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German Pages 171 Year 1995
MICHEL PAROUSSIS
Theorie des juristischen Diskurses
Schriften zur Rechtstheorie Heft 169
Theorie des juristischen Diskurses Eine institutionelle Epistemologie des Rechts
Von Michel Paroussis
Duncker & Humblot * Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Paroussis, Michel: Theorie des juristischen Diskurses : eine institutionelle Epistemologie des Rechts / von Michel Paroussis. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 169) Zugl.: Freiburg i. Br., Univ., Diss., 1992 ISBN 3-428-08402-0 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-08402-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©
Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist die geringfügig überarbeitete und an manchen Stellen aktualisierte Fassung meiner Arbeit, die im Sommersemester 1992 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation angenommen wurde. Bis Ende 1993 erschienene Literatur konnte noch berücksichtigt werden. Nicht weil es üblich ist, sondern weil ich es als meine tiefe ethische Pflicht empfinde, möchte ich an dieser Stelle all denjenigen meinen Dank bekunden, die diese Arbeit gefördert haben. Mein respektvoller Dank gilt in erster Linie meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor Dr. Alexander Hollerbach, dessen Vertrauen und wohlwollende Unterstützung ich stets genießen durfte. In seinen rechtsphilosophischen und wissenschaftshistorischen Seminaren haben viele der in dieser Schrift präsentierten Ideen reifen können. Dem Zweitgutachter der Dissertation, Herrn Professor Dr. Elmar Bund, möchte ich für seine wertvollen Anregungen meinen Dank aussprechen. Die langjährige Vorbereitung der Arbeit wurde durch die Gewährung von Promotionsstipendien seitens der Staatlichen Stipendienstiftung Griechenlands (IKY), des Landes Baden-Württemberg und des Freiburger Erzbischöflichen Ordinariats entschieden gefördert. Der Wissenschaftlichen Gesellschaft Freiburg im Breisgau gebührt mein Dank für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Ganz besonders möchte ich mich bei Herrn Professor Norbert Simon für die freundliche Aufnahme meiner Schrift in die rechtstheoretische Publikationsreihe des Verlages Duncker & Humblot, sowie für seine verständnisvolle Geduld bedanken. Frau Dr. Katharina Sobota danke ich von Herzen für ihren freundlichen Einsatz bei der Sprachüberprüfung des Manuskripts. Freiburg, im November 1994 Michel Paroussis
Inhaltsverzeichnis Einleitung
11
§1 Recht als Wissen und Institution
11
§2 Diskursivität und Extradiskursivität
14
§3 Institutionelle Epistemologie und analytische Wissenschaftstheorie: Versuch einer Abgrenzung
17
I. Dialogische versus epistemologische Konzeptionen des juristischen Diskurses
21
§4 Definitorische Vorüberlegungen zur Epistemologie des Diskurses
21
§5 Der juristische Diskurs als Sonderfall des praktischen Diskurses
24
§6 Der Diskursbegriff als verfahrensbezogenes Kommunikationsmodell
32
1. Diskursmodell und prozedurale Gerechtigkeitsanthropologie
32
2. Diskurstheorie als Verhandlungsanalytik
34
§7 Der juristische Diskurs in der Kritik des strukturalistischen Marxismus ....
35
§8 Der Diskurs als Grundkonzept einer Archäologie des Wissens
43
§9 Ansätze zu einer institutionellen Epistemologie des juristischen Diskurses.
47
II. Recht als Fachsprache und Recht als Diskurs
53
§10 Recht als linguistische Normentheorie und Sprache als normierte Linguistik
53
§11 Von der Stilistik der Rechtssprache zur institutionellen Epistemologie des juristischen Diskurses
56
1. Fachsprachlichkeit und Diskursivität
57
2. Interferenzen zwischen Fachsprache und Diskurs
59
3. Spracheinheitlichkeit der Rechtswissenschaft und Teildiskurse des Rechts
62
4. Rechtssprache zwischen Umgangs- und Wissenschaftssprache
66
8
Inhaltsverzeichnis
III. Juristische Äußerungen als diskursive Aussagen
69
§12 Metatheoretische Auffassungen des Rechtssatzes
69
§13 Formale und materielle Aspekte der Klassifikation diskursiver Aussagen.
72
§14 Die Ebenen der Formation rechtsdiskursiver Aussagen
76
1. Die Formation der Gegenstände im Referential
79
2. Die Formation der Sprecherpositionen in der Institution
81
3. Die Funktionen des Assoziationsfeldes
82
4. Die diskursive Aussage als wissensstrategisches Instrument
84
§15 Die diskursive Valenz als epistemische Relevanz der Aussage
87
IV. Rechtsbegriffe als diskursive Begriffe
91
§16 Methodische Grundtendenzen bei der theoretischen Erfassung der Rechtsbegriffe
91
1. Methodenhistorischer Rückblick zur Problematik der Begriffsbildung..
92
2. Die Diskursivität im Koordinatenfeld aktueller begriffslogischer Taxonomien
97
§17 Normtextpertinenz und Diskursivität der Rechtsbegriffe
99
§18 Diskursivität auf Text-, Satz- und Wortebene: Versuch einer Synthese.... 103 1. Begriffsdiskursivität und Philosophie der normalen Sprache
103
2. Zur Eingliederung extradiskursiver Elemente in diskursive Kontexte... 105 V. Die Diskursivität als analytisches Prinzip juristischer Begriffsbildung
109
§19 Das teleologische Modell als Aufbauprinzip der rechtsmethodologischen Begriffslehre 109 §20 Polysemie und Diskursivität
113
§21 Die Ebenen der diskursiven Semantik
118
1. Die primäre diskursive Semantik
119
2. Die sekundäre diskursive Semantik
121
3. Die tertiäre diskursive Semantik
124
Inhaltsverzeichnis
§22 Die Rezeption heteromodaler Semantik im Recht
9
131
1. Die Entstehungsbereiche heteromodaler Semantik
132
2. Die Transitionswege der Rezeption
135
3. Die materielle Rezeption extradiskursiver Wertungen
136
4. Zum Manifestationsmodus der Rezeption heteromodaler Semantik
137
VI. Implikationen der Diskursivitätshypothese
141
§23 Zur Relevanz der Diskursivitätsebenen fur die juristische Argumentation 141 §24 Rechtsmethodologische Konsequenzen der Begriffsdiskursivität
147
§25 Die Theorie des juristischen Diskurses als Feld rechtstheoretischer Grundlagenforschung 152 Literaturverzeichnis
154
Einleitung
§1 Recht als Wissen und Institution Spätestens seitdem die Juristen vor die Alternative gestellt wurden zu entscheiden, ob die Gerechtigkeit "Diskurs oder Markt" 1 sei, soll für sie der Ausdruck "juristischer Diskurs" eine unübersehbare Aktualität erlangt haben. Diejenigen unter den Rechtsgelehrten, die der Frage nachgegangen sind, und die ihr Forschungsinteresse weiterhin auf den "Rechtsdiskurs" gerichtet haben, trotz der Feststellung, daß das über Leben und Tod der Justitia entscheidende Dilemma nichts mehr als ein plakativer und anziehender Sammelbandtitel war, 2 sollten dabei im Schrifttum vermutlich verschiedene konkurrierende Ansätze hinsichtlich der Diskursanalytik zur Kenntnis genommen haben. Von der rhetorischen Argumentationslehre zur sprechakttheoretischen Verhandlungsanalyse, wie von der in der Tradition der praktischen Vernunftphilosophie verankerten, pragmatischen Diskursethik bis zu den variablen metamodernen Kritiken der Subjektphilosophie, ist der reflektierte oder bloß rezipierte Gebrauch des Terminus "Diskurs" gang und gäbe. Das gilt sowohl für die allgemeine philosophische und linguistische Literatur als auch für die den gerade benannten theoretischen Tendenzen entsprechenden, methodischen Verästelungen der Rechtstheorie.3 Dabei kann man zwischen zwei Hauptbereichen der semantischen Instrumentalisierung des Begriffs "Diskurs" unterscheiden. Auf der einen Seite wird der Diskurs als eine Denkart aufgefaßt: das diskursive, nämlich das methodisch fortschreitende, begriffliche Denken oder Reden wird dem durch die Anschauung hervorgebrachten intuitiven Denken gegenübergestellt. Der Diskurs pendelt darin zwischen seiner formalen Konzeption als Reflexions1
So, der 1986 von Kern/Müller herausgegebene Sammelband gleichlautenden Titels. Praktisch dürfte der von den Herausgebern gewählte Titel die perfekte Zusammensetzung der Überschriften ihrer Beiträge im Sammelband, 83ff., 127ff., repräsentieren. 3 Sehr plastisch kommen die verschiedenen Konzeptionen des "Diskurses", sowohl in historischer als auch in methodischer Perspektive, im 1988 von Fohrmann/Müller herausgegebenen Sammelband "Diskurstheorien und Literaturwissenschaft" zum Ausdruck. Hervorzuheben für den hier interessierenden Zusammenhang wären die nachfolgenden Beiträge: Fohrmann/Müller, Einleitung, 9ff.; Frank, Diskursbegriff, 25ff.; Schüttler, Diskursanalyse, 159ff.; Fohrmann, Kommentar, 244ff.; Plumpe, Kunst und juristischer Diskurs, 330ff. 2
12
Einleitung
methodik4 und seiner materiellen Konzeption als Rede, Diskussionsbeitrag5 oder dialogische Struktur, die die Einlösung wahrheits- oder richtigkeitsbezogener Geltungsansprüche ermöglicht.6 Die Materialität des Diskurses monopolisiert auf der anderen Seite das Interesse jener in Frankreich durch das Werk Bachelards und Canguilhems entwickelten Richtung der Erkenntnistheorie, die als historische Epistemologie der Wissenschaften bekannt ist. 7 Während Bachelard die Geschichte der Wissenschaften als Einheiten zum Objekt seiner Untersuchungen machte und ihre Historie als ein Problem von Mutationen und Verlagerungen anschnitt,8 wandte Canguilhem diese Methode auf der Ebene der wissenschaftlichen Grundbegriffe an.9 Beide berücksichtigen allerdings die dialogische Gestalt der Argumentation nicht als das ausschlaggebende Moment der Diskursivität; stattdessen konzipieren sie den Diskurs als ein 4 Für einen philosophiegeschichtlichen Überblick hinsichtlich der Bedeutung der Termini "diskursiv/Diskurs" seit Thomas von Aquin über Hobbes und Leibniz bis Kant und Fries, jeweils mit Quellenangaben, s. Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe I, s.v. diskursiv, 286. Die neueren Tendenzen faßt Schweicher, Diskurs, 580ff., zusammen. Die Konzeption des Diskurses als Denkart dokumentieren exemplarisch die philosophischen Wörterbücher seit dem 17. Jh.: nach Goclenius, Lexicon Philosophicum, 544, "Discursus est mentis facultas, qua consequens et inconsequens, ordinem et confiisionem judicat". Micraelius, Lexicon, Sp. 392, unterscheidet zwischen einem nDiscursus inferens et causativus, qui vocatur syllogismus" und einem "discursus ordinans et successions, qui vocatur methodusn. In ähnlicher Weise erläutern den Begriff, Chauvin, Lexicon, 190f., und Krug, Allgemeines Handwörterbuch I, 628, der bereits den kantischen Standpunkt aufführt. "Diskursiv" und "intuitiv" als antonyme Begriffe sind schließlich sowohl bei Lalande, Vocabulaire, 238, als auch bei Lorenz, Diskursivität, 492, wiedeizufinden. Bei seiner Untersuchung des Systemgedankens im Rechtsdenken rekurriert Fikentscher, Methoden IV, 98ff., in Anlehnung an Coing, auf die begründungstheoretische Unterscheidung zwischen assoziativen (zweibezüglichen) und diskursiven (drei- und mehrbezüglichen) Systemen. 5 Die Bedeutung des Diskurses als "Rede" scheint bei Höffe, Sittlich-politische Diskurse, vorherrschend zu sein. Vgl. vor allem ebd., 11 ff., wo die Diskurse als Interventionen oder Reden bezeichnet werden. Interessant ist auch der Titel auf S. 17, der auf die dialogische Seite des Diskurses hinweist: "Philosophische Ethik im Diskurs mit den Einzelwissenschaften". 6 Diese letzte Diskurskonzeption überwiegt in der Philosophie des ethischen Pragmatismus, sei es in der Version der Transzendentalpragmatik Apels, der Universalpragmatik Habermas1 oder der konstruktivistischen Ethik und Wissenschaftstheorie Lorenzens und Schwemmers. Eingehend dazu infra §5. 7 Eingehend dazu, Lecourt, Kritik, passim, sowie Gutting, Scientific Reason, 9ff. Kürzer gefaßte Überblicke liefern Guéry, L'épistémologie, 120ff., und Michaux, Epistemologie, 757ff. 8 Vor allem in: Essai sur la connaissance approchée, 1932; Le nouvel esprit scientifique, 1934; La formation de l'esprit scientifique, 1938, (dt. Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, 1978). Instruktiv auch das von Lecourt herausgegebene Kompendium von Texten Bachelards unter dem Titel: Épistémologie, Paris 1971. 9 Canguilhems Untersuchungen: La formation du concept de "réflexe" au XVDe et XVIÜe siècles, 1955, und Le normal et le pathologique, 21972, (dt.: Das Normale und das Pathologische, 1974), illustrieren am deutlichsten seine Methodik. Unter dem Titel: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie hat 1979 Lepenies einen Band mit Aufsätzen Canguilhems herausgegeben. Neben den Arbeiten, die praktisch vorgehen, befassen sich zwei Beiträge mit den theoretischen Prämissen der historischen Begriffsanalytik: Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte, 22ff., und Die Rolle der Epistemologie in der heutigen Historiographie der Wissenschaften, 38ff.
§1 Recht als Wissen und Institution
13
in der Wissenschaftsgeschichte zu lokalisierendes, Wahrheit als positives Wissen inkorporierendes Aussagenensemble. In kritischer Auseinandersetzung mit dieser historisch orientierten Epistemologie gelang es Foucault,10 eine formale Analytik des Diskurses, nunmehr als strukturierter Wissens- und nicht strikt als Wissenschaftsformation, zu entwerfen. 11 Die "Archäologie des Wissens"12 steht als eigentlich einzige rein methodologische Schrift Foucaults genau in der Mitte seines Schaffens. Den vorher publizierten, spezifischen Diskursen gewidmeten Analysen13 folgen, nach der Veröffentlichung der "Archäologie" und der programmatischen Charakter besitzenden "Ordnung des Diskurses", 14 Studien, die sich, auf der empirischen Basis der Auswertung von philologischen, juristischen und wissenschaftlichen Texten, des Problems der Einflußnahme machtbezogener sozialer Praktiken auf die Diskurs- und die Wahrheitsproduktion annehmen.15 Es ist demnach kaum verwunderlich, wenn Foucault hauptsächlich als ein Theoretiker der Macht betrachtet und behandelt wird. Es fehlen sogar nicht die Versuche, auf der Grundlage seiner Ausführungen zum Fragenkomplex Wahrheit und Macht rechtstheoretische Modelle zu entwickeln.16 In der vorliegenden Untersuchung wird ein anderer Weg eingeschlagen. Im Rahmen einer hier bevorzugten, an die archäologische Methode Foucaults anknüpfenden, formalen rechtstheoretischen Diskursanalytik bleibt die Macht ein mitzuberücksichtigender, nicht jedoch in seiner Materialität zu rekonstruierender Faktor. Sie gehört zu den Formalien der Diskursivität. 17 Die Erarbeitung einer "Theorie des juristischen Diskurses" konzentriert sich vielmehr, erto Aus der mittlerweile unübersichtlichen Literatur über Foucault seien hier nur einige Monographien genannt: am authentischten Deleuze, Foucault; Dreyfus/Rabinow, Foucault; Kammler, Michel Foucault: eine kritische Analyse seines Werks; Serrano-Gonzalez, Michel Foucault. derecho, poder.des Begriffs des Diskurses bei Foucault vgl. außer der soeben in Fn. 11 Sujeto, Für eine Erläuterung 10 Benannten: Busse, Historische Semantik, 222ff.; Frank, Diskursbegriff, 25ff.; Lecourt, Kritik, 77ff. 12 L'archéologie du savoir, 1969 (dt. 1973) 13 Foucault, Maladie mentale et psychologie, 1962 (dt.: Psychologie und Geisteskrankheit, 1968); Folie et déraison. Histoire de la folie à l'âge classique, 1961 (dt.: Wahnsinn und Gesellschaft, 1969); Naissance de la clinique. Une archéologie du regard medical, 1963 (dt.: Die Geburt der Klinik, 1973); Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, 1966 (dt.: Die Ordnung der Dinge, 1971). 1 4 L'ordre du discours. Inauguralvorlesung am Collège de France vom 2.12.70, 1971 (dt. 1974). 15 Hierzu zählen vor allem die Werke: Surveiller et punir. Naissance de la prison, 1975 (dt.: Überwachen und Strafen, 1976), sowie La volonté de savoir. Histoire de la sexualité Bd. I, 1976 (dt.: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit Bd. I, 1977). 16 Auf Broekmans Aufarbeitung der Theorie Foucaults wird infra §7 eizugehen sein. Vgl. auch Ladeur, Rechtssubjekt, 9ff., 73ff.; Ewald, L'état providence, passim; Goodrich, Legal Discourse, 184ff.; ebd. 125ff. bezieht er sich auf die formalen Aspekte des Diskurses. 17 Zu diesem Zusammenhang vgl. Röttgers, Sinnstabilisation, passim.
14
Einleitung
stens, auf jene sprachgebundenen Momente, die das Produktionsfeld des juristisch relevanten Wissens konstituieren, zweitens, auf jene sozialen Praktiken und Instanzen, durch die die Funktionen des Rechts wahrgenommen und erfüllt werden. In dieser Hinsicht entfaltet sich die Phänomenologie des juristischen Diskurses auf zwei Ebenen: auf der Ebene der Produktion eines spezifischen Wissens zum einen, auf der der Operationalisierung dieses Wissens in einer ausdifferenzierten Institution zum anderen. Diese Institution setzt sich sowohl aus gesetzgebenden, gesetzesanwendenden und gesetzesvollziehenden Instanzen und Praktiken als auch aus Wissensproduktions- und Wissenstradierungsinstanzen und Praktiken zusammen. Weit also davon entfernt, eine bloße Menge von Rechtssätzen zu sein, ist Recht in dieser Perspektive die Resultante institutionalisierter sozialer Praktiken. Im Relationennetz der Praktiken von Institutionen wie die Gesetzgebung, die Rechtsprechung, die Verwaltung und die Rechtsforschung, sei es als Rechtsdogmatik oder als Rechtstheorie, die die Funktionen der Produktion, der Reproduktion, der Applikation und der Adnotation des Rechts und des juristischen Wissens ausüben, entstehen und formieren sich sowohl die sinnstiftenden Gebrauchsregeln rechtlich spezifischer Kommunikationspraktiken als auch die materiellen Inhalte der juristischen Erkenntnis. Zweifellos vollzieht sich diese Erkenntnis, in unserer Kulturtradition zumindest, in einem Diskussions- und Argumentationsschema. Einer Theorie des Diskurses ist jedoch die Aufgabe auferlegt, einesteils die juristische Rede als Aussagenensemble in ihrem genetischen Rahmen zu positionieren, anderenteils Sektoren juristischer Sprachformen auszudifferenzieren und theoretisch zu behandeln. Solche Sektoren juristischer Sprache bilden die von der Linguistik entwickelten Ebenen des Textes, des Satzes und des Wortes. Ihrer nimmt sich ebenfalls die Diskurstheorie an, ohne jedoch an analytischen Mustern der Sprechakttheorie, der generativen Grammatik, der Semiotik oder der Logik zu haften. Diskurse, hier nicht als einfache, normierbare, subjektbezogene Dialogprozeduren aufgefaßt, bilden den institutionell bedingten epistemologischen Rahmen einer Analytik der juristischen Sprache, die, erstens, das Recht (auf der Textebene) nicht als Fachsprache sondern als diskursive Einheit, weiterhin, den Rechtssatz (auf der Satzebene) nicht als Normtext, Proposition oder Sprechakt, sondern als diskursive Aussage, und schließlich, die Rechtsbegriffe (auf der Wortebene) nicht als primär normtextbezogene, sondern als diskursive Begriffe konzipiert. §2 Diskursivität und Extradiskursivität Dadurch zeichnet sich in aller Klarheit die Demarkationslinie ab, die die vorliegende Arbeitshypothese von gängigen Diskurskonzeptionen trennt. Als
§2 Diskursivität und Extradiskursivität
15
institutionelle Epistemologie des Diskurses unterscheidet sie sich sowohl von dialogischen Diskurskonzeptionen, wo der Diskurs nur ein Argumentationsfeld ist, als auch von strukturalistischen Diskursmodellen, die hauptsächlich die Machtökonomie der Sprache problematisieren. Desgleichen ist die Diskurstheorie als Analytik von diskursiven Aussagen und Begriffen auf der Basis institutionalisierter Praktiken weder eine Variante der Wissenschaftstheorie noch der textkritischen Hermeneutik oder der auf der Mündlichkeit fundierten Analyse von Diskursen als verhandlungsrelevanten Sprechakten. Dies hängt damit zusammen, daß sich die Untersuchung vor allem mit dem Problem befaßt, die Diskursivitätsfunktion als analytisches Mittel einzuführen. Darunter wäre ein Prädikat zu verstehen, das auf den epistemischen Status von Aussagen, Aussagekomplexen oder Aussagebestandteile verweist. Die Theorie der juristischen Aussage bildet somit den einen Pol der Untersuchung, die Etablierung der Diskursivität auf juristischer Text-, Satz- und Wortebene den anderen. Diejenigen sprachlichen Einheiten, die, trotz ihres rechtsrelevanten Gebrauchs, die hier zu bestimmenden Kriterien der juristischen Diskursivität nicht erfüllen, sind einem offenen extra-diskursiven epistemischen Umfeld zuzurechnen, dessen Volumen andere ausdifferenzierte Diskurse oder die Alltagssprache ausfüllen. Demnach ergibt sich folgende Gliederung der Arbeit. Nachdem zunächst die institutionelle Epistemologie des Diskurses im Kontext der historischen Epistemologie der Wissenschaften gestellt und von dem wissenschaftstheoretischen Modell der Epistemologie abgegrenzt wird (§3), folgt im ersten Kapitel die ausführliche Gegenüberstellung dialogischer und epistemologischer Konzeptionen des juristischen Diskurses. Danach wird die Anwendung der Kategorie der Diskursivität auf die linguistischen Grundbegriffe, die zur Zeit die rechtstheoretische Analyse prägen, erprobt. So wird im zweiten Kapitel das Recht als Diskurs mit dem Recht als Fachsprache konfrontiert. Im dritten Kapitel wird der Übergang vom Rechtssatz zum rechtlichen Satz als diskursive Aussage behandelt. Kapitel IV und V befassen sich mit der Diskursivität auf Wortebene. Setzt sich das erstere mit jenen Theorien auseinander, die in der These von der semantischen Relativität der Rechtsbegriffe kulminieren, behandelt das letztere kritisch die Postulate der teleologischen Begriffsbildung. Dabei wird vor allem der These entgegengetreten, die zweckgebundene Interpretation riefe eine automatische Verrechtlichung "natürlicher" Begriffe hervor. Die Betrachtung der Teleologik als einer genuin semantischen Methodik wird durch die Auffassung derselben ersetzt, daß es sich vielmehr um einen pragmatischen Mechanismus handelt, der bereits bestehende, argumentativ hervorgebrachte semantische Optionen selektiert Anstatt die juristische Begrifflichkeit im Lichte teleologischer Argumentationen zu vereinheitlichen, was richtiger heißen sollte, sich über ihre Partikularitäten hinwegzusetzen und
16
Einleitung
ihre Erscheinungsformen zu nivellieren, wird hier der Versuch unternommen, die in juristischen Aussagen und speziell in Normtexten enthaltenen Begriffe in diskursive und extra-diskursive zu unterteilen. Die argumentationstheoretischen und rechtsmethodologischen Implikationen dieser theoretischen Erneuerung werden im sechsten Kapitel kurz unter die Lupe genommen. Dort gilt es, die hier eingeführte Klassifikation der Rechtsbegriffe mit den traditionellen Unterscheidungen derselben in bestimmte und unbestimmte, normative und deskriptive, revisible und irrevisible Begriffe zu kombinieren. Die Untersuchung verfolgt dadurch eine doppelte Zielsetzung: einerseits erweitert sie die Epistemologie diskursiver Formationen über die Ebene der Aussagen hinaus auf das Feld der Diskursivität der Begriffe; andererseits operationalisiert sie die hier entwickelte Theorie, um gängige begriffstheoretische Ansichten der juristischen Methodenlehre zu revidieren. Es darf hier nicht der Hinweis darauf fehlen, daß die Konzeptualisierung des Begriffspaars Diskursivität/Extradiskursivität im Kontext eines breiter angelegten Forschungsplanes entstanden ist. Im Rahmen einer langjährigen Auseinandersetzung mit der Problematik der juristischen Standards reifte im Autor der Gedanke, Standards seien adäquat als extradiskursive Normtext- zu erfassen. Wenn hier unter Verzicht auf die spezifische Problematik der Standards nur diejenigen Untersuchungsergebnisse veröffentlicht werden, die sich auf eine materielle Theorie des Diskurses beziehen, geschieht dies aus zwei Gründen: erstens, weil die Diskursanalytik für das gesamte institutionalisierte Spektrum diskursiv-juristischer Praktiken und nicht nur für den Bereich der "rechtlichen" Standards relevant ist. In dieser Hinsicht liefe die Theorie des Diskurses Gefahr, mißverstanden oder vorschnell eingeengt zu werden. Zweitens, weil die grundsätzliche Fundierung der Standards in der Diskursivitätstheorie nicht der einzige Ansatzpunkt zum Verständnis der Standards-Problematik sein kann. Vielmehr bedürfte dieser theoretische Anhaltspunkt der Flankierung durch zwei andere analytische Instrumente. Soweit Standards sich auf Normalität gerichtete, konventionale Verhaltensmaßstäbe beziehen, erweisen sich neben der Diskursivitätsanalytik eine Theorie der konventionalen Normativität einerseits, eine genealogische Epistemologie der Erfassung und rechtlichen Würdigung der Durchschnittlichkeit als Normalitätsoperators andererseits, als diejenigen Forschungsschwerpunkte, die eine tiefgreifende Untersuchung der Standards garantieren würden. Eine auf diesen methodologischen Grundpfeilern abstellende Erforschung der juristischen Standards kann somit für die nähere Zukunft in Aussicht gestellt werden. Einer daraus hervorgehenden, aber von dem konkreten Kontext der Standardsdiskussion abhebbaren Diskursivitätstheorie soll nun hier der Vorzug gegeben werden.
§3 Institutionelle Epistemologie und Wissenschaftstheorie
17
§3 Institutionelle Epistemologie und analytische Wissenschaftstheorie: Versuch einer Abgrenzung Nachdem eingangs Arbeitshypothese und Arbeitsgang erläutert wurden, sollte nun kurz auf das Arbeitsinstrument "Epistemologie" eingegangen werden. Es ist in der Tat notwendig, den Sprachgebrauch präzise zu definieren, zumal der Begriff Epistemologie wenigstens zwei Aspekte aufweist. Das eine Mal geht es um eine philosophische Erkenntnistheorie, die das Verhältnis des vernünftigen Subjekts zu einer in mentalen Kategorien objektivierbaren Welt untersucht;18 das andere Mal um eine präskriptive Wissenschaftstheorie, die die Bedingungen der Erlangung positiven Wissens erforscht, die Konsistenz wissenschaftlicher Theoriebildung formalisiert 19 und die strukturellen Parameter des Wissenschaftsbetriebs zu erfassen versucht.20 Von einer dritten Form der Epistemologie war bereits im §1 die Rede. Es handelte sich um die von Bachelard begründete Historiographie der Wissenschaften. Ihre methodologische Weiterführung durch Foucault in eine historische Epistemologie behandelte die Zurückführung einer Aussage auf jene Prämissen, die das Denkbare, das Sagbare und das Machbare in einem gegebenen Ort und einer gegebenen Zeit determinieren. Prämissen dieser Art besitzen weder einen fundamental-ontologischen Charakter noch fungieren sie als wissenschaftstheoretische Präsuppositionen bei der Formung eines Wissensbestands. Sie konstituieren eher einen Rahmen, der die materiellen Modalitäten der Wahrheitsproduktion festsetzt und dadurch auf die Formation von " wahrheitsfähigenM Aussagen Einfluß nimmt. Die archäologische Epistemologie Foucaults wird hier in eine institutionelle Diskurstheorie umgeformt. Der Übergang Foucaults von der Wissenschaftsgeschichte zur Diskursarchäologie ereignete sich durch Abkopplung des subjektivistischen Bewußtseinsprimats einerseits, des Festhaltens an formierten Wissenschaften als Analyseobjekten andererseits. 21 In der vorliegenden Untersuchung erfolgt die Verlagerung des Ansatzes von der archäologischen und genealogischen Aussagenanalytik zu der institutionsbedingten Diskursivitätsanalytik dadurch, daß das Moment der Historizität der Aussage durch das forschungsstrategische Prinzip des Bezugs auf synchrones Material ersetzt wird. Die institutionelle Epistemologie ist in dieser Perspektive eine Diskurstheorie, die es von der Wissenschaftstheorie, der Wissenschaftsgeschichte oder der 18 Über diese Bedeutung des Begriffs "Epistemologie" s., jeweils m.w.L., Mittelstraß, Erkenntnistheorie, 576ff.; Essler, Epistemologie, 133ff.; Ryle, Epistemology, 92ff. 19 Näheres darüber bei von Kutschera, Wissenschaftstheorie I, 11ff.; Karnitz, Wissenschaftstheorie, 77 Iff.; Menne, Wissenschaftstheorie, Sp. 1104ff. 20 Exemplarisch dazu die Untersuchung Kuhns, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1976. 21 Eingehend dazu Machado, Archéologie et Epistémologie, 15ff.
2 Paroussis
18
Einleitung
Wissenschaftssoziologie abzugrenzen gilt. Grund dafür wäre die Tatsache, daß die Diskurstheorie weder an einen formalen Wissenschaftsbegriff gebunden ist noch an einer nach bestimmten Kriterien festzustellenden Wissenschaftlichkeit als Prämisse der Erkenntnis festhält. Die Wissenschaftstheorie verkörpert auf der Grundlage ihrer antimetaphysischen erkenntnistheoretischen Grundhaltung ein philosophisches Programm, dem die Methodik der empirischen Wissenschaften zugrundeliegt. Der normative Charakter dieses Modells tritt bei der Untersuchung der Erkenntnisproduktion im Rahmen der Sozial-, Geistes-, Human- und Kulturwissenschaften in aller Klarheit zutage.22 Die Diskurstheorie sieht im Gegensatz dazu davon ab, das Wissen der binären Axiologie wissenschaftlich/unwissenschaftlich zu unterstellen, sowie diskursexterne Regeln abstrakt-logischen Charakters zu diesem Zweck zu statuieren. Stattdessen mißt sie die Wissensrationalität anhand diskursinterner konventionaler Regelmäßigkeiten, die historisch bedingt sind und aus diesem Grund kontingenten Charakter aufweisen. Insoweit repräsentiert die Diskurstheorie eine Anerkennung der prinzipiellen Gleichwertigkeit jeglicher Wissensproduktion, die auf nachweisbare Formationsregeln zurückzuführen ist. Behält die Wissenschaftstheorie den Stellenwert eines Selektionsmechanismus, der die Gültigkeitsbedingungen der Erkenntnisproduktion kontrolliert, bildet der Diskurs ein offenes Register der Wissensklassifikation, das durch die Eckpfeiler der historischen Diskontinuität, der kommunikativen Intersubjektivität und der zeitbedingten Wissensvalidität konstituiert wird. Wenn demnach der Wissens- und folglich auch der Wissenschaftsbegriff bei der Wissenschaftstheorie und bei der Diskursepistemologie so differieren, kann man die Diskurstheorie kaum als Wissenschaftspragmatik oder als Wissenschaftsgeschichte einstufen. Es wäre richtiger zu behaupten, die Diskursepistemologie sei eine Wissens-, aber keine Wissenschaftsanalytik, die historisch bezeugte oder aktuell herrschende Wissensformen erforscht. Soweit die Geschichte doch ein Bestandteil ihrer Methodologie ausmacht, handelt es sich nicht um die finalistische Darstellung der Verirrungen des objektiven Geistes bis zur, zumindest so empfundenen, Realisierung seines Triumphes in seiner aktuellen Form; vielmehr kommt die Beschäftigung mit in schriftlicher Form festgehaltenen historischen Aussagen einer Materialsammlung gleich, aus der der Begriff des Diskurses als jeweils geltendes Wissenssystem entspringt. Die in der Wissensgeschichte zu beobachtende Revidierung älterer Theorien, die in ihrem historischen Kontext als unumstößliche Wahrheiten behandelt wurden, vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, daß ihre Produktion stets im Rahmen gegebener diskursiver Regeln zustandegebracht worden ist. Es sind 22 Karnitz, Wissenschaftstheorie, 775.
§3 Institutionelle Epistemologie und Wissenschaftstheorie
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diese Regelmäßigkeiten, die jedes Mal einer Aussage ihren relativen erkenntnisrelevanten Sinn zusprechen. Bezogen auf die theoretischen, philosophischen oder allgemein strategisch-generativen Prämissen der Aussage verfahrt die diskursive Epistemologie archäologisch; bezogen auf die sozialen, diskursiven und extradiskursiven Praktiken, die die erwähnten Prämissen selbst formieren, verfährt sie genealogisch. Rekurriert die Epistemologie auf die aktuellen, realen Modalitäten dieser beiden Problembereiche, besitzt sie in diesem Fall einen materiellen Charakter. Verbleibt sie auf der Ebene der Darstellung der methodologischen Verfahren zur Bestimmung des Diskurses oder der diskursiven Aussage, fungiert sie als formale Epistemologie der Wissensformationen. Die beschriebenen erkenntnistheoretischen Divergenzpunkte, die bei der Vergleichung der institutionellen Epistemologie mit der analytischen Wissenschaftstheorie zutagegefördert wurden, gelten uneingeschränkt auch bei der Übertragung dieser methodologischen Modelle auf die rechtstheoretische Reflexion. Das jüngste Beispiel für die Aufnahme der wissenschaftstheoretischen Diskussion in die Rechtstheorie, und zwar derjenigen Fragestellung, die auf die Erstellung formaler Verfahren zur Untersuchung der wissenschaftlichen Theoriebildung Bezug nimmt, bildet der in enger Anlehnung an Sneed und Stegmüller unternommene Versuch Schlapps,23 die rechtsdogmatische Theoriebildung unter diesem Aspekt zu erforschen. Dem wäre bestimmt nichts entgegenzuhalten, wäre die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz wirklich gelöst und nicht einfach postuliert. 24 Es ist demnach kein Zufall, wenn die Mstrukturalistische Sicht juristischer Theoriebildung"25 die Problemstellung und -behandlung in ihrer Form revolutioniert, die Ergebnisse einer bis dato mit traditionellen rhetorischen Mitteln geführten Diskussion aber im Endeffekt materiell bestätigt. Allen vorgeführten Reserven zum Trotz, vermag Schlapps Schrift allerdings ein Beispiel angewandter analytischer rechtstheoretischer Wissenschaftstheorie zu verkörpern. Gleichzeitig signalisieren jedoch Form und Inhalt dieser Studie in aller Deutlichkeit den Unterschied zu dem hier gewählten Ansatz. Ist die institutionelle Diskursanalytik als Epistemologie mit der wissenschaftstheoretischen Erkenntnistheorie nicht zu verwechseln, stellt sich die Frage, wie sich ein als Wissenssystem aufgefaßtes Diskursmodell der systemtheoretischen Wissenssoziologie Luhmanns26 gegenüber verhält. Obwohl ge23 Theoriestrukturen und Rechtsdogmatik, 1989. 24 Besonders die Ausführungen auf S. 215 scheinen diesen Verdacht zu erhärten. 25 So, der Untertitel der Studie. 26 Vgl. vor allem seine Thesen in: Ausdifferenzierung des Rechts, 1981; Gesellschaftsstruktur und Semantik, 3 Bde. 1980ff; Soziale Systeme, 1984; Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1990; Das Recht der Gesellschaft, 1993.
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Einleitung
wisse Parallelen, wie z.B. die transsubjektive Systemautonomie oder die Einnahme einer wertneutralen Beobachterperspektive gegenüber den Wissensformationen, die Kompatibilitätsvermutung nahelegen könnten, sollte man die Verschiedenartigkeit der beiden Ansätze nicht unterschätzen. Die institutionelle Epistemologie ist, erstens, keine soziologische Theorie, zweitens, kein Erklärungs-, sondern ein Klassifikationsmodell und drittens, kein auf der Idee der autopoietischen Organismusstruktur aufbauendes, sondern auf der Vorstellung der Organisationsstruktur beruhendes theoretisches Schema. Erfaßt letzlich die Systemtheorie primär Institutioneninterferenzen auf sozialer Ebene, analysiert die Diskurstheorie an erster Stelle institutionenrelevante Aussagenregularitäten auf der Sprachebene. Parallel zu der hier unternommenen kritischen Rezeption der Methodik Foucaults verläuft schließlich der im Rahmen der strukturierenden Rechtslehre Fr. Müllers zu beobachtende Versuch, die Diskurstheorie als ein analytisches Instrument zur Erforschung juristischer Semantik einzuführen. Während sich aber der vorliegende Ansatz an die institutionellen Parameter der Diskursivitätsfunktion wendet, legen die Anhänger Müllers bei ihrer größtenteils begründeten Polemik gegen gängige Thesen rechtsmethodologischer Bedeutungstheorien überwiegend einen linguistischen Ansatz zugrunde. In Anlehnung an Wimmers Referenzsemantik und ganz besonders an Busses historischer Semantik, in deren Rahmen die Diskurstheorie Foucaults zu einem linguistisch funktionalen Modell erweitert wird, entwickeln Christensen und Jeand'Heur eine juristische Semantik, in die sie vor allem die Subjektivitätskritik Foucaults miteinbeziehen.27 Beide verfolgen in dieser Hinsicht kein der vorliegenden Auffassung gegenüber antagonistisches Programm. Es dürfte trotzdem ersichtlich sein, daß die hier aufgeworfenen Fragen nicht hauptsächlich einer linguistischen Rationalität gehorchen und deswegen keine bedeutungstheoretische, in gewissem Maße aber bedeutungspraktische Probleme anschneiden. Der methodische Ansatzpunkt der institutionellen Epistemologie dürfte somit vorläufig genügend erläutert und von anderen Modellen abgegrenzt worden sein. Im darauffolgenden Abschnitt soll nun die Konzeption des Rechts als Diskurs in verschiedenen theoretischen Strömungen untersucht und die eigene Stellungnahme eingehend begründet werden. 27 Vgl. dazu, Wimmer, Referenzsemantik, 1979; Busse, Historische Semantik, 221 if. und passim; Christensen, Gesetzesbindung, lOOff., 136ff., 179ff., 307ff.; Jeand'Heur, Referenzverhalten, 102ff.; Christensen/Jeand'Heur, Themen, 9ff. Am deutlichsten werden die Resultate der Begegnung zwischen praktischer Semantik und strukturierender Rechtslehre in: Fr. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, dokumentiert; außer der darin veröffentlichten Beiträge sämtlicher hier aufgeführten Autoren ist die mitpublizierte Niederschrift der Diskussion, 189ff., von besonderem Interesse.
I. Dialogische versus epistemologische Konzeptionen des juristischen Diskurses
§4 Definitorische Vorüberlegungen zur Epistemologie des Diskurses Der gesamt-juristische Diskurs wird hier im Sinne eines um das sprachlich erfaßte Grundobjekt "Recht" artikulierten Gefüges von theoretischen Aussagen und damit verbundenen Praktiken aufgefaßt. Die Relation zwischen dem Diskurs und seinem Grundobjekt sollte nicht essentialistisch mißdeutet werden, nämlich in der Richtung, daß substanziierte Objekt-Entitäten als externe Bedingungen hinter der Diskursproduktion stünden.1 Vielmehr sind es die infolge sozialer Praktiken sich bildenden Diskurse selbst, die ihr Objekt progressiv definitorisch produzieren. Aus diesem Grund wird erkennbar, daß Diskurse nicht einfach die Summe der in einer gegebenen Zeit um ein transhistorisch in der Welt bestehendes "natürliches" Objekt2 entstandenen Aussagen sein können. Diskurse erlangen ihre Spezifizität eben durch die Art und Weise der Gestaltung ihres Sachbereiches, d.h. durch die empirisch feststellbare Ausdifferenzierung einer Wissensdomäne auf der einen Seite, durch die Stiftung von Regeln auf der anderen Seite, die auf die Modalitäten des semantisch-spezifischen Sprachgebrauchs, der syntaktisch-logischen Argumentationsformen und schließlich der pragmatischen und machtbezogenen Strukturierung der Wahrheitsproduktionsinstanzen Bezug nehmen. Bildet der Diskurs somit ein Feld der Formation und der Transformation des "objektiven" Wissens, hält er nicht minder die Foren bereit, die die Individuen einnehmen sollen, um als Träger von subjektiven Aussagen erscheinen zu können. Der Diskurs sollte trotzdem nicht einfach als das Ergebnis der sprachgeleiteten kognitiven Interaktion von Subjekten verstanden werden; es wäre nicht unangemessen zu behaupten, daß der potentielle Diskursteilnehmer dem Diskurs und seinen Modalitäten in gewisser Hinsicht beizutreten hat. Die Akzeptanz der diskursiven Regeln konstituiert in diesem Sinn das Passieren 1 In die selbe Richtung laufen auch die Ausführungen Broekmans, Objektivierung, 242, sowie Ladeurs, Rechtssubjekt, 75f. 2 Vgl. Foucault, Archäologie, 49ff., 64ff., (Archéologie, 45ff., 58flf. - im weiteren gelten die Seitenangaben in Klammern stets der französischen Ausgabe des Werkes); Dreyfus/Rabinow, Foucault, 94ff.
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I. Konzeptionen des juristischen Diskurses
einer Schwelle, die die dem Menschen gegebene "natürliche" Kapazität des Sprechens von dem Sprechen in institutionalisierten Kontexten abtrennt. Die analytische Kategorie des Diskurses umreißt, so gesehen, ein Feld der Wissensreglementierung. Auf diesem Feld wirken Regeln, die das "wie" der Wahrheit determinieren, und die von subjektiven, auf das "was" der Wahrheit bezogenen Positionen nicht direkt formierbar sind.3 Wenn dann oft der Vorwurf formuliert wird, die Diskursanalytik wolle den "Tod des Subjekts" proklamieren,4 weil sie die ontologische Subjektkategorie als ein historisch zu rekonstruierendes Objekt des philosophischen Diskurses und nicht als eine apriorische Kategorie ansieht, wird völlig verkannt, auf welcher Ebene im Rahmen der Diskursepistemologie die Konstitution von Subjektivität, auf welcher die von Intersubjektivität, und auf welcher die von Metasubjektivität positioniert wird. 5 Bildet letztere Kategorie das Instrument einer kritischen Reflexion über die Metaphysik, sind die beiden ersten bei der formalen Analytik der Diskursivität von Bedeutung. Die "Unhintergehbarkeit von Individualität"6 tangiert somit weniger die institutionelle Epistemologie als eine ihr gegenübergestellte idealistische Ontologie. Es dürfte demnach ersichtlich geworden sein, daß die hier vertretene Diskurskonzeption von der im deutschen Schrifttum gängigen Deutung des Diskurses als einer von der praktischen Vernunft abhängigen, primär sprachlich3 Ladeur, Rechtssubjekt, passim, insb. 11, 101 f., problematisiert in Anlehnung an Althusser die epistemische Subjekt-Objekt Beziehung als eine niInvestition' bestimmter rechtlichen Ideologien durch eine ideologische Praxis". In der hier vertretenen Diskursanalyse wird jedoch auf das theoretische Schema des "ideologischen Überbaus" nicht rekurriert. Diskurse mögen sich bestimmt auch aus symbolischen Momenten konstituieren, aus diesem Grund sind sie aber nicht als Ideologeme zu betrachten. 4 Die Tatsache, daß Foucault in: Die Ordnung der Dinge, dies in zugespitzter Form getan hat, wird seither zum Anlaß genommen, den "antihumanistischen" Charakter der Diskursepistemologie zu entlarven. Dadurch wird allerdings nichts weiter als die Inkompatibilität einer philosophischen Ontologie mit einer materiellen erkenntnistheoretischen kritischen Epistemologie dokumentiert. 5 Wenn Broekman, Objektivierung, 246, von "asubjektiven Prozessen" spricht, die die Basis für diskursive Objektivierungen bilden, dann sollte der Akzent eher in einem auch hier vertretenen Sinne auf dem Begriff "Prozesse", und nicht auf dem leicht zu mißverstehenden Attribut "asubjektive" gesetzt werden. Die Asubjektivität ist analytisch wenig ergiebig. 6 So, der Titel einer 1987 herausgegebenen Artikelsammlung von M. Frank, mit dem Untertitel: "Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer 'postmodernen' Toterklärung". Franks Thesen scheint, trotz anders gewichteter philosophischer Haltung, auch Ballweg, Analytische Rhetorik, 233ff., zu teilen. Es dürfte jedoch klar sein, daß der hier vertretenen Diskursauffassung nur soweit "Selbstbezüglichkeit" (im Sinne Ballwegs) anhaftet, als das Sprechen im Diskurs transsubjektiv normiert wird. Die von Ballweg beschriebene "Entsetzung des Schöpfers der Sprache", oder die Entmachtung des Menschen in der "autopoietischen Metonymie" der Sprache, also in rhetorisch konstruierten Wirklichkeiten wie dem "Diskurs", der "Vernunft", oder dem "System", tritt in einer nur analytischen Zwecken dienenden Diskursstrukturierung nicht ein. Diskurse heben nicht die Sprachfähigkeit des Einzelnen auf; sie kanalisieren sie aber in epistemisch relevante Bahnen.
§4 Vorüberlegungen zur Epistemologie des Diskurses
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dialogischen Tätigkeit im Sinne eines rationalen Argumentenaustausches7 in starkem Maße abweicht. Das geläufige, grundsätzlich linguistisch geprägte Diskursmodell kombiniert interessanterweise sowohl Aspekte der philosophischen Dialektik, wie sie beispielsweise im Programm der am Konzept der Beratung festhaltenden konstruktiven Wissenschaftstheorie der Erlanger Schule in Erscheinung treten,8 als auch Aspekte der sophistischen Rhetorik, so wie sie im Werk Perelmans ihre Reaktualisierung gefunden hat.9 Diese, beim ersten Blick philosophiegeschichtlich kontradiktorisch erscheinende Verbindung zweier erkenntnistheoretischer Traditionen, wird durch die beiden Schulen gemeinsame Instrumentalisierung der Begriffe Argument/argumentativ/ Argumentation ermöglicht. Erst auf der höheren Ebene der Betrachtung der Argumentationszwecke und der normativen Maßstäbe des richtigen Argumentierens manifestieren sich die bekannten Divergenzen, die die zwei erwähnten Schulen von alters her begleiten. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird zunächst der Blick auf die Diskurstheorien der philosophischen Pragmatik zu richten sein. Im Rahmen der sprachphilosophischen Analytik entstandene Ethik-, Handlungs- und Kommunikationstheorien versuchen in diesem Kontext, entweder allgemein, wie bei Habermas,10 oder spezifisch rechtstheoretisch, wie bei Alexy, 11 in epistemisch-nomologischer Absicht Regeln zur Begründung normativer Aussagen zu entwickeln, um dadurch eine Theorie des allgemeinen praktischen oder des juristischen Diskurses als Kontrollinstanz der Vernünftigkeit der Argumentation zu formulieren (§5).
7 Exemplarisch dazu folgende Formulierung Krieles, Praktische Vernunft, 30: "Die Diskurstheorie bringt den sokratischen Gedanken in Erinnerung, daß in praktischen Fragen durch Argument und Gegenargument 'idealiter' Konsens erzielt werden könnte, wenn sich nur jedermann sachlich, aufrichtig, intelligent und gutwillig am Diskurs beteiligen würde und dieser unendlich, ohne praktischen Entscheidungszwang fortgesetzt werden könnte". Den demokratischen Verfassungsstaat bezeichnet demnach Kriele, ebd., 31, als "die Staatsform der Diskussion". 8 Vgl. dazu Lorenzen/Schwemmer, Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie, 1973, sowie Kambartel (Hrsg.), Praktische Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheorie, 1974, mit Beiträgen dess., 9ff., 54ff.; Lorenzens, 34ff.; Schwemmers, 73fT., 148ff. 9 Ausführlicher dazu Schweicher, Diskurs, 580ff. 10 Vor allem in: Wahrheitstheorien, passim, mit weiteren Hinweisen auf Austin, Searle und Toulmin. Zum Diskurs als rationale Argumentation vgl. auch: Habermas, Bemerkungen, 123ff.; Theorie I, 25-71; Diskursethik, 67-108; Vorlesungen, 104-126; Replik, 548ff.; Erläuterungen, 598ff.; Moderne, 363ff.; Legitimität, 1 Iff.; Faktizität, 161ff., 276ff. Bei seiner Definition des Diskurses bezieht sich Gethmann, Diskurs, 492, ausschließlich auf Habermas, während Lorenz, Diskursivität, 492, ohne Bezug auf Habermas zu nehmen, die Stichworte "diskursiv/Diskursivität" wie folgt definiert: "Charakterisierung eines methodisch fortschreitenden, das ganze aus seinen Teilen aufbauenden Denkens oder Redens; oft synonym zu begrifflich. Antonym: intuitiv". Die seit der Renaissance übliche Betitelung zahlreicher Abhandlungen als "Diskurse" geht zweifellos auf die letztgenannte Definition des Begriffs zurück.
11 Vgl. Theorie, passim.
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I. Konzeptionen des juristischen Diskurses
Der Übernahme und Weiterleitung solcher Modelle in prozedural-anthropologische Gerechtigkeitstheorien (§6) steht die Erarbeitung solcher Diskurskonzeptionen entgegen, die die Entfaltung von Machtverhältnissen in diskursiven Praktiken im Mittelpunkt ihres Interesses haben (§7). Durch einen Rückgriff auf den Begriff der Episteme bei Foucault (§8) wird hier ein methodologisches Fundament errichtet, auf dem fruchtbare Ansätze zu einer Theorie der juristischen Diskursivität (§9) entstehen können. §5 Der juristische Diskurs als Sonderfall des praktischen Diskurses Die Operationalisierung eines dialogischen Diskursmodells findet ihre geläufigste Anwendung im Rahmen der praktischen Philosophie des Pragmatismus. Aus den drei konkurrierenden Hauptströmungen dieser philosophischen Schule, nämlich der Universalpragmatik, der Transzendentalpragmatik12 und der konstruktiven Wissenschaftstheorie und Ethik, 13 wird hier nur auf die erste einzugehen sein, da sie die weitestreichenden Konsequenzen für das rechtstheoretische Verständnis des Diskurses ausgelöst zu haben scheint. So versteht Habermas, im Rahmen seiner Konsensustheorie der Wahrheit, unter dem Stichwort Diskurs "die durch Argumentation gekennzeichnete Form der Kommunikation, in der problematisch gewordene Geltungsansprüche zum Thema gemacht und auf ihre Berechtigung hin untersucht werden". 14 Wahrheit selbst konzipiert er als einen Geltungsanspruch, der im Sprachmodus der Behauptung, d.h. eines konstativen Sprechaktes, mit einer Aussage in Verbindung gebracht wird. Die Aussage kann wahr oder falsch sein, die Behauptung ihrerseits berechtigt oder unberechtigt sein.15 Rationale Motivation als die "Kraft des besseren Argumentes"16 soll formal, und unter Erfüllung der universalpragmatischen Bedingungen der idealen Sprechsituation,17 den Ausgang des Diskurses, sei es eines theoretischen Diskurses, bei dem assertorische Geltungsansprüche von Behauptungen erhoben werden, sei es eines praktischen Diskurses, bei dem deontologische Geltungsansprüche von Gebo12 Repräsentativ dafür das Werk K.O. Apels. S. vor allem, Diskurs und Verantwortung, 1988; Normative Begründung der "kritischen Theorie" durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit? Ein transzendentalpragmatisch orientierter Versuch, mit Habermas gegen Habermas zu denken, in: A. Honneth u.a. (Hrsg.), Zwischenbetrachtungen im Prozeß der Aufklärung. Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag, Frankfurt/Main 1989, 15ff. Vgl. auch: K.O. Apel/M. Kettner (Hrsg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, Frankfurt/Main 1992. 13 S. Fn. 8 auf S. 23. 14 Habermas, Wahrheitstheorien, 214. 15 Ebd., 212. 16 Ebd., 240. 17 Ebd., 252ff.
§5 Der juristische Diskurs als Sonderfall des praktischen Diskurses
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ten und Bewertungen gegeneinander opponieren, entscheiden.18 Die Fähigkeit der Interaktionsteilnehmer, sich an intersubjektiv anerkannten Geltungsansprüchen, wie "propositionale Wahrheit, normative Richtigkeit, subjektive Wahrhaftigkeit und ästhetische StimmigkeitM19 zu orientieren, erlangt nach Habermas den Status der notwendigen Voraussetzung der Rationalität kommunikativer Erkenntnis. 20 An Habermas' Konstruktion der idealen Sprechsituation anknüpfend, entwickelt Alexy seine auf das Postulat der Existenz einer prozeduralen universalistischen Rationalität beruhende kommunikative Theorie des Diskurses. Darin wird analytisch zwischen idealen und realen praktischen Diskursen unterschieden.21 Ideale Diskurse können dadurch definiert werden, daß sie die absolut richtige Antwort auf eine praktische Frage unter den Bedingungen unbegrenzter Zeit und Teilnehmerschaft einerseits, vollkommener Zwangslosigkeit bei der Herstellung vollkommener sprachlich-begrifflicher Klarheit, sowie vollkommener empirischer Informiertheit, Rollentauschvirtualität und Vorurteilsfreiheit andererseits, ermöglichen. Reale praktische Diskurse hängen mit einem relativen prozeduralen Begriff der Richtigkeit zusammen. Sie markieren den Bereich des diskursiv Möglichen, da sie von den zwingenden Faktoren der Dauer des Diskurses, der Diskursteilnehmer, dem Maß der Erfüllung der Diskursregeln, schließlich vom Begründungsproblem der Diskursregeln selbst abhängen. Ohne die Möglichkeit der Existenz monologischer "innerer Diskurse", sei es in der Form der Überlegungen einer Person, sei es in der schriftlichen Form der wissenschaftlichen Abhandlung, auszuschließen,22 erblickt Alexy in praktischen Diskursen herrschaftsfreie interpersonale sprachbezogene "Handlungszusammenhänge", in denen normative Aussagen auf ihre Richtigkeit hin überprüft werden.23 Den juristischen Diskurs, 24 wohl auch in der Gestalt der Gerichtsverhandlung, 25 pflegt er als einen "Sonderfall des all18 Ebd., 242. 19 Habermas, Moderne, 366. Vgl. dazu auch ders., Vorlesungen, 110, wo "die Verständlichkeit der Äußerung, die Wahrheit ihres propositionalen Bestandteils, die Richtigkeit ihres performativen Bestandteils und die Wahrhaftigkeit der geäußerten Intention des Sprechers" vier grundlegende Geltungsansprüche ausmachen, deren Anerkennung seitens beider Interaktionspartner zu einem "Hintergrundkonsens" als Ausgangspunkt koordinierbaren Sprechhandlungenaustausches führt. 20 Habermas, Theorie I, 25ff., 44ff.; Moderne, 366. 21 Alexy, Theorie, 412ff. 22 Alexy, Theorie, 224 Anm. 11, 269 Anm. 20; kritisch dazu Tugendhat, Begründungsstrukturen, 7. 23 Alexy,Theorie, 32, 224. 24 Juristische Diskurse repräsentieren für Alexy, Theorie, 261 f. "verschiedene Arten juristischer Diskussionen", wofür er auch Beispiele bereithält. Der gemeinsame Punkt dieser Diskussionsformen (konzipiert als das Moment der Juridizität) wäre in die "wie immer zu bestimmende Bindung an das geltende Recht" zu erblicken. 25 Alexy, Theorie, 434f.
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I. Konzeptionen des juristischen Diskurses
gemeinen praktischen Diskurses" zu bezeichnen,26 da einerseits der Anspruch auf Richtigkeit die Diskussionsaktivität leite, und andererseits die vernünftige Begründung normativer Aussagen innerhalb der Grenzen der geltenden Rechtsordnung als Dialogziel zu gelten habe.27 Allerdings wären dabei primär die "einschränkenden Bedingungen" von Gesetzgebung, Präjudizien und Rechtswissenschaft, ferner die autoritätsbedingte Asymmetrie der Position der Prozeßbeteiligten und das interessengeleitete Verhalten der Parteien jene Momente, die die Partikularität des juristischen Diskurses stifteten. 28 Durch die Vereinigung vier verschiedener Stufen von Diskursprozeduren fungiere das Rechtssystem als das Medium der Realisierung praktischer Vernunft in der Wirklichkeit. Dabei bilden der allgemeine praktische Diskurs und der juristische Diskurs, als erste und dritte Stufe des Modells, Prozeduren nicht-institutionalisierten Charakters, die mit ihnen verknüpften Verfahren der staatlichen Rechtsetzung und der Rechtsprechung, als zweite und vierte Stufe des Modells, Prozeduren institutionalisierten Charakters. 29 Institutionalisiert sollen die letzteren Prozeduren deswegen sein, weil sie durch Rechtsnormen so geregelt sind, daß sie ein rechtsverbindliches Resultat produzieren sollen. Somit erscheint die juristische Dogmatik wegen ihrer diskursiver Zwangslosikeit als der am meisten geeignete Kandidat für die inhaltliche Deutung des Begriffs "juristischer Diskurs" als Stufe drei des Alexysehen Modells des Rechtssystems. Alexys Anliegen ist es, prozedurale Garantien der Argumentationsrationalität zu erarbeiten, mit dem Ziel, bei der Bewertung juristischer Streitfragen den Geboten der praktischen Vernunft so weitgehend wie möglich nachkommen zu können.30 Die Gebundenheit des juristischen Diskurses an ein Regelsystem argumentativer Rationalität, in Alexys Formulierung, an "Regeln der Logik, Regeln über Teilnahme- und Rederechte, über Argumentationslasten, verschiedene Varianten des Verallgemeinerungsgedankens, Regeln über die Überprüfung der Entstehung normativer Überzeugungen und Formen von 26
Kritisch dagegen: Neumann, Argumentationslehre, 86ff.; Kaufmann, Konvergenztheorie, 436f.; Hilgendorf, Argumentation, 109ff.; Krawietz, Rationalität, 438; Braun, Normenbegründung, 258ff. 27 Habermas' und Alexys Sprachgebrauch hinsichtlich des Begriffs "Diskurs" fand eine breite Rezeption im rechtstheoretischen Schrifttum. In ihren Studien haben beispielsweise Günther, Der Sinn für Angemessenheit, insb. 37ff., Drosdeck, Die herrschende Meinung, und Buchwald, Der Begriff der rationalen juristischen Begründung, insb. 225ff., diese Bedeutungsoption von "Diskurs" übernommen. 28 Alexy, Theorie, 32, 38, 224, 263ff.; Vgl. dazu Aarnio/Alexy/Peczenik, Grundlagen, 39ff.; zustimmend auch Kriele, Praktische Vernunft, 33f. 29 Alexy, Prozedurale Theorie, 185ff. 30 Alexy, Prozedurale Theorie, 177ff.; ders., Vernunft, 418, identifiziert "vier Postulate prozeduraler praktischer Rationalität": gefordert wird jeweils ein Höchstmaß an sprachlich-begrifflicher Klarheit, empirischer Informiertheit, Verallgemeinerbarkeit und Vorurteilsfreiheit.
§5 Der juristische Diskurs als Sonderfall des praktischen Diskurses
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Folgenargumenten",31 transformiert sogar die Beschaffenheit des Rechtssystems selbst: aus der im Bereich der Grundrechteinterpretation entstandenen Unterscheidung zwischen "Legalismus" und "Konstitutionalismus"32 entwikkelt Alexy ein "Drei-Ebenen Modell" des Rechtssystems, in dessen Struktur er Regeln und Prinzipien als den passiven Teil, Verfahren der Anwendung letzterer als den aktiven Teil einverleibt. 33 Rationalitätssichernde Prozeduren und verfahrensgerechte Argumentation besetzen nunmehr sowohl den Prozeß der Rechtsetzung als auch denjenigen der Rechtsanwendung, und diesen nicht nur in der Form der Gerichtsverhandlung, sondern auch in der nicht-institutionalisierten Form der bloßen Feststellung des rechtlich Gesollten in einer gegebenen Situation.34 Ungeachtet aller pragmatischen Eigentümlichkeiten, stellt für Alexy der Anspruch aller Diskursbeteiligten, vernünftig, im Sinne von zustimmungsgerecht, zu argumentieren, das entscheidende Kriterium zur Aktivierung einer grundsätzlich auf der Form der dialogischen Rede zugeschnittenen, aber hauptsächlich auf die rationale Begründbarkeit der Argumentation aufbauenden Diskurstheorie dar. 35 Ein theoretisches Konzept des Diskurses an sich tritt jedoch bei Alexy nicht in Erscheinung. Der Diskurs soll ein formaler Träger für die unausweichlich dialogische Natur der vernünftigen juristischen Argumentation sein, auf dessen Struktur nicht näher eingegangen wird, weil Alexy sich viel eher auf die Erforschung der Rationalitätsprämissen juristisch relevanter Begründungen, als auf die institutionellen Aspekte des juristischen Meinungsaustausches konzentriert. Alexys normativer Begriff der Institutionalisierung kann für eine empirische Epistemologie des juristischen Diskurses nur wenig ergiebig sein. In seiner diskursethisch begründeten Theorie des demokratischen Rechtsstaates wechselt Habermas erneut seine Stellungnahme hinsichtlich der Natur des juristischen Diskurses im allgemeinen, sowie hinsichtlich der Bedeutung der Gerichtsverhandlung für die Rationalität der juristischen Argumentation im besonderen. Zum einen stellt er die Sonderfallthese Alexys in Frage, zum anderen akzeptiert er, daß die Prozeßordnungen zumindest beim Beweisverfahren den Prozeßparteien einen begrenzt strategischen Umgang mit dem Recht einräumen. Dies ist um so überraschender, wie Habermas noch in sei31 Alexy, Prozedurale Theorie, 180; Tugendhat, Begründungsstrukturen, 7ff., beklagt die dabei zu beobachtende Vermengung semantischer und pragmatischer Begründungsargumente. 32 Alexy, Vernunft, 405ff.; vgl. dazu Dreier, Konstitutionalismus, passim; über die Entstehung der Terminologie aus der Zusammenarbeit beider Autoren vgl. Alexy, ebd., 407 Anm. 13, Dreier, ebd., 88 Anm. 3. 33 Alexy, ebd., 416ff. 34 Ebd., 417. 35 Kritisch dazu: Weinberger, Analyse, 159ff.; Neumann, Argumentationslehre, 85, und Braun, Normenbegründung, 253ff. 36 Faktizität, 28Iff.; Der Thesenwechsel erfolgt allerdings ohne jeglichen Hinweis auf früher von ihm vertretene Positionen.
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I. Konzeptionen des juristischen Diskurses
ner "Theorie des kommunikativen Handels" juristische Argumentationen "in allen ihren institutionellen Ausprägungen als Sonderfall des praktischen Diskurses" 37 behandelte und dadurch seine noch frühere Position revidierte, nach der Gerichtsverhandlungen als "strategisches Handeln", im Rahmen eines nach dem utilitaristischen Ziel der günstigen Entscheidung des Streitfalls geleiteten, durch institutionell festgelegte Rollenverteilung im voraus strukturierten Verfahrens, und nicht als Diskurs, im Rahmen einer der kooperativen Wahrheitssuche dienenden und ideale Sprechsituationsbedingungen voraussetzenden herrschaftsfreien Argumentation, zu thematisieren wären. 38 Nunmehr unterscheidet er vom gemeinsamen Diskursprinzip ausgehend zwischen vom letzteren abzuleitenden moralischen Diskursen einerseits, politischen und juristischen Diskursen andererseits. 39 Somit dürfen juristische Begründungsoder Anwendungsdiskurse40 nicht als Sonderfall entsprechender moralischer Diskurse angesehen werden.41 Die Gerichtsverhandlung stellt ihrerseits trotz aller Anerkennung der argumentativen Mobilisierung der Parteiinteressen den typischen Anwendungsdiskurs dar, da der "juristische Diskurs des Gerichts" 42 in der Form der Urteilsherstellung dem professionellen Richter allein zusteht. 37 Theorie I, 62f. Anm. 63. 38 Sozialtechnologie, 200f.; allerdings hatte Alexy, Theorie, 270f., ganz abgesehen von seiner Ablehnung der Auffassung des Prozesses als strategisches Handeln, die verschiedenen Arten des Prozesses nicht direkt als Diskurse konzipiert, sondern als nicht erfaßbar ohne Bezugnahme auf den Begriff des Diskurses dargestellt. Übereinstimmend mit der früheren Position Habermas'auch Esser, Stilwandel, 77; weniger konsequent ders. in: Rechtsfindungskonzept, 5ff., wo die Rede von einem "auf die dogmatisch konsensfahige Richtigkeit der Lösung" (10) zugeschnittenen "forensischen Diskurs" (6) ist, dessen Aufgabe es wäre, Konsens nicht über das Ergebnis, sondern "über Tragkraft und Verwertbarkeit der in Rede und Antwort eingeführten und gewogenen Informationen und Argumente" (10) heizustellen. Damit sollte jedoch eher die dialogische Natur des juristischen Argumentierens als Weg der Konsensbildung und weniger eine normierbare Begründungsfunktion des Diskurses, wie sie Alexy und Habermas verstehen, gemeint sein. Kritisch gegenüber der Übertragung eines herrschaftsfreien Kommunikationsmodells zur Darstellung des Gerichtsverfahrens, Wassermann, Machtgefalle, 312f.; Eder, Autorität, 193ff., sowie speziell der strafrechtlichen Gerichtsverhandlung, Hassemer, Einführung, 121 ff. Kritisch gegenüber der Sonderfallthese Alexys, sowie gegenüber Habermas' Wendung, Weinberger, Analyse, 194ff. ; Küsters, Rechtskritik, 98f.; Krawietz, Rationalität, 436ff.; Neumann, Argumentationslehre, 84ff.; Kaufmann, Konvergenztheorie, 435f.; ders. Hauptverhandlung, 20ff. Aus dem Standpunkt der strukturierenden Rechtslehre, Christensen, Gesetzesbindung, 183ff.; ders., Richter, 67ff. 39 Habermas, Faktizität, 287f. 40 Während bei der Begründung von Normen der Konsens aller Beteiligten ausschlaggebend ist, wird bei der Anwendung von Normen die einzig zur Gerechtigkeit führende Unparteilichkeit des Urteils nur durch die angemessene Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte realisiert. Eingehend dazu Günther, Angemessenheit, passim; differenzierend Kriele, Praktische Vernunft, 58ff. 41 Ob die Sonderfallthese Alexys den "praktischen Diskurs" als rein "moralischen Diskurs" auffaßt, mag allerdings bezweifelt werden. "Praktisch" dürfte eher als analytischer Oberbegriff für moralisch, ethisch und pragmatisch aufgefaßt werden, wenn man der traditionellen philosophischen Terminologie folgt. Vgl. dazu Habermas, Faktizität, 197ff. 42 Habermas, Faktizität, 288ff.
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Unter den erwähnten Einschränkungen erblickt Habermas den Applikationsbereich des Diskursmodells sowohl im Bereich der Rechtserzeugung43 als auch im forensischen Bereich. Das Universalisierbarkeitsprinzip zum formalen Moralprinzip schlechthin erhebend,44 untersucht er im Rahmen seiner kognitivistischen Diskursethik 45 den Rationalitätsgehalt des Gesetzgebungs- und des Rechtsprechungsverfahrens, um durch die Aufdeckung der Beziehungen zwischen Recht, Moral und Politik zu einer prozeduralen Gerechtigkeitstheorie zu gelangen.46 Die von Alexy entworfenen Grund-, Vernunft- und Argumentationslastregeln47 unterteilt er in drei Ebenen von Argumentationsvoraussetzungen,48 die er dann auf ihren ethischen Gehalt hin prüft, um das Universalisierbarkeitsprinzip (U) transzendentalpragmatisch daraus zu extrahieren. Argumentationen können demnach unter logisch-semantischen, nicht ethisch beladenen Aspekten, ferner unter prozeduralen Aspekten, als Verständigungsprozesse, oder schließlich unter Prozeßaspekten, als Kommunikationsvorgang, mit Regeln versehen werden. In der Universalpragmatik Habermas* besitzen jedenfalls solche Regeln nicht den Status von Konventionen, sondern von "unausweichlichen Präsuppositionen",49 die jedem Diskurs ideell unterstellt werden müssen, und die jeder Diskursteilnehmer intuitiv aufnimmt und dadurch implizit anerkennt. Wenn der Universalisierungsgrundsatz gilt, d.h. "wenn die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus einer allgemeinen Befolgung der strittigen Norm für die Befriedigung der Interessen eines jeden 43
Dort jedenfalls mit gewissen Bedenken, vgl. Legitimität, 15f. Habermas, Diskursethik, 103: "Einziges Moralprinzip ist der angegebene Grundsatz der Verallgemeinerung, der als Argumentationsregel gilt und zur Logik des praktischen Diskurses gehört". Hierin unterscheidet sich in aller Deutlichkeit Krieles Auffassung bezüglich der Beziehungen zwischen Ethik und Recht; in: Praktische Vernunft, 10f., 57ff., geht Kriele von einem materiellen Sittlichkeitskonzept aus, nämlich dem durch die Aufklärung propagierten und als unabdingbaren Bestandteil der Ordnung der demokratischen Verfassungsstaaten fungierenden System der Grundrechte, primär derjenigen von Freiheit und Würde, und betrachtet die Rechtsphilosophie als "auf Rechtsprobleme angewandte Ethik". Dies hat zur Folge, daß für Kriele Vernunft kein formal-abstrakter, sondern ein in historischen Prozessen materialisierter und vom sittlichen Pathos des Aufklärers getragener Maßstab ist. 45 Alexy, Vernunft, 418, stellt die kognitivistische Haltung der Begründbarkeit von Werturteilen als prozedurale Moraltheorie, auf eine Mittelposition zwischen non-kognitivistischem Relativismus und materialen Moraltheorien. 46 Habermas, Legitimität, Iff. Rawls, Justice, 83ff., kann jedenfalls als der Erste betrachtet werden, der die Verfahrensfairneß als Voraussetzung einer gerechten Entscheidung thematisiert hat. Die Ähnlichkeiten erschöpfen sich jedoch in diesem thematischen Bereich, da Rawls' liberalistische und historizistische GerechtigkeitsaufTassung nicht der Versuchung nachgibt, universalisierende vernunftbezogene Begründungsstrukturen zu postulieren oder sogar inhaltlich zu bestimmen. Zur Erläuterung der Thesen Rawls' vgl. Rorty, Demokratie, 8ff.; kritisch gegenüber jenen Stellungnahmen, die Verfahrensregeln eine gerechtigkeitsstifiende Funktion zusprechen, Neumann, Strafverfahren, passim. 47 Alexy, Theorie, 361ff. 4 » Habermas, Diskursethik, 97ff. 4 9 Ebd., 100. 44
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Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können", 50 dann kann auch der Geltungsanspruch einer strittigen Norm in einem praktischen Diskurs begründet werden. Die Zustimmung aller Betroffenen als Diskursteilnehmer stellt das Abgrenzungskriterium zur Selektion der Normen, die überhaupt Geltung beanspruchen dürfen, dar und begründet somit für Habermas den diskursethischen Grundsatz (D). 51 Die Übertragung der Voraussetzungen der Begründbarkeit von Normen 52 auf die Verallgemeinerungsfähigkeit von Interessen soll das Bindeglied für die Verschränkung zwischen Politik als praxisorientierter Zielsetzung, Recht als unparteilicher prozeduralisierter Gesetzgebung oder Rechtsprechung, und Moral in der formalen Gestalt des Prinzips der verallgemeinerten Zustimmungsfähigkeit im Rahmen einer offenen Argumentation, bilden. Der Rationalität rechtlich institutionalisierter Verfahren weist Habermas einen höheren Rationalitätsgrad als moralischen Diskursen zu, weil erstere mit im voraus feststehenden, personenunabhängigen "Kriterien verknüpft sind, anhand deren sich aus der Perspektive eines Unbeteiligten feststellen läßt, ob eine Entscheidung regelrecht zustandegekommen ist oder nicht". 53 Verfahrensgestützte Rationalität des Rechts ist um so wichtiger, als sie nach Habermas das Rückgrat der in unserer Gesellschaft legitimitätsstiftenden Legalität stellt. 54 Vernünftige Argumentation als institutionalisierte Diskursethik transzendiert einerseits das Recht, indem sie seinem Wortlaut durch ihre selbstreferentielle Begründungsdynamik "in unvorhersehbarer Weise" immer neue Grenzen aufsetzt. 55 Andererseits beschränkt das Verfahrensrecht die argumentative Behandlung moralisch-praktischer Fragen in methodischer Hinsicht durch die Bindung ans geltende Recht, in sachlicher Hinsicht durch die Verteilung der Beweislasten, in sozialer Hinsicht durch die Einführung von Teinahmevoraussetzungen, Immunitäten und Rollenverteilungen, in zeitlicher Hinsicht schließlich durch die Festsetzung von Entscheidungsfristen. 56 Ob und inwieweit Verfahrensregeln die Kommunikation im Argumentationsspiel systematisch verzerren, oder ob sie letzterer Raum zu ihrer unbehinderten Entfaltung verschaffen, ließe sich nach Habermas erst nach eingehender kritischer Rekonstruktion demokrati50 Ebd., 103. 51 Ebd.; kritisch dazu Kriele, Praktische Vernunft, 60f. 52 Habermas, Legitimität, 11. 53 Ebd., 13. 54 Ebd., llf. 55 Ebd., 15. 56 Ebd.; in Folge seiner materiell-ethischen Konzeption hält Kriele, Praktische Vernunft, 33, Kompetenz- und Verfahrensvorschriften einerseits für ein Feld der Ergänzung der Ethik durch das Recht, andererseits aber eben in dem Maße für ethisch begründar, in dem sie zur Durchsetzung sittlich relevanter Grundnormen beitragen. Kommt es für Habermas auf die Gewährung der Unparteilichkeit der Entscheidung an, wird bei Kriele die objektive Möglichkeit der Gerechtigkeitsrealisierung als ethisches Moment betont.
§5 Der juristische Diskurs als Sonderfall des praktischen Diskurses
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scher Gesetzgebungsverfahren, 57 rechtswissenschaftlicher, richterlicher oder anwaltlicher Diskurse, sowohl in ihrer theoretischen Programmatik, als auch in ihrer empirischen Ausgestaltung differenzierend feststellen. 58 Die Gegenüberstellung idealer, kontrafakischer, von prozeduraler Rationalität gekennzeichneter, kommunikativer Bedingungen und praxisrelevanter Verzerrungen des Modells scheint für Habermas die adäquate Lösung zur Bestimmung des Status des juristischen Diskurses zu sein. Der philosophischnormative Ansatz, der unter einem pragmatischen Programm die Vorgehensweise des Idealismus konsequent weiterführt, ist dabei leicht erkennbar. Es ist jedoch fraglich, inwieweit dem Versuch, positiven Verfahrensregeln eine andere Rationalitätskonsistenz als materiellen Rechtssätzen zu verleihen, zuzustimmen ist. Sollten Verfahrensregeln, als quasi interessenneutrale Kandidaten, die Legitimität rechtlicher Satzungen rational verbürgen, dann wären sie, zumindest intentional, unmittelbar aus einer apriorischen praktischen Vernunft, wie die diskursiven Argumentationsregeln Alexys herzuleiten. Daß Verfahrensregeln aber genauso wie materielles Recht hervorgebracht werden, und daß sie immer auf ein sie antizipierendes Verfahren, oder schließlich auf rein konventionale Verfahrensgrundsätze zurückgeführt werden können, daß sie schließlich, was auch das wichtigste ist, weder formal- noch materiellethisch neutral angenommen werden können, gehört schon lange zum Alltagswissen des Juristen, dem in aller Klarheit bewußt ist, daß die sog. "Verzerrungen" letztendlich die eigentlichen und stets mitzukalkulierenden Existenzbedingungen auch der Verfahrensregeln ausmachen. Unter diesem Aspekt stellt die Anerkennung der bindenden Kraft bis auf Widerruf gültiger Verfahrensnormen zum Zweck der Begründung rationaler Diskurse eine idealisierende Haltung dar, die unkritischer Weise auf die Notwendigkeit der Befragung der Verfahrensregeln selbst hin auf ihre Rationalität verzichtet. Es sei denn, man ersetzt das Konsensprinzip durch das Mehrheitsprinzip, um normative Geltungsansprüche, wie diejenigen, die Verfahrensrechtssätze, genauso wie materielle Rechtsregeln, erheben, zu begründen. In dieser Hinsicht erscheint Alexys Haltung, den juristischen Diskurs als Sonderfall des praktischen Diskurses anhand extra-juristischer Prozeduralitätskriterien zu reglementieren, auf deren methodologische Berechtigung hier zunächst nicht näher eingegangen wird, vorsichtiger und plausibler als die These Habermas', der die (im Grunde zutiefst materiellen) "neutralen" Prozedurregeln zur Erfassung der Rationalitätsstruktur juristischer Diskurse miteinbe57 Wobei Habermas, Legitimität, 15, die methodologischen Schwierigkeiten, die "die machtgesteuerte Konkurrenz widerstreitender Interessen" bei den parlamentarischen Debatten bereitet, zugibt. Vgl. dazu ders., Faktizität, 195ff. 58 Vgl. dazu Alexy, Theorie, 271 Anm. 22.
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I. Konzeptionen des juristischen Diskurses
zieht. Konsequenter noch ist schließlich die Haltung Krieles, 59 der die praktische Möglichkeit der Herbeiführung eines universalen Konsenses in einem universalen Diskurs leugnet, und dafür die im Rechtsstaat entwickelten politischen Prämissen des Friedens, der Freiheit und der Gleichberechtigung, die philosophisch auf der Idee der Menschenwürde beruhen, als Bedingungen der Diskursentfaltung zum Zweck der Lösung juristisch relevanter Konflikte fungieren läßt. Es ist genau die Materialität, die hinter dem Schleier einer äußerlichen Unparteilichkeit waltende politisch und sozial bedingte Abhängigkeit der Verfahrensregeln, die die Fundierung einer ideellen Normierung vernünftigen Diskutierens theoretisch ausschließt. Der Wille, die faktischen Beziehungen zwischen geltendem Recht, praktischer Politik und formalisierter Moral aufzuzeigen, ohne auf universalpragmatische Ansprüche der Beweisführung zu verzichten, ist zum Scheitern verurteilt, wenn positiven Verfahrensregeln, die implizit empirischen Zweckmäßigkeitserwägungen gehorchen, eine Funktion transzendentaler Begründungskompetenz der Diskursrationalität zugeteilt wird. §6 Der DiskursbegrifF als verfahrensbezogenes Kommunikationsmodell 1. Diskursmodell und prozedurale Gerechtigkeitsanthropologie Mit dem Projekt, Habermas' Konsensustheorie zu einer Konvergenztheorie der Wahrheit, sowie Alexys prozedurale Theorie der juristischen Argumentation zu einer "sachlich begründeten prozeduralen Theorie richtigen Rechts" umzuformen, verbindet Kaufmann seine eigene Konzeption des juristischen Diskurses.60 Von einer semantischen Gleichstellung zwischen Diskurs und Dialog ausgehend,61 lokalisiert er die Bedingungen wissenschaftlichen Argu59 Praktische Vernunft, 6Iff. 60 Vgl.vor allem Kaufmann, Konvergenztheorie, passim, und zuletzt Hauptverhandlung, passim, sowie Problemgeschichte, 133ff., 139ff. 61 Ders., Konvergenztheorie, 440. Die gleiche Einstellung macht sich in dess., Problemgeschichte, 25ff., bemerkbar; nachdem Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, den Begriff des Diskurses in den Titel seiner Auseinandersetzung mit den philosophischen Richtungen der Moderne und den Versuchen einer metamodernen Überwindung der Subjektphilosophie aufgenommen hat, augenscheinlich im Sinne einer linearen und homogenen Argumentation - in diesem Fall wohl nur unter der zusätzlichen Annahme des Bestehens der hypothetischen Bedingungen einer intertemporellen idealen Sprechsituation, was pragmatisch schwierig zu sein scheint - bemächtigt sich seiner auch Kaufmann, um die Problemgeschichte der Rechtsphilosophie in ihrer Entwicklung seit dem Altertum als "historischen Diskurs" zu umschreiben, und anhand dessen die bis zur 4. Auflage der Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart (1985), 23, als Überschrift des Teils B. des Werkes benutzte Bezeichnung "Wirkungsgeschichte" zu ersetzen. Stand bis zu dieser Auflage der Begriff einer sich "in der Geschichte kontinuierlich vollziehenden Kommunikation" im Mittelpunkt "problemgeschichtlicher Erörterungen" (24), stellen letztere in der 5. Auflage, 1988, 26, "auf einen Diskurs ab, aber auf einen realen Diskurs, einen Diskurs der wirklich stattgefunden hat und ständig stattfindet: der
§6 Der Diskursbegriff als verfahrensbezogenes Kommunikationsmodell
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mentierens und die Möglichkeit des Zustandebringens freier, intersubjektiver Konsense zunächst in einem transzendentalen, im Sinne von selbst nicht diskursiv begründbarem Vernunftbegriff, der die Voraussetzungen der Anerkennung des Wahrheits- oder Richtigkeitsgehalts einer Behauptung im voraus reglementiert.62 Projiziert auf die Diskurskonstruktion als locus rationaler Argumentation, zergliedert sich das Vernunftprinzip in drei für die Ausgestaltung der produktiven Funktionalität des Diskurses fundamentale Teilprinzipien: das Argumentationsprinzip, das die grundsätzliche Zulässigkeit aller Argumente betrifft, das Konsensprinzip, nach dem kein erreichter Konsens endgültigen Bestand erhält, und das Fallibilitätsprinzip, das die immanente Korrigierbarkeit jedes Arguments zum Ausdruck bringt. 63 Die erwähnten Prinzipien bilden demnach die drei formalen Dimensionen, in deren Grenzen Wahrheit von Aussagen oder Richtigkeit von Normen bei erfolgter vernünftiger Argumentation anerkannt werden können. Ihnen wird lediglich der Charakter der notwendigen, nicht aber auch der hinreichenden Bedingungen der Wahrheitsbegründung zugewiesen. Einem formal korrekt erzielten Konsens käme bestenfalls eine "gewisse Vermutung der inhaltlichen Richtigkeit" zu, 64 kaum jedoch eine von Habermas überbewertete Kompetenz letztinstanzlicher Richtigkeitsbegründung der Norm oder Wahrheitsbegründung einer Aussage.65 Dies wäre eine Wahrheit durch Diskurs, während Kaufmann für eine Wahrheit im Diskurs plädiert. 66 Von letzterer kann nur dann die Rede sein, wenn der Diskurs nicht nur durch seine Formalien, sondern auch durch seinen Inhalt der Nachvollziehbarkeit unterstellt ist. Die These, daß als Kriterium der Wahrheitsgewinnung "die Ineinssetzung verschiedener, von verschiedenen Subjekten herrührender und untereinander unabhängiger Erkenntnisse von demselben Seienden",67 m.a.W. die Erkenntniskonvergenz, gilt, kombiniert mit der Einsicht, daß der Mensch als relationale Wesenheit, als Person,68 der "Gegenstand" von Ethik, Normtheorie und Rechtswissenschaft ist, bildet den Kern einer Diskurstheorie, die die Einseitigkeit der nach Kaufmann nur
alte Gedanke von einer philosophia perennis". Über die Möglichkeit einer Diskurssimulation bei der Auswertung rechtsliterarischer Beiträge, jedenfalls nicht rechtsdogmatischer, sondern lediglich jener, die rechtsphilosophischen oder rechtstheoretischen Charakter haben, vgl. Kaufmann, Konvergenztheorie, 433, 437, und Hauptverhandlung, 23. 62 Ders., Konvergenztheorie, 429. 63 Ebd., 437ff.; ders., Problemgeschichte, 136ff. 64 Konvergenztheorie, 440. 65 Zur Relativierung der Letztbegründungsansprüche der universalpragmatischen Diskursethik vgl. Habermas, Diskursethik, 104ff. 66 Kaufmann, Konvergenztheorie, 440. 67 Ebd. 441. 68 Ausführlich dazu Kaufmann, Relationen, 257ff.; vgl. auch Tugendhat, Begründungsstrukturen, 9f. 3 Paroussis
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I. Konzeptionen des juristischen Diskurses
scheinbar entgegenstehenden Korrespondenz- und Konsensustheorie der Wahrheit aufzuheben intendiert. 69 Trotz aller Unterschiede und trotz aller dargestellten Abweichungen bezüglich der Kriterien der Begründung der Wahrheit theoretischer Aussagen oder der Begründbarkeit normativer Sprechakte bleibt auch bei Kaufmann der Gebrauch des Begriffs "Diskurs" im Sinne von Disput, Gespräch oder Dialog konstant. Die Normierung der Diskursaustragungsregeln soll die Rationalität des Dialogergebnisses garantieren, die vernünftige Kommunikation ermöglichen, die argumentative Dialektik als Wahrheit konstituieren. Sind diese Regeln nach Habermas und Alexy primär durch Rückgriff auf formale Prämissen der Kommunikation zu erhalten, lokalisiert Kaufmann die Vorbedingungen diskursiver Erkenntnis in einer positiven Ontologie interpersonaler Relationalität. 2. Diskurstheorie
als Verhandlungsanalytik
Beim Versuch, die bisherigen Ausführungen zusammenzufassen und die Hauptmerkmale des Diskursbegriffs der analytischen Pragmatik daraus zu extrahieren, kommt man auf vier parallellaufende Momente der Diskursivität. Erstens entsteht der Diskurs auf der Grundlage einer kommunikativen Vernunft. Zweitens konstituiert sich die Form des Diskurses praktisch als Dialog aus dem Austausch von Argumenten. Drittens können diese Argumente sowohl mündlicher als auch schriftlicher Art sein. Schließlich, viertens, dominiert bei der Untersuchung der Begründungsmodalitäten der argumentativ hervorgebrachten Aussagen die theoretische Intention, die Argumentation gemäß den Regeln einer als erkennbar postulierten praktischen Vernunft zu normieren. Zwei weitere Theorien, die sich des Begriffs des Diskurses weitgehend bedienen, sind die Neue Rhetorik und die Verhandlungsanalyse. Mit den bereits genannten theoretischen Strömungen teilen sie nur die zwei ersten Merkmale der Diskursivität, nämlich ihren kommunikativen und argumentationsbezogenen Natur. Ansonsten insistieren beide einerseits auf dem mündlichen Charakter des Diskurses, andererseits auf einer deskriptiven - statt einer normativen Erfassung ihres Forschungsobjektes. Die von Perelman wiederentdeckte Rhetorik 70 und die durch Viehweg wiederbelebte Topikliteratur benutzen den Ausdruck "Diskurs", um damit die fo69
Kaufmann, Hauptverhandlung, 19; ders. Konvergenztheorie, 439f. S. vor allem, Perelman/Olbrechts-Tyteca, Traité de l'argumentation, passim, sowie Perelman, Juristische Logik, 138ff. 70
§7 Der juristische Diskurs in der Kritik des strukturalistischen Marxismus
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rensische Rede als rhetorische Argumentationsentfaltung darzustellen. Es wird weiterhin von "diskursiven Techniken" gesprochen, deren Tradierung sich die Rhetorik widmet, nämlich von Techniken, "die darauf aus sind, Konsens zu erwecken oder zu vergrößern hinsichtlich vorgelegter Thesen".71 Ziel des Redners als Subjektes des Diskurses ist es, durch die Mittel der Sprache zur Überredung des Gesprächspartners zu gelangen. Die juristische Verhandlungsanalyse ist ihrerseits eine aus der linguistischen Sprechakttheorie hervorgegangene Methodik,72 die die Modalitäten der mündlichen Verhandlung als Diskursablaufs im Gerichtssaal untersucht. Im kommunikativen Kontext des gerichtlichen Verfahrens entstehen somit mehrere Rechtsdiskurse, die es zu erfassen, zu transskribieren, auf Regelmäßigkeiten hin zu überprüfen und theoretisch als Sprechaktmodi zu klassifizieren gilt. 73 Abgesehen von der Einbettung des Diskurses in Institutionen sowie der Ausarbeitung eines Modells der diskursiv-strategischen Aussage dürften jedoch eine derart konzipierte Diskursanalyse und die hier vertretene Diskurstheorie keine weiteren Gemeinsamkeiten aufweisen. Dasselbe gilt in noch verstärkterem Maße für die Bedeutung des Diskurses bei der rhetorischen Methodik Perelmans. Der Verweis auf diese methodischen Tendenzen vermag trotzdem vom Nutzen zu sein, zumal die terminologischen Ähnlichkeiten Mißverständnisse stiften könnten. §7 Der juristische Diskurs in der Kritik des strukturalistischen Marxismus In der Einleitung wurde bereits auf die Bedeutung der wissenschaftshistorischen Methode Bachelards für die Entwicklung einer empirischen Epistemologie des Diskurses hingewiesen. Bachelards Erkenntnisphilosophie fand indes auch Eingang in die strukturalistische Linguistik, in deren Rahmen sich die Ersetzung der Kategorie des sprechenden Subjekts durch die Kategorie der institutionell bedingten diskursiven Praktiken vollzog. Es ist dann nicht von un71
Traité, 5; Juristische Logik, 138. 72 Grundlegend dazu Wunderlich, Sprechakttheorie, 293ff.; ders. Diskursanalyse, 463ff. 73 Die Übertragung der Methodik Wunderlichs auf die Rechtstheorie ist L. Hoffmann zu verdanken, der in seiner Schrift "Kommunikation vor Gericht", sowohl das Programm der Diskursanalyse formulierte (9ff.), als auch seine praktische Umwandlung anhand der Strafverhandlung unternommen hat (23ff. und passim). Über die Entwicklungen und die Verbreitung der Verhandlungsanalyse gibt der von Hoffmann, 1989, herausgegebene Sammelband "Rechtsdisfcurse" Aufschluß. Zur theoretischen Fundierung der Analytik mündlicher Diskurse, s. vor allem darin: Hoffmann, Einleitung: Recht-Sprache-Diskurs, 14ff.; Seibert, Linguistische Verhandlungsanalysen aus juristischer Sicht, 39ff.; ders., Schriftform und Mündlichkeitsprinzip im Rechtsdiskurs, 217ff.; Sauer, Der wiedergefundene Sohn, 65ff.
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gefähr, wenn die strukturalistisch orientierte Rechtstheorie die Kritik der Rechtssubjektivität als ihr bevorzugtes Thema einführt. Was die Ausführung dieser Kritik aber kennzeichnet, ist der dabei zu beobachtende Rückgriff auf das gesamte Spektrum der strukturalistischen Bewegung. Die Resultate der strukturalistischen Semiotik (Kristeva), Psychoanalyse (Lacan) und marxistischen Kritik (Althusser) nutzen vor allem Ladeur und Broekman, um ihren Angriff auf das Rechtssubjekt zu stützen und um eine Analytik des juristischen Diskurses auf der Grundlage der textuellen Analyse, der Bewußtseinspsychologie und der Ideologiekritik zu entwerfen. Im weiteren werden hauptsächlich Broekmans Thesen wiederaufgegriffen. Ladeur bezieht sich eher auf die Infragestellung der Rechtssubjektivität als Eckpfeilers des juristischen Diskurses74 denn auf eine Theorie des Diskurses selbst. Dazu rekurriert er meistens auf Foucaults Ausführungen, allerdings unter der Einschränkung, daß er sie nicht mehr teilt, wenn es darum geht, die Kategorien des Diskurses und der Ideologie auseinanderzuhalten.75 Zusätzlich dazu wird deutlich, daß Ladeur den Begriff "Diskurs" nicht immer im Sinne eines institutionalisierten Relationennetzes zwischen Sinnstiftungsprozeduren anwendet,76 sondern daß er darunter konkrete materielle Grundattitüden bezüglich des Rechts und seiner Funktionen versteht.77 Einer anderen Tradition als der der kritischen oder praktischen Philosophie verpflichtet, aber mit gewissen Affinitäten zur Topik und zur Sprechakttheorie nimmt Broekman vom legalistisch-dialogischen Diskursmodell Abschied, um eine strukturalistische Bestimmung des Diskurses als Dekonstruktion des more geometrico Denkens78 für die Rechtstheorie fruchtbar zu machen.79 Darauf bedacht, die Diskursivität nicht einseitig instrumentell zu deuten, kombiniert er in seinem Diskursbegriff zwei Aspekte: einen analytischen Aspekt, bezogen auf "die juristische Rationalität des positiven Rechts samt seines gesellschaftlichen Zusammenhanges", und einen kritischen Aspekt, bezogen auf die "vorherrschende Analytizität".80 Ähnlich wie Kaufmann stellt sich Broekman gegen den Subjekt-Primat des Rationalismus ein, verlegt aber den Mittelpunkt seiner Forschungen auf das Verhältnis Mensch - Sprache, welches 74 Rechtssubjekt, 73ff. 75 So, ebd., 16 und öfter. 76 Ebd., 75, 77, 84ff., 92ff. 77 Ebd., 74 und öfter. In diesem Sinne auch in: Abwägung, 466ff., wo die Teildiskurse alternative sinnbehaftete Modelle signalisieren. 78 Zur Analyse des dualistischen more geometrico Denkens vgl. Broekman, Anthropologie, 104ff.; ders., Rechtstheorie, 22ff. 79 Broekman, Anthropologie, 149, weist auf die Inkompatibilität seiner Diskursauffassung mit jener des Pragmatismus von Peirce (universe of discourse) oder von Habermas (Universalpragmatik) hin; vgl. auch Anthropologie, 146ff.; Strategie, 219; Diskurs, 123, Rechtstheorie, 33f., 40. 80 Broekman, Objektivierung, 237.
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Kaufmanns Ontologie nicht näher artikuliert. Broekman stellt grundsätzlich das cartesianische Modell der Sprachauffassung in Frage, wonach das Subjekt sich der Sprache zur Beschreibung der Welt als Wirklichkeit bedient.81 Mit einer daran anknüpfenden Sprecher-Hörer-Struktur der Rede82 ist, seiner Ansicht nach, erstens ein aus dem Modell des Sozialvertrags 83 emporwachsendes Verständnis der Sprache als neutralen Mediums84 verbunden, zweitens eine Ontologisierung85 des jeweils zu beschreibenden Gegenstandes, im vorliegenden Fall des Rechts, bewirkt, drittens die Instituierung der Subjektivität als autonomer Individualität,86 die intentionalen Sprechakten analytisch vorausgeht,87 vollzogen und viertens die Trennung zwischen Sprache, Handeln und Denken als ontologische Entitäten philosophisch eingeführt. 88 Analytischen, interaktionistischen, ethnomethodologischen und phänomenologischen Positionen wirft Broekman vor, sie setzten die Alltagssprache allzu unhinterfragt als Analysegrundlage ein, ohne darauf Acht zu geben, daß Sprache eine durch Werte formierte und Werte reproduzierende narrative Struktur sei, 89 die ebensowenig in einem deskriptiven Verhältnis zur Wirklichkeit wie auch zur Handhabe durch Subjekte stehe.90 Sprache, als Relation mit der Umwelt, konstituiere hingegen selbst eine Wirklichkeit, deren Hauptzüge erst nach Überwindung der semantischen Annäherung und durch Hinübergreifen in die Erforschung ihrer pragmatischen und syntaktischen Strukturen, 91 im Rahmen einer fundamentalen Ideologiekritik 92 erhellt werden könnten. Ist somit Wirklichkeit als Sprache oberhalb der Subjekte konstruiert, und geht die Sprechstruktur sowohl den Menschen als auch das Recht voraus, 93 so bilden Diskurse nach bestimmten pragmatischen Prinzipien organisierte Gefüge von Sprechhandlungen, oder in Broekmans Formulierung "spezifische Organisation(en) menschlicher Sprechaktivität",94 die ihre Entstehung einer an der Alltäglich-
81 Broekman, Anthropologie, 135ff.; Rechtstheorie, 19; Strategie, 206ff. 82 Ders., Anthropologie, 148; Rechtstheorie, 32f., 38. 83 Ders., Anthropologie, 107f., 163; Rechtstheorie 17ff. und passim. 84 Ders., Strategie, 206. 85 Ders., Anthropologie, 82ff; Strategie, 206ff. 86 Ders., Anthropologie, 38ff., 155ff.; Rechtstheorie, 36; Strategie, 201ff. 87 Ders., Strategie, 211. 88 Ders., Rationalität, 106f.; Strategie, 207ff. 89 Ders., Rechtstheorie, 30, 40f.; Anthropologie, 151f. 90 Ders., Anthropologie 139ff.; Strategie, 206ff. 91 Ders., Anthropologie, 150; Rechtstheorie, 38ff. 92 Ders., Diskurs, 126f.; Rationalität, 113ff.; Rechtstheorie 36; Anthropologie, 124ff., 160, 164ff., wo Broekman Bezug auf die marxistische Kritik des Subjekts als Elementes der bürgerlichen Ideologie bei Althusser, Edelman und Poulantzas nimmt; vgl. dazu auch Strategie, 20Iff. 93 Ders., Anthropologie, 12. 94 Ders., Diskurs, 124.
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keit 95 unternommenen, zu spezifischen Tatsächlichkeiten und Begrifflichkeiten 96 gelangenden Transformationsarbeit, 97 als Praxis eines "découpage",98 verdanken. Innerhalb dabei entstehender diskursiver Einheiten, "die ihren Platz zwischen anderen einnehmen und von diesen einen wichtigen Teil ihrer Bedeutung herleiten", 99 gehen Theorien als extern wahrnehmbare Sprechakte aus sich im Verborgenen aufhaltenden und vom Philosophen zu entlarvenden, diskursiven Praktiken hervor. Ist von der Formation einer diskursiven Einheit die Rede, dann wäre darunter "das in der Praxis des Sprechens Ab- und Aussondern, das Spezifizieren von Themen, Bedeutungseinheiten, Prozeduren, Äußerungen und Argumentationsstrukturen", 100 m.a.W. die Schaffung der Welt in der "textuellen Objektivierung" des Diskurses, 101 zu verstehen. In dem jeweils herrschenden Zeitgeist, den dominierenden gesellschaftlichen Interessen oder den je nach Ort und Zeit anders gestalteten Machtverhältnissen erblickt Broekman diejenigen drei Faktoren, auf die die Regeln des Formationsprozesses eines gegebenen Diskurses zurückzuführen seien.102 Dabei liegt es auf der Hand, daß weder die Diskursinhalte noch die Formationsregeln im voraus festsetzbar sind. Auf die weitere und viel interessantere Frage, ob die drei erwähnten zeitbedingten regelbestimmenden Faktoren doch, formal betrachtet, ein nicht mehr relativierbares, universales und geschlossenes Metasystem apriorischer Bedingungen ausmachten, geht Broekman nicht ein. Würde man die Frage bejahen, hätte man einerseits eine feste Struktur aufgedeckt, andererseits aber eine diskursbedingte Wahrheit als eigentliche "Wirklichkeit" etabliert. Würde man im Gegenteil die Frage verneinen, dann sollte man gleich nach denjenigen Faktoren oder Gründen suchen, die den Autor dazu bringen, exakt diese drei und keine anderen Faktoren zu seinem Zweck zu identifizieren. Wären dies wiederum unser aktueller Zeitgeist oder die herrschenden Machtverhältnisse, mündete dann die Theorie Broekmans in einen 95 Ders., Anthropologie, 151f.; Rechtstheorie, 40f. 96 Ders., Diskurs, 125; Anthropologie, 16ff. und passim; Rationalität, 96flf.; Objektivierung, 238. 97 Wobei der Akzent nicht nur auf "Transformation", sondern ebenso auf "Arbeit" gesetzt werden sollte. Arbeit deutet auf die Verbindung von Theorie und Praxis innerhalb einer diskursiven Formation hin und eröffnet wieder die Möglichkeit, das anthropologische Moment in einem außercartesianischen Sinne zur Diskussion zu stellen; vgl. auch Anthropologie, 150; Strategie, 220ff., 232. 98 Die Kennzeichnung des Diskurses als einer "Praxis des Abschneidens" ist auf die archäologische Erkenntnismethodologie Foucaults zurückzuführen; vgl. Broekman, Anthropologie, 150f. 99 Broekman, ebd., 149. 100 Ebd. 101 Objektivierung, 239. 102 Anthropologie, 149.
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logischen Zirkel ein. Diese Ausführungen sollten nicht dahin mißverstanden werden, als seien sie die Artikulation einer Kritik über vermeintliche Schwächen des Strukturalismus, dessen broekmansche Version allerdings unter der Vermengung marxistischen Gedankenguts, wie die Themenbereiche der Arbeit und der Ideologie, einer nicht ohne weiteres als strukturalistisch zu bezeichnenden Diskurstheorie Foucaults103 und traditioneller ideengeschichtlicher Erwägungen leidet. Vielmehr ist damit die Absicht verbunden aufzuzeigen, erstens, daß die erwähnte Vermengung an sich mehr oder weniger stimmiger, allerdings allesamt vertretbarer Denkrichtungen, für eine Theorie des Diskurses wenig ergiebig sein kann. Zweitens, und weitaus wichtiger, welche logischen Schwierigkeiten die Argumentation über Sprache in der Sprache mit sich bringt. Stellt der juristische Diskurs bei Alexy einen Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses dar, übernimmt er bei Broekman eine Sonderposition im Bezug auf einen umfassenderen alltäglichen "bürgerlichen Diskurs". 104 In Folge dessen verdoppelt sich der Diskurs und nimmt vorerst die Form einer auf der Oberfläche der Sprache transformationell entstandenen Einheit von Theorie und Praxis an. Ferner aber auch einer in der Tiefenstruktur der Sprache existierenden, als Selbstverständlichkeit dastehenden und in verdeckten Leitlinien strategisch agierenden Formation, die es erkenntniskritisch als den "wirklichen", den unausgesprochenen Diskurs zu extrapolieren gilt. Wäre der juristische Diskurs die erste Form der Verdoppelung, bildete dann seine Anthropologie den fundamentalen und generativen, aber versteckten Grunddiskurs. 105 Das ontologisierend sog. "Recht" als juristischer Diskurs, nämlich als juristische Rede, juristische Dogmatik und juristische Praxis in einem,106 ist unter diesem Aspekt ein ausgesondertes, durch Transformation, d.h. durch "Reduktion und Verabsolutierung der Grundzüge des bürgerlichen Diskurses" 107 konstituiertes Feld menschlicher Sprechaktivität, das nicht etwa die Welt der Lebensvorgänge anders repräsentiert als sie vermeintlich ist, sondern als eine Wirklichkeit an sich, als die Wirklichkeit der Rechtstatsachen (im Sinne einer spezifischen Tatsächlichkeit) und der juristischen Dogmatik (im Sinne einer spezifischen Begrifflichkeit) dasteht.108 Die retrospektive Bege103
Eine erfreuliche Ausnahme zu der im deutschen Schrifttum äußerst geläufigen Zuteilung des Werkes Foucaults zur strukturalistischen Bewegung bildet die Position von Welsch, Strukturalismus, Sp. 367f.. 104 Ebd., 151. Zur Konstitution einer "bürgerlichen rechtlichen diskursiven Formation" vgl. Ladeur, Rechtssubjekt, 103ff. 105 Ebd., 21, 76, 129, 186. 106 Ders., Rechtstheorie, 33; Strategie, 216. 107 Ders., Diskurs, 125. 108 Ebd., sowie ders., Rationalität, 95; Rechtstheorie, 33, 40; Strategie, 212ff., 223ff.; vgl. auch Anthropologie, 16: "Durch (Transformation) entsteht eine kunstsprachige juristische Welt, in der alles anders ist, jedoch alles nicht anders scheint, weil fortwährend suggeriert wird, daß in
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hung des Transformationsweges von Seiten des Theoretikers fördert, durch Rekonstruktion der dogmatischen Sprachanwendung des Juristen, diejenigen diskursiven Praktiken zutage, die als Organisationsprinzipien des juristischen Diskurses und als notwendige Bedingungen jeder Rechtspraxis fungieren. Der Individualisierungsprozeß, der das sprechende und handelnde Subjekt als den unanfechtbaren Mittelpunkt des juristischen Denkens erscheinen läßt, der Kausalisierungsprozeß, der auf die Notwendigkeit, in Sequenzenkonstruktionen zu argumentieren, hindeutet, und die Ausrichtung beider erwähnten Prozesse auf die Wiederherstellung gestörter Gleichgewichte, wären nach Broekmans Ansicht die effektiven strukturierenden Praktiken des juristischen Diskurses. 109 Aus dieser Perspektive betrachtet, hört Recht auf, eine einfache Fachsprache zu sein, 110 die auf der Grundlage der semantischen Einheit der Begriffe einer Alltagssprache und etwa durch dispositionellen Gebrauch seitens des Juristen als Sprachanwender formiert sein könnte. Die Thematik der Transformation, der bei Broekman eine Schlüsselrolle zugewiesen wird, 1 1 1 macht aus dem juristischen Diskurs, als Ebene gesellschaftlicher Sprach-Arbeit, 112 ein theoretisches sprachzentriertes Gegenmodell zum subjektzentrierten kontraktualistischen Paradigma der traditionellen Reflexionsphilosophie, 113 ein Modell, das erkenntnistheoretisch die politische Ökonomie der Sprache114 zum Prüfstein der tautologischen Struktur der Rechtsdogmatik,115 der legalidieser Welt alles mit allem, also auch mit den Lebenstatsachen, in einem großen Zusammenhang steht". 109 Ders., Anthropologie, 13, 152, 154ff., 178ff.; Rechtstheorie, 41f.; Diskurs, 125f. HO Ders., Strategie, 218ff. H l Ders., Anthropologie, 16ff., 81ff., 135ff.; Rechtstheorie, 39ff.; Diskurs, 125; Rationalität, 107f.; Strategie, 212ff., 220ff. 112 Ders., Strategie, 224: "Juristische Rede ist Rede in einer Institution. Jedes Wort, jede Proposition im juristischen Diskurs ist das Ergebnis von Kampf, Kontrolle, Institution, Tausch, Arbeit, Unterdrückung"; vgl. auch Rechtstheorie, 38ff. 113 Ders., Strategie, 216, 223f.; Rechtstheorie, 19. 114 Ders., Anthropologie, 150f.; Rationalität, 108; Strategie, 223ff. In: Rechtstheorie, 43f., bezeichnet Broekman die politische Ökonomie im Bereich des Diskurses als einen spezifischen Fall von Intertextualität und wehrt sich gegen eine Gleichsetzung seines Modells mit dem des historischen Materialismus. Der Sinn des Ausdrucks soll eher in Anlehnung an Foucault konzipiert worden sein; vgl. Foucault, Wahrheit, 51: "Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre 'allgemeine Politik' der Wahrheit: d.h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren läßt; es gibt Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen und den Modus festlegen, in dem die einen oder anderen sanktioniert werden; es gibt bevoizugte Techniken und Verfahren der Wahrheitsfindung; es gibt einen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht"; ebd., 53: "'Wahrheit' ist zu verstehen als ein Ensemble von geregelten Verfahren für Produktion, Gesetz, Verteilung, Zirkulation und Wirkungsweise der Aussagen". 115 Broekman, Anthropologie, 182ff.; Rechtstheorie, 42ff.; Strategie, 212ff.; Rationalität, 98.
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stischen Auffassung der Rechtsrationalität,116 der ideologiebehafteten Entwicklung der gesamten Rechtstheorie117 erhebt. Broekman kritisiert zum einen die in Philosophie, Soziologie, Wissenschaftstheorie und Rechtswissenschaft vorherrschende Einigkeit über die Existenz einer allgemeinen Rationalität, die sich gleichermaßen in allen Wissensbereichen manifestiere, zum anderen die Einengung der juristischen Rationalität auf juristische Argumentation. Spezifisch juristische Rationalität ist seiner Ansicht nach, "die beherrschende Kraft jener Benennungsaktivität von Wirklichkeit, die - durch die Dogmatik gesteuert und kontrolliert - für die Rechtswissenschaft sowie für die Rechtspraxis konstitutiv ist". Sie sei "auf den Prozeß einer fortschreitenden, dogmatischen Artikulation von Wirklichkeit" 118 ausgerichtet, und nicht "als Ursache oder Ursprung des juristischen Diskurses zu betrachten", 119 sondern als eine diskursive Strategie, die die Einheit des juristischen Diskurses herbeiführt, anzusehen. Ist der denkende Mensch, das Subjekt als Entität für den Idealismus der Mittel- und Ausgangspunkt aller Versuche, die Vernunft, die Sprache und das Recht universalistisch zu konzipieren, so wird es innerhalb der diskursiven Praxis als eine Konstruktion semantischen Charakters aufgefaßt, auf die die Möglichkeit des Rechts als Institution überhaupt zurückgeführt wird. Die Einsicht in die Tatsache, daß das Recht sich genauso gut seinen Menschen wie dieser sich sein Recht schafft, 120 die Relativierung der sinn- und sprachstiftenden Rolle des Individuums, die Abkehr schließlich von der zutiefst sprachbedingten Ontologie der Subjektivität, bilden in Broekmans Theorie die erforderlichen Schritte zum Entwurf einer postmodernen Rechtsanthropologie,121 die im Rahmen einer nachbürgerlichen Kultur 122 die dogmatik- und ideologie-
116 Ders., Rationalität, 89ff. 117 Ders., Rechtstheorie, passim; Rationalität, 99ff. 118 Ders., Rationalität, 97. 119 Ebd., 98. Auf eine ausführliche Bezugnahme auf die Kritik Broekmans an Aarnios/Alexys/Peczeniks in: Grundlagen, passim, vertretenen Auffassung des juristischen Diskurses als begründbaren, rationalen und praktischen Diskurses, soll hier im weiteren verzichtet werden, da sie nicht die Form, sondern den Inhalt des Diskurses betrifft. Vgl. dazu Broekman, Rationalität, 106ff. 120 Ders., Anthropologie, 19, 185. 121 Ob das in: Anthropologie, 11; Strategie, 231 f., formulierte Bekenntnis zu den diskursiven Tugenden "des Humanen", das zu verwirklichen gelten sollte, der richtige Ausweg aus den Aporien des Cartesianismus wäre, mag hier dahingestellt bleiben. Der aufklärerische Entwurf eines Rechtsfindungsmodells als diskursiver Strategie, in: Strategie, 225ff., das zur Emanzipation des Juristen durch ein tieferes Verständnis der Bedingungen seines Tuns beitragen möchte, kann in seiner abstrakten Programmatik kaum als eine gegenüber der herrschenden subjektgebundenen Praxis praktikable Alternative, die zur beabsichtigten Einstellungsänderung führen sollte, betrachtet werden. 122 Ders., Rechtstheorie, 46.
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kritischen Gesichtspunkte einer nicht-cartesianischen Rechtstheorie123 bereitstellen würde. Somit rezipiert Broekman im Bereich der Rechtstheorie das in der Philosophie durch Nietzsche eingeführte und seitdem anhaltende Projekt, die Subjektivität als erkenntnistheoretischen Kulminationspunkt der Moderne in ihrer hypostasierten Form in Frage zu stellen, um dadurch der Möglichkeit der Eröffnung einer neuen Ära im Verständnis der Beziehung Sprache, Mensch und Welt freien Lauf zu geben. Dabei besteht kein Grund zur Annahme, Broekman sei ein philosophischer Pessimist oder ein Wahrheitsironiker. In konsequenter philosophischer Manier formuliert er sein eigenes Wahrheitsprogramm um das monistische Konzept des "In-Sprache-Seins" mit Grundbegriffen wie Transformation, Arbeit, Diskurs, Humanität, oder Polis historisch-pragmatisch zu kombinieren. Der Tatsache, daß auf diesem Wege die Rechtstheorie selbst ihrer diskursiven Autonomie enthoben wird und sich wieder auf die untransformierte Einheit zu einem umfassenderen Diskurs einläßt, scheint wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden zu sein. Rekonstruktion als "Dekonstruktion" scheint vorerst leichter als Konstruktion, "schöpferische Entregelung" keine Garantie für ausbleibende Neuregelung zu sein. Läßt man aber skeptische Erwägungen beiseite, so ist festzustellen, daß Broekmans diskurskritische Ausführungen sich nicht so sehr gegen die dialogische Struktur des Diskursmodells als solche richten, sondern eher gegen die sprach-, personal- und rationalitätsrelevanten Prämissen des Aufbaus dieses Modells, die letztendlich auch seine Brauchbarkeit für eine, über das Tautologische hinausreichende Rechtstheorie in Frage stellen. Die phänomenologisch wichtigste Unterscheidung Broekmans ist zweifellos jene zwischen einer sich auf der Sprachoberfläche bewegenden diskursiven Formation einerseits, der er mit Recht den Charakter der einfachen Fachsprache abstreitet, und deren Werdegang sprach- und institutionellhistorisch nachvollziehbar bleibt, sowie des Diskurses als Tiefenstruktur andererseits, dessen Aufdeckung philosophisches Gespür benötigt, und der als das an einem Ort und in einer Zeit verborgene, nichtsdestoweniger aber wirkliche und fundamentale, alle weiteren Transformationen ermöglichende Denkschema erscheint. Der juristische Diskurs als diskursive Einheit auf der einen Seite, der bürgerliche Diskurs als Artikulation des sprachlichen Verhältnisses zur Wirklichkeit auf der anderen Seite, bezeichnen in markanter Weise den semantischen Unterschied zwischen den zwei Diskurstypen. Sollte man weiterhin für beide den Begriff Diskurs beibehalten und nicht prinzipiell die Termini "diskursive Einheit" im Sinne von wissenschaftlicher Disziplin, und "Diskurs" im
123 Ders., Anthropologie, 13.
§8 Der Diskurs als Grundkonzept einer Archäologie des Wissens
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Sinne von einer Gesamtheit bedeutungsstiftender Strategien, klar auseinanderhalten, wäre dann mindenstens der Bereich der referentiellen Kompetenz zur Behandlung der erwähnten Begriffe abzuklären. Damit ist gemeint, daß zur Erforschung einer diskursiven Einheit mit den methodologischen Mitteln der wissenschaftshistorischen Epistemologie fortzuschreiten wäre, während die Ergründung der Organisationsprinzipien des Diskurses erkenntnisphilosophische Prämissen hervorrufen würde. Daß letztere an einem starken perspektivistischen Charakter leiden, der für die Relativität jeder, ungeachtet ob axiomatisch oder argumentativ erzielten, Schlußfolgerung sorgt, braucht nicht erwähnt zu werden. Es bleibt nur zu bedenken, daß der vermeintlich "wirkliche Diskurs" sich dadurch in die Gefahrenzone einer Relativierung begibt, die bei der Festlegung der einfachen diskursiven Formationen das Ergebnis erheblich weniger beeinträchtigt. §8 Der Diskurs als Grundkonzept einer Archäologie des Wissens Gewisse äußerliche Ähnlichkeiten präsentiert Broekmans Begriff des Diskurses im weiten Sinne mit Foucaults anfangs als "épistémè", später als "dispositif" bezeichneten epistemischen Grundlage, auf deren Boden die Möglichkeit der Produktion wissenschaftlicher Aussagen, denen Wahrheitsgehalt zuerkannt wird, eröffnet wird. 1 2 4 Unter Episteme versteht allerdings Foucault weder die geläufigen Figuren der Ideengeschichte, wie "Weltanschauung" oder "Geist einer Zeit", die er ausdrücklich als "Kategorien der kulturellen Totalitäten" bezeichnet,125 noch die idealistischen geschichtsphilosophischen Systemen immanente transzendentale Universalität der subjektiven Vernunft, deren Entwicklungsstadien jedesmal den Menschen einer Epoche ein zwingendes Gedankensystem auferlegen sollen. 126 Indem sich Foucault des analytischen Instruments der Episteme bedient, setzt er sich nicht das Ziel, "das System von Postulaten zu rekonstruieren, dem alle Erkenntnisse einer Epoche gehorchen", 127 sondern versucht die in einer gegebenen Zeit zwischen den Wissenschaften und auf der Ebene der diskursiven Regularitäten bestehenden Beziehungen in ihrer weitesten Verästelung und Dispersion zu erfassen. 128 Die
124 Vgl. Foucault, Spiel, 123, wo er das Dispositiv als "Strategien von Kräfteverhältnissen, die Typen von Wissen stützen und von diesen gestützt werden" definiert, und ebd., 124, wo er die Episteme als diskursives Dispositiv wie folgt beschreibt: "Die Episteme ist das Dispositiv, das es erlaubt, nicht schon das Wahre vom Falschen, sondern vielmehr das wissenschaftlich Qualifizierbare vom Nicht-Qualifizierbaren zu scheiden". Zur Bedeutung des "Dispositivs" bei Foucault vgl. Deleuze, Qu'est-ce qu'un dispositif?, 185ff. 125 Foucault, Archäologie, 27, (Archéologie, 25). 126 Ebd., 198f., 273f., (182f., 250f.) 127 Ebd., 273, (250).
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Analyse der Episteme stellt demnach die allgemeinste Form von Wissenschaftsgeschichte dar, da sie das Wissen einer gegebenen Zeit hin auf seine Strukturierung im Bezug auf die Gesamtheit seiner Gestaltungsmodalitäten befragt. Die Etablierung solch eines Relationensystems erschöpft sich nicht in der Aufzählung und Aufstellung der synchron als wahr anerkannten Aussagen, sondern erstreckt sich vielmehr auf die Aufschlüsselung derjenigen Mechanismen der diskursiven Praktiken, die den Ausschluß, die Verdrängung, die Selektion der Aussagen, die Formation, Hierarchisierung und Transformation der Diskurse, die Mutationen, Verschiebungen und Diskontinuitäten der diskursiven Formationen bewerkstelligen. Das diskursiven Praktiken unterworfene Wissen als "archäologisches" Gebiet nimmt bei Foucault eine Gegenposition zu der vom Bewußtsein abhängigen Erkenntnis der Reflexionsphilosophie ein. 129 Ist der Diskursanalytiker in der Lage, diskursive Formationen durch ihre ausdifferenzierten Aussage- und Äußerungsmodalitäten (énoncés/ énonciations) zu isolieren, dann wird er auch den epistemischen Status eines Diskurses weiter verfolgen können, indem er sich der Aufgabe annimmt, die durch den Diskurs virtuell überschrittene Schwelle von der Wissenspositivität 130 zur vorwissenschaftlichen Epistemologisierung, von dort zur Wissenschaftlichkeit und von letzterer zur Formalisierung festzustellen. 131 Für die Wissenschaftsgeschichte bedeutet solch eine Abundanz an Diskursformen eine Vermehrung der theoretischen Analysemöglichkeiten. Schreitet man in umgekehrter Richtung fort, dann wären die rekursive Analyse für eine bereits formalisierte Wissenschaft, die epistemologische Geschichte für eine formierte Wissenschaft, die archäologische Geschichte für epistemologische Gestalten, die noch keine Wissenschaften sind, zuletzt die Analyse der Episteme für die
128 Ebd.; Foucault verzichtet jedenfalls in seinen späteren Schriften auf die archäologische Suche nach der Festlegung autonomer Relationennetze diskursiver Praktiken, zugunsten einer genealogischen Erforschung möglicher Wechselbeziehungen zwischen sozialen und diskursiven Praktiken, die eine Machtbezogenheit der Wahrheitsproduktion implizieren. Seine Inauguralvorlesung am Collège de France "L'ordre du discours", 1971, (dt., Die Ordnung des Diskurses, 1974), kann in dieser Hinsicht gleichzeitig als die Bilanz der Diskursanalyse und als das Programm einer genealogishen Umorientierung betrachtet werden. 129 Foucault, Archäologie, 260, (239). Zum Begriff der Episteme bei Foucault, und spezifisch zur Gegenüberstellung seiner Epistemologie mit Kuhns Modell der normalen Wissenschaft, s. Weinert, Vergleich, 338ff., sowie Dreyfiis/Rabinow, Foucault, 92ff., 115ff.; zur Klassifizierung der archäologischen Methode Foucaults im Spektrum der französischen epistemologischen Tradition seit Bachelard, sowie zur Deutung seines Begriffs der Episteme, vgl. Machado, Archéologie et épistémologie, 15ff. 130 Positivitäten bilden nach Foucault, Archäologie, 258, "die Vorform dessen, was als eine Erkenntnis oder eine Dlusion, eine anerkannte Wahrheit oder ein denunzierter Irrtum, eine endgültige Erfahrung oder ein überwundenes Hindernis sich enthüllen und funktionieren wird". 131 Ausführlich zu den Schwellen (seuils) der Positivität, der Epistemologisierung, der Wissenschaftlichkeit und der Formalisierung eines gegebenen Wissens, vgl. Foucault, Archäologie, 265ff., (243ff.).
§8 Der Diskurs als Grundkonzept einer Archäologie des Wissens
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Darstellung der umfassenden Textur der diskursiv nutzbaren Aussagen, jeweils zu verpflichten. 132 Dadurch wird ersichtlich, erstens daß die Episteme nicht den verborgenen Diskurs, dem Broekmans Interesse gilt, darstellt, 133 zweitens daß sie nicht der Diskurs einer tieferen Ebene der Sprachstruktur ist, dem gegenüber Oberflächendiskurse wie seine Sonderfalle auftreten könnten,134 drittens daß sie nicht eine Ideologie ist, die der inhaltlichen Gestaltung der von ihr abhängigen Diskurse Nahrung gibt, 135 und viertens daß sie sich nicht mit den Mitteln der historischen Hermeneutik erschließen läßt, 136 ungeachtet ob diese in einer rationalistischen, idealistischen oder marxistischen universalisierenden und eschatologisierenden Teleologie verwurzelt bleibt. Damit wird nicht behauptet, Broekman habe die Analyse der Episteme bei Foucault mit seiner eigenen Beschreibung der Leitlinien des bürgerlichen Diskurses gleichgesetzt, wohl aber daß die Konzeption des bürgerlichen Diskurses als Basisdiskurses nur eine oberflächliche terminologische Ähnlichkeit mit Foucaults Analyse der diskursiven Formationen aufweist. Erscheint im Ergebnis Broekmans Theorie des Diskurses im weiten Sinne, als eine sowohl in ihren strukturalistischen, als auch in ihren sozialkritischen und anthropologischen Zügen zu Foucaults Epistemologie inkompatible Auffassung, wäre im weiteren Broekmans Begriff des Diskurses im engen Sinne hin auf sein Verhältnis zu Foucaults Diskurstheorie zu prüfen. Legt man als Richtdefinition des Diskurses jene zugrunde, die ihn als "eine Menge von Aussagen (...) insoweit sie zur selben diskursiven Formation gehören", 137 umschreibt, dann wird die Erläuterung der partiellen Definitions132 Ebd., 269ff., (247ff.). 133 Foucault, ebd., 293, (268), stellt sich ausdrücklich gegen solch eine Forschungsrichtung: "Ein solcher Diskurs hat nicht die Aufgabe das Vergessen aufzulösen und in der Tiefe der gesagten Dinge, dort, wo sie schweigen, den Moment ihrer Entstehung wieder zu finden.(...) Er ist nicht das Sammeln des Ursprünglichen oder die Erinnerung der Wahrheit.(...) Statt das Feld der Diskurse zu durchlaufen, um selbständig die ruhenden Totalisierungen vominehmen, statt in dem, was gesagt worden ist, jenen anderen verborgenen Diskurs zu suchen, der aber derselbe bleibt, (statt infolgedessen ständig die Allegorie und die Tautologie zu spielen), nimmt er unaufhörlich die Differenzierungen vor, ist er Diagnostik". 134 Ebd., 177ff., 235, (160ff., 215). 135 Ebd., 262ff., (240ff.). 136 Ebd., 23Iff., (212ff.). 137 Ebd., 170, (153); vgl. andere ähnliche Definitionen, ebd., 108, 116, 156, 301, (98, 106, 141, 274). Allerdings vertritt Foucault diese Auffassung des Diskurses, indem er seine eigene frühere Benutzung des Ausdrucks modifiziert; wird in: Les mots et les choses, (dt. Die Ordnung der Dinge, 1974), der Diskurs als die dem Sprachlichen innewohnende Fähigkeit, die Dinge zu repräsentieren, gedeutet, und als der Mittelpunkt des Wissens der sich zwischen Descartes und Kant erstreckenden Zeitspanne vorgestellt, übernimmt er in: Archäologie die semantische Position eines um ein positives Wissen artikulierten Aussagenensembles; vgl. dazu Frank, Neostrukturalismus, 216; Diskursbegriff, 25ff.
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merkmale selbst der legitime Weg der Begriffsdeutung. Die Theorie der Aussage (énoncé) bildet dabei den Kern jeglicher Diskursanalyse. Foucault unterscheidet die diskursive Aussage, die zunächst auch eine sprachliche Performanz ist, 1 3 8 vom grammatikalischen Satz im semantischen oder syntaktischen Sinne, ferner, von der logischen Proposition, wie sie im Rahmen der induktiven oder deduktiven Logik auftritt, im weiteren vom analytischen Sprechakt und seiner Pragmatik, sowie schließlich von der psychologisch gewichteten subjektbezogenen Formulierung. 139 Seine Intention ist es dabei nicht etwa Defizite der erwähnten theoretischen Mittel nachzuweisen, in der weiteren Absicht, sie durch den Begriff der diskursiven Aussage zu ersetzen, sondern ein adäquates Instrument, mit dem der Epistemologe arbeiten kann, zu entwikkeln, das neben den semiotischen, rhetorischen, logischen, analytischen oder pragmatischen Diskurs-Kategorien sich Bestand verschaffen könnte. Diskursive Aussagen können jede Zeit in der Form eines Wortes, einer Formulierung, eines Satzes oder einer Proposition auftreten, den jeweiligen Richtigkeitsregeln entsprechen oder nicht entsprechen; zu dem was sie sind, werden sie erst jedoch, soweit bestimmte analysierbare diskursive und nicht-diskursive Praktiken 140 ihnen eine Existenzmodalität verleihen: "Diese Modalität gestattet (den diskursiven Aussagen) im Verhältnis zu einem Objektbereich zu stehen, jedem möglichen Subjekt eine feste Position vorzuschreiben, unter anderen sprachlichen Performanzen angesiedelt zu sein, schließlich mit einer wiederholbaren Materialität ausgestattet zu sein". 141 Ein und derselbe Satz einer gegebenen natürlichen Sprache erlangt demnach jeweils eine neue Aussagefunktion und gehört insoweit einem anderen Aussagenensemble, je nach konkreter Gestaltung seiner Wirkungsbedingungen,142 und je nach erfolgter Positionier e Archäologie, 155, (140). 139 Ebd., 115ff., (105ff.), und passim. Dabei muß auf die im französischen gegebene Möglichkeit der Differenzierung zwischen énoncé, énonciation und proposition hingedeutet werden, die im deutschen durch die Gegenüberstellung der Begriffe Aussage, Äußerung und Proposition kaum einleuchtet. Aus diesem Grunde wird im weiteren die Rede von "diskursiver Aussage" sein, um sie vom Begriff der Aussage im Sinne von Proposition adäquater unterscheiden zu können. Ein typisches Beispiel für die in Deutschland anders geartete Anwendung der Termini Satz, Aussage und Äußerung, liefert Habermas' Wortgebrauch in: Universalpragmatik, 356ff., 393ff. Zur Problematik des Begriffs énoncé vgl. auch die Ausführungen von Dreyfus/Rabinow, Foucault, 72ff.; Busse, Historische Semantik, 227ff. Über linguistische und nicht-linguistische Modi der Anwendung des Begriffs "discours" im französischen Schrifttum, vgl. Chevallier/Loschak, Science administrative, Bd. I, 372ff., und Maldidier/Normand/Robin, Discours et idéologie: quelques bases pour une recherche, 116ff. 140 Über den Einfluß nicht-diskursiver Elemente, vgl. noch ansatzweise Archäologie, 68f., (61): "Diese Beziehungen werden zwischen Institutionen, ökonomischen und gesellschaftlichen Prozessen, Verhaltensformen, Normsystemen, Techniken, Klassifikationstypen und Charakterisierungsweisen hergestellt". 141 Ebd., 155f., (1400. 142 Ebd., 128ff., (116ff.), beschreibt Foucault die vier Bereiche auf denen die Aussagefunktion ihre Gestaltung annimmt: das Referential, die Subjektposition, das Assoziationsfeld und eine wiederholbare Materialität.
§9 Ansätze zu einer institutionellen Epistemologie des juristischen Diskurses
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rung auf dem epistemischen Sinn stiftenden Dispersionsfeld einer diskursiven Formation. 143 Der Begriff des Diskurses bedeutet folglich bei Foucault eine Menge von Aussagen, die eine besondere Existenzmodalität aufweisen können, weil sie einem gleichen Formationssystem unterordnet sind. 144 Broekmans Begriff des Diskurses, als diskursive Einheit, setzt ebenfalls die Abwesenheit des Subjektes bei der Formation und Transformation des Diskurses voraus, funktioniert anhand von Praktiken, und stützt sich auf eine Ökonomie der Wahrheit, die in jedem positiven Wissen vielmehr einen interessengeleiteten Ausschluß anderer Aussagen als eine Aufdeckung verborgener Wirklichkeit identifiziert. Anstatt jedoch den Diskurs als Klassifizierungsmodell der Aussagen wissenschaftstheoretisch oder -historisch zu instrumentalisieren, bleibt er, ungeachtet aller erwähnten Gemeinsamkeiten, dem Aussagedifferenzierungskonzept Foucaults fern. Während bei Foucault die Einführung des Begriffs der diskursiven Aussage die gesamte Konstruktion der Epistemologie des Diskurses ermöglicht, weil sie die Demarkationslinie von der Sprachphilosophie bildet, bewegt sich Broekmans Diskursauffassung sowohl in der Sprache als auch in der Philosophie, obwohl er das "Subjekt" durch das "Humane" ersetzt. §9 Ansätze zu einer institutionellen Epistemologie des juristischen Diskurses Faßt man die bereits erwähnten Diskursmodelle zusammen, stellt man fest, daß die von Habermas und Alexy vertretene Position das Gewicht auf den Sprecher legt. Sätze, Propositionen, Sprechakte werden als sprachliche Mittel unhinterfragt vorausgesetzt; wichtiger scheint die objektive Normierung der subjektiven Teilnahmebedingungen am Diskurs zu sein, die die Rationalität einer universalistischen Ethik begründet. Kaufmanns Verlagerung der Diskursaustragungsregeln von der formalen auf die materielle Seite vermag nicht von der Tatsache abzulenken, daß er im Diskurs ebenfalls ein dialogisches Modell erblickt, ein-Medium im Dienste der Wahrheit suchenden Person, die sieb dadurch in die Lage versetzt, die Welt des Seienden als Wirklichkeit zu beschreiben. Broekmans Interesse gilt nicht mehr dem Sprecher, sondern der Sprache selbst. Die Metaphysik des In-Sprache-Seins des Menschen, die 143 Vgl. ebd., 58, (53): "In dem Fall, wo man in einer bestimmten Zahl von Aussagen ein ähnliches System der Streuung beschreiben könnte, in dem Fall, in dem man bei den Objekten, den Typen der Äußerung, den Begriffen, den thematischen Entscheidungen eine Regelmäßigkeit (eine Ordnung, Korrelationen, Positionen und Abläufe, Transformationen) definieren könnte, wird man übereinstimmend sagen, daß man mit einer diskursiven Formation zu tun hat (...)". 144 Vgl. ebd., 156, (141), wo Foucault, den klinischen Diskurs, den ökonomischen Diskurs, den Diskurs der Naturgeschichte oder den psychiatrischen Diskurs jeweils kategorial unterscheidet.
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Transzendentalität der an der Sprache errichteten Arbeit soll den Diskurs zum privilegierten Zugang zur verborgenen Ideologie machen, die ihn diktiert hat. Broekmans Kritik der bürgerlichen Anthropologie bleibt ein grundsätzlich philosophisches Projekt, das den Diskurs als historische Rede auf seine materielle Bedingungen hin befragt, um seine Doppeldeutigkeit letztendlich hermeneutisch zu entschleiern und sie als die eigentliche Wirklichkeit darzustellen. Eine andere Möglichkeit für die Entfaltung der Diskurstheorie eröffnet der Ansatzpunkt Foucaults. Indem er die diskursive Aussage als Funktion und Ereignishaftigkeit in den Vordergrund stellt, indem er weder dem Sprecherintellekt noch der Sprache als Ganzheit huldigt, indem er schließlich von der philosophischen Vision zugunsten der epistemologischen Sicht abrückt, führt er den Diskurs als deskriptives Analysemodell ein ohne jegliche andere Gebrauchsmodalität dieses Begriffes, sei es eine philosophische, linguistische oder sogar alltagssprachliche verwerfen zu wollen. Er grenzt ein bestimmtes Analysefeld ab, ohne die Legitimität der anderen Handhabungsmöglichkeiten des Begriffs zu bestreiten, weil jede seiner Anwendungen gleichwohl als Realisierung einer diskursiven Strategie - was genausogut für den epistemologischen Diskursbegriff gilt - betrachtet werden kann. Daraus sollte bereits ersichtlich geworden sein, daß die epistemologische Diskurskonzeption nicht den Stellenwert eines Orientierungsmusters für spontane Diskursteilnehmer, sondern den eines Leitfadens für skeptische Diskursbeobachter besitzt. Wenn wir nun zu der in den §3 und §4 vorläufig bestimmten eigenen Diskursauffassung zurückkehren, wird auf einen Blick ersichtlich, daß diese mit den Konzeptionen des juristischen Diskurses von Alexy, Habermas, Kaufmann und Broekman grundsätzlich unvereinbar ist. Der Grund für die Darstellung des vom eigenen Konzept Abweichenden war jedoch weniger polemische Absicht als vielmehr die Intention, den begrifflichen Rahmen, in dem die methodische Entfaltung des Diskursmodells jeweils ihre Realisierung erfahren kann, zu präzisieren und die Modalitäten des Wortgebrauchs in der vorliegenden Arbeit festzusetzen. In dieser spezifischen Hinsicht kann behauptet werden, die Argumentationstheorie 145 und die hier präsentierte Diskurstheorie verhielten sich komplementär zueinander. Diese Annahme vermag trotzdem nicht über die bestehenden fundamentalen methodischen Divergenzen hinwegzutäuschen. Die pragmatischen Diskurstheorien beziehen sich eher auf die Untersuchung der diskursiven Argumentation, sind also Argumentations- und nicht 145 Die Tatsache, daß der Methodenstreit innerhalb der Argumentationstheorie in vollem Gange ist, mag hier ausgeblendet bleiben. Zu dieser Problematik vgl. Neumann, Argumentationslehre, passim.
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genuin Diskurstheorien. Das hat zur Konsequenz, daß sie sich einer nicht weiter problematisierten Auffassung des Diskurses als dialogischer Plattform bedienen. Der Diskurs wird dort als ein Medium der Kommunikation betrachtet. Die vorliegende Theorie verfolgt eine anders geartete Zielsetzung: sie untersucht die institutionellen und epistemologischen Implikationen des Diskurses als Rahmenbedingungen der argumentativen Praktiken. Die Argumentation wird hier als ein Merkmal des Diskurses, nicht als seine Voraussetzung behandelt. Der jeweilige Diskurs hat den Argumentationstyp zu bestimmen, nicht die bloße Existenz einer Argumentation soll auf die Existenz eines Diskurses hinweisen. Zugespitzt formuliert, nicht die theoretische oder praktische Vernunft instituiert irgendeinen Diskurs, sondern der mit seinem eigenen Referential, seinen institutionalisierten Sprecherpositionen, seinem Aussagenkontext und seinen argumentativen Strategien ausgerüstete reale Diskurs Philosophie generiert seine kategoriale Begrifflichkeit. Stichwortartig zusammengefaßt, sind es zehn Hypothesenbereiche, in denen sich die Unterschiede am deutlichsten manifestieren: a) Die Subjektivitätshypothese: fungiert in der Pragmatik das vernünftige Subjekt als transzendentale Bedingung der Wahrheitsfindung, konstituiert sich die Subjektivität im Diskurs durch die Besetzung einer institutionellen Position, die zum Sprechen berechtigt. b) Die Kommunikationshypothese: einer allgemeinen dialogischen Struktur der argumentationsbedingten Kommunikation wird das Modell der diskursiven Formationen gegenübergestellt, die je nach Wissensfeld variierende, auf diskursive und extradiskursive Praktiken beruhende Wissenssysteme repräsentieren. c) Die Reglementierungshypothese: die Regeln der praktischen Vernunft, die die Richtigkeit der Begründung im Dialog gewähren, werden hier mit den Regelmäßigkeiten der diskursiven Praktiken konfrontiert. d) Die Diskursextensionshypothese: ist der Diskurs für die Pragmatik undifferenziert das exklusive Feld der Sprachentfaltung, bewahren hier die Extradiskursivität, nicht als "Außersprachlichkeit" verstanden, sowie die verschiedenen Teildiskurse, die einen hypothetischen Gesamtdiskurs konstituieren, ihre Autonomie. e) Die Relativitätshypothese: Ist die Universalisierbarkeit der archimedische Punkt der prozeduralen Diskurstheorien, bewahren epistemische Diskurse einen relativen lokalen Charakter. f) Die Temporalitätshypothese: Impliziert das Universalisierbarkeitsargument auch eine lineare Progression des Geistes in der Zeit, geht die Diskursanalytik vom Modell des epistemologischen Bruches und der Diskontinuität der Wissensformationen aus.
4 Paroussis
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g) Die Diskursfunktionhypothese: Der Diskurs als Kommunikationsmedium wird durch das Konzept der Diskursivität als analytischer Kategorie der epistemologischen Klassifizierung von Aussagen ersetzt. h) Die Rhetorizitätshypothese: impliziert die dialogische Auffassung des Diskurses zwangsläufig die Instanz des Redners, werden hier intersubjektive institutionalisierte Praktiken, aus denen pragmatische Argumentationsprämissen entstehen, untersucht. i) Die Wahrheitsproduktionhypothese: während die praktische Philosophie den Akzent auf die Wahrheit als Ergebnis des Dialogs setzt, werden in diesem Rahmen die Mechanismen der Produktion eines Wissens, das sich als Wahrheit etabliert und Geltung beansprucht, erforscht. j) Die Wissenschaftlichkeitshypothese: wird der Charakter des Rechts, und vor allem der Rechtsdogmatik als Wissenschaft allgemein als gegeben postuliert, werden hier sämtliche Bereiche der Formierung juristischen Wissens wissenschaftstheoretisch neutral betrachtet. Der unübersehbare Vorteil der Diskurstheorie besteht also darin, daß ihre Formulierung unabhängig von einer präjudizierenden materiellen Auffassung, sei es von Rechtsdogmatik, sei es von Begriffsbildungs- oder Bedeutungstheorie, sei es schließlich von Begründungs- und Interpretationstheorie erfolgen kann. Die theoretischen Optionen zugunsten der einen oder anderen Forschungshypothese finden statt innerhalb der Teildiskurse und affizieren dadurch nicht die Konzeption des Diskurses als formalen Feldes der Wahrheitsproduktion. Was andere Diskursauffassungen wie die von Broekman und in geringerem Maße von Ladeur angeht, die via des methodologischen Rückgriffs auf das Werk von Foucault gewisse Gemeinsamkeiten mit der hier vertretenen Position aufweisen können, soll bemerkt werden, daß beide zwar eine mehr oder weniger vertretbare Deutung des Diskurskonzeptes unternehmen, im Ergebnis jedoch nicht auf den Diskurs, sondern auf das Rationalitäts-, bzw. das Subjektivitätspostulat als theoretische Hauptprämissen der aktuell betriebenen Rechtswissenschaft und Praxis abstellen. Beide befragen m.a.W. den aktuellen Rechtsdiskurs als artikulierten Inhalt einer kollektiven Einstellung gegenüber der Institution Recht, die es zu kritisieren und zu entlarven gilt. Im Gegensatz dazu werden hier die materiellen Koeffizienten der Diskurstheorie nicht zur Kritik leitender Denkkategorien der bürgerlichen Rechtstradition instrumentalisiert. Es sind eher die formalen Aspekte der Diskurstheorie als analytischer Methode zur Untersuchung strukturierter Aussagenkomplexe, denen der Vorzug gewährt wird. Was schließlich die Beziehungen der institutionellen Epistemologie zur Wissensarchäologie anbelangt, wäre es nicht zutreffend und einer gewissen Oberflächlichkeit nicht enthoben, die Gleichstellung des hier vertretenen Dis-
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kursmodells mit dem von Foucault ohne weiteres zu postulieren. Der schwerwiegendste Einwand, auf den einzugehen wäre, würde das Problem der Kompatibilität einer zutiefst historisch-diagnostischen mit einer synchron-analytischen Vorgehensweise aufwerfen. Foucaults archäologische und genealogische Methode untersucht bereits abgeschlossene und zeitlich weit zurückliegende Diskurse als Monumente sowie ihr Verhältnis zu diskursiven und extradiskursiven Praktiken. Der Blick des Forschers ist auf die Vergangenheit gerichtet und zwar unabhängig ob es um die Feststellung der Episteme oder des Dispositivs geht, um das Wechselspiel der Diskurse auf der Ebene der diskursiven Formationen, um die Implikationen zwischen Wahrheit und Macht oder um die Demonstration der Praktiken, die aus dem von der traditionellen Philosophie umjubelten "Menschen" einen "gelehrigen Körper" und eine "unterworfene Seele" machen. Wie kann folglich eine Arbeit, die ihr Material nicht aus dem historischen Archiv der Aussagen und des Wissens, sondern aus aktuell geltenden Gesetzestexten, Gerichtsurteilen, dogmatischen Beiträgen und theoretischen Entwürfen schöpft, die Regeln der Wahrheitsproduktion im juristischen Diskurs aufzeigen? Wäre die vorliegende Untersuchung auf das letztgenannte Ziel zugeschnitten, könnte die Antwort nichts anderes als das Eingeständnis eines Fehlschlages sein. Anders verhielte sich das Ganze, würde man der Studie nicht die Genealogie, sondern Foucaults Analyse der diskursiven Aussage zugrundelegen. In diesem Fall würde sich die Analyse auf die statusverleihenden Wirkungsbedingungen der Aussagefunktion beziehen: nämlich den Objektbereich, die subjektiven Aussagemodalitäten, die Begriffsbildung und die Themenwahl - allesamt adäquate Ausgangspunkte für die qualitative Differenzierung der Aussagen aktueller Diskurse. In solch einer theoretischen Konstellation eröffnet sich die durchaus interessante Möglichkeit, den Bereich der Diskursivität von dem der Extradiskursivität im Rahmen desselben Wissensfeldes zu ergründen. Noch wichtiger kann dabei die Erforschung der Relationen zwischen diskursiven und extradiskursiven Elementen werden, d.h. von Aussagen verschiedenen Status, auf der Ebene des gleichen Diskurses. Im konkreten Fall umgesetzt, bietet die Möglichkeit einer Grenzziehung zwischen dem Bereich der rechtlichen Diskursivität und ihres extradiskursiven aussagerelevanten Umfeldes neue Perspektiven für die gesamte juristische Begriffslehre dar, Perspektiven, die ihren Prämissen zufolge weder die Linguistik noch die Sprachpragmatik, weder die Argumentationstheorie noch die Rechtslogik anbieten können. Konkretes Ziel ist es also im weiteren, die Kategorie der Diskursivität theoretisch zu entwickeln, und sie auf Text-, Satzund Wortebene der Rechtssprache unter Beweis zu stellen. Der Entwurf einer konstruktiven Theorie des juristischen Diskurses als Ergebnis rechtstheoretischer Grundlagenforschung wird demnach von einer doppelten, analytisch ausgerichteten Intention getragen: einerseits soll die Diskurstheorie als Rahmenbedingung für eine argumentationstheoretisch orien-
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tierte Auslegungstheorie fungieren; andererseits, soll sie durch die Einführung des Klassifikationskriteriums der Diskursivität und der ihr entgegengestellten Extradiskursivität als Ansatz zur adäquaten Erfassung offener Probleme der juristischen Begriffsbildung dienen. Bildet die Begriffslehre das Feld der genuinen Anwendung des diskursiven Aussagemodells, erstrecken sich seine theoretischen Implikationen nichtsdestoweniger auf die Gliederung des juristischen Diskurses als Ganzen. Um aus der Positivität "Recht" als Wissen breitmöglichster Herkunft Disziplinen, Wissenschaften oder formalisierte Bereiche ausdifferenzieren zu können, um sie nebeneinanderzustellen und trotzdem ihre variierende epistemische Kompetenz erkennen zu können, ist die Festlegung der Kriterien der Existenz einer juristischen Aussage unabdingbar. Zu diesem Zweck ist es allerdings äußerst notwendig, die linguistischen Kategorien, welche das rechtsphilosophische Denken aktuell beherrschen, unter die Lupe zu nehmen, und deren Beitrag zur Formierung gängiger Modelle der Rechtssprache-, Rechtssatz- und Rechtsbegriffslehre zu analysieren.
Π. Recht als Fachsprache und Recht als Diskurs
§10 Recht als linguistische Normentheorie und Sprache als normierte Linguistik Daß Recht und Sprache in unzertrennlicher Weise ineinander fließen, daß Sprache den materiellen Träger aller Rechtsnormen ausmacht, daß die Existenz des Rechts ohne die der Sprache schier undenkbar ist, sind Aussagen, die aus heutiger Sicht als kaum zu erschütternde Feststellungen dastehen. Besitzen alle Sprachformen ihre festen Gesetze, bedürfen vielmehr alle Gesetze einer Sprachform. Bleibt einerseits der Sinn der Gerechtigkeit trotz intensivster sprachlicher Behandlung immernoch nicht endgültig in Worten festgelegt, und funktionieren andererseits die Sprachbildungsregeln eher als Ausgangspunkte für die Aufführung mehr oder weniger umfangreicher Ausnahmen, bemühen sich nichtsdestoweniger die Juristen, Herren einer sprachlichen Information zu werden, sowie der Linguist sich anschickt, als Herr von Gesetzmäßigkeiten in die Sprache epistemisch zu intervenieren. Somit entstehen unauflösbar scheinende Interdependenzbeziehungen zwischen Sprache und Recht, sei es in ihrer ontologisch begründeten Wesenhaftigkeit, sei es in ihrer erkenntnisphilosophisch relevanten Phänomenologie, sei es schließlich in ihrer sozialkritisch hervorgehobenen Funktionalität. Allerdings wird in der ewigen Frage nach den Ursprüngen der Primat der Sprache nie ernsthaft in Frage gestellt. Ist Sprache heute der Hauptansatzpunkt jeglicher ontologischer Begründung des Seins, sei es in der konsequenten Haltung der Verwerfung und der Ersetzung des idealistischen subjektzentrierten Vernunftprimats, sei es in der weniger konsequenten aber um so mehr verbreiteten Version des Versuchs, rationalistische Anthropologie mit sprachkritischer Erkenntnistheorie zu kombinieren, so behält sie für sich auch in der Rechtsphilosophie die Schlüsselposition zur Erkundung des "wahren Wesens" des Rechts. Exemplarisch dafür sind die Ausführungen Henkels,1 der im An-
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Rechtsphilosophie, §19, 191 ff. Für Literaturhinweise zum Thema vgl. die einschlägige Publikation von Bülow/Schneider, Materialien zu einer Bibliographie der Rechtslinguistik, 1981, sowie Steger, Institutionensprachen, Sp. 132f.; im weiteren: Kaufmann, Geschichtlichkeit, 247 Anm. 29; Lampe, Semantik, 15 Anm. 12; Brinckmann, Juristische Fachsprache, 63 Anm. 19.
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Π. Recht als Fachsprache und Recht als Diskurs
schluß an Forsthoff 2 das Verhältnis des Rechts zur Sprache "zu den elementaren Seinsbezügen des Rechts"3 zählt. Forsthoffs Hervorhebung der Rechtsetzung, also der sprachlichen Investitur des Rechts, als Aktes, durch den "der Drang des Rechts zur Gestalthaftigkeit" 4 erfüllt wird, findet bei Henkel, der die Sprachgebundenheit des Rechts durch die "Formgebung eines Rechtsgedankens zum Rechtssatz durch die Objektivation in einem Sprachsatz" am besten manifestiert sieht, volle Zustimmung.5 Dabei entgeht aber allzuoft der Aufmerksamkeit folgende Tatsache: während man heutzutage geneigt ist, jegliche Repräsentation als ein Sprachgebilde kategorial zu bearbeiten, besteht dabei die Gefahr, die Sprache selbst als eine Konstante, als ein natürliches Objekt, als eine unabänderliche Größe zu behandeln und vor die Klammer zu setzen, mit dem Ergebnis, unsere diskursive Vorstellung von der Sprache mit einer alles bestimmenden Sprache an sich gleichzusetzen. Es stellt sich unter dieser Perspektive die Frage, ob es nicht richtiger wäre, das unilineare ontologische Verhältnis zwischen Sprache und Recht durch das wissenschaftstheoretische Modell einer Äquivalenzrelation zwischen linguistischer Normentheorie und normierter Linguistik zu ersetzen. In diesem Verhältnis zwischen einer Sprache, die wir als Regelsystem konzipieren, und einem Recht, das wir als Sprachprodukt erfassen, dämpft sich der Enthusiasmus, der durch die Festsetzung der Sprache als unabdingbarer Voraussetzung jeglichen Rechtsverständnisses zum Ausdruck gekommen ist. Bedenkt man, daß es ein gewisses legalistisches Denken erlaubt hat, überhaupt hinter den Sinn der Sprache zu kommen, wird man bald zur Einsicht gelangen, daß die Suche nach den Ursprüngen zugunsten einer Untersuchung der aktuellen epistemischen Beziehungen zurücktreten soll, oder daß monistische Erklärungsschemata zugunsten polyvalenter sachanalytischer Methoden revidiert werden sollten. Was allerdings uns hier zunächst interessiert, dies sind die gnoseologischen Bereiche, in denen die Abhängigkeit des Rechts von der Sprache empirisch zu Tage tritt, sowie der Einfluß dieser Sektoren auf die Bildung konkreter Forschungsfelder des juristischen Diskurses. "In jedem Augenblick seines Berufslebens hat es der Jurist mit Wörtern, Sätzen und Texten zu tun", notiert Haft. 6 Die meisten Register des juristischen Diskurses können in der Tat auf drei verschiedenen Ebenen gezogen 2 Recht und Sprache, passim 3 Rechtsphilosophie, 191. 4 Recht und Sprache, 9. 5 Rechtsphilosophie, 193ff. Ähnlicher Ansicht auch Kaufmann, Geschichtlichkeit, 247f., 25Iff.; Haft, Sprache, 233; Troller, Grundriß, 52ff., sowie Lampe, Semantik, 15ff., der durch die Vergleichung zwischen "Geltung" einer Norm und "Bedeutung" eines Begriffs strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen Recht und Sprache konstatiert. 6 Sprache, 233; vgl. auch Brinckmann, Juristische Fachsprache, 60: "Die Daten des Rechts sind primär Wörter, Sätze, Texte einer (oder mehrerer) Sprachen".
§10 Recht als linguistische Normentheorie
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werden, nämlich auf der Ebene der Beziehungen zwischen Recht und Sprache im allgemeinen, d.h. der Rechtssprache, sei es als Ausgangspunkt einer Rechtsontologie, sei es als Abgrenzungskriterium im Bereich der Fachsprachlichkeit, desweiteren auf der Ebene der Beziehungen zwischen Redewendungen und Rechtssätzen, und zuletzt auf der Ebene der Beziehungen zwischen Wörtern und Rechtsbegriffen. Stehen Sprache, Phrase und Wort auf der einen Seite, entsprechen ihnen Rechtssprache, Rechtssatz und Rechtsbegriff auf der anderen Seite. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit, die erwähnten gängigen linguistisch geprägten Kategorien praktischer und theoretischer, sprich dogmatischer und analytischer juristischer Erkenntnis mit den hier vorgeschlagenen epistemologischen Kategorien der Diskursivität zu kreuzen. Bleibt man zunächst auf der allgemeinen Ebene der Sprache, des Textes als Ganzen, und klammert man die genuin rechtsphilosophische Problematik der ontologischen Grundlegung des Rechts in der Sprache aus, fallen zwei Fragenkomplexe gleich ins Gewicht. Erstens, der rechtstheoretische Problembereich der Bestimmung der Rechtssprache als einer Fachsprache und zweitens die rechtsmethodologische und gesetzgebungstheoretische Thematik der Festlegung der Beziehungen und der Grenzen zwischen Rechtssprache und Umgangssprache. Die Frage, die es hier zu beantworten gilt, lautet: Inwieweit deckt sich der juristische Diskurs, wie wir ihn bereits definiert haben, mit dem Recht als Fachsprache? Da der Diskurs auch aus Sprachelementen besteht, was unterscheidet ihn kategorial von einer technischen oder wissenschaftlichen Fachsprache und wie verhält er sich gegenüber umgangssprachlichen Elementen? Verläßt man dann die Makro-analytik der Textebene, begibt man sich auf das Niveau der Phrasenebene. Es wäre nicht übertrieben zu behaupten, daß dieser Bereich den Hauptteil des Betriebs Rechtswissenschaft ausmacht. Soll man an die Rechtssatzverknüpfungssystematik der juristischen Dogmatik erinnern, auf die Rechtssatzlehre der Legistik und vor allem der Methodenlehre hinweisen, an den gesamten Aufbau der Rechtslogik durch die Bezeichnung des Rechtssatzes als logischer Proposition rekurrieren oder schließlich auf die Konzeption des Rechtssatzes als Sprechhandlung im Rahmen der analytischen Rechtstheorie insistieren? Die hier auf der Phrasenebene vorgenommene Gegenüberstellung der juristischen Aussage einerseits, des Rechtssatzes als grammatischer, syntaktischer, logisch-propositionaler oder analytisch-performativer Konstruktion andererseits, wird im weiteren den Sinn der diskursiven Aussage klären. Konzentriert in der heutigen epistemischen Konjunktur der Rechtssatz die Bemühungen der Forscher, hält das Interesse letzterer an ihr früheres Vorzugsobjekt, den Rechtsbegriff, nicht minder an. Spätestens im Rahmen der Rechtsdogmatik sowie der Rechtssemantik und der rechtsmethodologischen
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Π. Recht als Fachsprache und Recht als Diskurs
Begriffslehre haben die Rechtsbegriffe durch Jahrzehnte hindurch tiefe Erforschung genossen. Um so interessanter erscheint der Versuch alte Dichotomien, wie die zwischen natürlichen und juristischen oder bestimmten und unbestimmten Rechtsbegriffen, anhand einer neuen Klassifikation letzterer in diskursive und extradiskursive Begriffe kritisch zu untersuchen und zu bereichern. Doch sei zunächst die Aufmerksamkeit dem juristischen Diskurs als Ganzem gewidmet, da die Bestimmung der Diskursivitätsfunktion primär von der Grundlegung einer Theorie des juristischen Diskurses abhängig ist. Zu diesem Zweck sei nun das Modell des Rechts als Diskurses dem Modell des Rechts als Fachsprache gegenübergestellt. §11 Von der Stilistik der Rechtssprache zur institutionellen Epistemologie des juristischen Diskurses "Daß eine juristische Fachsprache existiert, ist juristischen Laien gewöhnlich weniger zweifelhaft als den Juristen selbst", konstatiert ironisch Seibert7 und fahrt fort, indem er der Juristensprache als einer Resultante der Kombinierung syntaktischer Zeichenverwendungsregeln und terminologischer Ausdrucksfestsetzungen den Status einer reglementierten Sprachform, d.h. einer Fachsprache zuerkennt.8 Seiberts Befürchtungen bezüglich der Akzeptanz des fachsprachlichen Charakters der Rechtssprache seitens der Juristen dürfen jedenfalls nicht zur Annahme verleiten, die juristische Sprache sei wirklich ernsthaft als Fachsprache in Frage gestellt. Ganz im Gegenteil gilt die Fachsprachlichkeit des Rechts in der Theorie ausdrücklich oder stillschweigend als der genuine Ausgangspunkt zur Erforschung der weiteren Partikularitäten der Rechtssprache. So kann Brinckmann feststellen, daß die Existenz einer juristischen Fachsprache zur allgemeinen Überzeugung, sowie zur Erfahrung von Bürgern und Juristen gehört,9 und Otto kann davon reden, daß der heutige Stand der Diskussion an der Annahme, die Rechts- und Verwaltungssprache sei eine Fachsprache, keinen Zweifel mehr ließe.10 Gizbert-Studnicki geht schließlich ebenfalls davon aus, daß "die Eigentümlichkeit der mit dem Recht verbundenen Sprache allgemein angenommen wird", 11 und hält "das Vorhandensein einer gewissen linguistischen Spezifik der Gesetzestexte (für) eine unbestreitbare Tatsache".12 7
Juristenausbildung, 15. 8 Ebd., 16. 9 Juristische Fachsprache, 60. 10 Paradoxie, 46. 11
Rechtssprache, 69. 12 Ebd., 79; gleicher Meinung auch Podlech, Fachsprache, 178.
§11 Stilistik der Rechtssprache und institutionelle Epistemologie
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Die Wege scheiden sich allerdings beim Versuch, zunächst einmal die Fachlichkeit einer Sprache zu definieren (1), desweiteren die fachsprachliche Konsistenz der Rechtssprache zu bestimmen (2), ferner mögliche Teilbereiche juristischer Fachsprachlichkeit zu etablieren (3) und zuletzt die Relationenmodalitäten zwischen rechtlicher Fachsprache und Umgangssprache festzulegen (4). Die Anwendung linguistischer Denkkategorien bildet dabei den Kulminationspunkt aller Bemühungen, Fachsprachen nach äußerlichen Merkmalen festzustellen. L Fachsprachlichkeit
und Diskursivität
In einem neuerdings publizierten Artikel gibt Oksaar zu, 13 daß es heute keine Einigkeit darüber besteht, was Fachsprache sei. Die meisten Definitionsansätze tendieren trotzdem in der Praxis zum Modell der Erforschung stilistischer Eigentümlichkeiten im lexikalischen, morphologischen und syntaktischen Bereich und stützen sich auf der unilinearen Grundstruktur Fachsprecher > Fachsprache > Fachobjekt. Als Beispiele seien hier die Definitionen Beiers14 (a) und Ottos15 (b) zitiert: (a)" Unter 'Fachsprache' verstehe ich einen komplexen Bereich (einen Ausschnitt, eine Varietät) der Sprachverwendung, der - bedingt durch die Spezifika verschiedener fachlicher Situationen - eine Binnendifferenzierung aufweist. Fachsprache wird von fachlich kompetenten Schreibern bzw. Sprechern gebraucht, um sich mit anderen (auch angehenden) Fachleuten desselben Faches, mit Vertretern anderer Disziplinen oder Laien mit bestimmten Zielen über fachliche Sachverhalte zu verständigen. Sie umfaßt die Gesamtheit der dabei verwendeten sprachlichen Mittel und weist Charakteristika auf allen bisher von der Linguistik aus methodologischen Gründen unterschiedenen innersprachlichen Ebenen auf, von denen die lexikalische, morphologische und syntaktische am besten erforscht sind". (b)"Eine Fachsprache, ein sogenannter Technolekt, unterscheidet sich von der Gemeinsprache, an der alle Mitglieder der Sprachgemeinschaftteilhaben, vor allem durch einen besonderen Wortschatz, die sogenannte Terminologie, und durch sonstige syntaktische und stilistische Eigenarten. Die Fachsprache soll es ermöglichen, fachliche Gegenstände besonders klar, eindeutig, genau, exakt und vollständig zu bezeichnen (...) Hinter ihr steht ein besonderes Begriffssystem, das allein der Fachmann voll beherrscht"16
Aus den aufgeführten Passagen wird auf den ersten Blick ersichtlich, daß der Versuch, eine Fachsprache durch stilistische Mittel zu kennzeichnen, de13 Alltagssprache, 218, in Anlehnung an Otto, Paradoxie, 47. 14 Zitiert aus: Oksaar, Alltagssprache, 219. 15 Paradoxie, 47. 16 Letzter Passus aus: Paradoxie, 48.
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Π. Recht als Fachsprache und Recht als Diskurs
sto mehr erschwert wird, je öfter in die Definition das Wort "Fach-" als Komposition eingeführt wird. 17 Fach-sprache, fachliche Gegenstände oder Sachverhalte, fachliche Situationen und Fach-leute, die Fach-ausdrücke benutzen, stehen somit in einem Kreis und lassen sich nur gegenseitig definieren. Insoweit ist es fraglich, ob man eine Fachsprache definieren kann, ohne vorher den Begriffen "Fachobjekt" und "Fachmann", also den zwei durch die Fachsprache verbundenen Instanzen, nähere Präzisionsarbeit gewidmet zu haben. Ist dies nicht der Fall, besteht die Gefahr einer Definitionszirkularität. Die Fachlichkeit der Sprachverwendung scheint desweiteren in den erwähnten Definitionen eher eine stilistisch nachvollziehbare Folge des ausdifferenzierten Bezugsobjektes, nämlich des zu beschreibenden Sachbereichs oder des fachlichen Gegenstandes zu sein. Um eine Sprache stilistisch als Fachsprache identifizieren zu können, müßte man jedoch im voraus ganz genau wissen, wo jedes Mal die Grenzen der Umgangssprachlichkeit verlaufen. Um überhaupt differenzieren zu können, ob ein Text, der sich um ein beliebiges Objekt dreht, fachsprachlich ist oder nicht, müßte man vorher in Erfahrung bringen, ob dieses Objekt überhaupt zu den Fachobjekten einer gegebenen epistemischen Konjunktur gehört. Und schließlich, um die Aussage eines Sprechers als eine fachliche anerkennen zu können, müßte man ex ante Kenntnis von den Voraussetzungen besitzen, unter denen jemand als Fachmann auftreten darf und fachbezogene Äußerungen abgeben kann. Es ist folglich nicht möglich, stilistische Untersuchungen über eine Sprache durchzuführen, mit dem Zweck den fachsprachlichen Charakter dieser gegebenen Sprache festzustellen, ohne vorher ein Wissen darüber erworben zu haben, ob die Situation, die der Sprachproduktion vorausgeht, eine fachliche ist oder nicht. Auf diese Weise verlagert sich aber der Schwerpunkt der Fachlichkeit von den linguistischen zu den institutionell-organisatorischen Prämissen, von den rein stilistischen zu den epistemologischen Ansichten ihrer Phänomenologie. Zu den letzteren gehört dann grundsätzlich die Einbettung des Sachbereichs in eine Institution, die in die Bildung eines selbständigen, aber gleichzeitig reglementierten und kontrollierten Diskurses ausmündet. Diskurse als sprachliche Artikulation der Erfassimg gewisser Aspekte von Gegenständen,18 und nicht von Gegenständen als Gesamtheiten, basieren demnach auf einem jeweils gegebenen Bezugssystem, das den Organisationsmoda-
17 In die gleiche Richtung läuft auch Brinckmanns These, Juristische Fachsprache, 61, bezüglich der Unterscheidung der juristischen Fachsprache durch Feststellung stilistischer Invarianzen auf Wort- Satz- und Textebene, sowie Gizbert-Studnickis Versuch, Rechtssprache, 78ff., eine funktionale Stilistik auf soziolinguistischer Basis zur Bestimmung der Spezifizität der Rechtssprache zu entwerfen. 18 Über die jeweilige Erfassung von Gegenstandsaspekten s. auch Brinckmann, Juristische Fachsprache, 61.
§11 Stilistik der Rechtssprache und institutionelle Epistemologie
59
litäten einer Institution entspricht. 1 9 Erst i n einer späteren Phase formieren sich diejenigen stilistischen M i t t e l auf der Ebene der L e x i k und der Syntaktik, die eine deskriptiv-konstative und nicht konstituierende Ausdifferenzierung des Fachbereichs e r m ö g l i c h e n . 2 0 Diskursivität ist folglich als Fachsprachlichkeit wahrnehmbar, nicht aber lediglich auf Fachsprachlichkeit reduzibel.
2. Interferenzen
zwischen Fachsprache
und Diskurs
A u f Beiers und Ottos sonstige Definitionsunterschiede kann man anläßlich der Gegenüberstellung zweier anderer Definitionen, die sich speziell auf die juristische Sprache beziehen, zurückkommen. Der Punkt, der die Aufinerksamkeit auf sich ziehen sollte, betrifft die Zuschreibung des fachsprachlichen Status an die Aussagen des Nicht-Fachmanns, solange er als Benutzer v o n Fachausdrücken auftritt. Schmidts 2 1 (c) und Podlechs 2 2 (d) Definitionen seien hier z u diesem Z w e c k herangezogen: (c)" Unter 'Rechtssprache' möchte ich im folgenden die Gesamtheit aller rechtlichen Aussagen verstehen, die wiederum identisch sind mit dem Verbalverhalten aller Leute, in dem ethische Werturteile über menschliches Verhalten wesentlich vorkommen. Damit sind nicht nur Gesetzgeber, Richter, Rechtsanwälte, Universitätsprofessoren des Rechtes und ähnliche berufsmäßig mit rechtlichen Aussagen befaßte Leute betroffen, sondern auch der 'Mann auf der Straße', soweit er nur über menschliches Verhalten ethische Wertungen abgibt". 23 (d) "Juristische Fachsprache 24 heiße diejenige Sprache, die durch das Lexikon und die Grammatik festgelegt wird, die zu rechtlichen Rekonstruktionen (also zu Tatbestandsformulierungen), rechtlichen Bewertungen 25 und den Begründungen solcher rechtli-
19
Die Rechtssprache wird auch von Steger, Institutionensprachen, Sp. 125, als Organisationssprache aufgefaßt. 20 Die Abhängigkeit fachlicher Texte von einem Bezugssystem hat Raible, Tugenden, 29, ebenfalls in aller Klarheit dargelegt: "Was den (...) Text zu einem fachlichen Text macht, ist (...) primär das Bezugssystem, erst sekundär handelt es sich um eine sprachliche Frage. Fachliche Texte entstehen dadurch, daß ein bestimmter Sachverhalt durch die Brille eines Systems gesehen wird, eines Systems, das den modus recipiendi steuert, das also dafür verantwortlich ist, was gesagt und was nicht gesagt wird (...) Fachlichkeit ist (...) eine Folge der Betrachtungsweise und des Bezugssystems, das zur Modellierung des Gegenstands dient". 21
Präzision, 398. Fachsprache, 177f. 23 Durch die Benutzung des Wortes "wesentlich" intendiert dabei Schmidt die Verlagerung der Problematik auf den objektsprachlichen Aspekt der Rechtspraxis und nicht auf den metasprachlichen Aspekt der Rechtstheorie. 24 Podlech klammert dabei die Sprache der Rechtsvorschriften aus und bezieht sich lediglich auf die Sprache der Rechtswissenschaft und der Rechtsprechung. 25 Unter dem Ausdruck "rechtliche Bewertung" versteht Podlech, Fachsprache, 172f., "die Feststellung, daß eine bestimmte Rechtsfolge in concreto eintreten soll, weil aus der Sachverhaltsbeschreibung folgt, daß die Voraussetzungen der Rechtsfolge vorliegen". 22
60
Π. Recht als Fachsprache und Recht als Diskurs
eher Bewertungen erforderlich sind.(...) Nur als juristische Rollenträger eingeübte Personen sind kompetente Sprecher".26
Ist Schmidts Definition so offen, daß sie lediglich das Kriterium der Formulierung eines ethischen Werturteils zum Prüfstein der Existenz einer juristischen Sprachweise erheben läßt, bildet Podlechs restriktive Auffassimg von der juristischen Fachsprache als der Sprache, die ausschließlich die Juristen27 in ihrem beruflichen Alltag benutzen, den echten Antipoden dazu. Gegen Schmidts These scheint der Einwand berechtigt zu sein, daß ethische Werturteile noch wesentlicher als im Recht, in moralischen Diskursen ausschlaggebend sind. Wenn auch die Sittlichkeit einer objektiven Normativität nicht entbehrt und insoweit auf der Ebene der Formierung der ordnenden Grundsätze einer gegebenen Rechtskultur mitbestimmend wirkt, ist es unumstritten, daß sie ein separates Verhaltenssteuerungssystem bildet, 28 das allerdings ebenso wie der Rechtsdiskurs auf dem formalen Grundprinzip der Handlungsbewertung seine diskursive Autonomie aufbaut. Wird dadurch die Brauchbarkeit des Kriteriums Schmidts in Frage gestellt, weil es nicht den Forscher in die Lage versetzen kann, die Rechtssprache eindeutig von anderen Diskursen zu differenzieren, stellt sich andererseits das Problem, ob Podlechs Einbeziehung des Kriteriums des Rollenträgers als einzigen kompetenten Sprachemittenten in die Definition der juristischen Fachsprache plausibel ist. Gleichzeitig taucht die Problematik der Bestimmung der Natur der Rechtssprache als Zeichenteilmenge einer gegebenen (nationalen) Sprache auf. Die vorhin erwähnte Ansicht Beiers sowie jene von Schmidt, der zufolge jeder sich der Fachsprache bedienen kann, unter der Bedingung, daß er die semantischen und syntaktischen Verwendungsregeln nicht verletzt, teilt auch Steger,29 der es sogar für die Juristen selbst nicht für möglich hält, von allen Teilsystemen der Rechtsund Verwaltungssprache genaue Kenntnis zu haben. Seiner Ansicht nach ist die Rechtssprache eine Funktionssprache, mit der bestimmte Gruppen in ihrem institutionellen Handeln zweckrational in Berührung kommen und sich ihrer dabei annehmen.30 Herrschend bleibt jedoch diejenige Tendenz, die Rechtssprache als eine Standessprache betrachtet und deren Gebrauch den Juristen vorbehält. Die "hochtechnisierte Sprache" der Jurisprudenz 31 ist für 26
Letzter Passus aus: Fachsprache, 180. Wohl auf diesem Hintergrund kann auch die an angehende Juristen gerichtete Warnung Diedrichsens, Die BGB-Klausur, 190, sich vor einer laienhaften Verwendung juristischer Ausdrücke zu hüten, verstanden werden. 28 Zur äußerst verbreiteten Auseinandersetzung mit der Frage nach der Trennung von Recht und Moral s. statt vieler Kaufmann, Wertungswidersprüche, 158ff., mit Anm. 8; Alexy, Begriff, passim. 29 Institutionensprachen, Sp. 127. Ebd.; neben Juristen kämen in dieser Hinsicht Vollzugsbeamte, Beamte des öffentlichen Dienstes, Führungskräfte der Wirtschaft oder Auszubildende in Frage. 31 Diederichsen, Die BGB-Klausur, 182. 27
§11 Stilistik der Rechtssprache und institutionelle Epistemologie
61
Seibert eine "terminologisch bestimmte Sondersprache",32 für Brinckmann33 eher eine in und für juristische Rollen ausgereifte Standessprache, während sie für Otto 34 ein zwischen Fachleuten funktionierender Technolekt ist, der zusätzlich der Neigung nachgibt, einen soziolektalen Charakter sondersprachlicher Art 3 5 zu entwickeln. Hält man an dieser Auffassung über die Natur der juristischen Fachsprache fest, eröffnet sich die Möglichkeit einer abklärenden Nebeneinanderstellung von Fachsprache- und Diskursmodell im Bereich des Rechts. Wird der juristische Diskurs unter dem pragmatischen Aspekt der Verbindung seiner Produktion mit bestimmten institutionellen Instanzen betrachtet, kann auch der Ansicht beigepflichtet werden, daß es die Träger einer anerkannten fachlichen Kompetenz sind, die zur Bildung der Ausdrucksformen dieses Diskurses beitragen und folglich zu deren Gebrauch berufen sind. Ein Diskurs ist jedoch mehr als eine Verdichtung von Ausdrucksformen im stilistischen und terminologischen Bereich und aus diesem Grund mit einer Fachsprache nicht identisch. Stellt man trotzdem das Konzept der aus dem organisatorisch-strukturellen Prinzip der Rechtsstaatlichkeit emporwachsenden juristischen Diskurse dem epistemischen Modell der Fachsprache des Rechts gegenüber, tritt erneut die kategorielle Differenz beider Auffassungen zutage. Erstens, weil eine Fachsprache mehrere Diskurse enthalten kann, seien es synchrone Teildiskurse im Bezug auf einen Gesamtdiskurs, seien es unterscheidbare Diskurse, die sich im Laufe der Zeit innerhalb derselben Fachmaterie einander abgelöst haben. So wie der rechtstheoretische und der rechtsdogmatische (Teil)diskurs qualitativ auseinandergehen, so sind auch der mos italicus, der usus modernus und die Begriffsjurisprudenz trotz einer gewissen fachsprachlichen Einheit als separate Diskurse auseinanderzuhalten. Zweitens, weil ein Diskurs Elemente mehrerer Fachsprachen beinhalten kann, die die Heranziehung nicht-juristischer Fachleute zur Deutung tatbestandsmäßig erfaßter Sachbezüge konditionieren.36 Aus den vielen Beispielen, die den Rück32 Juristenausbildung, 15. Sprachtheoretisch ist diese Bezeichnung allerdings nur unter der Bedingung richtig, daß man den Begriff "Sondersprache" so weit auffaßt, daß er Berufs-, Gruppen- und Geheimsprachen umfaßt. Im engen Sinne ist Sondersprache aber eine Gruppensprache, die das funktionale Merkmal der Absonderung der sie verwendenden Gruppe aufweist. 33 Juristische Fachsprache, 63, 66. 34 Paradoxie, 47, 54f. 35 Vgl. dazu Fn. 25. Ottos Bezeichnung der Rechtssprache als Sondersprache im engen Sinne ist mit der Position Rottleuthners, Richterliches Handeln, 196, dergemäß die juristische Ausdrucksweise bei den Angehörigen des Juristenstandes das Gefühl verbreite "unter sich" zu sein, zu vergleichen. Otto, Paradoxie, 55, plädiert allerdings für eine Entmischung von Fachsprache und Sondersprache. 36 Gizbert-Studnicki, Rechtssprache, 7Iff., gelangt zu dem Schluß, die Rechtssprache bilde als Gesetzessprache kein spezifisches Register der Gemeinsprache. Weder die Lexik und das Diskursfeld, noch das Kommunikationsmedium oder der Diskursstil erlaubten eine Heraussonderung der Gesetzessprache, da sie einerseits ihre Lexik aus den Fachmaterien, die sie regelt, ent-
62
Π. Recht als Fachsprache und Recht als Diskurs
griff des Rechts auf Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaften, der Medizin, der Biologie, der Physik oder der Chemie belegen,37 sei hier ein Fall aus dem Bereich der Technik herausgegriffen. So führt der BGH 38 bezüglich der Prüfung einer Patentverletzung (Art. 69 Abs. 1 EPÜ) folgendes aus: "Maßgebliche Grundlage für die Bestimmung des Schutzbereichs eines europäischen Patents ist (...) der durch Auslegung zu ermittelnde Inhalt der Patentansprüche (...). Die Auslegung (dient) (...) zur Klarstellung der in den Patentansprüchen verwendeten technischen Begriffe sowie zur Klärung der Bedeutung und der Tragweite der dort beschriebenen Erfindung. Maßgeblich ist dabei die Sicht des Fachmanns. Das Verständnis des Fachmanns wirkt sich bereits bei der Ermittlung und Klärung des Begriffsinhalts der in den Patentansprüchen benutzten Worten aus".
Die Maßgeblichkeit der Ansicht des nicht-juristischen Fachmanns, der durch seine Intervention seine Kenntnisse zur Produktion eines rechtlich und nicht technisch relevanten Ergebnisses zur Verfügung stellt, beruht allerdigs auf einer vom juristischen Diskurs vorgesehenen und in Kauf genommenen Kompetenzeninterferenz. Nichtsdestoweniger bildet sie aber einen schlagenden Beweis dafür, daß die Sprache des Diskurses Recht nicht einfach eine homogene Fachsprache, sondern darüber hinaus eine regulativen Zwecken unterworfene und normativ wirkende Zusammensetzung mehrerer Sprachsegmente ist. Soweit also Elemente mehrerer Fachsprachen in einem und demselben Diskurs Platz finden können, dürfte vorläufig die prinzipielle Unterscheidung zwischen Fachsprache und Diskurs begründet worden sein. 3. Spracheinheitlichkeit
der Rechtswissenschaft und Teildiskurse
Eine weitere Frage betrifft das Problem der Einheitlichkeit des juristischen Diskurses oder der Rechtssprache in der gängig benutzten Terminologie. Dabei sollte man von einer Rechtssprache im weiteren Sinne sprechen, da oft theoretisch zwischen Gesetzessprache einerseits und Juristensprache, d.h. der Sprache der Rechtswissenschaft und derrichterlichen Entscheidungen andererseits unterschieden wird. 39 Dölles Versuch, zwischen Amtssprache, Wissenlehne, andererseits der schriftliche Mitteilungsweg und der amtssprachliche Stil auch anderen Sprachen zur Verfügung stünden. Gizbert-Studnicki kann nur insoweit zugestimmt werden, wie er rein linguistische Spezifizitätskriterien der Rechtssprache durch kontextuale soziolinguistische ersetzt. Andererseits muß aber betont werden, daß die Einbeziehung eines gewissen außerjuristischen Fachvokabulars im Tatbestand zum Zweck der Regelung einer gegebenen sozialen Situation weit davon entfernt ist, rein juristische Fachausdrücke, die praktisch die manifesten Träger des diskursiven Status des Rechtssatzes sind, zu verdrängen. Die Wahl des Vokabulars präjudiziell nicht unbedingt die Diskursivität auf Satzebene. 37 Ausführlicher dazu infra §22 und §24. 38 BGHZ 105, 1, 10. 39 Eine solche Unterscheidung trifft in Anlehnung an Wroblewski Gizbert-Studnicki, Rechtssprache, 69f., der dabei auch auf die deutsche und die angelsächsische terminologische Diffe-
des Recht
§11 Stilistik der Rechtssprache und institutionelle Epistemologie
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schaftssprache und Gerichtssprache zu differenzieren, 40 ist bereits bei Hätz41 auf Kritik gestoßen, nach dessen Ansicht Rechtssprache "jede sprachliche Erscheinungsform des Rechts" bedeutet. Dennoch hat sich das Modell der Schichtung der Rechtssprache mittlerweile durchgesetzt. Adomeits42 Bezeichnung von Gesetz, Dogmatik, Plädoyer und Begründung als Typen juristischer Fachsprache, sowie Podlechs Unterteilung der Rechtssprache in Normsprache als Sprache der Rechtsvorschriften, Rechtfertigungssprache als Sprache gerichtlicher Entscheidungsbegründungen und dogmatischer Sprache als Sprache der Rechtswissenschaft, 43 werden in Ottos Taxonomie, die juristische Textsorten nach Quelle, Inhalt und Informationszweck klassifiziert, wiederaufgenommen. Ottos Untergliederung der Rechts- und Verwaltungssprache in Gesetzessprache, Urteils- und Bescheidsprache, Wissenschafts- und Gutachtensprache, Sprache des behördlichen Schriftenverkehrs und schließlich Verwaltungsjargon44 mag in dieser Hinsicht die Bereiche der Entwicklung rechtsrelevanter Sprachaktivität widerspiegeln. Im Zusammenhang zu den funktionalen Sprachgeboten der Präzision, der Verständlichkeit und der Effizienz betrachtet, bildet sie sogar einen Ausgangspunkt zur Normung des jeweils zutage tretenden juristischen Sprachstils. Die hier bereits erwähnte Unterscheidung des juristischen Diskurses in die Teildiskurse der Gesetzgebung, der Rechtsprechung, der Jurisprudenz und der Rechtstheorie beruht ihrerseits nicht auf unterscheidbaren sprachstilistischen Merkmalen, sondern auf der empirischen Betrachtung der epistemischen Arbeitsteilung der Institution Recht. Dabei steht außer Frage, daß es zwischen den Teildiskursen sprachstilistische Ausdrucksdifferenzen gibt; dennoch wird ihre Relevanz anders bewertet, da sie für die Unterteilung des gesamt-rechtlichen Diskurses in Teildiskurse nicht konstitutiv wirken. Aus diesem Grund werden hier Jurisprudenz und Rechtstheorie als zwei separate Teildiskurse juristischer Erkenntnis aufgeführt, obwohl sie im juristischen Schrifttum üblicherweise unter dem Allgemeinbegriff "Rechtswissenschaft" klassifiziert werden. So unterstellte Erik Wolf 15 einer Rechtswissenschaft die "das ganze Ordnungsgefüge aus Rechtssätzen, -einrichtungen, -tatrenzierung zwischen Gesetzessprache und Rechtssprache als Unterbegriffe der juristischen Fachsprache bzw. language of law und juristic language Bezug nimmt. 40 Stil, 31, 46, 48. 41 Rechtssprache und juristischer Begriff, 102; für eine einheitliche Betrachtung der Rechtssprache als Fachsprache tritt ebenfalls Daum, Rechtssprache - eine genormte Fachsprache?, 84f. ein. 42 Begründung, 59f. 43 Fachsprache, 162. 44 Paradoxie, 51; vgl. auch Steger, Institutionensprachen, Sp. 127, sowie Oksaar, Alltagssprache, 226, beide mit Hinweis auf Ottos Klassifizierung. 45 Fragwürdigkeit, 20f.; ders. Rechtswissenschaft, 58.
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Π. Recht als Fachsprache und Recht als Diskurs
Sachen, -gedanken und -erlebnissen" zu deuten hat, die Auseinandersetzung sowohl mit dem positiven Recht, als auch mit der Idee der Gerechtigkeit. Im Anschluß daran definiert Hollerbach46 Normen und Institutionen als Basismaterial einer Rechtswissenschaft, die genauso die äußere wie die innere Seite des Rechts umfaßt. Erstere bezieht er auf "die Gesamtheit der rechtlichen Regeln und rechtlich geordneten Einrichtungen des menschlichen Soziallebens", desweiteren auf die Problematik der Schaffung und Anwendung der Normen, letztere auf die "Meinungen über das Recht und Einstellungen zum Recht", sowie auf das Rechtsgefühl und das Rechtsbewußtsein.47 Die Differenzierung der Teilbereiche des Rechts erfolgt dann konsequent auf der Ebene der Abgrenzung verschiedener Disziplinen innerhalb der Rechtswissenschaft. 48 In diesem Schema fallt folglich unter den Begriff Rechtswissenschaft jegliche Argumentation juristischen Inhalts, die nicht als ein Akt der Gesetzgebung oder der Rechtsprechung verstanden wird. Eine Gegenthese zu dieser Position hat nachdrücklich Ballweg vertreten. 49 Seiner Ansicht nach besitzt die Rechtsdogmatik grundsätzlich einen prudentiellen Charakter; aus diesem Grund beruht sie auf spezifischen methodologischen Prämissen, die es Praktiken mit den Mitteln der Rechtswissenschaft zu identifizieren gilt. Somit wird das Problem der Wissenschaftlichkeit auf die Ebene von Disziplinen wie die Rechtssoziologie, -psychologie, -ethnologie, kyberaetik, -linguistik oder der Kriminologie verlagert, während die Jurisprudenz von der Meinungsmäßigkeit ihrer argumentativen Struktur determiniert wird. Rechtsphilosophie als Suche nach den Voraussetzungen der Erkenntnis repräsentiert neben der prudentia und der scientia nach aristotelischer Tradition den dritten Bereich der Erkenntnismöglichkeit, nämlich den der sapientia. 50 Abgesehen von dem Einwand, daß die postulierte Wissenschaftlichkeit der erwähnten Teildisziplinen der (in Ballwegs Konzeption eigentlicher) Rechtswissenschaft in allerlei Hinsicht relativierbar ist, weil die Methoden je nach Fachrichtung differieren und nie im Sinne einer einheitlichen Rechtswissenschaft identifizierbar sind, ist im Prinzip die kategorielle und folglich auch terminologische Unterscheidung zwischen Jurisprudenz und Rechtswissenschaft zu begrüßen. Andererseits soll darauf hingewiesen werden, daß die hier für die Analyse des juristischen Diskurses angenommene Separation von Ju46 Rechtswissenschaft, Sp. 751. 47 Ebd. 48 Vgl. dazu Wolf, Fragwürdigkeit, 2Iff.; ders., Rechtswissenschaft, 59ff.; Hollerbach, Rechtswissenschaft, Sp. 751 f.; Köbler, Rechtswissenschaft, 81; Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, 7f. 49 Vgl. vor allem: Science, 543ff.;. Rechtswissenschaft und Jurispnidenz, 7ff., 20ff., 90ff.; Grundlagenforschung, 43ff.; vgl. auch Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 13 Anm. 14 m.w.N. 50 Siehe dazu Ballweg, Lehrschema, 253ff.
§11 Stilistik der Rechtssprache und institutionelle Epistemologie
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risprudenz und Rechtstheorie nicht auf ihre gnoseologische Konsistenz sondern auf ihre variierende Phänomenologie, d.h. ihre institutionell verschieden ausgerichtete Produktions- und Organisationsform zurückzuführen ist. Genaugenommen wird hier unter Jurisprudenz eher die Rechtsdogmatik verstanden und als Diskurs von der Rechtsprechung unterschieden, während in Ballwegs Auffassung die Jurisprudenz ein Dogmatik und Rechtsfindung umfassendes System darstellt. Die Erklärung dafür liegt zweifellos in der Verschiedenheit des Ansatzes: ist die Diskursepistemologie primär institutionell-sprachlich orientiert, bleibt Ballwegs Erkenntnisphilosophie handlungs-, sein kybernetisches Modell der Jurisprudenz systemorientiert. Die sowohl in der herrschenden Meinung als auch bei Ballweg anzutreffenden Teildisziplinen der allgemeinen und umfassenderen Rechtswissenschaft könnten allerdings unter gewissen Umständen mit den hier analytisch bevorzugten Teildiskursen des Rechts korrespondieren. Dies wäre der Fall, wenn die "Rechtswissenschaft" rein institutionell, d.h. nicht mit dem Anspruch auf eine wertende Stellungnahme ihres erkenntnistheoretischen Status gedeutet werden könnte, und wenn erst für die Teildisziplinen fallweise die Statusfrage gestellt würde. Praktisch käme es dann zu einer semantischen Gleichstellung der Ausdrücke "Diskurs Recht" und "Rechtswissenschaft" einerseits, "Teildiskurse des Rechts" und "Disziplinen der Rechtswissenschaft" andererseits, und dies zumindest, was jene Teildiskurse des Rechts anbelangt, die überhaupt außerhalb von Gesetzgebung und Rechtsprechung liegen. Das Insistieren auf der Unterscheidung von Teildiskursen des Rechts anstelle von Disziplinen der Rechtswissenschaft trägt der Absicht Rechnung, möglichen terminologischen Mißverständnissen zuvorzukommen, und bringt einige unübersehbare Vorteile mit sich. Zum einen trägt die Ersetzung des Oberbegriffs "Rechtswissenschaft" durch den Ausdruck "juristischer Diskurs" dazu bei, die fragwürdige Spaltung zwischen Theorie und Praxis des Rechtslebens zu überwinden. Sämtliche Teildiskurse des gesamt-juristischen Diskurses bestehen aus diskursiven Aussagen, die gleichzeitig als Ausdruck diskursiver Praktiken verstanden werden sollten. Daß Gesetzgebung und Rechtsprechung unmittelbare und daß Jurisprudenz und Rechtstheorie mittelbare praktische Folgen verursachen, vermag nicht von der Tatsache abzulenken, daß sie stets durch sprachliche Mittel sozial intervenieren. Während aber der juristische Diskurs alle diese vier Aspekte rechtlicher Aktivität umfaßt, erstreckt sich der Begriff Rechtswissenschaft nur auf die Hälfte davon. Zum anderen fuhrt die Meidung des Bezugs auf die Rechtswissenschaft und die separate Untersuchung der Diskurse der Jurisprudenz und der Rechtstheorie zu dem Ergebnis, daß die meist unfruchtbare Auseinandersetzung mit der Frage der Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft als Ganzem nicht gestellt wird, es sei denn man verstünde unter dem Oberbegriff "Rechtswissen5 Paroussis
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Π. Recht als Fachsprache und Recht als Diskurs
schaft" jegliches Wissen über das Recht, ohne den wissenschaftlichen Charakter der Erkenntnis als Selektivitätskriterium der Wissensgeltung zu erheben. Wegen der semantischen Konnotationen des Begriffs "Wissenschaft" bestünde allerdings ständig die Gefahr, den Sinn des Ausdrucks zu mißdeuten. Indem man Teildiskurse auseinanderhält, stellt sich für jeden einzelnen davon das epistemologisch unhintergehbare Problem seiner gnoseologischen Beschaffenheit, egal welche Maßstäbe man anwendet um die Wissenschaftlichkeit theoretisch zu untermauern. Würde man anstatt von Rechtswissenschaft von Rechtswissenschaftlichkeit sprechen, wären dann, den jeweils geltenden Kriterien entsprechend, Rechtsdogmatik und Rechtslogik oder Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie als Diskurse je anders zu beurteilen. Auf diese Weise vermag die Identifizierung von epistemologisch variabel veranlagten Teildiskursen zur Aufzeigung struktureller Unterschiede der Konzepte "juristischer Diskurs" und "Rechtswissenschaft" zu gelangen. Erstens, bezüglich der Rolle institutioneller Momente zur theoretischen Grundlegung der beiden Begriffe: Während Normen und Institutionen den Objektbereich der Rechtswissenschaft ausmachen, bildet ihre Produktion und jeweils verschiedenartige Operationalisierung das Kriterium der Unterscheidung der Teildiskurse des Rechts. Dadurch kommt, zweitens, die philosophisch und logisch wichtigste Prämisse der Diskrepanz zwischen den zwei Denkmodellen zum Vorschein. Die Rechtswissenschaft steht zu ihren Spezialdisziplinen in einem Verhältnis substanziell-realistischer Priorität, die die Herausbildung thematisch spezifischer Objektbereiche, namentlich der Teildisziplinen, ermöglicht. Der gesamt-juristische Diskurs stellt demgegenüber eine Abstraktion dar, da er als ideelle Oberformation seiner realen Teilbereiche in Erscheinung tritt. So wie die Institution Recht ohne ihre spezifischen Organisationsformen überhaupt nicht existieren kann, ebenso kann der juristische Diskurs ohne seine Teildiskurse nicht Gestalt annehmen. 4. Rechtssprache zwischen Umgangs- und Wissenschaftssprache Aus demselben Grund ist es für die Betrachtung des Rechts als Diskurs nicht linguistisch sondern epistemologisch von Bedeutung, die Rechtssprache im Bezug auf ihre Relation zur Umgangssprache einerseits, zur Wissenschaftssprache andererseits zu untersuchen. Brinckmanns salomonische Bezeichnung der juristischen Fachsprache als Umgangssprache der Juristen, 51 die der Rechtssprache sowohl den wissenschaftssprachlichen als auch den umgangssprachlichen Charakter aberkennt, mag auf den ersten Blick imponieren, ist aber terminologisch irreführend. Am häufigsten wird die Rechtssprache als 51 Juristische Fachsprache, 69.
§11 Stilistik der Rechtssprache und institutionelle Epistemologie
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eine Mischform der Sprache bezeichnet, die "natürliche" und "künstliche", d.h. technische Elemente vereinigt. 52 Diese Tatsache soll die Rechtssprache von anderen Fachsprachen unterscheiden, da letztere sich in weit geringerem Maße der Gemeinsprache bedienen, um ihr Objekt zu behandeln. Oft besteht jedoch die Übereinstimmung der Ausdrücke der juristischen Sprache mit denen der Alltagssprache nur der Form nach, da sie andere semantische Anwendungsregeln voraussetzt.53 Betrifft die Untersuchung der Beziehungen der Rechtssprache zur Umgangssprache hauptsächlich die Frage nach dem Adressaten des Rechtstextes und wird folglich das Kriterium der Verständlichkeit der Rechtssprache in diesem Bereich zum Maßstab erhoben, bezieht sich die Feststellung der Wissenschaftlichkeit der Rechtssprache auf das Kriterium ihres Maßes an Präzision.54 Daß die Rechtssprache von der mathematischen Logik aufgestellte semantische Präzisionskriterien nicht erfüllen kann, darf dabei kaum überraschen. Pauschale Urteile über den Status der gesamten juristischen Fachsprache sind jedoch ziemlich voreilig. Jeder Bereich des juristischen Diskurses erfüllt um so effizienter seine Aufgaben, je differenzierter seine sprachlichen Mittel entwickelt sind. Die Diskursanalyse braucht nicht eine Wissenschaftssprache als unabdingbare Voraussetzung der Ausdifferenzierung eines Wissensgebiets. Trotzdem lassen sich im juristischen Diskurs sämtliche Stratifikationen der Diskursivität verfolgen: Positivitäten, die umgangssprachlich zum Ausdruck kommen, gemischte Sprachformen nicht-wissenschaftlicher Bereiche, wissenschaftlich formierte Aussagen bis formalisierte Zeichensequenzen. Dies ist eine Tatsache, die monistischen Betrachtungsweisen allzuoft entgeht. Die Diskussion, ob die Rechtssprache eine Fachsprache, eine Wissenschaftssprache, oder einfach eine rhetorische Verdichtung der Umgangssprache zu einer sozialen Steuerungssprache55 ist, sollte stattdessen lieber in bezug auf die variierende Beschaffenheit der multiplen juristischen Teildiskurse nuanciert werden. 52 Gizbert-Studnicki, Rechtssprache, 70. 53 Oksaar, Alltagssprache, 223. 54 Schmidt, Präzision, 392, definiert den Begriff wie folgt: "'Präzision' ist eine Forderung an die Semantik der Sprache, die darauf hinausläuft, im Sprachgebrauch die Vagheiten, Mehrdeutigkeiten und Inkonsistenzen von Prädikaten einer Sprache auszumerzen". Näheres darüber siehe infra §23. 55 So, an Parsons und Luhmann anknüpfend, Ballweg, Analytische Rhetorik, 231, sowie Rhetorik und Vertrauen, 35. Seiner Ansicht nach konstituieren das Recht, die Ökonomie, die Moral, die Politik, die Geschichte, die Gesellschaft, die Kunst, die Philosophie, die Religion, die Humaniora und der Alltag Sprachsysteme rhetorischen Charakters, im Sinne von sozialen Steuerungssprachen, die "das aus der Umgangssprache gefilterte Vokabular, dessen wir uns bedienen (müssen)", stellen. Die erwähnten Wissensbereiche sind allerdings nicht ohne weiteres als Diskurse zu betrachten. Vielmehr nehmen sie die Position eines allgemeinen Referential ein (dazu s. infra §14.1), auf das sich die diskursiven Aussagen jeweils beziehen können. In dieser Hinsicht wäre es richtiger, statt unausdifferenziert von Recht zu sprechen, den Terminus Gerechtigkeit als rhetorischen Referenzpunkt und Leitidee der sozialen Sprachsteuerung anzusehen.
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Π. Recht als Fachsprache und Recht als Diskurs
Festzuhalten bleibt auf der Ebene des Rechts als Text, daß der juristische Diskurs die unter dem epistemologischen Gesichtspunkt zu treffende Erscheinungsweise des Rechts ist. Dabei spielen linguistische Kriterien für die Unterscheidung von Teilbereichen keine konstitutive, sondern eine konstatierende Rolle. Unter sprachtheoretischen Aspekten mag das Recht eine Fachsprache sein, das Modell des juristischen Diskurses wäre allerdings mit dem Konzept des Rechts als Fachsprache nicht gleichzusetzen. Der juristische Diskurs kann in mehrere Teilbereiche untergliedert werden, die mit der institutionell-organisatorischen Ausdifferenzierung von Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung, Rechtsdogmatik und Rechtstheorie zusammenhängen.56 Wie sich jeder Teilbereich konkret zusammensetzt, kann nun im Rahmen der Analyse der diskursiven Aussagen und der diskursiven Begriffe näher erläutert werden.
56 Es sollte an dieser Stelle wiederholt werden, daß die hier vertretene These, Recht entfalte sich in Institutionen, d.h. in empirisch wahrnehmbaren Organisationsformen als seinen phänomenologischen Determinanten, nicht der irrigen Ansicht Vorschub leisten dürfte, die Diskurstheorie sei eine Variante der Wissensschaftssoziologie. Ebensowenig korreliert sie mit MacCormicks/Weinbergers Institutionalistischem Rechtspositivismus, vor allem in: Grundlagen, passim, da diese Theorie von durchaus unterschiedlichen Prämissen die Problematik des Rechts betrachtet. Zum einen, wird dort der Begriff "Institution" nicht mit der faktischen Funktionsweise, sondern mit den verschiedenen Instituten des Rechts, wie die Ehe, der Vertrag, das Eigentum usw. gleichgestellt. Zum anderen wird infolgedessen die Rolle der Normen zur Strukturierung von Institutionen untersucht, die ihrerseits das Verhältnis zwischen den handelnden Personen und den wahrnehmbaren Tatsachen informationell bestimmen.
m . Juristische Äußerungen als diskursive Aussagen
§12 Metatheoretische Auffassungen des Rechtssatzes Nachdem bereits der juristische Diskurs auf der Textebene dem Modell des Rechts als Fachsprache gegenübergestellt wurde, sollte es nun versucht werden, auf der Satzebene syntagmatische Spracheinheiten als juristisch relevante geordnete Zeichensequenzen festzusetzen. Dies bedeutet, daß jegliche juristische Äußerung formal eine linguistische Performanz darstellt, der ein Sinn nur dann zugeschrieben werden kann, wenn sie elementaren grammatischen und syntaktischen Formationsregeln als Ordnungsprinzipien genügt. Was jedoch eine beliebige Äußerung zu einer Aussage des juristischen Diskurses erhebt, kann nicht einfach in der schlichten Befolgung sprachbildender Regeln zu suchen sein. Ansätze zur Lösung des Problems der Natur juristischer Aussagen sind in der Literatur nicht selten. Zum einen sind sie in der rechtsmethodologischen Lehre vom Rechtssatz zu lokalisieren, und dies trotz einer relativen Enge der Betrachtungsperspektive wegen der Gleichsetzung des Rechtssatzes mit dem Text einer Norm. Zum anderen stellt es heute in der Rechtstheorie eine weit befolgte Gepflogenheit dar, Rechtssätze entweder als Propositionen im Rahmen der juristischen Logik oder als Sprechakte im Lichte der analytischen Philosophie zu untersuchen. Indem hier davon ausgegangen wird, daß juristisch-diskursive Aussagen viel breiter als nur gesetzliche Tatbestände aufzufassen sind, wird im weiteren der Versuch unternommen klarzustellen, daß juristische Aussagen als geordnete Zeichensequenzen nicht deswegen existieren können, weil sie als Sätze grammatikalisch-syntaktisch richtig sind oder weil sie als Propositionen deduktiv operationalisierbar sind oder aber weil sie als Sprechakte performative Folgen hervorrufen, oder weil sie schließlich als Formulierungen das Vorhandensein eines Willens sichtbar machen. Juristische Aussagen bilden immer eine Untermenge aller möglichen Sätze, Propositionen, Sprechakte oder Formulierungen, Uwe Zugehörigkeit zu diesen parallel verlaufenden, weil von verschiedenen Erfassungsinstanzen kreierten Klassifikationen bildet allerdings eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung zur Erlangung des Status der Diskursivität. Letztere interveniert als eine
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. Juristische Äußerungen als diskursive Aussagen
epistemische Funktion in die Struktur der Zeichensequenz, eine Funktion, die im Koordinatenfeld institutioneller Praktiken zusammengeschmiedet wird. Wie soeben erwähnt hat in der juristischen Methodenlehre stets eine ausführliche Beschäftigung mit der Problematik des Rechtssatzes stattgefunden. Daß der Begriff "Rechtssatz" aber nicht mit dem Ausdruck "rechtlicher Satz" gleichzustellen ist, leuchtet jedem der juristischen Methodik Kundigen ein. Der "Rechtssatz" signalisiert üblicherweise den Normtext, der in der Gestalt des grammatikalischen Satzes formal in Erscheinung tritt. 1 "Die Regel des Rechts hat die sprachliche Form eines Satzes, des 'Rechtssatzes'" notiert Larenz,2 der im weiteren Rechtssätze von Aussagesätzen sowie von Sätzen, die Aussagen über Rechtsnormen enthalten, auseinanderzuhalten pflegt. Ist bei Müller der Rechtssatz mit dem amtlichen Wortlaut des Gesetzes, dem Normtext identisch,3 bildet er bei Fikentscher, der die Synonymie zwischen Gesetz und Rechtssatz bestreitet, die sprachliche Form der in seiner Rechtsquellenlehre entwickelten "Fallnorm". 4 Über die Bestandteile eines auf diese Weise verstandenen Rechtssatzes herrscht ebenfalls kaum Dissens. Die darin stattfindende Verknüpfung zwischen Tatbestand und Rechtsfolge 5 veranlaßt Podlech, den Rechtssatz als "eine rechtliche Bestimmung, durch die eine Menge von Voraussetzungen beschrieben wird und die rechtlich anordnet, daß bei Vorliegen der Voraussetzungen eine bestimmte Rechtsfolge eintreten soll", zu definieren.6 Daß der Sinn des Begriffs "Rechtssatz" nicht zwingend derjenige sein sollte, den sein Gebrauch etabliert hat, belegt unter anderem die von Kelsen vertretene Position bezüglich der Unterscheidung zwischen Rechtsnorm als Ausdruck der Funktion der Rechtsautorität, und Rechtssatz als Ausdruck der Funktion der Rechtserkenntnis.7 Rechtssätze übernehmen bei Kelsen die einer normativ intervenierenden Rechtswissenschaft zustehende Funktion der Festlegung der Beziehungen zwischen den Normen einerseits, der Verknüpfung von Tatbeständen und Rechtsfolgen andererseits. Die sprachliche Form, in der die Rechtsnormen erscheinen, tritt jedenfalls, von einem funktionellen Standpunkt aus betrachtet, hinter dem im Grunde entscheidenden Akt der Regelung zurück. Der sprachlichen Form gebührt im Sinne Kelsens eine vor1 In diesem Sinne schon Merkel, Juristische Enzyklopädie, § 12. 2 Methodenlehre, 240. 3 Juristische Methodik, 27; dies ganz abgesehen von der grundsätzlichen Müllerschen Unterscheidung zwischen Norm und Normtext, die seine Lehre von der Normstruktur prägt. 4 Methoden IV, 166, 202ff., 270. 5 Dabei handelt es von den sog. vollständigen Rechtssätzen und nicht von erläuternden, einschränkenden oder verweisenden Rechtssätzen; näheres dazu bei Larenz, Methodenlehre, 240ff., 247ff. 6 Fachsprache, 172. 7 Kelsen, Reine Rechtslehre, 73f.; vgl. auch ders., Allgemeine Theorie der Normen, 124.
§12 Metatheoretische Auffassungen des Rechtssatzes
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herrschende Stellung eher bei den beschreibenden Charakter besitzenden rechtswissenschaftlichen Rechtssätzen, d.h. den Sätzen über die Normen, deren Wortlaut äußerlich den Wortlaut einer gegebenen Norm wiederholen kann.8 Die Frage der Wortlautsidentität oder -differenz zweier Aussagen kann für die Erörterung der Problematik der diskursiven Aussage von besonderer Bedeutung sein. Stellt man sich den sprachlich korrekten Satz "Die Würde des Menschen ist unantastbar" vor jeweils im Kontext des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG) oder einer Festrede des Bundespräsidenten anläßlich eines Nationalfeiertages oder einer Preisverleihung,9 ergibt sich die Aporie der Zuordnung des gleichlautenden Satzes an zwei unterschiedlich strukturierten diskursiven Formationen, die jedes Mal andere Bedingungen der Artikulation der in Frage kommenden Zeichensequenz repräsentieren. Man hätte zugeben sollen, daß die Anwendung dieses Satzes zu jeweils verschiedenen Zwecken stattfindet, verschiedenen Sprecherpositionen entspricht, unterschiedliche Assoziationen und Vorverständnisse voraussetzt und epistemisch differenzierte Ergebnisse hervorruft. Der gleiche Satz würde dann diskurstheoretisch betrachtet zwei verschiedenen Diskursen zugehören, ohne daß dadurch seine grammatikalische oder syntaktische Richtigkeit, seine illokutionäre Performanz oder seine logisch-propositionale Brauchbarkeit berührt wären. Dabei ist bewußt von Brauchbarkeit und nicht von Wahrheitsfunktion die Rede, da es umstritten bleibt, ob Normen adäquater im Rahmen der klassischen Aussagenlogik sowie eines modernen prädikatenlogischen Kalküls oder im Rahmen einer (jedenfalls noch endgültig zu formulierenden) spezifischen Normenlogik und speziell des deontischen Kalküls logisch untersucht werden sollten.10 Würde man vom zweiten Fall ausgehen, könnte man an der hier 8 Auf eine Unterscheidung zwischen Rechtsnorm und Rechtssatz im Sinne Bindings (vgl. vor allem: Die Norm und ihre Übertretung, Bd. I, 21890), greift Giannidis, Theorie der Rechtsnorm, 12ff., 18ff., 29ff., zurück. Danach werden Rechtssätze als eine syntaktisch (als bedingte Sätze) und semantisch (als Sätze, deren normativer Teil eine Sanktion und keine Verhaltensregel ist) abzugrenzende Sub-Einheit einer auch die Rechtsnormen umfassenden rechtlichen SatzartEinheit betrachtet. Während Kelsens Wortgebrauch auf den epistemischen Status der Aussagen Bezug nimmt, erfolgt Bindings semantische Differenzierung im Interesse der dogmatischen Begründung der Strafrechtsnorm im Rahmen seiner Kritik an der Imperativentheorie. Daher mag die bei Kelsen anzutreffende Abkopplung des Rechtssatzes von seiner immanenten Normativität ergiebiger für die Etablierung einer Phänomenologie der juristisch-diskursiven Sätze sein. 9 In Frage kämen ebenso als kontextuale Rahmen eine während einer Messe gehaltene Predigt, ein Fernseh- oder Zeitungskommentar oder das Vorkommen des Satzes in einem literarischen Werk, um nur einige Beispiele zu nennen. 1° Es mag hier dahingestellt bleiben ob die deontische Logik eine Existenzberechtigung neben der klassischen Logik verdient. Der Hinweis von Tammelo/Schreiner, Grundzüge, 9, daß indikative und nicht-indikative Logik die gleiche Grundstruktur aufweisen, vermag eine Mittelposition zwischen den Verfechtern der Sonderstellung der deontischen Logik in bezug auf die
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. Juristische Äußerungen als diskursive Aussagen
vertretenen Position aussetzen,es bestünde nicht nur eine diskursive Differenz zwischen einer juristischen und einer politischen Aussage, sondern auch eine logische Differenz, da die Wahrheit der politischen Aussage und die Gültigkeit des normativen Satzes den jeweils relevanten Punkt ausmachen würden. Dem ist allerdings durch folgende Bemerkung zu begegnen: der Gebrauch der Prädikate "politisch" und "normativ" setzt stets voraus, daß man Verfahren zur Feststellung der Normativität einer Äußerung bereithält. Im konkreten Beispiel sollte der Nachweis erbracht werden, der äußerlich wie eine indikative Aussage aussehende Satz "Die Würde des Menschen ist unantastbar" stelle im Falle seiner Anwendung im Grundgesetz nichts anderes als eine variable Formulierung der Phrasen "Die Würde des Menschen soll unantastbar sein" oder "Es ist geboten, die Würde des Menschen unantastbar zu halten" oder schließlich aber nicht abschließend "Es ist verboten, die Würde des Menschen anzutasten" dar. Um den logisch relevanten Unterschied zwischen jenen Aussagen, die primär wahrheitsbezogen und jenen Aussagen, die primär geltungsbezogen sein sollen, durchführen zu können, hat demnach der diskursive Status der Aussage im voraus festzustehen. Dies ist aber genau die Aufgabe der institutionellen Diskurstheorie. §13 Formale und materielle Aspekte der Klassifikation diskursiver Aussagen Bis jetzt wurde davon ausgegangen, daß die Diskursivität einer Aussage als zusätzlicher Aspekt letzterer neben ihrer sprachbezogenen Korrektheit, ihrer logischen Operationalisierungstauglichkeit oder ihrer sprechakttheoretischen Bedeutungsrelevanz fungieren könnte. Die grammatikalische oder syntaktische Richtigkeit scheint dabei die Funktion der sinnstiftenden Schwelle zu übernehmen, deren Betreten alle übrigen Qualifikationen der Aussage erst möglich macht. Während diese Annahme für die Logik oder die Sprechakttheorie zutrifft, ist sie für die Identifizierung einer diskursiven Aussage zwar von einiger, nicht jedoch von erheblicher Bedeutung. Eine diskursive Aussage kann nämlich aus mehreren Sätzen zusammengesetzt sein oder aber überhaupt nicht die Züge eines typischen Satzes aufweisen. In dieser Hinsicht kann man annehmen, daß die nachfolgende Nebeneinanderreihung von Begriffen den Kriterien eines Philologen, den Anklassische formale Aussagen- und Prädikatenlogik und den Anwendern letzterer auf juristische Aussagen einzunehmen. Zur deontischen Logik vgl. die Beiträge in: H. Lenk (Hrsg.), Normenlogik, 1974, sowie Weinberger, Rechtslogik. Zur Gegenposition vgl. Klug, Juristische Logik, und besonders Rödig, Schriften zur juristischen Logik, 107ff., 148ff., 169ff., 185ff., sowie ders., Erkenntnisverfahren, 254ff. Einen Überblick zur Problematik und weitere Literatur liefern Herberger/Simon, Wissenschaftstheorie, 179ff. ; Neumann, Juristische Logik, 262ff.
§1
e e der
a i o n diskursiver Aussagen
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sprächen eines Logikers oder den Klassifikationen illokutionärer Akte eines Sprachtheoretikers kaum hätte genügen können:11 1. Vorabentscheidungsverfahren - Zuständigkeit des Gerichtshofes - Grenzen - Ermittlung des Gegenstands der Frage (EWG-Vertrag, Artikel 177) 2. Freizügigkeit- Niederlassungsfreiheit - Richtlinien 68/363 und 68/364 - Einzelhandel - Unanwendbarkeit außerhalb des Zusammenhangs der Niederlassungsfreiheit (EWG-Vertrag, Artikel 52; Richtlinien 68/363 und 68/364 des Rates)
Trotzdem bilden diese zwei Zeichensequenzen für einen Juristen eine durchaus sinnvolle Aussage, da er in dem hier aufgeführten Beispiel die Leitsätze eines Gerichtsurteils wiedererkennen kann. Juristische diskursive Aussagen werden wohl in der Regel die äußere Form eines Satzes nehmen, die sprachliche Formgebundenheit wäre jedoch nicht als ihr strukturierender Bestandteil zu verstehen. Falls es auf eine Formgebundenheit überhaupt ankommt, handelt es dann um eine solche, die nicht linguistisch sondern juristisch präskribiert wird. Auf diesem Weg werden die notwendigen Elemente der Aussage selegiert, ihre Reihenfolge festgesetzt, die Folgen eines eventuellen Fehlens erforderlicher Angaben oder einer fehlerhaften Artikulation der Aussage im voraus bestimmt. Man denke dabei an die Ausgestaltung der verschiedenen Seiten eines Grundbuchblattes, um hier nur ein Beispiel zu nennen. Die von der Grundbuchverfügung 12 minutiös vorgesehene Eintragung von Worten und Zahlen als Daten in horizontaler und vertikaler Ordnung ist über das Maß der Normierung der Gestalt einer linguistisch kaum geprägten, dafür aber um so mehr fachlich-diskursiv normierten Aussage besonders aufschlußreich.13 Kann demnach die diskursive Aussage die Form einer Begriffskette, einer Liste, eines oder mehrerer Sätze annehmen, ohne daß sie dadurch in ihrer Substanz berührt werde, wird auch ersichtlich, daß sie mehrere Aspekte der juristischen Praktiken umfaßt als der sich mit dem Normtext identifizierende Ausdruck M Rechtssatz Sind also rechtliche Aussagen nicht homogen, sondern aus dem gesamten Spektrum juristischer Praxis und Gelehrsamkeit zu erfassen, stellt sich das Problem der Aufstellung derjenigen Kriterien, die die Anerkennung eines gegebenen Satzes als juristisch diskursiver Aussage rechtfertigen würden.
11
EuGH, 8.12.1987, Ministère public gegen André Gauchard, 20/87, Slg. 1987, 4879. Allgemeine Verfügung über die Einrichtung und Führung des Gnindbuchs (Grundbuchverfügung) vom 8. August 1935 (RMB1. S. 637), abgedr. in: Horber/Demharter, Grundbuchordnung, 715ff.; vgl. da bes. die §§4-21 und das im § 22 vorgesehene Muster eines Grundbuchblattes als Anlage 1 (ebd. 747ff.). 13 Dasselbe gilt auch für die formalisierte Sprache des logischen Kalküls. Jede Zeichensequenz bildet dort eine autonome Aussage, die diskursiv sinnvoll und bestimmbar ist. Voraussetzung für die diskursive Verbindlichkeit wäre hier bei ausscheidender authentischer Normierung die Übereinkunft darüber, welche Zeichen welche Operationen symbolisieren sollen. 12
74
. Juristische Äußerungen als diskursive Aussagen
Als ein weitreichender Versuch, den Aufbau rechtlicher Aussagen strukturell zu erhellen, können in dieser Hinsicht Schmidts14 Ausführungen über die Funktionen der Rechtssprache betrachtet werden. Schmidt unterscheidet zwischen drei verschiedenen Typen rechtlicher Aussagen (RAT 1-3), die die Aufteilung der gesamten Rechtssprache in drei Teilsprachen fundieren mögen. Von den seinerseits gewählten Beispielen seien hier einige wiederaufgegriffen. Folgende Sätze wären demnach nach Schmidt RATI unterzuordnen: 15 (a) "Wenn Karl dem Franz beim Verkauf erzählt, daß sein 150000 km gelaufener VW erst 50000 km gelaufen sei, so handelt er schuftig, denn Franz ist doch sein Freund". (Diskussion unter Bürgern). (b) "Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, dieselbe sich rechtswidrig zuzueignen, wird wegen Diebstahls mit Gefängnis bestraft. (§242 StGB a.F.). (c) "Der Angeklagte wird deshalb, weil er die Schulze gehörende Taschenuhr nach dem Fund unterschlagen hat, mit 200 DM Geldstrafe bestraft". (Möglicher Inhalt eines Urteils). (d) "Für das Unrecht der Tat ist es unerheblich, ob ein Kind von 9 Jahren als Geschädigter in die Begehung der Tat eingewilligt hat". (Schönke-Schröder, StGB 13. Auflage, Vorbem. 35 vor § 51).
RAT2 umfasse seinerseits Aussagen folgenden Inhaltes: (e) "Das subjektive Recht ist eine dem Berechtigten eingeräumte Willensmacht zum Schutz eines rechtlich anerkannten Interesses" (Enneccerus-Nipperdey, Allg. Teil 15. Bearb., § 72.).
Unter RAT3 fiele schließlich der oben bereits diskutierte Satz: (f) "Die Würde des Menschen ist unantastbar". (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG).
Die Sätze des Typs 1 (a)-(d) brächten zum Ausdruck eine unmittelbare Reaktion des Rechtes auf einen Sachverhalt oder allgemeiner die Würdigung eines Ereignisses durch das Recht. Der Satz (e) bilde ein Beispiel für eine abstrakt gefaßte aber noch objektsprachliche Aussage über die Sätze des Typs 1. Satz (f) stünde zuletzt repräsentativ für die RAT3-Aussagen als Formulierungen allgemeiner Prinzipien. Die sich dadurch ergebende Aufteilung der Rechtssprache in drei Teilsprachen erfahrt ihre Begründung allerdings auf der intuitiven Beobachtung, daß den Prädikaten jeder Teilsprache "ein stetig abfallendes Maß an Präzision" 16 zukomme. Mit den jeweils von den Teilsprachen verfolgten Zwecken werden dann entsprechende Präzisionserfordernisse verknüpft, an denen es schließlich 14 Präzision, 398ff. 15 Reihenfolge hier modifiziert. Die in Klammern gesetzten Verweise stammen von Schmidt, ebd. 16 Schmidt, ebd., 400.
§1
e e der
a i o n diskursiver Aussagen
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den Wissenschaftlichkeitsgrad der Rechtssprache zu messen gilt. Diese wissenschaftstheoretische Fragestellung Schmidts geht ganz gewiß von einem Verständnis der "rechtlichen Aussage" aus, das die extensionalen Grenzen des Ausdrucks "Rechtssatz" weit überspringt. Abgesehen vom Beispiel (a), das eine hypothetische Diskussion unter Bürgern wiedergibt, und auf das im weiteren näher einzugehen sein wird, repräsentieren die übrigen Beispiele Aussagen aus den Bereichen der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und der Rechtsdogmatik. Rechtstheoretische Sätze bleiben ausgeklammert, da sie als metasprachliche Aussagen anderen Präzisionserfordernissen zu genügen hätten. Es mag hier dahingestellt bleiben ob die Würdigung eines Ereignisses den Inbegriff und den Mittelpunkt juristischer Sprachaktivität ausmacht, oder ob Vagheit, Mehrdeutigkeit und Inkonsistenz der Prädikate von RATI bis RAT3 in zunehmender Dichte vorkommen, um dadurch zu Kriterien der Unterscheidung rechtlicher Aussagen zu avancieren. Linguistisch gesehen könnte diese Hypothese verifiziert oder falsifiziert werden, trotzdem bliebe sie die Bekanntgabe derjenigen Erfordernisse schuldig, die überhaupt und erst die Aufnahme eines Satzes in die Klassifikation rechtlicher Aussagen ermöglichen. Genauso wie es im Bereich der Rechtslogik vom Belang ist, die normative Konsistenz einer Proposition im voraus, d.h. nicht mit Mitteln der Rechtslogik selbst, konstatiert zu haben, um dann von Rechtslogik sprechen zu dürfen, genauso ist es bei der wissenschaftstheoretischen Suche nach Präzisionsgraden der rechtlichen Aussagen von fundamentaler Bedeutung, von vornherein juristische und nicht-juristische Äußerungen auseinanderhalten zu können. Auf die konkreten Beispiele Schmidts bezogen, taucht die Frage auf, wodurch sich der Satz des Beispiels (a) die Legitimation verschafft, als rechtliche Aussage fungieren zu können. Es handelt sich dabei um eine Diskussion unter Laien, in der die Teilnehmer auf das Verhalten einer dritten Person kritisch Bezug nehmen und es mit nicht genuin juristischen Wertprädikaten versehen. Es ist zwar hier die Würdigung eines Verhaltens, die die Formulierung eines Werturteils als Reaktion auf ein Ereignis zur Folge hat, zu beobachten, dies vermag allerdings nicht im Rahmen institutionell anerkannter Instanzen, in denen das Recht stukturiert und artikuliert wird, zu geschehen. Hält man an diesem letzten Gesichtspunkt fest, würden dann die in Schmidts Position verschiedenen Rechtsaussagetypen zugeordneten Sätze (b) und (f) zum einen, (d) und (e) zum zweiten und schließlich der Satz (c) (bei Schmidt in Beziehung zu (a), (b) und (d) gesetzt) als Beispiele für drei variable diskursive Satztypen dastehen. Während es für Satz (a) in diesem alternativen Klassifikationssystem keinen Platz geben würde, wären die Sätze (b) und (f) als Momente legislatorischer Aktivität, die Sätze (d) und (e) als Ausdrücke jurisprudentieller Betätigung und der Satz (c) als Produkt judizieller Auseinandersetzung mit einem gegebenen Sachverhalt anzusehen sein. Dadurch versetzen sich die erwähnten
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Aussagen von der linguistischen Dimension, im Lichte derer sie unter dem Aspekt sprachtheoretischer Präzisionskriterien untersucht werden könnten, in die institutionell-epistemologische Dimension, in derer Methodik sie den Status eines historischen, empirisch feststellbaren sprachlichen Geschehens erlangen, das als Resultante funktionaler Prämissen und als Bestandteil eines Diskurses evaluiert werden kann. Hat man dadurch im Rahmen des möglichen die grundsätzlich juristisch relevanten von den grundsätzlich juristisch irrelevanten Aussagen getrennt, kann man folglich für die jeweils zusammengehörenden diskursiven Aussagen, aber adäquat nur für diese, methodisch akzeptierte Präzisionserfordernisse je nach Informationszweck des in Frage kommenden Diskurses aufstellen. In dieser Hinsicht verlaufen die Wege einer diskursiven und einer linguistischen (oder auch logischen) Analyse nicht einfach formal parallel zueinander. Der diskursiven Analytik kommt vielmehr die Position einer materiellen Vorbedingung zu, die variabel angelegten Forschungsrichtungen als Grundlage dient und sie ermöglicht. §14 Die Ebenen der Formation rechtsdiskursiver Aussagen Soeben wurde von "grundsätzlich juristisch relevanten Aussagen" gesprochen, und zwar in einem Kontext, in dem die Wiedergabe einer von Laien getroffenen Verhaltenswürdigung als eine rechtlich irrelevante Äußerung bezeichnet wurde. Nachdem anfangs die formale Gestalt einer diskursiven Aussage anhand ihrer Relation zu grammatikalischen Sätzen und logischen Propositionen präzisiert wurde, ist es nun folgerichtig, die pragmatischen Voraussetzungen der Diskursivität, d.h. die Problematik der rechtlichen Relevanz eines Satzes unter die Lupe zu nehmen. In gewisser Hinsicht werden zu diesem Zweck die Erörterungen Foucaults bezüglich der Aussagefunktion herangezogen,17 dabei jedoch in dreierlei Hinsicht modifiziert und den Eigentümlichkeiten juristischer Praktiken angepaßt. Zum einen werden sie ihres allgemeinen Charakters entledigt und ausschließlich zur Beschreibung juristischer Aussagen verwandt; zum anderen unterliegen sie einer Perspektivenverzerrung, da es hier nicht um die archäologische Betrachtung diskursiver Regularitäten eines abgeschlossenen Wissenssystems, sondern um die Etablierung von phänomenologisch-epistemischen Kriterien zum Zwecke der Klassifikation einer offenen Anzahl von Aussagen bestimmter Provenienz geht. Die wissenschaftshistorische rückt dabei hinter die wissenschaftsdiagnostische Aufgabenstellung zurück. Zum dritten verlagert sich der Bezugspunkt des Forschungsplans. Während es Foucaults Forschungsstrategie in den späten sechziger Jahren gewesen ist, die Diskursregularitäten auf ein implizites allgemeines System zurückzuführen, und dies in einer - wenn auch keine Universalitätsansprüche er17 Vor allem aus: Archäologie, 128ff. (116fl), 154ff. (139ff).
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hebenden, doch nach außen strukturalistisch anmutenden - Archäologie, die sich dem Konzept des autonomen Diskurses18 verpflichtet wußte, wird hier von einem Begriff des juristischen Diskurses ausgegangen, der durch positive Normen oder konventionale soziale Praktiken reglementiert und institutionalisiert wird. Diese Option tangiert allerdings nicht die Rekursmöglichkeit auf Foucaults Ausarbeitung derjenigen Anhaltspunkte, die die Identifizierung einer diskursiven Aussage betreffen. Was im weiteren an dieser Stelle vorweggenommen werden sollte, wäre die Konkretisierung des eingangs benutzten Ausdrucks "pragmatische Voraussetzungen der Diskursivität". Den pragmatischen Bezug einer Zeichensequenz zur Wirklichkeit soll in der Diskurstheorie nicht die semiotisch geprägte Relation zwischen Sprecher und Zeichen liefern, sondern die reale Zuschreibung einer gegebenen Aussage zu einem Bereich institutionalisierter interpersonaler juristischer Aktivität. Der Begriff der Institutionalisierung findet währenddessen auch im Rahmen der sprachanalytischen Argumentationstheorie (als Gegenpol zu einer rhetorischen oder topischen Argumentationstheorie) Anwendung, obwohl dort die Pragmatik lediglich als eine semiotische Komponente auftaucht. Als Institutionalisierung der Dogmatik betrachtet in dieser Hinsicht Alexy 19 "die Ausdehnung der juristischen Diskussion in der zeitlichen, sachlichen und personellen Dimension". Wenn er das Problem der Zugehörigkeit eines gegebenen Satzes zur Rechtsdogmatik als pragmatische Frage anschneidet, entscheidet er es dahingehend, daß der Satz "im Rahmen einer institutionell betriebenen Rechtswissenschaft aufgestellt, akzeptiert oder zumindest diskutiert" werden sollte.20 Seine Argumentation ist insoweit folgerichtig, als er die Dogmatik gemäß den sprachanalytischen Prämissen seiner Theorie als eine Klasse von Sätzen definiert oder als Zusammenhang von Sätzen und nicht von "Tätigkeiten" untersucht.21 Im Ergebnis vermag ihn jedoch die Einbeziehung institutioneller Momente in die Identifikationsstrategie dogmatischer Aussagen kaum von der resignativen Feststellung abzuhalten, es bliebe weitgehend "von den faktisch vorhandenen Überzeugungen der Rechtswissenschaftler abhängig, ob ein Satz als dogmatisch anerkannt" werde oder nicht. 22 Genau solch einer Aporie zuvorzukommen, versucht die nicht dialogisch (weil nicht primär subjekt-zentriert) angelegte vorliegende Diskurskonzeption.
18 Eingehend dazu und mit kritischer Stellungnahme Dreyfus/Rabinow, Foucault, 119ff., 134ff. Es ist allerdings zu notieren, daß sich Foucault im weiteren Verlauf seiner Untersuchungen immer mehr dem Verhältnis zwischen sozialen Praktiken und diskursiven Formationen zugewandt hat. 19 Theorie, 328. 20 Ebd., 317. 21 Ebd., 312, 314. 22 Ebd., 318.
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Die diskurstheoretische Betrachtungsweise beruft sich ebenfalls auf den institutionellen Wissenschafts- oder Praxisbetrieb, sie kann sich allerdings nicht auf die Pragmatik als Bedeutungsdimension reduzieren lassen. Wenn hier die Rede von einem institutionalisierten Diskurs ist, dann wird darunter stets eine Synthese von Aussagen und sie konstituierenden Praktiken, also ein Zusammenhang von Sätzen und Handlungen gemeint. Die Aufstellung von Regeln zur Bestimmung der logischen (Folge)-Richtigkeit der Aussagen, und damit die Relevanz der Bedeutung, kommt dabei überhaupt nicht in Betracht. Andererseits ist es der hier präsentierten Position ebenso fremd, aus dem Potential einer als universal postulierten Vernunft pragmatische Gebrauchsregeln für diskursive Aussagen zu entwerfen. Vielmehr handelt es sich um die Feststellung herauskristallisierter institutionell bedingter Regelmäßigkeiten kognitionsbezogener Handlungen.23 Solange deshalb von dem Gedanken ausgegangen wird, einer gegebenen Phrase käme ein erfahrbarer diskursiver Status zu, kann die Pragmatik im folgenden spezifischen Zusammenhang Geltung erlangen: wenn ein Gesetz, ein Urteil oder ein Bescheid, eine dogmatische Abhandlung und eine rechtstheoretische Untersuchung vier Modelltypen rechtlicher Textualität darstellen, bedeutet dies, und es wurde bereits mehrmals erwähnt, daß diesen Texten die zweckgebundenen Institutionen Gesetzgebung, Rechtsprechung, Verwaltung, Jurisprudenz und Rechtstheorie, in jeweils verschiedenen organisatorischen Formen24 zugrundeliegen. Es sind diese empirisch feststellbaren und intern ständig wandelbaren sozialen Betätigungsfelder, 25 die die Existenzbedingungen aller Arten juristischer Aussagen im voraus bestimmen und dadurch die Produktion von Diskursen ermöglichen. Dies geschieht erstens, weil sie als soziale Praktiken die Stellung des Referentialniveaus bei der Formation der Gegenstände, die der juristischen Rationalität obliegen, einnehmen (1). Zweitens, weil sie durch ihre pragmatische interne Strukturierung die Formation der zur Formulierung der diskursiven Aussagen benötigten subjektiven Posi23 In dieser Hinsicht wäre dem von Ballweg, Analytische Rhetorik, 229, sowie Rhetorik und Vertrauen, 35, bevorzugten Wortgebrauch beizupflichten, wenn er anstelle des Begriffs "Rationalität" den Ausdruck "Regelhaftigkeit" anwendet. Vorbedingung dafür bleibt allerdings, daß man die Rationalität analytisch nicht mehr als apriorische Erkenntnisgrundlage, sondern als die jedem konkreten Wissensbereich innewohnende Denkweise, im Sinne eines differenzierbaren modus recipiendi und cognoscendi, auffaßt. 24 Da Lehre und Forschung abgesehen von der Errichtung spezialisierter Forschungsinstitute, institutionell meistens verbunden sind, können sie, organisatorisch betrachtet, nicht immer auseinandergehalten werden; trotzdem ist ihre verschiedenartige Zweckgebundenheit manifest. Zur Verflechtung zweckgebundener sozialer Institutionen mit ihren organisatorischen Realisierungsformen s. Steger, Institutionensprachen, Sp. 125 m.w.L. 25 Die externe Wandelbarkeit, d.h. die Formation neuer Relationen zwischen den Institutionen spielt bei einer mikro-analytischen Forschungseinstellung keine ausschlaggebende Rolle, da sie sich in Rhythmen vollzieht, die nur bei einer rekursiven makro-analytischen Untersuchung nachvollziehbar wären.
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tionen konditionieren (2). Drittens, weil sie als das Assoziationsfeld, in dem die Formation juristischer Begriffe stattfindet, fungieren (3). Und viertens, weil sie die Basis für die Materialität der Aussagen durch die Formation einer diskursstrategischen Wahl bilden (4). Erst die Verbindung der vier institutionell bedingten Erscheinungsebenen der Aussage, nämlich von Referential, Forenbildung, Assoziationsfeld und epistemischer Konjunktur, mit den vier diskurstheoretisch bedingten Formationsmomenten der Aussage, nämlich der Formation von spezifischen Gegenständen, von Subjektpositionen, von Begriffen und von Erkenntnisstrategien, führt zur Identifizierung einer diskursiven Aussage. Wie sich die institutionellen Erscheinungsebenen und die diskurstheoretischen Formationsmomente bei der Bildung der variablen rechtlich relevanten Aussagearten zusammenschließen, wäre nun in extenso aufzuzeigen. 1. Die Formation der Gegenstände im Referential Die Formation der Gegenstände gehorcht auf dem Referentialniveau einer internen Zweckmäßigkeit, die von der sozialen Funktion der jeweils in Frage kommenden Institution, so wie sie sich durch positive Regulation oder durch konventionale Tradition ausgestaltet hat, diktiert wird. Fungieren die Verhaltensregelung, der Gesetzesvollzug, die Konfliktlösung, die Darstellung des materiellen und formellen Rechts einerseits, die Erforschung der Bedingungen, Ausdrucksformen und Zwecke der genannten Bereiche andererseits als Hauptziele von Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung, Jurisprudenz und Rechtstheorie, umreißen sie gleichzeitig das Feld der Interventionsgrenzen einer Aussage, die im Rahmen einer der erwähnten juristischen Betätigungsebenen formuliert wird. Das Referential erlangt somit eine herausragende Position bei der Bestimmung der Diskursivität, weil es primär auf die funktionellen Aspekte eines genuin praktisch orientierten Mechanismus wie dem Recht hinweist. Als Erfüllung von Funktionen ist die Entsprechung zum Referential deswegen in den Strukturen des juristischen Diskurses weit verzweigt. Angenommen die vier Hauptkoeffizienten der Institution Recht seien erstens die Produktion rechtlicher Normen, zweitens die Applikation geltenden Rechts, drittens die theoretische Adnotation der diskursiven Praktiken und viertens die Reproduktion der diskursiven Handlungsweisen, bildet ihre jeweilige Komposition den Referentialbereich auf der Teidiskursebene. Das bedeutet, daß dem gesetzgeberischen Diskurs hauptsächlich produktive Aufgaben zukommen, nebensächlich aber auch reproduktive und adnotative, wie sie im Fall der gesamten gesetzesbegleitenden Materialien vorkommen. Genauso beschäftigen Verwaltung und Rechtsprechung primär applikative, die Jurisprudenz primär reproduktive, die Rechtstheorie genuin adnotative Be-
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lange des Rechts; die Ausrichtung des Referentials in den Teildiskursen des Rechts hängt allerdings von der Intension der Verbindung zwischen dem jeweils primären mit den je nach Fall sekundären Aspekten der wahrgenommenen Funktionen ab. Das Objekt der diskursiven Aussage entspricht demnach stets einem gegebenen Zweck, es wird sogar durch diesen Zweck im voraus selegiert, in dem Maße, in dem dieser Zweck als grundlage der Erkenntnisorientierung ein Differenzierungsprinzip darstellt. 26 Die Relativität der Tragweite des Referentials spiegelt das Beispiel der Verrechtlichungs- und der Deregulierungsdiskussion in aller Klarheit wider. Die Themen, über die das Recht sprechen darf, die Grenzen seiner normativen Intervention, der Raum für die Bildung sozial verbindlicher Handlungsweisen, hängen jedesmal von externen Faktoren ab, die den Kräfteverhältnissen einer politischen oder moralischen Gewaltenteilung27 unterliegen. Ist einmal der Objektbereich der Verhaltensregelung umrissen, passen sich die Grenzen der übrigen Teildiskurse des Rechtes konstruktiv an. Dadurch wird ersichtlich, daß das Referential der Aussage einem Raster von Möglichkeitsbedingungen für die Erfassung von zweckgebundenen Objekten gleichkommt. Die mit den Mitteln der Sprache zustandekommende Aussage erlangt ihre epistemische Spezifizität erst in diesem referentiellen Relationennetz, das der Aussage ein Bezugssystem liefert, in dem sie als sinnvoll oder sinnlos, mit anderen Worten: als für ihren Interventionszweck adäquat oder inadäquat wirkt. Wenn dann die gleiche Zeichensequenz in einem Gesetz, in einem Urteil oder in einem Kommentar vorkommt, und es sich wohl gemerkt bei den zwei letzten Fällen nicht um ein Zitat handelt, besitzt sie jedes Mal ein unterschiedliches Potential an Funktionalität, ein Potential, das auch je nach seiner Verankerung in einer anderen Rechtstradition stark variieren kann. Man denke hier nur an die prinzipiellen Unterschiede, die zwischen einem kontinentaleuropäischen und einem angelsächsischen Gerichtsurteil bezüglich ihrer Stellung in der jeweiligen Rechtsquellenstruktur bestehen. Dadurch aber daß "Recht" als eine multifunktionale Abstraktion erfaßt wird, erlangt die in Frage kommende Zeichensequenz neben ihrem jeweils teildiskursiven Status auch den allgemeinen Status der juristischen Aussage. Das Referential präsentiert sich 26 Zu unterscheiden wäre allerdings die institutionell bedingte Zwecksetzung des Referentials von der wissenschaftstheoretisch fundierten Konzeption des Erkenntnisinteresses als einer allgemeinen Zwecksetzung, die nach Gethmann, Erkenntnisinteresse, 576, "die Konstitution und Ausdifferenzierung des (wissenschaftlich) erkannten Gegenstandes leitet"; In diesem Sinne ist das Interesse eher ein Faktor für die Formation von Wissensstrategien, der innerhalb des Referentials zur Geltung kommt. Grundlegend zum Begriff: Husserl, Erfahrung und Urteil, §47, 23Iff., sowie Habermas, Erkenntnis und Interesse, 155ff. 27 Als "moralische Gewaltenteilung" wäre die real-existierende Möglichkeit des Rückgriffs auf oder der Intervention von Instanzen, die ideelle kollektive Belange vertreten, zu verstehen. Die langanhaltende Diskussion um die §§218 und 218a StGB bildet dazu ein ausgezeichnetes Beispiel.
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somit auf der einen Seite als ein Bindeglied zwischen institutionellen und epistemischen Kompetenzen, auf der anderen Seite als die Objekt- und funktionsbezogene Grundlage und Grenze der Aussagenproduktion. 2. Die Formation der Sprecherpositionen in der Institution Ist die erste Dimension der Existenzmodalität einer juristischen Aussage jene, die sich auf das Umreißen einer konkreten, zielgerichteten Referenzgrenze bezieht, befaßt sich die zweite Dimension mit den subjektiven Voraussetzungen des Zustandekommens einer diskursiven Äußerung. Daß alle vorkommenden Formulierungen auf einen konkreten Autor zurückzuführen sind, braucht dabei nicht diskutiert zu werden. Was für die Theorie der diskursiven Aussage den Ausschlag gibt, ist nicht das Festhalten an den Erscheinungs- sondern an den Produktionsprämissen einer Aussage. Oben wurde die Einbeziehung einer Laiendiskussion als Bestandteil des juristischen Diskurses abgelehnt. Woher die Gründe für diese Ablehnung herrühren, dürfte im weiteren einsichtig werden. Der juristische Diskurs ist ein genuin anonymer Diskurs. Anders ausgedrückt: die Aussagenproduktion im juristischen Diskurs ist strikt an eine institutionell limitierte Handhabung eines Amtes gebunden. Es wäre äußerst schwierig, eine andere Sprachdomäne als den juristischen Diskurs aufzuführen, um eine derartige Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen, individuellen und dem fiktiven, präsumtiven Autor einer Äußerung zu demonstrieren. Es ist vor allem die Ausrichtung des Rechts auf die bildhafte Einheit von Gremien, die jeweils juristisch relevante Äußerungen als Vernunftsubjekte formulieren, die eine privilegierte Beschaffenheit für die Formierung von Sprecherpositionen manifestiert. Einerseits impliziert sie eine strikte Arbeitsteilung in bezug auf das erwähnte Gesamtreferential; andererseits funktioniert sie in dem Maße, in dem eine an die jeweilige Position gebundene Prärogative hinsichtlich ihrer Handlungs- und Erkenntniskompetenz herrscht. Die Anonymität des faktisch an der Gesetzgebung Beteiligten oder das Verschwinden des individuellen Richters hinter dem "erkennenden Senat" sind eben Zeichen für die Gebundenheit der juristischen Aussage an ein Amt, und nicht an eine Person. Es ist "der Gesetzgeber", der allgemein normiert, es ist "das Gericht", das ein Urteil fällt, es ist "die Verwaltung", die einen Bescheid formuliert, auf eine Weise, die den Anschein erweckt, daß das Subjekt seine Teilnahme am Gesetzgebungs-, Vollzugs- oder Rechtsprechungsdiskurs gegen das Unsichtbarwerden in einer vorgegebenen Position austauscht. Nicht viel anders verhält es sich trotzdem dort, wo ein Rechtsgelehrter die Überschrift seines Kommentars, seines Lehrbuchs, seiner Monographie oder 6 Paroussis
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seines Artikels mit seinem Namen versieht. Man wäre geneigt zu glauben, hier gelange das Subjekt wieder zu seinen vollen Rechten, indem es sich von dem Anonymitätsschleier kollektiv strukturierter Institutionen befreit und sich der Entfaltung seiner individuellen wissensbezogenen Kompetenz widmet. Gegen solch eine Annahme bestehen jedoch ernstzunehmende Bedenken. Die namensbegleitenden, institutionell dekodierbaren und meist in Abkürzungsform erscheinenden erworbenen akademischen oder beruflichen Grade präzisieren zu Genüge die bestehende oder sogar vergangene diskursive Gebundenheit des Sprechenden und verleihen ihm erst den Status des annehmbaren Diskussionsteilnehmers. Zwischen dem Individuum und der juristischen Aussage liegt folglich stets das Moment der (minutiös normierten) Einbeziehung derjenigen Position, die es dem Einzelnen erlaubt, als institutionell vorgeschriebenes Subjekt einer Aussage zu existieren. Es sind die amtsbezogenen Positionen, die jedes Mal als determinierte und leere Plätze ihrer Ausfüllung durch eine natürliche Person harren, die dann als der Gesetzgeber, als der Richter, als der Beamte, als der Spezialist eines rechtsdogmatischen Faches oder als der Rechtstheoretiker spricht. 28 Insofern mag ihre Identität zurückgestellt werden; wichtiger für die diskursive Analyse ist die mit den empirischen Verfahren der Soziologie zu ermittelnde Identifizierung derjenigen epistemischen Positionen, die die Person besetzen muß, um als das mehr oder weniger anonyme Subjekt einer rechtlichen Aussage erscheinen zu können. 5. Die Funktionen des Assoziationsfeldes Ist durch die Dimension des Referentials die Formation der Gegenstände des Diskurses angeschnitten worden, und signalisierte die Dimension der Formation der subjektiven Positionen ein Handeln der Person als kompetenten Emittenten diskursiver Aussagen, vollzieht sich die Formation der Begriffe als adäquater Instrumente des Diskurses auf der Ebene der Koordination und der Koexistenz der Aussagen, also eben auf ihrem Assoziationsfeld. Eine gegebene Zeichensequenz als alleinstehendes Erfahrungsobjekt kann ohne ein sie determinierendes materielles sprachliches Umfeld kaum als Untermenge eines Diskurses angesehen werden. Der bereits erwähnte Satz "Die Würde des Menschen ist unantastbar" hat eine epistemologisch völlig neutrale Resonanz, 28 Es ist dabei interessant festzustellen, daß Salomon, Rechtsbegriffe, 29, wenn auch aus einer anderen Perspektive, darauf zu sprechen kommt: "Der einzelne Mensch ist Wissenschaftler im wahren Sinne dieses Wortes darum nur dann, wenn er in seinen Untersuchungen sich nicht durch seine individuelle Bestimmtheit, seine zufälligen Eigenschaften, sondern allein durch die Forderungen der betreffenden Wissenschaft leiten läßt. Seine Aussprüche sind, wenn man es so wenden darf, Wahrheiten der Wissenschaft".
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solange er nicht in ein ihn umfassendes textuelles Ensemble eingegliedert ist: ein Ensemble, das andere Aussagen bilden, auf die dieser Satz explizit oder implizit Bezug nimmt, und die gegenseitig zu diesem Satz reell oder hypothetisch ebenfalls eine Relation aufstellen. Ein Ensemble schließlich, das sich aus Aussagen gleichen Status zusammensetzt, und in dem sich die Aussagen in einer Folge hierarchischer oder dialektischer Natur einreihen lassen. Dieses angeschlossene Feld dürfte jedenfalls nicht als ein pragmatischer situativer Kontext verstanden werden. Es ist eher das Gebiet, in dessen Grenzen die Verflechtung zusammengehörender Aussagen stattfindet, indem die Grundoperationen der Beschreibung, der Analyse, der Kommentierung, der Präzisierung, der Demonstration, der Argumentation ihre volle Kraft entfalten. Es ist im gleichen Sinne das Feld, auf dem die institutionell vorgeschriebene variierende normative Autorität rechtlicher Aussagen als Ordnungsprinzip der Aussagenstreuung und der Aussagengliederung wirkt. Auf diese Weise signalisiert die unterschiedliche Gewichtung eines Verfassungsartikels und eines Verordnungsparagraphen im Bereich des legislativen Diskurses die Notwendigkeit der Befolgung und der Respektierung bestimmter Voraussetzungen von Seiten der untergeordneten Norm, die nur durch Bezugnahme auf die auf einer gegebenen Werteskala höher gelegenen Normen verständlich werden können. Neben jeglichen Anspruch auf linguistische Korrektheit der Norm tritt der Anspruch auf diskursiv-sachliche Assoziierung der Norm mit anderen Normen. Es hängt von ihrer normativen Gewichtung ab, was für eine Position sie in diesem Spiel gegenseitiger Beeinflussung von Normen einnehmen wird. Die für die Gesetzgebung charakteristische hierarchische Struktur kennzeichnet ebenfalls die Produktionsordnung judikativer Aussagen. Parallel zu den Assoziationen, die ein Urteil zur Gesetzgebung und zur Dogmatik aufstellt, reiht es sich in einen engeren Kreis von Aussagen ein, der von Urteilen anderer oder desselben Gerichts konstituiert wird. Unabhängig ob es sich um einen Verweis auf andere Entscheidungen, auf Gesetze oder auf rechtsdogmatische Beiträge handelt, präsentiert sich das Urteil stets als Element einer koexistentiellen diskursiven Ordnung. Diese Ordnung manifestiert sich nicht nur im Bereich der Aussageninhalte, sondern auch im Bereich der Aussagenstrukturierung. So gilt es für eine Aussage innerhalb des Urteils, eine ihr institutionell präskribierte Stellung einzubeziehen, die ihr Verhältnis zu den übrigen Aussagen des Textes, sowie ihre notwendigen Bestandteile im voraus ordnet. Folgende Sätze, sämtlich Bestandteil eines Urteils, 29 wären dann unter ganz spezifischen, jeweils verschiedenen normativen Anforderungen zu behandeln:
29 BVerfGE 47, 109.
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(a) 3. Zur Verfassungsmäßigkeit des § 184 Abs. 1 Nr. 7 StGB (b) Beschluß des Ersten Senats vom 17. Januar 1978 - 1 BvL 13/76 in dem Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung des § 184 Abs. 1 Nr. 7 des Strafgesetzbuches (StGB) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 1975 (BGBl. I S. 1) - Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des Amtsgerichts München vom 24. Februar 1976 - 432 Ds 27a Js 5436/75 und 432 Ds 127 Js 3016/76 -. (c) §184 Absatz 1 Nummer 7 des Strafgesetzbuches (StGB) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 1975 (Bundesgesetzbl. I S. 1) ist mit dem Grundgesetz vereinbar. (d) Die Entgeltklausel ist zum Schutz der Jugend geignet, erforderlich und zumutbar.
Als Jurist kann man hier erkennen, daß Satz (a) ein Leitsatz ist, Satz (b) das Rubrum des Urteils darstellt, Satz (c) den Tenor des Urteils wiedergibt und Satz (d) eine aus den Gründen des Urteils herausgegriffene Proposition ist. Obwohl aber jedem Satz eine verschiedene Funktion zukommt, kann trotzdem keiner von ihnen ohne seine Bezugnahme auf die anderen Aussagen diskursiv bewertet werden. Ähnlich verhält es sich mit den Aussagen der Jurisprudenz und der Rechtstheorie. Beide Sektoren funktionieren auf der epistemischen Basis der Stellungnahme gegenüber praktisch-inhaltlichen bzw. theoretisch-methodologischen Problemen aus dem unter Abschnitt 1 beschriebenen Referentialbereich. In beiden Bereichen vollzieht sich weiterhin die Produktion, Streuung und Reproduktion der Aussagen auf dem strukturellen Raster der herrschenden/abweichenden/vermittelnden Meinung. Dabei unterscheiden sich diese zwei Teildiskurse dadurch, daß die Jurisprudenz sich im Bereich einer objektsprachlichen Meinungsmäßigkeit bewegt, während die multiplen metasprachlichen Nuancen der Rechtstheorie unter epistemisch variierenden Erkenntnisformen klassifiziert werden können. Als Fazit bleibt festzuhalten, daß das Assoziationsfeld juristischer Aussagen eine Mittelstellung zwischen dem funktional-epistemisch zustandekommenden Referential und den institutionell-praktisch sich formierenden subjektiven Positionen des Diskurses einnimmt. Es bezieht sich auf die materielle Seite der Aussagenartikulation, auf ihre normierte Hierarchie und ihre logische Konsistenz zugleich. 4. Die diskursive Aussage als wissensstrategisches
Instrument
Ist der Objektbereich als Differenzierungsprinzip bestimmt, die Position des Sprechers positiv lokalisiert, das assoziierte Feld, dessen Element die Äußerung ist, erkannt, muß letztere noch eine vierte Bedingung erfüllen, um als diskursive Aussage erkannt werden zu können. Während das Assoziationsfeld der Ort der faktischen Koexistenz der verschiedenen Aussagetypen der juristi-
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sehen Teildiskurse ist, erlangt die Aussage in diesem letzten analytischen Bereich ihren Status durch Eingliederung in ein antagonistisches argumentatives Feld, das die Schwelle zwischen der Produktion und der Durchsetzung der Aussage markiert. Es handelt sich hier um die Instrumentalisierung der Aussage auf der Ebene der Formation wahrheitsstrategischer Optionen des Wissens. Die Materialität der Aussage, die dadurch zum Ausdruck kommt, ist demnach als eine diskursive Dimension zu betrachten, die den Bereich der Operationalisierung der Zeichensequenz zum Zwecke der Verdrängung anderer in Frage kommenden Zeichensequenzen abdeckt.30 Unter der Materialität der Aussage wäre folglich nicht einfach die Gebundenheit derselben an einen Ort, eine Zeit, einen Träger oder eine Sprachform zu verstehen. Ausschlaggebende Merkmale solch einer Materialität wären, erstens die personenunabhängige und in mehreren Paraphrasen ausdrückbare Wiederholbarkeit der Aussage, die aus ihr ein brauchbares Objekt macht. Das Kriterium der Wiederholbarkeit entscheidet, ob eine und dieselbe Zeichensequenz als Äußerung eine oder mehrere diskursive Aussagen repräsentiert, desgleichen ob mehrere Äußerungen eine oder mehrere Aussagen ausdrücken. Zweitens (worauf hier der Akzent gesetzt wird) die Einreihung der Aussage in ein System sich gegeneinander ausschließenden Alternativstrategien, einem System also, in dem aus dem Denkbaren das Gesagte und aus dem Sagbaren das Gemachte entspringt. Dieses Spiel der Ausschließungen bildet ein konstituierendes Fundament des juristischen Diskurses. Alternative Gesetzesentwürfe im Parlament, gerichtliche Sondervota, abweichende Stellungnahmen im bezug auf eine herrschende Meinung im Bereich der Dogmatik und der Rechtstheorie, allesamt selbstverständliche Phänomene des juristischen Alltags, tragen dazu bei, diskursive Aussagen materiell zu singularisieren und sie gleichzeitig als Instrumente einer immerwährenden Argumentation zu lancieren. Das Feld der Entfaltung der wissensstrategischen Optionen, auf die die diskursiven Aussagen rückführbar sind, ist zugleich der privilegierte Ort der Aufnahme extradiskursiver Axiologien, Ideologien, praktischer Erwägungen oder enthymematischer Evidenzen31 im Diskurs. Anhand einer diskursiven Aussage sollten in dieser Hinsicht zwei Arten von Prämissen für die Aussageproduktion erkennbar sein: zum einen die diskursiven Begründungsstrukturen, die das Spiel der sukzessiven Ausschließungen beherrschen. Zum anderen die extradiskursiven Referenzpunkte, die die Aussage stützen und ihr zur Durchsetzung verhelfen.
30 In Ballwegs Terminologie befände man sich hier im Bereich der Phronetik und der Holotaktik. Die rein semiotischen Aspekte würden sich im Gegensatz dazu, im Bereich des Assoziationsfeldes abspielen. Zur Deutung von Phronetik, Holotaktik und Semiotik als Ebenen einer analytischen Rhetorik, s. Ballweg, Analytische Rhetorik, 240ff. mit Modifikationen gegenüber: Phronetik, 57ff. 31 Zum enthymematischen Charakter juristischer Evidenzen, s. Sobota, Sachlichkeit, 128f.
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Zusammengefaßt kann also behauptet werden, daß die Materialität gleichzeitig eine Resultante der drei bereits diskutierten Dimensionen der Aussagefunktion und ein immanenter Aspekt der Aussage als eines institutionell brauchbaren Mittels ist. Diese praktische Ausrichtung der Aussage führt ebenfalls zum Ergebnis, daß die Frage nach der sachlichen Triftigkeit der Äußerung im Rahmen der Diskurstheorie nicht gestellt wird. Die Wahrheit der Proposition stellt nicht eine weitere Dimension der Aussagensystematik dar, obwohl ihre Erwägung und Feststellung im Rahmen vorgesehener Verfahren für die Materialität der Aussage langfristig von Bedeutung sein könnte. Vergleicht man z.B. die drei nachfolgenden Urteilausschnitte, konstatiert man bald, wie sich das institutionelle Moment auf die Formierung der diskursiven Modalitäten auswirkt: (a) "Die Kläger als die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der Beklagten zu 1) haben somit die Prozeßfuhrungsbefugnis, die ihnen aufgrund des spezifischen Repräsentationsinteresses zusteht. Da die Geltendmachung der Interessen der Arbeitnehmerschaft nicht dem Aufsichtsrat als solchem zugewiesen ist und die Gruppe der Arbeitnehmervertreter nicht als Organ oder selbständiger Organteil angesehen werden kann, sind folglich die einzelnen Aufsichtsratsmitglieder dieser Gruppe prozeßführungsbefugt. " 3 2 (b) "Den Klägern als einzelnen Aufsichtsratsmitgliedern steht aber keine Befugnis zu, die eingeklagten Ansprüche geltend zu machen, weil sie nicht Inhaber der beanspruchten Rechte auf Überwachung und Beeinflussung der Geschäftsführung des Vorstandes sind. Weder aus dem Aktiengesetz, noch aus dem Mitbestimmungsgesetz vom 4. Mai 1976 oder aus sonstigen gesetzlichen Vorschriften, noch aus ungeschriebenem Recht läßt sich die Prozeßfuhrungsbefugnis der Kläger begründen.1,33 (c) "Einzelne Mitglieder des Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft sind nicht befugt, gegen - nach ihrer Darlegung rechtswidrige - Geschäftsführungsmaßnahmen des Vorstandes im Wege der Klage vorzugehen."34 (...) "Zwar hat sich unter den Verfechtern der Lehre vom Organstreit weitgehend die Ansicht durchgesetzt, das einzelne Aufsichtsratsmitglied sei grundsätzlich berechtigt, Rechte des Gesamtaufsichtsrats mit Hilfe der Regeln der actio pro socio gegenüber dem Vorstand geltend zu machen (vgl. Hommelhoff/Timm AG 1976, 330, 333; ebenso Hommelhoff ZHR aaO S. 314f.; vgl. ferner Lutter AcP 180 1980 S. 84, 143f.; Karsten Schmidt aaO S. 230; Bork aaO S. 39ff.; Raiser aaO S. 68f.; a.A. Lewerenz aaO S. 131; Krieger EWiR §111 AktG 1/1988, 211; zurückhaltend auch Kort AG 1987, 193, 198). Die Rechtsfigur der actio pro socio darf jedoch, worauf Hommelhoff (aaO S. 314) zutreffend hinweist, nicht dazu dienen, Konflikte, die zwischen Mehrheit und Minderheit im Aufsichtsrat auftreten, über den Umweg einer gerichtlichen Inanspruchnahme des Vorstandes auszutragen. " 3 5
32 LG Darmstadt, ZIP 1986, 1389, 1391. 33 OLG Frankfurt, WM 1988, 330, 332. 34 BGHZ 106, 54 (Leitsatz). 35 BGHZ 106, 54, 66.
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Unter dem Aspekt der Eingliederung dieser drei Aussagen in einem Assoziationsfeld weisen sie jeweils Relationen zueinander, zu den verschiedenen in Betracht gezogenen Rechtsquellen, und drittens zur Rechtsdogmatik der prozessualen Parteifahigkeit als Bedingung der Zulässigkeit der Klage. In einem ständigen Dialog zu diesen jeweils normativ anders gewichteten Referenzpunkten formieren sich in der Gestalt der Hauptanträge sowie der hilfsweise oder äußerst hilfsweise gestellten Anträge die Aussagen der Parteien und die darauf Stellung nehmenden Aussagen der angerufenen Gerichte. Sie betreten alle ein Feld gegenseitiger Ausschließungen, die nur durch das institutionelle Mittel der Festsetzung einer obersten Instanz als Verkünders einer endgültigen Entscheidung, die weiterhin als objektiver Anhaltspunkt wahrheitsfunktional sein wird, ein Ende finden. Als wahrheitsgemäße Aussage könnte dabei sehr wohl auch die in den zwei oberen Instanzen als fehlerhaft getadelte Entscheidung des Landgerichts gelten, hätten die Parteien dieses Urteil angenommen. Somit tritt eine von dem Aspekt der Richtigkeit unabhängige Seite der diskursiven Aussage in den Vordergrund: es handelt sich dabei um ihr relatives Gewicht innerhalb des Diskurses, m.a.W. um ihre diskursive Valenz. Diesem die wissensstrategischen Optionen beeinflußenden Aspekt der Aussage seien nun abschließend einige kurze Bemerkungen gewidmet. §15 Die diskursive Valenz als epistemische Relevanz der Aussage Übertragen auf die Ebene der Phänomenologie juristischer Akte bestimmt die Funktion der diskursiven Valenz, welche von den rechtsbezogenen Äußerungen auch diskursrelevant sind. Die diskursive Relevanz bildet somit ein Selektionskriterium zur Klassifikation aller Aussagen, die sich auf das Recht beziehen, mit dem Ziel, anhand gegebener Kriterien jene Aussagen, die Bestandteile des juristischen Diskurses sind, von jenen Aussagen, die nicht diskursiv sind aber bei der sprachlichen Artikulation des Diskurses vorkommen, unterscheiden zu können. In dieser Hinsicht kann die Rede von drei Möglichkeiten diskursiver Relevanz sein: es handelt sich erstens um die diskursive Valenz, zweitens um die diskursive Ambivalenz und drittens um die diskursive Exklusion. Eine uneingeschränkte diskursive Valenz entfalten jene Aussagen, die alle vier ausführlich behandelten Bedingungen juristischer Diskursivität erfüllen. Anhand von markanten Beispielen könnte man ohne weiteres folgenden Erscheinungsformen juristischer Aussagen die diskursive Valenz zusprechen: (1) Den Gesetzesberatungen im Vorbereitungsstadium der Promulgation der Gesetze, unabhängig davon, daß ihnen möglicher Weise der Eingang in die konkrete Regelung des Gesetzes versperrt bleiben könnte.
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(2) Den Normtexten, soweit sie Verfahrens- und verfassungsmäßig legitimiert sind. (3) Den gerichtlichen Urteilen sowie den Verwaltungsbescheiden trotz der Mö glichkeit ihrer höchstrichterlichen resp. gerichtlichen Aufhebung. (4) Den anwaltlichen Anträgen (oder allgemeiner allen mit der Ausübung der Anwaltstätigkeit verbundenen Schriftstükken), ungeachtet der Tatsache, daß sie nicht immer angenommen werden. (5) Den notariellen Urkunden, soweit sie rechtmäßig sind. (6) Den Rechtsgutachten, unabhängig von ihrer Triftigkeit. (7) Den verschiedenen rechtsdogmatischen Beiträgen, gleichgültig ob sie in der Form des Kommentars, des Lehrbuchs, der Monographie, des Artikels oder des Beitrags erscheinen und unabhängig von der allgemeinen Akzeptanz der Thesen, die sie vertreten. (8) Den rechtstheoretischen Beiträgen jeder Art, ohne Berücksichtigung ihrer inhaltlichen Stichhaltigkeit. Als unabdingbare Voraussetzung für die Anerkennung der diskursiven Valenz fungiert dabei stets die Verbindung der Produktion der Aussage mit einer institutionellen Sprecherposition. Obwohl die Berechtigung, eine Position einzubeziehen, nicht immer an ein Amt gebunden ist - man denke dabei an Parlamentarier oder Richter, die rechtsdogmatisch oder rechtstheoretisch diskursiv tätig werden - sollte normalerweise davon ausgegangen werden, daß Referential, Assoziationsfeld und diskursive Strategie von Sprechern in Anspruch genommen werden, die eine mehr oder weniger institutionalisierte Kompetenz besitzen. Was in dieser Hinsicht die erwähnten acht Aussagenformen verbindet, ist die bei allen anzutreffende Referenz zum Grundobjekt Recht und seinen Funktionen aus der Position des kompetenten Sprechers. Den Status einer bedingten diskursiven Valenz oder den einer diskursiven Ambivalenz bis auf weiteres erhalten jene Aussagen, die zwar einen gewissen Bezug zum Recht herstellen, nicht aber den Modalbedingungen diskursiver Aussagen unmittelbar genügen können. Manchmal sind es die Herkunft des Vokabulars oder die Spezifizität der Betrachtungsweise, die Probleme bereiten, wie dies bei den sog. Bindestrichdisziplinen, die gleichzeitig mehreren Diskursen unterzuordnen sind, der Fall ist. Ist das Gutachten eines Gerichtsmediziners oder eines psychiatrischen Sachverständigen im Strafprozeß trotz seiner Relevanz für das Recht und trotz der Berücksichtigung rechtlich interessanter Gesichtspunkte bei der Gutachtenerstellung, doch eher dem medizinischen Diskurs unterzuordnen, bereiten Disziplinen wie die Kriminologie oder die Rechtsethnologie ernsthafte Klassifikationsschwierigkeiten. Eine weitere Gruppe der gleichen Kategorie bilden in Umgangssprache redigierte private Abmachungen oder einseitige Verfügungen. Obwohl sie grundsätzlich in der Lage sind, juristische Folgen herbeizuführen, ist weder
§15 Die diskursive Valenz als epistemische Relevanz der Aussage
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ihre Form genuin diskursiv-juristisch, noch haben ihre Autoren diskursive Positionen inne. Lediglich im Hinblick auf die Besonderheiten der sogenannten Rechtssprache tauchen manchmal Probleme auf, so etwa bei der Erstellung einfacher Verwaltungsakte oder bei der Beschreibung des Sachverhalts in Rechtsurteilen, obwohl letzterer häufig in einer stilmäßig verfeinerten, aber noch nicht juridisierten Paraphrase formuliert wird. Einen typischen Fall bedingter diskursiver Valenz bilden schließlich äußerlich juristisch anmutende Texte, die im Rahmen des Studiums der Jurisprudenz, der Übung oder Kontrolle des fachgerechten Gebrauchs der tradierten Terminologie und Systematik dienen.36 Eine Relation diskursiver Exklusion würde zuletzt alle jene Aussagen betreffen, die das Recht kritisch oder deskriptiv zu ihrem Objekt machen, ohne jedoch in seiner institutionelle Arbeitsteilung näher eingegliedert zu sein. Zu dieser Sphäre würde das bereits öfters aufgeführte Beispiel der Laiendiskussion hineinpassen. Ähnlich diskursiv irrelevant wären desweiteren journalistische Berichterstattungen über die gesetzgebende Aktivität des Parlaments oder über Prozeßverhandlungen sowie die gesamte Auseinandersetzung der Kunst, sei es in der Literatur, im Film, oder in der bildenden Kunst, mit den verschiedenen Aspekten des positiven Rechts oder der Idee der Gerechtigkeit. Damit soll nicht gesagt sein, die rechtsbezogene Laiendiskussion, der juristische Gegebenheiten recherchierende journalistische Beitrag oder noch mehr das Kunstwerk, allesamt Zeichen für die lebendige Verbindung des Rechts mit seinem sozialen Umfeld, seien nicht wert, eine analytischen Annäherung zu erfahren. Die Tatsache allerdings, daß sie nicht einmal im Bereich der Produktion rechtlicher Folgen eingreifen, zwingt zu dem Schluß, solche Aussagen aus dem Kreis der Diskursivität auszuschließen, ganz abgesehen von der Frage nach dem anders orientierten Referential, den jeweils differierenden Assoziationsfeldern und den unformellen subjektiven Positionen. Denn die juristische Epistemologie richtet ihr Augenmerk auf Gesamtheiten, nämlich auf diskursive Formationen, die nicht lediglich einen gemeinsamen Bezug auf einen Gegenstand aufweisen, sondern ein multidimensionales Netz von Beziehungen ihrem Betrieb zugrundelegen und dadurch eine partikulare Existenzmodalität für ihre Aussagen erreichen. Demgemäß hatten wir den Diskurs als eine Menge von Aussagen bezeichnet, die gleiche Existenzmodalitäten aufweisen, weil sie einer gegebenen diskursiven Formation unterzuordnen sind. Die Zusammensetzung des juristischen Diskurses aus den Teildiskursen der Gesetzgebung, der Rechtspre36 Dadurch mag sich auch die Frage Seiberts, Juristenausbildung, 16, erledigen, ob der von einem Studenten redigierte Satz "A kann gegenüber dem Eigentumsherausgabeanspruch des Β einen Anspruch gem. §812 BGB haben", (zit. aus: Diederichsen, Die BGB-Klausur, 180) trotz seiner Sachfehler ein juristischer Satz sei oder nicht.
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. Juristische Äußerungen als diskursive Aussagen
chung, der Verwaltung, der Rechtsdogmatik und der Rechtstheorie kann nach der hier versuchten Demonstration auf variable Daseinsbedingungen der juristischen Aussagen zurückgeführt werden. Wird dadurch die Frage nach der Konsistenz juristischer Diskurse beantwortet, macht sich gleichzeitig die Notwendigkeit der tieferen Erforschung der Strukturen der juristischen Aussage auf der Wortebene bemerkbar. Es gilt im weiteren, das Problem zu behandeln, in welchem Verhältnis die den Zwängen einer diskursiven Formation unterworfenen Aussagen zu den sie bildenden Begriffen stehen.
IV. Rechtsbegriffe als disktirsive Begriffe
§16 Methodische Grundtendenzen bei der theoretischen Erfassung der Rechtsbegriffe Die dritte Ebene, auf der sich die linguistische Analytik des Rechts entfaltet, ist die Wortebene. Setzt sich der Rechtstext überwiegend aus Sätzen rechtlichen Inhalts zusammen, so sind es wiederum Einzelworte, die zur Bildung einer juristisch relevanten Phrase zusammenkommen. Den epistemischen Status dieser Worte zu erschließen, bedeutete dann, analog zur Gegenüberstellung von Recht als Fachsprache und Recht als Diskurs einerseits, vom Rechtssatz als Normsatz und Rechtssatz als diskursiver Aussage andererseits zu verfahren. An die Stelle der Termini "Fachsprache" oder "Rechtssatz" würde hier der "Rechtsbegriff" rücken. Wohlgemerkt handelt es sich dabei um die Begriffe und nicht um den Begriff des Rechts. An dieser Stelle sollte allerdings darauf hingewiesen werden, daß das Wort "Rechtsbegriff 1 im hiesigen Rahmen nicht unter einem spezifischen semiotischen Aspekt, etwa als die Bedeutungskomponente des semantischen Dreiecks, oder unter einem besonderen philosophischen Aspekt, etwa als die Instanz der Verbindung einer Vorstellung mit einem Zeichen, oder sogar mit der geschichtlich zu ermittelnden "Natur der Sache" benutzt wird. 1 Der "Rechtsbegriff" verweist hier lediglich auf jedes Wort, das als Ausdrucksmittel des Rechts, sei es in einem Tatbestand, in einem Urteil oder in einem theoretischen Text fungiert. 2 Von den allgemein gefaßten Rechtsbegriffen in diesem Sinne wären dann die juristisch diskursiven Begriffe herauszufiltern, die sprachliche und institutionelle Aspekte in ihrem Gebrauch aufweisen. Es sind in dieser Hinsicht die nach gewissen Regeln gebildeten, elementaren Bestandteile einer juristischen Aussage, und nicht die auf idealistische oder realistische Ontologien bezogene Su1 Im letzten Sinne auch die Kritik Hegels, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Einl. §3: "Man pflegt so auch von den römischen, germanischen Rechtsbegriffen, von Rechtsbegriffen, wie sie in diesem oder jenem Gesetzbuche bestimmt seien, zu sprechen, während dabei nichts von Begriffen, sondern allein allgemeine Rechtsbestimmungen, Verstandessätze, Grundsätze, Gesetze und dgl. vorkommen". 2 In ähnlich unspezifischer Weise benutzen den Ausdruck "Rechtsbegriffe" Lampe, Juristische Semantik, 18, (anstelle von Rechtszeichen), sowie Hassemer, Tatbestand und Typus, 13 Anm. 6.
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IV. Rechtsbegriffe als diskursive Begriffe
che nach dem Rechtsbegriff als dem Wesen des Rechts,3 die uns in diesem Zusammenhang weiter interessieren. Nachdem der Wortgebrauch auf diese Weise festgelegt wurde, wäre es erforderlich, zunächst auf die methodenhistorischen Parameter der Begriffsproblematik hinzuweisen (1), um dann die aktuelle juristische Diskussion darüber aus der Nähe betrachten zu können (2). 1. Methodenhistorischer
Rückblick zur Problematik der Begriffsbildung
Die durch die Philosophie des Pragmatismus eingeleitete sprachanalytische Wende in der philosophischen Erfassung der Realität markiert einen grundsätzlichen Attitüdenwechsel bei der theoretischen Erschließung der Rechtsbegriffe. Bildeten diese früher ein genuin philosophisches Feld der Erkenntnis, da es galt, ihre Bildung als Korrespondenz von Ausdrucksformen mit Willen oder Vorstellungen sowie letzterer mit Ideen zu erhellen, etablierte sich ihre Erforschung im Rahmen des logischen Empirismus in einem wissenschaftstheoretischen Erkenntnisbereich, der die Methodik der analytischen Semiotik und Definitionslehre als Hauptmittel einer Theorie der Begriffsbildung einsetzte. Abstrahierend könnte man behaupten, der ontologisierenden Suche nach dem objektiven Wesen der Worte wurde die erkenntnistheoretische Frage nach ihrer kommunikativ-praktischen Bedeutung entgegengestellt. Auf der praktischen Ebene der Jurisprudenz erfolgt gleichzeitig eine damit in Verbindung zu setzende Mutation im Verständnis der juristischen Begrifflichkeit. Es handelt sich um die von Jhering eingeleitete und durch die Methodiken der Freirechtsbewegung, der Interessen- und der Wertungsjurisprudenz vollbrachte Ablösung der Begriffsjurisprudenz durch das teleologische Rechtsdenken, ein Ereignis, das heute als theoretischer Gemeinplatz zu gelten hat. Das Insistieren auf dem Bruch mit der Dogmatik des 19. Jh. verbirgt währenddessen den Verlust möglicher Konvergenzpunkte. Es wäre aus diesem Grunde interessanter, anstatt aus der Teleologie den Inbegriff juristischer Ra3 In diesem Sinne bildet die Problematik des "Rechtsbegriffs" einen festen Bestandteil jeder postkantianischen Allgemeinen Rechtslehre, Juristischen Grundlehre, Allgemeinen Rechtstheorie oder Rechtsphilosophie. Vgl. P.J.A. Feuerbach, Versuch über den Begriff des Rechts, in: Niethammers Philosophisches Journal, 6. Heft 1795, 138ff.; Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, 1892, 43ff., 7Iff.; Bierling, Juristische Prinzipienlehre I, 1894, §3 19ff.; Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, 1911, 39ff.; ders., Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 1922, 46ff.; Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1914, 29ff.; kritisch Somló, Juristische Grundlehre, 52ff. Uber die weitere Entwicklung der Problematik des Rechtsbegriffs, s. vor allem die von Maihofer herausgegebene und mit einer Einleitung versehene Textsammlung "Begriff und Wesen des Rechts", 1973, wo manche der wichtigsten Stellungnahmen zu dieser Thematik in systematischer und zeitlicher Reihenfolge präsentiert werden; vgl. ferner Engisch, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, 1971, lOff., sowie Henkel, Rechtsphilosophie, 12ff. Dem Rechtsbegriff ist schließlich der größte Teil von Bydlinskis Schrift "Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff" gewidmet.
§16 Grundtendenzen bei der Erfassung der Rechtsbegriffe
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tionalität zu machen,4 jene Grundlinien der Reflexion bezüglich der Partikularität der Rechtsbegriffe hervorzuheben, die zeitübergreifend die uns interessierende Problematik bestimmen. Es ist bemerkenswert, daß es in diesem Zusammenhang eine Thematik gibt, die es seit der Zeit der großen Kodifikationen und außerhalb des philosophischen Schulenstreits bezüglich der ontologischen oder der teleologischen Begriffsbildung vermocht hat, zum konstanten Bezugspunkt der rechtstheoretischen Reflexion zu avancieren. Gemeint ist das Problem des Verhältnisses der im Recht verwendeten Terminologie zu den Ausdrücken der Alltagssprache. Ganz abgesehen von der Frage nach der allgemeinen Verständlichkeit der Rechtsvorschriften hat sich dabei eine Diskussion entwickelt, in deren Rahmen ständig mit neuen Mitteln versucht wird, die Eigenart der Rechtsbegriffe theoretisch zu erfassen. Man denke bespielsweise dabei an Zachariäs Überlegungen über die Gesetzessprache5 oder an Günthers dokumentarische Ausführungen über das Verhältnis von Recht und (deutscher) Sprache,6 an Publikationen also, deren Erscheinung mit den zeitlichen Grenzen des 19.Jh. zusammenfallt. Ein praktisches Beispiel für die Notwendigkeit der methodischen Trennung zwischen Fragen sprachlich-terminologischer Art, deren Kontinuität nachweisbar ist, und Problemen sprachlich-hermeneutischer Art, auf deren Ebene erst methodologische Mutationen zu lokalisieren wären, liefert schließlich Jherings Stellungnahme bezüglich der Wahl eines adäquaten juristischen Vokabulars, die die Problematik der formalistischen oder teleologischen Begriffsdeutung nicht tangiert. Nach Jhering sollten die "Kunstausdrücke" der Rechtswissenschaft sogar einer "todten Sprache", wie der lateinischen, entlehnt werden, weil dadurch die Verschiedenartigkeit der Alltags- und der Wissenschaftssprache in aller Klarheit zum Ausdruck käme.7 Es handelt sich dabei also um ein Problem, das mehreren - aus heutiger Sicht scharf voneinander abgegrenzten - Rechtswissenschaftsparadigmen gemeinsam ist, weil es auf der elementaren Ebene der kommunikativen Voraussetzungen des juristischen Diskurses auftaucht. Daran schließt sich eine parallel verlaufende Thematik an, die den Entstehungsort der Rechtsbegriffe problematisiert. In ihrem Rahmen wären hauptsächlich zwei Tendenzen zu verzeichnen. Einerseits jene, die nur dem Rechtswissenschaftler das Recht zuerkennt, "Rechtsbegriffe" zu entwerfen, während dem Gesetzgeber die Aufgabe auferlegt wird, sich in natürlichen Begriffen auszudrücken, mit dem Ziel, für die Rechtsunterworfenen verständlich zu bleiben; andererseits jene, die dem Gesetzgeber subsidiär die Kompetenz an4
Repräsentativ dafür die Schrift Wanks, Begriffsbildung, passim. Die Wissenschaft der Gesetzgebung, 1806, 31 Off. 6 Recht und Sprache, 1898, 20ff. und Anm. 222 bis 233 (S. 156ff.) 7 Jhering, Geist, 3Π 2, 331 f. und Anm. 482. 5
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IV. Rechtsbegriffe als diskursive Begriffe
erkennt, bei der Tatbestandsbildung Rechtsbegriffe zu kreieren. Als herrschend in der Jurisprudenz des 19. Jh. dürfte jedoch die erstere Position, nach der der Terminus "Rechtsbegriffe" nicht auf die sprachlichen Bestandteile des Normtextes, sondern auf die rechtswissenschaftlichen Ausdrücke für Rechtsverhältnisse und subjektive Rechte hindeutet, angesehen werden.8 Diese terminologische Usance hat bereits Feuerbach festgehalten. 9 Abgesehen von Begriffen, "deren Merkmale selbst nur aus rechtlichen Bestimmungen zusammengesetzt sind", wird nach ihm der größte Teil der rechtlichen Begriffe nicht "durch den Gesetzgeber gegeben, sondern muß durch den Rechtsgelehrten geschaffen werden" (wohlgemerkt, in Anlehnung an die Philosophie). Ein ähnliches Programm vertritt Rümelin,10 wenn er zwischen Begriffen im natürlichen Sinne und zu entwickelnden Begriffen im logischen Sinne unterscheidet. Erst auf dieser Stufe spielt sich der theoretische Streit um eine ontologische oder teleologische Begriffsbildung ab, bei dem die für die Begriffsjurisprudenz typische ontologisierende Haltung im allgemeinen die Oberhand behält. Charakteristisch dafür ist Jherings Fall, der (vor seiner Wende) zwar die Existenz eines Zweckmoments für jeden Rechtsbegriff nicht leugnet, dessen Berücksichtigung aber für die praktisch-juristische Definition eines Rechtsinstituts als unbrauchbar einschätzt.11 Im Lichte seiner Ausführungen in: "Der Zweck im Recht"12 wendet er sich in seinem späteren Werk "Der Besitzwille" 13 in Abkehr zur formalistischen Methode einer teleologischen Begriffsanalytik zu, während zum Beispiel Windscheid in markanter Weise noch Jherings Klassifikationsmethodik 14 für die pandektistische Rechtsdogmatik in Anwendung beibehält.15 Der Auslegung weist Windscheid eine doppelte Funktion zu: zum einen ermittelt sie den Sinn der vom Gesetzgeber gebrauchten Worte, zum anderen bestimmt sie den eigentlichen Gedanken eines Rechtssatzes. Erst bei der wissenschaftlichen Behandlung des Rechts werden in einem weiteren Schritt die Rechtsbegriffe entwickelt, die "als Zusammenfassungen von Denkelementen" in zwei Klassen zerfallen: zuerst jene, die sich mit den "thatsächlichen Voraussetzungen" der Rechte auseinandersetzen (z.B. "Rechtsgeschäft", "Vertrag"), und danach jene, die die subjektiven Rechte in ihrem Wesen (z.B. "Eigentum", "Nießbrauch"), in ihren Eigenschaften (z.B. die Teilbarkeit oder die 8 Zum Stand der heutigen Diskussion s. infra §17. 9 Philosophie und Empirie, 1804, 82. 10 Juristische Begriffsbildung, 1878, llff. 11 Jhering, Geist, 3 Π 2, 364ff. Weiterhin unterscheidet er, ebd., Anm. 511, zwischen einer von Einert vorgeschlagenen teleologischen und einer ontologischen Definition des Wechsels. 12 Bd. I, (1877), 21884, 435ff., 443ff., 518flf., 529f. 13 1889, S. IX, 364ff., 538. 14 S. dazu vor allem Jhering, Geist, Bd. 3Π 2, 364ff. 15 Lehrbuch des Pandektenrechts I, §24, 58ff.
§16 Grundtendenzen bei der Erfassung der Rechtsbegriffe
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Veräußerlichkeit der Rechte), in der "von ihnen ausgehenden Aktion" (z.B. die Ausübung oder die Klagbarkeit der Rechte), oder schließlich in ihrem, so wörtlich, "Lebensphänomenen" (wie dies z.B. die Entstehung, der Untergang, die Begründung, oder die Vernichtung der Rechte sind) erfassen. Windscheid unterscheidet demnach zwischen den Worten des Gesetzgebers und der abstrakten Begriffsbildung der Rechtswissenschaft, die in der hier benutzten Terminologie genuin diskursive Begriffe produziert. 16 Dieser Auffassung (bezüglich des Schöpfers der Rechtsbegriffe) scheinen sich auch Eitzbacher und Radbruch anschließen zu wollen. Nach Eitzbacher stehen erst die durch die Rechtswissenschaft geschaffenen Begriffe von den Rechtsnormen, und nicht die in den Rechtssätzen vorkommenden Begriffe als Rechtsbegriffe da. 17 Die Rechtssatzbegriffe nennt Radbruch seinerseits lediglich "rechtlich relevante Begriffe", die als Mittel der Rechtswissenschaft fungierten; Begriffe von Inhalten juristischer Lehrsätze, die ihrerseits auf Rechtsnormen bezogen sind, bezeichnet er hingegen als echte Rechtsbegriffe. 18 Subjektive Rechte, Rechtsverhältnisse und Rechtsinstitute, die sich durch das konstruktive und systematische Vorgehen der Rechtswissenschaft ergeben, sind folglich nach Radbruch als die wahren Rechtsbegriffe zu betrachten. Genau so beständig wie die These, die die Produktion juristischer Begriffe auf der Wissenschaftsebene ortet, ist auch jene, die von einer binären Emanationsstruktur der juristischen Begrifflichkeit ausgeht. Von Feuerbach19 über Rümelin20 und Salomon21 bis Somló22 und von Heck23 über Engisch24 bis 16 Wie die Klassifikationskategorien der Systematik der subjektiven Rechte epistemisch zu beurteilen seien, ist wiederum ein anderes Problem. Es liegt jedenfalls die Vermutung nahe, daß sie ihrerseits in einem außerjuristischen Kenntnisbereich, ganz konkret in einem philosophischvitalistischen Wissensraum zu lokalisieren wären. 1 7 Über Rechtsbegriffe, 17ff. Desweiteren unterscheidet er, ebd., 34