informa­ tion, anonymised, personal data and informed consent“. Vgl. Fransson, Martin N.; Rial-Sebbag, Emanuelle; Brochhausen, Mathias und Jan Eric Litton, „Toward a common language for biobanking“, in: European Journal of Human Genetics, 23(1)/2015, S. 22-28. Die Autoren weisen ferner darauf hin, dass es unterkom­ plex ist, Biobanken nur als Forschungsinstitutionen zu verstehen. 32 Die hier vorgestellte Problematik der Unvereinbarkeit von verschiedenen Le­ bendsammlungen zeigt aktuell die schwierige informationstechnische Aggregie­ rung von Dokumentationsdaten (Metadaten) aus verschiedenen Sammlungsfor­ men und Datenbanken und deren kaum mögliche Überführung in einheitliche Metametadaten für größere Datenportale der Biodiversitätsforschung. Denn die Metadaten waren bereits funktional orientiert für die jeweilige Sammlung. 33 Naturhistorische Museen tragen zur science of conservation biology bzw. Biodi­ versitätsforschung bei. Vgl. Shaffer, H. Bradley; Fisher, Robert N. und Carlos Da­ vidson, „The role of natural history collections in documenting species declines“, in: Trends in Ecology & Evolution, 13(1)/1998, S. 27-30.

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in lebende Zellen einbringen. Hier ergibt sich eine Gradualität für die Sammlungsinstitution: Wie tot muss etwas sein, um wirklich in eine Totsammlung zu gehören? Und wie lebend, um in einer Lebendsammlung richtig aufgehoben zu sein? 2.1 Sammlungslogiken Wie kann man die zwei grundsätzlich verschiedenen Sammlungslogiken in Lebendsammlungen möglichst einfach und idealtypisch beschreiben? Beginnen wir mit den Botanischen und Zoologischen Gärten. In diesen Gärten werden jeweils lebendige Exemplare (engl. specimens) gesammelt, d. h. wenige Individuen. Sie fungieren sowohl als Repräsentanten von Organismusmodellen wie als typische Vertreter von Spezies (taxonomisch: „Typen-Exemplare“) und Ökosystemen.34 Damit sammeln die Gärten sie klassifikatorisch und bezogen auf sichtbare, eindeutige Unterschiede.35 Das Sammlungsobjekt ist das einer Art und nicht der logischen Konjunk­ tion nach „der-und-der Art“. Die Grenze des Bestands ist durch ein System natürlicher Arten und Ökosysteme bestimmt, das jeweils die Hierarchien und Relationen zwischen den Sammlungsobjekten biologisch festlegt. Imaginär (!) könnten nach vollständiger Kenntnis aller auf der Welt existierenden Spezies diese exemplarisch eingesammelt und in einen einzigen Garten verbracht werden, der das natürliche System in seiner Gesamtheit materialisieren würde. Nach fast unendlichem, additivem Sammeln wäre die Sammlung also irgendwann vollständig.36 (Dass dabei unterschiedliche evolutionäre und genetische Dynamiken ins Spiel kommen, muss für dieses Gedankenexperiment außeracht bleiben; vgl. dazu Karafyllis und Lammers, in diesem Buch). Samenbanken hingegen denken und sammeln anders, oder: Ihre WissenschaftlerInnen bilden andere Denkkollektive und haben 34 Dass systematische und taxonomische Anliegen in der Biologie miteinander unverträglich sein können, sei hier nur erwähnt. Vgl. dazu Janich, Peter und Michael Weingarten, Wissenschaftstheorie der Biologie, München 1999, Kap. 5. 35 Sie beziehen sich dabei auf die Morphospezies. 36 Für Zoologische Gärten, die auf eine spätere Auswilderung der Arten abzielen, wird bei der „Erhaltungszucht“ stark auf die Verschiedenheit der Populationen und Abstammungslinien im Rahmen der Spezies geachtet. Durch die künstliche Umgebung im Zoo etwaig entstandene Mischlinge sollen vermieden werden, bis hin zur Tötung der entsprechenden Tiere.

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einen anderen Denkstil.37 Sie sammeln keine einzelnen Samen und auch nicht klassifikatorisch; sondern basierend auf eingelieferten Mustern (engl. samples) mit einem bereits beim Sammeln im Feld vorgeschriebenen Probenumfang (wie viele Samen pro Population müssen/dürfen gesammelt werden?) entsteht nach Prüfung auf Homogenität38 eine statistisch abgesicherte, in Behältnisse verbrachte und eingelagerte Samenmenge als Akzession39 der Sammlung. Sie dient als Referent für eine Sorte oder Varietät,40 d. h. einer Abweichung von der Art,41 oder einer „Spielart“. Deren genetische Ausstattung wird als Teil eines Genpools einer Kulturpflanze (z. B. Gerste) verstanden und gilt derart als sammelbar. Auch hier bezieht man sich theoretisch auf Typen, allerdings solche der Populationsbiologie, die je nach wissenschaftlicher Fragestellung den Genotyp, Phänotyp oder Ökotyp (bei Pflanzen auch „Sippe“) meinen. Vereinfacht gesagt, sammelt man Selektionsmerkmale als feine Unter37 Vgl. zu den Ausdrücken Fleck, Ludwik, Entstehung und Entwicklung einer wis­ senschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkol­ lektiv, Frankfurt a. M. 1980. 38 Dabei spielen Visualisierungstechniken und Bilder eine Rolle, z. B. Röntgenbilder und mikroskopische Bilder. Weiterführend Geimer, Peter (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a. M. 2002. 39 Als solche wird sie von den Verantwortlichen in der Sammlung indiziert, regis­ triert und inventarisiert. 40 Der Ausdruck „Sorte“ entstammt der agrarischen Sprache und den züchteri­ schen Einteilungskriterien Merkmalskonstanz und Unterscheidbarkeit, während „Varietät“ zur taxonomischen Sprache gehört und eine Rangstufe beschreibt, aber als variety etwa schon bei Darwin nicht trennscharf zu „Sorte“ ist. Gemeint sind in beiden Fällen, aber basierend auf unterschiedlichen Spezies-Konzepten, Abwandlungen einer Spezies in den Merkmalen und Eigenschaften, die entwe­ der züchterisch oder natürlich (durch Mutation und Selektion) entstanden sein können und die Möglichkeiten der Variation umfassen. Sorten zeichnen sich in der Moderne als Kultursorten (im Gegensatz zu Wildsorten) aus. Als Ergebnis­ se von Züchtung werden sie in einem Sortenregister registriert und bilden die kleinste Einheit in einem Sortiment des Samenhandels. Im Sprachgebrauch der Samenbanken wird „Varietät“ oft als Gegenbegriff zu „Sorte“ (entsprechend der Differenz von Natur und Kultur) und in Bezug auf die Mannigfaltigkeit von Wildpflanzenspezies verwendet. Denn anders als für Sorten gilt für diese der taxonomische Internationale Nomenklaturcode für Algen, Pilze und Pflanzen (Melbourne-Code), http://www.iapt-taxon.org/nomen/main.php (letzter Aufruf: 5.2.2018). 41 Hier handelt es sich um einen züchterischen Artbegriff, der eine Art als Stamm­ form versteht, von der ausgehend durch unbewusste oder bewusste Selektion (Züchtung) verschiedene Formen – bis hin zu merkmalsstabilen Sorten – ent­ standen.

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schiede. Diese werden einzeln oder additiv verstanden, d. h. ein Objekt ist dann „der-Art“ oder „der-und-der Art“. Jene feinen Unterschiede sind gemeinhin nicht Teil der taxonomischen Bestimmung einer Spezies.42 Philosophisch ausgedrückt, wird über das Konzept „Genpool“ die Spezies nicht inklusiv (mit Artmerkmalen), sondern exklusiv erfasst – über die Grenze des Genpools.43 Der Genpool begrenzt gleichsam die Variabilität. Aber nur bezogen auf den jeweiligen Genpool einer Kulturpflanze ist das Sammeln in Samenbanken additiv und strebt Vervollständigung an, wohingegen es bezüglich der funktionalen Orientierung der Objekte als multiplikativ zu betrachten ist. Dies liegt darin begründet, dass agrarisch orientierte Samenbanken ihre Objekte in eine Genealogie der Züchtung einordnen und sich nur sekundär auf Klassifikationen beziehen (bei der Identifikation der bereits gesammelten Objekte).44 Vielmehr sammeln sie einzelne Eigenschaften45 oder Charakteristika (z. B. Resistenzen), die einer Variante der Spezies als Besonderheit gleichsam anhaften und imaginär von dieser auch wieder abgelöst werden können, um sie z. B. als Gene der Züchtung zur Verfügung zu stellen. Die gesammelten Pflanzen bzw. Samen dienen hier letztlich nur als Medien oder Träger von bestimmten, züchterisch für relevant befundenen Eigenschaften und zeigen deren genetische Verträglichkeit an. Entsprechend bedeutet multiplikatives Sammeln, dass das Gesammelte immer wieder neue Möglichkeiten des zu Sammelnden erzeugt – weil die Eigenschaften nicht als existenzielle (zum Leben und Überleben), sondern als miteinander kombinierbare gedacht werden, und weil der Züchtungsprozess als prinzipiell unabgeschlossen visioniert wird. Die Ordnung der Sammlung konfiguriert das Objekt neu. Das gesammelte Objekt ist beim Suchen und Finden im Feld noch (logisch konjunktiv) „der-und-der Art“, weil man hier die

42 Möglicherweise aber der Subspezies. 43 Der Ausdruck intraspecies diversity täuscht darüber hinweg. 44 Dass bei der Modellierung von Evolutionstheorien schon zu Darwins Zeit das Züchtungshandeln verkannt wurde (obwohl für Darwin selbst die „künstliche Zuchtwahl“ erkenntnisleitend war) und dass Züchtungshandeln entweder kei­ nes oder eines anderen Artbegriffs bedarf als evolutionstheoretische Rekon­ struktionen schildern Janich und Weingarten, Wissenschaftstheorie, S. 227ff. 45 Was in der Züchtungssprache als „Eigenschaft“ und damit phänotypisch be­ zeich­net wird, korrespondiert in der Biologie genotypisch oft mit „Merkmal“. Philosophisch meint dies jeweils Verschiedenes, worauf hier nicht eingegangen werden kann.

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Eigen­schaften phänotypisch als einzelne erkennen muss, z. B. eine alte Weizensorte mit den Eigenschaften der Trockenheitstoleranz und Pilzresistenz. Oft wird auch auf Verdacht gesammelt, weil Eigen­schaften erst im kontrollierten Anbau bzw. im Labor sich als solche erweisen, oder die Jahreszeit des Sammelns die Eigenschaft im Feld nicht ‚zeigt‘ (z. B. Kältetoleranz). Wichtig ist: In einer auf züchterische Zwecke ausgerichteten Sammlung wird das Objekt durch den möglichen Einsatz von Züchtungstechniken (inklusive der Gentechniken) logisch disjunktiv: Es ist „der Möglichkeit nach der-Art oder der-Art“, d. h. eine Weizensorte mit Trockenheitstoleranz oder eine (andere) Weizensorte mit Pilzresistenz.46 Denn der in Samenbanken besammelte Genpool einer Spezies (oder bei Pflanzen: einer Gattung) enthält eine züchtungstechnische Gradualität, die von „Wild- und Primitivformen“ (so der Fachjargon) über Landsorten und alte Sorten hin zu Hochzuchtsorten47 reicht und auch hin zu künstlichen Mutanten erweiterbar ist (vgl. Abb. 1). Mit Bezug auf eine Unterscheidung von John Dewey folgt die erste Ordnung der Objekte in Samenbanken logisch nicht einer Klassifikation, sondern einer Einteilung (engl. division), weil die „Verbindungsnatur der Funktionen“ zwischen den Objekten nicht kategorisch festgelegt ist.48 Dies zeigt sich auch in der Sprache, in der die Objekte verhandelt werden. In der genetischen Beschreibung der Sammlungsobjekte werden entsprechend züchtungsgenetische Ausdrücke zur Diversifizierung verwendet wie „nicht selektierte Population“, „Population aus Massenauslese“, „Hybrid“, „Klon“, „reine Linie“ und „GMO“ (genetically modified organism). Die meisten von ihnen werden auch als international festgelegte Deskriptoren, d. h. informationstechnisch als künstliche Termini in festgelegten Datenformaten für die Eingabe in Datenbanken verwendet, ebenso wie die agrikulturellen Kategorien „wild“, „weedy“ und „cultivar“. Seit 2012 gilt als verbindliches Format zur Dateneingabe die Deskriptorenliste FAO/Bioversity Multi-Crop Passport V.2 mit 28 Haupt-Deskriptoren und Codierungsschemata für jede Genbankakzession von Kulturpflanzen weltweit.49 So erhält jedes 46 Da bei Pflanzen die Art (Spezies) keine feste Kreuzungsbarriere darstellt, kann die Eigenschaft auch in eine verwandte Art eingekreuzt werden. Durch Gentech­ nik ist der biologisch mögliche Bereich der Übertragung deutlich größer. 47 Für Tiere ersetze jeweils „Sorte“ durch „Rasse“. 48 Vgl. Dewey, John, Logik. Die Theorie der Forschung, Frankfurt a. M. 2002, S. 399. 49 Siehe die Webseite von Bioversity International (vormals IPGRI) unter https:// www.bioversityinternational.org/fileadmin/user_upload/online_library/pu­

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pflanzliche Sammlungsobjekt über die Vergabe von Passport-Daten eine Art Personalausweis auf Basis von standardisiert eingegebenen Identitätsmerkmalen in fixen Kategorien.50 Auf der Ebene des Dokumentationssystems können wir nun logisch wiederum von „Klassifikation“ sprechen, insofern Klassen (als Kategorien) „innerhalb des Umfangs der Kategorie mit der weitesten Anwendbarkeit abteilen. ‚Einteilung‘ ist anwendbar auf Arten in der Extension und ‚Klassifikation‘ auf Begriffe innerhalb des Umfangs.“51 Sammlungsphilosophisch würde demnach die Einteilung zum Akkumulieren, die Klassifikation zum Diversifizieren (des akkumulierten Bestands) gehören. Zwischen beiden vermittelt die Indikation und damit die Anzeige in Bezug auf einen oder mehrere Indizes, z. B. auf ein Sortenregister oder den Thesaurus einer Dokumentationssprache.52 Wichtig ist festzuhalten: Der Genpool einer Kulturpflanze ist ein Modellbegriff, der sich in vielen Mustern von je Tausenden von Samen materialisiert und diversifiziert. Materialisierung und Diversifizierung sind wiederum hochgradig abhängig von Techni­ ken, und zwar Techniken sowohl der Dokumentation, der Instandhaltung wie auch der Identifikation (z. B. jüngst qua molekularen Markern). Wenn man also in der Sprache von Samenbanken mit dem Universalsingular sagt, man sammle „die Gerste“ oder „die Kartoffel“,53 dann meint dies die Identifikation und Dokumentation vieler verschiedener Varietäten und Sorten – und sammlungstechnisch die Erhaltung von Millionen von Samen. Konzeptuell und damit sammeltechnisch ergibt sich eine Gradualität der gesam-

blications/pdfs/FAO-Bioversity_multi_crop_passport_descriptors_V_2_Final_ rev_1526.pdf (letzter Aufruf: 15.11.2017). Zur Problematik der elektronischen Genbankdokumentation s. Karafyllis, Nicole C., „Vom Biofakt zum Cyberfakt. Die Samenbank als digitalisiertes ‚Weltnetzwerk pflanzengenetischer Ressour­ cen‘“, in: Gill, Bernhard; Torma, Franziska und Karin Zachmann (Hg.), Mit Bio­ fakten leben. Spra­che und Materialität von Pflanzen und Lebensmitteln, BadenBaden 2018, S. 87-128 (im Erscheinen). 50 Diese Daten können kombiniert werden mit den züchterischen zur „genomi­ schen Selektion“. Dies meint die Erstellung von Markerprofilen ganzer Popu­ lationen, die zur Vorhersage komplexer Züchtungsmerkmale angelegt werden und mit züchterisch noch unbekanntem Pflanzenmaterial abgeglichen werden, um eine frühzeitige Auswahl für Züchtungsprogramme zu treffen. 51 Dewey, Logik, S. 399. 52 Bei Botanischen Gärten: auf den Index Seminum. 53 Vgl. zum Sprachgebrauch z. B. Hawkes, John G., The Potato. Evolution, Bio­ diversity and Genetic Resources, London 1990.

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melten Entitäten von „wild“ über „natürlich“54 hin zu „künstlich“ und „technisch“, was wir als verschiedene Grade von gesammelter Biofaktizität verstehen können (vgl. Abschn. 5.2). Diese Gradualität zeigt sich trotz unterschiedlicher Zielsetzungen auch bei mikrobiellen und tierischen Biobanken.55 Anders verhält es sich mit den wenigen ‚Individuen‘56 in Botanischen und Zoologischen Gärten, die vorwiegend Wildes und Natürliches sammeln und zur Anschauung bringen wollen. Bisweilen finden sich auch Abteilungen mit Kulturpflanzen bzw. Haustierrassen, die dem anschaulichen Vergleich mit dem jeweils Natürlicheren der Sammlung dienen, bei Tieren auch der Begreifbarkeit in Form des „Streichelzoos“. Dort kann man domestizierte Tiere im Gegensatz zu ihren wilden Verwandten anfassen. Von derartigen Ausnahmen abgesehen, entsprechen die in Gärten zur Schau gestellten Exemplare in ihrer Zeigefunktion in etwa ihren toten Brüdern und Schwestern in Schaukästen in Naturhistorischen Museen oder den Exsikaten in Herbarien. Die Exemplare sollen das jeweils für typisch Erachtete, bezugnehmend auf eine klassifizierende Einheit, in die Anschauung bringen. Von der Sammlungslogik wird hier – im Gegensatz zu Samenbanken – so gesammelt, dass „jedes Individuum von der einen oder der anderen Art sein muss, aber nicht von mehr als einer“.57 Dabei gilt in der Sammlung eine wechselseitige Beziehung zwischen den Objekten, die als Interrelationen der Objekte mitgesammelt werden. Bedenkt man, dass die koloniale Praxis der „Völkerschau“, d. h. des Ausstellens von ‚gesammelten‘ Menschen aus Übersee („Indianer“) in Zoos in Deutschland bis in die 1950er Jahre andauerte,58 so muss eingedenk der Vereinheitlichung „Lebendsammlung“ die 54 Der Untergliederung von „natürlich“ in z. B. „endemisch“, „einheimisch“ oder „indigen“ sind dabei kaum Grenzen gesetzt, je nachdem, wie Natürlichkeit in­ terpretiert wird. Vgl. weiterführend Birnbacher, Dieter, Natürlichkeit, Berlin 2006. 55 Diese Gradualität wäre auch für humane Biobanken zu diskutieren, insofern z. B. postoperatives Gewebe aus einer Biopsie, bestrahlte Tumore oder Darmge­ webe nach Antibiotikaeinsatz höhere Grade an Veränderung durch therapeuti­ sche Eingriffe (und damit Künstlichkeit) anzeigen als andere Sammlungsobjekte. 56 Die relativierenden Anführungsstriche wurden gewählt, weil Pflanzen im stren­ gen Sinne keine Individuen bilden (s. u.). 57 Dewey, Logik, S. 398. 58 So etwa eine „Indianerschau“ im Dresdner Zoo 1957 (von Borries, Friedrich und Jens-Uwe Fischer, Sozialistische Cowboys. Der Wilde Westen Ostdeutschlands, Frankfurt a. M. 2008, S. 25) und mindestens ein ausgestellter „Indianer“ im

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interne Grenzziehung zum humanen Bereich als hauchdünn angesehen werden. Diese Warnung betrifft auch die jüngeren ökonomisierenden Sprachpraxen auf genomischer und post-genomischer Grundlage und die damit verbundenen Universalisierungsstrategien. Zoos und Botanische Gärten werden mittlerweile förderpolitisch59 und damit funktional als Institutionen benannt, die „genetische Ressourcen“ sammeln, wie überhaupt der Ausdruck „Biodiversität“60 die menschliche Vielfalt mit umfasst. Sammlungslogisch darauf bezugnehmend bedeutete die einstige Ausstellung von Menschenrassen im Zoo, dass sie in ein logisches System integriert wurden, in dem etwas entweder der einen oder der anderen Art (aber nicht beider Art) ist, also entweder Homo sapiens oder nicht. Dass die ausgestellten Menschen dieser Logik funktional nicht korrespondierten, erwies sich nicht nur als wahrgenommene Irritation. Vielmehr führte durch die Tatsache der Anwesenheit anderer, sich im Zoo frei bewegender ‚weißer‘ Menschen, die die extensionale Grenze der Sammlung markierten (d. h.: im Zoo gesammelt werden generell Tiere, nicht Menschen), dazu, dass der Betrachter geneigt war, Menschen anderer Rassen in diesem Setting der „anderen Art“ als der eigenen, ggf. sogar dem Tier zuzuschlagen. Dieses Beispiel soll verdeutlichen, wie Sammlungen ihre Objekte funktional orientieren, auch politisch. Darüber hinaus begründen die Sammlungslogiken mit ihren Konzepten Legitimationen, ob und inwieweit man weiter sammeln kann, soll und darf oder nicht. Dazu ein dem obigen verwandtes Beispiel, das Deweys Logik entnommen ist: „Nehmen wir die folgende Aussage: ‚Die Menschheit besteht aus Europäern, Afrikanern, Australiern, Amerikanern …‘, wo … anzeigt, dass die Addition summativ erschöpfend ist. So wie diese Aussage dasteht, schließt nichts eine Bindestrich-Mitgliedschaft oder Arten, die etwa europäisch-amerikanisch sind, aus. Nur eine Regel, die in einer universalen Aussage ausgedrückt wird, kann Wuppertaler Zoo Anfang der 1950er Jahre (persönl. Mitt. Kurt-Hartwig Richter, Berlin, 2016). 59 Wegweisend für Deutschland und die Nationalen Fachprogramme Bommer, Dieter F. R. und Kay Beese, Pflanzengenetische Ressourcen – ein Konzept zur Erhaltung und Nutzung für die Bundesrepublik Deutschland, Münster-Hiltrup 1990. Vgl. auch Karafyllis und Lammers, in diesem Buch. 60 Vgl. Lanzerath, Dirk und Minou Friele (Hg.), Concepts and Values in Biodi­ versity, London 2014; Hetzel, Andreas, Vielfalt achten. Eine Ethik der Bio­diver­ sität, Bielefeld (erscheint 2018).

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solche Arten bestimmen, dass diese Möglichkeit ausgeschlossen wird. Eine solche Bestimmung ist in dem gewählten Beispiel nicht besonders wichtig, obgleich die Frage der doppelten politischen Staatsangehörigkeit aktuell sein kann. Aber es gibt wissenschaftliche Forschungen, die die Beziehungen von Arten so bestimmen müssen, dass jedes Individuum von der einen oder der anderen Art sein muss, aber nicht von mehr als einer. Ja, die Erfüllung dieser Bedingung ist für jede gültige Menge disjunktiver Aussagen notwendig. Sie kann nur auf der Basis einer Menge von disjunktiven universal-hypothetischen Aussagen erreicht werden, deren operationale Anwendung Arten bestimmt, die einander innerhalb einer erschöpfenden umfassenden Art ausschließen.“61 Dieses Zitat lässt nur durch seinen Einschub bezüglich der doppelten Staatsbürgerschaft die politische Sprengkraft seines Inhalts auch für die aktuelle Genomforschung erahnen. Denn Dewey drückt, bezogen auf unsere Fragestellungen, aus, dass der Universalisierungsanspruch der Biologie allein schon logisch dazu führt, „Biodiversität“ in Form immer kleinteiligerer Arten (Populationen) zu denken, zu beschreiben und zu messen und dabei den Menschen (und ergo die Rasse- und Sippenforschung) nicht ausschließen kann. Dies erweist sich in Bezug auf Lebendsammlungen als relevant, insofern sie Forschungsmaterial bereitstellen und entsprechend indizieren sollen, z. B. für die Genomforschung. Dabei lässt sich quasi ein forschungspolitisches Paradoxon beobachten: Denn diejenigen Sammlungen, die ihre Objekte vergleichsweise unbedarft als „Sorten“ und „Rassen“ indizieren, heben gerade nicht primär auf biologische Universalisierung ab, sondern auf agrikulturelle Praxen und deren Bestände. (Gleichwohl stehen sie durch die Verwissenschaftlichung der Züchtung und damit auch deren Molekularbiologisierung in engem Zusammenhang mit Universalisierungstendenzen.) Der sammelnde Bezug zu eugenischem und euphänischem Denken ist offenkundig und dadurch politisch beherrschbar. Anders verhält es sich bei Biobanken des Humanbereichs. Dort ist höchst selten von gesammelter Biodiversität (und noch weniger von Rassen) die Rede. Hier müssen zukünftige Forschungen genauer auf die Ordnungen62 der gesammelten Objekte 61 Dewey, Logik, S. 398. 62 Fleck kritisierte bereits 1935, dass auch die Philosophie mit ihren Universali­ sierungsansprüchen zu menschenverachtenden Kategorien beiträgt, insofern sie Menschen und Kulturen z. B. nach dem Vorhandensein einer über- bzw. unter­

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blicken und wie diese ggf. in Bezug auf Rasse- und Sippenforschung funktional orientiert werden, möglicherweise etwa mit Bezug auf das Forschungsziel der sogenannten „personalisierten Medizin“.63 Denn diese umfasst Forschungen an menschlichen Familien. Dazu gehören auch Analysen zum Mikrobiom des Menschen (d. h. seiner ‚persönlichen‘ Mikrobenflora), was wiederum die sammlungstheo­ retische und -praktische Frage danach stellt, in welcher Biobank entsprechendes Lebendmaterial gelagert wird, und auf welche indizierte Weise.64 2.2 Experimentalsysteme Zurück zu den agrarischen Sammlungen, bei denen nun interessiert, welche institutionellen Genealogien sie aufweisen und wie diese mit Experimentalsystemen interagieren. Systematisch wie historisch betrachtet teilen moderne Samenbanken durchaus zentrale Schnittstellen mit älteren Lebendsammlungsformen wie Botanischen und Zoologischen Gärten, und zwar nicht nur bezüglich der auch an Samenbanken stattfindenden taxonomischen Forschung oder des jüngeren Anliegens des allgemeinen Biodiversitätsschutzes (in seiner Verschiedenheit), sondern zum Teil auch räumlich und personell. Das Vavilov-Institut (VIR) hat sich aus einem „Büro für angewandte Botanik“65 am Botanischen Garten St. Petersburg ab ­1921 heraus entwickelt; die heutige Millennium Seed Bank in Kew Gardens nahm deutlich später eine vergleichbare Entwicklung (vgl. legenen Logik klassifiziere, anstatt Wert auf soziale Differenzierungen zu legen: „Gehören die primitiven Völker auch zur ganzen Menschheit als einer Einheit, oder nicht? Ihre andersartige Logik ist ebensowenig allgemeinmenschlich gül­ tig wie unsere. Und wo sind die unter uns lebenden Mystiker, Gnostiker etc.?“ (Fleck, Tatsache, S. 68, Fn. 41). 63 Vgl. etwa Hewitt, Robert E., „Biobanking: The foundation of personalized me­ dicine“, in: Current Opinion in Oncology, 23/2011, S. 112-119. 64 Kritisch dazu Chuong, Kim H.; Hwang, David M.; Tullis, Elizabeth D. et al., „Navigating social and ethical challenges of biobanking for human microbiome research“, in: BMC Medical Ethics, 18(1)/2017, https://doi.org/10.1186/s12910016-0160-y (letzter Aufruf: 3.2.2018). 65 Ab 1924 entstand daraus das später als VIR bekannte „All-Union Institut für angewandte Botanik und neue Nutzpflanzen“, das Lenin als Keimzelle zur Er­ neuerung der sowjetischen Landwirtschaft erachtete. Das ursprüngliche Büro für angewandte Botanik war schon dem Landwirtschaftsministerium unter­ stellt, als Vavilov 1921 den Posten des Direktors des Botanischen Instituts in St. Petersburg (gegründet 1894) übernahm.

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Dickie, in diesem Buch). In die Gründungsgeschichte des „Weltsortiments“ des deutschen IPK Gatersleben, das ab 1943 zunächst bei Wien verortet wurde, sind zahlreiche Fäden eingewoben, die zwar personell zum Botanischen Garten Berlin-Dahlem zurückführen,66 räumlich aber so gut wie nicht.67 Die 2003 im Zuge der deutschen Wiedervereinigung abgewickelte westdeutsche Genbank für Kulturpflanzen Braunschweig Genetic Resources Collection, die seit 1970 bestand, hatte weder personell, räumlich noch institutionell Vorläufer in einem Botanischen Garten. Vielmehr wurde sie an der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft (FAL; heute ThünenInstitut) angesiedelt68 und rekrutierte ihr Anfangspersonal aus der einstigen Hochschule für Gartenbau in Hannover (Lehrstuhl Hermann Kuckuck). Auch bei der Gründung des mexikanischen CIMMYT (eine der größten Samenbanken für Mais und Weizen weltweit) sind keine Bezüge zu Botanischen Gärten bekannt. Es entwickelte sich ab 1943 aus einem An-Institut des mexikanischen Landwirtschaftsministeriums, maßgeblich finanziert durch die USamerikanische Rockefeller Foundation. Die meisten der Nachkriegsinstitutionen lassen sich nicht auf Botanische Gärten zurückführen, Biobanken des Tierbereichs noch weniger auf Zoologische Gärten. Die Genealogien der Institutionen sind höchst verschieden. Bei Samenbanken des pflanzlichen Bereichs ist schon vor dem Zweiten Weltkrieg die staatliche und/oder private Züchtungsforschung politisch oder/und finanziell involviert, bei größeren Nachkriegsinstitutionen zusätzlich neben der FAO die Weltbank. Wichtiges Differenzkriterium zu Gärten ist die schon frühe Ausstattung von Samenbanken mit hochtechnisierten Experimen­ talsystemen zur genetischen Röntgenmutationsforschung, später 66 So z. B. über den Initiator, den Botaniker Fritz von Wettstein, die Archäobotani­ kerin Elisabeth Schiemann und den Taxonomen Rudolf Mansfeld. Vgl. Stubbe, Hans, Geschichte des Instituts für Kulturpflanzenforschung Gatersleben der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 1943–1968, Berlin 1982; Müntz, Klaus und Ulrich Wobus, Das Institut Gatersleben und seine Geschichte. Genetik und Kulturpflanzenforschung in drei politischen Systemen, Berlin u. a. 2013. 67 Einige der Referenzsammlungen (Teilbibliotheken, Herbarien) entstammten dem Botanischen Garten in Berlin-Dahlem, zumindest ursprünglich (d. h. bevor dessen Bibliothek im Zweiten Weltkrieg zum großen Teil verbrannte und bevor die Bestände des KWI für Kulturpflanzenforschung im Februar 1945 von Wien/ Gut Tuttenhof nach Ostdeutschland in die Nähe von Quedlinburg evakuiert wurden). 68 Zur Geschichte Karafyllis und Lammers, Big Data.

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mit modernen Kühltechniken. Das Erzeugen von induzierten Mutationen war vor und nach dem Zweiten Weltkrieg genetisch, evolutionsbiologisch und auch sammlerisch erkenntnisleitend, und zwar bei Objekten aus allen biologischen Domänen.69 Röntgenbestrahlung von Pflanzensamen wurde ab den 1930er Jahren z. B. genutzt vom deutschen Genetiker Hans Stubbe (1902–1989), dem späteren Direktor der Samenbank am Kaiser-Wilhelm-Institut für Kulturpflanzenforschung (auch: „für Wildsippenforschung“) aus der Schule von Erwin Baur,70 vom Agrarwissenschaftler, Sammler und Züchter Rudolf Freisleben (1906–1943) an der Universität Halle (die ebenfalls über ausgedehnte Samensammlungen verfügte), vom Initiator der westdeutschen Genbank für Kulturpflanzen in Braunschweig (BGRC), Baur-Schüler und Hannoveraner Professor für Pflanzengenetik Hermann Kuckuck (1903–1992), der als Mitglied der 1964 formierten Gesellschaft für Strahlenforschung auch bei der Gründung der westdeutschen Sammlung für Mikroorganismen (Vorläufer der heutigen DSMZ) 1969 eine Rolle spielte, und natürlich von den technischen Pionieren, den schwedischen Pflanzengenetikern und Radiobiologen Hermann Nilsson-Ehle (1873–1949) und Åke Gustafsson (1908–1988) in Svalöf. Sie nutzten die Sorten der Swedish Seed Association als Bestrahlungsobjekte.71 Freisleben and Kuckuck nahmen an Fortbildungsveranstaltungen in Svalöf teil. Die schwedische Mutantenkollektion von Gerste wird heute noch am Nordic Genetic Resource Center (NordGen) in Alnarp/ Schweden erhalten. Stubbe rettete die Mutantenkollektion seines epistemischen Objekts72 Antirrhinum majus (Großes Löwenmaul) über drei politische Systeme. Wie in Abb. 1 gezeigt, wird sie heute noch in der Genbank des IPK Gatersleben erhalten, obwohl es sich beim Löwenmaul um eine Zierpflanze handelt (womit auch die 69 Vgl. z. B. zu den einflussreichen entwicklungsgenetischen Experimenten an der Motte Ephestia Rheinberger, Hans-Jörg, „Ephestia: Alfred Kühns experimen­ teller Entwurf einer entwicklungsphysiologischen Genetik 1924–25“, in: ders., Epistemologie des Konkreten, Frankfurt a. M. 2006, S. 114-130. 70 Vgl. Stubbe, Geschichte des Instituts Gatersleben. 71 Lundqvist, Udda, „Scandinavian mutation research in barley – a historical re­ view“, in: Hereditas, 151(6)/2014, S. 123-131. 72 Das Stubbe, Rudolf Schick und Hermann Kuckuck von ihrem Lehrer Erwin Baur quasi geerbt hatten. Stubbe erweiterte Baurs gesammeltes AntirrhinumSortiment um „einige Hundert Mutanten“, die in der genetischen Forschung u. a. „zur molekularen Charakterisierung von Transposons“ weiter verwendet wurden (Müntz und Wobus, Institut Gatersleben, S. 245). Stubbes zweites be­ vorzugtes Bestrahlungsobjekt war die Tomate.

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Gradualität von Kultur- und Zierpflanze angesprochen ist).73 Am Eingang des Hauptgebäudes des IPK („Vavilov-Haus“) befindet sich eine Büste von Stubbe, in deren Basis der Umriss einer Löwenmaulblüte eingraviert ist – so eng sind hier Person, Sammlung und epistemisches Objekt miteinander verbunden. Im Hinblick auf das Lagern von bestimmten und benannten Zellen als Isolaten in steriler Reinkultur und den expliziten Dienstleistungscharakter der Institution wäre auch zu fragen, ob nicht die 1890 von dem Bakteriologen František Král (1846–1911) an der Deutschen Universität Prag angelegte Mikrobensammlung als die erste moderne Lebendsammlung gelten kann.74 Dann wäre alternativ zur Samenbank die Zellbank das Paradigma der modernen Lebendsammlung, die ihren Beginn im sortierenden Einlagern von Einzellern hätte. Dies allerdings würde erschweren, die Objekte an agrikulturelle Praxen (s. Abschn. 3.1) und Biofakt-Geschichten anzubinden (vgl. Abschn. 5.2). Möglich wäre stattdessen die Anbindung an eine Kulturgeschichte der Hygiene, an das Verständnis von Ordnen und Sortieren als Reinigen, und an die Vergessenheit ihrer reproduktiven Anteile.75 Mit all diesen Hinweisen auf das Was, Wie und Wozu des Sammelns sowie auf die Genealogien der Sammlungsinstitutionen ist aber noch nichts darüber gesagt, wie, d. h. in welchem Modus, dasjenige Biologische, das jeweils gesammelt wurde, lebt – und ob es überhaupt noch (oder schon) lebt. Die zur Fassung der entsprechenden Gradualitäten notwendige und versammelnde Aussagekraft haben die Ausdrücke „Same“ und „Samenbank“, wie in den nachfolgenden Abschnitten gezeigt werden soll. Auch hierzu mangelt es an begrifflichen Untersuchungen, mehr noch an solchen, die die Samenbank an ihre aktuelleren Formen wie Genbank, KeimplasmaSystem (s. Abschn. 5.4) und Biologisches Ressourcenzentrum (BRC;

73 Vgl. Hammer, Karl; Knüpffer, Susanne und Helmut Knüpffer, „Das Gatersle­ bener Antirrhinum-Sortiment“, in: Die Kulturpflanze, 38/1990, S. 91-117. Die Autoren verweisen auf einen Sortimentsumfang von „500 Sippen“ und legiti­ mieren den Erhalt der Sammlung am IPK mit dem Hinweis, dass auch Zierpflan­ zen von der Generosion bedroht seien. 74 Lone, Showkat A.; Malik, Abdul und Jasdeep C. Padaria, „Microbial Resource Centers Towards Harnessing Microbial Diversity for Human Welfare“, in: Ma­ lik, Abdul; Grohmann, Elisabeth und Madalena Alves (Hg.), Management of Microbial Resources in the Environment, Dordrecht 2013, S. 53. 75 Ein populärwissenschaftlicher Aufschlag dazu findet sich in Karafyllis, Nicole C., Putzen als Passion. Ein Universalreiniger für klare Verhältnisse, Berlin 2013.

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s. Abschn. 5.6) anschlussfähig machen könnten. Auch die theoretische Verbindung von Lebend- mit Totsammlungen wie Museum, Bibliothek und Archiv ist unklar.76 Dies wiederum zeigt sich in diffusen Bezeichnungen für moderne Lebendsammlungen, die neben den eben genannten auch die Ausdrücke „Genbibliothek“, „Genarchiv“, „Forschungsinventar“, „Weltsortiment“ und „bioreposi­ tory“ umfassen, um nur die wichtigsten zu nennen. Sie deuten auf ein plurales Verständnis der Biobank hin, die verschiedene Funktio­ nen und Objekte unter einem Dach versammeln soll: als Bestände (s. Abschn. 5.5). Entsprechend darf man von einer Theorie der Lebendsammlung erwarten, dass sie Einheit(en) im Verschiedenen und im verschieden Bezeichneten aufzufinden ermöglicht, benennt und reflektierbar macht. Die folgenden Überlegungen sind von den Differenzen geleitet, die sich zwischen einem noch zu bestimmenden Begriff der Lebendsammlung und seiner Ausdeutung in Form der Samenbank und des Sammlungsobjekts Same ergeben. Heuristisch dient dabei „Biobank“ als vermittelnder Ausdruck, insofern er alles Mögliche bezeichnet, was als angeblich Lebendes in hochtechnisierten Behausungen gesammelt werden kann. Die Begriffsklärungen erfolgen z. T. in metaphorischer Form und vereinzelt mit Rückgriff auf andere, ihrerseits mehrdeutige Ordnungsbegriffe wie „Archiv“.77 Für 76 Die bibliotheks- und archivwissenschaftliche sowie die museologische Fachlite­ ratur hat die Biobank bislang jeweils ignoriert. Selbst in der zweiten Auflage von Currents of Archival Thinking (hg. von Heather MacNeil und Terry Eastwood, Santa Barbara/CA 2017) finden sich keine Hinweise auf Lebendsammlungen. Umgekehrt wird zur wissenschaftshistorischen Erklärung von Biobanken „Ar­ chiv“ nur metaphorisch verwendet, ohne zu erklären, was die Sammlung spezi­ fisch als ein Archiv kennzeichnet, so z. B. Peres, Sara, „Saving the gene pool for the future: Seeds banks as archives“, in: Studies in the History and Philosophy of Science. Part C, 55/2016, S. 96-104. – Zur Theorie des Archiv siehe aus archiv­ wissenschaftlicher Sicht Schenk, Dietmar, Kleine Theorie des Archivs, Stuttgart 2 2014; aus wissensgeschichtlicher und kulturpraktischer Sicht Friedrich, Mar­ kus, Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte, München 2013; aus medi­ enarchäologischer Sicht Ernst, Wolfgang, Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung, Berlin 2002. Einen sehr heterogenen Blick auf „archivarische Praktiken“ in Kunst und Wissenschaft, die oft unhinterfragt das Sammeln ein­ schließen, wagen Bexte, Peter; Bührer, Valeska und Stephanie S. Lauke (Hg.), An den Grenzen der Archive, Berlin 2016. Interessant ist der von den Herausgebern geäußerte Gedanke, dass Archive der Kunst zunehmend ephemere Kunstobjekte (z. T. auch lebende) verwahren müssen, was sie sammlungstechnisch an Lebend­ sammlungen anschlussfähig machen könnte. 77 Methodisch ähnlich geht zur Klärung des Begriffs „Archiv“ vor Kopp-Oberste­ brink, Herbert, „Arbeit am Archiv. Formen und Funktionen von Archiven zwi­

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die theoretisierende Durchdringung sind eine weite Fassung von „Same“ und „Samenbank“ zu entwickeln und etablierte Narrative zu hinterfragen.

3. Die Samenbank als Paradigma Zu Anfang mag ein einführender Gedanke ausreichen: „Same“ steht für die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung in Form einer potenziell greifbaren und lebenden Einheit. Im Anschluss daran bildet die Samenbank die kühl- und informationstechnisch geprägte Dimension, in der jene greifbar-lebende Einheit – und die durch sie verkörperte Trennung – gesichert und verfügbar gemacht wird. Für die Gemeinschaft der Biobanker sind diese Aussagen pa­ radigmatisch in dem Sinne, dass sie Modelle, Begriffe und Techniken strukturieren helfen.78 Detailliert wird die weitreichende biologische und erhaltungstechnische Bedeutung von „Same“ unter Einschluss von Keimplasma und Klon in Abschn. 5 geschildert und ihr Bestandscharakter herausgestellt. Hier werden zunächst drei aufeinander aufbauende Gründe vorgestellt, die die Samenbank als orientierungsstiftendes Paradigma der modernen Lebendsammlung empfehlen. 3.1 Das Sammeln von Samen als Instanz von Kultur-, Wissenschafts- und Weltgeschichte Für die Orientierung an der Samenbank spricht zuerst ein kultur­ historischer Grund, der gleichwohl keine eindeutige Grundlegung bildet (s. Abschn. 5.4). Denn die Samenbank, zunächst im engeren Sinne verstanden als Saatgutbank, ist die älteste Form der behausten Lebendsammlung.79 Das Haus (lat. domus), inklusive der zum semantischen Feld des Mobiliars gehörigen „Bank“, ist mit der

schen Begriff und Metapher“, in: Schmieder, Falko und Daniel Weidner (Hg.), Ränder des Archivs. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf das Entstehen und Vergehen von Archiven, Berlin 2016, S. 15-46. 78 Kuhn, Thomas S., The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 21970. 79 Vgl. zu Theophrasts Beschreibung einer antiken Samenbank Lobenhofer, in die­ sem Buch.

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Samenbank begrifflich über den Prozess der Domestizierung verbunden, in dem der Mensch sesshaft wurde und Tiere wie Pflanzen agrarisch um Haus und ‚Hof‘ versammelte. Für Samenbanken hat dies Auswirkungen bis heute. Die Domestikationszentren der frühen Hochkulturen sind zum großen Teil auch diejenigen Gebiete, in denen die „genetischen Zentren“ (Vavilov-Zentren) von Kulturpflanzen und Nutztieren liegen. Dorthin schicken Sammlungen ihre Sammler bzw. gene-scouts. Denn dort wurde früh gezüchtet und es entstanden aus Wildformen Landformen, d. h. erste Kulturformen von Arten und Sorten. Für das zielgerichtete Sammeln zum jeweiligen Genpool ergibt sich eine hohe Wahrscheinlichkeit, in den entsprechenden Regionen mannigfaltige Formen bzw. Varietäten zu finden, z. B. in denen des sogenannten Fruchtbaren Halbmonds (vgl. zum survey collecting Abschn. 4.2). „Genetisches Zentrum“ ist also nicht nur eine naturwissenschaftliche und geographische, sondern auch eine kulturhistorische Kategorie; darüber hinaus eine sammeltechnische, weil sie die Region des Sammelns als einen zu besammelnden Bereich eingrenzt.80 Die Saatgutbanken als Samenbanken im engeren Sinne zeigen eine besondere Geschlossenheit und historische Reichweite bei der Begründung ihrer Fundierungsverhältnisse, die man bei keiner anderen Form der Lebendsammlung derart ausgeprägt findet. Betrachtet man die Veröffentlichungen von WissenschaftlerInnen, die an Saatgutbanken tätig sind, so stechen seit den 1930er Jahren diese zwei Ursprungsnarrative hervor, mit der sie das Denkkollektiv von ‚Samenbankern‘ auch heute international festigen: erstens die kulturhistorische Anbindung an die Domestizierung und zweitens der wissenschaftshistorische Verweis auf das moderne, populations- und züchtungsgenetisch ausgerichtete Sammeln von Nikolai I. Vavilov (1887–1943), inklusive dem Anlegen seiner Sammlung mit Hauptsitz in St. Petersburg.81 Denn mit Anbindung an Vavilovs „Gesetz der homologen Reihen“82 und seine Theorie der Genetischen Zentren (1926)83 wurde das Lebendsammeln auch im modernen Sinne

80 Durch die Migration ist dieser Bereich nie absolut feststellbar. 81 In der UdSSR hatte das Vavilov-Institut knapp 30 Außenstationen, an denen eben­falls Sammlungen angelegt wurden. 82 Vavilov, Nikolai I., „The Law of Homologous Series in Variation“, hier S. 52. 83 Vavilov, Nikolai Ivanovich, Origin and geography of cultivated plants [russ. zu­ erst 1926, neu hg. von Vladimir Filimonovich Dorofeev, Leningrad 1987], über­ setzt v. Doris Löve, Cambridge 1992.

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theorie- und an zeitgenössische Experimentalkulturen anschlussfähig. Zum dritten konnte man den durch Vavilov auch verkörperten, modernen Sammel-Imperialismus als im Dienste der Wissenschaft stehend adeln; eine biologisch informierte Agrarwissenschaft, die nun (im Gegensatz zum Kolonialismus) kosmopolitisch für das humanitäre Wohl „der ganzen Welt“ zu sammeln schien, dafür aber ein territoriales Weltkonzept zugrunde legte.84 Denn Pflanzen sind an Grund und Boden gebunden – was wiederum zum anderen, kulturhistorischen Ursprungsnarrativ zurückführt. Kulturpflanzen zu züchten bedeutete, Früchte und Samen von Pflanzen mit gewünschten Eigenschaften nach dem Finden nicht mehr direkt zu verzehren, d. h. eine „Hemmung der Begierde“.85 Es ist paradox, die Geschichte der Menschheit und den Beginn der Landwirtschaft so zu erzählen, als hätte die Domestizierung die Kulturstufe der „Jäger und Sammler“ abgelöst, weil man nicht mehr gesammelt habe. Gemeint ist, dass man nicht mehr von der Hand in den Mund lebte, sondern Ackerbau betrieb und somit einen Teil der Ernte als Saatgut zurücklegte. Dies erklärt aber noch keine kontinuierlich verbessernde Züchtung. Dafür sammelte man anders weiter, wozu archäologisch vergleichsweise wenig bekannt ist, was sich aber aus molekulargenetischen Analysen von frühen Kulturpflanzenvarietäten rekonstruieren lässt. Sie offenbaren, welche 84 Wenn wir dem Hinweis Derridas in Mal d’Archives (Paris 1995; engl. Archive Fever, Chicago 1998) folgen, dass Archive immer auch fasziniert von ihrem eige­ nen Untergang sind, dann mag für die identitätsstiftende Funktion von Vavilov für moderne Saatgutbanken auch sein (wahrscheinlicher) Hungertod im sowje­ tischen Gefängnis stehen. Denn er wurde vom Stalin-Regime (neben Spionage) beschuldigt, ausgedehnte Sammelreisen zu unternehmen anstatt das Gesam­ melte angesichts der hungernden sowjetischen Bevölkerung schnell genug in züchterische Innovationen umzusetzen. In diesem Sinne ist er zu einem Märty­ rer für Samenbanker geworden, die förderpolitisch oft mit Unverständnis für ihr Sammeln konfrontiert werden (vgl. diesbezüglich für die westdeutsche BGRC Karafyllis und Lammers, Big Data, S. 190-199). Aber auch für die westliche Genetik und ihre Infragestellung durch den Lyssenkoismus taugte Vavilov als Märtyrer, vgl. den Nachruf von Dobzhansky, Theodosius, „N. I. Vavilov, a martyr of genetics 1887–1942“, in: Journal of Heredity, 38/1947, S. 226-232. Zum o. g. kosmopolitischen Sammeln für das Wohl der Menschheit siehe explizit S. 229; ähnlich auch im Eröffnungskapitel von Stubbe (Geschichte Institut Gatersleben) und bei Plucknett et al. (Gene Banks and the World’s Food), um nur einige zu nennen. Zu Vavilov und dem Lyssenkoismus weiterführend Roll-Hansen, Nils, The Lysenko Effect. The Politics of Science, Amherst/NY 2005. 85 Vgl. Hegel, Georg W. F., Phänomenologie des Geistes, IV. A., Abs. 18, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 9, hg. von Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede, Hamburg 1980, S. 114f.

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Wildpflanzen eingekreuzt wurden und indizieren damit die Grenze des Genpools. Diese crop wild relatives haben für Samenbanken heute eine hohe Priorität des Sammelns und Erhaltens. 86 Wir beobachten in den kulturgeschichtlichen Historiographien eine frühe Abwertung des Sammelns. Sie ist womöglich deshalb entstanden, weil das Sammeln von Samen (mit dem Haus/domus) nun in die Sphäre des Haushaltens fiel und zum Arbeiten rechnete, und Haushalten und Arbeiten generell als minderwertig zum Herstellen gelten. Das Bebauen des Landes zeigt bis heute Züge des Herstellens (und damit von Technik). In den Worten von Hannah Arendt hinterlässt der Ackerbau ein „Resultat, das die Tätigkeit selbst überdauert“: „wo jahrein und jahraus, in endloser Wiederholung gepflügt, gesät und geerntet wird, fügt sich die Wildnis der Natur schließlich in ein von Menschen bestelltes Land.“ Dabei wird zwar der Boden „niemals zu einem Gegenstand“, aber er gibt den „Grund“ her „für die Erstellung der Welt“.87 Deshalb: Mit der Domestizierung einher ging das bestandssichernde Sammeln von Pflanzensamen und damit eine Kulturtechnik, die ihrerseits einer genaueren theoretischen Beschreibung harrt. Sie kann hier nur angedeutet werden, weil die Sammlung und nicht das Sammeln im Mittelpunkt steht. Beides bleibt jedoch miteinander verschränkt: „Sammeln“ meint sowohl die spezifische Zusammenstellung der Objekte (die Sammlung) wie auch die Prozesse, Handlungen und Geschehnisse, die zu dieser Zusammenstellung geführt haben (das Sammeln). Für Samenbanken gilt, dass die Subjektpraxis des Sammelns als solche („ich sammle“) durch dessen Institutionalisierung in den Hintergrund rückt, weil das Sammeln zuvorderst staatlichen Aufgaben und Interessen zu dienen hat. Die Objekte sind auch nicht durch einen einzigen Sammler zusammengetragen, der bzw. die als Berühmtheit der Sammlung ihren Namen gibt.88 Die großen nationalen Samenbanken lassen sich in dieser Hinsicht am ehesten mit staatlichen Museen vergleichen, auch wenn jene ihre Objekte 86 Vgl. Castañeda-Álvarez, Nora P., Khoury, Colin K., Achicanoy, Harold A. et al., „Global conservation priorities for crop wild relatives“, in: Nature Plants, 2/2016, S. 16-22. 87 Arendt, Hannah, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 92010, S. 164. 88 Eine seltene Ausnahme stellt die Loki Schmidt-Genbank für Wildpflanzen am Botanischen Garten Osnabrück dar, selbst wenn die von ihr gesammelten Objek­ te nur einen Bruchteil der Sammlung ausmachen (vgl. Karafyllis und Lammers, in diesem Buch).

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nicht ausstellen. Aber anders als Staatsarchive ihre Akten sammeln staatliche Museen gerade auch Objekte, die nicht dem eigenen Staat entstammen, sondern in Expeditionen oder Kriegen jenseits des eigenen Territoriums gesammelt oder sogar geraubt wurden. Das heißt, auch in einer Kulturgeschichte, die als kritische Aneignungsgeschichte von Lebendmaterial geschrieben wird und ohne sichernde Depots nicht denkbar wäre, ist der Same erkenntnisleitend. „Samenraub“ ist nicht nur eine jüngere Metapher für eine ungewollte Vaterschaft, sondern bezeichnet historische Fakten der Kolonialgeschichte mit ihrer bewussten Aneignung und Weiterzüchtung von Pflanzen jenseits des Herkunftsterritoriums. Heute wird vergleichbares Vorgehen als „Biopiraterie“ gefasst. Entsprechend ist das heutige Sammeln von Lebendmaterial in größere nationale Strategien und internationale Abkommen eingebettet (als Auswahl s. Anhang „Regelwerke“, in diesem Buch) und wird von Förderrichtlinien und Vorschriften flankiert, die auch regeln, womit wo und zu welchen Zwecken geforscht werden darf.89 Dabei sticht seit der Convention on Biodiversity (CBD) von 1992 die sogenannte „Biodiversitätsforschung“ hervor. Bezüglich ihres ökonomischen Nutzens steht sie in engem Zusammenhang mit der Bioökonomie, d. h. mit einem marktfähigen Wirtschaften auf Basis lebender und damit potenziell erneuerbarer Ressourcen.90 Zu diesen gehören zuvorderst „genetische Ressourcen“ – ein universalisierender Begriff, der, dem angeblichen Objekt des Sammelns nach, alle modernen Lebendsammlungen theoretisch eint – wenn „genetische Ressource“ denn ein Objekt wäre. Als konkrete Sammlungsobjekte befinden sich in Biobanken hingegen in vitro gelagerte Zellen, Zellsuspensionen, Samen, Embryonen und Gewebe, die jeweils bestimmte Arten91 von Mikroben, Pflanzen oder Tieren repräsentieren und sie idealerweise auch reproduzieren lassen. Nicht nur die Nation, auch „die Welt“ soll von den Sammlungen profitieren. Die Welternährungsorganisation FAO zählte 2010 weltweit über 1.750 Samenbanken allein für „pflanzengenetische Ressourcen“,92 das World Data Centre for Microorganisms 89 Vgl. die Beiträge in diesem Buch. 90 Vgl. Gottwald, Franz-Theo und Anita Krätzer, Irrweg Bioökonomie, Berlin 2014. 91 Gemeint ist nicht notwendig die biologische Spezies (das Artgleiche), sondern das Gleichartige, wie es im engl. kind ausgedrückt wird (so auch in den Ausfüh­ rungen von Dewey in Abschn. 2). 92 Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO) (Hg.), The Se­ cond Report on the State of the World’s Plant Genetic Resources for Food and

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(WDCM) nannte schon 2002 die Zahl von 471 Sammlungen mit mikrobiellen Lebendkulturen.93 Die Zahlen für Institutionen beider Domänen dürften trotz einiger Fusionen heute höher liegen, sicherlich aber die Zahl der eingelagerten Muster bzw. Proben (samples) und Typen-Exemplare (specimens). Ebenfalls steigend ist die Zahl der Biobanken für tierisches Lebendmaterial, die im nur zweistelligen Bereich nicht verlässlich ist und als zu niedrig gelten muss.94 Dies liegt erstens daran, dass tierisches Lebendmaterial von Modell­ organismen und Versuchstieren oft in den zahlreichen Biobanken des Humanbereichs eingelagert ist (in Zell-, Gewebe-, Tumor- oder Blutbanken etc.). Ontologisch ausgedrückt, wird das Andere (animalische Objekte) im Verschiedenen (der Biobank des Humanbereichs) gesammelt.95 Wissenschaftsphilosophisch gedacht, sammelt man ganze Experimentalsysteme (s. Abschn. 2.2).96 Sammlungsinstitutionen spiegeln in ihrem Bestand daher auch Umbrüche in den Forschungsmethoden. Die in europäischen Samenbanken am häufigsten gesammelte und elektronisch verzeichnete Pflanze ist die Gattung Arabidopsis und damit die Ackerschmalwand (Arabidopsis thaliana),97 die wichtigste Modellpflanze der Pflanzengenomik. Entsprechend lässt sich das Sammeln nicht nur kultur-, sondern auch wissenschaftsgeschichtlich beleuchten, d. h. mit Bezug auf den Begriff „Kultur“ dienen die lebenden Objekte als Repräsentanten von Experimentalkulturen. Die meisten explizit auf Tiere ausgerichteten Biobanken sammeln bis dato Mausmodelle für die medizinische Forschung, u. a. die Krebsforschung. 2015 entstand die angeblich „erste Schweine-

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Agriculture, Rome 2010, S. 85. http://www.fao.org/docrep/013/i1500e/i1500e. pdf (letzter Aufruf: 7.5.2017). Zit. in Smith, David, „Culture collections over the world“, in: International Microbiology, 6/2003, S. 95-100, hier S. 97 (table 1). Vgl. dazu Groeneveld, Linn F.; Gregusson, Sigbjørn; Guldbrandtsen, Bernt et al., „Domesticated Animal Biobanking: Land of Opportunity“, in: PLoS Biology, 14(7)/2016, e1002523. DOI: 10.1371/journal.pbio.1002523. Griechisch ausgedrückt: Gesammelt wird das állo im héteron. Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001. Datenbankplattform EURISCO, Unterseite Taxon Statistics, https://eurisco. ipk-gatersleben.de/apex/f?p=103:33 (letzter Aufruf: 2.2.2018). Auf Arabidopsis spec. entfallen 34,77 % der in EURISCO verzeichneten Taxa, gefolgt von Weizen mit 9,64 % und Gerste mit 6,20 %. Dies betrifft gleichwohl nur die Lebend­ sammlungen, die ihre Daten an EURISCO melden, weshalb die hohe Prozent­ zahl für Arabidopsis von größeren Forschungsinstitutionen herrührt.

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Biobank“ (MIDY-PIG Biobank der Ludwig-Maximilians-Universität München),98 mit Schwerpunkt in der Diabetesforschung. In jenem Fokus auf medizinische Anwendungen wird, zweitens, übersehen, dass der Agrarbereich, der über 7.000 Nutztierrassen kennt, auch über Tier-Biobanken verfügt. Die FAO hat unlängst zur konzertierten Kryokonservierung von tierischem Gewebe, Serum, Sperma etc. aufgefordert, um das Lebendmaterial von aussterbenden Nutztierrassen in Tanks mit flüssigem Stickstoff über „Tausende von Jahren“ erhalten zu können.99 Ferner existieren weltweit Biobanken für das Fischereiwesen. Sammlerisch ist das Gros aller animalischen Biobanken bislang auf Lebendmaterial von domestizierten Tieren konzentriert, in Analogie zur Situation bei Pflanzen. Das heißt, auch im biomedizinischen Bereich kommt man mit Blick auf Versuchstiere nicht um einen Hinweis auf die (Agri-)Kulturgeschichte herum, sei es beim Versuchstier Schwein, bei der Maus (ein sogenannter „Kulturfolger“) oder beim Hund. Das Biobanking von Wildtieren und Wildpflanzen war schon früher nicht ausgeschlossen, hat aber unter dem Primat der Biodiversitätsforschung jüngst an Dynamik gewonnen (vgl. die Beiträge von Dickie sowie Kruse und Ciba, in diesem Buch). Denn ein zentrales Sammlungsziel pflanzlicher und tierischer Banken ist es, die zielgerichtete ‚Restauration‘ der durch vormalige Züchtung bewusst ausgedünnten Genome von Kulturpflanzen und Nutztieren zu ermöglichen. Mit anderen Worten: Das Kultürliche und Domestizierte ist bedürftig. (In etwa so, wie wenn man beim Einheiraten Bürgerlicher in Adelshäuser landläufig sagt, dass einer durch ‚Inzucht‘ geschwächten Adelslinie „frisches Blut“ zugeführt wird). Das Material dafür entnimmt man der Sphäre des natürlichen Werdens (in situ) und bevorratet es in der Bank bzw. (in der Fachsprache): man erhält es ex situ. Die ‚wildesten‘ oder natürlichsten Lebendobjekte enthalten der Anzahl nach die Mikrobensammlungen, trotz der vielen gentechnisch erzeugten Stämme von Modellmikroorganismen wie Escherichia coli. Denn zum einen

98 Vgl. Abbott, Alison, „An inside look at the first pig biobank“, in: Nature, 519/ 2015, S. 397-398. 99 FAO, Cryoconservation of Animal Genetic Resources, (FAO Animal Produc­tion and Health Guidelines 12), Rom 2012. http://www.fao.org/docrep/016/i3017e/ i3017e00.pdf (letzter Aufruf: 23.1.2018).

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gelten Mikroben dem Wortsinn nach nicht als „domestizierbar“,100 zum anderen besteht in den betreffenden Sammlungen ein großes Interesse, die natürliche Vielfalt der Mikroorganismen zuerst einmal kennenzulernen und zu erforschen, bevor man sie technisch verändert (siehe Overmann, in diesem Buch). Festzuhalten ist, dass das Sammeln von Kulturpflanzen und die zugehörigen Techniken den nichthumanen Bereich des Biobanking nicht nur quantitativ dominieren, sondern auch theoriegebend zumindest für den animalischen Bereich ist. Offenkundig wird dies in den verwendeten Fachtermini im pflanzlichen wie tierischen Bereich. Viele haben eine gemeinsame Wurzel in der Züchtung, z. B. „Keimplasma“ (s. Abschn. 5.4). Der Agrarbereich ist für die Züchtung von Pflanzen und Tieren zuständig und hebt entsprechend auf vereinheitlichende Begriffe im Biobanking ab, befördert durch die Politiken der FAO. Saatgutbanken, als engerer Begriff von Samenbanken, sind mit dem initiierenden Fokus um 1920/30 nicht nur Jahrzehnte vor ihren animalischen Pendants eingeführt worden101 und konnten technische und begriffliche Standards setzen. Auch die pflanzliche Expertise bleibt einflussreich. So waren bei der Entwicklung der jüngsten Richtlinien für die Kryokonservierung von tiergenetischen Ressourcen (engl. abgekürzt: AnGR) die Experten zur Langzeitlagerung von pflanzengenetischen Ressourcen (PGR) mit tonangebend, wie ein Blick in die Danksagung des entsprechenden FAO-Dokuments sehen lässt.102

100 Wenn E. coli als „Haustier“ des Mikrobiologen oder Drosophila spec. als „Haus­ tier des Genetikers“ bezeichnet wird, so handelt es sich um Metaphern, die das Haus mit dem Labor identisch setzen. 101 Die Einführung der Spermatozoenbanken ist zu unterscheiden von der moder­ nen Technik der künstlichen Besamung, die deutlich vorher praktiziert wurde und einen ersten Höhepunkt in den 1930er/40er Jahren hatte. Das Sperma musste allerdings frisch gewonnen werden und bedurfte daher einer regiona­ len Nähe zum Spender (ebenso wie einst bei der assistierten Zeugung beim Menschen). Erst die Spermatozoenbank mit ihrer Tiefkühlung der Spermato­ zoen ermöglichte eine größere zeitliche und räumliche Entkopplung von Sa­ menspender und -empfängerin. Vgl. zur Geschichte Swanson, Kara W., „The Birth of the Sperm Bank“, in: The Annals of Iowa, 71(3)/2012, S. 241-276. Swanson datiert die erste humane Spermatozoenbank auf ca. 1953, gibt aber keine weitere Auskunft über ihre Form, Ordnung und Quantitäten. 102 FAO, Cryoconservation, S. xi.

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3.2 Paradigmatisch: Das Sichern von selektierten Samen Entsprechend liegt ein zweiter Grund, die Samenbank als theoretischen Universalbegriff für Biobanken hervorzuheben, in ihrem paradigmatischen Charakter. Denn sie erlaubt überhaupt erst zu denken, dass lebende Einheiten in natürlich ‚abgepackter‘ und kältetoleranter Form – wie Pflanzensamen – gesammelt, gelagert und am Leben erhalten werden können und in dieser gesammelten Form einen Mehrwert stiften. Damit ist die Samenbank für das Sammeln von Lebendmaterial auch jenseits des pflanzlichen Bereichs handlungsleitend geworden. Denn der Same vereint in sich bereits biologisch zwei konträre Zuschreibungen: Er ist mit seiner Samenruhe im Boden (Dormanz103 und Quieszenz) einerseits eine Überdaue­ rungseinheit, was ihn mit Hilfe von u. a. kühltechnischer Simulation seiner natürlichen ‚Schlafbedingungen‘ der Langzeitlagerung in der Bank verfügbar macht; andererseits ist er eine Verbreitungsein­ heit und zeigt Mobilität und Transgression an. Geeint werden diese Zuschreibungen durch eine dritte, höherstufige, die den Same traditionell als Fortpflanzungseinheit fasst, aber im 20. Jh. populationsgenetisch für den Fortpflanzungserfolg der Population („reproduktive Fitness“) sowohl Überdauerungsfähigkeit als auch Mobilität verlangt. In agrarischen Praxen unterliegt die natürliche Selektion der menschlichen Handlung. Der Mensch entscheidet, welche Samen keimen und welche Pflanzen sich fortpflanzen dürfen. Er bleibt dabei aber auf die inhärente Fähigkeit des Samens angewiesen, Zeit überdauern und mobil gehandelt werden zu können. So liegt im auswählenden Sammeln von Pflanzensamen, gepaart mit der umfassenden Bedeutung von (griech.) spérma für „Same“ (s. Abschn. 5.3), der Metapherntransfer begründet, der heute bei „Samenbank“ an die sortierende Einlagerung von Proben männlicher Spermatozoen104 statt von Saat- und Züchtungsgut denken lässt. Der nutzenstiftende Mehrwert einer Spermatozoenbank besteht in der mobilen Bereitstellung von sortierten Keimzellenproben für die gezielte Reproduktion und Züchtung: in den Formen

103 Baskin, Jerry M. und Carol C. Baskin, „A classification system for seed dor­ mancy“, in: Seed Science Research, 14(1)/2004, S. 1-16. 104 Der Ausdruck deutet noch darauf hin, dass bis zur Entdeckung der Eizellen im 19. Jh. die männlichen Spermien als das alleinige zeugende Agens der menschlichen Fortpflanzung erachtet und entsprechend mit dem Zusatz zóon (griech. Lebewesen) bezeichnet wurden.

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der In vitro-Fertilisation105 und der künstlichen Besamung (so der Ausdruck in der Tierzucht). Ihr Vorbild haben diese biomedizinischen Techniken in der uralten agrarischen Praxis der künstlichen Bestäubung bei der Pflanzenzüchtung.106 Keimzellen zu sammeln, überhaupt Zellen zu sammeln, bezieht sich zwar biologisch auf andere Objekte als Pflanzensamen, denn letztere enthalten Em­ bryonen und leiten sich von der Frucht her (die sich wiederum vom Samen herleitet). Aber sie sind nicht gänzlich und absolut anders. Denn auch der Terminus „Keimzelle“, der hygienische Ausdruck „Keime“ für Mikroben und das „Keimplasma“ in der „Keimbahn“ verdanken sich der Idee eines gekeimten Samens. Der Keim weist auf eine Einheit mit zeugender Kraft hin, die sich selbst überwunden hat: den Samen. „Same“ steht hier deshalb in theoretisierender Absicht für eine lebende reproduktive Einheit, die an sich107 Kontinuität hat, sie aber für sich negiert. Dieser Gedanke ist Hegels Naturphilosophie entlehnt. Ein Same ist der Möglichkeit nach Pflanze, nicht aber in Wirklichkeit.108 „Same“ meint ein Potenzial des Werdens, der Entwicklung, der kontinuierlichen Differenz, das nicht im Individuum verwirklicht oder aufgehoben werden kann. In Samenbanken wird gleichsam das „An und Für Sich“ des Samens gesammelt: die Identität des Objekts mit sich selbst und deren Negation.109 Dem so verstandenen Begriff nach kann „Same“ daher auch die sich beständig

105 Dafür braucht es auch extrakorporale Eizellen, anders als bei der künstlichen Besamung. 106 Biologisch entspricht der Spermatozoenbank im pflanzlichen Bereich die Pol­ lenbank. Diese wird v. a. für die Züchtung von Bäumen angelegt, kann aber nur das Erbgut des männlichen Elters sichern. Entsprechend werden die auch der ‚weiblichen‘ Züchtungslinie entstammenden Pflanzen in sog. „seed orchards“ auf Plantagen vorgezogen (wenn möglich, als Klone in Form von „clonal seed orchards“, um ein höheres Selektionsdifferenzial für die Züchtung zu errei­ chen), getestet und künstlich bestäubt, was flächenintensiv ist. Da Pollen die standardmäßige Kühllagerung bei -20 °C schlecht übersteht, besteht die zu­ künftige Methode der Wahl in der Kryokonservierung bei ultratiefen Tempe­ raturen (vgl. zur Technik Schumacher, in diesem Buch). 107 Der Ausdruck „an und für sich“ wird hier in seiner klassischen Bedeutung (Hegel) verwendet. 108 Vgl. Hegel, Georg W. F., Jenaer Systementwürfe III: Naturphilosophie und Philosophie des Geistes [1805/06], Hamburg 1987, insb. S. 120-137. 109 „Die Pflanze tritt so als einfache unmittelbare Einheit des Selbsts und der Gattung auf – als Samenkorn.“ (Hegel, Naturphilosophie, S. 121).

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zweiteilende Mikrobe und die pluripotente Stammzelle110 von Tier (und Mensch) adressieren. Same ist eine spekulative Einheit. Mit dieser Aussage wird der Versuch unternommen, das bislang ungelöste Problem zur Frage nach dem Was des Sammelns theoretisch zu erfassen, das an anderer Stelle so formuliert wurde: „In short, the basic understanding of what is stored in a biobank cannot be taken for granted.“111 Diese spekulative Ausgangssituation ermöglicht auch, den Schritt zu modernen Bio-Ontologien nachzuvollziehen, wie Biobanken mit ihren Sammlungsobjekten sie verkörpern. Durch das ‚Machen‘ ihrer Objekte heben sie die selbstverständliche Trennung der natürlichen Bereiche112 Pflanze, Tier und Mensch auf und versuchen, sie auf kleinste gemeinsame Nenner zu bringen. Zuvorderst sind dies Zellen, Gene und jüngst auch Genome, weshalb seit den 1970er Jahren der Ausdruck „Genbank“ weitaus gebräuchlicher ist als „Samenbank“. Was außerhalb der Lebendsammlung Pflanze oder Tier ist und eingesammelt wird, wird in der Bank zum Biofakt nach technischen Maßgaben. Die Sammlung – jede Sammlung – konfiguriert das gesammelte Objekt neu und anders, so auch das Objekt Pflanze und mit ihr den Samen, wie in Abschn. 2 erläutert. Mit anderer Stoßrichtung hat dies bereits Walter Benjamin in Bezug auf Totsammlungen festgehalten: „Es ist beim Sammeln das Entscheidende, daß der Gegenstand aus allen ursprünglichen Funktionen gelöst wird um in die denkbar innigste Beziehung zu seinesgleichen zu treten. Diese ist der diametrale Gegensatz zum Nutzen.“113 Benjamins Schlussfolgerung orientiert sich an Schau­ 110 Auch der Ausdruck „Stammzelle“ ist, ähnlich wie „Stammbaum“, an Pflanzen orientiert, genauer an der (lat.) matrix, dem Mutterstamm eines Baumes, von dem aus Verzweigungen stattfinden und sich Triebe entwickeln. 111 Hoeyer, Klaus, „The Ethics of Research Biobanking: A Critical Review of the Literature“, in: Biotechnology & Genetic Engineering Reviews, 25(1)/2008, S. 429-452, hier S. 431. Die Aussage wurde getroffen am Beispiel der Einla­ gerung von Plazenta- und Tumorgewebe in Biobanken und der Frage, inwie­ weit Spender, die gemäß dem Prinzip des informed consent der Einlagerung zustimmen müssen, überhaupt verstehen können, was das genaue Objekt der Lagerung ist und wozu es dient oder in Zukunft dienen könnte. 112 Den Bereich der Mikroben lasse ich hier beiseite, weil er keine Tradition der lebensweltlichen Selbstverständlichkeit hat. Vielmehr bedarf er Techniken der mikroskopischen Sichtbarmachung, die mit dem Labor im Zusammenhang stehen. 113 Benjamin, Walter, „Der Sammler“, in: ders., Das Passagen-Werk, Bd. I. Frank­ furt a. M. 1983, S. 271.

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sammlungen sowie der ästhetisierenden Subjektpraxis des Sammlers und muss für Biobanken zurückgewiesen werden. Hinter dem Ausdruck „seinesgleichen“ lauert ferner logischer Sprengstoff, wie oben gesehen. Gemeint ist, dass in der Sammlung nicht nur Objekte, sondern auch ihre Interrelationen gesammelt werden, die in der Sammlung erst entstehen. Die Frage, ob bei Lebendsammlungen der Gegenstand wirklich „aus allen ursprünglichen Funktionen gelöst wird“, muss als offene hier stehen bleiben. Bezüglich des Sammelns der Objekte aus einer Natur, die als zum Menschen ursprünglicher und evolvierend erachtet wird, sind zumindest starke Zweifel an der Aussage angebracht. Mit Kant gesprochen, können Lebendsammlungen zwar nicht die „Wechselwirkungen“ der organismischen Natur sammeln, d. h. natürliche Interrelationen zwischen etwa Pflanzen, Boden und Insekten; aber sie übersetzen die überlebenswichtigen in Funktionen und simulieren sie durch künstlichen Bodenersatz bei der Keimprüfung (s. Abb. 2) und kontrollierte Bestäubung durch eigens eingesetzte Bienen bei der Verjüngung der Samen im Gewächshaus. Demnach wäre das Wie des Sammelns notwendige Bedingung für die Fragen, was eigentlich gesammelt wird und warum. Das Wie zeigt sich zuvorderst an einheitlichen Materialien für die Sammlungsbehältnisse. Neben Metallkonserven und neueren Verbundmaterialien dominiert Glas in verschiedenen Formen. Trotzdem unterscheiden sich die Objekte von In vitro-Präparaten medizinoder naturhistorischer oder volkskundlicher Sammlungen, für die jüngst aus ethischen Gründen gilt, dass sie ihre humanen Objekte auf einen etwaigen Bestattungsanspruch überprüfen müssen. Die tiefgekühlten Samen aber sind nicht etwa Untote oder Zombies, die nicht sterben können, sondern Unlebende, denen das Wachsen noch nicht bzw. nicht mehr gestattet wird (s. Abschn. 5). Anhand der klassischen Konservierung in Glas entstand die Einsicht der Wissenschaftsgeschichte, dass es sich bei in vitro um die Darstellung potenzieller Unsterblichkeit des Lebenden handelt.114 Hier ist dieser Zweck anders konfiguriert, weil es nicht um den Modus der Darstellung, sondern den der Nutzung geht und damit um die Frage: Wie können Lebewesen und ihre Teile in Langzeitlagerung realiter am Leben erhalten werden, um als Mittel der Produktion zu dienen? Letztlich gibt das zugegebene Medium (z. B. Wasser, Nährlösung, 114 Rheinberger, Hans-Jörg, „In Vitro“, in: Geimer, Peter (Hg.), UnTot. Existenzen zwischen Leben und Leblosigkeit, Berlin 2014, S. 68-79.

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Alkohol oder Benzol) den Ausschlag, ob das Objekt tot oder lebend ist, wie es der jeweilige Zweck verlangt – oder ob es möglicherweise im Zwischenzustand der Latenz lebt („latentes Leben“) wie der tiefgekühlte Same im Einweckglas. Die Transparenz von Glas ermöglicht Kontrolle und ein beobachtendes Dabeisein, wenn das Objekt stirbt oder zum Leben gelangt („keimt“, „schlüpft“, etc.). Denn es hängt von den verfügbaren Techniken der Instandhaltung und Bevorratung ab, was man überhaupt so sammeln kann, das es (mit Benjamin), „in die denkbar innigste Beziehung zu seinesgleichen“ tritt. Dies adressiert nicht die Zwecke des Objekts, d. h. das Wozu des Sammelns. Wie oben beschrieben erweisen sich die Objekte dahingehend als flexibel und die Sammlungen als multifunktional. Im Arbeitszusammenhang von Samenbanken sind Samen epistemische Objekte der Forschung, u. a. als historische und historisierende Objekte (Archäobotanik,115 Archäomikrobiologie), taxonomische und systematisierende Objekte, molekularbiologische Objekte mit z. B. züchterischer oder therapeutischer Anwendungsorientierung, technische Objekte (der Kühlung, Logistik und Datenverarbeitung) und kulturelle Objekte (Kultur- und Naturschutz, Ethnobotanik116). Über ihren Status als im Ernstfall bereitzustellende militärische Objekte wird, falls es ihn geben sollte, öffentlich nichts bekannt, wenngleich dies insbesondere bezüglich Mikroben, global gesehen, nicht als unwahrscheinlich abgetan werden sollte. Das Wie des Sammelns in den Vordergrund zu rücken ist eine Alternative zur bisherigen Vorstellung, das Was des Sammelns als indizierende Kategorie für die Bezeichnung der Sammlung zu wählen: Mikroben, Pflanzen, Tiere, Bücher, Akten. Bezüglich der beiden letzteren bezeichnen wir die Sammlung gemeinhin als Bibliothek bzw. Archiv. Während die Bibliothek das Buch im Namen wie als 115 Vgl. Jacomet, Stefanie und Angela Kreuz, Archäobotanik, Stuttgart 1999. Eine Pionierin der Archäobotanik war die Genetikerin Elisabeth Schiemann (1881–1972). Sie arbeitete u. a. am Botanischen Garten in Berlin-Dahlem und an der Vorläuferinstitution des IPK Gatersleben, d. h. an Deutschlands erster nationaler Samenbank. Zu Schiemann siehe Nürnberg, Reiner; Höxtermann, Ekkehard und Martina Voigt (Hg.), Elisabeth Schiemann. 1881–1972, Rangs­ dorf 2014. 116 Nazarea, Virginia, Cultural memory and biodiversity, Tucson/AZ 2006; Naza­ rea, Virginia D.; Rhoades, Robert E. und Jenna E. Andrews-Swann (Hg.), Seeds of Resistance, Seeds of Hope. Place and Agency in the Conservation of Bio­ diversity, Tucson/AZ 2013. Aus populärwissenschaftlicher Sicht vgl. Hanson, Thor, The Triumph of Seeds. How Grains, Nuts, Kernels, Pulses, and Pips Con­ quered the Plant Kingdom and Shaped Human History, New York 2015.

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Objekt hat, und somit die Einheit von Signifikat und Signifikant indiziert, trifft dies auf das Archiv wenigstens beim zweiten Blick nicht zu. Es enthält archivarisch ausgewählte Dokumente, Akten und Nachlassobjekte (Archivalien) verschiedenen Datums, bezeichnet sich aber dem Griechischen nach als eine Sammlung von „Ursprüngen“ und „Anfängen“.117 Damit verweist das Archiv auf Ursprungsnarrative von „Kultur“, „kulturellem Erbe“ und „kulturellem Gedächtnis“, die es gleichwohl mit dem Museum teilt – und mit der Samenbank. Wie zu sehen ist, ist auch das Archiv mit definitorischen Problemen konfrontiert, obgleich jede und jeder zu wissen scheint, was ein Archiv ist.118 Entsprechend sollten wir weniger hohe Ansprüche an „Samenbank“ stellen und damit zufrieden sein, dass eine Samenbank Samen enthält – auch wenn diese, analog zu Archivalien in Archiven, sehr verschiedene Formen und Bedeutungen annehmen können. In Lebendsammlungen finden sich auch Bücher und Akten bzw. Bibliotheken und Archive. Aber dort dienen sie als Referenzsammlungen zum Bestimmen, Bezeichnen und Sortieren. Sie machen nicht das Eigentliche des Sammelns und der Sammlung aus. Zu diesem Eigentlichen haben wir bislang weder ein faktisches noch ein imaginatives Verhältnis. Ein solches könnte auf ein „Uneigentliches“ der Sammlung verweisen: auf den Leiter der Samenbank oder auf den in ihr Arbeitenden. Anders als bei den vielen Karikaturen von Bibliothekarinnen und Archivaren119 als melancholischverschrobenen Personen, die über ihre Objekte ordnend herrschen, während sie gleichzeitig in ihnen gefangen sind, entsteht vor unserem inneren Auge kein Bild vom „Samenbanker“. Wie sollte es auch, haben Samenbanken doch abgesehen vom „Tag der offenen Tür“ keinen Publikumsverkehr. Im Gegensatz zu Archiven und Bibliotheken schreibt kaum jemand seine Doktorarbeit in oder wenigstens angesichts einer Samenbank, selbst wenn diese DoktorandInnen beherbergen. Und so gibt es über Samenbanker keine skurrilen Geschichten (außerhalb der Fach-Community natürlich). 117 Dabei in enger Verbindung mit den Bedeutungen der Herrschaft und Regie­ rung stehend, insbesondere im „Regierungsgebäude“ (griech: archeîon). Vgl. Frisk, Hjalmar, Griechisches Etymologisches Wörterbuch, Bd. 1, Heidelberg 1960, S. 158; Beekes, Robert, Etymological Dictionary of Greek, Vol. 1, Boston 2 2016, S. 145. 118 Nicht so natürlich Derrida, Archive Fever, sowie die eingangs genannte archiv­ wissenschaftliche Literatur. 119 Vgl. Kopp-Oberstebrink, Arbeit am Archiv.

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Stellen wir uns den Samenbanker (oder die Samenbankerin) als eine mit Daunenjacke bekleidete Person vor, die vor der Stahltür eines großen Kühllagers mit Tausenden von Einweckgläsern sitzt, in das sie immer wieder kurz eintritt, um Samenproben einzulagern und herauszuholen. Selbstverständlich ist das ein völlig überzeichnetes Bild, aber das ist der Zweck der imaginativen Übung. Denn es macht klar, dass der Samenbanker nur Bruchteile seiner Arbeitszeit mit den Objekten am Ort ihrer Sammlung teilt, anders als die Bibliothekarin oder der Archivar. Die meiste Zeit arbeitet der Samenbanker im Labor, im Büro oder im Feld. Wo seine Objekte lebensverlängernden Maßnahmen ausgesetzt sind, kann er selbst nicht leben.120 Diese Einsicht bleibt verborgen, wenn der Samenbanker als Gärtner gefasst wird. Denn mit Blick auf das Was des Sammelns ließen sich Lebendsammlungen pflanzlicher und tierischer Art, wie gezeigt, auch über den Garten, d. h. den Botanischen und Zoologischen Garten, anstatt über die Samenbank theoretisieren (weiterführend Karafyllis und Lammers, in diesem Buch). Von dort gelangt man ideengeschichtlich unschwer zum biblischen Paradiesgarten und zur Arche Noah. Letztere wird auch von Samenbanken zur Interpretation ihrer Sammlung gerne bemüht (vgl. Vorwort, in diesem Buch), zumal Noahs Kastenschiff, anders als der Garten, eine feste räumliche Begrenzung als Behausung anzeigt. Sie sollte gleichwohl nur vorläufig sein – bis das Hochland des Ararat erreicht ist. Ähnlich verwenden das sogenannte „Arche-Paradigma“ auch Botanische Gärten und Zoos, die auf die Aussiedlung/Auswilderung von Nachkommen ihrer „draußen“ gefährdeten Objekte hoffen (und damit in der Tradition des „Weltnaturgärtners“ stehen; vgl. Frese, in diesem Buch). Wird dort im Modus der Hoffnung gesammelt und der Aufenthaltsort im Garten für gefährdete Objekte als vorläufig konzipiert, so sammeln zumindest einige der Samenbanken Rares in den Modi der Kontrolle, der Aneignung und Optimierung – weil die bisherige Welt schon verloren zu sein scheint. Auch in dieser Hinsicht einer selbst verursachten Verfallsgeschichte der Agrikultur ist die Samenbank paradigmatisch. Denn durch ihre Anbindung an die moderne Landwirtschaft entstammt sie einem System, das den Verlust der Arten- und Sortenvielfalt als Problem mit hervorgebracht hat, das nun wiederum durch die Samenbank gelöst 120 Hier ergibt sich eine gewisse Parallele zum Depot eines Museums, einge­ schränkt auch zum Magazin in Bibliothek und Archiv.

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werden soll. Imaginär ergibt sich eine Parallele zwischen Samenbank und Raumstation als dauerhaft provisorischen Aufenthaltsund Produktionsorten. Dazu nur ein Beispiel: An der Lomonosov Moscow State University in Russland ist gegenwärtig ein Biobankprojekt mit dem symbolischen Titel Noah’s Ark (National Depositary Bank of Living Systems) in der Entwicklung.121 Die Institution soll „all living organisms on Earth“ sammeln und interdisziplinär Konservierungstechniken, Regularien und Forschungsziele für das Lebendmaterial erarbeiten.122 Ob man sich daran orientiert hat oder nicht: Der wissenschaftshistorisch informierte Leser denkt sofort an den Ausdruck „Weltkollektion“, den Nikolai I. Vavilov (1887–1943) vor hundert Jahren für seine Pflanzensammlungen entwickelte (und der dem in der DDR verwendeten Ausdruck „Weltsortiment“ Pate gestanden haben dürfte). Noahs Arche war zwar ein Provisorium, aber sie war von dieser Welt und meinte nicht eine Parallelwelt. Wenn Akteure in Samenbanken den Hinweis auf die Arche bemühen, dann nutzen sie beide Interpretationsformen von „Welt“, halten aber die ihrige in der Bank für immanent (die Gegner der Ex situ-Erhaltung halten umgekehrt „die Natur“ außerhalb der Bank für immanent). Die Immanenz der Sammlung erscheint hier im Lichte einer transzendentalen Sorge (lat. cura) um das Gegebene, wie sie wohl noch am ehesten in den Professionen des „Kustos“ eines Botanischen Gartens und des „Kurators“ in einer Samenbank anklingt. Letzterer betreut Teile von Sammlungen, für deren Objekte er eine besondere Expertise aufweist. Sein Spezialwissen hat in Teilen den Charakter des „impliziten Wissens“,123 denn er muss die Feinheit seines konservatorischen Wissens über die von ihm betreute Pflanzengattung nur selten teilen, und wenn, dann nicht vollständig. Die kühl gelagerten Samen sieht er meist nur einmal in seinem Arbeitsleben als Pflanze aufwachsen: wenn die Samen auf dem Feld oder im Gewächshaus wieder verjüngt werden – ein besonderes Ereignis, das mit einem existenziellen Erlebnis verbunden ist.

121 Bryzgalina, E. V.; Alasania, K. Y., Varkhotov, T. A. et al., „The social dimension of biobanking: objectives and challenges“, in: Life Sciences, Society, and Policy, 13/2017, https://dx.doi.org/10.1186 %2Fs40504-017-0059-5 (letzter Aufruf: 28.1.2018). 122 Ebd. 123 Vgl. Polanyi, Michael, The Tacit Dimension [1966]. With a new foreword by Amartya Sen. Chicago 2009.

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Nicole C. Karafyllis Abb. 2: Keimprüfung in der Genbank am IPK Gatersleben, in einem Labor in Nähe der Kühlräume. Links ein Plastikbeutel mit einer Woche alten, gekeimten Samen einer Hafersorte; rechts ein drei Tage alter Beutel mit augenscheinlich noch nicht gekeimten Samen von Gerste. Aufnahmedatum: 18.12.2015. Aufnahme: Nicole C. Karafyllis.

Davon zu unterscheiden ist die regelmäßige Keimprüfung, die ebenfalls der sorgenden Instandhaltung dient und v. a. von technischen Assistentinnen durchgeführt wird und damit in Frauenhänden liegt. In regelmäßigen Abständen wird den Mustern einer Akzession eine abgezählte Menge Samen entnommen, in je einen Plastikbeutel mit bodensimulierendem Nährsubstrat ‚gesät‘, und so geprüft, wie hoch die Keimrate ist (s. Abb. 2). Entsprechend gut ist die Keimfähigkeit der Samen. Daraus lässt sich erschließen, wann die Samen auf dem Feld wieder verjüngt werden müssen, um die Keimfähigkeit in der Natur wieder ganz zu regenerieren. Derart sorgend-kontrollierend bewirtschaftete Teilsammlungen grenzen sich als aktive Sammlung von der passiven Sammlung ab, für die etwa der nur Samen lagernde SGSV in Norwegen steht. So finden wir auch hier verschiedene Liminalitäten und Gradualitäten: die Kühlkammer, das Labor und das Feld als spatiale Liminalitäten der Samenkeimung; die Keimfähigkeit als graduelles Kontinuum von lebend und tot, das in der Lebendsammlung niemals bis zu seinem Ende – dem Verlust der Keimfähigkeit bzw. Tod ‚des Musters‘ – gelangen darf und damit auf Objektebene Unendlichkeit beansprucht. Auf Ebene der Sammlung zeigt sich dies als Hoffnung auf Ewigkeit (s. u.). Mit dem durch das Wort „Arche“ verkörperten Hinweis auf die Sorge, die letztlich um ein mögliches Ende (den Tod oder sogar die

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Apokalypse) des originär Gegebenen kreist, werden die Objekte der Lebendsammlung aber gleichzeitig von ihrem inneren funktionalen Zusammenhang wie auch von ihrer technischen Bedingtheit entkoppelt. Die Objekte erscheinen so als in die Anschauung gebrachte Einzelexemplare, die primär die Schöpfung und deren Bewah­ rung exemplifizieren – und allenfalls sekundär ihre Nutzung. Die Arche-Metapher ist deshalb für Samenbanken politisch wie wissenschaftlich fehlleitend, auch wenn damit ein genereller Grundkonflikt überwunden werden soll. Die Pole Bewahren und Nutzen markieren diesen Grundkonflikt, in dem alle Samenbanken stehen (vgl. z. B. die Überschrift im Beitrag von Graner, in diesem Buch) und der zu Interessenkonflikten zwischen den verschiedenen Akteuren im Biobanking führt. Er kann stimmiger und durchaus im gewählten Bild bleibend in die Daseinsmetapher vom „Schiffbruch mit Zuschauer“ übersetzt werden, wobei die aus dem Schiffbruch stammende Planke, an die sich die einen auf hoher See noch klammern, an Land gespült zum Baumaterial für die anderen wird, die ein neues Schiff bauen wollen.124 Damit wäre das Sammeln von Biodiversität als einerseits dem Naturschutz verpflichtet, andererseits als die gewähnten Innovationen der Synthetischen Biologie ermöglichend dargestellt. 3.3 Sammeln als Lesen als Sortieren Ein dritter Grund für die orientierungsstiftende Funktion von „Samenbank“ liegt an den Begriffsfeldern, die der Ausdruck versammelt und in die die Samenbank gleichsam wie in Begriffsarchive eingebettet ist. Denn hier verschränken sich einerseits Agrartechniken mit Intellektualtechniken, andererseits Agrartechniken mit ökonomischen Begriffen aus Handel, Buchhaltung und Finanzwesen – nicht zuletzt mit der altitalienischen banca als einstigem Tisch in einer Wechselstube. Wirkmächtig ist zunächst die Entwicklung hin zu „lesen“, die das Verb „sammeln“ (insb. in seiner Bedeutung als „auflesen“ von Holz oder Früchten) über das lateinische legere erfahren hat. Hier sind zwei Kulturtechniken in ihren Hintergrundbedeutun124 Diese moderne Interpretation vom Schiffbruch findet sich in Blumenberg, Hans, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frank­ furt a. M. 1979.

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gen des Zusammenbringens125 und Begreifbarmachens miteinander verwoben,126 wovon heute noch die Wörter „Sortenlese“ und „Weinlese“ zeugen127 − aber auch das in Sprache überführte Phänomen, dass man sich beim Denken bisweilen „sammeln“ muss, um konkret weiterdenken zu können.128 Am Ende betreibt man vielleicht sogar eine sortierende „Nachlese“.129 Das Wort „Sorte“ wiederum – dem als Pflanzensorte im tierischen Bereich „Rasse“130 entspricht – ist aus dem lateinischen sors („Los“) abgeleitet und meint den kaufmännischen Ausdruck für die Güteklasse einer Ware.131 Entsprechend werden Waren „sortiert“ und setzen sich „Sortimente“ zusammen – letzteres ein Ausdruck, der in der DDR-Bezeichnung „Weltsortiment“ für die nationale Saatgutbank in Gatersleben (das heutige IPK) bis in die 1980er Jahre eine Rolle spielte.132 Samenbanken lassen sich deshalb als Institutionen der Bewahrung, aber

125 Ein altes griechisches Wort für Denken ist syniénai (wörtlich „zusammen­ bringen“), vgl. Platon, Euthydemos 2784f. Ich danke Claus-Artur Scheier für diesen Hinweis. 126 Heidegger hat in dieser Lesart eine neue Sicht der Logik des (griech.) lógos ent­ wickelt (als „lesende Lege“), dessen Versprachlichung er als „versammelndes vorliegen-Lassen des Anwesenden in seinem Anwesen“ fasste. Vgl. Heidegger, Martin, „Logos (Heraklit, Fragment 50)“, in: ders., Vorträge und Aufsätze. Teil III, Pfullingen 31967, S. 3-25, hier S. 24. 127 Vgl. Lemma „lesen“, in: Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. v. Elmar Sebold, Berlin, New York 242002, S. 571. 128 Neben dem Zusammenbringen wäre auch an das Überbringen, -tragen und -setzen zu denken. So hat das lat. translatus (als „Übersetztes“, Partizip Perfekt zum Verb transferre) auch die agrarische Bedeutung gehabt, einen Setzling oder Pflanzling (d. h. eine vegetative Reproduktionseinheit) aus dem erhalten­ den Winterquartier in den Frühjahrsboden zu übersetzen, z. B. Zwiebeln. Vgl. das Lehrgedicht vom Abt des Klosters auf der Reichenau, Walahfried Strabo (809-849), De cultura hortorum/Über den Gartenbau, lat./dt., Stuttgart 2002, S. 8, Vers 70. 129 Der Same scheint auch auf im Denken der Differenz Sprache/Schrift, wie sie Jacques Derrida ausgehend von der Polysemie in La dissémination (Paris 1972) entwickelt hat. Die Überschrift spielt auf die generative Verbreitung des Samens an. 130 Dieser Ausdruck wurde vor wenigen Jahrzehnten im Deutschen auch noch für alte regionale Pflanzenzüchtungen verwendet („Landrassen“); ein Terminus, der sich im Englischen bis heute als landrace gehalten hat. 131 Vgl. Lemma „Sorte“, in: Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. v. Elmar Sebold, Berlin, New York 242002, S. 858. 132 Vgl. Stubbe, Geschichte des Instituts Gatersleben.

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auch der Be-Warung verstehen. Zudem hat sich die Bedeutung der Währung erhalten, insofern „Sorten“ auch Devisen meinen.133 Im Pflanzenbau und in der Pflanzenzüchtung spricht man auch heute noch selbstverständlich von „Getreidesortimenten“ und „Rebsortimenten“, im Bereich der Samenbanken war das „Erwin-BaurSortiment“ von Wildkartoffeln wichtig für die Resistenzzüchtung.134 In das angrenzende Wortfeld der Buchhaltung gehören „Inventar“ und „Register“, beides häufige Ausdrücke zur Bezeichnung von Lebendsammlungen, etwa im Nationalen Inventar Pflanzengenetischer Ressourcen in Deutschland (PGRDEU),135 im „Sortenregister“ des Bundessortenamts und zugehörigen Gesetzestexten, oder im „virtuellen Register“ der deutschen Weinrebensammlung (vgl. Maul, in diesem Buch). Wenn die Registratur als „historisches Apriori des Archivs“136 gilt, dann ist dessen Entsprechung für die Samenbank das „Sortiment“. Sammeln ist also eine mehrdimensionale Kulturtechnik. Dass sich, wie jüngst von Christian Kassung und Thomas Macho behauptet, die „Kulturtechniken“ Schreiben, Lesen, Rechnen und Abbilden durch eine „epistemische Dimension“ unterscheiden lassen von nur „allgemeinen Techniken“ wie „Sammeln, Jagen“ und „Pflügen“,137 ist mehr als fragwürdig und zeigt die bekannte Abwertung agrikultureller Techniken und Wissensformen. Für eine Kulturtechnik fehle es dem Sammeln an Selbstreferenzialität und „symbolischer 133 Diese Bedeutung ist nachgewiesen im Wörterbuch der Gebrüder Grimm, Lem­ ma „Sorte“. Vgl. Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch. Zehnten Bandes erste Abteilung, Leipzig 1905, Sp. 1811-1813. 134 Vgl. zur heutigen Nichtidentifizierbarkeit jenes Sortiment Karafyllis und Lammers, Big Data, S. 176-178. In diesem Zusammenhang wird auch die Fra­ ge nach dem „Original“ bzw. der „unikaten Akzession“ der Lebendsammlung andiskutiert. 135 Vgl. https://pgrdeu.genres.de/ (letzter Aufruf: 22.1.2018). Das PGRDEU wird von der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) koordiniert. 136 So Kopp-Oberstebrink, Arbeit am Archiv, S. 29. 137 So Kassung, Christian und Thomas Macho, „Einleitung“, in: dies. (Hg.), Kul­ turtechniken der Synchronisation, München 2013, S. 9-24, hier S. 16-18. Kulturtechniken leisteten „symbolische Arbeit“. Ihre Charakteristika seien Selbstreferenzialität, Kontextneutralität und der Bedarf an sowie das Gene­ rieren von Medien. Offenbar ist bei den Autoren die Digitalisierung bereits zum A priori des Weltbezugs geworden, denn materiell ist deutlich, dass auch Pflanzen sowohl Medien bedürfen als auch generieren – zuvorderst den Boden. Auch ihre „symbolische Arbeit“ ist unbestritten, etwa in Form von Landschaft. Und was wäre selbstreferenzieller als der Same, der stets auf sein früheres und zukünftiges Selbst in Pflanzengestalt zurück- und vorausweist?

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Arbeit“: Menschen könnten vom Lesen lesen, vom Schreiben schrei­ ben, aber nicht das Sammeln im Sammeln thematisieren.138 Allein schon der vorliegende Sammelband dient als Gegenbeispiel. Denn „Sammeln“ ist in systematischer Lesart kontextneutral, nicht aber in begriffsgeschichtlicher. Die Sinnlosigkeit des obigen Definitionsversuchs von „Kulturtechnik“ qua Selbstreferenzialität wird vollends klar, wenn man an ein altes philosophisches Problem erinnert: dass es unmöglich ist, das Denken im Denken zu denken. Vielmehr referiert man beim Denken auf das Gedachte bzw. die Denkinhalte (lat. cogitata).139 Soll also ernsthaft behauptet werden, dass Denken keine Kulturtechnik ist und (im Sinne von Kassung und Macho) somit keine epistemische Dimension hätte? Dagegen sind fundamentale Einwände vorzubringen. Während die unmittelbare Operation des Denkens, Schreibens etc. jeweils ‚selbstblind‘ ist, ist die Reflexion auf sie an Sprache überhaupt gebunden – an die Als-Struktur.140 Wer über das Schreiben/Denken als Schreiben/Denken schreibt, hat zwar nicht unbedingt Geschriebenes/Gedachtes zum Gegenstand, aber jedenfalls das Geschrieben/ Gedacht-haben (damit ist der Wertebereich der Funktion Schreiben/ Denken zum neuen Definitionsbereich geworden). Ebenso verhält es sich mit Sammeln, weshalb wir das Sammeln von Eichhörnchen vom menschlichen Sammeln unterscheiden. Der Mensch unterscheidet die Operation als Sammeln etwa vom Jagen. So unterscheidet sich das menschliche Sammeln vom tierischen als Kulturtechnik.141 138 Ebd. 139 Vgl. Husserl, Edmund, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, hg. von Elisabeth Ströker, Hamburg 31996, §17, S. 82ff. (mit Bezug auf Descartes’ Meditationes). Weiterführend StekelerWeithofer, Pirmin, Denken. Wege und Abwege in der Philosophie des Geistes, Tübingen 2012. 140 Vgl. dazu jüngst Scheier, Claus-Artur, Luhmanns Schatten. Zur Funktion der Philosophie in der medialen Moderne, Hamburg 2016, S. 102-104. Dem Autor schulde ich persönlichen Dank für die Präzisierung meines obigen Gedankens. Vgl. auch Fleck, Tatsache, S. 68f. Dort weist Fleck mit Kritik u. a. am Wiener Kreis darauf hin, dass es ein Fehler sei, unsere „heutigen wissenschaftlichen Auffassungen in vollständigem Gegensatze zu allen anderen Denkarten“ zu verstehen, „als ob wir sozusagen klug und sehend geworden, die kindische Befangenheit des primitiven oder archaischen Denkens einfach abgestreift hät­ ten.“ 141 Völlig richtig verknüpft deshalb Rolf Elberfeld sein Denken von Kulturtechnik mit dem von Sprache. Er hält dabei fest: „Kultur“ (cultura) stammt von lat. colere für die Bewirtschaftung des Ackers, meint aber seit Cicero mit dem Aus­

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Es ist légein als mitlaufende Reflexion auf das Gesammelt-haben oder den gewonnenen Bestand. Der obige Unterschied von „epi­s­ temischen Techniken“ und „allgemeinen Techniken“ ist auch dahingehend irreführend, dass mit „epistemisch“ nicht nur „durch Sprache mitkonfiguriert“ gemeint sein soll, sondern „durch systematisierende Sprache (also taxonomisch) mitkonfiguriert“. Dann bezöge man sich bestenfalls auf den Unterschied von Hochkultur und Frühkultur – aber die Frühkulturen sind solche wiederum nur kraft des légein. Dagegen ließe sich einwenden, dass „Kulturtechnik“ nun nicht mehr hinreichend präzise bestimmt und etwa nicht mehr von „Technik“ abgegrenzt werden kann. Deshalb sei ergänzt, dass Kulturtechniken ein kulturstiftendes142 Moment haben, aus dem sich ihre Macht, das Alltägliche zu durchdringen und selbstverständlich zu werden, speist. Denn die Besonderheit von Kulturtechniken ist, dass sie uns nicht als Technik(en) erscheinen. Dies betrifft, wie gesehen, in besonderer Weise das Sammeln. So lässt sich auch die jüngere Zumutung erklären, das Archiv zu naturalisieren. Georg Toepfer votiert jüngst dafür, die Ausdrücke „Archiv der Natur“ und „Archiv“ (als kulturelle Einrichtung) zu harmonisieren.143 Die Rede vom „Naturarchiv“ ist geologisch, paläontologisch und archäologisch geprägt und reicht, so Toepfer, bis zum Ende des 18. Jh.s zurück.144 Epistemologisch relevant ist die Schichtung. Der Vorstellung, man könne geologische Ablagerungen „lesen wie historische Dokumente“, bzw. sie seien „Speicher“ der Naturgeschichte, entgegnet er zumindest: „Die Geschichte der Natur ist nicht ohne die Probleme einer Hermeneutik der Natur zu haben.“145 „Archiv der Natur“ wurde zu einer festen Formel im druck „cultura animi“ eine übergeordnete Pflege des Geistes, die semantisch in den Bildungsbegriff der Aufklärung Eingang fand. Vgl. Elberfeld, Rolf, Sprache und Sprachen. Eine philosophische Grundorientierung, Freiburg 32014, S. 281302. 142 Gedacht im Sinne von „Urstiftung“ in der Verwendung bei Husserl. Vgl. z. B. Husserl, Krisis, §15, S. 78f. 143 Toepfer, Georg, „Archive der Natur“, in: Trajekte, 14(27)/2013, S. 3-7. 144 Ausführlich Kopp-Oberstebrink, Arbeit am Archiv, S. 35-39. Er kontextuali­ siert die Idee des „Archivs der Natur“ in einem organismischen Archiv-Ver­ ständnis, das als Metapher auf „die Welt“ ausgedehnt werde und weist ab­ schließend darauf hin, dass die Metaphernübertragung (eigentlich eine Rück­ übertragung) auf Institutionen zu „waghalsigen Theoriebildungen“ führte, die „das Eigentliche des Archivs in seinen Lücken erblicken wollten“ (S. 39) (mit Bezug auf Didi-Huberman, Georges, Das Archiv brennt, Berlin 2007, S. 7). 145 Toepfer, Archive der Natur, S. 5.

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Zuge von Programmen zum Bodenschutz in den 1980er Jahren. Toepfer sieht deutliche Parallelen zwischen kulturellen und natürlichen Archiven, als da sind: Sie verfügen über konsistente Kriterien des Ein- und Ausschlusses von Objekten; sie sorgen für den Stillstand von Prozessen, entsprechend werden die Ereignisse der Vergangenheit nicht prozesshaft, sondern als reine Konzentration abgebildet; beide Archive bilden durch eine Vielfalt an Objekten regelmäßige Muster von Prozessen und Transformationen ab; beide Archive beziehen sich qua Objekten auf die Vergangenheit und deren Anfänge; beide Archive stellen methodologisch Primärdaten zur Verfügung, die wissenschaftlich ausgewertet werden können. Als wesentlicher Unterschied wäre aber doch zu nennen: Die Natur bildet keinen Bestand ab. Sie repräsentiert damit auch weder menschliche Arbeit, Ordnungsanstrengung noch Handlungen des Sammelns.146 Zusammenfassend gilt: Beim Sammeln wird eine bestimmte Art von Objekten oder Objektklassen versammelt, die – wenn verlesen und sortiert – eine Sammlung bilden.147 Damit hat Sammeln im Mindesten eine epistemische, eine technische, eine soziale und eine ökonomische Dimension, gerade im Falle des Sammelns von Lebendem auch eine ethisch-moralische. In dieser Mehrdimensionalität wird erst klar, was zu einer Sammlung dazu gehört (gehören kann, gehören darf) und was nicht. Weil sich Sammeln stets mit der Inklusion und Exklusion von Objekten in die Sammlung beschäftigen muss, wird beim Sammeln (engl. gathering) das spezifische Sammeln (engl. collecting) selbst immer zum Thema – in Form der kontinuierlichen Reflexion über das Gesammelte/noch zu Sammelnde. Man kann sich dies als Gleichzeitigkeit von Pflücken/Sammeln und Thematisieren beim Pilzesammeln vorstellen, im Vergleich zum Fischfang, wo nach dem unspezifischen Fang das Ungewünschte aussortiert wird. „Sammeln“ im strengen Sinne meint demnach mehr als nur Aggregieren oder Anhäufen (Akkumulieren), sondern beinhaltet Kenntnisse des Diversifizierens sowie das Eruieren ihrer Möglichkeiten.

146 Dies würdigt eine Studie zur „Erde als Archiv“ aus wissenschaftshistorischer Sicht, vgl. Sepkoski, David, „The Earth as Archive: Contingency, Narrative, and the History of Life“, in: Daston, Lorraine (Hg.), Science in the Archives, Chicago 2017, S. 53-83. 147 Oder zumindest eine Teilsammlung einer übergeordneten Sammlung, je nach­ dem, wie man das „etwas“ interpretiert.

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4. Exploring vs. Collecting vs. „Zufallstechnik“: Sammeln als Abenteuer, Kulturtechnik oder Geschehnis? Im Folgenden fragen wir danach, wie sich bestimmte Perspektiven auf das Sammeln von Lebendem mit Interpretationen von „Sammeln“ und zugehörigen Genealogien vereinbaren lassen. Klar ist: Die immense Bedeutung der Kulturtechnik des Sammelns geht weder in den bisherigen Darstellungen zum „Sammeln als Wissen“148 noch zum „Menschen als Sammler“ auf. Bislang gibt es keine wissenschafts- und technikphilosophische Durchdringung des Themas, ungeachtet dessen, ob man nach Werken zum „Sammeln“ oder zur „Sammlung“ sucht. Historische Arbeiten sind wiederum meist Einzelstudien zu bestimmten Sammlungen (vorwiegend Museen) oder zu Sammlerinnen und Sammlern. Fragen wir zuerst anhand eines Fallbeispiels, inwieweit diese für das theoretisierende Anliegen des Beitrags orientierungsstiftend sein können, und arbeiten uns dann weiter vor zum Sammeln als „Feldforschung“. 4.1 Der Sammler zwischen Abenteurer und Instandhalter In den sammlungsorientierten Forschungen zum naturkundlichen Bereich stechen Abenteurer wie der Botaniker Joseph Banks (1743– 1820) hervor, der bei der ersten Weltumsegelung des legendären Captain James Cook mit an Bord war. Banks war ein renommierter Wissenschaftler und langjähriger Präsident der Royal Society, trotzdem ist er vorrangig als naturkundlicher Sammler und Kolonisator Australiens in Erinnerung geblieben. Zugehörige Genealogien betreffen zuvorderst die Biographie des Sammlers sowie hier die Genealogie des Empire, seiner Expansion und seiner ‚Sammelwut‘, ferner auch die des British Museum als nationaler Institution und die von privaten Sammlern, an die Banks seine Objekte ebenfalls abgab. Von einer Kulturtechnik des Sammelns kann hier nur in dem Sinne gesprochen werden, dass das Singuläre des Sammelns einer Person mit dem Generellen einer Sammlungsinstitution (und ihren Erhaltungstechniken) gelingend verbunden wird, besser noch mit einer auf das Sammeln der natürlichen und kultürlichen Fülle 148 Exemplarisch te Heesen, Anke und Emma C. Spary (Hg.), Sammeln als Wis­ sen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttin­ gen 2001.

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versessenen Epoche wie das europäische 18. Jh. Es war Banks’ Verdienst, dass mit Hilfe seiner Beratung von König George III. die Royal Botanic Gardens Kew zur größten Lebendsammlung der damaligen Welt ausgebaut wurden (heute gehört zur Institution RBG Kew eine der weltweit größten Samenbanken, die Millennium Seed Bank; vgl. Dickie, in diesem Buch). Sehr lange stand Banks dem Botanischen Garten auch als inoffizieller Direktor vor und entwickelte Techniken zur Kultivierung der Pflanzen aus fremden Klimaten, wovon zahlreiche gartenbauliche Veröffentlichungen zeugen. In der überlieferten Person Banks verkörpern sich bezogen auf „Sammeln“ die Praxen des Aufsammelns, Einsammelns und, nach seiner Rückkehr von den Sammelreisen, des lebenden Instandhaltens („Bewahrens“) des Gesammelten. Sein Sammeln selbst war nicht systemisch (s. u.), wohl aber nutzenorientiert und steuernd angeleitet. Am ehesten lässt es sich mit „sondierend“ beschreiben, d. h. als ein erstes Vor-Sammeln, das die Räume für späteres, systematischeres Sammeln erst erschließt. In dieser Sondierungsfunktion erfüllt das Sammeln Teilaspekte von „Technik“. Obwohl Banks’ sichere Überführung zahlreicher lebender Objekte, zuvorderst Pflanzen, nach England nachgewiesen ist, war ein Großteil der heimgebrachten Objekte schon beim Sammeln tot (oder wurde getötet) oder überstand letztlich die Schiffsreisen nicht. Die Vielfalt des von ihm Gesammelten wurde auf Totsammlungen und Lebendsammlungen aufgeteilt, z. B. landeten die Herbarsammlung, die Insektensammlung, die Muschelsammlung und die völkerkundlichen Artefakte im British Museum, die lebenden Pflanzen im RBG Kew und im Botanischen Garten in Edinburgh.149 Interessant ist für die Frage nach der Lebendsammlung, welche Objekte des vom Abenteurer-Sammler vergleichsweise diffus Akkumulierten erst durch das Überführen in Sammlungen genauer diversifiziert werden konnten, und welche Sammlung sich für welche Objekttypen zuständig sah. So lassen sich auch Objektgeschichten rekonstruieren. Die physische Möglichkeit des Objekts, als Totes taxonomischen Wert zu generieren, entscheidet quasi mit darüber, ob die Objektklasse bereits im Habitat tot besammelt werden konnte, z. B. im Fall von Muschelschalen.

149 Vgl. Chambers, Neil, Joseph Banks and the British Museum. The World of Col­ lecting, 1770–1830, London 2015.

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Abb. 3: Referenzsammlung. Ausschnitt aus der Ährensammlung von Weizen am IPK Gatersleben. Die getrockneten Ähren befinden sich in standardisierten Pappkartons mit diversen Etiketten zur Identifizierung der Varietät und Indizierung für die bezugnehmenden Teilsammlungen. Aufnahmedatum: 18.12. 2015. Aufnahme: Nicole C. Karafyllis.

Anders als beim Sammeln für Museen dürfen Lebendsammlungen ihre Objekte beim Sammeln grundsätzlich nicht töten,150 da sie ja in eine Lebendsammlung überführt und dort „am Leben erhalten“ werden sollen. Damit sind andere Sammlungszwecke verbunden, die sich ab etwa 1900 gerade durch eine Abkehr vom morphologischtaxonomischen Arbeiten in der Biologie und eine Hinwendung zur theoriegeleiteten Züchtungsforschung auszeichnen. Moderne Samenbanken beherbergen zwar eigene taxonomische Abteilungen mit den entsprechenden Totsammlungen (u. a. Bestimmungsbücher bzw. ganze Bibliotheken, Herbarien und Ährensammlungen von Getreiden), aber die klassifikatorische Arbeit mit den genannten Referenzsammlungen gilt nicht mehr wie früher als das eigentliche Ziel des Sammelns: die Natur in ihrer Vielfalt zu verstehen und davon Kunde zu tun (Naturkunde, Naturhistorie). Die „Totsammlung in der Lebendsammlung“ stellt ‚nur noch‘ Referenten für die Objekte der Lebendsammlung bereit, anders als die auf Anschaulichkeit und Bildung ausgerichteten Präparate von Tieren und Pflanzen in Naturhistorischen Museen. In gewisser Hinsicht kann man behaupten, dass Samenbanken die klassischen Objekte von Naturhistorischen Museen als Teilsammlungen in sich aufgenommen haben, und damit das Museum integrativer Bestandteil der Samenbank ist (vgl. auch Karafyllis und Lammers, in diesem Buch). Ein Anklang daran findet sich in der Deutschen Zellbank für Wildtiere, die sich mit dem Zusatz „Alfred Brehm“ als naturkundli150 Im Hinblick auf die noch zu erschaffenden Präparate empfiehlt es sich z. B. wegen der zu vermeidenden Totenstarre oft auch für Naturhistorische Muse­ en, beim Sammeln die Objekte nicht zu töten, sondern bis zur Präparation für längere Zeit zu narkotisieren, etwa im Falle von Insekten.

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che Sammlung präsentiert, obgleich sie eigentlich Stammzellen von Wildtieren einlagert (vgl. Kruse und Ciba, in diesem Buch). Den meisten Samenbanken geht es heute hauptsächlich darum, Kultur (in der Vielfalt ihrer Züchtungen) zu klassifizieren, indizieren und mit den inventarisierten Lebendobjekten in der Kühlkammer in bestimmten Intervallen identifizierend abzugleichen. Deshalb wurden für Kulturpflanzen im 20 Jh. eigene Taxonomien entwickelt151 und ein internationaler Nomenklatur Code eingeführt. Auch die Bakterien-Systematik mit ihrer ‚Bestimmungs-Bibel‘ Bergey’s Manual of Determinative Bacteriology (so der Titel der ersten Auflagen ab 1923) gab die einstige Orientierung an der ‚natürlichen‘ Pflanzensystematik Carl von Linnés auf und entschied sich, das Verhältnis von Bakterien zu Techniken, u. a. zu Färbemethoden und Kultivierungsmedien, als charakteristische Eigenschaften von Bakterien in einteilender Absicht festzuhalten.152 Bei mikrobiellen Sammlungen zeigt sich das Sammeln zwar nicht unbedingt als Kulturtechnik im engeren Sinne, d. h. als eingebettet in kulturelle Praxen wie die der Agrikultur,153 aber als Kultivierungstechnik, insofern die zur Lebenderhaltung von Bakterienstämmen notwendigen Me­ dien in ihren Differenzen stets synthetisch ‚mitgesammelt‘ werden müssen. Damit rückt (wir erinnern wieder das Haus, lat. domus, das im Griechischen oikos heißt) das Sammeln in den Rang einer Haus­ haltstechnik, eingebettet in eine Ökonomie der Natur.154 Weil sich mit den Sammelpraxen auch die Sammelzwecke und mit diesen wiederum ganze Wissensgebiete veränderten, helfen für eine begriffliche Klärung des Tuns heutiger Lebendsammlungen Stu151 Grundlegend die im Internet abrufbare Mansfeld’s World Database of Agri­ cultural and Horticultural Crops (begründet in deutscher Fassung durch Ru­ dolf Mansfeld 1959, damals noch unter Ausschluss von Zierpflanzen; in 3. Aufl. 2001 in 6 Bänden auf Englisch hg. von Peter Hanelt, einem der Nachfolger von Mansfeld an der Taxonomieabteilung des IPK Gatersleben; vgl. Stubbe, Geschichte des Instituts Gatersleben). 152 Vgl. Murray, R. G. E. und John G. Holt, „The history of Bergey’s Manual“, in: Garrity, George; Boone, David B. und Richard W. Castenholz (Hg.), Bergey’s Manual of Systematic Bacteriology, Vol. 1, New York 2001, S. 1-13. 153 Hier ist aber daran zu erinnern, dass z. B. auch „Impfen“ dem agrikulturellen Umgang mit Pflanzen entstammt; mikrobiologisch wichtig beim „Überimp­ fen“ der Bakterienkulturen auf neue Nährböden. Die Grenze zwischen Kul­ turtechnik und Kultivierungstechnik ist noch zu eruieren. 154 Vgl. Potthast, Thomas, „Haushaltende Naturverhältnisse“, in: Kirchhoff, Tho­ mas; Karafyllis, Nicole C. et al. (Hg.), Naturphilosophie. Ein Lehr- und Studi­ enbuch, Tübingen 2017, S. 210-216.

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dien zu früheren Abenteurer-Sammlern nur eingeschränkt weiter. Sie bleiben wichtig für das Hervorheben der Differenzen, zumal jene Sammler mit Blick auf das 18. Jh. als dem „Jahrhundert des Sammelns“ meist noch nicht im Dienste von eigenständigen Sammlungsinstitutionen standen.155 Vielmehr wurden sie mit dem allgemeinen Auftrag, Nützliches wie Kurioses mitzubringen, vom Regenten oder einer politisch einflussreichen Person auf die Reise geschickt. Philosophisch stellt sich die Frage nach dem vorgängigen Jahrhundert und damit nach der Geistesgeschichte des Sammelns im Verhältnis zur Weltkonstitution. Wenn wir Edmund Husserl Recht geben, dass zunächst mit den Erkenntnissen von Galileo Galilei, darauf mit René Descartes’ Trennung von Natur und Geist im 17. Jh. der Gedanke „einer abgekapselten, einer real und theoretisch in sich geschlossenen Körperwelt“ entstand,156 dann begann damit die Naturalisierung der metaphysischen Auffassung von „Welt“. Das bedeutete eine „völlige Verwandlung der Idee der Welt überhaupt“.157 Denn im Dualismus kann die Welt nicht mehr vollständig sein. Erst vor diesem Hintergrund machte und macht das gesteigerte Sammeln von Objekten, aufgehoben in einem objektivistischen Totalsystem von Welt, einerseits Sinn – und bleibt andererseits doch immer wieder mit der Frage nach der Sinnlosigkeit des Sammelns konfrontiert. Unklar bleibt, warum verglichen mit Banks der ebenfalls weitgereiste und sammelnde Charles R. Darwin der Geschichte so dominant als Naturforscher in Erinnerung geblieben ist und nicht als Abenteurer und Sammler, der er nachgewiesenermaßen auch war. Zu vermuten ist, erstens, dass Banks’ wissenschaftliche Leistung wegen seiner starken Verantwortung für den Ausbau und die Instandhaltung der Sammlungen, in die er ‚seine‘ Objekte integrierte, abgewertet wurde. Das Phänomen der Abwertung der eigenen Forschung bei Verantwortlichkeit für eine Sammlung ist auch heutigen Sammlungsleitern nicht fremd, von der Museumsdirektorin bis zum ‚Samenbanker‘. Dabei wird, zweitens, Sammeln nicht selbst als Wissen gewertet, sondern lediglich als Vorbedingung für theoriegeleitetes Wissen erachtet – eine Prämisse, die Darwin mit seiner Evolutionstheorie idealtypisch verkörperte. Alternativ wird Sam155 Ausnahmen wären z. B. die Sammler für die Sammlungen der Royal Society in London, wobei hier die wissenschaftliche Akademie und nicht die Sammlung als Auftraggeber zu verstehen ist, so auch für Banks. 156 Vgl. Husserl, Krisis, §10, S. 65. 157 Ebd.

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meln als konservierende Handwerkstechnik gefasst und ebenfalls dem wissenschaftlichen Wissen untergeordnet, weil es – fälschlich – als einfaches Regelwissen gilt, das nicht theoriegeleitet sei. Wissenschaft will ferner nicht Alltagserkenntnis (griech. dóxa), sondern rationale Erkenntnis (griech. epistéme).158 Zum dritten trennen beide Sammler und Naturforscher fast ein Jahrhundert, und sie werden in der Rezeptionsgeschichte auch in ihr jeweiliges Jahrhundert interpretierend eingepasst. Banks verkörpert die Lust am Spiel mit dem Unberechenbaren, die Georg Simmel in seiner Philosophie des Abenteuers159 ausgearbeitet hat. Beim Abenteuer geht es darum, den Wert des Noch-nicht-Erreichten als „Vordatierung des Glücks“ zu verstehen, weil der Reiz des Unmöglichen einen ganz eigenen Wert kreiert. Entsprechend wird beim abenteuerlichen Sammeln das Glück „zu finden“ vordatiert, ohne zu wissen, was man finden kann und ob überhaupt. Dafür darf das Glück aber nicht im Sinne eines göttlichen Schicksals einseitig determiniert sein, sondern man muss sich selbst auf sein Glück verlassen. Zu Darwins später Schaffenszeit hingegen waren die Begriffe Zufall und Glück bereits anders und statistischer besetzt, die Welt war ‚vermessener‘ geworden, was auch die Interpretation von Abenteuer veränderte. Um 1900 wird das „Zu-Ende-Sein“ des Abenteuers als abrupt und radikal gedacht, um intensiver zu erleben, wenn wir Simmel folgen wollen. Das Abenteuer ergibt sich dann nicht zufällig, sondern man lässt sich darauf ein. So ist das Abenteuer der Hochmoderne weniger eine Lebens- denn eine Erlebensform, die den Lebensprozess über die Lebensinhalte stellt160 und sich immer auch den Alltagserfahrungen von Langeweile, Routine und Sättigung verdankt. Gleichzeitig bekommt das Abenteuer mit dem Wunsch nach intensiveren Erlebnissen den Charakter des Rausches, der zunehmend moralisch sanktioniert wird. Jene Wandlung in der Interpretation von Abenteuer ist mit ein Grund, warum wir keine Abenteurer-Sammler mehr kennen, obwohl es sie gibt. Aber sie tun meist alles dafür, das sammelnde Tun „im Feld“ als berechenbar und damit auch als kostengünstig zu stilisieren, kurz: als langweilig. Dieser Punkt des Abenteuerlichen als

158 Husserl, Krisis, §12, S. 71. 159 Simmel, Georg, „Philosophie des Abenteuers“ [1910], in: ders., Georg Simmel – Gesamtausgabe (GSG), hg. von Otthein Rammstedt, Bd. 12 (Aufsätze und Ab­ handlungen 1909–1918. Bd. 1) , Frankfurt a. M. 2001, S. 97-110. 160 Und, wie Simmel betont, sich vorrangig dem jüngeren Manne empfiehlt. Der älter werdende Mensch stelle hingegen die Lebensinhalte über den Lebenspro­zess.

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Rauschhaften, das dem Sammeln scheinbar abhandengekommen ist bzw. ihm psychologistisch nicht mehr zugeschrieben werden darf, wird uns in Abschn. 5.5 in Verbindung mit Heideggers Denken von „Bestand“ noch einmal beschäftigen. Zusammenfassend lässt sich festhalten: In der personenbezogenen Sammel- und Sammlungsforschung inspirieren weniger die gesammelten Objekte als das Sammeln als Abenteuer, in dem der Sammler große Wagnisse eingeht und selbst zwischen Leben und Tod steht. Noch der mit Banks kollegial verbundene Alexander von Humboldt markiert Mitte des 19. Jh.s diesen forschenden Abenteurer, der mit der Technisierung, Globalisierung und Komfortzunahme des Reisens bald an Faszination verlieren wird. Aber ihn konnte auch kein anderer Sammeltyp ersetzen, zumal das Sammeln im 20. Jh. – dem der Mobilisierung und Beschleunigung – generell abgewertet wird, weil es auf Sicherung an einem festen Ort abheben muss. Derjenige, der Objekte als Kapitalanlage sammelt, kann mit wenig öffentlicher Sympathie rechnen. Die jüngere Psychologisierung des Sammelns als Angstphänomen, in dem man sich an Dinge gleichsam klammert anstatt ‚loszulassen‘, tat ihr Übriges und findet sich heute in Form von Lebensratgebern unter dem Titel Simplify your Life: Objekte, die man länger nicht benutzt, soll man zur eigenen Erleichterung wegwerfen – was wird dann noch in die Archive der Zukunft gelangen? Das Bewahren und Instandhalten ist Vielen zu anstrengend geworden. Ferner ziehen Menschen wie Institutionen in viel kürzeren Zeiträumen um und entledigen sich dabei jedes Mal desjenigen, was im Moment als nicht nützlich oder wenigstens bewahrenswert angesehen wird. Es ist daher kein Wunder, dass man im Vergleich zu früheren Lichtgestalten des naturkundlichen Sammelns für das 20. Jh. keine Namen parat hat, selbst wenn ihre Bedeutung für das jüngere Sammeln von „genetischen Ressourcen“ immens war. Wer kennt schon im Vergleich mit Banks und Humboldt die großen Lebendsammler des 20. Jh.s wie z. B. den Kartoffelforscher John („Jack“) Gregory Hawkes161 (1915–2007) oder den Genetiker und Obstsorten- und Gerstensortensammler Rudolf Freisleben (1906–1943), nicht zu vergessen die irische Sortensammlerin und Aktivistin gegen die Generosion Erna Bennett (1925–2012), der wir den heute geflügel161 Vgl. Jackson, Michael T., „Hawkes, John Gregory“, in: Goldman, Lawrence (Hg.), Oxford Dictionary of National Biography 2005–2008, Oxford 2013, S. 499-500.

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ten Ausdruck genetic conservation verdanken?162 Ein wesentlicher Grund für die Vergessenheit des modernen Lebendsammlers bleibt, dass Samenbanken ihre Objekte nicht ausstellen. Damit lassen Lebendsammler an Archivare denken, die weniger als Sammelnde denn als Nachlassverwalter eingeschätzt werden. Die mangelnde Anschaulichkeit der Sammlung führt nicht nur zur mangelnden Anerkennung des Sammlers, sondern die fehlende Präsentation der Objekte führt zur Verkennung des Sammelns an sich. 4.2 Sammelweisen: exploring, survey collecting, bioprospecting Denjenigen Typ des Sammelns, in dem wie bei Banks beständig Neuland betreten wird und man das Auge auf das Außergewöhnliche oder Exotische richtet, hat Robert E. Kohler als „exploration“ bezeichnet und für die Moderne dem „Abenteuer“ zugeordnet.163 Im Deutschen wird der Sachverhalt meist mit der Expedition gefasst und von der systemisch ausgerichteten Sammelreise (auch: Sammlungsreise) unterschieden. Letztere ist typisch für eine Entwicklung ab etwa 1900, die Kohler mit der massiven Zunahme des „survey collecting“ beschreibt, einer Feldforschung oder wörtlich: Forschung „im Feld“.164 Man kampiert im Feld als einem vage abgegrenzten Gebiet und unternimmt Gänge ins Regionale, anstatt immer weiter ins Neuland vorzudringen. In meiner Interpretation handelt es sich um ein systemisch angeleitetes Suchen und Finden im kartierten Land, das aber noch ‚weiße Flecken‘ des Zugriffs aufweist. Sammeln folgt dabei gewissen Regeln des Suchens und Findens, und wird, in Abhängigkeit vom Sammlungszweck, sche­ 162 Bennett, Erna, „Plant Introduction and Genetic Conservation: Genecological Aspects of an Urgent World Problem“, in: Scottish Plant Breeding Station, 1965, S. 27-113. Bennett wurde 1967 Mitglied des Technical Committee zur Erhaltung der Sortenvielfalt der FAO, befand aber zunehmend, dass die FAO und ihre Schwesterorganisation IBPGR sich vordringlich um die Nutzbarma­ chung der pflanzengenetischen Ressourcen statt um deren ökologische Aspek­ te kümmerte. Sie missbilligte z. B. die kostenintensive Forschung an der Er­ zeugung von Strahlenmutanten. 1983 schied sie aus „Frustration“ (Pistorius, Scientists, S. 78) aus der FAO aus und arbeitete als Journalistin und Lobbyistin gegen die weltweite Generosion. 163 Kohler, Robert E., All Creatures: Naturalists, Collectors, and Biodiversity, 1850–1950, Princeton 2006. 164 Ebd. Vgl. auch Kohler, Robert E., „Finders, Keepers: Collecting Sciences and Collecting Practice“, in: History of Science, 45(4)/2007, S. 428-454.

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matisch. Gleichzeitig fußt es auf einem Wissensbegriff, der mit dem griechischen episkopeîn ein sorgendes Überblickswissen über einen zugeschriebenen Bereich meint (etwa über ein „genetisches Zen­ trum“, s. o.). Im Englischen wird das unspezifischer akkumulierende gathering vom präsystematischen Suchen und Finden des collecting abgegrenzt. Es ist dies spezifische Sammeln in einem begrenzten Bereich, das Samenbanken als Sammlungsinstitutionen und Forschungseinrichtungen der Moderne praktizieren. Sie nehmen in der genannten Zeit um 1900 ihren Aufschwung und sammeln Objekte als Träger von kombinierbaren Eigenschaften (s. Abschn. 2.1) und damit desjenigen, das man heute „genetische Ressourcen“ nennt. Für diese Interpretation ist dennoch Vorsicht angebracht. Denn mit Verweis auf Züchtungsgeschichten erscheint das Sammeln von Lebendmaterial stets eine zweckgerichtete Handlung gewesen zu sein; in etwa so, wie wenn heute sogenannte gene-scouts in entlegene Gebiete aufbrechen, um bestimmte genetische Varietäten von Mikroben, Pflanzen und Tieren zu finden – ein wiederum auf dem survey collecting aufbauendes, kleinteiligeres Suchen, das man Bioprospektion nennt (bioprospecting).165 Hier hat man die zu findende natürliche Eigenschaft bereits idealtypisch vor Augen, weil man sie im Labor schon künstlich erzeugt oder/und errechnet hat. Mit Vavilovs Theorie der genetischen Zentren, in denen Kulturpflanzen originär eine besonders hohe Zahl an Varietäten bzw. Mutationen (damals: „Polymorphismen“) aufwiesen, und dem Gesetz der homologen Reihen (zur Erklärung von Parallelmutationen bei verwandten Arten) sowie dem strahleninduzierten Erzeugen von Mutanten wurde es möglich, noch unentdeckte Varietäten vorauszusagen (Bioprospektion): „But it is already evident that the similarity in series of polymorphism […] is so regular that it becomes possible to forecast, on this basis, the existence of forms and of varieties […], not yet discovered. Some such unknown forms might be obtained by artificial hybridization of corresponding varieties […].“166 Dieser Sicht auf das Sammeln wohnt eine Aktivität bei, die unterschlägt, dass Sammeln nicht nur Handlung, sondern auch passi­ ves Geschehnis bedeuten kann – beim zufälligen Finden, ohne wirklich gesucht zu haben. Aber man muss „die Augen offen halten“ und 165 Vgl. Merson, John, „Bio-prospecting or bio-piracy? Intellectual property rights and biodiversity in a colonial and postcolonial context“, in: Osiris, 15/2000, S. 282-296. 166 Vavilov, The Law of Homologous Series in Variation, S. 72.

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bereit sein für das Finden. Eine vermittelnde Instanz nimmt hier der Weg ein.167 Phänomenologisch kann der Weg als sich selbst instantiierende Spur168 des Sammelns gelten, insofern man beim ersten erfolgreichen Sammeln etwas nach Hause bringt und auf dem gleichen Weg zurückgeht, den man gekommen ist. Dabei erst entsteht der Weg, und zwar durch das Festtreten der Oberfläche.169 Als solcher zeigt er an, dass man ihn erneut gehen kann und ist somit Vorbedingung einer Infrastruktur des Sammelns. Das Finden bleibt dennoch weitgehend dem Zufall anheimgegeben. Trotzdem ist zu fragen, ob die Wege im survey collecting nicht Steuerungselemente einer Zufallstechnik sind. Denn die kartierten Wege zeigen an, dass bereits ein anderer Sammler auf ihnen gegangen und gesammelt hat. Es ist also unwahrscheinlich, im Bereich des Weges noch Neues zu entdecken. Entsprechend konzentriert sich das heutige sur­ vey collecting darauf, jenseits der Wege zu sammeln. Dies betrifft nicht nur befahrbare Straßen, sondern auch die Wege für Lasttiere von ortskundigen Einheimischen, die das Sammeln von WissenschaftlerInnen oft begleiten. Nicht selten wird also beim hochmodernen Sammeln der Einsatz von Hubschraubern diskutiert,170 um in schwer zugängliches Gelände vorzudringen. Zufallstechnik und exploring gehen dabei Hand in Hand. So spricht einiges dafür, dass das Sammeln von Lebendem, insbesondere wenn es als Technik verstehbar werden soll, mehr bedeuten muss als eine simple „Zufallstechnik“. Der Ausdruck verdankt sich einer kulturhistorischen Genealogie technischer Systembildung, in der das Sammeln der archaischen (Jäger und) Sammler nur eine Vorbedingung planerisch ausgerichteten Handelns erfüllte, worauf wir gleich zurückkommen. Der Status des Sammelns als einer Vorbedingung wird zementiert durch die vielen wissensgeschichtlichen Ansätze, die Sammeln als Ermöglichungsbedingung von Wissen 167 In dieser Hinsicht meint Heidegger, dass der Weg sammelt. Vgl. Heidegger, Martin, Der Feldweg, Pfullingen 91991, S. 3: „Was um den Weg sein Wesen hat, sammelt er ein und trägt jedem, der auf ihm geht, das Seine zu.“ 168 Etymologisch lässt sich für das Verb „lesen“ die Hintergrundbedeutung „einer Spur folgen“ in Zusammenhang mit Sammeln nachweisen. Vgl. Kluge, Lem­ ma „lesen“. 169 Vgl. Sommer, Sammeln. 170 So z. B. in einem Schreiben von Walter Hondelmann an der Braunschweiger BGRC, in Vorbereitung der deutsch-niederländischen Kartoffel-Sammelreise nach Bolivien 1980. Die Mittel für den Hubschraubereinsatz wurden nicht ge­ nehmigt. Enth. in Akte „Beratender Ausschuss Genbank“, Handakten Lothar Frese.

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hervorheben, ihm aber selbst den Charakter von Wissen oder Wissenschaft absprechen. Dagegen hat prominent Kohler Einspruch erhoben und auf die wissenschaftliche Funktion des Sammelns für die moderne Taxonomie verwiesen. Ein Hauptgrund für das Unterschätzen des Sammelns läge in der zu engen Modellierung des Wissenschaftsbegriffs. Deshalb werde das Sammeln als Feldforschung gegenüber der Laborforschung prinzipiell abgewertet. Naturkundliches Sammeln sei zwar keine „exakte Wissenschaft“, aber eine „exaktifizierende“ Wissenschaft.171 Es geht also um dasjenige, was mit dem Sammeln erst möglich wird, und damit um seine Medialität. In diesem Sinne müsste Sammeln auch eine Kontinuitätsbe­ dingung von Wissenschaft und Technik für die Zukunft sein, was das jüngere Interesse an u. a. universitären Sammlungen und der unbekannten Anzahl von kleineren „Arbeitssammlungen“ in Laboren erklärte.172 Mit Bezug auf die Technikgeschichte erscheint das Sammeln von Lebendem, festgemacht an den archaischen Sammlern und Jägern, oftmals als rückschrittlich, weil es den scheinbar überwundenen Anfang eines Fortschrittsnarrativs bildet, das auf die Industrielle Revolution und die Maschine ausgerichtet ist. Als solches beeinflusst es auch die Technikphilosophie und deren Konzeptualisierung von „Technik“ als reine Zweckinstrumentalität. Mit Hinweis auf Martin Heidegger hat etwa Christoph Hubig betont, dass Technik neben dem Realisieren konkreter Zwecke auf die Sicherung der „Realisierung von Zwecken qua Wiederholbarkeit, Planbarkeit, Antizipierbarkeit“ abhebt, womit Technik unter dem Aspekt der Medialität diskutierbar werde. Historisch sei dabei die „Zufallstechnik“ der Jäger und Sammler durch „die technischen Systeme seit der neolithischen Revolution“ abgelöst worden: „Durch systemische Überformung (Behausung, Ackerbau und Viehzucht mit Umhegung und Bewässerung, Infrastrukturen des Verkehrs, der Kommunikation, der Verteidigung etc.) werden die natürlichen Medien der Jäger und Sammler zu technischen, artifizialisierten Medien. Durch diese Gestaltung natürlicher Medien soll die Möglichkeit eines zielführenden Mitteleinsatzes garantiert werden.“173 171 Kohler, All Creatures, S. 13. 172 Vgl. dazu die 2013 aufgelegte Förderrichtlinie „Die Sprache der Objekte“ des BMBF. 173 Hubig, Christoph, „Technik als Medium“, in: Grunwald, Armin (Hg.), Hand­ buch Technikethik, Stuttgart, Weimar 2013, S. 118-123, hier S. 119f.

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Diese auf die gesammelten „natürlichen Medien“, ihre Sicherstellung und Optimierung konzentrierte Sicht entspricht in etwa denjenigen Genealogien, die heutige Samenbanken des Agrarbereichs zur funktionalen Erklärung ihrer Objekte verwenden (vgl. aus den Beiträgen im vorliegenden Buch v. a. denjenigen von Graner). So wird auch verstehbar, warum Gesammeltes als Sammlung und damit als gesicherter Bestand institutionalisiert wird. Das obige Zitat kann allerdings nicht erklären – und muss es in seinem Ursprungskontext auch nicht – warum man in Sammlungsinstitutionen bis heute weiter sammelt und Sammelreisen unternimmt (s. dazu Absch. 5.5). Um diese als notwendig zu verdeutlichen, verorten Züchtungsgeschichten die Industrielle Revolution und mit ihr die Maschine nicht als äußerlichen Gegenstandsbereich oder Datum einer Fortschrittsgeschichte von Technik, sondern sie legen die Industrialisierung der Landwirtschaft (und mit ihr die auf mechanistischen Organismusmodellen beruhende Molekularbiologisierung der Züchtungsobjekte)174 quasi als Vermittlungsinstanz in die Geschichte hinein. Landwirtschaft und, mit Bezug auf mikrobielle und tierische Sammlungen, auch Medizin und Pharmazie werden so als gegenwärtige Sektoren der Hochtechnisierung von Biofakten begreifbar und widerlegen das gängige Vorurteil, dass Objekte tot zu sein haben, um Technik werden zu können.175 Das Sammeln von Lebendem als Ausgangsund Ermöglichungsbedingung technischen Handelns wird dabei ergänzt um den Aspekt der Kontinuitätsbedingung züchterischer oder therapeutischer Optimierungsmöglichkeiten, deren Grenze prinzipiell offen zu sein scheint. Dabei wird umgekehrt nun nicht das Sammeln,176 sondern das Züchten als Prozess dargestellt, der sich von einer Zufallstechnik (z. B. dem Kreuzen) hin zu einer immer präziser operierenden

174 Vgl. Wieland, Thomas, „Wir beherrschen den pflanzlichen Organismus bes­ ser, …“. Wissenschaftliche Pflanzenzüchtung in Deutschland, 1889–1945, München 2004; Harwood, Jonathan, Europe’s Green Revolution and Others Since: the Rise and Fall of Peasant-Friendly Plant Breeding, London 2012; Curry, Helen A., Evolution Made to Order. Plant Breeding and Technological Innovation in Twentieth-Century America, Chicago 2016. 175 Vgl. dazu Zachmann, Karin und Nicole C. Karafyllis, „Einleitung“, in: dies. (Hg.), Pflanzliche Biofakte. Geschichten über die Technisierung der Agrikultur im 20. Jahrhundert, Themenheft Technikgeschichte 84(2)/2017, S. 95-106. 176 Spezifisch: Sammeln als inventarisierendes „sur­vey collecting“ (Robert E. Kohler, All Creatures).

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und damit ‚geschlosseneren‘ Systemtechnik mit technischen Methoden entwickelt hat. Dafür wiederum braucht es Institutionen der Bestandssicherung von züchterischen Möglichkeiten, die auch statistisch abgesichert sein müssen. Entsprechend bedarf es einer Vielzahl zu sammelnder Objekte. Um diese Möglichkeiten in ihrer Fülle zu sichern, streben viele Samenbanken eine Komplettierung der Typen ihrer jeweiligen Sammlungsobjekte (z. B. von Gerste) an und erstellen idealerweise eine Kernkollektion (core collection) – und zwar nach Maßgabe derjenigen Typen von Möglichkeiten, die sie als lebende Variationen „draußen“, d. h. in der Natur innehaben. Damit wird nicht nur die Grenze zwischen Labor- und Feldforschung diffus, sondern auch ein inventarisierender Zugriff auf die ganze Welt erkennbar, der sich präzise im obsoleten Ausdruck „Weltsortiment“ für agrarische Samenbanken spiegelt (s. Abschn. 3.3 und 5.5). Die Welt wird als Bestand von Möglichkeiten wahrgenommen, die man letztlich nicht mehr sammeln, sondern ‚nur‘ noch einsammeln muss. Dies verdankt sich einer Sicht, um noch einmal Hubig zu bemühen, in der das „Arsenal technischer Mittel in einem größeren, seinerseits technisch modellierten Problemzusammenhang verortet wird“: z. B. mit Hilfe einer Samenbank Optionen zur Verfügung zur haben, um Kulturpflanzen gegen den Klimawandel „rüsten“ zu können, wie es oft heißt. Denn der Hinweis auf „Technik“, hier: Züchtungstechnik, eröffnet einen „Spielraum der Modellierung von Sachlagen als technischen Problemlagen.“177 Die Samenbank und ihre Sammlungstechniken erweisen sich dann als Mittel zur Reparatur einer technomorph verstandenen Umwelt, die gleichsam aus den Fugen geraten ist – zuvorderst durch den Klimawandel. 4.3 Sammeln zwischen Sichern von Möglichkeiten und Aneignen fremden Eigentums Bezüglich genetischer Ressourcen zeigt die mittlerweile umfangreiche, juristisch wie politisch geprägte Literatur zur Biopiraterie, dass sich Sammlungsgeschichten auch als Aneignungs- oder Kolonialisierungsgeschichte erzählen lassen. Sammeln bedeutet dann das Stellen von Besitz- oder Eigentumsansprüchen und wäre dem politischen Handeln zuzuordnen, wobei die Forschung sich bis177 Hubig, Technik als Medium, S. 120.

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lang auf Pflanzen konzentriert.178 Zu Recht wird gewähnt, dass das Vorsorgeprinzip – für die ganze Menschheit vorzusorgen, u. a. gegen den „Welthunger“ – nur nationalen, zuvorderst züchterischen Interessen dienen könnte und damit letztlich zum Innovations­ prinzip würde. Dies wird abhängig von den rechtlichen Regularien sein (vgl. in Auswahl den Anhang in diesem Buch), in denen es weniger um „die Welt“ als um die Beziehungen zwischen Staaten, Objekten und Techniken geht. Bei Welt- und Biorhetoriken ist deshalb Vorsicht angebracht: „We should regard appeals to the global with skepticism when they insinuate commonality and universality to circumvent political action rather than engaging it.“179 Umgekehrt wird bislang nicht die ethische Frage gestellt, ob das kostenintensive Sichern von lebenden Möglichkeiten gemäß Verur­ sacherprinzip nicht berechtigt den Industrieländern in Rechnung zu stellen ist. Denn diese sind durch die Verbreitung der industriellen Landwirtschaft verantwortlich für die weltweite Generosion. Man würde dann Gerechtigkeitsüberlegungen folgen, die gegenwärtig auch in der Klimaethik diskutiert werden,180 zumal Diskurse um Samenbanken und Klimawandel eng miteinander verwoben sind. Bei der Geschichte biologischer Waffen sind bislang statt Pflanzen die Mikroben inklusive Pilzsporen (und im Anschluss daran Tierkadaver) im Fokus, wohingegen das gezielte Ausbringen der Samen von ‚Unkräutern‘ als Strategie der Kriegsführung wenig erforscht ist, insbesondere nicht im Hinblick auf die Rolle, die Samenbanken dafür gespielt haben könnten.181 Hier zeigt sich eine 178 Vgl. z. B. Schiebinger, Londa, Plants and Empire. Colonial Bioprospecting in the Atlantic World, Cambridge/MA 2004; Hossfeld, Uwe und Carl-Gustaf Thornström, „‚Rasches Zupacken‘. Heinz Brücher und das botanische Sam­ melkommando der SS nach Rußland 1943“, in: Heim, Susanne (Hg.), Autarkie und Ostexpansion. Pflanzenzucht und Agrarforschung im Nationalsozialismus, Göttingen 2002, S. 119-144, sowie Flitner, Sammler, Räuber und Gelehrte. 179 Fullilove, Profit of the Earth, S. 219. 180 Vgl. Birnbacher, Dieter, Klimaethik. Nach uns die Sintflut? Stuttgart 2016. 181 Im untersuchten Fall des KWI für Kulturpflanzenforschung auf Gut Tutten­ hof bei Wien, der Vorläuferinstitution des IPK Gatersleben, stellt sich die Lage während des Zweiten Weltkriegs als ambivalent dar. Zwar schreibt dessen Lei­ ter Hans Stubbe 1944 von Untersuchungen zur „Biologischen Kriegsführung“, wollte aber damit womöglich seine Mitarbeiter vor der Einberufung retten. Vgl. Heim, Susanne, „Die reine Luft der wissenschaftlichen Forschung“. Zum Selbstverständnis der Wissenschaftler der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, For­ schungsprogramm „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im National­ sozialismus“, (Ergebnisse 7) Berlin 2002, S. 26. Online unter http://www.mpi­ wg-berlin.de/KWG/Ergebnisse/Ergebnisse7.pdf (letzter Aufruf: 22.12.2017).

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unterschiedliche emotionale Bindung an die lebenden Objekte, die Pflanzen und ihr transgressives Potenzial im Vergleich zum Infektionspotenzial der Mikrobe in zweckinstrumentellen Zusammenhängen verharmlost. Vorsicht ist auch dahingehend geboten, Lebendsammlungen in eine Fortschrittsgeschichte der Konservierungstechniken wie überhaupt in das Konzept Nature Conservation einzubetten (so mit dem zugehörigen Konzept ex situ conservation). Bezogen etwa auf die Behältnisse sind es gerade die ‚rückschrittlichen‘ wie Konservendosen und Einweckgläser, die wenigstens für Saatgutbanken dominant bleiben.182 Umgekehrt geht die in vielerlei Hinsicht hervorragende Studie zur Philosophie des Sammelns von Manfred Sommer davon aus, dass das Sammeln von Lebendem (sein häufigstes Fallbeispiel: Pilze) entweder akkumulierender Art ist und unweigerlich dem Konsum zugeführt wird, womit das Sammlungsobjekt letztlich ver- oder aufgezehrt wird; oder, wenn das Sammeln diversifizierender Art ist, naturkundliche Bedeutung hat wie in Botanischen Gärten und Naturkunde-Museen.183 Damit wird eine Dichotomie zwischen Ökonomie und Ästhetik des Sammelns aufgemacht, die es bei Samenbanken zu hinterfragen gilt, zuvorderst weil diese ihre Objekte nicht ausstellen. Sommers Unterscheidung wird allerdings plastisch in einer oft erzählten Geschichte, die den Idealismus des Bewahrens hervorhebt: Einige der Kuratoren in der von Nikolai I. Vavilov angelegten, damals umfangreichsten Samenbank der Welt mit ca. 100.000 Mustern, seien bei der Belagerung von Leningrad durch die deutsche Wehrmacht direkt neben ihren konservierten Samen verhungert, anstatt diese zu verzehren.184

182 Vgl. Karafyllis und Lammers, in diesem Buch. 183 Beide werden ungeachtet der Differenz von Lebend- und Totsammlung in einem Atemzug genannt, vgl. Sommer, Sammeln, S. 424. 184 So auch überliefert in Plucknett, Donald L.; Smith, Nigel J. H.; Williams, J. T. et al., Gene Banks and the World’s Food, Princeton 1987, S 64 (mit Verweis auf Evans, J. T., „Impressions of research on agricultural plants in the USSR“, in: Journal of the Australian Institute of Agricultural Science, 41/1975, S. 147155). Vgl. dem gegenüber den Brief von Walter Hertzsch an Wilhelm Rudorf vom 23.10.1941 mit dem Bericht, dass der „letzte[n] rote Direktor“ der Sa­ menbank einen Teil des Saatguts an die Leningrader Bevölkerung verteilt ha­ be. Zit. in Heim, Susanne, „Forschung für die Autarkie. Agrarwissenschaft an Kaiser-Wilhelm-Instituten im Nationalsozialismus“, in: dies. (Hg.), Autarkie und Ostexpansion, Göttingen 2002, S. 145-179, hier S. 167.

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Auch die Idee von „Technisierung“ wäre genauer zu hinterfragen, und zwar selbst in ihrer geisteswissenschaftlichen Fassung von Hans Blumenberg, für den „Technisierung sich paradigmatisch als der Prozeß [erweist], in dem sich der Mensch von den Verrichtungen entlastet, die seine Anstrengung nur ein einziges Mal erfordert.“185 Dies ist an der Erfindung von Artefakten orientiert und führt bei Lebendsammlungen zu der nicht seltenen, aber irreführenden Idee, dass dasjenige, das einmal gesammelt und in die Bank verbracht, damit auch schon der Möglichkeit nach (!) gesichert sei. Ein Großteil der Anstrengungen in Lebendsammlungen konzentriert sich darauf, das Gesammelte „am Leben“ zu erhalten. Dies schließt umfangreiche reproduktive Tätigkeiten mit ein wie das kontinuierliche Überimpfen auf neue Nährböden bei Zellkulturen und das Verjüngen von Pflanzensamen im Gewächshaus oder auf dem Feld. Hier ist die von Sommer herausgestellte Verquickung von Akkumulation und Aufzehrung neu zu denken: Denn in Samenbanken werden nicht die akkumulierten Objekte aufgezehrt, sondern ein Teil ihrer Lebensfunktionen in der Kühllagerung so minimiert, dass sich die Objekte nahezu selbst aufzehren.

5. Lebendsammlungen sammeln Samen als Biofakte als Bestände „Durch einen Begriff kommt gleiches zu Gleichem“,186 und entsprechend sind es die Begriffe „Same“, „Samenbank“, „Bestand“ und „Biofakt“, die die Theorieebene von Lebendsammlungen strukturieren sollen. Trotz der Dominanz molekularbiologischer Methoden wird nicht „Gen“ gewählt. Denn anders als bei Genen kann man bei den nachfolgend betrachteten Sammlungsobjekten Same, Zelle und Gewebe biologisch hinreichend begründen, dass sie leben.

185 Blumenberg, Hans, „Einige Schwierigkeiten, eine Geistesgeschichte der Tech­ nik zu schreiben“, in: ders., Geistesgeschichte der Technik. Aus dem Nachlaß hg. von Alexander Schmitz und Bernd Stiegler, Frankfurt a. M. 2009, S. 7-47, hier S. 47. 186 Sommer, Sammeln, S. 26.

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5.1 Biofakte Allerdings leben sie in einem spezifisch technischen Modus und sind somit Biofakte,187 eine Mischung aus Artefakten und Lebewesen. Sie beherbergen das Potenzial zum Wachstum, werden aber nicht (mehr) von selbst wachsen. Erst wenn es ihnen gestattet wird, dürfen sie wieder wirklich leben, d. h. wird ihr Potenzial aktualisiert, und sei es auch nur bei der Keimprüfung des eingelagerten Musters in der Samenbank (s. Abb. 2). Im Biofakt ist Wachstum Mittel der Herstellung und nicht mehr Medium der Selbstinstantiierung. Biofakte wachsen selbst, aber nicht mehr von selbst. Sie verkörpern Technonaturen. Aber der technische Eingriff in ihr Wachstum hat sich gleichsam verwachsen, er ist irreversibel und oftmals unsichtbar. Um ihn in seiner ganzen Reichweite verstehen zu können, muss er zur Sprache gebracht werden, etwa als Züchtungstechnik in der Geschichte von Kulturpflanzen oder von Nutz- und Haustieren. Erst dann wird auch klar, dass der Acker und der Garten weder nur Natur sind noch zeigen, sondern sich maßgeblich dem Einsatz von Techniken verdanken. Und erst dann würde deutlich, wie wenig an ursprünglicher Natur („Wildnis“)188 noch auf der Erde vorhanden ist. Diese Einsicht würde ermöglichen, fundierter darüber verhandeln zu können, welche Natur wir haben wollen und inwieweit wir Natur technisieren wollen (z. B. auch in der scheinbar harmlosen Form als „Weltnaturgarten“, vgl. Frese, in diesem Buch). Grundlegend für das Biofakt-Konzept war von Anfang an, dass die involvierten Techniken wie Klonen, Gentechniken und Bioinformatik die biologischen Reiche übergreifen und auf Mikroorganismen, Pflanzen und Tiere, ggf. sogar auf Menschen (menschliche Zellen), angewandt werden.189 So werden natürliche Ontologien mit ihren Selbstverständlichkeiten in Bio-Ontologien auf technischer Grundlage überführt. Auf der Ebene der öffentlichen Wahr187 Karafyllis, Nicole C., „Biofakte – Grundlagen, Probleme, Perspektiven“, in: Er­ wägen Wissen Ethik 17(4)/2006, S. 547-558. Zur Abgrenzung von Hybriden vgl. dies., „Hybride, Chimären, Biofakte“, in: Schaede, Stephan; Anselm, Reiner und Kristian Köchy (Hg.), Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs. Bd. 3, Tübingen 2016, S. 388-398. 188 Vgl. zum Wildnisbegriff Kirchhoff, Thomas und Vera Vicenzotti, „Von der Sehn­ sucht nach Wildnis“, in: Kirchhoff, Thomas; Karafyllis, Nicole C. et al. (Hg.), Naturphilosophie. Ein Lehr- und Studienbuch, Tübingen 2017, S. 313-322. 189 Vgl. Karafyllis, Biofakte – Grundlagen.

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nehmung trägt dies zum Eindruck der Unordnung bei, wenn man das Wissen über Biofakte abgleicht mit lebensweltlichen Erfahrungen im Umgang mit Pflanzen und Tieren. Samenbanken offenbaren dieses technisch universalisierende Charakteristikum der Biofakte in ganz besonderer Weise, zuvorderst über die weitgehend standardisierten Kryotechniken und den Rückgriff auf verschiedene informationstechnische Systeme (z. B. zur Dokumentation und Prozessierung von Sammlungsdaten, zur Genomsequenzierung und -analyse, und zur automatischen Phänotypisierung; vgl. Graner, in diesem Buch). Umgekehrt wird die Samenbank als eine zentrale, frühe Instanz von Biofaktizität verstehbar und das Sammeln in Samenbanken als eine Form von systemischer Technik. Biofakte als Gemachtes und Gewordenes (empirische Ebene des Biofakt-Konzepts) verdanken sich einem Verständnis von Biologie als Technikwissenschaft. Gleichzeitig wird spekulativ zugrunde gelegt, dass Lebewesen keine Artefakte sind und sich weder hinreichend mit technischen Modellen und Termini beschreiben noch qua Technik perfekt regeln und kontrollieren lassen. Stets bleiben Restbestände von Natur und Natürlichkeit erforderlich, um die ‚lebende Technik‘ reproduzieren und regenerieren zu können. Sie verbergen sich in metaphysischen Begrifflichkeiten der modernen Biologie wie Plasma, Matrix und Plastizität sowie in der weitreichenden Bedeutung von „Wachstum“. Alternativ zeigt sich Natur als Widerständigkeit gegen die technische Einflussnahme (ausgedrückt z. B. im Fachterminus der „widerständigen Samen“, die sich nicht lange tiefkühlen lassen, s. u.). Gesellschaftlich führt dies zu weitreichenden Fragen nach Sinn, Bedeutung und Risiken von Biofakten;190 mehr noch aber zu Fragen nach vernünftigen Grenzen der Technisierung von Natur, Geist und Welt überhaupt. Das Biofakt-Konzept eröffnet deshalb Fragehorizonte (hermeneutische Ebene), zuvorderst zur Technisierung des Natürlichen und Biologischen. Mit der Aussage, dass die jüngere Biologie eine Technikwissenschaft sei, ist gemeint, dass die drei grundlegenden Kennzeichen von Technik – Steuern, Regeln, Sichern – lebende Systeme begrenzend umfassen wie funktional und instrumentell durchdringen. Diese Sicht wurde zu der Zeit, als sowohl Gentechnik wie Genbanken ihren Nachkriegs-Aufschwung nahmen, in der Biologischen Sys-

190 Vgl. Gill, Bernhard; Torma, Franziska und Karin Zachmann (Hg.), Mit Bio­fak­ ten leben, Baden-Baden 2018 (im Erscheinen).

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temtheorie und Biokybernetik191 entwickelt, d. h. Ende der 1960er Jahre. Prägnant wurde die Zielsetzung vom Mathematiker und Ingenieur Mihajlo D. Mesarović formuliert: „Systems theory is the theory of formal (mathematical) models of real life (or conceptual) systems“.192 Die formalen Strukturen des Modells werden als invariant gesetzt und bilden Relationen, die, wenn mathematisiert, als „bio-engineering“ genutzt werden können. Das biokybernetische Modell resultiere einerseits in maßgeschneiderten, lebenden Werkzeugen bzw. Mitteln („bio-instrumentation“), andererseits ermögliche es der Biologie, nach universellen Gesetzen zu suchen, „which govern the behavior and evolution of living matter in a way analogous to the relation of the physical laws and non living matter“.193 Selbst wenn man dies als technokratische Gigantomanie belächelt, kann man nicht leugnen, dass dieser ingenieurtechnische Zugriff auf Leben die jüngere Biowissenschaft bestimmt, von der Systembiologie bis zur sogenannten Synthetischen Biologie – in beider Zugriffsbereich stehen auch die Samenbanken. Für frühe Vorstufen, z. B. alte Züchtungstechniken wie das Kreuzen, gilt der Systemcharakter noch nicht, wohl aber der Charakter der Zweckinstrumentalität, der sich im Steuern und Sichern des lebenden Erzeugnisses erweist. Ideell nimmt das Biofakt seinen Ausgang in der Imitation eines Gewachsenen, das für Wert befunden wird, imitiert und darüber hinaus optimiert zu werden. Mate­ riell und medial nimmt es seinen Ausgang im Samen, der durch die Verwirklichung seiner Potenziale den Idealtypus als Lebewesen in Erscheinung bringen soll.194 Das Hergestellte ist nicht nur Produkt, sondern bleibt Erzeugnis mit Zeugungskraft, wenn es richtig gehandhabt wird: Man kann mit ihm weiterzüchten.195 Züchten und das Anlegen von Samenbanken gehören deshalb notwendig zusammen.

191 Vgl. Kline, Ronald R., The Cybernetics Moment. Or Why We Call Our Age the Information Age, Baltimore 2015. 192 Mesarović, Mihajlo D., „Systems theory and biology – view of a theoretician“, in: ders. (Hg.), Systems Theory and Biology, Berlin 1968, S. 59-87, hier S. 60. 193 Ebd. 194 Wenn das Biofakt zur Sprache gebracht wird, muss die Spannung zwischen „Idol“ und „Evidenz“ ausgehalten werden; angelehnt an Daston, Lorraine, „Speechless“, in dies. (Hg.), Things that Talk. Object Lessons from Art and Science, New York 2008, S. 9-24, hier zit. S. 13. 195 Eine Einschränkung in Bezug auf Hybridsorten findet sich weiter unten. Die Aussage bleibt dennoch prinzipiell richtig.

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In den Worten von Christoph Hubig ausgedrückt ist die Samenbank ein „Möglichkeitsraum der Realisierung möglicher Zwecke“. Dieser ist strukturiert „auf der Basis unserer epistemischen Möglichkeiten, disponible Ursachen zu unterscheiden“ und mache die „Spuren für …“ die Realisierung möglicher Zwecke aus. Erst unter diesen „Konstellationen epistemischer Unterscheidungsoptionen und realer Trennungsoptionen werden Wirklichkeitsräume der Realisierung möglicher Zwecke geschaffen, als technische Systeme, welche solcherlei Zweckrealisierung gelingend machen sollen.“196 Hubigs Aussagen führen hier zu zwei Schlussfolgerungen bezüglich Genealogien. (1.) Die technischen Instanzen zur Regulierung des natürlich-kultürlichen Wachsens müssen als Biofaktgeschichten hermeneutisch entborgen werden. Bei Kulturpflanzen und ihren Samen führen sie zurück bis ins Neolithikum, bei Bakterien und anderen Mikroben nur bis zur Mitte des 19. Jh.s., als die ersten Mikrobensammlungen entstanden. Würde man dagegen eine Konservierungsgeschichte in Anschlag bringen (s. o.), so reichen die mit Mikroben verbundenen Techniken (z. B. das Einlegen in Essig oder Alkohol) deutlich weiter zurück. Aber dann handelt es sich (2.) nicht mehr um sortale Unterscheidungen des Lebenden und somit auch nicht um „Konstellationen epistemischer Unterscheidungsoptionen“. Denn die Mikrobe war die längste Zeit weder sichtbar noch als eigene Einheit bezeichnet, anders als Samen einer Sorte (wie rudimentär man „Sorte“ auch verstehen mag). Erst die sortale Unterscheidung von lebenden Einheiten ermöglicht deren Diversifizierung und Ordnung und stiftet damit die Bedingung für ein System. Insofern sind die vielen Geschichten von Biotechnologen, die eine Genealogie vom frühen Sauerteig oder der Met-Herstellung der alten Ägypter bis hin zum gentechnisch veränderten Bakterium in der Lebensmitteltechnologie entwickeln, irreführend. Ähnlich wie Hubigs Reflexion der Medialität der Technik ist auch das Biofakt-Konzept zweistufig angelegt: als hermeneutisches und als epistemologisches Konzept. Als hermeneutisches Konzept stellt sich gerade nicht die ontologische Frage „Was ist ein Biofakt?“197 196 Hubig, Christoph in: Ropohl, Günter/Hubig, Christoph, „Kontroverse [Brief­ wechsel]“, in: Jahrbuch Technikphilosophie 2015, Zürich 2015, S. 233-261, hier Brief 4, S. 257. Die Passage im Brief basiert gedanklich auf Hubig, Christoph, Die Kunst des Möglichen I, Bielefeld 2006. 197 Dies unterstellt mir z. B. Zoglauer, Thomas, „Zur Ontologie der Artefakte“, in: Friesen, Hans; Lotz, Christian; Meier, Jakob und Markus Wolf (Hg.), Ding und Verdinglichung, München 2012, S. 13-30.

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oder „Woraus besteht es?“ (wie z. B. Günter Ropohl das Biotechnische generell zu verstehen sucht).198 Vielmehr stellt sich die historisierende, technikgenetische Frage nach dem Machen des Wachsenden, die sich mit der epistemologischen Frage nach der Wissbarkeit des Machens verschränkt: Wie ist dasjenige Lebende, das wir aufgrund des Wissens um den technischen Eingriff in sein Wachstum als Biofakt bezeichnen können (obwohl es z. B. als „Naturprodukt“ oder als „Innovation“ verhandelt wird), entstanden und gemacht worden? Was aber, wenn wir nicht von der technischen Zurichtung wissen, sondern nur darüber spekulieren können? Dann stellt sich die Frage: Wie sind, wenn sich die Schnittstellen von Natur und Technik verwachsen haben (empirische Ebene), noch Differenzierungsmöglichkeiten hinsichtlich des Natürlichen und Technischen möglich (konzeptuelle Ebene unter dem Primat von Reflexionsbegriffen)? Ziele des Konzepts sind, heideggerisch ausgedrückt, die Zuhandenheit des Zeugs zu markieren, aber als Ermöglichungsbedingung dessen auch danach fragen zu können, ob und wie das Zeug überhaupt noch Zeugnis über sein Gezeugtsein ablegen kann. Hier kommt die Spur und die Notwendigkeit ihres Erhalts ins Spiel, die als „Spur von“ auch Weisungscharakter für mögliche zukünftige Verständnisse hat, im Sinne einer „Spur für“. Hubig charakterisiert die Problematik, die Biofakte bieten, folgendermaßen: „Über klare Schnittstellen konnte das Verhältnis zur Technik gestaltet werden; Gewohnheiten und Routinen blieben wenigstens im Prinzip reversibel. Im Zuge der neueren Entwicklungen nun scheinen die Schnittstellen, wenngleich sie objektiv nicht verschwinden, so doch in gewisser Hinsicht indisponibel zu werden, sei es, dass sie denjenigen, die mit den Techniken umgehen, nicht (mehr) transparent sind, sei es, dass sie sich grundsätzlich einer weiteren Gestaltbarkeit entziehen.“199 Es sind zuvorderst die Landwirte, die die Samen von Hochzucht­ sorten (Hybridsorten) nicht mehr hinreichend für ihre Zwecke vermehren können,200 auf die obiger Hinweis zur Intransparenz der

198 Vgl. Ropohl, Günter, „Die Biotechnik im systemtheoretischen Modell“, in: Poser, Hans (Hg.), Herausforderung Technik, Frankfurt a. M. 2008, S. 179-193. 199 Hubig, Kunst des Möglichen, S. 186. 200 Eine Vermehrung führt in der nächsten Generation zu deutlichen Ertrags­ein­ bußen.

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Technik zutrifft. Es klingt paradox, bleibt aber richtig: Viele Landwirte können mit Samen nichts mehr anfangen.201 In Folge kommt eine dritte, instrumentalistische Konzeptualisierung des Biofakts zum Vorschein, die vorwiegend im Modus der Rekonstruktion operiert. Sie erlaubt, verschiedene Typen der technischen Einflussnahme in das eigendynamische Wachstum zu kennzeichnen, wobei Wachstum vom Medium des Erscheinenlassens zum Mittel der Erzeugung bzw. Herstellung wird. Zu den bereits 2006 konstatierten Typen der Imitation, Automation, Simulation und Fusion202 ist jüngst das bestandssichernde Sammeln originärer Anfänge als nunmehr erste Stufe der Biofaktisierung hinzugetreten. Der Umgang mit den neueren Biofakten „beschränkt sich auf die Gestaltung der Bedingungen ihres Wirkens, nicht mehr auf das Wirken selbst“.203 Damit geht auch eine Fraglosigkeit einher: ein Vergessen, nach dem Beginn und der Art und Weise des Wirkens zu fragen.204 In den Worten von Blumenberg: „Ungleich vollkommener als durch die Mimikry der Gehäuse wird das Technische als solches unsichtbar, wenn es in der Lebenswelt implantiert ist.“ Dort beginnt „die Technisierung“ „ihrerseits die Lebenswelt zu regulieren, indem jene Sphäre, in der wir noch keine Fragen stellen, identisch wird mit derjenigen, in der wir keine Fragen mehr stellen […]“.205 Samen von Kulturpflanzen in Samenbanken zu sammeln bedeutet demnach, Relikte von Natur und Technik zu sammeln. In der Sammlung können diese, und mit ihnen die lebenden Objekte, aber gleichzeitig zukunftsweisend sein und zu Instrumenten der Analyse und Herstellung werden. Samenbanken sammeln demnach Spu­ ren von und Spuren für. In dieser Hinsicht sind sie am ehesten mit Archiven vergleichbar, in die wir uns auf Spurensuche begeben – mit dem wichtigen Unterschied, dass uns Samenbanken gemeinhin verschlossen bleiben. Bei der Samenbank handelt es sich also um einen exklusiven Raum der Spurensuche.

201 In der Fachsprache: Die Sorten sind nicht sortenfest. 202 Vgl. Karafyllis, Biofakte – Grundlagen. 203 Hubig, Kunst des Möglichen, S. 187. 204 Gemeint ist die Frage nach der causa efficiens als eine der vier Ursachen der Technik, die Aristoteles in seiner Physik entwickelt hat und die auch Heidegger als ein Ausgangspunkt für die Frage nach der Technik dient. 205 Blumenberg, Hans, „Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phä­ nomenologie“ [1963], in ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1981, S. 7-54, hier S. 37.

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Wir haben zwar eingangs festgestellt, dass im Vergleich zu den Objekten in pflanzlichen Samenbanken ein Gros der in Mikrobenbanken gesammelten Bakterien, Pilze und Einzeller naturbelassen ist. Dies soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Mikroben und ihre Plasmide, z. B. im Falle des pflanzenpathogenen Bakteriums Agrobacterium tumefaciens, als Vektoren für gentechnische Anwendungen dienen und damit wichtige Werkzeuge der Biotechnik sind. Samenbanken stellen also nicht nur lebendes Material bereit, sondern bei Bedarf auch lebende Mittel. Diese Medialität macht Samenbanken zu Orten der Bestandssicherung (s. u.). Zentral ist hier die Einsicht, dass lebende Mittel nicht schon als Mittel gesammelt werden.206 Dann würde Sammeln mit Bereitstellung in eins gesetzt. Auch das Sammeln von Pflanzen/Samen mit züchterisch für relevant befundenen Eigenschaften (s. Abschn. 2) macht sie noch nicht zu Mitteln, wenngleich es einen Möglichkeitsraum sondiert. Vielmehr erweist sich der Mittelcharakter der lebenden Objekte erst nach ihrer Sicherung und mit der Zeit. Er wird durch eine spezifische Inanspruchnahme der Objekte erst erzeugt. Deshalb ist der Versuch, eine Theorie der Lebendsammlung auf ihren Funktionen aufzubauen (die immer solche eines bestimmten Zeitpunkts der Betrachtung wären), zum Scheitern verurteilt. Bei Biofakten findet sich eine Synchronizität von zukünftig angestrebtem Wachsenden und Lebenden, gegenwärtig Wachsendem und Lebendem, und ‚Fossilem‘ oder Natur- bzw. Kulturhistorischem. Diese wird durch reflektierende Aushandlungsprozesse um die Begriffe Natur, Kultur und Technik graduell bestimmt. Die Aushandlungsprozesse spiegeln sich in der Varianz der Objektstruktur und den Forschungszielen der Sammlung. Als semantischer Hintergrund für diese Aushandlungsprozesse wird in Samenbanken die zweifache Bedeutung von „Natürlichkeit“ verwendet: einerseits eine statische (das Natürliche besteht aus xy, z. B. Molekülen – so im Ausdruck „Lebendmaterial“) und eine genetisch-historische (das Natürliche ist geworden bzw. wesenhaft – so in den auf Kontinui­ tät abhebenden Ausdrücken „Same“ und „Keimplasma“).207 Für das Verständnis von Samen als Biofakten sind deshalb auch die Technizitätskonzepte doppelt zu strukturieren: als Konzeptualisierungen des Vorhandenen (lebende Objekte oder ‚Dinge‘) und des 206 So wird auch verständlich, warum sich Sommer in seinem Buch Sammeln ge­ ne­rell dagegen wehrt, dass Sammeln in Zweck-Mittel-Schemata gepresst wird. 207 Vgl. Birnbacher, Natürlichkeit.

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Zuhandenen (lebende Mittel bzw. Werkzeuge). Beides ist im Begriff „Bestand“ (s. u.) zusammengedacht, der hier als theoretisierender Begriff für Lebendsammlungen vorgeschlagen wird: Lebendsamm­ lungen sammeln Biofakte als Bestände. Die in diesem Abschnitt neu gewonnene Einsicht lautet: Jedes Biofakt beginnt mit der Kontrolle über den Samen. 5.2 Was ist für Samenbanken „Same“? Über Samen, Keimplasma, Klone und ihre Erhaltungstechniken Das Biofakt, hier: der langzeitgekühlte Same, ist vordergründig, d. h. in einer funktionalen Ontologie, eine einzige durchgängige Einheit. Dies gilt zumindest dann, wenn er seine Keimfähigkeit behält und seinen Zweck erfüllt: wieder ein bestimmtes Lebewesen entstehen zu lassen. Hintergründig weist der langzeitgelagerte Same aber materiell, semantisch und ontologisch die Effekte von Isolation und Dekontextualisierung auf, was im Folgenden skizziert werden soll. Für eine Theorie der Lebendsammlung wird, in Verträglichkeit mit dem modernen Arbeitsbegriff „Keimplasma“ in Samenbanken, ein metaphysischer Zugriff gewählt und der Same in einem weiten Sinne als Kontinuant verstanden. Dadurch wird von den jeweils spezifischen wissenschaftlichen Disziplinen abstrahiert und seine Verschränkung von Potenzialität und Kontinuität hervorgehoben, die dann als jeweils spezifischer „Bestand“ in Samenbanken gesichert werden soll. Inspirierend dafür sind neben der Prozessphilosophie vor allem die antiken Betrachtungen zum Samen von Aristoteles und Theophrast. Wir fragen deshalb noch einmal neu: Inwieweit sammeln Samenbanken überhaupt Samen? Gesucht sind Universalisierungsstrategien, die den botanisch-anatomischen Begriff „Same“ für das Arbeiten in Samenbanken zell- und entwicklungsbiologisch erweitert haben. Wichtig dafür ist der Ausdruck „Keimplasma“ (engl. germplasm). Dieser bezeichnet die übergeordnete Erhaltungseinheit in Samen-, Gen- oder Zellbanken und damit ein Metaobjekt. Oftmals benennt er auch die Institution als „germplasm system“. Da der Ausdruck die Erhaltungseinheit zellbiologisch fasst, lässt er sich universalisierend auf Zellen mikrobieller, pflanzlicher und tierischer Herkunft anwenden. „Keimplasma“ stiftet Einheit in der Vielfalt, weil der Ausdruck erlaubt zu denken, dass an einem Ort Samen, Zellen, Klone etc. zusammen gesammelt werden und sich

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den Sammlungsordnungen fügen. Realiter ist dies durchaus der Fall, beruht aber auf sehr verschiedenen Erhaltungstechniken. „Keimplasma“ zeigt die Kontinuität des Zeugens an. Denn in Samenbanken geht es um das Akkumulieren und Diversifizieren kontinuierlicher Potenziale in diskontinuierlicher Form. Prozessontologisch gesprochen, sammeln Samenbanken Kontinuanten. Wie können diese diskontinuierlich werden? „Damit Kontinuanten zeitlich teilbar sein könnten, müssten sie sich entweder als identisch mit ihrer Geschichte oder in irgendeinem Sinne als ‚Teile‘, d. h. Produkte der Teilung ihrer Geschichte, verstehen lassen. Letzteres scheint ausgeschlossen“.208 Letzteres aber zeigt der Pflanzensame. Phänomenologisch ist er Resultat einer Abteilung der Geschichte einer Pflanze, an der er heranreift und von der er mit der Frucht zu Boden fällt oder geerntet wird. „Same“ (engl. seed) ist im engeren Sinne ein botanischer Begriff. Er meint diejenige strukturelle Einheit der Pflanzenanatomie, die die Samenpflanzen (Sporophyten) kennzeichnen und die einen ersten oder letzten Status im Leben der Pflanze anzeigt.209 Damit bedeutet „Same“ gleichzeitig eine Fortpflanzungseinheit. Als solche verweist sie auf ein Kontinuum des pflanzlichen Typus, der Art, aber nicht auf ein Kontinuum eines Individuums „der-Art“ (anders als „Klon“). Phänomenologisch und prozessontologisch markiert der Same einen Generationswechsel und wird so auch für Aristoteles zum universalisierenden Begriff (s. u.). Phylogenetisch (stammesgeschichtlich) stellt sich die Lage noch komplizierter dar und fokussiert auf den Ausdruck „Spore“. Genetisch lässt sich der Same als Produkt der sexuellen Fortpflanzung auf zwei Pflanzen, die Eltern, zurückführen. Eben dies wird ihm in der Samenbank langfristig zum Verhängnis, d. h. wenn die Samen wieder verjüngt werden. Dann ergibt sich eine neue Abteilung der Geschichte und Mischung mit einer anderen. Sexualität hebt die Identität des Objekts auf und stiftet damit Unordnung in der Samenbank. Deshalb präferiert man an sich vegetative Fortpflanzungseinheiten (hier abstrakt zusammengefasst als „Klone“), 208 Schark, Lebewesen versus Dinge, S. 54. Die Autorin erinnert in diesem Zusam­ menhang (S. 44, Fn. 36) auch an Rudolf Carnaps Konzept der „Genidentität“: der „Zugehörigkeit verschiedener Dingzustände zu demselben Ding“ (vgl. Carnap, Rudolf, Der logische Aufbau der Welt, Berlin 1928, § 125). 209 In der Botanik ist der Same ein Gebilde, das aus Samenschale, Endosperm und dem ruhenden Embryo besteht. Er kennzeichnet die Samenpflanzen (Sporo­ phyten). Vgl. Nultsch, Wilhelm, Allgemeine Botanik, Stuttgart 81986, S. 355.

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die man aber für sich schlechter erhalten kann, weil sie keine feste Umgrenzung wie die Samenschale haben. Für den Schutz und die Begrenzung der vegetativen Potenziale braucht man spezielle Gehäuse wie Petrischalen mit Nährböden oder cryovials für die Lagerung in Stickstofftanks. Der Schößling oder Klon hingegen zeigt bezüglich des obigen Zitats den ersten Fall: Er ist Teil der Identität mit seiner Geschichte. In diesem Zusammenhang einer offenen Form steht die an Hegel orientierte Aussage von Helmuth Plessner, dass die Pflanze kein Selbst habe und kein Individuum erzeugte. Sie existiere als „Dividuum“,210 in der die einzelnen Teile Autonomie behalten. Von diesem Gedanken ist es nicht weit bis zur Totipotenz der Zelle. In Konsequenz wären auch der Klon und kloniertes Gewebe ein Same, und wird als solcher von Samenbanken auch erachtet. Es handelt sich um verschiedene Formen von Keimplasma. Dass auch Klone als Samen im weiten Sinne gefasst werden können, liegt an der populationsökologischen Erweiterung von „Same“ als Verbreitungseinheit211 (Diaspore),212 die Klone mit einschließt. Ähnliches gilt für das Verständnis von „Same“ als Überdauerungseinheit, wodurch sich eine Nähe zur mikrobiellen Spore ergibt. Beide Verständnisse von Same stehen für die Kontinuität der Population, die nicht auf einen Ort beschränkt bleibt. Sie kontinuiert, wenn ihre reproduktive Fitness hoch genug ist. Damit wird der Same funk­tio­nal 210 Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin 1975, S. 220. Weiterführend Michelini, Francesca, „Helmuth Plessner und Hans Jo­ nas. Geschichte einer verpassten Begegnung“, in: Köchy, Kristian und Fran­ cesca Michelini (Hg.), Zwischen den Kulturen. Plessners „Stufen des Orga­ nischen“ im zeithistorischen Kontext, (Lebenswissenschaften im Dialog 20), Freiburg 2016, S. 323-357, hier S. 329f. 211 Urbanska, Krystyna M., Populationsbiologie der Pflanzen, Stuttgart, Jena 1992, Kap. 2 und 3. 212 Von griech. diáspora (Zerstreuung). Der Ausdruck „Diaspore“ bezeichnet kein homologes Gebilde. Darunter fallen Samen von Samenpflanzen sowie z. B. vegetativ entstandene Rhizomfragmente („Klone“). Entwicklungsbiolo­ gisch hingegen unterscheidet man, basierend auf „Spore“ als einer ein- oder wenigzelligen Fortpflanzungs- und Vermehrungseinheit, sexuell entstandene Diasporen (Meiosporen: entstanden aufgrund von Meiose; z. B. die Tetrameio­ sporen der Thallophyten; bei Samenpflanzen der Nucellus und die Mikrospore, die aber keine eigenen Verbreitungseinheiten sind) und asexuell entstandene Diasporen (Mitosporen: entstanden aufgrund von Mitose). Zu den asexuellen Diasporen gehören Exosporen wie Bulbilien an Blättern (letzteres bei Orchi­deen) sowie Pseudomyzelien, Konidien, Chlamydosporen und Sklerotien bei Pilzen (die beiden letzteren sind eher Überdauerungs- als Verbreitungseinhei­ten).

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auf ein Ziel orientiert, das nicht mehr er selbst ist (als zukünftiges Leben einer Pflanze). Vielmehr steht er im Dienste des Überlebens aller seiner Art. Der Same nicht als ontologische Ein(s)heit, sondern in seiner Vielzahl als statistische Menge garantiert im Durchschnitt die Identität der Population. Als ständiges Problem der Langzeitlagerung erweist sich der Erhalt der genetischen Integrität, beeinträchtigt durch metabolische Prozesse im Samen.213 Entsprechend sammeln Samenbanken jeweils große Mengen einer Sorte oder Varietät nicht nur aus populationsgenetischen, sondern auch aus populationsökologischen Gründen: Technisch modelliert wird die „reproduktive Fitness“. Dabei stellen die Öko­ logie und ihre Aussagen zur Stressresistenz des Samens bei Trockenheit und Kälte Vermittlungswissen bereit. Dazu gehört auch die Erforschung, wie artspezifische Samen in der natürlichen „Bodensamenbank“ (engl. soil seed bank) überdauern.214 Ab ca. 1970 entsteht die neue Disziplin der Seed Science, die den Samen weitgehend als getrennt von der Pflanze erforscht und auch mit anderen Reproduktionseinheiten (Gewebekulturen) experimentiert. Ihr Forschungsprogramm ist auf die Ex situ-Erhaltung von Pflanzen, insbesondere in Samenbanken ausgelegt. Damit entstehen neue Terminologien für Samen, die Langlebigkeit in spezifisch technischen Umgebungen fokussiert: „orthodoxe“ versus „widerständige“ Samen215 – das Begriffspaar bildet die wichtigste Liminalität der Entscheidung, ob bestimmte Pflanzen/Samen in die Samenbank aufgenommen werden oder nicht. Dass Getreide den größten Anteil an pflanzlichen Akzessionen weltweit stellt, liegt also nicht nur in der ökonomischen Nachfrage begründet, sondern auch darin, dass Getreide orthodoxe Samen haben, die sich einfach in Einweckgläsern tiefkühlen lassen. Deutlich schwieriger gestaltet sich die Langzeitlagerung bei Kartoffel, Maniok und tropischen Nutzpflanzen (vgl. Schumacher, in diesem Buch), um andere wichtige cash crops zu nennen. Sie werden als kryokonservierte Gewebe erhalten. Generell ist die pflanzliche Vielfalt ih-

213 Börner, Andreas, „Preservation of plant genetic resources in the biotechnology era“, in: Biotechnology Journal, 12(1)/2006, S. 1393-1404. 214 Thompson, Ken, „The Functional Ecology of Soil Seed Banks“, in: Fenner, Mi­ chael (Hg.), Seeds. The Ecology of Regeneration in Plant Communities, Wall­ ingford 22000, S. 215-235. 215 Roberts, Eric H., „Predicting the Storage Life of Seeds“, in: Seed Science and Technology, 1/1973, S. 499-514.

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rer Vermehrungseinheiten – Samen, Knollen, Zwiebeln, Rhizome etc. – eine Herausforderung für die Langzeitlagerung, mehr noch für Standardisierungsansprüche. Wendet man obige Ideen auf die beiden grundlegenden Strategien Akkumulieren und Diversifizieren in der Sammlung an, so lässt sich in Samenbanken beobachten, dass sich das Diversifizie­ ren auf Klassen von Genen (Genotypen) und Eigenschaften (Phänotypen) richtet, wohingegen das Akkumulieren auf das Identische ausgerichtet ist: die technische Erhaltungsform und ihre Befüllung mit keimfähigen Inhalten. Man kann dies mit einheitlichen Stellordnern in einem Archiv vergleichen, die mit unterschiedlichen Dokumenten befüllt sind. Ziel ist es, die Sammlungsobjekte der Erhaltungsform nach möglichst gleich zu machen, um technische Standards der Kühlung und Logistik zu erfüllen. Hier entsteht ein technologischer Zielkonflikt der Sammlung: Das Einweckglas mit Samen ist ökonomisch (da kostengünstig) und technisch (da einfach zu handhaben) die bevorzugte Erhaltungsform, aber sie muss selbst diversifiziert werden, um Klone und damit vegetative Einheiten erhalten zu können. Deshalb finden sich in modernen Samenbanken auch verschiedene, räumlich getrennte Kühltechnologien, von der Tiefkühlung für Einweckgläser bis zur Kryokonservierung bei ultratiefen Temperaturen für Gewebeproben. Sie alle verfolgen ein Ziel: diejenigen Parameter zu simulie­ ren, die den Samen in seiner natürlichen Umgebung ‚schlafen‘ lassen (Dormanz). Am wichtigsten sind Kälte und Feuchtigkeitsentzug. Dabei müssen sie mit dem natürlichen Potenzial des Samens rechnen – der sich in antiker Tradition der Werkzeuge Kälte, Wärme und Feuchtigkeit bedient und sich im Boden als Lebendiges selbstorganisiert. 5.3 Spérma im Verständnis von Aristoteles und Theophrast Der Aristoteles-Schüler und Botaniker Theophrast von Eresos ist der erste, der spezifisch untersucht, was ein Pflanzensame ist und wie die Samen von Pflanzen differieren. Theophrast beschreibt den Samen und nicht etwa die Frucht als das letzte Stadium der Pflanze. In seiner wie auch in Aristoteles’ Naturteleologie ist die Möglichkeit der Fortpflanzung das Ziel. Dem Samen inhärent bzw. in ihm „zusammengewachsen“ (griech. sýmphyton) seien Feuchtigkeit und Wärme. Diese beiden Potenziale können aber auch versagen (His­

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toria plantarum I, 11, 1).216 Klima, Geologie und die Art der Bodenkultivierung sind zentrale Kriterien für das erfolgreiche Keimen von Samen.217 Wie Aristoteles in De generatione animalium (GA) zugrunde legt, habe eine Pflanze wesentlich keine andere Funktion oder Aktivität auszuführen als Samen zu generieren.218 Der Grund für diese starke Aussage liegt darin, dass der Philosoph im Samen (griech. spérma) – und zwar auch im menschlich-tierischen – die erste Form von Seele ansiedelt, die anima vegetativa.219 Sie sorgt für Ernährung, Wachstum und Fortpflanzung in allen Lebewesen. Entsprechend ihrer ontologischen Sonderstellung, den Beginn allen Lebens zu ermöglichen, ist die Pflanzenseele selbst mit umfangreichen Vermögen ausgestattet. Der Same ist, philosophisch gesprochen, erste Entelechie. Er ist eine Organisationseinheit (Aristoteles spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „Technik“ des Samens), die sich das umgebende Medium organisiert, d. h. im Falle von Pflanzen den Boden, im Falle von Säugetieren das Blut im Uterus. In seiner ersten Aktivität hat der Same die Instrumente Wärme und Kälte gleichsam zur Hand, ähnlich wie ein Koch.220 Seine Substanz bleibt in die dýnamis der Natur eingebettet, d. h. der Same kann nicht zerlegt betrachtet werden als Form und Materie. Ferner umfasst der Same in sich beide Bedeutungen von arché – Ursprung und Anfang. So bedeutet der Same sowohl Potenzialität (neu anfangen zu können) als auch Kontinuität (Erhalt der Gleichursprünglichkeit) – und genau in dieser Doppelbedeutung wird er in Samenbanken relevant, wenn sie gleichzeitig die materielle als genetische Vergangenheit (z. B. von Kulturpflanzen) wie auch die materielle als genetische Zukunft (von zukünftigen Züchtungen) sammeln wollen und letzteres als das Sammeln von „Optionen“ begreifen.

216 Theophrastus, Enquiry into plants, and minor works on odours and weather signs, übers. von Arthur Hort, Cambridge/MA, London, Bd. 1 1916, Bd. 2 1926 (nachf. HP). Hier zit. Bd. 1, S. 70. 217 Vgl. zum letzten Punkt z. B. HP VIII, 9, 8-9 (Theophrastus, Enquiry, Bd. 2, 1926, S. 213). 218 A „plant, in its essence, has no function or activity to perform other than the production of its seed.“ (GA I, 731a 24). Text zit. n. Aristotle, Generation of Animals, hg. von Arthur L. Peck, London 1963. 219 Vgl. Ingensiep, Hans Werner, Geschichte der Pflanzenseele, Stuttgart 2001. 220 Aristoteles, Generation, GA II, 741b 25ff.

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„Kultiviert“ und „wild“ beschreiben schon bei Theophrast nicht zwei verschiedene Wesenheiten oder Arten, sondern markieren ein graduelles Gefälle (vgl. Abschn. 2.1). Kultivierte Pflanzen sind vergleichbar mit gezähmten Tieren.221 Eine Pflanze ist demnach „wild“, wenn sie sich der Kultivierung im Hinblick auf die zu erreichenden Zwecke verweigert; eines von Theophrasts Lieblingsbeispielen dafür ist die Lupine (vgl. Lobenhofer, in diesem Buch), ein weiteres die Kornelkirsche.222 Kultivierte Pflanzen können, wenn man ihnen nicht genügend Aufmerksamkeit widmet, wieder verwildern, d. h. „Wildheit“ kann auch eine sekundäre Eigenschaft sein und geht nicht der Kultivierung nur voraus (heute ausgedrückt im Fachterminus „Wildling“). Wildpflanzen seien generell durch kräftigeres Wachstum und hohe Fruchtbarkeit (d. h. auch hohe Samenproduktion) ausgezeichnet, wobei dann viele Früchte gar nicht zur Reife gelangen und der Reifezeitpunkt generell spät ist. Entsprechend lassen sich schon damals als übergreifende Züchtungsziele für alle Kulturpflanzen – ungeachtet, ob Obstbäume oder Getreide – eine gleichmäßigere und vollständigere Fruchtreife und ein früherer Erntezeitpunkt rückschließen (vgl. Graner, in diesem Buch). Diese Beschleunigung und Normierung des Wachstums im Hinblick auf das zu erreichende Produkt betrifft auch den in den Früchten enthaltenen Samen als reproduktives Potenzial. Der Same ist aristotelisch gesehen Mittel, um Körper hervorzubringen, hat aber selbst keinen Körper. Entsprechend sind das Weibliche und das Männliche bei Pflanzen noch nicht voneinander getrennt, Pflanzen haben eine präduale Natur (GA I, 731a 1-7; cf. GA II, 741a 5). Dass Aristoteles Pflanzen nicht allgemein als asexuell konzipiert, zeigen seine Passagen zu Schößlingen und Sprossen bzw. technisch ausgedrückt: zu Ablegern und Klonen. Denn, so Aristoteles, einige Pflanzen wie Weiden und Pappeln produzierten gar keine Samen (was aus heutiger Sicht falsch ist), sondern pflanzten sich vegetativ fort. Dies sei ein Zeichen von Schwachheit und niederem Rang (GA I, 726a).223 Samenlosigkeit bedeutete also in 221 HP III, 2, 2 (Theophrastus, Enquiry, Bd. 1, 1916, S. 167f.). 222 Vgl. auch HP III, 2, 1 (Theophrastus, Enquiry, Bd 1, 1916, S. 171) zur un­ter­ schiedlichen Wuchsform von Wildobst je nach Höhenlage. 223 Pappeln- und Weidenarten zeigen beim Zusammentreffen zweier oder mehre­ rer Populationen in Folge der Ausdehnung ihres Lebensraums das Phänomen des „Hybridschwarms“. Hier sind die Nachkommen genetisch intermediäre Zwischenstufen des jeweiligen Elters. Sie können sich durch Selbstung, aber auch durch Rückkreuzung weiter vermehren. Als „Hybridschwarm“ wird eine

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Aristoteles’ Biologie eine niedrige Hierarchie, durchaus vergleichbar mit der Systematik Carl von Linnés.224 Dies ist für den vorliegenden Kontext deshalb relevant, weil in modernen Samenbanken die sortenreine Erhaltung über klonales Gewebe (z. B. von SprossMeristemen) als die zu bevorzugende Erhaltungsmethode gilt, auch wenn man dafür die teure Variante der Kryokonservierung nutzen muss (s. Schumacher, in diesem Buch). Nur der Klon garantiert genetische Identität. Sexuelle Fortpflanzung hingegen, und damit die Voraussetzung von Samen im engeren Sinne, sorgt für Abweichungen der Nachkommen vom jeweiligen Elter. Was von Aristoteles bis Darwin als evolutorisch niedrige Pflanzenstufe angesehen wurde,225 erweist sich unter dem Primat des biotechnischen Zugriffs auf Leben als höherwertig. Samenbanken drehen also natürliche Hierarchien quasi um, und damit auch den Bezugsrahmen und die Leserichtung von Ontologien. Biologisch folgt die Funktion der Form; technologisch folgt die zu modellierende Form der Funktion. In dieser Hinsicht kann man die Samenbank als eine technologische Instanz verstehen, die den klassischen Samen als Produkt einer befruchteten Eizelle hin zum undifferenzierten und modellierbaren Gewebe transformiert. Damit ändern sich auch die Kultivierungstechniken in sowie die Bezeichnung von Institutionen. So weist der jüngere Ausdruck „plant germplasm system“ statt „Samenbank“ darauf hin, dass die grundlegende Konservierungseinheit das Keimplasma ist (s. u.). Der Same mit fester Samenhülle („orthodoxer Same“), aber selbst die Pflanzenzelle mit fester Zellwand sind nicht mehr diejenigen Objekte, die eindeutig „gleichzeitig vorhandene heterogene Typenmischung zwischen zwei vorher isolierten Arten“ bezeichnet. Vgl. Rieger, Rigomar und Arndt Michaelis, Ge­ netisches und cytogenetisches Wörterbuch, Berlin u. a. 21958, S. 261. 224 Zur aristotelischen Biologie weiterführend Heinemann, Gottfried und Rainer Timme (Hg.), Aristoteles und die heutige Biologie. Vergleichende Studien, (Lebenswissenschaften im Dialog 17) Freiburg 2016; Kullmann, Wolfgang, Aristoteles als Naturwissenschaftler, (Philosophie der Antike 38), Berlin 2014; Lennox, James G., Aristotle’s Philosophy of Biology. Studies in the Origins of Life Science, Cambridge 2000; Lennox, James G. und Robert Bolton (Hg.), Being, Nature, and Life in Aristotle. Essays in Honor of Allan Gotthelf, Cam­ bridge 2010. 225 Diesen Punkt des evolutorischen Vorteils von Samenpflanzen, insbesondere Blütenpflanzen (Angiospermen) im Vergleich zu Kryptogamen macht auch Peter Thompson, langjähriger Leiter der Samenbank in Kew Gardens, deutlich. Vgl. Thompson, Peter und Stephen Harris, Seeds, Sex, and Civilization. How the Hidden Life of Plants has Shaped our World, London 2010, S. 70.

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die modernsten Formen von Samenbanken indizieren. Das sind diejenigen mit Kryokonservierungstechnologie zur Langzeitlagerung von Zellen und Geweben. Mit dem sammelnden Fokus auf undifferenzierte, totipotente Zellen ergibt sich eine universalisierende Gemeinsamkeit von pflanzenorientierten Samenbanken mit zellbasierten Lebendsammlungen von Tieren, die mit Stammzellen arbeiten (vgl. Kruse und Ciba, in diesem Buch). Wir können hier von „Kryoregimen“226 sprechen, die ihre Machtstrukturen in die Samen-Objekte einschreiben und universalisierbares Herstellungswissen zur Sprache bringen. Stets bleibt die Frage nach der kryotechnischen Gradualität: Wie kalt ist kalt genug für die Langzeiterhaltung des spezifischen Lebendmaterials? Beibehalten wird auch bei der aktuellen Bestandssicherung die aristotelische und wesentlich anthropozentrische Teleologie: Pflanzen und Tiere sind um des Menschen willen da, entsprechend kann über sie verfügt werden.227 Dies gilt bei Aristoteles allerdings nur insofern man die natürlichen Grenzen respektiert, innerhalb derer Lebewesen von Natur aus „versorgt“ werden. Im direkten Anschluss verweist Aristoteles auch auf die Bestandssicherungen im Rahmen der „natürlichen Erwerbskunst“, die er als Technik kennzeichnet, die aber ihre natürliche Grenze hat.228 Dies kann man mit den Erhaltungstechniken in Samenbanken parallelisieren, deren natürliche Grenze sich in der Widerständigkeit vieler Objekte zeigt, langzeiterhalten zu werden. In der Kühlkammer zeigen sich die Kulturpflanzen weniger domestiziert als vermutet. So lassen sich z. B. die fetthaltigen Samen von Kakaobaum und Rizinus wie Baumsamen überhaupt nur kurz tiefgekühlt beim Standard von – 18 °C lagern und verlieren schnell ihre Keimfähigkeit. Sie gelten Samenbankern als „widerständige Samen“. Auch der Alternative Kryokonservierung widersetzen sich viele Kulturpflanzen, u. a. die kommerziell so wichtige Weinrebe. Die Entwicklung eines funktionierenden Kryokonservierungsstandards ist gattungsspezifisch und dauerte z. B. im Fall der Kartoffel

226 Vgl. Friedrich, Alexander, „The Rise of Cryopower. Life in the Age of Cryogenic Life“, in: Kowal, Emma und Joanna Radin (Hg.), Cryopolitics: Frozen Life in a Melting World, Cambridge/MA 2017, S. 59-69. 227 Aristoteles, Politik, übers. und mit einer Einleitung sowie Anmerkungen hg. von Eckart Schütrumpf, Hamburg 2012, S. 18 (I, 8, 1256b 15-20). 228 Aristoteles, Politik, S. 18-19 (I 9, 1256b 26-39).

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über zwei Jahrzehnte.229 Vielleicht darf man auch hier an Aristoteles erinnern. Seine Antwort auf die Frage nach der Langlebigkeit von Pflanzen beantwortete er mit dem Vorhandensein einer tiefen Wurzel. Entsprechend sind für ihn hier die Dattelpalme und der Ölbaum wichtig.230 Der Same war ihm vor dem Hintergrund einer zyklischen Naturvorstellung eine kurzlebige Angelegenheit, weil er die Aufgabe hat, zu zeugen: sich zu überwinden und eine Pflanze entstehen zu lassen. In der fortschrittsorientierten und damit progressiv-offenen Naturvorstellung der Moderne muss das natürliche Potenzial der Samen allzeit bereitgehalten werden. Dazu gehören Qualitätsmerkmale wie Keimfähigkeit, Triebkraft und Langlebigkeit, die aus der kommerziellen Saatgutproduktion bekannt sind. Bei vielen Wildpflanzen und alten Landsorten sind jedoch die technischen Optionen zur Regulierung der Dormanz – d. h. des inneren Schlafzustandes, in dem die Pflanze die Keimung unterdrückt – noch unerforscht, was eine Langzeitlagerung erschwert. Auch im Falle von Bäumen gelingt die Langzeitlagerung der Samen nur schwerlich, weshalb das Arboretum bzw. die „Feldgenbank“ bis heute eine wesentliche Alternative darstellt. 5.4 Keimplasma-Systeme (germplasm systems) Wenn Samenbanken sich als Keimplasma-Systeme bezeichnen, kombinieren sie nominell die Ordnung eines technischen Systems (mit seinen Mittel-Zweck-Kategorien) mit der Fluidität und Undifferenziertheit des Ausdrucks „Plasma“. Ähnlich wie mit „Same“ wird hier auf das gleichzeitige Sammeln von Einheiten und dem Nicht-Identischen jener Einheiten verwiesen, das die Einheiten potenziell in einen Prozess (Wachstum) überführt. Als biologischer Terminus fällt „Keimplasma“ um fast ein Jahrhundert aus der Zeit und beschränkt sich auf den jüngeren Kontext von Lebendsammlungen. Die dortige Begriffsintension von „Keimplasma“ schließt Gen, Genom, Zellorganellen und Zellplasma mit ein, aber die Zellwand von differenzierten Zellen aus. Die Begriffsextension wird durch die Bestimmung der biologisch universellen 229 Karafyllis und Lammers, Big Data, S. 188f. Vgl. auch Schumacher, in diesem Buch. 230 Aristoteles, De longitudine et brevitatae vitae.

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Grenze einer lebenden Vererbungseinheit gebildet. Diese scheint mit Blick auf die Genbank-Literatur und die involvierten Praxen die Zellmembran zu sein, auch aggregiert im undifferenzierten (klonalen) „Gewebe“. Die weitere Semantik rangiert zwischen der von „Stammzelle“ und der von „Gen“, womit die Kontinuität der Zeugung und Erzeugung im Mittelpunkt steht und an die älteren Semantiken von „Same“ und „Keim“ anschlussfähig ist (insbesondere in aristotelischer Lesart, s. o.). In Veröffentlichungen zu Genbanken wird „Keimplasma“ oft als identisch mit „genetische Ressource“ benutzt und damit um die mediale Funktion des Plasmas reduziert. Umgekehrt erweist sich unter den jüngeren Vorzeichen der Epigenetik der alte Ausdruck „Keimplasma“ als explanatorisch vorteilhaft, weil im „Plasma“ z. B. auch die mitochondriale und ribosomale Erbinformation mitgedacht wird. Der Ausdruck „Keimplasma“ stammt von dem Zoologen und Arzt August Weismann (1834–1914),231 der ihn um 1880 für eine Theorie der Vererbung entwickelte,232 in enger Auseinandersetzung mit dem Darwinismus seiner Zeit. Um 1900 war er auch in der Pflanzenzüchtung und in der Rasseforschung233 fest etabliert. Begriffsgeschichtlich bezog er sich auf die „Erbsubstanz“ und die Fragen nach deren Unteilbarkeit und Genealogie (Keimbahn). In diesen Kontext gehörten auch der vom Botaniker Carl von Nägeli stammende Ausdruck „Idioplasma“ sowie die Konzepte der „intergenerationellen“ und „intragenerationellen Kontinuität“. Ein Fokus lag auf der Suche nach phylogenetischen Form- und Identitätsprinzipien auf zellulärer Ebene. Empirisch bedeutete dies die Suche nach möglichst gering differenzierten Zellen, die als sogenannte 231 Siehe jüngst die Biographie von Churchill, Frederick B., August Weismann. Heredity, Development, and Evolution, Cambridge/MA, London 2015. Vgl. auch Sander, Klaus (Hg.), August Weismann (1834–1914) und die theoretische Biologie des 19. Jahrhunderts. Urkunden, Berichte und Analysen, (Freiburger Universitätsblätter 87/88) Freiburg 1985. 232 Zugrunde gelegt in Weismann, August, Die Continuität des Keimplasmas als Grundlage einer Theorie der Vererbung, Jena 1891, basierend auf Vorlesungen von Februar/März 1885 über „Deszendenztheorie“ (nachgewiesen bei Chur­ chill, Weismann, S. 304). 233 In diesem eugenischen Kontext wurde an das von ebenfalls von Weismann ent­ wickelte Konzept des „Ahnenplasma“ angeschlossen. Vgl. Weismann, August, Amphimixis oder: Die Vermischung der Individuen, Jena 1891, S. 32ff., ge­ bunden im Sammelband von ders., Schriften über Vererbung und verwandte Fragen. Das Konzept „Ahnenplasma“ wurde u. a. von dem Zoologen Oscar Hertwig abgelehnt.

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Urzellen, Primordialzellen oder „Stammzellen“ in Frage kamen. Deshalb wurden die Untersuchungsobjekte hauptsächlich aus dem Bereich der niederen Tiere (u. a. Hydrozoen, Ascariden, Insekten, aber auch das Amphibium Axolotl), niederen Pflanzen (Kryptogamen wie Moose und Algen) und der Einzeller (Protozoen, Protophyten) gewählt.234 Dabei war u. a. die Auseinandersetzung um die „Befruchtungs-Frage“ erkenntnisleitend, d. h. die Suche nach dem „verjüngenden“ Potenzial der Befruchtung im Sinne einer Lebenskraft (Vitalismus) und inwieweit sie sich auf die Keimzellen (Auseinandersetzung zwischen „Ovisten“ und „Spermatisten“) verteilte und mit der von somatischen Zellen vergleichen ließ. Wenn Kuratoren in Samenbanken heute davon sprechen, dass sie ihre gelagerten Pflanzensamen auf dem Feld verjüngen müssen, scheint diese Hintergrundsemantik noch auf. Ein zweiter Anklang ist in der Idee der potenziellen Unsterblichkeit der einzelnen Zelle gegeben, die in den historischen Kontext der obigen Auseinandersetzungen gehört und an Einzellern („Protisten“) entwickelt wurde. Die beständige Zweiteilung hinterlässt keinen Leichnam. Der Tod wurde damit als eine Konsequenz von Zelldifferenzierung begreifbar, oft illustriert an der Kugelalge Volvox globator als einer einfachen Version eines Individuums, das einen Leichnam hinterlässt.235 Umgekehrt wird so Langlebigkeit als Undifferenziertheit verstehbar. Zum dritten ist für das Arbeiten in Samenbanken typisch, dass sie den inneren Vererbungsvorgängen in biologischen Einheiten mehr Augenmerk schenken als den äußeren Umwelteinflüssen auf die Vererbung (von den Rhetoriken des Klimawandels für die Notwendigkeit der Bereitstellung von Züchtungsmaterial abgesehen) – auch das war Kernstück von Weismanns finaler Keimplasmatheorie. Wir können festhalten: „Keimplasma“ steht im vorliegenden Kontext für eine Vererbungs- und Erhaltungseinheit. Damit wird „Same“ als Verbreitungs- und Überdauerungseinheit einerseits überformt im Hinblick auf die Kontinuität, andererseits aber unterkomplex verstanden im Hinblick auf die Lagerungsfähigkeit (Dinglichkeit) der Einheit sowie ihr Potenzial zur Selbstorganisation. Somit bezeichnet „Keimplasma“ ein abstraktes Metaobjekt, das in den Rang eines Titels für Lebendsammlungen gerückt ist 234 Weisman selbst war jahrelang limnologisch tätig, u. a. am Bodensee, Titisee und Lago Maggiore. 235 Vgl. zur zeitgenössischen Auseinandersetzung Lipschütz, Alexander, Allge­ meine Physiologie des Todes, Braunschweig 1915.

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(als germplasm systems).236 Dies erfolgte allerdings sehr spät und etwa zu Ende der 1960er Jahre, als der Ausdruck „Keimplasma“ in der Genetik als Teildisziplin der Biologie bereits veraltet und nicht mehr gebräuchlich war, wohl aber noch eine Rolle spielte in der zunehmenden ‚Genetisierung‘ der Agrarwissenschaften und damit der Züchtungsforschung. Die 1970 gegründete, italienische Genbank für Kulturpflanzen in Bari nannte sich Laboratorio del Germoplasma, anders als die zeitgleich gegründete westdeutsche Braunschweig Genetic Resources Collection, in der man Wert darauf legte, „Genotypen“ zu sammeln.237 Einen starken Einfluss für die erneute Verbreitung von „Keimplasma“ hat die Molekularbiologisierung des Naturschutzes und der Conservation Science gehabt, die an der Modellierung des Konzepts „Biodiversität“ auf genetischer Grundlage arbeiteten – wie auch die Züchter. So gründete 1976 die Assembly of Life Sciences des National Research Council der USA das Committee on Germplasm Resources mit Vertretern von Lebendsammlungen aus den Bereichen Botanik, Forst, Fischerei und Landwirtschaft. Wie sich „Keimplasma“ als jüngerer Signifikant von Lebendsammlungen durchgesetzt hat, ist bislang unerforscht. Es ist zu vermuten, dass die FAO in Rom dabei einen entscheidenden Einfluss spielte und damit ein italienischer Kontext. Mit Blick auf den Ausdruck „Keimplasma“ und seine begriffliche Verjüngung im Titel „germplasm system“ sei an einen Gedanken von Michel Foucault erinnert. Typisch für die Wissenschaften seit dem 19. Jh. sei, dass die „Instanz der Repräsentation“ [der Bedeutung] „in der Schwebe gehalten“ werde – in unserem Fall: der Same. Der Gegenbegriff zu „Bedeutung“, nämlich „System“, habe die Aufgabe „zu zeigen, wie die Bedeutung niemals ursprünglich und zeitgleich mit sich selbst ist, sondern stets sekundär und gewissermaßen im Verhältnis zu einem System abgeleitet [ist], das ihr vorausgeht“.238

236 Nicht zu verwechseln mit der getrennten Schreibweise germ plasm. Dies hat im Englischen heute die Bedeutung von Primordial- oder Urkeimzellen des menschlich-tierischen Bereichs. 237 Vgl. Karafyllis und Lammers, Big Data, S. 175. 238 Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M. 1974, S. 433.

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5.5 Es geht um’s Ganze: Die Welt als Bestand, der lebende Bestand als „Weltsortiment“ Samenbanken können als Orte der Bestandssicherung verstanden werden. Entsprechend verwenden sie für die in ihnen vorliegenden Ordnungen zahlreiche Bestandsbegriffe, z. B. „Sortiment“, „Register“, „Inventar“, übergeordnet auch „Archiv“, „Bibliothek“ und „Bank“. Grund genug, sich den Bestandsbegriff genauer zu betrachten.239 Dabei gilt Heideggers Diktum, dass ein Bestand keine Ansammlung von Dingen ist, sondern eine Versammlung von Dispositionen, d. h. möglicher Mittel. Diese Sicht spiegelt sich in der Sprache von Biobanken, die häufig betonen, dass sie – anstatt Objekte – „Optionen“ sammeln. In der Sammlung erzeugen die Objekte als „in einer bestimmten Weise versammelte“ möglichen Mehrwert. Dessen Wertgeladenheit liegt außerhalb ihrer selbst und entsteht nicht nur durch die Kopplung an Zwecke, z. B. die der Züchtung. Das wäre mit Hegel nur „äußere Zweckmäßigkeit“, die letztlich dazu führe, dass die Zwecke im Laufe der Zeit vergehen, aber die Mittel bleiben. Der angesammelte „Bestand“ meint vielmehr eine Versammlung von „Verfügungen“ (Heidegger).240 Damit sind die Interrelationen zwischen den Objekten gemeint (im eigentlichen Sinne von „Fuge“), die die Objekte erst zum Bestand machen, sie auf eine verborgene Weise funktional orientieren und sie quasi für verschiedene Zwecke als Mittel ‚empfehlen‘ (Hegel: „innere Zweckmäßigkeit“).241

239 Ein zu Beständen alternativer Zugang wäre, Samenbanken als Infrastrukturen zu untersuchen, zumal sie in den Förderrichtlinien als „Forschungsinfrastruk­ turen“ bezeichnet werden. Sie sind dann Knotenpunkte in den Netzwerken der Bioökonomie, des Biodiversitätsschutzes und der lebenswissenschaftlichen Forschung, und sollen den Fluss an Lebendmaterial und Informationen er­ leichtern und beschleunigen. Doch auch für diese Herangehensweise ist der Begriff „Bestand“ grundlegend. Denn in Infrastrukturen wird dasjenige se­ kundär zum Fließen gebracht, was vorher festgestellt wurde, hier: als Gesam­ meltes. 240 Vgl. Luckner, Andreas, „Ding und Bestand“, in: Jahrbuch Technikphilosophie 2016, Zürich 2015, S. 15-29. 241 Hegel, Georg W. F., Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 12, hg. von Friedrich Hogemann und Walter Jaeschke, Hamburg 1981, S. 165-169. Dem korrespondiert auch Hubigs Einteilung von innerer und äußerer Medialität der Technik. Vgl. Hubig, Tech­ nik als Medium.

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Jene Verborgenheit führt zum Biofakt-Konzept zurück. Wie gezeigt, ist es verbunden mit der Suche nach Ordnungen der relativen Unsichtbarkeit des Technischen. Samenbanken bleiben den meisten Menschen, gerade auch den Landwirten, Medizinern und Pharmazeuten, ebenso verborgen wie ihre Aufgabe, Züchtungsmaterial für moderne Agrarsysteme oder Zelllinien für Therapeutika bereitzustellen. Diese Unsichtbarkeit beruht aber nicht auf einem bewussten Verschweigen oder der relativen Verschlossenheit der Institutionen, sondern sie korreliert einem modernen Wissenszugang, der auf Produkte statt auf ihre Reproduktionsbedingungen, auf Erschöpfung statt auf Schöpfung abhebt. Denn der moderne Wissenszugang basiert nach Heidegger auf Herausfor­ derung (man denke im Vergleich etwa an die Ent-Deckung). Zum Herausfordern braucht es ein Gegenüber, das man herausfordern kann: den Bestand. In Heideggers Denken von „Bestand“ geht die Analyse dieser Seinsweise viel weiter, weil er darauf abhebt, dass der Bestand einerseits verbirgt, andererseits sichtbar macht. Er macht sichtbar und rückt in den möglichen Zugriff, was zuvor verborgen war, hier: die Lebewesen als zählbare und verrechenbare „genetische Ressourcen“. Im Bestand erkennen wir gleichsam unser herausforderndes Stellen. Gleichzeitig macht der Bestand die Entität, auf die zugegriffen werden kann, zu einem statischen Ding und „stellt“ sie fest (das Lebewesen als eben Ressource oder Ding): „Welche Art von Unverborgenheit eignet nun dem, was durch das herausfordernde Stellen zustande kommt? Überall ist es bestellt, auf der Stelle zur Stelle zu stehen, und zwar zu stehen, um selbst bestellbar zu sein für ein weiteres Bestellen. Das so Bestellte hat seinen eigenen Stand. Wir nennen ihn den Bestand. Das Wort sagt hier mehr und Wesentlicheres als nur ‚Vorrat‘. Das Wort ‚Bestand‘ rückt jetzt in den Rang eines Titels. Er kennzeichnet nichts Geringeres als die Weise, wie alles anwest, was vom herausfordernden Entbergen betroffen wird. Was im Sinne des Bestandes steht, steht uns nicht mehr als Gegenstand gegenüber.“242 Damit ist auch ein grundlegend anderes Verständnis von Technik verbunden. Das ursprüngliche Wesen der Technik lag im Her­ vorbringen, in der Poiesis. Sie machte etwas offenbar oder schloss 242 Heidegger, Martin, „Die Frage nach der Technik (1953)“, in: ders., Gesamtaus­ gabe, Abt. I, Bd. 7: Vorträge und Aufsätze, hg. v. Herrmann, Friedrich-Wilhelm von, Frankfurt a. M. 2000, S. 5-36, hier S. 17.

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auf, was vorher verborgen war, zuvorderst die Natur. Nun ist der Bestand die Vorbedingung für das moderne Wesen der Technik, ein alles Poietische überformendes Ge-stell. Dieses wiederum lässt uns alles nur noch im Schema von Beständen wahrnehmen (Heidegger: „anwesen“).243 Ein Beispiel dafür ist die jüngere Wahrnehmung von Natur als „Naturarchiv“, wo „die Natur“ scheinbar sammelt und ordnet. Ihr Gegenbegriff ist das „Weltsortiment“ (s. Abschn. 3.3),244 in dem „die Natur“ (wenn auch nur die pflanzliche) von Menschenhand gesammelt, geordnet und in Form von Waren zur Verfügung gestellt wird. Das Weltsortiment baut sich aus kleineren Sortimenten auf, wie dem Weltweizensortiment, dem Weltgerstensortiment etc. Der Bestand akkumuliert sich selbst und erzeugt beständig MetaBestände. „Weltsortiment“ und „Archiv der Natur“ heben auf eine Totalität von Natur ab, in der sowohl das Ganze der Natur Bestand ist wie auch die Natur in der Vielheit ihrer Teile. Damit wird sie ihrer inneren Interrelationen (Kant: „Wechselwirkungen“) beraubt und einer operationalen Zweckmäßigkeit unterstellt, die Spiegel unserer instrumentellen Vernunft ist.245 Konsequenz ist, dass die Natur nicht mehr als Einheit erfahren werden kann. – „Weltsortiment“ ist von allen Namen für Biobanken der ehrlichste. Der Bestand zeigt aber noch eine andere Seite seiner Funktionalität: Er hat die Tendenz, immer mehr Objekte zu akkumulieren und sie zu assimilieren. Hier ergibt sich eine Verbindung zum Sammler als modernem Abenteurer, der auf immer intensivere Erlebnisse aus ist. Die Lebenssteigerung war ein Credo der Lebensphilosophie um 243 Heidegger, Martin, „Das Ge-Stell“, in: ders., Gesamtausgabe, Abt. III, Bd. 79: Bremer und Freiburger Vorträge, hg. von Petra Jaeger, Frankfurt a. M., 22005, S. 24-45. 244 Der Ausdruck „Weltsortiment“ findet sich im Vorfeld der Implementierung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Kulturpflanzenforschung, u. a. in Schrift­ stücken des Gründungsdirektors Hans Stubbe, um 1940. Er ist orientiert an Vavilovs Sammlungsbegriff der „Weltkollektion“. Stubbe verwendete diesen Begriff als Direktor in Gatersleben über alle Jahrzehnte weiter (vgl. Stubbe, Geschichte des Instituts Gatersleben, an zahlreichen Stellen; siehe auch Müntz und Wobus, Institut Gatersleben). Bei Stubbes Tod war der Ausdruck so eng mit ihm verbunden, dass er sich sogar in seinem Nachruf wiederfindet, beto­ nend, dass Stubbe in der DDR ein „Kulturpflanzenweltsortiment von interna­ tionalem Rang“ angelegt habe. Vgl. Spaar, Dieter, „Dr. Drs. h. c. Hans Stubbe“, in: Nachrichtenblatt für den Pflanzenschutz in der DDR, 43(7)/1989. 245 Vgl. Horkheimer, Max, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt a. M. 1967.

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1900 und zeigt sich heute in anderem Gewand.246 Der Wunsch, intensiver zu erleben, ist nach Heidegger keineswegs ein Korrektiv zur Bestandssicherung, vielmehr ihre Koexistenzbedingung. Entsprechend betont Heidegger, dass die Lebensphilosophie „nicht erkannte, wie die vorstellend-planende (machtende) Bestandsicherung nach Nietzsches Lehre gleichwesentlich für das ‚Leben‘ ist wie die ‚Steigerung‘ und Erhöhung. Diese selbst hat man nur nach der Seite des Rauschhaften (psychologisch) genommen und wiederum nicht nach der entscheidenden Hinsicht, daß sie zugleich der Bestandsicherung den eigentlichen und je neuen Anstoß und die Rechtfertigung für die Steigerung gibt. Deshalb gehört zum Willen zur Macht die unbedingte Herrschaft der rechnenden Vernunft und nicht der Dunst und die Verwirrung eines trüben Lebensgewühls.“247 Philosophische Aufgabe bleibt für den vorliegenden Kontext, „Bestand“ genauer zeitlich zu denken, d. h. in Form von Syn- und Diachronisierungen. Werden die jeweiligen „Leben“ der Objekte in der Samenbank synchronisiert, so erfolgt im gleichen Zuge eine Diachronisierung der kulturell zugehörigen Praxen. So werden etwa die jährlich seriell (annuell) synchronen Prozesse von Ernte und Aussaat in der Samenbank zeitlich um mehrere Jahrzehnte voneinander getrennt. 5.6 Das virtuelle Weltsortiment als digitaler Bestand: Von der Samenbank zur Datenbank Jacques Derrida erinnerte uns daran, dass die elektronischen Veränderungen von Archiven, die „Archivtechnologien“, nicht mehr nur den entscheidenden Moment des konservatorischen Aufnehmens in die Sammlung festlegen (und nie mehr festgelegt haben werden). Vielmehr führen elektronische Archivtechnologien dazu, dass die Institutionalisierung für das aufgenommene „Ereignis“ festgelegt werde. So entstehen neue Institutionsformen. In bewährt klausulierter Form stellt Derrida hier die Frage nach der Digitalisierung – und die nach der Transformation des Archivs in die Datenbank. In jenen neuen Institutionsformen gehe, wie er am Beispiel von ge246 Karafyllis, Nicole C. (Hg.), Das Leben führen? Lebensführung zwischen Tech­ nik­philosophie und Lebensphilosophie, Berlin 2014. 247 Heidegger, Martin, „Überwindung der Metaphysik (1936–1946)“, in: ders., Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 7: Vorträge und Aufsätze, hg. v. Herrmann, Fried­ rich-Wilhelm von, Frankfurt a. M. 2000, S. 67-98, hier S. 79-80.

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druckten Dokumenten verdeutlicht, das Ereignishafte der Beziehung verloren, die zwischen dem Gesammelten und seiner Überführung in die Sammlung besteht: „der Druck des Druckens, der Eindruck, vor der Aufteilung des Gedruckten und dem Drucker“.248 Auf den Sammler oder die Archivarin muss etwas aber Eindruck machen, um überhaupt gesammelt zu werden. Welchen Eindruck machen Dateien? Das heißt, mit den neu akquirierten virtuellen Objekten werden sich die Strukturen der Archive gravierend ändern, und zwar eben nicht nur durch die Digitalisierung von bereits gesammeltem Archivgut, sondern durch eine weitere Bestandsgröße in der instrumentellen Vernunft, die sich im Sammeln selbst niederschlägt. So entstehen für Samenbanken zwei neue, dominante Fragen: Inwieweit ist der Same ein Dokumentations- und Informationsträger? Und: Was an ihm ist digitalisierbar? Antworten darauf wurden an anderer Stelle ausgeführt.249 Die spezifischen Probleme der Digitalisierung in und von Samenbanken finden sich in zwei Beiträgen in diesem Sammelband (vgl. die Beiträge von Maul sowie Engels und Maggioni). Die Digitalisierung in Samenbanken ist eine historische und historisierende Weichenstellung. Der langjährig am IPK Gatersleben für die elektronische Dokumentation zuständige Karl Hammer beschreibt diese um die Jahrtausendwende als „paradigmatisch“ für Samenbanken, denn „development of electronic data documentation, management and dispersion“ habe in weniger als zwei Dekaden zu „highly developed, internationally oriented information systems“ geführt.250 Die Informationstechnik ist zur systemischen Komponente des Sammelns und Erhaltens geworden und zeigt sich seit der Jahrtausendwende im Namen Biological Resource Center (BRC).251 Im Mittelpunkt der Ausdeutung einer Lesbarkeit der natürlichen und kulturellen Welt stehen dabei die Konzepte „genetische Ressource“, „Weltnetzwerk“, „Thesaurus“ und „Datenbank“. Die beiden letzteren erlauben auch Vergleiche mit den Ordnungs- und Samm-

248 Derrida, Archive Fever, S. 18. Dt. Übers. N. C. K. 249 Karafyllis, Vom Biofakt zum Cyberfakt. 250 Hammer, Karl, „A paradigm shift in the discipline of plant genetic resources“, in: Genetic Resources and Crop Evolution, 50/2003, S. 3-10, hier S. 4. 251 Vgl. in diesem Buch die Beiträge von Overmann und Graner, die ihre Institu­ tionen als BRC verstehen.

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lungsformen von Bibliotheken und ihren Digitalisierungsschritten,252 die eng mit der Entwicklung von Datenbanken verwoben sind. Die Datenbank253 ist dabei als zentrale Instanz des Sammelns, Sortierens und Suchens zu verstehen, „über die sich ein spezifischer Rationalitätsbegriff in unsere digitale Kultur einträgt. Sie ist Ordnungsfunktion, Architektur und Regierung der Daten, Objekt und Subjekt des Rechners.“254 Als „Begriff für digitale Sammlungstechnologien ist sie eine Chiffre für die Informationsexzesse der digitalen Medienkultur.“255 Mit der Kombination von Digitalisierungs- und molekulargenetischen Züchtungstechniken geht eine wirkmächtige Form der Welterzeugung einher, die den Samen und damit die Pflanze als kulturelles und geschichtemachendes Objekt im Kontext der Pflanzenwissenschaften seit etwa einem halben Jahrhundert zunehmend in den Hintergrund rückt. Dies betrifft auch das morphologische im Vergleich zum molekularbiologischen Wissen bzw. den Einsatz von molekularen Markern, wenn es um die taxonomische Klassifikation geht. Informationstechniken werden in diesem Zusammenhang, wie auch der Computer selbst, oft als bloße Werkzeuge oder Hilfsmittel unterschätzt. Dabei sind sie systembildende Erzeugerinnen von Informationen, die ohne diese Techniken gar nicht existieren würden.256 Dies geht mit der Sammlung und Aggregierung von immensen Daten und Meta-Daten einher, für die sich aktuell moderne Samenbanken rüsten, um ihre Objekte als Biofakte in silico zu modellieren. In diesem Kontext kommt der Bioinformatik eine tragende Bedeutung zu. Ihre Techniken speichern, übermitteln und prozessieren Informationen, die aus der Genomsequenzierung ge-

252 Weiterführend Wilfried Sühl-Strohmenger, Digitale Welt und Wissenschaft­ liche Bibliothek – Informationspraxis im Wandel, Wiesbaden 2008; Rolf G. Henzler, Information und Dokumentation. Sammeln, Speichern und Wieder­ gewinnen von Fachinformationen in Datenbanken, Berlin 1992. 253 Vgl. Gugerli, David, Suchmaschinen. Die Welt als Datenbank, Frankfurt a. M. 2009. 254 Böhme, Stefan; Nohr, Rolf F. und Serjoscha Wiemer (Hg.), Sortieren, Sam­ meln, Suchen, Spielen. Die Datenbank als mediale Praxis, Münster 2012, S. 9. Mit diesem Buch sei auch auf weiterführende Literatur zur Geschichte und Anwendungsbreite von Datenbanken verwiesen. 255 Burckhardt, Marcus, Digitale Datenbanken. Eine Medientheorie im Zeitalter von Big Data, Bielefeld 2015, S. 327. 256 Heesen, Jessica, „Information“, in: Armin Grunwald (Hg.), Handbuch Technik­ ethik, Stuttgart 2013, S. 293-297, hier S. 293.

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wonnen werden und z. B. der Synthetischen Biologie257 für den Aufbau der lebenden Welt ‚bottom-up‘ dienen, zurzeit noch im Reich der Bakterien. Große Samenbanken, die eine Kernsammlung einer Gattung beherbergen, sind an transnationalen Projekten zur Genomsequenzierung beteiligt, so etwa die Genbank am IPK Gatersleben bezüglich des Gerstengenoms (vgl. Graner, in diesem Buch).

6. Schluss: Die Samenbank als Heterotopie Heterotopien bringen „an ein und demselben Ort mehrere Räume zusammen, die eigentlich unvereinbar sind.“258 Michel Foucault nennt als Beispiele das Theater, das Kino und den Garten. Zwanglos ließen sich seine Beispiele um den Botanischen und Zoologischen Garten sowie die Samenbank erweitern, die die Biodiversität der Welt als Exemplare, Typen oder Muster aus verschiedenen Räumen versammeln. Der Garten interessiert Foucault jedoch besonders in Gestalt des „Perserteppichs“259 mit seiner spezifischen Anordnung der Pflanzenwelt in einem Rechteck – ein Ersatz für den wirklichen Garten, den man auf einen trockenen Boden legt. In Form des Teppichs ist die Vegetation der Welt „beispielhaft und vollkommen“. Seine imaginative Kraft, so Foucault, ging hin bis zur Idee des „fliegenden Teppichs“ und damit einem „Garten, der sich durch den Raum bewegen kann“.260 Versteht man die Samenbank in diesem Sinne, so ist sie die Imagination eines vollkommenen, wohlgeordneten Gartens, der sich aber in einer idealen Welt von der Territorialität seiner Existenzform frei machen könnte. Die Pflanzen kämen ohne den Boden aus und könnten überall sein. Sie würden so kosmopolitisch wie Bakterien, die mit Staubteilchen noch durch atmosphärische Höhen schweben (vgl. Overmann, in diesem Buch). Von diesen transterritorialen Imaginationen leben Konzepte, die bei „Samenbank“ nicht den Raum 257 Köchy, Kristian, „Lebensbegriffe in den Handlungskontexten der Synthetischen Biologie“, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, 18(1)/2014, S. 133-172. 258 Foucault, Michel, „Die Heterotopien“, in: ders., Die Heterotopien. Der uto­pi­ sche Körper. Zwei Radiovorträge, Berlin 2013, S. 7-22, hier S. 14. 259 Gemeint ist ein sogenannter Gartengrundrissteppich. Vgl. den locus classicus Erdmann, Kurt, Der orientalische Knüpfteppich. Versuch einer Darstellung sei­ner Geschichte, Tübingen 1955 (engl. 1960). 260 Foucault, Heterotopien, S. 15.

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der Bank, sondern die Mobilität der Objekte in den Blick nehmen. In diesem Zusammenhang steht einerseits das von der FAO um 1970 ausgerufene „Weltnetzwerk pflanzengenetischer Ressourcen“, das auf vollständige Transparenz aller Muster durch Digitalisierung und grenzüberschreitenden Tausch von Samen hoffte.261 Andererseits verdankt auch das anthropologische Konzept der trans situ-conservation,262 d. h. des interkulturellen Tauschens (oder auch Raubens) von Samen und ihrer Verbringung an andere Orte durch Migranten, jener Heterotopie seine Plausibilität. Allerdings müsste sich diese Interpretation die Ideologiekritik gefallen lassen, dass sie einer bodenlosen Landwirtschaft wie überhaupt einer Entmaterialisierung und Entmedialisierung des Lebenden zuarbeitet. Lebewesen bedürfen immer auch ihrer eigenen Medialität, in und mit der sie sich selbst organisieren. Synthetische Medien können natürliche stets nur vordergründig ersetzen, mit Blick auf die Ökonomie des Produkts. Mehr noch verbirgt jene Sicht die hart umkämpften Besitzansprüche auf fruchtbares Land, die etwa in umweltethischen Debatten zum land grabbing artikuliert werden und zuvorderst die Entwicklungsländer betreffen.263 Auffallend ist, dass diese in den letzten Jahren viel Anstrengung darauf verwandt haben, ihre genetischen Ressourcen vor ausbeutendem Zugriff zu schützen (vgl. das Nagoya-Protokoll von 2014),264 dabei aber den aneignenden Zugriff auf das Land vergleichsweise vergessen haben oder ihn billigend in Kauf nehmen. Angesichts der wissenschaftspolitischen Rhetoriken, die mit dem „gene rush“ einhergehen, gilt es immer wieder zu betonen: Nicht nur genetische Ressourcen sind knappe Güter, sondern auch Grund und Boden, um diese als Pflanzen und Tiere wirklich und nachhaltig in Erscheinung zu bringen. Der im Zielkontext von Samenbanken häufige Ausdruck „Generosion“265 hat bereits die Semantik des verschwindenden, fruchtbaren Bodens in die von „genetischer Ressource“ metaphorisch integriert. Damit geht etwa im Hinblick auf die Sicherung der Welternährung, und wer zu jener Welt gehört und in Zukunft

261 Vgl. Karafyllis, Vom Biofakt zum Cyberfakt. 262 Vgl. Nazarea et al., Seeds of Resistance. 263 Vgl. z. B. Toft, Kristian H., „Are Land-Deals Unethical? The Ethics of LargeScale Land Acquisitions in Developing Countries“, in: Journal of Agricultural and Environmental Ethics, 26(6)/2013, S. 1181-1198. 264 Siehe Anhang C, in diesem Buch. 265 Vgl. Pistorius, Scientists.

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gehören soll, eine Entpolitisierung einher. Klugheitsethisch266 kann man Samenbanken als Horte von Techniken interpretieren, die den Bedingungserhalt von Möglichkeiten267 sicherstellen (Vorsorgeprinzip). Diese Möglichkeiten betreffen das jetzige und zukünftige Handelnkönnen für ein gelingendes Leben; unter Einschluss, überhaupt technisch handeln zu können.268 Deshalb sollte die Heterotopie der Samenbank in ihrer Verschränkung mit der Zeit betrachtet werden, wie sie für Sammlungen typisch sind. Dieser Hinweis stammt vom französischen Philosophen selbst. Denn in der Moderne, so Foucault, stehen Heterotopien in enger Verbindung mit Heterochronien, d. h. Zeitbrüchen oder Stagnationen der Zeit. Diese ‚Umständlichkeiten‘ können allgemein, im Sinne der gebrochenen Erfahrung der verräumlichten Zeit, als „Heterotopien der Zeit“ bezeichnet werden. Beispiele sind Foucault die modernen Museen und Bibliotheken, die nicht mehr wie noch im 17. und 18. Jh. nach Geschmack sammeln. Vielmehr verfolgen sie die Idee, „alles zu sammeln und damit gleichsam die Zeit anzuhalten oder sie vielmehr bis ins Unendliche in einem besonderen Raum zu deponieren; die Idee, das allgemeine Archiv einer Kultur zu schaffen“.269 Mittlerweile geht es bei Samenbanken, wie gezeigt wurde, nicht nur um das allgemeine Archiv einer Kultur, sondern der Welt und der Menschheit. 266 Es scheint wenig aussichtsreich, unter den Bereichsethiken nach einer geeig­ neten für die Bewertung von Samenbanken Ausschau zu halten, da sie doch je nur Teilaspekte betrachten könnten, z. B. die Informationsethik. Eine kritische Sicht auf mögliche pflanzenethische Bemühungen zum „Recht auf Gedeihen“ oder „Recht auf Kontinuität der Spezies“, die in Zukunft zur Bewertung von Samenbanken zu erwarten sind, wurde dargestellt in Karafyllis, Nicole C., „‘Hey Plants, Take a Walk on The Wild Side!’ The Ethics of Seeds and Seed Banks“, in: Kallhoff, Angela; Di Paola, Marcello und Maria Schörgen­humer (Hg.), Plant Ethics. Concepts and Applications, (Routledge Environ­mental Humanities), London, New York 2018 (im Erscheinen). Geprüft wer­den muss, ob Bereichsethiken, die sich mit Beständen auseinandersetzen, die globale Per­spektive, in denen Samenbanken operieren, einholen können, z. B. die conservation ethics oder die biobanking ethics, vgl. Hoeyer, Ethics of Re­search Biobanking. 267 Vgl. zu dieser Argumentationsfigur Hubig, Christoph, Die Kunst des Mögli­ chen II. Ethik der Technik als provisorische Moral, Bielefeld 2007. 268 Entsprechend wäre ein Unterlassen des Sammelns pflanzengenetischer Res­ sourcen als Handlung zu werten, für die wir gegenüber zukünftigen Genera­ tionen ebenfalls verantwortlich wären. Vgl. Birnbacher, Dieter, Tun und Unter­ lassen, Stuttgart 1995. 269 Foucault, Heterotopien, S. 16.

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Damit ist der Anspruch auf Ewigkeit verbunden, wie er im Vorwort zum vorliegenden Band am Beispiel des norwegischen Saatgut-Tresors SGSV im „ewigen Eis“ der Arktis dargestellt wurde. Eingedenk jenes Ewigkeitsanspruchs stellt sich die Frage, welche Ausschlussmechanismen damit verbunden sind. Sie fragt nicht nur nach dem restriktiven Zugang zur Sammlung und damit auf der sozialen Ebene der Heterotopie, sondern auch nach der von Sammler und Kuratorin umgesetzten „Ökonomie des Sammelns“.270 Folgt man dieser unreflektiert, würde der rationalisierende Zugriff in jenem Weltinnenraum der Sammlung bzw. in dem „allgemeinen Archiv einer Kultur“ bestimmte Objekte „ewig“ zum Verschwinden bringen. Mit den materiellen Objekten verschwinden auch die Potenziale, zugehörige Kulturen und Praxen zu erhalten. „Die Welt“ wäre dann deutlich reduziert, sowohl an Entitäten wie an Relationen. Deutlich wird dies z. B. an den der Vergessenheit anheim gegebenen Esskulturen, die an bestimmte Pflanzen und Sorten gebunden sind; aber auch an Sammelpraxen, die Objekt und Text an verschiedenen Orten sammeln, z. T. disziplinären Ordnungen folgend. So sammeln Saatgutbanken etwa nicht die Kochrezepte,271 die z. B. bei der Abgabe von alten Obstsorten benötigt werden, damit die im eigenen Garten geernteten Früchte gelingend gelagert und zubereitet werden können. Erst dann könnte sich der lang vergessene Kulturzusammenhang wieder sedimentieren (im Bratapfel oder Quittengelee). Es bleibt Aufgabe gerade der Geistes- und Kulturwissenschaften, kritisch auf die Auswahl der nicht nur lebenden Objekte zu blicken, die in Samenbanken des Sammelns für Wert befunden werden. Hinzu kommt die Aufgabe, moralische Empörung ideologiekritisch zu hinterfragen. Denn wer die Samenbanken wegen ihrer Orientierung an der Züchtungsforschung und ihres Sichernwollens genetischer Ressourcen für die Verzweckung der Natur verantwortlich macht und demgegenüber den In situ-Naturschutz als moralisch feiert, hat 270 Vgl. Sommer, Sammeln, Kap. 2, S. 33ff. Im Plural verstanden s. Güttler und Heumann, Sammlungsökonomien. 271 Bei der In situ-Erhaltung von Apfelsorten in den USA (einst mitgebracht von Einwanderern) sind es gerade die Rezepte für die an diese Sorten gebundene Apfelkuchen der Vorfahren, die in Familien zum Erhalt der jeweiligen Sorte beitrugen, z. B. durch Weitergabe eines Stecklings beim Haus- und Gartenbau der nächsten Generation. Vgl. Chapman, Susannah und Tom Brown, „Apples of Their Eyes: Memory Keepers of the American South“, in: Nazarea et al., Seeds of Resistance, S. 42-64.

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weder die Verschränkung von Naturschutzzielen mit denen der „Produktionsökologie“ verstanden, noch die Dialektik des Wortes „Weltsortiment“. Denn das Sortiment ist nicht nur in der Bank, sondern die ganze Erde ist zum Sortiment bzw. Bestand geworden, dessen Meta-Genpool zur All-Ressource. In den Worten der Philosophen Peter Janich und Michael Weingarten: „Die Entwicklung der Biodiversitätsforschung muß daher parallel gesehen werden zu grundlegenden Veränderungen in der Züchtungsforschung, zur Erkenntnis, daß allein die Dokumentation von Lebewesen in sogenannten ‚Genbanken‘ für Züchtungszwecke nicht ausreicht. Auch Habitatkenntnisse sind unerläßlich für (gelingende) Einkreuzungen oder gentechnische Veränderungen neuer (z. B. tropischer) Pflanzen und Tiere in klassische Nutzpflanzen und Nutztiere. Überspitzt gesagt sollen die Tropenwälder mit ihrem genetischen Bestand deshalb unter Naturschutz gestellt und damit dem Nutzungsrecht der jeweiligen Länder entzogen werden, weil sie bessere ‚Genbanken‘ darstellen als die herkömmlichen.“272 Wichtig ist zu verstehen, dass die menschlich erzeugten Biofakte nicht mehr funktionieren werden, wenn die Natur nicht mehr einheitsstiftend wie diversifizierend ‚funktioniert‘. Schon Vavilov verstand die territoriale Ausbreitung von Hochzuchtsorten durch die moderne Landwirtschaft, d. h. das Künstliche, als gegenläufig zum Forschungsziel, den vollen Umfang des Natürlichen und seiner Potenziale verstehen zu können: „Artificial hybridization threatens considerably to enlarge the external diversity of forms.“273 Der Anspruch, das Ganze der belebten Welt („Biodiversität“) zu sammeln, bedeutet, einen imaginären „Raum aller Zeiten“ zu schaffen. Dieser schließt jedoch das Fließen der Zeit selbst aus. In dieser Hinsicht fällt eine Samenbank aus der Zeit. Ihre Objekte sind von den Dynamiken der Kultur ebenso entkoppelt wie von denen der Evolution. Samenbanken sammeln Zeit räumlich an274 und müssen dafür die Eigenzeit der Lebewesen technisch zum Verschwinden bringen. Dass die Arten, Varietäten und Typen, auf die die gesammelten Objekte referieren – von alten Landsorten über Wildtiere bis zu Archaebakterien – in die Vergangenheit verweisen, macht sie noch nicht zu Lebewesen, die eine Zukunft haben wer-

272 Janich und Weingarten, Wissenschaftstheorie, S. 282f. 273 Vavilov, The Law of Homologous Series in Variation, S. 52. 274 Womöglich löschen sie sogar die Zeit selbst aus, vgl. Foucault, Heterotopien, S. 17.

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den.275 Diese aber zu gewährleisten liegt nicht im Verantwortungsbereich von Samenbanken, sondern in dem von Gesellschaften, die das Sammeln nicht als Akkumulieren gegenwärtigen, sondern auf ihre diversifizierte Mitwelt Wert legen.

Danksagung: Ich danke allen Autoren des Sammelbandes sowie weiteren Interviewpartnern an verschiedenen Sammlungsinstitutionen für ihre fruchtbare Diskussionsbereitschaft. Ohne sie und ihre Expertise hätte ich diesen Beitrag nicht schreiben können. Dem Leibniz-Institut IPK Gatersleben danke ich insbesondere für die Möglichkeit, an mehreren Führungen durch die Sammlungen teilnehmen zu dürfen, woher das Bildmaterial stammt. Für deren Koordination und weitere Hilfestellungen möchte ich herzlich Dr. Sabine Odparlik danken. Zu philosophischen Problematiken waren meine Kollegen Prof. Dr. Dr. Claus-Artur Scheier und Dr. Stefan Lobenhofer bewährt informierte und geschätzte Ratgeber.

275 An anderer Stelle habe ich auf den jüngeren Nexus von Samenbanken mit dem Anthropozän-Diskurs hingewiesen, der Geschichte in eine naturalistische Vergangenheit transferiert und von einem planetaren Weltinnenraum aus­ geht. Vgl. Karafyllis, Nicole C., „Technosphären-Konzepte und Biofakte“, in: Liggieri, Kevin und Oliver Müller (Hg.), Handbuch Mensch-Maschine-Inter­ aktionen, Stuttgart, Weimar (erscheint 2018). Kritisch zum Anthropozän-Dis­ kurs auch die Wissenschaftshistoriker Bonneuil, Christophe und Jean-Baptiste Fressoz, The Shock of the Anthropocene. The Earth, History and Us, London 2016.

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Vollständig erstarrt, aber nicht tot: Kryolagerung von Pflanzen bei ultratiefen Temperaturen

Abstract: The facility of seed storage may already have alleviated the development of early agriculture. Seed storage remained to be the Gold Standard for the preservation of plant genetic resources where it is possible. Nevertheless, for all vegetatively propagated plants and even more for the outcome of modern biotechnology, seed storage is often not applicable. For many plants, the risky and labor-intensive alternative of preservation in the living state in field gene banks was replaced by in vitro culture approaches. At first, methods for the long-term storage of reproductive cell specimen at ultralow temperatures were developed in microbiology and medicine. More recently, similar methods have been established for plant germplasm. Prominent examples are potato and banana. Although development expenses are still high, cryopreservation is the optimum alternative for many plant genetic resources compared to conventional methods. Zusammenfassung: Die Möglichkeit der einfachen Konservierung von Samen hat wahrscheinlich schon bei der Entwicklung der Landwirtschaft eine Rolle gespielt. Sie ist die Methode der Wahl geblieben für die Erhaltung der meisten Nutzpflanzen. Schon bei traditionell vegetativ vermehrten Pflanzen und erst recht bei den Erzeugnissen moderner Züchtung und Biotechnologie stößt diese Methode jedoch an ihre Grenzen. Die Alternative der Erhaltung genetischer Ressourcen durch ständigen Nachbau in Feldgenbanken ist in neuerer Zeit bei vielen Pflanzen ersetzt worden durch In vitro-Kulturen. Gleichzeitig sind zunächst in Mikrobiologie und Medizin Methoden zur Lagerung von vermehrungsfähigem Zellmaterial bei ultratiefen Temperaturen entwickelt worden. Ähnliche Methoden wurden schließlich in modifizierter Form auch bei ausgewählten pflanzengenetischen Ressourcen erarbeitet und zur praktischen Anwendung gebracht. Prominente Beispiele hierfür sind die Kartoffel und die Banane. Trotz immer noch erheblichem Entwicklungsaufwand stellt die Methode der Kryokonservierung für viele Pflanzen die optimale Alternative zu konventionellen Erhaltungsmethoden dar.

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1. Samen, der Ursprung der Landwirtschaft und die Fortsetzung der Evolution durch den Menschen In der Evolution hat es bei vielen Organismen die Entwicklung von Überdauerungsformen gegeben. Hierzu zählen die Sporen von Bakterien, die Zysten von Protozoen und die Samen von Pflanzen. Aber nicht alle Pflanzen verfügen über die entsprechenden Überdauerungsformen. Zudem haben im Verlauf der Landwirtschaftsentwicklung Züchtung und Biotechnologie Pflanzen erzeugt, die sich durch Samen nicht mehr konservieren lassen (z. B. die Sorten der Kultur-Kartoffel). Für ihre langfristige Erhaltung muss eine Lagerung bei der ultratiefen Temperatur flüssigen Stickstoffs erfolgen. Im Folgenden wird die Entwicklung von Techniken zur dauerhaften Lagerung solchen Materials behandelt. Im Mittelpunkt stehen moderne Kryokonservierungstechniken im Tiefkühlbereich, wie sie an der DSMZ (Leibniz-Institut Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen) verwendet werden. Anders als in einer Samenbank werden vorwiegend Gewebe zum Überdauern gebracht, d. h. es wird nicht die klassische Reproduktionseinheit des „orthodoxen“ Samens mit Samenschale und damit das Ergebnis der sexuellen Fortpflanzung gesammelt und aufbewahrt. Vielmehr stehen die vegetative Fortpflanzung und damit die klonale Konservierung im Mittelpunkt, wie z. B. bei Banane und Kartoffel. Mit der Entwicklung von Reproduktionstechniken für Pflanzen über die klassischen Samen hinaus sind für die Zukunft auch andere Erzählungen der Geschichte der Landwirtschaft möglich. Die Bevorratung und Lagerung von pflanzlichen Reproduktionseinheiten wird bei In vitro-Kulturen auf Organe bzw. Pflanzenteile jenseits des Samens ausgedehnt, was u. a. für diejenigen Pflanzen notwendig ist, die keine lagerungsfähigen Reproduktionseinheiten bilden (s. u.). Dies könnte in Zukunft eine alternative Erzählung der Agrikultur anleiten. Bislang stehen am Beginn der Geschichte der Landwirtschaft die Getreide, d. h. Pflanzen mit „orthodoxen Samen“, die sich leicht ernten und aufbewahren lassen. Die Geschichte liest sich in etwa so: Die früheste Landwirtschaft beginnt wahrscheinlich mit der Domestikation von Gräsern (vgl. Graner, in diesem Buch). Man geht heute davon aus, dass die ältesten Zeugnisse der Landwirtschaft aus der Gegend des sogenannten „Fruchtbaren Halbmondes“ stammen. Hier fand die frühe Domestikation der Getreide-

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arten statt.1 Von hier aus führten die Ausbreitung der Landwirtschaft und die damit verbesserte Versorgung der Menschen mit Nahrungsmitteln zur Entstehung der frühen Hochkulturen an Euphrat und Tigris. Gräser waren aber auch die frühesten domestizierten Pflanzen in Ostasien. Der Reis wurde ebenfalls vor rund 9.000 Jahren domestiziert, beginnend vermutlich im südlichen China und Indien, ausgehend von einem Gras.2 Auch in der Neuen Welt entstand mit dem Mais die wichtigste Nutzpflanze durch die Domestikation eines Grases.3 Es ist leicht vorstellbar, dass Gräser den Kulturen von Jägern und Sammlern für die Entstehung von Landwirtschaft hervorragende Grundlagen boten. Die Samen von Gräsern sind leicht zu ernten, einfach zu transportieren und wieder auszupflanzen. Vor allem sind sie haltbar und gut zu konservieren. Sie könnten in einer Jäger- und Sammlerkultur zunächst der Bevorratung von Lebensmitteln gedient haben (vgl. Karafyllis in diesem Buch). Auch für eine Domestizierung stellten die Gräser ein ideales Ausgangsmaterial dar. Als Produkte eines sexuellen Prozesses lieferten ihre Samen ein vielfältiges genetisches Potenzial für Selektion. Eine Einflussnahme des Menschen auf die Evolution einer solchen Pflanze beim Prozess der Kultivierung ist mehr als naheliegend. Es ist heute schwer zu entscheiden, ab wann man von einer „domestizierten Pflanze“ sprechen kann. Angaben schwanken von 7.800 v. Chr. für Weizen und Gerste und ca. 9.000 v. Chr. für Reis.4 Einig sind sich die meisten Autoren aber darin, dass die Gräser zu den ältesten Agrarpflanzen der Erde gehören. Obwohl über den genauen regionalen Ursprung vieler Nutzpflanzen auch heute immer noch kontrovers diskutiert wird, sind in der Region des „Fruchtbaren Halbmondes“ vermutlich gemeinsam mit den frühen Getreiden auch wichtige Leguminosen

1

Riehl, Simone; Zeidi, Mohsen und Nicholas J. Conrad, „Emergence of agriculture in the foothills of the Zagros mountains of Iran“, in: Science, 341(6141)/2013, S. 65-67. 2 Callaway, Ewen, „Domestication: the birth of rice“, in: Nature 514(7524)/2014, 58-59; Sweeney, Megan T. und Susan R. McCouch, „The complex history of domesticated rice“, in: Annals of Botany, 100(5)/2007, S. 951-957. 3 Matsuoka, Yoshihiro; Vigouroux, Yves; Goodman, Major M. et al., „A single domestication for maize shown by multilocus microsatellite genotyping“, in: PNAS (Proceedings of the National Academy of Science of the United States of America), 99(9)/2002, S. 6080-6084. 4 Ebd.

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wie Erbsen und Linsen kultiviert und domestiziert worden.5 Diese Pflanzen haben ebenfalls sogenannte orthodoxe Samen. Obwohl der Einfluss des Menschen auf die Entstehung unserer Nutzpflanzen durch den Prozess der Domestizierung unverkennbar ist, entwickelt sich eine wissenschaftlich begründete Pflanzenzüchtung erst relativ spät. In Deutschland entsteht sie im letzten Jahrhundert u. a. in der Gegend zwischen Braunschweig und Magdeburg, die durch fruchtbare Böden und moderate Niederschlagsmengen charakterisiert ist, aber auch durch eine Sozialstruktur mit Höfen mittlerer Größe. Hier sind es wieder die Getreidearten, die eine besondere Rolle spielen, nicht zuletzt aufgrund ihrer Samen, die sie zu idealen Ausgangsobjekten bei Ernte, Kreuzung, Aussaat für die Entwicklung und Anwendung von Züchtungstechniken machten. In der Zeit der Entstehung der systematischen, wissenschaftlich begründeten Pflanzenzüchtung führten gerade deren Erfolge, nämlich die Entstehung neuer Sorten mit besseren Eigenschaften für die landwirtschaftliche Anwendung, zum Aussterben zahlreicher alter Landrassen. Diese alten Landrassen stellten aber die genetischen Ressourcen, d. h. das Ausgangsmaterial für die Züchtung durch gezielte Kreuzung dar. Die Züchtung selbst bedingte also den Verlust des genetischen Ausgangsmaterials, das sie erst ermöglichte. Dieser Umstand wurde früh erkannt (1890)6 und führte zunächst zu theoretischen Konzepten des Sammelns dieser pflanzengenetischen Ressourcen und wenig später zu den ersten größeren Samenbanken. Aber wie ließe sich die Geschichte der Landwirtschaft jenseits ihres frühesten und dominierenden Objektes Getreide erzählen, etwa für tropische Nutzpflanzen oder Kartoffeln?

2. Die Erhaltung der ‚samenlosen‘ Pflanzen – Vom Feldanbau zur Zellkultur in vitro Im Verlauf der Agrargeschichte und nicht zuletzt in anderen klimatischen Regionen der Welt sind zu jenen Pflanzen auch solche getreten, die unter anderen Voraussetzungen und mit anderen Fol5 6

Abbo, Shahal; Lev-Yadun, Simcha; Heun, Manfred et al., „On the ‚lost‘ crops of the neolithic near east“, in: Journal of Experimental Botany, 64(4)/2013, S. 815-822. Proskovetz, Emmanuel von, Welches Werthverhältnis besteht zwischen den Landrassen landwirtschaftlicher Culturpflanzen und den sogenannten Züch­ tungsrassen? Internationaler land- und forstwirtschaftlicher Congress zu Wien 1890. Section I: Landwirtschaft. Subsection Pflanzenbau. Heft 13/1890, S. 3-18.

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gen kultiviert wurden. Zu diesen Pflanzen gehören beispielsweise die unter tropischen Bedingungen domestizierten Bananen. Sie stellen heute für die tropischen Regionen der Welt nach Cassava (Maniok) die zweitwichtigsten Nahrungsmittelpflanzen dar.7 Ihre Domestikation fand nach heutigen Erkenntnissen vor etwa 6.500 Jahren im Hochland von Neu-Guinea statt (Kuk Swamp).8 Hierbei kam es bereits sehr früh in der Domestikationsgeschichte zu Hy­ bridbildungen aus Musa balbisiana (Silber-Banane) und Musa acu­ minata (sogenannte Zwergbanane). Die entstandenen Hybride vereinigten in unterschiedlicher Weise Chromosomen beider Genome. Die Hybride bilden keine fertilen Samen mehr.9 Die gleichzeitig im A-Genom entstandene Parthenokarpie (Jungfernfrüchtigkeit, d. h. ohne Befruchtung erfolgt) und die vegetative Vermehrung durch die Bildung von Schösslingen gestattete die Nutzung der Hybride zur standardisierten Nahrungsmittelproduktion. Züchtung wie bei den Getreiden fand unter diesen Bedingungen nicht statt, ebenso wenig die Erhaltung genetischer Ressourcen. Die Erhaltung der in verschiedenen tropischen Regionen entstandenen Landrassen konnte daher nur auf klassische Weise in Feldgenbanken stattfinden. Im Gegensatz zur Samenbank werden die Pflanzen in einer Feldgenbank nicht in Form ihrer Samen, sondern als aktiv wachsende Pflanzen sozusagen „im Feld“ erhalten. Diese Erhaltungsform ist nicht nur arbeitsintensiver, sondern auch risikoreicher, da die Pflanzen sowohl klimatischen Einflüssen als auch Pathogenen ausgesetzt sind. Das dort vorhandene Material ist heute in Datenbanken erfasst, dokumentiert und online verfügbar beim MGIS, dem Musa Germplasm Information System.10 Gleichzeitig sind aber für die Erhaltung genetischer Ressourcen von Bananen frühzeitig biotechnologische Methoden wie z. B. die Erhaltung als In vitro-Kultur im Labor eingesetzt worden.11 7 Recherchiert nach Webseite der FAO, Daten für das Jahr 2014, Unterseite FAOstat: http://www.fao.org/faostat/#date/QC (letzter Aufruf: 6.3.2017). 8 Denham, Tim P.; Haberle, Simon G.; Lentfer, Carol et al., „Origins of agriculture at Kuk Swamp in the Highlands of New Guinea“, in: Science, 301(5630)/2011, S. 189-193. 9 Heslopp-Harrison, John Seymour und Trude Schwarzacher, „Domestication, ge­ nomics and future for banana“, in: Annals of Botany, 100/2007, S. 1073-1084. 10 Vgl. Webseite des Musa Germplasm Information System (MGIS) unter http:// www.crop-diversity.org/mgis/ (letzter Aufruf: 21.12.2017). 11 Strosse, Hannelore; Domergue, Régis; Panis, Bart et al. (Hg.), Banana and plan­ tain embryogenic cell suspensions (INIBAP Technical Guidelines 8), Montpellier 2003.

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Die Banane ist damit ein Beispiel für eine in großem Maßstab angebaute Nutzpflanze zur Nahrungsmittel-Erzeugung, bei der die Erhaltung genetischer Ressourcen nicht durch die Lagerung von Samen erfolgen kann. Sie steht bei tropischen Nutzpflanzen damit nicht allein. Die wichtigsten Nutzpflanzen der Tropen bilden fast alle entweder keine fertilen Samen oder sogenannte rekalzitrante Samen, die nicht langfristig lagerfähig sind. Solche Vertreter sind Cassava, Yams und Taro. Die Samen tropischer Pflanzen können unmittelbar nach Ausreifung abfallen und auskeimen. Sie müssen nicht wie die Samen von Pflanzen gemäßigter Zonen eine Kälteoder Trockenperiode überstehen und haben daher in der Evolution die dafür notwendigen physiologischen Mechanismen nie ausgebildet. So wie in der Evolution dieser tropischen Pflanzen die Entwicklung von Samen als Dauerorgane nicht notwendig war, war sie auch für die Entwicklung der dortigen Landwirtschaft nicht nötig. Die wichtigste Pflanze der gemäßigten Breiten zur Massenerzeugung von Lebensmitteln, die nicht über Samen, sondern vegetativ vermehrt wird, ist die Kultur-Kartoffel (Solanum tuberosum). Auch hier hat die spezielle Domestikationsgeschichte dazu geführt, dass die heute am meisten genutzten genetischen Ressourcen nicht über Samenlagerung konserviert werden können. Als geographische Region, in der die größte biologische Vielfalt an knollentragenden Nachtschattengewächsen (Solanaceae) vorkommt, zu denen auch die Kartoffeln gehören, gelten Zentralamerika und das nördliche Südamerika mit Schwerpunkten in Mexiko und im Andenraum von Peru und Bolivien. Im dortigen Andenhochland entstanden durch natürliche oder vom Menschen verursachte Hybridbildungen sieben indigene Kulturkartoffeln mit einer unterschiedlichen Anzahl von Chromosomensätzen, aus denen letztlich auch unsere tetraploiden, also mit vier Chromosomensätzen ausgestatteten europäischen Kartoffeln hervorgingen.12 Redcliffe Salaman (1874– 1955) führt die Domestikation der Kartoffel auf die Besiedlung der Anden-Hochlagen zurück, wo bislang kultivierte Pflanzen nicht mehr gediehen.13 Für die Vermehrung und Selektion der knollenbildenden Solanaceen standen während des Domestikationsprozesses neben Samen immer auch die Knollen zur Verfügung. Nach ihrer 12 Hawkes, John G., The Potato. Evolution, Biodiversity and Genetic Resources, London 1990. 13 Salaman, Redcliffe N. und W. G. Burton, The History and Social Influence of the Potato, Cambridge/MA 1949.

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Ausbreitung in Europa bildeten sich dort bald ebenso Landrassen mit verschiedener Morphologie und Physiologie.14 Mit der Ausbreitung des pathogenen Pilzes Phytophtora infestans (Verursacher der Kartoffelkrautfäule) in Europa um 1845 scheint zunächst eine Vielzahl von Landrassen verlorengegangen zu sein.15 Gleichzeitig setzte aber auch eine systematische Kartoffelzüchtung ein, die vor allem auf die Etablierung von Resistenzen abzielte. Quelle für die Phytophtora-Resistenz waren Kartoffel-Wildformen wie Solanum demissum. Die neu entstandenen Sorten wurden wieder vegetativ vermehrt und erhalten. Der Global Crop Diversity Trust (Welttreuhandfonds für Kulturpflanzenvielfalt) unterscheidet in seiner „Global strategy for potato“ heute verschiedene Formen genetischer Ressourcen, die für den Genpool von Kartoffeln von Bedeutung sind: Wildformen, native Kultivare (Landrassen), Kultivare und andere (Beispiele wären Züchtungslinien oder Produkte der Biotechnologie). Die Wildformen von Kartoffeln und viele native Kultivare werden zumeist durch Samenlagerung erhalten. Wildformen und Landrassen machen nach Anzahl den größten Teil des Genpools aus.16 Bei den Neuaufnahmen der Jahre 1996–2006 in öffentliche Sammlungen stellen allerdings Sorten und Züchtungslinien den größten Anteil.17 Gerade für dieses neue Material ist eine Erhaltung durch Samenlagerung nicht möglich und die Erhaltung von Lebendmaterial in Feldgenbanken unerlässlich, wenn eine klonale Konservierung der Genome erreicht werden soll. Banane und Kartoffel sind nur zwei Beispiele für eine Vielzahl von Nutzpflanzen, deren genetische Ressourcen nicht durch die mittelfristige und einfache Lagerung natürlicher Dauerorgane, wie sie orthodoxe Samen darstellen, erhalten werden können. Die vielfältigen natürlichen und künstlichen vegetativen Reproduktionsformen der Pflanzen, die von Knollen über Zwiebeln und Ausläufer bis 14 Germershausen, Friedrich Christian, „Erdäpfel, Erdartischocken, Jerusalemsar­ tischocken“, in: ders., Der Hausvater in systematischer Ordnung, Bd. 3., Kap. 5, Abschn. 23, Leipzig 1785, S. 579-581. 15 Brücher, Heinz, „Die Domestikation und Migration von Solanum tuberosum L.“, in: Die Kulturpflanze, 23(1)/1975, S. 11-74. 16 Machida-Hirano, Ryoko, „Diversity of potato genetic resources“, in: Breeding Science, 65(1)/2015, S. 26-40. 17 Global Crop Diversity Trust (GCDT), ‚Global Strategy for the Ex situ Conserva­ tion of Potato‘, online unter: https://www.croptrust.org/our-work/supporting-­ crop-conservation/conservation-strategies/ (letzter Aufruf: 22.12.2017).

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zu Stecklingen reichen, erforderten immer schon eine aufwändige Erhaltung durch ständigen Anbau. Die Erhaltung genetischer Ressourcen in Feldgenbanken stellt aber einen erheblichen Arbeitsaufwand dar; die Anzahl der Ressourcen, die erhalten werden können, ist limitiert, und ihre Erhaltung ist auch mit erheblichen (genetischen) Risiken verbunden. Wie schon erwähnt können Pflanzen durch Fehler bei der Erhaltungsarbeit verloren gehen, sie sind ständig klimatischen Einwirkungen ausgesetzt und von Krankheiten bedroht. Erst recht komplex wurden die Anforderungen an die Erhaltungstechnologien mit dem Entstehen neuartiger biologischer Ressourcen durch die moderne Pflanzenbiotechnologie. Gottlieb Haberlandt (1854–1945) unternahm bereits 1902 erste Versuche, Pflanzenzellen in vitro zu kultivieren.18 Die Versuche hatten noch keinen Anwendungsbezug und verliefen erfolglos, vor allem, weil er keine Zellteilung in vitro erreichen konnte. Bereits Anfang des 20. Jh.s kam es aber zu einer konkreten Anwendung, als Emil Hannig (1872–1955), damals noch Privatdozent an der Straßburger Universität,19 als Erster isolierte pflanzliche Embryonen in Kultur anziehen und keimen lassen konnte.20 Noch in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg führte Philip R. White die Anwendung von B-Vitaminen im Medium ein,21 und Frits Went (1863–1935) entdeckte mit dem Pflanzenhormon Auxin22 den ersten pflanzlichen Wachstumsregulator, der in der Lage war, undifferenziertes Wachstum in vitro zu initiieren. Um 1938 konnten Nobécourt, White und Gautheret unabhängig voneinander die erste kontinuierlich und dauerhaft wachsende Kalluskultur etablieren.23 Erst in der Nachkriegszeit entwickelte sich aus den ersten Versuchen der In vitro-Kultur eine pflanzliche Biotechnologie, die auf 18 Haberlandt, Gottlieb, „Culturversuche mit isolierten Pflanzenzellen“, in: Sit­ zungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften (Wien). Mathe­ matisch-naturwissenschaftliche Classe. Abt. 1. Bd. 111/1902, S. 69-92. 19 Hannig wurde 1921 als Professor für Botanik an die Universität Münster be­ rufen, wo er bis zu seiner Emeritierung 1937 forschte und lehrte. 20 Hannig, Emil, „Zur Physiologie pflanzlicher Embryonen. I. Ueber die Cultur von Cruciferen-Embryonen ausserhalb des Embryosacks“, in: Botanische Zeitung, 62/1904, S. 45-80. 21 White, Philip R., „Vitamin B in the nutrition of excised tomato roots“, in: Plant Physiology, 12(3)/1937, S. 803-811. 22 Went, Frits und Kenneth Vivian Thimann, Phytohormones, New York 1937. 23 Zu den Belegen siehe Gautheret, Roger J., „Plant tissue culture – the history“, in: Laimer, Margit und Waltraud Rücker (Hg.), Plant Tissue Culture – 100 years since Gottlieb Haberlandt, Wien, New York 2003, S. 105-113.

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zahlreichen Anwendungsgebieten höchste Erwartungen weckte. Zunächst lernte man, die Kalluskulturen auch submers, d. h. in flüssigem Medium in Fermentern zu kultivieren und so ein wesentlich schnelleres Wachstum zu erreichen.24 Die Kultur von Embryonen in vitro gestattete Kreuzungen zwischen Arten und Gattungen, die zuvor nicht möglich waren, d. h. die natürliche Kreuzungsbarriere wurde technisch erweitert.25 1958 gelang Jakob Reinert (1912–2002) zum ersten Mal die Regeneration intakter Pflanzen aus Karottenzellkulturen.26 Damit wurde nicht nur die Vermehrung von Pflanzen durch somatische Embryogenese möglich, sondern auch die Erhaltung genetischer Ressourcen in vitro, wie sie z. B. bei den erwähnten Bananen heute angewendet wird. Ganz neue Perspektiven eröffneten der Pflanzenzüchtung die indischen Botaniker und Entwicklungsbiologen Sipra Guha-Mukherjee (1938–2007) und Satish Chandra Maheshwari (geb. 1933), als es ihnen 1964 an der Universität in Neu-Delhi glückte, aus Pollen haploide Embryonen zu gewinnen und hieraus intakte Pflanzen zu regenerieren; dies gelang mithilfe von Antheren-Kulturen der Pflanze Datura innoxia.27 Eine anschließende Verdopplung des Chromosomensatzes durch Anwendung von Colchizin gestattete von nun an die Erzeugung reinerbiger Züchtungslinien in weitaus kürzerer Zeit als bisher. Eine weitere Möglichkeit der Neukombination pflanzlicher Gene ergab sich aus der Erzeugung und In vitro-Regeneration von Protoplasten.28 Im Jahr 1972 gelang Peter S. Carlson und Mitarbeitern am Brookhaven National Laboratory (Upton, New York) erstmals die Regeneration einer Pflanze aus in vitro fusionierten Protoplasten

24 Muir, Elizabeth; Hildebrandt, A. C. und A. J. Riker, „Plant tissue cultures pro­ duced from isolated single cells“, in: Science, 119(3079)/1954, S. 877-878; Nobé­ court, Pierre, „Sur les proliférations spontanées de fragments de tubercules de Carotte et leur cultures sur le milieu synthétique“, in: Bulletin de la Societé Botanique de France, 81/1938, S. 182-188. 25 Bridgen, Mark P., „A Review of Plant Embryo Culture“, in: Horticultural Science, 29(11)/1994, S. 1243-1246. 26 Reinert, Jakob, „Untersuchungen über die Morphogenese an Gewebekulturen“, in: Berichte der Deutschen Botanischen Gesellschaft, 71(11)/1958, S. 15. 27 Vgl. den autobiographischen Rückblick auf die Forschungen in: Guha-Mukher­ jee, Sipra, „The discovery of haploid production by anther culture“, in: In Vitro Cellular & Developmental Biology – Plant, 35(5)/1999, S. 357-360. 28 Cocking, Edward C., „A method for the isolation of plant protoplasts and vacuoles“, in: Nature, 187/1960, S. 962-963.

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verschiedener Arten der Gattung Nicotiana.29 Parallel zur Verbesserung der In vitro-Techniken verlief die Entwicklung der Molekularbiologie. Die Synthese beider führte im Jahr 1983 zur ersten transgenen Pflanze30 (und damit zu einer weiteren neuen Form genetischer Ressourcen, für die geeignete Konservierungsverfahren ohne Samenpassage zumindest wünschenswert waren). Zunächst dienten die neuen Technologien dem Ziel der Verbesserung pflanzlicher Ressourcen. So entstand die Regeneration und Vermehrung von Pflanzen aus einer isolierten Sprossspitze mit dem Ziel der Viruseliminierung. Sie wurde in der Praxis eingesetzt für die Massenvermehrung besonders wertvoller Zierpflanzen wie Orchideen.31 In den 50er bis 70er Jahren des letzten Jh.s entstanden so auch verschiedene Techniken zur In vitro-Vermehrung von Kartoffeln.32 In den 1980er Jahren wurden diese Techniken dann konsequent verwendet, um die Erhaltung vor allem solchen Materials zu vereinfachen, das durch Samenlagerung nicht in genetisch unveränderter Form erhalten werden konnte, also für Sorten und Züchtungslinien, die eine hohe genetische Homogenität aufweisen müssen. Hierzu entstanden fast gleichzeitig vielerorts Sammlungen, die unterschiedliche In vitro-Techniken nutzten. Während man in der DDR am Institut für Pflanzenzüchtung Groß Lüsewitz (aus dem nach der „Wende“ die Außenstelle Nord des IPK Gatersleben hervorgegangen ist), beginnend etwa 1982, eine Methode auf der Basis von in vitro-induzierten Mikroknollen etablierte,33 wählte man am

29 Carlson, Peter S.; Smith, Harold H. und Rosemary D. Dearing, „Parasexual in­ terspecific plant hybridization“, in: PNAS (Proceedings of the National Aca­ demy of Science of the United States of America), 69(8)/1972, S. 2292-2294. 30 Fraley, Robert T.; Rogers, Stephen G.; Horsch, Robert B. et al., „Expression of bacterial genes in plant cells“, in: PNAS (Proceedings of the National Academy of Science of the United States of America), 80(15)/1983, S. 4803-4807. 31 Morel, Georges, „Producing virus-free Cymbidium“, in: American Orchid So­ ciety Bulletin, 29(7)/1960, S. 495-497; siehe auch Thorpe, Trevor A., „History of Plant Tissue Culture“, in: Loyola-Vargas, Victor M. und Felipe Vázquez-Flota (Hg.), Plant Cell Culture Protocols, New York 2006, S. 9-32. 32 Barker, W. G., „A Method for the in vitro Culturing of Potato Tubers“, in: Science, 118(3066)/1953, S. 384-385; Norris, David O., „Development of virus-free stock of Green Mountain Potato by treatment with malachite green“, in: Australian Journal of Agricultural Research, 5(4)/1954, S. 658-663. 33 Thieme, Ramona, „An in vitro potato cultivar collection: microtuberization and storage of microtubers“, in: Plant Genetic Research Newsletter, 88/89/1992, S. 17-19.

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CIP (International Potato Center) in Peru34 und an der damaligen Genbank der BRD in Braunschweig In vitro-Sprosskulturen als Erhaltungsmaterial.35 Der Erhaltungsaufwand solcher In vitro-Sammlungen war wesentlich geringer als der von Feldgenbanken. Darüber hinaus war das Risiko des Akzessionsverlustes durch Klimaeinflüsse oder Krankheiten deutlich reduziert. Um den Erhaltungsaufwand bei den In vitro-Kulturen zu verkleinern, wurde am CIP in Peru dem Medium zur Verlangsamung des Wachstums Saccharose und Mannose zugesetzt.36 In Braunschweig erfolgte eine Wachstumsverlangsamung nur durch Herabsetzen der Temperatur auf +10 °C und eine Reduzierung der Lichtmenge.37 Im Verlauf der 80er Jahre wurden solche In vitro- und Zellkulturmethoden zur Erhaltung genetischer Ressourcen für viele Pflanzen, v. a. für die Kartoffel, bis zur Routineanwendung geführt. Bei der Kartoffel wurde dies durch den Umstand erleichtert, dass nahezu alle vegetativ vermehrten Formen wie Landrassen, Sorten und Züchtungslinien außergewöhnlich günstige Eigenschaften bei der In vitro-Kultur zeigen. Die In vitro-Sprosse bleiben klein, die Vermehrung der Sprosse ist einfach, die Bewurzelung vermehrter Pflanzen verläuft spontan, sie zeigen fast immer eine unmittelbare Bildung von Mikroknollen, und das Wachstum lässt sich mit relativ einfachen Mitteln verlangsamen. Der wichtigste Umstand für die Routineanwendung in einer Genbank ist, dass ein oder wenige Standardverfahren bei einer sehr großen Anzahl unterschiedlicher Genotypen genutzt werden können. Die Erhaltung von In vitro-Kulturen ersetzte bald weitgehend die arbeitsaufwändige und risikoreiche Erhaltung in Feldgenbanken. Sie lieferte damit auch das Ausgangsmaterial für die Kryokonservierung. 34 Schilde-Rentschler, Lieselotte; Espinoza, N. O.; Estrada, R. et al., „In vitro storage and distribution of potato germplasm“, in: Fujiwara, Akio (Hg.), Proceedings of the 5th International Plant Tissue Culture Congress, Tokyo 1982, S. 781-782. 35 Mix, Gunda, „Langzeiterhaltung von Kartoffelgenmaterial in-vitro“, in: Land­ bauforschung Völkenrode, 33(3)/1983, S. 179-182. Anm. d. Hg.: Gunda Mix-­ Wagner publizierte auch unter ihrem Mädchennamen Mix. Zur Historie der Genbank vgl. Karafyllis, Nicole C. und Uwe Lammers, „Big Data in kleinen Dosen. Die westdeutsche Genbank für Kulturpflanzen ‚Braunschweig Genetic Resources Collection‘ (1970–2006) und ihre Biofakte“, in: Technikgeschichte, 84(2)/2017, S. 163-200. 36 Lizarraga, Rolando; Huaman, Zosimo und John H. Dodds, „In vitro conservation of potato germplasm at the International Potato Center“, in: American Potato Journal, 66(4)/1989, S. 253-269. 37 Mix, Langzeiterhaltung.

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3. Kryokonservierung als eigenes Forschungsfeld Die Kryokonservierung zur Erhaltung genetischer Ressourcen ist als eigenes Forschungsfeld allerdings nicht für Pflanzen, sondern zunächst für andere biologische Materialien entwickelt und angewendet worden, bei denen die Konservierung ebenfalls nicht auf die Lagerung von Dauerorganen zurückgreifen konnte. Das klassische Beispiel waren zunächst Kulturen von Mikroorganismen. Im Zuge der aufstrebenden Mikrobiologie wurden zahllose neue Kulturen isoliert, für deren Konservierung es keine Vorlage gab. Die Notwendigkeit, für eine kontinuierliche und reproduzierbare Forschung solche Bakterienkulturen bereitzustellen, wurde früh erkannt und schlug sich in der Gründung der Král’schen Sammlung bakterieller Kulturen in Prag bereits um 1889 nieder.38 Die Probleme bei der Lebend-Erhaltung solcher Kulturen waren evident und lösten die Entwicklung praktisch anwendbarer Erhaltungsmethoden aus. Nach anfänglichen Versuchen mit versiegelten Kulturgefäßen und Überschichtung mit Paraffinöl wurde schon bald die Trocknung der Kulturen als Methode zur Konservierung entdeckt.39 Eher durch praktische Versuche als aufgrund theoretischer Überlegungen setzte L. F. Shackell bereits 1909 eine Methode ein, bei der Kulturen vor der Trocknung zunächst eingefroren wurden.40 Heute stehen für die Konservierung mikrobieller Kulturen eine Vielzahl von Methoden bereit, die mit der Trocknung von Organismen, der Kryokonservierung oder verschiedenen Kombinationen und Varianten beider Methoden arbeiten.41 Die offiziellen OECD-Richtlinien für Biologische Ressourcenzentren (BRCs) nennen als Konservierungsmethoden für Mikroorganismen „liquid nitrogen, deep freezing, freeze-drying or L-drying“.42 Die erfolgreiche Kryokonservierung von Mikroorganismen hat aber noch nicht zur Entstehung eines eigenen Forschungsfeldes mit 38 Morton, Harry E. und E. J. Pulaski, „The preservation of bacterial cultures I.“, in: Journal of Bacteriology, 35(2)/1938, S. 163-183. 39 Ebd. 40 Shackell, L. F., „An improved method of desiccation, with some application to biological problems“, in: American Journal of Physiology, 24/1909, S. 325-340. 41 Snell, J. J. S., „General introduction to maintenance methods“, in: Kirsop, B. E. und Anne Doyle (Hg.), Maintenance of Microorganisms and Cultured Cells. A Manual of Laboratory Methods, London 21991, S. 23-30. 42 OECD (Hg.), Best practice guidelines for BRCs, Paris 2007. L-drying ist die Kurz­form für: liquid-drying.

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dem Thema Kryokonservierung geführt. Es war eher die zufällige Entdeckung von Christopher Polge (1926–2006) und Audrey Ursula Smith (1915–1981) im Jahr 1948, dass sich Spermatozoen von Geflügel durch Tiefgefrieren konservieren lassen.43 Nur die Verwechslung von Lösungen hat hierbei zur Entdeckung der kryoprotektiven Eigenschaften des Glycerins geführt. Dabei war die Verwechslung so ‚komplett‘, dass die verwendete Lösung erst von Chemikern analysiert werden musste, um Glycerin als die wirksame Komponente zu entdecken.44 Eigentlich hätte die Entwicklung der Kryokonservierung durch den US-amerikanischen Biophysiker und schweizstämmigen Jesuitenpater Basile Joseph Luyet (1897–1974) ausgelöst werden müssen, dem die erfolgreiche Kryokonservierung von Frosch-Spermatozoen schon im Jahr 1938 gelungen war.45 Die Entdeckung kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges löste aber keine so dynamische Entwicklung aus, wie es Jahre später die Entdeckung von Christopher Polge tat. Letzterer wird heute meist als Begründer der Kryobiologie als einer eigenen Forschungsrichtung angesehen. Ihre weitere Entwicklung war zunächst bestimmt durch die möglichen Anwendungen im Bereich der Medizin und Reproduktionsbiologie. Bereits 1950 konnte Audrey U. Smith die erfolgreiche Konservierung menschlicher Erythrozyten publizieren.46 Vor allem in der Reproduktionsbiologie wurden in schneller Folge empirisch neue Techniken entwickelt und ausprobiert, um die neuen Möglichkeiten der Kryokonservierung rasch praktisch umzusetzen. Die erste Anwendung erfolgte in der Veterinärmedizin. 1952 publizierten Polge und Rowson die erfolgreiche Verwendung von tiefgefrorenem Bullensperma bei der künstlichen Insemination.47 Hieraus entwickelte sich in der Folgezeit eine geradezu industrielle Anwendung der 43 Polge, Christopher; Smith, A. U. und A. S. Parkes, „Revival of spermatozoa after vitrification and dehydration at low temperatures“, in: Nature, 164(4172)/1949, S. 666. 44 Pegg, David, „The history and principles of cryopreservation“, in: Seminars in Reproductive Medicine, 20(1)/2002, S. 5-14. 45 Vgl. Luyet, Basile J. und Eugene L. Hodapp, „Revival of frog’s spermatozoa vitrified in liquid air“, in: Proceedings of the Society for Experimental Biological Medicine, 39(3)/1938, S. 433-434; Luyet, Basile J. und Pierre Marie Gehenio, Life and Death at Low Temperatures, Normandy/MO 1940. 46 Smith, Audrey U., „Prevention of haemolysis during freezing and thawing of red blood cells“, in: The Lancet, 2/1950, S. 910-911. 47 Polge, Christopher und L. E. A. Rowson, „Fertilizing capacity of bull spermatozoa after freezing at -79 °C“, in: Nature, 169(4302)/1952, S. 626-627.

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Kryokonservierung zum Zweck künstlicher Befruchtung bei Rindern. Schon 1954 wurde auch beim Menschen zum ersten Mal eine Schwangerschaft nach künstlicher Befruchtung mit tiefgefrorenem Sperma erreicht.48 Trotz der frühen Erfolge bei der Kryokonservierung von Spermatozoen können bis heute die Samen der meisten Säugetiere nicht oder sehr schlecht eingefroren werden. Methoden zur Konservierung von Spermatozoen von Schweinen und Mäusen wurden erst zu Beginn und Ende der 1970er Jahre entwickelt.49 Das große Interesse der Reproduktionsmedizin an den Kryokonservierungsmethoden hat auch dazu geführt, dass man schon früh mit Versuchen zur Kryokonservierung von Eizellen begonnen hat. Versuche, dies mit ähnlichen Methoden wie bei Spermatozoen und mit Glycerin als Kryoprotektor zu erreichen, blieben allerdings erfolglos.50 Ein wichtiger Meilenstein für die weitere Entwicklung der Kryokonservierung eukaryotischer Zellen war die Entdeckung der kryoprotektiven Eigenschaften des organischen Lösungsmittels Dimethylsulfoxid (DSMO) 1959 durch James E. Lovelock (geb. 1919).51 Die erfolgreiche Kryokonservierung von befruchteten Maus-Oocyten (Maus-Embryonen) gelang erst 1972 unter Verwendung des Kryoprotektors DMSO.52 Die erste erfolgreiche Schwangerschaft aus tiefgefrorenen Embryonen beim Menschen wurde 1983 erreicht.53 Nach der Verbesserung der konventionellen Kryokonservierungsverfahren und Verwendung alternativer Kryoprotektoren wie Ethylenglykol und Propylenglykol wurde 1994 in Melbourne (Australien) die erste Bank für die Kryolagerung menschlicher Eizel­len eingerichtet.54 48 Bunge, Raymond G.; Keettel, William C. und Jerome K. Sherman, „Clinical use of frozen semen“, in: Fertility and Sterility, 5(6)/1954, S. 520-529. 49 Walters, Eric E.; Benson, J. D.; Woods, E. J. et al., „The history of sperm conser­ vation“, in: Pacey, Allan A. und Mathew J. Tomlinson (Hg.), Sperm Banking – Theory and Practice, Cambridge 2009, S. 1-18. 50 Sherman, J. K. und Teh Pin Lin, „Temperature Shock and Cold Storage of Un­ fertilized Mouse Eggs“, in: Fertility and Sterility, 10(4)/1959, S. 384-387. 51 Lovelock, James E. und Marcus W. H. Bishop, „Prevention of freezing damage to living cells by dimethyl sulphoxide“, in: Nature, 183(4672)/1959, S. 1394-1395. 52 Whittingham, David G.; Leibo, Stanley Paul und Peter Mazur, „Survival of mouse embryos frozen to -196 degrees and -269 degrees C.“, in: Science, 178(4059)/1972, S. 411-414. 53 Trounson, Alan und Linda Mohr, „Human pregnancy following cryopreserva­ tion, thawing and transfer of an eight-cell embryo“, in: Nature, 305(5936)/1983, S. 707-709. 54 Siehe Gook, Debra A., „History of oocyte cryopreservation“, in: Reproductive BioMedicine Online, 23(3)/2011, S. 281-289.

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Neben der Entwicklung neuer Techniken löste die Entdeckung von Polge und seinen Mitarbeitern eine intensive Grundlagenforschung nach den der Kryokonservierung zugrundeliegenden physikalischen Phänomenen aus. Da man zunächst erkannte, dass die Kristallisation des Wassers den lebenden Systemen Wasser als Lösungsmittel entzieht, führte man die Gefrierschäden auf die dadurch entstehende hohe osmotische Belastung zurück.55 Bald wurde aber auch erkannt, dass die Abkühlrate einen wesentlichen Einfluss auf die osmotische Dehydrierung der Zellen und die Gefrierschäden hatte. Der Physiker Peter Mazur (1922–2001) entwickelte die Hypothese, dass zwei Komponenten die Zellschädigung bei der Kryokonservierung auslösen: zum einen das intrazelluläre Eis selbst und zum anderen die osmotische Dehydrierung aufgrund der intrazellulären Eisbildung.56 Die Kryokonservierungsmethoden der ersten Stunde beschränkten sich daher darauf, empirisch verschiedene Parameter des Einfrierungsprozesses zu modifizieren und zu optimieren, etwa Art, Konzentration und Einwirkdauer des Kryoprotektors, die Abkühlrate oder die Endtemperatur des Abkühlprozesses.57 Einen neuen Ansatz stellten 1985 William F. Rall und Gregory M. Fahy vor. Sie arbeiteten mit hochkonzentrierten Kryoprotektorgemischen, die aufgrund ihrer Konzentration selbst vitrifizierende (wörtlich: verglasende) Eigenschaften zeigten. Hierbei wurde nicht nur eine Vitrifikation des Protoplasten erreicht, sondern auch eine Glasbildung im ex­ trazellulären Medium. Da hierbei das gesamte System – extrazelluläres Medium wie intrazellulärer Protoplast – glasartig erstarrten, wurden solche Methoden als „Vitrifikation“ bezeichnet. Diese Methoden waren jetzt weitgehend unabhängig von der Abkühlrate.58 In der Medizin stellten sie vor allem bei der Kryokonservierung von Eizellen und Embryonen eine wesentliche Verbesserung dar.59

55 Lovelock, James E., „The haemolysis of human red blood cells by freezing and thawing“, in: Biochimica et Biophysica Acta, 10(3)/1953, S. 414-426. 56 Mazur, Peter, „Cryobiology: The freezing of biological systems“, in: Science, 168(3934)/1970, S. 939-949. 57 Vgl. Pegg, Cryopreservation. 58 Rall, William F. und Gregory M. Fahy, „Ice-free cryopreservation of mouse em­ bryos at -196 degrees by vitrification“, in: Nature, 313(6003)/1985, S. 573-575. 59 Kuleshova, Lilia; Gianaroli, Luca; Magli, Cristina et al., „Birth following vitrifi­ cation of a small number of human oocytes. Case report“, in: Human Reproduc­ tion, 14(12)/1999, S. 3077-3079.

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Heute ist die Anwendung der Kryokonservierung in der Medizin in vielen Bereichen Routine und ihre Anwendungen in öffentlichen und privaten Banken kryokonservierter Spermatozoen (vulgo: „Samenbanken“), Oocyten (Eizellen) für die In vitro-Fertilisation oder von haematopoetischen Stammzellen oder Nabelschnurblut zu Transplantationszwecken zahllos.

4. Kryokonservierung pflanzlicher Zellen und Gewebe Bei pflanzlichen Zellen gestaltete sich die Kryokonservierung schwieriger als bei menschlichen. Zunächst ist sie technisch schwieriger wegen der subzellulären Struktur pflanzlicher Zellen. Sie enthalten im ausdifferenzierten Zustand intrazelluläre Vakuolen, die eine Entwässerung schwieriger machen. Daneben war aber auch das öffentliche Interesse an der Kryokonservierung von Pflanzenzellen geringer ausgeprägt als an den medizinischen Anwendungen. Untersuchungen zur Kälteresistenz von Pflanzen gab es dagegen schon seit langer Zeit; die Reaktion der Pflanzen auf Kälte wurde nur zunächst nicht im Hinblick auf Kryokonservierung untersucht. Ernteeinbußen durch Frost- und Gefrierschäden waren seit jeher ein Problem für die Landwirtschaft, somit das Interesse an den genauen Bedingungen für das Eintreten solcher Schäden naturgemäß groß. Früh wurde die Ursache für Gefrierschäden untersucht und auf die Expansion des Wassers der Gewebe bei Kristallisation zurückgeführt.60 Schon [Johann] Heinrich R. Göppert (1800–1884) erkannte 1830, dass der Wassergehalt des Pflanzengewebes einen Einfluss auf dessen Frostresistenz hat.61 Zeitig stellte man auch fest, dass Pflanzensamen Temperaturen bis zu -100 °C62 und sogar bis zu -190 °C63 zumindest für einige Zeit überleben können. Hier60 Levitt, Jacob, Responses of Plants to Environmental Stresses, New York 1972. 61 Göppert, Heinrich R., Über die Wärme-Entwicklung in den Pflanzen, deren Ge­ frieren und die Schutzmittel gegen dasselbe, Breslau 1830. 62 Candolle, Casimir Pyramus de, „Sur la vie latente des graines“, in: Bibliothèque. Universelle. Archives des Science Physiques et Naturelles, 3(6)/1895, S. 497-512. 63 Brown, Horace T. und Fergusson Escombe, „The influence of very low temper­ atures on the germinative power of seeds“, in: Proceedings of the Royal So­ ciety, 62/1897, S. 160-165. Anm. d. Hg.: Fergusson Escombe (geb. 1872; gest. 12.10.1935); Horace Tabberer Brown (geb. 20.7.1848; gest. 6.2.1925). Vgl. den Nachruf „Mr. F. Escombe“ in Nature, 136/1935, S. 900f.

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bei handelte es sich allerdings um stark dehydrierte Gewebe mit sehr geringem Wassergehalt. Daneben erkannte man auch bereits im 19. Jh. das sogenannte „supercooling“, das Abkühlen unter den Gefrierpunkt ohne Kristallisation, als Mechanismus einer erhöhten Frosttoleranz,64 und kurz darauf den Einfluss von Umweltbedingungen auf die Entwicklung der Frostresistenz.65 In diesem Kontext wurde der Einfluss von Einfrier- und Auftauraten auf die Frostresistenz bemerkt.66 W. Ulmer von der Universität Innsbruck zeigte 1937, dass kälteharte Gewebe einiger Pflanzen Temperaturen bis zu -40 °C überlebten.67 Die Idee, solche Effekte zur gezielten Konservierung durch Tiefgefrieren zu nutzen, wurde daraus allerdings nicht entwickelt. Die ersten Versuche, pflanzliche Ressourcen durch Kryokonservierung zu erhalten, erfolgte an den Produkten der pflanzlichen Zellkulturtechnologie: Schon mit der Etablierung der ersten Kalluskulturen hatten Forscher die Bildung pflanzlicher Sekundärstoffe wie Alkaloide, Flavonoide und Cardenolide in solchen Zellkulturen und In vitro-Pflanzen bemerkt.68 In der Folgezeit entstand die Idee der Produktion pharmazeutisch interessanter pflanzlicher Sekundärstoffe mit Hilfe solcher Kulturen. Bereits im Jahr 1952 wurde das erste Patent zur Produktion pflanzlicher Sekundärstoffe an Routine und Nickell erteilt. 1959 schrieben Walter Tulecke und Louis G. Nickell über solche pflanzlichen Zellkulturen: „[...] these cell cultures represent a new class of microorganisms“.69 Konservierungsstrategien für Zellkulturen waren notwendig, wenn diese Zellkulturen als Produktionsinstrumente genutzt und erforderliche 64 Müller-Thurgau, Hermann, „Über das Gefrieren und Erfrieren der Pflanzen“, in: Landwirtschaftliches Jahrbuch, 9/1880, S. 133-189. 65 Winkler, Adalbert, „Über den Einfluss der Außenbedingungen auf die Kälte­ resistenz ausdauernder Gewächse“, in: Jahrbücher für Wissenschaftliche Bota­ nik, 52/1913, S. 467-506. 66 Hildreth, Aubrey Claire, „Determination of hardiness in apple varieties and the relation of some factors to cold resistance“, Doctoral thesis, in: Minnesota Agri­ cultural Experimental Station Technical Bulletin, 42/1926. 67 Ulmer, W., „Über den Jahresgang der Frosthärte einiger immergrüner Arten der alpinen Stufe, sowie der Zirbe und der Fichte. Unter besonderer Berücksichtigung von osmotischem Wert, Zuckerspiegel und Wassergehalt“, in: Jahrbücher für Wissenschaftliche Botanik, 84/1937, S. 553-592. 68 Vgl. Staba, E. John, „Production of useful compounds from plant tissue cultures“, in: Fujiwara, Akio (Hg.), Proceedings of the 5th International Congress of Plant Tissue & Cell Culture, Tokyo 1982, 25-31. 69 Tulecke, Walter und Louis G. Nickell, „Production of large amounts of plant tissue by submerged culture“, in: Science, 130(3379)/1959, S. 863-864.

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Investitionen abgesichert werden sollten. Die Entwicklung der Konservierungsstrategien orientierte sich jetzt an Methoden, wie sie für Mikroorganismen oder tierische bzw. menschliche Zellen bereits etabliert waren. Die erste erfolgreiche Kryokonservierung einer pflanzlichen Zellkultur wurde 1968 von dem Pflanzenbiologen Ralph S. Quatrano an der Yale-Universität durchgeführt.70 Er konservierte eine Suspensionskultur von Linum usitatissimum (Flachs) nach Inkubation in Medium mit 10 % DMSO als Kryoprotektor. Er verwendete eine Abkühlrate von etwa 5-10 °C/min. Dabei wurden die Kryogefäße in Aluminiumfolie verpackt und in einem normalen Tiefkühlschrank auf -50 °C abgekühlt. Nach einmonatiger Lagerung wurden die Zellen aufgetaut. Obwohl anhand von Lebensfähigkeitstests nur geringe Überlebensraten von 14 % erzielt werden konnten, zeigten sich einige charakteristische Eigenschaften der regenerierten Zellen unverändert, etwa die Produktion von Chlorophyll.71 Kritisch zu betrachten ist aus heutiger Sicht die Abkühlung der Zellen auf nur -50 °C. Das könnte bedeuten, dass die Kultur intrazellulär noch nicht gefroren war oder zumindest in einem kritischen Temperaturbereich vorlag. 1971 gelang Roy A. Latta die Kryokonservierung einer Daucus carota-Zellkultur bis zu einer Temperatur von -196 °C.72 Erreicht wurde dies durch Zugabe von 5 % DMSO, langsames Abkühlen bis -40 °C und anschließende direkte Immersion in flüssigen Stickstoff. Die Methode führte aber bei anderen Zellkulturen nicht zum Ziel. Latta dachte bei seinen Versuchen zunächst nur an die Konservierung von Zellkulturen und nicht an die von differenzierten Pflanzen. Ein solches Konzept wurde denkbar, als zwei Jahre später K. K. Nag und Herbert Edward Street in Leicester (UK) aus einer bis zur Temperatur von flüssigem Stickstoff tiefgefrorenen Zellkultur von Daucus carota intakte Pflanzen regenerieren konnten.73 Damit wurde die Nutzung von Kulturen, die somatische Embryogenese zeigten, zur Konservierung von differenzierten Pflanzen nutzbar. Nag und Street führten hierzu Testreihen mit verschiedenen Konzentrationen von Kryoprotektoren und un70 Quatrano, Ralph S., „Freeze-Preservation of Cultured Flax Cells Utilizing Di­ methyl Sulfoxide“, in: Plant Physiology, 43(12)/1968, S. 2057-2061. 71 Ebd. 72 Latta, Roy A., „Preservation of suspension cultures of plant cells by freezing“, in: Canadian Journal of Botany, 49(7)/1971, S. 1253-1254. 73 Nag, K. K. und Herbert E. Street, „Carrot Embryogenesis from Frozen Cultured Cells“, in: Nature, 245(5423)/1973, S. 270-272.

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terschiedlichen Abkühlraten durch. Bereits damals stellten sie fest, dass eine sichere Lagerung der tiefgefrorenen Pflanzenzellen nur bei -196 °C möglich war. Auf der Basis dieser Methode entwickelten Withers und King (1980) eine Technik zur Kryokonservierung pflanzlicher Zellkulturen,74 die für lange Zeit bis in die 1990er Jahre zum Standard wurde. Die Besonderheit der Methode lag in der Verwendung spezieller Kryoprotektorgemische aus DMSO, Glycerin und Saccharose oder Prolin. Lindsey A. Withers war eine frühere Mitarbeiterin von Herbert E. Street (1913–1977) in Leicester; der wegweisende Artikel erschien in der ersten Ausgabe der neu gegründeten Zeitschrift CryoLetters, die zum wichtigsten Publikationsorgan für das Feld der Kryokonservierung pflanzlicher Zellen und Gewebe werden sollte. Allerdings waren Kulturen mit embryogenem Potenzial schwer zu etablieren, aufwändig zu erhalten, und das damals schon bekannte Phänomen der somaklonalen Variation75 ließ Zweifel an der genetischen Integrität solcher Kulturen und der daraus vermehrten Pflanzen entstehen. Damit war auch ihre Eignung für die Erhaltung genetischer Ressourcen fraglich. Im Jahr 1976 gelang Michael Seibert zum ersten Mal, ein intaktes, differenziertes pflanzliches Organ, nämlich ein apikales (von lat. apex für Spitze) Meristem einzufrieren.76 Seibert konservierte Spross-Apices von Dianthus caryophyllus (Edel-Nelke) nach Vorbehandlung mit 5 % DMSO durch ultraschnelles Abkühlen. Hierzu wurden Apices in Kryogefäßen direkt mit flüssigem Stickstoff übergossen. Seibert erreichte nur 5 % regenerierte Pflanzen, aber damit war der Weg bereitet für die genetisch stabile Konservierung von Pflanzen in flüssigem Stickstoff. Er schlug damals schon die Methode zur Konservierung von Pflanzengenotypen vor. Die ersten erfolgreichen Kryokonservierungsversuche mit Kartoffelsprossspitzen führte ein Jahr später Yashphal P. S. Bajaj (geb. 1936) an der Punjab Agricultural University in Indien durch. Er nutzte Glycerin und Saccharose sowie unterschiedliche Konzentrationen aus beiden und einen zweistufigen Einfrierprozess. Zunächst wurde langsam in der Gasphase 74 Withers, Lindsey A. und Patrick J. King, „A simple freezing unit and routine cryopreservation method for plant cell cultures“, in: CryoLetters, 1/1980, S. 213220. 75 Murashige, Toshio, „Plant propagation through tissue culture“, in: Annual Re­ view of Plant Physiology, 25/1974, S. 135-166. 76 Seibert, Michael, „Shoot initiation from carnation shoot apices frozen to -196 °C“, in: Science, 191(4232)/1976, S. 1179.

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abgekühlt, dann durch schnelle Immersion in flüssigen Stickstoff.77 Fast gleichzeitig führten Brian William W. Grout (geb. 1948) und Graham George Henshaw (1937–2006) an der Universität Birmingham Kryokonservierungsversuche mit Solanum goniocalyx (= ste­ notomum) durch. Dabei griffen sie die Methode des ultra-schnellen Einfrierens auf, die schon Seibert bei den Nelken-Meristemen praktiziert hatte. Beim direkten Einfrieren in flüssigen Stickstoff treten allerdings technische Probleme auf, die mit dem Siedeverhalten flüssigen Stickstoffs und dem sogenannten Gaspolstereffekt zu tun haben, dem Umstand also, dass sich beim direkten Kontakt eines warmen, abzukühlenden Objektes ein Gaspolster zwischen Objekt und flüssigem Stickstoff bildet, das den Wärmefluss wesentlich herabsetzt. Siedeverhalten und Gaspolstereffekt führen dazu, dass kleine Objekte wie Meristeme nicht in den flüssigen Stickstoff absinken, sondern auf der Oberfläche schwimmen. Um die Meristeme direkt in flüssigen Stickstoff einzubringen, wurden die mit 10 % DMSO vorbehandelten Sprossspitzen von Grout und Henshaw auf Spritzennadeln gesteckt und damit in flüssigem Stickstoff untergetaucht. Sie erzielten bei 20 % der Meristeme ein Überleben von Zellen und bei 10 % eine Regeneration von Pflanzen. Damit waren zum einen die Überlebensraten nicht sehr hoch, zum anderen das gesamte Verfahren vergleichsweise unpraktisch in der Handhabung, v. a. bei der Umsetzung in ein praktikables Lagerungssystem.78 In den frühen 80er Jahren wurden in den USA und später in England weitere Experimente zur Kryokonservierung von Kartoffelmeristemen mittels des langsamen Abkühlens durchgeführt.79 Hierbei wurde mit verschiedenen Solanum-Arten und der Optimierung von Prozessparametern gearbeitet. Dabei konnten nun Regenerationsraten von bis zu 85 % bei einzelnen Genotypen erreicht werden. Am Ende der Entwicklung standen Methoden bereit, 77 Bajaj, Yashpal P. S., „Initiation of shoots and callus from potato-tuber sprouts and axillary buds frozen at -196 °C“, in: Crop Improvement, 4/1977, S. 48-53. 78 Grout, Brian W. W. und Graham G. Henshaw, „Freeze Preservation of Potato Shoot-tip Cultures“, in: Annals of Botany, 42(181)/1978, S. 1227-1229. 79 Towill, Leigh E., „Solanum etuberosum: a model for studying the cryobiology of shoot-tips in the tuber-bearing Solanum species “, in: Plant Science Letters, 20(4)/1981, S. 315-324; ders., „Survival at ultra-low temperatures of shoot tips from Solanum tuberosum groups Andigena, Phureja, Stenotomum, Tuberosum, and other tuber-bearing Solanum species“, in: CryoLetters, 5/1984, S. 319-326; Benson, Erica E.; Harding, Keith und H. Smith, „Variation in recovery of cryo­ preserved shoot-tips of Solanum tuberosum exposed to different pre- and postfreeze light regimes“, in: CryoLetters, 10/1989, S. 323-344.

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die, an einigen Arten und Genotypen erprobt, ganz verschiedene Regenerationsraten erzielten, aber für eine Routineanwendung den Nachteil hatten, technisch kompliziert zu sein und relativ teure Gerätschaften zu benötigen.

5. Vom Verbinden der ‚Fäden‘ im Braunschweig der 1990er Jahre, oder: Von der Methodenentwicklung zur praktischen Anwendung 1990 fand in Bonn ein Workshop statt, der zum Ziel hatte, die wissenschaftliche Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen (PGR) zwischen der BRD und dem damaligen IBPGR (International Board for Plant Genetic Resources, heute Bioversity International) in Rom zu fördern. Grundidee war, Länder mit einer entwickelten Forschungsinfrastruktur, in diesem Fall die ehemalige BRD, zur Förderung von Projekten zu bewegen, deren Ergebnisse anschließend auch für Länder in anderen Teilen der Welt nutzbringend angewendet werden konnten. Die dabei anvisierten Arbeitsfelder waren zum einen die Entwicklung von Methoden zur Erfassung der genetischen Diversität bei PGR, zum anderen die Entwicklung von Kryokonservierungstechniken.80 Dabei bildeten die Kartoffeln diejenigen Nutzpflanzen, bei denen die Entwicklung von Kryokonservierungstechniken auch für Deutschland von vitalem Interesse war. International betrachtet, stellte aber das eigentliche und weitaus wichtigere Anwendungsfeld für die pflanzliche Kryokonservierung das der tropischen Nutzpflanzen wie Cassava, Yams, Taro und nicht zuletzt der Banane dar, deren Ressourcen fast alle nicht durch Samenlagerung erhalten werden konnten. Die Idee zur Einbeziehung der Kryokonservierung wurde dabei von Lindsey A. Withers eingebracht, die bei Street in den Botanical Laboratories der University of Leicester (UK) an der Kryokonservierung mitgearbeitet hatte und im Jahr davor an das IBPGR gewechselt war, um dort die internationalen Aktivitäten zur Einführung von Kryokonservierung bei der Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen zu koordinieren.

80 Becker, Barbara (Hg.), ATSAF/IBPGR Workshop on Conservation of Plant Genetic Resources: Genetic Diversity, and Crop Strategies for Roots and Tubers. Bonn, Germany, 6-9 May 1990, Bonn 1991.

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Zur Zeit des Workshop gab es in der alten BRD bereits eine etablierte Sammlung in vitro kultivierter alter Kartoffelsorten an der damaligen Genbank Braunschweig Genetic Resources Collec­ tion (BGRC) der Forschungsanstalt für Landwirtschaft (FAL) in Braunschweig, die von Gunda Mix-Wagner aufgebaut und betreut wurde.81 Darüber hinaus arbeitete in Tübingen Lieselotte SchildeRentschler (1938–2016), die ganz wesentlichen Anteil am Aufbau der In vitro-Kartoffelsammlung des CIP in Peru gehabt hatte. Sie war damals auch Mitglied im wissenschaftlichen Beratergremium (Scientific Advisory Board) des CIP. Mit den etablierten Systemen zur In vitro-Erhaltung von genetischen Ressourcen waren die Vor­ aussetzungen für eine Entwicklung von Kryokonservierungsverfahren geschaffen. Weniger entwickelt als die Verfahren zur In vitro-Erhaltung waren zum damaligen Zeitpunkt die Aktivitäten zur Kryokonservierung von differenzierten Pflanzen. Im Bereich der Pflanzenbiotechnologie war zu diesem Zeitpunkt in Deutschland das Interesse an den Möglichkeiten zur Produktion pharmazeutisch interessanter Arzneistoffe ausgeprägter als das an der Verbesserung von Nutzpflanzen im Lebensmittelbereich. Forschung an pflanzlichen Sekundärstoffen und ihrer Produktion mit Hilfe pflanzlicher Zellkulturen fand bei zahlreichen pharmazeutischen Unternehmen statt, dazu im öffentlichen Bereich an pharmazeutischen Instituten. Die intensivste Vorarbeit auf dem Gebiet der Kryokonservierung entdifferenzierter Zellkulturen war bis dahin von Ursula Seitz82 an der Universität Tübingen geleistet worden.83 Gleichzeitig hatte Meinhart H. Zenk (1933–2011) am Institut für Pharmazeutische Biologie der Ludwig-Maximilians-Universität München die wahrscheinlich international größte Sammlung entdifferenzierter Pflanzenzellkulturen aufgebaut. Auch dort war mit Arbeiten zur Kryokonservierung begonnen worden.84 81 Karafyllis und Lammers, Big Data. 82 Anm. d. Hg.: Ehefrau des Tübinger Botanikprofessors Hanns Ulrich Seitz (geb. 1939, gest. 17.8.2011). 83 Seitz, Ursula; Reuff, I. und Ernst Reinhard, „Cryopreservation of Plant Cell Cultures“, in: Neumann, Karl-Hermann; Barz, Wolfgang und Ernst Reinhard (Hg.), Primary and Secondary Metabolism of Plant Cell Cultures, Berlin 1985, S. 323-333. 84 Rittgen, Bettina und B. Deus-Neumann, „Stammkonservierungsmethoden für pflanzliche Zellkulturen“, in: BMFT (Hg.), BMFT-Statusseminar Pflanzliche Zellkulturen, Bonn 1985, S. 131-149.

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Im Jahr 1987 wurde die Münchner Sammlung in die Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen (DSMZ) eingegliedert. Diese Eingliederung fand im Rahmen eines umfangreichen Erweiterungsprojektes der DSMZ statt. In den Jahren von 1987 bis 1989 wurde die bis dahin mit verschiedenen Teilsammlungen dezentral organisierte DSMZ in Braunschweig als selbstständige Organisation zentralisiert und später Teil der Leibniz-Gemeinschaft. Gleichzeitig wurde die primär auf Mikroorganismen ausgerichtete Sammlung der DSMZ um Aktivitätsfelder erweitert, die man für den Ausbau der biotechnologischen Forschung als wichtig einschätzte, nämlich um pflanzliche, tierische und menschliche Zellkulturen sowie Pflanzenviren (vgl. Overmann, in diesem Buch). Für die Betreuung dieses Materials wurden bei der DSMZ neue Abteilungen eingerichtet. Die Abteilung für pflanzliche Zellkulturen sollte dabei vor allem den biotechnologischen Interessen der pharmazeutischen Industrie dienen und war der Sammlung entdifferenzierter Zellkulturen gewidmet und nicht der Erhaltung von Pflanzen für landwirtschaftliche Anwendungen. Folgerichtig wurde im Jahr 1989 die Sammlung pflanzlicher Zellkulturen durch Eingliederung einer Sammlung des Kölner Pharmaunternehmens Nattermann & Cie. GmbH zusätzlich erweitert. Gleichzeitig hatte die DSMZ Kontakt zu Lindsey A. Withers (damals noch in Nottingham tätig) aufgenommen, um die praktischen Kenntnisse in der Kryokonservierung pflanzlicher Zellen zu vertiefen. 1990 stand die Verlegung der Sammlung an den neuen Standort der DSMZ in Braunschweig an. In dieser Situation war es das Verdienst von Withers, ein Kooperationsprojekt zwischen der DSMZ und der FAL, beide ansässig in Braunschweig, zu organisieren. Dabei stellte die neue Abteilung für pflanzliche Zellkulturen der DSMZ die Gerätschaften und erste Erfahrungen in der Kryokonservierung von Pflanzenzellen bereit; die FAL die damals erst kürzlich bis zur Routine etablierte In vitro-Sammlung alter Kartoffelsorten (in Reagenzgläsern). Vorteile des Kooperationsprojekts waren nicht nur kurze Wege durch den gemeinsamen Standort Braunschweig, sondern auch der Umstand, dass sich alle Beteiligten aus früheren Begegnungen schon persönlich kannten. Zusätzlich wurde das CIP in Lima durch Lieselotte Schilde-Rentschler eingebunden. Für die praktische Durchführung des Projektes wurde bei der DSMZ Angelika Schäfer-Menuhr und bei der FAL Ellruth Bitter eingestellt. Die Projektleitung lag beim Abteilungsleiter für pflanzliche Zellkulturen der DSMZ (Heinz Martin Schumacher) und Gunda Mix-Wagner.

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Der offizielle Titel des initiierten Projektes lautete: „Refinement of Cryopreservation Techniques for Potato“. Darin kam zum Ausdruck, dass dessen Ziel nicht die prinzipielle Neuentwicklung einer Kryokonservierungstechnik, sondern die Entwicklung einer Methode für die Routineanwendung in Genbanken war. Dabei sollte auf bisherigen Arbeiten aufgebaut werden. Die Methode, die letzten Endes im Rahmen des Projektes entwickelt wurde, nutzte den einfachen Ansatz des ultraschnellen Einfrierens von Grout und Henshaw.85 Um die praktische Anwendbarkeit der Methode sicherzustellen, wurde eine neue Technik entwickelt, bei der die isolierten und vorbehandelten Meristeme in 2,5 µl große Tröpfchen auf Blättchen von Aluminiumfolie platziert wurden. Aufgrund der Adhäsionskräfte ließen sich diese Blättchen direkt in Kryogefäße eintauchen, die mit flüssigem Stickstoff befüllt waren. Neben der Entwicklung dieser Methode ließen sich während des Projektes auch andere Parameter optimieren. Hierbei wurden verschiedene Techniken zur Isolation der Meristeme untersucht, die Vorbehandlung der Meristeme mit Wasser entziehenden Substanzen und verschiedenen Kryoprotektorbehandlungen. Gleichzeitig wurden verschiedene Methoden zur Regeneration der aufgetauten Meristeme getestet. Eine zeitweise Kultur im Dunkeln erwies sich dabei als notwendig. Schließlich konnte in einer zweijährigen Erweiterungsphase des Projektes auch die genetische Stabilität der regenerierten Pflanzen demonstriert werden. 20 der 200 konservierten Sorten wurden hinsichtlich des Phänotyps der Pflanzen und Knollen und mit Hilfe von DNA-fingerprinting untersucht. Ausgangspflanzen und die nach Kryokonservierung regenerierten Pflanzen zeigten keine Unterschiede. Den wichtigsten Aspekt der Methode stellte ihre Anwendbarkeit auf eine breite Palette unterschiedlicher Genotypen mit je unterschiedlicher Regenerationsrate dar. Bis zum Projektende konnten ohne Veränderung der Methode 200 alte Kartoffelsorten konserviert werden.86 Nach Abschluss der Projektphase im Jahr 1996 wurde die Methode tatsächlich routinemäßig 85 Grout und Henshaw, Freeze Preservation. 86 Schäfer-Menuhr, Angelika; Schumacher, Heinz Martin und Gunda Mix-Wagner, „Langzeitlagerung alter Kartoffelsorten durch Kryokonservierung der Meri­s­­ teme in flüssigem Stickstoff“, in: Landbauforschung Völkenrode, 44(4)/1994, S. 301-313; Mix-Wagner, Gunda und Heinz Martin Schumacher, „The in vitro conservation of valuable genetic resources“, in: Laimer, Margit und Waltraud Rücker (Hg.), Plant Tissue Culture – 100 years since Gottlieb Haberlandt, Wien, New York 2003, S. 135-151.

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zur Kryokonservierung weiterer Sorten an der damaligen Braunschweiger Genbank (BGRC) eingesetzt. Schließlich ließ sich zeigen, dass die eingelagerten Kartoffeln nach Jahren der Lagerung im flüssigen Stickstoff noch die gleichen Überlebensraten aufwiesen wie bei Einfrieren.87 Im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung in den 1990er Jahren kam es zu einer wesentlichen Umstrukturierung der bundesweiten Forschungs- und Wissenschaftslandschaft. Während man die ehemalige Mikrobenbank des Zentralinstituts für Mikrobiologie und Experimentelle Therapie der Akademie der Wissenschaften (ZIMET) der DDR, Jena, in die DSMZ eingliederte,88 wurde die westdeutsche Genbank BGRC in Braunschweig aufgelöst und ihre Bestände zu einem kleineren Teil (v. a. die Obstsammlung) an die Bundesanstalt für Züchtungsforschung an Kulturpflanzen (BAZ; von dort später ans Julius Kühn-Institut in Dresden-Pillnitz), zum überwiegenden Teil aber ans IPK nach Gatersleben, d. h. nach Sachsen-Anhalt und damit in eines der „neuen Bundesländer“ verlagert.89 Dies betraf auch die umfangreiche Sammlung alter Kartoffelsorten, die nach 2003 nach Gatersleben verlagert wurde, was durch einen Neubau speziell für die Stickstofftanks und andere Laborausstattung für die Kryokonservierung vorbereitet worden war. Beim Methodentransfer erwies sich die Technik als robust und reproduzierbar auch über Laborgrenzen hinweg. In Gatersleben wurde die Kryokonservierung alter Kartoffelsorten weiter optimiert.90 Sie etablierte sich in der Forschungslandschaft unter dem Namen „droplet freezing“. Vor einigen Jahren konnten alle Beteiligten auf Einladung von E. R. Joachim Keller91 in Gatersleben die 1.000ste eingefrorene alte Kartoffelsorte feiern. Gegenwärtig ist die Samm87 Mix-Wagner, Gunda; Schumacher, Heinz Martin und R. Cross, „Recovery of potato after several years of storage in liquid nitrogen“, in: CryoLetters, 24(1)/2003, S. 33-41. 88 Die DSMZ ist die offizielle Rechtsnachfolgerin des ZIMET. Dubletten – d. h. Bakterienstämme, die an beiden Standorten vorhanden waren – verblieben z. T. in Jena und wurden Bestandteil der Institutssammlung des Hans-KnöllInstituts. 89 Siehe Karafyllis und Lammers, Big Data. 90 Kaczmarczyk, Anja; Shvachko, N.; Lupysheva, Yulia et al., „Influence of alternat­ ing temperature preculture on cryopreservation results for potato shoot tips“, in: Plant Cell Reports, 27(9)/2008, S. 1551-1558. 91 Von 1.1.1992–31.12.2015 Leiter der Arbeitsgruppe „in vitro-Erhaltung und Langzeiterhaltung“ am IPK Gatersleben (ab 1998 umbenannt in: „In vitro-Er­­ haltung und Kryo-Lagerung“).

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lung mit über 1.400 eingefrorenen Akzessionen wahrscheinlich die größte kryokonservierte Sammlung pflanzengenetischer Ressourcen einer einzelnen Art in vitro.92

6. Weitere Entwicklungen Trotz des Erfolgs der droplet freezing-Methode bei Kartoffeln ist die Technologie der Kryokonservierung pflanzengenetischer Ressourcen nicht stehen geblieben. In Paris entstand zunächst eine Methode, die in der englischsprachigen Literatur als Encapsulation/Dehydra­ tion bezeichnet wird. Dabei werden isolierte Meristeme zunächst in Alginat eingebettet, in einer Vorkultur mit Saccharose dehydriert und anschließend bis zu einer bestimmten Restfeuchte an der Luft unter sterilen Bedingungen getrocknet.93 Diese Methode entwickelte sich zu einer der erfolgreichsten Techniken für die Kryokonservierung pflanzlicher Zellen. Sie ist außerdem die erste Technik, die im Bereich der pflanzlichen Kryokonservierung entwickelt und erst später in modifizierter Form auch bei tierischen Zellen eingesetzt wurde. 1992 wurde dann erstmals auch eine Vitrifikationsmethode für Kartoffelmeristeme geschaffen.94 Bei den in Braunschweig während der Projektphase und danach verwendeten In vitro-Kulturen erwies sich das droplet freezing als erfolgreicher, während am CIP in Peru die Vitrifikationsmethode bessere Ergebnisse zeigte.95 Eine mögliche Ursache für diese Diskrepanz könnte in der unterschiedlichen Vorgeschichte der verwendeten In vitro-Kulturen liegen. Eine der interessantesten Neuentwicklungen bei der Kryokonservierung von PGR basiert aber auf dem droplet freezing selbst. Es ist eine Kombination des droplet freezing mit der Methode der Vitrifikation. Da die Vitrifikation mit Kryoprotektorkonzentrationen arbeitet, bei denen keine Kristallisation, sondern nur noch 92 Webseite des IPK, Unterseite „Cryobank“, online unter: http://www.ipk-gaters­ leben.de/genbank/cryo-und-stressbiologie/ (letzter Aufruf: 21.12.2017). 93 Fabre, Jacques und Jean Dereuddre, „Encapsulation-dehydration: a new approach to cryopreservation of Solanum shoot-tips“, in: CryoLetters, 11/1990, S. 413-426. 94 Schnabel-Preikstas, Barbara; Earle, E. D. und Peter L. Steponkus, Cryopreserva­ tion of potato shoot tips by vitrification. 29th Annual Meeting of the Society for Cryobiology, 1992, S. 48. 95 Golmirzaie, Ali M. und Ana Panta, Advances in potato cryopreservation by vitrification. CIP Program Report 1995–96, Lima 1997, S. 71-76.

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eine Erstarrung als Glas bei tiefen Temperaturen auftritt, sollte sie unabhängig von der Abkühlrate sein. Trotzdem können sehr hohe Abkühlraten dazu führen, dass die Glasübergangstemperatur und damit die Vitrifikation eines Systems verlässlicher vor Eintreten der Kristallisation von Wasser erreicht werden. Dies kann auch bei Vitrifikationsmethoden wichtig sein, bei denen nach Inkubation in einer Vitrifikationslösung der Protoplast oder andere Kompartimente der Zelle nur unzureichende vitrifizierende Eigenschaften erreicht haben. Dass die Technik des droplet freezing und die damit verbundene sehr schnelle Einfrierrate zur Optimierung von Vitrifikationsmethoden genutzt werden kann, wurde schon bald nach Etablierung der Methode erkannt und bei verschiedenen Pflanzen angewendet.96 Die neue Methode war schließlich auch bei Kartoffeln erfolgreich97 und wird heute als „droplet vitrification“ bezeichnet. Heute ist die Kryokonservierung bei vielen Pflanzen anwendbar, auch dank der Arbeiten, die in Gatersleben über die Kartoffelkryokonservierung hinaus betrieben worden sind (z. B. für die Lagerung von Knoblauch; vgl. Graner, in diesem Buch). Die RoutineAnwendung in Genbanken ist heute weltweit verbreitet.98 Neben der Behandlung zur Konservierung alter Kartoffelsorten am IPK in Gatersleben und am CIP in Peru wird die Kryokonservierung heute auch zur Erhaltung genetischer Ressourcen der Banane am In­ ternational Transit Center an der Katholischen Universität Leuven (Belgien) eingesetzt. Mit über 900 konservierten Einzelakzessionen handelt es sich vermutlich um die zweitgrößte Sammlung in vitro konservierter, zu intakten Pflanzen regenerierbarer Ressourcen einer einzelnen Art. In diesem Fall ist die Kryokonservierung ein noch größerer Gewinn als im Falle der Kartoffel, da die In vitroKultur der Banane deutlich schwieriger in der Erhaltung ist als bei der Kartoffel. Dies betrifft vor allem die Vermehrung und Bewur96 Halmagyi, Adela; Fischer-Klüver, Gisela; Mix-Wagner, Gunda und Heinz Mar­ tin Schumacher, „Cryopreservation of Chrysanthemum morifolium (Dendran­ thema grandiflora Ramat.) using different approaches“, in: Plant Cell Reports, 22(6)/2004, S. 371-375; Panis, Bart; Piette, B. und R. Swennen, „Droplet vitrifi­ cation of apical meristems: a cryopreservation protocol applicable to all Musa­ ceae“, in: Plant Science, 168(1)/2005, S. 45-55. 97 Halmagyi, Adela; Deliu, Constantine und Ana Coste, „Plant regrowth from po­tato shoot tips cryopreserved by a combined vitrification-droplet method“, in: CryoLetters, 26(5)/2005, S. 313-322. 98 Engelmann, Florent, „Use of Biotechnology for the Conservation of Plant Bio­ diversity“, in: In vitro Cellular & Developmental Biology – Plant, 47(1)/2011, S. 5-16.

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zelung der In vitro-Kulturen und v. a. die Isolation apikaler Meristeme. In vielen Fällen wird bei der Banane auf somatisch embryogene Zellkulturen für die Erhaltung zurückgegriffen.99 Die Anlage dieser Kulturen ist außerordentlich zeitaufwändig, ihre genetische Stabilität bei langfristiger Erhaltung durch ständige Sub-Kultur nicht gegeben.100 Auch bei anderen tropischen Nutzpflanzen beginnt eine routinemäßige Erhaltung genetischer Ressourcen durch Kryokonservierung, etwa am CIP bei Süßkartoffeln.101 Am Centro Internacional de Agricultura Tropical (CIAT) in Kolumbien wird z. B. versucht, die „Core Collection“ für Cassava durch Tiefgefrieren zu konservieren.102 Eine Methode zur Kryokonservierung bei Yams wurde wiederum am IPK in Gatersleben entwickelt, mit Hilfe von „droplet vitrification“, der modifizierten Form unserer ursprünglichen Einfriermethode.103 Interessant ist, dass die Sammlung mit der größten Anzahl kryokonservierter Einzelakzessionen auf eine Technik zurückgreift, deren Basis schon mit den Untersuchungen von Aubrey Claire Hildreth104 (1926)105 und Ulmer (1937)106 gelegt wurde und zum

99 Webseite von Bioversity International, Unterseite „Banana genetic resources and management systems“, online unter: http://www.bioversityinternational. org/research-portfolio/banana-genetic-resources-and-management-systems/ (letzter Aufruf: 21.12.2017). 100 Strosse et al., Banana and plantain. 101 Webseite International Potato Center (Lima, Peru), Unterseite „Cryobank“, online unter: https://research.cip.cgiar.org/confluence/display/GEN/Cryopre­ servation (letzter Aufruf: 21.12.2017) 102 González-Arnao, María Teresa; Panta, Ana; Roca, William M. et al., „Develop­ ment and large scale application of cryopreservation techniques for shoot and somatic embryo cultures of tropical crops“, in: Plant Cell, Tissue and Organ Culture, 92(1)/2008, S. 1-13. 103 Leunufna, Semuel und E. R. Joachim Keller, „Cryopreservation of Yams using vitrification modified by including droplet method: effects of cold acclimation and sucrose“, in: CryoLetters, 26(2)/2005, S. 93-102. 104 Anm. d. Hg.: Aubrey Claire Hildreth, geb. am 20.12.1893 auf einer Farm bei Mannington, Marion County, West Virginia (USA), gest. 1975, war ein Gar­ tenbauwissenschaftler, der ab den 1930er Jahren das Forschungsprogramm des USDA mit der Forschungsstation Cheyenne (Cheyenne Horticultural Field Station) und Feldgenbanken aufbaute. 1959, im Ruhestand, wurde er Direktor der neu gegründeten Denver Botanical Gardens. 105 Hildreth, Determination. 106 Ulmer, Frosthärte.

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Nachweis von Akira Sakai107 (1960)108 vom Institute of Low Temperature Science an der japanischen Hokkaido University führte, dass kälteharte Knospen sogar der Temperatur flüssigen Stickstoffs widerstehen. In Fort Collins (USA) werden durch Kryokonservierung winterharter Knospen über 2.200 Apfelakzessionen erhalten (vgl. auch Flachowsky und Höfer, in diesem Buch). Arbeiten, eine ähnliche Technik auch unter schwierigeren klimatischen Bedingungen in Deutschland anzuwenden, werden erfolgreich am JKI in Dresden durchgeführt.109 Damit wird die Kryokonservierung bei geeigneten Objekten auch ohne In vitro-Kultur anwendbar.

7. Zusammenfassung und Ausblick In den letzten Jahren hat sich die Technologie der Kryokonservierung pflanzengenetischer Ressourcen rasant entwickelt.110 Gleichzeitig muss aber gesagt werden, dass die Entwicklung von Kryokonservierungsmethoden und die Kryokonservierung selbst für Pflanzen immer noch mit einem hohen Kosten- und Zeitaufwand verbunden ist. Man kann daher davon ausgehen, dass die Langzeitlagerung von Samen durch normale Kühlung dort, wo sie problemlos möglich und seit vielen Jahren etabliert ist, auch in Zukunft die Methode der Wahl bleibt. Selbst bei vielen vegetativ vermehrten Pflanzen ist die Kryokonservierung noch lange keine Routine. Weiterer erheblicher Forschungsaufwand für Methodenentwicklung und Standardisierung ist nötig. Überdies muss gesagt werden, dass es selbst bei Pflanzenarten, die schon erfolgreich kryokonserviert wurden, einzelne Sorten und Genotypen gibt, die immer noch nicht erfolgreich tiefgefroren werden können, ohne dass Gründe dafür bekannt sind. Um solches Material zu erhalten, werden daher auf absehbare Zeit Feldgenbanken 107 Anm. d. Hg.: Akira Sakai, geb. 1920, gest. 5.10.2012. 108 Sakai, Akira, „Survival of twigs of woody plants at -196 °C“, in: Nature, 185(4710)/1960, S. 392. 109 Höfer, Monika, „Cryopreservation of winter-dormant apple buds – establish­ ment of a duplicate collection of Malus germplasm“, in: Plant Cell Tissue and Organ Culture, 121(3)/2015, S. 647-656. 110 Benson, Erica E. und Keith Harding, „Cryopreservation of Shoot Tips and Meristems: An Overview of Contemporary Methodologies“, in: Methods in Molecular Biology, 877/2012, S. 191-226.

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prinzipiell unverzichtbar sein. Gleiches gilt auch für Samen. Bis heute können die rekalzitranten Samen, die sich nicht lagern lassen, in den meisten Fällen auch nicht eingefroren werden. Für viele Pflanzen mit solchen Samen braucht man ebenfalls noch Feldgenbanken,111 z. B. bei der Weinrebe (vgl. Maul, in diesem Buch). Selbst dort, wo eine Umstellung auf die Lagerung in flüssigem Stickstoff sinnvoll wäre, ist nicht damit zu rechnen, dass in absehbarer Zukunft für Samen- und Feldgenbanken die nötigen finanziellen Mittel bereitgestellt werden, um dies zu ermöglichen. Gerade in tropischen Ländern reichen die finanziellen Ressourcen oft nicht aus, um die Kryokonservierung und die Lagerung kryokonservierter Proben zu realisieren. Dort wäre beides aber wegen der vielen agrarischen Nutzpflanzen, die keine lagerfähigen Samen bilden, gerade besonders sinnvoll. Bei der Analyse des Kostenaufwandes während unseres Kryokonservierungsprojektes für alte Kartoffelsorten hat ein persönlicher Erfahrungsaustausch mit den Kooperationspartnern vom CIP in Peru gezeigt, dass die Kostenstruktur der Technologie durchaus vom regionalen wirtschaftlichen Hintergrund abhängt. Während in Deutschland die Arbeitskosten für technisches Personal den höchsten Kostenanteil bei der Kryokonservierung ausmachten, waren sie in Peru vergleichsweise gering. Der Preis für flüssigen Stickstoff war in Peru damals allerdings achtfach höher als in Deutschland. Neben hohen Kosten ist auch eine kontinuierliche Versorgung mit flüssigem Stickstoff in vielen Ländern schwieriger und v. a. weniger verlässlich sicherzustellen als in Deutschland. Während die Entwicklung von Kryokonservierungsmethoden und eine anschließende Kryokonservierung von vermehrungsfähigem Pflanzenmaterial immer noch hohe Kosten verursacht, gestaltet sich die Lagerung immer kostengünstiger, je länger sie dauert. Bei der Erhaltung von Lebendmaterial durch Subkultivierung in Feldgenbanken fallen hingegen kontinuierlich hohe Personalkosten, Kosten für den Maschinenpark und z. B. auch Pacht für die Flächen an. Verglichen damit sind die Betriebskosten von Kühlhäusern für die Samenlagerung gering. Hier stellt die Samenbank Svalbard Glo­ bal Seed Vault (SGSV) in Norwegen eine deutliche Verbesserung dar, weil niedrigere Kosten für eine technische Kühlung anfallen und darüber hinaus auch bei Ausfall von Elektrizität eine ziemlich 111 Keller, E. R. Joachim; Kaczmarczyk, Anja und Angelika Senula, „Cryopre­ser­ vation for plant genebanks – a matter between high expectations and cautious reservation“, in: CryoLetters, 29(1)/2008, S. 53-62.

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kalte Lagerung im Permafrost gewährleistet ist.112 Aber selbst bei der Erhaltung durch Samenlagerung ist eine ständige Nachproduktion von Samen in regelmäßigen Abständen nötig (was vom SGSV selbst nicht geleistet wird), da die Lebensfähigkeit der gelagerten Samen mit der Zeit abnimmt. Bei Kryokonservierung gehen die meisten Wissenschaftler heute davon aus, dass die Proben nahezu unbegrenzt oder zumindest deutlich länger lebensfähig bleiben, ohne dass ein menschlicher Eingriff nötig wäre; zumindest solange die ultratiefen Temperaturen (-138 °C für die Lagerung in der Gasphase über flüssigen Stickstoff bzw. -198 °C für die Lagerung untergetaucht in flüssigem Stickstoff) gleichmäßig gewährleistet sind. Das Nachfüllen des Stickstoffs in die Lagertanks erfolgt heute zumeist automatisch aus einem Vorratstank. Bewiesen ist die obige Annahme allerdings erst, wenn kryokonservierte Proben nach vielen Jahrzehnten der Lagerung ohne Einbuße an Lebensfähigkeit erfolgreich reanimiert wurden. Bei konstanter Temperatur und gleichbleibender Lebensfähigkeit wäre die Lagerung im flüssigen Stickstoff dann auch bei Samen ein Gewinn.113 Der spezifische Nutzen der Kryokonservierung liegt aber prinzipiell auf einem anderen Gebiet. Wie schon in der Einleitung dargestellt, stellen Samen die Vermehrungs- und Überdauerungsform vieler kultivierter Pflanzen dar. Sie entstehen auch bei genetisch weitgehend homogenen Sorten durch einen sexuellen Prozess, der das genetische Material neu zusammenmischt. Die Gesamtheit solcher Samen repräsentiert damit aber auch die gesamte innerartliche Vielfalt dieser Pflanzenart (den Genpool). Um diese Vielfalt vollständig abzubilden, reicht die Erhaltung weniger Samen nicht aus (u. a. ein Problem Botanischer Gärten; vgl. Karafyllis und Lammers, in diesem Buch). Es ist immer die Lagerung einer ausreichenden Menge von Samen nötig, um unerwünschte Selektion zu verhindern (vgl. Frese und die dortigen Erläuterungen zu „genetischer Drift“, in diesem Buch). Um also die innerartliche Vielfalt durch Kühllagerungstechniken (in klassischen Saatgutbanken) oder Kryokonservierung zu bewahren, müsste ebenfalls eine große Anzahl von

112 Westengen, Ola T.; Jeppson, Simon und Luigi Guarino, „Global Ex-Situ Crop Diversity Conservation and the Svalbard Global Seed Vault: Assessing the Current Status“, in: PLOS ONE, 8(5)/2013, S. 1-10. 113 Pritchard, Hugh W. und Jayanthi Nadarajan, „Cryopreservation of Ortho­ dox (Dessication Tolerant) Seeds“, in: Reed, Barbara M. (Hg.), Plant Cryo­ preservation: A Practical Guide, New York 2008, 485-503.

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Samen einer Art/Sorte kryokonserviert werden; dabei müsste man sicherstellen, dass alle Genotypen gleichermaßen erhalten bleiben. Dieses Ziel kann gegenwärtig nicht als erreicht gelten. Zur Debatte steht, ob diese Zielsetzung bei allen genetischen Ressourcen überhaupt notwendig ist. Denn auf dem agrikulturellen Weg von der natürlichen Wildpflanze hin zum Biofakt wurde die innerartliche Vielfalt in zunehmendem Maße eingeschränkt. Schon die alten Landrassen waren, wenn auch nicht systematisch gezüchtet, so doch durch menschliche Maßnahmen selektiert. Bei modernen gezüchteten Sorten ist die Homogenität des Saatgutes wenn auch nicht vollständig, so doch in hohem Maße angestrebt und sogar eine Voraussetzung für die Erteilung von Sortenschutz. Eigentumstitel werden also nur auf Basis von standardisierten Pflanzen vergeben. Bei allen vegetativ, d. h. ohne einen sexuellen Prozess vermehrten Pflanzen/Sorten, aber vor allem bei den modernen Biofakten, die Produkte biotechnologischer Methoden sind, spielt die innerartliche Vielfalt, zumindest in den auf Standardisierung abhebenden Systemen der internationalen Landwirtschaft, gar keine Rolle mehr. Bei ihnen wird vielmehr die klonale (das heißt genetisch identische) Erhaltung ohne einen sexuellen Prozess und damit ohne Veränderung der Eigenschaften angestrebt. Damit ist zumeist eine Erhaltung durch die Lagerung von Samen nicht mehr möglich, wie das Beispiel Kultur-Kartoffel zeigte. Gleichzeitig ist aber auch die Erhaltung einer großen Anzahl von Einzelindividuen, die eine bestimmte innerartliche Vielfalt repräsentieren soll, nicht mehr nötig. Denn die Spezies wird nicht mehr, wie früher, als real lebend in ihrer natürlichen Vielfalt vorausgesetzt. Die Erhaltung weniger ausgewählter Individuen, deren Genome die Biofaktgeschichte einer heutigen Sorte repräsentieren, ist nun durch Kryokonservierung in idealer Weise realisierbar. Auf diesem Feld liegt die eigentliche Bedeutung der Kryokonservierung pflanzengenetischer Ressourcen. Sie ist damit eine vor allem den Biofakten angemessene, „un“natürliche Erhaltungsform.

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Managing germplasm in a virtual European genebank (AEGIS) through networking

Abstract: The importance of Europe as a region of crop genetic diversity and its conservation is analyzed and a brief history of the conservation of plant genetic resources in Europe is presented, in the context of past political and development scenarios. The rather fragmented conservation situation that had evolved and resulted in a significant duplication of conserved germplasm and conservation efforts, diverse conservation standards and a weak coordination between countries and genebanks provided new challenges to ECPGR, a regional plant genetic resources network founded in the early 1980ies to facilitate exchange of germplasm and information among European countries. ECPGR has a strong focus on crop genetic resources conservation, information management and capacity building. In the early 2000s a virtual European genebank (i. e. AEGIS), comprising the unique and important accessions of all plant genetic resources for food and agriculture conserved in Europe, was established. AEGIS operates entirely within the legal framework provided by the International Treaty and the Convention on Biological Diversity and pays due attention to the quality of the conservation efforts. A brief description of the most important management aspects of AEGIS is given. Some controversial and philosophical considerations are presented at the end of the chapter. Zusammenfassung: Der Beitrag betont – mit einem Rück- und Ausblick – die Bedeutung Europas als Region genetischer Diversität landwirtschaftlicher Nutzpflanzen und ihrer Erhaltung. Er liefert eine kurze Geschichte der Konservierung pflanzengenetischer Ressourcen. Die eher uneinheitliche Situation resultierte in einer signifikanten Vermehrung von eingelagerten pflanzengenetischen Ressourcen und von Erhaltungsstrategien, in verschiedenen Konservierungsstandards und einer mangelnden Koordination zwischen Ländern und Genbanken. Daraus ergaben sich neue Herausforderungen für das ECPGR, ein regionales Netzwerk für pflanzengenetische Ressourcen, das in den frühen 1980er Jahren gegründet wurde, um den Austausch von pflanzengenetischen Ressourcen und Informationen zwischen den europäischen Ländern zu ermöglichen. ECPGR setzt einen starken Schwerpunkt in der Erhaltung genetischer Ressourcen von landwirtschaftlichen Nutzpflanzen, im Informationsmanagement und im Capacity Building. In den frühen 2000er Jahren wurde eine virtuelle europäische Genbank (AEGIS) gegründet, die unikate und wichtige Akzessionen aller in Europa eingelagerten pflanzengenetischen Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft enthält. AEGIS operiert im juristischen Rahmen des Internationalen Plant Treaty (ITPGRFA) und der Biodiversitätskonvention und widmet der Qualität von Erhaltungsstrategien gebührende Aufmerksamkeit. Der Beitrag liefert eine kurze Beschreibung der wichtigsten Managementaspekte der AEGIS. Am Ende finden sich einige kontroverse und philosophische Überlegungen.

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1. Introduction Political and development scenarios in Europe over the last 70 years have impacted on the decision to strengthen the collaboration between European countries for the conservation and use of plant genetic resources (PGR). Some of the main reasons for a strengthened regional collaboration are: countries in Europe have operated largely independent in the past with respect to PGR collecting and conservation; the focus and priorities of plant breeding were largely ‘country driven’; no legal framework existed until the early 1990ies (i. e. Convention on Biodiversity, CBD); and no clear and agreed technical standards for conservation existed until recently. The absence of adequate coordination had resulted in a very fragmented conservation scenario across Europe; in significant duplication of germplasm material between collections and countries (see also Graner, in this book); in very diverse quality standards across countries; in hardly any strategic research collaboration, e. g. to facilitate the use of germplasm; and, more recently, a reluctance to share germplasm owing to potential economic interest or due to uncertainties about the correct legal procedures to follow, in line with the Convention on Biodiversity and/or the FAO International Treaty. Additional aspects influencing the European PGR context were the anticipated increasing role of regional institutions in the management of Plant Genetic Resources for Food and Agriculture (PGRFA), e. g. as foreseen by the current Global Plan of Action and the International Treaty on PGRFA (“Plant Treaty”), the economic pressures to become more efficient and effective, and the technological developments (in particular on information management and molecular biology). In the early 1980ies, coinciding with the increasing worldwide alarm for the loss of genetic diversity of, in particular, traditional varieties and landraces of food crops,1 including in Europe, a regional network (ECPGR)2 was created with formal paying members. It operates under the oversight of its Steering Committee that is made up by National Coordinators and representatives of the major stakeholder institutions in Europe. The predominant focus through1 See Fowler, Cary and Pat Mooney, Shattering. Food, Politics, and the Loss of Genetic Diversity, Tucson/AZ 1990. 2 ECPGR website, A safety network for our crops, http://www.ecpgr.cgiar.org/, read on 21.12.2017.

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out its existence has been on collecting, conservation, characterization and evaluation as well as information management of crops of relevance to Europe. With respect to information management, a European documentation system, consisting of an accession-level germplasm passport data catalogue (i. e. EURISCO) and more recently also including characterization and evaluation (C&E) data, has been established to facilitate the collaboration among genebanks and countries. Capacity building, joint research and more recently the sharing of responsibilities among the members of ECPGR have been added. As a result of the declared willingness to share responsibilities during the early 2000s, an initiative was taken by ECPGR to establish “A European Genebank Integrated System” (AEGIS), with the following objective: “Conserve in a collaborative way and at agreed quality standards, the genetically unique and important accessions for Europe of all crops and making them available for breeding and research”. It was decided to operate AEGIS entirely within the political framework of the International Treaty and thus, to see AEGIS as a direct contribution of countries to the implementation of the International Treaty. The so-called European Collection, the most important output of AEGIS, was conceptualized, tools and procedures developed and agreements with countries and institutions concluded that are willing to assume specified responsibilities. Since the early 2010s, the Collection is operational, functions as a vir­ tual genebank and consists of designated accessions that are unique and important for Europe, formally placed in the public domain and under governmental control, for which countries explicitly assume long-term conservation responsibility and that are made readily available for purposes of research, breeding and training for food and agriculture.3 For the selection of European Accessions, ECPGR developed detailed requirements/criteria and procedures, to facilitate countries to identify the unique accessions from their collections. By focusing as a first step on material collected or bred in a given country it is assumed that this approach followed by all European countries will most likely result in predominantly unique accessions. Selected and designated accessions to be included in the European Collection have to be flagged in EURISCO. European Accessions are con3 E. g. the European Core Collection of garlic at the German IPK (see Graner, in this book).

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served in accordance with technical standards agreed upon at the ECPGR level by the Crop Working Groups and in agreement with the principles of the AEGIS quality management system (AQUAS). For important aspects such as safety duplication (i. e. the formal duplication of accessions for safety reasons in another genebank, preferably in a different country), distribution procedures as well as for record keeping, monitoring and reporting, detailed guidelines or policies have also been developed and agreed. It should be noted that ECPGR made arrangements with the Svalbard Global Seed Vault (SGSV) to use the Seed Vault deposit as one possible option that countries may choose to satisfy the AEGIS safety duplication requirements.4 For the time being, AEGIS is focusing on germplasm material conserved ex situ in genebanks, either as seed in cold storage, as plants in field genebanks and/or as tissue or embryos in in vitro collections, or cryopreserved in liquid nitrogen. Recently, a concept for the in situ conservation of crop wild relatives in genetic reserves in Europe has been developed. Genetic diversity is also maintained on farm, with an increasing attention to facilitate adaptation to the changing climate, and diversification of crops and agricultural systems (see Frese, in this book). In the last part of this chapter some more philosophical issues will be presented, including the dynamics of the European Collection and its accessions; the impact on the longevity of stored germplasm by different conservation methods, and the questions: how ‘artificial’ are these conservation methods?; how important is it to maintain the ‘original’ genetic make-up of an accession or is an accession allowed to change/adapt?; how important is it to achieve complementarity between in situ and ex situ conservation for the same diversity cap4 The Svalbard Global Seed Vault (SGSV) provides an additional security back-up for the world’s crop diversity by accepting adequately treated and packaged seed samples that are already stored as safety duplicates at another genebank for their non-monitored storage in the permafrost. The Seed Vault aims at safeguarding the world’s most important plant genetic resources for food and agriculture with a maximum level of security. The Seed Vault offers free-of-charge back-up for the seed collections held in genebanks around the world. Svalbard represents a remote and secure yet accessible location. The safety of the seed samples is ensured by the thick sandstone rock surrounding them and their long-term sur­ vival is ensured by the permafrost conditions that maintain the airtight seed samples well below freezing even in the unlikely event that the mechanical cool­ ing (-18 °C) should fail. The SGSV is operated by NordGen under an agreement with the Norwegian Ministry of Food and Agriculture and the Global Crop Di­ versity Trust.

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tured in accessions?; how can such complementarity be achieved?; do other complementary conservation approaches exist?; is there a fundamental ‘conflict’ between conservation and use?

2. The importance of Europe as a region of crop diversity Europe is one of the important regions of diversity worldwide, in particular the Mediterranean sub-region. In a recent study 36 crops have been reported to have originated in the European region (Table 1) and another 28 crops share their European origin with two or more regions of diversity.5 The importance of Europe as a centre of crop diversity is also demonstrated (at least to some extent) by a significant number of landraces and wild species, predominantly crop wild relatives that have been collected and are being conserved in European genebanks. A total of 252.000 accessions of traditional cultivars and landraces are reported in EURISCO, the European catalogue of plant genetic resources. In addition, a total of 139.000 accessions (or 7.5 % of total reported accessions) of wild species have been reported there. The development of crop diversity in Europe has been facilitated by early and strong links with important centres of diversity/origin of agriculture, in particular with the Fertile Crescent where many important crops have evolved. These links have existed for thousands of years and were strengthened through the ancient cultures of the Egyptians, Greeks and Romans, all bordering the Mediterranean Sea. Furthermore, links with Central Asia and China have enabled the exchange of plant diversity and the expeditions of Alexander the Great to Central Asia and India during the period from 334–323 BC should be mentioned. Furthermore, since the arrival of the first people in Europe some 45.000 years ago, migration has been a recurrent phenomenon6 and certainly contributed to the formation of plant and crop diversity as mentioned above. Also since the establishment in the modern era of the first overseas colonies 5 Khoury, Colin K.; Achicanoy, Harold A.; Bjorkman, Anne D. et al., “Origins of food crops connect countries worldwide”, in: Proceedings of the Royal Society B, 283(1832)/2016, pp. 1-9. 6 Fu, Qiaomei; Posth, Cosimo; Hajdinjak, Mateja et al., “The genetic history of Ice Age Europe”, in: Nature, 534(7606)/2016, pp. 200-205.

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Anise, badian, fennel & coriander Apples Artichokes Asparagus Cabbages Carob Carrots & turnips Cherries Chestnut Chicory roots Clover Currants Figs Gooseberries Hazelnuts Hops Leeks Lettuce

Linseed Lupins Mustard seed Oats Olives Pears Peas Peppermint Plums Poppy Rape & mustard Rapeseed Raspberries Safflower seed Sugar Sugar beet Vetches Walnuts

Table 1. List of crops that have originated in the European region (from Khoury et al. 2016).

by European countries, a significant movement of (crop) plants has taken place and a number of crops were introduced from other continents. An example of the significance of introductions to Europe is demonstrated by the list of 57 Post-Columbian crops that were brought to Europe from America.7 Besides the introduction of new crops into Europe also the creation of new varieties through professional plant breeding that started in Europe as early as the second half of the 19th century, has been an important factor of generating genetic diversity. Such breeding efforts were frequently strengthened through targeted collecting missions in centres of diversity with the aim of adding new diversity to the working/breeding collections. The above mentioned events, situations and other factors resulted in the impressive amount of crop genetic diversity and resources that can still be found in Europe and these certainly had their impact on the subsequent conservation efforts. 7 Crosby, Alfred W., The Columbian Exchange: Biological and Cultural Conse­ quences of 1492, Westport/CT 1972.

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3. Overview of the conservation efforts in Europe and worldwide Worldwide, the value of plant genetic resources in sustaining food security and thus peoples’ livelihoods has been recognized since the early 1900s. Especially plant breeding is largely depending on genetic resources for its success, a recognition that was further supported by the discovery of the inheritance laws by Gregor Mendel (1822–1884) a few decennia before and re-discovered in 1900. From this period onwards some of the first collecting expeditions were carried out worldwide by Nikolaj I. Vavilov (1887–1943) and Harry V. Harlan (the father of Jack R. Harlan, 1917–1998) to find, conserve and use plant genetic resources for research purposes and breeding programmes. N. I. Vavilov and his colleagues at the All-Union Insti­ tute for Plant Industry in Leningrad, later renamed and called VIR after Vavilov, continued to organize collecting expeditions during the 1920s and 1930s in the USSR and in over 50 countries in Asia, the Americas, Northern Africa and Europe. At the time of the outbreak of World War II, VIR maintained a national network of at least 40 satellite collections and breeding stations. The VIR seed collection in the 1930s contained the impressive number of about 250.000 samples from over 50 countries.8 After WW II, the COMECON network, possibly the first PGR network in Europe, formed a foundation for the national collections of Bulgaria, Czechoslovakia, German Democratic Republic (“East Germany”), Hungary, and Poland. Already in the 1930s, it had become evident that traditional crop varieties and adapted landraces (until then the ‘corner stones’ of any agricultural production system) were being increasingly replaced by new improved high yielding varieties, in particular of the major staple crops, and the first alarm bells were sounded.9 Systematic germplasm conservation activities outside the Soviet Union were first initiated by the UK and the German Reich around 194010 and followed later by other West European countries. However, it took until 197011 for establishing the genebanks of Braunschweig (Fed8 Plucknett, Donald L.; Smith, Nigel J. H.; Williams, John T. et al., Gene Banks and the World’s Food, Princeton/NJ 1987, chapter 3. 9 Harlan, Harry V. and M. L. Martini: “Problems and results in barley breeding”, in: Yearbook of Agriculture, Washington/DC 1936, pp. 303-346. 10 Stubbe, Hans, Geschichte des Instituts für Kulturpflanzenforschung Gatersleben der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1943–1968, Berlin 1982. 11 Karafyllis, Nicole C. and Uwe Lammers, “Big Data in kleinen Dosen. Die west­ deutsche Genbank für Kulturpflanzen ‚Braunschweig Genetic Resources Coll­

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eral Republic of Germany) and Bari (Italy), to name two of the biggest in Western Europe; Greece, the Netherlands and the Scandinavian countries followed in the 1980s. Recognizing the importance of plant genetic resources for food security in the world, in the 1970s ex situ collections were promoted by international institutions, in particular by the Food and Agri­ culture Organization of the United Nations (FAO) and the Inter­ national Board for Plant Genetic Resources (IBPGR), later the In­ ternational Plant Genetic Resources Institute (IPGRI), and now Bioversity International. During this period, international crop gene­ banks were established at research centres of the Consultative Group on Agricultural Research (CGIAR). Today there are approximately 1.750 genebanks or germplasm collections worldwide, of which an estimated 625 exist in Europe. Globally these genebanks house some 7.4 million accessions and approximately 2.0 million in Europe.12 The Second State of the World Report on plant genetic resources prepared by FAO in 200913 revealed that many of the existing collections are (still) in an unsatisfactory condition. Reporting countries and international collections mentioned a number of reasons, including excessive expansion of the collections; insufficient financial and human resources to manage these collections adequately; and backlogs of regeneration needs. Strengthened and harmonized documentation, characterization and evaluation; better linkages between in situ and ex situ conservation strategies; greater efforts to promote the use of conserved genetic resources and the mobilization of additional resources for conservation were reported as priority actions to improve the current situation. The report also showed that of the approximately 7.4 million accessions maintained in the world’s genebanks, a significant proportion are unnecessary duplicates, while the level of formal safety duplication is still low.14 These

ection‘ (1970–2006) und ihre Biofakte”, in: Technikgeschichte, 84(2)/2017, pp. 163-200. 12 FAO, Genebank Standards for Plant Genetic Resources for Food and Agriculture, rev. ed. Rome 2014; Engels, Johannes M. M. and Lorenzo Maggioni, “AEGIS: a regionally based approach to PGR conservation”, in: Maxted, Nigel; Dulloo, Mohammad E.; Ford-Lloyd, Brian V. et al. (eds.), Agrobiodiversity Conservation: Securing the Diversity of Crop Wild Relatives and Landraces, Wallingford 2012, pp. 321-326. 13 FAO, The Second Report on the State of the World’s Plant Genetic Resources for Food and Agriculture, Rome 2010. 14 Ibid.

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accessions are held mainly in seed storage facilities suitable for medium- to long-term storage and the Second State of the World Report also showed that countries in Europe held a large proportion of the collections for long-term storage. For more details on the concept of safety duplication see the section on AEGIS below. The conservation of Europe’s plant genetic resources continues to be fragmented, largely because it is still based on individual national programmes. Calls for an integrated approach to plant conservation efforts have repeatedly been launched in Europe over the last 35 years.15 Considering that genetic diversity for most crop species crosses national borders and that conservation and effective use in plant breeding programmes is facilitated when the entire genepool is considered, the aim for a closer collaboration has always seemed to be a logical goal shared and acknowledged by national programmes.

4. Need for collaboration between European countries Whereas some European countries belonged to the very first ones worldwide to start targeted genebank operations (e. g. Russia and Germany, as mentioned above), many others only started systematic conservation efforts during the second half of the last century, all with their own objectives, scope and methodology. This, in the 15 Gass, Thomas and Frank Begemann, “International efforts to sustain ex situ col­ lections: options for a closer cooperation in Europe”, in: Gass, Thomas; Frese, Lothar; Begemann, Frank et al. (eds.), Implementation of the Global Plan of Action in Europe – Conservation and Sustainable Utilization of Plant Genetic Resources for Food and Agriculture. Proceedings of the European Symposium, 30 June-3 July 1998, Braunschweig, Germany, Rome 1999, pp. 109-115; Hardon, Jaap, “Plant genetic resources conservation in Europe: a retrospective”, in: Gass, Thomas; Frese, Lothar; Begemann, Frank et al. (eds.), Implementation of the Global Plan of Action in Europe – Conservation and Sustainable Utilization of Plant Genetic Resources for Food and Agriculture. Proceedings of the European Symposium, 30 June-3 July 1998, Braunschweig, Germany, Rome 1999, pp. 3-7; Frison, Emile; Mitteau, Martine; Sharrock, Suzanne et al., “Sharing responsibili­ ties”, in: Engels, Johannes M. M and Lambert Vissers (eds.), A guide to effective management of germplasm collections. (IPGRI Handbooks for Genebanks No. 6), Rome 2003, pp. 107-121; Bothmer, Roland von, “The National Programme of Plant Genetic Resources – development and priorities in Sweden”, in: European Workshop on National Plant Genetic Resources Programmes. Report of an in­ ternational workshop, 24-26 April 2003, Alnarp, Sweden (IPGRI), Rome 2006, pp. 8-11.

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absence of coordination in the past, resulted into a very fragmented conservation and use scenario across European countries. Furthermore, this situation had also led to a significant duplication of germplasm material between collections and countries as well as to very diverse quality standards across countries.16 More recently, a reluctance to share germplasm has been noted, possibly owing to the potential economic interest of individual countries and/or due to uncertainties about the increasingly more complex legal requirements. The political and development scenarios in Europe, in particular over the last seventy years or so, have had a significant influence on the preparedness to join hands in trying to conserve the genetic wealth. Especially the Cold War and the split of Europe into two non-compatible camps did not allow east-west collaboration in the formal sense. The economic cooperation in Europe that eventually resulted in the European Union, did (and still does) not include and recognize the conservation of agro-biodiversity as a regionally coordinated effort; it was rather left to the individual sovereign states to take responsibility. Since the early 1980ies, when conservation and use of genetic resources became gradually a global issue (the establishment of the International Undertaking by the FAO member states in 1983 is an indication of that), the first collaboration efforts in Europe were made through collaborative projects (partly funded by the UNDP). The justifications and reasons for a closer collaboration among more than 40 countries in Europe over the years about researching, conserving and facilitating the use of PGRFA are manifold and include the following aspects: (1) As most of the countries had operated in the past largely independent with respect to PGR collecting and conservation, this had resulted in a huge duplication of efforts and resources across countries and ECPGR aims at reducing this. (2) Many of the European countries are rather small, and most of the crop genepools that had originated within the European region are widely spread across countries. Thus, only a close collaboration can result in effective and efficient conservation. (3) No legal framework for access and benefit-sharing existed until the early 1990ies when the Convention on Biodiversity (CBD)

16 Karafyllis and Lammers, Big Data.

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was concluded, later (in 2004) followed by the International Treaty (ITPGRFA) entering into force (see annex, in this book). Although now largely resolved, a number of legal issues still exist. (4) No clear and agreed technical standards for the conservation and (facilitation of) use existed until recently (possibly as a result of the first 3 points) and in particular within the context of AEGIS this shortcoming is being addressed. (5) The focus and priorities of plant breeding were largely country driven and are still predominantly conducted within the national context, thus resulting in a relatively sub-optimal use of the available diversity. (6) Over the past years a growing trust among the European countries with regard to PGRFA could be observed, and it is fair to conclude that ECPGR has greatly contributed to this. (7) An additional aspect that might have influenced the collaboration in Europe is the expected increasing role of regional institutions and networks in the management of PGRFA as for instance foreseen by the First and Second Global Plan of Actions as well as in the International Treaty on PGRFA. (8) The economic pressure on countries to become more efficient and effective in general and certainly in publicly funded activities, as well as the technological developments, in particular on information management and molecular biology, is yet another aspect that facilitates regional collaboration.

5. Establishment and operation of ECPGR As mentioned at the beginning of this chapter, the European Coop­ erative Programme for Plant Genetic Resources (ECPGR) was created as a collaborative programme among most European countries with the aim of ensuring the long-term conservation and facilitating the increased utilization of plant genetic resources in Europe. ECPGR operates through Working Groups, dealing with groups of crops (18) or with general themes related to plant genetic resources (3). These Working Groups are the actual coordinating platforms for technical activities of the ECPGR programme for each given phase of five years. A lean Secretariat is facilitating the work of the programme, currently hosted by Bioversity International in Rome, Italy.

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The predominant focus throughout ECPGR’s existence has been on collecting, conservation, characterization and evaluation as well as capacity building and information management of crop genetic resources of relevance to Europe. With respect to the latter, a European documentation system consisting of an accession-level germplasm passport catalogue (i. e. EURISCO), has been created and operated. Recently, EURISCO also includes characterization and evaluation (C&E) data, thus caring for all relevant information on genetic resources accessions conserved in Europe with the aim of facilitating the collaboration among genebanks and countries, providing easy access to the information and contributing to the implementation of the International Treaty and enabling the operation of AEGIS (see below). Capacity building, joint research and more recently the sharing of responsibilities among the members of ECPGR are important activities of the ECPGR Programme.

6. Legal Framework: CBD and “Plant Treaty” The Convention on Biological Diversity (CBD) was concluded in 1992 and entered into force in 1993. It was negotiated largely by representatives of ministries of environment and has a strong focus on the (in situ) conservation of wild species in natural environments. Agricultural aspects were only added at the last moment and strengthened through Resolution 3 of the Nairobi Final Act of the Conference for the Adoption of the Agreed Text of the Convention on Biological Diversity.17 In this Resolution, FAO was given the responsibility to seek solutions for some outstanding issues concerning plant genetic resources within the Global System for the Conservation and Sustainable Use of Plant Genetic Resources for Food and Sustainable Agriculture, in particular, (a) access to ex situ collections not acquired in accordance with this Convention; and (b) the question of farmers’ rights. The CBD is a framework agreement between states on the conservation, sustainable use and exchange of biological diversity (at 17 CBD, Handbook of the Convention on Biological Diversity. Section IX Nairobi Final Act of the Conference for the adoption of the agreed text of the Convention on Biological Diversity, 32005. Online at https://www.cbd.int/doc/handbook/ cbd-hb-09-en.pdf, read on 21.12.2017.

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the ecosystem, species and within-species levels) and its activities are squarely placed in the context of sustainable development and translating the principles of Agenda 21 into reality. Since the conclusion of the CBD several specific agreements have been reached, including the Cartagena Protocol on Biosafety (which aims to ensure the safe handling, transport and use of living modified organisms (LMOs) resulting from modern biotechnology that may have adverse effects on biological diversity, taking also into account risks to human health), the Nagoya Protocol on Access to Genetic Re­ sources and the Fair and Equitable Sharing of Benefits Arising from their Utilization to the CBD (which aims at sharing the benefits arising from the utilization of genetic resources in a fair and equitable way) and a number of Thematic Programmes and Cross-Cutting Issues. The Thematic Programmes include Agricultural Biodiversity, Dry and Sub-humid Lands Biodiversity, Forest Biodiversity, Inland Waters Biodiversity, Island Biodiversity, Marine and Coastal Biodiversity and Mountain Biodiversity. Each programme establishes a vision for, and basic principles to guide future work and provide very useful ideas and tools for their implementation. They also set out key issues for consideration, identify potential outputs, and suggest a timetable and means for achieving these.18 The International Treaty on Plant Genetic Resources for Food and Agriculture (the Treaty) was adopted in November 2001 and entered into force in June 2004. The conservation and sustainable use of plant genetic resources for food and agriculture are key to ensuring that the world will produce enough food to feed its growing population in the future. In 1983, the Commission on Genetic Resources for Food and Agriculture was established,19 and the voluntary International Undertaking on Plant Genetic Resources20 was adopted. Another major step was taken in 1996 with the adoption of the Global Plan of Action at the Leipzig International Technical Conference on Plant Genetic Resources.21

18 CBD website, Thematic Programmes and Cross-cutting Issues, https://www.cbd. int/programmes/, read on 21.12.2017. 19 FAO website, Commission on Genetic Resources for Food and Agriculture, http://www.fao.org/nr/cgrfa/cgrfa-home/en/, read on 21.12.2017. 20 FAO website, International Undertaking, http://www.fao.org/nr/cgrfa/cgrfaabout/cgrfa-history/en/, read on 21.12.2017. 21 FAO website, Global Plan of Action, http://www.fao.org/agriculture/crops/corethemes/theme/seeds-pgr/gpa/en/, read on 21.12.2017.

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The Treaty aims at recognizing the enormous contribution that farmers have made to the diversity of crops that feed the world; to establish a global system to provide farmers, plant breeders and scientists with access to plant genetic materials; and to ensure that recipients share benefits deriving from the use of these genetic materials with the countries where they have been originated. To achieve these aims a number of provisions have been generated, including: – The multilateral system (MLS) on facilitated access and bene­fitsharing rules covers 35 of the most important food crops (including most of their wild relatives) and 29 grassland and fodder species, through their inclusion in Annex I. The genetic resources being part o in the MLS are formally placed in the public domain, are under governmental control and management and are freely available to potential users in the Treaty’s ratifying nations for some uses. – Access and benefit sharing: The Treaty facilitates access to the genetic materials of the 64 crops included in Annex I that have been made part of the Multilateral System for research, breeding and training for food and agriculture. Those who access the materials must be from the Treaty’s ratifying nations and they must agree to use the materials exclusively for research, breeding and training for food and agriculture. The Treaty prevents the recipients of genetic resources from claiming intellectual property rights over those resources in the form in which they received them, and ensures that access to genetic resources already protected by international property rights is consistent with international and national laws. To access material as described above a so-called Standard Material Transfer Agreement (SMTA) will have to be concluded between the provider and the recipient of the germplasm. In the SMTA the recipient agrees to share any benefits from their use through four benefit-sharing mechanisms established by the Treaty as well as some specific conditions for making such germplasm available to other users. – Farmers’ rights: The Treaty recognizes the enormous contribution farmers have made to the ongoing development of the world’s wealth of plant genetic resources. It calls for protecting the traditional knowledge of these farmers, increasing their participation in national decision-making processes and ensuring that they share in the benefits from the use of these resources.

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– Sustainable use: Most of the world’s food comes from four main crops – rice, wheat, maize and potatoes. However, local crops, not among the main four, are a major food source for hundreds of millions of people and have potential to provide nutrition to countless others. The Treaty helps maximize the use and breeding of all crops and promotes development and maintenance of diverse farming systems.

7. The establishment and operation of AEGIS As a result of the declared willingness of countries to share (more) responsibilities with respect to the conservation of PGR, during the early 2000s an initiative was taken by ECPGR to establish A Eu­ ropean Genebank Integrated System (AEGIS), with the following goal: “Conserve in a collaborative way and at agreed quality standards, the genetically unique and important accessions for Europe of all crops and making them available for breeding and research.”22 As per the Memorandum of Understanding (MoU) that has been concluded with each of the AEGIS member countries the following are the agreed objectives: (I) To develop a more efficient regional system of conservation and sustainable use of PGRFA through the setting up of a European Collection. (II) To promote and undertake other collaborative action for the rational conservation, management and sustainable use of PGRFA. (III) To facilitate the exchange of PGRFA in accordance with stan­ dard terms and conditions of exchange. (IV) To promote the exchange of information regarding PGRFA among the Parties, other stakeholders and the broader conservation community; and (V) To provide a mechanism for regional cooperation in the implementation of the International Treaty in the European region.

22 ECPGR, A Strategic Framework for the Implementation of a European Gene­ bank Integrated System (AEGIS). A Policy Guide. European Cooperative Pro­ gramme for Plant Genetic Resources (ECPGR), Rome 2009.

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It was decided (i. e. objective 5) to operate AEGIS entirely within the political framework of the International Treaty and thus, to see AEGIS as a direct contribution of countries to the implementation of the International Treaty. The so-called European Collection (i. e. objective 1) is the most important output of AEGIS and was conceptualized as a virtual genebank of which the so-called Associate Member genebanks form the foundation. Specific tools and procedures have been developed and agreed upon with all the countries through the Steering Committee. As already mentioned above, a MoU has been concluded with each AEGIS member country. Furthermore, so-called Associate Agreements have been concluded between the respective National Coordinator and genebanks or genetic resources collections in that country to establish a formal basis for the collaboration.23 Details on AEGIS can be obtained from its official website.24 Since the early 2010s the European Collection is operational, functions as a virtual genebank and consists of designated accessions that respond to the following obligatory requirements: (1) Material under the management and control of the member countries and their Associate Members, in the public domain and offered by the Associate members for inclusion into AEGIS. (2) Genetically unique within AEGIS, to the best available knowledge (i. e. genetically distinct accessions, assessment based on available data and/or on the recorded history of the accession). (3) Plant genetic resources for food and agriculture as defined in the International Treaty, as well as medicinal and ornamental species. (4) European origin or introduced germplasm that is of actual or potential importance to Europe (for breeding, research, education or for historical and cultural reasons). The European Accessions are conserved for the long-term by the AEGIS member countries and its Associate Members, as per the aforementioned Associate Membership agreement, and are being

23 Engels and Maggioni, PGR conservation. 24 ECPGR website, http://www.ecpgr.cgiar.org/aegis/aegis-homepage/, read on 21.12.2017.

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made readily available under the same terms and conditions defined by the International Treaty to any user for purposes of research, breeding and training for food and agriculture. For the operation of the European Collection a number of tools and instruments have been developed and endorsed by the Steering Committee. They form part of the AEGIS Quality System (AQUAS) and include: (I)

Generic and crop specific standards for the management of the respective crop genepool collections. Whereas the FAO stan­ dards agreed upon in 201425 have been widely accepted by the Crop Working Groups, some Groups added more crop specific standards26 in order to manage the virtual collection more effectively. (II) A safety duplication policy.27 As this is an important routine conservation activity, but with very different degrees of implementation, it was decided to provide a detailed policy to the Associate Members on the actual distribution of European Accession material to users worldwide. Each accession should ideally have at least one clearly identified safety-duplicate that could be used as a back-up in case the original went lost. A formal arrangement is necessary to identify the back-up sample and to have the respective conservation and distribution responsibilities clearly assigned. On the other hand, duplicates created outside of a formal safety arrangement are unnecessary from the point of view of a collection (such as the European Collection) that is meant to efficiently share resources and responsibilities among all the European countries. (III) Guidelines for the distribution of germplasm material from the European Collection.28 As for the conservation approaches at large, also the actual distribution policy of material included in the European Collection needed to be standardized in order to ensure a unified and harmonized approach between all the 25 ECPGR website, Genebank standards, http://www.ecpgr.cgiar.org/aegis/aquasquality-management-system-for-aegis/genebank-standards/, read on 21.12.2017. 26 FAO, Standards. 27 ECPGR website, Policies – Safety duplication, http://www.ecpgr.cgiar.org/aegis/ aquas-quality-management-system-for-aegis/policies/, read on 21.12.2017. 28 Engels, Johannes M. M. and Lorenzo Maggioni, AEGIS Guidelines for Distribu­ tion of Material from the European Collection, Rome 2013.

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Associate Members.29 Some examples of these Guidelines are that all germplasm samples for research, breeding and training will be provided under a Standard Material Transfer Agreement (SMTA), that the information about any request will be treated confidentially and that the providers of germplasm material will only attend to large requests if these are adequately justified. (IV) The Steering Committee endorsed a document on ‘Record keeping, reporting and monitoring of the European Collection’.30 This document is an important element of the quality control aspect. It has been intended to make especially the reporting requirements as ‘light’ as possible. Furthermore, it should be noted that ECPGR is weary to have a ‘policing’ approach. Instead, capacity building has been seen as the more effective and successful way forward. (V) The Secretariat also created a template for the development of an operational genebank manual by the Associate Members.31 Such manuals will allow the recipients of the germplasm (and others) to learn in detail how a given Associate Member genebank has managed its accessions and thus to provide the foundation for AQUAS. In view of the fragmented situation with respect to conservation and use of PGR in Europe and the resulting unwanted duplication of accessions in two or more genebanks and countries, ECPGR had originally formulated selection requirements and criteria to select the unique accessions from the collective pool of conserved germplasm by the AEGIS member countries. The requirements of the selected accessions are listed at the beginning of this section. Furthermore, in order to guide the selection of the ‘best accession’ among the group of duplicates (in some cases crop specific) criteria were formulated. Initially, the selection responsibility was given to the Crop Working Groups as it was assumed that they would have 29 ECPGR website, AEGIS Guidelines, http://www.ecpgr.cgiar.org/fileadmin/ templates/ecpgr.org/upload/AEGIS/FOR_WEB_FINAL/AEGIS_Guidelines_ for_Distribution_of_Material_from_the_European_Collection_30.12.2013_ COr­rected.pdf, read on 21.12.2017. 30 Engels, Johannes M. M. and Lorenzo Maggioni, Record keeping, reporting and monitoring of the European Collection, Rome 2016. 31 ECPGR website, Template, http://www.ecpgr.cgiar.org/aegis/aquas-quality-ma­ nage­ment-system-for-aegis/template/, read on 21.12.2017.

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the technical expertise to make the best possible decisions when selecting European Accessions from the respective crop genepools and known accessions maintained by the countries. As this process turned out to be rather complex it was agreed by the Steering Committee to request the member countries as a first step to identify from their holdings the accessions which had been originated in the country, either collected or bred. By focusing (as a first step) on material collected or bred in a given country it is assumed that this approach, if followed by all European countries, will most likely result in predominantly unique accessions and thus will lead to only limited debate among countries and Working Groups. Individual selected and designated (i. e. formally accepted by National Coordinator) accessions to be included in the European Collection have to be flagged in EURISCO. European Accessions are conserved in accordance with above-mentioned technical standards agreed upon and in agreement with the principles of AQUAS.

8. Current status of AEGIS/European Collection At present, AEGIS is still clearly focussing on ex situ conservation of germplasm material in genebanks, either as seed in cold storage (approximately 97.3 % of the accessions included in the European Collection), as plants in field genebanks (1 %) and/or as tissue or embryos in in vitro collections (1 %), or cryopreserved in liquid nitrogen (0.7 %). The total number of accessions formally included in the European Collection (on 6.3.2018) was 34.334. Details on which countries have included accessions in the European Collection can be found in Table 2. It is noteworthy that the growth of the European Collection is rather slow, as only 1.75 % of the accessions documented in EURISCO have been included into the European Collection in March 2018, after AEGIS entered into force in July 2009. From interactions with National Coordinators and scientists from a number of countries, some sort of reluctance was felt to include identified accessions into the European Collection. Some of the presumed reasons that have led to this reluctance include: fear to assume responsibilities with financial cost implications; complex decision-making procedures; appearance of conflicting (real or perceived) interests among

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Johannes M. M. Engels and Lorenzo Maggioni 8  22 341  90  1.341  89  14.183

Latvia

27 

Lithuania

36

Netherlands

5.853 

Nordic Countries

3.708 

Poland

444 

Romania

623 

Slovakia

299 

Switzerland

5.611

United Kingdom

1.659 

TOTAL

34.334 

Table 2. Number of accessions included in the European Collection by country (status per 06.03.2018).

different national stakeholders (i. e. environment vs. agricultural ministries); and lack of national coordination mechanisms. In order to move the ‘designation’ process of accessions to the European Collection forward, a paper on the “Benefits of establishing and operating a European Collection of unique and important germplasm” had been prepared32 and discussed with the Steering Committee. Recently, a concept for the in situ conservation of crop wild relatives in genetic reserves in Europe has been developed33 and concrete suggestions were made to identify Most Appropriate Wild Populations and designate them for active in situ conservation, mir32 Engels, Johannes M. M. and Lorenzo Maggioni, Benefits of establishing and operating a European Collection of unique and important germplasm, Rome 2015. 33 Maxted, Nigel; Avagyan, Alvina; Frese, Lothar et al., ECPGR Concept for in situ conservation of crop wild relatives in Europe. Wild Species Conservation in Genetic Reserves Working Group, Rome 2015.

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roring the process used in AEGIS for accession recognition at the European scale. This type of development will become more realistic whenever the European countries will collectively agree to facilitate access of in situ wild populations to users according to appropriate mechanisms and under the same standard terms defined by the International Treaty.

9. Some challenges and an outlook towards future developments 9.1 The dynamics of the European Collection and its accessions That the European Collection develops rather slowly has a direct impact on the anticipated benefits of the Collection, as many of these benefits are dependent on an adequate representation of the total genetic diversity for a given crop genepool in the virtual Collection. This critical point has not yet been reached for any of the crop genepools. At present only a few countries have decisively moved forward by starting to place accessions that are under control and management of their respective government of many of the crop genepools (and certainly of most of the major crops) into the European Collection whereas many other countries are still in the process of making their selections. As the inclusion of germplasm accessions into the European Collection is a rather ‘formal’ process (as countries and genebanks formally accept the responsibility to provide access and long-term conservation) it can be expected that it will take several years before such process will be concluded, unless increased priority is given to the process at country or regional level. As already mentioned and has been experienced by some of the Crop Working Groups, the second stage of selecting unique and important accessions (i. e. selecting accessions among duplicates) is more complex and timeconsuming. Another aspect of the dynamics of the European Collection is the possibility for countries to ‘deflag’ accessions (and thus to remove them) from the Collection, in case a mistake has been made or for whatever other reason. The only ‘condition’ for deflagging is that the reason(s) is/are mentioned in EURISCO. Examples for such reasons could be that the accession in question has no more viable seeds, or has been identified as a duplicate or funding for its main-

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tenance is no longer available and therefore the accession should be “adopted” by a different institution. It is hoped that thus the European Collection remains rather flexible and dynamic and more attractive for countries to join and include material. 9.2 Germplasm conservation, methods used and longevity As noted above, germplasm can be stored in a number of different ways. The most common and possibly the best known and researched method is the storage of so-called orthodox seeds (they can be dried to a recommended seed moisture content (smc) between 3 and 7 % water content, depending on the species) and stored under low temperature (for long-term conservation a temperature of -18 degrees Celsius is recommended; method a). The optimum smc of orthodox seeds varies with the species and would allow seed storage for several decennia, especially when stored at lower temperatures. The advantage of seed storage is certainly that bigger numbers can be stored at relatively low cost and thus, also genetically nonuniform accessions (as most of the landraces and crop wild relative populations) can be maintained without compromising the genetic integrity of such accessions (see next section). Long-term conservation will be more difficult if no seeds are available for storage, i. e. in case of sterile species; or if they are recalcitrant (i. e. they ‘resist’ long-term storage as they cannot be dried to lower smc and consequently cannot be stored for long, if at all, at low or even ambient temperatures). Also crops that are vegetatively propagated (fruit trees, potatoes, pineapples, etc.) cannot be maintained as seed, since successful parental genotypes would be lost in the recombinant progeny (see Flachowsky and Höfer, in this book). In these cases, the accessions need to be maintained as living plants in a field genebank (method b) or as tissue/embryos/cell suspensions either at cool temperature (as so-called slow-growth in vitro collection; method c) or stored in liquid nitrogen (i. e. cryopreserved; method d); or ideally implementing more than one of the above methods for safety precautions. Of the above mentioned methods, a) and d) have the potential of maintaining the longevity of seed and tissue/embryo/etc. for a long period, up to 100 years and more depending on the species (but with regular viability monitoring recommended in order to remain on the safe side!). Plants maintained in a field genebank (trees or other

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perennials) can survive for the lifetime of the given individuals, despite the continued exposure to the ‘environment’, including pests and diseases, when properly managed. It should be noted that the stored germplasm might have to be regenerated when viability decreases or the stocks are depleted and this operation might affect the genetic integrity, if not properly done. Besides seeds, tissues, embryos, cell suspensions and living plants, also pollen might be used for storage (a number of species produce long- and well-storable pollen; however, it only represents the male part of the genome and one also needs a female plant and an embryo to obtain the next generation). More recently also DNA is being stored (in this case no plants can be regenerated; the DNA can only be used as part of a molecular genetics programme or as a deposit of genetic information). All these ex situ conservation methods depend to a varying degree on permanent management, thus have a variable cost and potential vulnerability. On the other hand, accessions maintained in farmers’ fields (especially relevant for landraces and traditional varieties, but also weedy materials as part of a production system) or in natural habitats (crop wild relatives; wild plants used for food) are exposed to the changing environment and thus can adapt to new conditions (both, natural as well as cultural). They are also susceptible to genetic erosion or even extinction, if the climatic or cultural conditions change drastically (and this was the main reason to establish genebanks in the first place!). It is interesting to observe that the conservation methods, starting from nature conservation, on farm management and ex situ methods such as seed conservation, field genebank and in vitro collections, including the use of cryopreservation and ending with DNA storage are increasingly more complex, use more advanced technologies and are thus more dependent on human involvement. At the same time, also the related costs increase whereas the possibility for the conserved material to evolve decreases or even disappears! 9.3 Maintaining the genetic integrity and identity of accessions One of the objectives of ex situ conservation is to maintain the genetic integrity (i. e. maintaining the ‘original’ genetic composition of a genetic resource’s sample/accession) and identity (which is

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documented by the descriptive information about a sample/accession, including its precise origin, possible names, characterization data, photographic material, herbarium and reference sample, and possibly other aspects) of accessions as close as possible to that of the original samples. Not only the biological parameters of a given species dictate the efforts that will be required to achieve this, also the genetic make-up of an accession can cause difficulties to achieve this. Ex situ conservation intends to adequately represent the genetic diversity of a given population (in the case of crop wild relatives or landraces), a traditional or modern variety or whatever in the sample that is being collected in a farmer’s field, in nature or wherever. The genetic composition of such a sample, that becomes an accession when added to the genebank collection, varies from a complete heterogeneous population of individuals (in the case of, for instance, out-crossing CWRs and landraces) to completely uniform material (in the case of inbreeding species or clones). The maintenance of this genetic composition during conservation, i. e. keeping its integrity intact, is being seen as the most important task of the responsible genebank.34 It should be noted that genebank curators have to make conscious decisions how best to proceed for instance in case of heterogeneous and/or mixed accessions that under ex situ conservation are expected to be conserved while maintaining the genetic integri­ ty of the original sample and at the same time the use of such accession will be increased/facilitated if and when relevant information on its content can be provided. The latter might well mean that one has to split such a heterogeneous accession into its genetic components and to characterize/evaluate these components and treat them as sub-samples and/or separate accessions.35 This very constraint might also apply to material maintained in situ/on-farm as populations or heterogeneous material such as landraces are difficult to access and to characterize/evaluate as a population or mixed landrace in its entirety.

34 For details see for instance Engels, Johannes M. M. and Lambert Vissers (eds.), A guide to effective management of germplasm collections. (IPGRI Handbooks for Genebanks No. 6), Rome 2003. 35 Sackville Hamilton, Nigel R.; Engels, Johannes M. M.; van Hintum, Theo J. L. et al., Accession management. Combining or splitting accessions as a tool to improve germplasm management efficiency. (IPGRI Technical Bulletin No. 5), Rome 2002.

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The maintenance of the genetic identity of a given accession has largely to do with management practices by the genebank in question, i. e. basically to not make mistakes while handling the material or its related information. It is essential that every individual accession does not get contaminated by being crossed or mixed or confused with others and that ‘checks’ and procedures are built into the routine operations to monitor and verify the identity of each and every accession. Routine conservation operations such as regeneration of accessions can place a heavy burden on genebanks to maintain the genetic integrity as this might require costly measures (e. g. genetic isolation of accessions from each other; need for special equipment and conditions such as insect pollinators; need to initially discover suitable germination and growing conditions of little studied wild material). In summary, specialized knowledge of the individual crops/species that are being maintained in a genebank is needed to obtain optimal results (and this is sometimes problematic). In the case of in situ (natural habitat and on-farm) conservation the aim of maintaining the genetic integrity and identity of a given population or landrace might vary with the precise purpose of the conservation effort (see Frese, in this book). Most typically, the aim is to allow the conserved or managed material to evolve with the changing conditions of the environment and/or of the management practices, still without losing the intrinsic variation and the characterizing traits. Therefore, in situ conservation is usually dynamic, allowing the material to adapt to new situations, whereas ex situ conservation is rather static, i. e. no changes are expected in the conserved material. 9.4 Complementarity between in situ and ex situ conservation approaches Considering the different objectives of in situ and ex situ conservation with respect to the genetic integrity of accessions, and recognizing that both these conservation approaches have their strengths and weaknesses when looking at specific aspects such as accessibility, availability, identity, safety (and others)36 of the conserved material, it becomes clear that in an ideal world one would want to 36 For more details, see Engels and Vissers, Germplasm collections.

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combine the strengths and eliminate the weaknesses, to the extent possible. Thus, to achieve the best possible scenario one will have to combine the two conservation approaches to achieve the optimum, i. e. to have the two approaches to complement each other. However, there are numerous hurdles to jump and challenges to master as part of the conservation and use efforts, including administrative challenges. As an example, the Ministry of Environment is typically responsible for the implementation of the CBD, i. e. predominantly the in situ approaches, whereas in most countries the Ministry of Agriculture is responsible for the implementation of the International Treaty (ITPGRFA) and thus for the conservation of crop genetic resources, largely conserved ex situ. Thus, it would be critically important to bring institutions that deal with these different approaches into one and the same coordination set-up, for instance in the national programme for PGRFA. It would also require that those local stakeholders such as farmers, farmers’ organizations, (local) breeders and researchers, local politicians, representatives of local conservation projects and others are adequately involved and represented in oversight and steering bodies. Not only at the oversight-level is the involvement of local stakeholders important, also in the conservation activities themselves it is crucially important to engage them in order to achieve sustainable and effective conservation efforts. Ideally, such stakeholders should become, whenever possible, the beneficiaries of the conservation, and certainly not the ones that would experience disadvantages as a result of potential restrictions to their economic activities. It has been experienced that an adequate involvement of stakeholders in the planning and implementation of the conservation activity might be a pre-condition to achieve a sustainable and long-lasting approach. In fact, it can be stated that conservation efforts function better if and when a broad participation and support for the operations can be obtained. This is true not only at the local (community) level, but also at the provincial, national, regional and global level! Complementarity of conservation methods can also be important within ex situ conservation by combining for instance accessions maintained in a field genebank with in vitro conservation, in particular cryopreservation as that would allow a long-term approach. In addition, by using tissue culture as an intermediate step this procedure could be used to also eliminate especially viruses from the tissue material. One could also think of using pollen as a complementary approach to field genebank or in vitro conservation, just by

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increasing the options and spreading and even reducing the risk of losing material. More details on complementary or integrated conservation can be found in Engelmann and Engels (2002).37 9.5 Potential ‘conflict’ between conservation and use? AEGIS has a clear focus on effective and efficient conservation, but its primary aim is to facilitate the use of the conserved genetic resources. Usefulness of conserved accessions is enhanced through their characterization and evaluation, by making this information more readily available to users (through EURISCO) and by seeking and adopting germplasm management practices that make the use of the material easier and more targeted. There is no conflict between conservation and use. The two objectives can be achieved through good genebank management and, moreover, conservation without use would be hardly justifiable. An example of a situation where the genebank curator has to make ‘difficult decisions’ to combine long-term conservation with facilitating use is the storage of cryopreserved tissue and the need for alternative storage approaches as it might take too long to obtain flowering plants from cryopreserved tissue. In such cases it seems to be justified to manage a field genebank in parallel to the cryopreservation. In general, it should be noted that different concepts with respect to conservation have evolved and can be experienced during political discussions in meetings of for instance the CBD and the International Treaty. Some of the recurrent issues are the apparent conflict between agriculture and conservation of biodiversity, the ownership over genetic resources and related information, and the use of (debated) molecular technologies to breed new varieties.

37 Engelmann, Florent and Johannes M. M. Engels, “Technologies and strategies for ex situ conservation”, in: Engels, Johannes M. M.; Rao, V. Ramanatha and Anthony H. D. Brown (eds.), Managing Plant Genetic Diversity, Wallingford 2002, pp. 89-103.

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10. Some conclusions and outlook It has been widely recognized that the continued loss of (agricultural) biodiversity can only be stopped or reduced through targeted, effective and efficient conservation efforts. This is indeed a critical recognition in order to ensure that we keep options open for future generations to decide what to grow and to eat. These options are dependent on the availability of genetic diversity, both at the crop as well as at the within-species level, to allow the development of adapted varieties for the cultivators during periods with drastic changes in the environment, among others caused by climate change. As the distribution of genetic diversity of crops and other potentially useful species does not follow political borders, and considering the fact that in regions such as Europe countries are very diverse in size, economic strength, agricultural history and other aspects that might impact on the effective and efficient conservation, a wellcoordinated effort at the regional level seems to be indispensable. Such collaboration also contributes to a more effective and powerful utilization of the conserved diversity. As part of the regional collaboration, ECPGR had decided to take an initiative that would directly address rational, effective and efficient conservation and use. The initiative builds on the long-term commitment of countries to conserve unique and important germplasm material and to make this readily available to users. The development and operation of a quality management system, including agreed standards as well as reporting and monitoring responsibilities, is a crucial element of AEGIS. The European Collection is operational but still growing rather slowly. The related administrative burden on countries and the required long-term commitment seem to be the main reason for the slow growth. Whereas the complementarity of in situ and ex situ conservation is a logical and important concept, and possibly indispensable to achieve an effective and efficient conservation, it should be realized that regional collaboration, certainly in Europe but possibly also elsewhere, is more advanced for the ex situ side. This is partly because ex situ approaches on a larger level were implemented earlier and that targeted research on genebank conservation practices started earlier than for in situ conservation (see Frese, in this book). It was only with the conclusion of the CBD that in situ conservation of crop genetic resources became more widely accepted and used. Furthermore, in situ conservation approaches are typically country-

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specific and often independently implemented at the local level. As a consequence, regional coordination is difficult and possibly not even that essential to achieve successful in situ conservation programmes. It is possibly the national legal and policy framework that will be important to facilitate local and community initiatives and that seems to be the area where ECPGR and collaboration can make its contributions through the development of model legislation and policies. Considering the above, in particular the constraints of ex situ conservation to conserve all genetic diversity in genebanks and thus, the indispensability of ensuring effective and efficient in situ conservation, the need to integrate conservation ‘thinking’ more widely into the daily life of the average people seems an important prerequisite. It is clear that this can only be achieved with the necessary political support. There is a need to understand that regional (or wider) collaboration for conservation makes more sense than raising barriers across countries, in order to increase the efficiency as well as to widen the diversity of genetic material that everyone should be able to use. Furthermore, multilateral approaches seem to be better aligned with regional and international collaboration than nationalistic thinking. Ideally, a strong incentive to collaboration could be promoted by the European Union, should a EU Strategy on Genetic Resources for Food and Agriculture (EU Agrobiodiversity Strategy) be developed and implemented with an attached regional budget. On the other hand, the recent EU Regulation for the implementation of the Nagoya Protocol sets a few standards relating to users’ compliance with international agreements on access to germplasm and sharing of the benefits, but it falls short of defining a common approach on the provision of access to the material. This opens the door to a continued fragmentation into different national approaches with the risk of increasing uncertainty and bureaucracy in providing/obtaining access with little benefit either for the community of stakeholders or for the interests of each individual country.

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II. Samenbank, Genbank, Datenbank, Biologisches Ressourcenzentrum: Lebendsammlungen des Kultivierten

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Andreas Graner

Bewahren und Nutzen: Die Sammlungen von Kulturpflanzen am IPK Gatersleben

Abstract: Ex situ genebanks play a central role in conserving the genetic diversity of crop plants, which have been created by man since the late Neolithic. This cultural legacy represents an important biological resource for the future improvement by plant breeding. Of the vast number of samples that are maintained in more than 1.750 genebanks worldwide, only a small portion has been used up to now. This is due to the lack of information regarding the genetic composition of individual samples and their phenotypic performance regarding agronomic traits. As exemplified by the federal ex situ genebank located at the Leibniz Institute for Plant Genetics and Crop Plant Research (IPK), the value of collections will be leveraged by systematic capturing PGR-related information and by extending traditional genebanks into biologicaldigital resources centers that will transform the empirical use of PGR into a knowledge driven process. Zusammenfassung: Ex situ-Genbanken spielen eine bedeutende Rolle bei der Bewahrung der biologischen Vielfalt von Kulturpflanzen, die vom Menschen seit dem Neolithikum geschaffen wurden. Dieses kulturelle Erbe ist eine wichtige biologische Ressource für zukünftige Verbesserungen durch die Züchtung. Von der hohen Anzahl der Muster, die in mehr als 1.750 Genbanken weltweit bereitgestellt werden, ist bislang nur ein kleiner Teil nutzbar gemacht worden. Ein wichtiger Grund hierfür ist der Mangel an Informationen zur genetischen Zusammensetzung einzelner Muster sowie zur phänotypischen Ausprägung agronomisch relevanter Eigenschaften. Wie am Beispiel der bundeszentralen Ex situ-Genbank am Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) aufgezeigt wird, stellt die systematische Erfassung genbankbezogener Informationen einen wichtigen Schritt zu der Inwertsetzung ihrer pflanzengenetischen Ressourcen (PGR) dar. Damit einher geht die Transformation von der klassischen Genbank hin zu einem biologisch-digitalen Ressourcenzentrum, wodurch die bislang weitgehend empirische Nutzung von PGR in einen wissensbasierten Prozess überführt wird.

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Andreas Graner

1. Einleitung Vor etwa 10.000 Jahren begann die Sesshaftwerdung des Menschen. Aus Jägern und Sammlern wurden Hirten und Ackerbauern. Voraussetzung für diese auch als Neolithische Revolution bezeichnete gesellschaftliche Entwicklung war die Selektion geeigneter Nutzpflanzen und Haustiere durch unsere Vorfahren. Durch diesen Prozess der Domestikation wurden Tiere und Pflanzen an die Bedürfnisse des Menschen angepasst. Der Aufbau dieser mutualistischen Beziehung bedeutet, dass der Mensch ohne tierische und pflanzliche Produkte aus der Landwirtschaft nicht überleben kann. Umgekehrt benötigen Nutzpflanzen und Haustiere für ihre dauerhafte Existenz die Hilfe des Menschen. Entsprechend dieser engen Wechselbeziehung kann die Vielfalt (Biodiversität) der Nutzpflanzen nur mit Hilfe des Menschen bewahrt werden. Eine wichtige Rolle spielen hierbei Genbanken, in denen Kulturpflanzen unterschiedlicher Arten ex situ, also außerhalb ihres natürlichen Lebensraums, erhalten werden. Weltweit existieren 1.750 Pflanzengenbanken, in denen 7,4 Mio. Muster (Akzessionen)1 im Wesentlichen in Form von Samen, seltener in Form von Knollen, Zell- oder Dauerkulturen vorgehalten werden.2 In 130 Genbanken befinden sich jeweils über 10.000 Muster, so auch in der des hier vorzustellenden Leibniz-Instituts für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) in Gatersleben (Sachsen-Anhalt). Die Sammlung umfasst gut 150.000 Muster von landwirtschaftlich und gärtnerisch genutzten ackerbaulichen Kulturpflanzen sowie vielen damit verwandten Wildarten („crop wild relatives“, CWR), insbesondere Gerste und Weizen.3 Diese 1

„Akzession“, der für Sammlungseinheiten und ihre Objekte verwendete Begriff, ist strenggenommen nicht identisch mit „Muster“, soll aber aus Gründen der besseren Lesbarkeit hier so verwendet werden. Ein Muster ist als erworbene oder zugegangene Partie bzw. eine Menge Saatgut zu verstehen, inklusive ihres Tütchens. Bei heterogenen Samen im Muster können daraus aber später mehre­ re Untermuster geformt werden. Die Muster werden also vor Übernahme in die Sammlung zunächst phänotypisch geprüft (d. h. die Samen aufwachsen lassen und sehen, ob sich die gleichen Pflanzen aus ihnen entwickeln). Erst nach Fest­ stellung der Homogenität wird eine Akzession daraus. 2 FAO, The Second Report on the State of the World’s Plant Genetic Resources for Food and Agriculture, Rome 2010. 3 Das IPK verfügt über zwei Außenstellen, die Außenstelle Nord in Groß Lüsewitz (Schwerpunkt: Kartoffelsammlung und -forschung) und die Außenstelle auf der Insel Poel (Schwerpunkt: Gräser, Öl- und Futterpflanzen).

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Die Sammlungen von Kulturpflanzen am IPK Gatersleben

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repräsentieren 2.933 botanische Arten aus 776 Gattungen.4 Damit zählt die IPK-Genbank zu den weltweit größten Einrichtungen. Die bundeszentrale Ex situ-Genbank für landwirtschaftliche und gärtnerische Kulturpflanzen ist eine wichtige Säule der 2007 vom Bundeskabinett beschlossenen Nationalen Strategie zur bio­ logischen Vielfalt.5 Diese wurde in Folge des Weltgipfels für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg (2002) geschaffen. Die Ziele der Nationalen Strategie im Aufgabenbereich des Bundeslandwirtschaftsministeriums („Agrobiodiversitätsstrategie“) bestehen darin, die Infrastrukturen zur Erhaltung nachhaltiger Landwirtschaft abzusichern und zu verbessern, die internationale Zusammenarbeit zu befördern sowie Strategien zur Bewahrung und Nutzung der genetischen Ressourcen in den Bereichen Pflanze, Tier, Fisch, Forst und Mikroorganismen zu entwickeln.6 Im Falle des IPK und der mit ihm vernetzten Institutionen wie der Deutschen Genbank Obst und der Deutschen Genbank Reben (s. Flachowsky und Höfer sowie Maul, in diesem Buch) geht es um die Erhaltung und Nutzung agrarisch relevanter pflanzengenetischer Ressourcen (PGRFA). Zusammen mit weiteren Spezialsammlungen, wie einheimischen Wild- oder Zierpflanzen trägt die Genbank des IPK maßgeblich zum Nationalen Inventar Pflanzengenetischer Ressourcen (PGRDEU) bei, einem virtuellen Register.7 Auf europäischer Ebene ist das IPK mit weiteren Einrichtungen vernetzt (siehe u. a. Engels und Maggioni, in diesem Buch). Die Forschungen des IPK sind art- und themenbezogen, umfassen eine breite Palette von der Genetik über die Stoffwechselforschung bis zur Taxonomie, und finden meist in internationalen Netzwerken statt wie z. B. im Rahmen des International Barley Sequencing Con­ sortium, einem Zusammenschluss zur Sequenzierung des Gerstengenoms. Die Agrobiodiversität der Gerste (Hordeum vulgare), dem nach Weizen in Deutschland am häufigsten angebauten Getreide, genießt am IPK eine besondere Aufmerksamkeit (s. u.). 4 Vgl. Webseite des IPK, Unterseite „Abteilung Genbank“, online unter: http:// www.ipk-gatersleben.de/genbank/ (letzter Aufruf: 16.3.2018). 5 Vgl. Webseite des BfN, online unter: https://www.bfn.de/fileadmin/BfN/biolo­ gischevielfalt/Dokumente/broschuere_biolog_vielfalt_strategie_bf.pdf (letzter Aufruf: 21.12.2017). 6 BMEL (Hg.), Pflanzengenetische Ressourcen in Deutschland. Nationales Fach­ programm zur Erhaltung und nachhaltigen Nutzung pflanzengenetischer Res­ sourcen landwirtschaftlicher und gartenbaulicher Kulturpflanzen, Berlin 2015. 7 Ebd.

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Andreas Graner

In den folgenden Abschnitten werden, nach einer Skizze der Entwicklung der modernen Landwirtschaft, der damit einhergehende gesellschaftliche Wandel und die sich daraus ableitende Notwendigkeit der Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen (PGR) behandelt. Am Beispiel einer der weltweit ältesten und größten Genbanken werden Grundzüge des Erhaltungsmanagements, der Nutzbarmachung sowie der politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen zum Umgang mit PGR erläutert und mit den Fragen verbunden: Was wird gesammelt, warum wird es gesammelt und wie wird es erhalten? Der Beitrag schließt mit aktuellen Herausforderungen.

2. Ernährungssicherung und Agrobiodiversität 2.1 Domestikation und Ausbreitung von Nutzpflanzen Für die Ernährungssicherung der weiter steigenden Weltbevölkerung kommt dem Getreide eine hervorgehobene Bedeutung zu.8 Mit Getreide sind gemeint: die durch Züchtung entstandenen, körnertragenden Pflanzen aus der Familie der Süßgräser (Familie Poa­ ceae; veraltet: Gramineae) sowie ihre geernteten Früchte. Alle Getreidearten wie Weizen, Gerste, Hafer, Roggen, Hirse, Reis und Mais waren ursprünglich Wildgräser. Die natürlichen Verbreitungsgebiete der nicht-domestizierten Wildgräser sind geografisch erheblich enger begrenzt als die weltweiten Anbauflächen der daraus entwickelten Kulturformen. Die Wildform von Reis, dem Grundnahrungsmittel für Asien, wurde 8.200 v. Chr. erstmals im chinesischen Perlfluss-Delta (Provinz Guangdong) domestiziert.9 Von dort breiteten sich Züchtungsformen bis nach Indien und Südostasien aus. Für die ersten Formen von Mais, der aus Züchtungen der Teosinte in Zentralmexiko entstand, datiert der früheste Nachweis auf das 5. Jahrtausend v. Chr. 8 Zur jüngeren Historie der Genomforschung mit Schwerpunkt Gerste siehe Müntz, Klaus und Ulrich Wobus, Das Institut Gatersleben und seine Geschichte. Genetik und Kulturpflanzenforschung in drei politischen Systemen, Berlin, Hei­ delberg 2013, S. 294-300. 9 Huang, Xuehui; Kurata, Nori; Wei, Xinghua et al., „A map of rice genome variation reveals the origin of cultivated rice“, in: Nature, 490(7421)/2012, S. 497-501.

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Erst mit Christoph Kolumbus (um 1451–1506) gelangte er im frühen 16. Jh. nach Europa. Zu jener Zeit fand der amerikanische Maisanbau bereits fernab seines einstigen genetischen Zentrums (Mexiko) statt: Mais war in vielfältigen Züchtungsformen kultiviert, von Peru bis in die südlichen Regionen der heutigen USA10 und in die Karibik. Eben jene Verbreitung und Vielfaltserzeugung von Kulturpflanzen jenseits der ursprünglichen Vielfalt in ihren genetischen Zentren ist auch für die Agrargeschichte Europas kennzeichnend.11 Ein weiteres Beispiel für die geografische Ausbreitung von Kulturpflanzen im Nachgang zu ihrer Domestikation ist die Gerste (Hordeum vulgare ssp. vulgare). Das Verbreitungsgebiet der Wildform liegt im Bereich des „Fruchtbaren Halbmondes“, d. h. von der Levante und der südöstlichen Türkei über Syrien und den Irak bis in den Iran und angrenzende Regionen, wo auch die Domestikation von Schaf, Rind und Ziege stattfand. Die dortige Kultivierung der ersten für Europa relevanten Getreide (Einkorn, Emmer und Gerste) führt zurück bis in die Zeit um 10.000 v. Chr. Die Untersuchung der DNA-Sequenzen von 6.000 Jahre alten Kulturgerstensamen aus einer archäologischen Fundstätte in Israel weisen darauf hin, dass Wildgerstenpopulationen (Hordeum vulgare ssp. spontaneum) im oberen Jordantal den Ausgangspunkt für die Domestikation darstellten, von wo anschließend die weltweite Ausbreitung dieser Getreideart ihren Anfang nahm.12 Im Zuge der Neolithischen Revolution verbesserten frühe Bauern durch fortwährende Selektion diese Wildformen im Hinblick auf Korngröße, gleichmäßige Keimung und Abreife und vor allem Samenfestigkeit. Letztere stellt eine Grundvoraussetzung für den Feldanbau dar, da bei Wildarten und Wildformen die Ähre zur Reife schon durch einen Windstoß oder ein vorbeistreifendes Tier zerbrechen kann (Spindelbrüchigkeit), wodurch die Samen auf den Boden fallen oder verschleppt werden und somit nicht mehr systematisch geerntet werden können.

10 Plucknett, Donald L.; Smith, Nigel J. H.; Williams, J. T. et al., Gene Banks and the World’s Food, Princeton/NJ 1987, S. 7. 11 Geprägt wurde der Begriff „genetisches Zentrum“ von dem russischen Botaniker Nikolai I. Vavilov (1887–1943). 12 Mascher, Martin; Schuenemann, Verena J.; Davidovich, Uri et al., „Genomic analysis of 6,000-year-old cultivated grain illuminates the domestication history of barley“, in: Nature Genetics, 48(9)/2016, S. 1089-1093.

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2.2 Sesshaftwerdung und gesellschaftlicher Wandel Die menschlichen Gesellschaften strukturierten sich völlig neu – weg von den auf Jagen, Sammeln und z. T. auch Raub ausgerichteten Kulturen hin zu bäuerlichen Siedlungen mit weitgehender Selbstversorgung. Mit der Sesshaftwerdung einher gingen Arbeitsteilung, Bevölkerungswachstum und die Entwicklung neuer Werkzeuge und Techniken (z. B. Ritzpfluggeräte) – und Migrationen. Die geschätzt 5 bis 10 Mio. Menschen, die nach dem Ende der letzten Kaltzeit auf dem Planeten gelebt haben sollen, vermehrten sich seitdem fast kontinuierlich, wenn nicht Seuchen oder Kriege das Wachstum dezimierten.13 Die alten Ägypter waren bereits eine Hochkultur, die vom Brot als Grundnahrungsmittel lebte und auch das Bier nicht verachtete. In der griechischen und römischen Antike waren Gerste- und Weizenanbau bereits weit verbreitet und zahlreiche Sorten bekannt.14 Der Aristoteles-Schüler Theophrast von Eresos (ca. 370–288 v. Chr.) beschreibt eine sechszeilige Gerste und mehrere weitere Getreidearten und -sorten (Historia Plantarum VIII, 4, 2),15 ferner deren verschiedene Eigenschaften und (griech.) dynamei (deutsch: Vermögen), was auch ihre Züchtungspotenziale gemeint haben könnte.16 Getreide war in der Antike die wichtigste Grundlage zur Versorgung der Bevölkerung und des Heeres; die Römer betrieben bereits Zweifelderwirtschaft. Die römischen Gladiatoren hatten den Beinamen hordearii (Gersten-Männer), weil man ihnen nach dem Kampf 13 Als besonders einschneidend sind zu nennen: Pest, Pocken und andere Seuchen im Spätmittelalter; die Dezimierung der indianischen Urbevölkerung in den Amerikas von ca. 50 Mio. auf nur noch ca. 5 Mio. durch europäische Kolonisa­ toren (u. a. durch eingeschleppte Infektionskrankheiten wie Masern) ab dem 16. Jh., und im 20. Jh. die beiden Weltkriege. 14 Schulz, August, Die Geschichte der kultivierten Getreide, Halle 1913; Schie­ mann, Elisabeth, Weizen, Roggen, Gerste. Systematik, Geschichte und Ver­ wendung, Jena 1948; Hondelmann, Walter, Die Kulturpflanzen der griechisch-­ römischen Welt. Pflanzliche Ressourcen der Antike, Berlin 2002. Die Züchtung von Roggen und Hafer wurde hingegen erst relativ spät vorgenommen. Beide galten lange als sogenannte Ungräser (analog zu Unkräutern) in Weizen- und Gerstenkulturen, weshalb Nikolai I. Vavilov sie als „Sekundärgetreide“ (das sich in den genetischen Zentren mit den Primärgetreiden entwickelt hat) bzw. als „sekundäre Kulturpflanzen“ erachtete. 15 Theophrastus, Enquiry into plants, and minor works on odours and weather signs. Bd. 2, übers. von Arthur Hort, Cambridge/MA, London 1926, S. 167. Vgl. weiterführend Lobenhofer, in diesem Buch. 16 Für diesen Hinweis danke ich Nicole C. Karafyllis.

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Gerstenbrei reichte; eine moralisierende Geste gegen das bereits vorhandene Luxusdenken. Gerstenbrei sollte die siegreichen Gladiatoren an Disziplin und Tugend der Vorväter erinnern,17 als der geschmacklich angenehmere und nährstoffreichere Weizen noch nicht verfügbar war. Weizen stand schon bei den Römern als Symbol für Frieden und Reichtum,18 Gerste hingegen für Armut, Disziplin und Mindestversorgung. Größere Versorgungskrisen sind bekannt;19 prominent sind diejenigen im Zuge des Niedergangs des Römischen Reiches, die vom Wegfall der „Kornkammern“ in Nordafrika und Spanien herrührten.20 Spätestens seitdem ist die Sicherstellung der kontinuierlichen Getreideversorgung Teil des politischen Bewusstseins, bis hin zu bezahlbaren Lebensmittelpreisen.21 Im Frühmittelalter (zwischen ca. 600–1000 n. Chr.) verdoppelte sich aufgrund verbesserter Nahrungsmittelproduktion die Bevölkerungszahl in Europa, die landwirtschaftlichen Flächen dehnten sich durch Rodungen stark aus; fast jede Person arbeitete in der Landwirtschaft. Wichtige landtechnische Innovationen waren der Räderpflug und etwa ab dem 11. Jh. die Einführung von Metall statt Holz für landwirtschaftliche Gerätschaften (u. a. für die Pflugschar und für Hufeisen) sowie wenig später die Dreifelderwirtschaft. Das leistungsstärkere Pferd verdrängte den Ochsen als Zugtier; in Folge wurde Hafer als Pferdefutter angebaut. Um 1200 betrug der Ernteertrag etwa das Dreifache der ausgebrachten Saatgutmenge. Damit man eine Vorstellung bekommt: Durch Verbesserung der

17 Tietz, Werner, Dilectibus ciborum. Essen im Diskurs der römischen Antike, Göt­ tingen 2013, S. 70. 18 Ebd., S. 54. 19 Vgl. für Griechenland zur Zeit Alexanders: Pazdera, Martin, Getreide für Grie­ chenland. Untersuchungen zu den Versorgungskrisen im Zeitalter Alexanders des Großen und der Diadochen, Münster 2005. 20 Allerdings ist die tradierte Auffassung einer Bevölkerungsexplosion im antiken Rom jüngst stark in Frage gestellt worden; vielmehr änderten die Römer kurz vor Christi Geburt ihre Zählmethoden und erfassten im Zensus neu auch Frauen und Minderjährige. Ab dem 1. Jh. n. Chr. ist durch zunehmende Bürgerkriege und Unruhen sogar eine leichte Abnahme der Bevölkerung nachgewiesen. Vgl. Tuchin, Peter und Walter Schneider, „Coin hoards speak of population declines in Ancient Rome“, in: PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America), 106(41)/2009, S. 17276-17279. 21 Für die Agrargeschichte des Mittelalters bis in die Frühe Neuzeit siehe z. B. Kießling, Rolf; Konersmann, Frank; Troßbach, Werner und Dorothee Rippmann, Grundzüge der Agrargeschichte. Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Dreißigjäh­ rigen Krieg (1350–1650), Köln u. a. 2016.

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Nutzpflanzen und Anbaumethoden22 wird heute in der Regel die 50-fache Aussaatmenge geerntet, so dass im Jahr 2010 ein Landwirt in Deutschland 131 Menschen ernähren konnte.23 2.3 Von der Malthusianischen Katastrophe zur Grünen Revolution Von 1850 – der Zeit der Hochindustrialisierung mit bereits einer Mrd. Menschen auf der Erde – bis zur Gegenwart verringerten sich die Ausgaben privater Haushalte in Deutschland für Lebensmittel von ca. 61 % auf 15,2 %, während sich die Menschheit versiebenfachte. Das Szenario des britischen Ökonomen Thomas Robert Malthus (1766–1834) in An Essay on the Principle of Population (1798), die „Malthusianische Katastrophe“, angenommen aufgrund der begrenzten Tragfähigkeit der Erde und der ungezügelten menschlichen Fortpflanzung, ist offensichtlich nicht eingetreten. Denn v. a. die agrarischen Bedingungen änderten sich. Malthus ging noch davon aus, dass die Bevölkerung exponentiell, die Nahrungsmittelproduktion hingegen linear wachsen würde.24 Einen leichten Anstieg erhoffte er sich durch verbesserte Bewässerungssysteme. Bildhaft sprach er von einem Tisch, der nicht für alle gedeckt sei. Hungersnöte wie in Irland ab Mitte des 19. Jh.s und in Folge die zahlreichen Auswanderungen nach Nordamerika und Australien schienen ihm auf den ersten Blick Recht zu geben. Allerdings ist durch die historische Forschung mittlerweile gesichert, dass die irischen Hungersnöte nicht durch ein Übermaß an Bevölkerung und auch nur zum Teil durch die Missernten aufgrund der grassierenden Kartoffelkrautfäule verursacht wurden, sondern im Wesentlichen durch politische Fehlentscheidungen. Denn obwohl die Bevölkerung bereits Hunger litt, exportierte Irland weiter sein Getreide; den Importmais aus den USA konnte die ärmere Bevölkerung nicht bezahlen.25 22 Dabei ist allerdings der hohe Anteil an Fremdenergie zu berücksichtigen (u. a. für Düngemittel, Landmaschinen etc.). 23 Vgl. Webseite Deutscher Bauernverband, Unterseite „Situationsbericht 2012/ 13“, Abschn. 1: Landwirtschaft und Gesamtwirtschaft, online unter: http://www. bauernverband.de/12-jahrhundertvergleich (letzter Aufruf: 21.12.2017). 24 Malthus, Thomas Robert, An Essay on the Principle of Population, as it Affects the Future Improvement of Society. Bd. 1, London 1798, Kap. 1. 25 Vgl. ausführlich Kinealy, Christine, A Death-Dealing Famine. The Great Hunger in Ireland, London 1997.

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Im ausgehenden 19. Jh. sind als wichtige Wegmarken für Ertragssteigerungen das Haber-Bosch-Verfahren (synthetische Stickstoffdünger), landtechnische Neuerungen wie erste Traktoren (sog. Lokomobile) und die Verwissenschaftlichung der Pflanzenzüchtung zu nennen, die zunehmend genetische und statistische Methoden nutzte; später flankiert durch den Aufschwung der Biotechnologie und Molekularbiologie. Die Grüne Revolution seit den 1940er Jahren, die mit agrarischen Förderprogrammen der Rockefeller Foun­ dation zur Bekämpfung des Hungers in Lateinamerika und verbesserten Züchtungen von Weizen, Mais, Kartoffel und Bohne startete, erbrachte eine deutliche Steigerung der Ernteerträge. Effizienterer Pflanzenbau, der Einsatz synthetischer Dünger, neue Züchtungen wie Zwergweizen (dessen kürzere Halme eine schwerere Ähre tragen konnte), rostresistente Getreidesorten und synthetische Pflanzenschutzmittel führten zu Ertragssteigerungen, die das jährliche Bevölkerungswachstum kompensierten. Im Zuge dessen entstand auch eine der größten Genbanken weltweit, das International Wheat and Maize Improvement Center (CIMMYT) in Mexiko, das offiziell 1966 gegründet wurde, aber eine Sammlung von lateinamerikanischen Weizen- und Maissorten bereits 1943 anzulegen begonnen hatte26 – und damit dasselbe Gründungsjahr hat wie das deutsche IPK. Mittlerweile hat sich die superexponentielle Wachstumsphase der Globalbevölkerung abgeschwächt, die noch bis zum Wendepunkt 1962/63 wirksam war; Hauptgrund sind sinkende Geburtenraten – anders, als Malthus 1798 angenommen hatte. Trotzdem ist die Geburtenrate in vielen ärmeren Ländern der Welt noch vergleichsweise hoch. Zum Jahreswechsel 2015/16 umfasste die Weltbevölkerung gut 7,39 Mrd. Menschen.27 Von ca. 9,7 Mrd. Menschen geht man bis 2050 aus, bis 2100 rechnet die UN (Stand 2015) mit 11,2 Mrd. Menschen. Selbst wenn mittlerweile deutlich geworden ist, dass allein die Steigerung der pflanzenbaulichen Erträge Hunger und Mangelernährung in der Welt nicht vollends beseitigen konnte (man denke u. a. an Verteilungsprobleme, staatliche Korruption, Lagerverluste und steigenden Fleischkonsum), so ist doch nicht zu 26 Vgl. die offizielle Webseite des CIMMYT, Unterseiten „About us“ und „Our history“, online unter: http://www.cimmyt.org/organization/ (letzter Aufruf: 21.12.2017). 27 Angaben nach Stiftung Weltbevölkerung zum 1.1.2016 (veröffentlicht 23.12.2015 unter www.weltbevoelkerung.de). Von superexponentiellem Wachstum spricht man, weil sich die Verdopplungszeiträume der Weltbevölkerung im 20. Jh. verkürzt haben.

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übersehen, dass mit Ende dieses Jahrhunderts eine im Vergleich zu seinem Anfang mehr als doppelte Anzahl von Menschen zu ernähren sein wird. Hinzu kommt, dass die agrarischen Produktionsbedingungen an die absehbare Knappheit mineralischer Dünger (v. a. Phosphat) und die prognostizierten Effekte des Klimawandels anzupassen sind. Auch für die züchterische Verbesserung unserer Kulturpflanzen gilt das Gesetz des abnehmenden Ertrags: Lag etwa die jährliche Ertragssteigerung bei Gerste zwischen 1961–2000 noch bei 2,8 %, was etwa der Bevölkerungsentwicklung entsprach, so ist dieser Wert für die Jahre 1995–2009 für die Kulturgerste auf nur noch 0,5 % gefallen. Die Sättigungsphase bei der Ertragssteigerung von Nutzpflanzen ist also erreicht, eine Steigerung nur noch mit hohem Aufwand bzw. durch Innovationssprünge möglich. Weitere Faktoren wie die gestiegene Wettbewerbsfähigkeit agrarischer Rohstoffe (etwa für Bioenergie und weltweit steigende Fleischproduktion) und Verluste an landwirtschaftlicher Fläche durch Siedlung, Verkehr und Degradation treten hinzu. Von einer nennenswerten Ausdehnung der landwirtschaftlichen Nutzfläche ist für die Zukunft nicht auszugehen.

3. Biofakte der Agrikultur Mit der oben geschilderten Entwicklung – der Geschichte einer zunehmenden Technisierung der Agrikultur – erfolgte eine starke Reduktion des Spektrums der angebauten Kulturpflanzen. Von den ca. 270.000 beschriebenen Gefäßpflanzenarten weltweit sind etwa 20.000 Nutzpflanzen, davon knapp 5.000 Nahrungspflanzen. Von diesen stellen 82 Arten rund 95 % der Kalorienquellen pflanzlicher Art für unsere Ernährung bereit. Zwei dieser Arten, Weizen und Reis, decken allein 37 % der weltweiten Kalorienversorgung. Unter Einbeziehung des Mais läge man sogar bei ca. 53 % (Abb. 1). Die industrielle Landwirtschaft, aber auch die Forschung, konzentriert sich gegenwärtig auf einige wenige Arten und innerhalb dieser auf eine geringe Anzahl von Sorten, die die Gesamtversorgung sicherstellen. Diese sind genetisch an standardisierte Anbausysteme angepasst. Die Konzentration auf eine kleine Zahl von Nutzpflanzenarten bietet die Möglichkeit, Forschungsressourcen entsprechend zu bündeln, um möglichst große Effekte im Hinblick auf die

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Ernährungssicherung zu erzielen. Der offensichtliche Nachteil dieser Strategie besteht darin, dass die schmale Basis der verwendeten Arten und Sorten potenziell anfälliger für biotische und abiotische Störungen ist. In Zukunft gilt es deshalb, den Genpool der kultivierten Pflanzen besser zu nutzen, wofür Genbanken eine tragende Rolle spielen.

Abb. 1: Die weltweite Nahrungsmittelversorgung beruht auf der Nutzung von nur wenigen Pflanzenarten. Alleine Weizen und Reis liefern 37 % der Kalorien, © Prescott-Allen & Prescott-Allen (1990).28

Die Technisierung der Pflanze ist ein Grundzug der Agrikultur, denn diese gründet sich auf das Bebauen des Landes, d. h. auf eine technische Handlung. „Technik“ kommt also nicht etwa erst mit der Gentechnik oder dem chemischen Pflanzenschutz in die Landwirtschaft. Schnelle Keimung und gleichmäßige Fruchtreifung gehören zu den zentralen Unterschieden zwischen Wild- und Kulturpflanzen. Dies mag ein Beispiel illustrieren: Wilde Getreidepflanzen hatten sich einst an ihre natürlichen Standorte evolutionär optimal angepasst, was bedeutete, dass ihre Körner zu unterschiedlichen Zeiten im Jahr reiften und die Körner sich von selbst aussäten. Die vom Menschen geschaffenen Kulturpflanzen zeichnen sich hingegen dadurch aus, dass sie größere und festsitzende Fruchtstände haben, schneller keimen und eine gleichmäßige Fruchtreife aufweisen. Kulturpflanzen wie Getreide, Zuckerrüben, Öl- und Eiweißpflanzen sowie viele Gemüsearten sind bei der Vermehrung auf menschliche Hilfe angewie28 Prescott-Allen, Robert und Christine Prescott-Allen, „How many plants feed the world?“, in: Conservation Biology, 4(4)/1990, S. 365-374.

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sen, da sie im Gegensatz zu ihren wildlebenden Vorfahren aufgrund der durch den Menschen bewirkten genetischen Veränderungen außerhalb agrarischer Ökosysteme nicht überlebensfähig sind. Damit erfüllen sie die von Karafyllis29 vorgeschlagene Kennzeichnung als Biofakt: Sie wachsen selbst, aber nicht mehr von selbst.

4. Aufgabenspektren und rechtliche Rahmenbedingungen pflanzlicher Genbanken 4.1 Erhaltung, Dokumentation und Erforschung Mit dem Verlust vielfältiger, regional angepasster Landrassen, welche im 19. Jh. mit dem Aufkommen einer kommerziellen Züchtung in zunehmendem Maße durch uniforme Sorten ersetzt wurden, drohte sich die Pflanzenzüchtung ihres wichtigsten Rohstoffs zu berauben. Der russische Genetiker Nikolai Ivanovich Vavilov (1887–1943) erkannte als erster die Notwendigkeit für systematische Sammlung und Erhaltung dieser vom Aussterben bedrohten genetischen Ressourcen und begann Anfang des 20. Jh.s mit dem Aufbau umfangreicher Sammlungen, welche sich heute in der Obhut des Vavilov-Instituts (VIR) in St. Petersburg, einer der größten Genbanken, befinden. Weltweit gibt es heute etwa 1.750 Sammlungen/Genbanken, in denen insgesamt 7,5 Mio. Akzessionen aufbewahrt werden. Das Aufgabenspektrum von Genbanken umfasst das Sammeln, die Erhaltung sowie die Bereitstellung von genetischen Ressourcen. Neben dem reinen Erhalt des biologischen Materials gilt es, Informationen zu den einzelnen Mustern zu sammeln, welche die Erhaltungsmaßnahmen unterstützen und die Nutzbarmachung genetischer Ressourcen befördern sollen. Im Hinblick auf ihren Informationsgehalt werden Passport-, Charakterisierungs- und Evaluierungsdaten unterschieden. Passportdaten umfassen in erster Linie taxonomische Informationen sowie Angaben zur geografischen und/oder institutionellen Herkunft des Materials. Charakterisierungsdaten beziehen sich insbesondere auf die Beschreibung einfacher morphologischer und phänologischer Merkmale des Materials, die bei dem Vermehrungs29 Karafyllis, Nicole C., „Biofakte – Grundlagen, Probleme, Perspektiven“, in: Erwä­ gen Wissen Ethik, 17(4)/2006, S. 547-558.

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anbau für die Wiedererkennung bzw. eindeutige Identifizierung des Materials herangezogen werden können. Zu diesem Zweck werden auch Referenzmuster (Herbarbelege, Früchte-, Ährenmuster) angelegt. Gleiches trifft auch auf die in zunehmendem Umfang aus der Genomforschung verfügbaren Informationen zur DNA-Sequenz einzelner Muster zu. Bei Evaluierungsdaten handelt es sich meist um agronomische Merkmale wie z. B. Krankheitsresistenzen oder Ertragsparameter. Diese sind nur mit sehr hohem Aufwand zu erfassen und stehen daher in der Regel nur für kleine Teile der Sammlungen zur Verfügung. 4.2 Rechtliche Rahmenbedingungen Eine weitere zentrale Aufgabe besteht in der Abgabe von Material. Diese ist in hohem Maße durch gesetzliche Vorgaben geregelt. Drei Vertragswerke, die den Umgang mit genetischen Ressourcen betreffen, sind von besonderer Bedeutung: Die Convention on Biological Diversity (CBD) wurde auf dem Weltklimagipfel von Rio de Janeiro 1992 erarbeitet und trat am 29. Dezember 1993 in Kraft.30 Die CBD stellte einen Paradigmenwechsel dar, da mit ihr jedes Land nun die Besitzrechte an seinen PGR erhielt, wodurch die bis dato uneingeschränkte Nutzung von PGR nicht mehr möglich ist. Genetische Ressourcen werden somit nicht mehr als Erbe der Menschheit betrachtet, sondern sind Eigentum des jeweiligen Landes. Dies bedeutet eine nahezu unübersehbare Vielzahl unterschiedlicher länderspezifischer Gesetzgebungen und ministerieller Zuständigkeiten. Im Rahmen einer internationalen Regelung (International Treaty on Plant Genetic Resources for Food and Agriculture, ITPGRFA) ist es im Jahr 2004 immerhin gelungen, eine multilaterale Vereinbarung mit 138 Unterzeichnerstaaten zu 64 wichtigsten Nahrungs- und Futterpflanzen zu schließen.31 In diesem Abkommen wurden einheitliche Regelungen für die Abgabe (access) und den Vorteilsausgleich (benefit sharing) festgelegt. Die mit dem ITPGRFA 30 Vgl. CBD-Webseite, Unterseite „History of the Convention“, online unter: https://www.cbd.int/history/ (letzter Aufruf: 21.12.2017). 31 FAO-Webseite, Unterseite „International Treaty on Plant Genetic Resources for Food and Agriculture“, online unter: http://www.fao.org/plant-treaty/en/ (letzter Aufruf: 21.12.2017).

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verbundenen Materialtransfervereinbarungen ermöglichen es innerhalb der Unterzeichnerstaaten, genetische Ressourcen der im Vertrag aufgeführten Nutzpflanzenarten unter den hier festgelegten Rahmenbedingungen abzugeben bzw. einzuführen. Solange das Material für Ernährung, Forschung, Züchtung oder Ausbildung genutzt wird, fallen auch keine Zahlungen für mögliche Gewinne an. Unklar ist die gegenwärtige Situation allerdings in Bezug auf Pflanzenarten, die nicht durch den ITPGRFA abgedeckt sind, sowie im Hinblick auf den Umgang mit Informationen, wie sie z. B. aus der DNA-Sequenzierung entstehen. Das dritte Gesetzeswerk ist das Nagoya-Protokoll, das seit dem 12. Oktober 2014 in Kraft ist.32 Es regelt den Zugang und den Vorteilsausgleich mit dem Ziel, die ärmeren Länder vor Ausbeutung ihrer genetischen Ressourcen zu schützen. Die rechtliche Implementierung des ‚Generalverdachts‘ gegen die reicheren Länder führt aber zu einer deutlichen Erschwernis des international zwischen Samenbanken (gerade mit denen in Entwicklungsländern) seit Jahrzehnten praktizierten PGR-Austausches, ggf. sogar zum Stillstand. Auch Sammlungsreisen werden erschwert, da umfangreiche Absprachen und vertragliche Regelungen eingehalten werden müssen. Die Verabschiedung des Nagoya-Protokolls stellt ein massives Hindernis für die Durchführung von Forschungsarbeiten zu genetischen Ressourcen sowie ihre Nutzung in der Pflanzenzüchtung dar. Die Anwendung von Regelungen, die zur Aufteilung von Gewinnen bei der Entwicklung von pharmazeutischen Wirkstoffen sinnvoll sind, steht im direkten Widerspruch zu dem Erfordernis eines möglichst freien Zugangs zu genetischen Ressourcen für die Züchtung von Nahrungsmittelpflanzen. Neben diesen und weiteren internationalen Regelungen sind auch einschlägige europäische und nationale Gesetze beim Umgang mit pflanzengenetischen Ressourcen relevant. Die Komplexität der Situation spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass in Deutschland allein auf Bundesebene fünf Ministerien (BMEL, BMUB, BMJ, BMBF, BMZ) mit Fragen der Erhaltung und Nutzbarmachung von Biologischer Vielfalt befasst sind. Für das Sammeln von Wildpflanzen sind ferner die Vorschriften der Berner Konvention, der European Council Regulation (EC

32 CBD-Webseite, Unterseite „The Nagoya Protocol on Access and Benefit-sharing“, online unter: https://www.cbd.int/abs/ (letzter Aufruf: 21.12.2017).

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No. 338/97 mit Anhängen) sowie die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH-Richtlinie) zu berücksichtigen.33

5. Historie und Objekte des IPK Gatersleben Bereits im Mittelalter haben in Klöstern umfangreiche Samensammlungen bestanden, die aber spätestens im Zuge der Französischen Revolution und der Plünderung vieler Klöster verloren gingen. Weitere Sammlungen, allerdings eher von Exoten und Zierpflanzen (worunter lange auch Kürbis und Tomate fielen), bestanden in Adelshäusern sowie in den seit der Frühen Neuzeit gegründeten Botanischen Gärten fort. Die Erzeugung, Erhaltung und Weitergabe von Saatgut war bis weit ins 19. Jh. eine lokale Angelegenheit bäuerlicher Familien und Kommunen. Davon zeugen heute noch viele alte Sortennamen, deren Semantik regional oder sogar von der Angabe konkreter Dörfer geprägt ist. Diese lokale Begrenztheit änderte sich durch die Verwissenschaftlichung der Landwirtschaft im 19. Jh. und die damit verbundene Ausbildung an entsprechenden Akademien (später Hochschulen) sowie durch die Einführung der landwirtschaftlichen Versuchsanstalten, die die Landwirte nach neuesten Erkenntnissen berieten. Die erste in Deutschland soll 1851 diejenige in Möckern bei Leipzig gewesen sein;34 um 1907 hatte das Deutsche Reich bereits 78 derartiger Stationen, Österreich-Ungarn 33.35 Man kann davon ausgehen, dass die meisten von ihnen größere Sortensammlungen in Form von Samenbanken besaßen. Die Geschichte des Leibniz-Instituts für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung und seiner Genbank reicht bis ins Jahr 1943 zurück. Damals erfolgte die Gründung der Vorläuferinstitution als Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Kulturpflanzenforschung in Tuttenhof bei Wien. Aufgrund der Kriegshandlungen mussten die Saaten und Materialien bereits im Februar 1945 nach Mittel-

33 Anhang I der FFH-Richtlinie enthält 700 streng geschützte Pflanzenarten (vgl. Frese, in diesem Buch). 34 Radkau, Joachim, Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis heute, Frankfurt a. M. 2008, S. 206. 35 Vgl. Meyers Großes Konversationslexikon, Bd. 12, Eintrag „Landwirtschaftliche Versuchsstationen“, Leipzig 1908, S. 156-157.

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deutschland verlagert werden, wofür der Gründungsdirektor des IPK, der Pflanzengenetiker Hans Stubbe (1902–1989) verantwortlich zeichnete. Er ließ die Samen zunächst zur Saatzuchtfirma der Gebrüder Dippe in Quedlinburg (Sachsen-Anhalt) bringen.36 Bereits 1946 erfolgte der schrittweise Aufbau des Instituts am heutigen Standort in Gatersleben. Damit begann die eigentliche Arbeit: die Ordnung und Klassifikation der Sammlungsobjekte (u. a. von früheren Expeditionen und von der Universität Halle), die experimentelle Forschung und die weitere Vergrößerung der Sammlung durch Expeditionen v. a. in die Ostblockländer, China und Kuba.37 Zu Zeiten der DDR hieß das Institut u. a. Zentralinstitut für Genetik und Kulturpflanzenforschung (ZIGuK) und war der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften unterstellt, 1992 wurde es als bundesdeutsche Einrichtung mit dem heutigen Namen neu gegründet. Seit der Jahrtausendwende hat das IPK Sammlungsreisen u. a. in die ostmediterranen Regionen, nach Südwest- und Zentralasien und in den Iran durchgeführt. Einzelheiten zur Geschichte des In­ stituts finden sich bei Stubbe sowie Müntz und Wobus.38 Hervorzuheben ist für die Zeit nach der Wiedervereinigung die Übernahme der Objekte aus der westdeutschen Genbank Braunschweig Gene­ tic Resources Collection (BGRC) im Jahr 2003, deren Geschichte jüngst erforscht wurde.39

6. Die Genbank am IPK Gatersleben 6.1 Sammlungsstruktur und Erhaltungsmanagement Die IPK-Sammlung ist in sieben Sortimente (Teilsammlungen) gegliedert, welche jeweils durch eine/n Kurator/in betreut werden. Hinzu kommen eine Forschungssammlung mit 1.535 Akzessionen 36 Müntz und Wobus, Gatersleben, S. 10. 37 Zu den Sammlungsreisen bis 1968 siehe Stubbe, Hans, Geschichte des Instituts für Kulturpflanzenforschung Gatersleben der Deutschen Akademie der Wissen­ schaften zu Berlin 1943–1968, Berlin 1982, S. 327-329, ferner Müntz und Wo­ bus, Gatersleben, S. 207-211 u. 238-240. 38 Vgl. Stubbe, Geschichte, sowie Müntz und Wobus, Gatersleben. 39 Karafyllis, Nicole C. und Uwe Lammers, „Big Data in kleinen Dosen. Die west­ deut­sche Genbank für Kulturpflanzen ‚Braunschweig Genetic Resources Collec­ tion‘ (1970–2006) und ihre Biofakte“, in: Technikgeschichte, 84(2)/2017, S. 163200.

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verschiedener Allium-Arten sowie eine Cryo-Sammlung mit 1.428 Kartoffel-, 138 Allium- und 120 Mentha-Akzessionen (Abb. 2).40 Nach der Zusammenführung der Sammlungsbestände des IPK und der ehemaligen westdeutschen Genbank in Braunschweig wuchs der Bestand der nun gesamtdeutschen Genbank am IPK um 50 % auf rund 151.000 Akzessionen aus 3.200 Arten und 776 Gattungen. Etwa 96 % der Akzessionen werden in Form von Samen erhalten, welche bei -18 °C in Kühlkammern gelagert werden. Die Lagerung erfolgt in Einweckgläsern (mit Bügelverschluss) in Kühlregalen. In den Gläsern sind die Samenproben teilweise41 in Papiertüten verpackt, seit jüngerer Zeit auch in Aluverbundbeuteln.42 Bei niedrigen Temperaturen kann die Keimfähigkeit der Samen über mehrere Jahrzehnte aufrechterhalten werden. Die maximale Lagerdauer unterscheidet sich zwischen Arten. Im Durchschnitt beträgt sie etwa 50 Jahre.43 Dies bedeutet, dass aufgrund der Abnahme der Keimfähigkeit jedes Jahr 2 % der Sammlung vermehrt bzw. verjüngt werden müssen. Das heißt, die Samen werden zum Keimen gebracht, und die daraus entstehenden Pflanzen bilden neue Samen, die dann wieder eingelagert werden. Hinzu kommen Vermehrungen, die aufgrund von Materialabgaben erforderlich sind. Voraussetzung für die anschließende Einlagerung des getrockneten und gereinigten 40 Im Jahr 2000 umfasste die Allium-Core Collection 1.865 definitiv taxonomisch bestimmte Akzessionen aus 384 Taxa. Vgl. Fritsch, Reinhard M., „A short his­ tory of the taxonomic collection of genus Allium housed at the Institute of Plant Genetics and Crop Plant Research (IPK)“, in: Maggioni, Lorenzo (Hg.), European collections of vegetatively propagated Allium. Report of a workshop, 21-22 May 2001, Germany, Rome 2002, S. 36-43. Da es sich um Zwiebeln handelt und diese als „recalcitrant seeds“ (widerständige Reproduktionseinheiten für die Erhaltung in Genbanken) gelten, weil sie vegetativ vermehrt werden müssen, ist der Erhalt dieser Sammlung besonders arbeitsintensiv (vgl. dazu auch Karafyl­ lis und Lammers, in diesem Buch). Die am IPK fortlaufenden Arbeiten an der Allium-Systematik führten auch zu einer engen Zusammenarbeit und gemein­ samen Sammelreisen mit dem Iranian Research Institute of Plant Protection (IRIPP) in Teheran, das ebenfalls eine Lebendsammlung der alten Kulturpflanze „Knoblauch“ etabliert hat (vgl. Fritsch, Reinhard M. und Mehrdad Abbasi, A taxonomic review of Allium subg. Melanocrommyum in Iran, Halberstadt 2013, online unter: http://www.ipk-gatersleben.de/fileadmin/content-ipk/content-ipkressourcen/Download/IrMeRevAllN.pdf., 3f.). 41 Bei kleinsamigen Sämereien. 42 Diese entsprechen denen des Svalbard Global Seed Vault (SGSV) in Norwegen, an den das IPK regelmäßig Sicherheitsduplikate entsendet. Zum SGSV vgl. in diesem Buch die Beiträge von Frese und Engels/Maggioni sowie das Vorwort der Herausgeberin. 43 Bezogen auf die Kennzahl „erfolgreiche Vermehrung“.

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Collections

Accessions

Getreide/Gräser

65.897

Leguminosen

27.819

Gemüse

21.052

Öl-/Faserpflanzen

5.478

Arznei-/Gewürzpflanzen

8.194

Mutanten

1.706

Raps/Futterpflanzen Kartoffeln Total

14.388 6.217 150.751

Abb. 2: Die Lebendsammlung des IPK Gatersleben umfasst rund 151.000 Akzessionen (Stand: 2017). Die beiden grau gekennzeichneten Sortimente werden in Außenstellen in MecklenburgVorpommern an den Standorten Groß Lüsewitz (Kartoffeln) und Malchow (Raps/Futterpflanzen) erhalten. Der Hauptteil der Sammlung befindet sich am Stammsitz des IPK in Gatersleben (Sachsen-Anhalt).

Materials ist eine erfolgreiche Keimprüfung, welche sicherstellt, dass nur qualitativ hochwertiges Saatgut Eingang in das Samenkühllager findet. Zusätzlich werden Keimprüfungen von bereits eingelagertem Material durchgeführt, um bei Abnahme der Keimfähigkeit rechtzeitig eine Vermehrung einleiten zu können. Bei etwa 4 % der IPK-Genbankakzessionen handelt es sich um vegetativ vermehrtes Material, welches entweder durch Daueranbau im Feld oder Gewächshaus (z. B. Knoblauch, Zwiebeln, Minze), in vitro (z. B. Kartoffeln) oder in Form von Gewebeproben bei -196 °C im flüssigen Stickstoff (Cryo-Konservierung, Kartoffeln) erhalten wird. Die Cryo-Konservierung stellt ein zeitlich nicht begrenztes Lagerverfahren dar, da die Regenerationsfähigkeit der Gewebeexplantate unter diesen Bedingungen nicht abnimmt (s. zur Technik Schumacher, in diesem Buch). Allerdings müssen die einzelnen Proben vor der Einlagerung eine aufwendige Vorbehandlung durchlaufen. Gleiches trifft auf die Regeneration von cryo-konservierten Gewebeexplantaten zu intakten Pflanzen zu. Daher handelt es sich bei diesem Verfahren um eine zusätzliche Sicherheitsmaß-

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nahme, welche nicht für die regelmäßige Bereitstellung von Pflanzenmaterial an Nutzer gedacht ist. Die Lebendsammlung wird durch umfangreiche Referenzsamm­ lungen mit gegenwärtig etwa 590.000 Belegen ergänzt. Das Herbarium umfasst 430.000 Belege, die Ährensammlung 55.000 Muster, die Samen- und Fruchtsammlung 105.000 Proben (Abb. 2). Diese Sammlungen liefern den Kuratoren wichtige Informationen zur Kontrolle der Authentizität der Vermehrungen, da von jeder Akzession bei der Aufnahme ein Referenzbeleg angelegt wird. Darüber hinaus werden die Referenzsammlungen auch für Forschungsarbeiten verwendet. Das Herbarium Gatersleben ist in den nationalen und internationalen Leih- und Tauschverkehr botanischer Sammlungen einbezogen und wird von Fachwissenschaftlern des In- und Auslands genutzt; etwa 21.000 Herbarbelege sind digitalisiert und können über das Herbarportal des IPK44 bzw. das JACQ Virtual Herbaria Portal des Naturhistorischen Museums in Wien45 eingesehen werden. Zur Unterstützung der Forschungs- und Erhaltungsarbeiten unterhält das Institut eine Bibliothek mit 80.000 Medieneinheiten. Fachliche Schwerpunkte umfassen Botanik, Pflanzengenetik, Zytologie, Zell- und Gewebekultur, Molekulare Zellbiologie der Pflanzen, landwirtschaftlicher Pflanzenbau, Pflanzentaxonomie und Kulturpflanzenforschung. Besonders hervorzuheben ist die Sammlung von Florenwerken aus aller Welt. Aus Kapazitätsgründen fand in den vergangenen zehn Jahren keine nennenswerte Erweiterung der Genbanksammlungen statt. In geringem Umfang erfolgt lediglich die Aufnahme von Material aus dem Bundessortenamt, das Referenzsaatgut von Sorten, deren Sortenschutz erloschen ist, an das IPK weiterleitet. Hinzu kommt die Aufnahme ausgewählten Materials z. B. aus kleineren Sammlungen aus dem öffentlichen oder privaten Bereich, welches nach Prüfung durch die jeweiligen Kuratoren eine sinnvolle Ergänzung des jeweiligen Sortiments darstellt. Gleichzeitig arbeitet das IPK an der Identifizierung von Duplikaten, da deren Erhaltung unnötige Ressourcen beansprucht (s. Engels und Maggioni, in diesem Buch). Hierbei kann in zunehmendem Maße auf DNA-Sequenzdaten zu44 Vgl. Webseite des IPK, Unterseite „Herbarportal des IPK Gatersleben“, online unter: http://mansfeld.ipk-gatersleben.de/apex/f?p=185:13: (letzter Aufruf: 21. 12.2017). 45 Vgl. Virtual Herbaria JACQ, online unter: http://herbarium.univie.ac.at (letzter Aufruf: 21.12.2017).

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rückgegriffen werden. In Kombination mit Passport- und Charakterisierungsdaten wird gegenwärtig der Anteil duplizierter Akzessionen in den großen Getreidesammlungen von Gerste und Weizen ermittelt und Entscheidungskriterien für die Stilllegung duplizierter Akzessionen erarbeitet. 6.2 Artenvielfalt versus genetische Diversität Mit Akzessionen aus über 3.000 botanischen Arten verfügt die IPKGenbank über eine der weltweit komplexesten Sammlungen. Die Erhaltung der genetischen Vielfalt bedeutet jedoch im Idealfall, dass für jedes Gen alle allelischen Varianten in einer Sammlung vertreten sind. Informationen über die Anzahl der Allele einer Art sowie ihre Verteilung innerhalb von Teilpopulationen sind in der Regel nicht verfügbar. Umgekehrt lässt sich rechnerisch ermitteln, dass zur Erfassung eines Allels, welches in einer Population mit einer Häufigkeit von 5 % auftritt, 172 Pflanzen ausreichen, um dieses Allel mit 99,9 % Wahrscheinlichkeit zu erfassen.46 Die Berechnung zeigt aber auch, dass ein seltenes Allel (z. B. eine Krankheitsresistenz), dessen Häufigkeit bei 0,1 % liegt, in der genannten Stichprobe nur noch mit einer Wahrscheinlichkeit von 15 % vorhanden ist. Betrachten wir nicht nur ein einzelnes Gen, sondern einen Genotyp, also die Kombination von Allelen für die ca. 25.000 Gene einer Pflanze, so wächst die Zahl der erforderlichen Pflanzen schnell ins Unendliche.47 Die Dimensionierung des Umfangs einer Sammlung ist somit eine Ermessensfrage, und eine Analyse der weltweit gelagerten Ex situ-Akzessionen zeigt, dass die Sammlungsumfänge für einzelne Arten eine Funktion ihrer agronomischen Bedeutung darstellen. D.h., je größer die weltweite Anbaufläche der Kulturpflanze, desto höher die Anzahl der weltweit vorhandenen Muster. Eine entsprechende Struktur weist auch die Sammlung des IPK auf. Lediglich 113 Arten sind durch mehr als 100 Muster repräsentiert. Diese Arten umfassen jedoch alle wichtigen in Deutschland kultivierten Feldfrüchte und Gemüsearten und damit über 95 % der 46 Lawrence, Michael J.; Marshall, David F. und Peter Davies, „Genetics of genetic conservation. Sample size when collecting germplasm“, in: Euphytica, 84(2)/ 1995, S. 89-99. 47 Die Anzahl der Pflanzen (x), die erforderlich ist, um eine bestimmte Kombination von Allelen, die jeweils mit einer Frequenz von 5 % in der Population vorhanden sind, mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 % aufzufinden, kann anhand folgender Formel ermittelt werden: (1-0,0525.000)x ≤ 0,05.

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Ackerfläche. Oder umgekehrt ausgedrückt: Es werden auf weniger als 5 % der Flächen Nutzpflanzen angebaut, die in der IPK-Genbank mit weniger als 100 Akzessionen vertreten sind. Diese Verhältnismäßigkeit stellt ein Indiz für die bedarfsgerechte Struktur der Sammlung dar. Ungeachtet dessen besteht die Notwendigkeit für den weiteren Ausbau der Kollektionen von Wildarten, von denen vielfach nur wenige Muster in der Genbank erhalten werden. Derartige crop wild relatives (CWR) sind Pflanzen, die dem gleichen Formenkreis wie die Kulturform entspringen (z. B. der gleichen Gattung angehören). Trotz der mit hohem Aufwand verbundenen Erhaltung entsprechenden Materials ist dieses aus Sicht der Pflanzenzüchtung interessant. So weisen Wildarten der Gattung Triticum (ehemals Aegilops) beispielsweise wertvolle Resistenzgene gegen pilzliche und tierische Schaderreger auf, die für die Züchtung moderner Weizensorten von großer Bedeutung sind. Auch für viele andere Nutzpflanzen stellen Wildarten ein Genreservoir für die Züchtung dar, das bisher kaum genutzt ist. Durch die vergleichende Sequenzierung der DNA von Kulturgerste (Hordeum vulgare ssp. vulgare) und ihrer Wildform (Hordeum vulgare ssp. spontaneum) konnte ein erheblicher Diversitätsverlust in der Kulturgerste nachgewiesen werden. Die Reduktion beträgt je nach untersuchter Chromosomenregion bis zu 65 %.48

7. Von der Erhaltung zur Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen 7.1 Bereitstellung von Material Die Zeit von der Gründung des Instituts im Jahr 1943 bis zur Eta­ blierung der bundeszentralen Ex situ-Genbank am IPK im Jahr 2003 war durch einen stetigen Anstieg des Sammlungsumfangs gekennzeichnet. Mit 150.000 Akzessionen wurde die Kapazitätsgrenze für eine nachhaltige Bewirtschaftung erreicht. Diese ist weniger durch den zur Verfügung stehenden Lagerraum bedingt als durch den für die regelmäßige Vermehrung und Abgabe des Materials erforderlichen Personalbedarf sowie die für die Einhaltung der notwendigen Fruchtfolge, die Anlage von Isolationsparzellen für windbestäubte 48 Diese Zahl basiert auf einer bislang unveröffentlichten Untersuchung von Dr. Martin Mascher, IPK Gatersleben.

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Fremdbefruchter und die regelmäßige Umsetzung der Dauerkulturen benötigten Flächen. Vor diesem Hintergrund hat sich der Schwerpunkt der Erhaltungs- und Forschungsarbeiten vom Ausbau der Sammlung in Richtung weiter verbesserter Nutzbarmachung verschoben. Die letzten 10 Jahre waren durch eine wachsende Nachfrage nach genetischen Ressourcen aus der IPK-Genbank geprägt. Gründe hierfür sind die Zusammensetzung der Sammlung, die gute taxonomische Beschreibung und Verfügbarkeit des Materials sowie die hohe Saatgutqualität und die zügige Bearbeitung von Saatgutbestellungen. Im Jahr 2016 wurden im Rahmen von 1.649 Bestellungen 50.438 Muster an Nutzer aus dem IPK sowie aus Universitäten und Forschungseinrichtungen, Pflanzenzüchtungsunternehmen, Botanischen Gärten sowie an Privatpersonen und Vereine abgegeben. 7.2 Sequenzinformation Die hohe Nachfrage sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass zu den einzelnen Akzessionen nur in sehr begrenztem Umfang Informationen im Hinblick auf agronomische Merkmale zur Verfügung stehen. Ein wichtiges Ziel der Forschungsarbeiten am IPK ist es daher, die genetischen und physiologischen Grundlagen der Merkmalsausprägung bei Nutzpflanzen aufzuklären, um mit diesem Wissen auch genauere Aussagen zur Merkmalsausprägung des in der Genbank gelagerten Materials treffen zu können. Sind die für die Ausprägung eines Merkmals verantwortlichen Gene bekannt, können züchterisch interessante Varianten dieses Gens mit Hilfe der DNA-Sequenzierung sehr viel gezielter und schneller als bisher identifiziert werden.49 Dies würde zu Zeitersparnis und Kostenreduktion bei der Züchtung neuer Sorten führen. Grundsätzlich hilft die Bereitstellung von Sequenzinformation den Nutzern, eine genauere Auswahl des Materials zu treffen. So könnte z. B. gezielt Material ausgewählt werden, das sich durch hohe genetische Diversität auszeichnet. Gemeinsam mit Informationen zu Herkunft und/ 49 Yang, Ping; Habekuß, Antje; Hofinger, Bernhard J.; Kanyuka, Kostva; Kilian, Benjamin; Graner, Andreas; Ordon, Frank und Nils Stein, „Sequence diversifica­ tion in recessive alleles of two host factor genes suggests adaptive selection for bymovirus resistance in cultivated barley from East Asia“, in: Theoretical and Applied Genetics, 130(2)/2017, S. 331-344.

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oder bestimmten Eigenschaften wie Pflanzenhöhe, Blühzeitpunkt oder Saisonalität (Winter-/Sommerform) hilft die Bereitstellung von Sequenzdaten auch für die Auswahl geeigneten Materials zum Aufbau von Populationen für genetische Analysen. Aufgrund der großen Bedeutung für die weltweite Landwirtschaft konzentrieren sich die Forschungsarbeiten zur DNA-Sequenzierung (und der damit verbundenen Entschlüsselung der Genome und der Erstellung sogenannter Genkarten) auf die Fruchtarten Weizen, Gerste, Roggen und Raps. 7.3 Phänotypisierung Der Phänotyp als das Erscheinungsbild der Pflanze beschreibt diese anhand von messbaren Merkmalen (Ertrag, Krankheitsresistenz, Pflanzenhöhe etc.). Die Ausprägung der Merkmale ist das Ergebnis des Zusammenwirkens der Gene und der Umwelt. Unter Phänotypisierung versteht man die quantitative Erfassung von in erster Linie agronomischen Merkmalen. Deren Erfassung erfordert in der Regel umfangreiche Feld- und Gewächshausversuche sowie die wissenschaftliche Expertise von Genetikern, Physiologen, Phytopathologen und/oder Biochemikern. Feldversuche haben den Nachteil, dass sie an den jahreszeitlichen Ablauf der Vegetationsperiode gebunden sind und starken Umwelteinflüssen unterliegen. Eine Testung auf Frosthärte erfordert einen strengen Winter, bleibt dieser aus, ist das gesamte Versuchsjahr verloren. Gleiches trifft auf Trockentoleranz oder die Infektion mit bestimmten Schaderregern zu. Um diese Unwägbarkeiten zu umgehen, wurden am IPK umfangreiche Technologieplattformen für die systematische Merkmalserfassung unter kontrollierten Bedingungen in Gewächshäusern und Phytotronen etabliert. Bei diesen auch als „Phenomics“ bezeichneten Verfahren werden bildgebende Sensortechniken eingesetzt, welche Pflanzen, die sich auf Fließbändern befinden, in regelmäßigen Abständen (z. B. einmal täglich) aus mehreren Positionen und bei verschiedenen Wellenlängen (sichtbar, UV, NIR) fotografieren. Parallel hierzu werden NMR-Verfahren50 eingesetzt, um die Akkumulation von Speicherstoffen (Stärke, Fette, Proteine) im Samen zu studieren. Aus den digitalen Aufnahmen lassen sich mit Hilfe bildanalytischer Verfahren 3D-Modelle der Pflanzen ableiten, 50 NMR: (engl.) nuclear magnetic resonance (Kernspinresonanzspektroskopie).

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die eine genaue Überwachung der Wachstumsverläufe des Pflanzensprosses ermöglichen. Auf diese Weise kann die Merkmalsausprägung in hoher zeitlicher Auflösung und unter kontrollierten Umweltbedingungen untersucht werden. Dies stellt eine wichtige Voraussetzung für genetische Analysen und die Identifizierung der an der Merkmalsausprägung beteiligten Gene dar, deren Bedeutung für die Nutzbarmachung pflanzengenetischer Ressourcen bereits weiter oben erläutert wurde. 7.4 Biodiversitätsinformatik Ein zentrales Element für die Erhaltung und Nutzbarmachung genetischer Ressourcen stellt die strukturierte Sicherung, Aufbereitung und Bereitstellung der für einzelne Akzessionen vorhandenen Informationen dar. Hierfür wurde am IPK im Jahr 2004 mit der Entwicklung des Genbankinformationssystems (GBIS) begonnen. Hierbei handelt es sich um ein auf Oracle basierendes Datenbanksystem, das drei Hauptkomponenten umfasst: In einem Management-Modul (GBIS-M) sind sämtliche Prozesse des Erhaltungsmanagements abgebildet (Anbau, Ernte, Einlagerung/Entnahme). Alle entsprechenden Informationen werden digital durch die Kuratoren erfasst, eingegeben und verwaltet. Für die Erfassung und Speicherung der im Reproduktionsanbau anfallenden Charakterisierungsund Evaluierungsdaten wurde ein Boniturmodul (GBIS-B) entwickelt. Für den Online-Zugriff auf ausgewählte Passportdaten sowie für die Materialbestellung über das Internet steht das Modul GBIS-I zur Verfügung.51 Das System wird kontinuierlich angepasst und weiterentwickelt und stellt eine wichtige Grundlage für das nach DIN EN ISO 9001:2015 zertifizierte Qualitätsmanagement in der Genbank dar, das im Jahr 2007 eingeführt wurde. Die rasanten technologischen Fortschritte auf den Gebieten der experimentellen Analytik (DNA-Sequenzierung, RNA-Transkriptanalyse, Metabolitanalysen) sowie der bildgebenden Verfahren sind von enormen Datenmengen begleitet, welche sich alleine am IPK jährlich auf etwa 100 Terabyte52 belaufen, mit steigender Tendenz. 51 Vgl. Webseite IPK Gatersleben, Unterseite GBIS/I, online unter: https://gbis. ipk-gatersleben.de (letzter Aufruf: 21.12.2017). 52 1 Terabyte entspricht als reine Maßeinheit 10 hoch 12 byte oder 10 hoch 6 Megabyte.

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Die Herausforderung für die Genbank besteht darin, die aus den Daten abgeleiteten Informationen mit den vorhandenen Daten der einzelnen Akzessionen zu verbinden. Hierbei sind IT-Standards für die Datenspeicherung sowie Regeln zur Beschreibung der DNASequenzen (Annotation), der Kategorisierung von Genen und phänotypischen Merkmalen (informatische Ontologien) zu berücksichtigen, welche die Kompatibilität zu anderen internen (z. B. GBIS) und externen Datenbanken und die Vergleichbarkeit von Ergebnissen sicherstellen. Darüber hinaus ist für einfache Auswertungen und die Visualisierung von Ergebnissen die Einbindung von intuitiv anwendbaren Software-Tools notwendig, die bei Datenbankabfragen eine sinnvolle Überprüfung der Ergebnisse ermöglichen. Die herausgehobene Rolle des IPK auf dem Gebiet der Biodiversitätsinformatik wird auch in der Übertragung der Verantwortung für den Betrieb und die Weiterentwicklung einer internationalen Datenbank zu pflanzengenetischen Ressourcen (EURISCO) sichtbar (s. Engels und Maggioni, in diesem Buch). Diese Datenbank wird seit 2014 im Auftrag des Eu­ ropean Cooperative Programme for Plant Genetic Resources (ECPGR) betrieben und enthält Passport-Informationen zu 1,8 Millionen Akzessionen aus verschiedenen europäischen Genbanken.53

8. Zusammenfassung und aktuelle Herausforderungen Die Ex situ-Erhaltung von pflanzengenetischen Ressourcen stellt einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung der über einen Zeitraum von über 10.000 Jahren durch den Menschen geschaffenen Kulturpflanzenvielfalt dar. Dieses kulturelle Erbe ist gleichzeitig auch eine wichtige Versicherung für weitere züchterische Verbesserung von Nutzpflanzen, da ein Großteil der in alten Landrassen und in Wildformen vorhandenen genetischen Diversität in der Kreuzungszüchtung bisher ungenutzt blieb. Weltweit werden 7,4 Mio. Akzessionen in Genbanken erhalten. Eine der größten Einrichtungen ist die bundeszentrale Ex situ-Genbank am IPK Gatersleben mit 150.000 Mustern aus 3.212 Arten. Genbanken spielen eine tragende Rolle bei der Erhaltung der biologischen Vielfalt. Ihre Sammlungen liefern das Ausgangssubstrat für die Züchtung verbesserter Sorten. Sorten, die an die Bedürfnisse des Menschen und die unterschiedlichen Be53 Vgl. Webseite IPK Gatersleben, Unterseite EURISCO, online unter: http:// eurisco.ipk-gatersleben.de/ (letzter Aufruf: 21.12.2017).

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dingungen seiner Umwelt angepasst sind, bilden eine grundlegende Voraussetzung für die dauerhafte Ernährungssicherung. Trotz der beeindruckenden Erfolge bei der Sicherung genetischer Ressourcen in den vergangenen Jahrzehnten bestehen noch große Herausforderungen im Hinblick auf eine nachhaltige Bewirtschaftung der Sammlungen und eine verbesserte Nutzung der in ihnen gelagerten Ressourcen: – Identifizierung von Redundanzen innerhalb und zwischen den weltweiten Ex situ-Genbanken, da nur ca. 30 % der weltweit erhaltenen Ex situ-Muster in den Genbanken auf unikates Material zurückgehen. – Gezielte Komplettierung von Teilsammlungen und Kollektionen, um die genetische Vielfalt bestimmter Nutzpflanzen sowie von Wildarten besser abzubilden. – Weitergabe des Wissens der Kuratoren im Hinblick auf Taxonomie, Pflanzenbau und Ethnobotanik. – Politische und rechtliche Rahmenbedingungen für den Zugang und Vorteilsausgleich, die die Erforschung und Nutzung genetischer Ressourcen befördern und nicht behindern. – Systematische molekulare Charakterisierung und phänotypische Analyse von Sammlungen im Zusammenspiel mit dem Ausbau digitaler Informationssysteme (Biodiversitätsinformatik). Unter dem Motto „Bewahren und Nutzen“ gilt es, neben der Erhaltung genetischer Ressourcen die molekularen Ursachen der genetischen Vielfalt und die funktionalen Beziehungen zur Merkmalsausprägung zu erforschen. Die in den Genbanken aufbewahrten alten Sorten und Landrassen reichen in ihrer agronomischen Leistung bei weitem nicht an moderne Sorten heran. Umgekehrt können sie jedoch einzelne Gene besitzen, welche zur weiteren Verbesserung bestimmter Merkmale in modernen Sorten beitragen können. Diese gilt es zu identifizieren und in Elitematerial einzulagern. Dies kann durch Kreuzung, aber auch mit Hilfe moderner gentechnischer Ansätze erfolgen. Entscheidend sollte sein, welcher Weg schneller zum gewünschten Ergebnis führt. Der Weg zur Nutzbarmachung genetischer Ressourcen liegt in der Nutzung einzelner Gene und nicht im Wiederanbau alter Sorten. Je genauer wir die genetischen Schaltpläne unserer Kulturpflanzen verstehen, desto besser wird es uns gelingen, diese zu optimieren. Das IPK wird diesen Prozess mit seinen Forschungsarbeiten

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weiter befördern. Dies trifft in besonderem Maße auch auf die Genbank zu, die in ein biologisch-digitales Ressourcenzentrum54 weiterentwickelt wird. Ihr Angebot wird neben der gewohnten Bereitstellung von biologischem Material (Saatgut, Pflanzgut) in zunehmendem Umfang auch digital aufbereitete Informationen umfassen. So wird in Zukunft eine gezieltere Auswahl des Materials als bisher möglich sein. Danksagung: Ich danke Frau Prof. Dr. Nicole C. Karafyllis für wertvolle Kommentare und Literaturhinweise zu den historischen Abschnitten dieses Beitrags. Ihr und Herrn Uwe Lammers danke ich ferner für hilfreiche Anregungen bei der redaktionellen Bearbeitung.

54 Zum Ausdruck „Biologisches Ressourcenzentrum“ (BRC) s. Overmann, in die­ sem Buch.

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Konzeption, Relevanz und Zukunftsperspektiven moderner mikrobiologischer Ressourcenzentren am Beispiel des Leibniz-Instituts DSMZ-Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen Abstract: The scientific study, clinical diagnosis, and industrial application of microorganisms depend on the ready access to clonal strains. Microbial resource centers such as the Leibniz-Institute DSMZ-German Collection of Microorganisms and Cell Cultures (DSMZ) provide access to these “global commons”. The isolation of microorganisms in pure culture is labor-intensive and requires a substantial investment, which amounts to the order of up to 11.000 Euro per strain. Microbial resource centers preserve this investment in a sustainable manner. However, they face two major challenges. Firstly, only a minute fraction of microbial diversity has so far been cultivated. Therefore, a major research effort is required to gain better access to microbial diversity. Secondly, the collection and distribution of microbial resources is currently seriously hindered by the Nagoya Protocol, which has recently entered into force. Zusammenfassung: Die wissenschaftliche Erforschung, medizinische Diagnose und industrielle Anwendung von Mikroorganismen basieren auf der Verfügbarkeit klonaler Reinkulturen. Diese Verfügbarkeit von Mikroorganismen als „global commons“ wird durch Mikro­ bielle Ressourcenzentren geleistet, u. a. durch das Leibniz-Institut DSMZ-Deutsche Sammlung für Mikroorganismen und Zellkulturen. Zur Isolierung der Reinkulturen ist ein erheblicher Arbeitsaufwand erforderlich. Dadurch stellen Reinkulturen einen Wert dar, der kürzlich mit bis zu 11.000 Euro pro Bakterienstamm berechnet wurde. Mikrobielle Lebendsammlungen sichern diesen volkswirtschaftlich erheblichen Wert in nachhaltiger Weise, müssen sich aber den Herausforderungen stellen, dass einerseits bislang nur ein Bruchteil der mikrobiellen Diversität überhaupt bekannt und diese entsprechend noch zu erforschen ist, andererseits kürzlich das Sammeln mikrobieller genetischer Ressourcen durch das Nagoya-Protokoll deutlich erschwert wurde.

1. Historisch-systematische Vorbemerkungen zum Konzept des Mikrobiellen Ressourcenzentrums Der folgende Beitrag erläutert die besondere Aufgabe und Relevanz Mikrobiologischer Ressourcenzentren. Eine der Besonderheiten ist, dass von der Biodiversität der Mikroorganismen trotz ihrer großen Bedeutung für die globalen Stoffwechselprozesse nur ein marginaler Bruchteil überhaupt bekannt ist (Abschn. 3), anders als bei

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Gefäßpflanzen und Wirbeltieren. Derzeit sind im World Data Centre of Microorganisms (WDCM) 705 Sammlungen in 72 Ländern registriert, die insgesamt 2.546.897 mikrobielle Stämme vorhalten. Diese Gesamtheit verfügbarer mikrobieller Stämme in Lebendsammlungen bildet jedoch beispielweise weniger als 0,1 % aller geschätzten Bakterienarten ab. Nach Skizzierung des Leibniz-Instituts Deutsche Sammlung für Mikroorganismen und Zellkulturen GmbH (DSMZ) in Braunschweig als exemplarischem Vertreter eines Mikrobiellen Ressourcenzentrums (Abschn. 2) geht der Beitrag kurz auf die Diversität von Bakterien in der natürlichen Umwelt (Abschn. 3) und dann ausführlich auf die spezifischen Besonderheiten des Sammelns und Lagerns von Mikroorganismen ein (Abschn. 4). Dazu gehören v. a. das technisch aufwändige Isolieren von Bakterienstämmen und die Etablierung der spezifischen Lagerungsbedingungen (Abschn. 5). Es folgen ein Blick auf die Nutzungspotenziale der Sammlungsobjekte (Abschn. 6) und abschließend auf die politischen Herausforderungen für das Sammeln von mikrobiellen genetischen Ressourcen, wie sie im Zuge des Inkrafttretens des Nagoya-Protokolls entstanden sind (Abschn. 7). Zur Historie: Mikrobielle Lebendsammlungen entstanden nach der erfolgreichen Isolierung der ersten Bakterienstämme gegen Ende des 19. Jh.s zunächst an Lehr- und Forschungsinstituten. Nach der Etablierung der Reinkulturtechnik durch Robert Koch (1843–1910) wurde die vermutlich erste mikrobielle Lebendsammlung mit Dienstleistungscharakter 1890 von dem tschechischen Bakteriologen František Král (1846–1911) an der Deutschen Universität Prag angelegt, direkt gefolgt von der mikrobiellen Sammlung am Institute Pasteur in Paris. Král war ursprünglich in der Glasindustrie beschäftigt und wegen seiner Kenntnisse im Umgang mit Laborglas zunächst als Techniker am universitären Hygieneinstitut eingestellt worden.1 Dies ist bereits ein erster Hinweis auf die entscheidende Rolle, die Kultivierungs- und Lagerungstechniken für mikrobielle Ressourcenzentren spielen. In Europa und Nordamerika, später auch in Asien, etablierte sich in den letzten Jahrzehnten eine steigende Zahl eigenständiger nationaler Sammlungen mit unterschiedlicher thematischer Aus1 Lone, Showkat A.; Malik, Abdul und Jasdeep C. Padaria, „Microbial Resource Centers Towards Harnessing Microbial Diversity for Human Welfare“, in: Ma­ lik, Abdul; Grohmann, Elisabeth und Madalena Alves (Hg.), Management of Microbial Resources in the Environment, Dordrecht 2013, S. 53.

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richtung. Das jeweilige Sammelgebiet ist dabei spezifisch für die jeweilige Sammlung und kann durch Anwendungsfelder (Medizin, Agronomie, Biotechnologie) oder taxonomische Gesichtspunkte (Typstämme) sowie durch die Organisation der Sammlungen innerhalb des jeweiligen Landes oder Staatenverbundes (unabhängige Sammlungen, koordiniertes Netzwerk2 oder eine einzige nationale Sammlung3) und ihre historische Entwicklung (z. B. durch Zusammenlegungen von Sammlungen) bestimmt sein. Häufig werden, je nach Anwendungsfeld der Sammlung, neben Mikroorganismen bzw. ‚Mikroben‘ (Bakterien, Pilze, Einzeller) auch Zellen humaner, tierischer oder pflanzlicher Herkunft und Viren gesammelt. Die Isolations- und Kultivierungstechniken, bezogen auf einzelne Zellen (z. B. als Zelllinie), verdanken sich historisch der Mikrobiologie und Zellbiologie als zwei biologischen Teildisziplinen, die von Beginn an auch die Interaktion zwischen verschiedenen Organismen- und Zellgruppen erforschte (z. B. im Rahmen der Infektions- und Immunforschung). So ist neben dem engeren Ausdruck „Mikrobielles Ressourcenzentrum“ auch die weitere Bezeichnung „Mikrobiologisches Ressourcenzentrum“ für die entsprechenden Sammlungen gebräuchlich. Dabei bleibt der Fokus auf Mikroorganismen und damit die Spezialisierung auf diese eine der vier biologischen Gruppen kultivierbarer Zellen (mikrobielle, pflanzliche, tierische und humane Zellen) bestehen, was im Englischen als „microorganism domain“ bzw. „microorganism domain Biological Resource Center“ (mBRC) benannt wird. Der Unterscheidung der differierenden technischen Handhabbarkeit der Kulturen aus jenen vier Gruppen verdankt sich die allgemeine Definition und Binnengliederung von Biologischen Ressourcenzentren (engl.: Biological Resource Center, BRC) der OECD:4 „Biological Resource Centres are an essential part of the infrastructure underpinning biotechnology. They consist of service providers and repositories of the living cells, genomes of organisms, Z. B. die paneuropäische Forschungsinfrastruktur Microbial Resources Research Infrastructure (MIRRI). 3 Z. B. die United Kingdom National Culture Collection (UKNCC), die separate Sammlungen von u. a. Bakterien, Cyanobakterien („Blaualgen“) und marinen Protozoen, Fadenpilzen, Hefen in sich versammelt; siehe Webseite der UKNCC: www.ukncc.co.uk (letzter Aufruf: 18.12.2017). 4 Die Richtlinien der OECD (2004) wurden zusammen mit dem Common Access to Biological Resources and Information (CABRI) Technical Committee und der World Federation for Culture Collections (WFCC) entwickelt. 2

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and information relating to heredity and the functions of biological systems. BRCs contain collections of culturable organisms (e. g. microorganisms, plant, animal and human cells), replicable parts of these (e. g. genomes, plasmids, viruses, cDNAs), viable but not yet culturable organisms, cells and tissues, as well as data bases containing molecular, physiological and structural information relevant to these collections and related bioinformatics.“5 Ungeachtet des Namens gilt: Typischerweise bedrohen Probleme bei der Verstetigung der Betreuung insbesondere der universitären Sammlungen die zukünftige Verfügbarkeit der gesammelten Ressourcen. Dies war mit ein Grund für die Etablierung von größeren Biologischen Ressourcenzentren, die eine langfristige Sicherung und Bereitstellung gewährleisten. Als Mikrobielle Ressourcenzentren werden also Institutionen bezeichnet, die mikrobielle Stämme, ihre genomische DNA und assoziierte Daten sichern, authentifizieren, langfristig vorhalten und zur Verfügung stellen.6 Damit spielen mikrobiologische Ressourcenzentren eine Schlüsselrolle bei der Etablierung der Bioökonomie. Die gut charakterisierten Stämme werden entsprechend als „mikrobiologische Ressourcen“ bezeichnet. Mikrobielle Ressourcenzentren halten auch das erforderliche Expertenwissen in Bezug auf Biosecurity, Biosafety und den Schutz geistigen Eigentums vor. Moderne Entwicklungen umfassen die Bereitstellung genomischer DNA der mikrobiellen Stämme und die verbesserte Verfügbarkeit mit (Meta)Daten. Die digitale Zusammenführung allen verfügbaren Wissens zu den mikrobiellen Stämmen gestattet neuartige Suchanfragen und ermöglicht damit die Bearbeitung neuartiger Fragen in der Grundlagenforschung sowie neuartige Anwendungen. Mikrobielle Ressourcen und die mit ihnen assoziierten Daten werden durch die öffentlichen Sammlungen für breite Nutzergruppen verfügbar und daher auch als microbial commons bezeichnet. Damit wird hervorgehoben, dass die Stämme einer großen Gruppe von Nutzern zur Verfügung stehen, die ein nicht-exklusives Nutzungsrecht haben.7 5 OECD, Guidance for the operation of Biological Resource Centres (BRCs), Paris 2004, online unter: http://www.oecd.org/science/biotech/23547743.pdf (letzter Aufruf: 21.12.2017). 6 Ebd. 7 Dedeurwaerdere, Tom, „Self-governance and international regulation of the global microbial commons: Introduction to the special issue on the microbial commons“, in: International Journal of the Commons, 4(1)/2010, S. 390-403.

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2. Das Leibniz-Institut DSMZ: ein Mikrobielles Ressourcenzentrum Die Struktur, Aufgaben und Arbeitsweise eines Mikrobiologischen Ressourcenzentrums soll hier am Beispiel des Leibniz-Instituts DSMZ-Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen erläutert werden. Die DSMZ beschäftigt derzeit etwa 200 Mitarbeiter. Nach der Gründung einer ersten Deutschen Mikrobenbank8 im Jahr 1969 an der Universität Göttingen wurde zwischen 1987–1989 die derzeitige Struktur der DSMZ durch Zusammenlegung von sieben mikrobiologischen Sammlungen und die Ergänzung um drei zusätzliche Sammlungsgebiete (menschliche und tierische Zellkulturen, Pflanzenviren, Pflanzenzellkulturen) geschaffen. Das Institut verfügt derzeit über ein Gesamtbudget von ca. 13 Mio. Euro und zusätzliche Drittmittel in Höhe von ca. 3 Mio. Euro. Nur etwa 35 % des Gesamtbudgets werden mit Verkaufserlösen der mikrobiellen Ressourcen erzielt. Dies macht deutlich, dass ein Mikrobielles Ressourcenzentrum nicht aus Eigeneinnahmen finanzierbar ist, sondern auf eine nachhaltige öffentliche Förderung unbedingt angewiesen ist, um seinem Auftrag der Versorgung der wissenschaftlichen Forschung nachkommen zu können. Das Leibniz-Institut DSMZ umfasst aktuell 57.000 verschiedene mikrobielle Ressourcen, wovon etwa die Hälfte Bakterienstämme sind. Hervorzuheben ist, dass die Bakteriensammlungen der DSMZ etwa 80 % aller wissenschaftlich beschriebenen Bakterienarten abdeckt, was gegenüber allen anderen Sammlungen weltweit ein Alleinstellungsmerkmal darstellt. Die Sammlung der menschlichen und tierischen Zellkulturen schließt auch den weltweit größten Bestand an Leukämie-Lymphom-Zelllinien ein. Die Sammlung Pflanzenviren umfasst die Referenzsammlung aller wichtigen Quarantäneviren und schafft so die Grundlage für die Diagnose und Bekämpfung von viralen Krankheiten wichtiger tropischer Nutzpflanzen.9 Das Leibniz-Institut DSMZ ist außerdem die einzige Hinterlegungsstelle für Patentstämme in Deutschland gemäß dem

8 Die Abteilung „Mikrobenbank und Ernährungsphysiologie der Mikroben“ war innerhalb des Göttinger Instituts für Mikrobiologie der „Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung mbH“ angesiedelt. 1976 wurde die mikrobielle Sammlung als „DSM – Deutsche Sammlung von Mikroorganismen“ ausgegliedert, bevor sie 1979 Bestandteil der Gesellschaft für Biotechnologische Forschung (GBF) wurde. 1987 wurde die Sammlung nach Braunschweig verlegt. 9 Vgl. Schumacher, in diesem Buch.

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Budapester Vertrag.10 Jährlich werden über 2.000 neue Stämme und Zelllinien (großenteils Bakterienstämme) in den Sammlungen der DSMZ hinterlegt und etwa 40.000 Stämme an ca. 10.000 Kunden in 86 Ländern der Welt verschickt. 65 % der Lieferungen gehen ins Ausland und 50 % an akademische Einrichtungen. Fast alle ausgelieferten Stämme werden ausschließlich in der Grundlagenforschung eingesetzt; pro Jahr verzeichnet die DSMZ nur einen Fall für die kommerzielle Nutzung eines Stammes, die nur nach individueller Prüfung der rechtlichen Voraussetzungen genehmigt wird. Typischerweise handelt es sich bei Anfragen nach kommerzieller Nutzung um den geplanten Einsatz eines Stammes zur Qualitätsoder Prozesskontrolle, nicht jedoch um ein Vorhaben aus der Bioprospektion (gewinnorientierte Entwicklung neuartiger Anwendungen von Organismen, z. B. im Falle von Mikroorganismen die Suche nach neuen Antibiotika). Taxon-assoziierte Metadaten werden in der neuen Datenbank BacDive11 zusammengeführt und den Nutzern kostenfrei zur Verfügung gestellt. Das Leibniz-Institut DSMZ ist jedoch nicht nur eine Infrastruktur. Neben der Sammlung nimmt die DSMZ spezifische Aufgaben im Servicebereich (z. B. Identifizierung, chemotaxonomische Analysen, Analyse der Bakterienzusammensetzung in Probenmaterial, Genomsequenzierung, Sicherheitshinterlegungen) wahr und führt umfangreiche eigene Forschungsarbeiten durch (Abb. 1). Die thematische Forschung fokussiert dabei auf (1) mikrobielle Diversifizierung (Artbildung), (2) bakterielle Interaktionen, (3) Mechanismen der Überdauerung, (4) Mechanismen der Tumorgenese und (5) virale Pathogenitätsmechanismen. Pro Jahr werden vom Institut 140 wissenschaftliche Arbeiten publiziert. Zum einen kann für die Bearbeitung dieser sammlungsbezogenen Themen die vorhandene Expertise zu den mikrobiellen Ressourcen effektiv genutzt werden. Zum anderen kommen die Forschungsergebnisse nicht nur der Wissenschaft allgemein, sondern speziell auch den Nutzern der mikrobiologischen Ressourcen zugute, da zum Beispiel die Erkenntnisse zu den Überdauerungsmechanismen eine Verbesserung der Konservierungsverfahren ermöglichen und die Informationen 10 Langfassung: Budapester Vertrag über die internationale Anerkennung der Hin­ terlegung von Mikroorganismen für die Zwecke von Patentverfahren (1977). Vgl. https://www.jurion.de/gesetze/budapestervtrausfo/ (letzter Aufruf: 28.10. 2017). 11 Siehe BacDive-Webseite: http://bacdive.dsmz.de (letzter Aufruf: 21.12.2017).

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Abb. 1: Übersicht über die Aufgabenbereiche der DSMZ.

zu viralen Pathogenitätsmechanismen von direkter Relevanz für die Erforschung und Bekämpfung von Pflanzenkrankheiten sind. Die drei Aufgabenbereiche Ressourcenmanagement, Service und Forschung (einschließlich Wissenstransfer) sind typische Bestandteile einer Forschungsinfrastruktur. Wie andere Leibniz-Institute leistet die DSMZ einen essenziellen Beitrag für eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe, in diesem Fall die Erforschung, Bereitstellung und Nutzung der mikrobiellen Diversität. Sie unterstützt und ermöglicht dadurch nicht nur die mikrobiologische Diversitätsforschung, sondern auch neue Entwicklungen in der Gesundheitsforschung, neue Verfahren zur biotechnologischen Nutzung von Mikroorganismen, und die Etablierung der Bioökonomie (Abb. 1).

3. Diversität und Rolle von Mikroorganismen in der Umwelt Mikroorganismen und vor allem Bakterien sind ubiquitär in der Umwelt verbreitet und finden sich in hohen Zahlen in Böden, Binnengewässern, den Ozeanen und auch den tieferen Schichten der Erdkruste bis in über 2 km Tiefe (der sog. „Tiefen Biosphäre“). So enthält ein Gramm Oberboden typischerweise eine Milliarde und

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ein Milliliter (d. h. ein Fingerhut) Ozeanwasser um die 100.000 Bakterienzellen.12 Auf den Kontinenten stellen Gefäßpflanzen 79 % der Biomasse, Bakterien im Boden und Binnengewässern 4 % und die Bakterien der Tiefen Biosphäre 17 %. Allerdings nimmt der Großteil der pflanzlichen Biomasse als Stützgewebe praktisch nicht an den globalen Stoffumsetzungen teil. Die Bedeutung der Pflanzen auf den Kontinenten ist daher deutlich geringer als ihr hoher Anteil an der Biomasse vermuten lässt. Im Gegensatz zu den Kontinenten liegt Biomasse in den Ozeanen größtenteils in Form von Mikroorganismen vor. Selbst die photosynthetischen Produzenten sind in Ökosystemen des offenen Meeres zum überwiegenden Teil Prokaryoten. Der Großteil (> 80 %) der Biomasse im marinen Bereich findet sich allerdings in der Tiefen Biosphäre.13 In den genannten Ökosystemen sind Bakterien nicht nur abundant, sondern katalysieren auch die zentralen biogeochemischen Prozesse. Neben der photosynthetischen Kohlenstofffixierung im Ozean sind dies Stoffwechselreaktionen, die lokal oder regional durchaus dramatische Konsequenzen haben können. So wird ein Großteil der Küstenfauna an der Südwestküste Afrikas regelmäßig durch Eruptionen von Schwefelwasserstoff auf einer Fläche von bis zu 20.000 km2 vergiftet. Ganze Küstenstriche sind zu diesen Zeiten dicht von toten Meerestieren bedeckt, da diese dem Sauerstoffmangel durch Wanderung auf die Strände auszuweichen versuchen. Ausgelöst wird dieses Phänomen durch Algenblüten, die nach ihrem Absterben von Bakterien abgebaut werden, wobei letztere unter Sauerstoffmangel aus dem im Meerwasser gelösten Sulfat den hochtoxischen Schwefelwasserstoff bilden. Es ist daher offensichtlich, dass sowohl für grundlagenwissenschaftliche Fragestellungen als auch für Anwendungen die Vielfalt der Mikroorganismen ausreichend verstanden sein muss und ferner Mikroorganismen in geeigneter Form nachhaltig verfügbar gemacht werden müssen. Dies betrifft beispielsweise das besseres Verständnis der Produktivität der Weltmeere, der Bodenfruchtbarkeit, die Suche

12 Overmann, Jörg und Cendrella Lepleux, „Marine Bacteria and Archaea: Diver­ sity, Adaptations, and Culturability“, in: Stal, Lucas J. und Mariana S. Cretoiu (Hg.), The Marine Microbiome. An Untapped Source of Biodiversity and Biotechnological Potential, Cham/Schweiz 2016, S. 21-55. 13 Whitman, William B.; Coleman, David C. und William J. Wiebe, „Prokaryotes: the unseen majority“, in: Proceedings of the National Academy of Science USA, 95/1998, S. 6578-6583; Overmann und Lepleux, Marine Bacteria.

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neuen Möglichkeiten der Schadstoffbeseitigung sowie die Entdeckung neuer Wirkstoffe für Antibiotika oder Krebsmedikamente. In deutlichem Gegensatz zu den höheren Organismen ist allerdings nur ein verschwindend geringer Teil der mikrobiellen Diversität bekannt und steht als isolierte Laborkultur zur Verfügung. Dies wurde erst vergleichsweise spät (in den 1990er Jahren) erkannt, da Mikroorganismen anhand ihrer Morphologie alleine kaum voneinander unterschieden werden können und daher erst geeignete molekulare Methoden zur Einordnung der zahlreichen Mikroorganismen in natürlichen Proben entwickelt werden mussten. Als Routinemethode wird ein Gen sequenziert, welches eine strukturgebende RNA des Ribosoms (die sog. 16S rRNA) codiert. Da es sich bei dem Ribosom um einen essenziellen Zellbestandteil mit derselben Funktion in allen Organismen handelt, lassen sich die Basensequenzen aller Organismen relativ einfach miteinander vergleichen und so auch bisher unbekannte Arten identifizieren. Zum Vergleich stehen mehr als 3 Mio. Sequenzen in öffentlichen Datenbanken zur Verfügung. Systematische vergleichende Analysen vieler unterschiedlicher natürlicher Proben haben über die letzten Jahre ergeben, dass allein die Domäne der Bakterien (neben den Domänen Archaea und Eukarya eine der drei Domänen des Lebens) aus ca. 90 verschiedenen Phyla besteht, von denen etwa 40 bisher nur anhand von Sequenzen bekannt sind und 20 weitere Phyla nur wenige kultivierte Vertreter umfassen.14 Schätzungen der bakteriellen Diversität belaufen sich auf 107 bis 109 verschiedene Arten,15 während bisher insgesamt nur ca. 12.000 Bakterienarten überhaupt wissenschaftlich beschrieben werden konnten.16 Am Rande sei bemerkt, dass die entsprechende Zahl der – wesentlich besser erforschten – krankheitserregenden Bakterienarten bei etwa 550 liegt, diese im Bewusstsein der Allgemeinheit typische (und negativ besetzte) Rolle der Bakterien also tatsächlich Ausnahmefälle unter den Bakterien darstellen. Insgesamt belegen die angeführten Zahlen, dass noch erhebliche Forschungsanstrengungen erforderlich sein werden, um die mikrobielle Diversität auch nur ansatzweise verstehen und nutzen zu können. 14 Baker, Brett J. und Gregory J. Dick, „Omic Approaches in Microbial Ecology: Charting the Unknown“, in: Microbe Magazine, 8/2013, S. 353-360. 15 Curtis, Thomas P.; Sloan, William T. und Jack W. Scannell, „Estimating prokary­ otic diversity and its limits“, in: PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America), 99/2002, S. 10494-10499. 16 PNU, Prokaryotic Nomenclature Up-to-date, online unter: http://bacdive.dsmz. de/api/pnu/ (letzter Aufruf: 21.12.2017).

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4. Was ist anders bei Mikroorganismen? – Die spezifische Motivation und Vorgehensweise für das Sammeln von Mikroorganismen Zentrale Aufgaben organismischer Sammlungen sind, Belegexemplare für den Nachweis des Vorkommens von Arten zu sichern, Material für nachfolgende Forschungsarbeiten sowie Vergleichsmaterial für die vergleichende Untersuchung anderer Organismen bereitzustellen. Daneben erfüllen viele öffentliche Sammlungen Bildungsaufgaben und haben eine ästhetische Dimension. Mikroorganismen unterscheiden sich in mehreren grundsätzlichen Eigenschaften von Pflanzen oder Tieren. Aufgrund dieser Eigenschaften unterscheiden sich auch die Motivation und Vorgehensweise beim Sammeln von Mikroorganismen deutlich von den Sammelstrategien bei mehrzelligen Pflanzen und Tieren. 4.1 Populationsgröße und Gefahr des Aussterbens Bakterielle Populationen sind oft sehr groß und können, basierend auf Untersuchungen an natürlichen Standorten, durchaus 1020-1028 Individuen umfassen und sich über große Gebiete erstrecken.17 Deshalb, und da Endemismus bei Mikroorganismen sehr selten ist,18 erscheint die Gefahr des Aussterbens von Bakterienarten eher unwahrscheinlich und stellt keine Motivation für das aufwändige Sammeln, Isolieren und Konservieren von Bakterien dar. 4.2 Biogeographie und Endemismus Mikroorganismen werden aufgrund ihrer geringen Größe entweder zusammen mit Staubpartikeln über Windströmungen oder auch durch Zugvögel, Insekten und andere wandernde Tiere sehr rasch und über große Distanzen verbreitet. So findet sich auf Staubparti-

17 Miller, Stephen D.; Haddock, Stephen H. D.; Elvidge, Christopher D. und Thomas L. Lee, „Detection of a bioluminescent milky sea from space“, in: PNAS (Pro­ ceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America), 102/2005, S. 14181-14184. 18 Vgl. 4.2.

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keln aus der Sahara eine hohe bakterielle Diversität;19 solche Staubpartikel können innerhalb von drei Tagen von der Sahara in die Karibik gelangen,20 wobei die aufsitzenden Bakterien diesen Transport zu einem großen Teil problemlos überleben. Im marinen Bereich sorgen die weitreichenden globalen Meeresströmungen für einen Austausch zwischen mikrobiellen Populationen. Es verwundert daher nicht, dass von verschiedensten Meeresküsten in Indonesien, Madagaskar, Sao Tomé, Portugal, Sizilien und Mexiko die gleichen Bakterien (Streptomyces carpaticus) isoliert werden konnten, die alle die chemisch identische zytotoxische Verbindung (Ikarugamycin) produzierten.21 Selbst bei Analyse der kompletten Genome zeigt sich, dass Bakterien, die in einer geographischen Distanz von bis zu 18.000 km isoliert wurden, fast identische Genomsequenzen (bis über 99 % Identität) und den gleichen Gengehalt (bis zu 93 % identisch) aufwiesen und auch identische Sekundärmetabolite bildeten.22 Kleinräumige Verbreitungsmuster und Endemismen sind daher nach gegenwärtigem Erkenntnisstand für Mikroorganismen recht unwahrscheinlich und deshalb kein Sammelkriterium, anders als bei Pflanzen.23 4.3 Sammeln von Mikroorganismen, Isolierung von Reinkulturen Die morphologische Vielfalt von Mikroorganismen ist wesentlich geringer als die von Mehrzellern und reicht in den allermeisten Fällen nicht aus, einzelne Arten zu unterscheiden. Die mikrobielle Systematik ist daher auf andere, verlässlichere Kriterien zur Ein19 Meola, Marco; Lazzaro, Anna und Josef Zeyer, „Bacterial composition and sur­ vival on Sahara dust particles transported to the European Alps“, in: Frontiers in Microbiology, 6/2015, S. 1454. 20 Griffin, Dale W., „Atmospheric movement of microorganisms in clouds of desert dust and implications for human health“, in: Clinical Microbiology Reviews, 20/2007, S. 459-477. 21 Overmann, Jörg, „Significance and future role of microbial resource centers“, in: Systematic and Applied Microbiology, 38/2015, S. 258-265. 22 Speth, Daan E.; Hu, Baolan; Bosch, Neek et al., „Comparative genomics of two independently enriched ‘Candidatus Kuenenia stuttgartiensis’ anammox bac­ teria“, in: Frontiers in Microbiology, 3/2012, 307; Thole, Sebastian; Kalhoefer, Daniela; Voget, Sonja et al., „Phaeobacter gallaeciensis genomes from globally opposite locations reveal high similarity of adaptation to surface life“, in: ISME Journal, 6/2012, S. 2229-2244. 23 Vgl. Karafyllis und Lammers, in diesem Buch.

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ordnung angewiesen. Dazu werden üblicherweise physiologische Tests sowie – in letzter Zeit vermehrt – molekulare Eigenschaften (Gen- bzw. Genomsequenzen) herangezogen. Insbesondere die physiologischen Tests können nur an stoffwechselaktiven Zellen durchgeführt werden. Daher müssen die gesammelten Mikroorganismen in lebendiger und vermehrungsfähiger Form konserviert werden. Zudem lassen sich die physiologischen oder molekularen Eigenschaften meist nicht an Einzelzellen, sondern nur an einer größeren Zahl von Zellen testen. Die getesteten Zellen müssen dazu erbgleich sein, denn Eigenschaften einer einzelnen Art lassen sich an Gemischen aus verschiedenen Mikroorganismenarten (Mischkulturen) kaum ermitteln. Praktisch bedeutet dies, dass bei Mikroorganismen zunächst jeweils eine einzelne Zelle isoliert und anschließend vermehrt werden muss. Die Nachkommenschaft dieser Zelle – bei Bakterien der sogenannte „Bakterienstamm“ – stellt demnach das eigentliche Sammlungsobjekt dar. Als solches muss es in Reinkultur vorliegen, d. h. als Kultur, die ausschließlich die nahezu erbgleichen Nachkommen einer einzigen Bakterienzelle enthält. Aufgrund der großen Diversität von Bakterien ist zudem die Chance, ein erbgleiches Bakterium ein zweites Mal zu isolieren, extrem gering. Daher müssen isolierte Bakterienstämme grundsätzlich auf Dauer gesichert werden und verfügbar bleiben. In den letzten 20 Jahren hat sich gezeigt, dass die Isolierung von Bakterienstämmen der limitierende Faktor bei der Sammlung und Erforschung der bakteriellen Diversität ist. Von den zahlreichen (ca. 1 Mrd. pro Gramm Boden, s. Abschn. 3) Bakterienzellen, die man mit speziellen Färbemethoden in natürlichen Proben nachweisen kann, wachsen in der Regel nur zwischen 0,1 und 0,001 % auf künstlichen Nährböden im Labor.24 Eine wichtige Ursache für diese Diskrepanz sind die Wachstumsbedingungen in Labormedien, die sich oft stark von den Bedingungen in der Natur (z. B. hinsichtlich der Nährstoffkonzentration, der Temperatur, dem pH-Wert) unterscheiden. Auch wenn in den letzten Jahren verbesserte Wachstumsmedien und Anreicherungsmethoden entwickelt wurden, konnte bisher nur ein Bruchteil der existierenden Bakterienarten (12.000 von geschätzten 107 bis 109, s. Abschn. 3) als Laborkultur isoliert und in öffentlichen Sammlungen hinterlegt werden. 24 Overmann, Jörg, „Principles of enrichment, isolation, cultivation, and preser­ vation of prokaryotes“, in: Rosenberg, E.; Stackebrandt, E.; DeLong, E .F. et al. (Hg.), The Prokaryotes, New York 42013, S. 149-207.

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4.4 Vermehrungsfähigkeit, Einzigartigkeit, genetische Stabilität Prinzipiell kann eine isolierte Bakterienzelle beliebig vermehrt werden, da Bakterien keinen Alterungsprozess wie höhere Organismen durchlaufen. Einmal isoliert, kann ein Bakterienstamm daher problemlos vervielfältigt und in verschiedenen Sammlungen hinterlegt werden. Eine Einschränkung ergibt sich allerdings aus der Tatsache, dass sich bei der wiederholten Überimpfung eines Bakterienstammes jede Zelle sehr oft teilt. Eine häufige Teilung begünstigt das Auftreten von genetischen Veränderungen. Wird also die Kultur eines Bakterienstamms nach dem Anwachsen immer wieder in frisches Medium überimpft, so können über wenige Jahre deutliche genetische Veränderungen entstehen, die sich in der Zellpopulation durchsetzen. Dadurch kann der Bakterienstamm gegenüber dem ursprünglichen Isolat manche genetischen Eigenschaften (z. B. Antibiotikaresistenzen) verlieren und so nicht mehr der ursprünglichen Beschreibung entsprechen.25 Dies kann verhindert werden, indem bereits direkt nach der Isolierung eines Bakterienstammes eine genügend große Zahl an Parallelkulturen erzeugt und anschließend langfristig konserviert wird. Jede einzelne Kultur braucht dann anschließend nur noch selten weitergeführt (d. h. maximal fünfmal überimpft) werden, so dass genetische Änderungen kaum auftreten.

5. Prinzipien und Praxis der Konservierung Ziel der Konservierung von Mikroorganismen ist die langfristige Erhaltung lebensfähiger Zellen bei gleichzeitig minimaler biochemischer Aktivität. Dazu wurden im Wesentlichen zwei verschiedene Verfahren entwickelt. Bei der Gefriertrocknung (Lyophilisation) wird eine konzentrierte Zellsuspension in einer Glasampulle mit sterilem Magermilchpulver (bei anaeroben Bakterien mit Eisensulfidpulver) vermischt, möglichst rasch bei -60 bis -80 °C eingefro25 Abt, Birte; Riedel, Thomas; Bunk, Boyke und Jörg Overmann, „Funktionen, Relevanz und zukünftige Herausforderungen mikrobieller Ressourcenzentren – das Beispiel DSMZ“, in: Illig, Thomas; Hummel, Michael; Jahnes, Roland et al. (Hg.), Biobanken als Bindeglied zwischen Versorgung und Forschung. Tagungs­ band, 5. Nationales Biobanken-Symposium in Berlin, Berlin 2016, S. 69-77.

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ren und anschließend durch Sublimation im Vakuum getrocknet. Das Magermilchpulver verringert den osmotischen Stress (s. u.) der Zellen während des Einfriervorgangs. Nach Ende der Trocknungsphase wird die Ampulle zugeschmolzen und die lyophilisierte Bakterienkultur bei 10 °C gelagert. In diesem Zustand können Isolate vieler Bakterienarten teilweise über mehrere Jahrzehnte lebensfähig gehalten werden. Da in und zwischen den Bakterienzellen noch Restwasser verbleibt und die Temperaturen über dem Gefrierpunkt liegen, finden während der Lagerung noch biochemische Reaktionen in den Zellen statt und führen letztendlich zu einer Verringerung der Zahl teilungsfähiger Zellen. Außerdem überlebt etwa ein Drittel der im Leibniz-Institut DSMZ gelagerten Bakterienstämme das Verfahren der Gefriertrocknung nicht. In Zellen ist flüssiges Wasser bis zu Temperaturen von ca. -100 °C nachweisbar. Die Reaktionsrate biologischer Moleküle in den Zellen ist bei -196 °C, der Temperatur flüssigen Stickstoffs, um einen Faktor von 1028 gegenüber 37 °C verlangsamt. Die Konservierung in oder über flüssigem Stickstoff ist daher die bevorzugte und sicherste Methode für die Langzeitkonservierung teilungsfähiger mikrobiologischer Kulturen und wird daher beispielsweise im LeibnizInstitut DSMZ routinemäßig für alle Bakterienstämme eingesetzt. Entscheidend für den Erfolg dieser Methode ist das Minimieren der Bildung von Eiskristallen in und um die Zellen während des Einfriervorgangs. Eine rasche Abkühlrate führt zur intrazellulären Eiskristallbildung, wobei die Salzkonzentration in der Restflüssigkeit des Zytoplasmas ansteigt. Dadurch können die Makromoleküle der Zelle geschädigt werden. Zudem kann die Zellmembran in ihrer Funktion beeinträchtigt werden. Eine langsame Abkühlrate führt zunächst zur Bildung extrazellulärer Eiskristalle, in Folge zum Verlust von Wasser aus den Zellen, zu einem Anstieg der intrazellulären Salzkonzentration und zu dadurch bedingten dauerhaften osmotischen Schäden. Die Einfrierrate muss daher für verschiedene Mikroorganismen optimiert werden. Auch bei einem zu langsamen Auftauen können sich neue Eiskristalle in Zellen bilden. Um während des Einfriervorgangs die Eiskristallbildung möglichst zu minimieren, werden den Zellpräparationen vorher Frostschutzmittel (Kryoprotektant; meist Glycerin oder Dimethylsulfoxid) zugesetzt. Die Abkühlrate kann durch Verwendung von sehr dünnwandigen (Wandstärke 0,26 mm) Glaskapillaren mit geringem Außendurchmesser (1,4 mm) deutlich erhöht werden. Bei dem am Leibniz-Institut DSMZ entwickelten und langjährig erfolgreich eingesetzten

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Verfahren werden nach der Zugabe des Kryoprotektants die Bakteriensuspensionen in die Glaskapillaren gefüllt, letztere an beiden Enden zugeschmolzen und die Kapillare umgehend in flüssigen Stickstoff transferiert.26 Der finanzielle Aufwand an personellen und sächlichen Ressourcen für die Aufnahme, Charakterisierung, Qualitätskontrolle und Konservierung von Bakterienstämmen ist substanziell und beläuft sich in der Summe auf über 900 Euro pro Bakterienstamm.27 Die tatsächlichen Kosten der Inwertsetzung eines isolierten und in einer mikrobiellen Sammlung hinterlegten Bakterienstamms liegen jedoch im zehnfachen Bereich (s. Abschn. 7).

6. Nutzung und zukünftige Bedeutung von Mikroorganismen Für die taxonomische Arbeit sind Sammlungen von Mikroorganismen unverzichtbar. Zum einen müssen für die Abgrenzung und Beschreibung neuer Arten die Eigenschaften isolierter Bakterienstämme mit denen anderer Arten verglichen werden. Für die Erstbeschreibung einer neuen Bakterienart ist die Hinterlegung des isolierten Stamms, an dem die Eigenschaften der neuen Art ermittelt wurden („Typstamm“), in zwei anerkannten öffentlichen Sammlungen zwingend vorgeschrieben. Auch für nachfolgende Untersuchungen mit neu entwickelten experimentellen Methoden ist eine langfristige Verfügbarkeit von Bakterienstämmen notwendig. Beispielsweise werden nach der Etablierung der Hochdurchsatz-Sequenziertechnologien nun die Genome mehrerer Tausend bakterieller Typstämme aus dem Leibniz-Institut DSMZ sequen­ ziert. Zum Zeitpunkt der Isolierung und Beschreibung der meisten dieser Stämme war eine Genomsequenzierung noch nicht möglich. Eine zunehmende Zahl von Forschungslaboratorien fordern auch direkt isolierte genomische DNA von hinterlegten Bakterienstämmen an, um damit molekularbiologische Arbeiten im Labor durchzuführen, ohne die entsprechenden Bakterienstämme zuvor selbst erst aufwendig im Labor anziehen zu müssen. Auch wenn die meisten Bakterienstämme ursprünglich im Rahmen von Untersu26 Tindall, Brian J., „Vacuum-drying and cryopreservation of prokaryotes“, in: Methods in Molecular Biology, 368/2007, S. 73-97. 27 Overmann, Significance.

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chungen zur Bakteriensystematik an der DSMZ hinterlegt wurden, werden diese Stämme anschließend häufig für Untersuchungen in anderen Fachgebieten benötigt. Dies zeigt eine Analyse der Publikationen, in denen Bakterienstämme der DSMZ zitiert wurden. Über die vergangenen 30 Jahre wurden insgesamt 11.030 Arbeiten über Untersuchungen an Stämmen der DSMZ veröffentlicht. 63 % dieser Arbeiten sind jedoch anderen Fachgebieten als der Systematik zuzuordnen. Dies belegt die große Bedeutung öffentlich verfügbarer mikrobieller Kulturen für die Lebenswissenschaften insgesamt. Sammlungen von Mikroorganismen kommt auch eine zunehmend wichtige Rolle für die Anwendung zu. In den vergangenen Jahrzehnten ist die Zahl neu zugelassener Antibiotika dramatisch zurückgegangen.28 Die große Zahl unerforschter Bakterienarten stellt ein erhebliches Potenzial für die Entdeckung von dringend benötigten neuen Wirkstoffen dar. Mikrobiologische Sammlungen können auch die Entwicklung alternativer Therapieansätze ermöglichen. So werden seit einigen Jahren bakterienspezifische Viren (Bakteriophagen) als Alternative zur Antibiotikatherapie erforscht. Die umfangreiche Bakteriophagensammlung des Leibniz-Institut DSMZ liefert dazu die erforderlichen Biomaterialien und die verantwortlichen Kuratoren beteiligen sich an zahlreichen laufenden Forschungsprojekten. Mikroorganismen werden auch in verschiedenen Verfahren des Schadstoffabbaus eingesetzt. So finden sich an vielen Stellen weltweit Rückstände des Lösungsmittels Tetrachlorethen (Trivialname Perchlorethylen, PER) im Grundwasser. Tetrachlorethen wurde in der Vergangenheit häufig in der chemischen Reinigung und zum Entfetten von Metallteilen in Industriebetrieben eingesetzt, gelangte aufgrund unzureichender Schutzmaßnahmen in den Betrieben in den Untergrund und persistiert seitdem jahrzehntelang in Grundwasserleitern. Ende der 1980er Jahre wurde ein vollkommen neuartiges Bakterium (Dehalococcoides ethenogenes) entdeckt und isoliert, das Tetrachlorethen auch bei Sauerstoffmangel komplett abbauen und damit unschädlich machen kann. Dieses Bakterium konnte erfolgreich zur Grundwassersanierung eingesetzt werden; beispielsweise wurden in Ontario (Kanada) 100 Mrd. Bakterienzellen in den belasteten Untergrund gepumpt; dadurch konnte über einen Zeitraum von nur 3 Monaten ein Abbau von 60 % des vorhandenen Tetrachlorethen erreicht werden. 28 Cooper, Matthew A. und David Shlaes, „Fix the antibiotics pipeline“, in: Nature, 472/2011, S. 32.

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Pro Jahr werden weltweit derzeit etwa 800 Typstämme neuer Bakterienarten isoliert und beschrieben. Daneben wird jedes Jahr eine noch größere Zahl von Nichttypstämmen gewonnen. Eine unselektive Aufnahme dieser Stämme würde die Kapazität jeder Sammlung in kurzer Zeit übersteigen. Daher wurden Kriterien entwickelt, mit denen Stämme von besonderer Bedeutung für die zukünftige Forschung und Entwicklung (sog. key strains) ausgewählt werden können.29 Key strains umfassen a) phylogenetisch neuartige Stämme (neue Entwicklungslinien), b) Referenz- und Teststämme (inkl. multiresistenter Stämme), c) Stämme mit sequenzierten Genomen, d) Stämme bekannter Arten, die besondere physiologische und/oder ökologische Eigenschaften aufweisen, e) Stämme aus multizentrischen Studien, f) relevante Stämme von Krankheitsausbrüchen (mit besonderer Virulenz, Häufigkeit, Resistenz), g) neuartige Pathogene.

7. Wert und Eigentumsrechte von Mikroorganismen, „Biopiraterie“ Bakterien einer Art kommen in großen Zellzahlen (Populationsgrößen) und geographisch weit verbreitet vor (vgl. Abschn. 4). Aufgrund dessen hat ein Bakterium in einer einzelnen Umweltprobe aus volkswirtschaftlicher Sicht keinen Wert per se. Die Isolierung eines Bakterienstamms erfordert einen erheblichen Personalaufwand sowie den Einsatz von Verbrauchsmaterial und teuren Geräten. Im Durchschnitt werden zur Isolierung eines neuartigen Bakteriums derzeit in Deutschland 9.836 Euro benötigt. Zusammen mit den Kosten zur Hinterlegung in einer öffentlichen Sammlung (918 Euro; vgl. Abschn. 5) beläuft sich der volkswirtschaftliche Einsatz daher pro Bakterienstamm auf 10.754 Euro.30 Da es sich dabei zumeist um öffentlich geförderte wissenschaftliche Arbeiten handelt, erfolgt die Finanzierung der Isolierung und Charakterisierung von mikrobiellen Stämmen zumeist aus Steuergeldern. Es ist daher schlecht vermittelbar, dass von den in Forschungslaboratorien gewonnenen Bakterienisolaten nur 0,03-0,95 % den Weg in öffent-

29 Overmann, Significance. 30 Ebd.

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liche Sammlungen finden und der Forschung damit langfristig und qualitätskontrolliert zur Verfügung gestellt werden können.31 Jüngste Berechnungen haben ergeben, dass für die Langzeitlagerung im Leibniz-Institut DSMZ Kosten von 3,23 Euro pro Jahr und Bakterienstamm entstehen. Dieser Betrag entspricht einem Anteil von 0,03 % der bei der Gewinnung und Charakterisierung eines Bakterienstamms entstandenen Kosten.32 Die Aufnahme, Qualitätssicherung, Dokumentation und Weitergabe mikrobiologischer Kulturen durch öffentliche Sammlungen ist finanziell daher eine extrem effiziente Methode, um den volkswirtschaftlichen Wert dieser biologischen Ressourcen langfristig zu erhalten. Die vorstehend dargestellten Tatsachen haben auch direkte Implikationen für die zukünftige internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit und die Nutzung mikrobieller Ressourcen. Mit der Unterzeichnung des Übereinkommens über die biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity, CBD)33 wurden im Jahr 1992 die Eigentumsrechte an biologischen Ressourcen und am indigenen Wissen (z. B. Anwendung traditioneller Heilpflanzen) den Ländern zugesprochen, auf deren Staatsgebiet die Ressourcen und das Wissen vorkommen. Motivationen für das Abkommen sind ein verbesserter Schutz und eine nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt, ein gerechter Vorteilsausgleich zwischen Herkunftsländern und Nutzern der biologischen Vielfalt, und der Wissens- und Technologietransfer durch wissenschaftliche Kooperation. Um Rechtssicherheit und geeignete Mechanismen für diesen gerechten Vorteilsausgleich zu schaffen, wurde im Jahr 2010 in Nagoya (Japan) das „Protokoll von Nagoya über den Zugang zu genetischen Ressourcen und die ausgewogene und gerechte Aufteilung der sich aus ihrer Nutzung ergebenden Vorteile zum Übereinkommen über die biologische Vielfalt“ (kurz: Nagoya-Protokoll) verabschiedet. Es handelt sich dabei um einen völkerrechtlichen Vertrag, der am 12. Oktober 2014 in Kraft gesetzt wurde.34 Der Vertrag bezieht sich auf alle genetischen Ressourcen, d. h. auch auf mikrobielle Stämme, deren DNA, 31 Ebd.; Overmann, Jörg und David Smith, „Microbial Resource Centers contrib­ ute to bioprospecting of bacteria and filamentous microfungi“, in: Paterson, R. Russell M. und Nelson Lima (Hg.), Bioprospecting – Successes, Potential and Constraints. (Topics in Biodiversity and Conservation, Vol. 16), Cham/Schweiz 2017, S. 51-79. 32 Overmann, Significance. 33 CBD-Webseite: www.cbd.int (letzter Aufruf: 21.12.2017). 34 Vgl. Graner, in diesem Buch.

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RNA aber auch biochemische Substanzen. Viele Länder schließen in ihre nationale Gesetzgebung bzw. Umsetzungsrichtlinien auch die reine Information zu Nukleinsäure- und Proteinsequenzen mit ein, obwohl dies nicht Bestandteil des Textes des Nagoya-Protokolls ist. Dabei ist die „Nutzung“ einer biologischen Ressource nicht nur als Verwendung zu kommerziellen Zwecken definiert, sondern umfasst alle Tätigkeiten, also auch die experimentelle Grundlagenforschung. Ein Vergleich der Grundannahmen der CBD und des NagoyaProtokolls mit dem tatsächlichen wissenschaftlichen Kenntnisstand ergibt, dass die Umsetzung des Nagoya-Protokolls höchstwahrscheinlich vollkommen unerwartete und negative Konsequenzen für die Entwicklungsländer haben wird.35 Erstens basiert das Konzept des gerechten Vorteilsausgleich auf der Annahme, dass Entwicklungsländer eine besonders hohe und einzigartige biologische Diversität beherbergen und diese eine attraktive Ressource für die Erforschung und Nutzung durch die industrialisierten Länder darstellt, so dass die Entwicklungsländer daher entsprechende monetäre und nicht-monetäre Kompensationen von den Nutzern einfordern können. Die mikrobielle Diversität in tropischen und subtropischen Ländern ist nach ersten Analysen jedoch nicht höher als in Ländern der gemäßigten Zone. Endemismen sind bei Mikroorganismen sehr selten oder existieren vielleicht sogar gar nicht (vgl. Abschn. 4.2). Weder die mikrobiologische Diversitätsforschung noch die Bioprospektion sind daher auf die Zusammenarbeit mit einem spezifischen Land angewiesen. Tatsächlich bieten Länder wie Deutschland ähnlich gute Voraussetzungen zur Bioprospektion von Mikroorganismen wie Entwicklungsländer. Zweitens besitzen mikrobielle Ressourcen vor ihrer Isolierung und Charakterisierung in Reinkultur volkswirtschaftlich keinerlei Wert (s. o.). Natürliche, unbehandelte Proben aus Entwicklungsländern lassen sich daher nicht durch die Eigentümer kommerzialisieren. Im Gegenteil muss jeder Nutzer vor einer möglichen Kommerzialisierung erhebliche finanzielle Mittel in die Erforschung und Gewinnung von mikrobieller Diversität investieren. Dies macht eine rasche Inwertsetzung der mikrobiellen Diversität unrealistisch und wird in den Verhandlungen zwischen den beteiligten Parteien zunehmend berücksichtigt werden. Drittens besteht bei zahlreichen Entwicklungsländern 35 Overmann, Jörg und Amber Hartman Scholz, „Microbiological research under the Nagoya Protocol: Facts and fiction“, in: Trends in Microbiology, 25/2017, S. 85-88.

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derzeit die Tendenz, selbst die wissenschaftliche Zusammenarbeit durch eine ausgesprochen rigide Gesetzgebung zu regulieren und die Hinterlegung von isolierten Bakterienstämmen und sogar die Hinterlegung von DNA-Sequenzen in öffentlichen Datenbanken zu untersagen, so dass eine wissenschaftliche Publikation von Ergebnissen unmöglich wird. Motiviert ist diese Vorgehensweise durch mehrere Fälle von Rechtstreitigkeiten über die Eigentumsverhältnisse und Kommerzialisierung v. a. von Pflanzen aus Entwicklungsländern. Diese Fälle wurden öffentlichkeitswirksam mit dem Ausdruck „Biopiraterie“ belegt und erregten große mediale Aufmerksamkeit. Gerade bei Bakterien wird dabei allerdings vollkommen verkannt, dass öffentlich verfügbare Stämme und Genomdaten für eine kommerzielle Nutzung in der Regel uninteressant sind, da sie nicht exklusiv sind und daher nicht nur einem einzelnen Unternehmen zur Verfügung stehen. Eine rigide nationale Gesetzgebung und Umsetzung erschwert daher in erster Linie die Grundlagenforschung und internationale Kooperation anstatt den Missbrauch durch ausländische Firmen. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass die gleichen interessanten Bakterienarten parallel auch in anderen Ländern isoliert und publiziert werden können und die Forschungsanstrengungen und -investitionen in einem Land mit strenger Gesetzgebung wertlos machen. Mikroorganismen und vor allem Bakterien stellen nach wie vor eine der wichtigsten, wenn nicht sogar die wichtigste Quelle für neue Wirkstoffe dar.36 Aufgrund ihrer Biologie lassen sich Mikroorganismen jedoch durch einzelne Länder nicht monopolisieren. Im Gegenteil: Gemäß den vorstehend dargestellten naturwissenschaftlichen Fakten werden vor allem im Bereich der mikrobiellen Ressourcen nur diejenigen Entwicklungsländer eine Chance auf fruchtbare wissenschaftliche Zusammenarbeit, den gewünschten Wissens- und Technologietransfer und letztendlich auch auf zusätzliches volkswirtschaftliches Einkommen haben, die pragmatische und effiziente rechtliche Vorgaben und Genehmigungsverfahren etablieren können. Zudem werden sich diese Länder wahrscheinlich zeitnah in einer zunehmenden und ausgeprägten Konkurrenzsitu-

36 Newman, David J. und Gordon M. Cragg, „Natural products as sources of new drugs over the 30 years from 1981 to 2010“, in: Journal of Natural Products, 75/2012, S. 311-335.

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ation mit anderen Entwicklungs- und Schwellenländern, aber auch mit industrialisierten Ländern wiederfinden.37 Die Zukunft wird zeigen, ob die Idee von Mikroorganismen als „microbial commons“, der sich die Mikrobiellen Ressourcenzen­tren verpflichtet fühlen, Bestand haben wird. Womöglich werden die Mikroorganismen selbst dafür sorgen, kennen sie doch, wie gezeigt wurde, fast keine Grenzen.

37 Overmann und Scholz, Microbiological Research.

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Weinsorten digital: Die Reben (Vitis L.)-Datenbanken als bibliographisches und virtuelles Register

Abstract: The current article describes the historical development of the cultivated grape, starting with the domestication of the wild form in the Near East, followed by the continuous spread of the cultivated grape to neighboring countries and Western Europe until genetic erosion set in and the thereof resulting measures for its conservation in germplasm repositories. The latter includes the documentation of the grape diversity in bibliographical and virtual registers, which are outlined in the following. The focus is on the scientific and technical preconditions of the digital storage of information. Furthermore, questions related to synonymy and homonymy are discussed by examining genetic markers and morphology. In this regard, key components are presented in detail, such as basic principles for standardized data registration, descriptors for the characterization of accessions and validation criteria for the assessment of trueness to type of grapevine varieties. Zusammenfassung: Der vorliegende Beitrag beschreibt die historische Entwicklung der kultivierten Weinrebe (Vitis vinifera L. ssp. vinifera). Beginnend mit der Domestizierung der Wildform im Nahen Osten wird die Ausbreitung des Weines bis ins Westeuropa der Gegenwart nachgezeichnet und die genetische Erosion der Wein-Vielfalt der jüngeren Zeit hervorgehoben. Im Anschluss werden zum einen die daraus resultierenden Anstrengungen zu ihrer Erhaltung innerhalb von Genbanken, zum anderen die Dokumentation der Sortenvielfalt in bibliographischen und virtuellen Registern, d. h. Datenbanken, dargestellt. Der Fokus liegt dabei auf den wissenschaftlichen und technischen Voraussetzungen der digitalen Informationsspeicherung. Fragen nach Synonymen und Homonymen werden mit Hilfe der Morphologie und genetischer Marker untersucht. Diesbezüglich werden Hauptkomponenten im Detail präsentiert, wie z. B. die Grundprinzipien für die standardisierte Erfassung von Daten, die Deskriptoren für die Charakterisierung von Akzessionen und Kriterien zur Einschätzung der Sortenechtheit von Wein-Varietäten.

1. Einleitung Die Edle Weinrebe (Vitis vinifera L. ssp. vinifera) ist eine der ältesten Kulturpflanzen überhaupt, und Wein als Kulturgut gehört zu den angenehmsten Begleitern des menschlichen Daseins. Es wird

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davon ausgegangen, dass weltweit 6.000 bis 8.000 Rebsorten existieren. Anderson und Aryal fanden davon 1.271 Keltertrauben im Anbau.1 Für die Rotweinerzeugung nehmen Cabernet Sauvignon (290.091 ha), Merlot (267.169 ha) und Tempranillo (232.651 ha) die Spitzenplätze ein. Die Rangliste der Weißweinsorten wird von der spanischen Airen (252.180 ha) angeführt, gefolgt von Chardonnay (196.336 ha) und Sauvignon blanc (110.138 ha). Die Autoren bestätigen das Phänomen der Sortenkonzentration. Laut ihren Erhebungen belegten im Jahr 2000 nur noch 21 Sorten die Hälfte (!) der Weltrebfläche, im Jahr 2010 waren es sogar nur noch 15. Im Fokus dieses Beitrags stehen die weltweiten Rebenbestände und die Sammlung am Julius Kühn-Institut (JKI) Institut für Rebenzüchtung Geilweilerhof (IRZ Geilweilerhof) und deren digitale Erfassung. Vorgestellt werden das bibliographische Register „Vitis International Variety Catalogue“ (VIVC) und die virtuellen Register „European Vitis Database“ und „Deutsche Genbank Reben“. Ein Augenmerk liegt dabei auf der Sprache der Biofakte, die die Semantik der lebenden, aber züchterisch modellierten Objekte neu konfiguriert und verschiedenste Übersetzungsschritte beinhaltet. Dabei wird das Problem der Homo- und Synonyme von Weinsorten in seinem technischen Zusammenhang herausgearbeitet, wie überhaupt die gezüchtete Weinrebe als Pflanze mit ihrer besonderen Systematikgeschichte hervorgehoben werden soll (so spielt bei der Identifikation der Weinrebe u. a. auch der Geschmack eine Rolle). Der Technikanteil der Weinrebensammlungen hat sich in jüngster Zeit insbesondere durch neue Dokumentations- und Identifikationstechniken gesteigert, was auch auf den theoretischen Charakter der Lebendsammlung und den ihrer Objekte zurückwirkt. Morphologische Methoden, die mit Hilfe von Büchern und Katalogen umgesetzt wurden, werden zunehmend durch informationstechnische und genetische Methoden abgelöst. Dies betrifft sowohl die Ebene der Identifikation mit dem Zweck der Überprüfung der Sortenechtheit, als auch die Ebene der Dokumentation mit dem Zweck der Erhaltung. Konträr zu den anderen Beiträgen dieses Buches, die sich v. a. auf den theoretischen Sammlungsbegriff der Bank (Genbank) konzentrieren, wird hier auf die Katalogisierung und hierarchiebezogene 1

Anderson, Kym und Nanda R. Aryal, „Where in the world are various winegrape varieties grown? Evidence from a new database“, in: Wine Economics Research Centre Working Paper, 0213/2013.

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Inventarisierung abgehoben, wie sie sich am Begriff „Register“ aufzeigen lässt. Der Beitrag schließt mit einer Diskussion der Vor- und Nachteile der dargestellten jüngeren Entwicklungen und avisiert zukünftige Herausforderungen.

2. Geschichte, Domestikation, frühe Klassifikation Nach bisherigen Erkenntnissen lag das primäre Domestikationszentrum der Rebe Vitis vinifera L. im Bereich Südostanatolien/ Südkaukasus. Dies belegen zahlreiche archäologische Funde. Eine vollständig erhaltene Amphore mit pulvrig kristallinen Weinstein­ ablagerungen am Gefäßrand wurde im nördlichen Zagrosgebirge (Iran) geborgen, deren Alter mit 7.000 bis 7.400 Jahren angegeben wird.2 Eine in Armenien entdeckte Kelteranlage wird auf den gleichen Zeitraum datiert.3 Aufgrund noch weit älterer Scherben- und Rebsamenfunde im georgischen Shulaveri4 dürfte der Zeitraum des Übergangs von der Wild- zur Kulturform über 8.000 Jahre zurückliegen. Dieser sogenannte Domestikationsprozess ist analog zu anderen Kulturpflanzen gekennzeichnet durch eine Vergrößerung der Pflanzenorgane (Gigantismus).5 Dieses Phänomen sowie bessere Inhaltsstoffe, kulturdienliche Ernteeigenschaften oder die Änderung der Photoperiode-Sensitivität, d. h. der Abhängigkeit der Pflanzenentwicklung von der Tageslänge, bezeichnet Karl Hammer (1984) mit der Vokabel „Domestikationssyndrom“.6 Vergleichbare

McGovern, Patrick E., Ancient Wine – The Search for the Origins of Viniculture, Princeton/NJ 2003. 3 Barnard, Hans; Dooley, Alek N.; Areshian, Gregory et al., „Chemical evidence for wine production around 4000 BCE in the Late Chalcolithic Near Eastern Highlands“, in: Journal of Archaeological Science, 38(5)/2011, S. 977-984. 4 Chkhartishvili, Nodar und David Maghradze, „Viticulture and winemaking in Georgia“, in: Maghradze, David; Rustoni, Laura; Scienza, Attilio; Turok, Jozef und Osvaldo Failla (Hg.), Caucasus and Northern Black Sea Region Ampelography. Special Issue. Vitis: Journal of Grapevine Research, 51/2012, S. 169-176. 5 Vavilov, Nikolai Iwanowich, „Wild Progenitors of the Fruit Trees of Turkestan and the Caucasus and the Problem of the Origin of Fruit Trees“, in: Report and Proceedings of the IXth International Horticultural Congress, London 1930, S. 271-286. 6 Hammer, Karl, „Das Domestikationssyndrom“, in: Die Kulturpflanze, 32(1)/ 1984, S. 11-34. 2

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Ereignisse, sprich Mutationen, brachten auch unsere heutigen Kulturreben hervor: (1) Geschlecht: Wildreben sind getrenntgeschlechtlich. Durch eine Mutation am Geschlechtslokus entstanden zwittrige Pflanzen.7 Dadurch konnte im Anbau auf den männlichen Bestäuber verzichtet werden. (2) Pflanzenorgane: Die Trauben und die Beeren vergrößerten sich. Die Frucht als Ganzes wurde dadurch kompakter. (3) Inhaltsstoffe: Die extrem hohen Mostsäurewerte der Wildform sind in der Kulturrebe nicht mehr anzutreffen, während die hohe Zuckerakkumulation nach Alexander M. Negrul (1938) bereits in der Wildform angelegt ist.8 Das Muskataroma, basierend auf hohen Gehalten an Monoterpenoiden (Geraniol, Linalol und Nerol), geht auf eine Mutation auf Chromosom 5 zurück und dürfte schon früh in der Antike aufgetreten sein.9 (4) Beerenfarbe: Zwei Mutationen am Farblokus führten zunächst zur weißen Beerenfarbe.10 Daraus entstanden später alle Zwischenstufen von rosa über rot bis violett. Das leicht bewurzelbare Rebholz dürfte die vegetative Vermehrung und rasche Ausbreitung von reich tragenden, wohlschmeckenden Auslesestöcken im Vorderen Orient begünstigt haben.11 Dies bele-

7 Levadoux, Louis, „Les Populations Sauvages et Cultivées de Vitis vinifera L. “, in: Annales de l’Amélioration des Plantes, 6(1)/1956, S. 59-117; Fechter, Iris; Hausmann, Ludger; Daum, Margrit et al., „Candidate genes within a 143 kb region of the flower sex locus in Vitis“,in: Molecular Genetics and Genomics, 287(3)/2012, S. 247-259. 8 Negrul, Alexander M., „Evolution of cultivated forms of grapes“, in: Comptes Rendus (Doklady) de l´Académie des Sciences de l´URSS, XVIII(8)/1938, S. 585588. 9 Emanuelli, Francesco; Battilana, Juri; Costantini, Laura et al., „A candidate gene association study on muscat flavor in grapevine (Vitis vinifera L.)“, in: BMC Plant Biology, 10(1)/2010, S. 241. 10 Kobayashi, Shozo; Goto-Yamamoto, Nami und Hirohiko Hirochika, „Retrotrans­ poson-Induced Mutations in Grape Skin Color“, in: Science, 304(5673)/2004, S. 982; Walker, Amanda R.; Lee, Elizabeth; Bogs, Jochen et al., „White grapes arose through the mutation of two similar and adjacent regulatory genes“, in: The Plant Journal, 49(5)/2007, S. 772-785. 11 Zohary, Daniel; Hopf, Maria und Ehud Weiss, Domestication of Plants in the Old World. The origin and spread of domesticated plants in Southwest Asia, Europe, and the Mediterranean Basin, Oxford 42013.

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gen weit vom Domestikationszentrum entfernte Ausgrabungen.12 Beispielsweise wurden im neolithischen Dikili Tash in Nordostgriechenland 2.460 Rebsamen, gequetschte Beerenhäute, Weinstein an Gefäßscherben und Rebholz zutage gefördert, die auf Rebenkultur und Weinbereitung zwischen 4.000 und 4.500 v. Chr. hindeuten.13 Das Grab des ägyptischen Herrschers Skorpion I. (ca. 3.200 v. Chr.) in Abydos im mittleren Niltal enthielt etwa 700 Gefäße, darunter Amphoren, deren Rückstände auf Medizinalweine hindeuten. Der Alkohol wurde zur Extraktion von Wirksubstanzen eingesetzt. Mögliche Kräuter waren vor allem Koriander, ferner Melisse, Pfefferminze, Thymian, Salbei, Senna, Pfefferkraut und Gamander. Die Amphoren und der Wein stammten aus der südlichen Levante.14 Weinreben und ihre Teile (Blätter, Früchte usw.) sind aufgrund des agrarischen Einflusses Biofakte, d. h. sie sind lebende Objekte, die Grade an Technizität aufweisen: vom Weinbau und den Kelterungsmethoden bis hin zur Sortenzüchtung. Die Vielfalt der Sorten bedingt das Anliegen, die Sortenechtheit und eindeutige Identifikation der Weinrebe gewährleisten zu können. Aber dazu bedurfte es einer systematischen Klassifikation und verlässlichen Bezeichnung der Rebsorten, die sich erst in der Neuzeit entwickelte. Jedoch gab es schon früh überblicksartige Aussagen zu Differenzierungen und damit Versuche, eine erste Ordnung in die Vielfalt der Reben zu bringen. Die gezüchteten Sorten der griechischen Antike wurden zunächst nach der Farbe der Trauben und den Regionen geordnet. Von der griechischen bis in die römische Antike waren Weine von den Inseln Chios, Rhodos und v. a. Lesbos, der Heimat des Theophrast, begehrt. Um welche Sorten es sich genau gehandelt hat, ist heute schwer zu sagen. Eine schon seit der Antike bekannte Rebsorte könnte die nordgriechische Rotweinsorte „Limnio“ von der Insel Lemnos sein. In systematischer Absicht beschreibt Theophrast ferner Spontanmutationen in der Farbe der Trauben sowie zufällig samenlose Sorten. Für den Weinbau betont er das Phänomen der Allelopathie am Beispiel, dass die Weinrebe sich nicht mit Kohl vertrage; ferner, 12 McGovern, Ancient Wine. 13 Valamoti, Soultana Maria, „Harvesting the ‘wild’? Exploring the context of fruit and nut exploitation at Neolithic Dikili Tash, with special reference to wine“, in: Vegetation History Archaeobotany, 24(1)/2015, S. 35-46. 14 McGovern, Patrick E.; Mirzoian, Armen und Gretchen R. Hall, „Ancient Egyptian herbal wines“, in: PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America), 106(18)/2009, S. 7361-7366.

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dass der Rebschnitt einen positiven Effekt auf die „gesamte Natur“ der Weinstöcke habe (De causis plantarum III, 14, 1).15 In seiner Schrift De odoribus wird deutlich, dass die Weinrebe von den Griechen nicht nur als Genussmittel, sondern auch als Arzneimittel und zum Beimischen von Salböl genutzt wurde; letzteres, damit „süßer Wein“ den strengen Geruch des Olivenöls überdeckte. Hinzu kam die Funktion des Weines als kultisches Mittel, etwa im DionysosKult (bei den Römern: Bacchus-Kult). In seinen Überlegungen zu den aristotelischen Theorien der Mischung16 (griech. mixis) und künstlichen Synthese (griech. synthesis) spricht Theophrast der Weinrebe eine „besondere Eigenschaft“ zu, nämlich die, verschiedene Gerüche zu „assimilieren“ (vgl. De odoribus, §11)17 – die wahrscheinlich erste verschriftlichte Erklärung des „Bouquets“. Dies sind bereits erste Hinweise auf klassifikatorische Besonderheiten der Weinrebe, die sich bis in die jüngste Zeit fortsetzen. Über Weinrebensammlungen aus der Antike haben wir hingegen keine Auskunft. Man darf davon ausgehen, dass die einzelnen ‚Sorten‘ entsprechend ihrer Eigenschaften, Fundorte oder Züchter benannt waren. Zumindest ist uns dies aus der römischen Antike mehrfach überliefert. Vergil (70–19 v. Chr.), Columella (im 1. Jh. n. Chr.) und Plinius der Ältere (23–79 n. Chr.) hinterließen etwa 100 Sortenbezeichnungen, wobei alle auf eine weitaus größere Anzahl hinweisen.18 Einen Hinweis diesbezüglich gibt uns Vergil, der meinte: „Aber zahllos sind die vielen Arten und Namen, schließlich, 15 Theophrastus, De causis plantarum. Bd. 2, übers. von Benedict Einarson, Cam­ bridge/MA, London 1990. S. 103. 16 Einer berühmten, von Aulus Gellius (Buch 13, Kap. 5) überlieferten Anekdote zufolge hat Aristoteles sogar den Nachfolger seiner Schule symbolisch über die Präferenz für einen bestimmten Wein verkündet. Als er körperlich bereits angeschlagen war und seine Schüler auf die Verkündung des Nachfolgers warteten, ließ er sich Wein aus Rhodos und aus Lesbos bringen. Der Wein aus Rhodos, so befand Aristoteles, sei zwar „stärker“ (eine Anspielung auf seinen Schüler Eudemos von Rhodos), aber der aus Lesbos sei ihm „angenehmer“ oder „verträglicher“ – so lautete die Entscheidung für seinen Schüler Theophrast. Vgl. Aulus Gellius, Die attischen Nächte. Bd. 2, übers. und hg. von Georg Fritz Weiß, Leipzig 1876, S. 171-172. 17 Enthalten in Theophrastus, Enquiry into Plants, and minor works on odours and weather signs. Bd. 2, übers. von Arthur Hort, Cambridge/MA, London 1926, hier S. 337. 18 König, Margarete, „Rebsorten in der Antike – Betrachtungen aus archäobo­ tanischer Sicht“, in: Jung, Patrick und Nina Schücker (Hg.), Utere felix vivas (Festschrift Jürgen Oldenstein). (Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie 208), Bonn 2012, S. 143-157.

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was läge auch dran, mit einer Zahl sie zu fassen? Wer sie zu wissen begehrt, der lerne erst zählen, wie viele Sandkörner wirbelnd der Westwind peitscht durch die libysche Wüste […]“.19 Beim Studium des Schrifttums zu den Rebsorten fällt auf, dass auch damals schon die gleiche Rebsorte verschiedene Namen (Synonyme) tragen konnte und manche Rebsorten trotz identischer Bezeichnung (Homonyme) unterschiedlich waren. Diese Gegebenheiten beschäftigen uns heute noch (s. Abschn. 8). Sie stellen eine große Herausforderung dar, wenn es darum geht, die wahre Identität von Akzessionen – d. h. Rebsorten in Form einer Sammlung – zu bestimmen.

3. Historie und Objekte des Instituts für Rebenzüchtung Geilweilerhof Dem Zisterzienserkloster Eußerthal schenkte Konrad von Rieth im Jahr 1184 die acht Kilometer entfernte Siedlung „Geilewilre“. Wie alle anderen Orte mit Endung „-weiler“ ist der Geilweilerhof älter als die erste urkundliche Erwähnung. Dies bezeugen zwei merowingische Steinsärge, die auf dem Gelände des Hofes gefunden wurden. Nach einer wechselvollen Geschichte und häufigem Besitzerwechsel erwarb 1895 August Ludowici (1866–1945), Sohn des Ziegeleigründers Carl Ludowici (1827–1881) in Jockgrimm, den Geilweilerhof. Unter seiner Ägide wandelte sich der Hof zu einem landwirtschaftlichen Musterbetrieb. Im Jahr 1925 vermachte er das Gut und 40 ha arrondiertes Gelände dem bayerischen Staat für eine Leibrente von 500 Reichsmark im Monat. Sein liebster Wunsch, es möge eine Rebenzucht- und Versuchsstation dort einziehen, ging in Erfüllung. Landwirtschaftsrat Peter Morio (1887–1960) pflanzte bereits 1926 3.000 Sämlinge und wurde 1927 mit der Leitung der Außenstelle Geilweilerhof, die nun zur Weinbauschule Neustadt gehörte, betraut. Im Jahr 1947 wurde aus dem Geilweilerhof das „Forschungsinstitut für Rebenzüchtung“ des Landes RheinlandPfalz, und 1966 daraus eine Bundeseinrichtung. Seit 2008 gehört das Institut für Rebenzüchtung zum neu geschaffenen Julius Kühn-Institut (JKI), einer Forschungseinrichtung und Bundesoberbehörde des Bundesministeriums für Ernährung 19 Vergil, Landleben: Catalepton, Bucolica, Georgica. Lat.-dt., hg. von Johannes und Maria Götte, Darmstadt 61995, S. 119 (Georgica 2, Verse 103-106).

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und Landwirtschaft (BMEL). Ziel ist die Züchtung von resistenten Keltertrauben mit hervorragender Weinqualität. Die begleitende molekulare Forschung und die Entwicklung von automatisierten Phänotypisierungswerkzeugen (s. Graner, in diesem Buch) unterstützen die Züchtungseffizienz. Das Rebsortiment des Geilweilerhofs dient der Bearbeitung wissenschaftlicher Fragestellungen, wie der Suche nach neuen Resistenzquellen, Zusammensetzung der Beerenfarbe und Aromaanalyse oder Studien zu klimatischem Verhalten und ist ein unerschöpfliches Züchtungsreservoir. Der erste Beleg für eine Rebensammlung am Geilweilerhof stellt das „Sortiment-Pflanzverzeichnis“ dar. Das augenscheinlich viel benutzte Heft mit einem marmorierten Kartoneinband enthält 186 Sorten mit Hinweis auf das Blütengeschlecht. Es fehlt jegliche Angabe über das Jahr, in dem die Anlage gepflanzt wurde. Drei Aspekte deuten darauf hin, dass es sich um die erste Sammlung am Geilweilerhof handelt: (1) eine Jahresangabe besitzt das Folgesortiment, das 1948 angelegt wurde, (2) in der Regel erreichen Sortimente ein hohes Alter, mindestens 20 bis 30 Jahre, und (3) die Vitis vinifera-Sorten und die zum Teil auch identischen, synonymen Sortenbezeichnungen wie Lämmerschwanz, Schirastraube, Szemen­drianer und Wachtelei decken sich mit denjenigen aus dem „Reben-Sortiment“ der Königlichen Lehr- und Versuchsanstalt für Wein- und Obstbau in Neustadt an der Weinstraße. Es ist also davon auszugehen, dass Peter Morio dieses Neustadter Sortiment am Geilweilerhof dupliziert hat. Beim Abgleich der beiden Listen fiel ein unbekannter Sortenname auf, die nirgends bibliographisch belegte Sorte Regrat. Das Heft von Neustadt weist sie in einer Notation von 1917 als starkwüchsig mit dunkelroten, länglichen Beeren aus. Der Beschreiber fand es sogar wichtig, die abgestumpft olivenförmige Beere durch eine Zeichnung zu dokumentieren. Von Neustadt aus gelangte die Akzession in die Sammlung von Morio, die vermutlich Ende der 1920er Jahre oder zu Beginn der 1930er Jahre gepflanzt wurde. Im 1948 neu angelegten Sortiment taucht die als zwittrig bonitierte Sorte ein letztes Mal in Deutschland auf. Nun steht diese Akzession interessanterweise heute noch im weltweit größten Rebsortiment der INRA20-Domaine de Vassal à Marseillan-plage (Hérault), Südfrankreich.21 Als Donor und Eingangsjahr wird GEILWEILERHOF HUSFELD ALLEMAGNE und 1951 angegeben. Die Nachfrage bei der INRA-Vassal ergab, dass 20 INRA: Institut National de la Recherche en Agronomie. 21 Schriftl. Anfr. an INRA-Vassal am 12.1.2017.

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es sich um den rotbeerigen Bouchereau handelt, eine Neuzüchtung von Tourrès (Lot-et-Garonne/Frankreich) aus dem 19. Jh. Die Zeichnung der Beerenform von Regrat im Neustädter Inventar aus dem Jahr 1917 passt genau. So konnte dank der Sammlungs- und Erhaltungsaktivitäten von INRA-Vassal nachträglich die Identität von Regrat bestimmt werden. Es gibt auch Beispiele dafür, dass seltene Rebsorten, die in manchen Ländern nicht überlebten, von INRAVassal wieder in ihre Heimatregion zurückgeführt werden konnten. Nach dem Zweiten Weltkrieg, um 1948, brachte Prof. Dr. Bernhard Husfeld (1900–1970) vom Kaiser-Wilhelm-Institut für Züchtungsforschung in Müncheberg (Direktor des Geilweilerhofes von 1947 bis 1970) sein resistentes Zuchtmaterial mit an seinen neuen Wirkungsort. Das „Pflanzverzeichnis Sortiment Parzelle 7-14“ gibt Auskunft über den Sortenzuwachs. Die 1948 neu erstellte Anlage enthält 408 Sorten, davon sind 200 Edelreben, und weitere 208 Akzessionen bestehen aus Wildarten, Unterlagen und pilzfesten Neuzüchtungen. Das Inventar von 1985 weist insgesamt 1.129 Sorten auf, 664 Vitis vinifera-Reben und 465 Resistenzträger. Aktuell beherbergt der Geilweilerhof 3.956 Akzessionen (= Herkünfte) von 3.188 Sorten (Stand: Januar 2017). Insbesondere von alten, autochthonen Rebsorten werden mehrere Varianten (Klone) erhalten. Von den 3.188 Sorten sind 62 % Resistenzträger und 38 % Edelreben. Eine Geschichte, die sich im vorletzten Kriegsjahr zugetragen hat, ist noch erwähnenswert: der Raub von Reben aus dem Jalta-Sortiment. In der NSZ-Rheinfront22 vom 6. April 1944 wird berichtet: „Rebenveredlungsanstalt Dirmstein. Der Leiter der Anstalt, Helmut Müller (1909–1989),23 holte auf der weinbaulichen Versuchsstation Magaratsch auf der Krim ein einzigartiges Rebsortiment, auch Pfirsich- und Aprikosensorten. Ihm wurde dafür eine Ju-Transportmaschine24 zur Verfügung gestellt.“ Die Reben kamen direkt zum Geilweilerhof, wo sie zwischen 1950 und 1952 gepflanzt wurden. Die Setzliste enthält 393 Sorten mit Herkunft aus Westeuropa bis Afghanistan. Dies erklärt den Reichtum osteuropäischen Materials am Geilweilerhof.

22 Die NSZ-Rheinfront war eine Zeitschrift der NSDAP in Neustadt an der Wein­ straße. 23 Es handelt sich um Weinbauoberamtsrat Helmut F. W. Müller (28.5.1909– 1.3.1989), vgl. den Nachruf in DLG-Mitteilungen, 7/1989, S. 369f. 24 Gemeint ist hier wohl die damals schon als „Ju“ bezeichnete Marke Junkers 52.

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4. Aufgaben: Erhaltung, Dokumentation und Erforschung Seit Ende der 1970er Jahre avancierten die genetischen Ressourcen der Reben neben der Züchtung und der Züchtungsforschung zum zweiten Standbein des IRZ Geilweilerhof. Diese frühzeitige Weichenstellung bedeutete, neue Aufgaben wahrzunehmen. Als erstes galt es für die international einheitliche Beschreibung von Rebsorten eine standardisierte Merkmalserfassung zu gewährleisten. Prof. Dr. Gerhard Alleweldt (1927–2005), der damalige Leiter des IRZ Geilweilerhof, entwarf zu diesem Zweck eine Merkmalsliste in Anlehnung an die Beschreibungsmethode der Union für Pflanzenzüchtungen (UPOV).25 Um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu ermöglichen, wählte man weit verbreitete Rebsorten als Beispiele für Ausprägungsstufen und ergänzte Zeichnungen zur Veranschaulichung des Merkmals. Diese Liste legte er am 20. Mai 1979 der Expertengruppe „Rebenzüchtung“ der Internationalen Organisation für Rebe und Wein (OIV)26 vor, deren Vizepräsident er damals war. Durch die Zuarbeit eines international besetzten Gremiums, bestehend aus Ampelographen und aus Vertretern des IBPGR,27 erschien dann 1983 die OIV-Merkmalsliste für Rebsorten und Vitis-Arten. Sie enthielt 127 Deskriptoren zur Beschreibung von Morphologie, Phänologie, Resistenz gegenüber abiotischen und biotischen Stressfaktoren und Ertragskomponenten. In diesem Kontext entstand die Promotionsarbeit „Ein Modell zur Unterscheidbarkeit von Rebsorten mit Hilfe blattmorphologischer Merkmale“.28 Es konnte gezeigt werden, dass, wenn man die Beerenfarbe berücksichtigte, mit Hilfe von ampelometrischen, d. h. gemessenen Blattmerkmalen 80 % bzw. 90 % der Rebsorten zu identifizieren waren. Ab 2004 erfolgte die Überarbeitung der OIV-Merkmalsliste mit Ampelographen der OIV-Expertengruppe „Genetische Ressourcen und Rebenzüchtung“ und Delegierten von UPOV und Bioversity International (vormals IBPGR); wieder koordinierte der Geilweilerhof dieses Projekt. Die zweite, erweiterte Auflage, die nun auch Deskriptoren für die Blatt25 UPOV: Union internationale pour la protection des obtentions végétales (frz.; dt.: Internationaler Verband zum Schutz von Pflanzenzüchtungen). 26 OIV: Internationale Organisation für Rebe und Wein (engl: International Orga­ ni­sation of Vine and Wine, IOV, frz.: Organisation Internationale de la Vigne et du Vin, OIV). 27 IBPGR: International Board for Plant Genetic Resources. 28 Maul, Erika, Ein Modell zur Unterscheidbarkeit von Rebsorten mit Hilfe blatt­ mor­phologischer Merkmale. Dissertationsschrift, Universität Hohenheim 1987.

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vermessung (18) und Mikrosatellitenmarker (6) umfasste, erschien 2009.29 Am Geilweilerhof selbst wurden mittels 20 OIV-Deskriptoren von 938 Sorten morphologische Merkmale erhoben, zur Beschreibung der Blattarchitektur 20 Längen und Winkel von 691 Sorten gemessen, die Beerenlänge, -breite und -gewicht von 1.130 Sorten erfasst und von 735 Sorten die Länge, Breite und das Gewicht der Rebkerne bestimmt. Fotos von Triebspitzen, Blättern und Trauben liegen bis jetzt von etwa 3.000 Akzessionen vor. Analog zu INRA-Vassal begann 1987 der Aufbau eines Herbariums mit Referenzbelegen aus 22 Ländern. Inzwischen beherbergt das Herbarium 10.588 Aktendeckel mit je bis zu zehn gepressten Blättern von 4.072 Rebsorten und 1.111 Aktendeckel mit Triebspitzen von 683 Sorten. Herbarobjekte stellen konservierte Referenzen einer Rebsorte oder Wildart dar und sind mit ihrer bestimmten Identität eng verbunden. Sie sind für Bestimmungszwecke ganzjährig verfügbar. Insbesondere die Blattarchitektur, z. B. die Lappung, Tiefe und Form der Seitenbuchten und der Stielbucht, Form der Zähnung und die Dichte der Borsten- und Wollhaare liefern wertvolle Hinweise im Vergleich mit Lebendobjekten, Fotos oder bibliographischen Werken. Auf den Aktendeckeln werden Leitname, Beerenfarbe, Herkunft, Sammlungsjahr und Sortenechtheit vermerkt. Stellt sich eine andere Sortenidentität heraus, wird auf dem Etikett jede neue Zuordnung zwecks Rückverfolgbarkeit notiert. Insbesondere bei Umpflanzungen einer Sammlung können Verwechslungen der Vermehrungschargen zu Fehlbezeichnungen führen. In diesem Fall hilft das Herbarium bei der Klärung. Ein weiterer Nutzen erschließt sich durch die Verwendung der getrockneten Pflanzenteile für den genetischen Fingerabdruck. Mittels eines Herbarbelegs aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnten Malenica et al. nachweisen, dass der kroatische Tribidrag identisch mit Zinfandel (= Primitivo) ist.30 In den letzten dreißig Jahren erfuhr das Rebsortiment – jede Akzession wird mit drei Rebstöcken erhalten – eine Expansion auf das Dreieinhalbfache. Dies beweist den hohen Stellenwert, den die genetischen Ressourcen für die Züchtung und Forschung besitzen, 29 OIV (Hg.), OIV descriptor list for grape varieties and Vitis species, Paris 22009. 30 Malenica, Nenad; Simon, Silvio; Besendorfer, Višnja et al., „Whole genome am­ plification and microsatellite genotyping of herbarium DNA revealed the iden­ tity of an ancient grapevine cultivar“, in: Die Naturwissenschaften, 98(9)/2011, S. 763-772.

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und spiegelt das erfolgreiche Bemühen um die Erhaltung der Rebenvielfalt auch für zukünftige Generationen und für noch nicht vorhersehbare Anforderungen an die Rebe wider. Bezüglich der Aufgabe des IRZ Rebsorten mit Widerstandsfähigkeit gegen den Echten und Falschen Mehltau (Erysiphe necator und Pernospora viticola), Grauschimmel (Botrytis cinerea), Schwarzfäule (Guignardia bidwellii) und andere Krankheiten zu züchten, liegt der Fokus auf der Akquisition von Resistenzträgern. Auf zwei Sammlungsreisen in die USA (2009 und 2011) wurden Trauben von Vitis cinerea (2009), Vitis aestivalis (2009) und Vitis labrusca (2011) gesammelt. Nach der genetischen Untersuchung der Sämlinge entstanden am IRZ Geilweilerhof Kernsammlungen, die laut einer statistischen Analyse die genetische Vielfalt der aufgegangenen Sämlinge so weit wie möglich repräsentieren. Sie enthalten zurzeit 87 Vitis cinerea-, 229 Vitis aestivalis- und ca. 500 Vitis labrusca-Genotypen. Ihre Pilzfestigkeit wird bewertet und die bekannten genetischen Resistenzmarker eingesetzt. Liefern diese Resistenzmarker keine Treffer, besteht die Chance, einen neuen Resistenzlocus gefunden zu haben. Jeder zusätzliche Resistenzmechanismus stärkt die Abwehrkraft und schützt vor neuen Pilzrassen mit höherer Aggressivität, die einen Zusammenbruch der Resistenz bewirken könnten. Außerdem bekam das Sortiment historischen Zuwachs. Die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) in Bonn finanzierte von 2007 bis 2010 ein sogenanntes Erfassungsprojekt, um seltene und vergessene Rebsorten in alten Weinberglagen aufzuspüren. In einer umfassenden Bestandsaufnahme identifizierte der mit der Projektleitung betraute Biologe Andreas Jung 351 verschiedene Sorten. Davon waren 226 von historischer Bedeutung.31 Durch dieses Projekt wurden 90 Akzessionen von fast 70 teilweise verschollen geglaubten Sorten am Geilweilerhof gesichert. Alte Rebsorten haben im Laufe der Jahrhunderte Mutationen angesammelt, die durch die vegetative Vermehrung als Sortenklone erhalten bleiben. Von besonders seltenen Exemplaren werden deshalb mehrere verschiedene Klone aufbewahrt. Die Sortenechtheitsbestimmung im Sortiment erfolgte bis zum Einsatz des genetischen Fingerabdrucks durch Ampelographie. Die Genotypisierung des Rebsortiments mit 25 Markern in seiner Ge-

31 Vgl. Projekt Nr. 05BE008 – Zusammenfassung: Erhebungen, Bestandsaufnahmen und nichtwissenschaftliche Untersuchungen im Bereich Biologische Vielfalt.

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samtheit begann erst im Rahmen des BÖLN-Projekts32 „Weiterentwicklung von Wissenstransfer- und Informationssystemen zur nachhaltigen Nutzung rebengenetischer Ressourcen“ (2014–2016). Bisher konnte die Identität von 801 Rebsorten durch genetische Profile bestätigt werden. Die Auswertung der Markerdaten für die Resistenzträger steht größtenteils noch aus. Außer der Identitätsfeststellung setzt man auf die Entschlüsselung von Abstammungen. Die Kenntnis der Kreuzungseltern lässt Rückschlüsse auf den Entstehungsort und Migrationsrouten zu und erlaubt die Einschätzung der Eignung der genetischen Ressource für die Züchtung. In den letzten Jahren wurde das komplette Sortiment auf die Widerstandsfähigkeit gegen den Echten und Falschen Mehltau bonitiert, und mittels zwölf Markern wurden sechs Resistenzloci (Rpv1, Rpv3.1, Rpv10, Rpv12, Ren1 und Ren3)33 untersucht. Mittlerweile sind weitere Resistenzquellen im Genom der Rebe bekannt, und aus diesem Grund ist eine zweite genetische Analyse mit neuen Resistenzmarkern für 2017 geplant. Als Ergebnis hofft man, Genotypen mit noch unbekannten Resistenzmechanismen zu entdecken und diese in neue Sorten integrieren zu können. Erwähnenswert an dieser Stelle ist die Pflege der drei Rebendatenbanken als ständige Aufgabe. Insbesondere der seit 1983 betriebene Vitis International Variety Catalogue wird permanent aktualisiert und durch neue sortenspezifische Bereiche ergänzt. Aufgegeben wurden die Forschungen zur In vitro-Erhaltung der Reben unter reduzierten Wachstumsbedingungen. Jede Rebsorte stellt andere Ansprüche an das Kulturmedium, bedarf unterschiedlicher Vermehrungszyklen, und wieder andere Sorten kümmern, d. h. sie widersetzen sich regelrecht der Kultur im Glasröhrchen. Außerdem nimmt die kostspielige In vitro-Kultur viel Zeit in Anspruch. Ein weiterer Nachteil besteht darin, dass die Pflanze für Züchtungs- und Evaluierungszwecke nicht unmittelbar zur Verfügung steht. Die Regeneration, d. h. die Zeit von der In vitro-Pflanze bis zur Gewächshausrebe dauert etwa ein halbes Jahr, und bis zur Gewinnung einer veredelten Pflanze vergehen mindestens zwei Jahre.

32 BÖLN: Bundesprogramm Ökologischer Landbau und andere Formen nachhal­ tiger Landwirtschaft. 33 Rpv: Resistenz Plasmopara viticola; Ren: Resistenz Erysiphe necator.

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5. Generosion und moderne Vitis-Sammlungen: Virtualisierung und Molekularisierung Wie in der Einleitung bereits angedeutet, ist die genetische Diversität der Rebe weltweit gefährdet. Begleiterscheinungen von Zivilisationsmaßnahmen und Umweltkatastrophen bewirken den Habitatverlust der Wildarten. Beispielsweise sind die chinesischen Wildarten durch Bevölkerungsdruck, Industrialisierung und Ausdehnung der Städte bedroht,34 ferner ist Vitis rupestris im Mittleren Süden der USA durch sich ausweitende Landwirtschaft und Beweidung sehr selten geworden,35 und Vitis vinifera ssp. sylvestris ist in den Rheinauen insbesondere durch die Tullasche36 Rheinbegradigung (1817–1876) bis auf weniger als 100 Individuen geschrumpft.37 Während in der Mitte des 19. Jh.s noch über 300 Rebsorten und hunderte Klone in deutschen Weinbergen standen, ist die Zahl der im Erwerbsanbau wirtschaftlich bedeutungsvollen Rebsorten auf ein gutes Dutzend und wenige Klone zurückgegangen. Als die wichtigsten Gründe für den Verlust der regionaltypischen und historischen Sorten- und Klonvielfalt sind zu nennen: die Reblausinva­ sion, die ab 1863 (von Frankreich ausgehend) immense Weinbergflächen vernichtete und infolgedessen die Pfropfrebe eingeführt wurde, wodurch 100-jährige wurzelechte Bestände verschwanden; die Aufgabe von Rebenmischsätzen, in denen im Extremfall 20 bis 30 verschiedene Sorten gemischt im Weinberg vorkamen; strenge Klonselektion mit Fokus auf hohen Ertrag; Konzentration auf wenige Globalsorten (s. Einleitung) und Flurbereinigung. 34 Wan, Yizhen; Schwaninger, Heidi; Li, Dan et al., „The eco-geographic distribution of wild grape germplasm in China“, in: Vitis: Journal of Grapevine Research, 47(2)/2008, S. 77-80. 35 Walker, Andrew, National Plant Germplasm System. Grape Crop Germ­ plasm Committee Genetic Vulnerability Statement, November 2001 (updated 31.10.2005), online unter: http://www.ars-grin.gov/npgs/cgc_reports/grapec­ gc2001.htm (letzter Aufruf: 19.1.2017, mittlerweile veraltet). 36 Johann Gottfried Tulla (1770–1828), ein badischer Offizier, der im 19. Jh. die Rheinbegradigung realisierte. 37 Schumann, Fritz, „In-situ-Erhaltung von Wildreben am Oberrhein“, in: Infor­ mationszentrum für Genetische Ressourcen (IGR) (Hg.), Schriften zu Geneti­ schen Ressourcen. Bd. 2: In-situ-Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen in der Bundesrepublik Deutschland am natürlichen Standort und on farm, Bonn 1996, S. 63-71; Ledesma-Krist, Gloria M.; Schumann, Fritz und Erika Maul, „Die Wildrebenpopulation auf der Rheininsel Ketsch – eine wertvolle genetische Res­ source“, in: Hans Reiner Schultz (Hg.), Deutsches Weinbau-Jahrbuch, 66/2014, S. 106-118.

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Ende der 1970er Jahre war man sich dessen in allen europäischen Weinbauländern bewusst geworden und stand damit vor fast unüberwindlichen Aufgaben. Angesichts dieser Gefährdungssituation entstand die IBPGR-Arbeitsgruppe „Vitis Genetische Ressourcen“, die 1979 in Rom und 1982 in Thessaloniki tagte und Gegenmaßnahmen erörterte. Zeitgleich, 1982, bemühte sich die Organisation Rebe und Wein (OIV) mit einer zukunftsweisenden Resolution um Unterstützung. Die treibende Kraft in beiden Gremien war der damalige Leiter des Instituts für Rebenzüchtung Geilweilerhof, Gerhard Alleweldt (s. Abschn. 6.1), der auch der IBPGR-Arbeitsgruppe vorstand. Die IBPGR-Arbeitsgruppe „Vitis Genetische Ressourcen“ beschloss 1982 v. a.: (1) die Bestandsaufnahme zu Erhaltungsaktivitäten in Europa, (2) die Unterstützung der Sammlung alter Rebsorten, (3) die Beschreibung der Rebsorten zur Identifikation von Synonymen unter (4) Anwendung der eigens zusammengestellten Deskriptorenliste, die aus 21 morphologischen Merkmalen bestand.38 Die OIV-Resolution N° 2/82 „Sammlung und Erhaltung der genetischen Ressourcen der Vitis ssp.“ empfahl unter anderem: (1) die Sammlung in Zentren mit hoher genetischer Vielfalt, (2) die Erhaltung der Vitis-Arten, -Sorten und -Klone in Sortimenten, (3) die Entwicklung der internationalen Zusammenarbeit zwischen Genbanken und (4) die Dokumentation der Vitis-Arten, -Sorten und -Klone. Als Folge dieser Empfehlungen wurde der Austausch zwischen Rebsortimenten intensiviert, und europaweit begann die Suche nach verschollenen Rebsorten in alten Weinbergen. Dabei stieß die traditionelle Methode der Sortenbestimmung mittels morphologischer Merkmale, die sogenannte Ampelographie, an ihre Grenzen. In Anbetracht der umfangreicher gewordenen nationalen Rebsortimente – das weltweit größte der INRA-Vassal umfasst mehr als 7.500 Akzessionen – waren unterstützende Werkzeuge für die Sortenerkennung gefordert. Zunächst kam die Methode der Bestimmung der Isoenzyme zur Sortendifferenzierung auf.39 Wenige Jahre später schienen DNA-Fragmente, die durch Restriktionsenzyme

38 IBPGR, Report of the Working Group on Vitis Genetic Resources. Thessaloniki, Greece, 29 April-1 May 1982, Rome 1983. 39 Benin, M.; Gasquez, J.; Mahfoudi, A. und Roger Bessis, „Biochemical character­ ization of Vitis vinifera L. cultivars by electrophoresis of leaf isoenzymes: an attempt to classify grapevine varieties“, in: Vitis: Journal of Grapevine Research, 27(3)/1988, S. 157-172.

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geschnitten wurden, die sogenannte RFLP-Analyse,40 ein geeignetes Mittel, bis die Australier Mark R. Thomas und Nigel S. Scott 1993 Mikrosatelliten für die Sortendifferenzierung entdeckten.41 Mikrosatelliten sind Genloci, die dadurch charakterisiert sind, dass sich einfache Basenabfolgen (z. B. Cytosin-Guanin) mehrfach wiederholen. Die Anzahl der wiederholten Basenabfolgen können von Rebsorte zu Rebsorte variieren. Man spricht dabei von Längenpolymorphismus. Durch die ausschließlich vegetative Vermehrung der Rebe wird diese Information konserviert. Sefc et al. hielten sechs hochpolymorphe Mikrosatellitenmarker für eine Differenzierung zwischen den Rebsorten für ausreichend.42 Sie hatten errechnet, dass fünf ungekoppelte Marker mit fünf gleich häufig vorkommenden Allelen 700.000 verschiedene Genotypen produzieren. Inzwischen steht fest, dass man dieses Ziel zu 98 % mit neun Markern erreicht, da es für die Differenzierung von eng verwandten Rebsorten zusätzlicher Marker bedarf (im Extremfall bis zu 20), besonders bei rückgekreuzten Sorten. Um Abstammungsanalysen abzusichern, werden als Faustregel 25 Mikrosatellitenmarker genannt. Der genetische Fingerabdruck mittels Mikrosatellitenmarker (s. Abschn. 7) revolutionierte diese dringenden Arbeiten der Sortenbestimmung, indem er Sortenidentitäten aufdeckte, die dann mittels morphologischer Merkmale gegengeprüft werden konnten. Im Rahmen von drei europäischen Projekten konnte ein weites Netzwerk europäischer Rebsortimente begründet werden. Es begann die Sortenechtheitsfeststellung nicht nur auf nationaler Ebene, sondern europaweit.

40 RFLP: Restriction Fragment Length Polymorphism (dt. Restriktions­fragment­ längenpolymorphismus). 41 Thomas, Mark R. und Nigel S. Scott, „Microsatellite repeats in grapevine reveal DNA polymorphisms when analysed as sequence-tagged sites (STSs)“, in: TAG. Theoretical and Applied Genetics. Theoretische und Angewandte Genetik, 86(8)/1993, S. 985-990. 42 Sefc, Kristina M.; Lefort, François; Grando, Maria Stella et al., „Microsatellite markers for grapevine: A state of the art“, in: Roubelakis-Angelakis, Kalliope A. (Hg.), Molecular Biology & Biotechnology of the Grapevine, Dordrecht 2001, S. 433-463.

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6. Dokumentation: Das bibliographische Register VIVC, die virtuellen Register European Vitis Database und Deutsche Genbank Reben 6.1 Bibliographisches Sortenregister VIVC43 Die Dokumentation der weltweit existierenden und beschriebenen Rebsorten, Wildarten und Zuchtstämme startete 1983 am Geilweilerhof. Gerhard Alleweldt initiierte die Registrierung der Rebsorten mit persönlichem Einsatz und Vehemenz. Er selbst definierte die im ersten Guss aufgenommenen 13.485 Leitnamen (s. u.), indem er in den Ampelographien neben den Sortennamen mit Bleistift den Leitnamen und die wichtigsten Passportdaten (s. u.) schrieb. Zwei MitarbeiterInnen und unzählige Zeithilfskräfte (Schüler- und StudentInnen) übertrugen die Passportdaten in dafür vorgesehene Felder auf DIN A4-Karteikarten. Für jeden Leitnamen wurde eine solche Karteikarte angelegt. Für einen Laien waren jedoch die Zuordnung von Synonymen und die Trennung der Homonyme mit aufwändigen Literaturstudien verbunden. Damit das Auffinden der entsprechenden Leitnamen überhaupt möglich war, wurden für über 20.000 Synonyme DIN A7-Karten angelegt, auf denen das Synonym und der bezügliche Leitname vermerkt waren. Eine Umfrage der OIV (1982) lieferte außerdem die Inventare von fast 120 Rebsortimenten aus aller Welt. Die darin aufgeführten Akzessionen/Sorten wurden ebenfalls als erhaltende Einrichtung den Leitnamen zugeordnet und deshalb auf den Karteikarten der Leitnamen notiert. Daran schloss sich die Eingabe in Tabellen auf elektronischen Datenträgern an. Alleweldt behielt sich vor, bei allen Unklarheiten gefragt zu werden und Entscheidungen zu treffen. Als Schlüsselfeld wurde für jeden Leitnamen eine Kenn-Nummer eingeführt, um jeden aufgenommenen Leitnamen eindeutig identifizieren zu können. Die Vokabel „Register“ wurde vorgezogen, weil eine Datenbank als Speicherplatz elektronischer Inhalte jedweder Art einen sehr allgemeinen Oberbegriff darstellt. „Register“ schien zutreffender, da es sich um mehrere Kategorien von spezifischen Informationen zu Leitnamen handelte.

43 Vgl. JKI-Webseite, Unterseite „Vitis International Variety Catalogue VIVC“, online unter: www.vivc.de (letzter Aufruf: 22.12.2017).

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6.2 Regeln Im Folgenden werden „Werkzeuge“ und Hilfsmittel beschrieben, die für einen geordneten Aufbau und standardisierte und zuverlässige Tabellen- und später Datenbankeinträge sorgen sollten. Zen­ tral waren hier die Aspekte: Vokabular, Sprache, Schreibweisen, Transliteration und Abkürzungen. Vorrangig von Bedeutung ist der Hauptname einer Sorte, auch Leitname genannt, unter dem die sortenspezifischen Daten geführt werden. Per Definition haben die originäre Bezeichnung und damit der Name, unter dem die Sorte vornehmlich in ihrem Ursprungsland vorkommt, Priorität. Kennt man das Ursprungsland nicht, fällt die Wahl auf den Namen, unter dem die Sorte am weitesten verbreitet ist. Die Regeln für die Rebsortenbezeichnung sahen eine einheitliche Schreibweise der Leitnamen vor. So sollte der Sortenname an erster Stelle stehen, danach das Merkmal, wie z. B. Reifezeit, Ursprungsort, Geschmack und am Ende die Beerenfarbe. Das schrieb sich dann so: PINOT PRECOCE NOIR oder MALVASIA DI SARDEGNA oder CHASSELAS MUSQUE BLANC. In Zeiten komfortabler Suchprogramme ist diese strenge Verfahrensweise teilweise gelockert worden. Sortennamen aus russischen Ampelographien und Sortimentslisten sollten standardisiert in die lateinische Schrift übersetzt werden. Für die Transliteration der kyrillischen Buchstaben in lateinische Schriftzeichen wurde deshalb ausschließlich entsprechend der Regeln der Zeitschrift Chemical Abstracts verfahren. Nach dem Zerfall der Sowjetunion stieg jedoch die Synonymievielfalt durch alternative Schreibweisen aus armenischen, aserbaidschanischen und georgischen Literaturquellen. Die osteuropäischen Sammlungsbetreuer schickten nach anderen Regeln transliterierte Sortenlisten. Alle Passportdaten sind durchgängig in englischer Sprache, außer der Beerenfarbe. Diese wird bis heute französisch abgekürzt, weil 1984 das entscheidende Gremium der Organisation für Rebe und Wein (OIV) von Franzosen dominiert wurde: „B“ für blanc, „G“ für gris, „RS“ für rose, „RG“ für rouge und „N“ für noir. Vier Nutzungskriterien wurden festgelegt, „W“ für wine grape, „T“ für table grape, „R“ für raisin und „RS“ für rootstock (Unterlage). Für die Herkunftsländer und die Länderkodes für Rebsortimente benutzte man dreibuchstabige Länderkürzel (ALPHA 3) aus der ISO 3166-1-Kodierliste, die schon 1974 herauskam. Politische Änderungen wie der Zerfall Jugoslawiens und der Sowjetunion führten zu neuen Länderkürzeln. Notwendigerweise musste auch das Ur-

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sprungsland einer Sorte erneut recherchiert und den neu entstandenen Staaten zugeordnet werden. Alle Sorteneinträge wurden und werden heute noch durchgängig großgeschrieben. Damit entging man u. a. den heute noch andauernden Diskussionen über die Groß- und Kleinschreibung von Sortenbenennungen wie z. B. Cabernet franc oder Cabernet Franc. Außerdem wurden Umlaute umgeformt und Sonderzeichen ignoriert. Die Sonderzeichenproblematik stellt sich wegen der Vielsprachigkeit heute noch in der Europäischen Vitis-Datenbank, in die 28 Länder ihre Passportdaten importieren. Mit der gerade laufenden Neuprogrammierung der Europäischen Vitis-Datenbank ist dieser unbefriedigende Sachverhalt gelöst. Bei der Übertragung von Passportdaten und Beschreibungsdaten auf elektronische Datenträger war der limitierende Faktor der geringe Speicherplatz. Darum wurden anfangs viele Namen manchmal bis zur Unkenntlichkeit abgekürzt, was später wieder mühsames Zusammensetzen erforderte. Auch sollten deshalb als Synonyme nur unterschiedliche Namen, keine alternativen Schreibweisen und keine Übersetzungen aus anderen Sprachen aufgenommen werden. Ihr Vorhandensein in der Datenbank hätte jedoch eine Menge Sucharbeit in Karteikarten, Bibliographie und Inventaren erspart. Eine 20 MB-Speicherplatte, die 1986 vom Geilweilerhof angeschafft wurde, kostete sage und schreibe 20.000 DM. Der Arbeitsspeicher betrug 64 kB. Im Vergleich dazu liegt der Preis für die 1.000.000-fache (20 Terabyte) Speicherkapazität aktuell je nach Angebot zwischen 1.000 und 2.500 Euro, und einen Stick mit 1 Gigabyte kann man schon für einen Euro erwerben. 6.3 Deskriptoren In der Aufbauphase des VIVC enthielten die Karteikarten nur wenige Kriterien. Auf der Vorderseite befanden sich die Passportdeskriptoren Leitname, Beerenfarbe, Vitis-Art, Synonyme, Nutzung, Herkunftsland, Sortimentskode, Züchter, Abstammung und bibliographische Referenzen, und auf der Rückseite Tabellen für 21 Deskriptoren der Merkmalsliste der OIV, die sich zur Sortenidentifikation besonders eigneten. Im Rückblick war die Aufnahme der beschreibenden Merkmale ein guter Ansatz, konnte doch die Richtigkeit der Zuordnung von Literaturzitaten und Akzessionen zu Leitnamen überprüft werden, und unterschiedliche Boniturno-

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ten wiesen direkt auf Homonymie oder Fehlbezeichnungen hin. Der personelle Aufwand für die Extraktion der Informationen aus bibliographischen Quellen und den Eintrag auf die Karteikarten war jedoch zu groß. Karteikarten sind auch heute noch in Gebrauch. Für jeden neu angelegten Leitnamen wird eine Karteikarte mit den wichtigsten Passportdaten angelegt. Aktuell werden für den VIVC einundzwanzig Passportdeskriptoren erfasst (Abb. 1, Beispiel Regent). 6.4 Programmierung Von 1987 bis 2004 fand die Programmiersprache dBASE Verwendung. Nun konnten die einzelnen Tabellen für Leitnamen, Synonyme, Sortimente und Literatur anhand des Schlüsselfeldes Kenn-Nr. in einer Anwendung verbunden werden. In Anbetracht des geringen Arbeitsspeichers waren Abstürze nicht selten. In einer Übergangsphase von 2001 bis 2004 wurde in Zusammenarbeit mit der IT-Arbeitsgruppe des JKI in Quedlinburg auf das Datenbankverwaltungssystem MySQL und die Programmiersprache Delphi umgestellt. Eine benutzerfreundliche lokale Arbeitsstation entstand, deren Funktionen permanent optimiert werden, um die Pflege der Daten effektiv und sicher zu gestalten. Im Laufe der Jahre wurde ein immer umfangreicheres und verwobeneres Datenmodell aufgebaut. Weitere Ergänzungen orientieren sich an neuen Forschungsergebnissen und finden permanent statt. Das Datenmodell beinhaltet Tabellen, die Passport-, Akzessions-, Charakterisierungs- Evaluierungs-, Instituts-, Züchter-, Flächen-, und Virusdaten, sowie Fotos und Bibliographie enthalten und ihre Beziehungen.44 Für die Internetpräsentation der Datenbanken werden maßgeblich die folgenden Programmierwerkzeuge eingesetzt: (1) die Internetprogrammiersprache PHP, (2) JavaScript, (3) Cascading Style Sheets, (4) Pear-Spreadsheet, (5) FPDF, (6) Ajax,45 (7) das Betriebssystem LINUX, (8) der Webserver APACHE und aktuell Yii, ein Open Source- und komponentenbasiertes Framework. 44 Eine Abbildung zum Überblick des VIVC-Datenmodells sowie eine Ausschnitts­ darstellung finden sich in Göb, Anna Katharina; Kappler, Verena und Nicole C. Karafyllis, Signifikant. Materialität und Semantik von Pflanzen-Etiketten in Bo­tanischen Gärten und Genbanken, Braunschweig 2017, S. 23-24, http:// publika­tionsserver.tu-braunschweig.de/get/64959 (letzter Aufruf: 1.2.2018). 45 Ajax: Asynchronous JavaScript and XML.

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Abb. 1: Passportdaten der pilzfesten Keltertraubensorte Regent.

6.5 Bibliographische Quellen Die im VIVC eingetragenen Daten fußen fast ausschließlich auf Angaben der Fachliteratur. Bibliografische Quellen erhalten fortlaufende Nummern. Sie umfassen etwa 800 Werke ampelographischer Natur in unterschiedlichsten Sprachen aus aller Welt, 900 Sortenbeschreibungen, 70 Artikel zu Resistenzverhalten und 350 Publikationen mit genetischen Markerprofilen. Obgleich digitalisierte

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Versionen existieren, ist die Gesamtheit der benutzten Quellen gedruckt vorhanden. Dies dient der Sicherheit und der Arbeitsweise im Umgang mit der Literatur. Zu jeder beschriebenen Sorte werden im Werk Leitname und Kenn-Nummer vermerkt, gegebenenfalls Passportdaten sowie Kommentare bei Auffälligkeiten, z. B. wenn abgebildete Fotos nicht der morphologischen Beschreibung entsprechen oder Synonyme durcheinandergeraten sind. Diese Dokumentation „schwarz auf weiß“ erweist sich immer wieder als nützlich für die Rückverfolgbarkeit von Sachverhalten und die Erklärung von einstmals getroffenen Entscheidungen. Mit einem Blick wird alles erfasst. So kann z. B. mittels der Handschriften von Gerhard Alleweldt und allen beteiligten Personen auf den Zeitpunkt der Bearbeitung geschlossen werden. Die Arbeit mit Referenzliteratur ist wegen der fortwährend notwendigen Identitätsüberprüfungen der Leitnamen ein Kontinuum. Ende der 1990er Jahre ergab sich die Gelegenheit, nachträglich die Seitenzahlen und Bezeichnungen, unter denen die Sorten in den Werken beschrieben sind, in die Datenbank aufzunehmen. Dadurch konnten sie einfacher und schneller gefunden werden, insbesondere wenn man an die zahlreichen Werke mit anderen Schriftzeichen denkt. Diese Information dient ebenso den Nutzern des VIVC. Von 1987 bis 1995 wurden die Datenbankinhalte noch in Form von zwei Drucklisten publiziert: Tabelle 1 mit über 20.000 Synonymen und Verweisen auf Leitnamen, und Tabelle 2 mit Leitnamen und den folgenden Passportdaten: Beerenfarbe, Synonyme, Herkunftsland, Vitis-Art, Abstammung und erhaltende Einrichtung. Seit 1996 ist der VIVC mit ca. 24.000 Leitnamen online. Für wesentliche Suchkriterien wie Sortennamen, Fotos und Bibliographie wurden einfache Suchoptionen programmiert, bei der erweiterten Recherche können sechzehn Deskriptoren beliebig kombiniert werden. Die Datenbank wird strukturell und inhaltlich permanent dem aktuellen Erkenntnisstand angepasst. Mitte 2016 bekam der VIVC ein moderneres Layout mit zusätzlichen Recherchemöglichkeiten. Heutzutage erfreut sich der VIVC mit einer Besucherfrequenz von ca. 4.535 unterschiedlichen Nutzern im Monat (Statistik von 2017) und mit steigender Tendenz einer durchaus hohen Beliebtheit.

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6.6 Virtuelles Register Europäische Vitis-Datenbank46 Bis durch europaweite Zusammenarbeit die Europäische Vitis-Datenbank implementiert werden konnte, die die Bestände der größten Rebsammlungen in Europa auswies, vergingen seit den Empfehlungen der Gegenmaßnahmen von IBPGR und OIV noch 15 Jahre. Grundlegend war die Projektausschreibung der Europäischen Kommission zur Erhaltung der genetischen Ressourcen Mitte der 1990er Jahre.47 Bereits im ersten Projekt GENRES81 (Laufzeit 1997-2002) waren 19 Partner involviert.48 In der Europäischen Vitis-Datenbank entspricht das Schlüsselfeld der Akzessionsnummer, d. h. einer eindeutigen Nummer, die nur einmalig bei der Aufnahme der Akzession/Sorte ins Sortiment vergeben wird. Die Europäische Vitis-Datenbank benutzt 49 Passportdeskriptoren, wobei 35 von der FAO/IPGRI (heute Bioversity International) übernommen wurden.49 Vierzehn weitere Vitis-spezifische Deskriptoren fügten die Teilnehmer der EU-Projekte hinzu, um rebenspezifische Belange berücksichtigen zu können. Die Beerenhautfarbe, das Herkunftsland der Sorte und das Kreuzungsjahr unterstützen die Zuordnung der Akzessionen zu Leitnamen. Die Kenn-Nr. und der Leitname des VIVC knüpfen die Verbindung zwischen dem VIVC und der Europäischen Vitis-Datenbank. Dreh- und Angelpunkt einer Akzession ist die Bestätigung der Sortenechtheit. Diesbezügliche Angaben – etwa die Feststellung der Identität mit Hilfe von genetischem Fingerabdruck, Ampelographie und Bibliographie –, erhielten besonderes Augenmerk durch neun Deskriptoren. Durch

46 Vgl. ECPGR-Webseite, Unterseite „The European Vitis Database“, online unter: www.eu-vitis.de (letzter Aufruf: 21.12.2017). 47 Arbeitsprogramm und Zusatzinformation für Submittenten bei Vorhaben im Rahmen konzertierter Aktionen und auf Kostenteilungsbasis, Verordnung (EG) Nr. 1467/94 des Rates vom 20. Juni 1994 über die Erhaltung, Beschreibung, Sammlung und Nutzung der genetischen Ressourcen der Landwirtschaft, Brüs­ sel 1994. 48 Maul, Erika und Patrice This, „GENRES081 – a basis for the preservation and utilization of Vitis genetic resources“, in: Maul, Erika; Eiras Dias, José Eduardo Jorge; Kaserer, H. et al. (Hg.), Report of a Working Group on Vitis. First Meeting, 12-14 June 2003, Palić, Serbia and Montenegro, Rome 2008, S. 13-22. 49 Alercia, Adriana; Diulgheroff, Stefano und Thomas Metz: Multi-Crop Passport Descriptors (MCPD), online unter: http://www.bioversityinternational.org (letz­­ ter Aufruf: 21.12.2017)

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vier geförderte Projekte50 erfuhr die Europäische Vitis-Datenbank jedes Mal eine Ergänzung der Beschreibungs- und Evaluierungsdeskriptoren. Darunter befinden sich z. B. die Bewertung der Mostund Weinqualität und auch Informationen zur On-farm-Erhaltung und Standorten der Wildrebe (Vitis vinifera L. ssp. sylvestris). Resultierend aus einem fünften Projekt ist augenblicklich ein neues Modul in Arbeit, das die Standorte von Vitis sylvestris-Populationen mittels Längen- und Breitengraden auf einer Europakarte mit Zoommöglichkeit abbildet.51 Ein sechstes Projekt (2017) widmet sich der europaweiten Registrierung von On-farm-Betrieben, für deren Darstellung ebenfalls die Europäische Vitis-Datenbank als Plattform dienen wird. Zurzeit (Januar 2017) sind in der Europäischen Vitis-Datenbank 58 Rebsortimente mit ca. 38.000 Akzessionen erfasst. Hierin enthalten sind Passport- und Markerdaten, Charakterisierungsdaten, Fotos und Virusdaten. Im Rahmen des EU-Projekts GrapeGen06 (Laufzeit 2007–2011) entstand eine Struktur, durch die das Einpflegen und der Export von allen Akzessionen und den sie beschreibenden Daten durch die Partner selbst möglich ist.52 Damit wurde erreicht, dass – auch nach Projektablauf – die Kuratoren der Sortimente ihre Bestandslisten und Beschreibungsdaten aktualisieren können. Es bedarf nicht mehr der Unterstützung des Datenbankmanagers, die Kuratoren garantieren selbst für die Zuverlässigkeit der hochgeladenen Inhalte. In summa: Die Europäische Vitis-Datenbank schafft Transparenz über Ländergrenzen hinweg und begünstigt als Netzwerk die bilaterale und multilaterale Klärung von Sortenfragen.

50 Maul, Erika; Sudharma, Ketut Ngurah; Kecke, Steffen et al., „The European Vitis Database (www.eu-vitis.de) – a technical innovation through an online uploading and interactive modification system“, in: Vitis: Journal of Grapevine Research, 51(2)/2012, S. 79-86; Maul, Erika; Töpfer, Reinhard; Carka, Frida et al., „Identification and characterization of grapevine genetic resources maintained in Eastern European Collections“, in: Vitis: Journal of Grapevine Research, 54/2015, S. 5-12. 51 Zdunić, Goran; Maul, Erika; Eiras-Dias, José Eduardo Jorge et al.: „Guiding principles for identification, evaluation and conservation of Vitis vinifera L. subsp. sylvestris“, in: Vitis: Journal of Grapevine Research, 56(3)/2017, S. 127131. 52 Maul et al., Vitis Database.

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6.7 Virtuelles Register Deutsche Genbank Reben53 Seit 2010 gibt es außerdem die Deutsche Genbank Reben, in der die Akzessionen der deutschen Sammlungen registriert sind. Auch hier entspricht das Schlüsselfeld der Akzessionsnummer. Die Deutsche Genbank Reben listet 4.192 Akzessionen aus sieben deutschen Rebensammlungen. Im Rahmen des BÖLN-Projekts „Weiterentwicklung von Wissenstransfer- und Informationssystemen zur nachhaltigen Nutzung rebengenetischer Ressourcen“ (2014–2016) fand die Sortenechtheitsfeststellung der Sammlungsbestände statt. Mit Hilfe des genetischen Fingerabdrucks und der Ampelographie konnte die Identität von 93 % der Vitis vinifera-Akzessionen eindeutig bestimmt werden.

7. Identifikation: Ampelographie, Herbar, Genetischer Fingerabdruck Der Begriff Ampelographie (ampelos = Weinstock, graphie = beschreiben) wurde 1661 von Philipp Jakob Sachs (1627–1672) mit seinem Werk Ampelographia geprägt, in dem allerdings keine Rebsorten beschrieben wurden, sondern die Beobachtungen zu Rebenorganen im Mittelpunkt standen. Zehn Jahre zuvor war posthum die Historia Plantarum Universalis von Jean Bauhin (1541–1612) erschienen. Darin enthalten waren minutiöse Beschreibungen von 22 Rebsorten, womit Bauhin als der erste moderne Ampelograph gelten kann. Eine erste Klassifikation von Rebsorten nach stabilen, d. h. zuverlässig unveränderlichen Merkmalen, stellte Dámian Simón-Roxas Clemente y Rubio (1777–1827) auf. In seinen sechs Übersichtstafeln zu Rebstock, Trieben, Blättern, Blüten, Trauben und Beeren hatte er alle gefundenen Ausprägungen eines Merkmals angeordnet. Ein Nutzer wurde somit anhand der Tabellen von einer Eigen­schaft zur nächsten geführt bis zur vollständigen Beschreibung einer Sorte. Für die deutschsprachigen Länder mögen beispielhaft drei Autoren genannt werden, die die Klassifikation der Reben nach Beerenform und -größe vornahmen und z. T. auch Blattmerkmale einbanden und umfangreiche, detailgenaue Beschreibungen vorlegten. Dies waren Johann Christian Metzger (1789–1852) in seinem 53 Vgl. JKI-Webseite, Unterseite „Deutsche Genbank Reben“, online unter: http:// www.deutsche-genbank-reben.jki.bund.de/ (letzter Aufruf: 21.12.2017).

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Werk Der Rheinische Weinbau (1827),54 Lambert Joseph Leopold Babo (1790–1862) in der Ampelographie Der Weinstock und seine Varietäten (1844)55 und Franz Xaver Trummer (1800–1858) mit seiner Arbeit Systematische Classification und Beschreibung der im Herzogthume Steiermark vorkommenden Rebensorten (1841). Die darin enthaltenen Beschreibungen sind auch heute noch für die Bestätigung von Sortenidentitäten von unschätzbarem Wert, besonders in Verbindung mit Abbildungen wie z. B. den 126 noch erhaltenen Gouachen der Brüder Vinzenz (1808–1888) und Conrad Kreuzer (1810–1861). Ein Glücksfall, dass sie 2001 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.56 Die Arbeit der Ampelographen und der Nutzer der Werke wäre leichter gewesen, hätten ein einheitlicher Bestimmungsschlüssel und Beschreibungsmodus sowie ein übereinstimmendes Vokabular vorgelegen. Mehrbändige Ampelographien des 20. Jh.s aus Frankreich, Italien, Rumänien, Russland usw. stellten ebenfalls die auf ihrem Territorium kultivierten Sorten überaus exakt dar. Hier kommt noch die Vielsprachigkeit hinzu, die Übersetzungen erforderten. Der Franzose Pierre Galet (*1921) hängte als einziger seinen Ampelographien57 einen mehrstufigen Bestimmungsschlüssel an, ausgehend von sieben Merkmalen, wie z. B. Behaarung der Triebspitze, Blattform, Tiefe der Blattbuchten und Dichte der Wollbehaarung der Blattunterseite, usw. Mit diesen Büchern war es wohl möglich, die häufigsten einheimischen Sorten zu bestimmen. Aber auf der Sammlungsebene hatte man es außerdem mit vielen alten vergessenen und ausländischen Sorten zu tun, deren Sortenechtheit es zu überprüfen galt. Diese mittels ampelographischer Merkmale zu bestimmen, erwies sich jedoch als mühsam. Früher widmete ein Ampelograph fast sein ganzes Berufsleben der Beschreibung und Erkennung von Rebsorten, und es bedurfte eines photographischen Gedächtnisses. Diese Einrichtung eines

54 Metzger, Johann Christian, Der Rheinische Weinbau: in theoretischer und prak­ tischer Beziehung, Heidelberg 1827. 55 Babo, Lambert Joseph Leopold, Der Weinstock und seine Varietäten. Be­schrei­ bung und Synonymik der vorzüglichsten in Deutschland cultivirten Weinund Tafeltrauben, mit Hinweisung auf die bekannteren Rebsorten anderer europäischer Weinländer, Frankfurt a. M. 1844. 56 Kreuzer, Vinzenz und Conrad Kreuzer, „Zbirka Ampelografskih Upodobitev Vinzenz“, in: Conrad Kreuzerja (Hg.), The Collection of Ampelographic Dra­ wings of Vinzenz and Conrad Kreuzer, Maribor 2001. 57 Galet, Pierre, Cépages et Vignobles de France. Tome II. L’Ampélographie Fran­ çaise, Montpellier 1990.

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Ampelographen kann sich heute ein Institut kaum mehr leisten in Zeiten, in denen seine Wertigkeit nach Anzahl der Publikationen in hoch bewerteten Zeitschriften beurteilt wird. So begann mit dem Einsatz der Mikrosatelliten-Analyse eine neue Zeitrechnung für die Sortenbestimmung. Die Methode überzeugte durch ihre Treffsicherheit und Schnelligkeit. Ein breit angelegter Versuch im GENRES081-Projekt bewies die Eignung von Mikrosatellitenmarkern zur Sortenidentifikation, unabhängig von Labor und Geräten.58 Diesem folgte das Schwarzmeerprojekt (Laufzeit 2003–2007). Beteiligt waren die Kaukasusländer und weitere an das Schwarze Meer grenzende Nationen.59 Mit der Bewilligung des zweiten EU-Projekts GrapeGen06 (Laufzeit 2007–2011) wurde erstmals in größerem Umfang der genetische Fingerabdruck zur Bestimmung von Akzessionen mit unbekannter Identität eingesetzt. Bei der COST-Aktion FA100360 (Laufzeit 2010–2014)61 stand die Evaluierung und Genotypisierung von Akzessionen in osteuropäischen Rebsammlungen im Fokus.

8. Die Sprache der Biofakte als Problem: Homonyme, Synonyme, Markerprofile Mit der Migration der Ackerbauern aus dem anatolischen Hochland nach Westeuropa dürften außer Haustieren und ackerbaulichen Fruchtarten auch Reben mit eingeführt worden sein. Sicher ist, dass die vor allem Handel treibenden und kolonisierenden Phönizier, Griechen und Römer für die Ausbreitung der Kultursorten im Mittelmeerraum sorgten. Dadurch trafen Reben aus verschiedenen geographischen Herkünften aufeinander, und durch Kreuzungen entstand erneut eine Rebsortenvielfalt mit einer Kulminationsphase von Beginn des Hochmittelalters bis weit in die Neuzeit hinein. 58 This, Patrice; Jung, Andreas; Boccacci, Paolo et al., „Development of a standard set of microsatellite references alleles for identification of grape cultivars“, in: TAG. Theoretical and Applied Genetics. Theoretische und Angewandte Genetik, 109(7)/2004, S. 1448-1458. 59 Maghradze, David; Failla, Osvaldo; Turok, Jozef et al., „Conservation and sus­ tainable use of grapevine genetic resources in the Caucasus and Northern Black Sea Region“, in: Acta Horticulturae, 827/2009, S. 155-158. 60 COST: European Cooperation in Science and Technology. 61 Maul et al., Identification and characterization.

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Handel, Pilgerrouten, Maßgaben der Klöster und der Obrigkeit führten zu einem regen Sortenverkehr. Die dabei weitestgehend mündliche Weitergabe der Sortennamen führte nicht nur zu phonetischen Änderungen, sondern es wurden gänzlich neue Begriffe (Synonyme) für die gleichen Objekte erzeugt, umso mehr, je weiter die zurückgelegten geographischen Distanzen waren.62 Die Sortenbezeichnungen können manchmal auf die Herkunft bezogen werden, z. B. einen Ort (Dattier de Beyrout, Gamay, Chardonnay), eine Region (Traminer, Italia, Malvasia di Sardegna), auf den Züchter (Müller-Thurgau, Seyval, Scheurebe), den Entdecker (Ruländer, Ortlieber) oder die Kreuzung (Cabernet Sauvignon, Rivaner) einer speziellen Eigenschaft (Tempranillo, Muscat à petits grains, Teinturier, Kishmish) usw. Doch häufig ist das Zustandekommen eines Namens unbekannt. Ein Paradebeispiel liefert der einstmals flächenmäßig weit verbreitete Weiße Heunisch, nachgewiesenermaßen direkter Vorfahre von 124 Rebsorten.63 Anhand seiner Nachkommen, wie die Francuse aus Moldawien, Xynomavro aus Griechenland, Furmint in Ungarn, Ribolla Gialla in Italien, Weißer Riesling in Deutschland und Chardonnay Blanc in Frankreich wäre die Wanderung von Ost nach West denkbar. Allerdings ist diese nicht gesichert, wie auch der Ursprungsort des Weißen Heunisch nicht bekannt ist. Auf ihrem Weg nach Westeuropa wechselte die Sorte häufig ihren Namen. Viele der dabei entstandenen 219 Synonyme und alternativen Schreibweisen, wie z. B. Foirard Blanc, Gouais blanc, Krapinska Belina, Liseiret, Perveivral, Rebula Stara und Tejer Szozeloe sind nicht voneinander ableitbar. „Gigante Branco“ ist eine treffende Beschreibung, bezugnehmend auf die großen Trauben und Beeren. Unter diesem Namen steht der Weiße Heunisch heute noch im offiziellen nationalen Sortenkatalog von Portugal.64

62 Maul und This, GENRES081. 63 Lacombe, Thierry; Boursiquot, Jean Michel; Laucou, Valérie et al., „Large-scale parentage analysis in an extended set of grapevine cultivars (Vitis vinifera L)“, in: TAG. Theoretical and Applied Genetics. Theoretische und angewandte Genetik, 126(2)/2013, S. 401-414; Maul, Erika; Eibach, Rudolf; Zyprian, Eva und Rein­ hard Töpfer, „The prolific grape variety (Vitis vinifera L.) ‚Heunisch Weiss‘ (= ‚Gouais blanc‘): bud mutants, ‚colored‘ homonyms and further offspring“, in: Vitis: Journal of Grapevine Research 54(2)/2015, S. 79-86. 64 Eiras-Dias, José Eduardo Jorge; Faustino, Rolando; Clímaco, Pedro et al. (Hg.), Catálogo das Castas para Vinho Cultivadas em Portugal, Vol. II, Lissabon 2013.

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Umgekehrt passiert es ebenfalls, dass genetisch verschiedene Sorten den gleichen Namen erhalten (Homonyme). Beispielsweise sind im VIVC fünf verschiedene Sorten mit Namen Augusta registriert, die in der virtuellen Datenbank anhand der Passportdaten, insbesondere Vitis-Art, -Herkunft und -Abstammung differenziert werden können. Um ein Augusta-Objekt darüber hinaus in einer Sammlung als „sortenecht“ zu deklarieren, bedarf es ampelographischer Referenzen oder der genetischen Profile. Neben Synonymie und Homonymie spielen Fehlbezeichnungen in Rebsortimenten eine Rolle. Der Austausch von Pflanzenmaterial zwischen Botanischen Gärten, Sortimentsbetreuern, Züchtern und Wissenschaftlern hat eine lange Tradition. Von der Ernte und Kennzeichnung der Ruten bis zur Neupflanzung sind es mehrere Arbeitsschritte. Daraus erklärt sich, dass in der Vergangenheit in den weltweiten Rebsortimenten mit ca. 10 % Fehlbezeichnungen zu rechnen war. Dies ergab eine Studie, in der von 900 Sorten Herbarbelege aus verschiedenen Sammlungen zusammengetragen worden waren.65 Seit fast 15 Jahren wird nun, neben den morphologischen Merkmalen der Rebe (Ampelographie), der genetische Fingerabdruck routinemäßig zur Feststellung der Sortenechtheit und zur Suche nach Eltern-Kind-Beziehungen eingesetzt. Zur Prüfung der Sortenechtheit bedient sich der Geilweilerhof einer umfangreichen Markerdatenbank, die von über 3.500 Sorten die genetischen Fingerabdrücke enthält.66 Diese wurden aus etwa 350 wissenschaftlichen Artikeln und Markerdatenbanken zusammengetragen sowie durch umfangreiche eigene Analysen ergänzt. Im VIVC sind derzeit 3.355 genetische Sortenprofile abrufbar. Datengrundlage sind zunächst neun Marker, die ausreichen, um die Identität von Sorten zu bestimmen. Der folgende Abschnitt beschreibt an einem Beispiel, wie innerhalb eines Projektes die Sortenechtheit von Akzessionen in osteuropäischen Sammlungen untersucht wurde.

65 Dettweiler-Münch, Erika, „The grapevine herbarium as an aid to grapevine iden­tification – First results“, in: Vitis: Journal of Grapevine Research, 31/1992, S. 117-120. 66 Maul et al., Identification and characterization.

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8.1 Sortenbestimmung im Rahmen der COST-Aktion FA1003 Ziel der COST-Aktion FA1003 war es, die Rebsortenvielfalt des osteuropäischen Raumes genetisch und morphologisch zu beschreiben, zu evaluieren und die Sortenidentität eindeutig zu belegen. An der genetischen Charakterisierung beteiligten sich 20 Sortimente aus 13 Ländern. Von 997 Akzessionen wurden die genetischen Fingerabdrücke angefertigt und verglichen. Sie gehörten zu 659 verschiedenen Rebsorten.67 Außerdem wurden die allelischen Profile mit internationalen Markerdatenbanken, publizierten Fingerabdrücken und dem VIVC abgeglichen. Als Ergebnis waren drei Fälle möglich: (1) Identische Akzessions-/Sortennamen und identische Markerprofile = der Idealfall, (2) Identische Akzessionsnamen und unterschiedliche Markerprofile und (3) Identische Markerprofile und unterschiedliche Akzessionsnamen – siehe anschließendes Beispiel. Die Herausforderung bestand darin, zu ermitteln, welcher Akzessionsname ein echter Sortenname/echtes Synonym, ein echtes Homonym oder eine Falschbezeichnung darstellte. Durch Verwendung von ampelographischer Literatur, Herbarreferenzen und Fotos konnte für 306 Rebsorten die Identität eindeutig bestätigt werden. 8.2 Identische Akzessionsnamen und unterschiedliche Markerprofile Drei Karmir Kakhani-Akzessionen, zwei aus Armenien und eine aus Vassal/Südfrankreich, zeigten drei unterschiedliche allelische Profile. Welche der drei Akzessionen war der sortenechte Karmir Kakhani? Die morphologischen Notierungen und Herbariumbelege der Akzession von INRA-Vassal passten zur Karmir KakhaniBeschreibung und Fotos aus der „Caucasus and Northern Black Sea Ampelography“.68 Außerdem entsprach der genetische Fingerabdruck der Akzession von Vassal einem zuvor veröffentlichen Karmir Kakhani-Profil.69 Daraus wurde geschlossen, dass vermutlich

67 Maul et al., The prolific grape variety. 68 Maghradze, David; Rustoni, Laura; Scienza, Attilio et al. (Hg.), Caucasus and Northern Black Sea Region Ampelography. Special Issue Vitis: Journal of Grape­ vine Research, 51/2012, S. 488. 69 Vouillamoz, José F.; McGovern, Patrick E.; Ergül, Ali et al., „Genetic characteriza­ tion and relationships of traditional grape cultivars from Transcaucasia and Ana­

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beide armenischen Karmir Kakhani-Akzessionen Fehlbezeichnungen sind. Inwieweit es sich um echte Homonyme handeln könnte, war mangels weiterer Indizien nicht nachprüfbar. Zum ersten Mal wurden von 2010 bis 2014 im Rahmen der COST-Aktion FA1003 in großem Umfang autochthone osteuropäische Sorten genotypisiert und evaluiert. Die Genotypisierung ergab außerdem, dass von den 659 Sorten allein 54 % (= 353 Sorten) nur in Osteuropa vorkommen und 46 % (= 300 Sorten) vermutlich einmalig, d. h. in keinem anderen Sortiment dupliziert sind. Wie wichtig es ist, gerade diese seltenen 300 Sorten vollständig zu beschreiben, wurde in diesem Zusammenhang deutlich, da Unikate wegen ihrer Einmaligkeit stets von genetischer Erosion bedroht sind. Außer der Duplizierung des Materials wurde empfohlen, das allelische Profil der 300 Sorten mit Fotos und der Beschreibung der morphologischen Merkmale zu komplettieren, um die Sortenidentitäten mittels Referenzen zu belegen. Denn im Rahmen der COST-Aktion FA1003 konnte die morphologische Beschreibung der untersuchten Genotypen nicht mehr vorgenommen werden, da das auf drei Jahre angelegte Projekt abgelaufen war.

9. Digitalisierung der Bestände Ein fast dreißigjähriger Vergleich zeigt, welchen Stellenwert die Erhaltung der Rebenvielfalt mittlerweile in Europa genießt. In den größeren nationalen Sortimenten hat sich die Zahl der Akzessionen teilweise vervielfacht. Außerdem wurden zahlreiche kleinere Sammlungen neu eingerichtet, die Sorten von regionaler Bedeutung bergen. Somit befinden sich die großen nationalen Rebsortimente Europas bislang noch auf Expansionskurs. Eine breite genetische Vielfalt ist die Grundlage für Forschung und Züchtung und letztendlich für einen zukunftsfähigen Weinbau. Eine Rationalisierung durch Eliminieren von Duplikaten findet hier nur ausnahmsweise statt. Gerade die Klonvielfalt der Jahrhunderte alten Rebsorten gilt es zu bewahren. Beispielgebend sind die französischen „conservatories“, in denen bis zu 600 Klone ein und derselben Rebsorte aufbewahrt werden, um die infraspezifische Sortenvielfalt zu sichern. tolia“, in: Plant Genetic Resources: Characterization and Utilization, 4(2)/2006, S. 144-158.

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Die Digitalisierung der Bestände ist bei immer größer werdenden Sammlungen eine große Stütze, um die Vielfalt an sortenspezifischen Informationen zusammenzuführen. Das Bestandsregister europäischer Rebsortimente mit Beschreibungs- und Evaluierungsdaten, Fotos, genetischen Fingerabdrücken, usw. als virtuelle Datenbank kann zukünftig dem Monitoring der genetischen Ressourcen dienen. Voraussetzung wäre, dass die Sortenechtheitsbestimmung in den Sortimenten abgeschlossen ist und der sammlungsübergreifende Vergleich der Markerprofile und Morphologie der Akzessionen stattgefunden hat. Als Resultat würde ersichtlich, welche Genotypen Unikate darstellen und entsprechend besonders beachtenswert sind. Duplikaterhaltung für seltene Individuen könnte damit in die Wege geleitet werden. Somit hat die zunehmende Digitalisierung erreicht, dass die Kollektionen von 28 Ländern in der Europäischen Vitis-Datenbank konzentriert und für jeden zugänglich sind. Jeder Nutzer kann zielgerichtet Akzessionen anhand der Beschreibungsdaten auswählen und die Sorten über eine „Materialtransfer-Vereinbarung“ (material transfer agreement) bestellen (s. Graner, in diesem Buch). Auch haben fünfzehn Institute 960 autochthone Sorten als AEGIS-Akzessionen vorgeschlagen und damit ihre Absicht zur langfristigen Erhaltung deklariert. Mittlerweile ist die Europäische Vitis-Datenbank ein Medium, an das sich beliebig Module angliedern lassen, wie z. B. die oben angeführte Dokumentation der europäischen Standorte von Vitis sylvestris-Populationen. Demnächst folgt eine Übersicht zur On-farm-Erhaltung seltener historischer Rebsorten im Weingut. Die Attraktivität dieser Rubrik liegt darin, dass sich das Modul an Winzer, Weinkonsumenten, Rebveredler, Händler und Journalisten gleichermaßen richtet, die an Nischenerzeugnissen und einer höheren Wertschöpfung interessiert sind. Es besteht außerdem die Chance, ein Netzwerk einzurichten, das im Fall der Aufgabe von Flächen bei der Weitergabe des Materials hilft. Die Bestandserhaltung als solche bleibt an praktische Bedingungen geknüpft wie die weinbauliche Pflege der Reben und die Sorge um ihre langfristige Erhaltung. Probleme bereiten Holzkrankheiten wie Esca und Eutypiose durch Rebholz-befallende Pilze (u. a. Eutypa lata) und Virusbefall. Diesbezügliche Stockausfälle werden erfasst und Nachpflanzungen eingeleitet.

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10. Zukünftige Herausforderungen Es ist keine Kosten-Nutzung-Rechnung, die für die Bewahrung der Rebendiversität und damit unseres kulturellen Erbes aufgestellt werden kann, denn Sortimente halten immer wieder Überraschungen bereit, die zuvor nicht absehbar waren. Zwei Beispiele mögen dies belegen: (1) Man ging davon aus, dass alle europäischen Reben anfällig gegenüber Echtem und Falschem Mehltau sind. Dies wurde widerlegt durch Hoffman et al., die mit Ren1 in der usbekischen Rebensorte Kishmish Vatkana einen Locus mit hoher bis sehr hoher Abwehrkraft gegenüber Echtem Mehltau gefunden haben.70 Die ausschließlich in wenigen osteuropäischen Kollektionen existierende Kishmish Vatkana und die mit dem gleichen Resistenzmechanismus ausgestattete Dzhandzhal Kara erlebten einen Run und sind unmittelbar nach Bekanntwerden ihrer Widerstandsfähigkeit international in Resistenzzüchtungsprogramme eingeflossen. (2) Als ein Ergebnis des Erfassungsprojekts von Jung (s. o.) wurden fast 70 alte Sorten dem Geilweilerhof-Sortiment hinzugefügt. Der genetische Fingerabdruck brachte bei einer Sorte ein besonderes Resultat. Jung hatte anhand von den Gouachen der Gebrüder Kreuzer71 und der Beschreibung von Trummer (1841)72 einen unbekannten Rebstock als untersteiermärkische Schwarze Zimmettraube identifiziert. Dieser Genotyp stellte ein sogenanntes „missing link“ dar, d. h. das fehlende Elternteil von Blauem Portugieser (Blaue Zimmettraube x Silvaner) und Blauem Lemberger (Blaue Zimmettraube x Weißer Heunisch).73 Mit dieser Entdeckung war es möglich, die Herkunftsfrage insbesondere des Blauen Portugiesers zu klären. Der Name „Portugieser“ nährte nämlich die Vermutung, er könne aus Portugal stammen. Diese Annahme wurde durch alte Quellen unterstützt, nach denen der Bad Vöslauer Hofrat Johann Graf von Fries

70 Hoffmann, Sarolta; Di Gaspero, Gabriele; Kovács, László et al., „Resistance to *Erysiphe necator* in the grapevine ‚Kishmish vatkana‘ is controlled by a single locus through restriction of hyphal growth“, in: TAG. Theoretical and Applied Genetics. Theoretische und Angewandte Genetik, 116(3)/2008, S. 427-438. 71 Kreuzer und Kreuzer, Ampelografskih. 72 Trummer, Franz Xaver, Systematische Classification und Beschreibung der im Herzogthume Steiermark vorkommenden Rebsorten, Grätz 1841. 73 Maul, Erika; Röckel, Franco und Reinhard Töpfer, „The ‚missing link‘ ‚Blaue Zimmettraube‘ reveals that ‚Blauer Portugieser‘ and ‚Blaufränkisch‘ originated in Lower Styria“, in: Vitis: Journal of Grapevine Research, 55(3)/2016, S. 135143.

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(1719–1785) die Sorte von Porto in Portugal bezogen hatte. Nun kommt die Blaue Zimmettraube laut der ampelographischen Literatur des frühen 19. Jh.s nur in der Untersteiermark vor, im heutigen Nordostslowenien. Dort waren zur gleichen Zeit auch Silvaner und Weißer Heunisch präsent, die zusammen mit der Blauen Zimmettraube den Blauen Portugieser und Blauen Lemberger zeugten. Somit konnte Slowenien als plausibles Herkunftsland des Portugiesers erklärt werden. Die beschriebenen Zusammenhänge reihen sich in eine Serie ebenso spektakulärer Sortenfunde ein, mit denen es gelang, verschiedene Stammbäume international bekannter Rebsorten wie Merlot = Magdeleine Noire de Charante x Cabernet franc,74 Tempranillo = Albillo Mayor x Benedicto75 und vielen anderen zu rekonstruieren.76 Somit kommt den Rebsammlungen die bedeutsame und vornehme Aufgabe zu, genetische Ressourcen für neue Fragestellungen und Anforderungen zu sichern. In diesem Kontext sollte eine der großen Herausforderungen für die Zukunft angesprochen werden, nämlich, über die allgemeine Unterweisung von jungen Forschern im Fach Ampelographie hinaus, ihnen die Möglichkeit einzuräumen, die ampelographischen Fähigkeiten kontinuierlich zu schulen und das ampelographische Wissen bzw. Sortenrepertoire zu erweitern. Das vorangegangene 74 Boursiquot, Jean Michel; Lacombe, Thierry; Laucou, Valérie et al., „Parentage of Merlot and related winegrape cultivars of southwestern France: Discovery of the missing link“, in: Australian Journal of Grape and Wine Research, 15(2)/2009, S. 144-155. Wenige Rebstöcke einer nicht bekannten Sorte wurden in der Nor­mandie und im Cognac-Gebiet an Häuserwänden (wieder)entdeckt. Man gab ihr den Namen ‚Magdeleine Noire des Charentes‘. 75 Ibáñez, Javier; Munoz-Organero, Gregorio; Zinelabidine, L. Hasna et al., „Ge­ netic origin of the grapevine cultivar Tempranillo“, in: American Journal of Enology and Viticulture, 63(4)/2012, S. 549-553. 76 Cipriani, Guido; Spadotto, Alessandro; Jurman, Irena et al., „The SSR-based molecular profile of 1005 grapevine (Vitis vinifera L.) accessions uncovers new synonymy and parentages, and reveals a large admixture amongst varieties of different geographic origin“, in: TAG. Theoretical and Applied Genetics. Theo­ retische und Angewandte Genetik, 121(8)/2010, S. 1569-1585; Garcia-Muñoz, Sonia, Estudio de variedades minoritarias de vid (Vitis vinifera L.): descripción, caracterización agronómica y enológica de material procedente de las Islas Bale­ ares. Tesis doctoral, Valladolid 2011; Mena, Adela; Martínez, Jesús und Mónica Fernández-Gonzáles, „Recovery, identification and relationships by microsatel­ lite analysis of ancient grapevine cultivars from Castilla-La Mancha: the largest wine growing region in the world“, in: Genetic Resources and Crop Evolution, 61(3)/2014, S. 625-637. Unter drei verschiedenen Namen wurde Benedicto in spanischen Rebsortimenten aufbewahrt. Es ist bislang nicht gelungen, sie einer historischen Sortenbeschreibung zuzuordnen.

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Beispiel zeigt, dass namenlose Fundstücke und verschollene Sorten nicht einfach per genetischem Fingerabdruck identifiziert werden können. Die genetische Identifikation setzt voraus, dass ein passendes Profil bereits in einer Datenbank existiert und dieses zudem zu einer beschriebenen Sorte gehört. Dank der europäischen Projekte gestaltet sich die Erhaltungssituation in Europa gut. Was fehlt, ist die vollständige sortimentsübergreifende und internationale Klärung von Fragen der Sortenidentität. Auch hier ist der Fortschritt unbedingt eine Zeitfrage, denn diese Abklärungen sind mühsam und mit aufwändigen Literaturrecherchen verbunden, und die vielen Fragen sind sicherlich nur mittelfristig lösbar. Insbesondere die Diversität in Osteuropa ist extrem reichhaltig und noch wenig untersucht. In Armenien wurde erst vor wenigen Jahren begonnen, die genetische Sortenvielfalt aus Weinbergen in einem Sortiment zu sammeln. So bedarf es trotz der COST-Aktion FA1003 weiterer Forschungsanstrengungen. Die Sicherheits-Duplizierung seltener Sorten unter den Vorgaben von AEGIS (s. Engels und Maggioni, in diesem Buch), d. h. ihre Erhaltung an zwei verschiedenen Standorten, vorzugsweise in verschiedenen Ländern, ist ein weiteres Anliegen. Außerdem ist in Anbetracht der Klimaveränderungen die Evaluierung der rebengenetischen Ressourcen bezüglich phänologischer Eigenschaften sowie biotischer und abiotischer Resistenzen ein notwendiges Vorhaben. In Anbetracht zivilisatorischer Bedrohungen wie z. B. des Baues von Staudämmen für Bewässerungszwecke (etwa in Spanien) ist die Sicherung der In situ-Bestände der europäischen Wildrebe Vitis vinifera L. ssp. sylvestris ebenfalls eine dringende Aufgabe. Die digitalisierte Darstellung der Rebsorten, Wildarten und Zuchtstämme im bibliographischen Register VIVC erfordert permanente Pflege. Dazu gehören die Extraktion von Informationen auch aus fremdsprachigen Literaturquellen, Auswertung von Sortimentslisten und ihre Ergänzung in der Datenbank. Um die Aufnahme von Daten effizienter zu gestalten, ist für einzelne Kriterien bereits ein Import mittels Excel-Tabellen eingerichtet. Sorgfältiges Arbeiten, verantwortungsvolles Umgehen mit Inhalten und die zuverlässige Eingabe von Daten, die unmittelbar online gehen, ist nötig. All diese Daueraufgaben verlangen Personal auf unbefristeten Stellen, das nicht nur weinbaulich, ampelographisch und fremdsprachlich, sondern noch dazu im IT-Bereich geschult ist und sich an die fortlaufenden technischen Neuerungen anpassen kann.

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Erika Maul

Rein technisch betrachtet, könnte der VIVC weitaus mehr Daten zu Rebsorten aufnehmen, z. B. ihre flächenmäßige Verbreitung und genomische Daten. So könnte zielgerichteter nach Sorten gesucht werden, die einen bestimmten Resistenzlocus tragen. Rückblickend ist festzuhalten, dass in den letzten dreißig Jahren Enormes zur Sammlung, Erhaltung, Beschreibung, Identifikation und Dokumentation der rebengenetischen Ressourcen erreicht wurde. Die Förderung der Zusammenarbeit durch europäische und nationale Projekte hat viel dazu beigetragen.

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Henryk Flachowsky und Monika Höfer

Äpfel, Birnen, Beeren: Die Deutsche Genbank Obst, ein Netzwerk von Lebendsammlungen mit besonderen Herausforderungen

Abstract: The preservation of genetic resources provides the basis for sustainable food production for future generations. In Europe, collections of fruit trees were held by aristocrats, in monasteries and in manor houses since the Middle Ages. First national collections of fruit genetic resources were established in the early decades of the 20th century. During the last decades preservation was realized in public germplasm collections, but also in numerous private collections. Unfortunately, a general overview of all activities was missing until recently. This bears the risk for a gradual loss of biodiversity. To successfully counter this risk, the German Fruit Genebank (Deutsche Genbank Obst, abbreviation: DGO) has been launched in 2007. The German Fruit Genebank is a local network, where different germplasm collections have been brought together with the aim to centralize the coordination of all conservation and management measures. Coordinator is the Institute for Breeding Research on Fruit Crops of the Julius Kühn-Institut (JKI), the Federal Research Centre for Cultivated Plants in Germany. Within the network of the German Fruit Genebank species related sub-networks were established for strawberry, cherry, apple, Rubus and plum. A pear network is currently being set up. All information about individual genotypes is provided via an online database. Zusammenfassung: Die Erhaltung der obstgenetischen Ressourcen bildet die Basis einer nachhaltigen Nahrungsmittelproduktion für zukünftige Generationen. Während in Europa Sammlungen von Obstbäumen durch Aristokraten, in Klöstern und in Herrenhäusern schon seit dem Mittelalter angelegt wurden, entstanden erste nationale Sammlungen obstgenetischer Ressourcen erst in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. In den zurückliegenden Jahrzehnten wurde die Erhaltung durch öffentliche KeimplasmaSammlungen realisiert, aber ebenso durch zahlreiche private Sammlungen. Bedauerlicherweise fehlte bis vor kurzem ein allgemeiner Überblick über die Erhaltungsaktivitäten, was das Risiko des graduellen Verlustes von Biodiversität mit sich brachte. Um dieser Gefahr erfolgreich zu begegnen, wurde im Jahre 2007 die Deutsche Genbank Obst (DGO) ins Leben gerufen. Die DGO stellt ein lokales Netzwerk dar, in dem verschiedene Sammlungen obstgenetischer Ressourcen mit dem Ziel zusammengeführt werden, die Koordinierung der Erhaltungsaktivitäten zu zentralisieren und diese zu verwalten. Die Koordinationsstelle ist das Institut für Züchtungsforschung an Obst des Julius Kühn-Instituts (JKI), des Bundesforschungsinstituts für Kulturpflanzen in Deutschland. Innerhalb des Netzwerks der DGO wurden weitere Unter-Netzwerke für spezielle Arten eingerichtet, etwa für Erdbeeren, Kirschen, Äpfel, Rubus und Pflaumen. Ein Netzwerk für Birnen ist gegenwärtig im Aufbau. Alle Informationen über individuelle Genotypen werden in einer Online-Datenbank bereitgestellt.

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1. Einleitung Mit der Deutschen Genbank Obst (DGO) wird im Folgenden eine Lebendsammlung aus dem Bereich des Gartenbaus (d. h. der Hortikultur) vorgestellt. Dabei handelt es sich weniger um eine klassische Sammlung, die von einer dafür verantwortlichen Institution erhalten und betreut wird, als vielmehr um ein dezentrales Netzwerk, welches zum Ziel hat, die Erhaltungsaktivitäten verschiedener Bundes- und Landeseinrichtungen, Universitäten und Hochschulen, Vereine, Verbände, Kommunen, Landkreise und privater Sammler zu bündeln und durch eine zentrale Koordination möglichst effektiv und langfristig abgesichert auszurichten (s. Abschn. 6). Hauptziele der DGO sind die Sammlung und Erhaltung genetischer Ressourcen1 bei verschiedenen Obstarten (Apfel, Kirsche, Pflaume, Birne etc.) in wissenschaftlicher, nachhaltiger und kosteneffizienter Art und Weise. Dazu werden Pflanzensammlungen von Obstsorten verschiedener Arten, sowie die zu diesen Sorten gehörenden Passportdaten2 zusammengeführt. Damit soll ein Überblick über die noch vorhandene Vielfalt bei unseren Obstsorten erhalten werden. Für die einzelnen Arten wurden spezifische Netzwerke (z. B. Apfelnetzwerk, Kirschnetzwerk etc.) etabliert und in das Gesamtnetzwerk der DGO integriert.3 Koordiniert wird die DGO vom Institut für Züchtungsforschung an Obst des Julius Kühn-Institutes (JKI). Dieses Institut erhält am Standort Dresden-Pillnitz umfangreiche Sortensammlungen von verschiedenen Obstarten (s. Absch. 5). Die Sammlungen sind Bestandteil der zum Institut gehörenden Obstgenbank und leisten darüber hinaus einen Beitrag zu den obstartenspezifischen Netzwerken 1 Die DGO konzentriert sich bei genetischen Ressourcen ausschließlich auf die Vielfalt der Obstsorten. Wildarten werden hier nicht erhalten. Diese werden in den Sammlungen der institutseigenen Obstgenbank des Instituts für Züch­ tungsforschung an Obst des JKI in Dresden-Pillnitz erhalten. 2 Unter Passportdaten versteht man alle Informationen, die ein Muster eindeu­ tig beschreiben (z. B. Artzugehörigkeit, Sortenname, Ursprungsland, erhaltende Ein­richtung usw.). 3 Wie auch die Genbank des IPK in Gatersleben und die Rebensammlung am Geilweilerhof des JKI in Siebeldingen, ist die DGO eingebettet in die Nationale Strategie zur Erhaltung der biologischen Vielfalt und in das Nationale Fachpro­ gramm Pflanzengenetische Ressourcen landwirtschaftlicher und gartenbaulicher Kulturpflanzen in Deutschland. Vgl. BMEL (Hg.), Tagungsband zum Kongress Deutsche Obstsortenvielfalt. Neue Wege für Erhaltung und Nutzung, Berlin 2015.

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der DGO. Neben den Sortensammlungen verfügt das Institut über große Sammlungen von nah verwandten Wildarten unserer Kultursorten. Diese gehören zur Obstgenbank des JKI, sind jedoch nicht Bestandteil der DGO. Die in diesen Sammlungen erhaltenen Pflanzen dienen v. a. der Züchtung neuer Sorten und der Züchtungsforschung. Damit besitzt das Pillnitzer Institut verschiedene Lebendsammlungen von Obst, die alle sehr ähnliche Anforderungen an den Aufbau und die Bewirtschaftung stellen, aber z. T. ganz unterschiedliche Zielstellungen verfolgen. Im Folgenden sollen neben einer kurzen Einführung in die Geschichte der Obstsammlungen in Deutschland (s. Abschn. 3) auch Einblicke in die Geschichte des Obstbaus, die Gründe für den Verlust an Arten und Sorten4 (s. Abschn. 4) sowie in die Form der Erhaltung in den Lebendsammlungen bei Obst gegeben werden (s. Abschn. 2 und 5). Ein Blick auf die Netzwerkstrukturen der DGO (s. Abschn. 6) und die digitale Darstellung der Bestände in Datenbanken (s. Abschn. 7) runden die Darstellung ab. Abschließend (Abschn. 8) wird kurz der Wert der Erhaltung obstgenetischer Ressourcen in Obstgenbanken diskutiert.

2. „Der ganze Baum“ (Feld- oder Aktivsammlung) Obstgenbanken5 zeigen im Vergleich zu anderen Genbanken bei Pflanzen, wie z. B. Getreide (s. Graner, in diesem Buch), einige Besonderheiten, sowohl das Sammlungsobjekt als auch dessen Form der Erhaltung betreffend. Obstpflanzen und ganz besonders Obstbäume zeichnen sich durch eine vergleichsweise lange Lebensdauer aus. Dadurch erlangen einzelne Pflanzen (i. d. R. Sorten), die über viele Jahrzehnte in Haus- und Hofgärten, in Klostergärten oder

Fowler, Cary and Pat Mooney, Shattering. Food, Politics, and the Loss of Genetic Diversity, Tucson/AZ 1990. 5 Unter dem Begriff „Obst“ werden verschiedene Kategorien wie Steinobst (z. B. Pflaume, Kirsche, Aprikose), Kernobst (z. B. Apfel, Birne, Quitte), Beerenobst (z. B. Erd-, Him- und Brombeere), Schalenobst (Nüsse), Zitrusfrüchte und exo­ tische Früchte zusammengefasst. Charakteristisch ist, dass diese Früchte aus den befruchteten Blüten von Bäumen, Sträuchern und mehrjährigen Stauden entstehen. Die Abgrenzung von Obst zu Gemüse ist botanisch unscharf (vgl. die Tomate, die lange als „Paradiesapfel“ bzw. heute noch in Österreich als „Paradei­ ser“ bezeichnet wird). 4

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Streuobstwiesen präsent sind, einen hohen Erinnerungswert,6 der auch die Landschaft mit einbezieht. Auf diese Weise haben viele Obstsorten eine kulturhistorische Bedeutung erworben. Durch ihre Züchtungsgeschichte und die Art ihrer Vermehrung (ungeschlechtlich durch z. B. Pfropfung) sind sie außerdem in Abhängigkeit vom menschlichen Wirken gebracht worden und damit Biofakte,7 d. h. Pflanzen, die zwar selbst, aber nicht mehr von selbst wachsen können, sondern auf menschliche Hilfe angewiesen sind. Anders als bei Getreiden, Ölsaaten oder Hackfrüchten kann bei Obst die individuelle Pflanze eine Bedeutung im menschlichen Gedächtnis erhalten. Deshalb ist es gerade hier das Ziel, individuelle Typen mit den für sie typischen Merkmalen dauerhaft zu erhalten. Das ist nicht einfach, denn die meisten unserer Obstarten sind Fremdbefruchter, die von Insekten bestäubt werden. Dabei wird der Pollen von den Blüten einer Vaterpflanze auf die Narben der mütterlichen Blüten übertragen. Dort keimen die Pollenkörner aus, der Keimschlauch wächst in den Griffel ein und befruchtet im Erfolgsfall eine Eizelle. Da eine Selbstbefruchtung bei den meisten Obst­ arten durch einen genetischen Mechanismus unterbunden wird, müssen sich Vater und Mutter für eine erfolgreiche Befruchtung genetisch unterscheiden. Als Folge der Befruchtung entwickelt sich aus der Eizelle ein Same, welcher sowohl einen Teil der genetischen Information der Mutter als auch einen Teil der Information des Vaters enthält. Da jedes Pollenkorn und jede Eizelle nur einen zufällig ausgewählten Teil der elterlichen Erbinformation besitzt, ist jeder Same genetisch einzigartig. Er unterscheidet sich genetisch sowohl von der Mutterpflanze als auch von seinen Geschwistern. Aus jedem Samen entsteht eine völlig neue Pflanze, die in ihren Eigenschaften deutlich von den Eltern abweicht. Aus diesem Grund ist die genetisch identische (typenecht, sortenecht) Erhaltung ausgewählter Typen (z. B. einer historischen Sorte) bei den meisten Obstarten nicht über Samen möglich. Viele Obstpflanzen werden also nicht generativ (über Samen), sondern vegetativ, über Stecklinge (z. B. Erdbeere) oder durch Pfropfung (z. B. Apfel, Birne, Kirsche

6 Chapman, Susannah und Tom Brown, „Apples of Their Eyes: Memory Keepers of the American South“, in: Nazarea, Virginia D., Rhoades, Robert E. und Jenna E. Andrews-Swann (Hg.), Seeds of Resistance, Seeds of Hope: Place and Agency in the Conservation of Biodiversity, Tucson/AZ 2013, S. 42-64. 7 Karafyllis, Nicole C., „Biofakte – Grundlagen, Probleme, Perspektiven“, in: Erwä­ gen Wissen Ethik, 17(4)/2006, S. 547-558.

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u. a.), vermehrt. Da man für diese Art der Vermehrung einen Teil der zu vermehrenden Pflanze (Ausläufer, Reis) benötigt, müssen die Pflanze selbst oder Teile von ihr, die eine genetisch identische Vermehrung erlauben, physisch noch vorhanden sein. Deshalb werden Obstpflanzen meist in Form von ganzen Pflanzen im Feld (Aktivsammlungen) oder Pflanzenteilen (Passivsammlung) erhalten. Die Erhaltung kann dabei in situ, ex situ oder on farm erfolgen. Die In situ-Erhaltung geschieht am natürlichen Standort und trifft i. d. R. bei Wildarten zu. Bei Sorten- und anderen Genbanksammlungen sprechen wir von einer Ex situ-Erhaltung. Diese erfolgt außerhalb des natürlichen Standortes. Das gilt sowohl für Aktiv- (Feldsammlungen) als auch für Passivsammlungen (Kryokonservierung, Kühllagerung, In vitro-Kultur).8 Bei der On farm-Erhaltung wird dies durch Anbau (z. B. Primitiv- und Landsorten) realisiert. In Deutschland erfolgt die Erhaltung obstgenetischer Ressourcen zum größten Teil ex situ in Aktivsammlungen.9 Lediglich bei einigen wenigen Wildarten (z. B. Malus sylvestris – der Holzapfel, oder Fragaria vesca – die Walderdbeere) ist unter unseren Bedingungen eine In situ-Erhaltung möglich. Aktivsammlungen haben den Vorteil, dass die zu erhaltende Pflanze ständig den vorherrschenden Umweltbedingungen ausgesetzt ist. Veränderungen im Klima (Kälte, Hitze, Trockenheit, UV-Strahlung) wie auch das Auftreten neuer Schaderreger (Pilze, Bakterien, Viren, Insekten) lassen sofort erkennen, welche Typen in einer solchen Sammlung stärker oder weniger stark davon beeinflusst werden. Sie sind somit ein ideales Barometer für Veränderungen in unserer Umwelt. Darüber hinaus liefern Aktivsammlungen wertvolle Informationen für den Anbau wie auch für die Züchtung neuer Sorten. Nachteilig sind neben dem hohen Arbeitsaufwand und den Kosten für die Erhaltung v. a. die ständige Gefährdung der genetischen Ressourcen durch Krankheiten und widrige Umwelteinflüsse sowie schleichende Veränderungen (z. B. Mutationen). Gerade durch das Auftreten von Epidemien können Aktivsammlungen stark bedroht werden. Ein deutliches Beispiel dafür ist der Feuerbrandbefall in

8 Siehe dazu Graner, Overmann sowie Schumacher, in diesem Buch. 9 In Aktivsammlungen werden obstgenetische Ressourcen in Form von Pflanzen unter quasi-natürlichen Umweltbedingungen erhalten. Auf diese Weise können die Eigenschaften von Pflanzen als Reaktion auf ihre Umwelt aktiv bewertet werden. Das ist bei passiven Erhaltungsformen (z. B. Samensammlung) nicht der Fall.

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der Obstgenbank des JKI im Jahr 2003. Feuerbrand ist eine Bakterienkrankheit, die v. a. Kernobstarten (Apfel, Birne, Quitte etc.) befällt. Infolge eines starken Befalls mit dieser Krankheit mussten in den Genbank- und Züchtungsquartieren des Pillnitzer Instituts im Zeitraum vom 19. Mai bis 11. August 2003 insgesamt 1.164 Apfel- und 478 Birnenbäume gerodet werden.10 Dieses Risiko eines möglichen Verlustes an pflanzengenetischen Ressourcen (PGR) soll künftig durch die Etablierung von Netzwerken wie der DGO, in denen Sammlungen an mehreren Standorten gleichermaßen vorhanden sind, reduziert werden. Auf diese Weise hält die DGO viele genetische Ressourcen vorrätig und versucht, diese einer erneuten Verwendung im Anbau (Haus- und Kleingarten, Streuobst, Nischenprodukte im kommerziellen Anbau) bzw. in der Züchtung neuer Sorten zuzuführen.

3. Sammlungen obstgenetischer Ressourcen haben bereits eine lange Tradition Obwohl der Mensch verschiedene Obstpflanzen schon seit mehreren Jahrtausenden zu Nahrungszwecken nutzt, war der Obstbau in der westlichen Welt über viele Jahrhunderte hinweg nicht unmittelbar an die Sicherstellung menschlicher Ernährung geknüpft. Obst war vielfach ein Luxusprodukt, welches den oberen Schichten der Gesellschaft vorbehalten war. Das galt bereits für die Kulturen der arabischen Halbinsel, bei denen der Obstanbau v. a. in den Lustgärten der Herrschenden betrieben wurde. Erst mit den Römern kamen viele unserer heutigen Obstarten aus Asien über die Handelswege der Seidenstraße nach Europa. Hier erfolgte der Anbau über viele Jahrhunderte hinweg vorwiegend in Klöstern und Herrenhäusern. Neben dem Zweck der Ernährung war Obst v. a. Medizin, Objekt der Liebhaberei und diente der Repräsentation. Ab dem 15. und 16. Jh. erfuhr der Obstbau eine besondere Förderung durch den Adel. Zur Zeit des Barocks entstanden an vielen Orten in Europa umfangreiche Orangerien, welche als reine Prestigeobjekte fungierten und nicht zur Massenproduktion von Obst gedacht waren. Der Obstbau

10 Peil, Andreas; Richter, Klaus; Höfer, Monika und Magda-Viola Hanke, „Beschrei­ bung des Feuerbrandbefalls am Institut für Obstzüchtung in Dresden-Pillnitz im Jahr 2003“, in: Erwerbsobstbau, 46/2004, S. 141-148.

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auf dem Land florierte zu dieser Zeit nur dort, wo lukrative Absatzmöglichkeiten auf regionalen Märkten gegeben waren.11 Im 18. und 19. Jh. entwickelte sich ein zunehmendes Interesse an der Beschreibung und Katalogisierung der Vielfalt bekannter Obstsorten, was 1860 zur Gründung des Deutschen Pomologen-Vereins führte (1919 aufgelöst zugunsten der Deutschen Obstbau-Gesellschaft, heutiger Pomologen-Verein e. V., 1991 im Kreis Diepholz in Niedersachsen gegründet). Dieser Verein12 beschäftigte sich neben der Obstsortenkunde auch mit Fragen des Obstbaus, ersten Formen der Obstzüchtung und den Möglichkeiten der Verwertung. Aus den Arbeiten dieses Vereins ging auch das sogenannte Reichsobstsortiment hervor. Trotz dieser Hochzeit pomologischen Wirkens war der Obstbau in vielen Teilen Deutschlands noch schlecht entwickelt. Mit der Schaffung von Armen- und Schrebergärten im 19. Jh. sowie den Bauerngärten zu Beginn des 20. Jh.s fand der Obstbau zunehmend Eingang in die bäuerliche Produktion sowie in den Haus- und Kleingarten.13 Besondere Bedeutung erlangte das Anlegen umfangreicher Samm­ lungen an Obstsorten und Wildartenakzessionen mit dem Beginn der wissenschaftlich (genetisch) fundierten Obstzüchtung in den 1920er Jahren sowie den Autarkiebestrebungen Deutschlands zur Zeit des sogenannten „Dritten Reichs“. Die jüngere Gegenwart in Konsumgesellschaften ist hingegen durch einen Überfluss an Obst und kurzfristige Konsumentenvorlieben für bestimmte Sorten (vgl. z. B. jüngst für die Apfelsorte Pink Lady®)14 geprägt, wobei die Vielfalt oft auf der Strecke geblieben ist. Einige der Gründe werden nachfolgend geschildert.

11 Hofmann, Jochen Alexander, Obstlandschaften 1500–1800. Historische Geogra­ phie des Konsums, Anbaus und Handels von Obst in der Frühen Neuzeit, Bam­ berg 2015, S. 197. 12 Die umfangreiche Bibliothek des Vereins mit Literatur und Tafeln zur Sorten­ bestimmung wird heute in einem Sonderbestand der Universitätsbibliothek der TU Berlin bewahrt und ist teilweise digitalisiert, online unter: http://gartentex­ te-digital.ub.tu-berlin.de/pomologie/index.html (letzter Aufruf: 13.1.2017). 13 Dazu ausführlich: Lott, Kirsten, Der historische Obstbau in Deutschland zwi­ schen 1850 und 1910, Dissertationsschrift, Berlin 1993. 14 Sorten können unter ihrem Sortennamen (dieser steht in Hochkommata, z. B. 'Cripps Pink') oder unter einem Markennamen (z. B. Pink Lady®) gehandelt werden. Unter der geschützten Marke Pink Lady® werden Äpfel der ebenfalls geschützten Sorte 'Cripps Pink' gehandelt, die bestimmten, vom Inhaber der Rechte an dem Markennamen festgelegten Qualitätskriterien entsprechen.

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4. Starker Rückgang der Obstvielfalt im 20. Jahrhundert Das 20. Jh. war geprägt von einer drastischen Intensivierung des Obstbaus. Die Entwicklung ging weg von einer kleinbäuerlichen Produktion und hin zum industriemäßigen Anbau in stark spezialisierten Großbetrieben. Diese Entwicklung hatte dramatische Auswirkungen und ging einher mit einer starken Abnahme der Artenund Sortenvielfalt. In den kleinbäuerlichen Betrieben, die zu Beginn des 20. Jh. noch stark verbreitet waren, wurde Obst in Haus- und Hofgärten produziert. Der Anbau war charakterisiert durch eine Vielzahl an Sorten unterschiedlichster Obstarten (Apfel, Birne, Quitte, Kirsche, Pflaume usw.). Durch eine Staffelung von Reifezeiten und den Anbau von Sorten mit unterschiedlicher Eignung für den Verbrauch (z. B. Backen, Kochen, Dörren und Brennen) sollte die Versorgung der Familie mit Obst über einen möglichst langen Zeitraum im Jahr sichergestellt werden. Noch heute zeugen Sortennamen wie 'Altländer Pfannkuchenapfel', 'Börtlinger Weinapfel', 'Champagner Bratbirne', 'Kirchensaller Mostbirne' und 'Manks Küchenapfel' von dieser großen Vielfalt. Vor allem die Autarkiebestrebungen in der Zeit des Nationalsozialismus und der Nahrungsmangel in den Nachkriegsjahren machten eine Intensivierung des Obstbaus notwendig. Heute erfolgt der Obstbau vorwiegend in stark spezialisierten Großbetrieben. Diese Spezialisierung hat in den letzten Jahrzehnten besonders durch die niedrigen Erzeugerpreise bei steigenden Lohnkosten ein immer stärkeres Ausmaß angenommen. Die Durchschnittserlöse für Tafeläpfel, Mostäpfel und Steinobst lagen im Jahr 2014 z. B. bei 0,46 €/kg, 0,07 €/kg und 0,77 €/kg.15 Die Gründe dafür sind v. a. in der Globalisierung der Märkte und den heute verfügbaren Formen der Obstlagerung und Vermarktung zu sehen. Heimische Produzenten konkurrieren mit Importen aus Ländern, in denen bessere klimatische Bedingungen herrschen und die geringere Lohnkosten haben. Durch neue Formen der Lagerung können diese Länder fast ganzjährig frisches Obst nach Deutschland liefern. Dazu kommen noch die zunehmenden Importe von nicht heimischen Obst­ arten, die sich großer Beliebtheit bei den Verbrauchern erfreuen und negativ auf den Bedarf der heimischen Erzeugnisse auswirken. So hat allein Deutschland im Jahr 2015 rund 1.4 Millionen Tonnen (t) Bananen, 470.000 t Süßorangen, 388.000 t Clementinen und Man15 Behr, Hans-Christoph, AMI Markt Bilanz Obst 2016, Bonn 2016.

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darinen, 362.000 t Wassermelonen und 302.000 t Nektarinen und Pfirsiche importiert.16 Dennoch hat die Obstproduktion in der EU einen hohen ökonomischen Stellenwert. Allein im Jahr 2014 wurden hier 63.5 Millionen t Obst produziert.17 42 % (26.6 Millionen t) davon sind Reben, Äpfel lagen bei rund 28 % (17.5 Millionen t). Die Intensivierung des Obstbaus hat in den letzten Jahrzehnten zu einer starken Abnahme in der Arten- und Sortenvielfalt geführt. Von den ca. 30 verschiedenen im Jahr 2006 erfassten Obstarten in Deutschland18 werden weniger als die Hälfte noch kommerziell angebaut. Den größten Anteil an der heimischen Obstproduktion hat der Apfel mit rund 1.1 Millionen t im Jahr 2015. Mehr als die Hälfte (rund 57 %) der Absatzmenge bei Äpfeln wird mit nur sieben Sorten ('Elstar', 'Braeburn', 'Jonagold', 'Gala', 'Jonagored', Red Prince® und 'Idared') realisiert.19 Viele andere Sorten haben durch diese Entwicklung an Bedeutung verloren. Erschwerend kommt hinzu, dass durch die ständige Verfügbarkeit von preiswertem Obst bei den Discountern der Obstbau in den letzten Jahren auch in Haus- und Kleingärten an Bedeutung verloren hat. Hier werden Obst- und Gemüseanbauflächen zunehmend durch Rasen oder Ziergehölze ersetzt. Der Anbau von nur wenigen Sorten auf großen Flächen hat zu einem schleichenden Verlust an Vielfalt geführt. Viele traditionelle Obstsorten sind deshalb heute schon in der „Roten Liste der gefährdeten einheimischen Nutzpflanzen in Deutschland“ enthalten, die von der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) geführt wird (Tab. 1). Die starke Einschränkung der biologischen Vielfalt führt vermehrt zu Problemen im Anbau. Schaderreger, die in der Lage sind, einzelne Sorten zu infizieren, können sich auf großen Flächen stärker vermehren und dauerhaft manifestieren. Das hat zur Folge, dass große Mengen an Pflanzenschutzmitteln notwendig sind, um die-

16 Ebd. 17 Vgl. FAO-Webseite, FAOSTAT, Food and agriculture data, online unter: http:// www.fao.org/faostat/en/#home (letzter Aufruf: 13.1.2017). 18 Vögel, Rudolf; Zander, Matthias; Feuerhahn, Britta; Ahrens, Johannes und Jan Gloger, Abschlussbericht: Erfassung und Dokumentation obstgenetischer Res­ sourcen in Deutschland in situ. Projekt Nr.: 05 BE 005 Los 2, Eberswalde 2007, online unter: https://service.ble.de/ptdb/index2.php?detail_id=88802&site_key =141&stichw=05BE005&zeilenzahl_zaehler=2#newContent 19 Behr, Bilanz Obst.

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296 Obstart Apfel Birne Süßkirsche Sauerkirsche Pflaume* Erdbeere Sanddorn Aprikose Pfirsich, Nektarine Johannisbeere Jochelbeere Stachelbeere Himbeere/Brombeere Holunder Gesamt

Henryk Flachowsky und Monika Höfer Anzahl Sorten in der Roten Liste 543 94 94 20 16 49 5 2 8 3 4 7 3 1 849

Tab. 1: Anzahl von Sorten verschiedener Obstarten, die derzeit in der „Roten Liste der gefährdeten einheimischen Nutzpflanzen in Deutschland“ geführt werden (Stand 31.1.2017, https://pgrdeu.genres.de/rlist). alle Formen von Pflaumen, Zwetschen, Renekloden, Mirabellen und Haferpflaumen

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se Schaderreger erfolgreich zu bekämpfen. Gleichzeitig steigt das Risiko für das Auftreten von Epidemien. Ein gutes Beispiel dafür ist die Feuerbrandkrankheit. Diese durch das Bakterium Erwinia amylovora hervorgerufene Krankheit hat in den letzten beiden Jahrzehnten des Öfteren zu z. T. verheerenden Epidemien in Europa geführt. So war im Jahr 2004 die Region Vorarlberg in Österreich betroffen. 2007 führte die Krankheit in Österreich, der Schweiz und in der Bodenseeregion zu katastrophalen Zuständen. Im Jahr 2012 war das Land Brandenburg betroffen, und 2013 mussten im Süden Sachsen-Anhalts in Folge eines Befalls rund 600 ha Anbau-, Randund Saumflächen gerodet werden. Neben diesen phytosanitären Problemen führt der Verlust an Diversität aber auch zu dem Risiko, dass Anbau und Züchtung künftig nicht mehr oder nur sehr bedingt auf neue Probleme reagieren können. Die Tatsache, dass seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jh.s die Ernährung in den meisten Teilen Europas gesichert ist und Obst im Überfluss existiert, hat nicht nur Einfluss auf den Obstbau und seine Bedeutung, sondern auch auf die gesamte Forschungslandschaft

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in diesem Bereich. Das Übermaß an Lebensmitteln in der EU verändert nicht nur die Ziele der Obstzüchtung weg von rein kalorischen oder quantitativen Zielen (Ernährungssicherung) hin zu qualitativen und nachhaltig orientierten Zielen (z. B. Züchtung von Sorten für einen Anbau mit reduziertem Einsatz an Pflanzenschutzmitteln, Sorten mit geringerem allergenen Potenzial, Erhöhung gesundheitsfördernder Inhaltsstoffe, Verbesserung des Aromas). Es führt auch dazu, dass die Einsicht unserer Gesellschaft in die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Züchtung von neuen Sorten, die besser an die sich ändernde Umwelt angepasst und für die Sicherung der Ernährung künftiger Generationen geeignet sind, zunehmend geringer wird. Das hat zur Folge, dass die Zahl der Forschungseinrichtungen auf diesem Gebiet (national und international) stark rückläufig ist. Um dem Verlust an biologischer Vielfalt entgegenzuwirken, wurden in den letzten drei Jahrzehnten in vielen Ländern Europas vielfältige Erhaltungsmaßnahmen initiiert. In Deutschland haben sich auch im nichtstaatlichen Bereich verschiedene Vereine (z. B. Pomologen-Verein e. V.), Verbände (etwa NABU, BUND), Kommunen und Landkreise vermehrt der Erhaltung alter Obstsorten zugewandt. Damit existiert heute ein weit gefächertes Spektrum an unterschiedlichsten Aktivitäten. Problematisch ist jedoch, dass durch die Dezentralisierung der Erhaltungsmaßnahmen der Gesamtüberblick über die noch vorhandene Vielfalt verloren gegangen ist. Während einzelne Sorten in zahlreichen Sammlungen erhalten werden, sind andere Sorten nur noch bei einzelnen Sammlern zu finden oder gelten heute bereits als verschollen. Das Netzwerk der DGO wurde gegründet, um dem Risiko des schleichenden Verlustes an genetischen Ressourcen bei Obst entgegenzuwirken. Seine Ziele liegen neben der zentralen Koordinierung verschiedener Erhaltungsinitiativen v. a. in einer möglichst lückenlosen Erfassung, Sicherung, Evaluierung und Dokumentation der noch vorhandenen Biodiversität anhand ihrer Passportdaten, sowie in der Bereitstellung von allgemein verfügbaren Informationen und gesundem Pflanzenmaterial für verschiedene Formen der Nutzung. Damit leistet die DGO einen erheblichen Beitrag zum Erhalt unseres kulturellen Erbes und unserer Kulturlandschaft, zur Aufklärung der Bevölkerung durch die Bereitstellung von Informationen sowie zum Erhalt unserer Nahrungsgrundlagen für künftige Generationen.

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5. Geschichte, Sammlungen und Aufgaben des Instituts für Züchtungsforschung an Obst des JKI in Dresden-Pillnitz Das Institut für Züchtungsforschung an Obst des JKI hat seit dem 1. Januar 2003 die Aufgabe zur Weiterführung der Sammlungen obstgenetischer Ressourcen von der Arbeitsgruppe „Genbank Obst Dresden-Pillnitz“ des Leibniz-Institutes für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) Gatersleben übernommen. Bei den Sammlungen handelt es sich sowohl um größere Sortensammlungen verschiedener Obstarten als auch um solche nah verwandter Wildarten unserer Kulturobstarten. Die Ursprünge dieser Pillnitzer Sammlungen liegen in Naumburg/Saale sowie in Müncheberg/ Mark. In Müncheberg wurde in den 1920er Jahren unter Leitung von Erwin Baur (1875–1933) mit einer systematischen Obstzüchtung auf wissenschaftlicher Grundlage begonnen.20 Dafür wurden von den zu bearbeitenden Obstarten große Sortimente angelegt, die in den folgenden Jahren immer wieder durch wertvolle Formen aus dem Ausland und durch Material von Sammelreisen ergänzt wurden.21 In Naumburg wurde 1921 die Außenstelle der Biologischen Reichsanstalt für Land- und Forstwirtschaft gegründet. Hier kam es in der Folge zum Aufbau eines Arboretums zur Unterstützung der dort vorhandenen Züchtungsaktivitäten auf dem Gebiet der Artbastardierung bei der Gattung Malus (Apfel). Zum dritten entstand das Pillnitzer Institut ebenfalls im Rahmen der Bestrebungen, Landwirtschaft und Pflanzenzüchtung auf moderne wissenschaftliche Grundlagen zu stellen. In Pillnitz entstand 1922 die „Höhere Staatslehranstalt für Gartenbau in Pillnitz an der Elbe“, die bereits eine Abteilung Pflanzenzüchtung besaß.22 Ihr erster Direktor war Otto Schindler (1876–1936), von dem u. a. die noch heute bekannte Erdbeersorte 'Mieze Schindler' stammt. Ferner arbeitete er zur sogenannten Unterlagenzüchtung.23 Nach dem Zweiten Weltkrieg 20 Höfer, Monika und Magda-Viola Hanke, „10 Jahre Obstgenbank Dresden-Pill­ nitz in der Verantwortlichkeit der Bundesforschung“, in: Journal für Kultur­ pflanzen, 66(4)/2014, S. 117-129. 21 Kuckuck, Hermann und Martin Schmidt, „Zwanzig Jahre Pflanzenzüchtung in Müncheberg“, in: Der Züchter, 19/1948, S. 130-135. 22 Vgl. Grünes Forum Pillnitz (Hg.), 90 Jahre Lehre und Forschung für den Garten­ bau in Dresden-Pillnitz (Julius-Kühn-Archiv, Bd. 435), Quedlinburg 2012. 23 Bei Unterlagensorten handelt es sich um solche Sorten, die als Wurzelstock für andere Sorten dienen. Die fruchttragende Sorte (z. B. 'Pinova'), die oft auch Edel­ sorte genannt wird, wird durch Pfropfung auf die Unterlage veredelt.

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wurden die Pillnitzer Züchtungsarbeiten in der „Versuchs- und Forschungsanstalt für Gartenbau und Höhere Gartenbauschule in Pillnitz an der Elbe“ (Umbenennung der Einrichtung noch 1941) fortgesetzt. Ab 1952 unterstand der Forschungsbereich der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften der DDR (neuer Name: Institut für Gartenbau Dresden-Pillnitz), 1963 wurde das Naumburger Institut für Obstzüchtung (die Zweigstelle der ehemaligen Biologischen Reichsanstalt) eingegliedert.24 Trotz mehrerer Umstrukturierungen und Umbenennungen der Einrichtung wird seit fast einem Jahrhundert in Pillnitz kontinuierlich Obst gezüchtet. Besondere Bedeutung erlangte das Institut zur Zeit des Sozialismus. Hier fand im Jahr 1970 eine Konzentration aller Arbeiten auf dem Gebiet der Obstzüchtung statt. In dessen Folge wurden große Teile der Naumburger und der Müncheberger Sammlungen in das Institut für Obstforschung in Dresden-Pillnitz integriert. Die Malus-Wildartensammlung des JKI enthält noch heute mit 215 Malus-Akzessionen knapp 50 % der ehemaligen Naumburger Sammlung. Infolge der Wiedervereinigung Deutschlands wurde auch das Institut für Obstforschung (vormals Obstbau) in Dresden aufgelöst.25 In diesem Zusammenhang wurde die Pillnitzer Sammlung in die Verantwortung der Arbeitsgruppe „Genbank Obst Dresden-Pillnitz“ gegeben, welche nun als Außenstelle der Genbank für landwirtschaftliche und gärtnerische Kulturpflanzen des IPK Gatersleben (s. Graner, in diesem Buch) ihre Arbeit aufnahm. Auf Empfehlung des Wissenschaftsrates und auf gemeinsamen Beschluss der Bundesministerien für Bildung und Forschung (BMBF) sowie Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) erfolgte zum 1. Januar 2003 eine Rücküberführung der Obstgenbank vom IPK an das Institut für Obstzüchtung der Bundesanstalt für Züchtungsforschung (BAZ) in Dresden-Pillnitz. Hier gehört sie seit der Neustrukturierung der Bundesforschung im Jahr 2008 zum damals neu gegründeten Julius Kühn-Institut (JKI). Die Obstgenbank des JKI in Pillnitz gliedert sich derzeit in Sorten- und Wildartensammlungen bei verschiedenen Obstarten. Den Großteil der in den Sorten-

24 JKI – Institut für Züchtungsforschung an gartenbaulichen Kulturen und Obst (Hg.), Pillnitzer Obstsorten, Dresden 2009 (Broschüre), zur Geschichte ferner Gliemeroth, Kurt, Zur Geschichte des Pillnitzer Gartenbauinstituts – gegenwär­ tig Institut für Obstforschung der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften Dresden-Pillnitz, Pillnitz 1990. 25 Grünes Forum Pillnitz, 90 Jahre.

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sammlungen erhaltenen Sorten bringt das JKI in die DGO ein. Das Pillnitzer Institut fungiert somit nicht nur als Koordinator der DGO, sondern ist auch als Sammlungshaltender Partner in verschiedenen obstartenspezifischen Netzwerken der DGO aktiv. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die derzeitigen Feldbestände der Obstgenbank (Aktivsammlungen) des JKI in Dresden-Pillnitz. Neben den bereits genannten Sammlungen erhält das Pillnitzer Institut noch 33 Akzessionen verschiedener Wildobstarten. Darüber hinaus existieren von Sammlungsreisen in verschiedene Ursprungsgebiete (Genzentren)26 unserer Obstarten umfangreiche Pflanzungen mit Sämlingen. So sind etwa von einer Expedition nach China 608 verschiedene Malus-Akzessionen vorhanden. Von Expeditionen in den Kaukasus (2011 und 2012 nach Russland, 2014 nach Georgien und Aserbaidschan) stammen noch 1.320 Malus-Akzessionen.27 Die se und 275 weitere Sämlinge28 verschiedener Obstarten werden über Sortensammlungen Obstart Apfel Birne Erdbeere Süßkirsche Sauerkirsche Sanddorn Pflaume Rubus Eberesche Gesamt

Anzahl 715 123 193 161 67 25 41 26 21 1.372

Wildartensammlungen Gattung Anzahl Akzessionen Malus 518 Fragaria 266 Prunus 84 Pyrus 64 Sorbus 19

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Tab. 2: Genbankbestände bei verschiedenen Obstarten, die in Aktivsammlungen im Institut für Züchtungsforschung an Obst in Dresden-Pillnitz erhalten werden (Stand: 2016).

26 Der Begriff stammt vom russischen Botaniker Nikolaj I. Vavilov (1887–1943). 27 Vgl. auch Flachowsky, Henryk; Hanke, Magda-Viola und Monika Höfer, „Rus­ sisch-Deutsche Kaukasusexpedition 2011“, in: Obstbau, 12/2011, S. 652-656; Flachowsky, Henryk; Peil, Andreas; Höfer, Monika und Magda-Viola Hanke, „Russisch-deutsche Kaukasusexpedition 2012“, in: Obstbau, 1/2013, S. 52-56; Flachowsky, Henryk; Höfer, Monika und Magda-Viola Hanke, „Sammelexpedi­ tion in den südlichen Teil des Großen Kaukasus“, in: Obstbau, 3/2015, S. 180184. 28 Aus Samen gezogene Bäume, die meist auf eigener Wurzel stehen.

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mehrere Jahre hinweg anhand ihrer Merkmale (z. B. Resistenz, Toleranz) untersucht. Im Anschluss wird darüber entschieden, welche Sämlinge dauerhaft in den Genbankbestand des JKI übernommen werden. Für eine langfristige Absicherung des Genbankbestandes werden am Pillnitzer Institut auch Versuche zum Aufbau von Passivsammlungen mittels In vitro-Kühllagerung29 oder Kryokonservierung30 durchgeführt (s. zur Technik Schumacher, in diesem Buch). Ziel ist dabei, ausgewählte Akzessionen dauerhaft und unabhängig von Umwelteinflüssen in Form einer Duplikatsammlung zu erhalten. Kryokonserviertes Gewebe von Obstpflanzen stellt somit eine sinnvolle Ergänzung zu den oben genannten Aktivsammlungen dar. Heute existieren bereits Duplikatsammlungen bei Erdbeere und Apfel, die in den nächsten Jahren noch ausgebaut werden sollen.

6. Das Netzwerk der Deutschen Genbank Obst (DGO) Die Deutsche Genbank Obst (DGO) wurde 2007 als dezentrales Netzwerk zur Bewahrung obstgenetischer Ressourcen gegründet. Sie hat das Ziel, verschiedene Initiativen zusammenzuführen und die Erhaltung zentral zu koordinieren. Das Gesamtnetzwerk der DGO setzt sich aus verschiedenen obstartenspezifischen Netzwerken (z. B. Apfelnetzwerk, Erdbeernetzwerk, Birnennetzwerk) zusammen, in denen Partner, die über Sammlungen bei der jeweiligen Obstart verfügen, auf freiwilliger Basis zusammenarbeiten. Bei den Partnern handelt es sich um Forschungseinrichtungen des Bundes bzw. der Länder, Universitäten, Landkreise und Kommunen, Vereine, Verbände und vereinzelt auch Privatpersonen. Sie haben sich bereit erklärt, ihre Ressourcen einzubringen und die Aktivitäten zur Sammlung, Evaluierung, Erhaltung und Dokumentation abzustimmen. Die Zusammenarbeit in den obstartenspezifischen Netzwerken wird durch eine Kooperationsvereinbarung geregelt und durch eine Netzwerkverantwortliche Stelle koordiniert.31 Darüber hinaus 29 Lagerung von mikrobenfreiem Pflanzenmaterial in steriler Umgebung bei eini­ gen Graden über 0 °C. 30 Lagerung von pflanzlichem Material in flüssigem Stickstoff (-196 °C). 31 Das Gesamtnetzwerk der DGO wird von einer Koordinierungsstelle aus ge­lei­­ tet, die am Institut für Züchtungsforschung an Obst des JKI in Dresden-Pillnitz

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gibt es bei einzelnen Obstarten unterstützende Partner. Das Netzwerk der DGO erhält eine fachlich-wissenschaftliche Unterstützung durch einen vom Präsidenten des JKI berufenen Fachbeirat. Der Anreiz für die einzelnen Partner liegt dabei in den Synergien, welche sich im Rahmen der Zusammenarbeit und durch die gegenseitige Unterstützung bei allen Fragen der Sortimentserhaltung und des Sammlungsmanagements ergeben. In internationalen Angelegenheiten wird die DGO durch das Informations- und Koordinationszentrum für Biologische Vielfalt (IBV) mit Sitz in Bonn vertreten. Das IBV ist bei der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) angesiedelt. Neben seinen Aufgaben im internationalen Rahmen zur Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen integriert das IBV alle Daten der DGO in nationale und internationale Datenbanksysteme.32 Die DGO betreibt heute gemeinsam mit ihren insgesamt 17 Partnern fünf verschiedene Erhaltungsnetzwerke mit 28 Sammlungen bei Apfel, Rubus, Erdbeere, Kirsche und Pflaume. Ein Birnennetzwerk ist derzeit im Aufbau. Momentan (Stichtag: 20. Dezember 2016) wurden für die Netzwerke der DGO 770 Apfelsorten, 284 Kirschsorten (235 Süßund 49 Sauerkirschsorten), 239 Erdbeersorten, 209 Pflaumensorten und 42 Rubus-Sorten (Himbeeren, Brombeeren, Tay- und Loganbeeren) als erhaltenswert ausgewählt. Von den in der DGO erhaltenen Erdbeersorten konnte bereits eine erste Duplikatsammlung mittels Kryokonservierung aufgebaut werden. Diese enthält zurzeit 78 % aller Erdbeersorten der DGO. Bei der Erhaltung konzentriert sich die DGO vor allem auf deutsche Sorten (inklusive Neuzüchtungen), auf Sorten mit soziokulturellem, lokalem oder historischem Bezug zu Deutschland und auf Sorten mit wichtigen obstbaulichen Merkmalen für Forschungsund Züchtungszwecke. Alle Sorten werden einer Echtheitsüberprüfung unterzogen. Diese erfolgt in zwei konsekutiven Stufen. In der ersten Stufe findet eine pomologische Evaluation statt. Bei dieser wird die Sortenechtheit anhand von Frucht- und Baummerkmalen überprüft. angesiedelt ist. Dieses unterteilt sich in mehrere obstartenspezifische Netzwerke (z. B. Apfelnetzwerk, Birnennetzwerk). Jedes wird von einer Netzwerkverant­ wortlichen Stelle aus koordiniert. Sie muss nicht zwangsläufig am JKI angesie­ delt sein. 32 Flachowsky, Henryk und Monika Höfer, „Die Deutsche Genbank Obst, ein dezentrales Netzwerk zur nachhaltigen Erhaltung genetischer Ressourcen bei Obst“, in: Journal für Kulturpflanzen, 62(1)/2010, S. 9-16.

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Im Anschluss wird eine vergleichende DNA-Fingerprintanalyse durchgeführt (s. Maul, in diesem Buch). Diese erfolgt nach standardisierten Protokollen des Europäischen Kooperationsprogrammes zur Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen (ECP/GR).33 Im Anschluss werden alle Informationen zu den Sorten der DGO über eine Datenbank öffentlich zugänglich gemacht (s. u.).34 Diese Datenbank ist im Internet frei verfügbar und enthält neben den Sorteninformationen auch solche zur Verfügbarkeit von Pflanzenmaterial, den gesetzlichen Regelungen zum Inverkehrbringen und den Formalitäten beim Austausch von Pflanzenmaterial. Damit leistet die DGO einen großen Beitrag zur Erreichung der Ziele des „Nationalen Fachprogrammes zur Erhaltung und nachhaltigen Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen landwirtschaftlicher und gartenbaulicher Kulturpflanzen“.35 Zusätzlich zur Ex situ-Erhaltung obstgenetischer Ressourcen in den Pillnitzer Genbankbeständen engagiert sich das Institut für Züchtungsforschung an Obst auch in Projekten zur In situ-Erhaltung heimischer Wildobstarten. Gemeinsam mit der Grünen Liga Osterzgebirge e.  V.36 und dem Staatsbetrieb Sachsenforst37 wurde etwa ein Modell- und Demonstrationsvorhaben zur Erhaltung des Holzapfels Malus sylvestris im Osterzgebirge durchgeführt. Im Rahmen dieses Projektes wurden 625 Wildapfelbäume kartiert und deren Artzugehörigkeit anhand von Blüten-, Blatt- und Fruchtmerkmalen sowie mithilfe genetischer Fingerprintanalysen bestimmt. Insgesamt 60 % der Bäume konnten als artecht eingestuft werden.38 Gleichzeitig erfolgten Nachpflanzungen mit artechten Bäumen. Auf diese Weise soll versucht 33 Vgl. ECPGR-Webseite: European Cooperative Programme for Plant Genetic Resources, http://www.ecpgr.cgiar.org/ (letzter Aufruf: 18.12.2017). 34 Webseite Deutsche Genbank Obst: http://www.deutsche-genbank-obst.de/ (letz­ter Aufruf: 10.1.2017). 35 BMEL (Hg.), Pflanzengenetische Ressourcen in Deutschland. Nationales Fach­ programm zur Erhaltung und nachhaltigen Nutzung pflanzengenetischer Res­ sourcen landwirtschaftlicher und gartenbaulicher Kulturpflanzen, Berlin 2015. 36 Webseite des Vereins, online unter: http://www.grueneliga-osterzgebirge.de/ (letzter Aufruf: 18.12.2017). 37 Webseite des Staatsbetriebs Sachsenforst, online unter: http://www.smul. sachsen.de/sbs/ (letzter Aufruf: 18.12.2017). 38 Reim, Stefanie; Proft, Anke; Heinz, Simone und Monika Höfer, „Diversity of the European indigenous wild apple Malus sylvestris (L.) Mill. in the East Ore Mountains (Osterzgebirge), Germany: I. Morphological characterization”, in: Genetic Resources and Crop Evolution, 59/2012, S. 1101; Reim, Stefanie; Hölt­ ken, Aki und Monika Höfer, „Diversity of the European indigenous wild apple (Malus sylvestris (L.) Mill.) in the East Ore Mountains (Osterzgebirge), Ger­

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werden, die Größe natürlicher Populationen wieder zu erweitern. Die Erhaltung am natürlichen Standort bietet den Vorteil, dass die Pflanzen in ihren Ökosystemen verbleiben und so dynamischen Evolutionsprozessen ausgesetzt sind. Damit sind eine natürliche Selektion sowie eine Anpassung an wechselnde Umwelteinflüsse gewährleistet. Des Weiteren wurden im Gebiet des Osterzgebirges zwei Wildapfel-Samenerhaltungsplantagen angelegt. Seine Erfahrungen auf dem Gebiet der Erhaltung obstgenetischer Ressourcen bringt das Dresdner Institut in den Beratungsund Koordinierungsausschuss für genetische Ressourcen landwirtschaftlicher und gartenbaulicher Kulturpflanzen (BEKO) ein.39 Der BEKO wurde im Jahr 2002 zur Unterstützung der Bundesregierung bei der Erreichung der im Nationalen Fachprogramm zur Erhaltung und Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen landwirtschaftlicher und gartenbaulicher Kulturpflanzen genannten Ziele etabliert.40

7. Die Datenbank der Deutschen Genbank Obst Alle Informationen zur Deutschen Genbank Obst sind über die DGO-Datenbank öffentlich zugänglich. Sie hat ihren Ursprung im Bundes-Obstarten-Sortenverzeichnis, das in den 1990er Jahren von der damaligen Arbeitsgruppe „Genbank Obst Dresden-Pillnitz“ des IPK Gatersleben geführt wurde.41 Zu dieser Zeit basierte die Datenbank noch auf Microsoft Excel-Listen, die in regelmäßigem Abstand mit dem Nationalen Inventar Pflanzengenetischer Ressourcen in Deutschland (PGRDEU) abgeglichen wurden.42 Mit dem 1. Januar 2003 gingen die Genbankbestände der Obstgenbank vom IPK an das heutige Institut für Züchtungsforschung

many: II. Genetic characterization“, in: Genetic Resources and Crop Evolution, 60/2013, S. 879-892. 39 Vgl. Webseite der BLE, online unter: https://beko-pgr.genres.de/ (letzter Aufruf: 22.12.2017). 40 BMEL, Pflanzengenetische Ressourcen. 41 BMEL, Deutsche Obstsortenvielfalt. 42 PGRDEU ist eine vom Informations- und Koordinationszentrum für Biologi­ sche Vielfalt (IBV) der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) geführte Datenbank. Sie dient als offizielle Schnittstelle im Rahmen nationaler und internationaler Verpflichtungen wie dem Abkommen über die Biologische Vielfalt (CBD) sowie für Datenplattformen.

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an Obst des JKI über. Damit übernahm das Pillnitzer Züchtungsinstitut auch die Aufgabe der Pflege des Bundes-Obstarten-Sortenverzeichnisses. 2006 wurde von der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Landesumweltamt in Brandenburg ein Projekt zur „Erfassung und Dokumentation obstgenetischer Ressourcen in Deutschland ex situ und in situ“ durchgeführt.43 Im Rahmen dieses Erfassungsprojektes sind insgesamt 6.451 Obstsorten von 50 verschiedenen Arten kartiert worden. Die Ergebnisse wurden in einer Microsoft Access-Datenbank zusammengeführt. Die Microsoft Excel-Listen des Bundes-Obstarten-Sortenverzeichnisses und die Microsoft Access-Datenbank aus dem Projekt bildeten die Basis für die im Jahr 2009 von der BLE in Betrieb genommene Datenbank der DGO. 2013 wurde eine neue DGO-Datenbank vom JKI in Betrieb genommen. In diesem Zusammenhang übernahm das JKI ebenfalls die Aufgabe der Datenbankbetreuung von der BLE. Seit 2016 existiert eine neue Version der DGO-Datenbank.44 Diese basiert auf MySQL und repräsentiert ein nutzerfreundliches System zur dezentralen Verwaltung obstgenetischer Ressourcen unter Einbindung vieler Akteure. In dieser Datenbank können Nutzer (DGO-Partner wie auch Privatpersonen) ihre Sammlungen verwalten und bei Bedarf der Öffentlichkeit zugänglich machen. Des Weiteren gibt es die Möglichkeit zum schnellen und einfachen Abgleich mit anderen Datenbanken, wie der PGRDEU. Inzwischen erfreut sich die DGO-Datenbank eines wachsenden Interesses in der Öffentlichkeit. Im Jahr 2015 wurde sie von 3.503 Personen 4.767 Mal besucht. Dabei wurden 309.632 Zugriffe auf einzelne Datensätze registriert und Daten in einer Größenordnung von 11.23 Gigabyte (GB) abgerufen. Obwohl im Jahr 2016 die Anzahl an Besuchern mit 3.845 nicht wesentlich höher ausfiel, besuchten diese insgesamt 8.705 Mal die Datenbank. Dabei wurden mehr als 878.000 Zugriffe registriert und eine Datenmenge von 33.07 GB abgerufen (Stichtag 20. Dezember 2016). Momentan enthält die Datenbank noch vorwiegend Informationen zu den Sammlungsbeständen bei den Partnern der DGO sowie zu den Passportdaten der einzelnen Sorten. Darüber hinaus sollen künftig aber auch Bilder alter Obstsorten und nach Möglichkeit detaillierte Sortenbeschreibungen hinterlegt

43 Vögel et al., Abschlussbericht. 44 Webseite der DGO, online unter: http://www.deutsche-genbank-obst.de (letzter Aufruf: 22.12.2017).

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werden. Am Aufbau der dafür notwendigen Datengrundlage wird derzeit gearbeitet.

8. Ausblick: Welchen Wert haben Obstgenbanken? Gerade in einer Zeit, in der Wissenschaft im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Notwendigkeit hinterfragt und an ihrer ökonomischen Bedeutung gemessen wird, stehen staatliche Genbanken häufig im Zentrum der Diskussionen. Obwohl in ihnen die Nahrungsgrundlage für künftige Generationen erhalten und langfristig gesichert wird, erwecken sie immer wieder den Eindruck von Luxusobjekten mit rein musealem Charakter. Doch Genbanken sind mehr. Zum einen fungieren sie wie ein Archiv und archivieren pflanzliche Vielfalt, die derzeit nicht im Fokus wirtschaftlichen Interesses steht, um diese bei Bedarf wieder einer Nutzung zuzuführen. Zum anderen erfüllen sie mit ihren Aufgaben bei der Erhaltung, Kategorisierung und Ausstellung (z. B. Apfeltage, Führungen, Fortbildungen) von pflanzengenetischer Vielfalt Aspekte, die eher einem Museum nahe kommen. Durch die Bereitstellung von Wissen über verschiedenste Medien (z. B. Flyer, Publikationen, elektronische Datenbanken) erfüllen sie z. T. auch Aufgaben einer Bibliothek. Ohne dieses Wissen über die Gesamtheit der Aufgaben unserer Genbanken wird sehr leicht übersehen, welchen immensen Wert solche Sammlungen für jetzige und zukünftige Generationen haben – auch wenn dieser bislang nicht monetär bezifferbar ist. Genbanken leisten einen Beitrag zur Erhaltung von Biodiversität und helfen, negative Effekte, welche u. a. auch eine Folge der Intensivierung der Produktion sind, zumindest in Teilen, auszugleichen. Durch stetiges Evaluieren, Beschreiben und Dokumentieren von PGR und deren Reaktionen auf sich ändernde Umweltbedingungen schaffen Genbanken Wissen, das für jedwede Form des Anbaus sowie für die Züchtung von neuen und besser angepassten Sorten von großem Wert ist. Durch dieses Wissen entsteht nicht nur Interesse bei unterschiedlichsten Nutzergruppen, sondern auch die Möglichkeit, individuelle Genotypen mit ganz speziellen Eigenschaften zu identifizieren und diese ganz gezielt wieder einer Nutzung zuzuführen. Durch das Zusammenführen von Informationen über genetische Ressourcen und deren aktuelle Verbreitung können darüber hinaus Risiken für einen möglichen Verlust an Biodiversität

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schneller erkannt und Handlungsbedarfe abgeleitet werden. Die in den Genbankbeständen erhaltenen Sorten helfen bei der Bereitstellung von gesundem Pflanzenmaterial für mögliche Nutzer (Züchter, Anbauer, Vereine, Verbände und Privatpersonen). Durch die Bereitstellung solcher Ressourcen leisten Obst-Genbanken einen Beitrag zur Erhaltung des Obstbaus sowie zum Naturschutz und zur Landschaftspflege.

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III. In situ- oder Ex situ-Erhaltung? Lebendsammlungen des (fast) Wilden

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In situ: Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen am Ort ihres Werdens

Abstract: Global climate warming and further environmental changes caused by human activities are diminishing genetic diversity of wild plants at a rate that is no longer tolerable. Loss of genetic diversity within a species not only impairs its ability to adapt to higher temperatures and changing rainfall patterns. This process will also restrict the availability of genetic resources required for breeding crop varieties that are better adapted to altered production conditions, which likewise are caused by the same environmental changes. The loss of diversity in wild plant species that genetically relate to cultivated plants (crop wild relatives; CWR) will clearly constrain breeding progress and consequently threaten food security. Plant genetic resources have been collected over the past decades and are often being conserved far off their natural habitats (ex situ) in genebanks. This paper explains that ex situ conservation of genetic diversity of plant species can salvage threatened genetic resources. It cannot, however, replace conservation of wild species’ populations in their natural habitats (in situ). The modus operandi of in situ management of wild plant species is highly technological as is crop production. Therefore, both activities might be considered as horticultural tools for a globally envisioned “nature-culture” in which agricultural production and plant species conservation are no longer opponents. Overall aim for the next years is to reach sustainable economies that consider agricultural production and species conservation as interdependent key elements. Zusammenfassung: Die globale Klimaerwärmung und weitere vom Menschen verursachte Umweltveränderungen vermindern die genetische Vielfalt von Wildpflanzen in nicht länger tolerablem Umfang. Der innerartliche Verlust genetischer Diversität schwächt nicht nur deren Anpassungsfähigkeit an steigende Temperaturen und veränderte Niederschlagsmuster. Er schränkt auch ihre Fähigkeit ein, notwendige pflanzengenetische Ressourcen (PGR) zur Züchtung von Nutzpflanzen zur Verfügung zu stellen, die besser an die zu verändernden Produktionsbedingungen angepasst sind; ein Ziel, das ebenfalls den veränderten Umweltbedingungen geschuldet ist. Der Verlust der Vielfalt wilder Verwandter der Kulturpflanzen (WVK; engl. CWR) behindert zweifellos den Züchtungsprozess selbst und gefährdet die Ernährungssicherheit. Pflanzengenetische Ressourcen wurden in den zurückliegenden Jahrzehnten gesammelt und häufig fern ihrer natürlichen Habitate (ex situ) in Genbanken gehortet. Dieser Beitrag erläutert, dass die Ex situ-Erhaltung der genetischen Vielfalt von Pflanzenspezies bedrohte genetische Ressourcen schützen kann. Dies kann jedoch die Bewahrung wilder Pflanzenpopulationen in deren natürlichen Habitaten (in situ) nicht ersetzen. Der modus operandi des In situ-Managements von Wildpflanzen erweist sich dabei als gleichermaßen hoch technisiert wie der der agrarischen Pflan-

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zenproduktion, d. h. der Landwirtschaft. Daher müssen beide Aktivitäten gleichsam als gärtnerische Instrumente für eine global visionierte „Natur-Kultur“ betrachtet werden, in der Landwirtschaft und Naturschutz nicht länger Gegensätze darstellen. Globales Ziel für die nächsten Jahre muss es sein, nachhaltige Ökonomien zu etablieren, die sowohl die landwirtschaftliche Produktion wie auch die Erhaltung der Arten als voneinander abhängige Elemente anerkennen.

1. Hintergrund: Rapide Umweltveränderungen bedrohen die Biodiversität Der folgende Beitrag stellt ausgewählte Strategien zur In situ-Erhaltung – von lat. in situ: am (natürlichen) Ort – pflanzlicher Vielfalt in Zeiten rapider Umweltveränderungen vor. Der natürliche Ort des Werdens einer Pflanzenpopulation ist, wie in den Abschnitten 3 bis 5 zu zeigen sein wird, ein für Schutzstrategien gleichermaßen schwieriges wie notwendiges Konzept. Denn in Zeiten von Klimawandel und weiteren Phänomenen des global change müssen auch die Naturschutzkonzepte dynamisch angelegt sein und Anpassung erlauben. Bislang ist allerdings eine technologische Pfadabhängigkeit zu beobachten (s. Abschn. 6), die sich auf Ex situ-Maßnahmen wie z. B. das Sammeln von pflanzlichen Reproduktionseinheiten in Genbanken konzentriert (s. Graner, in diesem Buch). Spätestens seit der Verabschiedung der Convention on Biolo­ gical Diversity (CBD) von 1992 ist unbestritten, dass die globale Biodiversität bedroht ist (s. Abschn. 2). Dies gilt ungeachtet dessen, wie man den Begriff „Biodiversität“ verwendet,1 d. h. ob man ihn auf die Vielfalt der Gene, der Arten oder der Ökosysteme bezieht. Eine der wesentlichen Ursachen des Artenverlustes ist die bedrohliche globale Erderwärmung, deren Folgen für die biologische Diversität kaum abschätzbar sind.2 Auf klimatische Veränderungen reagieren Arten, indem sie neue Verbreitungsareale durch Migration erschließen und sich im Rahmen ihres naturgegebenen Potenzials an veränderte Umwelten anpassen (s. Abschn. 7). Reicht das genetische Potenzial nicht aus, so stirbt die Art. Dies ist ein natürlicher Vorgang, der bei einer Auslöschungsrate von global 10 Arten pro 1 Vgl. Baur, Bruno, Biodiversität, Bern 2010. 2 Weitere Ursachen sind u. a. Flächenverluste (u. a. durch Flächenversiegelung), Habitatfragmentierung und nicht-nachhaltige Bewirtschaftungsformen von Bö­ den und Gewässern.

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Jahr keinen Anlass zur Sorge gibt. Mit einer Rate von mehr als 100 Arten pro Jahr wird heute allerdings ein Schwellenwert überschritten, der Veränderungen der biologischen Vielfalt mit katastrophalen Folgen für den Menschen nach sich ziehen wird.3 Gemäß den Beschlüssen des Pariser Klimagipfels von 2016 soll die Erdtemperatur ein Niveau von 2 °C über dem vorindustriellen Niveau nicht übersteigen.4 Laut dem Intergovernmental Panel on Climate Change kann dieses ehrgeizige Ziel erreicht werden, falls es gelingt, die CO2-Konzentration in der Atmosphäre bis zum Jahr 2100 auf 400 ppm zu begrenzen.5 Nach dem RCP4.5-Szenario6 würde die CO2-Konzentration in der Atmosphäre auf bis zu 650 ppm ansteigen. Dieses Szenario entspricht dem SRES-B1-Modell.7 Hiernach setzen sich weltweit umweltfreundliche und ressourcenschonende Technologien durch, das Bevölkerungswachstum wird begrenzt und das Konzept der starken Nachhaltigkeit entfaltet sich global. Selbst wenn diese Idee einer ökologisch, sozial und wirtschaftlich nachhaltigen Weltgemeinschaft in den kommenden Jahrzehnten schrittweise Realität würde, käme es dennoch zu einer Veränderung der Florenzusammensetzung mit noch nicht absehbaren Folgen für die Ernährungssicherung.8 Für weite Teile der Erdbevölkerung, die Medizinalpflanzen nutzen, würden sich auch gravierende Auswirkungen hinsichtlich der Versorgung mit traditionellen Arzneimitteln ergeben.9 Pompe et al. (2011) untersuchten die Folgen des B1Szenarios für die Flora Deutschlands.10 Selbst unter Annahme dieses moderaten Szenarios käme es zu einer erheblichen Veränderung der Artenzusammensetzung durch den Verlust passender Areale für hei3 Vgl. Rockström, Johan; Steffen, Will; Noone, Kevin et al., „A safe operating space for humanity“, in: Nature, 461(7264)/2009, S. 472-475. 4 Vgl. UN, Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderun­ gen vom 4. November 2016, Bonn 2016. 5 IPCC, „Summary for Policymakers“, in: Stocker, Thomas F.; Qin, Dahe; Plattner, Gian-Kasper et al. (Hg.), Climate Change 2013: The Physical Science Basis. Con­ tribution of Working Group I to the Fifth Assessment Report of the Intergov­ ernmental Panel on Climate Change, Cambridge/UK, New York 2014, S. 1-30. 6 RCPs = Representative Concentration Pathways. 7 SRES = Special Report on Emissions Scenarios. 8 Pompe, Sven; Berger, Silje; Bergmann, Jessica et al., Modellierung der Auswir­ kungen des Klimawandels auf die Flora und Vegetation in Deutschland (BfN-­ Skripten Nr. 304), Bonn-Bad Godesberg 2011. 9 Cavaliere, Courtney, „The Effects of Climate Change on Medicinal and Aromatic Plants“, in: HerbalGram (The Journal of the American Botanical Council), 81/ 2009, S. 44-57. 10 Pompe et al., Modellierung.

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mische Arten und die theoretisch mögliche Ansiedelung von klimaanalogen Arten aus den südlichen und südöstlichen Ländern Euro­ pas. Hierbei handelt es sich um Arten, die heute an eine Umwelt angepasst sind, die über kurz oder lang in Deutschland im Zuge des Klimawandels entstehen könnte. Nun wird sich die Umwelt in einer Geschwindigkeit verändern, die sich in Dekaden bemisst und nichts mehr mit der zeitlichen Skalenebene der Evolution gemein hat. Die starke Dynamik dieses Umwälzungsprozesses wird auch negative Auswirkungen auf die innerartliche Vielfalt jener Wildpflanzenarten haben, die für die Sicherung der Pflanzenproduktion in der Landwirtschaft, einschließlich Garten-, Obst- und Weinbau von Bedeutung sind. Erste Hinweise darauf finden sich in der Studie von Pompe et al., nach der auch in Deutschland heimische sowie mit Kulturpflanzen verwandte Arten zu den Verlierern des Klimawandels gehören werden.11 Mit Arealverlusten ist u. a. bei Arten der Gattungen Festuca (Schwingel), Apium und Helosciadium (Sellerie), Mentha (Minze), Malus (Apfel) und Vitis (Weinrebe) zu rechnen (vgl. zu den beiden letzteren Flachowsky und Höfer sowie Maul, in diesem Buch). Für eine gesetzlich festgelegte Auswahl von Arten der Roten Listen wird bereits aktiver Artenschutz betrieben. Aktive Maßnahmen betreffen indes nur dann mit unseren Kulturpflanzen verwandte Arten, falls diese, wie im Fall des Kriechenden Selleries (Helosciadium repens), im Anhang II und IV der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie genannt werden. Diese Lücken im Artenschutz soll die Strategie zur Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen (PGR) von Wildpflanzenarten in ihren natürlichen Lebensräumen schließen.12 Das Konzept des genetischen Erhaltungsgebietes wird in diesem Zusammenhang derzeit als eine Möglichkeit zur praktischen Umsetzung der Strategie erprobt. Es sieht eine aktive Bewirtschaftung von Pflanzenvorkommen an ihrem Wuchsort vor, die auch Populationen verstärkende Maßnahmen umfassen kann. Die Anzucht und Auspflanzung von Individuen ist bereits Praxis des Wildpflanzenartenschutzes13 und durchaus vergleichbar mit Maßnahmen zur Wieder11 Ebd. 12 Maxted, Nigel; Avagyan, Alvina; Frese, Lothar et al., ECPGR Concept for in situ conservation of crop wild relatives in Europe. Wild Species Conservation in Genetic Reserves Working Group. European Cooperative Programme for Plant Genetic Resources, Rome 2015. 13 Bruns, Julia und Nikolai Friesen, Erhaltungskultur und Wiederausbringung von Helosciadium repens (Jacq.) W. D. J. Koch, syn. Apium repens (Jacq.) Lag. Poster, Botanischer Garten der Universität Osnabrück 2014.

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ansiedlung von Wildtieren wie Uhu, Luchs und Wolf, wenngleich weniger spektakulär. Die Kultivierung von Wildpflanzenarten könnte sich also viel stärker als heute zu einem notwendigen Instrument des Pflanzenartenschutzes entwickeln, sollte die globale Temperatur wie prognostiziert zunehmen. Kultivierung als Migrationshilfe für Pflanzenarten, die nicht schnell genug wandern können oder ihre passenden Siedlungsgebiete verlieren: dies ist eine nicht ganz von der Hand zu weisende Vorstellung und eine andere Interpretation dessen, was Foley et al. (2011) in ihrem Beitrag „Solutions for a cultivated planet“ beschrieben haben.14 Danach nutzt die Agrarwirtschaft 38 % der Erdoberfläche für die Pflanzen- und Tierproduktion und zwar nicht immer zum Vorteil der biologischen Vielfalt in den noch weitgehend naturbelassenen Bereichen unseres „kultivierten“ Planeten. Als Mitverursacher trägt die Agrarwirtschaft zum Verlust auch jener pflanzengenetischen Ressourcen bei, die für die Anpassung der Agrarproduktion an den Wandel mehr denn je benötigt werden. Sie beschädigt gleichsam ihre natürlichen Existenzgrundlagen. Paradoxerweise betrachten einige Vertreter der landwirtschaftlichen Praxis den Natur- und Artenschutz eher als hinderlich und nicht als eine Notwendigkeit zur Bewahrung der eigenen, künftigen Handlungsfähigkeit. Diese Haltung wird in Deutschland auch dadurch gefestigt, dass die biologische Vielfalt auf zwei (politische und behördliche) Zuständigkeitsbereiche, „Agrobiodiversität“ und „Biodiversität“, aufgeteilt wird, was die Umsetzung von Maßnahmen zum Schutz biologischer Vielfalt behindert. Im Fall von Wild- und Kulturpflanzen ist diese Aufteilung auch sachlich nicht begründbar, weil die Grenze zwischen Wild- und Kulturpflanze fließend ist. Für eine nachhaltige landwirtschaftliche Produktion reicht es nicht aus, die Diversität von Kultur- und Nutzpflanzen auf Ackerflächen und im Grünland zu bewahren. Vielmehr gilt es, die gesamte Vielfalt von Kultur- und Nutzpflanzenarten und mit ihnen verwandter Wildarten zu schützen und ihre Entwicklung zu fördern. Deshalb kann die Verantwortung der Agrarwirtschaft für die Erhaltung biologischer Vielfalt nicht am Ackerrand enden. Das Konzept der „starken Nachhaltigkeit“, welches davon ausgeht, dass man eine Form von Natur nicht ohne weiteres durch eine

14 Foley, Jonathan A.; Ramankutty, Navin; Brauman, Kate A. et al., „Solutions for a cultivated planet“, in: Nature, 478(7369)/2011, S. 337-342.

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andere substituieren kann,15 ist im Kern der Versuch einer Neuordnung des Verhältnisses von industriell geprägten Gesellschaften und Natur. Dadurch sollen Reproduktion und Entwicklungspotenziale von Natur und Gesellschaft gleichermaßen gesichert werden.16 Wie wichtig ein geordnetes Verhältnis von Mensch und Natur für die Integrität aller Ökosysteme einschließlich der Meere und des Schutzes der biologischen Vielfalt ist, was manche Kulturen als „Mutter Erde“ würdigen, betont auch das Pariser Klimaschutzabkommen.17 Der Schutz der biologischen Vielfalt umfasst auch den nachhaltigen Umgang des Menschen mit PGR. Im Rahmen dieses Beitrags soll untersucht werden, ob die Aufforderung der Biodiversitäts- und Agrobiodiversitätspolitik, die In situ-Erhaltungsstrategie umzusetzen, als ein weiteres Anzeichen eines sich wandelnden Verhältnisses von Gesellschaft und Natur zu werten ist. Sind wir auf dem Weg zu einer Gesellschaft, die Kultur- und Wildpflanzenarten gleichermaßen ‚kultivieren‘ wird?

2. Natur setzt der Ex situ-Erhaltung von Wildpflanzenarten Grenzen und erzwingt Paradigmenwechsel Mit der feierlichen Eröffnung des Svalbard Global Seed Vault (SGSV) im norwegischen Spitzbergen im Jahr 2008 standen Genbanken weltweit im Licht der Öffentlichkeit.18 Pflanzengenetische Ressourcen sind unverzichtbar und ihre Sicherung Voraussetzung für die Ernährung und Wohlfahrt aller Menschen – so die glanzvolle Botschaft, die jedermann verstand. Jedermann meint auch zu verstehen, dass mit der Inbetriebnahme des Saatgutlagers die Kulturpflanzenvielfalt ultimativ im ‚ewigen Eis‘ auf Dauer vor den Gefahren einer unsicheren Welt geschützt und zum Wohle künftiger Menschengenerationen bewahrt wird. Dabei wird leicht übersehen, dass selbst 15 Vgl. zu den Nachhaltigkeitskonzeptionen Ott, Konrad und Ralf Döring, Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit, Marburg 32011. 16 Wehling, Peter, „Sustainable Development – eine Provokation für die Soziolo­ gie?“, in: Brand, Karl-Werner (Hg.), Nachhaltige Entwicklung – eine soziologi­ sche Herausforderung, Opladen 1997, S. 35-50. 17 UN, Rahmenübereinkommen. 18 Vgl. Fowler, Cary, Seeds on Ice: Svalbard and the Global Seed Vault, Westport/ CT 2016; zum SGSV sonst https://www.croptrust.org/our-work/svalbard-globalseed-vault/ (letzter Aufruf: 21.12.2017).

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die Gründer und Betreiber des SGSV von einem „Sicherheitslager“ für Duplikate pflanzengenetischer Ressourcen sprechen. Der SGSV ist vermeintlich sicherer als die Genbanken für pflanzengenetische Ressourcen in vielen Ländern der Welt. Genutzt wird indes neben der natürlichen Kälte im scheinbar ewigen Eis auch eine konventionelle Energieversorgung für den Betrieb von Kühl- und Lüftungsaggregaten.19 Mit dem Bau und Betrieb des SGSV leisten der Global Crop Diversity Trust und die norwegische Regierung zweifellos einen wichtigen Beitrag zur Sicherung der weltweiten PGR. Neben Licht ist indes immer Schatten. Der SGSV kann die Rolle als weltweite Rückversicherung nur erfüllen, wenn seine Zulieferer, d. h. natio­ nale Genbanken, durch eine angemessene Finanzierung befähigt werden, ihre Sammlungen pflanzengenetischer Ressourcen instand zu halten. Dies ist oft nicht der Fall.20 Zudem eignen sich manche Pflanzenarten aufgrund ihrer biologischen Besonderheiten nicht für eine Langzeitlagerung in Form von Samen, und deshalb auch nicht für einen Aufenthalt im Eis von Spitzbergen. Man unterscheidet in diesem Kontext die Pflanzenarten erstens in solche mit austrocknungsresistenten (‚orthodoxen‘) bzw. langfristig lagerfähigen Samen, zweitens in solche mit widerständigen bzw. rekalzitranten Samen (recalcitrant seeds) sowie drittens in Arten mit überwiegend vegetativer Reproduktionsweise.21 Vor allem für die Erhaltung vegetativ vermehrter Arten (Kulturkartoffel) entwickeln Genbanken Kryokonservierungstechniken oder sie betreiben Feldgenbanken. Im letzteren Fall arbeiten sie mit Beständen ganzer Pflanzen (z. B. 19 Statsbygg, Svalbard Globale frøhvelv, Longyearbyen, Svalbard, Nybygg Ferdig­ melding nr. 671/2008 Prosjektnr./Project No. 11098, online unter: https://www. regjeringen.no/en/topics/food-fisheries-and-agriculture/jordbruk/svalbardglobal-seed-vault/id462220/ (letzter Aufruf: 21.12.2017). 20 Frese, Lothar; Palmé, Anna; Neuhaus, Gisela et al., „On the conservation and sustainable use of plant genetic resources in Europe: a stakeholder analysis“, in: Maxted, Nigel; Dulloo, Mohammed E. und Brian V. Ford-Lloyd (Hg.), Enhancing Crop Genepool Use: Capturing Wild Relative and Landrace Diversity for Crop Improvement, Wallingford 2016, S. 388-400; Karafyllis, Nicole C. und Uwe Lammers, „Big Data in kleinen Dosen. Die westdeutsche Genbank für Kulturpflanzen ‚Braunschweig Genetic Resources Collection‘ (1970–2006) und ihre Biofakte“, in: Technikgeschichte, 84(2)/2017, S. 163-200. 21 Zippel, Elke und Albert-Dieter Stevens, „Arbeitstechniken der Sammlung und Lagerung von Wildpflanzensamen in Saatgutgenbanken“, in: Poschlod, Peter; Borgmann, Peter; Listl, Daniela et al. (Hg.), Handbuch Genbank WEL, Regens­ burg 2014, S. 71-98.

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Obstbäumen und -sträuchern sowie Rebstöcken; s. Flachowsky und Höfer sowie Maul, in diesem Buch).22 Man unterscheidet auch die Wildpflanzenarten in solche mit austrocknungsresistenten („orthodoxen“) bzw. langfristig lagerfähigen Samen, zweitens solche mit rekalzitranten Samen sowie drittens in Arten mit überwiegend vegetativer Reproduktionsweise.23 Wildpflanzenarten sind in europäischen Genbanken mit nur 9 % aller Akzessionen stark unterrepräsentiert und dies nicht ohne Grund.24 Ihre Erhaltung erfordert vor allem kostspielige Handarbeit, so z. B. bei der Aussaatvorbereitung. Manche Arten besitzen Fruchtbehälter mit extrem harten, wasser- und luftdichten Wänden. Im natürlichen Lebensraum werden diese unterschiedlich schnell durch Mikroorganismen abgebaut, so dass die einzelnen Samen im Frühjahr zu ganz verschiedenen Zeiten keimen. Die Betreuer von Sammlungen pflanzengenetischer Ressourcen sind dagegen an einer möglichst zeitgleichen Keimung aller ausgesäten Samen interessiert. Um dieses Ziel erreichen zu können, muss im Fall von hartschaligen Arten der Deckel von Fruchtbehältern (Perikarpdeckel) mit einem Messer vorsichtig abgebrochen werden, ohne den darin befindlichen Samen zu verletzen. Es ist leicht vorstellbar, wie mühselig diese Arbeit bei einer Fruchtbehältergröße von 2-5 mm Durchmesser ist. Auch aus anderen Gründen verlangt die Vermehrung von Wildpflanzenarten Zeit und besondere Geduld. Fehlen diese, dann beginnt genetische Erosion bereits bei der Erstvermehrung des neu gesammelten Materials, weil, um ein weiteres Beispiel zu nennen, nur Samen von Pflanzen einer Akzession mit einem Reifzeitpunkt nahe des Mittelwertes geerntet werden. Besonders früh blühende Individuen haben zu diesem Zeitpunkt bereits ihre Samen abgeworfen. Die Samen sehr spät blühender Individuen desselben Bestandes sind dagegen unreif und werden verworfen. Geerntet und als „Samenbank-Mus-

22 Vgl. Mix, Gunda, „Langzeiterhaltung von Kartoffelgenmaterial in-vitro“, in: Landbauforschung Völkenrode, 33(3)/1983, S. 179-182. 23 Zippel, Elke und Albert-Dieter Stevens, „Arbeitstechniken der Sammlung und Lagerung von Wildpflanzensamen in Saatgutgenbanken“, in: Poschlod, Peter; Borgmann, Peter; Listl, Daniela et al. (Hg.), Handbuch Genbank WEL, Regens­ burg 2014, S. 71-98. 24 Dias, Sonia; Dulloo, Mohammed E. und Elisabeth Arnaud, „The role of EURISCO in promoting use of agricultural biodiversity“, in: Maxted, Nigel; Dulloo, Mohammed E.; Ford-Lloyd, Brian V.; Frese, Lothar et al. (Hg.), Agrobiodiversity Conservation: Securing the Diversity of Crop Wild Relatives and Landraces, Wallingford 2012, S. 270-277.

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ter“ im Technotop Genbank eingelagert wird also nur der Durchschnitt einer Population. Dadurch verliert die Akzession bereits im Verlauf der ersten Vermehrung an Diversität. Im natürlichen Lebensraum dagegen leisten auch früh oder spät blühende Pflanzen der Population einer Art einen Beitrag zur sogenannten Samenbank. Ihre Erbeigenschaften bleiben somit der Reproduktionsgemeinschaft erhalten. Diese natürliche Samenbank entsteht aus dem „Samenregen“ der abreifenden Saatgutträger. Durch diverse Verbreitungsmechanismen (Wind, Tiere, Wasser) kommen Samen benachbarter Pflanzenvorkommen derselben Art hinzu. Sie bilden zunächst eine Oberflächensamenbank. Von diesem Vorrat gelangen Samen durch Verlagerung in den Unterboden und bilden dort im Verlauf der Jahre eine Bodensamenbank, die Zehntausende von Samen pro Quadratmeter umfassen kann.25 Wildpflanzenarten entziehen sich gewissermaßen den technischen und an den Erfordernissen von Kulturpflanzenarten ausgerichteten Routinen des Genbankmanagements. Sie sind an die heterogenen Wachstumsbedingungen ihres natürlichen Verbreitungsareals angepasst. Sie bilden Reproduktionsgemeinschaften, die beispielsweise die Folgen ungünstiger Frühjahrswitterung ausgleichen, indem Samen nacheinander über einen langen Zeitraum keimen. So ist sichergestellt, dass zumindest ein Teil der Keimlinge Spätfröste oder Perioden der Frühjahrstrockenheit überlebt und sich reproduzieren kann. Angesichts der Vielzahl von Wildpflanzenarten und ihrer besonderen Ansprüche an Wachstums- und Reproduktionsbedingungen ist eine umfassende Konservierung der innerartlichen Vielfalt dieser Kategorie genetischer Ressourcen weder technisch noch finanziell machbar.26 Aber nicht allein deshalb begannen Wissenschaftler im Rahmen des International Biological Programme (IBP)27 in den 1970er 25 Begon, Michael; Mortimer, Martin und David J. Thompson, Population Ecology. A Unified Study of Animals and Plants, Oxford 31996. 26 BMVEL, Nationales Fachprogramm zur Erhaltung und nachhaltigen Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen landwirtschaftlicher und gartenbaulicher Kul­ tur­pflanzen, Bonn 2002. 27 Das IBP wurde im Jahr 1964 mit einer Laufzeit von 10 Jahren vom International Council of Scientific Unions als Pendant zum Programm des International Geo­ physical Year gegründet. Ziel war es, die Bedeutung der Umwelt für die Produk­ tivität und Wohlfahrt zu erforschen und Grundlagen für ein wissensbasiertes Management natürlicher Ressourcen in Zeiten des unverminderten Bevölke­ rungswachstums und zunehmender Eingriffe des Menschen in den Naturhaus­ halt zu schaffen, vgl. Frankel, Otto H. und John G. Hawkes, „Genetic resources –

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Jahren über Alternativen zur Erhaltung von Wildpflanzenarten in Genbanken nachzudenken.28 Es war vielmehr die Erkenntnis, dass eine einmalige Stichprobe von Samen oder Pflanzenteilen, die ein Sammler vom Naturstandort mit nach Hause brachte, nur einen zeitlich-räumlichen Ausschnitt der Evolution einer Pflanzenart darstellte („genetic snapshot“). Diese genetische Momentaufnahme wird in Genbanken eingefroren. Die natürliche Evolution innerhalb der Stichprobe wird quasi unterbunden. Alternativ findet sie beim Erhaltungsanbau fern des Wuchsortes am Standort der Genbank unter anderen Umweltbedingungen statt, an die die Art nicht gut angepasst ist. Insbesondere bei fremdbefruchtenden Arten kann sich die genetische Zusammensetzung einer Population schon nach einer einzigen Vermehrung in einer solchen Umwelt verändern. Die Ursache hierfür ist eine verminderte Reproduktionsfähigkeit schlecht angepasster Genotypen. In der Folge verliert die Stichprobe bereits bei der ersten Reproduktion genetische Variabilität durch gerichtete Selektion (genetic shift).29 Ist die Frequenz einer Genvariante (z. B. Allel A) schon im Ursprungsmuster gering, kann vor allem bei einer kleinen Anzahl von Pflanzen im Vermehrungsbestand das Allel A verloren gehen bzw. das homologe Allel a fixiert werden. Dieses Phänomen bezeichnet man mit dem Begriff Zufallsdrift (genetic drift).30 Die Verfallsrate (rate of decay) beschreibt ferner den Verlust bzw. die Fixierung in einer Population vorkommender Allele pro Generation. Die Verfallsrate wird mit abnehmender Pflanzenzahl im Reproduktionsbestand größer.31 Diese Phänomene sind die Hauptursachen genetischer Erosion in Genbanken. Sie kann bei Arten mit orthodoxen Samen durch das Einfrieren von Saatgut nur verlangsamt werden. Es gibt also vielerlei Gründe für die Erhaltung von Wildpflanzenarten an ihren natürlichen Wuchsorten „in situ“. Der Begriff In situ-Erhaltung wurde vermutlich erstmals von Sir Otto H. Frankel

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the past ten years and the next“, in: dies. (Hg.), Crop genetic resources for today and tomorrow. International Biological Programme 2, Cambridge/UK 1975, S. 1-11. Jain, Sudhanshu K., „Genetic reserves“, in: Frankel und Hawkes, Crop genetic resources, S. 379-396. Hill, Jason; Becker, Heiko C. und Peter M. A. Tigerstedt, Plant breeding series 4. Quantitative and ecological aspects of plant breeding, London 1998. Wricke, Günter, Populationsgenetik, Berlin, New York 1972. Wright, Sewall, „Evolution in Mendelian populations“, in: Genetics, 16(2)/1931, S. 97-159.

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(1900–1998) in der Literatur verwendet.32 Unter Verweis auf Frankel skizzierte Kumar Sudhanshu Jain (1975) im 30. Kapitel des Buches Crop genetic resources for today and tomorrow33 die wesentlichen Ziele und Elemente eines Programms zur Erhaltung genetischer Ressourcen in situ. Er führte aus, dass, im Gegensatz zu den Zielen von Genbanken, die Bewahrung von Rahmenbedingungen für die natürliche Evolution wildlebender Vorkommen das wichtigste Ziel der In situ-Erhaltung ist. Hoch aktuell ist auch folgende Passage: „Continued evolution in environments now changing at an accelerated rate […] will require genetic variation for adaptive changes […], and certain basic ecological conditions for continued reproduction and persistence. […] Genetic conservation goes further in recognizing the need for a wide genetic basis, and should, therefore, be seriously considered as part of, as well as in parallel with, nature conservation. […] We must urgently get involved both as crop scientists and as naturalists […] in making every possible scientific contribution to the nature conservation programs. The crop genetic resources are ignored by most conservationists.“34 Jain verwendete vermutlich erstmals den Begriff „genetic re­ serve“, der in den 1990er Jahren aufgegriffen wird35 und seitdem an Bedeutung gewinnt (s. u.). Im Gegensatz zu diesen Forderungen entstanden zwischen 1970 und 1990 unter dem Eindruck eines rasch fortschreitenden Verlustes an Kulturpflanzenvielfalt zahlreiche Genbanken. Die Gründung eines weltumspannenden Netzwerkes einvernehmlich kooperierender Genbanken mit nationaler oder regionaler Verantwortung wurde als wichtiger Beitrag zur Bekämpfung genetischer Erosion diskutiert und teils in Form der NGB36 und der Genbanken der IARC37 auch umgesetzt.38 Der Verlust von Kulturformenvielfalt beschleunigte sich durch die rasante Techni32 Frankel, Otto H., „Genetic conservation of plants useful to man“, in: Biological Conservation, 2(3)/1970, S. 162-169. 33 Jain, Genetic reserves. 34 Ebd, S. 379. 35 Maxted, Nigel; Hawkes, John G.; Ford-Lloyd, Brian V. und John T. Williams, „A practical model for in situ genetic conservation“, in: Maxted, Nigel; Ford-Lloyd, Brian V. und John G. Hawkes (Hg.), Plant Genetic Conservation: The In Situ Approach, London 1997, S. 339-364. 36 NGB = Nordic Gene Bank, Alnarp, Schweden. 37 IARC = International Agricultural Research Center. 38 Bommer, Dieter, „Entwicklung und Bedeutung von Genbanken in der Welt und in der Bundesrepublik Deutschland“, in: Saatgutwirtschaft-SAFA, 24(15/16) /1972, S. 391-394.

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sierung der Pflanzenproduktion und die zunehmende Modernisierung der Pflanzenzüchtungsverfahren. Moderne, leistungsfähigere und an die Vermarkungsketten besser angepasste Sorten verdrängten traditionell verwendete Formen aus den Anbausystemen. Das Sammeln und Sicherstellen – nicht nur gefährdeter Ressourcen – glich in den ersten Jahren nach Gründung des International Board for Plant Genetic Resources (IBPGR, Rom; 1974) einem Autowettrennen zur Rettung der Vielfalt. Der Beitrag „Scientists worldwide rally to rescue the native beets of the Mediterranean“, laut dem die Forscher in den 1980er Jahren alle 30-50 km einen ‚Boxenstopp‘ einlegten, um an den Mittelmeerküsten nach Wildrübenbeständen Ausschau zu halten, legt dies zumindest nahe.39 „Exotisches Material“, „Landsorten“, „alte Sorten“ und „veraltete Sorten“ sind Begriffe für Biofakte, die im Zuge des technischen Fortschrittes nicht mehr in das neue Technotop, das moderne Produktionssystem, passten, und vom alten in ein anderes Technotop, die Genbank, überführt wurden. Erst im Zuge der Verhandlungen über die CBD zeichnete sich ein Paradigmenwechsel ab.40 Der Vertragstext beschreibt zuerst in Art. 8 die In situ-Erhaltung gefolgt von Ausführungen zur Ex situErhaltung in Art. 9. Nach Art. 9 wird jede Vertragspartei Maßnahmen zur Ex situ-Erhaltung in erster Linie zur Ergänzung der In situ-Maßnahmen ergreifen.41 Somit setzt die CBD eindeutige Priorität zugunsten der In situ-Erhaltung. Trotzdem wurde die Entwicklung von Maßnahmen zur In situ-Erhaltung von der Politik in den letzten 25 Jahren nur zögerlich eingefordert. Von Genbanken, die ursprünglich zur Sicherung und Erhaltung der PGR gegründet wurden, hätte man in dieser Hinsicht stärkeres proaktives Handeln erwartet. In der Gründungsphase setzten Genbanken unter dem Eindruck eines rasanten Verlustes an genetischer Diversität bei Kulturpflanzen verständlicherweise ihren Schwerpunkt auf das Sammeln und die Ex situ-Erhaltung der Kulturpflanzenvielfalt. Frankel und Hawkes beschrieben ihre Prognose für den Erhaltungszustand von verwandten Wildpflanzenarten mit folgen39 Doney, Devon L.; Ford-Lloyd, Brian V.; Frese, Lothar und Ayfer Tan, „Scientists worldwide rally to rescue the native beets of the Mediterranean“, in: Diversity, 11(1+2)/1995, S. 124-125. 40 Gesetz zu dem Übereinkommen vom 5. Juni 1992 über die biologische Vielfalt, in: BGBl Teil II (32)/1993, S. 1741-1770. 41 Vgl. auch die Antwort der Bundesregierung auf eine diesbezügliche Kleine Anfrage der FDP-Fraktion vom 24.11.2007: http://dipbt.bundestag.de/dip21/ btd/16/070/1607090.pdf (letzter Aufruf: 21.12.2017).

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den Worten: „By 1985 […]“ the „majority of the wild relatives of cultivated plants will have survived, though with reduced habitats […]“.42 In ihrem Beitrag widmeten sie nur knappe vier Zeilen der Erhaltung potenziell nutzbarer Wildpflanzenarten. Offenbar galten in diesem Zeitraum Maßnahmen zur In situ-Erhaltung von Wildpflanzenarten als weniger dringlich, zumindest für die Akteure des Genbanking. Erst im Strategiepapier zur Beziehung zwischen ECPGR (European Cooperative Programme for Plant Genetic Resour­ ces) und Europäischem Parlament/Europäischer Kommission von Engels et al. wird die Entwicklung eines europäischen Konzeptes zur In situ-Erhaltung von Wildpflanzenarten angeregt.43 Dass Genbanken (und auch Botanische Gärten) bei der selbständigen Entwicklung von In situ-Erhaltungsmaßnahmen eher zögern (s. Karafyllis und Lammers, in diesem Buch), hat vermutlich weitere Ursachen. Erstens arbeiten viele nationale Genbanken noch Rückstände bei der Vermehrung und in der Datendokumentation auf. Ohne weitere finanzielle Ressourcen sind sie angesichts dieser Bedrängnis nicht geneigt, zusätzliche Aufgaben in Angriff nehmen. Dies geht aus einer EU-finanzierten Studie hervor.44 Zweitens ist die Sammlung und Erhaltung von PGR ein standardisierbarer und auch vielfach technisierbarer Prozess, der im Vergleich zur In situErhaltung von geringerer Komplexität und daher leichter zu handhaben ist.

3. In situ-Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen Was genau bedeutet nun die Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen am Ort ihres Werdens? Beginnen wir mit den völkerrechtlich gültigen Definitionen der Ex situ- und In situ-Erhaltung: Nach Art. 2 der CBD bedeutet „‚Ex-situ-Erhaltung‘ die Erhaltung von Bestandteilen der biologischen Vielfalt außerhalb ihrer natürlichen Lebensräume“ und „‚In-situ-Erhaltung‘ die Erhaltung von Ökosys42 Frankel und Hawkes, Genetic resources, S. 1-11. 43 Engels, Johannes M. M.; Freudenthaler, Paul; Landbo, Lars und Fernando Latorre, Strategy Paper on the ECPGR Relationship with the EU/European Commission, 2010, online unter: http://www.ecpgr.cgiar.org/fileadmin/templates/ecpgr. org/upload/SC_2012_VIENNA/background_documnts/Strategy_Paper_ relationship_ECPGR-EU_corr.pdf (letzter Aufruf: 21.12.2017). 44 Frese et al., Conservation, S. 388-400.

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temen und natürlichen Lebensräumen sowie die Bewahrung und Wiederherstellung lebensfähiger Populationen von Arten in ihrer natürlichen Umgebung und – im Fall domestizierter oder gezüchteter Arten – in der Umgebung, in der sie ihre besonderen Eigenschaften entwickelt haben“. Die In situ-Erhaltung domestizierter oder gezüchteter Arten wird als On farm-Erhaltung bezeichnet.45 Im Bereich des On farm-Managements überlagern sich genetische, (agrar)ökologische, historische, kulturelle, soziale, ökonomische, rechtliche und politische Fragestellungen. Sie bilden ein komplexes Geflecht von Wechselbeziehungen, das nur in einem eigenständigen Beitrag angemessen dargestellt werden könnte. Sowohl im Fall der Ex situ- als auch der In situ-Erhaltung sollen genetische Ressourcen bewahrt werden. Nach Art. 2 der CBD bedeutet „‚genetische Ressourcen‘ genetisches Material von tatsächlichem oder potentiellem Wert“, wobei nicht näher erläutert wird, worin der Wert genetischer Ressourcen besteht. Die anthropozentrische und technikorientierte Bewertung dieser Ressourcen ist dabei offensichtlich, wie sich an den Verhandlungen zum Access and Benefit Sharing und der daraus abgeleiteten EU-Gesetzgebung erkennen lässt.46 Für eine Pflanzenart ist das Vorhandensein genetischer Ressourcen keine Frage des ökonomischen Wertes, sondern eine Grundvoraussetzung ihrer Fortexistenz (ethisch könnte man von einem der Pflanze „inhärenten Wert“ sprechen). Damit eine Art, die sich aus einer Anzahl unterscheidbarer und unterschiedlicher Populationen zusammensetzt, fortbestehen kann, muss der Mensch mit ihren genetischen Ressourcen nachhaltig umgehen. Hier stimmen die Interessen von Natur und Mensch überein, denn der nachhaltige Umgang mit PGR ist Voraussetzung für das weitere Werden der Arten und die Verfügbarkeit der tatsächlich oder potenziell nützlichen 45 Domestikation ist der Beginn des Züchtungsprozesses, d. h. keine Wahl im Sinne von entweder/oder, sondern Teil der Züchtung. Der Unterschied zwischen Wildform und domestizierter Form beträgt oft nur wenige Gene. Zur Frage des Domestikationssyndroms s. Fægri, Knut, „The social functions of botanical gardens in the society of the future“, in: Botanisches Jahrbuch für Systematik, Pflanzengeschichte und Pflanzengeographie, 102/1981, S. 147-152 und Hammer, Karl, „Das Domestikationssyndrom“, in: Die Kulturpflanze, 32/1984, S. 11-34. 46 Verordnung (EU) Nr. 511/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014, über Maßnahmen für die Nutzer zur Einhaltung der Vorschriften des Protokolls von Nagoya über den Zugang zu genetischen Ressourcen und die ausgewogene und gerechte Aufteilung der sich aus ihrer Nutzung ergebenden Vorteile in der Union. Amtsblatt der EU vom 20.5.2014, L150/59.

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Art für das menschliche Machen. Damit Bestandteile der Natur einem wie auch immer gearteten Verwendungszweck dienen können, muss deren Nutzung nachhaltig sein. Nach Art. 2 der CBD bedeutet dies „die Nutzung von Bestandteilen der biologischen Vielfalt in einer Weise und in einem Ausmaß, die nicht zum langfristigen Rückgang der biologischen Vielfalt führen, wodurch ihr Potential erhalten bleibt, die Bedürfnisse und Wünsche heutiger und künftiger Generationen zu erfüllen“. Art. 2 verlangt also nicht die Erhaltung biologischer Vielfalt um ihrer selbst willen, sondern es ist eine Maßnahme zum Wohle der Menschheit.

4. Das Erhaltungsobjekt Pflanzenpopulation Der kleinste Bestandteil der biologischen Vielfalt, der sich nachhaltig nutzen lässt, ist die Pflanzenpopulation. Was genau zeichnet sie aus? Eine Art besteht aus einer Anzahl räumlich verteilter Gruppierungen von Einzelpflanzen. Der Austausch von Genen zwischen den Gruppierungen wird als Genfluss (gene flow) bezeichnet. Er wird in der Empfängergruppe wirksam, falls das neue Gen im Zuge der Reproduktion auf die Nachkommenschaft der Empfängerpopulation übertragen und nicht durch standortspezifischen Selektionsdruck verdrängt wird. Die räumliche Grenze einer Population lässt sich mithilfe von zwei Beobachtungen bestimmen: Erstens finden Paarungen zwischen Individuen innerhalb einer Gruppe deutlich häufiger statt als solche von Individuen innerhalb mit Individuen von außerhalb. Zweitens, Nachkommen aus der Paarung eines Elters innerhalb der Gruppe mit einem Elter von außerhalb erreichen das reproduktive Alter seltener als Nachkommen zwischen Eltern innerhalb der gleichen Gruppe. Treffen diese Beobachtungen zu, spricht man von reproduktiver Kohärenz bzw. einer Population als einer Reproduktionsgemeinschaft, die sich von der Menge aller anderen Gruppierungen innerhalb der Art unterscheidet.47 Die Population als Reproduktionsgemeinschaft ist der eigentliche Erhaltungsgegenstand. Eine weitere wesentliche Eigenschaft 47 Kleinschmit, Jörg R. G.; Kownatzki, Dirk und Hans-Rolf Gregorius, „Adaptation­ al characteristics of autochthonous populations – consequences for provenance delineation“, in: Forest Ecology and Management, 197(1-3)/2004, S. 213-224.

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einer Population ist ihre Fähigkeit zur selbstständigen (autark, d. h. vom Menschen unabhängig)48 genetischen Regeneration. Voraussetzungen hierfür sind die Funktionstüchtigkeit ihres genetischen Systems, die dafür notwendigen Operationsbedingungen (abiotische und biotische Umwelt)49 und die Verfügbarkeit genetischer Vielfalt für Veränderung der Mechanismen zur Bestandserhaltung unter veränderten Umweltbedingungen.50 Damit ist für den Bereich der In situ-Erhaltung das Objekt definiert und von der Akzession als Objekt der Ex situ-Erhaltung unterscheidbar. Im Gegensatz zur Akzession besteht das In situ-Objekt aus einer biologischen Komponente und den Umweltbedingungen, unter denen es seine spezifischen Eigenschaften erworben hat und fortentwickeln kann. Die Definition des Begriffs „Population“ ermöglicht es zu prüfen, ob der Umgang mit den genetischen Ressourcen einer Population nachhaltig ist. Zu diesem Zweck entwickelte der Forstwissenschaftler Jörg R. G. Kleinschmit drei Prinzipien.51 Dempfle et al. 48 Im Gegensatz dazu sind alle Kulturpflanzen nicht-autarke Lebensformen, da ihr Überleben unmittelbar vom menschlichen Machen abhängt. 49 Zur Illustration biotischer Operationsbedingungen sei auf die Auswirkungen des Klimawandels auf die Reproduktion von Wildpflanzenarten hingewiesen. Der Reproduktionserfolg von Pflanzenart und Bestäuberart hängt davon ab, ob der Bestäuber zum Zeitpunkt der Blüte aktiv ist. Der Klimawandel muss nicht zwangsläufig die Entwicklung von Pflanzen- und Bestäuberart gleichgerichtet verändern. Entsteht eine zeitliche Lücke zwischen der Blütezeit und dem Auftre­ ten der Bestäuberart, so wird der Reproduktionserfolg beider Arten vermindert. Nach Memmott et al. 2007 kann der Klimawandel zu einer veränderten Blütezeit und reduziertem Pollenangebot, d. h. Nahrungsangebot für Bestäuberarten füh­ ren. Dies kann die Bestäubungsleistung vermindern und in letzter Konsequenz durch negative Rückkopplung zur Auslöschung von Bestäuberarten und jener Pflanzenart führen, deren Reproduktionserfolg von der Existenz der Bestäube­ rart abhängt. Vgl. Memmott, Jane; Craze, Paul G.; Waser, Nickolas M. und Mary V. Price, „Global warming and the disruption of plant-pollinator interactions“, in: Ecology Letters, 10(8)/2007, S. 710-717. 50 Gregorius, Hans-Rolf, „Sustainable treatment of resources: The genetic basis“, in: Müller-Starck, Gerhard und Roland Schubert (Hg.), Genetic Response of Forest Systems to Changing Environmental Conditions (Forestry Sciences 70), Dordrecht 2001, S. 203-222. Die hier teils wörtlich wiedergegebene Darstellung von Gregorius wurde stark vereinfacht. Eine ausführliche Darstellung würde den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen. 51 Kleinschmit, Jörg R. G., Aspekte nachhaltiger Züchtung. Methodenkritik, -ent­ wicklung und -anwendung. Dissertationsschrift, Fakultät für Forstwissenschaf­ ten und Waldökologie, Georg-August-Universität Göttingen. E-Publikation der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen 2005, online unter: https://ediss.uni-goettingen.de/bitstream/handle/11858/00-1735-00000006-B19A-6/kleinschmit.pdf?sequence=1 (letzter Aufruf: 21.12.2017).

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verwendeten diese zur Überprüfung des Umgangs mit genetischen Ressourcen in Nutzungssystemen (Pflanzenbau, Tierproduktion, Forst- und Fischereiwesen).52 Danach darf die Nutzung einer Population die genetischen Ressourcen dieser Population nicht beeinträchtigen (erstes Prinzip). Die Population muss eine selbst regenerierende Reproduktionsgemeinschaft mit hohen Anpassungskapazitäten sein (zweites Prinzip). Von den Folgeprodukten der Population dürfen keine nachteiligen Wirkungen auf andere Ressourcen ausgehen (drittes Prinzip). Werden diese Prinzipien verletzt, liegen Formen nicht-nachhaltiger Nutzung vor. Diese strikte und daher operationalisierbare Darstellung nachhaltiger Nutzung steht im Kontrast zur Erörterung der gleichen Fragestellung durch das Ad hoc Technical Committee on Sustainable Use of Plant Genetic Resources for Food and Ag­ riculture.53 Diese Arbeitsgruppe definiert weder das Erhaltungsobjekt noch die Kriterien einer nachhaltigen Nutzung und zieht auch mögliche negative Rückkopplungen von Nutzungen auf andere Ressourcen nur ansatzweise in Betracht. Davon abgesehen werden Naturschutzorganisationen in der Liste der „stakeholder“ für nachhaltige Nutzung und die Möglichkeit der In situ-Erhaltung von Wildpflanzenarten nicht erwähnt. Zwar wird die Urbarmachung der Wuchsorte wildlebender Verwandter von Kulturarten und die dadurch verursachte Verdrängung von Wildarten angesprochen, die Folgen davon jedoch mit dem vagen Verweis auf eine angemessene Erhaltung dieser Wildarten relativiert. Die Verdrängung einer Wildart aus ihrem natürlichen Lebensraum, d. h. aus der Umwelt, in der sich die Population als selbst-regenerierende Reproduktionsgemeinschaft behaupten kann, entspricht einer Verletzung des dritten Prinzips und ist eine nicht-nachhaltige Nutzungsform. Die FAO verfolgt somit weiterhin das überkommene Konzept des Sammelns, Konservierens, Evaluierens und Erschließens von Genbankmaterial durch Züchtungsforschung und Züchtung. Damit verbundene Handlungsempfehlungen führen nicht zwangsläu52 Dempfle, Leo; Frese, Lothar; Gregorius, Hans-Rolf; Janßen, Alwin et al. (Hg.), Nachhaltige Züchtung: Betrachtungen zum Umgang mit genetischen Ressour­ cen in Nutzungssystemen. – Pflanzenbau – Tierproduktion – Forst- und Fische­ reiwesen. (Agrobiodiversität 38), Bonn 2016. 53 FAO, The Toolbox: Description of the Concept, Components, and How it might be developed. Item 6 of the Draft Provisional Agenda. First Meeting of the ad hoc Technical Committee on Sustainable Use of Plant Genetic Resources for Food and Agriculture, 8-9 November 2012, IT/ACSU-1/12/Inf. 4, Rome 2012.

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fig zum nachhaltigen Umgang mit Wildpflanzenarten. Um dieses Ziel zu erreichen, muss der mit Gründung der ersten Genbanken eingeschlagene Pfad nicht verlassen, sondern verbreitert werden. Verbreiterung bedeutet die Integration von In situ-Erhaltungsmaßnahmen sowohl in den Natur- und Artenschutz als auch in die landwirtschaftlichen Nutzungssysteme der Zukunft. Wie kann man die Reproduktion und Entwicklungspotenziale von Natur und Gesellschaft gleichermaßen sichern? Lässt sich der Konflikt zwischen natürlichem Werden und menschlichem Gestalten auflösen und die Bewahrung von Artengemeinschaften, Arten und Populationen mit der Produktion von Nahrungsmitteln und agrarischen Rohstoffen verbinden? Bietet das Konzept der In situErhaltung hierfür Lösungsansätze? Bevor diese Frage erörtert werden kann, müssen das Ziel der In situ-Erhaltung und die verfügbaren Techniken dargestellt werden.

5. Praktische Umsetzung der In situ-Erhaltungsstrategie Das Ziel von Maßnahmen zur In situ-Erhaltung von PGR besteht in der Bewahrung und Wiederherstellung lebensfähiger Populationen von Arten in ihrer natürlichen Umgebung. Aus Sicht der Landwirtschaft betrifft dies Wildpflanzenarten für Ernährung und Landwirtschaft (WEL),54 die in irgendeiner Weise für die landwirtschaftliche Produktion aktuell von direktem oder indirektem Nutzen sind bzw. Nutzungspotenzial haben können. Von direktem Nutzen ist die Kategorie der wildlebenden Verwandten von Kulturpflanzen (WVK; engl. crop wild relatives, CWR), die für die Erweiterung der genetischen Basis der Kulturpflanzen umfänglich verwendet wurden und werden.55 Darüber hinaus sind ökosystemare Leistungen (z. B. Nahrungspflanzen für Bestäuberinsekten) von Wildpflanzenarten von großer Bedeutung. Von 1.000 der annähernd 3.500 in Deutschland verbreiteten Arten sind aktuelle oder potenzielle Nutzungen bekannt. Zusammen mit circa 1.800 Arten, die den Nutzungsfor54 Dieses Akronym ist hier nicht in derselben Weise verwendet wie im Beitrag Ka­ rafyllis und Lammers (in diesem Buch), wo es für eine Genbank „Wildpflanzen für Ernährung und Landwirtschaft“ steht. 55 Z. B. Kole, Chittaranjan (Hg.), Wild Crop Relatives: Genomic and Breeding Re­ sources. Cereals, Berlin u. a. 2011.

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men „Zierpflanze“ oder „Züchtung“ zugerechnet werden, existieren dem Nationalen Fachprogramm des BMEL zufolge 2.800 Wildpflanzenarten für Ernährung und Landwirtschaft.56 Das BMEL ordnet 80 % aller heimischen Pflanzenarten der Kategorie WEL zu, was unmittelbar die Frage nach der Zuständigkeit für und die Finanzierung von Maßnahmen zu ihrer Erhaltung aufwirft, fällt doch die Erhaltung von Pflanzenartenvielfalt, und zwar nicht nur die verbliebenen 20 %, traditionell in den Zuständigkeitsbereich des BMUB. Angesichts der großen Anzahl von WEL stellt sich auch die Frage des technisch und finanziell Machbaren, mithin das Problem der Rangordnung von Arten entsprechend ihrer Erhaltungsnotwendigkeit bzw. der Rechtfertigung einer spezifischen Rangordnungsliste. Zur Vorbereitung von In situ-Maßnahmen wurden in Großbritannien,57 Spanien58 und in der Tschechischen Republik59 Pflanzenartenlisten erarbeitet, die zwischen 150 und 250 verschiedene Arten umfassen. Zweck dieser Ranglisten ist es, Handlungsfähigkeit herzustellen und überprüfbare Maßnahmen einleiten zu können.60 Die ökonomische Bedeutung einer Kultur- oder Nutzart für die Agrarwirtschaft ist dabei ein wesentliches Auswahlkriterium. Nach einer vorläufigen Analyse verwendet die europäische Landwirtschaft 22 Gruppen von Nahrungs- oder Futterpflanzen61 mit einem durchschnittlichen jährlichen Produktionswert von mehr als 500 56 BMEL (Hg.), Pflanzengenetische Ressourcen in Deutschland. Nationales Fach­ programm zur Erhaltung und nachhaltigen Nutzung pflanzengenetischer Res­ sourcen landwirtschaftlicher und gartenbaulicher Kulturpflanzen. Berlin 2015, 42, online unter: http://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Landwirtschaft/ Klima-und-Umwelt/BiologischeVielfalt/FachprogrammPflanzenRessourcen. pdf?__blob=publicationFile (letzter Aufruf: 21.12.2017). 57 Maxted, Nigel; Scholten, Maria; Codd, Rosalind und Brian Ford-Lloyd, „Crea­ tion and use of a national inventory of crop wild relatives“, in: Biological Con­ servation, 140(1-2)/2007, S. 142-159. 58 Rubio Teso, Luisa María; Torres, María Elena et al., „Prioritization of crop wild relatives in Spain“, in: Crop Wild Relative, 8/2012, S. 18-21. 59 Taylor, Nigel G.; Kell, Shelagh P.; Holubec, Voitech et al., „Systematic crop wild relative conservation planning for the Czech Republic“, in: Crop Wild Relative, 9/2013, S. 5-9. 60 Vgl. dazu auch das WEL-Netzwerk Osnabrück, online unter: http://www.gen­ bank-wel.uni-osnabrueck.de/ (letzter Aufruf: 21.12.2017). 61 Zu einer Gruppe wurden in einigen Fällen aus statistischen Gründen Kulturarten zusammengefasst, so beispielsweise in der Gruppe Blattgemüse die Kulturarten Kopfsalat und Chicorée. In anderen Fällen besteht die „Gruppe“ aus einer ein­ zigen Kulturart, so beispielsweise die Gruppe „Zuckerrübe“.

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Mio. US$ (2002–2011).62 In Europa kommen 568 damit verwandte Wildpflanzenarten vor. 150 davon sind mit den Kulturarten nahe verwandt und somit züchterisch leichter zu nutzen. Von den entfernt verwandten Arten sind bereits 42 gefährdet. Somit ergibt sich eine Summe von 192 Arten, für die in Europa nach dem Vorsorgeprinzip63 In situ-Erhaltungsmaßnahmen eingeleitet werden müssten. Dafür sprechen auch artenschutzfachliche (Stärkung des Artenschutzes) und züchterische Gründe (Sicherung der Grundlagen züchterischer Innovationen). Das Ziel von In situ-Erhaltungsmaßnahmen ist die Identifikation von Populationen im Verbreitungsareal, die in ihrer Summe das Spektrum genetischer Vielfalt der betreffenden Art repräsentieren. Zur Auswahl von Populationen entwickelten Maxted et al. zwei Vorgehensweisen.64 Beim floristischen (nationalen) Lösungsansatz wird zunächst der Anteil aller Populationen für jede Zielart bestimmt, die innerhalb von Naturschutzgebieten vorkommt. Der innerhalb von Schutzgebieten vorkommende Anteil gilt als passiv geschützt. Diese Annahme bezieht sich auf das sogenannte Verschlechterungsverbot. Nach dem Bundesnaturschutzgesetz sind Beeinträchtigungen von Lebensraumtypen und Arten in europäischen Schutzgebieten untersagt.65 Diese Regelung betrifft neben Arten des Anhangs II auch die natürlichen Lebensraumtypen laut Anhang IV der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH-Richtlinie, Richtlinie 92/43/EWG).66 Durch den Schutz dieser Lebensraumtypen werden 62 Kell, Shelagh P.; Iriondo, José M.; Magos Brehm, Joana et al., „Europe’s crop wild relatives diversity: from conservation planning to conservation action“. Presentation at the Conference „Enhanced Genepool Utilization“, University of Birmingham (UK), 16-20 June 2014, online unter: http://www.pgrsecure.bham. ac.uk/sites/default/files/documents/public/Conference_presentations/Kell_etal. pdf. (letzter Aufruf 21.12.2017). 63 In Deutschland schützt der Staat nach Art. 20a Grundgesetz auch in Verant­ wortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen. 64 Maxted, Nigel; Kell, Shelagh P. und Joana Magos Brehm, Options to promote food security: on-farm management and in situ conservation of plant genetic resources for food and agriculture. (Background Study Paper No. 51), Rome 2011. 65 Vgl. dazu den Text von § 33 Abs. 5 BNatSchG, online unter: https://dejure.org/ gesetze/BNatSchG/33.html (letzter Aufruf: 21.12.2017). 66 Vgl. dazu den Text der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie, online unter: http:// eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:31992L0043 (Letz­ ter Aufruf: 24.1.2017). Der Anhang II enthält nur Arten der Roten Liste, für die ein gemeinschaftliches Interesse festgestellt wurde. Der Anhang II ist nicht identisch mit den umfangreicheren Roten Listen. Laut Bundesartenschutzver­ ordnung dürfen nach § 44 (1) 4 BNatSchG besonders oder streng geschützte

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auch jene Arten innerhalb von Schutzgebieten geschützt, die im Anhang II nicht genannt werden. Zu den nicht gelisteten Arten gehören die meisten WEL. In einem zweiten Schritt werden Areale mit einer hohen Vorkommensdichte aller Zielarten berechnet. Entsprechende Untersuchungen in der Tschechischen Republik zeigten, dass auf 1.000 km2 Landesfläche 88,6 % der 220 Zielarten vorkommen.67 Die Flächen dieser sogenannten „hot spots“ können eine Schnittmenge mit Flächen bereits ausgewiesener Naturschutzgebiete bilden. In einem dritten Schritt werden Vorkommen bestimmt, die aus allen BodenKlimaräumen des Verbreitungsareals einer Zielart stammen. Das ist notwendig, um das Spektrum der genetischen Vielfalt der Zielart zu erfassen. Abschließend werden die geographische Lage und minimale Größe von Flächen innerhalb und außerhalb von Naturschutzgebieten ermittelt, die erforderlich sind, um einen möglichst hohen Prozentsatz der Zielarten-Vorkommen im Rahmen einer In situ-Managementstrategie zu sichern. Dieses Verfahren wird als Lücken- und Komplementäranalyse bezeichnet.68 Der floristische Lösungsweg ist umfassend, die Vorgehensweise durch die Auswahlkriterien nachvollziehbar und strategisch richtig. In gesellschaftlicher, politischer und rechtlicher Hinsicht ist er indes eine große Herausforderung, weil die Umsetzung nur durch Vergrößerung von Naturschutzgebieten, die Veränderung der Zweckbestimmung bestehender Schutzgebiete und durchgängige Biotopvernetzung möglich ist. Den zweiten Lösungsweg bezeichnen Maxted et al. als den monographischen oder Genpool-Ansatz.69 Je nach Ausprägung der Kreuzungsbarriere zwischen der Kulturart und den mit ihnen verwandten Wildarten werden diese in den primären (keine oder sehr schwache Barrieren), sekundären (ausgeprägte Barrieren) und tertiären (Überwindung von Barrieren sehr schwierig) Genpool ein-

Pflanzenarten nicht aus der Natur entnommen, beschädigt oder zerstört werden. Diese Regelung betrifft auch Standorte außerhalb von Schutzgebieten. 67 Taylor et al., Czech Republic. 68 Maxted, Nigel; Dulloo, Mohammed E.; Ford-Lloyd, Brian V. et al., „Gap analysis: a tool for complementary genetic conservation assessment“, in: Diversity and Distributions, 14(6)/2008, S. 1018-1030. 69 Maxted et. al., A practical model.

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geordnet.70 Die Populations-Auswahl für den Aufbau genetischer Erhaltungsgebiete erfolgt nach Kell et al. in vier Schritten: (1) Auflistung der Arten des gesamten Genpools einer Kulturart, (2) Bildung einer Prioritätenliste für die Arten des Genpools, (3) Analyse der räumlichen Verteilungsmuster genetischer Vielfalt für prioritäre Arten und (4) Auswahl von Vorkommen prioritärer Arten und Ausweisung der Erhaltungsgebiete an den Wuchsorten ausgewählter Vorkommen.71 Mit dem Terminus „genetisches Erhaltungsgebiet“ (genetic reser­ ve) ist ein ganzes Bündel von Ansprüchen, Festlegungen und Maßnahmen verbunden. Maxted et al. definierten damit eine Fläche, die für aktive und dauerhafte Erhaltungsmaßnahmen ausgewiesen wird und auf der Management und Monitoring der genetischen Vielfalt natürlich vorkommender Wildpflanzenpopulationen erfolgen.72 Das Ziel eines solchen Erhaltungsgebietes ist es, die räumlich verteilte, innerartliche genetische Vielfalt zu sichern. Für die Erhaltung einer repräsentativen Stichprobe innerartlicher Vielfalt ist deshalb ein Netzwerk verteilter Flächen notwendig, das mit den räumlichen Verteilungsmustern genetischer Vielfalt übereinstimmen muss. Die Entnahme eines Rückstellmusters für die Ex situ-Konservierung in der Genbank ist fester Bestandteil der Konzeption. Dadurch werden In situ- und Ex situ-Maßnahmen miteinander verbunden, d. h. komplementäre Erhaltungsmaßnahmen organisiert, wie es von den Vertragsparteien der CBD und des Internationalen Saatgutvertrags (ITPGRFA) empfohlen wurde.73 Den räumlichen Aufbau eines genetischen Erhaltungsgebietes beschrieben Hawkes et al.74 in Anlehnung an das Konzept für Bio-

70 Harlan, Jack R. und Jan M. de Wet, „Toward a rational classification of cultivated plants“, in: Taxon, 20(4)/1971, S. 509-517. 71 Kell et al., Crop Wild Relatives Diversity. 72 Maxted et. al, A practical model. 73 Vgl. FAO-Webseite, Unterseite „The International Treaty“, online unter: http:// www.fao.org/3/a-i0510e.pdf (letzter Aufruf: 21.12.2017). 74 Hawkes, John G.; Maxted, Nigel und David Zohary, „Reserve design“, in: Maxted, Nigel; Ford-Lloyd, Brian V. und John G. Hawkes (Hg.), Plant Genetic Conservation: The In Situ Approach, London 1997, S. 132-143.

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sphärenreservate von Michel Batisse (1923–2004).75 Es besteht aus jeweils einer Kern-, Puffer- und Übergangszone. In der Kernzone, in der die zu schützende Population wächst, sind ausschließlich Maßnahmen erlaubt, die ihrer Erhaltung und nachhaltigen Nutzung dienen. Dazu gehören Monitoring sowie behördlich geregelte Entnahmen von Proben für Forschungszwecke. Die Kernzonen werden in einer Pufferzone zusammengefasst. Dort sind Nutzungsaktivitäten zulässig, soweit sie dem Schutzziel nicht entgegenstehen. Auch weil künftige Umweltveränderungen die Wachstumsbedingungen innerhalb der Kernzonen verändern können, sollte eine Puffer- und Übergangszone vorgehalten werden, um die Migration der Art zu erleichtern. Diese Puffer- und Übergangszonen leisten aber keinen zusätzlichen Beitrag zur Erhaltung der genetischen Variation in den Kernzonen. Die Erhaltung genetischer Vielfalt einer Population oder, zutreffender formuliert, die Bewahrung von Rahmenbedingungen, die es einer Population ermöglichen, unter Verwendung der vorhandenen genetischen Variation zu regenerieren und reproduzieren, ist das Ziel eines solchen Erhaltungsgebietes. Auch wenn sich dies in einer naturbelassenen Umgebung befindet, ist es dennoch ein Technotop,76 d. h. eine technologische Konstruktion von Wirklichkeit. Die Festlegung eines genetischen Erhaltungsgebietes erfolgt nach langwierigen Planungen und geschieht im Anschluss an einen technischen Prozess, der mit der IT-gestützten Zusammenstellung der Fundorte einer Art beginnt. Es folgen Begutachtungen der Wuchsorte und Vorkommen sowie die Entnahme von Blattproben für genetische Analysen mit Hilfe biotechnologischer Verfahren und Geräte. Die statistische Verrechnung der gewonnenen Daten und ihre praktische Bewertung führt dann zur Festlegung von Größe und Form eines Erhaltungsgebietes mit Hilfe von Verfahren der Geoinformatik. Es endet, zumindest auf nationaler Ebene, vorläufig mit der ITgestützten Dokumentation zu einzelnen Erhaltungsgebieten. Iriondo et al. entwickelten Qualitätsstandards für diese Erhaltungsgebiete als Handreichung und Entscheidungshilfe für Manager von Schutzarealen, die den Aufbau genetischer Erhaltungsgebie75 Batisse, Michel, „Development of the biosphere reserve concept“, in: Nature and Resources, 22(3)/1986, S. 2-11; UNESCO, Biosphere Reserves: The Seville Strategy and the Statutory Framework of the World Network, Paris 1996. 76 Zum Begriff vgl.: Erlach, Klaus, Das Technotop. Die technologische Konstruktion der Wirklichkeit, Berlin, Münster 2000.

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te planen.77 Gleichzeitig sollen diese Standards helfen, den Zustand dieser Gruppe von Wildarten bis zum Jahr 2020 zu halten, wie von der CBD COP 1078 im strategischen Ziel C, Sollzustand 13, gefordert. Hierfür sind geeignete Maßnahmen zu ergreifen, die helfen, genetische Erosion bei Pflanzenarten zu minimieren und ihre genetischen Ressourcen zu sichern.79 Die Empfehlung solcher Standards entspricht der Entwicklung von Qualitätsmanagementsystemen im Bereich der Genbanken und ist eine logische Folge komplementärer Maßnahmen zur Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen. Im Vergleich zum floristischen Lösungsansatz führt der Genpool-Weg direkt zu einem Pflanzenvorkommen am Ort seines Werdens, das sich von seinem Pendant, der Akzession in der Genbank, vor allem in den Erhaltungsbedingungen unterscheidet. Das Pflanzenvorkommen und die Akzession sind beides Biofakte;80 das Vorkommen in einem Erhaltungsgebiet könnte man als Biofakt niedriger Technisierungsstufe beschreiben, soweit es die Instandhaltung der Bedingungen für die natürliche Regeneration und Reproduktion betrifft. Diese Instandhaltungsmaßnahmen können sehr konkreter Natur sein. Sie umfassen z. B. die Schaffung von Flachwasserzonen durch Schälen der Uferbereiche von Heidetümpeln oder die Regelung des Nährstoffzuflusses aus der Umgebung in Wuchsorte der dort vorkommenden Wildsellerieart Helosciadium inundatum.81

77 Iriondo, José M.; Maxted, Nigel; Kell, Shelagh P. et al., „Quality standards for genetic reserve conservation of crop wild relatives“, in: Maxted, Nigel; Dulloo, Mohammed E.; Ford-Lloyd, Brian V. et al. (Hg.), Agrobiodiversity Conservation: Securing the Diversity of Crop Wild Relatives and Landraces, Wallingford 2012, S. 72-77. 78 Vgl. CBD-Webseite, Unterseite „COP 10 Decisions“, online unter: https://www. cbd.int/decisions/cop/?m=cop-10 (letzter Aufruf: 21.12.2017). 79 CBD, Tenth meeting of the Conference of the Parties to the Convention on Biological Diversity (COP 10). Nagoya, Aichi Prefecture, Japan, 18-29 October 2010. UNEP/CBD/COP/10/27, 20 January 2011, online unter: https://www.cbd. int/doc/?meeting=cop-10 (letzter Aufruf: 24.1.2017). 80 Karafyllis, Nicole C., „Biofakte – Grundlagen, Probleme, Perspektiven“, in: Erwä­ gen Wissen Ethik, 17(4)/2006, S. 547-558. 81 Meyer-Spethmann, Ulrich, Effizienzkontrolle an Gewässern des Niedersächsi­ schen Kleingewässerprogramms. Vortrag am 6.3.2011. NLWKN Naturschutz Botanikertreffen im Landesmuseum Hannover, Nordhorn 2011.

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6. Technologische Pfadabhängigkeit verlangsamt Umsetzung der In situ-Erhaltungsstrategie Obwohl es sehr gute biologische und wirtschaftliche Gründe für die In situ-Erhaltung von Wildpflanzenarten gibt und die Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen fast zeitgleich mit dem Beginn des Aufbaus eines weltumspannenden Netzwerkes von Genbanken angeregt wurde, ist der Umsetzungsrückstand im Bereich der In situ-Erhaltung auffallend. Nur für eine knappe Handvoll von Area­ len in Europa existieren konkrete Pläne für den Aufbau und die organisatorische Absicherung genetischer Erhaltungsgebiete. Sie betreffen mit der Zuckerrübe verwandte Wildarten (Madeira, Ilhéu dos Desembacardouro),82 eine Gruppe von WVK-Arten (Großbritannien, Lizard Point)83 und Wildrebe (Deutschland, Insel Ketsch)84 sowie Wildapfel (Deutschland).85 Die Gründe hierfür sind unterschiedlich. Unter dem Eindruck einer weltweit rasant fortschreitenden Verdrängung traditionell verwendeter Kulturformen aus landwirtschaftlichen Produktionssystemen musste eine schnelle technische Lösung für die Erhaltung dieses wertvollen Genreservoirs geschaffen werden (s. Engels und Maggioni, in diesem Buch). Dies war umso dringlicher, da um 1972 nur 28 % der weltweit in Sammlungen befindlichen Muster von PGR unter konservierenden Bedingungen gelagert wurden.86 Die Ex situ-Erhaltung ist eine in ihren Grundzügen technologisch einfache 82 Pinheiro de Carvalho, Miguel Â. A.; Nóbrega, Humberto; Freitas, Gregório et al., „Towards the establishment of a genetic reserve for Beta patula Aiton“, in: Maxted, Nigel; Dulloo, Mohammed E.; Ford-Lloyd, Brian V. et al. (Hg.), Agro­ biodiversity Conservation: Securing the Diversity of Crop Wild Relatives and Landraces, Wallingford 2012, S. 36-44. 83 Fielder, Hannah; Ford-Lloyd, Brian V. und Nigel Maxted, „Establishing sys­ tematic crop wild relative conservation in the UK“, in: Maxted, Nigel; Dulloo, Mohammed E. und Brian V. Ford-Lloyd (Hg.), Enhancing Crop Genepool Use: Capturing Wild Relative and Landrace Diversity for Crop Improvement, Wall­ ingford 2016, S. 189-198. 84 Ledesma-Krist, Gloria M.; Nick, Peter; Daumann, Joachim et al., Überlebenssi­ cherung der Wildrebe Vitis vinifera L. ssp. sylvestris (C.C. Gmel) Hegi in den Rheinauen durch gezieltes in situ-Management. Abschlussbericht 2008–2013, Karlsruhe, Rastatt 2013. 85 Reim, Stefanie; Proft, Anke; Heinz, Simone und Monika Höfer, „Erhaltung von Malus sylvestris L. unter In-situ-Bedingungen im Osterzgebirge“, in: BMELV/ BLE (Hg.), Tagungsband zu den Informationstagen Biologische Vielfalt in Bonn am 21. und 22. April 2010, Bonn 2010, S. 136-145. 86 Bommer, Genbanken.

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Methode, die schnelles Handeln ermöglicht. Sie besteht aus folgenden Arbeitsschritten: Sammeln, Vermehren, konservierend Lagern, regelmäßige Vitalitätskontrolle des Materials, Beschreiben der Akzessionen, Abgabe von Informationen und Samen an Nutzer. Hinzu kommen die Bewertung züchterisch bedeutender Eigenschaften und Dokumentation aller im Prozess anfallenden Daten. Angesichts der enormen Aufgabe entwickelte die EUCARPIA schon 1961 eine Konzeption für die europäische Zusammenarbeit auf diesem Gebiet.87 Wissenschaftliche Unterstützung erhielt sie vom Internatio­ nal Biological Program (IBP), das als ökologisches Großforschungsprogramm von 1964 bis 1974 existierte.88 Eine Arbeitsgruppe des UNDP89 und der FAO plante die Organisationsstruktur des ECPGR, die von den beteiligten Regierungen im Jahre 1979 genehmigt wurde.90 Diese Anstrengungen führten schließlich 1980 zur Gründung des ECPGR.91 Obwohl die Vertreter des IBP die Notwendigkeit für die Erhaltung von Wildpflanzenarten in genetic reserves genauso wie heute begründeten, wurde das ECPGR als Netzwerk von Ex situ-Sammlungen geplant. In seiner Informationsbroschüre aus dem Jahr 1984 wurde der Begriff „in situ“ an keiner Stelle erwähnt. Damit war eine technologische Pfadabhängigkeit vorgegeben, dessen Folge noch heute zu spüren ist. Obwohl die CBD der In situ-Erhaltung Vorrang gibt, befassen sich die Genbanken als jene für den Erhalt pflanzengenetischer Ressourcen zuständige Institutionen erst in jüngerer Zeit mit dieser Aufgabe. Im Jahr 1995 beschloss der Lenkungsausschuss des ECPGR die Gründung einer neuen Arbeitsgruppe, die 1998 als ECPGR-Arbeitskreis mit der Bezeichnung Wild Species Conservation in Genetic Reserves and a Task Force on On-farm-Conservation and Management begann. In den folgenden Jahren entwickelte die Arbeitsgruppe Elemente einer europäischen Strategie für die In situ-Erhaltung von Wildpflanzenarten, die 2015 vom Lenkungsausschuss des ECPGR formal angenommen wurde.92 Das ECPGR betrat damit sinnbildlich einen neuen Pfad. 87 Vgl. zur europäischen Pflanzenzüchterorganisation EUCARPIA online http:// www.eucarpia.org/ (letzter Aufruf: 24.1.2017). 88 Frankel und Hawkes, Genetic resources, S. 1-11. 89 UNDP = United Nations Development Programme. 90 UNDP-IBPGR: The ECP/GR. Introduction to the European Cooperative Pro­ gramme for the Conservation and Exchange of Crop Genetic Resources, AGPG/ IBPGR 84/148, Rome 1984. 91 ECPGR = European Cooperative Programme for Plant Genetic Resources. 92 Maxted et al., ECPGR.

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7. Der Mensch als Weltnaturgärtner? Doch wohin führt dieser Pfad? In genetischen Erhaltungsgebieten geschützte Wildpflanzenarten, die für die landwirtschaftliche Erzeugung entweder als PGR von Bedeutung sind oder eine wichtige Ökosystemfunktion innehaben, unterscheiden sich nicht grundsätzlich von den sog. policy species, d. h. den nach dem BNatSchG rechtlich geschützten Arten. Auch der Schutz gefährdeter Arten ist inzwischen ein technischer Prozess, der allerdings im Gegensatz zum weitaus überwiegenden Teil der WEL/WVK-Arten rechtlich geregelt ist. So gesehen ist jedes ausgewiesene Fauna-Flora-Habitat-Schutzgebiet ein Technotop und die FFH-Annex-II-Arten sind Biofakte. Eine irgendwie „ursprünglich“ geartete Natur sucht man dort vergebens. Nach Studien des Instituts für Landschaftsökologie93 und des Bundesamtes für Naturschutz94 könnte der Klimawandel in Europa zum Verlust einheimischer und der Zuwanderung anderer Arten führen und hierdurch eine Neuordnung der Artengemeinschaften in Deutschland bewirken. Diesen Aussagen liegen Klimaprojektionen bis ins Jahr 2060 bzw. 2080 zugrunde. Die Bausteine der Anpassungsstrategien des Naturschutzes an den Klimawandel sind bislang vorwiegend technisch-organisatorischer Natur. Sie umfassen u. a. die Einrichtung von Datenbanken als Grundlage für öffentliche Planungsarbeiten und die Weiterentwicklung eines Biotopverbundsystems, damit die vom Klimawandel betroffenen Arten neue Area­ le erschließen können.95 Der ergänzende Aufbau von Genbanken für Wildpflanzenarten soll der vorübergehenden Sicherung u. a. von Arten dienen, die trotz einer guten Biotopvernetzung keine ausreichenden Überlebenschancen haben.96 Das Saatgut dieser Arten ist für populationsstützende Maßnahmen oder zur Wiederaus-

93 Behrens, Martin; Fartmann, Thomas und Norbert Hölzel, Auswirkungen von Klimaänderungen auf die Biologische Vielfalt: Pilotstudie zu den voraussichtli­ chen Auswirkungen des Klimawandels auf ausgewählte Tier- und Pflanzenarten in Nordrhein-Westfalen. Teil 1: Fragestellung, Klimaszenario, erster Schritt der Empfindlichkeitsanalyse – Kurzprognose, Münster 2009. 94 Pompe et al., Modellierung. 95 Ebd. 96 Borgmann, Peter; Oevermann, Silvia; Friesen, Nikolai und Sabine Zachgo, „Die Genbank für Wildpflanzen für Ernährung und Landwirtschaft“, in: Poschlod, Peter; Borgmann, Peter; Listl, Daniela et al. (Hg.), Handbuch Genbank WEL, Regensburg 2014, S. 41-70.

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bringung der betreffenden Population am Ort ihres Werdens gedacht – selbst wenn der gewohnte Ort des Werdens sich durch den Klimawandel verschoben haben sollte.97 Unter dem Einfluss des Klimawandels werden den Untersuchungen von Araújo et al. zufolge die meisten Pflanzenarten in Schutzgebieten langfristig überleben.98 Bei einem Anstieg der mittleren Jahrestemperatur in Europa auf 10,5 °C im Jahr 2050 würden ‚nur‘ 6-11 % der Pflanzenarten in den ausgewiesenen Naturschutzgebieten verloren gehen. Die Auswirkungen des Klimawandels beeinträchtigen u. a. Arten des nördlichen Mittelmeerraums (Sardinien, Korsika).99 Von den dort untersuchten 22 Pflanzenarten werden 11 Arten 50 % ihres gegenwärtigen Verbreitungsareals bis zum Jahr 2020 verlieren. Unter diesen Voraussetzungen können Arten nicht mehr, wie von der CBD (1992) gefordert, in ihrer natürlichen Umgebung langfristig erhalten werden. Stattdessen müssen alternative Wuchsorte gefunden werden. Die Auswahl von Populationen und Wuchsorten kann nach einem Verfahren erfolgen, das Volis und Blecher als Quasi-In-situ-Erhaltung bezeichnen.100 Es verbindet Elemente der Ex situ- und In situ-Erhaltung und führt im Ergebnis zur Ansiedelung von Populationen an geeigneten Wuchsorten außerhalb ihres natürlichen Verbreitungsareals oder an Wuchsorten, die im Zuge des Klimawandels neu entstehen. Mit der Anwendung dieses Verfahrens würden Maßnahmen des Artenschutzes, die bislang die Erhaltung günstiger Rahmenbedingungen für Populationen an ihrem ursprünglichen Standort zum Ziel haben, eine neue Dynamik erhalten. Wie in der Kulturpflanzenzüchtung würden Populationen einer Wildpflanzenart vom Menschen durch Kreuzung erzeugt, die Anbaueignung (das Kriterium ist hierbei die Anpassungsfähigkeit) der Nachkommenschaft geprüft und Saat- oder Pflanzgut der Nachkommenschaft anschließend an geeigneten Wuchsorten ausgebracht.

97 Zippel und Stevens, Arbeitstechniken. 98 Araújo, Miguel B.; Cabeza, Mar; Thuiller, Wilfried; Lee Hannah et al., „Would climate change drive species out of reserves? An assessment of existing reserve-­ selecting methods“, in: Global Change Biology, 10(9)/2004, S. 1618-1626. 99 Casazza, Gabriele; Giordani, Paolo; Benesperi, Renato; Bruno Foggi et al., „Cli­­ mate change hastens the urgency of conservation for range-restricted plant spe­cies in the central-northern Mediterranean region“, in: Biological Conser­ vation, 179/2014, S. 129-138. 100 Volis, Sergei und Michael Blecher, „Quasi in situ: a bridge between ex situ and in situ conservation of plants“, in: Biodiversity and Conservation, 19(9)/2010, S. 2441-2454.

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In situ: Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen

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Maßnahmen zur In situ-Erhaltung von WEL/WVK-Arten sind, neben Programmen des Natur- und Artenschutzes, ein weiterer Versuch, den Zielkonflikt zwischen weltweit wachsendem Bedarf an Nahrungsmitteln und anderen agrarischen Rohstoffen sowie der Erhaltung von Pflanzenarten und Ökosystemleistungen, die wir für die Erzeugung dieser Produkte benötigen, zu lösen. Derzeit ist nur ein einziger vernünftiger Lösungsansatz erkennbar: Der Schutz pflanzengenetischer Ressourcen muss integraler Bestandteil von Wirtschaftssystemen werden, die einen nachhaltigen Umgang mit diesen Ressourcen nachweislich pflegen. In dem eingangs erwähnten Aufsatz „Solutions for a cultivated planet“ in der Zeitschrift Nature wird die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass der Mensch den Zielkonflikt zwischen Nutzung und Schutz von Ressourcen durch flexible und umsichtige Bewirtschaftung des Planeten überwinden kann.101 Eine derartige Entwicklung zeichnet sich bereits ab. So wird in der niederländischen Konzeption „tijdelijke natuur“ (= zeitlich befristete Natur) auf großen Brachflächen in Privatbesitz die Entwicklung von Natur für einen längeren Zeitraum zugelassen. Dies geschieht allerdings mit der rechtsverbindlichen Zusage an die Besitzer, dass die Fläche gemäß der ursprünglichen Bebauungsplanung auch dann genutzt werden darf, wenn sich zwischenzeitlich geschützte Tier- oder Pflanzenarten dort angesiedelt haben.102 So drängt sich das Bild einer vom Menschen vollständig beherrschbaren und zum großen Teil schon beherrschten Welt auf: eine Welt, die in „Anthrome“ (kurz für: „anthropogene Biome“) untergliedert ist und in der biologische Diversität in Nutzgebieten genutzt und in Schutzgebieten unterschiedlichster Art gepflegt wird. Schutzgebiete würden, im Gegensatz zur statischen Erhaltung genetischer Ressourcen im ‚ewigen Eis‘ eines Samenlagers, eine dynamische Entwicklung der Arten und Formen garantieren. Wir müssten, wie Andreas Weber in einem ZEIT-Artikel wiedergibt, den Planeten in den ertragreichen Garten einer Weltnaturkultur verwandeln – ein Szenario, in dem pflanzengenetische Ressourcen in den unterschiedlichen Boden-Klima-Räumen unseres Planeten von Naturgärtnern in genetischen Erhaltungsgebieten gepflegt

101 Foley, Solutions. 102 Anonym, Tijdelijke natuur, online unter: http://www.tijdelijke-natuur.nl/ index.php?id=313 (letzter Aufruf: 24.1.2017).

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würden.103 Auch wenn dieser anthropozentrische Ansatz als nicht tragfähig angesehen wird, weil das Leben als Beziehungsgeflecht einer unüberschaubaren Diversität unterschiedlichster Mitlebewesen zu komplex ist und sich deshalb grundsätzlich dem menschlichen Verständnis entzieht,104 bleibt uns angesichts des Klimawandels womöglich keine andere Wahl als die des konkreten Handelns als Weltnaturgärtner. Damit würde der eingangs erwähnte Versuch einer Neuordnung des Verhältnisses von industriell geprägten Gesellschaften und Natur unternommen: ein Verhältnis, in dem „drinnen“ und „draußen“ keine konträren Dimensionen des Naturschutzes mehr sind, ebenso wenig wie die nützliche und die unnütze, die eigene und die fremde Natur. Danksagung: Für die kritische Durchsicht des Manuskriptes und hilfreiche Kommentare danke ich Frau Prof. Dr. Nicole C. Karafyllis, ihrem wissenschaftlichen Mitarbeiter Herrn Uwe Lammers (TU Braunschweig) und Herrn Dir. und Prof. Dr. Peter Wehling (JKI).

103 Weber, Andreas, „Die Welt erscheint im Anthropozän“, in: DIE ZEIT, 51/2014, S. 60. 104 Ebd.

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Conserving Seeds of Wild Species in the Millennium Seed Bank: ‘One size does not fit all’

Abstract: The Royal Botanic Gardens Kew leads the Millennium Seed Bank Partnership (MSBP), a global network aimed at long term ex situ conservation of wild (undomesticated) plant species as living seeds in seed banks; against the threat of species extinction, as a complement to in situ conservation, and to provide current and future options for the sustainable use of plants. That partnership covers over 80 countries worldwide; and it is under the auspices of the Convention on Biological Diversity (CBD), with access and benefit sharing agreements between Kew and individual source countries covering the seed collections and associated data. The Millennium Seed Bank (MSB) contains more than 85.000 collections, representing over 38.000 wild species, over 90 % of which are of true wild origin. Collections originate from 189 countries (Feb. 2017), including the UK and its Overseas Territories. At least 11 % of species held at present are either extinct in the wild, or threatened with extinction. More than half the collections are duplicated in safe storage (air-dry and deep frozen) across the network. The article summarizes the aims and scopes of the MSBP, highlights technical and scientific challenges in extending seed longevity in storage and concludes with the need for multiple and diverse approaches to store seeds from wild plants: ‘one size does not fit all’. Zusammenfassung: Die Royal Botanic Gardens Kew koordinieren die Millennium Seed Bank Partner­ schaft (MSBP), ein globales Netzwerk, das dem langfristigen Ex situ-Erhalt von Wildpflanzen (nicht domestizierten Pflanzen) in Form von lebensfähigen Samen in Samenbanken dient. Mit dieser zu den In situ-Erhaltungsstrategien als komplementär zu verstehenden Maßnahme wird der Bedrohung des Artensterbens begegnet; ferner werden gegenwärtige wie zukünftige Handlungsoption für die nachhaltige Nutzung von Pflanzen bereitgestellt. Das Partnerschaftsnetzwerk umfasst mehr als 80 Länder und operiert im Regelwerk der CBD, entsprechend existieren für die Samensammlungen mit zugehörigen Daten Vereinbarungen zum Zugangs- und Vorteilsausgleich zwischen Kew und den einzelnen Ursprungsländern. Die Millennium Seed Bank (MSB) umfasst über 85.000 Sammlungsobjekte (Akzessionen), die mehr als 38.000 Wildarten repräsentieren, davon 90 % wilden Ursprungs im strengen Sinne. Die Sammlungen entstammen 189 Ländern (Feb. 2017), inklusive des Ver­ einigten Königreichs und seiner Territorien in Übersee. Mindestens 11 % der gegenwärtig in der Samenbank vorhandenen Spezies sind in der Wildnis bereits ausgestorben oder vom Aussterben bedroht. Im Netzwerk existieren für mehr als die Hälfte der Sammlungen Sicherheitsduplikate (luftgetrocknet oder tiefgekühlt). Der Artikel fasst die Ziele und Arbeitsbereiche des MSBP zusammen, hebt die technischen und naturwissenschaftlichen Herausforderungen bei der Verlängerung des Samenlebens

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für die langfristige Lagerung hervor und schließt mit der Feststellung, dass vielfältige und verschiedene Methoden für die Erhaltung von Wildpflanzensamen benötigt werden. Denn: „eine schickt sich nicht für alle“.

1. Introduction and Context Widely used as the shorthand name for the whole facility, the Mil­ lennium Seed Bank (MSB) of the title strictly refers to the vault beneath the Wellcome Trust Millennium Building at Wakehurst Place in West Sussex, UK. The seed collection within that vault represents the greatest concentration of living seed-plant biodiversity on earth; and it is a global resource for conservation and sustainable use of plants. Managed by the Royal Botanic Gardens Kew, it is also the focus for a worldwide network of ex situ wild species seed conservation activity, the Millennium Seed Bank Partnership (MSBP). Seeds are fertilised ovules, the result of successful pollination in flowering plants and gymnosperms. They are adapted in many ways, to ensure the survival and dispersal of the offspring of those plants. Each one consists of a genetically unique embryo, usually together with a food supply and an outer protective covering, which frequently incorporates structural aids to dispersal and/or sur­ vival. Most seed-bearing plant species: occur in populations; produce many seeds per year; are out-crossing, to a greater or lesser extent; and have desiccation-tolerant (‘orthodox’, sensu)1 seeds that can be deep-frozen once dry.2 Consequently, in general terms: – collection and ex situ storage of a fraction of the annual seed output poses little risk to the in situ population; – if the sample is sufficiently large and adequately sampled, a seed collection is generally a good genetic representation of a plant species population;

1 2

Roberts, Eric H., “Predicting the storage life of seeds”, in: Seed Science and Tech­ nology, 1/1973, pp. 499-514. Wyse, Sarah V. and John B. Dickie, “Predicting the global incidence of seed desiccation sensitivity”, in: Journal of Ecology, 105(4)/2017, pp. 1082-1093; Walters, Christina T., “Orthodoxy, recalcitrance and in-between: describing variation in seed storage characteristics using threshold responses to water loss”, in: Planta, 242(2)/2015, pp. 397-406.

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– the concentration of diversity in a relatively few samples and in a small volume facilitates curation of collections and access to them for use; – expected seed longevities under seed bank conditions are of the order of many tens or hundreds of years, perhaps longer; – technical input and cost are relatively low, e. g. ex situ seed conservation may cost as little as 1 % of in situ.3 The above outlines the principles underlying ex situ seed banking; which was originally developed as a response to the risks associated the narrowing of the genetic base of domesticated crop species (see Graner, in this book), resulting from modern plant breeding methods and widespread growing of monocultures. Along with one or two other botanic gardens,4 the Royal Botanic Gardens Kew was an early adopter of this methodology, initially as a means of improving seed quality in the samples of seeds exchanged annually among botanic gardens; and then recognising it as a powerful tool for conserving wild species (in contrast to domesticated crops) ex situ, complementary to in situ conservation of species in whole ecosystems. While Kew does not store seeds of domesticated crops in the MSB, 33 % of species and 48 % of the collections held at the MSB have at least one documented human use.5 The move of the seed storage facilities from Kew to Wakehurst Place in 1972 began the Kew Seed Bank proper, starting as a single butcher’s cold store in the chapel of the Elizabethan mansion there. The collections grew steadily, along with the facilities and staff associated with the curation and research over the years, until the mid1990s. Kew had already accumulated over thirty years’ experience in seed banking wild species from around the world when, as part of the upcoming Millennium celebrations in 2000, it was encouraged to bid for and was successful in securing funds from the UK Millennium Commission, to enlarge its seed conservation operation substantially. Large donations came from other funders, including the Wellcome Trust and Orange plc. Thus was born the Millennium Seed Bank Project (MSBP). That expansion was led by Roger D. 3 4 5

E. g. Li, D.-Zhou and Hugh W. Pritchard, “The science and economics of ex situ plant conservation”, in: Trends in Plant Science, 14(11)/2009, pp. 614-621. For botanic gardens with seed banks in Germany, see Karafyllis and Lammers, in this book. Internal survey of seed collections, January 2016.

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Smith, who had earlier succeeded Peter Thompson (1931–2008), the initiator and first leader of the Kew Seed Bank. Readers should be aware that what was the MSB Project up until 2010, evolved seamlessly into the MSB Partnership after that date, both sharing the same initials. The MSB Project consisted of three main elements: between 1997 and 2000, to build the Wellcome Trust Millennium Building, including the vault; and to complete collection of all the bank-able species native to the United Kingdom; and between 2000 and 2010 to bank samples of 10 % of the world’s seed-plant species. The building was opened in 2000 and the existing collections moved into it; including the augmented UK collections, which had been made from wild populations in the field, by a network of amateur and professional botanists around the country, coordinated by Kew. A fundamental feature of the MSB Project, and it continues to be so through compliance with the Nagoya Protocol, is that it was founded on the Convention on Biological Diversity (CBD). This was vital for the international element between 2000 and 2010, and remains so. During that phase, seed samples came into the MSB from a series of partnerships with countries around the world. Some of those partnerships grew out of longstanding relationships between Kew and countries of the former British Empire, now British Commonwealth; for example, Australia (all states), Kenya, South Africa; while many other partners joining early in the project had no such relationship, e. g. Mexico, Namibia and the United States. Participating organisations within individual countries are usually botanic gardens or other publicly funded research institutes. Each partnership was governed by a bilateral, legal agreement between Kew and the particular donor country, under the terms of the CBD, covering such matters as: ownership; prior informed consent; intellectual property; notification of transfer; transfer to third parties (e. g. distribution of samples for use); benefit sharing; non-commercialisation; etc. As well as a proportion of the public funding provided through a Grant in Aid to Kew from the UK Department for Environment, Food and Rural Affairs; since 2010, funding for the MSB has been more complex than previously. It includes a diverse portfolio of projects, covering individual countries or groups of plant species (e. g. the wild relatives of domesticated crops). Nevertheless, the country agreements and partnerships continue to be the basis of seed collection acquisition across the network, which makes up what since 2010 has become known as the Millennium Seed Bank Partnership.

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Seed collections are almost always made by nationals of the partner country, working on their own territory, coordinated by Kew staff, and provided with varying levels of support, both resources and training. Seed collections arriving at the MSB (by air-freight, for speed) are predominantly duplicates, collections made in-country having been divided before despatch. The remaining portions are stored in a suitable facility (often a crop or forestry gene bank) in the country of origin, where one exists. Importantly, all seeds in the vault at the MSB, collected under the MSB Project, and now under the Partnership are held in trust by Kew and remain the property of the country of origin. Any research or other work done on them by Kew, and distribution to the third parties is subject to the terms of country-specific Material Transfer Agreements. If the partner country specifies no distribution, or, more frequently, permission to be sought from them before distribution, then the MSB complies fully with those wishes. For one or more of several valid reasons (e. g. small parent population, poor seed set due to weather extremes) it can happen that seed samples arriving at the MSB are too small in number to allow distribution, without adversely affecting the core sample size for long term conservation. In some instances, the sample is so small that even an initial viability assessment through a germination test (destructive, by its nature) is precluded. However, the ambition has always been for the MSB to live up to its name as a ‘bank’, having both deposits and withdrawals; rather than an archive, solely to mitigate the risks of species becoming extinct. Of course, a core of each collection has that purpose and will be retained for that; but otherwise, the intention is to distribute small samples (usually 50 seeds) of collections to bona fide researchers and other user organisations, both now and in the future, to support the widest possible sustainable use of wild plant genetic resources. However, samples are not supplied to private individuals; nor, to commercial companies, without the explicit involvement of the source country. Moreover, the MSB is not a library, for reference only, or loans. The majority of the collections in the MSB are of sufficient number to allow repeated distribution, without the need for re-collection from the wild or regeneration, possibly under artificial and less than ideal conditions; and during 2016, about 1000 seed samples were distributed to users.

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2. Seed viability and longevity Along with ‘millennium’ and ‘bank’, the third word in the title is ‘seed’; and it is almost exclusively seeds that are collected from the wild and conserved in the MSB vault. The rare exceptions include samples of spores of a few species of ferns and two collections of clubmosses, stored at the particular request of our overseas partners. These appear to survive the dry, sub-zero conditions in the vault; and there is evidence that the spores of at least some fungi respond positively to reduced moisture content and temperature in a similar way to orthodox seeds. The other notable exception is the successful storage of vegetative bulbils of one or two species, possibly mistaken for seeds by collectors in the field. The word ‘seed’ is used here in its broad sense, which frequently includes fruits, especially when they are dry and indehiscent at dispersal. The best known examples are perhaps among the grasses (Poaceae) and composites (Asteraceae – daisy family), where the dispersal units are surrounded by fruit wall (derived from the ovary – pericarp) tissue in caryopses and cypsellas, respectively. Late in development, seeds of most, but not all species cease growing, dry out and enter a state of suspended animation or quiescence; in which metabolism or life processes are barely detectable, or not at all. They remain in this state during dispersal and eventually on, or in the soil; until they are re-wetted following rainfall, or a gardener sows and waters them. On re-imbibition, metabolism and growth of the embryo resumes; in many species but not all, leading to sprouting or germination of the seed. When a seed germinates it is the definitive evidence that it remained alive during quiescence and thus capable of resuming growth – i. e., viable. The germination test, in which seeds are sown under appropriate conditions, and the proportion (percentage) germinating after a set time, is used at the MSB (and in all, or most other seed banks) to measure the viability of each collection at regular intervals. At the MSB that interval is usually ten years, but it can vary, especially for collections of species suspected of having especially short-lived orthodox seeds (see below). In many wild species, however, failure to germinate does not necessarily indicate lack of viability, i. e. that the seed is dead. To avoid germinating at times (seasons) or in places where seedling survival would be unlikely (due to frost, drought, or shade for example), the seeds of many wild species possess physiological mechanisms or blocks (dormancy) that prevent germination, until they

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have experienced particular dormancy breaking conditions (e. g. several months imbibed at chilling (below 10 °C) temperatures, corresponding to a cool temperate winter) and/or an environmental trigger such as full sunlight. Only if the requirements for dormancy breaking have been fully satisfied will all the viable seeds in many wild species seed collections germinate and grow. Therefore, it will not surprise readers to learn that at the MSB considerable research effort is put into understanding all the variations of seed dormancy and their mechanisms, leading to prediction and application of environmental conditions that will ensure the germination of all viable seeds in a population sample. The ultimate goal of any seed bank is to be able to raise plants from all the viable seeds in a collection. If some seeds fail to grow because of dormancy, there is a risk of genetic selection when they are grown out. So, as well as accurate measurement of a seed collection’s viability (percentage germination) over time during storage, it is important to be able to disseminate guidance/instructions to users on the most effective germination conditions along with seed samples at distribution. Other seed viability tests are available; and the alternative used most frequently at the MSB, as a last resort when dormancy proves too difficult to break, involves a vital stain, tri-phenyl tetrazolium chloride (‘TZ’ or ‘TTC’); which reacts with active respiratory dehydrogenases in living tissue to give a bright red dye. However, even for crop species, where it is more widely used, accurate interpretation of the staining patterns requires a degree of skill and experience in the tester. Due to both poor uptake of the solution and/or poor calibration of staining patterns, it has only limited use across the many thousands of diverse wild species encountered in the MSB’s collections. The ageing processes in seeds, leading ultimately to cell, tissue and embryo death, are likely to be similar to those in other organisms; gradual, but cumulative.6 As seeds age, cell membranes become leaky, enzymes lose activity and chromosome mutations accumulate.7 This damage is now thought to be caused by ‘reactive oxygen species’, or free radicals. These highly reactive chemicals 6 See Kranner, Ilse, “Mechanisms of seed aging”, in: South African Journal of Botany, 86/2013, p. 140. 7 E. g. Rao, N. K.; Roberts, Eric H. and Richard H. Ellis, “The influence of prestorage and post-storage hydration treatments on chromosomal-aberrations,

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have the potential to damage and destroy key molecules such as DNA, proteins and lipids. Incidentally, it seems likely that endogenous anti-oxidants in some seeds have a role in delaying the onset of these ageing processes. The practical outcomes, or symptoms of these biochemical changes in populations of ageing seeds are that seeds germinate more slowly, germination is impaired under less than optimal conditions (e. g., low temperature), and mutant and abnormal seedlings are more likely to be observed. Loss of ‘vigour’ is the term commonly used to describe the syndrome of changes that take place in seeds as they age and before final metabolic system breakdown and death. Low vigour seeds are a particular problem for crop species, because they exhibit more or less poor and uneven establishment in the field, leading to reduced yields and consequent economic losses. An important strand of research at the MSB, within Kew’s Com­ parative Seed Biology group, is investigation of free radical-induced damage as a cause of seed death; with a view the future development of diagnostic markers of seed ageing and incipient decline in the via­ bility of stored seed collections. At the same time, in the periodic germination testing that is the basis of current viability monitoring at the MSB, care is taken to record those seeds that germinate, but produce morphologically abnormal seedlings, as one indicator of the onset of loss of vigour, and thus viability. Seed longevity is a measure of how long seeds can be stored under a given set of storage conditions and remain viable. Seed banks, including the MSB, aim to maintain high levels of seed viability over long periods – many tens, and probably hundreds of years. The aim of seed banking is to conserve genetic diversity; and in some cases, for very rare and endangered wild species, the seed bank may be the only back up source of genetic material for a particular species. If such collections have very low levels of viability they would have little or no value. Regeneration of a collection, especially away from its native habitat, always runs the risk of genetic drift through selection. This is especially important for wild species, where each seed may be fairly unique in terms of the genetic diversity it contains (cf. crop cultivars); and much loss of viability from a seed collection could significantly erode the genetic diversity being stored. So, most gene banks, seedling abnormalities, and viability of lettuce seeds”, in: Annals of Botany, 60(1)/1987, pp. 97-108.

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crop or wild will set a standard level of viability which must be maintained – usually around 75-85 %; if viability falls below that level, the collection may be regenerated. At the MSB, the standard is that there should be 95 % certainty that the viability is more than 75 %. In practice, with current sample sizes for routine germination tests (50 seeds, drawn randomly), this means that germination must be 85 % or more. Anything less will trigger a management decision on whether to regenerate the collection or, if at all possible, to re-collect from the wild. The latter is often the cheaper option and removes the risk of selection during regeneration. On both cost grounds and the risk of genetic drift and narrowing, the MSB’s policy is to avoid regeneration as far as possible, by controlling those factors that extend seed longevity in storage.

3. Maximising seed longevity in storage The main factors affecting seed longevity are both genetic and environmental, with evidence of interactions between the two. The two major environmental factors are moisture status and temperature. That is reflected in the orthodox seed bank technology employed at the MSB, where seeds are usually dried to moisture contents of 4-6 % on a fresh weight basis, before storage at deep freeze (-18 to -20 °C) temperatures. As mentioned above, seed ageing, and thus longevity is subject to deteriorative, oxidative processes; and the gaseous environment is clearly a third potential factor. Rather than in open storage, the MSB’s seed collections are hermetically sealed, usually in glass bottles and jars with gas-tight lids; or sometimes in heat-sealed foil laminate bags. While there is evidence that sweeping storage containers with nitrogen before sealing leads to enhanced longevity, the effect is generally marginal by comparison with lowering moisture content and temperature; and it is not used routinely at present in the MSB, though it remains a future possibility for potentially short-lived collections. Measurement, comparison and modelling are the basis for our current understanding of seed storage longevity, which is based on the analysis of controlled seed ageing experiments. Longevity is generally so great under seed bank conditions, that in practice all experimental work depends on the rate of ageing being accelerated, by raising temperature and moisture content. Seeds are sampled at

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intervals and tested for viability; and the parameters of the resulting seed survival curves with time are the basis for subsequent modelling, and prediction of longevity under bank conditions.8 Such extrapolation of survival characteristics determined under accelerated ageing conditions to those over long periods in the seed bank has been questioned and its application continues to require a degree of caution. To survive sub-zero temperatures at all, seeds must first be dried until all the freeze-able water has been removed; otherwise, ice crystals may cause lethal damage to seed tissues. This usually means drying to around 15-20 % moisture content (85-90 % equilibrium relative humidity). Further drying below this level results in a corresponding increase in longevity; with a linear increase in longevity as moisture content is reduced logarithmically; and the relative effect of moisture content on longevity varies among species (genetic component). A useful approximation of this relation is that longevity doubles for every 1 % reduction in moisture content, or for roughly every 10 % reduction in relative humidity. A lower limit to this relation occurs at around 10-15 % relative humidity, equivalent to seed moisture contents between 3 % and 7 %, depending on species; those with higher oil contents having lower equilibrium moisture contents. Below this moisture level most species show no further increasing longevity; and some have been shown to decline in longevity, possibly due to the detrimental effect of the removal of tightly bound, structural water. After unpacking, seeds arriving at the MSB are quickly moved to a dry room maintained at 15 % relative humidity and 15 °C, for a minimum of one month, before further processing. This benign, passive drying is to reduce moisture content and thus to stabilise and minimise any ongoing viability decline, at the same time avoiding risk of potential damage from rapid, forced drying. By contrast, with the species differences in response of seed longevi­ty to moisture reduction, there is evidence that diverse species’ quantitative response to temperature reduction is quite similar, possibly common.9 The dearth of longevity data below 0 °C makes 8 See Pritchard, Hugh W. and John B. Dickie, “Predicting Seed Longevity: The use and abuse of seed viability equations”, in Roger D. Smith et al. (eds.), Seed Conservation: Turning Science into Practice, London 2003, pp. 653-721. 9 Dickie, John B.; Ellis, Richard H.; Kraak, H. Lieke et al., “Temperature and seed storage longevity”, in: Annals of Botany, 65(2)/1990, pp. 197-204.

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predicting longevities outside the available data (e. g. liquid nitrogen, -196 °C) very difficult, when two models (one quadratic and one exponential) that fit the data equally well give widely divergent (fractions of a second versus hundreds of years) estimates of longevity in liquid nitrogen (-196 °C). The exponential model predicts that seed storage lives in LN2 may be as much as 175x those in standard deepfreeze conditions.10 Over a limited range of positive temperatures, for every 5 °C reduction in temperature, seed life span doubles, approximately. Corresponding to FAO’s current international standards for gene banks, the temperature of the cold chambers within the MSB vault run continuously between -18 and -20 °C. Given identical moisture and temperature conditions, it is reasonable to expect that a collection of the same species having high viability at the beginning of storage would have greater longevity than one with a lower initial viability. Both storage experiments and experience from viability monitoring of the MSB’s older collections support this. From the point of view of the MSB and other wild species seed banks, aiming for long storage periods of many tens and even hundreds of years, avoiding expensive and risky regeneration, the need for collections to have maximum viability at harvest and at the beginning of storage is crucial. Considerable effort is made at the MSB to ensure that seeds arriving are of the highest possible viability and potential longevity; both through research to better understand the physiology and phenology of seed ripening and dispersal;11 and through training of seed collection partners in the making collections at optimal harvest time (close to natural dispersal) and then treating them in the best way post-harvest (e. g. drying, if possible); and getting the seeds as quickly as possible into stable conditions, at the MSB, or another seed bank facility. As seeds develop from the stage of early seed formation and differentiation immediately following fertilisation, through reserve accumulation and maturation to abscission from the mother plant, individuals first achieve the capacity to germinate while fully hydrated, but not after drying. Collecting seeds and drying them at this stage will lead to reduced viability and reduced potential longevity due to the deaths of immature seeds on drying. The onset 10 Pritchard and Dickie, Longevity. 11 E. g. Hay, Fiona R. and Robin J. Probert, “Seed maturity and the effects of dif­ ferent drying conditions on desiccation tolerance and seed longevity in foxglove (Digitalis purpurea L.)”, in: Annals of Botany, 76(6)/1995, pp. 639-647.

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of desiccation tolerance in orthodox seeds lags behind germinability and is maximal when seeds reach maximum dry weight and around abscission.12 However, even at abscission seeds may not have reached their maximum potential longevity, and a further period (days) of post abscission ripening is necessary. MSB research has investigated species differences in the length and timing of these developmental phases. As a general rule, optimal potential longevity will be achieved if collections are made at or close to natural dispersal in the field. However, with wild species, flowering and fruiting are often spread over extended periods, and local weather may vary from year to year; and yet a collection mission may encounter a target species population on one particular day when the timing for collection is not optimal. Thus, the MSB has also carried out research on the possibilities for collecting seeds slightly immature, possibly still attached to the mother plant and then carefully ripening them ex situ, on- and off-plant at the laboratory (i. e. playing developmental catch-up). This has been reasonably successful, and in some cases makes early collection a better option than later, when seeds may have already dispersed. At that stage seeds may be difficult to find, post-dispersal ageing and loss of viability and potential longevity may already have begun; and, importantly, genotypes associated with early flowering may have been lost. Analysis of older collections in the MSB, dating from the earlier years of the Kew Seed Bank, with several 10-year viability assessments began to point to possible variation among species and even among seedlots, with indications of possible taxonomic and habitat patterns.13 This has led to ongoing research at the MSB, which as now covered over 200 species from diverse habitats and across the seed plant phylogeny. An accelerated ageing methodology has been used to screen species and compare their half-lives under identical seed storage regimes. The variation observed among species has been up to ten-fold and greater. Some emerging patterns include: endospermic seeds from cooler, wetter regions are more likely to be short lived; while non-endospermic seeds from warmer, drier re-

12 ‘Abscission’ here refers to the natural separation of the seed or fruit from the mother plant, usually accompanied by the formation of an abscission zone, a structural blockage of the vascular connection to the mother plant. 13 See Probert, Robin J.; Daws, Matthew I. and Fiona R. Hay, “Ecological correlates of ex situ seed longevity: a comparative study on 195 species”, in: Annals of Botany, 104(1)/2009, pp. 57-69.

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gions appear likely to be longer lived;14 and, additionally, those of alpine species appear be relatively short-lived.15

4. Priorities and targets Crop seed banks are usually focused on conserving the genetic diversity of one or a few species, comprehensively sampling as much as possible of the sub-specific and varietal variation, as well as breeders lines and land races; and may contain many hundreds or thousands of accessions of a single species. Indeed, some wild species seed banks aim for similar comprehensive genetic representation; e. g. those specialising in particular threatened or endemic species, and those supporting species or vegetation restoration projects, where provenance is important. By contrast, the focus of the MSB’s collections has been seedplant biodiversity at the species level and above, certainly in the MSB Project phase from up to 2010; when the target of conserving 10 % of species as seeds was successfully achieved. The average number of collections per species during that phase was a little under two. This may be criticised as being insufficient to represent genetic diversity within a species for the purposes of conservation, depending on species range, breeding system, dispersal, efficiency of population sampling, etc.; but, it comes down to a question of resources. Conserve of one of everything, or many populations of a few species? With its global scope, the approach taken by the MSB has been substantially the first of these; and the current headline target for the MSBP is to bank 25 % of bank-able (i. e. orthodox) species (equivalent to 75.000 species) by 2020. At the time of writing, there are over 85k collections in the MSB vault, representing over 38k wild species, over 90 % of which are of true wild origin. At higher taxonomic levels, more than 5.600 genera from 355 plant families

14 E. g. Crawford, Andrew D.; Plummer, Julie A.; Probert, Robin J. and Katherine J. Steadman, “The influence of cone age on the relative longevity of Banksia seeds”, in: Annals of Botany, 107(2)/2011, pp. 303-309. 15 Mondoni, Andrea; Probert, Robin, J.; Rossi, Graziano et al., “Seeds of alpine plants are short lived: implications for long-term conservation”, in: Annals of Botany, 107(1)/2011, pp. 171-179.

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are currently represented in the collections at the MSB. Plus, there are more collections and species accumulating in banks across the MSBP network, for various reasons not duplicated at the MSB itself. Broad phylogenetic diversity or evolutionary potential is something that cannot easily be accommodated within intensive sub-specific sampling, but is relevant for higher level, global prioritisation and targeting. A recent study by Griffiths et al.16 showed that, without consciously targeting it, the MSB’s legume collections (Fabace­ ae) contained over half of genus level phylo-diversity in the family. At the same time as highlighting target species and areas for future legume collection, in order to raise phylogenetic diversity coverage; it also pointed to possible limits to that coverage resulting from focus on other targets, such as threatened species and endemics. Within the targeting of overall species numbers, the MSB has attempted, in collaboration with its network partners, to focus on certain groups: species that are threatened with extinction, those that are endemic (restricted distribution) and wild species that are useful to man but not domesticated: thus, the “three E’s” – endan­ gered, endemic, and economic. There have also been quite strong habitat foci. During the MSB Project phase to 2010 in particular, that focus was predominantly on drylands. Practically, they offer comparatively simple vegetation structure and stature, seasonal fruiting, very low incidence of recalcitrant seed storage physiology (cf. tropical moist forest, referred to above); plus, drylands are under threat from climate change and advancing desertification, yet are home to a significant proportion of the world’s people and their grazing animals. Dryland species possess important traits of resistance to environmental stress. The partner countries mentioned earlier all have significant drylands, and, for example, within the USA seed collection was first concentrated on the arid and semi-arid southwest. More recently the focus has been extended to include other habitats predicted to threatened most immediately by environmental change – maritime, islands and montane. Having stated above that the primary focus for conservation has been at the species and above level, it is nevertheless important to highlight two relatively recent projects based at the MSB that are now adding collections to the bank. Continuing the theme of storing 16 Griffiths, Kate E.; Balding, Sharon T.; Dickie, John B. et al., “Maximizing the phylogenetic diversity of seed banks”, in: Conservation Biology, 29(2)/2015, pp. 370-381.

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seeds of wild species with known or potential human utility, it has been recognised that the close wild relatives of the major crops are under-collected.17 In collaboration with the Global Crop Diversity Trust and funded by the Norwegian Government, Kew is identifying, collecting and storing multiple seed collections of all the wild relatives of the twenty nine major crops, targeted to ensure adequate sub-specific genetic coverage; and these collections are being made available to pre-breeders. Having at least one representative collection for each UK native species was an early aim of the MSB Project; now that is being steadily extended to ensure adequate eco-geographic coverage of each species. Related to that is the UK National Tree Seed Project, in which seed collections are being made from all the UK’s native tree species (but not species with recalcitrant seeds, e. g. oaks), from populations across their entire ranges. Furthermore, and importantly, collections from individual mother trees at a particular site are kept separate and banked separately, for later use in screening for disease and climate change resistance, for example. So, the MSB now has both global, broad collections, mostly with only one or two collections per species; and also intensively sampled sub-specific collections for certain important target groups of plants. 5. Challenges and research needs As described above, orthodox seeds (sensu)18 are those in which storage longevity increases predictably with reductions in moisture content and temperature, within certain limits. Globally, around 90 % of all seed plants may have seeds of this kind of seed storage characteristic,19 with significant variation, depending on phylo­ geny and habitat.20 These species have seeds that can be successfully stored in conventional seed banks. 17 Castañeda-Álvarez, Nora P.; Khoury, Colin K.; Achicanoy, Harold A. et al., “Glob­al conservation priorities for crop wild relatives”, in: Nature Plants, 2/2016, pp. 16-22. 18 Roberts, Storage. 19 See Tweddle, John C.; Dickie, John B.; Baskin, Carol C. and Jerry M. Baskin, “Eco­ logical aspects of seed desiccation sensitivity”, in: Journal of Ecology, 91(2)/2003, pp. 294-304; Wyse and Dickie, Desiccation. 20 Dickie, John B. and Hugh W. Pritchard, “Systematic and evolutionary aspects of desiccation tolerance in seeds”, in: Black, Michael and Hugh W. Pritchard (eds.),

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By contrast, the remainder are difficult or impossible to store dry and cold for long periods. Eric Hywel Roberts (1930–2016), Professor of Crop Production at the University of Reading and initiator of the Seed Science Laboratory, coined the term ‘recalcitrant’ for such species.21 The term has come to be used as synonymous with desiccation or drying sensitive, whereby removal of even small amounts of water leads to rapid death. Such seeds are frequently of woody species, relatively large, with thin seed coats,22 from more or less moist habitats. In tropical moist forest 30-40 % of woody species, or more may have recalcitrant seeds, which limits the extent to which such habitats are suitable candidates for extensive ex situ seed conservation. Apart from the difficulties posed by recalcitrant seeds, a number of other, logistical difficulties attend successful collection of population samples of seed from tropical forest species: a-seasonal fruiting; seeds and fruit borne high in the canopy; predation by canopy-living animals; difficulty in defining and accessing the ‘population’ of mother trees. Nevertheless, recalcitrant-seeded trees do make up a significant proportion of the world’s economically important food and forestry species; and considerable research effort is being made at the MSB, to understand the basis of seed desiccation sensitivity and to develop alternative methods of longterm ex situ conservation, principally through cryopreservation in liquid nitrogen (see Schumacher, in this book). As more species have been investigated, including through the MSB’s programme of ex situ seed conservation, it has become clear that there are those whose seeds have storage characteristics that are neither fully orthodox, nor recalcitrant (desiccation sensitive). Ellis et al. (1990) coined the term ‘intermediate’ for species whose seeds withstand a certain level of drying but not to moisture contents as low as orthodox species, exemplified by coffee seeds.23 In

Desiccation and survival in plants: drying without dying, Wallingford 2002, pp. 239-260. 21 See Roberts, Storage. Roberts’ PhD thesis on tissue culture (University of Man­ chester) was supervised by Herbert E. Street. On Street’s research, see Schu­ macher, in this book. 22 Daws, Matthew I.; Garwood, Nancy C. and Hugh W. Pritchard, “Prediction of desiccation sensitivity in seeds of woody species: a probabilistic model based on two seed traits and 104 species”, in: Annals of Botany, 97(4)/2006, pp. 667-674. 23 Ellis, Richard H., Hong, T. D. and Eric H. Roberts, “An intermediate category of seed storage behaviour: 1. Coffee”, in: Journal of Experimental Botany, 41(230)/1990, pp. 1167-1174.

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another example, Dickie and Smith (1995) described ‘sub-orthodox’ seed survival characteristics in two Agathis species, which survived substantial drying, but suffered subsequent mortality on transfer to sub-zero temperature.24 Experience at the MSB with the microseeds of a number of orchid species suggests that they may be shortlived in storage; and that one problem is that the optimum moisture content for storage is higher than that recommended for ‘fully’ orthodox seeds, leading to their early death through over-drying during collection processing. A quite similar pattern has also been observed in the tiny seeds of members of the Salicaceae (willow family), long known to bear seeds that survive for only a short time. While around 90 % of all seed-plant species may be routinely amenable to standard orthodox seed banking methodology; it is clear that there are limits its application for a number of groups with a high conservation need, e. g. orchids, tropical (and some temperate, e. g. Quercus) forest trees. Furthermore, as described earlier, a proportion of orthodox species’ seeds may nevertheless have limited longevities in conventional seed bank storage. At the MSB, for species suspected of limited storage longevity, sub-samples are now sub-sampled to very low temperature storage in liquid nitrogen, as a precaution, but more research is needed to establish and quantify any gain in longevity from such a procedure. A promising research direction is being pursued at the MSB and elsewhere, to better understand and deal with the whole spectrum of ‘difficult’ species, from short- lived orthodox to recalcitrant. It is based on a biophysical and mechanical approach to understanding the properties of seed tissues under dry and freezing conditions.25 As water is removed from fully hydrated seeds, or as they ripen on the plant, embryo tissues and cells become first rubbery. Then, at certain moisture content and temperature, their contents change phase to become glass. Once cell contents are in the glassy state, below the ’glass transition temperature’ chemical reactions, including the deteriorative, oxidative processes described above, are substantially slowed. Seeds in orthodox storage are in the glassy

24 Dickie, John B. and Roger D. Smith, “Observations on the survival of seeds of Agathis spp. stored at low moisture contents and temperatures”, in: Seed Science Research, 5/1995, pp. 5-14. 25 E. g. Walters, Christina T.; Ballesteros, Daniel and Veronica A. Vertucci, “Struc­ tural mechanics of seed deterioration: standing the test of time”, in: Plant Sci­ ence, 179/2010, pp. 565-573.

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state, which probably explains their relatively long survival periods, the basis of orthodox seed banking. Moreover, Christina T. Walters (2015) has proposed that this biomechanical explanation and the speed, or ease with which glass transitions can be achieved underlies not only the spectrum of intermediate seed storage characteristics among species, but also seedlot differences within species.26 This presents the possibility of optimising ex situ seed conservation for some at least of the species currently thought to be difficult, or impossible to store ex situ for useful lengths of time. It also promises better management decision support for the most appropriate use of cryopreservation of seeds and embryos, with its comparatively relatively high cost, over conventional deep-freeze storage. There are other ongoing research needs and opportunities for improving practice, which the MSB has in common with other wild species seed banks. These are in the areas of population genetics and sampling. Hamilton (1994) raises the issue of allelic and quantitative genetic variation in seed bank collections, in comparison with populations maintained in situ; and a general concerns about seed banks are both the potential for genetic drift at regeneration, as practised by crop genebanks, and long term seed collections being ‘in aspic’, isolated from evolution.27 Lauterbach et al. (2012) have shown reduction in genetic diversity for populations of Silene otites grown over a number of generations ex situ in botanic gardens, compared to the wild populations from which they were derived.28 The botanic garden populations were subject to repeated regeneration under garden conditions, whereas, the MSB’s collections are almost never regenerated, if it can be avoided. Nevertheless, there are collections in the MSB, especially of monocarpic species (annuals and biennials) that have been in storage for over thirty years. In a number of instances it is relatively easy to return to species populations growing at the original collection sites; which is offer26 Walters, Christina T., “Orthodoxy, recalcitrance and in-between: describing vari­ ation in seed storage characteristics using threshold responses to water loss”, in: Planta, 242(2)/2015, pp. 397-406. 27 Hamilton, Matthew B., “Ex-situ conservation of wild plant species – time to re­ assess the genetic assumptions and implications of seed banks”, in: Conservation Biology, 8(1)/1994, pp. 39-49. 28 Lauterbach, Daniel; Burkart, Michael and Birgit Gemeinholzer, “Rapid genetic differentiation between ex situ and their in situ source populations: an example of the endangered Silene otites (Caryophyllaceae)”, in: Botanical Journal of the Linnean Society, 168(1)/2012, pp. 64-75.

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ing an opportunity to identify whether significant genetic changes have taken place over 30+ generations in the wild, compared with the frozen samples. Another aspect related to population genetics is the need for better understanding of optimal sampling of populations in the field,29 to ensure full coverage of genetic diversity. Current best practice at the MSB is, wherever possible, to collect 20.000 seeds (to maximise chances of covering a high proportion of diversity, and also to give opportunity for multiple distributions without recourse to regeneration), or more from individuals at random across the ‘population’ (extent estimated by the collector and experience); at the same time taking no more than 20 % of the total seeds available, to minimise adverse effects on the population’s natural regeneration from seed.

6. Conclusion The Millennium Seed Bank represents a considerable success in that it has mobilised an international partnership to collect and put into stable storage a highly diverse collection of wild species’ seeds. By and large these seed collections are highly viable and, importantly, they are being used – in 2016 over 1000 seed samples were sent out in response to requests from researchers and other users. Wherever numbers and bilateral agreements allow, seed samples are distributed at no charge to bona fide researchers, via Kew’s online Seed List. International Treaty (ITPGRFA) species are shown on the GENESYS website and are available under SMTA’s to breeders and researchers. Distribution and use of the MSB’s collections will be facilitated and increased wherever possible. However, the seed banking of wild species in all their diversity poses particular challenges, as outlined above and by Walters.30 29 E. g. see Guerrant, Edward O., Jr.; Havens, Kayri and Pati Vitt, “Sampling for effective ex situ plant conservation”, in: International Journal of Plant Sciences, 175(1)/2014, pp. 11-20; Hoban, Sean and Scott Schlarbaum, “Optimal sampling of seeds from plant populations for ex-situ conservation of genetic biodiversity, considering realistic population structure”, in: Biological Conservation, 177/ 2014, pp. 90-99. 30 Walters, Christina T., “Genebanking seeds from natural populations”, in: Natu­ ral Areas Journal, 35(1)/2015, pp. 98-105.

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They need continued research input, especially for several important groups of seed-plants. These include: seed desiccation intolerance among some (recalcitrant) species and the need to develop alternative ex situ methods; conventional deep freeze protocols may not be optimal for species whose seeds survive drying, but are nevertheless short-lived in storage; many wild species have more or less complex dormancy, which, if not broken fully at germination, could lead to selection and loss of genetic diversity; more research is needed to establish optimal sampling protocols for diverse wild species, and to explore the genetic outcomes of long-term seed storage. The MSB is active in all these research areas that underpin its conservation role. So far as possible, storage facilities, conditions and processes comply with international standards, as set out by FAO for crop genebanks;31 but allowance is made for variation when crop standards are not appropriate for wild species. As well as being an active conservation facility, the MSB is itself a large, long-term experiment in the ex situ conservation of wild species, and well placed as a centre for research into the challenges posed by ‘one size does not fit all’. Acknowledgement: While he appears here as the sole author, the author is pleased to acknowledge that he has described the work of all his many colleagues, past and present, at the Millennium Seed Bank; and that of the global network of partners in the Millennium Seed Bank Partnership.

31 FAO, Genebank Standards for Plant Genetic Resources for Food and Agriculture, rev. ed. Rome 2014.

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Garten, Genbank oder „Samenmuseum“? Konzeptuelle Abgrenzungsprobleme am Beispiel der Loki Schmidt-Genbank für Wildpflanzen am Botanischen Garten Osnabrück und ihrer Braunschweiger Vorgeschichte

Abstract: The Loki Schmidt Gene Bank for Wild Plants at the Botanic Garden of Osnabrück (Germany) is dedicated to conserve so-called „wild plants“. As a case study, this gene bank demonstrates that the borders between botanical gardens and gene banks have become blurred, both being institutions to conserve biodiversity ex situ. A mediating term is „crop wild relatives“ (CWR), which opposes the species of the segetal flora, while both categories operate with „wild“. In order to highlight the most important differences, the chapter reconstructs collecting activities of Loki Schmidt, an early activist in conserving plants of the segetal flora. Furthermore, it analyzes the collection history of the Loki Schmidt Gene Bank, which formerly belonged to the West-German gene bank for crops, the Braunschweig Genetic Resources Collection (BGRC). There seeds were atypically stored in metal cans, including those collected by Schmidt. This imposes the question, if the present Loki Schmidt Gene Bank might also be understood as museum. Moreover, the chapter reflects on further conceptual problems regarding „the wild“ and „the wild plant“, and on technical challenges for conserving wild plants in- and outside „nature“. A final section summarizes present challenges of botanical gardens and gives an outlook on their future potential. Zusammenfassung: Die Loki Schmidt-Genbank für Wildpflanzen am Botanischen Garten Osnabrück kümmert sich um den Erhalt der sogenannten „Wildpflanzen“. Am Fallbeispiel dieser Institution wird exemplarisch das Verwischen der Grenze zwischen Botanischem Garten und Genbank als Horten zur Bewahrung der Biodiversität ex situ demonstriert. Ein Mittelbegriff dafür ist „wilde Verwandte der Kulturpflanzen“ (WVK) bzw. im Englischen: „crop wild relatives“ (CWR). Dieser steht der Kategorie der „Ackerwildkrauflora“ unvermittelt gegenüber, obwohl sich beide Ausdrücke auf „das Wilde“ beziehen, dabei aber Unterschiedliches meinen. Der Artikel rekonstruiert zur weiteren Klärung einige der Sammlungsaktivitäten von Loki Schmidt, eine der ersten Aktivistinnen im Schutz von Ackerwildkräutern. Ferner zeichnet er die betreffende Sammlungsgeschichte der Loki Schmidt-Genbank nach, die vormals Bestandteil der westdeutschen Genbank für Kulturpflanzen in Braunschweig (BGRC) war, wo man Samen untypischerweise in Metallkonserven lagerte. Daran schließt sich die Frage an, ob die heutige Loki Schmidt-Genbank auch als Museum zu interpretieren wäre. Ferner reflektiert das Kapitel weitere konzeptuelle Problemfelder bei der Zuschreibung des „Wilden“ sowie technische Schwierigkeiten beim Wildpflanzenerhalt innerhalb und außerhalb „der Natur“. Es schließt mit einer Zusammenfassung gegenwärtiger Herausforderungen und gibt einen Ausblick auf zukünftige Potenziale Botanischer Gärten.

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1. Einführung1 Die Loki Schmidt-Genbank für Wildpflanzen wurde unter diesem Namen 2003 als Teil des Botanischen Gartens der Universität Osnabrück etabliert. Bis 2009 stellte sie deutschlandweit die einzige Saatgutbank dar, die der Ex situ-Erhaltung von Wildpflanzen einen prominenten Platz einräumte;2 dann kam die Genbank Bayern Arche mit Sitz in Regensburg hinzu.3 So gilt das 2008 geäußerte Fazit von Peter Borgmann vom Botanischen Garten Osnabrück, in deutschen Lebendsammlungen würden „die einheimischen Wildpflanzenarten […] weder berücksichtigt, noch […] anderweitig offiziell betreut“,4 zwar nicht mehr in dieser Schärfe, aber es bleibt tendenziell richtig.5 Dabei sind in Deutschland besonders diejenigen Wildpflanzen gefährdet, die Kulturfolger der Agrikultur sind: „Ackerwildkräuter sind heute die am stärksten gefährdete Pflanzengruppe Deutschlands und die Bestandssituation wird immer dramatischer“.6 Einige der vormaligen „Allerwelts-Unkräuter“, die bis etwa 1970 noch „weit verbreitet waren“, „sind fast gänzlich verschwunden oder 1

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Für diesen Artikel wurden Akten des Bundesarchivs (BA) Koblenz, der vormali­ gen Braunschweiger Genbank BGRC (Handakten Frese) und des Thünen-Insti­ tuts (TI, vormals FAL) erstmals ausgewertet. Die Teilakte „Stiftung zum Schutz gefährdeter Pflanzen“ der Handakten Frese ist Ende 2017 an die Helmut und Loki Schmidt Stiftung übergeben worden. Weitere Teilakten werden zur Zeit für die Abgabe an das Bundesarchiv Koblenz vorbereitet. Vgl. Webseite der Loki Schmidt-Genbank für Wildpflanzen, online unter: http:// www.loki-schmidt-wildpflanzengenbank.uni-osnabrueck.de/ (letzter Aufruf: 20. 12.2017). Tausch, Simone; Leipold, Martin; Reisch, Christoph et al., „Genbank Bayern Arche – ein Beitrag zum dauerhaften Schutz gefährdeter Pflanzenarten in Bay­ ern“, in: ANLiegen Natur, 37(1)/2015, S. 82-91. Unter dem Dach der Projekte WEL-Genbank und WIPs-De existieren außerdem Gefrierschränke an den Bota­ nischen Gärten in Karlsruhe und Regensburg sowie Kühlzellen des Botanischen Gartens und Botanischen Museums Berlin-Dahlem (BGBM). Schriftl. Mitt. des Osnabrücker Kustos Nikolai Friesen, 28.3.2017. Borgmann, Peter; Friesen, Nikolai; Neuffer, Barbara und Herbert Hurka, „Lo­ ki Schmidt-Genbank für Wildpflanzen am Botanischen Garten der Universität Osnabrück“, in: Osnabrücker naturwissenschaftliche Mitteilungen, 33+34/2008, S. 81-93, hier S. 86. Im internationalen Rahmen verfolgt insbesondere die Millennium Seed Bank der Royal Botanic Gardens Kew (RBG Kew) in England die global ausgerichtete Ex situ-Erhaltung der Wildpflanzen (s. Dickie, in diesem Buch). Sommer, Martin, „Schutz der Ackerwildkrautflora in Bayern – Geschichte und Empfehlungen zum nachhaltigen Schutz auf Grundlage aktueller Erfassungen“, in: ANLiegen Natur, 36(2)/2014, S. 19-28, hier S. 22.

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sehr selten geworden“, darunter der Feld-Rittersporn, urteilt der Geobotaniker Martin Sommer, Fachreferent am Bayerischen Umweltministerium.7 Zur Lösung der Problematik bietet Sommer eine ganze Palette von In situ-Schutzstrategien an, die von Projekten des Vertragsnaturschutzes („Schutzäcker“) über den Ausbau der BioLandwirtschaft bis hin zu wettbewerbsfähigen Deckungsprämien angesichts des Energiemaises auf vormaligen Stilllegungsflächen reichen. Aber: Von der bayerischen Genbank Arche spricht er nicht, auch von keiner anderen Ex situ-Erhaltungsstrategie, etwa im Botanischen Garten. Diese Ignoranz ist weit verbreitet. Der Beitrag geht den entsprechenden Grabenkämpfen zwischen Ex situ- und In situ-Strategien und zugehörigen Konfliktlinien nach, die sich durch den Primat der Erhaltung des Wilden ziehen. Dabei kommt den Botanischen Gärten eine Mittelstellung zu, weil sie Pflanzen nicht so stark „drinnen“ bewahren wie Genbanken, aber auch nicht so stark erlauben „draußen“ zu wachsen wie ‚die Natur‘. Diese Mittelstellung scheint Botanische Gärten nicht etwa zu Vermittlern zu prädestinieren, sondern macht sie unter molekularbiologisch-technischen und agrarischen Vorzeichen vor allem selbst angreifbar, wie zu zeigen sein wird. Im Folgenden soll am Beispiel der Loki Schmidt-Genbank und im Hinblick auf die besondere Geschichte ihrer Objekte 1.) das aktuelle Problem der Grenzziehung zwischen Botanischem Garten und Genbank, 2.) das unscharfe Konzept „Wildpflanze“ und 3.) die Widerständigkeit der betreffenden Sammlungsobjekte thematisiert werden. Zur Nachverfolgung der Sammlungsgeschichte und Loki Schmidts Genbankinitiative zurück bis in die 1980er Jahre wurden Aktenquellen erstmals ausgewertet und ergänzend Zeitzeugeninterviews geführt. Historisch-systematisches Ziel ist es, Bausteine einer Theorie der Lebendsammlung (s. Karafyllis, in diesem Buch) an einem Fallbeispiel aufzuzeigen, das die Ordnungskonzepte Bank und Garten und damit das Sammeln und Auspflanzen in ihrer gegenseitigen Verwiesenheit analysiert. Am Rande wird auch das Konzept Museum eine Rolle spielen, in kontrafaktischer wie in affirmativer Absicht (s. Abschn. 4 und 6). Hier wird primär die Perspektive Deutschlands in den Blick genommen, mit Verweis auf die Nationalen Fachprogramme zum Erhalt der biologischen Vielfalt. Diese setzen die internationalen Vorgaben der Convention on Biological Diversity (CBD) auf natio7 Ebd., S. 25. Die Aussage von Sommer ist auf Bayern bezogen, allerdings nicht restriktiv.

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naler Ebene um und betreffen an sich den Bereich des Naturschutzes (s. Frese, in diesem Buch) – ein Ziel, das bei den agrarischen Pflanzen-Genbanken, die ebenfalls der CBD folgen, gerade nicht im Vordergrund steht. Diese verfolgen das Ziel der Ernährungssicherheit, das der Landwirtschaft entstammt. Weitere Spannungen deuten sich an, wobei v. a. die Ebene der Mittel und Zwecke sowie die teilweise Transformation des Ziels Naturschutz in das des Biodiversitätsschutzes zu berücksichtigen sind.

2. Botanische Gärten als Genbanken? Ein Botanischer Garten ist laut Definition eine „ausgedehnte gärtnerische Anlage, in der fremdländische und einheimische Pflanzenarten nach systematischen, pflanzengeographischen, ökologischen oder weltwirtschaftlichen Gesichtspunkten geordnet gezeigt werden“.8 Er stellt die Spezialform eines Gartens dar, in dem die Aspekte des taxonomisch orientierten Sammelns, botanischen Forschens und der breiten Wissensvermittlung (auch die der ökonomischen Nutzung im Rahmen einer Economic Botany) die der realen Nutzbarmachung der Pflanzen überwiegen. Im Botanischen Garten koexistieren drei unterschiedliche Formen von Pflanzen-Lebendsammlungen: Erhaltungskulturen, Vermehrungskulturen und Schaukulturen. Schaukulturen, explizit für Besucher angelegt,9 wirken primär auf ästhetischer Ebene. Seit dem ausgehenden 19. Jh. bilden Botanische Gärten verstärkt ökologische Biotope wie Trockenwiesen und Bergflora (Alpinum) ab, gepaart mit der Darstellung der physischen Welt „im Kleinen“.10 Sie sind generell Orte der Vermittlung botanischen, geographischen, ökologischen und auch kulturellen Wissens. Diese Schwerpunktsetzungen unterscheiden sie wesentlich von anderen Gartenanlagen. Hinzu kommen persönliche Sammelvorlieben des Personals. So beherbergt der Botanische 8 Vgl. Lexikon der Biologie, 15 Bände, Heidelberg 1999–2004, hier Bd. 3 (2000), Eintrag: „Botanischer Garten“, S. 142. 9 Lauterbach, Daniel; Borgmann, Peter; Daumann, Joachim et al., „Allgemeine Qualitätsstandards für Erhaltungskulturen gefährdeter Wildpflanzen“, in: Gärt­ nerisch-botanischer Brief, 200(3)/2015, S. 16-39, hier S. 18. 10 Vgl. zur Geschichte Klemun, Marianne, Der Botanische Garten, Mainz 2015, online unter: http://ieg-ego.eu/de/threads/crossroads/wissensraeume/marianneklemun-der-botanische-garten.

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Garten Osnabrück etwa eine Schausammlung zur Flora der Schwäbischen Alb, die man in Norddeutschland nicht vermuten würde und die der heutigen Profilbildung des Gartens sogar widerspricht, und auf einen früheren Direktor des Gartens zurückgeht. Da es sich als unmöglich erwiesen hat, komplexe Lebensgemeinschaften ex situ nachzubilden, sind Botanische Gärten zwar Institutionen zur Erhaltung von „Natur“, jedoch kein Ersatz für die In situ-Habitate.11 Seit den 1970er Jahren dient dabei das sogenannte Arche-Paradigma12 als Leitmotiv der Botanischen Gärten, die sich als „Archen auf Zeit“ verstehen:13 Handlungsanleitend ist der Gedanke, bedrohte Pflanzenarten ex situ zu bewahren, während deren Herkunftsgebiete und natürliche Lebensräume durch menschliche Einflüsse verändert, degradiert oder gar zerstört werden. Das langfristige Ziel besteht in der Wiederherstellung des Habitats und Rücksiedlung der Arten, auch an anderer Stelle als am Herkunftsort. Wirft man einen Blick auf die Programme zum Erhalt „pflanzengenetischer Ressourcen“ (PGR),14 so stellt man fest: Die Grenze zwischen den beiden Institutionsformen Genbank und Botanischer Garten verschwimmt seit den 1990er Jahren. Zum einen gelten Botanische Gärten seitdem auch als „Freilandgenbanken“, zum anderen unterhielten 2010 gemäß der Welternährungsorganisation FAO rund 160 Botanische Gärten auf ihrem Gelände „Genbanken“ und In vitro-Sammlungen.15 Laut dem Netzwerk Botanic Gardens Conservation International (BGCI) waren es im Jahr 2014 sogar schon 11 Zippel, Elke; Borgmann, Peter; Burkart, Michael et al., Ex situ trifft In situ – Möglichkeiten und Grenzen der Einlagerung von Saatgut, Erhaltungskulturen und Wiederausbringung von gefährdeten Wildpflanzenarten in Anbetracht des Klimawandels am Beispiel des im Rahmen des Bundesprogramms Biologische Vielfalt geförderten Projektes „Wildpflanzenschutz in Deutschland: WIPs-De“, Karlsruhe 2015, S. 2. 12 Maunder, Mike; Havens, Kayri; Guerrant Jr., Edward O. et al., „Ex Situ Methods: A Vital but Underused Set of Conservation Resources”, in: Guerrant Jr., Edward O.; Havens, Kayri und Mike Maunder (Hg.), Ex Situ Plant Conservation. Sup­ porting Species Survival in the Wild, Washington/DC 2004, S. 3-20, hier S. 8. 13 Vgl. Myers, Norman, The Sinking Ark – A New Look at the Problem of Dis­ appearing Species, Oxford 1979. 14 Bommer, Dieter und Kay Beese, Pflanzengenetische Ressourcen – Ein Konzept zur Erhaltung und Nutzung für die Bundesrepublik Deutschland, Münster-Hil­ trup 1990; Frese, Lothar und Sarah Sensen, „Pflanzengenetische Ressourcen in Deutschland“, in: BLE (Hg.), Agrobiodiversität in Deutschland – Rückblick auf die letzten 20 Jahre, aktueller Stand und Ausblick, Bonn 2012, S. 72-86. 15 FAO (Hg.), The Second Report on the State of the World’s Plant Genetic Re­ sources for Food and Agriculture, Rom 2010, hier S. 85f.

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275 Botanische Gärten in 66 Ländern, die über eine Genbank verfügten.16 Trotzdem bildet dies für Botanische Gärten – noch – die Ausnahme. Dass sich die FAO seit spätestens 1980 für die Nutzbarmachung der Pflanzen in Botanischen Gärten interessierte, ist einem Reisebericht von Lothar Seidewitz, Gartenbauwissenschaftler an der westdeutschen Genbank für Kulturpflanzen BGRC, zu entnehmen. Zur ersten Tagung des „Governing Board“ des europäischen FAO/ UNDP Programmes für die Erhaltung und den Austausch pflanzengenetischer Ressourcen (Genf, 15.-18.12.1980) notiert er: „In Betracht wurde der potentielle Wert des in botanischen Gärten liegenden Materials gezogen, das daher in zukünftigen Aktivitäten stärker berücksichtigt werden sollte.“17 Die Naturschutzbiologen Daniel Schoen und Anthony Brown sehen Botanische Gärten, die mit modernen Samen- bzw. Genbanken ausgestattet sind, als zukünftige Gewinner. In durchaus kritischer Absicht betonen sie, dass es „natürlich“ erscheint, wenn sich Botanische Gärten nun zu Saatgut-Genbanken „erweitern“: „Seed banking can be viewed as a natural extension of the normal activities of botanical gardens. In constructing collections intended largely for display and research, the emphasis typically has been placed on broad taxonomic coverage rather than on assembling collections in which ecotypic variation and population genetic diversity are important criteria.“18 Was hier als „natürliche Erweiterung“ tituliert wird, bedeutet jedoch aus Sicht der Wissenschafts- und Technikforschung Folgendes: Botanische Gärten stehen als Lebendsammlungen unter einem technischen Innovationsdruck, den die Genbanken vorgeben. Dieser stützt sich zum einen auf Rationalisierungszwänge, zum anderen ist er Fortschritten v. a. in der Populationsgenetik (auch in Form der Züchtungsgenetik) und den entsprechenden molekulargenetischen Methoden geschuldet, die sich auch in den Fächern Conservation 16 Sharrock, Suzanne; Oldfield, Sara und Oliver Wilson, Plant Conservation Re­ port 2014: A review of progress in implementation of the Global Strategy for Plant Conservation 2011–2020, (CBD Technical Series, No. 8), Montréal/Cana­ da, Richmond/UK 2014, S. 32. 17 Seidewitz, Lothar, „Bericht über eine Dienstreise nach Genf in der Zeit vom 15. bis 18.12.1980“, Typoskript, S. 5 (zu TOP 7); enth. in Akte „Beratender Aus­ schuss Genbank“, Handakten Lothar Frese. 18 Schoen, Daniel J. und Anthony H. D. Brown, „The Conservation of Wild Plant Species in Seed Banks“, in: BioScience, 51(11)/2009, S. 960-966, hier S. 965.

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Biology und Gartenbauwissenschaft artikulieren, wenngleich sie dort als Konzepte mit anderen Zwecksetzungen verbunden sind. Dass es nun nicht mehr um die klassische genetische Vorstellung von einer biologischen Art, die im Genotyp eines Individuums repräsentiert ist, geht, sondern um die unterschiedlichen Genfrequenzen (Allelfrequenzen) in räumlich getrennten (allopatrischen) und deshalb reproduktiv mehr oder weniger isolierten Populationen (Genpool) über Generationen hinweg, ist etwa im obigen Zitat an Begriffen wie „ökotypische Variation“ (der Spezies) und „genetische Diversität der Population“ abzulesen.19 Sie sind relevant für das selbsterklärte Ziel von Botanischen Gärten, im Zeitenlauf nur eine Interimslösung für bedrohte Pflanzen zu sein und langfristig dem Ziel der Aussiedlung in den natürlichen Lebensraum dienen zu wollen. Sowohl Genbanken als auch Botanische Gärten unterbrechen die Evolution am natürlichen Standort, an dem ‚das Leben weitergeht‘, während im Garten gehortet oder in der Bank gelagert wird. Dabei ist von Bedeutung, dass „die Natur“ selbst durch ihre Evolutionsfaktoren für Diversität und auch für Isolation von dem imaginär nur als einem gedachten natürlichen Standort sorgt.20 Populationen der gleichen Art sind an verschiedenen Orten im Hinblick auf bestimmte Genhäufigkeiten unterschiedlich, umgekehrt kann ein Genpool an einem Ort unterschiedliche Spezies umfassen. Unklar ist bislang, ob die explanatorische Leistung, die die Ausdrücke „Population“, „Spezies“ und „Genpool“ für die Anliegen Botanischer Gärten haben, denjenigen von Genbanken entsprechen. Auch hier muss der Hinweis auf diese Unklarheit genügen. Mit Blick auf das folgende Zitat des langjährigen Leiters der italienischen Kulturpflanzenbank in Bari, Pietro Perrino, wird zumindest deutlich, dass die in Genbanken verwendeten Ausdrücke und Konzepte von der Taxonomie über die Populationsgenetik bis hin zur Züchtungsgenetik reichen:

19 Vgl. auch Hurka, Herbert, „Conservation genetics and the role of botanical gar­ dens“, in: Loeschcke, Volker; Tomiuk, Jürgen und S. K. Jain (Hg.), Conservation Genetics, Basel 1994, S. 371-380. 20 Isolationsmechanismen können u. a. zeitlicher Natur (unterschiedlicher Tages­ zeitpunkt für das Öffnen der Blüte, entsprechend andere Bestäuberinteraktion; unterschiedlicher Jahreszeitpunkt bei der Samenkeimung; sogar unterschiedli­ ches Jahr), mechanischer Natur (unterschiedliche Blütenanatomie), genetischer Natur (unterschiedliche molekulare Erkennungsstruktur der Gameten) und geo­ graphischer Natur (Migration, Fragmentierung) sein.

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„In summary, it is obvious that in the near future the rich gene pools of the wild relatives of wheat will be exploited more aggressively for the improvement of the cultivated wheats. In order to achieve more efficient and comprehensive utilisation of these gene pools more information is needed on the taxonomic, cytogenetic and evolutionary relations among the various wild species, as well as between wild and cultivated forms, on the geographical distribution and ecological specialisation of the different species, on the genetic structure of natural populations and on the evolutionary mechanisms of building up genetic variability.“21 Zum dritten lässt sich eine Erweiterungsstrategie in wertgeladener, spezifisch utilitaristischer Perspektive beobachten, insofern in wichtigen (inter)nationalen Abkommen zum Schutz der Biodiversität wie der CBD mittlerweile alle Pflanzen als „pflanzengenetische Ressourcen“ verstanden werden. Im engsten Sinne bedeutet dies ihre Nutzbarmachung durch Züchtung und andere agrarische wie biotechnische Praxen, im weitesten Sinne handelt es sich um einen Nutzen in ethischer Hinsicht: dass Vielfalt an sich ein Wert ist, dessen Schutz ethisch-moralisch geboten ist.22 Aber welche Vielfalt? Bis vor kurzem galt noch uneingeschränkt, dass Botanische Gärten vorwiegend auf der Ebene der Spezies (Morphospezies) und darüber arbeiteten und entsprechend taxonomische Bestimmungsschlüssel (zumeist in Buchform) nutzten, wohingegen pflanzliche Genbanken zumeist von der Spezies aus „abwärts“ oder „seitwärts“ arbeiteten (d. h. Varietäten und Sorten untersuchten und lagerten). Anders ausgedrückt arbeiteten Botanische Gärten zumeist an der zwischenartlichen Diversität (interspecies diversity), Genbanken hingegen an der innerartlichen Diversität (intraspecies diversity). Mittlerweile sind die Konzepte weniger trennscharf, was auch die Arbeitsweisen einander annähert. Alle größeren Genbanken des

21 Perrino, Pietro, „Collection and use of genetic resources of Triticum “, in: Fritsch, Reinhard und Karl Hammer (Hg.), Evolution und Taxonomie von pflanzenge­ netischen Ressourcen. Festschrift für Peter Hanelt, (Schriften zu genetischen Ressourcen, Bd. 4), Bonn 1996, S. 179-202, hier S. 201, online unter: https:// www.genres.de/fileadmin/SITE_GENRES/downloads/schriftenreihe/Band04_ Gesamt.pdf (letzter Aufruf: 8.1.2018). 22 Vgl. Hetzel, Andreas, „Zur normativen Relevanz von Nichtwissen für eine Ethik der Biodiversität“, in: Peter Wehling (Hg.), Vom Nutzen des Nichtwissens. Interdisziplinäre Perspektiven auf einen Bedeutungswandel von Wissen und Nichtwissen, Bielefeld 2015, S. 247-270. (Vom Autor ist eine Monographie mit dem Titel Vielfalt achten. Ethik der Biodiversität für 2018 angekündigt.)

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Agrarbereichs verfügen über eigene Forschungslabore, Botanische Gärten oft nur insofern, als sie an Universitäten angeschlossen sind (in Deutschland aktuell: 44 von gut 90 Gärten). Nach wie vor ist aber auch die klassische Sicht gültig, dass Botanische Gärten auf ihrem Areal Lebendkulturen in Beeten anlegen, die zur o. g. Wissensvermittlung Repräsentanten größerer taxonomischer und ökologischer Einheiten darstellen. Eine mögliche Hybridisierung der Pflanzen, die bei Genbanken strikt vermieden werden soll, wird hier nolens volens zugelassen. Um allerdings zu wissen, worum es sich bei dem Ausgesäten oder Angepflanzten zu einem bestimmten Zeitpunkt genau handelt, bedarf es molekulargenetischer Analysen. Dies zu wissen, ist nicht zuletzt für Aussiedlungsprojekte wichtig. Primär ist ein Botanischer Garten demnach eine Institution der Bewahrung von Arten, wobei Pflanzen, die hierhin ex situ verlagert werden, einer von ihrem Ursprungsort abweichenden Evolution unterliegen und sich damit im Laufe der Zeit immer mehr von ihren Artgenossen in situ unterscheiden (z. B. durch „genetische Drift“) – was ähnlich auch für Pflanzenarten und -sorten in klassischen Genbanken des Agrarbereichs gilt; die Prozesse laufen dort nur langsamer ab und werden wegen des Fokus auf Genotypen stärker kontrolliert. Der veränderte ‚Evolutionsdruck‘ kann bei späteren Aussiedlungsaktionen zu Komplikationen bis hin zum Scheitern der Ansiedlung führen. Bislang gibt es dafür keine zufriedenstellende Lösung. Konsens ist, dass die Populationsgröße einer Lebendsammlung hinreichend groß sein muss, um die genetische Drift so gering wie möglich zu halten23 – in dieser Hinsicht punkten die Genbanken. In den über 90 deutschen Botanischen Gärten werden derzeit gut 300.000 Akzessionen aus etwa 50.000 Taxa ex situ bewahrt, wovon allerdings nur ein geringer Teil als agrikulturell bedeutend eingestuft wird.24 Dies unterstreicht zunächst die nur ergänzende Rolle der Gärten zu den Sammlungsbeständen in Genbanken. Dank der längeren Existenz der Botanischen Gärten können sich in ihrem Pflanzenbestand aber zahlreiche Arten erhalten haben, die für

23 Ensslin, Andreas; Tschöpe, Okka; Burkart, Michael et al., „Fitness decline and adaptation to novel environments in ex situ plant collections: Current knowledge and future perspectives”, in: Biological Conservation, 192/2015, S. 394-401, hier S. 400. 24 FAO, Second Report, S. 85; vgl. auch Schwarz, Petra und Reinhard Lieberei, Loki Schmidt – Forscherin und Botschafterin für die Natur, Bremen 2009, S. 94.

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heutige Genbanken und auch die Pflanzenzüchtung ökonomisch interessant sind. Ferner weisen Botanische Gärten Profilbildungen auf, die entweder mehr oder weniger Schnittmengen mit agrarischen Zwecken haben. Im Osnabrücker Botanischen Garten mit seinen ca. 8.500 Arten konzentriert man sich bei Sammlung und Erhaltung auf die in Niedersachsen heimischen Gefäßpflanzenarten und Arten der Roten Liste bedrohter Pflanzen.25 Dabei handelt es sich zumeist um Pflanzen mit konventionellen Samen. Eine Ausnahme bildet allerdings die Allium-Sammlung, die im Garten als Lebendkultur (in Form von Stauden) erhalten wird; anders als die ebenfalls existierende Allium-Sammlung in der Genbank am IPK Gatersleben, wo die Gewebe der Zwiebeln mit hochmoderner Kryotechnologie in Flüssigstickstoff langzeiterhalten werden (s. Graner, in diesem Buch).26 Generell sind zahlreiche Vertreter der Gattung Allium nicht mehr über Samen zu vermehren, da im Zuge der Domestikation die Pflanzen ihre Fähigkeit zur Samenbildung verloren haben und sich über ihre Zwiebeln vegetativ fortpflanzen. Eine Möglichkeit der Erhaltung ist deshalb über kryokonserviertes Gewebe in der Genbank, eine andere die der Erhaltung der Zwiebeln im Botanischen Garten. Die Osnabrücker Allium-Sammlung umfasst insgesamt 240 Arten mit mehr als 1.000 Akzessionen, gesammelt in zahlreichen Ländern. Ein Grund für ihre Anlage ist der taxonomische Forschungsbedarf (den allerdings auch die Gaterslebener für ihre Sammlung geltend machen).27 Die Lauchgewächse, zu denen auch bedeutende Nutzpflanzen wie Knoblauch und Bärlauch gehören, sind ein Beispiel für die Problematik, dass Botanische Gärten und agrarische Genbanken wie die des IPK weder bezüglich ihrer Sammlungsobjekte noch anhand des Differenzkriteriums Nutzpflanze/Wildpflanze hinreichend voneinander unterschieden werden können, wohl aber anhand ihrer Erhaltungstechniken. 25 Borgmann et al., Loki Schmidt-Genbank, S. 89. 26 Interview N. Friesen, 7.6.2016. In der schriftl. Mitt. vom 14.3.2017 ergänzte Herr Friesen, dass er bereits seit 1979 an der Gattung Allium arbeite. Er war früher am IPK Gatersleben beschäftigt. Zur dortigen Lauchsammlung s. Graner, in diesem Buch. 27 Ein Objekttransfer der Osnabrücker Laucharten nach Gatersleben fand bislang nicht statt, da das IPK und ihre personell schmal ausgestattete Kryokonservie­ rungsabteilung bislang vollauf damit beschäftigt ist, die kryotechnische Einlage­ rung der eigenen Muster zu gewährleisten (Mündl. Mitt. E. R. Joachim Keller, IPK Gatersleben, 31.3.2017).

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Wie schon an obiger Definition des Botanischen Gartens zu sehen ist, sorgt das wichtigste Kriterium für pflanzliche Genbanken, sich auf die Vielfalt von explizit Nutz- und Kulturpflanzen zu konzentrieren, kaum für Differenz. Es gibt ein züchterisches und ein biologisches Kontinuum sowohl zwischen Wildpflanzen und Kultur-/Nutzpflanzen als auch zwischen Zier- und Nutzpflanzen. Die Deutsche Genbank Zierpflanzen,28 ein 2009 gegründetes Netzwerk ähnlich der Deutschen Genbank Obst (s. Flachowsky und Höfer, in diesem Buch), das vom Bundessortenamt koordiniert wird, arbeitet eng mit den Botanischen Gärten (Sammlung vegetativ vermehrter Zierpflanzen) sowie mit den agrarisch geprägten Genbanken (Sammlung samenbildender Zierpflanzen) zusammen. Eine Objektbezogenheit der Institution, die sich auf klar unterscheidbare Nutzungsformen des Objekts Pflanze stützen würde, führt demnach ins Leere. Botanische Gärten haben auch Nützliches gesammelt (insbesondere in Kriegszeiten), Genbanken auch Ästhetisches bzw. vormalige Zierpflanzen, die zu Nutzpflanzen geworden sind (z. B. Tomate, Kartoffel und Kürbis). Entsprechend verhandelt die Food and Agriculture Organization der Vereinten Nationen (FAO) die weltweit rund 1.750 Genbanken, die „plant genetic resources for food and agriculture“ (PGRFA) sammeln, zusammen mit den 2.500 Botanischen Gärten.29 In diesen werden mehr als 80.000 Pflanzenarten, d. h. gut ein Viertel aller bekannten Spezies höherer Pflanzen, ex situ erhalten. Für die Abgrenzungsfrage ist aber auch die Leserichtung wichtig. Schoen und Brown denken, wie gesehen, die Saatgutbank als Erweiterung vom Botanischen Garten aus;30 aber auch die umgekehrte Lesart ist möglich und wird etwa von der FAO und den Nationalen Fachprogrammen praktiziert: die Ausweitung der Ressourcenperspektive von Genbanken auf Botanische Gärten. Damit geht eine dramatische Enthistorisierung einher. Wenn Botanische Gärten jüngst als „Freilandgenbanken“ firmieren, wird die historische Genealo28 Vgl. Webseite der Deutschen Genbank Zierpflanzen, online unter https://www. genres.de/kultur-und-wildpflanzen/erhaltung/deutsche-genbank-zierpflanzen/ (letzter Aufruf: 20.12.2017). 29 FAO, Second Report. Laut Cibrian-Jaramillo et al., 2013, sollen es schon mehr als 3.000 sein; allerdings sind hier die Arboreten mitgezählt. Vgl. Cibrian-Jaramillo, Angelica; Hird, Abby; Oleas, Nora et al., „What is the Conservation Value of a Plant in a Botanic Garden? Using Indicators to Improve Management of Ex Situ Collections”, in: The Botanical Review, 79(4)/2013, S. 559-577, hier S. 560. 30 Vgl. Schoen und Brown, Wild Plant Species.

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gie quasi umgedreht, da viele Genbanken zu Beginn des 20. Jh.s als Samenbanken aus Botanischen Gärten entstanden, zuvorderst das russische Vavilov-Institut (VIR, angesiedelt am Botanischen Garten in St. Petersburg), in jüngster Zeit auch die Millennium Seed Bank von Kew Gardens. Dabei handelt es sich um zwei der größten pflanzlichen Genbanken weltweit. Aus Kapazitätsgründen können in Botanischen Gärten von jeder Art nur wenige Akzessionen gelagert werden.31 Ein weiteres Abgrenzungskriterium zwischen Genbank und Botanischem Garten wäre somit die Quantität der Objekte, denn pflanzliche Genbanken des Agrarbereichs lagern arten- und sortenspezifische Samen in jeweils großen Mengen. Dabei steht der Aspekt der Bereitstellung für Dritte (auch Privatpersonen) und züchterischen Nutzung im Vordergrund (s. Graner, in diesem Buch), was ein drittes mögliches Differenzkriterium zum Botanischen Garten wäre. In der Genbank werden die gezüchtete „Sorte“ und damit auch eine enge Verbindung zum Bundessortenamt relevant, was hingegen bei den Sammlungszielen der Botanischen Gärten nicht im Fokus steht. Dort konzentriert man sich auf die Art und ggf. ihre Unterarten, so wie sie ‚in der Natur‘ vorkommen. Bis auf weiteres soll die Hypothese zugrunde gelegt werden, dass Botanische Gärten grosso modo das „Wilde“ sammeln, um es wieder ‚auszuwildern‘ (ein Terminus aus dem Naturschutz für Wildtiere), wohingegen Saatgut-Genbanken das „Kultivierte“ sammeln, um es in irgend­ einer Form weiter kultivieren zu können. Um die Differenzen genauer zu analysieren, werden nachfolgend zwei weitere konzeptionelle Kandidaten für spezifische Differenzen von Botanischen Gärten gegenüber Genbanken untersucht: die Konzipierung von „Wildpflanze“ und die technischen Methoden der Konservierung, beispielhaft die Form der Samenlagerung in Konservendosen an der Loki Schmidt-Genbank. Es sind also insgesamt mindestens sechs Kriterien zu betrachten: a) Räumliche Trennung Botanische Gärten – Genbanken (aufgehoben im Konzept „Freilandgenbank“), b) Objektbezug und Zielsetzungen der Lebendsammlung, 31 FAO, Second Report, S. 85. Vgl. zum Aspekt der zunehmenden internationalen Vernetzung Botanischer Gärten um diesem Problem zu begegnen, die Webseite Botanic Gardens Conservation International (BGCI), online unter: https://www. bgci.org/worldwide/about/ (letzter Aufruf: 20.12.2017).

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c) Quantitäten der Samen/reproduktionsfähigen Einheiten in Akzessionen, d) Konzeptualisierung des Verhältnisses Wildpflanze/Kulturpflanze, e) Technische Methoden der Konservierung und Lagerung, f) Wissenschaftlich-technische Methoden zur Erschließung und Nutzbarmachung der Sammlung (z. B. Molekulargenetik, Digitalisierung). Die Vielzahl der technischen Methoden der Konservierung (vgl. die anderen Beiträge in diesem Buch) und damit Unterpunkt e) wird hier bezüglich nur eines Aspekts geschildert, der historisch aus der Objektgeschichte erklärbar ist: die metallene Konservendose, in der die ursprünglich von Loki Schmidt gesammelten Samen in Osnabrück buchstäblich konserviert sind.

3. „Wildpflanzen“? Biodiversitäts- und Naturschutz durch ex situ-conservation Seit langem reklamieren Botanische Gärten für sich den Begriff des Naturschutzes, in jüngerer Zeit auch den des Biodiversitätsschutzes. Dies ist insofern gerechtfertigt, als sie auf genetischer Ebene nicht so ‚engmaschig‘ sammeln wie Genbanken, da ihre Sammlungsziele nicht züchterisch motiviert sind. Botanische Gärten sammeln taxonomisch und auch ökologisch repräsentative Arten und Gattungen, d. h. sie denken bei Biodiversität auch an die Vielfalt der Ökosysteme. Der Ausdruck „Biodiversität“ ist in Deutschland erst seit 1992 allgemein gebräuchlich, d. h. seit der CBD.32 „Biodiversität“ oder „Biologische Vielfalt“ ist eine Sammelbezeichnung für alle Lebensformen und Habitate oder Ökosysteme der Erde. Es gibt drei Ebenen der Verwendung, nämlich „die Vielfalt der Ökosysteme (dazu gehören Lebensgemeinschaften, Lebensräume und Landschaften), die Artenvielfalt und drittens die genetische Vielfalt innerhalb der Arten“.33 Somit überschneiden sich inhaltlich die Aufgabenbereiche 32 Kritisch siehe Potthast, Thomas [Bearb.], Biodiversität – Schlüsselbegriff des Naturschutzes im 21. Jahrhundert? (Naturschutz und Biologische Vielfalt, Bd. 48), Bonn-Bad Godesberg 2007, jüngst: Hetzel, Ethik der Biodiversität. 33 Vgl. Webseite des Bundesamtes für Naturschutz (BfN), online unter: https:// www.bfn.de/0304_biodiv.html (letzter Aufruf: 3.4.2017; mittlerweile veraltet).

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der Botanischen Gärten, der Genbanken und des Naturschutzes. Allerdings hat der Naturschutz bislang kein explizites Verhältnis zu Sammlungen (außer pädagogisch, etwa in Kooperation mit naturkundlichen Museen, d. h. Totsammlungen), insofern es Hauptaufgabe des Naturschutzes bleibt, Biotope, Landschaften etc. möglichst ohne die konzeptionellen Grenzen eines Gartens oder gar einer Bank als Rückzugsreservate zu erhalten. Eben jenes Ziel haben klassische Genbanken nicht. Beide können sich auf die CBD berufen, insofern dort kein normativer Unterschied zwischen natürlicher und kultürlicher (anthropogener) Biodiversität gemacht wird. Pointiert formuliert: Botanische Gärten sammeln ‚natürliche‘ Pflanzen, Genbanken sammeln Gene von ‚kultürlichen Pflanzen‘ (Biofakten) und tun dies quasi in natürlich abgepackten Formen: den Samen. Der gemeinsame technische Begriff, der Genbanken und Botanische Gärten beschirmt, ist plant ex situ-conservation. Damit ist der Erhalt von Pflanzen außerhalb ihrer natürlichen Lebensräume gemeint. Vor allem im Genbanking-Bereich wird dabei der Begriff „Pflanzen“, wie oben angesprochen, auf „pflanzengenetische Ressourcen“ (PGR) verkürzt. Genau genommen ist damit ein konzeptueller Widerspruch angelegt, denn in natürlichen Lebensräumen sind Pflanzen keine Ressourcen (insofern dieser Begriff anthropomorph eine spezifisch menschliche Nutzungsmöglichkeit beschreibt). Um diesen Widerspruch aufzulösen, gibt es von Seiten des internationalen Genbankings Versuche, Naturschutzreservate und damit Rückzugsgebiete in „genetic reservoirs“ und somit Reservate in Reserven (ohne limitierende Grenzen) umzudeuten (s. Frese, in diesem Buch). Damit wird zum Teil die Ambivalenz zwischen Nutzen und Bewahren erklärbar, die in den Praxen der pflanzlichen Lebendsammlungen generell anzutreffen ist. Der Ausdruck „natürlicher Lebensraum“ ist ähnlich unscharf wie die Bezeichnung „Wildpflanze“. „Natürlicher Lebensraum“ (der nicht das originäre Herkunftsgebiet der Pflanze meint) oder gar „Wildnis“ im Sinne eines vom Menschen unbeeinflussten Biotops ist im seit Jahrtausenden agrikulturell und siedlungsgeografisch erschlossenen Deutschland kaum mehr vorhanden.34 Dennoch lebt eine Pflanze im Beet eines Botanischen Gartens, eingebunden in den 34 Kirchhoff, Thomas und Vera Vicenzotti, „A Historical and Systematic Survey of European Perceptions of Wilderness“, in: Environmental Values, 23(4)/2014, S. 443-464. Auf die unterschiedlichen Verwendungen des Wildnisbegriffs kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.

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Boden und den Wechsel der Jahreszeiten, unzweifelhaft ‚natürlicher‘ als ihre in Konservendosen oder Einweckgläsern eingelagerten Samen in den Kühlkammern einer Genbank. Semantisch bedeutet eine in einem Botanischen Garten und damit ex situ lebende Pflanze dem Betrachter, dass es „da draußen“ einen vergleichsweise natürlichen Ort gibt, den es zu schützen gilt, damit die Pflanze an diesem Ort „im Werden“ bleibt. Ob dieser Ort als „Natur“ oder „Wildnis“ oder „Kulturlandschaft“ imaginiert wird, ist dabei zweitrangig. Dieser Ort – und nicht die Genbank (s. Abschn. 2) – dient in Form des Konzepts in situ als Erweiterung des Botanischen Gartens, gleichsam ‚zurück‘ ins primär oder sekundär Natürliche und nicht, wie bei Genbanken, als Gegenpol im Sinne eines unkontrollierbaren oder untechnisierten Bereichs. Bezogen auf die Dimension Zeit handelt es sich im ersten Fall um eine Resynchronisierung mit der Natur, im zweiten Fall um eine Diachronisierung. Diese sehr verschiedenen Interpretationen des Verhältnisses von In situ- und Ex situ-„Bewahrung“ bilden eine theoretische wie praktische Grenze der Vereinheitlichung von Botanischen Gärten und Genbanken. In den rechtlichen Regularien zur Bewahrung der Pflanzenvielfalt überwiegt die globale Verwendung des Ausdrucks „Wildpflanze“ (wild plant), manchmal auch „einheimische Pflanze“ (native plant) für eine im ‚heimischen‘ Gebiet vorkommende Art (einschränkender wäre: endemische Art); allerdings in letzter Zeit meist zusammen mit der Forderung, sie aus Nützlichkeitsgründen zu bewahren. „Wild“ scheint also vordringlich „ungenutzt“ zu meinen. Eine Vermittlungsfunktion leistet hier der Hinweis auf den Begriff des kulturellen Erbes (cultural heritage plants), der sowohl Natürliches (‚Wildes‘) wie Kultürliches (Gezüchtetes, Beackertes, Gepflegtes) bezeichnet, insofern er sich auf kulturelle Praxen bezieht, die auch im Umgang mit dem Wilden eine Rolle spielen. „Wildheit“ ist wiederum nicht identisch mit „undomestiziert“ zu setzen, da z. B. eine Wildpflanze einmal domestiziert gewesen sein kann und erst sekundär wieder verwildert ist – z. B., weil sie vor zweihundert Jahren aus einem Botanischen Garten ‚ausgebrochen‘ ist. Ferner kann „Wildpflanze“ auch „wild geerntet“, d. h. eine Ernte ohne Anbaufläche und ohne Kultivierungsabsicht meinen, vorrangig im Bereich von Heilpflanzen. Zur Begriffsverwirrung hinzu kommt der politische und naturwissenschaftliche Primat der Erhaltung der Agrobiodiversität von Kulturpflanzen in den Zentren ihrer Entstehung (genetische Zentren bzw. Vavilov-Zentren). Diese liegen vorwiegend in Entwicklungs-

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und Schwellenländern, z. B. für die Kartoffel in Peru, für Mais in Mexiko. „Biodiversität“ meint hier die Anfänge von Züchtung und Varietätenvielfalt („Sortenvielfalt“) durch die Handlungen unserer Vorfahren, basierend auf natürlichen Ursprüngen der jeweiligen Pflanze. Dabei wird heute eine weitere Interpretation von „wild“ bemüht, nämlich der unbekannte Umfang des Genpools einer Kulturpflanze (d. h. bezogen auf die Populationen). Sprachpraxen der Agrarwissenschaft mischen sich hier mit denen der Biologie in all ihrer Verschiedenheit. Genetisch, nicht taxonomisch gedacht, handelt es sich beim Umfang meist um die Gattungsgrenze,35 d. h. eine reale oder imaginäre Kreuzungsbarriere, die heute mittels gentechnischer Methoden erweitert werden kann. Ein Gentransfer von einer Wildpflanze in eine Kulturpflanze ist technisch machbar, selbst wenn er von Natur aus nicht geschehen würde, weil er z. B. aus Gründen reproduktiver Isolation gar nicht erfolgen kann. Vor diesem Hintergrund wird das Konzept „crop wild relatives“ (CWR) bedeutsam, das prinzipiell an den Sammlungszielen von agrarischen Genbanken und nicht an denen von Botanischen Gärten ausgerichtet ist.36 Fokussiert auf den Genpool sammeln Genbanken also auch Wildpflanzen, und zwar die wildlebenden Verwandten der Kulturpflanzen bzw. sogenannte „alte Landsorten“ von indigenen Völkern. Denn diese bergen z. B. wichtige Resistenzgene für die Züchtung, die den heute dominierenden Hochzuchtsorten von Weizen, Gerste etc. verloren gegangen sind. Man kann entsprechende Sammlungsaktivitäten als Rehistorisierungsstrategien verstehen. Der Verlust an Genen wird als „Generosion“ bezeichnet und mittlerweile durch vergleichende Sequenzanalysen zwischen Wild- und Kulturpflanzen quantitativ bestimmt (s. Graner, in diesem Buch). Er ist bei den Kulturpflanzen unterschiedlich hoch, z. B. deutlich höher bei den Getreiden, weitaus niedriger bei der Kulturkartoffel, was auch unterschiedliche Prioritäten für Erhaltungsstrategien bedeutet (vgl. dazu die Schlusspassage im Beitrag von Schumacher in diesem Buch). Ziel ist es demnach für Genbanken, frühere Träger der entsprechenden relevanten Gene wiederzufinden und zu sam-

35 Maxted, Nigel; Ford-Lloyd, Brian V.; Jury, Stephen et al., „Towards a definition of a crop wild relative“, in: Biodiversity & Conservation, 15(8)/2006, S. 2673-2685. 36 Aber die CWR haben für Botanische Gärten steigende Bedeutung. Vgl. dazu die BGCI-Webseite, online unter https://www.bgci.org/resources/article/0492/ (letzter Aufruf: 20.12.2017): „Many botanic gardens are playing an active role in both the in situ and ex situ conservation of crop wild relatives.“

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meln. Anstatt nun in „der Wildnis“ oder bei indigenen Völkern zu suchen, wird häufig der nächstliegende Weg gewählt: in den Botanischen Garten. Denn da diese meist wesentlich älter als Genbanken sind und ihre Objekte sich Sammlungsreisen in alle Welt verdanken, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, ein Objekt zu finden, das in einem eher niedrigen Züchtungsstatus verblieben ist und gewünschte Gene noch enthält. Die FAO konstatiert entsprechend mit Blick auf die Genbanken, dass es dort zwar beträchtliche Bestände von „several major crops, such as wheat and rice“ gebe, jedoch „for many other crops, especially many neglected and underutilized species and CWR, comprehensive collections still do not exist“.37 Im Nationalen Fachprogramm heißt es wiederum bezüglich der „Wildpflanzen“: „Eine auch nur annähernd vollständige Erhaltung der genetischen Vielfalt von Wildpflanzen ist ex situ aus Kapazitätsgründen nicht zu erreichen“.38 Gerade der für Aussiedlungsprojekte wichtige Punkt, die genetische Vielfalt innerhalb der jeweiligen Art zu bewahren, verbindet die Botanischen Gärten theoretisch und zunehmend auch praktisch eng mit den Genbanken und ihrem landwirtschaftlichen Normenhintergrund. Dies geschieht über den erwähnten Mittelbegriff des „crop wild relative“ (deutsch auch: „Wildpflanze für Ernährung und Landwirtschaft“ (WEL) – s. Abschn. 4.4), der vor dem klassischen Normenhintergrund der Botanischen Gärten lediglich eine Wildpflanze neben anderen war. Als Differenz lässt sich festhalten, dass Botanische Gärten Biodiversität schützen wollen, pflanzliche Genbanken jedoch exklusiv Agrobiodiversität. An dieser Stelle ist eine weitere Einschränkung vorzunehmen, die zu Anfang dieses Beitrags bereits angedeutet wurde. Denn wegen der Konzentration auf den Wert der Ernährungssicherheit interessieren sich pflanzliche Genbanken bevorzugt für die kultivierbaren Pflanzen auf dem Acker, nicht für die sogenannte Segetalflora neben dem Acker. Der Schutz dieser Pflanzen in situ (Saum-Biotope) findet seit längerem mittels Ackerrandstreifen-Programmen oder auch auf Schutzäckern statt. Beispielhaft sei das von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) initiierte Programm „100

37 FAO, Second Report, S. 88. 38 BMVEL (Hg.), Nationales Fachprogramm zur Erhaltung und nachhaltigen Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen landwirtschaftlicher und gartenbau­ licher Kulturpflanzen, Bonn 2002, S. 2.

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Äcker für die Vielfalt“ genannt.39 Mit dem Konzept „Schutzacker“ wäre auch die Grenze zwischen Acker und Garten, die noch dazu beide im Begriff „Freilandgenbank“ vereint werden können, diffus geworden. An diesem Punkt setzten die Genbank-Bemühungen von Loki Schmidt um 1980 an und damit zu der Zeit, als auch die ersten Ackerrandstreifenprogramme40 geplant wurden, die mittlerweile stark rückläufig sind.

4. Die Loki Schmidt-Genbank für Wildpflanzen und ihre Vorgeschichte Historisch wie systematisch interessant für das Verständnis der Annäherung von Genbank und Botanischem Garten ist die Interaktion der Botanikerin Hannelore „Loki“ Schmidt (1919–2010) mit der westdeutschen Genbank für Kulturpflanzen Braunschweig Genetic Resources Collection (BGRC), dem ersten Lagerungsort ihrer Wildpflanzen-Sammlung. Erst zwei Jahrzehnte später wurden die Samen an den Botanischen Garten nach Osnabrück verlagert, wo sich die Saatgut- bzw. Genbank seitdem deutlich erweitert hat. Schmidt verband die Wildpflanzenthematik, den Schutz von Biodiversität und die Schnittstelle der Botanischen Gärten bereits frühzeitig mit der Idee einer Genbank. Die Widerstände, die ihr dabei entgegentraten, können als systematisch gelten, da sie zum überwiegenden Teil auch heute noch bestehen. 4.1 Vorgeschichte: Loki Schmidts Sammlung als Teilsammlung der Braunschweig Genetic Resources Collection (BGRC) Loki Schmidt gab 1980 als Vorsitzende der Stiftung zum Schutze gefährdeter Pflanzen den Anstoß, eine Genbank für heimische Wildpflanzen zu schaffen. Zu jener Zeit wurden sie oft noch ein39 Meyer, Stefan; Hilbig, Werner; Steffen, Kristina et al. (Hg.), Ackerwildkraut­ schutz – Eine Bibliographie (BfN-Skripten 351), Bonn-Bad Godesberg 2013, S. 33f. Unter „Schutzäckern“ versteht man eine Fläche mit botanisch heraus­ ragendem Arteninventar, das durch vertragliche Vereinbarungen und rechtliche Genehmigungen langfristig geschützt wird. 40 Vgl. Schumacher, Wolfgang, „Schutz und Erhaltung gefährdeter Ackerwild­ kräuter durch Integration von landwirtschaftlicher Nutzung und Naturschutz“, in: Natur und Landschaft, 55(12)/1980, S. 447-453.

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seitig als „Unkräuter“ und Wachstumskonkurrenten der Nutzpflanzen betrachtet.41 Schmidts Vorstoß war eine technikaffine Erweiterung der klassischen Naturschutzziele ihres 1976 etablierten „Kuratorium[s] zum Schutz gefährdeter Pflanzen“,42 heute kurz „Loki-Schmidt-Stiftung“ genannt.43 Schmidt betrat gleich in doppelter Hinsicht neues Terrain, als sie zum einen den Schutz der sogenannten Ackerwildpflanzen aufgriff und zum anderen schon Ende der 1970er Jahre „die Lagerung von Samen gefährdeter Wildpflanzen […] als Notmaßnahme über den erforderlichen Lebensraumschutz hinaus“44 plante, und zwar mit Hilfe einer Genbank. „Für Loki schien dies eine rationale Konsequenz aus dem bedauernswerten, aber definitiv nicht aufzuhaltenden Aussterben vieler Wildpflanzenarten zu sein“.45 Die westdeutsche Genbank für Kulturpflanzen Braunschweig Genetic Resources Collection (BGRC) bot damals den einzig möglichen Ort dafür. Als nationale Genbank der BRD war sie 1970 am Institut für Pflanzenbau und Pflanzenzüchtung der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft (FAL) in Braunschweig-Völkenrode (heute Thünen-Institut, TI) gegründet worden. Sie bestand dort praktisch bis zur Fusion ihrer 50.000 Akzessionen umfassenden Sammlung mit der Genbank am nachmaligen Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) Gatersleben – der „Schwesterinstitution“ in der DDR – im Jahr 2003.46 Die einstigen Gründer der BGRC, die Gartenbauwissenschaftler und Pflanzengenetiker Hermann Kuckuck (1903–1992) und Dieter Bommer (1923–2010), konzipierten die BGRC im Schulterschluss mit der FAO als Teil eines „Weltnetzwerkes“ von Genbanken. So wollten sie der Generosion von Nutzpflanzensorten entgegenwirken, pflanzengenetische Ressourcen erhalten und die Ernährung der 41 Vgl. Lexikon der Biologie, hier Bd. 14, 2004, Eintrag: „Unkräuter“, S. 119ff. 42 Die drei klassischen Ziele waren: 1) Information der Bevölkerung, 2) Bestands­ aufnahme aller in Deutschland wachsenden Pflanzen und ihrer Standorte sowie 3) Aufkauf von Grundstücken zum Habitatschutz. 43 Lehberger, Reiner, Loki Schmidt. Die Biographie, Berlin 2015, S. 344. 44 Vgl. Ministerielle Notiz im BML, Bonn, Referat 623, Regierungsdirektor Dr. Emonds, 16.12.1980. Enth. in: Akte „Stiftung zum Schutz gefährdeter Pflanzen“, Handakten Frese (nachf. Akte Stiftung). 45 Lehberger, Loki Schmidt, S. 346. 46 Vgl. zur Historie mit weiteren Quellenangaben Karafyllis, Nicole C. und Uwe Lammers, „Big Data in kleinen Dosen. Die westdeutsche Genbank für Kultur­ pflanzen ‚Braunschweig Genetic Resources Collection‘ (1970–2006) und ihre Biofakte“, in: Technikgeschichte, 84(2)/2017, S. 163-200.

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Menschheit sicherstellen.47 Auch galt es, die in jahrtausendelanger Züchtungsgeschichte entstandenen Nutzpflanzen als „kulturelles Erbe der Menschheit“ zu bewahren. Die Ziele waren global angelegt. In erster Linie war die BGRC freilich als nationale Genbank konzipiert und damit – analog zu Genbanken anderer Länder – durch Interessen z. B. der einheimischen Landwirtschaft und Züchtungsbetriebe geleitet, auch was ihre Vernetzung mit dem Ausland betraf. Der Sammlungsfokus der BGRC richtete sich auf Kulturund Nutzpflanzen, darunter primär Getreide und Kartoffeln. Aus genetischen Gründen wurden auch deren wilde Verwandte (CWR) in der BGRC mitgesammelt. Bei Getreide bedeutete dies, dass bestimmte Gräser gesammelt wurden, die heute als „Ungras“ oder als Wildpflanze bezeichnet werden. In dieser Hinsicht gab es also im Objektbezug eine konzeptuelle Schnittmenge mit der Sammlung von Wildpflanzen, wie sie Schmidt vorschwebte. Wichtig war ihr aber in erster Linie die kühltechnische Ausstattung an der FAL, um die Samen möglichst lange keimfähig zu erhalten. Mit Befürwortung von Landwirtschaftsminister Josef Ertl (FDP) trug Schmidt am 27. November 1980 dem damaligen Genbankleiter Manfred Dambroth (1935–1994) bei einem Besuch der FAL ihr Anliegen vor.48 Das Gespräch verlief positiv, Dambroth sagte die Einlagerung und EDV-Dokumentation der Wildpflanzensamen zu.49 Dambroth schloss aber kategorisch die Vermehrung vor Ort aus, weniger aus Kostengründen als vielmehr aus wissenschaftlichen und technischen Erwägungen wie den unbekannten Parametern der Keimung, Reifung und Vermehrung etc. von Wildpflanzen. Schmidt war diese Problematik durchaus bekannt. In einem Brief vom März 1981 an Dambroth spricht sie von eher negativen „Erfahrungen von 47 Bommer, Dieter, „Entwicklung und Bedeutung von Genbanken in der Welt und in der Bundesrepublik Deutschland“, in: Saatgutwirtschaft – SAFA, 24 (15/16)/1972, S. 391-394; Frese, Lothar, „Sammlung und Erhaltung der bio­ logischen Vielfalt“, in Röbbelen, Gerhard (Hg.), Die Entwicklung der Pflanzen­ züchtung in Deutschland (1908–2008). 100 Jahre GFP e.V. – eine Dokumenta­ tion, Göttingen 2008, S. 510-517. 48 Vgl. Notiz im BML, Bonn, Referat 623, Regierungsdirektor Dr. Emonds, 16.12. 1980. Enth. in: Akte Stiftung. 49 Letzteres sollte der IT-Experte Lothar Seidewitz übernehmen, der ein elektroni­ sches Dokumentationssystem für die BGRC und andere Genbanken entwickelt hatte; vgl. Karafyllis, Nicole C., „Vom Biofakt zum Cyberfakt. Die Samenbank als digitales ‚Weltnetzwerk pflanzengenetischer Ressourcen‘“, in Gill, Bernhard und Karin Zachmann (Hg.), Mit Biofakten leben. Sprache und Materialität von Pflanzen und Lebensmitteln, Baden-Baden 2018 (im Druck).

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Kew Gardens in Wakehurst“, die bereits publiziert seien und „ähnlichen Vorhaben zunächst hinderlich im Wege stehen“ könnten.50 Bei ihren Wildpflanzen handelte es sich um nur wenige hundert Muster sehr heterogener Pflanzenarten, die sie selbst gesammelt und zwischenzeitlich z. T. an Botanische Gärten abgegeben hatte.51 Das heißt, die Samen sollten aus den Botanischen Garten nun in eine Genbank überführt werden (und sie wurden dann 2003, allerdings eingedost, wiederum in einen Botanischen Garten, nämlich den von Osnabrück, weitertransferiert). Laut Abgabeliste52 waren unter den Samen sowohl CWR wie etwa das Gras Alopecurus bulbosus (Knolliger Fuchsschwanz) als auch Ackerwildkräuter, die keine Verwandtschaft mit Kulturpflanzen haben (z. B. Agrostemma githago, die Kornrade, eine heute hochgradig gefährdete Wildpflanze). Dazu gehörten auch die zur Bergflora zählende Arnica montana, die heute zu den sogenannten „Verantwortungsarten“ im Rahmen des Osnabrücker Projekts WIPs-de gerechnet wird (s. Abschn. 4.4), Digitalis grandiflora (Großblütiger Fingerhut) und mehrere Orchideenarten. Offenkundig hatte Schmidt selbst ein sehr breites Konzept von „Wildpflanze“, das durch die Idee der akuten oder potenziellen Gefährdung angeleitet schien (ähnlich wie bei den Arten der Roten Liste, die für Blütenpflanzen in Deutschland erstmals 1974 vorgelegt worden war). „Wild“ bedeutete für sie: „undomestiziert“ und „im natürlichen Lebensraum gefährdet“. Dass der Ackerrandstreifen nicht als natürlich im Sinne von „ursprünglich“ zu bewerten ist, sondern sich selbst einer Kultivierung verdankt, war dabei in etwa so unwichtig, wie wenn in Deutschland der Schutz des Waldes gefordert wird, obwohl es sich dort größtenteils um Forst handelt. Hingegen bedeutete „wild“ für Genbankleiter Dambroth und seinen Kollegen Walter Hondelmann (1928–2015) in erster Linie „keimphysiologisch unbekannt“ und „unkontrollierbar“, bezogen auf die technischen Verfahren einer Genbank. Gerade physiologisch gebe es Schwierigkeiten: „Das Problem ist, dass Wildpflanzen, ob bedroht oder nicht, keine ‚charakteristischen‘ Keimungsmerkmale besitzen wie die Kulturpflanzen. Tatsächlich zeigen viele Arten ex­

50 Zitat aus Brief Loki Schmidt an Manfred Dambroth, 27.3.1981. Enth. in: Akte Stiftung. 51 „Mit Samen und Pflanzen, die ich von Reisen, besonders auch von späteren For­ schungsreisen mitbrachte, habe ich mich dann aber langsam in die Botanischen Gärten hineingemogelt […].“ (Schwarz und Lieberei, Forscherin, S. 84). 52 Vgl. Abgabeliste in der Akte Stiftung, datiert auf den 12.6.2003.

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treme Plastizität in ihren Keimungsreaktionen, was sich jedoch von Population zu Population und von Jahr zu Jahr ändert.“53 Auch die speziellen Kultivierungstechniken bei der Verjüngung hinterließen in Braunschweig Fragezeichen. Schmidt sah darum vor, die über die Jahre notwendig anstehende Verjüngung praktisch (wieder) mit Hilfe von Botanischen Gärten zu lösen,54 wozu es allerdings nie kam. Die Gründe dafür sind unklar. Neben Kultur- nun auch von diesen phylogenetisch entfernte Wildpflanzen in die Langzeitlagerung zu nehmen, stellte die Braunschweiger Genbank vor weitere Herausforderungen. Die gesammelten Orchideen etwa bedurften spezieller Erde und symbiontischer Pilze, um wieder erfolgreich ausgesät werden zu können, was von der BGRC nicht geleistet werden konnte.55 Auch die PassportDaten der gesammelten Objekte waren nicht vollständig, d. h. nicht ausreichend für die hohen Ansprüche einer Genbank bezüglich Fragen zur Identität eines Objekts (s. Karafyllis, in diesem Buch). Zuvorderst aber gab es eine bürokratische Hürde: Die Braunschweiger Genbank war dem Landwirtschaftsministerium (BML) unterstellt; das Umweltministerium (BMU) wurde erst 1986 gegründet. Das Ziel von Schmidts Projekt bestand hingegen im Naturschutz, genauer in der „Wiederausbringung gefährdeter Arten“ an mit dem ursprünglichen Biotop vergleichbaren Standorten. Dafür hätten in der Genbank genetisch hinreichend variable Populationen 53 Undat. Typoskript „Populationsgenetische Überlegungen bei der Sammlung ge­ fährdeter Wildarten“, Vortrag von W. Hondelmann, gehalten an der FAL am 6.11.1981. Enth. in: Akte Stiftung. Entsprechend heißt es bei Zippel et al., Ein­ lagerung, S. 4: „Da in den wenigsten Fällen populationsgenetische Daten vorlie­ gen, werden über die gesamte geographische und ökologische Amplitude Proben gesammelt.“ 54 „Die Mitwirkung von Botanischen Gärten, von Naturschutzverbänden und an­ deren Gruppen aus diesem Umfeld zu gewinnen, wird als wesentliche Aufgabe festgestellt. Dabei erscheint es erforderlich, eine regional gegliederte Kooperati­ on, zum Beispiel über die Einzugsgebiete der Botanischen Gärten, zu erreichen, die zugleich den gefährdeten Arten dienlicher ist.“ Zitat aus dem Typoskript zur Sitzung der Arbeitsgruppe „Sicherung gefährdeter Wildarten“ am 6./7.11.1981 im Institut für Pflanzenbau und Pflanzenzüchtung der FAL, S. 1. Enth. in: Akte Stiftung. 55 Bezogen auf die Vermehrung von Orchideen behauptete jedoch Alfred Fessler, der technische Leiter des Botanischen Gartens Tübingen, in seinem Referat „Er­ fahrung mit Vermehrungskulturen in Botanischen Gärten“ (6.5.1981, Symposi­ um „Samenbank und Erhaltungskultur für einheimische Pflanzen“ an der FAL Braunschweig), es gebe „kein Problem, das kulturtechnisch nicht in den Griff zu bekommen ist.“ Typoskript enth. in: Akte Stiftung, dort S. 6.

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vorhanden sein müssen (ein Argument, das mehrfach von Walter Hondelmann in kritischer Absicht vorgebracht wurde).56 Dies wiederum erforderte erhöhte methodische Aufmerksamkeit beim Sammeln und hinreichendes Samenmaterial, wohingegen die meisten übersandten Samenmuster (darunter viele homogene Populationen aus Botanischen Gärten) dem Ziel der Wiederausbringung nicht zu genügen schienen. Das „Wilde“ der gesammelten Wildpflanzen war für die Zwecke des Naturschutzes oftmals nicht wild genug, für die kühltechnische Langzeitlagerung war es wiederum zu wild. Nach Schmidts Besuch der FAL 1980 fanden im Jahr 1981 zwei wissenschaftliche Symposien57 mit Botanikern und Vertretern Botanischer Gärten statt, um die Wildpflanzensammlung vorzubereiten. Die bearbeiteten Themen reichten von einer neu zu etablierenden Datenbank für die Zwecke Botanischer Gärten über zu erarbeitende Richtlinien für das Sammeln von Wildpflanzen58 (die damals noch nicht festgeschrieben waren) und die Möglichkeit des Anlegens von Meristemkulturen bis hin zu den vielen unklaren Parametern bei der Erhaltung von Wildpflanzensamen in Genbanken. Interessant ist, unter welchem Namen das Anliegen der Wildpflanzenbank im BML geführt wurde, von dem man Zuschüsse erbeten hatte: „Einrichtung einer Samenbank (Genreservoir) zur Erhaltung gefährdeter Wildpflanzen“.59 Schon beim ersten Symposium im BML stieß Loki Schmidt auf Skepsis bei den teilnehmenden Botanikern und wurde mit dem Vorwurf konfrontiert, „Samenbanken hätten nur eine Alibifunktion für zerstörte Lebensräume“.60 Derlei Skepsis ist nach wie vor existent.61 56 Undat. Typoskript „Das Sammeln gefährdeter Wildarten – Überlegungen und praktische Durchführung“. Enth. in: Akte Stiftung. Vgl. auch Brief Loki Schmidt an Dr. Volker Melzheimer vom Botanischen Garten Marburg/Lahn, 4.12.1983. Enth. in: Akte Stiftung. 57 Das erste Symposium fand beim BML am 5./6.5.1981 in Bonn statt („Symposi­ um ‚Samenbank und Erhaltungskultur für einheimische Pflanzen‘“), das zwei­ te am 6./7.11.1981 an der FAL in Braunschweig (s. u.). Am ersten Symposium nehmen neben Schmidt und den Beteiligten der BGRC sowie des Ministeriums auch Wissenschaftler aus Belgien und Dänemark teil, ferner Prof. Dr. Helmut Schönnamsgruber, Institut für Ökologie und Naturschutz der Landesanstalt Baden-Württemberg in Waldbronn. Unterlagen enth. in: Akte Stiftung. 58 Hondelmann erstellte auf Dambroths Anweisung hin eine Sammelanleitung für Wildpflanzen. 59 Vermerk des Referats 623 des BML, 12.5.1981. Enth. in: Akte Stiftung. 60 Schmidt, Loki, Die Botanischen Gärten in Deutschland, Hamburg 1997, S. 12. 61 Vgl. Poschlod, Peter, „Kulturlandschaft, Landnutzungswandlung und Vielfalt – Mechanismen und Prozesse der Entstehung und Entwicklung unserer Kultur­

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Sie artikuliert sich auch in den mittlerweile als Grabenkämpfen zu bezeichnenden Positionen von Vertretern der Ex situ- versus diejenigen der In situ-Konservierung auf internationaler Ebene. Trotz der vielen Unklarheiten lancierte Dambroth am 9. November 1981 eine Pressemeldung des Instituts für Pflanzenbau und Pflanzenzüchtung der FAL: „Loki Schmidt besuchte erneut FALInstitut“.62 Hier heißt es gegen den Verdacht, man würde ein „Samenmuseum“ betreiben: „Als Ergebnis dieser Besprechung wurde Übereinkunft darüber erzielt, dass das FAL-Institut neben seinem allseits bekannten Auftrag zur Sicherung pflanzlicher Rohstoffe von landwirtschaftlich und gärtnerisch genutzten Arten sowie von Arzneipflanzen auch ein Samendepot für die gefährdeten Wildarten einrichten und die entsprechenden Daten in die vorhandene Datenbank aufnehmen wird. Dieser Schritt soll nicht die Einrichtung eines Samenmuseums sein, sondern mit dem Samendepot sollen die Voraussetzungen für eine Sicherung der Arten zwischen den Stadien der akuten Gefahr des Aussterbens und den Möglichkeiten der Wiedervermehrung geschaffen werden, denn in dieser Zeitspanne ist eine Art besonders gefährdet, weil ihr Erhalt nicht allein mit der juristischen Ausweisung einer Schutzzone erreicht werden kann, sondern zur Wiedereinbürgerung sehr spezifische Kenntnisse über die ökologischen Ansprüche notwendig sind. Sie sind jedoch zumeist nur bruchstückartig vorhanden, so dass die Gefahr des Aussterbens einer Art durch Fehlverhalten bei der Wiedereinbürgerung nicht ausgeschlossen werden kann.“63 Wenige Tage später, am 19. November 1981, traf an der FAL ein demotivierender Brief von Roger D. Smith ein, Spezialist für Saatgutlagerung von den Royal Botanic Gardens (RBG) Kew.64 Er berichtete über Erhaltungserfahrungen von Wildpflanzen am Beispiel landschaft und die Notwendigkeit einer Genbank für ‚Wildpflanzen für Ernäh­ rung und Landwirtschaft (WEL)‘“, in: Poschlod, Peter et al. (Hg.), Handbuch Genbank WEL, Regensburg 2014, S. 7-41, hier S. 33. Dies drückt sich auch in der Tatsache aus, dass in der 2013 erschienenen Bibliografie zum Ackerwildkraut­ schutz (Meyer et al., Ackerwildkrautschutz, 2013) in den Texten nicht ein einzi­ ges Mal auf die Loki Schmidt-Genbank hingewiesen wird. 62 Im Nachgang zum genannten Symposium an der FAL vom 6./7.11.1981. Enth. in: Akte Stiftung. 63 Pressemeldung Institut für Pflanzenbau und Pflanzenzüchtung, 9.11.1981. Enth. in: Akte Stiftung. 64 Vgl. Smith, Roger D.; Dickie, John B.; Linington, Simon H. et al. (Hg.), Seed Conservation: Turning Science into Practice, Richmond 2003.

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von Veronica verna (Frühlings-Ehrenpreis), was als „das schlimmste Beispiel“ dafür angeführt wurde, dass Wildpflanzen „keine ‚charakteristischen‘ Keimungsmerkmale besitzen wie die Kulturpflanzen.“65 Und trotzdem: Die ersten von Loki Schmidts Pflanzen erreichten Braunschweig im September 1982, wenige Tage vor dem Ende der Kanzlerschaft ihres Mannes. Zunächst waren es bemerkenswerterweise Knollen von Topinambur (Helianthus tuberosus) aus Schmidts eigenem Garten. Topinambur ist eine mittelamerikanische Kulturpflanze, die in Europa ‚verwildert‘ und sogar als invasiver Neophyt gilt. Schmidt hatte in einem Kosmos-Heft gelesen, dass Dambroths Institut Topinambur-Pflanzen suche. „Ich war gerade dabei, die sich selbsteingefundenen Pflanzen auszurotten. Sicher ist jetzt auch ein falscher Zeitpunkt. So betrachten Sie bitte diese Winz-Knollen als erste Sendung. Im Spätherbst kommt die nächste.“66 Mit ein Grund für die Übersendung der TopinamburKnollen (anstatt von Pflanzen mit „orthodoxen“ Samen) könnte gewesen sein, dass Dambroth anfangs vollmundig versprochen hatte, dass die BGRC auch In vitro-Kulturen mit Meristemgeweben von Wildpflanzen anlegen könne: „Das Problem der Nährböden ist zufriedenstellend gelöst. Derzeit werden 180 Kartoffelsorten, die nicht mehr angebaut werden, in Meristemkultur aufbewahrt.“67 Davon wurde er aber von der In vitro-Spezialistin der FAL, Gunda Mix (s. Schumacher, in diesem Buch) wieder abgebracht. Sie hatte in ihrem Vortrag „Möglichkeiten und Grenzen der Meristemkultur bei der Vermehrung gefährdeter Pflanzen“ auf dem Symposium im November 1981 bereits vorgebracht, dass die Zusammensetzung der Nährmedien kaum von einer Pflanzenart (!) auf eine andere übertragbar sei. „Bei den bekannten Schwierigkeiten, die es bei der Zellund Gewebekultur zu überwinden gilt, sollte diese Technik bei den

65 Brief Roger D. Smith, RBG Kew, an Lothar Seidewitz (BGRC, Braunschweig), 19.11.1981, beigefügte Übersetzung, S. 1. Enth. in: Akte Stiftung. Auch heute stellt die Ex situ-Vermehrung von Wildpflanzen ein Problem dar. Dies räumte Peter Borgmann im Anschluss an seinen Vortrag „Sicherung pflanzengeneti­­ scher Ressourcen am Botanischen Garten Osnabrück“ (5.4.2016) auf der Tagung „Erhaltungsstrategien für Saatgut im Kontext sich verändernder Umweltbedin­ gungen“ an der Universität Regensburg, 4./5.4.2016 (künftig Tagung Regens­­ burg 2016), ein. Es bestehe noch hoher Forschungsbedarf. 66 Brief Loki Schmidt an Manfred Dambroth, 7.9.1982. Enth. in: Akte Stiftung. 67 Typoskript Dambroth auf dem Symposium „Samenbank und Erhaltungskultur für einheimische Pflanzen“ im BML, Bonn, 5.5.1981. Enth. in: Akte Stiftung, S. 8.

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‚bedrohten Pflanzen‘“ deshalb „nur dann zur Anwendung kommen, wenn alle anderen gebräuchlichen Methoden versagen.“68 Bis etwa Mitte der 1980er Jahre gelangten zwar sporadisch weitere Samentütchen in die BGRC,69 doch sonst geschah laut dem Briefwechsel Schmidt/Dambroth vor Ort wenig.70 Es scheint, dass Dambroth vordringlich die Pressewirksamkeit von Schmidts Besuchen in der BGRC nutzen wollte.71 Andererseits deutet er in einem Brief an Schmidt 1985 an, dass der Naturschutz die Genbankaktivitäten kritisch beäugt – eine bis heute politisch virulente Problematik. Dambroth begründet seine mangelnden Aktivitäten mit Widerständen seitens des BML (dem seit 31. März 1983 Ignaz Kiechle von der CSU vorstand) und Vertretern der Bundesforschungsanstalt für Naturschutz und Landschaftsökologie (BFANL),72 die angeblich vorgebracht hätten, „daß bei der Bewahrung von Samen der gefährdeten Arten in einer Genbank die Aktivitäten zu ihrer Erhaltung in natürlichen Biotopen nicht mehr so gestaltet werden könnten, wie es notwendig wäre. Ein Gedanke, der mir inzwischen auch immer wieder von den Naturschutzbeauftragten der Länder und ihren nachgeordneten Stellen entgegengehalten wird.“73 – Dies kann bezüglich der Wildpflanzenthematik als ein generelles Votum für Botanische Gärten und gegen Genbanken gelesen werden, wobei

68 Gunda Mix, „Möglichkeiten und Grenzen der Meristemkultur bei der Vermeh­ rung gefährdeter Pflanzen“, Typoskript/Mitschrift der Arbeitssitzung der Grup­ pe „Sicherung gefährdeter Wildarten“ vom 6./7.11.1981 an der FAL, S. 1. Enth. in: Akte Stiftung. 69 Loki Schmidt spricht von „Samenbank“ im Brief an M. Dambroth, 27.3.1981. Enth. in: Akte Stiftung. Ein konkreter Zeitpunkt für die Einstellung der Samen­ lieferungen an die BGRC geht aus dem eingesehenen Aktenmaterial nicht her­ vor. 70 Dabei mag, nach Ende der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt 1982, der Wohn­ ortwechsel von Bonn (Sitz der Stiftung) nach Hamburg eine Rolle gespielt haben. Vgl. Lehberger, Loki Schmidt, S. 248f. 71 Vgl. Artikel „Eine Arche Noah für viele Pflanzenarten“, Braunschweiger Zei­ tung (BZ) vom 15.12.1988. Enth. in: Akte Stiftung. Außerdem Artikel „Loki Schmidt sorgt sich um bestandsgefährdete Pflanzen“, BZ vom 28.11.1980, „Die Genbanken sollen keine Samenmuseen sein“, BZ vom 9.5.1985. Beide Artikel enth. in: Akte Thünen-Institut, „Presse 1976-1985“. 72 Die BFANL war dem BML unterstellt und kümmerte sich u. a. um Aspekte der Landschaftspflege, Landschaftsgestaltung und Biotopkartierung. Die BFANL war von Anfang an, d. h. beim ersten Besuch Schmidts an der BGRC, in das Gen­ bankprojekt eingebunden worden; negative Haltungen aus jener Zeit Anfang der 1980er Jahre sind im genutzten Aktenbestand nicht überliefert. 73 Brief M. Dambroth an Loki Schmidt, 18.11.1985. Enth. in: Akte Stiftung.

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hier die Allianz von landwirtschaftlichen mit naturschutzfachlichen Akteuren festzuhalten ist. 4.2 Technisierung: Wildheit in Konserven und Angst vor einem „Samenmuseum“ Als Lagerungsmedium nutzten die Braunschweiger für ihre Kulturpflanzensamen von Anfang an luftdicht verschließbare Weißmetalldosen, die den sonst in Genbanken weit verbreiteten Twist-offGläsern vorgezogen wurden. Es sind eben diese Dosen, die heute noch in der Loki Schmidt-Genbank zu finden sind (vgl. Abb. 1). Einheitliche Standards für die Aufbewahrungsbehältnisse in Genbanken seitens der FAO gab es weder damals noch gibt es sie in der Gegenwart. Der Braunschweiger Genbankleiter Dambroth charakterisierte die in der BGRC praktizierte Lagerung der Samen einmal lapidar so: „Die Aufbewahrung erfolgt in normalen Wurstdosen mit speziellen Etiketten, die kälteunempfindlich sind.“ Diese Form der Lagerung zielte auf den längerfristigen Erhalt der Samen. Auch sollte so die Zeit zwischen den unumgänglichen Verjüngungsintervallen auf 20 Jahre ausgedehnt werden. Aufgrund von Komplikationen, die im natürlichen Wesen der Samen begründet lagen, ließ sich diese Regelung aber schon für Kulturpflanzen nicht konsequent umsetzen. Meist war deutlich früher zu vermehren, oft schon nach weniger als zehn Jahren. Auf die Samen der Wildpflanzen wendete man also die gleichen technischen Verfahren an wie auf die der Kulturpflanzen, oder anders ausgedrückt: die Wildpflanzen hatten sich in den technologischen Pfad und das Sammlungsmanagement der Genbank zu integrieren, was nicht unproblematisch war. Man reduzierte bei einer Temperatur von +38 °C den Wassergehalt der Samen und doste sie anschließend in Konserven ein. Die Lagerung in den Kühlkammern erfolgte bei (nur) -10 °C.74 Mitte der 1980er Jahre geriet Schmidts Projekt offenbar in Finanznöte.75 Dies beendete die Neueinlagerung von Wildpflanzensamen in Braunschweig. Dann wurde es lange Zeit still um Schmidts Wildpflanzensammlung. Die Samen blieben eingedost und un74 Mündl. Mitt. des damaligen Technischen Leiters der Genbank, Otto Baars-Hib­ be, 19.2.2016, an Verf. Die FAO-Regularien sahen seit 1994 -18 °C als standard­ mäßige Lagerungstemperatur vor. 75 Lehberger, Loki Schmidt, S. 347.

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Abb. 1: Konservendosen der Loki Schmidt-Genbank für Wildpflanzen, Inhalt: Entferntährige Segge (Carex distans L.), RispenSegge (Carex paniculata L.) u. Elsässer Haarstrang (Peucedanum alsaticum L.). Aufnahme: 7. Juni 2016, © Nicole C. Karafyllis.

vermehrt in Braunschweigs Kühlkammern liegen. Somit wurden sie imaginär in dasjenige Ordnungssystem überführt, das Dambroth von Anfang an zu verhindern versucht hatte und noch 1985 pressewirksam wie einen Teufel an die Wand malte: ein Samenmuseum. Erst mit der Abwicklung der Braunschweiger Genbank im Zuge der deutsch-deutschen Wiedervereinigung kam erneut Bewegung in die Sache. Neue nationale Genbank der BRD wurde das IPK Gatersleben, die Genbank der vormaligen DDR, in Sachsen-Anhalt. Da das auf Kulturpflanzen spezialisierte IPK kein Interesse an der Eingliederung von Schmidts Wildpflanzensammlung in seine Genbank anmeldete, musste man nach einem alternativen Aufbewahrungsort suchen. Dafür bot sich der Botanische Garten Osnabrück an, zu dem Loki Schmidt bereits seit Gründung gute Kontakte besaß.76 Hier existierten seit 1993 kleinere Kühlzellen, die u. a. der Aufbewahrung von Brassica-Mustern dienten (sogenannte 76 Ebd., S. 348.

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Abb. 2: Artikel in der Braunschweiger Zeitung vom 9. Mai 1985, enthalten in: TIAkte „Presse 1976–1985“.

Brassicaceae-Genbank). Im Kontext des zu pflegenden Index Seminum77 gab es in Osnabrück wie an anderen Botanischen Gärten bereits gesammelte Wildpflanzensamen, die gekühlt aufbewahrt wurden.78 Die spätere Installation der großen Kühlkammern und die Schaffung der Loki Schmidt-Genbank stellte somit den folgerichtig 77 Index Seminum: Katalog des Samenangebots eines Botanischen Gartens. 78 Schriftl. Mitt. N. Friesen, 16.3.2017.

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nächsten Schritt dar. Eine wichtige Vermittlungsperson dafür war der Bochumer Botanikprofessor Thomas Stützel, der den Kontakt zwischen der BGRC und Osnabrück anbahnte. Auf Initiative des scheidenden Leiters der in Auflösung begriffenen BGRC, Lothar Frese, und Herbert Hurka, Direktor des Botanischen Gartens Osnabrück, verdichteten sich also 2003 die Pläne, eine Genbank speziell für Wildpflanzen in Osnabrück anzulegen. Sammlungsschwerpunkte des Botanischen Gartens Osnabrück, gegründet 1984 und der Universität zugeordnet, bilden die Vegetation Nordamerikas und Asiens sowie des europäischen Gebirgsund des Mittelmeerraumes; durch die Loki Schmidt-Genbank kamen jüngst weitere hinzu (s. Abschn. 4.3). Insgesamt werden aktuell rund 8.500 Arten kultiviert.79 Spätestens seit 1993 gab es den Versuch, „ein dezentrales Netzwerk regionaler Genbanken für heimische Wildpflanzen in Deutschland“ im Botanischen Garten Osnabrück zu schaffen.80 Begründet wurde dies u. a. mit der dort schon angelegten Brassica-Sammlung.81 Diese Anstrengungen waren im Herbst 2003 schließlich von Erfolg gekrönt. Im Beisein Schmidts wurde die Genbank in Osnabrück am 24. Oktober 2003 eröffnet.82 Ihr Bestand umfasste anfangs lediglich die 226 aus Braunschweig übersandten, eingedosten Muster.83 Die aktive Bewirtschaftung dieser Pflanzensamen war bereits mit dem Eindosen in der BGRC zum Stillstand gekommen. Dies bedeutete auch ein evolutives ‚Einfrieren‘, da den ruhenden Samen keine Möglichkeit mehr zur natürlichen Entwicklung im Rahmen der innerartlichen Evolution und bei der Anpassung an biotischen und abiotischen Stress zugestanden wurde. Eine weitere lange Phase der Kühllagerung schloss sich an, die in Osnabrück bis heute andauert (fast alle Konservendosen blieben seit den 1980er Jahren

79 Schriftl. Mitt. N. Friesen, 14.3.2017. 80 Borgmann et al., Loki Schmidt-Genbank, S. 87; Lehberger, Loki Schmidt, S. 348. 81 In den Worten des Schmidt-Biographen: „Die Hoffnung auf eine eigenständige Wildpflanzengenbank hatte Loki Schmidt fast aufgegeben, als der Direktor des Botanischen Gartens der Universität Osnabrück, Herbert Hurka, ihre langjähri­ gen Bemühungen aufgriff. […] 1993 gelang es Herbert Hurka schließlich, erst­ mals Mittel für das Projekt zu generieren“ (Lehberger, Loki Schmidt, S. 348). 82 Vgl. Webseite Vista verde, Unterseite Natur: Loki Schmidt eröffnet Genbank für Wildpflanzen, 24.10.2003, online unter: www.vistaverde.de/news/Natur/0310/24_ genbank.htm (letzter Aufruf: 20.12.2017). 83 Vgl. hierzu die Abgabeliste in der Akte Stiftung, 12.6.2003.

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ungeöffnet).84 Die Dosen waren in Braunschweig mit einer handschriftlichen Nummerierung auf dem Deckel versehen worden. In Osnabrück erfolgte im Anschluss an die Überführung ein Beschriften nach rein nummerischem System unter Ergänzung eines Verbaletiketts (s. Abb. 1).85 Die digitale Erfassung der Akzessionen wurde in der öffentlich einsehbaren Access-Datenbank des Botanischen Gartens realisiert.86 4.3 Der Biofaktcharakter der Objekte: Eingedoste Wildheit Das Lagerungsobjekt Konservendose verstärkt bei den Pflanzen den Biofaktcharakter, d. h. die materielle und semantische Mischung aus Gewordenem und Gemachten. Gemäß ihrer Wesensdefini­ tion87 sind Biofakte Entitäten, die vom Menschen zweckgerichtet geschaffen werden, sich aber von Artefakten durch ihre Fähigkeit zum Wachstum abgrenzen. Sie haben sowohl Anteil an der Sphäre der toten Gegenstände wie der der Lebewesen und befinden sich in einem ontologischen Zwischenbereich von Technik und Natur. Ungeachtet ihres natürlichen Aussehens können sie durch menschliche Einflussnahme in hohem Maße technisiert sein, z. B. durch Züchtungstechniken oder schon vorab durch die Sammlung und Konservierung der Samen. Im vorliegenden Beispiel ist ihre Wildheit, verstanden als Autonomie des Wachsens, eingedost. Dies gilt auch dann, wenn sich ihre natürliche Wildheit erst den landwirtschaftlichen Kultivierungsbemühungen verdankt und damit als sekundäre Wildheit gelten muss, wie z. B. bei der Flora des Ackerrandes (Segetalflora), die ca. 150 Arten umfasst. Umgekehrt zu Biofakten der 84 Die Entkopplung von der Evolution ist der generelle Vorwurf von Naturschützern gegen Wildpflanzen-Genbanken, wie Peter Borgmann auf der Tagung Regens­ burg 2016 in seinem Vortrag „Sicherung pflanzengenetischer Ressourcen am Botanischen Garten Osnabrück“ am 5.4.2016 mündlich feststellte. 85 Die in Abb. 1 zu sehende Dose wurde laut Etikett in der 38. Kalenderwoche 2003 in die Genbank integriert. Die letzte Zahl ist die fortlaufende Zugangsziffer. 86 Vgl. Webseite Botanischer Garten Osnabrück, Unterseite: Loki Schmidt-Gen­ bank für Wildpflanzen, online unter: http://www.loki-schmidt-wildpflanzen­ genbank.uni-osnabrueck.de/Informationen/Genbank.html (letzter Aufruf: 3.4. 2017). Bei weiteren Verweisen auf den Botanischen Garten Osnabrück wird auf entsprechende Zitation der Unterseiten aus Platzgründen verzichtet. 87 Karafyllis, Nicole C., „Das Wesen der Biofakte“, in: Karafyllis, Nicole C. (Hg.), Biofakte. Versuch über den Menschen zwischen Artefakt und Lebewesen, Pader­ born 2003, S. 11-27.

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Grünen Gentechnik, die als Natur erscheinen,88 erscheint im vorliegenden Fallbeispiel das Natürliche in der Dose – die Wildpflanzensamen – von außen als Artefakt und damit als Totes. Die Samen müssen warten und aushalten, bis sie wieder ausgesät werden und in einem naturnahen Habitat wachsen dürfen – die einst von Schmidt gesammelten Pflanzen warten darauf bislang vergeblich. Sie sind letztlich doch tote Objekte eines Samenmuseums geworden und haben als solche durchaus Repräsentationscharakter. Denn die Samen waren in ihrer gesamten Braunschweiger Zeit nicht verjüngt worden und ähneln daher „alten Knochen“ oder Skeletten in einem Naturhistorischen Museum. 4.4 Weiterentwicklung der Wildpflanzen-Sammlung in Osnabrück: WEL und WIPs-De Während also die ursprünglichen Akzessionen der Loki SchmidtGenbank eher als Dosen-Reliquien erachtet werden müssen und einer Totsammlung entsprechen, gaben sie doch dem Botanischen Garten Osnabrück strategischen Anlass, eine aktiv bewirtschaftete Wildpflanzengenbank zu etablieren. Seit ihrer Gründung ist die Genbank durch Neuzugänge quantitativ stark gewachsen. 2008 hortete die Loki Schmidt-Genbank für Wildpflanzen bereits „Saatgutproben von 620 Wildpflanzenarten aus 65 Pflanzenfamilien“.89 Dabei galten 489 der aufbewahrten Arten als pflanzengenetische Ressourcen.90 Der fortschreitende Zuwachs an Akzessionen ist in den Osnabrücker Arbeiten zum Index Seminum begründet. Verfügbares Saatgut von allen Rote Liste-Arten wird direkt in die Loki 88 Vgl. Karafyllis, Nicole C., „Grüne Gentechnik: Pflanzen im Kontext von Bio­ tech­nologie und Bioökonomie“, in Kirchhoff, Thomas; Karafyllis, Nicole C. et al. (Hg.), Naturphilosophie. Ein Lehr- und Studienbuch, Tübingen 2017, S. 281291. 89 Borgmann et al., Loki Schmidt-Genbank, S. 81 und Interview N. Friesen, 7.6. 2016. 90 Borgmann et al., Loki Schmidt-Genbank, S. 90. Während der Schaffung des Nationalen Fachprogramms wurde eine auf Ressourcenaspekte bezogene Liste der gefährdeten Arten angelegt. Sie umfasst ca. 3.600 Positionen und ist auf der Webseite der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) einseh­ bar, online unter: https://pgrdeu.genres.de/pgr (letzter Aufruf: 16.3.2017). Vgl. Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) (Hg.), Die Umsetzung des Nationalen Fachprogramms pflanzengenetischer Ressourcen, BEKO-Ge­ schäftsbericht 2015, Bonn 2015.

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Schmidt-Genbank überführt, und nach einem Jahr werden auch die restlichen Saatgutproben, die nicht an andere Botanische Gärten abgegeben wurden, dort gelagert.91 2017 beinhaltete die Loki Schmidt Genbank 3.858 Akzessionen,92 die mehrheitlich in Aluminiumverbundbeuteln kühl gelagert werden. Mittlerweile ist noch eine zweite Saatgut- bzw. Genbank hinzugekommen, beide bewahren ihre Akzessionen in derselben Kühlkammer auf. Seit 2009, beginnend mit einem gleichnamigen Drittmittelprojekt, fungiert der Botanische Garten Osnabrück als Lenkungsstelle für die „Genbank Wildpflanzen für Ernährung und Landwirtschaft“ (WEL).93 Gefördert durch das BMEL (bis 2013: BMVEL) und die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) wurde im Projekt WEL deutschlandweit Saatgut bedeutender wilder Nutzpflanzenverwandter (CWR) in situ aufgesammelt und bis heute ex situ gelagert.94 Das agrarisch fokussierte Projekt WEL konzentrierte sich auf die Sammlung von 399 der ca. 4.000 potenziell nutzbaren, relevanten Farn- und Blütenpflanzenarten in Deutschland.95 Ausschlaggebende Sammelkriterien waren: nachgewiesener Nutzen als pflanzengenetische Ressource (PGR), eindeutiger Gefährdungsstatus und das Fehlen in anderen Genbanken, d. h. das Ziel einer unikaten Akzession. Ausgeschlossen wurden u. a. Arten, „deren Saatgutverarbeitung sehr zeitaufwändig ist“,96 d. h. 91 Schriftl. Mitt. N. Friesen, 15.3.2016. 92 Vgl. Webseite Loki Schmidt-Genbank für Wildpflanzen, Index, online unter: http://www.loki-schmidt-wildpflanzengenbank.uni-osnabrueck.de/index. php?cat=Informationen&file=Loki_Schmidt_Genbank_Databank_sortiert_ Familien_online.pdf (Stand: Januar 2016) (letzter Aufruf: 20.12.2017). Die genaue Zahl (Stand: März 2017) verdanken wir dem Kurator Nicolai Friesen, schriftl. Mitt. an Verf., 14.3.2017. 93 Borgmann, Peter; Oevermann, Silvia; Friesen, Nikolai und Sabine Zachgo, „Die Genbank für Wildpflanzen für Ernährung und Landwirtschaft (WEL)“, in: Poschlod, Peter et al. (Hg.), Handbuch Genbank WEL, Regensburg 2014, S. 4170, hier S. 45. 94 Vgl. Webseite WEL-Genbank, Unterseite: Nationale Genbank für Wildpflanzen – Aufgaben und Ziele, online unter: https://www.genbank-wel.uni-osnabrueck. de/index.php/de/aufgaben-ziele (letzter Aufruf: 20.12.2017). 95 Die Artenliste ist auf der Webseite des Botanischen Gartens einsehbar. Farne, wiewohl Teil der Liste bedrohter Nutzarten, wie sie auf der BLE-Webseite steht, werden (so schriftl. Mitt. N. Friesen, 20.3.2017) in der WEL-Genbank nicht gesammelt. Die Liste bedrohter Nutzarten (Stand 9.6.2016) ist online einzusehen unter: https://pgrdeu.genres.de/infoFiles/Rote-Liste-Nutzpflanzen.pdf (letzter Aufruf: 20.12.2017). 96 Borgmann, Oevermann et al., Genbank, S. 51.

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solche, die sich nur vegetativ vermehren lassen oder deren Saatgut schwierig zu lagern ist. Dies sind annähernd dieselben Kriterien, die schon bei der Genbankrichtlinie der BGRC Anfang der 1970er Jahre galten.97 Das WEL-Netzwerk umfasst bis heute neben dem zentralen Standort Osnabrück drei weitere Botanische Gärten (Berlin, Karlsruhe, Regensburg) sowie die Pädagogische Hochschule Karlsruhe. Die Bundesrepublik ist dabei geographisch in vier „Beprobungsräume“ aufgeteilt, die auch für das Folgeprojekt WIPs-De gelten. Dort heißen sie „Verantwortungsbereiche“,98 Osnabrück ist für den Bereich „Nordwest“ zuständig. Im Jahr 2014 verfügte das WEL-Netzwerk über insgesamt 4.292 Akzessionen, gelagert in Kühlkammern bzw. Gefrierschränken an den vier Botanischen Gärten.99 Die Samen stammten von 262 der potenziell gesuchten 399 Wildpflanzenarten.100 Etwa 65 % der Samen der WEL-Genbank verteilten sich auf zehn Pflanzenfamilien, d. h. das systematische Spektrum ist deutlich enger als bei der Loki Schmidt-Genbank (65 Pflanzenfamilien). Bis März 2017 ist die Verteilung in der WEL-Genbank etwa gleich geblieben, die Zahl der Akzessionen am Lagerungsort Osnabrück hat sich in den letzten zwei Jahren (Stand: März 2017) um 184 Akzessionen auf 1.551 für das Beprobungsgebiet Nordwest erhöht.101 Die im Projekt WEL entstandenen und weiter entstehenden Datenmengen fließen in das Nationale Inventar Pflanzengenetischer Ressourcen in Deutschland (PGRDEU) ein, das als Schnittstelle für internationale Informationssysteme dient.102 Auf dem Projekt WEL (2009–2013) fußend, mit den gleichen Partnern und regionalen Parametern für die Sammlung von Sa-

97 Vgl. Karafyllis und Lammers, Big Data. 98 Borgmann, Peter; Burkart, Michael; Friesen, Nikolai et al., „WIPs-De: Wild­ pflanzenschutz Deutschland. Ein Projekt des Bundesprogramms zur Biologi­ schen Vielfalt“, in: Natur und Landschaft, 90(12)/2015, S. 550-555, hier S. 552. 99 Schriftl. Mitt. N. Friesen, 28.3.2017. 100 Borgmann, Oevermann et al., Genbank, S. 58. 101 Von den oben für 2014 genannten 4.292 Akzessionen in der Genbank WEL stammten 1.366 Akzessionen aus dem Osnabrücker Beprobungsraum Nord­­ west. Schriftl. Mitt. N. Friesen an Verf., 15.3.2017. 102 Vgl. Webseite der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE), Unterseite: PRGDEU, online unter: https://pgrdeu.genres.de/ (letzter Aufruf: 20.12.2017). Ergänzende Auskunft N. Friesen mit schriftl. Mitt. an Verf., 15. 3.2017.

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men – aber nun Verantwortungsarten genannt –,103 entstand ab 2013 das vorläufig bis 2018 laufende Projekt WIPs-De,104 finanziert vom BMEL und BMUB. Es soll auch das Sammeln von Duplikaten vermeiden.105 Anders als das agrarisch geprägte Vorgängerprojekt ist WIPs-De naturschutzfachlich ausgerichtet; es geht um 15 sogenannte „wertgebende“ (d. h. bedrohte) Pflanzenarten, für deren Erhalt Deutschland eine besondere Verantwortung übernimmt, wobei der Verantwortungsbegriff, erstens, am Konzept des Endemismus („endemische Arten“) ausgerichtet ist und, zweitens, unter der normativen Prämisse in Anschlag gebracht wird, dass die „heimische Bevölkerung“ besonders für den Schutz des Einheimischen motiviert ist oder werden kann. Es werden drei Erhaltungsstrategien zur Bewahrung und Wiederausbringung von Wildpflanzen kombiniert,106 unter denen auch ein Bärlapp und ein Farn sind.107 Das wichtigste Kriterium dabei ist, dass diese „Zielarten […] ihren Verbreitungsschwerpunkt in Mitteleuropa“ haben; die Auswahl der 15 Arten erfolgte durch das BfN.108 Die erwähnten Strategien umfassen In situ- und Ex situ-Maßnahmen: 1.) den Aufbau von Saatgutgenbanken, 2.) die Schaffung eines Erhaltungskulturnetzwerks sowie 3.) Wiederausbringungsmaßnahmen, in die auch weitere Botanische Gärten eingebunden werden.109 Diese Maßnahmen 103 Der Terminus „Verantwortungsarten“ geht zurück auf die Nationale Stra­ tegie zur biologischen Vielfalt (2007), in der der Förderschwerpunkt „Arten in besonderer Verantwortung Deutschlands“ festgeschrieben wurde, „für die Deutschland international eine besondere Verantwortung hat, weil sie nur hier vorkommen oder weil ein hoher Anteil der Weltpopulation hier vorkommt.“ Vgl. Webseite des BfN, online unter: https://biologischevielfalt.bfn.de/verant­ wortungsarten.html (letzter Aufruf: 3.4.2017). 104 WIPs-De = Wildpflanzenschutz Deutschland, ausführlicher als „Aufbau eines nationalen Netzwerkes zum Schutz gefährdeter Wildpflanzenarten in be­ sonderer Verantwortung Deutschlands – WIPs-De“ bezeichnet (Zippel et al., Einlagerung, S. 1). Eine genauere Darstellung des WEL-Netzwerks und des Folgeprojekts WIPs-De ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich. 105 So die Auskunft von Peter Borgmann im Anschluss an seinen Vortrag „Siche­ rung pflanzengenetischer Ressourcen am Botanischen Garten Osnabrück“ auf der Tagung Regensburg 2016, 5.4.2016. 106 Borgmann et al., WIPs-De, S. 551. 107 Vgl. zu den Verantwortungsarten im Detail die Webseite WIPs-De, Unterseite: Pflanzen in besonderer Verantwortung, online unter: http://vm323.rz.uos.de/ joomla/index.php/verantwortungsarten (letzter Aufruf: 20.12.2017). 108 Zippel et al., Einlagerung, S. 3; bei den Tieren beläuft sich die vom BfN ver­ anschlagte Anzahl auf 25 Verantwortungsarten. 109 In situ-Wiederansiedlung erfolgte z. B. 2010 am Dümmer See, weitere wurden 2014 in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin erfolgreich realisiert (Zippel et

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werden in enger Zusammenarbeit mit regionalen Umweltbehörden, Naturschutzorganisationen und Stiftungen realisiert.110 Dabei wird die Beschränkung auf nur 15 Verantwortungsarten von den Osnabrückern selbst durchaus kritisch gesehen: Eine Ausweitung des Verantwortungsbereichs auf andere Arten sei wünschenswert, aber mangels finanzieller Förderung nicht möglich.111 Fünf dieser Verantwortungsarten finden sich auch schon im ursprünglichen Bestand der Loki Schmidt-Sammlung.112 Es handelt sich um Echte Arnika (Arnica montana), Weichhaarigen Pippau (Crepis mollis), SumpfEnzian (Gentianella uliginosa), Graue Skabiose (Scabiosa canes­ cens) und Gelbes Galmei-Stiefmütterchen (Viola calaminaria).113 Die Osnabrücker Sammel- und Vermehrungspraxis orientiert sich an den Kriterien, die vom European Native Seed Conservation Network (ENSCONET) unter dem Schirm von Kew Gardens und der BGCI vorgegeben werden.114 Ausgehend hiervon wurden im Rahmen von WIPs-De Qualitätsstandards für Erhaltungskulturen von Wildpflanzen erarbeitet.115 In der Regel werden bei der Aufsammlung aus Naturschutzgründen „nur max. 20 % der am Erntetag verfügbaren reifen Samen einer Population“ geerntet.116 So sind repräsentative Muster zu gewinnen, ohne den Bestand vor Ort zu gefährden. Nach Reinigung und Bearbeitung der Proben werden diese in Aluminiumverbundbeuteln gekühlt gelagert.

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al., Einlagerung, S. 4). Inzwischen (2015) „existieren in Deutschland über 50 Akzessionen von Erhaltungskulturen verschiedener ‚Verantwortungsarten‘ in mehr als 10 Botanischen Gärten und ähnlichen Einrichtungen“ (ebd.). Einen Überblick über den aktuellen Stand bietet die AG Erhaltungskulturen im Ver­ band Botanischer Gärten (VBG): Portal für Erhaltungskulturen einheimischer Wildpflanzen, online unter: http://www.ex-situ-erhaltung.de/ (letzter Aufruf: 3.4.2017). Borgmann et al., WIPs-De, S. 551. Interview mit Peter Borgmann, 7.6.2016. Vgl. dazu die Artenliste in der Akte Stiftung. Ebd. sowie Borgmann et al., Qualitätsstandards, S. 551. Vgl. die ENSCONET-Anleitung zum Sammeln, als PDF online unter: http:// ensconet.maich.gr/PDF/Collecting_protocol_German.pdf (letzter Aufruf: 20. 12.2017). Lauterbach et al., Qualitätsstandards, S. 20-32. Zippel et al., Einlagerung, S. 4. Vgl. BGCI-Webseite, Unterseite: European Na­ tive Seed Conservation Network (ENSCONET), online unter: https://www.bgci. org/resources/article/0683/ (letzter Aufruf: 3.4.2017). Bei weiteren Verweisen auf die BGCI-Webseite wird auf entsprechende Zitation der Unterseiten aus Platzgründen verzichtet.

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An die Aufsammlung und das Reinigen der Samen117 schließt sich eine sechs- bis achtwöchige Trocknungsphase an, danach die Portionierung der Samenproben. Sie werden unter Verwendung von Silikagel in kleine Papiertüten gefüllt, dann in Aluminiumverbundbeuteln vakuumverschweißt und anschließend zwei Monate lang bei -4 °C vorgekühlt, ehe die Einlagerung bei -20 °C erfolgt. Die Entscheidung für den Aluminiumverbundbeutel fiel aufgrund von Praktikabilitäts- und Platzersparnisgründen,118 wie sie auch im Svalbard Global Seed Vault (SGSV) in Norwegen zu beobachten ist. In Osnabrück werden, wie bei jeder Genbank, regelmäßig Keimprüfungen der Samen durchgeführt, ergänzt durch Röntgenanalysen.119 Keimtests gemäß den ISTA-Kriterien120 werden allerdings nur für die eingelagerten Arten der „Roten Liste“ vorgenommen.121 Diese Beschränkung ist wesentlich dem Personal- und Finanzmangel geschuldet.122 Seit 2008 ist diese Situation im Kern unverändert.123 Eine junge Entwicklung auf dem Gebiet der IT, die speziell in Osnabrück geleistet wurde, ist die Schaffung der App WIPs2Go im Rahmen des WIPs-De-Projekts.124 Sie entstand im Fortgang des WEL-Webmapping.125 Die App übermittelt die Informationen zu Pflanzen- und Geodaten an die zuständigen Naturschutzbehörden und ermöglicht es informierten Laien, sich aktiv an der Erhaltung der lokalen Biodiversität zu beteiligen. Die exakten Koordinaten 117 Vgl. zu den Techniken Zippel, Elke und Albert-Dieter Stevens, „Arbeitstechni­ ken der Sammlung und Lagerung von Wildpflanzensamen in Saatgutgenban­ ken“, in: Poschlod, Peter et al. (Hg.), Handbuch Genbank WEL, Regensburg 2014, S. 71-97. 118 Interview N. Friesen, 7.6.2016. 119 Zippel et al., Einlagerung, S. 4. 120 ISTA: International Seed Testing Association (gegründet 1924). 121 Lang, Judith; Listl, Daniela; Glaab, Philipp et al., „Qualität und Keimungs­ eigenschaften von Saatgut in der Genbank WEL“, in: Poschlod, Peter et al. (Hg.), Handbuch Genbank WEL, Regensburg 2014, S. 99-132, hier S. 105-119. 122 Borgmann et al., Loki Schmidt-Genbank, S. 89. 123 Interview N. Friesen, 7.6.2016. 124 Vgl. für Details die Webseite WIPs-De. Für entsprechende internationale Sys­ teme, die auf Geoinformationssystemen (GIS) basieren, vgl. Krigas, Nikos; Papadimitriou, Kimon und Antonios D. Mazaris, „GIS and ex situ Plant Con­ servation“, in: Alam, Bhuiyan Monwar (Hg.), Application of Geographic In­ formation Systems, Rijeka 2012, S. 153-174. 125 Borgmann, Peter; Westerholt, René; Oevermann, Silvia und Sabine Zachgo, „WEL-Webmapping“, in: Poschlod, Peter et al. (Hg.), Handbuch Genbank WEL, Regensburg 2014, S. 133-140.

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stehen nur den sammelnden Institutionen und den zuständigen Naturschutzbehörden zur Verfügung.126 Aktuell laufen am Botanischen Garten Osnabrück neben WIPsDe zwei größere Drittmittelprojekte, wovon das erste zweifelsfrei auch dem agrarischen Nutzungsbereich zuzurechnen ist: „GE-Sell – Genetische Erhaltungsgebiete für Wildselleriearten (Apium und Helosciadium)“ als Bestandteil eines Netzwerks genetischer Erhaltungsgebiete in Deutschland (2015–2019), koordiniert vom JKI127 und gefördert durch die BLE; und das DFG-Projekt „Verbreitungsdynamik und Klimageschichte des eurasiatischen Steppengürtels: Gene dokumentieren Geschichte“ (in Kooperation mit dem IPK Gatersleben, 2016–2019). Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die Loki Schmidt-Genbank für Wildpflanzen trat zwar 2003 als institutionelle Neugründung einer deutschen „Genbank im Garten“ ins Dasein, ohne dabei aber damals schon, anders als erhofft, zum „Startpunkt eines dezentralen Netzwerkes regionaler Genbanken für Wildpflanzen an Botanischen Gärten“128 geworden zu sein. Ein entsprechendes Netzwerk etablierte sich erst später und bleibt bislang im Sammelfokus auf vergleichsweise wenige Arten beschränkt. Die Gründe dafür sind jenseits des Gartens zu suchen: Es gibt für die Loki SchmidtGenbank weder eine staatliche, etatmäßige Finanzierung noch gärtnerisches Personal.129 Sie ist darum auf Drittmittelfinanzierung angewiesen, was partiell die Sammlungsziele und die Objektauswahl beeinflusst. Was die technische Ausstattung betrifft, verdankt der Botanische Garten Osnabrück der ursprünglichen Sammlung Loki Schmidts – und ihrem Namen – viel. Die für die diversen Drittmittelprojekte genutzten modernen Kühlkammern sind diejenigen vom November 2003 zur Implementierung der Loki Schmidt-Genbank, finanziert mit Unterstützung des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur.130 Sie bildeten und bilden den technologischen Pfad eines hochmodernen Botanischen Gartens mit Genbank, der für zukünftige Projekte weiter verfolgt wird.

126 Borgmann et al., WIPs-De, S. 554. 127 Vgl. die Projektwebseite unter: http://netzwerk-wildsellerie.julius-kuehn.de/ (letzter Aufruf: 20.12.2017). 128 Borgmann et al., Loki Schmidt-Genbank, S. 86. 129 Interview N. Friesen, 7.6.2016. 130 Ebd.

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5. Juristische und politische Aspekte Europaweit gelten zahlreiche gesetzliche Regelungen zum Schutz der Artenvielfalt, zuvorderst die „Berner Konvention“ von 1979, in Kraft seit dem 1. Juni 1982. In Kap. 5, Art. 11.2 wurde die Verpflichtung festgeschrieben, „die Wiederansiedlung einheimischer wildlebender Pflanzen- und Tierarten zu fördern, wenn dadurch ein Beitrag zur Erhaltung einer gefährdeten Art geleistet würde“.131 Die Umsetzung erfolgte u. a. in Form der FFH-Richtlinie, verabschiedet im Jahre 1992 (s. Frese, in diesem Buch).132 Allerdings enthalten die Anhänge nur eine einzige Ackerwildpflanze (Bromus grossus) und „keinen einzigen Acker-Lebensraumtyp“.133 Die Richtlinie ist Grundlage für die Umsetzung der CBD zum Schutz der biologischen Vielfalt, die die globale Perspektive in den Blick nimmt. Die CBD trägt den Unterzeichnerstaaten auf, deren Ziele umzusetzen und bildet die Basis für die Globale Strategie zum Schutz der Pflanzen (GSPC). Bis zum Jahre 2020 sollten insgesamt 75 % der gefährdeten Pflanzenarten ex situ untergebracht werden. 20 % davon sind zur Wiederansiedlung in situ bereitzustellen.134 Dieses Ziel wird wohl nicht fristgerecht erreicht werden.135 Gerade bei der Ex situ-Erhaltung gemäß der CBD gibt es Schwierigkeiten in der Umsetzung, was auch den hohen Kosten für die technischen Kühlanlagen und den daraus entstehenden Folgekosten (z. B. Wartung) geschuldet sein dürfte. Insbesondere Botanische Gärten auf der Südhalbkugel der Erde sind noch nicht imstande, die GSPC-Targets in ihrer ganzen Breite umzusetzen. Am konsequentesten wurden von Botanischen Gärten, weltweit betrachtet, bislang die pädagogi-

131 Webseite des BfN, Unterseite: Übereinkommen über die Erhaltung der euro­ päischen Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen Lebensräume, online unter: https://www.bfn.de/fileadmin/MDB/documents/themen/artenschutz/pdf/ Berner_Konvention.pdf (letzter Aufruf: 3.4.2017). 132 Vgl. Webseite der EU, Unterseite: Richtlinie 92/43, online unter: http://eur-lex. europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:01992L0043-20130701 (letzter Aufruf: 20.12.2017); ferner Webseite Natura 2000, Unterseite: FaunaFlora-Habitat-Richtlinie, online unter: http://www.fauna-flora-habitatrichtlinie. de/ (letzter Aufruf: 3.4.2017). 133 Sommer, Ackerwildkrautflora, S. 21. 134 Vgl. CBD-Webseite, Unterseite: Global Strategy for Plant Conservation, online unter: https://www.cbd.int/gspc/targets.shtml (letzter Aufruf: 20.12.2017). 135 Vgl. Sharrock et al., Conservation Report.

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schen Ziele bzw. die der Öffentlichkeitsbildung umgesetzt,136 gefolgt von Erhaltungsarbeit in situ und mit Schwerpunkt auf endemische Arten. Weltweit fehlt es oft an integrativen Konzepten, die Aktivitäten der verschiedenen Institutionen und Strategien zum Biodiversitätserhalt zu bündeln. Die vielen existierenden Netzwerkstrukturen sorgen zwar für gemeinsame Aktivitäten, die aber oft nebeneinander herlaufen. Mit Fokus auf die agrarische Nutzung greift in Deutschland das Nationale Fachprogramm zur Erhaltung und Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen, dem Genbanken und Botanische Gärten gleichermaßen verpflichtet sind.137 Die Botanischen Gärten und mit ihnen die Wildpflanzenthematik rückten so verstärkt in den Einflussbereich des BM(E)L. So bemerkten schon Dieter Bommer und Kay Beese bei der Etablierung des Fachprogramms kritisch, die Bundesregierung verfüge hinsichtlich des Wildpflanzenschutzes über „kein politisches Instrumentarium zur Durchsetzung von Naturschutzanliegen“.138 Diese Anliegen seien wesentlich „Teil des Natur- und Landschaftsschutzes“, eine Steuerung fände allein durch Vergabe von Geldmitteln statt. Daran hat sich im Laufe der Zeit kaum etwas geändert. Das BfN kümmert sich primär um die Förderung des Vertragsnaturschutzes,139 und laut der dortigen Definition steht auch hier der Aspekt der Nutzung im Vordergrund.140 Damit ist der Vertragsnaturschutz nach Ansicht der Autoren dieses Beitrags (und im Gegensatz zu Sommer)141 besonders geeignet bzw. ‚anfällig‘, in Zukunft Naturschutzziele umzusetzen, die letztlich agrarisch motiviert sind wie z. B. den Schutz von „genetic reserve sites“ für CWR bzw. „target 136 Williams, Sophie und Suzanne Sharrock, „Botanic Gardens and their response to the Global Strategy for Plant Conservation“, in: BGJournal, 7(2)/2010, S. 3-7. 137 BMEL, Pflanzengenetische Ressourcen in Deutschland. Nationales Fach­pro­­­ gramm zur Erhaltung und nachhaltigen Nutzung pflanzengenetischer Ressour­ cen landwirtschaftlicher und gartenbaulicher Kulturpflanzen, Berlin 2015. 138 Bommer und Beese, Ressourcen, S. 77. 139 BMUB (Hg.), Nationale Strategie zum Schutz der biologischen Vielfalt, Kabi­­ nettsbeschluss vom 7. November 2007. Broschüre online als PDF zum Down­­ load verfügbar unter: https://biologischevielfalt.bfn.de/fileadmin/NBS/docu­ ments/broschuere_biolog_vielfalt_2015_strategie_bf.pdf), Berlin 2015. 140 Vertragsnaturschutz: Verträge mit Landnutzern unter Auflagen einer nach­ haltigen Bewirtschaftung, oft mit konkreter Zielstellung für den Arten- und Biotopschutz, gegen finanzielle Entschädigung für Einkommensminderung (BMUB 2015, S. 174). 141 Sommer, Ackerwildkrautflora.

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crop gene pools“.142 In der 2007 vorgelegten Nationale[n] Strategie zur biologischen Vielfalt, die Botanische Gärten als Institutionen der Erhaltung von PGR ex situ hervorhebt,143 kommt der Begriff „Ackerwildkräuter“ nur an einer einzigen Stelle vor, wo es heißt: „Neben den herkömmlichen landwirtschaftlichen Produkten können Landwirte auf freiwilliger Basis auch ökologische Güter anbieten, zum Beispiel artenreiche Wiesen, Hecken oder Ackerwildkräuter. Der Landwirt produziert somit zusätzlich biologische Vielfalt.“144 Die Kultivierungsanstrengungen des Menschen und der Nutzenaspekt stehen hier im Zentrum, nicht die Natur als ursprünglicher Initiator biologischer Vielfalt. Allen genannten Programmen ist gemeinsam, dass sie den Wildpflanzen nicht explizit Aufmerksamkeit schenken, außer sie sind als pflanzengenetische Ressourcen (PGR) nutzenorientiert klassifiziert. Jenseits des nationalen Rahmens greift für Genbanken und Botanische Gärten zusätzlich zur CBD (1992) seit 2004 der International Plant Treaty (ITPGR),145 er berücksichtigt aber „ausschließlich pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft“,146 die dort im Annex 1 spezifiziert werden, wobei im Artikel 5 (d) des Vertrags durchaus auf Wildpflanzen hingewiesen wird, sofern sie ernährungsrelevant sind: „Promote in situ conservation of wild crop relatives and wild plants for food production, including in protected areas, by supporting, inter alia, the efforts of indigenous and local communities.“ Zum bilateralen Austausch von PGR wurde als Regel­ instrument die standardisierte Materialübertragungsvereinbarung (sMTA) entwickelt. Das 2014 in Kraft getretene Nagoya-Protokoll, in dem es zentral um Fragen des „access and benefit sharing“ (ABS) von PGR geht, ist hingegen ein international wirksames rechtliches Instrument gegen Biopiraterie. Implizit nimmt es auf die Wildpflanzenthematik 142 Vgl. die Projektseite zu AEGRO auf den Webseiten des JKI, online unter: http://aegro.jki.bund.de/aegro/index.php?id=198 (letzter Aufruf: 3.4.2017). 143 BMUB, Kabinettbeschluss, S. 113. Vgl. Webseite Bundesamt für Naturschutz (BfN), Unterseite: Natura 2000, online unter: https://www.bfn.de/0316_natura 2000.html (letzter Aufruf: 20.12.2017). 144 BMUB, Kabinettbeschluss, S. 120. 145 FAO (Hg.), The International Treaty on Plant Genetic Resources for Food and Agriculture, Rom 2009. 146 Begemann, Frank und Siegfried Harrer, „Internationale Entwicklungen und rechtliche Aspekte“, in: Röbbelen, Gerhard (Hg.), Die Entwicklung der Pflan­ zenzüchtung in Deutschland (1908–2008). 100 Jahre GFP e.V. – eine Doku­ mentation, Göttingen 2008, S. 518-525, hier S. 521.

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Bezug, weil die Erfahrungen der Schwellenländer mit einseitigen Inwertsetzungen pflanzengenetischer Ressourcen gerade bei wildwachsenden Heil- bzw. Medizinalpflanzen gemacht wurden (sog. „wild harvested plants“), die dann in Industrieländern von Seiten der pharmazeutischen Industrie genutzt wurden. Sammlungsreisen ins Ausland zur Akquise neuer Samen- und Pflanzenmuster von „Wildpflanzen“ jeglicher Art (auch den genannten CWR) werden durch das Nagoya-Protokoll in praxi schwieriger (s. Graner sowie Overmann, in diesem Buch).147 Der Abschluss eines Multilateral Trade Agreement (MTA) ist auch für die Ausfuhr von Samen verpflichtend.148 Forscherinnen und Forschern an Botanischen Gärten gelingt dies leichter als jenen an Genbanken.149 Denn Botanische Gärten stehen als wissenschaftliche Institutionen noch nicht unter Verdacht, größeren Industriezweigen aus den Bereichen Agrar, Chemie und Pharma zuzuarbeiten.

6. Zusammenfassung und zukünftige Herausforderungen Die Erträge dieses Beitrags liegen auf drei verschiedenen Ebenen und werden jeweils in separaten Abschnitten zusammengefasst. Der erste widmet sich generellen und normativ relevanten Erkenntnissen, der zweite denjenigen zur Wildpflanzenthematik und der dritte der notwendigen Unterscheidbarkeit von Botanischem Garten und Genbank. Mit Blick auf die Historie der Loki Schmidt-Genbank kann an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass sich wesentliche Konfliktlinien und Abgrenzungsproblematiken, denen sich Schmidt in den 1980er Jahren zu stellen hatte, seit fast vier Jahrzehnten fortgeschrieben haben. Auch zahlreiche der Arten, die sie bei ihren Sammlungen damals als gefährdet oder bedroht eingeschätzt hatte, sind dies geblieben oder zunehmend geworden, wie der Vergleich mit den „Verantwortungsarten“ des BfN ergab.

147 Interview N. Friesen, 7.6.2016. 148 Ebd. Das erste weltweite MTA ist GATT (1947), dessen Abschluss den Welt­ handel nach dem Zweiten Weltkrieg forciert hat. Informationen zu den SMTA findet man bei der FAO, Unterseite: What is the SMTA?, online unter: http:// www.fao.org/plant-treaty/areas-of-work/the-multilateral-system/the-smta/ en/ (letzter Aufruf: 3.4.2017). 149 Interview N. Friesen, 7.6.2016.

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6.1 Allgemeine Erkenntnisse zu Werte- und Normenbereichen Botanische Gärten wie auch Genbanken werden politisch zunehmend damit konfrontiert, dass das Bewahren des Bedrohten nur schwerlich zu rechtfertigen sei, sofern man nicht seinen Nutzen postulieren könne: „conservation without use would be hardly justifiable“.150 In ethischer Hinsicht muss dies als eine Missachtung von Vermächtniswerten bezeichnet werden, die mit einer generellen Enthistorisierung einhergeht und das zukünftig technisch zu Erreichende (und damit die Optionswerte) höher gewichtet als das bereits Erreichte, das bei Biofakten ja stets mit Hilfe der Natur erreicht wurde. Dies betrifft auch die Sprache des Naturschutzes bzw. der Conservation Biology, die analog zur Semantik bei Genbanken betont, dass Botanische Gärten „underutilized“, d. h. nicht ausreichend genutzt seien für die Zwecke des Naturschutzes.151 Gemeint ist hier zunächst ein imaginärer „genetischer Wert“, der aber sowohl im Hinblick auf die Populationsentwicklung in situ (d. h. für Aussiedlungsprojekte) wie auch auf die züchterische Bereitstellung von Genen ex situ zweckinstrumentell angelegt ist. Unterschiedlich ist hingegen die Zeitskala, über die hinweg Investitionen zur erfolgreichen Inwertsetzung getätigt werden, und wer diese Investitionen zu leisten bereit ist. Dazu gehört auch der beigemessene Wert der Begleitforschung (z. B. durch Monitoring), der im botanisch und ökologisch motivierten Wissensbereich als ungleich höher eingeschätzt werden muss als im agrarischen. Lauterbach etwa betont, dass bei dem Ziel der Wiederansiedlung von Populationen „aufgrund von finanziellen Zwängen und befristeten Projektlaufzeiten ein Monitoring über Zeiträume von mehr als fünf Jahren meist nicht zu gewährleisten“ sei.152 Erst nach langfristiger Beobachtung aber kann man einigermaßen sicher sein, dass eine solche Wiederausbringung geglückt ist, da nur die erfolgreiche Reproduktion über mehrere Generationen die Voraussetzung für die Schaffung einer stabilen Population bietet.153 Sommer benennt gra150 Zitiert aus dem Beitrag von Engels und Maggioni, in diesem Buch. 151 So z. B. Cibrian-Jaramillo et al., Conservation Value, S. 572. 152 Lauterbach, Daniel, „Ex situ-Kulturen gefährdeter Wildpflanzen – Populati­ onsgenetische Aspekte und Empfehlungen für Besammlung, Kultivierung und Wiederausbringung“, in: ANLiegen Natur, 35(2)/2013, S. 32-39, hier S. 37. 153 Auch Guerrant Jr. (Guerrant Jr., Edward O., „The Value and Propriety of Reintroduction as a Conservation Tool for Rare Plants”, in: Environmental Science and Management Faculty Publications and Presentations, Paper 33,

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vierende Lücken in der Biotop- und Habitatkartierung in Deutschland, gepaart mit veralteten Gefährdungsrängen von Arten in der Roten Liste.154 Dabei handelt es sich um ein gewusstes Nichtwissen (Ungewissheit), das bei ausreichender und nachhaltiger finanzieller Förderung zu beseitigen wäre. Der Natur- und Biodiversitätsschutz hat allerdings auch mit einem nicht-wissbaren Nichtwissen155 zur internen Pluralität der Vielfalt konstruktiv umzugehen, das in der Komplexität der Natur begründet liegt und gesicherte Aussagen über evolutive Entwicklungen der Zukunft unmöglich macht (Unsicherheit). Nur vordergründig scheint dies die stärker technisierten Lebendobjekte in Genbanken nicht zu betreffen. Denn auch dort sorgen metabolische Veränderungen im Saatgut bei der Kühllagerung für Verluste bei der genetischen Integrität. Und es ist bekannt, dass die auf modernen Züchtungsmethoden basierenden Hochzuchtsorten nicht selten ihre neu eingefügten Resistenzgene in der Natur wieder ‚verloren‘ haben. Der Naturschutz hat international unterschiedliche Varianten entwickelt, um auf die Förderung von Ex situ-Maßnahmen gemäß CBD (s. Frese, in diesem Buch) und damit auf die fortschreitende Technisierung der Natur zu reagieren. In normativer Hinsicht ist der Befund relevant, dass im deutschen Naturschutz die Kriteriologie zur Gefährdung von Arten, die die Weltnaturschutzunion IUCN vorgelegt hat, weitgehend abgelehnt wird. Bei der IUCN findet sich der betreffenden Spezies zugeordnet der Buchstabe „E“ für „ausgestorben“ (extinct), aber auch „EW“ für „extinct in the wild“. Letzteres bedeutet, dass noch mindestens ein Exemplar in einer Ex situSammlung existiert. Die deutsche Rote Liste berücksichtigt hingegen den Erhalt in Genbanken nicht und setzt für „ausgestorben oder verschollen“ eine Null. Man kann dieses Vorgehen als dogmatisch kritisieren. Begründet ist es in der Sorge, dass der Artenschutz in Genbanken auf Kosten des Schutzes von natürlichen Lebensräumen geht – damit war bereits Loki Schmidt konfrontiert (s. o.). Für die Zukunft sind Untersuchungen notwendig, die belegen, ob diese

3, Portland/OR 2013, online unter: http://www.nrcresearchpress.com/doi/ abs/10.1139/cjb-2012-0239#.WNI8BWcxncs) kommt zu dem Schluss, dass „the lack of consensus metric of success“ neben unterschiedlichen Datenbasen wesentlich zur uneinheitlichen Bewertung jener Insituierungen beiträgt. 154 Sommer, Ackerwildkrautflora. 155 Vgl. Hetzel, Ethik der Biodiversität.

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Sorge sich über die letzten vier Jahrzehnte als berechtigt erwiesen hat oder nicht. Eher ist zu vermuten, dass über die forschungspolitisch gesteuerten Sammlungskonzepte – etwa den jüngeren Fokus auf die CWR – Naturschutzziele von Botanischen Gärten implizit erodiert werden. Der Nutzenaspekt zeigt sich u. a. dadurch, dass CWR allein in europäischen Botanischen Gärten bereits mit mehr als 2000 Taxa repräsentiert werden.156 Auch juristische Regelwerke wie die CBD ermöglichten durch die Begriffsunschärfe im semantischen Feld Natur-Kultur-Technik, dass man sich beim Sammeln auf reale und potenzielle Nutzpflanzen fokussieren konnte. Hingegen blieben zahlreiche Formen von „Wildpflanzen“ ausgeblendet, gerade jenseits der höheren Pflanzen (z. B. Moose, Farne und Algen). Es wird einseitig auf den Begriff der pflanzengenetischen Ressourcen (PGR) abgezielt, also auf die Nutzung eines begrenzten Spektrums von Pflanzen und der Optionalität ihrer Gene, anstatt, wie eigentlich intendiert, die Gesamtheit der Biodiversität im Blick zu haben. Philosophisch relevant ist nicht zuletzt, dass Botanische Gärten mit diversen Gegnern von Aussiedlungsprojekten aus den Naturwissenschaften konfrontiert sind, weil das Ausgesiedelte nicht „natürlich“ oder „wild“ oder „ursprünglich“ genug ist: „In order to prevent the negative effects on wild plant population as well as native vegetation and plant-pollinator interactions, large-scale in­ troduction of cultivars of native plants should be avoided“.157 Umgekehrt gehen Protagonisten von Botanischen Gärten selbst bei den Reinigungsanstrengungen sogar noch weiter und äußern Kritik an den sich neu etablierenden gesellschaftlichen Praxen mit Pflanzen, die v. a. aus dem urbanen Kontext stammen. So fordern Zippel et al. „allgemein gültige Kriterienkataloge“ für die Wiederansiedlung angesichts der „wilden“ Wiederansiedlungen „durch verschiedene Akteure des Naturschutzes“ bzw. im Rahmen des „guerillagardening“.158 Die Frage nach natürlichen Ordnungen ist hier mit der Machtfrage verbunden, wer die Natur ordnen darf. Sie artikuliert sich auch in den Gegensätzen von Expertenwissen und Laienwissen.

156 FAO, Second Report, S. 86. 157 Schröder, Roland und Rüdiger Prasse, „From nursery into nature: A study on performance of cultivated varieties of native plants used in re-vegetation, their wild relatives and evolving wild x cultivar hybrids“, in: Ecological Engineering, 60/2013, S. 428-437, hier S. 436. 158 Zippel et al., Einlagerung, S. 4-6.

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Hinzu kommen Stimmen, die gegen die Rettung des Endemischen und Indigenen und die entsprechende Bekämpfung der Neophyten und Neozoen gerade diese als die „neuen Wilden“ hervorheben, und zwar positiv.159 Gegen naturalistische Identitätspolitiken, die mit der Stilisierung von Verlustängsten einhergehen, betonen sie, dass „die Natur“ selbst für ihre Rettung sorgen wird, womit sie im naturalistischen Paradigma verbleiben, was einer Anlehnung an den Anarchismus noch nie widersprochen hat. Auch wenn dies ein Rundumschlag gegen jegliche Technik und Kontrollbemühung des Naturschutzes ist (unter anderem gegen eine, die sich auf Natur als Kultur beruft und Vermächtniswerte schützen möchte, s. o.), so bleibt der Kern der Kritik – der Fokus auf eine „natürliche“ Identität mit dem Zweck, das Andere als das Fremde zu stilisieren160 – für einige Botanische Gärten bedenkenswert. Dies gilt umso mehr für Genbanken und ihre Sammlungen des Sortenreinen. Generell ist festzuhalten, dass die in den Lebendsammlungen festgelegten Ordnungen sich nicht „natürlichen“ und auch nicht nur „kultürlichen“ (etwa züchterischen) Ordnungen verdanken, sondern dass in sie soziale Ordnungen eingeschrieben sind. Nicht umsonst beherbergt das BfN mittlerweile eine Arbeitsgruppe zur Naturbewusstseinsforschung, an der auch Sozial- und Geisteswissenschaftler beteiligt sind. Für die philosophische Forschung ist die geschilderte Problematik anschlussfähig an Theodor W. Adornos Negative Dialektik, der wir die Aufforderung zur Suche nach dem Nicht-Identischen verdanken angesichts der „Nichteinholbarkeit des Anderen“.161 6.2 Erkenntnisse zur Wildpflanzenthematik Nach wie vor stimmt aufgrund des o. g. Nutzenfokus von pflanzlichen Lebendsammlungen das Fazit, dass Wildpflanzen, „die weder aktuell noch potenziell in Landwirtschaft und Gartenbau nutzbar sind“, als gefährdet eingestuft werden müssen.162 Jenseits des Nutzenaspekts bleibt auch, wie gesehen, der Methodenaspekt zur Ex

159 Z. B. Pearce, Fred, Die neuen Wilden. Wie es fremden Tieren und Pflanzen ge­ lingt, die Natur zu retten, München 2016. 160 Vgl. Eser, Uta, Der Naturschutz und das Fremde. Ökologische und normative Grundlagen der Umweltethik, Frankfurt a. M. 1999. 161 Adorno, Theodor W., Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1966. 162 Schwarz und Lieberei, Forscherin, 2009, S. 95.

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situ-Erhaltung problematisch, nicht zuletzt aufgrund von Begriffsunschärfen. Wenn es also heißt, inzwischen sei „auch die Lagerung von Wildpflanzensaatgut methodisch gesichert“ und diese spiele „weltweit eine zunehmende Rolle im botanischen Artenschutz“,163 so ist das insofern missverständlich, als hier nach wie vor unklar bleibt, was eine „Wildpflanze“ ist und ferner keine Unterscheidung zwischen züchterisch relevanten CWR und den züchterisch ‚unnützen‘ Ackerwildpflanzen und weiteren Pflanzen vorgenommen wird. Unstrittig ist: Die crop wild relatives haben als genetische Reservoire für industriell genutzte Pflanzen immens an Bedeutung gewonnen (s. Graner sowie Frese, in diesem Buch), was sich auch den neuen genomischen Methoden zu ihrer Erschließung verdankt. Wenigstens für die besonders bedrohten Ackerwildpflanzen164 ergäbe sich die bedenkenswerte Möglichkeit, sie in ihrer Funktion als Kulturfolger zu „Kulturdenkmälern“ zu ernennen165 und entsprechend unter Schutz zu stellen. Mit der gleichen Zielvorgabe könnte man auch fordern, dass die in Genbanken lagernden alten Sorten in begrenztem Maße wieder ausgepflanzt werden, und sei es zu pädagogisch-ästhetischen Schauzwecken. Damit wäre ein musealer Zugang zur Natur verbunden, der Botanische Gärten und Genbanken mit dem Konzept von Freilichtmuseen verbände.166 Wolfgang Schumacher, einer der Pioniere im Schutz der Ackerwildpflanzen, ging diesen Weg schon vor fast vierzig Jahren, als er an das Freilichtmuseum Kommern herantrat: „Bereits in den 1980er Jahren waren unter der Leitung des stellvertretenden Leiters der Stiftung [Rheinische Kulturlandschaft], Professor Dr. Wolfgang Schumacher, Beete mit seltenen Ackerwildkräutern im Museum angelegt worden.“167 Danach entschloss sich das Museum, Natur in die Museumsfläche einzubeziehen. Mittlerweile gibt es auch einen „Museumsacker“: „30 seltene Ackerwildkräuter werden dort vermehrt: Gelber Günsel, Rauhaariger Eibisch, Kleinfrüchtiger Leindotter und Acker-Rittersporn blühen grün-bunt um die Wette, einige Pflanzen

Borgmann et al., WIPs-De, S. 552; so auch Dickie, in diesem Buch. Vgl. Sommer, Ackerwildkrautflora. Meyer et al., Ackerwildkrautschutz, S. 26f. Zur artenschutzrelevanten Rolle von Freilichtmuseen Bommer und Beese, Res­ sourcen, S. 79; Meyer et al., Ackerwildkrautschutz, S. 31. 167 Hoffmann, Claudia, „Projekt: Wildkräuter sterben langsam aus“, in: Kölner Stadtanzeiger vom 1. Juli 2011, online unter: http://www.ksta.de/projektwildkraeuter-sterben-langsam-aus-12173278 (letzter Aufruf: 20.12.2017). 163 164 165 166

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sind zum Teil auch schon geerntet. Nach der Vermehrung wird das Ackerwildkraut-Saatgut in der Region ausgebracht.“ Loki Schmidts Ziel, mittels einer Genbank für Wildpflanzen den Schutz der bedrohten Habitate zu stärken, ist bislang nicht erreicht worden. Gründe dafür sind ein Mangel an nachhaltiger finanzieller Unterstützung (d. h. jenseits von befristeten Drittmittelprojekten), vorherrschende Nutzenorientierung unter dem Primat der agrarrelevanten Forschung, was die Sammlungsziele beeinflusst, und das Fehlen von dauerhaft flankierenden und entsprechend monetär unterstützten Maßnahmen zum Erhalt der natürlichen Lebensräume. Zu vermuten ist, dass auch ein genereller Aspekt eine Rolle spielt, denn die Vernetzung von Botanischen Gärten mit agrarischen, hortikulturellen und anderen Genbanken und Förderprogrammen scheint vielfach nicht sehr ausgeprägt zu sein und wenn, dann zumeist von den strategischen Initiativen der Genbanken dominiert (für Deutschland hatten die Verantwortlichen für die Loki SchmidtSammlung in Braunschweig und Osnabrück nahezu eine Pionierfunktion). So konstatiert zumindest die FAO für den agrarischen Nutzungsbereich: „In many countries cross-sectoral linkages remain poorly developed and botanical gardens are not generally included in national PGR programmes or networks“.168 Hier müsste eingedenk der Multifunktionalität der lebenden Objekte aber auch umgekehrt gefragt werden: Welchen Beitrag leisten die agrarisch ausgerichteten Genbanken für die Zwecke des Naturschutzes und vernetzen sie sich entsprechend mit den Botanischen Gärten? Denn geschieht dies nicht, bleibt Botanischen Gärten langfristig nur die Rolle des ‚Zulieferers‘ von Pflanzenvarietäten, die agrarisch nutzbar gemacht werden können. 6.3 Erkenntnisse zur Abgrenzungsproblematik Botanischer Garten/Genbank Die Erträge zur Abgrenzungsproblematik lassen sich wie folgt zusammenfassen: Von den drei Grundzielen der Botanischen Gärten – Erhaltung, Vermehrung und öffentliche Darbietung der Lebendsammlungen – ist ihnen exklusiv nur noch der ästhetische Aspekt der Schausammlung verblieben. Erhaltung und Vermehrung werden auch und zuvorderst in Genbanken geleistet. Botanische Gär168 FAO, Second Report, S. 85.

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ten haben dabei eine geringere Fläche zur Vermehrung der in ihnen bewahrten Spezies bzw. Taxa, als dies bei Genbanken wie etwa dem IPK Gatersleben oder der Deutschen Genbank Obst der Fall ist. Von den eingangs genannten sechs Kriterien zur Differenz Botanischer Garten/Genbank konnten die ersten beiden – räumliche Trennung (a), Objektbezug/Zielsetzungen (b) – wenig überzeugen. Bezüglich der räumlichen Trennung muss ergänzt werden, dass sich die Grundstücke Botanischer Gärten im Gegensatz zu denen von Genbanken in innerstädtischer Lage befinden und entsprechend wertvoll sind. Dies ist nicht selten ein Grund für das ‚Aufgeben‘ eines Botanischen Gartens. Der Begriff der Wildpflanze in Abgrenzung zu dem der Kulturpflanze, Kriterium d), wurde in seiner semantischen Unschärfe problematisiert und schied als Differenzkriterium aus. Die in beiden Institutionen verwendete Technik, Kriterium e), konnte im Fall der Kühltechnik und Aufbewahrungsbehältnisse, der Dosen, umgekehrt sogar ein mittelfristiges Kontinuum zwischen Genbanken und Botanischen Gärten herstellen, gefolgt vom Aluminiumverbundbeutel. Ein wichtiges Differenzkriterium liegt hingegen in den Pflanzen selbst begründet. Eine Langzeitlagerung von Wildpflanzen in einer reinen Genbank scheiterte, wie der historische Exkurs zur Braunschweiger Genbank zeigte, an der naturgegebenen Widerständigkeit der Wildpflanzensamen und dem mangelhaften Wissen über den Umgang mit ihnen in Genbanken (anders als bei Kulturpflanzen). Moderne technische Erhaltungsverfahren wie die Kryokonservierung vermitteln heute die Hoffnung, die gehorteten Biofakte in näherer Zukunft besser als bisher kontrollieren zu können, allerdings gilt dies nicht für Wildpflanzen. Für die meisten Botanischen Gärten bleibt diese Technik ohnehin zu teuer. Zur Kältetechnik ist summarisch zu sagen: Ist die Kühllagerung der Samen in Botanischen Gärten Mittel zum Zweck der Erhaltung der ganzen Pflanze, so ist sie bei Genbanken der Zweck selbst. Denn das Leben der ganzen Pflanze, das sich nur in den sporadischen Verjüngungsintervallen verwirklicht, ist für das Genbanking stets ein Risikofaktor im Hinblick auf die genetische Integrität und Identität (die Selbigkeit) der jeweiligen Sorte. Die Zielsetzungen der Botanischen Gärten wie der Genbanken konzentrieren sich demnach auf den Schutz von Biodiversität, selbst wenn das Konzept jeweils unterschiedlich ausbuchstabiert wird. Ein Unterschied besteht darin, dass Botanische Gärten die Biodiversität um ihrer selbst willen und – mittelbar – in situ schützen wollen,

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d. h. auf den Wert der Vielfalt des Lebens in ihrem natürlichen Zusammenhang rekurrieren, wohingegen pflanzliche Genbanken eine Agrobiodiversität erhalten wollen, die auf die Vielfalt der Bereitstellung von züchterischen Optionen abhebt und damit letztlich an den Wert der Ressourcen- und Ernährungssicherung für Mensch und Nutztier gekoppelt bleibt. Auch werden beide Institutionsformen nicht müde zu betonen, dass sie Forschungsinstitutionen sind, zum Bereich Naturwissenschaft gehören und entsprechend experimentell arbeiten. Genbanken gehen damit gegen das Vorurteil an, nur ein Vorratslager zu sein; Botanische Gärten gegen die Vorstellung, lediglich ästhetische Bedürfnisse zu bedienen. Im Vergleich zu Genbanken tragen Botanische Gärten allerdings weitaus mehr zur Lehre an Schulen (vgl. die „Grüne Schule“) und Universitäten bei, nicht nur personell, sondern auch materiell, indem sie Material für botanische Übungen und Praktika für Studierende der Biologie und verwandter Fächer bereitstellen, oft in erheblichem Umfang. Auch jenseits des molekulargenetischen Paradigmas haben die Gärten mit ihrer taxonomischen Forschung gut zu tun. So existieren für viele artenreiche Gattungen immer noch keine Bestimmungsschlüssel (z. B. für die Gattung Tillandsia in der Familie der Bromeliaceae). Die an Botanischen Gärten versammelten Kenntnisse in organismischer Biologie werden in Zukunft umso wertvoller, weil die universitäre Ausbildung in organismischer Biologie in den Industrieländern bereits deutlich reduziert wurde. Genetische und physiologische Lehranteile überwiegen im heutigen Biologiestudium. Es scheint wichtiger zu sein, was man mit einer Pflanze oder einem Tier machen kann, als zu wissen, mit welchem genau man es zu tun hat – vor allem jenseits des Labors. (1) Ein wichtiges Differenzkriterium bleibt, dass Botanische Gärten überzeugend darlegen, ihre Objekte wieder in naturnahe Biotope auswildern zu wollen und (mit Einschränkungen) auch zu können, anders als Genbanken. Um dies weiter glaubwürdig vertreten zu können, ist von ihnen aber verstärkt Theoriearbeit zu fordern, wie sie für die Proponenten der organismischen Biologie noch vor wenigen Jahren typisch war.169 Die Autoren des vorliegenden Beitrags haben den – womöglich subjekti169 Vgl. Janich, Peter und Michael Weingarten, Wissenschaftstheorie der Biologie, Heidelberg 1999.

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ven – Eindruck gewonnen, dass in vielen Botanischen Gärten die Ansicht vorherrscht, man könne auf der naturwissenschaftlichen Theorieebene auf das populationsgenetische Paradigma, das der Synthetischen Evolutionstheorie seit den 1930er Jahren (und auch der sog. „Erweiterten Synthese“) zugrunde liegt, problemlos ‚umschwenken‘, aber auf der Ebene des praktischen Arbeitens inklusive des Sammelns mit einem z. B. zu wenig problematisierten Spezies-Konzept170 vergleichsweise weiter machen wie ‚bisher‘ – z. T. wie zu Darwins Zeiten. Nur durch eine stärkere Beteiligung an Debatten zum biologischen Theoriebereich, z. B. zum durchaus problematischen Konzept der genetischen Drift und zur phänotypischen Plastizität können Wissenschaftler aus Botanischen Gärten qualitativ gegen das quantitative Argument angehen: dass die Größe ihrer Populationen für erfolgreiche Aussiedlungen ohnehin nie ausreicht. (2) Des Weiteren bleibt bedeutsam, dass Botanische Gärten die wirklich lebende Pflanze in den Mittelpunkt ihrer Tätigkeit stellen und nicht, wie Genbanken, nur deren latentes Leben in Kühlkammern oder gar deren Gene. Die ausgepflanzten Objekte haben eine ästhetische und phänomenologische Ausrichtung: Man kann die Pflanzen sehen, tasten und riechen sowie ihrer Entwicklung im Jahreslauf beiwohnen. Die Feststellung ist philosophisch nicht trivial: Botanische Gärten zeigen Pflanzen wesentlich so, wie sie sind. Sie operieren im Modus des Zeigens, nicht des Lagerns und Bevorratens – der dort nur eine Rolle spielt, um zeigen zu können. Und sie sollten sich deshalb durch die Rhetoriken der Genbanken und deren bessere finanzielle Ausstattung auch nicht dazu verführen lassen, ihre wichtige Darstellungsfunktion pflanzlichen Lebens in der Selbstwahrnehmung gering zu schätzen. Botanische Gärten haben deshalb notwendig Biofakte mit niedrigerem Technisierungsgrad als Genbanken und bleiben mit ihren Instrumenten vergleichsweise im Low-tech-Bereich, mit Ausnahme der Digitalisierungsstrategien. Aber auch mit diesen hinken sie den Genbanken um etwa zwei Jahrzehnte hinterher, eine Integration 170 Als Überblick zu den Theoriedebatten vgl. Ereshefsky, Marc, „Species”, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2017 Edition), hg. von Edward N. Zalta, online unter: https://plato.stanford.edu/archives/fall2017/entries/ species/ (letzter Aufruf: 7.1.2018).

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der von Gärten am häufigsten verwendeten Datenbankportale SysTax, BGCI PlantSearch, GBIF u. a. bleibt eine drängende Aufgabe. Die Mehrzahl der Gärten ist in das internationale IPEN-Programm des BGCI eingebunden.171 Bislang wurden die Botanischen Gärten, ähnlich wie Genbanken und auch Museen, mit der aufwändigen Parallelpflege diverser Portale und Datenbanken beschäftigt. Gesucht sind integrative Lösungen, wie sie jüngst am BGBM in BerlinDahlem entwickelt wurden.172 Einerseits führt der Wunsch nach Schaffung globaler Datenbanken pflanzengenetischer Ressourcen (s. Engels und Maggioni, in diesem Buch) unleugbar zu größerer Übersicht über die weltweite Biodiversität und deren genetische Erosion. Andererseits sind dafür transnationale Zusammenarbeit und verstärkte Investitionen in großtechnische Systeme vonnöten. Es ist eher nicht davon auszugehen, dass global ausgerichtete ITKonzepte und deren Weiterentwicklung im Bereich PGR an Botanischen Gärten angesiedelt sein werden, sondern dass diesen in Zukunft lediglich die Aufgabe der Datenlieferanten zukommt – womit ein Kontrollverlust einhergeht. Umgekehrt steht die Ausbildung zum Kustos vor der gravierenden Herausforderung, auch in Bioinformatik zu qualifizieren. Eine gewisse Verspätung im Bereich Digitalisierung liegt nicht nur in der finanziellen Förderung, sondern auch im durchschnittlich höheren Alter der Institutionen und der entsprechenden Sammlungsvielfalt begründet. So sind bei alten Botanischen Gärten (etwa dem in Heidelberg) neben den Daten zu Pflanzen auch solche zu verschiedensten Medien und Referenzsammlungen zu digitalisieren und für integrative Plattformen aufzubereiten, z. B. Fotos, Dias, Filme, Reiseberichte, Sammeltagebücher. Den Gärten stellen sich deshalb ähnliche Probleme wie älteren Museen.173 Bei Erfassung und Erhaltung seltener PGR erfüllen Botanische Gärten wichtige, aber nur ergänzende Aufgaben zu den Genbanken. Das heißt auch, dass die Botanischen Gärten in ihren Aufga171 Das International Plant Exchange Network (IPEN) wird von RBG Kew aus ge­ lenkt. Vgl. für Details die BGCI-Webseite. 172 Vgl. Berendsohn, Walter G.; Anagnostopoulos, Anastasios; Hagedorn, Gregor et al., „A comprehensive reference model for biological collections“, in: Taxon, 48(3)/1999, S. 511-562. 173 Zu Museumskonzepten vgl. Baur, Joachim, „Was ist ein Museum? Vier Um­ kreisungen eines widerspenstigen Gegenstands“, in: ders. (Hg.), Museumsana­ lyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bielefeld 2010, S. 15-48.

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ben reduziert wahrgenommen werden, wenn man sie vom Aufgabenbereich einer Genbank aus evaluiert. Die globale Zunahme der Zahl Botanischer Gärten seit dem Jahr 2000 spiegelt laut Webseite der BGCI scheinbar das gegenwärtige öffentliche Interesse an ihrer Schaffung und deren zunehmende Bedeutung wider.174 In ihnen sollen auch bedrohte einheimische Wildpflanzen („native wild flora“) bewahrt werden. Primär überlagert aber der züchterische Nutzenaspekt den Naturschutzgedanken, d. h. die Objekte der Botanischen Gärten sollen nutzbar gemacht werden. Botanische Gärten müssen in ihren Forschungszielen und Erhaltungsanstrengungen weitaus stärker als pflanzliche Genbanken den Spagat halten zwischen dem Einheimischen und Regionalen (Stichworte: Verantwortungsarten, endemische Arten) und dem Kosmopolitischen und Globalen, was am Beispiel des Botanischen Gartens Osnabrück verdeutlicht wurde. Kritisch ist weiter einzuwenden, dass die prekäre finanzielle Ausstattung zahlreicher wie auch die Schließung einzelner Botanischer Gärten die schönfärberische FAO-Darstellung zur Lage der Botanischen Gärten deutlich konterkariert.175 Große und altetablierte Institutionen wie etwa der 1859 gegründete Missouri Botanical Garden in den USA mit seiner DNA-Bank176 oder RBG Kew mit seiner Millennium Seed Bank haben mit der Umsetzung der Vorgaben der CBD eher weniger Probleme. Viele andere Botanische Gärten, insbesondere die in ärmeren Ländern, können jedoch die in sie gesetzten Erwartungen als Horte der Biodiversität aus ökonomischen und technischen Gründen nur schwerlich erfüllen. Es bleibt ein Manko und Relikt des Kolonialismus, dass die meisten Lebendsammlungen inklusive der Botanischen Gärten in Nordame-

174 Vgl. BGCI-Webseite, Unterseite: About Botanic Gardens Conservation Inter­ national, online unter: https://www.bgci.org/worldwide/about/ (letzter Auf­ ruf: 20.12.2017). 175 Vgl. die Meldung „Botanischer Garten der Universität des Saarlandes schließt“ (Quelle: dpa/lrs), in: DIE WELT, 22.3.2016, online unter: https://www.welt.de/ regionales/rheinland-pfalz-saarland/article153566780/Botanischer-Garten-­ der-Universitaet-des-Saarlandes-schliesst.html (letzter Aufruf: 14.1.2018) so­ wie Shrivastana, Anjana und Helmut Höge, „Panik in der Botanik“, in: taz, 28.5.2016, S. 17-20. Zur FAO-Darstellung vgl. FAO, Second Report, S. 22 und S. 112. 176 Vgl. Webseite Missouri Botanical Garden, Unterseite: DNA-Bank, online unter: http://www.missouribotanicalgarden.org/plant-science/plant-science/william-­lbrown-center/wlbc-resources/wlbc-databases/dna-bank.aspx (letz­ter Aufruf: 20.12.2017).

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rika und Europa angesiedelt sind und nicht in den „hot spots“ der Biodiversität.177 Die Autoren dieses Beitrags schließen mit der Ansicht von Schoen und Brown, dass Botanische Gärten mit ihrem bisherigen Sammlungsziel, eine große taxonomische Breite abzudecken, unter Ratio­ nalisierungs- und Technisierungsdruck geraten sind.178 Soweit die technischen Investitionen nicht für die Ernährungssicherheit oder andere, zuvorderst industrielle Zwecke nutzbar gemacht werden können, scheint ihre Funktion für die Botanischen Gärten nahezu marginal. Im technischen Fokus auf die Langzeitlagerung von „Genen“ bleiben wichtige Bereiche der pflanzlichen Biodiversität unbeachtet und können unbemerkt verloren gehen. Umgekehrt können Botanische Gärten mit aktiven Sammlungen in Saatgut- oder Genbanken ihre ökologischen Ziele, natürliche Pflanzenlebensgemeinschaften (der Wüste, der Alpen etc.) genetisch gleichsam vollständiger abzubilden und deshalb auch für Renaturierungsmaßnahmen besser gerüstet zu sein, womöglich sogar eher erreichen; zumindest, wenn sie hinreichend große Akzessionen haben. Im Hinblick auf die involvierten Naturkonzepte ist die Einsicht wichtig: Auch ein renaturiertes Objekt ist ein Biofakt, das sich einer technischen Handlung verdankt. Wichtig für das Bildungsanliegen muss für Botanische Gärten aber, anders als für Genbanken, der repräsentative Charakter der Schausammlung bleiben, der Pflanzengesellschaften und größere ökologische Einheiten zeigt: „An emphasis on plant communities rather than individual taxa reinforces in the public mind the central role of habitat preservation in conservation“. Denn bei Ex situErhaltungsmaßnahmen gilt es zunehmend, dem Missverständnis eines Sicherheitslagers zu begegnen: „Such efforts are crucial for dispelling potential public misunderstanding that plant species put aside in seed banks are safe for all time and thus need not be conserved in natural habitats“.179

177 So auch Sharrock et al., Conservation Report. 178 Schoen und Brown, Wild Plant Species. 179 Ebd., S. 965.

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Garten, Genbank oder „Samenmuseum“?

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Danksagung: Die Verfasser danken den Interviewpartnern PD Dr. Nikolai Friesen und Dr. Peter Borgmann vom Botanischen Garten Osnabrück und Dr. Lothar Frese vom Julius Kühn-Institut Quedlinburg (ehemaliger Leiter der Genbank Braunschweig Genetic Resources Collection, 1996–2006), der uns freundlicherweise auch seine Handakten aus der Braunschweiger Zeit zur Ansicht überließ, sowie dem Thünen-Institut in Braunschweig, das uns ebenfalls historische Akten zu Forschungszwecken bereitstellte. Für hilfreiche Kommentare danken wir PD Dr. Thomas Kirchhoff (München/Heidelberg).

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Die Deutsche Zellbank für Wildtiere ‚Alfred Brehm‘ (Cryo-Brehm)

Abstract: The German Cell Bank for Wildlife Animals (Cryo-Brehm) is a scientific collection, which preserves biological and genetic information about the vertebrate kingdom through the conservation of viable cell lines in accordance with the Convention on Biological Diversity (CBD) of the UN. For this purpose, available animal tissue is processed by a specific method, so that proliferating cell populations can be stored at temperatures of liquid nitrogen. In addition to a significant contribution to the conservation of biodiversity this cell bank provides a range of exciting research opportunities as the cells can be propagated robustly over long periods which enables a sustainable utilization. Zusammenfassung: Entsprechend der Biodiversitäts-Konvention (CBD) der UN hat sich die Deutsche Zellbank für Wildtiere ‚Alfred Brehm‘ (Cryo-Brehm) zum Ziel gesetzt, einen Teil der biologischen und genetischen Vielfalt von Wirbeltieren über die Lebendlagerung von Zellkulturen zu erhalten. Dazu werden vermehrungsfähige Zellen aus zur Verfügung gestellten Geweben unterschiedlicher Wirbeltierarten aufbereitet und bei Temperaturen des flüssigen Stickstoffs gelagert. Neben ihrem Beitrag zum Erhalt der Biodiversität erlaubt diese Sammlung aber auch umfangreiche Arbeiten im Bereich der Grundlagen- und angewandten Forschung, da die Zellen über einen langen Zeitraum vermehrt und damit fortdauernd und nachhaltig genutzt werden können.

1. Die Gründung der Deutschen Zellbank für Wildtiere und ihre Ziele Das langfristige Ziel der Deutschen Zellbank für Wildtiere ‚Alfred Brehm‘ ist die möglichst umfassende Sammlung von Zellkulturen von Wirbeltieren, um biologische Informationen zu bewahren und der Forschung zur Verfügung zu stellen. Analog zu Brehms Tierle­ ben, der von Alfred E. Brehm (1829–1884) angelegten Enzyklopädie über das Tierreich in schriftlicher Form, soll die in Lübeck und parallel in Sulzbach situierte Sammlung als eine lebende Enzyklopädie Informationen über das Tierreich beinhalten, erforschbar und nutzbar machen.

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Das Potenzial von Biomaterialiensammlungen wie der Deutschen Zellbank für Wildtiere reicht vom Erhalt biologischer, physiologischer und biochemischer Besonderheiten und Informationen bis zu unzähligen Möglichkeiten in der Grundlagen- und der angewandten Forschung. Wir können davon ausgehen, dass dieses Potenzial mit dem zu erwartenden technologischen Fortschritt stetig und überproportional steigen wird. So sind auch für die klassischen naturkundlichen Sammlungen, deren Beginn teilweise Jahrhunderte zurückliegt, heutzutage zusätzliche Nutzungsmöglichkeiten wie z. B. die DNA-Analyse hinzugekommen. Die Entstehung der Deutschen Zellbank für Wildtiere verdankt sich in wissenschaftlich-technischer Hinsicht den langjährigen Erfahrungen, die im Umgang mit adulten Stammzellen gewonnen wurden. Unterschiedliche Typen adulter Stammzellen können aus verschiedenen Geweben von Organismen gewonnen und in vitro kultiviert, d. h. mit Hilfe von speziellen Nährmedien und definierten Umgebungsbedingungen (z. B. Temperatur) am Leben erhalten werden. Spezifische Eigenschaften der Zellen ermöglichen ihre intensive und vielseitige wissenschaftliche Nutzung: Abhängig von Dauer und Frequenz der Zellteilung ist es möglich, die Zellen über lange Zeiträume in Kultur zu vermehren, so dass ständig große Mengen an Zellmaterial produziert werden können. Eine einmal etablierte, proliferierende Zellkultur ist daher sehr nachhaltig nutzbar. Außerdem ermöglicht die Kryokonservierung (d. h. Lebendkonservierung bei Tieftemperaturen, s. dazu Schumacher, in diesem Buch) die Anlage von Probenvorräten mit langfristiger Verfügbarkeit. Die Fähigkeit der undifferenzierten Stammzellen zur Differenzierung in diverse spezialisierte Zelltypen (Nervenzellen, Muskelzellen etc.) erlaubt vielfältige Nutzungsmöglichkeiten. So können z. B. zelluläre Entwicklungs- und Differenzierungsvorgänge untersucht oder gewünschte Zelltypen für bestimmte Anwendungen gezielt hergestellt werden.1 An der Fraunhofer-Einrichtung für Marine Biotechnologie und Zelltechnik (EMB) wurden in den vergangenen Jahren unterschiedliche Typen humaner adulter Stammzellen beschrieben, charakterisiert und deren verschiedene Anwendungsmöglichkeiten unter-

1

Kruse, Charli; Danner, Sandra und Daniel H. Rapoport, „Current stem cell tech­ nology: limitations and realistic expectations“, in: Engineering in Life Sciences, 8(1)/2008, S. 13-18.

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sucht, z. B. in den Bereichen der regenerativen Medizin2 und der Etablierung von zellbasierten Testsystemen.3 Aus Geweben von Wildtieren können ebenfalls Zellen mit vergleichbaren Eigenschaften gewonnen werden. Ebenso wie bei humanen adulten Stammzellen ist: – ihre Gewinnung ethisch unkritisch (Gewebeproben werden ausschließlich post mortem von adulten Tieren gewonnen), – aufgrund der Proliferationsfähigkeit eine Vermehrung der Zellen in vitro über ausgedehnte Zeiträume möglich, – durch Kryokonservierung die langfristige Aufbewahrung der Zellen im lebenden Zustand möglich, – ein gewisses Differenzierungspotenzial zu beobachten.4 Als Resultat der evolutionären Entwicklung findet man im Tierreich zudem einen nahezu grenzenlosen Fundus an physiologischen und biochemischen Besonderheiten vor, welche der Anpassung an die speziellen Lebensbedingungen der Arten dienen. Hierzu zählen z. B. Resistenzen gegen Toxine,5 Toleranzen hinsichtlich extremer Um-

2 Salem, H.; Ciba, Philipp; Rapoport, Daniel H.; Egaña, José Tómas; Reithmayer, Katrin; Kadry, Mohamed; Machens, Hans-Günther und Charli Kruse, „The in­ fluence of pancreas-derived stem cells on scaffold based skin regeneration“, in: Biomaterials, 30(5)/2009, S. 789-796. 3 Danner, Sandra; Benzin, Heiko; Vollbrandt, Tillman; Oder, Jessica; Richter, Anja und Charli Kruse, „Quantum dots do not alter the differentiation potential of pancreatic stem cells and are distributed randomly among daughter cells“, in: International Journal of Cell Biology, 2013, online unter: https://www.hindawi. com/journals/ijcb/2013/918242/ (letzter Aufruf: 17.12.2017). 4 Ciba, Philipp; Schicktanz, Silke; Anders, Eleanor; Siegl, Edda; Stielow, Anne; Klink, Emel und Charli Kruse, „Long-term culture of a cell population from Siberian sturgeon (Acipenser baerii) head kidney“, in: Fish Physiology and Bio­ chemistry, 34(4)/2008, S. 367-372; Ciba, Philipp; Hering-Hagenbeck, Stephan; Nagel, Udo und Charli Kruse, „Untersuchung und Archivierung von Stammzel­ len aus Wildtieren; hier: Schneeleopard (Uncia uncia) und Rothschildgiraffe (Giraffa camelopardalis rothschildi) “, in: Der Zoologische Garten, 79(2)/2010, S. 132-139; Langner, Stephanie; Rakers, Sebastian; Ciba, Philipp; Petschnik, Anna E.; Rapoport, Daniel H. und Charli Kruse, „New cell line from adipopancreatic tissue of Atlantic herring Clupea harengus “, in: Aquatic Biology, 11(3)/2011, S. 271-278. 5 Voss, Robert S. und Jansa, Sharon A., „Snake-venom resistance as a mammalian trophic adaptation: lessons from didelphid marsupials“, in: Biological Reviews, 87(4)/2012, S. 822-837.

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weltbedingungen (u. a. Trockenheit, Kälte),6 sowie eine ausgeprägte Fähigkeit zur Geweberegeneration.7 Diese Leistungen werden im Organismus auf zellulärer Ebene gesteuert und können mit Hilfe von Zellkulturen erforscht werden. Zellkulturen von Wildtieren ermöglichen daher einerseits den Erhalt vielfältiger grundlegender Information über die Arten und ihrer zellphysiologischen Besonderheiten. Zudem können sie biotechnologisch vielseitig verwendet werden, indem ihre zellulären Leistungen und Eigenschaften in innovativen Technologien nutzbar gemacht werden. So sind in Zellen die Informationen zu den Mechanismen enthalten, die es z. B. dem Eisfrosch (Rana sylvatica) und Vertretern aus dem Stamm der Bärtierchen (Tardigrada) ermöglichen, Frostperioden in einer Art scheintotem Zustand zu überdauern. Durch das Verständnis der dieser Eigenschaft zugrundeliegenden Vorgänge könnten etwa verbesserte Methoden zur Konservierung von Spenderorganen entwickelt werden.8 Weiterhin können Zellen bestimmter Spezies als hochsensible Sensoren für Umweltgifte9 oder zur Erforschung der Pathogenese und Transmission bestimmter Viren dienen.10 Hautzellen verschiedener Amphibien sezernieren hochwirksame Moleküle, die z. B. antibiotische oder analgetische Wirkung aufweisen und in klinisch-pharmakologische Anwendungen überführt werden können.11 Weitere Anwendungsbereiche dieser Zellkulturen wären: 6 Jönsson, K. Ingemar, „Tardigrades as a potential model organism in space re­ search“, in: Astrobiology, 7(5)/2007, S. 757-766. 7 Farah, Zayd; Fan, Huimin; Liu, Zhongmin und Jia-Qiang He, „A concise review of common animal models for the study of limb regeneration“, in: Organogenesis, 12(3)/2016, S. 109-118. 8 Kletetschka, Gunther und Jolana Hruba, „Dissolved Gases and Ice Fracturing During the Freezing of a Multicellular Organism: Lessons from Tardigrades“, in: BioResearch Open Access, 4(1)/2015, S. 209-217. 9 Fent, Karl, „Fish cell lines as versatile tools in ecotoxicology: assessment of cytotoxicity, cytochrome P4501A induction potential and estrogenic activity of chemicals and environmental samples“, in: Toxicology in Vitro, 15(4)/2001, S.  477-488. 10 Gaudreault, Natasha N.; Indran, Sabarish V.; Bryant, P. K.; Richt, Jürgen A. und William C. Wilson, „Comparison of Rift Valley Fever Virus replication in North American livestock and wildlife cell lines“, in: Frontiers in Microbiology, 6/2015, S. 664. 11 Gomes, Antony; Giri, Biblap; Saha, Archita; Mishra, Roshnara; Dasgupta, Subir C.; Debnath, Arjun und Aparna Gomes, „Bioactive molecules from amphibian skin: their biological activities with reference to therapeutic potentials for possi­

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die Geweberegeneration die medizinische Biotechnologie die Oberflächentechnologie die Kosmetik u. v. m.

Dies sind nur wenige bekannte Beispiele. Das Tierreich weist mit großer Sicherheit eine zahllose Menge an weiteren Besonderheiten mit großem Nutzungspotenzial auf, welche erst entdeckt und erforscht werden müssen. Im Abkommen über die Biodiversität (CBD) der UN wird dazu aufgerufen, die Artenvielfalt und die biologischen Informationen möglichst umfassend zu bewahren. Der Erhalt der Arten in situ, also in ihren Lebensräumen, ist dabei die wichtigste Maßnahme (vgl. Frese, in diesem Buch). Bekanntermaßen lässt sich das Artensterben trotz intensiver Anstrengungen zum Erhalt der Lebensräume und der Unterschutzstellung der Arten nicht vollständig verhindern. Daher sollen diese Bestrebungen durch Ex situ-Maßnahmen ergänzt werden. Zu nennen sind hier einerseits die Erhaltungszuchtprogramme, in denen bedrohte Arten in Gefangenschaft überdauern und vermehrt werden sollen, bis eine Rückführung in die natürlichen Lebensräume möglich wird.12 Daneben sollen wissenschaftliche Sammlungen angelegt werden, um notfalls wenigstens die biologischen Informationen über die Arten zu bewahren, erforschbar zu machen und unterschiedliche Anwendungen zu entwickeln. Zu diesem Zweck sind Zellkulturen von Wildtieren als hochkomplexe Datenträger in besonderem Maß geeignet, so dass die Deutsche Zellbank für Wildtiere an der Lübecker Fraunhofer-Einrichtung für Marine Biotechnologie und Zelltechnik (EMB) das Abkommen über die Artenvielfalt verwirklicht. Nach umfangreichen Vor- und Etablierungsarbeiten wurde die Sammlung 2007 durch die Fraunhofer EMB, das Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik (IBMT), den Tierpark Hagenbeck und den Zoo Rostock offiziell gegründet.

ble drug development“, in: Indian Journal of Experimental Biology, 45(7)/2007, S. 579-593. 12 Ein analoges Programm für Pflanzen verfolgen Botanische Gärten. Siehe dazu den Beitrag Karafyllis und Lammers, in diesem Buch.

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2. Leitlinien der Zellbank-Arbeit Den Gründungspartnern war es sehr wichtig, dass folgende Leitlinien die Arbeiten der an dieser Zellbank mitwirkenden Parteien prägen: – Kein Tier wird zum Zweck der Probennahme getötet oder in irgendeiner Form beeinflusst. In der Regel fallen Gewebeproben im Rahmen der pathologischen Untersuchung post mortem an, oder es handelt sich um Plazenta- und Nabelschnurgewebe. Selten können auch Teile von Proben verwertet werden, die im Rahmen von Operationen sowieso genommen wurden (z. B. Ohrmarke, Biopsien). – Es wird jede verfügbare Gewebeprobe zur Herstellung und Sammlung einer Zellkultur verwendet, unabhängig vom Grad der Bedrohung der Art, der genetischen Distanz von Individuen, dem kulturellen/historischen Wert und bekannten (z. B. physiologischen) Eigenschaften. – Ein hoher Grad an Standardisierung in der gesamten Prozesskette von der Probenahme über den Probentransport in die Labore der Fraunhofer EMB, die Zellisolation, Zellkultur und Zellvermehrung bis hin zur Kryokonservierung und Lagerung gewährleistet konstante Probenqualität. – Zur Herstellung der Zellkulturen werden vor allem Gewebe verwendet, für die aus dem Bereich der humanen adulten Stammzellforschung an der Fraunhofer EMB ein großer Erfahrungsschatz vorliegt (z. B. Pankreas, Speicheldrüse, Haut). – Die Fähigkeit der eingelagerten Zellen zur Proliferation ist obligatorisch, da nur so eine nachhaltige Nutzbarkeit möglich ist. – Sammlungsobjekte können für wissenschaftliche Zwecke weitergegeben werden. – Ein Grundbestand jeder Zelllinie bleibt unangetastet, um an zukünftige Generationen weitergegeben zu werden.

3. Sammlungsbestand und benötigte Techniken Durch Veterinärmediziner oder Pathologen der Zoos und Tierparks werden die benötigten Gewebeproben aus Organen wie Bauchspeicheldrüse, Mundspeicheldrüsen oder Haut post mortem bzw. der Plazenta postnatal entnommen und in eine physiologische Salzlö-

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sung überführt. Der Transport zur Fraunhofer EMB erfolgt idealerweise innerhalb von maximal 12 Stunden nach Tod bzw. Geburt des Tieres. Über den gesamten Zeitraum müssen die Proben bei Temperaturen um +4 °C aufbewahrt werden, um den Abbau des Gewebes und das Absterben der darin enthaltenen Zellen zu minimieren. Die Isolation und Inkulturnahme der Zellen erfolgt unmittelbar nach Ankunft im Labor durch einen Bereitschaftsdienst. Über einen Zeitraum von ca. 14 Tagen werden die Zellen anschließend in der Zellkultur vermehrt, bevor die ersten Proben eingefroren und so langfristig haltbar gemacht werden. Für die Aufbewahrung der tiefgefrorenen Zellen stehen hochmoderne Probenlagersysteme zur Verfügung, die eine sichere Langzeitlagerung vitaler Zellen und der dazu gehörigen Probendaten gewährleisten. Die Durchführung dieser Arbeiten erfordert umfassendes zellbiologisches und spezifisches verfahrenstechnisches Fachwissen, um die Zellen aus dem Gewebe zu isolieren, in vitro am Leben zu erhalten, zu vermehren und im vitalen Zustand einzufrieren. Dieses Knowhow sowie die erforderliche Labor- und Biobankinfrastruktur sind an der Fraunhofer EMB aufgrund jahrelanger Erfahrungen in der Arbeit mit Zellkulturen von Menschen und unterschiedlichen terrestrischen und marinen Wirbeltieren vorhanden. Aktuell (2017) sind in der Deutschen Zellbank für Wildtiere verschiedene Zellproben von 121 Arten eingelagert. Davon stammen 78 von Säugetieren, 23 von Vögeln, 18 von Fischen und 2 von Reptilien. Je Art wurden Proben von 1-21 Individuen gesammelt, wobei jeweils pro Individuum 1-3 aus unterschiedlichen Geweben gewonnene Zelllinien abgelegt werden. Von jeder Zelllinie sind in der Regel wiederum 10 Proben vorhanden. Dementsprechend sind im Cryo-Brehm aktuell ca. 7.000 Proben eingefroren.

4. Anwendungsbeispiel Unterschiedliche potenzielle Anwendungsmöglichkeiten wurden bereits erwähnt. Am Beispiel der Entwicklung eines innovativen pharmakologischen Testsystems soll abschließend eine bereits etablierte Nutzungsmöglichkeit das tatsächliche Potenzial von Wildtierzellkulturen verdeutlichen: Bei der In vitro-Kultivierung von Zellen aus Larven der Regenbogenforelle (Oncorhynchus mykiss) wurde beobachtet, dass die

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Zellen regelmäßig große, spontan kontrahierende Areale bilden, welche über mehrere Wochen aktiv bleiben und sogar vermehrt werden können.13 Eine eingehende Charakterisierung (u. a. mittels Elektronenmikroskopie und Immunzytochemie) der in diesen Arealen enthaltenen Zellen bestätigte das Vorhandensein von voll funktionsfähigen Herzmuskelzellen.14 Die elektrophysiologische Untersuchung zeigte zudem, dass die Zellen der Forelle große Ähnlichkeiten mit humanen Kardiomyozyten aufwiesen und dass die Zellen dosisabhängig auf unterschiedliche herzwirksame Pharmaka reagierten, so dass die Zellen als neuartiges Testsystem für Herzpharmaka eingesetzt werden könnten.15

13 Grunow, Bianka; Ciba, Philipp; Rakers, Sebastian; Klinger, Matthias; Anders, El­ eanor und Charli Kruse, „In vitro expansion of autonomously contracting, car­ diomyogenic structures from rainbow trout Oncorhynchus mykiss“, in: Journal of Fish Biology, 76(2)/2010, S. 427-434. 14 Grunow, Bianka; Wenzel, Jan; Terlau, Heinrich; Langner, Stephanie; Gebert, Ma­ rina und Charli Kruse, „In vitro developed spontaneously contracting cardio­ myocytes from rainbow trout as a model system for human heart research“, in: Cellular Physiology and Biochemistry, 27(1)/2011, S. 1-12. 15 Mehnert, Julia M.; Brandenburger, Matthias und Bianka Grunow, „Electrophysio­ logical characterization of spontaneously contracting cell aggregates obtained from rainbow trout larvae with multielectrode arrays“, in: Cellular Physiology and Biochemistry, 32(5)/2013, S. 1374-1385.

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A. The Convention on Biological Diversity (CBD) (1992/1993)1 Article 1. Objectives The objectives of this Convention, to be pursued in accordance with its relevant provisions, are the conservation of biological diversity, the sustainable use of its components and the fair and equitable sharing of the benefits arising out of the utilization of genetic resources, including by appropriate access to genetic resources and by appropriate transfer of relevant technologies, taking into account all rights over those resources and to technologies, and by appropriate funding.” Article 2. Use of Terms For the purposes of this Convention: “Biological diversity” means the variability among living organisms from all sources including, inter alia, terrestrial, marine and other aquatic ecosystems and the ecological complexes of which they are part; this includes diversity within species, between species and of ecosystems. “Biological resources” includes genetic resources, organisms or parts thereof, populations, or any other biotic component of ecosystems with actual or potential use or value for humanity. “Biotechnology” means any technological application that uses biological systems, living organisms, or derivatives thereof, to make or modify products or processes for specific use.

1 Zitiert nach der offiziellen Webseite der CBD, https://www.cbd.int/convention/ (letzter Aufruf: 9.4.2017). Das Abkommen trat am 29.12.1993 in Kraft. Hier und bei den folgenden Regelwerken wurde die Originalformatierung bzgl. des Aufzählungsmodus, nicht aber bzgl. des Fettdrucks beibehalten.

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“Country of origin of genetic resources” means the country which possesses those genetic resources in in-situ conditions. “Country providing genetic resources” means the country supplying genetic resources collected from in-situ sources, including populations of both wild and domesticated species, or taken from ex-situ sources, which may or may not have originated in that country. “Domesticated or cultivated species” means species in which the evolutionary process has been influenced by humans to meet their needs. “Ecosystem” means a dynamic complex of plant, animal and microorganism communities and their non-living environment interacting as a functional unit. “Ex-situ conservation” means the conservation of components of biological diversity outside their natural habitats. “Genetic material” means any material of plant, animal, microbial or other origin containing functional units of heredity. “Genetic resources” means genetic material of actual or potential value. “Habitat” means the place or type of site where an organism or population naturally occurs. “In-situ conditions” means conditions where genetic resources exist within ecosystems and natural habitats, and, in the case of domesticated or cultivated species, in the surroundings where they have developed their distinctive properties. “In-situ conservation” means the conservation of ecosystems and natural habitats and the maintenance and recovery of viable populations of species in their natural surroundings and, in the case of domesticated or cultivated species, in the surroundings where they have developed their distinctive properties. “Protected area” means a geographically defined area which is designated or regulated and managed to achieve specific conservation objectives. “Regional economic integration organization” means an organization constituted by sovereign States of a given region, to which its member States have transferred competence in respect of matters governed by this Convention and which has been duly authorized, in accordance with its internal procedures, to sign, ratify, accept, approve or accede to it. “Sustainable use” means the use of components of biological diversity in a way and at a rate that does not lead to the long-term decline of biological diversity, thereby maintaining its potential to meet the needs and aspirations of present and future generations.

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“Technology” includes biotechnology. […] Article 8. In-situ Conservation Each Contracting Party shall, as far as possible and as appropriate: (a) Establish a system of protected areas or areas where special measures need to be taken to conserve biological diversity; (b) Develop, where necessary, guidelines for the selection, establishment and management of protected areas or areas where special measures need to be taken to conserve biological diversity; (c) Regulate or manage biological resources important for the conservation of biological diversity whether within or outside protected areas, with a view to ensuring their conservation and sustainable use; (d) Promote the protection of ecosystems, natural habitats and the maintenance of viable populations of species in natural surroundings; (e) Promote environmentally sound and sustainable development in areas adjacent to protected areas with a view to furthering protection of these areas; (f) Rehabilitate and restore degraded ecosystems and promote the recovery of threatened species, inter alia, through the development and implementation of plans or other management strategies; (g) Establish or maintain means to regulate, manage or control the risks associated with the use and release of living modified organisms resulting from biotechnology which are likely to have adverse environmental impacts that could affect the conservation and sustainable use of biological diversity, taking also into account the risks to human health; (h) Prevent the introduction of, control or eradicate those alien species which threaten ecosystems, habitats or species; (i) Endeavour to provide the conditions needed for compatibility between present uses and the conservation of biological diversity and the sustainable use of its components; (j) Subject to its national legislation, respect, preserve and maintain knowledge, innovations and practices of indigenous and local communities embodying traditional lifestyles relevant for the conservation and sustainable use of biological diversity and promote their wider application with the approval and involvement of the holders of such knowledge, innovations and practices and encourage the equitable sharing of the benefits arising from the utilization of such knowledge, innovations and practices;

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Regelwerke

(k) Develop or maintain necessary legislation and/or other regulatory provisions for the protection of threatened species and populations; (l) Where a significant adverse effect on biological diversity has been determined pursuant to Article 7, regulate or manage the relevant processes and categories of activities; and (m) Cooperate in providing financial and other support for in-situ conservation outlined in subparagraphs (a) to (l) above, particularly to developing countries. Article 9. Ex-situ Conservation Each Contracting Party shall, as far as possible and as appropriate, and predominantly for the purpose of complementing in-situ measures: (a) Adopt measures for the ex-situ conservation of components of biological diversity, preferably in the country of origin of such components; (b) Establish and maintain facilities for ex-situ conservation of and research on plants, animals and micro- organisms, preferably in the country of origin of genetic resources; (c) Adopt measures for the recovery and rehabilitation of threatened species and for their reintroduction into their natural habitats under appropriate conditions; (d) Regulate and manage collection of biological resources from natural habitats for ex-situ conservation purposes so as not to threaten ecosystems and in-situ populations of species, except where special temporary ex-situ measures are required under subparagraph (c) above; and (e) Cooperate in providing financial and other support for ex-situ conservation outlined in subparagraphs (a) to (d) above and in the establishment and maintenance of ex- situ conservation facilities in developing countries. […] Article 15. Access to Genetic Resources 1. Recognizing the sovereign rights of States over their natural resources, the authority to determine access to genetic resources rests with the national governments and is subject to national legislation. 2. Each Contracting Party shall endeavour to create conditions to facilitate access to genetic resources for environmentally sound uses

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Regelwerke

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by other Contracting Parties and not to impose restrictions that run counter to the objectives of this Convention. 3. For the purpose of this Convention, the genetic resources being provided by a Contracting Party, as referred to in this Article and Articles 16 and 19, are only those that are provided by Contracting Parties that are countries of origin of such resources or by the Parties that have acquired the genetic resources in accordance with this Convention. 4. Access, where granted, shall be on mutually agreed terms and subject to the provisions of this Article. 5. Access to genetic resources shall be subject to prior informed consent of the Contracting Party providing such resources, unless otherwise determined by that Party. 6. Each Contracting Party shall endeavour to develop and carry out scientific research based on genetic resources provided by other Contracting Parties with the full participation of, and where possible in, such Contracting Parties. 7. Each Contracting Party shall take legislative, administrative or policy measures, as appropriate, and in accordance with Articles 16 and 19 and, where necessary, through the financial mechanism established by Articles 20 and 21 with the aim of sharing in a fair and equitable way the results of research and development and the benefits arising from the commercial and other utilization of genetic resources with the Contracting Party providing such resources. Such sharing shall be upon mutually agreed terms.“

B. The Nagoya Protocol on Access and Benefit Sharing (2010/2014)2 Article 1. Objective The objective of this Protocol is the fair and equitable sharing of the benefits arising from the utilization of genetic resources, including by appropriate access to genetic resources and by appropriate transfer of relevant technologies, taking into account all rights over those resources and to technologies, and by appropriate funding, 2

Zitiert nach der Textfassung auf der offiziellen Webseite der CBD unter https:// www.cbd.int/abs/text/default.shtml (letzter Aufruf: 9.4.2017). Das NagoyaProtokoll trat am 12.10.2014 in Kraft.

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Regelwerke

thereby contributing to the conservation of biological diversity and the sustainable use of its components. Article 2. Use of Terms The terms defined in Article 2 of the Convention shall apply to this Protocol. In addition, for the purposes of this Protocol: (a) “Conference of the Parties” means the Conference of the Parties to the Convention; (b) “Convention” means the Convention on Biological Diversity; (c) “Utilization of genetic resources” means to conduct research and development on the genetic and/or biochemical composition of genetic resources, including through the application of biotechnology as defined in Article 2 of the Convention; (d) “Biotechnology” as defined in Article 2 of the Convention means any technological application that uses biological systems, living organisms, or derivatives thereof, to make or modify products or processes for specific use; (e) “Derivative” means a naturally occurring biochemical compound resulting from the genetic expression or metabolism of biological or genetic resources, even if it does not contain functional units of heredity. […] Article 5. Fair and equitable Benefit-sharing 1. In accordance with Article 15, paragraphs 3 and 7 of the Convention, benefits arising from the utilization of genetic resources as well as subsequent applications and commercialization shall be shared in a fair and equitable way with the Party providing such resources that is the country of origin of such resources or a Party that has acquired the genetic resources in accordance with the Convention. Such sharing shall be upon mutually agreed terms. 2. Each Party shall take legislative, administrative or policy measures, as appropriate, with the aim of ensuring that benefits arising from the utilization of genetic resources that are held by indigenous and local communities, in accordance with domestic legislation regarding the established rights of these indigenous and local communities over these genetic resources, are shared in a fair and equitable way with the communities concerned, based on mutually agreed terms.

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3. To implement paragraph 1 above, each Party shall take legislative, administrative or policy measures, as appropriate. 4. Benefits may include monetary and non-monetary benefits, including but not limited to those listed in the Annex. 5. Each Party shall take legislative, administrative or policy measures, as appropriate, in order that the benefits arising from the utilization of traditional knowledge associated with genetic resources are shared in a fair and equitable way with indigenous and local communities holding such knowledge. Such sharing shall be upon mutually agreed terms. Article 6: Access to Genetic Resources 1. In the exercise of sovereign rights over natural resources, and subject to domestic access and benefit-sharing legislation or regulatory requirements, access to genetic resources for their utilization shall be subject to the prior informed consent of the Party providing such resources that is the country of origin of such resources or a Party that has acquired the genetic resources in accordance with the Convention, unless otherwise determined by that Party. 2. In accordance with domestic law, each Party shall take measures, as appropriate, with the aim of ensuring that the prior informed consent or approval and involvement of indigenous and local communities is obtained for access to genetic resources where they have the established right to grant access to such resources. 3. Pursuant to paragraph 1 above, each Party requiring prior informed consent shall take the necessary legislative, administrative or policy measures, as appropriate, to: (a) Provide for legal certainty, clarity and transparency of their domestic access and benefit-sharing legislation or regulatory requirements; (b) Provide for fair and non-arbitrary rules and procedures on accessing genetic resources; (c) Provide information on how to apply for prior informed consent; (d) Provide for a clear and transparent written decision by a competent national authority, in a cost-effective manner and within a reasonable period of time; (e) Provide for the issuance at the time of access of a permit or its equivalent as evidence of the decision to grant prior informed consent and of the establishment of mutually agreed terms, and notify the Access and Benefit-sharing Clearing-House accordingly;

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Regelwerke

(f) Where applicable, and subject to domestic legislation, set out criteria and/or processes for obtaining prior informed consent or approval and involvement of indigenous and local communities for access to genetic resources; and (g) Establish clear rules and procedures for requiring and establishing mutually agreed terms. Such terms shall be set out in writing and may include, inter alia: (i) A dispute settlement clause; (ii) Terms on benefit-sharing, including in relation to intellectual property rights; (iii) Terms on subsequent third-party use, if any; and (iv) Terms on changes of intent, where applicable. Article 7. Access to Traditional Knowledge Associated with Genetic Resources In accordance with domestic law, each Party shall take measures, as appropriate, with the aim of ensuring that traditional knowledge associated with genetic resources that is held by indigenous and local communities is accessed with the prior and informed consent or approval and involvement of these indigenous and local communities, and that mutually agreed terms have been established

C. International Treaty on Plant Genetic Resources for Food and Agriculture (ITPGRFA) (2001/2004)3 Article 1 – Objectives 1.1 The objectives of this Treaty are the conservation and sustainable use of plant genetic resources for food and agriculture and the fair and equitable sharing of the benefits arising out of their use, in harmony with the Convention on Biological Diversity, for sustainable agriculture and food security. 3

Zitiert nach der Textfassung auf der offiziellen Seite des Plant Treaty im Rahmen des Webauftritts der FAO, http://www.fao.org/plant-treaty/en/ (letzter Aufruf: 9.4.2017). Das Dokument ist dort als pdf erhältlich und zitiert als FAO (eds.), The International Treaty on Plant Genetic Resources for Food and Agriculture, Rome 2009. Der Plant Treaty trat in Kraft am 29.6.2004.

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1.2 These objectives will be attained by closely linking this Treaty to the Food and Agriculture Organization of the United Nations and to the Convention on Biological Diversity. Article 2 – Use of terms For the purpose of this Treaty, the following terms shall have the meanings hereunder assigned to them. These definitions are not intended to cover trade in commodities: “In situ conservation” means the conservation of ecosystems and natural habitats and the maintenance and recovery of viable populations of species in their natural surroundings and, in the case of domesticated or cultivated plant species, in the surroundings where they have developed their distinctive properties. “Ex situ conservation” means the conservation of plant genetic resources for food and agriculture outside their natural habitat. “Plant genetic resources for food and agriculture” means any genetic material of plant origin of actual or potential value for food and agriculture. “Genetic material” means any material of plant origin, including reproductive and vegetative propagating material, containing functional units of heredity. “Variety” means a plant grouping, within a single botanical taxon of the lowest known rank, defined by the reproducible expression of its distinguishing and other genetic characteristics. “Ex situ collection” means a collection of plant genetic resources for food and agriculture maintained outside their natural habitat. “Centre of origin” means a geographical area where a plant species, either domesticated or wild, first developed its distinctive properties. “Centre of crop diversity” means a geographic area containing a high level of genetic diversity for crop species in in situ conditions. […] Article 5 – Conservation, Exploration, Collection, Characterization, Evaluation and Documentation of Plant Genetic Resources for Food and Agriculture 5.1 Each Contracting Party shall, subject to national legislation, and in cooperation with other Contracting Parties where appropriate,

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Regelwerke

promote an integrated approach to the exploration, conservation and sustainable use of plant genetic resources for food and agriculture and shall in particular, as appropriate: a) Survey and inventory plant genetic resources for food and agriculture, taking into account the status and degree of variation in existing populations, including those that are of potential use and, as feasible, assess any threats to them; b) Promote the collection of plant genetic resources for food and agriculture and relevant associated information on those plant genetic resources that are under threat or are of potential use; c) Promote or support, as appropriate, farmers and local communities’ efforts to manage and conserve on-farm their plant genetic resources for food and agriculture; d) Promote in situ conservation of wild crop relatives and wild plants for food production, including in protected areas, by supporting, inter alia, the efforts of indigenous and local communities; e) Cooperate to promote the development of an efficient and sustainable system of ex situ conservation, giving due attention to the need for adequate documentation, characterization, regeneration and evaluation, and promote the development and transfer of appropriate technologies for this purpose with a view to improving the sustainable use of plant genetic resources for food and agriculture; f) Monitor the maintenance of the viability, degree of variation, and the genetic integrity of collections of plant genetic resources for food and agriculture. 5.2 The Contracting Parties shall, as appropriate, take steps to minimize or, if possible, eliminate threats to plant genetic resources for food and agriculture. […] Article 15 – Ex Situ Collections of Plant Genetic Resources for Food and Agriculture held by the International Agricultural Research Centres of the Consultative Group on International Agricultural Research and other International Institutions 15.1 The Contracting Parties recognize the importance to this Treaty of the ex situ collections of plant genetic resources for food and agriculture held in trust by the International Agricultural Research Centres (IARCs) of the Consultative Group on International Agricultural Research (CGIAR). The Contracting Parties call upon the IARCs to

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Regelwerke

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sign agreements with the Governing Body with regard to such ex situ collections, in accordance with the following terms and conditions: a) Plant genetic resources for food and agriculture listed in Annex I of this Treaty and held by the IARCs shall be made available in accordance with the provisions set out in Part IV of this Treaty. b) Plant genetic resources for food and agriculture other than those listed in Annex I of this Treaty and collected before its entry into force that are held by IARCs shall be made available in accordance with the provisions of the MTA currently in use pursuant to agreements between the IARCs and the FAO. This MTA shall be amended by the Governing Body no later than its second regular session, in consultation with the IARCs, in accordance with the relevant provisions of this Treaty, especially Articles 12 and 13, and under the following conditions: i) The IARCs shall periodically inform the Governing Body about the MTAs entered into, according to a schedule to be established by the Governing Body; ii) The Contracting Parties in whose territory the plant genetic resources for food and agriculture were collected from in situ conditions shall be provided with samples of such plant genetic resources for food and agriculture on demand, without any MTA; iii) Benefits arising under the above MTA that accrue to the mechanism mentioned in Article 19.3f shall be applied, in particular, to the conservation and sustainable use of the plant genetic resources for food and agriculture in question, particularly in national and regional programmes in developing countries and countries with economies in transition, especially in centres of diversity and the least developed countries; and iv) The IARCs shall take appropriate measures, in accordance with their capacity, to maintain effective compliance with the conditions of the MTAs, and shall promptly inform the Governing Body of cases of non-compliance. c) IARCs recognize the authority of the Governing Body to provide policy guidance relating to ex situ collections held by them and subject to the provisions of this Treaty. d) The scientific and technical facilities in which such ex situ collections are conserved shall remain under the authority of the IARCs, which undertake to manage and administer these ex situ collections in accordance with internationally accepted standards, in particular the Genebank Standards as endorsed by the FAO Commission on Genetic Resources for Food and Agriculture.

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Regelwerke

e) Upon request by an IARC, the Secretary shall endeavour to provide appropriate technical support. f) The Secretary shall have, at any time, right of access to the facilities, as well as right to inspect all activities performed therein directly related to the conservation and exchange of the material covered by this Article. g) If the orderly maintenance of these ex situ collections held by IARCs is impeded or threatened by whatever event, including force majeure, the Secretary, with the approval of the host country, shall assist in its evacuation or transfer, to the extent possible. 15.2 The Contracting Parties agree to provide facilitated access to plant genetic resources for food and agriculture in Annex I under the Multilateral System to IARCs of the CGIAR that have signed agreements with the Governing Body in accordance with this Treaty. Such Centres shall be included in a list held by the Secretary to be made available to the Contracting Parties on request. 15.3 The material other than that listed in Annex I,4 which is received and conserved by IARCs after the coming into force of this Treaty, shall be available for access on terms consistent with those mutually agreed between the IARCs that receive the material and the country of origin of such resources or the country that has acquired those resources in accordance with the Convention on Biological Diversity or other applicable law. 15.4 The Contracting Parties are encouraged to provide IARCs that have signed agreements with the Governing Body with access, on mutually agreed terms, to plant genetic resources for food and agriculture not listed in Annex I that are important to the programmes and activities of the IARCs. 15.5 The Governing Body will also seek to establish agreements for the purposes stated in this Article with other relevant international institutions.

4 Annex I enthält Listen der wichtigsten Kulturpflanzen für den Ernährungsund Futterbereich wie z. B. die Gattungen Oryza (Reis), Zea (Mais), Hordeum (Gerste), Avena (Hafer), Secale (Roggen), Triticum (Weizen), Sorghum (Hirse), Solanum (Kartoffel), Musa (Banane), Manihot (Cassava), Vicia und Phaseolus (Bohnen), Lens (Linse), Pisum (Erbse), Malus (Apfel), Citrus (Zitrusgewächse), Fragaria (Erdbeere), Asparagus (Spargel). Zumindest die letzten beiden zählen, global betrachtet, eher zu den Luxusnahrungsmitteln. Die Weinrebe und auch die Tabakpflanze sind in der Liste nicht enthalten.

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Abkürzungen

Abb. Abbildung ABS

Access and Benefit Sharing – Zugangs- und Vorteilsausgleich

AEGIS

A European Genebank Integrated System – Europäische (virtuelle) Genbank AEGIS

AEGRO

An Integrated European In Situ Management Work Plan: Implementing Genetic Reserves and On Farm Concepts – Ein integrierter europäischer Arbeitsplan für das In-situ-Management: Umsetzung der Konzepte „genetisches Schutzgebiet“ und „On farm“

Ajax

Asynchronous JavaScript and XML – Asynchrone Datenübertragung per JavaScript und XML

AMI

Agrarmarkt Informations-Gesellschaft mbH

AQUAS

AEGIS Quality System

BA

Bundesarchiv (der BRD), Berlin, Koblenz u. a.

BAZ

Bundesanstalt für Züchtungsforschung an Kulturpflanzen (bis 12/2007), Zentralstandort Quedlinburg

BCC

Barley Core Collection – Hauptsammlung Gerste

BEKO

Beratungs- und Koordinierungsausschuss für genetische Ressourcen landwirtschaftlicher und gartenbaulicher Kulturpflanzen

BFANL

Bundesforschungsanstalt für Naturschutz und Landschaftsökologie

BfN

Bundesamt für Naturschutz, Bonn

BGBl Bundesgesetzblatt BGBM

Botanischer Garten und Botanisches Museum Berlin-Dahlem

BGCI

Botanical Gardens Conservation International – Netzwerk Botanischer Gärten

BGRC

Braunschweig Genetic Resources Collection (Westdeutsche Genbank für Kulturpflanzen in Braunschweig-Völkenrode; 1970–2006)

BIG

Bundesinformationssystem Genetische Ressourcen

BLE

Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung, Bonn

BMBF

Bundesministerium für Bildung und Forschung (früher: BMFT), Bonn und Berlin

BMEL

Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (von 1949– 2001: BML; von 2001–2013: BMVEL), Bonn und Berlin

BMJ

Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz [Verbraucherschutz eingegliedert und aus BMVEL ausgegliedert 2013], Bonn und Berlin

BML

Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (1949–2001; heute BMEL), Bonn und Berlin

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Abkürzungen

BMUB Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und (früher BMU) Reaktorsicherheit, Bonn und Berlin BMVEL Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und (zeitweise Landwirtschaft (2001–2013, heute BMEL), Bonn und Berlin auch BMELV) BMZ

Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Bonn und Berlin

BNatSchG Bundesnaturschutzgesetz BÖLN

Bundesprogramm Ökologischer Landbau und andere Formen nachhaltiger Landwirtschaft

BRC

Biological Resource Center – Biologisches Ressourcenzentrum

BRD

Bundesrepublik Deutschland

BS

Benefit Sharing

BSA

Bundessortenamt, Hannover

BUND

Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V.

CABI

Centre for Agriculture and Biosciences International

CABRI

Common Access to Biological Resources and Information

cAMP

cyclic AMP – zyklisches Adenosinmonophosphat

C & E

characterization & evaluation – Charakterisierung und Evaluierung

CBD

Convention on Biological Diversity – Übereinkommen über biologische Vielfalt

cDNA

complementary/copy DNA

CGIAR

Consultative Group on International Agricultural Research – Beratungsgruppe für Internationale Agrarforschung

CGRFA

Commission on Genetic Resources for Food and Agriculture  – Kommission für genetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft

CIAT

Centro Internacional de Agricultura Tropical – International Center for Tropical Agriculture, Cali, Kolumbien

CIMMYT

Centro Internacional de Mejoramiento de Maíz y Trigo – International Wheat and Maize Improvement Center, Mexiko

CIP

Centro Internacional de la Papa – International Potato Center, Lima, Peru

COMECON Council for Mutual Economic Assistance – Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe COP

Conference of the Parties to the Convention on Biological Diversity

COST

[European] Cooperation in Science and Technology – Rahmenförderprogramm für die transnationale Forschung in Europa

CP

De causis plantarum (Schrift des Theophrast von Eresos)

CSU

Christlich-Soziale Union in Bayern

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Abkürzungen

441

CWR

Crop Wild Relative – Wildlebende Verwandte der Kulturpflanzen [dt. Abk.: WVK]

dBASE

dateibasiertes Datenbankmanagementsystem

DBU

Deutsche Bundesstiftung Umwelt

DDR

Deutsche Demokratische Republik (1949–1990)

DFG

Deutsche Forschungsgemeinschaft

DGO

Deutsche Genbank Obst (am JKI), Dresden-Pillnitz

DIN

Deutsche Industrie-Norm

DM

Deutsche Mark

DMSO Dimethylsulfoxid DNA

deoxyribonucleic acid – Desoxyribonukleinsäure

DNP

Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike [Stuttgart: Metzler, 1996ff.]

doi

digital object identifier

DPPN

Deutsches Pflanzenphänotypisierungsnetzwerk

DSMZ

Leibniz-Institut Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen GmbH, Braunschweig

dt. deutsch EC

European Commission – Europäische Kommission

ECPGR

European Cooperative Programme for Plant Genetic Resources – Europäisches Kooperationsprogramm für Pflanzengenetische Ressourcen

EDV

Elektronische Datenverarbeitung

EG

Europäische Gemeinschaft

EMB

Fraunhofer-Einrichtung für Marine Biotechnologie und Zelltechnik, Lübeck

ENSCONET

European Native Seed Conservation Network – Europäisches Netz­ werk zur Erhaltung von Saaten einheimischer Pflanzen (2004–2009)

EPCS

European Plant Conservation Strategy – Europäische Strategie zur Erhaltung der Pflanzen

EU

Europäische Union

EUR

Euro (Währung)

EUCARPIA

European Association for Research on Plant Breeding – Europäische Gesellschaft für Züchtungsforschung

EUREGIO

Deutsch-niederländischer Kommunalverband e. V.

EURISCO

European Plant Genetic Resources Search Catalogue – Europäischer Suchkatalog für Pflanzengenetische Ressourcen

EVA

Nationales Evaluierungsprogramm für Pflanzengenetische Ressourcen

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442

Abkürzungen

EWG

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (1994 umbenannt in EG)

FAL

Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft (seit 2008 mehrheitlich aufgegangen im Thünen-Institut, TI), Braunschweig-Völkenrode

FAO

Food and Agriculture Organization of the United Nations – Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, Rom, Italien

FDP

Freie Demokratische Partei [Deutschlands]

FFH Fauna-Flora-Habitat frz. französisch GA

De generatione animalium (Schrift von Aristoteles über die Entstehung der Lebewesen)

GATT

General Agreement on Tariffs and Trade – Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen

GB Gigabyte GBF

Gesellschaft für Biotechnologische Forschung (heute: HelmholtzZentrum für Infektionsforschung, HZI), Braunschweig-Stöckheim

GBIF

Global Biodiversity Information Facility – Datenbankportal für Informationen zur Biodiversität

GBIS

Genbankinformationssystem des IPK

GBIS-B

Genbankinformationssystem des IPK – Bonitur-Modul

GBIS-I

Genbankinformationssystem des IPK – Internet-Modul

GBIS-M

Genbankinformationssystem des IPK – Management-Modul

GBRCN

Global Biological Resource Center Network

GCDT

Global Crop Diversity Trust – Welttreuhandfonds für Kulturpflanzenvielfalt, Bonn

geb. geboren GENRES

Information System Genetic Resources – Informationssystem Genetische Ressourcen

gest. gestorben GFP GGBN

Gemeinschaft zur Förderung der privaten deutschen landwirtschaftlichen Pflanzenzüchtung Global Genome Biodiversity Network – Digitales Netzwerk zur Vernetzung genetischer Daten in naturkundlichen Sammlungen

GIS Geoinformationssystem GPZ

Gesellschaft für Pflanzenzüchtung e.V.

griech. griechisch GSPC

Global Strategy for Plant Conservation – Globale Strategie zum Erhalt der Pflanzenvielfalt

ha

Hektar (1 ha = 10.000 qm)

HA

Historia animalium (zoologische Schrift des Aristoteles)

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Abkürzungen

443

Hg. Herausgeber/-in/-innen HNV

High Nature Value Farmland – Indikator für Landwirtschaftsflächen mit hohem Naturwert

HP

Historia plantarum (Schrift des Theophrast von Eresos)

IARC

International Agricultural Research Centers der CGIAR

IBMT

Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik, Lübeck

IBP

International Biological Programme – Internationales Biologisches Programm (1964–1974)

IBPGR

International Board on Plant Genetic Resources, Maccarese/Rom, Italien (umbenannt in: IPGRI; heute: Bioversity International)

IBV

Informations- und Koordinationszentrum für Biologische Vielfalt, Bonn

IDA

International Depository Authority

INIBAP

International Network for the Improvement of Banana and Plantain, Hauptsitz: Montpellier, Frankreich

INRA

Institut National de la Recherche Agronomique – Nationales Institut für Agronomieforschung, Hauptsitz: Paris, Frankreich

IPCC

Intergovernmental Panel on Climate Change of the UN – Zwischenstaatlicher Ausschuss der Vereinten Nationen für Klimaänderungen/Weltklimarat

IPEN

International Plant Exchange Network

IPGRI

International Plant Genetic Resources Institute, Maccarese/Rom, Italien (früher: IBPGR; heute: Bioversity International)

IPK

Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung, Gatersleben

IPPN

International Plant Phenotyping Network – Internationales Netzwerk Pflanzenphänotypisierung

IRIPP

Iranian Research Institute of Plant Protection, Teheran, Iran

IRZ

Institut für Rebenzüchtung, Geilweilerhof (JKI), Siebeldingen

ISO

International Organization for Standardization – Internationale Organisation für Normung

ISTA

International Seed Testing Association

IT Informationstechnik ITPGRFA International Treaty on Plant Genetic Resources for Food and (auch ITPGR) Agriculture – Internationaler Vertrag über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft IUCN

International Union for Conservation of Nature and Natural Resources, Gland, Schweiz

Jh. Jahrhundert JKI

Julius Kühn-Institut – Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen, Quedlinburg (mit zahlreichen Außenstellen wie z. B. dem IRZ)

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444

Abkürzungen

Kb Kilobyte kg Kilogramm KWI

Kaiser-Wilhelm-Institut (der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Deutsches Reich)

L.

Botanisches Namenskürzel für Carl von Linné

lat. lateinisch LC-MS

Liquid Chromatography-Mass Spectrometry – Flüssigchromatographie mit Massenspektrometrie-Kopplung

LINUX

Freies Mehrbenutzer-Betriebssystem auf Unix-Basis

LMO

living modified organism

LN

liquid nitrogen – Flüssigstickstoff

MAA

Most Appropriate Areas

MB Megabyte mBRC

micro-organism domain Biological Resource Center – mikrobielles Ressourcenzentrum

MGIS

Musa Germplasm Information System – Informationssystem zum Keimplasma (Gewebekulturen) der Banane

Mio. Million MIRRI

Microbial Resource Research Infrastructure

MLS

Multilateral System of Access and Benefit-Sharing – Multilaterales System für Zugang und Vorteilsausgleich

MoU

Memorandum of Understanding

Mrd. Milliarde MSB

Millennium Seed Bank, RBG Kew, Wakehurst, UK

MSBP

Millennium Seed Bank Partnership

MTA

Multilateral Trade Agreement

MySQL

Relationales Datenbankverwaltungssystem

NABU

Naturschutzbund Deutschland e.V.

NGB

Nordic Gene Bank, Alnarp, Schweden

NICE-D

Nationale Informationsinfrastruktur für Charakterisierungs- und Evaluierungsdaten in Deutschland

NIR

Near Infrared – Nahes Infrarotlicht

NMR

nuclear magnetic resonance – Kernspinresonanzspektroskopie

NSDAP

Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

OECD

Organisation for Economic Co-operation and Development – Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

OIV

Organisation International de la Vigne et du Vin – International Organisation of Vine and Wine, IOV; Internationale Organisation für Rebe und Wein

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Abkürzungen

445

PER Perchloretyhlen PGR

Plant Genetic Resources – Pflanzengenetische Ressourcen

PGRDEU

Nationales Inventar Pflanzengenetischer Ressourcen in Deutschland

PGRFA

Plant Genetic Resources for Food and Agriculture – Pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft (PGREL)

PHP

Hypertext Preprocessor (urspr.: Personal Homepage Tools) – Internetprogrammiersprache

PNU

Prokaryotic Nomenclature Up-to-date (taxonomische Datenbank für Prokaryonten)

ppm

parts per million

RBG

Royal Botanic Gardens Kew (UK)

RCPs

Representative Concentration Pathways – Repräsentative Konzentrationspfade

RE

Pauly, August; Wissowa, Georg und Wilhelm Kroll: Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung [Stuttgart: Metzler, 1894–1980]

Ren Resistenz Erysiphe necator (Echter Mehltau der Weinrebe) RFLP

Restriction Fragment Length Polymorphism – Restriktionsfragmentlängenpolymorphismus

RL Richtlinie RNA

ribonucleic acid – Ribonukleinsäure

Rpv Resistenz Plasmopara viticola (Falscher Mehltau der Weinrebe) rRNA

ribosomal ribonucleic acid – ribosomale Ribonukleinsäure

S

Svedberg-Einheit (Sedimentationskoeffizient)

SGSV

Svalbard Global Seed Vault, Svalbard, Norwegen

smc

seed moisture content – Feuchtigkeitsgehalt der Samen

sMTA Standard Material Transfer Agreement – Standardisierte (auch SMTA) Materialübertragungsvereinbarung Sp. Spalte SRES

Special Report on Emissions Scenarios

subg.

subgenus – Untergattung

subsp.

subspecies – Unterart

SysTax

Online-Datenbank für Systematik und Taxonomie

t Tonne Tab. Tabelle TB Terabyte TDWG

Taxonomic Database Working Group

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Abkürzungen

TI

Johann Heinrich von Thünen-Institut, Braunschweig (bis 2007: FAL)

TTC/TZ

tri-phenyl tetrazolium chloride – Tetrazoliumchlorid; 2,3,5-Triphenyltetrazoliumchlorid

TU

Technische Universität

Übers./übers. Übersetzer/übersetzt UK

United Kingdom – Vereinigtes Königreich Großbritannien

UKNCC

United Kingdom National Culture Collection

UN

United Nations – Vereinte Nationen, New York, USA

UNDP

United Nations Development Programme – Entwicklungshilfeprogramm der Vereinten Nationen

UPOV

Union internationale pour la protection des obtentions végétales (engl.: International Union for the Protection of New Varieties of Plants) – Internationaler Verband zum Schutz von Pflanzenzüchtungen

US (USA)

United States (of America) – Vereinigte Staaten (von Amerika)

USDA

United States Department of Agriculture – Landwirtschaftsministerium der USA

USSR (= UdSSR)

Union der sozialistischen Sowjetrepubliken = Sowjetunion (1922– 1991)

var.

varietas – Varietät (Rangstufe in der botanischen Taxonomie)

VIR

Vavilov Institute of Plant Industry – Vavilov-Institut, St. Petersburg, Russland

VITIS

Europäische Fruchtartendatenbanken für Vitis (Weinrebe)

VIVC

Vitis International Variety Catalogue – elektronischer Katalog/ virtuelles Register für Vitis (Weinrebe)

WDCM

World Data Centre of Microorganisms

WEL

Wildpflanzen für Ernährung und Landwirtschaft

WFCC

World Federation of Culture Collections

WIPs-De

Wildpflanzenschutz Deutschland (Drittmittelprojekt/Botanischer Garten Osnabrück)

WVK

Wildlebende Verwandte der Kulturpflanzen (= engl.: CWR)

XML

Extendible Markup Language – erweiterbare Auszeichnungssprache

Yii

Akronym für „Yes it is!” (dt. „Ja, ist es!”) – ein freies, objektorientiertes und in PHP geschriebenes, komponentenbasiertes Webframework

ZIGuK

Zentralinstitut für Genetik und Kulturpflanzenforschung der DDR [Vorläuferinstitution des IPK]

ZIMET

Zentralinstitut für Mikrobiologie und Experimentelle Therapie der Akademie der Wissenschaften, DDR

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Die Autorinnen und Autoren

Philipp Ciba, Dr., Zellbiologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fraunhofer-Einrichtung für Marine Biotechnologie und Zelltechnik (EMB), Lübeck, und am Institut für Medizinische und Marine Biotechnologie der Universität zu Lübeck; Projektkoordinator der Deutschen Zellbank für Wildtiere „Alfred Brehm“ (CRYOBREHM), Lübeck John B. Dickie, Dr., Biologe (Pflanzenphysiologie/Ökologie), Assistant Head of Collections, Head of Seed and Lab-based Collections, Royal Botanic Gardens Kew, Wakehurst, UK Johannes M. M. Engels, Dr., Agraringenieur, Honorary Research Fellow und Berater am ECPGR-Secretariat, wissenschaftlicher Koordinator der virtuellen europäischen Genbank AEGIS, Bioversity International, Maccarese/Rom, Italien Henryk Flachowsky, PD Dr., Agrarwissenschaftler, Wissenschaftlicher Direktor am Institut für Züchtungsforschung an Obst, Julius Kühn-Institut (JKI); Mitglied des Fachbeirates der Deutschen Genbank Obst, Dresden-Pillnitz Lothar Frese, Dr., Gartenbauwissenschaftler, stellvertretender Leiter des Instituts für Züchtungsforschung an landwirtschaftlichen Kulturen, Julius Kühn-Institut (JKI), Quedlinburg; Mitglied des Beratungs- und Koordinierungsausschusses für genetische Ressourcen landwirtschaftlicher und gartenbaulicher Kulturpflanzen (BEKO) des BMEL; 1996-2006 Leiter der vormals westdeutschen Genbank Braunschweig Genetic Resources Collection, BGRC, Braunschweig Andreas Graner, Prof. Dr., Agrarwissenschaftler, Geschäftsführender Direktor des Leibniz-Instituts für Pflanzengenetik und Kultur-

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Die Autorinnen und Autoren

pflanzenforschung (IPK), Gatersleben; Leiter der bundeszentralen ex situ-Genbank für landwirtschaftliche und gartenbauliche Kulturpflanzen Monika Höfer, Dr., Biologin (Pflanzenphysiologie), Wissenschaftliche Direktorin am Institut für Züchtungsforschung an Obst, Julius Kühn-Institut (JKI); Koordinatorin der Deutschen Genbank Obst, Dresden-Pillnitz Nicole C. Karafyllis, Prof. Dr., Philosophin und Biologin, Professorin für Wissenschafts- und Technikphilosophie am Seminar für Philosophie der Technischen Universität Braunschweig; Projektleiterin des Teilprojekts A „Sammeln auf Eis gelegt?“ im BMBFForschungsverbund „Die Sprache der Biofakte. Materialität und Semantik hochtechnologisch kultivierter Pflanzen“ (2015–2017) Charli Kruse, Prof. Dr., Biologe (Zellbiologie/Marine Ökologie), Leiter der Fraunhofer-Einrichtung für Marine Biotechnologie und Zelltechnik (EMB), Lübeck; Direktor des Instituts für Medizinische und Marine Biotechnologie der Universität zu Lübeck, und Leiter der Deutschen Zellbank für Wildtiere „Alfred Brehm“ (CRYOBREHM), Lübeck Uwe Lammers, M.A., Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt A „Sammeln auf Eis gelegt?“ im BMBF-Forschungsverbund „Die Sprache der Biofakte. Materialität und Semantik hochtechnologisch kultivierter Pflanzen“ (2015–2017), angesiedelt am Seminar für Philosophie der Technischen Universität Braunschweig Stefan Lobenhofer, Dr., Philosoph, wissenschaftlicher Mitarbeiter (Post-Doc) am Seminar für Philosophie der Technischen Universität Braunschweig Lorenzo Maggioni, Dr., Agrarwissenschaftler, Secretary of the European Cooperative Programme for Plant Genetic Resources, ECPGR Secretariat, Bioversity International, Maccarese/Rom, Italien Erika Maul, Dr., Agrarbiologin, Stabsstelle Deutsche Genbank Reben, Institut für Rebenzüchtung (Geilweilerhof), Julius Kühn-In­ stitut (JKI), Siebeldingen

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Die Autorinnen und Autoren

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Jörg Overmann, Prof. Dr., Mikrobiologe, Geschäftsführender Direktor des Leibniz-Instituts DSMZ-Deutsche Sammlung von Mi­ kroorganismen und Zellkulturen GmbH, Braunschweig; koberufen als Professor für Mikrobiologie an der Technischen Universität Braunschweig Heinz Martin Schumacher, Dr., Biologe und Chemiker, Leiter der Abteilung „Protisten und Cyanobakterien“ (bis 2015 unter dem Namen „Pflanzliche Zellkulturen“), Leibniz-Institut DSMZ-Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen GmbH, Braunschweig

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Personenregister

Adorno, Theodor W. 406 Alexander der Große 173, 207 Alleweldt, Gerhard 260, 265, 267, 272 Androtion 31 Araújo, Miguel B. 338 Arendt, Hannah 69 Aristoteles 26, 28-31, 34, 36, 110, 117, 119-121, 206, 256 Babo, Lambert Joseph Leopold 276 Bajaj, Yashpal P. Singh 155 Banks, Joseph 89f., 93f., 96 Batisse, Michel 333 Bauhin, Jean 275 Baur, Erwin 42, 63, 298 Beese, Kay 365, 400, 407 Benjamin, Walter 76 Bennett, Erna 95 Benson, Erica E. 156, 165 Birnbacher, Dieter 58, 102, 111, 133 Bitter, Ellruth 159 Blumenberg, Hans 43, 44, 83, 104, 110 Bommer, Dieter 321, 335, 379, 400, 407 Bonneuil, Christophe 136 Borgmann, Peter 317f., 337, 362, 370, 385, 391, 396, 415 Börner, Andreas 30, 115 Brehm, Alfred E. 91, 417 Brown, Anthony 366, 371, 414 Brown, Horace Tabberer 152 Brücher, Heinz 102, 143 Candolle, Casimir Pyramus de 152 Carlson, Peter S. 145 Carnap, Rudolf 113 Cato der Ältere (Cato, Marcus Porcius) 28 Chapman, Susannah 134, 290 Ciba, Philipp 417, 424, 447 Cicero, Marcus Tullius 86 Clemente y Rubio, Dámian SimónRoxas 275

Columella, Lucius Junius Moderatus 28, 35, 256 Cook, James 89 Curry, Helen A. 100 Dabrock, Peter 45 Dambroth, Manfred 380, 384, 386 Darwin, Charles R. 54, 93, 119, 411 Daston, Lorraine 50, 107 Dedeurwaerdere, Tom 232 Deichmann, Ute 48 Dempfle, Leo 326 Derrida, Jacques 68, 79, 84 Descartes, René 93 Dewey, John 56-58 Dickie, John B. 341f., 350, 355, 357, 384, 447 Didi-Huberman, Georges 87 Dobzhansky, Theodosius 68 Döring, Ralf 316 Elberfeld, Rolf 86 Ellis, Richard H. 347, 356 Engelmann, Florent 163, 195 Engels, Johannes („Jan“) M. M. 40, 129, 169, 176, 192, 195, 323, 403, 447 Erlach, Klaus 333 Ertl, Josef 380 Escombe, Fergusson 152 Eser, Uta 406 Eudemos von Rhodos 256 Fægri, Knut 324 Fahy, Gregory M. 151 Fessler, Alfred 382 Flachowsky, Henryk 190, 287, 300, 302, 447 Flavius Josephus 37 Fleck, Ludwik 54 Flitner, Michael 45, 48 Foley, Jonathan A. 315, 339 Foucault, Michel 51, 124, 131, 133 Fowler, Cary 15, 170, 289, 316

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Personenregister

Frankel, Otto H. 320, 322, 336 Freisleben, Rudolf 63, 95 Frese, Lothar 38, 177, 188, 193, 311, 365, 374, 379, 387, 390, 415, 421, 447 Friedrich, Alexander 120 Fries, Johann Graf von 283 Friesen, Nikolai 337, 370, 389, 415 Fritsch, Reinhard M. 217 Fullilove, Courtney 48, 102 Galen (von Pergamon) 36 Galet, Pierre 276 Galilei, Galileo 93 Gellius, Aulus 256 Germershausen, Friedrich Christian 143 Gill, Bernhard 45, 56, 380 Göppert, (Johann) Heinrich R. 152 Gottwald, Franz-Theo 70 Graner, Andreas 100, 118, 131, 201, 222, 343, 447 Gregorius, Hans-Rolf 325, 326 Grout, Brian William W. 156, 160 Guerrant, Edward O. (Jr.) 359, 365, 403 Gugerli, David 130 Guha-Mukherjee, Sipra 145 Gustafsson, Åke 63 Haberlandt, Gottlieb 144 Hammer, Karl 129, 253, 324 Hanelt, Peter 92 Hannig, Emil 144 Harlan, Harry V. 175 Harlan, Jack R. 175, 332 Hawkes, John „Jack“ Gregory 57, 95, 142, 319, 322, 332 Heesen, Anke te 89 Heesen, Jessica 130 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 68, 75, 125 Heidegger, Martin 84, 95, 98f., 110, 125f., 128 Heim, Susanne 48, 102f. Henshaw, Graham George 156, 160 Hertwig, Oscar 122 Hertzsch, Walter 103 Hesiod 31 Heslopp-Harrison, John Seymour 141 Hetzel, Andreas 59, 368

Hildreth, Aubrey Claire 153, 164 Hippokrates (von Kos) 35, 36 Hodapp, Eugene L. 149 Hoeyer, Klaus 76, 133 Höfer, Monika 165, 287, 292, 298, 300, 302, 448 Holt, John G. 92 Hondelmann, Walter 23, 38, 98, 206, 381-383 Horkheimer, Max 127 Hort, Arthur 23, 206, 256 Hossfeld, Uwe 102 Hubig, Christoph 99, 101, 108-110, 125, 133 Humboldt, Alexander von 95 Hurka, Herbert 367, 390 Husfeld, Bernhard 259 Husserl, Edmund 86, 93 Iriondo, José M. 330, 333f. Jain, Kumar Sudhanshu 321, 367 Janich, Peter 53, 55, 135, 410 Juma, Calestous 47 Jung, Andreas 262, 277 Kallhoff, Angela 133 Kant, Immanuel 77 Karafyllis, Nicole C. 27, 29, 31, 38, 39, 56, 100, 105, 110, 158, 212, 216, 343, 361, 448 Kassung, Christian 85 Kell, Shelagh P. 329f., 334 Keller, E. R. Joachim 161, 164, 166, 370 Kiechle, Ignaz 386 Kienlin, Alexander von 30, 32, 37f. King, Patrick J. 155 Kirchhoff, Thomas 105, 374, 415 Kleinschmit, Jörg R. G. 326 Kline, Ronald R. 107 Kloft, Hans 31 Koch, Robert 230 Köchy, Kristian 46, 105, 131 Kohler, Robert E. 96, 99 Kolumbus, Christoph 205 Kopp-Oberstebrink, Herbert 65, 79, 85, 87 Král, František 64, 148, 230 Kreuzer, Conrad 276, 283 Kreuzer, Vinzenz 276, 283

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Personenregister

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Kruse, Charli 92, 120, 417, 448 Kuckuck, Hermann 62, 63, 298, 379 Kuhn, Thomas S. 66 Lammers, Uwe 361, 448 Lanzerath, Dirk 59 Latta, Roy A. 154 Lauterbach, Daniel 358, 364, 403 Lenin, Wladimir Iljitsch 61 Lennox, James G. 119 Linné, Carl von 92, 119 Lobenhofer, Stefan 23, 27, 66, 118, 136, 448 Lovelock, James E. 150, 151 Luckner, Andreas 125 Ludowici, August 257 Ludowici, Carl 257 Luyet, Basile Joseph 149 Macho, Thomas 85 Maggioni, Lorenzo 129, 169, 176, 217, 448 Maghradze, David 253, 277, 280 Maheshwari, Satish Chandra 145 Malthus, Thomas Robert 208, 209 Mansfeld, Rudolf 62, 92 Maul, Erika 129, 251, 260, 264, 273, 278, 283, 448 Maxted, Nigel 176, 188, 314, 317, 318, 321, 329f., 331f., 334, 336, 376 Mazur, Peter 150f. Melzheimer, Volker 383 Mendel, Gregor 175 Mesarović, Mihajlo D. 107 Metzger, Johann Christian 275f. Michelini, Francesca 114 Mix(-Wagner), Gunda 147, 158-161, 163, 318, 385f. Morio, Peter 257, 258 Müller, Helmut F. W. 259 Müller-Thurgau, Hermann 153 Müntz, Klaus 62, 204, 216 Murray, R. G. E. 92 Myers, Norman 365 Nadarajan, Jayanthi 167 Nag, K. K. 154 Nägeli, Carl von 122 Nazarea, Virginia 78 Nazarea, Virginia D. 290

Negrul, Alexander M. 254 Nickell, Louis G. 153 Nietzsche, Friedrich 128 Nilsson-Ehle, Hermann 63 Odparlik, Sabine 136 Ott, Konrad 316 Overmann, Jörg 131, 229, 236, 240, 246, 449 Palladius, Rutilius Taurus Aemilianus 28, 31 Pearce, Fred 15, 406 Perrino, Pietro 40, 367f. Pistorius, Robin 48 Platon 84 Plessner, Helmuth 114 Plinius der Ältere (Plinius Secundus Maior, Gaius) 28, 31f., 256 Polge, Christopher 149 Pompe, Sven 313, 337 Poralla, Karl 7, 20 Poschlod, Peter 317f., 383, 397 Potthast, Thomas 49, 92, 373 Pritchard, Hugh W. 167, 343, 350, 356 Probert, Robin J. 351f. Proskovetz, Emmanuel von 140 Quatrano, Ralph S. 154 Radkau, Joachim 215 Rall, William F. 151 Regenbogen, Otto 27 Reinert, Jakob 145 Rheinberger, Hans-Jörg 63, 71, 77 Rieth, Konrad von 257 Roberts, Eric Hywel 115, 342, 347, 356 Rockström, Johan 313 Roll-Hansen, Nils 68 Ropohl, Günter 109 Rudorf, Wilhelm 103 Sachs, Philipp Jakob 275 Sakai, Akira 165 Salaman, Redcliffe 142 Saraiva, Tiago 48 Schäfer-Menuhr, Angelika 159f. Schark, Marianne 41, 113 Scheier, Claus-Artur 38, 84, 86, 136 Schiebinger, Londa 102

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Personenregister

Schiemann, Elisabeth 62, 78, 206 Schilde-Rentschler, Lieselotte 158f. Schindler, Otto 298 Schmidt, Hannelore „Loki“ 69, 361, 363, 373, 378, 381, 383, 385f., 388, 404, 408 Schmidt, Helmut 386 Schoen, Daniel J. 366, 371, 414 Schönnamsgruber, Helmut 383 Schumacher, Heinz Martin 137, 159161, 163, 449 Schumacher, Wolfgang 378, 407 Scott, Nigel S. 266 Sefc, Kristina M. 266 Seibert, Michael 155 Seidewitz, Lothar 366, 380, 385 Seitz, Hanns Ulrich 158 Seitz, Ursula 158 Sepkoski, David 88 Shackell, L. F. 148 Shields, Christopher 27 Simmel, Georg 94 Skorpion I. 255 Smith, Audrey Ursula 149 Smith, Roger D. 344, 350, 357, 384 Solbakk, Jan Helge 45 Sommer, Manfred 40, 51, 98, 103, 104, 111, 134 Sommer, Martin 363, 400, 403 Sprengel, Kurt 26 Stekeler-Weithofer, Pirmin 86 Strabo, Walahfried 84 Strabon 37 Street, Herbert Edward 154, 155, 157, 356 Stubbe, Hans 29, 42, 62-64, 68, 84, 102, 127, 175, 216

Stützel, Thomas 390 Theophrast v. Eresos 18, 23, 26f., 2932, 34, 36f., 116, 118, 206, 255 Thomas, Mark R. 266 Thompson, Ken 115 Thompson, Peter 119, 344 Toepfer, Georg 87 Trummer, Franz Xaver 276, 283 Tulecke, Walter 153 Tulla, Johann Gottfried 264 Ulmer, W. 153, 164 Varro, Marcus Terentius 28, 31, 32 Vavilov, Nikolai I. (auch Nikolaj I.) 15, 67f., 81, 97, 103, 135, 175, 205f., 212, 253, 300 Vergil (Maro, Publius Vergilius) 256 Walters, Christina T. 342, 358f. Weingarten, Michael 53, 55, 135, 410 Weismann, August 122 Went, Frits (sen.) 144 Wettstein, Fritz von 48, 62 White, Philip R. 144 Wieland, Thomas 100 Withers, Lindsey A. 155, 157, 159 Wobus, Ulrich 62, 204, 216 Wöhrle, Georg 27 Zachmann, Karin 56, 100, 106, 380 Zenk, Meinhart H. 158 Zippel, Elke 317f., 365, 382, 395, 397, 405 Zoglauer, Thomas 108

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Verzeichnis der biologischen Arten, Gattungen etc.

Acari (Milben) 34 Acipenser baerii 419 Aegilops spec. 221 Agathis spec. (Kauri-Bäume) 357 Agrobacterium tumefaciens 111 Agrostemma githago (Kornrade) 381 Ajuga chamaepitys (Gelber Günsel) 407 Allium sativum (Knoblauch) 163, 218, 370 Allium spec. (Lauch) 174, 217, 370 Alopecurus bulbosus (Knolliger Fuchsschwanz) 381 Althaea hirsuta (Rauhaariger Eibisch) 407 Ambystoma mexicanum (Axolotl) 123 Antirrhinum majus (Großes Löwen­ maul) 42, 63 Apium repens (syn. Helosciadium repens, Kriechender Sellerie) 314 Apium spec. (Sellerie) 314, 398 Arabidopsis thaliana (Ackerschmalwand) 71 Archaea (Reich der Archeen, Ur- oder Archebakterien) 39, 236f. Arnica montana (Echte Arnika) 381, 396 Asparagus spec. (Spargel) 174, 438 Asteraceae (Korbblütler) 346 Avena sativa (Saat-Hafer) 207 Avena spec. (Hafer) 82, 174, 204, 206, 438 Bacteria (Reich der Bakterien) 19, 138, 291 Banksia spec. (Banksien) 353 Beta patula L. ssp. Aiton (wilde Verwandte von Beta vulgaris ssp. vulgaris, Ausgangsform von u.a. Mangold und Zuckerrübe) 335 Beta vulgaris (Rübe) 174 Beta vulgaris L. ssp. vulgaris Altissima Group (Zuckerrübe) 174, 211, 329, 335

Botrytis cinerea (Grauschimmel) 262 Brassica napus (Raps) 174, 218, 223 Brassica spec. (Kohl) 174, 255, 388 Bromeliaceae (Bromelien- oder Ananas­gewächse) 410 Bromus grossus (Dicke Trespe, Süßgras) 399 Camelina microcarpa (Kleinfrüchtiger Leindotter) 407 Candidatus Kuenenia stuttgartiensis (Bakterium) 239 Canis lupus (Wolf) 46, 315 Capra spec. (Ziegen) 205 Carex distans (Enferntährige Segge) 387 Carex paniculata (Rispen-Segge) 387 Carthamus tinctorius (Färberdistel) 174 Caryophyllaceae (Nelkengewächse) 358 Ceratonia siliqua (Johannisbrotbaum) 174 Chrysanthemum morifolium (Dendranthema grandiflora Ramat.) 163 Cicer spec. (Kichererbsen) 24f. Citrullus lanatus (Wassermelone) 295 Citrus reticulata (Mandarine) 295 Citrus sinensis (Süßorange) 294 Citrus spec. (Zitruspflanzen) 289, 438 Clupea harengus (Altlantischer Hering) 419 Coffea spec. (Kaffeepflanze) 356 Colocasia esculenta (Taro) 142 Consolida regalis (Acker-Rittersporn) 407 Coriandrum sativum (Koriander) 174, 255 Cornus mas (Kornelkirsche) 118 Corylus avellana (Gemeine Haselnuss) 174 Crepis mollis (Weichhaariger Pippau) 396

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Verzeichnis der biologischen Arten, Gattungen etc.

Cruciferae (Kreuzblütler, veraltet, syn. Brassicaceae) 144, 389 Cucurbita spec. (Kürbis) 215, 371 Cyanobacteria (Cyanobakterien, Blaualgen, Abteilung der Bacteria) 231 Cydonia oblonga (Quitte) 289, 294 Datura innoxia (Großblütiger Stechapfel) 145 Daucus carota (Möhre) 154, 174 Daucus carota ssp. sativus (Karotte) 145 Dehalococcoides ethenogenes (Bakterienart) 244 Dianthus caryophyllus (Edel-Nelke) 155 Digitalis grandiflora (Großblütiger Fingerhut) 381 Digitalis purpurea (Roter Fingerhut) 351 Dioscorea spec. (Yams) 142, 157, 164 Drosophila spec. (Taufliege) 73 Ephestia spec. (Motte) 63 Equus ferus caballus (Hauspferd, vulgo „Pferd“) 207 Erwinia amylovora (Feuerbranderreger) 296 Erysiphe necator (Echter Mehltau) 262 Escherichia coli (Kolibakterium) 72f. Eutypa lata (Pilzart) 282 Fabaceae (Hülsenfrüchtler, syn. Leguminosae) 33, 354 Festuca spec.(Schwingel) 314 Ficus spec. (Feige) 174 Foeniculum vulgare (Fenchel) 174 Fragaria spec. (Erdbeeren) 290, 296, 300, 438 Fragaria vesca (Walderdbeere) 291 Fungi (Reich der Pilze) 34, 231, 282, 291, 346, 382 Gentianella uliginosa (Sumpf-Enzian) 396 Giraffa camelopardalis rothschildi (Rothschildgiraffe) 419 Gramineae (Süßgräser, veraltet, syn. Poaceae) 204, 346

Guignardia bidwellii (Schlauchpilz, Verursacher der Schwarzfäule der Rebe) 262 Helianthus tuberosus (Topinambur) 385 Helosciadium inundatum (Art des Wildselleries) 334 Helosciadium repens (Kriechender Sellerie) 314 Hippophae rhamnoides (Sanddorn) 296, 300 Hordeum spec. (Gersten) 13, 57, 63, 71, 82, 95, 127, 131, 202, 204, 220f., 223, 438 Hordeum vulgare (Gerste) 24, 28-30, 35, 202f., 206f., 207, 376 Hordeum vulgare ssp. spontaneum (Wildgerste) 205, 221 Hordeum vulgare ssp. vulgare (Kulturgerste) 205, 210, 221 Humulus spec. (Hopfen) 174 Hyphomycetes (Fadenpilze) 231 Illicium verum (Echter Sternanis) 174 Ipomoea batatas (Süßkartoffel) 164 Juglans regia (Echte Walnuss) 174 Lactuca sativa var. capitata (Kopfsalat) 174, 329, 347 Leguminosae (syn. Fabaceae, Hülsenfrüchtler) 33 Lens spec. (Linsen) 140, 438 Lepidium latifolium (Pfefferkraut) 255 Linum usitatissimum (Gemeiner Lein, Flachs) 154, 174 Lupinus spec. (Lupine) 24, 33, 35, 118, 174 Lycopodium spec. (Bärlappe) 395 Lynx spec. (Luchs) 315 Malus spec. (Apfel) 165, 174, 287, 296, 298, 314, 438 Malus sylvestris (Holz- oder Wildapfel) 291, 303, 335 Manihot esculenta (Maniok, Cassava) 115, 141, 142, 438 Melissa officinalis (Melisse) 255 Mentha spec. (Minze) 174, 218, 314

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Verzeichnis der biologischen Arten, Gattungen etc. Mentha x piperita (Pfefferminze) 174, 255 Mus spec. (Mäuse) 32, 71, 72, 150 Musa acuminata (Zwergbanane) 141 Musa balbisiana (Silber-Banane) 141 Musa spec. (Banane) 137f., 141-143, 146f., 156-163, 166, 168, 202, 208f., 217f., 294, 317f., 371, 438 Nicotiana spec. (Tabak) 146, 438 Olea europaea (Ölbaum) 121, 174, 256 Oncorhynchus mykiss (Regenbogenforelle) 423 Orchidaceae (Orchideen) 146, 382 Oryza spec. (Reis) 139, 202, 204, 210f., 438 Panicum italicum (Kolbenhirse) 23 Panicum miliaceum (Rispenhirse) 23 Papaver spec. (Mohn) 174 Pernospora viticola (Falscher Mehltau) 262 Peucedanum alsaticum (Elsässer Haar­ strang) 387 Phaeobacter gallaeciensis 239 Phaseolus spec. (neuweltliche Bohnen) 209, 438 Phaseolus vulgaris (Gartenbohne) 23 Phoenix dactylifera (Echte Dattelpalme) 121 Phytophtora infestans (Kartoffel­ mehltau, Erreger der Kartoffel­ kraut­fäule) 143 Picea spec. (Fichten) 153 Pimpinella anisum (Anis) 174 Pinus cembra (Zirbe, Zirbelkiefer) 153 Pisum spec. (Erbsen) 33, 140, 174, 438 Poaceae (Süßgräser, syn. Gramineae) 204, 346 Protozoa (Protozoen, Reich der eukaryo­­ tischen Einzeller, veraltet) 138, 231 Prunus armeniaca (Aprikose) 259, 289, 296 Prunus avium (Süßkirsche) 174, 296, 300 Prunus cerasus (Sauerkirsche) 174, 296, 300 Prunus domestica (Kultur-Pflaume) 174, 288, 294, 296, 300 Prunus persica (Pfirsich) 259, 295f.

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Prunus persica var. nucipersica (Nektarine) 295f. Pyrus spec. (Birnen) 174, 287, 289, 296 Quercus spec. (Eichen) 357 Rana spec. (Frösche) 149 Rana sylvatica (Eisfrosch) 420 Ribes spec. (Johannisbeeren) 174, 296 Ribes subg. grossularia (Stachelbeere) 174, 296 Ribes x nidigrolaria (Jostabeere, Jochelbeere) 296 Rift Valley Fever Virus 420 Rizinus communis (Rizinus) 120 Rubus fruticosus agg. (Brombeere) 289, 296, 302 Rubus fruticosus x idaeus (Taybeere) 302 Rubus idaeus (Himbeere) 174, 289, 296, 302 Rubus spec. 174, 287, 300 Rubus x loganobaccus (Loganbeere) 302 Salix spec. (Weiden) 118, 357 Salvia officinalis (Salbei) 255 Sambucus spec. (Holunder) 296 Scabiosa canescens (Graue Skabiose) 396 Secale cereale (Roggen) 204, 206, 223, 438 Senna spec. 255 Setaria italica (Kolbenhirse) 23 Silene otites (Ohrlöffel-Leimkraut) 358 Sinapis spec. (Senf) 174 Solanum demissum (Wildkartoffelart Mexikos) 143 Solanum etuberosum (Wildkartoffelart in Argentinien und Chile) 156 Solanum goniocalyx (= stenotomum) 156 Solanum lycopersicum (Tomate) 49, 63, 215, 289, 371 Solanum spec. (Nachtschatten) 156 Solanum tuberosum (Kultur-Kartoffel) 16, 49, 57, 85, 98, 115, 120, 137f., 142, 209, 217, 317, 371, 376, 380, 385, 438

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Verzeichnis der biologischen Arten, Gattungen etc.

Tardigrada (Bärtierchen) 420 Teucrium spec. (Gamander) 255 Theobroma cacao (Kakaobaum) 120 Thymus spec. (Thymiane, Quendel) 255 Tillandsia spec. (Tillandsien) 410 Trifolium spec. (Klee) 174 Triticum aestivum (Brotweizen) 207 Triticum compactum (Zwergweizen) 209 Triticum dicoccum (Emmer, Zweikorn) 205 Triticum monococcum (Einkorn) 205 Triticum spec. (Weizen) 28, 33, 38, 62, 71, 91, 127, 139, 202, 209, 220f., 223, 368, 376, 438

Veronica verna (Frühlings-Ehrenpreis) 385 Vicia angustifolia (Schmalblättrige Wicke) 23 Vicia ervilia (Linsen-Wicke) 24 Vicia sativa (Futter-Wicke) 23 Vicia sinensis (Helmbohne) 24 Vicia spec. (Wicke) 174, 438 Viola calaminaria (Gelbes GalmeiStiefmütterchen) 396 Viteus vitifoliae (Reblaus) 264 Vitis aestivalis (Sommerrebe) 262 Vitis cinerea (Graurinden-Rebe) 262 Vitis labrusca (Fuchsrebe) 262 Vitis rupestris (Sand-Rebe) 264 Vitis spec. (Weinreben) 120, 438 Vitis vinifera (Weinrebe) 253f., 258, 265, 275, 284, 314 Vitis vinifera L. ssp. sylvestris (C.C. Gmel) Hegi (Wilde Weinrebe) 264, 274, 285, 335 Vitis vinifera L. ssp. vinifera (Edle Weinrebe) 120, 166, 251-257 Volvox globator (Kugelalge) 123

Unica unica (syn. Panthera unica, Schneeleopard) 419

Zea mays (Mais) 13, 49, 62, 139, 202, 204f., 208-210, 363, 376, 438

Sorbus aucuparia (Eberesche, Vogel­ beerbaum) 300 Sorbus spec. (Mehlbeere) 300 Sorghum spec. (Hirse) 23, 204, 438 Streptomyces carpaticus 239 Suidae (Echte Schweine) 71f., 150

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