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German Pages 349 Year 1989
ATHANASIOS GROMITSARIS
Theorie der Rechtsnormen bei Rudolph von Ihering
Schriften zur Rechtstheorie Heft 132
Theorie der Rechtsnormen bei Rudolph von Ihering Eine Untersuchung der Grundlagen des deutschen Rechtsrealismus
Von Dr. Athanasios Gromitsaris
MW//
Duncker & Humblot * Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Gromitsarìs, Athanasios: Theorie der Rechtsnormen bei Rudolph von Ihering : eine Untersuchung der Grundlagen des deutschen Rechtsrealismus / von Athanasios Gromitsaris. — Berlin : Duncker u. Humblot, 1989 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 132) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1987 ISBN 3-428-06580-8 NE: GT
D 6 Alle Rechte vorbehalten © 1989 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Hagedornsatz, Berlin 46 Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-06580-8
Z e i t l o s e Pause Nicht immer wissen wir, Daß wir mit Wunsch uns die Aussicht verstellt, Daß wir zur Einsicht den Weg uns verbogen haben, Daß wir sehen dort, wo wir schauen sollen, Daß wir Antworten geben, wo keine Frage ist. Manchmal aber, in seltener, zeitloser Pause Blicken wir durch die Kulissen Ganz ohne Aufenthalt, ohne herbeigelockte Verlockung Weit in die Weite, bis das Aug auf uns selbst trifft Und wir wieder erfahren, daß wir die Spieler, Daß wir das Spiel sind und die Dichter des Spiels. Ilse Krämer, Gedichte und Aphorismen, Zürich-Stuttgart 1973.
Vorwort Wenige deutsche Juristen, ausgenommen vielleicht Friedrich Carl von Savigny, haben seit dem vorigen Jahrhundert die Entwicklung der deutschen Rechtswissenschaft, aber auch ihr Verhältnis zur Theorie und Soziologie des Rechts so nachhaltig beeinflußt wie Rudolph von Ihering (1818-1892). Bis auf den heutigen Tag ist allerdings auch kaum ein Jurist so umstritten wie Ihering, dessen vielschichtiges Werk nicht nur die Entwicklung der dogmatischen Rechtswissenschaft und der zugehörigen Juristischen Methodenlehre gefördert hat, sondern vor allem den Aufbau einer soziologisch fundierten Allgemeinen Rechtslehre/Rechtstheorie. Wie Wieacker sehr treffend bemerkt hat, will Iherings Werk, bedingt durch dessen hohe Originalität, sprachliche Eigenwilligkeiten, aber auch mangelnde Systematik, „sich so rasch nicht verbuchen lassen". Die Forschungssituation hat sich seit 1984 insofern erheblich verbessert, aber auch verschärft, als mit der zweibändigen Ihering-Studie Losanos nun erstmals ein nahezu lückenloser bibliographischer Überblick über das Gesamtwerk Iherings vorliegt sowie eine gründliche monographische Bearbeitung seiner Lehren. Da Losanos Untersuchungen sich jedoch im wesentlichen, ebenso wie die ausführliche Monographie von Wolfgang Pleister über „Persönlichkeit, Wille und Freiheit im Werke Iherings" (1982), auf Person, Leben und Werk Iherings und seine inhaltlichen Lehren zum römischen und deutschen Recht unter Einschluß der methodologischen Probleme konzentrieren, konnte der rechtstheoretische und rechtssoziologische Gehalt seines Werks nur ganz am Rande berücksichtigt werden. Hier setzen die nachfolgenden Untersuchungen zu Iherings Theorie der Rechtsnormen an. Es ging mir vor allem darum, gewisse Lücken zu schließen, die Losano in seinem glanzvollen Werk bezüglich der Normentheorie Iherings noch offen gelassen hat. Ein weiteres Anliegen bestand darin, das Verhältnis von Iherings rechtssoziologisch fundierter Normentheorie zu den schon klassischen Ansätzen deutschsprachiger Rechtssoziologie zu klären, wie sie vor allem von Max Weber, Theodor Geiger und Helmut Schelsky vorgelegt wurden. Alle diese Ansätze gehen nicht vom abstrakten Gesetzesinhalt, sondern — rechtsrealistisch — von der fallweisen Verwirklichung und Objektivierung des Rechts im Leben, d. h. vom Recht als sozialer Lebensstruktur aus. Sie bieten eine Theorie des Rechts, die in eine Gesellschaftstheorie eingebettet ist. Um einen möglichst unverstellten Blick auf die Eigenart des Iheringschen Rechtsdenkens zu gewinnen, wurde davon abgesehen, den Erörterungen einen festen Begriffsrahmen vorzugeben, wie er heute beispielsweise durch die soziologische Theorie des Rechtssystems von Luhmann nahegelegt wird.
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Vorwort
Stattdessen wurde der Versuch unternommen, die zentralen Bauelemente der Normentheorie Iherings in seinem Werk selbst zu identifizieren dadurch, daß sie im folgenden aus der Perspektive einiger Nachfolgetheorien betrachtet werden, um sodann die bestehenden Unterschiede vergleichend herauszuarbeiten. Von daher rechtfertigt sich der auf den ersten Blick vielleicht etwas eigenwillige Aufbau derart, daß die Untersuchung bei Max Weber einsetzt, der Ihering in allen wesentlichen Punkten aufgenommen und fortgeführt hat, später zur Normentheorie von Theodor Geiger übergeht, um schließlich durch Helmut Schelkys große Ihering-Kritik hindurch und darüber hinaus zu einer eigenständigen Rekonstruktion von Iherings Normentheorie vorzudringen. Im ersten Abschnitt wird das Verhältnis von Recht und Rationalität untersucht, indem Webers Rationalitätsbegriff als Kontrastfolie für die Interpretation Iherings benutzt wird. Hierbei wurde eine Auseinandersetzung mit der heute wohl vorherrschenden, gewöhnlich nicht in Zweifel gestellten Deutung Max Webers durch Rehbinder unumgänglich. Im Gegensatz zur bislang herrschenden Auffassung wird hier der Nachweis geführt, daß die eigentliche Strukturtheorie des Rechts, insbesondere die Ansätze zu Webers Normentheorie, in seinen Aufsätzen zur Wissenschaftslehre enthalten sind, aus denen sich ein anderes Bild des Rechtsbegriffs ergibt. Von dieser begrifflich und rechtstheoretisch abgesicherten Position ausgehend, wird die Iheringsche Reflexionstheorie des Rechts mit derjenigen Max Webers verglichen und sodann der Prozeß der Rationalisierung des Rechts analysiert, so wie er sich für Ihering darstellte. Dabei dient Max Webers soziologische Theorie des Rechts als Auslegungshilfe. Der Kunstgriff, Ihering gleichsam mit den Augen Webers zu sehen, konnte sich weitgehend auch auf die Evolutionstheorie des Rechts von Schelsky und Luhmann stützen. In einem weiteren Schritt wird — unter Rekurs auf die Normentheorie des Rechts Theodor Geigers — untersucht, wie weit die soziale Differenzierung und Vergesellschaftung des Rechtsbetriebes in ein System sozialer Gebilde hineinreicht und aus welchen normativen und faktischen Elementen sie sich aufbaut. Naturgemäß steht auch hier die Koordination durch Institutionalisierung von Gebarenserwartungen im Vordergrund, die in sehr engem Zusammenhang mit Geigers Begriff der subsistenten Norm stehen. Im zweiten Abschnitt steht demgegenüber die Frage nach dem Geltungsgrund der Rechtsnorm bei Ihering im Vordergrund. Die weitere Ausarbeitung der Fragestellung wurde auf die Geigersche Unterscheidung zwischen Wortnorm und subsistenter Norm gestützt, weil sie eine sozial reflektiertere Auffassung der Geltungsvorstellungen erlaubt. Im übrigen wurde versucht, den Schwierigkeiten einer gesellschaftstheoretischen Deutung des Rechts durch Anleihen bei der Institutionentheorie Helmut Schelskys zu begegnen. Die Problematik der Institutionentheorie Schelskys ist außerordentlich voraussetzungsvoll. Sie ist vor allem mit einer Reihe von bislang weitgehend noch ungeklärten Kontroversen belastet, wie beispielsweise der Frage nach ihrem Verhältnis zur Systemtheo-
Vorwort
rie, dem Stellenwert und der sozialen Konstitution des Individuums und dem Zusammenhang zwischen sozialer Kommunikation und Einzelbewußtsein. Die Einbettung der Rechtsgeltungslehre in eine institutionalistische Theorie des Rechts, wie sie von Schelsky im Anschluß an Ihering und Max Weber erarbeitet wurde, führt nicht nur zu gewandelten Vorstellungen von der Rationalität des Rechts — von Schelsky als juridische Rationalität bezeichnet —, sondern auch zu unerläßlichen Korrekturen am Begriff der Rechtsnorm bzw. der Rechtsregel. Auch die eingangs gestellte Frage nach der Rechtsgewinnung im Einzelfalle stellt sich nun nicht mehr als bloßes Anwendungsproblem, sondern vor allem in Form der von Werner Krawietz näher herausgearbeiteten Frage danach, was es heißt, einer institutionalisierten Rechtsregel zu folgen. Die Untersuchung wendet sich sodann der vielschichtigen Problematik der Konstitution der sozialen Ordnung bei Ihering zu. Auch hier wurde der Orientierung an sozial etablierten Erwartungen, Zielen und Zwecken im Anschluß an Ihering und Schelsky ein zentraler Stellenwert eingeräumt. Nach Ihering wird schon im Vorfeld sozialer Organisation im Wege symbolischer Generalisierung eine Institutionalisierung des menschlichen Verhaltens vorbereitet, die freilich auf den Einzelnen auch entfremdend wirken kann. Hieran schließt sich die Erörterung des Begriffs der Rechtsnorm in institutionentheoretischer Perspektive. Im Vordergrund steht dabei die Problematik sozialer Organisation im Rechtssystem, insbesondere die Stellung der Wissenschaft sowie der soziale Wandel durch Recht, der heute gesteigerte Aufmerksamkeit verdient. Entgegen geläufigen Vorstellungen von der Entwicklung des Rechts und seiner laufenden Fortentwicklung und Befolgung wird hier der Nachweis geführt, daß das rechtliche Geschehen von der staatlichen Organisation abhängig sein kann, aber nicht notwendig hiervon abhängig ist. Die Untersuchung entstand nach Abschluß meines ersten juristischen Examens an der juristischen Fakultät der Universität Athen während eines mehrjährigen Studienaufenthaltes an der Universität Münster. Die Arbeit wurde von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen WilhelmsUniversität zu Münster im Wintersemester 1986/87 als Dissertation angenommen und auf Vorschlag der Fakultät mit einem Universitätspreis ausgezeichnet. Die ersten Anregungen dazu, mich mit der rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Grundlagenforschung im Rahmen eines Studienaufenthaltes in Münster zu befassen, erhielt ich von Prof. Dr. Paul Sourlas, Athen. Ihm sei an dieser Stelle herzlich Dank gesagt, ohne daß ich ihn damit für die Folgen verantwortlich machen möchte, die sich aus seinen Anregungen ergeben haben. Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich ferner Herrn Prof. Dr. Bernhard Großfeld, dem Direktor des Instituts für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht der Universität Münster, für mancherlei Rat und Unterstützung, besonders aber dafür, daß ich an seinem Institut mehrere Jahre lang als Studentische Hilfskraft tätig sein durfte.
Vorwort
10
Für vielfältige Anregungen, Unterstützung und Förderung sowie den Vertrauensvorschuß, den ich erfahren habe, danke ich meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Dr. Werner Krawietz, an dessen Lehrstuhl für Rechtssoziologie, Rechts- und Sozialphilosophie ich seit mehreren Jahren als Wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig bin. Mein ganz besonderer Dank gilt ferner Herrn Prof. Dr. Nikolaos Intzessiloglou, Juristische Fakultät der Universität Thessaloniki (Departement für Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie). Ihm danke ich für zahlreiche anregende Gespräche und weiterführende Diskussionen, die ich während seines Forschungsaufenthaltes in Münster mit ihm führen durfte. Seine Anregungen fielen deshalb auf einen besonders fruchtbaren Boden, da ich in diesem Zeitraum mit der Endredaktion meiner Untersuchung befaßt war. Herzlich danken möchte ich an dieser Stelle auch meinen Eltern, die mir dieses Studium ermöglicht haben. Die Westfälische Wilhelms-Universität hat die Drucklegung dieser Untersuchung mit einem Druckkostenzuschuß gefördert, für den ich sehr zu Dank verpflichtet bin. Herrn Rechtsanwalt Norbert Simon, dem Geschäftsführenden Gesellschafter des Verlages Duncker & Humblot, danke ich für sein freundliches Interesse, die hilfreiche Förderung und seine Bereitschaft, diese Arbeit in die Schriftenreihe zur Rechtstheorie aufzunehmen. Münster, im Januar 1989 Athanasios Gromitsaris
Inhaltsverzeichnis Erster Abschnitt Recht und Rationalität bei und nach Ihering: Ansätze der Normentheorie von M a x Weber bis zu Theodor Geiger § 1 Theorie der Rechtsnormen bei Max Weber
13
I. Rechtsschöpfung und Rechtsfindung
13
II. Zwangsgarantie und Regelbegriff
38
III. Erwartungsbildung und Erwartungsorientierung
47
§ 2 Rechtsnormen und Rationalisierungsprozeß bei Rudolph von Ihering I. Iherings Reflexionstheorie des Rechts II. Rationalisierungsprozeß i m Recht bei Rudolph von Ihering § 3 Normentheorie von Theodor Geiger I. Soziale Differenzierung und Vergesellschaftungsprozeß 1. Konstitution der sozialen Ordnung 2. Regelhaftigkeit und Regelmäßigkeit 3. Gebarenskoordination und Gebarenserwartung 4. Institutionalisierung von Gebarenserwartungen 5. Individuum und soziale Ordnung II. Begriff der subsistenten Norm III. Rechtssatz und Rechtsnorm
62 62 76 89 89 93 97 98 99 100 106 113
Zweiter Abschnitt Theorie der Rechtsnormen, Rechtsgeltung und Rationalität des Rechts § 4 Geltungsgrundlagen der Rechtsnorm bei Rudolph von Ihering I. Inhaltsquelle der Rechtsnorm
128 128
II. Geltungsquelle der Rechtsnorm
141
III. Rechtsnorm und soziale Ordnung
145
IV. Staatszwang und Rechtsnorm
149
§ 5 Institutionentheorie des Rechts von Helmut Schelsky I. Systemfunktionaler und der politischfunktionale Theorieansatz II. Institutionen des Rechts als Kommunikationsstruktur
155 . . 155 182
III. Institution als Realitätskategorie und Beobachtungsschema
193
IV. Normativität und Institution
196
12
Inhaltsverzeichnis
§ 6 Juridische Rationalität bei Helmut Schelsky I. Π. ΙΠ. IV. V. VI. VII. VIII.
Funktionale Differenzierung Instanzen- und Rollenspiel im Recht Handlungsformierung Sinnbegriff Institutionalisierung Entscheidungsbegriff Verfahrensbegriff Spielregelbegriff
200 200 202 203 205 210 212 215 218
IX. Rechtssatz
221
X. Rechtsnorm XI. Staatliches und gesellschaftliches Recht
223 226
Dritter Abschnitt Rechtsordnung als gesellschaftliche Ordnung
§ 7 Konstitution der sozialen Ordnung bei Rudolph von Ihering I. Institutionsbegriff 1. Paradoxie der sozialen Ordnung 2. Erwartungsbegriff 3. Zweckbegriff 4. Symbolische Generalisierung II. Elemente des Normbegriffs 1. Reflexionsüberschuß und Forschungsgegenstand 2. Das Normieren 3. Die Maxime 4. Der Zweck
234 234 236 242 247 250 255 255 258 260 264
§ 8 Iherings Begriff der Rechtsnorm in institutionentheoretischer Perspektive 265 I. Organisation im Rechtssystem 1. Der Wille 2. Das Positivitätsbewußtsein 3. Zweckprogramme und Konditionalprogramme 4. Instanzen- und Rollenspiel II. Wissenschaft im Rechtssystem 1. Rechtsdogmatik, Rechtszetetik und Folgenorientierung 2. Rechtsdogmatik bei Rudolph von Ihering ΙΠ. Sozialer Wandel durch Recht 1. Rechtswirklichkeit und Rechtsgefühl 2. Subjektives Recht 3. Konsequenzen für die Theorie der Rechtsnormen
265 266 269 275 281 286 286 290 299 300 304 310
Literaturverzeichnis
313
Sachverzeichnis
340
Erster Abschnitt
Recht und Rationalität bei und nach Ihering: Ansätze der Normentheorie von Max Weber bis zu Theodor Geiger § 1 Theorie der Rechtsnormen bei M a x Weber I. Rechtsschöpfung und Rechtsfindung Die Ausführungen Webers bezüglich des modernen Rechts werden vom Begriff der formalen Rationalität geprägt. Manfred Rehbinder hat die These aufgestellt, daß damit die positivistische Rechtsauffassung der Begriffsjurisprudenz gemeint sei. Er sieht in der Verbindung gegenwärtigen Rechts und formaler Rationalität das hervorstechende Merkmal einer positivistischen Rechtsauffassung. Nach Rehbinders Ansicht veranlaßte die These von der zunehmenden, unaufhaltsamen Rationalisierung und vor allem die „Koppelung der Rechtsentstehungstypen mit den Rationalitätstypen" Weber zu der Behauptung, die Begriffsjurisprudenz sei als hoch technisierte und am stärksten logisierte juristische Methode das Idealrecht der Gegenwart. Für Weber sei daher die „Freirechtslehre und mit ihr jede angewandte Rechtssoziologie als bedauerlicher Abstieg von den Höhen des Endpunktes der Entwicklung" anzusehen.1 1. Die vier Rationalitätsstufen (irrational-formales, irrational-materiales, rational-formales und rationalmateriales Recht) führen unausweichlich zum „Recht der Spezialisten, die aus abstrakten Begriffen mit Hilfe der juristischen Logik' und dem Dogma der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung alle erforderlichen Einzelentscheidungen deduzieren... ". Die Freirechtsschule und die heute herrschende sogenannte Interessenjurisprudez gehen dagegen von der Lückenhaftigkeit der Rechtsordnung aus. Daher bejaht diese Ansicht die Notwendigkeit richterlicher Rechtsfortbildung und die Berücksichtigung metajuristischer Maßstäbe. Dies stelle jedoch nach Weber, so Rehbinder, eine Kriegserklärung gegen den Fachmann oder einen „Rückschlag ins Irrationale" dar. 2 Richterliche Rechtsschöpfung führe also eine Deprofessionalisierung und zunehmende laienhafte Irrationalisierung von Rechtsfindung und Rechtspflege herbei. Setze man das Rechtssystem nicht mit einem begrifflichen Gefüge gleich, so hebe man 1 Manfred Rehbinder, Max Webers Rechtssoziologie, Eine Bestandsaufnahme, in: René König, Johannes Winckelmann (Hrsg.), Max Weber zum Gedächtnis, Materialien und Dokumente zur Bewertung von Werk und Persönlichkeit, Kölner Zeitschrift f. Soziologie u. Sozialpsychologie, Sonderheft 7, Köln-Opladen 1963, S. 482f., 484. 2 Ebd., S. 482.
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§ 1 Theorie der Rechtsnormen bei Max Weber
die Möglichkeit logisch strengen Deduzierens aus Begriffen auf. Damit fiele der Rechtsgang der Unberechenbarkeit einer Kadijustiz anheim. Weber hege die unangebrachte Befürchtung, die erhöhte Bedeutung des Richters für die Rechtserzeugung würde die „liberalistisch-formale Rechtsordnung" auf ein „antiformales ,soziales Recht4 mit zahlreichen Generalklauseln und ihren Verweisungen auf außerrechtliche Sozialordnungen" umrüsten, welches der formalen Rationalität entbehre. 3 Die Ursache für diese Beurteilung erblickt Rehbinder in dem neukantianischen Hintergrund der Weberschen Wissenschaftslehre, d.h. in der unüberbrückbaren Trennung zwischen Sein und Sollen. Darauf aber beruhe die „Verurteilung jeder Grenzüberschreitung von Rechtswissenschaft einerseits und Soziologie andererseits". 4 Weber empfinde seine Rechtssoziologie „als ein Gegenstück zum Werk Kelsens", obwohl er es wie dieser für unannehmbar halte, juristische Begründungen durch „soziologische Räsonnements" zu ersetzen. Andererseits nimmt nach Rehbinder die Fehlbeurteilung der antiformalistischen Tendenzen in der Jurisprudenz in der Strukturanlage seiner idealtypischen Konstruktionen ihren Ursprung. Diese seien gegenüber dem „ewig fortschreitenden Fluß der Kultur" und den stets neuen Problemstellungen nach Weber notwendig der Vergangenheit verhaftet. Dies bedeute für die Wissenschaft die „Unvermeidlichkeit immer neuer idealtypischer Konstruktionen". 5 Im Rahmen von Entwicklungsprozessen ließe sich jedoch, so Rehbinder, ein sozialer Sachverhalt, der sich in einem „Interferenzstadium" befindet, durch Idealtypen unmöglich erfassen. Er befinde sich nämlich in einem Stadium, „in dem ein alter, bereits bekannter Idealtyp seine Brauchbarkeit zur Beschreibung dieses Sachverhaltes verliert und ein neuer Idealtyp, der die neuen Merkmale enthält, mangels historischer Erfahrung bisher noch nicht entwickelt worden ist." 6 Würde die Typologie von Entwicklungsstufen der Rechtsentstehung mit einem geradlinigen Prozeß der juristischen Professionalisierung, Logisierung und Technisierung, also mit der Typenreihe der Rationalitätsstufen, gekoppelt, so würden den schon bekannten Rechtsentstehungstypen ein abgeschlossener Charakter verliehen. Der Idealtypus der begriffsjuristischen Rechtsentstehung, „wie sie Weber am Ausgang des vorigen Jahrhunderts in ihrer Blütezeit kennengelernt hatte" 7 , sei inzwischen zur Erfassung der in einem Interferenzstadium befindlichen Freirechtsbewegung unbrauchbar geworden. Die charismatische Rechtsoffenbarung, das empirisch-kasuistische Honoratiorenrecht, die Rechtsoktroyierung 3
Ebd., S. 482. Ebd., S. 483. 5 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Hrsg. von Johannes Winckelmann, 4. ern. durchges. Aufl., Tübingen 1973, S. 206. Im folgenden zitiert: GAWL. 6 Rehbinder, (FN 1), S. 484. 7 Ebd., S. 482. 4
I. Rechtsschöpfung und Rechtsfindung
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durch weltliche oder theokratische Gewalten sowie die systematische Rechtssatzung u n d formallogische Rechtspflege durch Fachjuristen wurde als abgeschlossene Aufzählung v o n Rechtsentstehungstypen angesehen. D a d u r c h sei verhindert worden, daß die neue Bewegung als „Beginn eines neu entstehenden Rechsschöpfungstypus" verstanden wurde. 8 Rehbinder plädiert dafür, den Weg für neue Entwicklungsstufen des Rechts theoretisch dadurch freizumachen, daß die These Webers v o n dem unaufhaltsamen Vormarsch u n d dem begriffsjuristischen E n d p u n k t desselben aufgegeben werde. Die Textstellen, auf denen Rehbinder seine Weberexplikation aufbaut, beziehen sich vor allem auf das moderne Recht u n d den Begriff der formalen Rationalität. Die zentrale Stelle, die gewöhnlich den Ausgangspunkt der Interpretation u n d Diskussion des Begriffs der Rationalisierung des Rechts darstellt, behandelt die Klassifikation u n d geschichtliche E n t w i c k l u n g der Verschiedenheiten der rechtstechnischen M i t t e l . A n h a n d dieser Verschiedenheiten entwirft Weber ein Schema möglicher Rechtsstrukturen, die nach A r t u n d Ausmaß ihrer Rationalität gemessen werden. A u c h Rehbinders Auslegung beruft sich auf diese Stelle. „Rechtsschöpfung und Rechtsfindung können entweder rational oder irrational sein. Irrational sind sie formell dann, wenn für die Ordnung von Rechtsschöpfung und Rechtsfindungsproblemen andere als verstandesmäßig zu kontrollierende Mittel angewendet werden, ζ. B. die Einholung von Orakeln oder deren Surrogaten. Materiell sind sie irrational insoweit, als ganz konkrete Wertungen des Einzelfalls, seien sie ethische oder gefühlsmäßige oder politische, für die Entscheidung maßgebend sind, nicht aber generelle Normen. ,Rationale' Rechtsschöpfung und Rechtsfindung können wieder in formeller oder in materieller Hinsicht rational sein. Formell mindestens relativ rational ist jedes formale Recht.,Formar aber ist ein Recht insoweit, als ausschließlich eindeutige generelle Tatbestandsmerkmale materiell-rechtlich und prozessual beachtet werden. Dieser Formalismus aber kann wieder doppelten Charakter haben. Entweder nämlich können die rechtlich relevanten Merkmale sinnlich anschaulichen Charakter besitzen. Das Haften an diesen äußerlichen Merkmalen . . . bedeutet die strengste Art des Rechtsformalismus. Oder die rechtlich relevanten Merkmale werden durch logische Sinndeutung erschlossen und darnach feste Rechtsbegriffe in Gestalt streng abstrakter Regeln gebildet und angewendet. Bei dieser logischen Rationalität ist zwar die Strenge des anschaulichen Formalismus abgeschwächt . . . Aber der Gegensatz gegen die materiale Rationalität ist damit nur gesteigert. Denn diese letztere bedeutet ja gerade: daß Normen anderer qualitativer Dignität als logische Generalisierungen von abstrakten Sinndeutungen auf die Entscheidung von Rechtsproblemen Einfluß haben sollen: ethische Imperative oder utilitarische oder andere Zweckmäßigkeitsregeln oder politische Maximen, welche sowohl den Formalismus des äußeren Merkmals wie denjenigen der logischen Abstraktion durchbrechen." 9 2. Rehbinder versteht diese Ausführungen dahingehend, daß der Begriff der formalen Rationalität nichts anderes enthalte als reine L o g i k u n d A b s t r a k t i o n 8
Ebd., S. 484. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Hrsg. von Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen 1976, S. 396f. Im folgenden zitiert: WuG. 9
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§ 1 Theorie der Rechtsnormen bei Max Weber
von jeglichem von den Rechtsnormen intendierten materiellen Zweck. Die Definition der formalen Rationalität wird von Rehbinder wiedergegeben und mit den Äußerungen Webers zur Freirechtsschule in Verbindung gebracht. Die ausschließliche Beachtung von eindeutigen, generellen Tatbestandsmerkmalen bei der Einzelfallentscheidung und die inhaltliche Allgemeinheit der Rechtssätze werden also im Licht folgender Äußerungen betrachtet: Die Freirechtsbewegung ist, so Weber, „alles in allem, einer der charakteristischen Rückschläge gegen die Herrschaft des ,Fachmenschentums4 und den Rationalismus, der freilich letztlich ihr eigener Vater ist". 1 0 Rehbinder sieht die formale Rationalität unter dem Gesichtspunkt der Absage Webers an die Freirechtsschule und die soziologische Jurisprudenz. Dies bringt ihn dazu, die Hauptmerkmale der gemeinrechtlichen juristischen Methode, welche sich infolge ihres Abgleitens ins Mathematisch-Spielerische der heftigen Kritik der freirechtlichen Bewegung aussetzte, an den Rationalitätstypus des modernen formalen Rechts bei Weber heranzutragen. Die „Demaskierung der Begriffsjurisprudenz" 11 soll Weber demgemäß zurückgewiesen haben. Das Prinzip der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung und die Ableitung jeder rechtlichen Einzelentscheidung streng formal deduktiv nach den Regeln der juristischen Logik seien von Eugen Ehrlich als „Scheingebilde der juristischen Technik" bezeichnet worden. Die Rezeption der lückenhaften römischen Rechtsbücher und die Absicht der gänzlichen Verdrängung des überkommenen, bis dahin geltenden Rechts haben den Richtern den Zwang auferlegt, „mit gelehrten Fiktionen und Konstruktionen" die vorhandenen Lücken auf der Grundlage des römischen Rechts zu füllen. Das Dogma von der Lückenlosigkeit des römischen Rechts gewährte ihnen die Legitimation dieser Operation, weil er sie zur „Rückführung jeder Entscheidung auf einen staatlichen Rechtssatz zwang". Diese wissenschaftliche Umkehrung sollte zur Gewährleistung der Rechtssicherheit dienen. Ehrlich konnte aber darlegen, daß zuerst die jeweilige Lücke geschlossen wurde und erst nachträglich eine diesen Schritt legitimierende juristische Konstruktion gefunden wurde. Andererseits war die „Verpflichtung auf die juristische Logik" ein untaugliches Mittel, Rechtssicherheit zu garantieren, weil die formallogische Ableitung normativer Entscheidungen von anderen Normen „inhaltlich beliebig manipulierbar" ist. Insoweit wurde die „Unehrlichkeit in der Methode" der Begriffsjurisprudenz aufgedeckt. 12 Nun wird aber aus der Tatsache, daß sich Weber gegen die Freirechtsschule richtet, darauf geschlossen, daß er die gemeinrechtliche methodologische Umkehrung in der Urteils- und Einzelentscheidungsbegründung vertrete. Dies impliziert, daß in seiner Rechtssoziologie verschiedene positivistische Ansichten zur Geltung gebracht worden sind: zum einen die Monopolisierung der Rechtserzeugung seitens des Gesetzgebers und zum 10 WuG, S. 512; Manfred Rehbinder, Rchtssoziologie, Berlin—New York 1977, S. 5971, 63; ders., (FN 1), S. 481. 11 Manfred Rehbinder, Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich, Berlin 1967, S. 77 ff. 12 Zu dem ganzen Zusammenhang: Ders. (FN 1), S. 78 ff.
I. Rechtsschöpfung und Rechtsfindung
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anderen das deduktive logische Schließen aus einer lückenlosen Rechtsordnung. 1 3 I m folgenden w i r d der Versuch unternommen werden, eine andere, nicht positivistische Interpretation Webers vorzulegen. Dabei w i r d sich auch zeigen, daß Weber die begriffsjuristische Methodologie u n d ihre Entstehungsbedingungen hinterfragt hatte. Ihre „Demaskierung" brachte i h m nichts Neues. 3. Z u den Ausführungen Webers, i n denen die Klassifikation der Verschiedenheiten v o n Rechtsschöpfung und Rechtsfindung abgehandelt wird, hat Wolfgang Schluchter bislang die tiefgreifendste Exegese dargeboten. I n der doppelten Klassifikation der Rechtsschöpfungs- u n d Rechtsfindungstypen danach, ob sie hinsichtlich des formellen oder des materiellen Charakters des Rechts rational oder irrational sind, sieht Schluchter eine relativ eindeutige u n d eine eher rätselhafte Unterscheidung. Während die Begriffe rational u n d irrational relativ eindeutig verwendet werden, sind die Begriffe formell u n d materiell nicht ebenso klar. Er schlägt vor, daß formell „ a u f die Rechtsform, auf das ,Verfahren 4 , materiell auf den Rechtsinhalt, auf den Rechts-,Zweck' " bezogen w i r d . 1 4 U n t e r dem formellen Gesichtspunkt k o m m t es auf das Wie, das 13 Wie Wilhelm Hennis , Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1987, S. 120 ff., 122 Anm. 14 bemerkt, mit „positivistisch" ist Webers Rechtsverständnis sicherlich nicht angemessen definiert. Zu den noch nicht genauer untersuchten geistigen Beziehungen gehörten die zum Werk Rudolph von Iherings. Rechtsfragen interessierten Weber ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihrer möglichen politischen Wirkung. Nach Heiner Alwart, Recht und Handlung. Die Rechtsphilosophie in ihrer Entwicklung vom Naturrechtsdenken und vom Positivismus zu einer analytischen Hermeneutik des Rechts, Tübingen 1987, S. 83, sei hingegen Weber trotz seiner Kritik gegen den Neukantianer Stammler selbst zu sehr durch neukantianisches Gedankengut und kantische Erkenntnistheorie geprägt, als daß er dem Rechtsempirismus angehören könnte. 14 Wolf gang Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, Tübingen 1979, S. 130. Eine Würdigung der Erklärungsversuche der modernen westlichen Entwicklung und eine kritische Darstellung der Interpretationsvarianten zu Max Webers Erklärung des okzidentalen Rationalisierungsprozesses liefert Richard Münch, Theorie des Handelns. Zur Rekonstruktion der Beiträge von Talcott Parsons, Emile Durkheim und Max Weber, Frankfurt am Main 1982, S. 472ff., 484ff. Zu den Rationalitäts- und Berechenbarkeitsbedingungen des modernen Rechts s.: der s., Die Struktur der Moderne. Grundmuster und différentielle Gestaltung des institutionellen Aufbaus der modernen Gesellschaften, Frankfurt am Mai 1984, S. 380-479. Auch hier wird Berechenbarkeit und Rechtssicherheit mit Formalität und Unwidersprüchlichkeit verbunden. Vgl. ferner zu Webers Rationalitätskonzept: Karl Acham, Über einige Rationalitätskonzeptionen in den Sozialwissenschaften, in: Herbert Schnädelbach (Hrsg.), Rationalität. Philosophische Beiträge, Frankfurt am Main 1984, S. 32-69; Otfried Höffe, Sittlichkeit als Rationalität des Handelns? in: ebd., S. 141-174, 143 ff.; Bernd M. Lindenberg, Vorüberlegungen zu einer Theorie der modernen Industriegesellschaft. Kant, Weber und Parsons in systemtheoretischer Perspektive, Würzburg 1984, S. 116-204; Brigitte Hommerich, Der Wille zur Herrschaft und der Hunger nach Glück. Max Webers Werk aus der Sicht der Kritischen Theorie. Opladen 1986, S. 58-127; Julien Freund. Die Rationalisierung des Rechts nach Max Weber, in: Manfred Rehbinder/Klaus-Peter Tieck (Hrsg.), Max Weber als Rechtssoziologe, Berlin 1987, S. 9-36; Pietro Rossi , Die Rationalisierung des Rechts und 2 Groniitsaris
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§ 1 Theorie der Rechtsnormen bei Max Weber
Zustandekommen der Rechtsentscheidung also, unter dem materiellen dagegen auf das Was, den Inhalt derselben an. Des weiteren wird eine Unterscheidung zwischen formell und formal angenommen, die sich auf folgende Aussage stützt: „Formell mindestens relativ rational ist jedes formale Recht." Sie deutet, so Schluchter, darauf hin, daß formelle und materielle Komponenten des Rechts nicht gleichrangig sind. Jede dieser Komponenten kann eine Vorrangstellung der jeweils anderen gegenüber innehaben. Man spricht dann entweder von formalem oder von materiellem Recht. Beides unterliegt jedoch dem Rationalisierungsprozeß. 15 Nach diesen Unterscheidungen drängt sich nun die Frage auf, was formale und materiale Rationalisierung genau für Weber bedeuten. Schluchter setzt ebenso wie schon Weber, die Ausführungen über die Klassifikation der rechtstechnischen Mittel in Beziehungen zu den Richtungen der Rechtsrationalisierung und nicht, wie Rehbinder, zur Kritik an der Freirechtslehre. 16 Mit Richtungen der Rationalisierung werden „Denkmanipulationen" gemeint, die am normativen Stoff durchgeführt werden. Es handelt sich um Generalisieren, Konstruieren und Systematisieren, d.h. um die juristische, rechtswissenschaftliche Methode der formal-rationalen Jurisprudenz. Nico Roos hat die Ausführungen, die sich mit den Denkoperationen an den Rechtssätzen im Rahmen des Rationalisierungsprozesses befassen, im Anschluß an die Exegese Schluchters gründlich interpretiert. 17 Zu einem genaueren Verständnis der sehr knapp erläuterten rechtsmethodologischen Operationen und der formalen Rationalität hält er es für erforderlich, „auf die für den damaligen Rechtspositivismus grundlegenden methodologischen Ansichten des jüngeren Ihering zurückzugreifen". 18 4. Zunächst rekonstruiert Roos die quantitative und qualitative Verringerung der anschwellenden normativen Masse durch Analyse und logische Konzentration im Rahmen der niederen Jurisprudenz Iherings. Sodann wird die normerzeugende Tätigkeit der höheren Jurisprudenz wiedergegeben. Schließlich arbeitet Roos drei Arten von Zweckbegriffen heraus, die dieser prominenten positivistischen Methodenlehre zugrunde liegen sollen. Es ist seine Absicht zu zeigen, daß formale Rationalität „tatsächlich mehr enthält als reine Logik unter ihre Beziehung zur Wirtschaft, in: ebd., S. 37 - 54. Zu Max Webers Entwicklungsgeschichte und historischer Soziologie im Zusammenhang mit dem Rationalisierungsbegriff s.: Günther Roth, Politische Herrschaft und persönlich Freiheit. Heidelberger Max WeberVorlesungen 1983, Frankfurt am Main 1987, S. 283-305. 15 Schluchter, ebd., S. 131. 16 WuG, (FN 9), S. 396: „ M i t all diesen Gegensätzen", es werden die Richtungen der Rationalisierung gemeint, „teils zusammenhängend, teils sie kreuzend aber gehen die Verschiedenheiten der rechtstechnischen Mittel (einher), mit welchen die Rechtspraxis im gegebenen Fall zu arbeiten hat." 17 Nico Roos, Antiformale Tendenzen im modernen Recht — eine These Max Webers, diskutiert am Beispiel der Laienrichterfrage, in: Stefan Breuer ! Hubert Treiber (Hrsg.), Zur Rechtssoziologie Max Webers. Interpretation, Kritik, Weiterentwicklung, Opladen 1984, S. 223-268. 18 Ders., ebd. S. 223. Zum folgenden: S. 237, 243 ff.
I. Rechtsschöpfung und Rechtsfindung
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Verzicht auf Zweckerwägungen". Dies soll selbst unter der Annahme Gültigkeit haben, Max Weber sei ein Positivist gemeinrechtlicher Prägung. Es lassen sich nach Roos' Analyse folgende Zweckbegriffe in Ihrerings Methodologie finden: Erstens „der mit einem konkreten Rechtsinstitut verbundene Zweck", beispielsweise der Zweck des Kaufkontraktes, d. h. die Übertragung von Rechten gegen Entgelt. Der Zweck in diesem Sinne sei ein „methodischer Gesichtspunkt". Aus einem juristisch gesehen typischerweise „intendierten gesellschaftlichen Zweck eines sozialen Handelns" werde zwischen gewissen Rechtssätzen und Begriffen ein Zusammenhang hergestellt. Zweitens gebe es einen mit einem Rechtsprinzip verbundenen Zweck, der Rechtssätze oder Begriffe als Ausdruck und Folge eines normativen Prinzips erscheinen ließe, z.B. ob im Pfandrecht die Konsequenzen der Verjährung eines Anspruchs als Ausdruck des Akzessorietätsdogmas zu verstehen seien. Drittens werde die ratio juris als Utilitätsgedanke, als Auslesemittel unter mehreren juristisch möglichen Konstruktionen erwähnt. Die zwei ersten Zweckbegriffe seien rechtsimmanente Zweckmäßigkeitsbegriffe, während der dritte ein rechtstranszendenter, ein auf soziale Wirkungen abstellender Begriff sei. Der Rückgriff auf diese zweckgerichtete Begrifflichkeit des früheren Ihering sollte verdeutlichen, wie begriffsjuristische formale Logik und Zweckerwägungen innerhalb der formalen rechtspositivistischen Rationalität zusammenwirken. Daraus folgt, daß die formale Rationalität keinesfalls auf die reine Logik zu beschränken ist. Das gilt auch dann, wenn die Ausführungen zu den Richtungen der Rationalisierung als Beschreibungen der Methode der sogenannten Begriffsjurisprudenz verstanden werden. 19 Roos vertritt die Auffassung, Weber sehe sich der Begriffsjurisprudenz verpflichtet und befürworte einen Rechtspositivismus, der materielle Komponenten enthalte. Dieser Auffassung wird hier allerdings nicht beigestimmt. Rehbinders Kritik an den Ausführungen Roos' ist undifferenziert. 20 Weber könne seiner Meinung nach nicht für eine Begriffsjurisprudenz, die materielle Zweckargumente berücksichtige, reklamiert werden. M i t Febbrajo könnte man jedoch sagen, daß es richtiger ist, gegenüber Webers Werk „starre Stellungnahmen zugunsten einer nur nationalistischen4 oder nur ,irrationalistischen' Interpretation zu unterlassen". 21 Nachfolgend wird ein anderer Interpretationsversuch der Generalisierung und Systematisierung unternommen. 5. Die erste der zwei Denkmanipulationen ist die Generalisierung. Sie bedeutet einerseits die „Reduktion der für die Entscheidung des Einzelfalls maßgebenden Gründe" auf eines oder mehrere „Prinzipien", die Rechtssätze sind. 22 Andererseits bedeutet sie die vorausgehende oder gleichzeitige Isolierung und Abstrahierung der Tatbestände auf die Bestandteile hin, die rechtlich 19
Rehbinder, (FN 1), S. 482. Manfred Rehbinder, Max Weber und die Rechtswissenschaft, in: ders./Tieck, (FN 14), S. 127-150, 141 Anm. 54. 21 Alberto Febbrajo, Kapitalismus, moderner Staat und rational-formales Recht, in: Rehbinder/Tieck, (FN 14), S. 55-78, 75. 22 WuG, (FN 9), S. 395. 20
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§ 1 Theorie der Rechtsnormen bei Max Weber
relevant sein sollen. Sie ist die scheinbar elementarste Denkmanipulation und ist von Weber an einer anderen Stelle genauer und anschaulicher in historischer Perspektive festgelegt worden. a) Die Reduktion der für eine Einzelentscheidung maßgebenden Gründe auf ein Prinzip oder mehrere ist eine Operation, die sowohl vor der Entscheidung des Einzelfalles als auch danach vorkommt. Generalisierung bedeutet Selektion, Reduktion und Absehen von Mannigfaltigkeit. Der konkrete Entscheidungsfall kann nur durch Ausblendung des unter bestimmten Umständen Unerheblichen aus der Fülle von Ereignissen herausgegriffen werden. Nur auf diese Weise können auch die maßgebenden Entscheidungsgründe in ihrer Maßgeblichkeit erkannt und zur Entscheidungsmaxime erhoben werden. Diese Denkmanipulation findet bereits bei der primitiven Entscheidung durch magische Mittel der Rechtsoffenbarung statt. Die konkrete Entscheidungsmaxime erlangt jedoch über den jeweiligen Einzelfall hinaus keine Bedeutung. Es findet keine Generalisierung nach der Einzelentscheidung statt. Zunächst wirkt in erster Linie die Irrationalität des jeweiligen Einzelfalles. 23 Oft wird eigentlich die Maxime der konkreten Entscheidung nicht einmal dem Entscheidenden bewußt, oder sie ist gar nicht vorhanden. Aber auch nachdem sie erkannt wurde, gewinnt sie keine Maßgeblichkeit für künftige Entscheidungen. In diesen Fällen geht es um vollkommen irrationale Entscheidungen. Es kann hier nämlich „von ,Regelhaftigkeit' der Entscheidung weder im Sinne von Regelan Wendung noch von Regelschaffung die Rede" sein. 24 Die Herausbildung von Rechtssätzen setzt die Sprengung der Grenzen des Einzelfalles voraus. Die nach der Einzelentscheidung stattfindende Generalisierung bedeutet den unvermeidlichen Eintritt eines gewissen Maßes von „Stabilität und Stereotypierung" einer Maxime zur Norm. Dies geschieht, „sobald die Entscheidung Gegenstand irgendeiner Diskussion wird oder rationale Gründe dafür gesucht oder vorausgesetzt werden, also mit jeder Abschwächung des ursprünglichen rein irrationalen Orakelcharakters". Die Stabilisierung immer weiterer Entscheidungsmaximen zu Rechtssätzen, zu Normen, die auch für künftige Entschlüsse maßgebend sind, „beruht auf Kasuistik und fördert sie ihrerseits". Die stereotypierende Reduktion von Einzelentscheidungsgründen auf Prinzipien erfolgt nämlich auch durch die Faktizität des Entscheidens selbst, welche die Erwartung ähnlichen Entschlusses in gleichartigen Fällen erweckt und den Richter im Enttäuschungsfall dem Verdacht der Befangenheit aussetzt. Das „parataktische und anschauliche Assoziieren, die Analogie" verbindet Fälle miteinander, die durch eine ähnliche Maxime beherrscht zu sein scheinen. Die nachfolgenden Richter stehen dann vor einer Tradition, die ungebrochen erscheint. Jede getroffene Entscheidung erscheint als Ausdruck oder Bestandteil einer „richtigen und andauernden Tradition". Dabei spielt es im Einzelfall keine Rolle, wie sie zustande kam. Die Einzelmaximen durchbrechen die Geltungsgrenzen des Einzelfalles und präten23 24
WuG, S. 444. Hierzu und zum folgenden: WuG, S. 395, 444f.
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dieren, zu allgemeinen Normen generalisiert zu werden. Webers Überlegungen zur Herausbildung von Rechtssätzen durch Generalisieren lassen sich unmöglich als Beschreibung eines rein formalen logischen Verfahrens erfassen. Die Ausblendungs- und Verallgemeinerungsfunktion der Generalisierung wird nicht nur von einem literarisch organisierten Betrieb in Anspruch genommen, sondern auch und vor allem von der Rechtspraxis selbst. Die Maßgeblichkeit einer konkreten Entscheidungsmaxime für andere künftige Entschlüsse über den Einzelfall hinaus ist das Produkt eines Stabilitäts- und Streotypierungsprozesses. Daran sind Richter, Rechtsinteressenten und Rechtshonoratioren sowie eingespielte Verhaltensweisen beteiligt. Generalisierte Rechtsnormen sind nicht nur das Ergebnis der Abstraktion aus einem Begriffssystem, sondern auch und vor allem Frucht sozialer Kommunikation. b) Die zweite Denkmanipulation, die Weber erwähnt, ist die Systematisierung. Sie ist für ihn „in jeder Form ein Spätprodukt". 25 Systematisieren bedeutet, daß alle durch Analyse gewonenen Rechtssätze in einer Weise in Beziehung zueinander gesetzt werden, daß sie ein „ i n sich logisch widerspruchsloses", klares und „vor allem prinzipiell lückenloses System von Regeln" bilden. Alle denkbaren Tatbestände müßten logisch unter eine seiner Normen subsumiert werden können. Anderenfalls entbehre ihre innere Ordnung der rechtlichen Garantie. Die analytische Gewinnung von Rechtssätzen aus den Einzelfallen ergibt verallgemeinerungsfahige Entscheidungsmaximen und Tatbestandsmerkmale oder Bestandteile von Lebensverhältnissen, die für die Entscheidungsgrundlagen relevant sind. Rechtssätze und relevante Lebens Verhältnisse werden nun zum Gegenstand einer systematisierenden logischen Operation, die feststellt, „was an einem in typischer Art verlaufenden" sozialen Handeln angesichts der gewonnenen Rechtssätze tatbestandsmäßig rechtlich relevant ist. Damit wird beabsichtigt, diese relevanten Bestandteile anschließend in ein logisch widerspruchsloses Gefüge rechtlich einzuordnen. Auf diese Weise werden die Lebens Verhältnisse zu Rechtsverhältnissen. Letztere werden wiederum unter weiteren systematisierenden Zweckerwägungen zu Einheiten, zu Rechtsinstituten erhoben. Die Systematisierung ist in der Tat eine logische Operation, die die Rechtssätze in Rechtsverhältnisse, Tatbestände und Rechtsinstitute zerlegt und in abstrakten Begriffen darstellt. Es entsteht ein darstellendes Begriffssystem, welches Anspruch auf logische Lückenlosigkeit erhebt. Die Inbeziehungsetzung aller durch Analyse gewonnenen Rechtssätze bedeutet, daß die Darstellung und Formung der aufgrund sozialer Kommunikation generalisierten Entscheidungsmaximen der Übersicht und leichteren Auffassung der Rechtssätze dient. Die Darstellungsbegriffe der Systematisierung beinhalten die Aussage, daß es gemeinsame Merkmale gibt, die sich bei den Sollvorstellungen in den Rechtssätzen beobachten lassen. Die Allgemeinbegriffe sind beschreibende Ordnungsbegriffe, die Zusammenfassungen von normativen Elementen sind. Es kommt nur darauf an, ob Weber die beschreibenden Begriffe als normprodu25
Hierzu und zum folgenden: WuG, S. 396.
§ 1 Theorie der Rechtsnormen bei Max Weber
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zierend erachtet. Die Systematisierung wird auf jeden Fall als eine rechtswissenschaftliche Operation festgelegt, die am normativen Material durchgeführt wird. Der Satz Webers, infolge der Systematisierung entstehe ein „prinzipiell lückenloses System von Regeln", welches beanspruche, daß „alle denkbaren Tatbestände unter eine seiner Normen müssen logisch subsumiert werden können" 2 6 , kann in einem doppelten Sinne verstanden werden. Entweder ist Weber so zu verstehen, daß den allgemeinbegrifflichen rechtswissenschaftlichen Zusammenfassungen von normativ volitiven Elementen neue weitere Rechtsnormen entnommen werden können. Möglich ist auch, daß er die Konstruktionsfrage der Begriffsjurisprudenz eigentlich als Frage der Formulierung und der Einordnung von Darstellungsbegriffen in das Gefüge der Allgemeinbegriffe des Systems begreift. Die Antwort darauf würde jedoch nicht darüber entscheiden, ob Weber Begriffsjurist ist oder nicht. In der hier zu deutenden Ausführung geht es Weber nicht darum, das seines Erachtens beste Modell juristischer Technik, eine Methodenlehre, zu entwerfen. Vielmehr geht es ihm um die verschiedenen Richtungen der Rationalisierung des Rechts überhaupt. Anderenorts hat er den Entstehungsgrund der stark logisierten gemeinrechtlichen Methode und ihre Relativität als nur eine unter mehreren spezifischen Arten von Logisierung des Rechts dargelegt. 27 Eine andere Art der Logisierung wäre beispielsweise die Entwicklung eines formalen empirischen, an Präjudizien gebundenen Rechts. Bezüglich der Generalisierung und Systematisierung ist eher folgendes festzuhalten: Während die erste Denkmanipulation die Entstehung von Rechtssätzen betrifft und mit Richterschaft, Rechtsinteressenten und Gesetzgeber zugleich verbunden ist, scheint die Systematisierung unbedingt eine „Schicht von Rechtshonoratioren" vorauszusetzen, die „auf Grund literarischer Rechtsbildung" die Rechtsnormen zum „Gegenstand rein literarischen Betriebs" macht. 28 Die gemeinrechtliche Pandektistik ist für Weber der Idealtypus der spezifischen Art von Logisierung des Rechts durch Systematisierung. Dies läßt sich nicht durch die am geradlinigen Rationalisierungsprozeß liegende Zwangsläufigkeit der zunehmenden Logisierung begründen. Weber hat andere vollkommen kontingente Gründe hierfür angegeben, wie die Rezeption des römischen Rechts, welches siegreich überall dort vordrang, wo ein organisierter nationaler Juristenstand fehlte. An Eugen Ehrlichs „Demaskierung der Begriffsjurisprudenz" übt Weber keine Kritik, sondern er stimmt ausdrücklich mit ihm überein. „ U m überhaupt rezipiert werden zu können, mußten — wie namentlich Ehrlich mit Recht betont — die römischen Rechtsinstitute aller Reste nationaler Gebundenheit entkleidet und gänzlich in die Sphäre des logisch Abstrakten erhoben, mußte das römische Recht zum ,logisch richtigen 4 Recht schlechthin verabsolutiert werden." 29 26 27 28 29
WuG, S. 396. Hierzu und zum folgenden: WuG, S. 492 f. WuG, S. 492 f. WuG, S. 492 f.
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Die Kenntnis römisch-juristischer Entscheidungsmöglichkeiten wurde zu Darstellungsbegriffen verdichtet. Die „unsystematischen Gelegenheitsproduktionen abstrakter Rechtslogik" seitens der römischen Juristen wurden somit aus ihrem Zusammenhang mit dem Einzelfall gerissen und zu Prinzipien gesteigert, „aus denen nun deduktiv argumentiert wurde." Die Übertragung römischjuristischer fallgebundener Entscheidungen auf ihr wesensfremde, der Antike unbekannte Tatbestände ließ die Aufgabe in den Vordergrund treten, diese Tatbestände anhand von Darstellungsbegriffen logisch so aufzubereiten, daß sie unter den Merkmalen der vorhandenen normativen Begriffe doch subsumiert werden könnten. Mit dieser juristischen Konstruktion wurde die „heute vorherrschende Auffassung des Rechts" als eines widerspruchslos und lückenlos geschlossenen Komplexes von Normen maßgebend für das Rechtsdenken. Logisierte man das Recht auf diese spezifische Weise, so waren die Bedürfnisse „etwa der bürgerlichen Interessenten nach einem berechenbaren Recht" keineswegs entscheidend beteiligt. 30 Das Bedürfnis nach Berechenbarkeit des Rechts kann „ganz ebensogut und oft besser" durch eine andere Art von Logisierung gewahrt werden. Die vielberedete Lebensabgewandtheit der Konsequenzen der rein logischen juristischen Konstruktion hat den „internen Denkbedürfnissen der Rechtstheoretiker und der von ihnen geschulten Doktoren, also einer typischen Aristokratie der literarischen ,Bildung4 auf dem Gebiet des Rechts", Genüge geleistet. Zu den „Erwartungen der Verkehrsinteressenten" verhielt sie sich hingegen „ungemein häufig gänzlich irrational und geradezu disparat". 31 Der organisierte englische Advokatenstand, der die Richter aus seiner Mitte hervorgehen ließ, verhinderte die Aufnahme des römischen Rechts in den universitären Unterricht. Er ließ auch an nationalen Rechtsinstituten nicht rütteln, damit er die Monopolisierung der Bekleidung des Richteramtes behielt. 32 Gerade in diesem Umstand begründete sich die Entwicklung eines formalen, präjudiziengebundenen Rechts, welches die Entstehung des Kapitalismus durch seine lebensnahe Berechenbarkeit stark begünstigte. Der Wert der gemeinrechtlichen Systematisierung bleibt mithin bei Weber vollkommen relativ. Sie war historisch bedingt und stellte kein notwendiges Strukturelement der formalen Rationalität des Rechts dar. Die Verabsolutierung des logischen Moments im Recht hat Weber als Idealtypus bezeichnet. Dieser dient als gedanklicher Bezugs- und Vergleichpunkt dafür, daß das Rechtsdenken in einer bestimmten Phase von rechtstranszendenten auf rechtsimmanente Kriterien umgerüstet wird. Rationalisierung bedeutet also Generalisierung, d.h. Gewinnung von allgemeinen Rechtssätzen und Systematisierung. Das bedeutet die logische Ordnung des vorhandenen normativen Stoffs und den Aufbau eines Begriffssystems. Rechtliche Rationalisierung ist vor allem Isolierung und Abstraktion von Tatbestandsmerkmalen und Rechtssätzen. Die Rechtsentwick30 31 32
WuG, S. 492 f. WuG, S. 492 f. WuG, S.816f.
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lung ist für Weber, wie Schluchter es formuliert, „dadurch gekennzeichnet, daß sie die formelle und die materielle Komponente des Rechts, das Rechtsverfahren und den Rechtszweck, gleichsam isoliert und abstrahiert und damit ,formalisiert'". 33 Das logische Schlußfolgern der Begriffsjurisprudenz, die rein logische Neusystematisierung des alten römischen Rechts dürfen nicht mit der formalen Rechtsrationalität identifiziert werden. 34 Die begriffsjuristische Methode ist für Webers Überlegungen bezüglich des Rationalisierungsprozesses eine ideal typische Kosntruktion gewesen. Als Deutungsschema hatte sie die heuristische Funktion des Vergleichs von vorhandenem Recht mit einer Deutungsmöglichkeit. Dies bedeutete eine leichtere Festlegung der Rationalitätsmerkmale. Es wird hier der Meinung Schluchters beigestimmt, daß sich formale und materiale Rationalisierung des Rechts auf ein rechtsimmanentes und auf ein rechtstranszendentes Verhältnis beziehen, also „auf das Verhältnis zwischen den formellen und den materiellen Komponenten des Rechts einerseits, auf das Verhältnis zwischen den Rechtsnormen und den ,Normen anderer qualitativer Dignität' andererseits." 35 Rechtsentwicklung und zunehmende Rationalisierung bedeuten demnach einerseits Isolierung und Abstrahierung von allgemeinen Tatbeständen und Rechtssätzen sowie von Rechtsverfahren. Andererseits vollzieht sich eine immer deutlichere Abhebung der Rechtsnormen von anderen Normarten, wie „ethische Imperative", „utilitarische oder andere Zweckmäßigkeitsregeln" oder „politische Maximen". 3 6 6. Nun wenden wir uns den Ausführungen Webers über die antiformalen Tendenzen im modernen Recht zu. Es wird zwar behauptet, daß „an der offensichtlichen Fehleinschätzung der Freirechtsschule" durch den „kenntnisreichsten und scharfsinnigsten Gelehrten unserer Zeit nichts zu beschönigen ist". 3 7 Trotzdem sollen hier die hervorstechenden Merkmale der Freirechtsschule nicht nachgezeichnet werden. Es wird vielmehr versucht, die Grundlage und den Gegenstand der negativen Beurteilung Webers herauszuarbeiten. Ob sich die Ziele der Weberschen Kritik tatsächlich mit den Thesen der Freirechtsschule identifizieren lassen, mag dahingestellt bleiben. Nach Rehbinders Auffassung unterlag Weber einer positivistischen Fehleinschätzung der antiformalen Rechtstendenzen. Diese Auffassung soll unter genanntem Blickwinkel widerlegt werden. Ausgangspunkt der Überlegungen über die formalen Qualitäten des modernen Rechts ist das rechtliche Verfahren.
33
Schluchter, (FN 14), S. 135. WuG, (FN 9), S. 495. 35 WuG, S. 495. 36 WuG, S. 397. 37 Rehbinder, (FN 1), S. 481. Nach Bobbio standen Weber und Kelsen gegenüber Kantorowicz und Ehrlich in derselben Front: Norberto Bobbio, Max Weber und Hans Kelsen, in: Rehbinder/Tieck (Hrsg.), (FN 14), S. 109-126. Vgl. ferner: Pierangelo Schiera , Max Weber und die deutsche Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: ebd., S. 15134
168.
I. Rechtsschöpfung und Rechtsfindung
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a) Der Antiformalismus im modernen Recht löst bei Weber die Befürchtung aus, es trete eine Deprofessionalisierung und eine Gleichsetzung der Richterschaft mit der Kadijustiz ein. Es ist von daher interessant, die Abfolge formaler Strukturprinzipien des rechtlichen Verfahrens in historischer Perspektive darzustellen. Der primitive wird dem modernen Rechtsgang entgegengestellt. Dem primitiven Verfahren ist der „streng formale Charakter" eigentümlich. 38 Im Zeitalter „vor dem Siege des Zweckkontraktes" und des „Anstaltcharakters des politischen Verbandes" herrschte der „Dualismus des Rechts der Verbände". Innerhalb der Sippen, zwischen den Verbandsgenossen fand „patriarchale Streitschlichtung" statt, während zwischen verschiedenen Sippen ein „Sühneverfahren" den urwüchsigen Prozeß darstellte. 39 Ins Verfahren der primitiven Streitigkeitsschlichtung ragt die Magie derartig hinein, daß für jede Art von Rechtsfrage ein spezifisches Zaubermittel verwendet wurde. Der kleinste Fehler in der Aussprache der einschlägigen feierlichen Formeln bewirkte den Verlust des Rechtsmittels. In der Magie und dem „formal gebundenen Beweisrecht" nimmt der prozessuale Formalismus seinen Anfang. Im archaischen Beweisrecht ging es darum, welche Partei die Frage über ihr Recht an die magischen Gewalten stellen durfte oder mußte und in welchen Formen dies zu geschehen hatte. 40 Die Prozedur hat einen durchaus strengen formalen Charakter; die Entscheidungsmittel hingegen sind Zaubermittel, d. h. „andere als verstandesmäßig zu kontrollierende Mittel" und mithin irrational. 41 Die strenge Formalität des Sühne- oder Schiedsverfahrens zwischen streitenden Sippen bediente sich des Zaubers, Orakels oder Gottesurteils als Prozeß- und Beweismittel und erwartete ein auf der Autorität der angerufenen Mächte beruhendes material richtiges Urteil. 4 2 Dieser Formalität gegenüber ist der Formalismus des modernen Rechtsganges ein rationaler, weil er ausschließlich auf verstandesmäßig erfaßbaren Mitteln fußt. Es lassen sich, entwicklungsgeschichtlich gesehen, eine „Entzauberung der Rechtswege, ein Übergang vom anschaulichen zum logischen Formalismus" 43 feststellen. In beiden legitimiert sich der Rechtsgang durch Verfahren, sei es durch ein konkret-anschauliches oder durch ein abstrakt logisches.44 Der Rechtsgang verkörpert ein bestimmtes Verhältnis zwischen dem Wie und dem Was der Rechtsentscheidung. Im primitiven Prozeß ist das Wie zugleich das Was. Die magisch bedingte äußere Form bewirkt materiale Richtigkeit des Urteils. Im modernen Prozeß führt das richtig vollzogene äußerliche Rechtshandeln im Verfahren allein noch nicht zu einem material richtigen Urteil. Formelle Zulässigkeit und materielle Begründetheit sind etwas 38 39 40 41 42 43 44
WuG, S. 446 f. WuG, S. 417. WuG, S. 447. WuG, S. 396. WuG, S. 470. Schluchter, (FN 14), S. 142. Dersebd., S. 143, 145, 156.
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§ 1 Theorie der Rechtsnormen bei Max Weber
grundsätzlich Verschiedenes, sie sind beide zur Legitimation des Urteils notwendig. Die formelle Komponente ist rational, weil sie aus einem abstraktlogischen Verfahren besteht; die materielle Komponente ist ebenfalls rational, weil sie aus abstrakt-isolierten, generellen Rechtssätzen und Tatbeständen besteht. Im primitiven Rechtsgang gibt es keine Abstraktheit von Tatbeständen, und der Begriff der objektiven, allgemeinen Norm fehlt vollkommen. Beide Rechtsgänge basieren auf Legitimation durch Verfahren. Die moderne Rechtspflege verwendet Verfahren, die, wie Schluchter sagt, „inhaltsbezogen bleiben und ohne diesen Bezug legitimationsunfahig sind". 45 Im folgenden gilt es, die Rolle darzulegen, welche Weber dem Richter im Rahmen des abstrakt-logisch gestalteten Verfahrens zukommen läßt. Genauer gesagt handelt es sich zunächst darum, die Auffassung Webers zu hinterfragen, nach der antiformalistische Tendenzen aus der rationalen richterlichen Instanz eine Kadijustiz oder Rechtsprophetie machen. 46 Ebenso ist der Begriff der Formalismus zu klären. b) Wenden wir uns nun den zwei Vorwürfen der Rechtsprophetie und der Kadijustiz zu. Ihre Hauptmerkmale werden die Ziele der Kritik Webers und den Formalismus in der modernen Rechtspflege nur verdeutlichen. Gegenüber einem ausschließlich interpretierenden Rechtstraditionalismus, der auf Heilighaltung eingebürgerter, theoretisch unabänderlicher Handelnsgepflogenheiten fußt, stellt die charismatische Offenbarung einer individuellen Entscheidung im Einzelfall oder auch einer generellen Norm ein umstürzlerisches, urwüchsig revolutionierendes Element dar. 4 7 Sie ist „die Mutter aller,Satzung 4 von Recht4' und zeichnet sich durch die Merkmale der charismatischen Herrschaft aus. Letztere wird von Weber zum einen mit Hilfe der Begriffe alltäglich — außeralltäglich und zum andern aufgrund des Begriffspaares persönlich — sachlich beschrieben. 48 Charismatische Rechtsoffenbarung ist im Gegensatz zum traditionellen Recht etwas Außeralltägliches. Ihr Legitimationsprinzip beruht auf Sendung und kennt die Gefahr ihrer Veralltäglichung als einzige äußere Schranke. 49 In erster Linie ist aber die charismatische Herrschaft eine persönliche. Das Charisma ist eine alltagsenthobene, sendungsgebundene Persönlichkeitsqualität, die — unter Bewährungszwang stehend — kraft Offenbarung oder „konkretem Gestaltungswillen44 neue Gebote schafft. In ihrer Struktur gibt es keine feststehenden Behörden, sondern nur im Umfang des charismatischen Auftrags des Herrn und des eigenen Charisma „beauftragte Sendboten44. Es gibt kein „Reglement, keine abstrakten Rechtssätze. Ebenso findet keine an den Rechtssätzen orientierte rationale Rechtsfindung statt; keine an traditionellen Präzedenzien orientierten Weistümer und Rechtssprüche 44.50 45 46 47 48 49 50
Ders., WuG, WuG, WuG, WuG, WuG,
ebd., S. 156. S. 507 f., 511 f. S. 19, 446. S. 140 ff. S. 661. S. 141.
I. Rechtsschöpfung und Rechtsfindung
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Es gibt nur traditionsfreie „aktuelle Rechtsschöpfung von Fall zu Fall". Mit Kadijustiz meint Weber eine materiale Justiz, die mit den „wirklichen Prinzipien der Rechtsprechung des Qadi" sehr wenig gemeinsam hat. 5 1 Der Ausdruck wird in seinem „sprichwörtlichen" und nicht im „historischen Sinne" gebraucht, weil der islamische Kadi in seiner realen historischen Erscheinung traditionsgebundener und äußerst streng interpretierender Richter ist. 5 2 Demgegenüber beruht die Kadijustiz auf dem konkreten, ethisch, politisch oder sozialpolitisch bedingten Gefühl. Ihr Hauptmerkmal liegt in der Anwendung konkreter, individueller oder politischer Billigkeits- und Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte. Die Urteilsfindung sei, so Weber, sofern nicht magisch bedingt, an materialen und nicht an formalen Maßstäben orientiert. Daher sei sie, an formalen Maßstäben oder ökonomischen Erwartungen gemessen, „stark irrationale und konkrete Billigkeitsjustiz". 53 Es geht im Grunde genommen um ein Heliastengericht, wo durch „Pathos, Tränen und Beschimpfungen des Gegners" auf die Richter eingewirkt wird. 5 4 Das Urteil werde nach unvorhersehbaren Kriterien gefällt. Wenn Weber, den Antiformalismus im modernen Recht kritisierend, gegen Rechtsprophetie und Kadijustiz zu Felde zieht, hat das konkret zu bedeuten, daß er sich gegen die beiden folgenden Merkmale der Rechtsfindung wendet. i) Zunächst spricht er sich gegen die Persongebundenheit der Urteilsfindung im Zusammenhang mit einer Traditions-, Präzedenzien- und Satzungsenthobenheit aus. Der sich in der Rechtsoffenbarung „zu prophetischem Bruch mit aller Tradition" steigernde Rechtsspruch entspräche einer Außerachtlassung von Präjudizien und abstrakten Rechtssätzen im modernen Recht. Dies würde der Rechtsfindung einen „genuinen charismatischen' Charakter" verleihen. 55 Weber ist sich darüber im klaren, daß das Recht „lange Epochen hindurch ein Produkt der Tätigkeit der zunehmend juristisch beratenen Rechtsinteressenten und der zunehmend juristisch gebildeten Richter gewesen ist und teilweise noch ist". 5 6 Es ist ihm auch bekannt und geläufig, daß „noch jetzt die Gerichtspraxis . . . gerade nach dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs, gelegentlich teils praeter, teils sogar contra legem ganz neue Rechtsprinzipien aufstellt". Aus dieser Tatsache will er jedoch nicht die Überlegenheit des „konkreten zweckrationalen Interessenausgleichs gegenüber der Schaffung und Anerkennung von ,Normen' überhaupt" ableiten. Weber wendet sich insofern gegen die richterliche Rechtsschöpfung, als diese die Merkmale der Rechtsprophetie aufweist. Er glaubt, es würden Normen unter Außerachtlassung der schon vorhandenen geschaffen. Dieser Vorgang geschehe infolge sich selbst legitimierender, perso51 52 53 54 55 56
WuG, S. 300. WuG, S. 657. WuG, S. 486. WuG, S. 816. WuG, S. 563, 510. Hierzu und zum folgenden: WuG, S. 508.
§ 1 Theorie der Rechtsnormen bei Max Weber
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nengebundener Autorität. Kritisiert wird nicht der rechtsschöpferisch tätige Richter überhaupt, sondern der Richter-Rechtsprophet, der nach dem Motto handelt: „Es steht geschrieben — ich aber sage euch". 57 Derselbe fordert und bringt neue Gebote hervor, die rechtlich nicht anschlußfahig zu sein brauchen. Auf das moderne Recht übertragen, bedeutet Rechtsprophetie, daß die verschiedenen Rechtsentscheidungen sich nicht ausreichend aufeinander beziehen und aneinander anschließen. ii) Weber wendet sich außerdem gegen die Urteilsfindung aufgrund außerrechtlicher Normen. Wie schon oben dargelegt, ist es für die Kadijustiz in erster Linie kennzeichnend, daß sie nach konkreten „ethischen oder anderen praktischen Werturteilen" entscheidet.58 Wesentlich ist, daß der konkrete Werturteilscharakter hier mit „Normen anderer qualitativer Dignität" verbunden ist. 5 9 In der Kadijustiz haben wir es mit einem rechtstranszendenten Verhältnis zu tun. Wenn also Weber den antiformalen Tendenzen im modernen Recht den Vorwurf der Kadijustiz macht, hat er kein rechtsimmanentes Verhältnis im Auge. Es geht ihm weder um das Verhältnis zwischen abstraktlogischem Verfahren und abstrakten Tatbeständen in der Rechtspflege noch um den Logisierungsgrad und die Einfügung der Rechtssätze in ein Begriffssystem, aus welchem sich dann deduktiv argumentieren läßt. Das moderne Recht setzt sich im Hinblick auf den noch „unaustragbaren Gegensatz zwischen formalem und materialem Prinzip der Rechtspflege" der Gefahr der Entartung zu Kadijustiz aus. 60 Unter diesem Gegensatz kann, wenn man den Satz im Kontext sieht, nur der Konflikt zwischen dem fachkundig sublimierten Recht und der materiellen Rationalität verstanden werden. Zur Beantwortung der Frage nach der materiellen Rationalität kommt es entscheidend darauf an, welche Normart den Konflikt letztlich entscheidet, ob nämlich „ganz konkrete Wertungen des Einzelfalls, seien sie ethische oder gefühlsmäßige oder politische, für die Entscheidung maßgebend sind, nicht aber generelle Normen". 6 1 Es handelt sich um die Ausdifferenzierung und Abhebung der Rechtsnormen von andersartigen sozialen Normen. 62 Die Kadijustiz ist materiell irrational, weil sie andersartige als rechtliche Normen zur Anwendung bringt. Die kommt beispielsweise auch dann vor, wenn die Fachpsychiatrie auf kriminellem Gebiet die Fachjustiz „entmündigt". Dann wird nämlich die Verantwortung für die Beurteilung schwerer Straftaten auf Anwendung andersartiger Normen abgewälzt. Der Fachpsychiatrie weist der „Rationalismus" eine Aufgabe zu, „welche sie mit den Mitteln echter Naturwissenschaft gar nicht lösen" kann. Anschließend folgt die Ansicht Webers über den unaustragbaren Gegensatz zwischen formalem und materialem Prinzip in der Rechtspflege. 63 57 58 59 60 61 62
WuG, S. 141. WuG, S. 563. WuG, S. 397. WuG, S. 512. WuG, S. 396. Schluchter, (FN 14), S. 135.
I. Rechtsschöpfung und Rechtsfindung
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7. Demzufolge läßt sich auch die andere, die Freirechtslehre betreffende u n d die Interpretation Rehbinders vordergründig stützende zentrale Fundstelle, anders beleuchten. Sie lautet: „Wirklich bewußt schöpferisch', d. h. neues Recht schaffend, haben sich nur Propheten zum geltenden Recht verhalten. Im übrigen ist es, wie nochmals nachdrücklich zu betonen ist, durchaus nichts spezifisch Modernes, sondern gerade auch den, objektiv betrachtet, am meisten schöpferischen' Rechtspraktikern eigen gewesen, daß sie subjektiv sich nur als Mundstück schon — sei es auch eventuell latent — geltender Normen, als deren Interpreten und Anwender, nicht aber als deren ,Schöpfer', fühlten. Daß man heute diesem subjektiven Glauben . . . den objektiv anders liegenden Tatbestand entgegenhält . . . ist jedenfalls Produkt intellektualistischer Desillusionierung . . . Jedenfalls aber wird die juristische Präzision der Arbeit, wie sie sich in den Urteilsgründen ausspricht, ziemlich stark herabgesetzt werden, wenn soziologische und ökonomische oder ethische Räsonnements an die Stelle juristischer Begriffe treten. — Die Bewegung ist, alles in allem, einer der charakteristischen Rückschläge gegen die Herrschaft des ,Fachmenschentums' und den Rationalismus, der freilich letztlich ihr eigener Vater ist." 6 4 Wenn Weber meint, die juristische Präzision der A r b e i t würde stark herabgesetzt werden, falls andersartige als juristische Räsonnements die Entscheidungskriterien wären, spricht er sich nicht für eine rein logisch aufzufassende formale Rationalität aus. I h m geht es d a r u m zu vermeiden, daß Recht u n d andere soziale N o r m e n i m abstrakt-anschaulichen Verfahren des modernen Rechtsganges ohne weiteres ineinander konvertierbar sind. Dies würde gewiß einen charakteristischen Rückschlag gegen die Herrschaft des Spezialistentums 6 5 u n d den Rationalismus, eine Entdifferenzierung des Rechts bedeuten. Das Verhältnis zwischen Rechtsschöpfung und Rechtsfindung i m modernen Recht hat Weber zusammenfassend i m nachfolgenden Gedanken beschrieben: „Es ist nun vollkommen wahr, daß,Sachlichkeit' und,Fachmäßigkeit' nicht notwendig identisch sind mit Herrschaft der generellen abstrakten Norm. Nicht einmal auf dem Boden der modernen Rechtsfindung. Der Gedanke des lückenlosen Rechts ist bekanntlich prinzipiell heftig angefochten, und die Auffassung des modernen Richters als eines Automaten, in welchen oben die Akten nebst den Kosten hineingeworfen werden, damit er unten das Urteil nebst den mechanisch aus Paragraphen abgelesenen Gründen ausspeie, wird entrüstet verworfen, — vielleicht deshalb, weil eine gewisse Annäherung an diesen Typus an sich in der Konsequenz der Rechtsbürokratisierung liegen würde. Auch in dem Bereich der Rechtsfindung gibt es Gebiete, auf denen der bürokratische Richter direkt zu ,indvidualisierender' Rechtfindung vom Gesetzgeber hingewiesen ist. — Und vollends 63
Zu dem ganzen Zusammenhang: WuG, S. 511 f. WuG, S. 512. 65 Zur soziologischen Theorie der Professionalisierung und zu ihrer Bedeutung für die Bürokratisierung und Modernisierung des Staates bei Max Weber s.: Jahns-Jürgen Hohm, Politik als Beruf. Zur soziologischen Professionalisierungstheorie der Politik, Opladen 1987, S. 79-177. Nach Klaus-Peter Tieck, Persönlichkeit, Ordnungen, Interessen. Die Rechtssoziologie im Werk Max Webers, in: Rehbinder /ders. (Hrsg.), (FN 14), S. 79-107, 96ff., 102 Anm. 52, stehe die Freirechtsbewegung Weber wohl mehr für einen „Rückschlag gegen den Juristen als Persönlichkeit', der bereits zum Fachmenschen erstarrt sei. 64
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pflegt man gerade für das Gebiet der eigentlichen Verwaltungstätigkeit — d.h. für alle staatliche Tätigkeit, die nicht in das Gebiet der Rechtsschöpfung und Rechtsfindung fällt — die Freiheit und Herrschaft des Individuellen in Anspruch zu nehmen, der gegenüber die generellen Normen überwiegend als Schranken der positiven, niemals zu reglementierenden schöpferischen' Betätigung des Beamten eine negative Rolle spielten. Die Tragweite dieser These möge hier dahingestellt sein. Das Entscheidende bleibe doch: daß diese ,frei' schaffende Verwaltung (und eventuell: Rechtsprechung) nicht, wie wir das bei den vorbürokratischen Formen finden werden, ein Reich der f r e i e n Willkür und Gnade, der p e r s ö n l i c h motivierten Gunst und Bewertung bilden würde. Sondern daß stets als Norm des Verhaltens die Herrschaft und rationale Abwägung sachlicher' Zwecke und die Hingabe an sie besteht. Auf dem Gebiet der staatlichen Verwaltung speziell gilt gerade der das schöpferische' Belieben des Beamten am stärksten verklärenden Ansicht als höchste und letzter Leitstern seiner Gebarung der spezifisch moderne, streng »sachliche' Gedanke der ,Staatsraison' . . . Entscheidend ist für uns: daß prinzipiell hinter jeder Tat echt bürokratischer Verwaltung ein System rational diskutabler ,Gründe', d.h. entweder: Subsumtion unter Normen, oder: Abwägung von Zwecken und Mitteln steht." 66 Die kennzeichnenden Hauptmerkmale der bürokratischen Organisation werden in der vorliegenden Stelle i n Verbindung m i t der Rechtspflege gebracht. 6 7 Es ist die Rede v o n „Sachlichkeit", „ F a c h m ä ß i g k e i t " u n d v o n „bürokratischem Richter". Ausgangspunkt ist die Eingliederung der Rechtsinstanzen i n die staatliche Bürokratie, u n d die erste Frage, die sich stellt, geht dahin, wie sich diese Eingliederung der Gerichtsbarkeit u n d der Rechtspflege auf die konkrete richterliche oder verwaltungsgerichtliche Fallentscheidung auswirkt. Die Bürokratisierung der richterlichen Entscheidungstätigkeit könnte dahingehend gedeutet werden, daß das vorgegebene kodifizierte Gesetzesrecht i n einem rein logischen Deduktionsprozeß nach syllogistischem Muster nur angewandt zu werden bräuchte. D i e neu entstandene bürokratische Rechtshörigkeit würde darin bestehen, daß bezüglich der Rechtsfindung Handlungsmöglichkeiten und Handlungszwang nur auf einer Ebene der professionellen Problemlösung eröffnet werden dürften. A u f dieser wäre der Richter ein Gesetzessklave und Paragraphen-Automat, der die Berechenbarkeit des Entscheidens m i t der Zuverlässigkeit einer Maschine gewährleisten würde. I n zahlreichen Stellen der Ausführungen über die bürokratische Herrschaft klingt die Maschinen-Meta66
WuG, (FN 9), S. 565. Vgl. die Darstellung des weiten Bezugsrahmens der Bürokratisierung in: Stanley Diamont / Wolf-Dieter NarrI Rolf Homann (Hrsg.). Bürokratie als Schicksal?, Opladen 1985; Roslyn Wallach Bollogh, Gegenüberstellung von Max Webers dualistischem Konzept und Karl Marx' dialektischem Konzept, in: ebd., S. 20-40; Mam J. Cha, Ein Ursprung bürokratischer Werte in Amerika und anderswo. Eine Betrachung amerikanischer Kenntnisse über die öffentliche Verwaltung und die Übertragung auf Entwicklungsländer, in: ebd., S. 41 -53; JeraldZaslove, Einbahnstraße. Die Produktion einer BildungsKultur: Das Erbe des Formalismus und das Dilemma bürokratischer Bildung, in: ebd., S. 103-125. Ferner hierzu: Wolfgang Schluchter, Rationalismus der Weltbeherrschung. Studien zu Max Weber, Frankfurt am Main 1980, S. 75-133 und 170-184; Johannes Weiß, Das Werk Max Webers in der marxistischen Rezeption und Kritik, Opladen 1981, S. 146165. 67
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pher an oder wird ausdrücklich benutzt. Weber greift sie sowohl in bezug auf den bürokratischen Apparat im ganzen als auch auf das einzelne regelunterworfene Organisationsmitglied auf. 68 Dieser Vergleich der richterlichen Entscheidungstätigkeit mit einem Paragraphen-Automaten, mit der Kalkulierbarkeit der voraussehbaren Leistung einer Maschine, kann zu einem Mißverständnis der Richter position bei Weber führen. Einerseits wird die Maschine üblicherweise mit Entmenschlichung verbunden. Hiergegen ist man vielfach zu Felde gezogen, um die Menschlichkeit des Menschen zu retten. Andererseits ordnet dieser Vergleich die verschiedenen Seiten der richterlichen Tätigkeit einem einzigen Zweck und einer einzigen Funktion zu. Darin liegt eigentlich sein fehlerhafter Angelpunkt begründet. 69 Die Einheitlichkeit der Funktion aller Teile einer Maschine wird dann unbekümmert auf gerade den Bereich der sozialen Verhaltensweisen übertragen, wo Multifunktionalität herrscht. Bezüglich der Maschinenanalogie stellen sich zwei Fragen, die zugleich den Schlüssel für das Verständnis der zitierten Ausführungen darstellen: a) Was wird bei der konkreten Fallentscheidung mit dem Mechanischen bezeichnet? b) Ist die richterliche oder verwaltungsgerichtliche Tätigkeit einem einzigen Zweck und einer einzigen Funktion zugeordnet? a) Üblicherweise symbolisiert die Maschine den Fortschritt. Es handelt sich in diesem Zusammenhang um den Fortschritt zum bürokratisch organisierten Staat und seinem Recht. Der Vormarsch und das Vordringen der bürokratischen Struktur liegt in ihrer „technischen Überlegenheit" über jede andere Organisationsform. Die Bürokratie verhält sich in ihrer vollständigen Durchführung und Entwicklung zu den anderen Organisationsformen „genau wie eine Maschine zu den nicht mechanischen Arten der Gütererzeugung. Präzision, Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Aktenkundigkeit, Kontinuierlichkeit, Diskretion, Einheitlichkeit, straffe Unterordnung", unterscheiden sich von anderen Organisationsformen. 70 Die spezifisch moderne, bürokratische Form der 68
Roos, (FN 17), S. 261. Niklas Luhmann, Zweck — Herrschaft — System. Grundbegriffe und Prämissen Max Webers, in: ders., Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung, Opladen 1971, S. 90-112,111. Vgl. ferner die Begriffe „Appareil" und „Étatappareil" bei Edgar Morin, La Méthode, Bd. 1, La Nature de la Nature, Paris 1977, S. 239248. ,,L' appareil dispose du pouvoir de transformer de Γ information en programme, c'est à dire en contrainte organisationeile." Diese programmierende Funktion dient keineswegs einem einzigen Zweck. Zum Begriff der Maschine s. den Vergleich zwischen „machines artificielles" und „machines sociales". „Le mot de machine, il faut le ,sentir 4 aussi dans le sens pré-industriell ou extra-industriel où il désignait des ensembles ou agencements complexes dont la marche est pourtant régulière et régulée: la ,machine ronde 4 de La Fontaine, la machine politique, administrative... Il faut surtout le sentir dans sa dimension poietique, terme qui conjugue en lui création et production, pratique et poésie. Il ne faut pas gommer la possibilité de création dans Γ idée de production. 44 : ders., ebd., S. 160-181, 160f., 172ff., 177; Niklas Luhmann, Staat und Politik. Zur Semantik der Selbstbeschreibung politischer Systeme, in: Udo Bermbach (Hrsg.), Politische Vieteljahresschrift. Sonderheft 15 (1984). Politische Theoriegeschichte. Probleme einer Teildisziplin der Politischen Wissenschaft S. 99-125, 117, 125 Anm. 51. 69
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Rechtspflege hat eine besondere Funktionsweise. Diese kommt vor allem in der Fachschulung und Fachqualifikation der Beamten und Berufsrichter sowie in der Unpersönlichkeit der verfolgten sachlichen Zwecke zum Ausdruck. Die Eingliederung des Rechtsganges in den Verwaltungsstab des Staatsverbandes bedeutet nicht die Aufnahme in eine einheitliche Maschinerie. Innerhalb des Staatsverbandes sind mehrere Verbandsordnungen vorhanden, die Behörden. Die Behörde wird als „ein kontinuierlicher regelgebundener Betrieb von Amtsgeschäften innerhalb einer Kompetenz" definiert. 71 Eine jede Behörde konstituiert sich aus drei Momenten: a) aus einer festen Verteilung von regelmäßigen Tätigkeiten als amtlichen Pflichten; b) aus einer festen Verteilung der zur Erfüllung der Amtspflichten erforderlichen Befehlsgewalten; c) aus Personen, die durch eine generell geregelte Fachqualifikation gekennzeichnet sind. 72 Die drei Elemente des Behördebegriffs lassen sich nun dahingehend erfassen, daß sie auf zwei Bereiche zurückzuführen sind. Der eine Bereich bezieht sich auf generell-abstrakte Regeln, die positiv sind. Ihre Positivität liegt nicht nur in einem Satzungsakt, sondern in dem Positivitätsbewußtsein, d. h. in der Tatsache, daß sie als ersetzbar, änderbar festgelegt sind. Abstrakte Regeln gelten „kraft positiver Satzungen, an deren Legalität geglaubt wird". 7 3 Dieser Legalitätsglaube besagt nichts anderes als die „Fügsamkeit gegenüber formal korrekt und in der üblichen Form zustandegekommenen Satzungen". 74 Formale Korrektheit legitimiert beliebige Satzungen, die auch anders möglich wären. Der Bereich der generell abstrakten Regeln in der Vergesellschaftungsform einer Behörde läßt sich also auf formal korrekte positive Satzungen zurückführen. Der andere Bereich, auf dem die drei Elemente des Behördebegriffs fußen, ist derjenige der Verhaltensweisen, welche die beteiligten Personen, die Behördenmitglieder (die Beamten) innerhalb der abgegrenzten Kompetenzen an den Tag legen. Gemäß ihrer bürokratischen Struktur ist eine Behörde in Mitgliedschaftsstellen gegliedert, die Ämter heißen. Das Amt ist eine Stelle, die trotz des Wechsels der Amtspersonen ihre Identität behält. Jeder Stelleninhaber muß Voraussetzungen erfüllen und Anforderungen genügen, die an alle tatsächlichen oder möglichen Inhaber dieser Stelle gestellt werden. Die Innehabung eines Amts wird „rechtlich und faktisch nicht als Besitz einer gegen Erfüllung bestimmter Leistungen ausbeutbaren Renten- oder Sportelquelle... und auch nicht als ein gewöhnlicher entgeltlicher Austausch von Leistungen, wie im freien Arbeitsvertrag", angesehen. Die Amtsstelle wird mit der Bedingung der allgemeinen Regelbefolgung verknüpft. Sie wird an die abstrakt gestellte Anforderung der Fügsamkeit gegenüber den positiv geltenden Satzungsentschließungen gebunden. Die Übernahme einer Stelle bedeutet Übernahme einer generell geregelten Mitgliedschaftsrolle. Der „Eintritt in das Amt gilt . . . als 70 71 72 73 74
WuG, WuG, WuG, WuG, WuG,
S. 561 f. S. 125. S. 561. S. 19. S. 19.
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Übernahme einer spezifischen Amtstreuepflicht gegen Gewährung einer gesicherten Existenz." 75 Die moderne Amtstreuepflicht stellt keine Beziehung zu einer Person her, sondern sie gilt einem „unpersönlichen, sachlichen Zweck". 7 6 Die Stelle ist zudem mit der Verfolgung eines Zwecks verbunden, der auch zu den Mitgliedschaftsbedingungen gehört. Der Stelleninhaber ist „ein Beamter im Dienste eines sachlichen Zwecks". 77 Die Mitgliedschaft setzt als spezialisierte Amtstätigkeit eine eingehende Fachschulung voraus. Dies liegt gerade an der Verknüpfung der positiv legalen Ordnung mit der amtlichen Tätigkeit. „Die Amtsführung der Beamten erfolgt nach generellen, mehr oder minder festen und mehr oder minder erschöpfenden, erlernbaren Regeln". 78 Die Beamten müssen sich im Besitz eines Fachwissens befinden, das auch die Kenntnis der allgemeinen Regeln der Amtsführung beinhaltet. Die Regeln, nach denen verfahren wird, können einerseits die „technischen Regeln" einer „Kunstlehre" sein: 79 Rechtskunde, Verwaltungskunde oder Kontorwissenschaft. Diese Kunstlehren gewinnen durch die steigende Kompliziertheit der Kultur sowie durch die wachsenden Ansprüche an den um sich greifenden Aufgabenkreis der Verwaltung eine unentbehrliche Relevanz. Andererseits sind die Verfahrensregeln in der Behörde Normen, die mit der Amtsstelle Lasten, Pflichten und Zuständigkeiten verknüpfen. Mit diesenNormen hängt das für die Bürokratie wichtigste Moment zusammen: die Disziplin. Unter Beamtendisziplin versteht Weber die innere Einstellung der Beamten auf präzisen Gehorsam innerhalb gewohnter Tätigkeit. 80 In jeder Amtsstelle ist die „Chance" geschaffen, daß „kraft eingeübter Einstellung" bestimmten Befehlen seitens einer „angebbaren Vielheit von Menschen" Folge geleistet wird, und zwar in der Form eines „prompten, automatischen und schematischen Gehorsams". 81 Diese Eingestelltheit der Behördenmitglieder auf die „Innehaltung der gewohnten Normen und Reglements" macht zusammen mit der Geschultheit in der Kunstlehre über die jeweils einschlägigen technischen Regeln die Haupttugend des Beamten aus. Praktischtechnische Geschultheit und Disziplin gegenüber den normativen Ansprüchen in den positiv geltenden Satzungsbeschlüssen sind zugleich Mitgliedschaftsbedingungen. Die Stelleninhaber erweisen sich mithin in ihrer subjektiven Motivationsstruktur und persönlichen Bearbeitungstechnik für die Behörde irrelevant und entbehrlich. Personen sind ersetzbar, weil in der bürokratischen Organisation eine „Tendenz zur Nivellierung im Interesse der universellen Rekrutierbarkeit aus den fachlich Qualifizierten" vorherrscht. 82 Für die Behörde ist der Beamte als Person eine kontingente Größe. Es kommt auf die Identität 75 76 77 78 79 80 81 82
WuG, WuG, WuG, WuG, WuG, WuG, WuG, WuG,
3 Gromitsaris
S. 553. S. 553. S. 553. S. 552. S. 126, 552. S. 570. S. 28. S. 12.
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der Stelle, nicht der Personen an. In der Analyse seines Bürokratiemodells hat Weber die sozialen Mechanismen der Einstellungsgeneralisierung und der Rollentrennung aufgedeckt. Für den staatlichen Verbandsstab sind beide Mechanismen bezeichnend: dies impliziert konkret Trennung von Arbeitsplatz und Privatbehausung, von Arbeitsmitteln und Eigentum sowie lebenslängliche, berufsmäßige Spezialisierung für das Amt, Unpersönlichkeit der Orientierung und Befreiung des Amtshandelns von der Rücksicht auf die Motivationsstruktur der Behördenmitglieder. 83 Die Bürokratisierung der Rechtspflege bedeutet daher insofern eine Entmenschlichung, als sie in ihrer Vollentwicklung unter dem Prinzip des „sine ira ac studio" steht. 84 Entmenschlichung heißt in diesem Fall „die Ausschaltung von Liebe, Haß und allem rein persönlichen, überhaupt allen irrationalen, dem Kalkül sich entziehenden, Empfindungselementen aus der Erledigung der Amtsgeschäfte". 85 Demgemäß soll der Richter in der modernen Kultur statt „Anteilnahme, Gunst, Gnade, Dankbarkeit" als streng sachlicher Fachmann lediglich Bindung an „berechenbare Regeln" an den Tag legen. Der Herausbildung von allgemeinen praktisch-technischen Regeln im Rahmen einer spezifischen Kunstlehre und dem Vorhandensein von abstraktgenerellen Normen, die die richterliche oder verwaltungsgerichtliche Kompetenz festlegen, kommt „beherrschende Bedeutung" zu. 8 6 Das Funktionieren von Justiz und Verwaltung muß „wenigstens im Prinzip an festen generellen Normen rationell kalkuliert werden (können)". 87 Gegenüber dem Judizieren nach dem Billigkeitsempfinden des Richters im Einzelfall scheint die Regelgebundenheit des bürokratischen Richters effektiver und zuverlässiger. Die Maschinenmetapher symbolisiert auf dem Gebiet der konkreten Fallentscheidung im Rechtsgang Berechenbarkeit anhand von allgemeinen Regeln und sachliche Erledigung ohne Ansehen der Person. b) Wenn man die bürokratisch organisierten Behörden als Maschinen ansieht, neigt man dazu, sie unter einem einzigen einheitlichen Gesichtspunkt zu betrachten. Dies trifft jedoch bei Weber nicht zu: Die Bürokratisierung ermöglicht die optimale „Durchführung des Prinzips der Arbeitszerlegung in der Verwaltung nach rein sachlichen Gesichtspunkten". 88 In diesem Zusammenhang bedeutet Arbeitsverteilung eine Verteilung von Befehls- und Zwangsgewalten samt ihrer Ausübungsmöglichkeit. Sie ist in diesem Sinne gleichbedeutend mit dem Begriff der Organisation, die als Verteilung der Befehlsgewalten definiert wird. Es handelt sich um das Zuordnungsprinzip einer generellen Autorität, verbindliche Befehle zu erteilen — heutzutage würde man sagen: Entscheidungen zu treffen. 89 Arbeitszerlegung in der Behördenorganisation 83 84 85 86 87 88
Hierzu: Luhmann, (FN 69), S. 106f. WuG, S. 563. WuG, S. 563. WuG, S. 563. WuG, S. 826. WuG, S. 562.
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bedeutet nicht nur eine Verteilung von Entscheidungskompetenzen. Sie wird mit dem „Prinzip der Amtshierarchie und des Instanzenzuges" verbunden. Dies besteht in einem „fest geordneten System von Über- und Unterordnung der Behörden unter Beaufsichtigung der unteren durch die oberen." 90 Dieses Prinzip des hierarchischen Instanzenzuges findet sich nach Weber bei allen bürokratischen Gebilden; also sowohl bei staatlichen und kirchlichen als auch bei Parteiorganisationen und privaten Großbetrieben, „gleichviel ob man deren private Instanzen auch ,Behörden' nennen will". 9 1 Man kann daher von einer hierarchisierten Arbeitsverteilung und Zerlegung von Kompetenzen und Befehlsgewalten in der bürokratischen Behördenorganisation sprechen. Hiermit wird eine Einheitlichkeit der Zweckgerichtetheit und der Funktion im Behördengefüge ausgeschlossen. Die feste Über- und Unterordnung der Behörden darf nicht die Beaufsichtigung der Unter- durch die Oberinstanzen derartig überbetonen, daß ihre ausgesprochen arbeitsteilige Leistung entschwindet: „Bei voller Durchführung des ,Kompetenz'prinzips ist aber, wenigstens in den öffentlichen Ämtern, die hierarchische Unterordnung nicht gleichbedeutend mit der Befugnis der ,oberen' Instanz, die Geschäfte der ,unteren' einfach an sich zu ziehen. Das Gegenteil bildet die Regel, daher ist im Fall der Erledigung eines einmal eingesetzen Amts dessen Wiederbesetzung unverbrüchlich." 92
Selbst wenn die gesetzgebende Gewalt als eine Oberinstanz anzusehen ist, bringt das nicht mit sich, daß die richterliche Instanz in voller Abhängigkeit von der Gesetzgebung steht. Die Organisation der konkreten Rechtsentscheidung in Verwaltung und Gerichtsbarkeit einerseits und die Organisation von generellabstrakten Rechtsentscheidungen in Form von Gesetzgebung andererseits erbringen eine arbeitsteilige Leistung. Dieselbe liegt nach „den heutigen juristischen Denkgepflogenheiten" in der Verbindung von zwei Tätigkeitsarten „der öffentlichen Verbände auf dem Gebiet des,Rechts':,Rechtsschöpfung' und ,Rechtsfindung', an deren letztere sich, als rein technische, die Vollstreckung' anschließt". 93 Nach Maßgabe der Prinzipien von Kompetenz- und Arbeits Verteilung liegt es nahe anzunehmen, daß die Rechtsschöpfungsaufgabe in die Kompetenz einer einzigen Instanz fällt. Letztere allein hätte in diesem Fall die Befugnis, die Setzung genereller Normen vorzunehmen, „deren jede in der Sprache der Juristen den Charakter eines oder mehrerer rationaler,Rechtssätze' annimmt." 9 4 Ähnliches würde bezüglich der Rechtsfindung gelten. Eine eigens dafür vorgesehene Instanz würde ausschließlich mit der „,Anwendung' jener gesetzten Normen und der durch die Arbeit des juristischen Denkens aus ihnen abzuleitenden einzelnen ,Rechtssätze' auf konkrete Tatbestände' " beschäftigt 89 90 91 92 93 94
3:
Luhmann, (FN 69), S. 106. WuG, (FN 9), S. 551. WuG, S. 552. WuG, S. 552. WuG, S. 394. WuG, S. 394.
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sein. 95 Auf diese Weise wäre es auch zutreffend, bestimmte Behörden als einem einzigen Zweck und einer einheitlichen Funktion zugeordnet anzusehen, nämlich dem Zweck und der Funktion der Rechtsschöpfung beziehungsweise der Rechtsfindung. Hierzu hat sich Weber ausdrücklich geäußert. Der staatliche Verwaltungsstab kann nicht einheitlich erfaßt werden. Unter sein Handeln fällt „der Ablauf aller Rechtssprechung' und ,Verwaltung'" 96 , die „Leistung der Richter, Polizeibehörden, Geschworenen, Soldaten und die Betätigung als Gesetzgeber und Wähler." 9 7 Der Aufgabenkreis der durch die Anstaltsorgane des Staates geführten Verwaltung „umfaßt in seinem weitesten Sinne dreierlei: Rechtsschöpfung, Rechtsfindung und das, was an öffentlicher Tätigkeit nach Abzug jener beiden Sphären übrig bleibt: ,Regierung'". 98 Jede dieser öffentlichen Tätigkeiten gilt als ursprünglich der Kompetenz einer spezifischen Behörde angehörend. Weber vertritt jedoch die Ansicht, daß eine jede Instanz in Wirklichkeit multifunktional angelegt und rationalisiert ist. Obwohl die Gerichtsbarkeit ausschließlich die Rechtsfindung zu betreuen habe, sehe sich der heutige Richter innerhalb der Rechtspflege einer „teils durch positive Rechtsnormen, teils durch Rechtstheorien" gestützten Zumutung ausgesetzt, „nach materialen Kriterien" und „Grundsätzen" sowie nach „Sittlichkeit", „Billigkeit" und „Zweckmäßigkeit" Entscheidungen zu fällen. Es bestehe die Tendenz, im modernen Staat „Rechtsfindung und,Verwaltung' (im Sinn von,Regierung' ) einander formal anzunähern". Das Eigentümliche der Regierung wird darin erblickt, daß erstens der einzelne und seine Interessen dem juristischen Sinn nach für sie grundsätzlich Objekt und nicht Rechtssubjekt sind. Ihre Hauptaufgabe sieht sie zweitens nicht nur in der „Respektierung und Realisierung von geltendem objektivem Recht", sondern in der „Realisierung von anderen, materialen Zwecken, politischen, sittlichen, utilitarischen oder welchen Charakters immer". Der Verwaltung im Sinne der Regierung kommen aber Aufgaben zu, die „mindestens formell denjenigen der Rechtsfindung gleichartig sind: die ,Verwaltungsgerichtsbarkeit'". Die moderne Staatsorganisation bietet somit dem einzelnen Mittel der Wahrung seiner Interessen an, die trotz der Tatsache, daß er „im Prinzip nur" Verwaltungsobjekt ist, ihm dennoch der Verwaltung gegenüber Rechtssubjektivität angedeihen lassen. Die „Regierung" nähert sich nicht nur der Rechtsfindung, sondern auch der Rechtsschöpfung an. Dies kommt überall da vor, wo sie, „auf die ganz freie Verfügung von Fall zu Fall verzichtend, generelle Reglements für die Art der Erledigung typischer Geschäfte schafft". Nach alldem ist daraus zu schließen, daß Weber den verschiedenen Behörden im bürokratisch organisierten staatlichen Verwaltungsstab Multifunktionalität zukommen läßt. Im Bereich der Gerichtsbarkeit wird Recht nicht nur ange95 96 97 98
WuG, S. 394. WuG, S. 26. WuG, S. 28. Hierzu und zum folgenden: WuG, S. 389.
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wandt, sondern auch geschöpft; auf dem Gebiet der Verwaltung wird der einzelne nicht nur als Objekt, sondern auch als Rechtssubjekt behandelt, d. h. die Verwaltung ist nicht nur „Regierung", sondern auch Rechtsfindung. Die Multifunktionalität hebt dennoch die Gegensätze zwischen den verschiedenen Behörden und ihren arbeitsteilig spezifischen Funktionen nicht auf. Die schöpferische Tätigkeit in Gesetzgebungsverfahren unterliegt anderen Regeln als die schöpferische Tätigkeit innerhalb der Rechtspflege. In jeder Behörde gelten ihr eigentümliche Regeln für Funktionen, die zwar auch in anderen Behörden und Instanzen betreut, aber anders reguliert werden. Es gibt mithin im Bereich der Rechtsfindung und der eigentlichen Verwaltungstätigkeit für den bürokratischen Richter und Beamten Spielräume individualisierender, schöpferischer Betätigung. Diese wird innerhalb der jeweiligen Instanz anders reglementiert. In der Gerichtsbarkeit wird die ursprüngliche Rechtsfindungsfunktion mit einer besonders geregelten Rechtsschöpfung verknüpft. Richterliche Entscheidungen sind in ihrer individualisierend schöpferischen Richtung nicht der „freien Willkür und Gnade, der persönlich motivierten Gunst und Bewertung" anheimgefallen. 99 Generelle Normen dienen als „Schranken der positiven, niemals zu reglementierenden" Rechtsschöpfung in der Rechtsanwendung. Sie beziehen sich — wie schon dargelegt — auf positiv geregelte Kompetenzverteilung und damit zusammenhängende Disziplin, auf die Kunstregeln des rechtsdogmatischen Fachwissens und auf die im Gesetzesblatt niedergelegten allgemein abstrakten Rechtsnormen. Der Richter ist in seiner Rolle als Mitglied an einer bürokratisch organisierten Behörde an die Kunstregeln seines Fachwissens, an seine Zuständigkeit und an die materiellrechtlichen abstrakten Rechtsnormen gebunden. Sämtliche normativen Ansprüche, die die richterliche Entscheidungstätigkeit leiten und ihre rechtsschöpferische Leistung eingrenzen, werden von Weber als „Entscheidungsnormen" bezeichnet. Sie stellen eine späte Errungenschaft dar: „Wir werden... bald sehen, daß die Quelle ,richterlicher' Entscheidungen zunächst entweder gar nicht oder doch nur für gewisse formale Vorfragen durch generelle Normen —,Entscheidungsnormen' — irgenwelcher Art gebildet wird, welche er auf den konkreten Fall ,an wenden' könnte." 1 0 0
Im modernen Rechtsgang wird die konkrete Fallentscheidung durch angebbare Entscheidungsnormen normiert, die zugleich die rechtserfinderische Leistung der Rechtsanwendung in die Wege leitet und berechenbar macht. Die in anderen Instanzen aufgestellten Entscheidungsnormen können demnach nicht selbst das Geschäft der richterlichen Rechtsschöpfung „an sich ziehen" 101 , sondern es nur einschränken. Auf dem Gebiet der staatlichen Verwaltung wird nun das individualisierend schöpferische Moment anderen, eigentümlichen Regeln unterzogen. Willkür und schöpferisches Belieben des Beamten werden 99
WuG, S. 565. WuG, S. 444. 101 WuG, S. 552.
100
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ausgeschlossen. Statt dessen ist die Abwägung von objektiv festgelegten Zwecken und Mitteln ausschlaggebend. Die normativen Mitgliedschaftsbedingungen an der bürokratischen Behördenorganisation leiten zusammen mit dem „streng sachlichen Gedanken der Staatsraison" 102 die individualisierende Verwaltungstätigkeit. Es kommt vor allem auf die Verfolgung von Sachzwecken an, die persönliches Ermessen bei der Entwicklung schöpferischer Tätigkeit berechenbar und kontrollierbar machen. Bezeichnend ist für Weber, daß dem Rationalitätsanspruch nicht mit Monofunktionalität und logischer begriffsjuristischer Anwendung von allgemeinen Rechtsnormen Genüge getan wird. Entscheidend ist für ihn nicht eine auf Logik beruhende Rationalität, sondern die Tatsache, daß „prinzipiell hinter jeder Tat echt bürokratischer Verwaltung ein System rational diskutabler ,Gründe 4 steht". Er läßt Berechenbarkeit nicht auf formaler Logik, sondern auf Diskutabilität fußen. Diskutable Gründe sind entweder „Subsumtion unter Normen oder: Abwägung von Zwecken und Mitteln". Schöpferische Betätigung des Beamten oder des bürokratischen Richters eliminiert demnach die kühle Sachlichkeit der Gerichtsbarkeit und der Verwaltung nicht. II. Zwangsgarantie und Regelbegriff In der von Johannes Winckelmann posthum unter dem Titel Wirtschaft und Gesellschaft herausgegebenen Schriftensammlung aus dem Nachlaß Max Webers ist ein als Rechtssoziologie betitelter Teil enthalten. Er steht in engem inhaltlichen Zusammenhang mit den Ausführungen über das Verhältnis der Wirtschaft zu den gesellschaftlichen Ordnungen und der soziologischen Kategorienlehre, die mit einem begrifflichen „Kreditsystem" verglichen worden ist. 1 0 3 Begriffliche Voraussetzungen finden sich ebenfalls in den Ausführungen zur Typologie der Herrschaftsformen. Eine Darstellung der soziologischen Theorie des Rechts bei Weber, die sich vorwiegend auf diese Abschnitte stützt, ist oft geleistet worden. 104 Sie kann sich meistens nur schwerlich der Versuchung entziehen, Webers Theorie des Rechts und der Gesellschaft mit einer Definition des soziologischen Rechtsbegriffs beginnen zu lassen.105 Die Definition des 102
WuG, S. 565. Stefan Breuer I Hubert Treiber I Manfred Walther, Entstehungsbedingungen des modernen Anstaltsstaates. Überlegungen im Anschluß an Max Weber, in: Stefan Breuer / Hubert Treiber (Hrsg.), Entstehung und Strukturwandel des Staates, Opladen 1982, S. 75-153, 76. 104 Thomas Raiser , Einführung in die Rechtssoziologie, S. 65-74, 2. Aufl., Berlin 1973; Rehbinder, Rechtssoziologie, (FN 10), S. 59-71; Alan Hunt, The Sociological Movement in Law, S. 93-133, London 1978; Stefan Breuer, Hubert Treiber (Hrsg.), Entstehung und Strukturwandel des Staates, Opladen 1982; Stefan Breuer, Hubert Treiber (Hrsg.), Zur Rechtssoziologie Max Webers. Interpretation, Kritik, Weiterentwicklung, Opladen 1984; Anthony T. Kronman, Max Weber. Jurists: Profiles in Legal Theory, London 1983; AndréJean Arnaud, Risto Hilpinen, Jerzy Wroblewski (Hrsg.), Juristische Logik, Rationalität und Irrationalität im Recht, in Rechtstheorie, Beiheft 8, Berlin 1985. 103
105
Rehbinder, (FN 10), S. 60; Raiser, ebd. (FN 104), S. 66.
II. Zwangsgarantie und Regelbegriff
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modernen Rechts wird sodann in die idealtypisch gegliederte, universale Rechtsgeschichte derartig eingebettet, daß die Merkmale der Rechtsdefinition als eigentliche durch die höchste Rationalitätsstufe geforderte Strukturelemente des Rechts dargestellt werden. 1. Weber unterscheidet drei Typen sozialen Handelns, die er mit den Begriffen Brauch, Konvention und Recht bezeichnet. Das Problem der Abgrenzung des Rechts von anderen Sozialordnungen wird wie folgt gelöst: Brauch ist eine lediglich auf tatsächlicher Übung beruhende Regelmäßigkeit. Sitte ist der auf langer Eingelebtheit beruhende Brauch; sie ist die durch dumpfe unbewußte Gewohnheit, unreflektierte Anpassung und Nachahmung herbeigeführte faktische Verhaltensregelmäßigkeit. Im Gegensatz zu Konvention und Recht ist Sitte keine äußerlich garantierte Regel. Der Handelnde hält sich freiwillig an sie, „sei es einfach gedankenlos' oder aus Bequemlichkeit' oder aus welchen Gründen immer". Es kann zwar damit gerechnet werden, daß sich die Angehörigen eines bestimmten Menschenkreises voraussichtlich an die Sitte halten, ausdrücklich kann deren Einhaltung aber nicht verlangt werden. Einhaltung von Konventionen hingegen kann verlangt werden. Sie werden als verbindliche Regelmäßigkeiten empfunden. Voraussichtliche Abweichung stößt auf Mißbilligung, jedoch ohne daß es zur Anwendung von physischem Zwang kommt. Die Befolgung von Konventionen hängt nicht nur von innerlichen Faktoren ab, etwa vom religiösen Glauben oder vom Bewußtsein verpflichtender Werte; sie wird vor allem mit Hilfe äußerer Mittel durchgesetzt. Für den Begriff der Konvention sind einerseits eine spezifische Umwelt des Handelnden und andererseits die Chance einer praktisch fühlbaren Stellungnahme derselben erforderlich. Es muß irgendein Merkmal angebbar sein, welches den betreffenden Menschenumkreis begrenzt. Die praktisch fühlbare Billigung oder Mißbilligung ist eine relativ allgemeine. Es ist nicht nötig, daß der Umkreis einen Verband bildet. Gerade bei der Konvention ist vielmehr das Gegenteil sehr häufig. Im Gegensatz dazu setzt das Recht eine eigentümliche äußerliche Gewährleistung voraus: es beruht auf der Möglichkeit der Reaktion eines eigens dafür gebildeten und darauf eingestellten Zwangsstabes. Es ist demnach „stets Bestandteil eines (aktuellen oder potentiellen),Verbandshandelns'". 106 Das Kennzeichen des Rechts scheint mithin für Weber darin zu liegen, daß es „im Ernstfall durch eine mit Zwangsgewalt ausgestattete Instanz durchgesetzt werden kann, weshalb man seine Lehre als Zwangstheorie im Unterschied zur Anerkennungstheorie bezeichnet." 107 Hier gilt es, gerade diese These, Max Weber sei ein Zwangstheoretiker, in Zweifel zu ziehen. Als Ausgangspunkt der Untersuchung seien folgende Zitate angeführt, welche die Bedeutung der spezifischen Erzwingbarkeit allen Rechts zu relativieren scheinen. Eine erste Begriffsbestimmung des Rechts lautet:
106 107
Zum ganzen Zusammenhang: WuG, S. 17, 190. Raiser , (FN 104), S. 66.
§ 1 Theorie der Rechtsnormen bei Max Weber
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„Eine Ordnung soll heißen: R e c h t , wenn sie äußerlich garantiert ist durch die Chance des (physischen oder psychischen) Z w a n g e s durch ein auf Erzwingung der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines e i g e n s darauf eingestellten S t a b e s von Menschen." 108 Die Relativität dieser Bestimmung des Rechtsbegriffs w i r d i n der Kommentierung von Weber selbst i m folgenden Satz z u m Ausdruck gebracht: „Uns soll für den Begriff,Recht' (der für andre Zwecke ganz anders abgegrenzt werden mag) die Existenz eines Erzwingungs-S t a b e s entscheidend sein." 1 0 9 Webers Begriffsbestimmung des Rechts anhand des äußerlichen Zwangskriteriums erfolgt i m Rahmen seines Versuchs, Brauch, Sitte, K o n v e n t i o n u n d Recht auseinanderzuhalten. Die Zweckgerichtetheit seiner D e f i n i t i o n macht sie nur unter einem bestimmten Gesichtspunkt relevant. V o n einem anderen Standp u n k t ausgehend wäre eine v o l l k o m m e n andere Rechtsdefinition möglich u n d sogar erforderlich. I m folgenden w i r d es darauf ankommen festzustellen, ob die Zwangsgarantie unentbehrliches Strukturelement des Rechts ist. Hierbei w i r d M a x Webers Gedankengut keine rein historische Bedeutung zugerechnet werden. Es w i r d vielmehr als ein wichtiger Bezugspunkt i n der gegenwärtigen Diskussion angesehen werden. Der a u f den Sammelband „Wirtschaft u n d Gesellschaft" begrenzte Explikationsvorschlag ist auch unbedingt u m den Erklärungsversuch von drei Aufsätzen Webers aus der „Wissenschaftslehre" zu erweitern: 1 1 0 108
WuG, S. 17. WuG, S. 18. Die im folgenden unternommene Interpretation geht auf Zusammenhänge zurück, die Krawietz aufgeschlossen hat. Vgl. hierzu: Werner Krawietz, Die Normentheorie Helmut Schelskys als Form eines Neuen Institutionalismus im Rechtsdenken der Gegenwart, in: Horst Baier (Hrsg.), Helmut Schelsky — ein Soziologe in der Bundesrepublik. Eine Gedächtnisschrift von Freunden, Kollegen und Schülern, Stuttgart 1986, S. 114-148, 115, 140 (Anm. 12); ders., Sind Zwang und Anerkennung Strukturelemente der Rechtsnorm? Konzeptionen und Begriff des Rechts in der modernen Rechtstheorie, in: Forschungen aus Staat und Recht 81. Ota Weinberger/ders. (Hrsg.), Reine Rechtslehre im Spiegel ihrer Fortsetzer und Kritiker, Wien- New York 1988, S. 315-370, 352 ff. Anm. 142: „Der Dreh- und Angelpunkt der Weberschen Argumentation liegt somit gerade darin, daß die Rechtsnorm, d.h. das, was sie vorschreibt, schon bekannt und als gesollt existent sein muß, bevor die ,Erzwingung der Innehaltung' in Betracht gezogen werden kann." Vgl. ferner: Febbrajo, Kapitalismus, moderner Staat und rational-formales Recht, in: (FN 21), S. 57 ff. Für sich allein genommen scheine diese Definition eine „klare und unleugbare Ausstrahlung der sogenannten Zwangstheorie" zu sein. Wenn man aber den „Weberschen Rechtsbegriff in den allgemeineren, mit ihm eng verbundenen Legitimierungsprozeß der Ordnung" einfüge, gelange man zu „gänzlich anderen Schlußfolgerungen". Weber versuche einerseits, den „Bedeutungsbereich des Rechtes" von den Begriffen der Konvention und Sitte abzutrennen. In dieser Richtung gewinne die Bezugnahme auf den Rechtszwang an Bedeutung. Andererseits aber nehme die Rechtsdefinition durch die Einreihung des Rechtsbegriffs in die Typologie der legitimen Ordnungen einen „klar konsensualistischen Charakter an (Anerkennung)". Fraglich ist nun, ob sich die „Anerkennung" nur in dem subjektiven „gemeinten Sinn" konkretisiert, oder ob sie vielmehr nicht das Produkt eines schon institutionalisierten Sinnes ist. Hierzu s.: Francesco Belvisi, Agire, senso e istituzione nei saggi metodologici di Max Weber, in: Sociologia del diritto 3 (1987), S. 135-145. 109
II. Zwangsgarantie und Regelbegriff
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a) „Rudolf Stammlers ,Ueberwindung' der materialistischen Geschichtsauffassung" (1907); b) „Nachtrag zu dem Aufsatz über R. Stammlers ,Ueberwindung' der materialistischen Geschichtsauffassung" (posthum aus dem Nachlaß von Marianne Weber veröffentlicht); c) „Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie" (1913). Die Beschäftigung mit der Exegese dieser Aufsätze und die zahlreichen Möglichkeiten der Interpretation haben hohen Aktualitätswert. Sie dürfen daher nicht als Zufluchtsort vor Einfallslosigkeit bei der Theoriebildung in Gesellschaftstheorie und Rechtsoziologie, sondern sollten als Darlegung lebensfähiger Elemente eines konkurrenzfähigen Theorietyps betrachtet werden. Es handelt sich um die Struktur der Rechtsnorm. 2. In seinem Bemühen, die Geregeltheit des Zusammenlebens zu ergründen, erstellt Max Weber eine Typologie des Regelbegriffs. Regeln können zunächst einmal faktische Regelmäßigkeiten betreffen. Sie werden dann in Naturgesetze, empirische Gesetze und generelle Erfahrungssätze zerlegt. Unter Naturgesetzen werden generelle Aussagen über kausale Verknüpfungen von unbedingter Strenge (im Sinn der Ausnahmslosigkeit) verstanden. Empirischen Gesetzen ist zwar empirische Ausnahmslosigkeit eigen, aber es fehlt an genügender „Einsicht in die für jene Ausnahmslosigkeit maßgebliche kausale Bedingtheit". Als Beispiel führt Weber den Satz an: „Menschen müssen sterben". Der generelle Erfahrungssatz ist eine faktische Regelmäßigkeit, die aus der empirischen Wirklichkeit durch Generalisierung erschließbar ist. Als Beispiel wird die Adäquatheit der Reaktionen eines „Couleurstudenten" auf eine Ohrfeige angeführt. Alle drei Regeltypen betreffen demnach die Verknüpfungsart von Vorgängen. Diese kann entweder als Kausalität oder als Adäquatheit bezeichnet werden. Regeln beinhalten in diesem Sinne den Gültigkeitsanspruch einer Regelmäßigkeiten bezielenden Behauptung oder die zweifellose allgemeine Anerkennung einer Aussage über die Gegegenheit oder Erschließbarkeit von faktischen Regelmäßigkeiten. Des weiteren kann aber unter Regel eine Norm verstanden sein. In diesem Fall geht es um einen „generellen Imperativ": er stellt einen Maßstab dar, an dem „gegenwärtige, vergangene oder zukünftige Vorgänge im Sinn eines Werturteils gemessen werden". Es ist eine allgemeine „Aussage eines (logischen, ethischen, ästhetischen) Sollens". 111 110 Die Eingliederung von rechtssoziologischem Gedankengut — in der Form einer gesonderten Rechtssoziologie — in das hinterlassene Werk Webers geht wohl auf eine Entscheidung von Winckelmann zurück, die hier auf Richtigkeit nicht geprüft zu werden braucht. Hierzu s.: Johannes Winckelmann, Max Webers hinterlassenes Hauptwerk, Tübingen 1986, S. 50-70. Es steht jedoch fest, daß auf diese Weise die rechtsoziologische Relevanz der drei im Text genannten Aufsätze in den Hintergrund gerät. Auf die rechtssoziologischen Erkenntnisse, die Weber in seiner Auseinandersetzung mit Stammler gewinnen konnte, verweist hingegen ausdrücklich Arnold Zingerle, Max Webers historische Soziologie, Darmstadt 1981, S. 101. Vgl. die Rezension des Buches von Zingerle durch Klaus Wasserburg, in: Rechtstheorie 14 (1983), S. 375-380.
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§ 1 Theorie der Rechtsnormen bei Max Weber
a) Der Regelbegriff hat also nach Weber zwei Ausprägungen, empirische Regelmäßigkeit einerseits und Norm andererseits. Die Regel, die Geregeltheit kann aus dem äußeren Hergang, dem Naturverlauf und aus einer bestimmten zeitlichen Abfolge abstrahiert sein. In diesem Fall ist die Regel „das an der Natur Beobachtete". 112 Geregeltheit kann aber auch als Ziel erstrebt werden, man kann beispielsweise erstrebt sein, die Verdauung „durch Beseitigung von Störungen zu ,regeln'". Dann hat der Regelbegriff die Bedeutung „des für die Natur Erstrebten". 113 Es wird mithin eine Unterscheidung zwischen beobachteter und erstrebter Regelmäßigkeit getroffen; die erste ist ein „empirisches Faktum", die zweite „ein erstrebtes Ideal, eine ,Norm', an der die Fakta ,wertend' gemessen werden". Diese „,ideale Regel' " kann nun in zweierlei Arten der Betrachtung eine Rolle spielen: Es kann nach der faktischen Regelmäßigkeit gefragt werden, die der idealen Regel entsprechen würde, sowie nach dem „Maß faktischer Regelmäßigkeit", das tatsächlich „durch das Streben nach ihr kausal herbeigeführt ist". Die Vornahme der Messung von Sachverhalten an der idealen Regel und das entsprechende Verhaltensorientieren des Handelnden sind ihrerseits „eine der kausalen Komponenten" der beobachteten Regelmäßigkeit und machen mithin selbst ein Faktum aus. Die Vorstellung von der idealen Regel: der Norm im Kopf des Handelnden wirkt „als reales Agens des Handelns" und diktiert ein zur Normverwirklichung geeignetes Verhalten. Diese Normvorstellung ist die empirische Maxime des Handelnden. Maximen sind jene idealen Regeln, nach denen Einzelpersonen verfahren und welche „in ihrer das empirische Verhalten des Individuums kausal beeinflussendenden Wirksamkeit gestützt werden durch entweder selbst gefundene oder von andern erlernte Erfahrungsregeln von dem Typus: wenn ich χ tue, ist nach Erfahrungsregeln y die Folge". 1 1 4 Diese Erfahrungsregeln sind durch Generalisierung aus den 111 Zum ganzen Zusammenhang: GAWL, (FN 5), S. 322 f. Vgl. Fritz Loos, Max Webers Wissenschaftslehre und die Rechtswissenschaft, in: Rehbinder/Tieck (Hrsg.), (FN 14), S. 169-184, 181 f. 112 GAWL, S. 328 f. 113 Hierzu und zum folgenden: GAWL, S. 329. 114 GAWL, S. 327. Maximen beziehen sich auch bei Kant auf Subjektivität. Die Maximen der praktischen Vernunft stellen praktische Grundsätze dar, sofern sie nur als subjektiv gültig zufällig und bedingt betrachtet werden. Sie sind Regeln, die die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer Freiheit macht im Gegensatz zu den objektiv gültigen Gesetzen. Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Kant. Werke VII, Frankfurt a.M. 1968, S. 51 (Anmerkung): Die Maxime enthält die praktische Regel, „die die Vernunft den Bedingungen des Subjekts gemäß (öfters der Unwissenheit oder auch dann Neigungen desselben) bestimmt, und ist der Grundsatz, nach welchem das Subjekt handelt; das Gesetz aber ist das objektive Prinzip, gültig für jedes vernünftige Wesen, und der Grundsatz, nach dem es handeln soll, d.i. ein Imperativ." Was die Maxime angeht, stimmt Weber mit Kant überein. Die Objektivität beruht jedoch bei Weber nicht auf einem Vernunftgesetz, sondern sie stellt sozial etablierten Sinn dar. Vgl. ferner die philosophisch fundierte Darstellung des Prozesses, der von der Handlung zur Maxime und von der Maxime zur Norm führt: Rüdiger Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen, Untersuchungen zur praktischen Philosophie, Frankfurt am Mai 1984, S. 223-264.
II. Zwangsgarantie und Regelbegriff
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faktischen Regelmäßigkeiten erschließbar. Die ideale Regel enthält einen „Lehrsatz", der wiederum die Norm enthält. Sie läßt sich einerseits als „Wertungsstandard" behandeln, der als Maxime auf das Handeln kausal steuernd Einfluß nimmt. Andererseits ist sie ein „heuristisches Prinzip", um empirisches Verhalten und faktische Regelmäßigkeiten in ihrer „faktischen kausalen Bedingtheit erkennen zu lassen". 115 Die Maxime ist im letzten Fall eine idealtypische Konstruktion, die als Hypothese aus der Perspektive des Beobachters benutzt wird, um die faktische Handelnskausalität und das „Maß von Annäherung an den Idealtypus zu ermitteln". Für die empirische Verhaltenserkenntnis kommt die ideale Regel in zweifachem Sinn in Betracht. Zunächst wird sie als „Bestandteil der das Objekt der Untersuchung bildenden" Handlungsmaximen, d. h. als reales Agens empirischen Handelns angesehen. Darüber hinaus beurteilt sie sich als „Bestandteil des Wissens- und Begriffsvorrats" des Untersuchenden. Es ist mithin nicht das ideelle Gelten der Norm, sondern die „empirische Vorstellung des Handelnden, daß die Norm für sein Verhalten ,gelten solle'", welche den Grund und die Ursache des bestimmten Handelns darstellt. Die Norm kann als Maxime „in einem sehr verschiedenen Maß von Bewußtheit" handlungsbestimmende Wirkung entfalten. Es kann aus drei Gründen faktisch gehandelt werden: Erstens kann der Handelnde ein regelgeleitetes Verhalten an den Tag legen, ohne die Regel zu kennen und bewußt zu befolgen. In diesem Falle fehlt es nach Weber an „subjektiver gedanklicher Formung" der Regel durch den Einzelnen. Zweitens kann außerdem gehandelt werden, indem teleologische Erfahrungssätze des Typus „auf χ folgt y" bewußt verwertet werden. Drittens kann gehandelt werden, indem „über die Erziehung" oder „einfache Nachahmung von Verhaltensweisen" hinaus der Norm „um ihrer selbst willen" gefolgt wird. Der Einzelne entwickelt an Hand seiner Lebenserfahrung und durch daran anknüpfendes eigenes Nachdenken eine internalisierte Norm, die den Handlungshergang mitbestimmt. b) Von der Doppelsinnigkeit der Begriffe Regel und Geregeltheit ausgehend stellt Weber eine Analogie zwischen Rechtsregeln und Spielregeln her. Diese Doppelsinnigkeit liegt — wie schon dargelegt — darin, daß unter dem Regelbegriff einmal eine kausal erklärbare und kausal wirksame empirische Maxime und zum anderen eine faktische, beobachtbare Regelmäßigkeit verstanden wird. 1 1 6 Diese zweifache Bedeutung im Auge haltend wenden wir uns nun den am Beispiel des Skatspiels gemachten Ausführungen Webers über den Begriff der Spielregel zu. Die Skatspieler unterwerfen sich der Skatregel. Dies besagt, daß sie die Vorstellung einer erstrebten Regelmäßigkeit, eine Normmaxime im Kopf haben, welche die Merkmale des richtigen Spielablaufs betrifft. Die bei allen Skatpspielern gemeinsame Normmaxime kann Gegenstand von verschiedenartigen Betrachtungen sein. 117 Sie kann nämlich zum Objekt „rein 115 116 117
Hierzu und zum folgenden: GAWL, S. 329 f. GAWL, (FN 5), S. 336. Hierzu und zum folgenden: GAWL, S. 337 f.
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§ 1 Theorie der Rechtsnormen bei Max Weber
gedanklicher Erörterungen" gemacht werden. Entweder wird „praktisch wertend" aufgrund von Zweckmäßigkeitserwägungen, oder aber es wird ähnlich einer naturrechtlichen Problemstellung die Skatspielregel aus allgemeingültigen Grundsätzen abgeleitet. Alle konkreten fallgebundenen Fragen nach dem Spielablauf und der Normgemäßheit des Spielverhaltens gehören in das Gebiet „der eigentlichen Skatjurisprudenz". Wenn nun das Verhalten der Spieler nicht nur an der Spielregel, sondern auch an anderen allgemeinen normativen Maßstäben gemessen wird, dann werden skatsittliche Normen angewandt: ζ. B. Unannehmbarkeit von unaufmerksamem Spielverhalten einerseits, aber wohl Annehmbarkeit der skatnormgemäßen Ausbeutung eines als dritten Mannes engagierten Opferlammes andererseits. Skatspielregeln und skatsittliche Normen schöpfen die kausalen Bestimmungsmöglichkeiten des Spielverhaltens nicht aus. Es treten noch „generelle Regeln der praktischen Skatweisheit" an ihre Seite, die als Handlungsmaximen den Spielverlauf entscheidend beeinflussen. Sie sind Erfahrungssätze, die, auf dem eigenen oder übernommenen Erfahrungswissen um die „möglichen Konstellationen" im Spiel beruhend, zu strengen „Kunstregeln" verdichteter Spielerfahrung erhoben werden können. An ihnen wird die Zweckmäßigkeit des Verhaltens des Skatsspielers gemessen. Nach alldem ist das Skatspiel sowohl aus der Beobachter- als auch aus der Handlungsperspektive verschiedenen möglichen Richtungen von Wertungen zugänglich. Auf der Handlungsebene gehören erstrebte Regelmäßigkeiten von skatnormgemäßen, skatsittlichen und skaterfahrungskundigen Verhaltensweisen zur Motivationsstruktur der Spieler. Die Beobachtung muß wiederum verschiedene Orientierungspunkte der Hypothesenbildung bereitstellen: Sie benutzt Wertungsprinzipien als idealtypische Konstruktionen, die in das Verhalten der Spieler hineinprojiziert werden, um die Annäherung der faktisch kausal wirkenden Verhaltensmaximen an den hypothetisch erstellten Normmaximen zu ermitteln. Es werden mithin mehrere Wertungsmaßstäbe angelegt, die sich alle bei den Spielern in faktische Gedankenkomplexe auflösen und von verschiedentlicher normativer Dignität sind. Als Normen sind sie etwas erstrebtes und als Maximen kausaler Erklärungsgrund von Verhaltensweisen. Die erstrebten Regelungen können im Skatspiel der Skatpolitik, der Skatjurisprudenz, der empirischen Skatethik und der praktischen Skatweisheit angehören. Skatnorm ist derjenige Wertungsmaßstab, an dem die Richtigkeit des Verhaltens der Spieler gemessen wird. Der Skatnorm entsprechen eine beobachtete und eine erstrebte Geregeltheit. In diesem Sinne enthält sie auch die doppelte Bedeutung des Regelbegriffs. Als beobachtete Geregeltheit ist sie ein kausales Moment und heißt Spielregel, als erstrebte Geregeltheit des Skatspiels ist sie eine ideale Geregeltheit und heißt ideale Spielregel oder Norm des Skatrechts. Der faktische Spielablauf setzt voraus, daß die Spielenden die Spielregeln wirklich oder scheinbar zur Maxime ihres Handelns machen. Dies bedeutet jedoch keine ausnahmslose Befolgung, sondern bloße Orientierung an der idealen Spielregel. Die Spielregel stellt als Orientierungsmaxime eine sachliche Voraussetzung des Spiels dar. Die ideale Spielregel andererseits, d.h.
II. Zwangsgarantie und Regelbegriff
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die Spielnorm des Skats, läßt sich in ihrem gedanklichen Inhalt als die Voraussetzung der empirischen Skaterkenntnis bezeichnen.118 Sie ist keine sachliche Bedingung des Spielgeschehens, sondern der charakteristische Begriffsinhalt und das Merkmal des Skats. Die „Auslese des,Begriffswesentlichen' aus der Mannigfaltigkeit von Zigarrenrauch, Bierkonsum, Auf-den-Tischschlagen, Raisonnements aller Art, . . . und aus dem zufalligen ,Milieu' des konkreten Spiels" wird nach Maßgabe der in der Skatnorm beinhalteten Begriffsmerkmale vollzogen. Die erstrebte Geregeltheit grenzt das „Untersuchungsobjekt" ab, indem sie als Klassifizierungsmittel einen Komplex von Hantierungen und Vorgängen als das „empirische Kollektivum eines Skatspiels" erkennen läßt. Als Voraussetzung der empirischen Skaterkenntnis ist die Skatregel ein „spezifisches Begriffsmerkmal"; als Voraussetzung des „empirischen Ablaufs von Skatspielen" ist sie Kenntnisnahme und „Inrechnungsstellung seitens der Spieler" sowie die dadurch bedingten Gedanken und „äußeren Hantierungen". Der Beobachter seinerseits benutzt die ideale Skatnorm als heuristisches Mittel, um die empirische Kausalität des Spielverhaltens erkennen zu können. Diese Erkenntnis setzt erstens Kenntnis der Skatnorm und zweitens die Annahme voraus, daß die Skatnorm, „die ideale Spielregel (das Skatrecht) faktisch innegehalten", und daß „teleologisch ,zweckmäßig'" gespielt wird. 1 1 9 Erst aufgrund dieser idealtypischen Konstruktion können die externen Beobachter den Spielverlauf verstehen. Zusammenfassend sagt Weber, die Spielregel sei als Voraussetzung in „drei logisch ganz verschiedenen Funktionen" bei der empirischen Erörterung eines Spiels in Betracht zu ziehen: 120 1. „Klassifikatorisch und begriffskonstitutiv bei der Abgrenzung des Objekts" (des Spiels) durch Auslese begrifflicher Gedankeninhalte aus der Mannigfaltigkeit des Gegebenen; 2. „heuristisch" bei der „kausalen Erkenntnis" des Objekts und 3. als eine „kausale Determinante des zu erkennenden Objekts selbst" (Maxime der Spieler). Die verschiedenen logischen Funktionen des Regelbegriffs gehen wohl auf die Unterscheidung zwischen ratio essendi und ratio cognoscendi zurück, die sich auch für Kant bei der Definition der Freiheit sehr fruchtbar erwiesen hat. 1 2 1 118
Hierzu und zum folgenden: GAWL, S. 340. GAWL, S. 342. 120 GAWL, S. 342. 121 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Vorrede, in: (FN 114), S. 108 (Anmerkung). Die Freiheit wird als ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber als die ratio cognoscendi der Freiheit definiert. Zu einer unter anderem auch auf Weber aufbauenden Untersuchung der verschiedenen Funktionen des Begriffs der „konstitutiven Regel" vgl.: Amedeo G. Conte , Materiali per una tipologia delle regole, in: Materiali per una storia della cultura giuridica, 15 (1985), S. 345-368, 347: „ . . . ogni ordinamento normativo sia condizione di pensabilità e »condizione di possibilità4 del l'azione"; ders ., Regola costitutiva, condizione, antinomia, in: Uberto Scarpelli ( a cura di) , La teoria generale del diritto. Problemi e tendenze attuali. Studi dedicati a Norberto Bobbio, Milano 1983, S. 21 - 39; ders., Fenomeni di Fenomeni, in: Rivista internazionale di 119
§ 1 Theorie der Rechtsnormen bei Max Weber
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c) Zur Durchführung nun der Analogie zwischen Spielregeln und Rechtsregeln wendet sich Weber der Erörterung eines Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuches zu. Letzterer kann in verschiedenem Sinne „Gegenstand des Nachdenkens" werden. 122 Zunächst kann er rechtspolitisch diskutiert werden, wobei es um die wertende Erörterung über die normative Berechtigung des Paragraphen geht. Sodann lassen sich zwei Fragen stellen: „Was,bedeutet' (der Paragraph) begrifflich? und was wirkt er empirisch?". In beiden Fragen wird mit dem Paragraphen etwas vollkommen Verschiedenes gemeint. In der ersten Frage (nach der Bedeutung) wird auf „eine in Worte gefaßte Gedankenverbindung" abgezielt, die „als ein rein ideelles vom juristischen Forscher destilliertes Objekt begrifflicher Analyse behandelt wird". In der zweiten Frage ist der Paragraph die empirische Tatsache der bestimmten Vorstellungen über die faktischen Folgen eines bestimmten äußeren Verhaltens. Er bezieht sich einerseits auf Richter und andere Beamte, welche die faktische Gestaltung des Verhaltens der Menschen durch angebbare physische und psychische Zwangsmittel zu beeinflussen in der Lage sind; andererseits aber bezieht er sich auf eine beobachtete empirische Geregeltheit, die durch das Vorhandensein von Maximen in der Vorstellung der Handelnden kausal mitdetermitiert ist. In der ersten Frage ist der Paragraph eine ideale Spielregel, das besagt, eine „ideale gedanklich erschließbare Norm", eine ideale Rechtsregel. In der zweiten Frage ist er eine „empirisch, als mehr oder minder konsequent und häufig befolgt, feststellbare Maxime des Verhaltens konkreter Menschen". 123 Der Begriff der Rechtsregel ist doppelsinnig. Er bezeichnet einerseits ein gedachtes Geltensollen, d. h. eine erstrebte Geregeltheit, und stellt einen Wertstandard dar, „an dem das faktische Sein wertend gemessen wird, wenn wir juristische Wahrheit' wollen". Andererseits ist der Begriff auf eine „sachliche Komponente der empirischen Wirklichkeit", eine Maxime also, zugeschnitten. Diese Maxime bestimmt das soziale Verhalten von Richtern und anderen Beamten sowie das konkrete Verhalten eines „unbestimmt großen Teils der Menschen" mit. Dabei filosofia del diritto, 63 (1986), S. 29-57; ders., Idealtypen für eine Theorie der konstitutiven Regeln, in: Rechtstheorie Beiheft 10 (1986) Vernunft und Erfahrung im Rechtsdenken der Gegenwart, hrsg. von Torstein Eckhoff/ Lawrence M. Friedmann /Jyrki Uusitalo, S. 243-250. Zum Begriff der Regel in Anlehnung an Kant vgl. auch: Johannes Strangas, Methodologische Überlegungen zum Begriff der „Regelbeispiele für besonders schwere Fälle Zugleich ein Beitrag zur Interpretation der §§ 211 f. StGB, in: Rechtstheorie 16 (1985), S. 466-494. 122 Hierzu und zum folgenden: GAWL, S. 345 f. Nach Alwart, Recht und Handlung, (FN 13), S. 132 f., 146 f. liege dem Begriff des (Spiel-)Regel-Rechts ein falsches Paradigma zugrunde. Rechtshandlungen seien nicht deshalb Rechtshandlungen, weil sie unter konstitutive Regeln von der Art eines Spiels subsumiert werden könnten, sondern weil sie in bestimmter Weise normativ motiviert seien. Das Verhältnis zwischen hermeneutischem Verstehen und kausalem Erklären, sowie der Begriff des Normmotivs, die für Alwart den theoretischen Ausgangspunkt darstellen, werden jedoch der Komplexität der Mechanismen sozialer Sinnkonstitution, Institutionalisierung, Handlungs-, Intentions- und Erlebniszurechnung nicht gerecht. Seine Kritik an Webers Begriff der Normmaxime verengt den Blick auf eine einzige der drei logisch ganz verschiedenen Funktionen der Norm. 123
GAWL, (FN 5), S. 348.
III. Erwartungsbildung und Erwartungsorientierung
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ist unerheblich, ob diese Komponente mehr oder minder bewußt oder konsequent befolgt wird. 1 2 4 Die Maximenbildung findet sowohl im Rechtsstab als auch außerhalb statt. Die logischen Funktionen der Rechtsregel erweisen sich völlig analog zu denjenigen der Skatspielregel. Sie ist erstens „Voraussetzung des empirischen Hergangs", d. h. Maxime von Richtern, Beamten und Bürgern und daher Determinante des zu beobachtenden Objekts selbst; zweitens ist sie aus der Beobachterperspektive ein unentbehrliches heuristisches Erkenntnismittel, d.h. ein dogmatisch-juristisch herausdestillierter Gedankenzusammenhang, der allein die empirisch-kausale „,Erklärung' des faktischen Hergangs eines konkreten Prozesses" liefern kann; drittens ist sie für die Abgrenzung der rechtlich relevanten Bestandteile des Vorgangs konstitutiv, an die das Interesse der Erklärung sich knüpft, wenn wir einen konkreten Prozeß eben als Prozeß kausal erklären wollen: dies besagt, daß sie als ideale Spielregel zur Auslese eines den Rechtsfall ausmachenden Wirklichkeitsausschnitts erneut eine idealtypische Funktion hat. Es gilt jetzt zu erläutern, was Weber unter Maxime versteht oder warum die Regel in diesem Sinne Voraussetzung des empirischen Hergangs ist. Worauf gründen sich empirische Geregeltheit und die Möglichkeit der sozialen Ordnung bei Weber? Welcher ist der Beitrag der Spielregeln des Rechts zur Konstitution der Gesellschaftsordnung? Die Hauptansätze der Antwort Webers auf diese Frage sind im Aufsatz „Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie" enthalten, wo er eine Typologie des sozialen Handelns erstellt hat. III. Erwartungsbildung und Erwartungsorientierung Das Sichverhalten einzelner zum Sichverhalten anderer beschränkt sich nicht auf eine Ebene tatsächlicher Aktualisiertheit, sondern wird potentialisiert. Es handelt sich nicht nur um etwas historisch Beobachtetes, sondern auch um eine „theoretisch als objektiv ,möglich' oder wahrscheinlich' konstruierte" Verhaltensweise angesichts einer anderen gegebenen oder vorgestellten potentiellen Verhaltensweise. Diese Potentialisierung bringt Weber durch den Begriff der Erwartung zum Ausdruck. 125 Erwartungen bestimmter Naturvorgänge oder bestimmter Verhaltensweisen anderer Menschen sind es, die „dem eigenen Handeln des Erwartenden die Wege weisen". 126 Infolge der Orientierung an der Erwartbarkeit eines bestimmten Verhaltens anderer entsteht einerseits die subjektiv geschätzte Chance für den Erfolg des eigenen Handelns und wird andererseits ein objektives „Möglichkeitsurteil" über die größere oder geringere Erfüllungswahrscheinlichkeit der subjektiv gehegten Erwartungen ermöglicht. 124
GAWL, S. 349. GAWL, (FN 5) S. 441 f. Der Erwartungsbegriff ist der Theoriebildung im Bereich der Ökonomie sehr geläufig. Siehe hierzu: Ludwig M. Lachmann, Marktprozeß und Erwartungen. Studien zur Theorie der Marktwirtschaft, München—Wien 1984; Hermann Ribhegge, Grenzen der Theorie rationaler Erwartungen. Zur wirtschaftstheoretischen Bedeutung rationaler Erwartungen auf walrasianischen und nicht-walrasianischen Märkten, Tübingen 1987. 126 GAWL, S. 441 f. 125
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§ 1 Theorie der Rechtsnormen bei Max Weber
1. Demgemäß wird eine Unterscheidung getroffen. „Objektiv abschätzbare Chancen der möglichen Erwartungen" und der subjektiv bei den Handelnden vorliegende Tatbestand faktisch gehegter Erwartungen werden auseinandergehalten. 127 Das in der Forscherperspektive objektiv gefällte Möglichkeitsurteil dient als „zulänglicher verständlicher Erkenntnisgrund für das wahrscheinliche Vorhandensein jener Erwartungen bei den Handelnden". 128 Bei dieser Denkoperation der Abschätzung der möglichen Erwartungsbildung wird dem Handelnden ein durchschnittliches Maß an Auffassungsfahigkeit zugesprochen. Es wird angenommen, daß die vom Beobachter in ihrer „objektiven Begründetheit" identifizierten „Durchschnittserwartungen" von den am Handeln Beteiligten „auch subjektiv annähernd in Rechnung gestellt werden" können. Die „objektive Möglichkeit" von Erwartungszusammenhängen hängt jeweils von dem in mehr oder minder typischen Situationen liegenden Wahrscheinlichkeitsgrad von Verhaltenschancen. Die Durchschnittsauffassung ist hier das objektive Identifizierungsmoment von relevanten Erwartungen. Durchschnittschancen des Sich Verhaltens oder ein bestimmter Umkreis von Durchschnittserwartungen diktieren die „durchschnittlich anzuwendende Beurteilung" der jeweiligen Situation. 129 Es gibt eine durchschnittlich erwartbare Tatsachenberechnung und Themenabschätzung. Identifikation von Erwartungszusammenhängen setzt eine durchschnittliche Begründetheit der Erwartungen voraus. Dies macht den Mechanismus reflexiv. Es handelt sich um die Erwartbarkeit von Erwartungen oder um die Wahrscheinlichkeit von Chancen des Sichverhaltens. Zwischen dem durchschnittlichen objektiven Gelten der Chance des Sichverhaltens und den „jeweils durchschnittlichen subjektiven Erwartungen" gibt es eine „Beziehung der verständlich adäquaten Verursachtheit". 130 Dies setzt nicht unbedingt das Vorhandensein einer Vereinbarung zwischen den am Handeln Beteiligten voraus. Es handelt sich vielmehr um die Identifikation der relevanten Erwartungen aufgrund einer Abschätzung des Durchschnittlichen in einer Situation. In solchen Fällen liegt der Tatbestand vor, daß ein an Erwartungen des Verhaltens anderer orientiertes Handeln deswegen eine „empirisch ,geltende' Chance hat, diese Erwartungen erfüllt zu sehen", weil die „Wahrscheinlichkeit objektiv besteht: daß diese anderen jene Erwartungen trotz des Fehlens einer Vereinbarung als sinnhaft ,gültig' für ihr Verhalten praktisch behandeln werden". Die Durchschnittsorientiertheit an Erwartungen oder Verhaltenschancen braucht nicht im mindesten den Charakter eines „zweckrationalen Kalküls und einer Orientierung an rational konstruierbaren ,Ordnungen'" zu haben. 131 Das Reflexivwerden des Erwartens bewirkt eine Erweiterung des Umkreises relevanter Erwartbarkeit derartig, daß Orientierung an Erwartungserwartungen zugleich labile Sachverhaltskalkulation bedeutet. Die „bloße Orientiertheit an den 127 128 129 130 131
GAWL, S. 444. GAWL, S. 444. GAWL, S. 443. Hierzu und zum folgenden: GAWL, S. 456. GAWL, S. 459.
III. Erwartungsbildung und Erwartungsorientierung
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,Erwartungen' des Verhaltens des oder der Anderen" besagt „den Grenzfall und ein hohes Maß von Labilität". 1 3 2 Aus der Unübersichtlichkeit komplexer Erwartungslagen kann nicht auf die Irrelevanz von Erwartungserwartungen geschlossen werden, sondern auf die „Notwendigkeit symbolischer Kürzel", die als „Pauschalunterstellungen" von Erwartungen dienen. 133 Luhmann stellt ein Zögern Max Webers fest, der Orientierung an Erwartungen unerläßliche Bedeutung beizumessen, trotz der Tatsache, daß der Begriff des „Einverständnisses" genau darauf abgestellt wird. Dies liegt daran, daß Weber den „möglichen (subjektiv gemeinten) Sinn des Gemeinschaftshandelns" explixit nicht in der Orientierung „speziell an ,Erwartungen' des ,Handelns' Dritter" erschöpft sieht. Im Grenzfall könne von Erwartungen gänzlich abgesehen werden. Das auf Dritte sinnbezogene Handeln orientiere sich „lediglich an dem subjektiv gemeinten ,Wert' seines Sinngehaltes als solchen „(,Pflicht' oder was es sei)". Das Handeln sei demgemäß nicht „erwartungsorientiert, sondern wertorientiert". 134 „Sollaussagen, Werte, Pflichtbegriffe, Hinweise auf Gewohnheit, Normalität, Üblichkeit" 1 3 5 scheinen jedoch ihrer Funktion nach auch bei Weber auf der „Metaebene des Erwartens von Erwartungen" angesiedelt zu sein. Die Labilität, sowohl im objektiven Möglichkeitsurteil über die Ermittlung von durchschnittlichen Erwartungserwartungen als auch in der subjektiv angenommenen Geltungschance der Erwartungsorientiertheit an den Erwartungen anderer, führt Weber dazu, ein höheres Stabilitätsmaß in der Unabhängigkeit vom konkreten einzelfallbezogenen Erwarten zu suchen. Dies wird durch die Orientierung an übergreifenden Ordnungen, Symbolen und Werten geleistet. Im Hinblick auf den Erläuterungsversuch des Regelbegriffs wird es im folgenden ausschließlich auf die Ordnungsorientiertheit des Sich Verhaltens ankommen. 2. Als Idealtypus der Ordnungsorientiertheit hat Weber das „Gesellschaftshandeln" gedient. 136 Seine Hauptmerkmale charakteriesiert er wie folgt: 1. Orientierung an Erwartungen aufgrund von Ordnungen; 2. Die Ordnung ist angesichts eines bestimmten erwarteten Handelns der Vergesellschafteten zweckrational gesetzt worden; 3. Die Ordnungsorientierung erfolgt subjektiv zweckrational. Die gesetzte Ordnung wird zu einem abstrakten Berechnungspunkt, der konkretes Erwarten unerheblich macht und der Kommunikation zwischen den Vergesellschafteten einen intermediären Charakter verleiht. Die Sachverhaltskalkulation geht dann dahin, daß die Einzelnen im Durchschnitt die Erwartung hegen, „daß die anderen Vergesellschafteten ihr Verhalten durchschnittlich so gestalten werden: ,als ob' sie die Innehaltung der gesetzten Ordnung zur Richtschnur ihres 132
GAWL, S. 457. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, S. 415 ff. 134 GAWL, (FN 5), S. 442. 135 Hier und zum folgenden: Luhmann, (FN 133). 136 Hierzu und zum folgenden: GAWL, S. 442 f. 133
4 Gromitsaris
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Handelns nähmen". 137 Ordnungsorientierung besteht im Befolgen sowie im bewußten Entgegenhandeln. Selbst wenn man falsch spielt, bleibt man als Mitspieler vergesellschaftet, es sei denn, man entzieht sich dem Weiterspielen oder wird ausgeschlossen. Die „durchschnittliche Begründetheit der Erwartungen' der Vergesellschafteten" 138 bezieht sich nicht auf das faktische Verhalten derselben. Die Verhaltensorientierung ausschließlich an Verhaltens- und Erwartenserwartungen eines jeden der Vergesellschafteten würde „die absolute Labilität auch dieser Erwartungen selbst" bedeuten. 139 In der Ordnungsorientierung sind Erwartungen „um so mehr mit durchschnittlicher Wahrscheinlichkeit gegründet'", je abstrakter (satzungsbezogen) sie sind. Je mehr „im Durchschnitt darauf gezählt werden darf, daß die Beteiligten ihr eigenes Handeln nicht bloß an den Erwartungen des Handelns der Anderen orientieren", sondern je mehr sie subjektiv die Verbindlichkeit der Ordnung für alle Beteiligten unterstellen, um so wahrscheinlicher sind sie begründet. 140 Die Vereinbarung einer Ordnung führt zu Abstraktheit und Entlastung der Erwartungsbildung von Mannigfaltigkeit und unberechenbarer Beliebigkeit. Man darf sich als Vergesellschafteter in einem gewissen Umfang darauf verlassen, daß die anderen Beteiligten „sich (annähernd und durchschnittlich) der Vereinbarung gemäß verhalten werden, und zieht diese Erwartung bei der rationalen Orientierung seines eigenen Handelns in Rechnung". 141 Die Ordnungsorientiertheit durchbricht die Polarität des Erwartens oder — genauer — macht deutlich, daß Verhaltenserwartbarkeit keineswegs eine rein private Angelegenheit zwischen zwei Erwartenden ist. Ein externer Bezugspunkt ist unentbehrlich. Dies wurde bereits angedeutet, und zwar als die Erheblichkeit der Durchschnittschancen bei dem objektiven Möglichkeitsurteil und der subjektiven Tatsachenberechnung hervorgehoben wurde. Der Durchschnitt darf nicht als statistische Größe aufgefaßt werden. Er verweist auf die Funktion und die kategoriale Bedeutung des Dritten. Dieser ist kein unmittelbarer Zuschauer. Es geht vielmehr einerseits um die Unbekannten und Anonymen, die in mehr oder minder ähnlichen Situationen mehr oder minder ähnliche Erwartungen gehegt haben. Andererseits geht es darum, daß sich gewisse Erwartungen als situationsgemäß erwiesen haben und als Durchschnittserwartungen von Unbekannten und Anonymen die Situation selbst überhaupt konstituieren und als solche erkennen lassen. Der Durchschnitt stützt sich auf die vermutete Meinung einer unbestimmt bleibenden Öffentlichkeit. Die empirisch geltende Chance der Erwartungserfüllung bliebe ohne die Einschaltung des Dritten, ohne diesen äußeren Bezugspunkt, in einer unberechenbaren Labilität befangen. Das Moment der Ordnung erbringt demgegenüber eine doppelte Konkretisierungsleistung. Erstens wird eine angehbare Bezugsgruppe festgelegt, an deren 137 138 139 140 141
GAWL, GAWL, GAWL, GAWL, GAWL,
S. 443. S. 446. S. 446. S. 446. S. 447.
III. Erwartungsbildung und Erwartungsorientierung
51
Satzungsbeschlüssen das Verhalten orientiert wird. Zweitens verkleinert sich der Umkreis der unbekannten Dritten und wird ihr Erwartbarkeitsbereich stringenter abgesteckt. Der Durchschnitt oder die Satzungsordnung halten als unbekannte, sich nie zeigende Dritte einen Erwartbarkeitsvorrat bereit. Das Herausgreifen einer Verhaltenserwartung aus diesem Vorrat seitens des Einzelnen erlaubt unschädliche Unterstellung von Billigung und Konsens. Durchschnittserwartung oder ordnungsgestützte Erwartung sind mithin durch unterstellten Konsens gestützte Verhaltenschancen. Es liegt kein faktischer Konsens vor: Der Einzelne gerät „ohne sein Zutun" in die „Mitbetroffenheit von jenen Erwartungen der Orientiertheit seines Handelns an (den) von Menschen geschaffenen Ordnungen" hinein. 142 Die anonymen Dritten schenken dem Einzelhandeln keine tatsächliche übereinstimmende Aufmerksamkeit; ihre Zustimmung ist allgemein und wird vermutet. Diesen Tatbestand der Konsensunterstellung hat Weber im Zusammenhang mit dem Begriff der Oktroyierung näher erläutert. 3. Oktroyiert ist „jede nicht durch persönliche freie Vereinbarung aller Beteiligten zustandegekommene Ordnung". 1 4 3 Der Schwerpunkt liegt nicht auf dem Zwangsmoment, das im Begriff des Oktroyierens und Aufdrängens anklingt. Es kommt vor allem darauf an, daß eine Ordnung den Anspruch erhebt, für jeden zu gelten, „auf den bestimmte Merkmale (Gebürtigkeit, Aufenthalt, Inanspruchnahme bestimmter Einrichtungen) zutreffen." Dabei ist unerheblich, ob der Betreffende persönlich beigetreten ist und erst recht, ob er bei den Satzungen mitgewirkt hat. 1 4 4 Beim Vorliegen gewisser objektiver Tatbestände wird von einer Person die Orientierung an gewissen Ordnungen erwartet. Es wird eine „Zurechnung des Einzelnen zur Teilnahme" an einem Handeln und zur Orientierung an einem angebbaren Erwartbarkeitsvorrat „ohne sein eigenes darauf zweckrational gerichtetes Zutun" vollzogen. 145 Der Einzelne wird andererseits in Gemeinschaften hineingeboren und hineinerzogen, wo bestimmte Zusammenhänge von konsensgestützten Verhaltenserwartungen an ihn herangetragen werden. Was hier vorliegt, ist im Grunde ein üblicher Einverständnisfall, d.h. Verhaltenssteuerung aufgrund von Erwartungsorientierung. Es kommt hinzu, daß die Erwartungen von vornherein mit unterstelltem Konsens innerhalb einer Bezugsgruppe oder allgemein bestärkt sind. Faktisch wird kein „Einverstandensein oder so etwas wie stillschweigende Vereinbarung" benötigt. Die oktroyierten Erwartungen werden lediglich „praktisch als ,gültig'" für das Verhalten behandelt. 140 Dies ist offensichtlich im Fäll 142
GAWL, S. 465. WuG, (FN 9), S. 27. Zur Bedeutung des Begriffs der Anstalt für die Institutionentheorie Webers s.: Ludwig M. Lachmann, Drei Essays über Max Webers geistiges Vermächtnis, Tübingen 1973, S. 45 ff. 143
144 145 146
4*
WuG, S. 28. GAWL, S. 466. GAWL, S. 468.
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des „Mehrheitsbeschlusses, dem sich die Minderheit fügt". 1 4 7 Ihr fiktiver Konsens wird als ein tatsächlicher behandelt und bleibt deshalb eine Unterstellung (Oktroyierung), was für frühere Zeiten keine Selbstverständlichkeit war. Die persönliche Zustimmung aller Einzelnen, die eine gültige Satzung binden sollte, wurde für erforderlich gehalten. Bei „steigender Kompliziertheit der Ordnungen und fortschreitender Differenzierung des gesellschaftlichen Lebens" wird dieser Tatbestand der notwendigen Unterstellung immer universeller und zugleich differenzierter. Es werden zunehmend besonderere Bezugsgruppen mit der zunehmend spezialisierten Herstellung fiktiven Konsenses befaßt. Die anonymen Dritten sind nicht länger eine einheitliche Bezugsgruppe. Im Parlament 148 , in der Kleiderindustrie oder in der Wissenschaft 149 werden Erwartungsordnungen bereitgestellt, die der gesellschaftlichen Mehrheit oktroyiert werden. Letztere orientiert ihr Handeln daran, ohne sich die sachkundige Begründetheit der Erwartungen vergegenwärtigen zu können. Die Anwendung der Vorschriften der Buchführung durch einen Kontoristen oder die richtige Anwendung des Einmaleins durch Kinder stellen oktroyierte Erwartungsordnungen dar. 1 5 0 Die „Fügsamkeit in das Gewohnte, Eingelebte, Anerzogene, immer sich Wiederholende" bringt eine Verhaltensorientiertheit mit sich, die von den rationalen, sachlichen Überlegungen in den Bezugsgruppen gar nichts zu wissen braucht. 151 Die sachgerechten Erwartungserwartungen werden von den Handelnden nur als Berechnungspunkte verwendet. Der „Fortschritt der gesellschaftlichen Differenzierung" bewirkt keine „Universalisierung des Wissens um die Bedingtheiten und Zusammenhänge" der Verhaltensorientierung, sondern „meist das Gegenteil". Es tritt „ein immer weiteres Distanzieren der durch die rationalen Techniken und Ordnungen praktisch Betroffenen von deren rationaler Basis" ein. Die Tatsache, daß die ausdifferenzierten Bezugsgruppen Erwartungserwartungen innerhalb eines angebbaren Wirkungsbereiches oktroyieren, bedeutet, daß bestimmte Verhaltenserwartungen bei den Handelnden als allgemein erwartbar gelten dürfen. Ordnungsoktroyierung heißt daher Erwartungsoktroyierung und mithin Stabilisierung bestimmter Verhaltenschancen aufgrund der Unterstellung von Erwartbarkeit. Oktroyierung ist ein allgemeines Thema bei Weber. Es wird zwar im Zusammenhang mit dem Begriff der Anstalt abgehandelt, aber es durchzieht sein ganzes Werk. Es handelt sich darum, daß Erwartungserwartungen Dritter „innerhalb eines angebbaren Wirkungsbereiches jedem nach bestimmten Merkmalen angebbaren Handeln (relativ) erfolgreich oktroyiert", d.h. unterstellt werden. 152 Mo-
147
WuG, (FN 9), S. 27. WuG, S. 27, 30. 149 GAWL, S. 471 ff. 150 GAWL, S. 471 ff. 151 Hierzu und zum folgenden: GAWL, S. 473. 152 WuG, S. 28. Sinn ist als objektiver Bedeutungszusammenhang zu verstehen. Vgl. hierzu: Helmut Girndt, Das soziale Handeln als Grundkategorie erfahrungswissenschaftli148
III. Erwartungsbildung und Erwartungsorientierung
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dern ausgedrückt kann man oktroyierte Chancen des Sichverhaltens als institutionalisierte Erwartungen bezeichnen. Diese gibt es in allen sozialen Gebilden, wie etwa in der Hausgemeinschaft und in der Sprachgemeinschaft, 153 wo man in die Beteiligung hineingeboren oder hineinerzogen wird. Oktroyiert sind auch die Durchschnittserwartungen, weil sie auf Verhaltenschancen hinweisen, die als „gültig angenommen werden". 154 „Nicht anders steht es aber mit sozialen Institutionen, wie etwa dem Gelde". 1 5 5 Das Verhalten wird an oktroyierten Erwartungen orientiert, ohne die Notwendigkeit des Hinterfragens oder Zustimmens. Sie sind sehr leicht zu handhaben, aber sie sind enorm schwierig zu überdenken, weil die Steuerungsebene nicht diejenige der Faktizität, sondern die des Unterstellens ist. Im Fall des Kartenspiels wird von vornherein angenommen, daß die Spielregeln als Maximen allen Spielern als oktroyiert gelten dürfen. Wer die oktroyierten Spielregeln abweichend auffaßt oder überdenken will, hat die Beweislast. Er kann im konkreten Spiel dem durch die Erwartungserwartungen der Dritten unterstützten Erwarten der Spieler nicht entgegenwirken, weil er in diesem Fall die Spielerqualität ablegen würde. Er setzt sich dem Unbehagen aus, gegen Selbstverständlichkeiten zu Felde zu ziehen. 4. Um die Vorarbeit abzuschließen, die sich mit der Erläuterung der Hauptterminologie Webers bezüglich der Geregeltheitsproblematik befaßt, müssen wir nun nach den Konstitutionsbedingungen des ErwartungsbegrifTes selbst fragen. Die Erwartung ist ein SchlüsselbegrifT. Er macht Metapher und Analogien „mit dem ,Organismus' und ähnlichen Begriffen der Biologie" entbehrlich. 156 Auch Begriffe wie Gleichartigkeit des Verhaltens mehrerer, Wechselwirkung und Nachahmung erweisen sich demgegenüber als unfruchtbar. Sie sind zur Erläuterung der Verhaltensorientiertheit und der sozialen Ordnung zu unscharf. Der Erwartungsbegriff stellt eine Kategorie der verstehenden Soziologie dar und wird deutlich von den psychologischen Kategorien abgesondert. Mehrere Menschen können dieselbe Erwartung hegen, obwohl sie von „höchst verschiedenartigen Konstellationen von Motiven" ausgehen. Die verstehende Soziologie ist nicht an „ ,psychophysischen' Erscheinungsformen", an Pulskurven oder an einer gewissen „Kombination (von) Spannungs-, Lustund Unlustgefühle(n)" interessiert. Sie differenziert vielmehr „nach den typischen sinnhaften (vor allem: Außen-) Bezogenheiten des Handelns". 157 Dies impliziert nicht etwa, daß die „Unterschiede der psychologischen Qualitäten eines Verhaltens" nicht vorhanden seien. Sie sind für die Erwartungsbildung eher Soziologie, Tübingen 1967, S. 26 f. Zur zentralen Rolle der Institutionalisierung im Zusammenhang mit Handlung und Sinn s.: Belvisi, (FN 109). 153 GAWL, (FN 5), S. 446. 154 GAWL, S. 459. 155 GAWL, S. 471 f. 156 GAWL, S. 454. 157 GAWL, S. 430.
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nicht relevant. Die Nivellierung psychischer Unterschiede findet nicht nur soziologisch, sondern auch sozial faktisch statt. Weber vertritt die Auffassung, Erwartungen seien Kalkulationspunkte in der Verhaltensorientierung, die realiter unabhängig von einer ihnen subjektiv zugrunde liegenden psychischen Gefühlslage in Anspruch genommen würden. Diesem Tatbestand trage die Soziologie Rechnung, indem sie psychologisch unvermengte Sinnkategorien verwendet. „Gleichheit der sinnhaften Bezogenheit ist nicht gebunden an Gleichheit der im Spiel befindlichen ,psychischen' Konstellationen, so sicher es ist, daß Unterschiede auf jeder Seite durch solche auf der andern bedingt sein können". 1 5 8 Die „sinnhafte Bezogenheit" des Sichverhaltens einer Person auf das Sichverhalten anderer wird sozial konstituiert; ihre begriffliche „Wiedergabe" durch den Ausdruck Erwartung oder Einverständnishandeln wird soziologisch geleistet. Soziologisch-analytische Begriffsbildung und handlungsbezogene Terminologiebildung des Handlungsbewußtseins sind nicht identisch. Die sozialsinnhafte Bezogenheit des Sichverhaltens ergibt sich realiter unter Absehen von der Beliebigkeit der „tiefer" liegenden psychischen Kontingenz. Gewiß geht das Verhalten auf psychische Motivationsstrukturen zurück, aber es verweist zugleich auf motivunabhängige Erwartbarkeiten. Die Erklärung einer sozialen Sinnrichtung wird nicht aus psychischen Sachverhalten vorgenommen, weil sich die Beliebigkeit derselben in der „höheren" Aggregationsebene der Verhaltenserwartbarkeit nicht bemerkbar machen kann. Sie kann gegenüber der Kompliziertheit der Erwartungszusammenhänge oder der Reflexivität des Erwartens nichts ausrichten. Sozialsinnhafte Bezogenheit wird durch Ableitung von Erwartungen erklärt. Nach Weber kann der Erwartungsbegriff unter einem subjektiven und einem objektiven Aspekt betrachtet werden. Er nennt sie „subjektive Zweckrationalität" und „objektive Richtigkeitsrationalität". In subjektiver Hinsicht werden vom Einzelnen Erwartungen „über das Verhalten der Objekte" gehegt. Der objektive Aspekt besteht darin, daß Erwartungen „nach gültigen Erfahrungen" gehegt werden dürfen. 159 Motivationsverkettungen, persönlich verschiedenes Reaktionstempo oder qualitativ verschiedenartige Stimmungslagen können die Abwicklung von Erwartungsstrategien diktieren, aber sie begründen keine sozialsinnhaften Erwartungen. 160 Eine jede Betrachtungsweise vollzieht ihre eigentümliche Einheitsstiftung. Das Einzelindividuum kann als ein „Komplex psychischer, chemischer oder anderer ,Prozesse' irgendwelcher A r t " behandelt werden. 161 Demgegenüber geht es der Soziologie um sinnhafte soziale Bezogenheit. Diese wird über objektive Erwartungsbildung determiniert. Das objektive Moment liegt darin, daß trotz „irgendwelche(r) wie immer geartete(r) Interessen" und trotz „des Wechsels der Personen" Durchschnitts- oder Ordnungserwartungen oktroyiert werden 158 159 160 161
GAWL, GAWL, GAWL, GAWL,
S. 430. S. 432. S. 435, 437. S. 439.
III. Erwartungsbildung und Erwartungsorientierung
55
können. 162 Es kommt auf die objektive Chance der Verhaltensorientierung an. Dagegen bleibt es sich gleich, aus welchen „letzten ,inneren Lagen' heraus" die Beteiligten sich orientieren. 163 Erwartungsorientierung schließt daher die „Vorstellung eines ,Mit- und Füreinander' im Gegensatz zu einem gegeneinander' " nicht ein. 1 6 4 „Es gibt keinerlei Einverständnisgemeinschaft, einschließlich der mit schrankenlosestem Hingabegefühl verknüpften, wie etwa erotischer oder karitativer Beziehungen, welche nicht jenem Gefühl zum Trotz, rücksichtsloseste Vergewaltigung des anderen in sich schließen könnte. Und die Mehrzahl aller ,Kämpfe' schließt andererseits irgendein Maß von Vergesellschaftung oder Einverständnis ein". 1 6 5 Die Erwartung ist eine Kategorie sinnhafter Bezogenheit, die als Berechnungspunkt für die jeweilige Tatsachenkalkulation sozial konstituiert und dargeboten wird. Wie der Einzelne auf die an ihn herangetragenen Erwartungen psychisch reagiert, ist eine andere Sache. 5. Um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen, läßt sich nach allem der empirische Regelbegriff bei Max Weber als eine Verhaltensorientierung an oktroyierten Erwartungen verstehen. Die Aufstellung einer idealen Regel, einer erstrebten Geregeltheit, besagt andererseits das Inaussichtstellen von Verhaltenserwartungen, die als oktroyiert, d.h. als allgemein erwartet angenommen werden dürfen. Die Verhaltenserwartungen der Handelnden sind als deren Maximen der Realgrund des faktischen Hergangs. Die Erwartungserwartungen der verschiedenen Bezugsgruppen stellen vom Standpunkt des Forschers her den Erkenntnisgrund der faktischen Verhaltensorientiertheit dar. Die gemäß der Analogie zur Spielregel drei logisch möglichen Betrachtungsweisen der Rechtsregel ließen Weber zu Ausführungen kommen, die erst von H. L. A. Hart wieder aufgegriffen worden sind. Es handelt sich um das Verhältnis der internen zur externen Betrachtungsweise von Rechtsregeln. Weber hat dieser Problematik eine eingehende, gründliche Analyse angedeihen lassen und daher die einschlägigen, modernen rechtstheoretischen Positionen vorweggenommen. Die These Harts geht darin, daß eine externe, behavioristische Darstellung menschlicher Verhaltensregularitäten zur Erfassung und Ermittlung der Rechtsregeln nicht ausreiche. Die äußere statistische Beobachtung und Beschreibung bedürfe unbedingt der Ergänzung durch die interne Betrachtungsweise, damit in der Regelbefolgung die Regel, in der Regelmäßigkeit die Regelhaftigkeit erkannt werde. 166 Zur Veranschaulichung dieser These wird meist folgendes Beispiel verwendet: Durch statistische Beobachtung stellt es sich heraus, daß 99 Prozent der Autofahrer ihre Fahrzeuge vor einer auf Rot geschalteten Ampel anhalten und 95 Prozent dabei zugleich das Autoradio anstellen. Von den zwei hier 162
GAWL, S. 447 f., 451. GAWL, S. 452, 460, 468. 164 GAWL, S. 462. 165 GAWL, S. 464. 166 Mac Cormick, D. N. /O. Weinberger, Grundlagen des Institutionalistischen Rechtspositivismus, Berlin 1985, S. 160ff. 163
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56
vorliegenden Gewohnheiten entspricht nur die erste der tatsächlich vorhandenen Rechtsregel, daß man vor einer auf Rot gestellten Ampel anhalten muß. Die Existenz dieser Regel kann nur durch interne Betrachtung ermittelt werden. Wir haben gesehen, daß Max Weber zwischen Rechtsnorm und Rechtsregel unterscheidet (Doppelsinnigkeit des Regelbegriffs). Der Gesetzesparagraph ist für ihn eine wörtlich formulierte Gedankenverbindung, die eine erstrebte Geregeltheit zum Ausdruck bringt. Er ist ein Wertstandard und hat einen idealen Sinn. Letzterer liegt darin, daß ein „verbindliches gedankliches Verhältnis von Begriffen zueinander, ein ,Gelten-Sollen' bestimmter Gedankengänge für den juristischen Intellekt" besteht. 167 Das ideale Geltensollen in diesem Sinne, das begriffliche Gedankenverhältnis wird von der Jurisprudenz aus „bestimmten Wortverbindungen" des Rechtssatzes (Paragraphen) in seiner juristisch-logischen Verbindlichkeit erschlossen. 168 Der gedankliche Sinn des Rechtssatzes ist eine dogmatisch-juristisch ermittelte Bedeutung. Die dogmatisch-juristische Begriffsbildung ist nicht kausal. Für sie ist die Idee der erstrebten Geregeltheit regulativ. Sie erfolgt unter der Fragestellung, wie sich der ideale Sinn der erstrebten Geregeltheit derart gedanklich konstruieren läßt, „daß ein in sich widerspruchsloses Gedankengebilde entsteht." 169 Die dogmatische Begriffsbildung ist somit eine teleologische und bringt verschiedene Rechtssätze miteinander dadurch in Verbindung, daß sie eine systematische Leistung erbringt. Diese erfolgt unter der Fragestellung, wie der zu definierende Begriff χ gedacht werden muß, damit alle diejenigen positiven Normen, welche jenen Begriff verwenden oder voraussetzen, widerspruchslos und sinnvoll neben- und miteinander bestehen können. 170 Der den am Handeln Beteiligten vorstellungsmäßig vorschwebende Sinn braucht nicht dem dogmatischen zu entsprechen. Die Handelnden wollen meistens keine Dogmatik des Sinns ihres Handelns treiben, sondern verfolgen Interessen. Der juristisch destillierte dogmatische Sinn eines Rechtssatzes wird nun zum Zweck der Hypothesenbildung als heuristischer Idealtypus für die empirische Betrachtung benutzt. Der dogmatische Inhalt des Rechtssatzes macht sogar die Abgrenzung des Erkenntnisobjekts möglich. Aus der Mannigfaltigkeit von Muskelbewegungen, Tönen, Stimmungslagen und Motivationen wird unter Zuhilfenahme des idealtypischen dogmatischen Sinnes eines Rechtssatzes der Erkenntnisgegenstand „Tausch" extrahiert. Erkenntnisgrund des rechtlich Relevanten ist der dogmatische Sinn. Der Rechtssatz ist das die Objektsabgrenzung leitende Prinzip und stellt ein unentbehrliches Beobachtungsinstrument dar. Der idealtypische Sinn wird nur heuristisch in das Handeln hineingelegt. Ihn bei den Beteiligten als realiter vorhanden anzunehmen käme der Auffassung gleich, der bellende Hund wolle die Idee des Eigentumsschutzes verwirklichen, nur weil sein Bellen für seinen 167 168 169 170
86 f.
GAWL, (FN 5), S. 347. GAWL, S. 347. GAWL, S. 333 f. Max Weber, Knies und das Irrationalitätsproblem (1905), in: GAWL, S. 42-105,
III. Erwartungsbildung und Erwartungsorientierung
57
Herrn diesen Sinn haben kann. 1 7 1 Die interne Betrachtungsweise bedeutet mithin nichts anderes als das heuristische Anlegen der begrifflichen Bedeutung des Rechtssatzes als eines internen Wertmaßstabes. Nur auf diese Weise können in den beobachteten faktischen Regelmäßigkeiten die empirischen Rechtsregeln, die rechtsrelevanten Maximen erkannt werden. Wenn nun die Handelnden feststellen wollen, mit welchen Erwartungen sie im Recht sind oder welche Erwartungen ihnen rechtlich oktroyiert sind, so müssen sie auch den dogmatischen Sinn ideal typisch in Anspruch nehmen. Dies ist nur möglich, wenn eine Bezugnahme auf dogmatisch verbindliche Gedankenverbindungen, Entscheidungsbedingungen und Entscheidungswahrscheinlichkeiten stattfindet. Es geht um ein Wahrscheinlichkeitskalkül über die rechtliche Erwartbarkeit von Verhaltenserwartungen. Es ist zu prüfen, „wie, nach dem,begrifflichen 4 Sinn der Rechtsregel, die Richter den Fall entscheiden ,müßten'". 1 7 2 Dies ist aber nicht genug. Die dogmatische Prüfung ist nur „ein Posten in der Wahrscheinlichkeitsrechnung", weil ihr Ergebnis vor Gericht immer noch verspielt werden kann. Der Rechtsparagraph, die erstrebte Geregeltheit (Rechtsnorm oder ideale Rechtsregel) sowie die Verhaltensmaxime (empirische Rechtsregel) werden in diesem Kalkül miteinander in Verbindung gebracht. Dies führt uns zur Behandlung der Frage nach der Rechtsgeltung im allgemeinen. 6. Weber unterscheidet zwischen idealer oder juristischer und empirischer Geltung. Die erstere fragt, „was als Recht ideell gilt". Gefragt ist also nach der Bedeutung, dem normativen Sinn eines sprachlichen Gebildes, das als Rechtsnorm auftritt. 1 7 3 Die ideale Geltung bezieht sich auf schriftlich niedergelegte normative Wortverbindungen. Sie operiert mit den Begriffen Rechtssatz und Rechtsnorm, d.h. sie bezieht sich auf autoritativ wörtlich ausgedrückte, einem angebbaren Handeln oktroyierte Erwartungserwartungen. Auf dieser Ebene des idealen Geltensollens werden Sätze, „deren Inhalt sich als eine Ordnung darstellt", auf ihren normativen Bedeutungsumfang hin untersucht. 174 Das ist die rechtswissenschaftliche Ermittlung des dogmatischen Sinns der Rechtssätze. Die ideale Rechtsgeltung bezieht sich auf einen dogmatischen Sinn. Dieser ist in einem Rechtssatz nicht vollständig beinhaltet. Es wird durch die rechtsdogmatische Betrachtungsweise von den Gesetzesparagraphen insofern herausdestilliert, als der Rechtssatz den Ausgangspunkt der dogmatischen Überlegung darstellt. Der Rechtssatz wird als ein in den als „Gesetz" bezeichneten Papierfaszikeln stehender Paragraph definiert. Die Dogmatik fragt nach dem Sinn dieses Rechtssatzes. Sie untersucht die darin in Wortgestalt gefaßten Gedankenverbindungen auf ihren „richtigen" Sinn. Die Dogmatik untersucht die Tatbestände, die dem Sinn unterliegen, und außerdem, in welcher Weise das geschieht.175 Der Gedankeninhalt wird als eine gesollte Geregeltheit auf seine 171 172 173 174 175
GAWL, S. 335. GAWL, S. 350. WuG, S. 181. WuG, S. 181. WuG, (FN 9), S. 181.
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§ 1 Theorie der Rechtsnormen bei Max Weber
Anwendbarkeit, seine Umwandlungsfähigkeit in einen Bestimmungsgrund faktischer Abläufe oder in ein sachliches Kausalitätsverhältnis hin geprüft. Dies erfolgt unter der Fragestellung, ob die gesollte Geregeltheit in den Fällen x, y, ζ in eine faktische Geregeltheit verwandelt werden sollte und ob dies dergestalt zu geschehen hätte, „daß ein Richter, wenn er ,richtig 4 entscheiden will, " auf eine bestimmte Weise entscheiden müßte. Die verschiedenenen einzelnen Rechtssätze werden nun gemäß ihren Anwendbarkeitsbedingungen in der Weise bestimmt, „daß sie dadurch in ein logisch in sich widerspruchsloses System gebracht werden" 1 7 6 . Die dogmatische Betrachtung bleibt in der „Welt der Begriffe" und läßt sich daher als formal bezeichnen.177 Sie erschließt ein „gedankliches Verhältnis von Begriffen", welches für den Einzelanwender verbindlich ist. In der Ermittlung des dogmatischen Sinnes spielt der Rechtssatz die Rolle des Ausgangspunktes der hermeneutischen Überlegungen. Er findet sich als „Prinzip mit Symbolen aus Druckerschwärze in einem als ,Gesetzbuch4 überlieferten Faszikel aufgedruckt". Der logische Sinn seines Geltens liegt in dem verbindlichen begrifflichen Verhältnis zwischen bezweckter, generell formulierter Geregeltheit und den ihr unterliegenden Tatbeständen. Der Umfang des dogmatischen Sinnes kann daher nicht allein aus der Bedeutung der im Rechtssatz benutzten Begriffe entnommen werden. Er findet sich gleichfalls in Begriffen, die nach den „als faktisch vorherrschend bekannten, juristischen Denkgewohnheiten" gebildet worden sind. Letztere stellen gespeicherte Entscheidungserfahrungen und Entscheidungsprämissen dar. Der so aufgefaßte dogmatische Sinn ist die Rechtsnorm. Sie stellt eine Antwort auf die Frage' dar, wie entscheidungsbedürftige Tatbestände im Einzelfall erkannt und entschieden werden sollen. Sie ist eine sein sollende, ideale Geregeltheit, die nach den vorherrschenden juristischen Denkgepflogenheiten in einem als verbindlich anerkannten Verhältnis von Begriffen ausgedrückt ist. Zur Veranschaulichung können wir nun das Skatbeispiel und insbesondere die Struktur und Funktion der Skatnorm heranziehen. Dieselbe bezieht sich zunächst einmal auf eine angebbare Thematik. Sie legt fest, daß nach gewissen Merkmalen bestimmt sein soll, „ob 1. jemand ,richtig 4 — im Sinne von ,normgemäß4 — gespielt habe, 2. wer als,Gewinner 4 gelten solle." Diese allgemeine Festlegung hat zur Folge, daß die Skatspieler nicht fallweise die ideale Spielregel in concreto neu zu vereinbaren brauchen. Die jeweils am Skatspiel Beteiligten sowie sämtliche potentiellen Skatspieler unterwerfen sich der Skatnorm und bleiben ihr selbst dann unterworfen, wenn sie absichtlich falsch spielen. 178 Der ideale gedanklich erschließbare Normsinn wird allem Entgegenhandeln zum Trotz festgehalten. Er ist ein Wertstandard, an dem „gegenwärtige, vergangene oder zukünftige Vorgänge gemessen werden 44. 1 7 9 Es ist nicht die Norm, die an der Wirklichkeit 176 177 178 179
WuG, S. 181. Hierzu und zum folgenden: GAWL, (FN 5), S. 356 f. GAWL, S. 337, 443. GAWL, S. 323.
III. Erwartungsbildung und Erwartungsorientierung
59
gemessen wird, sondern umgekehrt. Unrichtiges, normwidriges Verhalten führt nicht zum Aufgeben des alten und Anlegen eines neuen Normmaßstabes. Die infolge skatpolitischer Überlegungen aufgestellte Skatnorm stellt einen Berechnungspunkt in der Erwartungskalkulation im Spiel dar. Zugleich ist sie eine sozial sinnhafte, thematisch bestimmte Bezogenheit auf menschliches Verhalten. Sie stellt gewisse Verhaltensweisen in Aussicht, indem sie diese als seinsollend behandelt. Sie ist in dem Sinne selber eine Erwartung von einer zu verwirklichenden Geregeltheit. In der Skatnorm wird die Erwartung geäußert, daß alle möglichen Skatspieler ihr Verhalten an ihrem durch die Skatjurisprudenz herausdestillierten dogmatischen Sinn orientieren werden. Selbst wenn die Erwartung enttäuscht wird, wird weiterhin an ihr festgehalten. Dies bedeutet, daß die enttäuschte Normerwartung weiterhin als Erkenntnisvoraussetzung des Skatspiels dergestalt dient, daß die sie enttäuschenden menschlichen Hantierungen und Regelmäßigkeiten nicht als Skat identifizierbar sind. Die Skatnorm ist somit eine der Enttäuschung zum Trotz festzuhaltende, thematisch abgegrenzte Erwartung, die im Rahmen eines skatpolitischen Verfahrens „praktisch wertend", in einem „Skat-Kongreß" etwa, geschaffen worden ist. 1 8 0 Weber hat die Norm-Erwartung einmal im Zusammenhang mit der Erörterung des Begriffs der gesetzten Ordnung und zum anderen als Norm-Maxime behandelt. Im ersten Fall ist sie ein objektiver, im zweiten ein subjektiver Wertstandard, an dem die Wirklichkeit gemessen wird. In beiden Fällen haben wir es mit einer „erstrebten Regelmäßigkeit" zu tun, die einen Hergang als erwartbar darstellt. Auf der Ebene der Ordnungssetzung handelt es sich „entweder 1. um rein einseitige, im rationalen Grenzfall: ausdrückliche Aufforderung von Menschen an andere Menschen oder 2. um eine, im Grenzfall: ausdrückliche beiderseitige Erklärung von Menschen zueinander, mit dem subjektiv gemeinten Inhalt: daß eine bestimmte Art von Handeln in Aussicht gestellt oder erwartet werde". 181 Die Norm kann entweder eine ideal geltende Erwartbarkeit einer sozialen Geregeltheit sein, oder aber sie kann trotz Enttäuschung weiterhin gehegte Erwartungsmaxime sein, die als subjektive Vorstellung beim Handelnden wirkt. Die erstere enttäuschungsfeste Erwartbarkeit nennt Weber ideal geltende Ordnung, ideale Regel oder Norm; die zweite wird als Maxime bezeichnet. Skatnorm und Rechtsnorm machen eine Ordnung aus, die sich „in ein System von Gedanken und Begriffen" gliedert. Dieses benützt der wissenschaftliche Rechtsdogmatiker oder Skatrechtsdogmatiker „als Wertmaßstab, um das faktische Verhalten gewisser Menschen: der Richter', ,Advokaten 4 , ,Delinquenten4, Staatsbürger 4 usw." oder demgemäß der Skatspieler „daran, juristisch wertend, zu messen und als der idealen Norm entsprechend oder nicht entsprechend anzunehmen oder zu verwerfen". 182 Die Bedeutung der idealen Geltung als verbindliches Verhältnis von Begriffen, die 180 181 182
GAWL, S. 337. GAWL, S. 442 f. GAWL, S. 348.
§ 1 Theorie der Rechtsnormen bei Max Weber
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eine enttäuschungsfeste Erwartbarkeit zum Ausdruck bringen, ist wesentlich für die empirische Geltung. Auf der Ebene der Maximenbildung, d.h. der „subjektiven gedanklichen Formung" von Regeln, die als Bestimmungsgründe des faktischen Hergangs dienen, kennt die Erwartungsbildung verschiedene Realgründe ihrer Möglichkeit. Als ratio essendi der subjektiven Erwartungsbildung (der Normmaxime) kann, einerlei in welchem Bewußtheitsgrad oder ob vollkommen unbewußt, entweder die unschädliche Generalisierung von persönlicher Erfahrung oder die Internalisierung einer gesollten Norm dienen. Die erfahrungsgemäßen Maximen sind ganz andersartigen Charakters als die Normmaximen. Letztere bestehen in Erwartungen, die im Enttäuschungsfall nicht aufgegeben werden. Erstere sind im Erfahrungsertrag begründete Erwartungen, die infolge neuerer Erfahrungen verschoben oder aufgegeben werden können. Erwartungen können daher sowohl Erfahrungs- als auch Normerwartungen sein. Ausschlaggebend ist das Aufgeben oder Festhalten der Erwartungen im Enttäuschungsfall. Entäuschungsfeste Normmaximen sind vom konkreten Erwarten faktischen Verhaltens unabhängig. Sie werden bei Weber auch „Legalitätserwartungen" genannt. 183 Das hohe Maß an Labilität der auf kasuistischem, konkretem Erwarten beruhenden Normmaximen wird nur insoweit überwunden, als eine höhere, abstraktere Orientierungsebene der Erwartungsstiftung eingeführt wird. Dies wird in der Tat von der idealen Regel, d.h. von der Skatnorm und der Rechtsnorm als ideal geltender Gedankenverbindung und seinsollender Geregeltheit geleistet. Der ideal geltenden Norm gegenüber gründen sich die Erwartungen der Skatspielenden oder Staatsbürger „auf Chancen der durchschnittlichen Orientiertheit des fremden Handelns an angenommenen Gültigkeiten". 184 Jeder Skatspieler darf die geltende Orientiertheit aller tatsächlichen und potentiellen Mitspieler an der Skatnorm unterstellen. Er darf davon ausgehen, daß jeder Mitspieler den begrifflich erschließbaren dogmatischen Sinn der Skatnorm zu eigener Normmaxime gemacht hat, oder aber, daß jeder Mitspieler „auf die Wahrscheinlichkeit spekuliert, daß der andere Beteiligte es tun werde: seine eigene Maxime ist dann reine ,Zweck'Maxime". 1 8 5 Ein Skatspiel, ein Tauschakt oder ein Rechtsprozeß weisen gemäß der Analogie Webers einen sehr hohen Vorrat an strukturellen Gemeinsamkeiten auf. In allen drei Fällen wird zunächst einmal eine Orientiertheit oder eine Unterstellung der Orientiertheit an Gültigkeiten vorausgesetzt. Es wird von einer idealen Norm und ihrem dogmatischen Sinn ausgegangen. Im Hinblick darauf unterscheidet Weber vier verschiedene Bezugsgruppen der Mitbetroffenheit von Erwartungen: 1. „von den Einen" werden Normerwartungen von seinsollenden Geregeltheiten gestiftet und sodann als Berechnungspunkt der Verhaltensorientierung unterstellt und suggeriert (dogmatischer Sinn des Rechtssatzes oder der Skatnorm). 186 183 184 185
GAWL, (FN 5), S. 446, 457, 459. GAWL, S. 459. GAWL, S. 336.
III. Erwartungsbildung und Erwartungsorientierung
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2. „von den Zweiten, den ,Organen4 der Vergesellschaftung 44 18 7 werden die Normerwartungen „mehr oder minder gleichartig subjektiv gedeutet und aktiv durchgeführt. 44 Dies besagt, daß der dogmatische Sinn zur „Maxime der entscheidenden Richter, und zur Maxime der sich über eine skatjuristische Frage Entscheidenden44 wird. 1 8 8 3. „von den Dritten 44 , d. h. vom „,Publikum 4 44 wird die „Tatsache des Geschaffenseins 4' von idealen normativen Erwartungen und „also der daraus folgenden ,Chancen4 gerade soweit (gekannt), als zur Vermeidung der allerdrastischsten Unannehmlichkeiten unerläßlich ist 44 . 1 8 9 Es handelt sich um den Bekanntheitsgrad von Legalitätserwartungen, d.h. von Erwartungen, die durch die ideale Norm suggeriert, unterstellt und deshalb durch erwarteten Konsens unterstützt werden. Das ist der Fall, wenn dogmatische Sinnrichtungen von Rechtsnormen zur Normmaxime, zum „Mittel 4 4 der im Prozeß agierenden Parteien werden 190 oder wenn die beiden Tauschenden den dogmatischen Sinn der Tauschnorm in ihr Handeln bewußt hineinlegen. 191 4. „von den Vierten aber, und das ist die ,Masse4, wird ein . . . Handeln traditionell 4 . . . eingeübt und meist ohne alle Kenntnis von Zweck und Sinn, ja selbst Existenz der Ordnungen innegehalten. 44192 Die Legalitätserwartungen nehmen im vorliegenden Fall eine andere Form an. Sie zeigen sich nicht als durch autoritative Texte und ideale Normen unterstützt. Ihre Erwartbarkeit scheint auf die „Fügsamkeit in das Eingelebte und Anerzogene zu gründen. Die Tauschenden brauchen nicht den dogmatischen Sinn der einschlägigen Legalitätserwartungen in ihr Handeln hineingelegt zu haben. Sie tauschen aufgrund einer beliebigen Zweckmaxime, weil man tauscht, und dies genügt.
186 187 188 189 190 191 192
GAWL, GAWL, GAWL, GAWL, GAWL, GAWL, GAWL,
S. 33, 337, 472. S. 472. S. 351. S. 472. S. 351. S. 333 f. S. 473.
§ 2 Rechtsnormen und Rationalisierungsprozeß bei Rudolph von Ihering I . Iherings Reflexionstheorie des Rechts
Die Rechtssoziologie Max Webers hatte an Gesellschaftstheorie und Gesellschaftsgeschichte angeknüpft. Das Werk von Iherings „Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung" beruht ebenfalls auf einem engen Zusammenhang zwischen Rechts- und Gesellschaftsentwicklung. Es wird hier die These aufgestellt, daß Ihering den Übergang zu einem Begriff des Rechtssystems vollzog, der sich vom pandektistischen Systembegriff völlig abhebt. Er hat das Rechtssystem als ein System der sozialen Realität, als ein Teilsystem der Gesellschaft aufgefaßt. Gesellschaftsentwicklung und Rechtsentwicklung befinden sich mithin seiner Ansicht nach in engstem Zusammenhang. Auf solch einem Zusammenhang beruhen die rechtssoziologischen Ausführungen nicht nur Max Webers, sondern auch diejenigen Helmut Schelskys, der von Max Weber ausgegangen ist und sein Gedankengut weitergetragen hat. 1 In seinem Aufsatz „Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie"2 hat Schelsky eine Evolutionstheorie des Rechts entwickelt. Im Abschnitt über „Die drei Leitideen des Rechts" hat er die Auffassung vertreten, daß „bestimmte Ideen oder Leitbilder des Rechts" von der Frühzeit und den primitiven Kulturen bis hin zur gegenwärtigen modernen Gesellschaft „die Entwicklung und die Funktion" des Rechts bestimmt haben.3 Diese Leitbilder sind die Gegenseitigkeit auf Dauer, die Gleichheit bei Verschiedenheit und die Integrität und Autonomie der Person gegenüber der Organisation. Sie sind in sich selbst „nicht ohne historische Dimension und von unterschiedlicher allgemeiner Gültigkeit". Die erste Leitidee bezieht sich auf die Frühzeiten der menschlichen Kultur und formuliert das Prinzip der Reziprozität als einer Grundidee des Rechts. Die zweite tritt historisch „im Zusammenhang mit Herrschafts- und Staatsbildungen" erst zu einem bestimmten Zeitpunkt auf. Sie stellt das Problem der Funktion des Rechts bei „Herrschafts- und Machverhältnissen" dar. Die Leitidee der Integrität und Autonomie der Person ist „heute noch strittig"; sie ist ein die heutige Entwicklung weiter tragendes 1 Die Anlehnung an Max Weber hat Schelsky selber im ersten Teil des Buchs „Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen", Opladen 1975, explizit in ihrer Wichtigkeit dargestellt. 2 Im folgenden zitiert: ARS, in: ders., Die Rechtssoziologen und das Recht. Abhandlungen und Vorträge zur Soziologie von Recht, Institution und Planung, Opladen 1980, S. 95-146. 3 Hierzu und zum folgenden: ARS, S. 125 f.
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Prinzip. Sie bezieht sich auf die Möglichkeit der Entstehung von „Entscheidungsräumen" für freie Wahlhandlungen der Person. Diese drei Leitideen des Rechts sind demnach nicht nur als Ansatz einer rechtssoziologischen Funktionsanalyse, sondern auch als eine in der Gesellschaftsevolution eingebettete Evolutionstheorie des Rechts zu verstehen. Luhmann ist derjenige gewesen, der eine ausführliche Evolutionstheorie der Gesellschaft und des Rechts aufstellte und in seiner Rechtssoziologie zur Anwendung brachte. 4 Unter Evolution versteht er die Herausbildung und Ermöglichung dreier verschiedener Vorgänge. Es werden ein Überschuß an Möglichkeiten erzeugt, aus dem in einem nächsten Schritt unter Abstoßen unbrauchbarer Möglichkeiten selektiert werde. Die gewählten Alternativen würden in den jeweils früheren Evolutionsphasen der Gesellschaft bewahrt und stabilisiert. 5 Evolution nehme die Formen der Variation, Selektion, Stabilisierung an. Im Anschluß daran werde zwischen sehr globalen Typen bzw. Epochen gesellschaftlicher Entwicklung unterschieden, indem „Trenn- und Ablösungsvorgänge zwischen diesen Mechanismen" als Schwellen der soziokulturellen Evolution interpretiert würden. In archaischen Gesellschaften seien die Mechanismen der Variation und der Selektion noch nicht voneinander getrennt, denn die Sprache erfülle beide Funktionen. In den vorneuzeitlichen Hochkulturen ändere sich zwar dies infolge von Stadtbildung und der Erfindung der Schrift, aber dafür verschiebe das Trennungsproblem sich zwischen den Mechnismen für Selektion und Stabilisierung. Erst in der europäischen Neuzeit werde auch diese Identifikation gesprengt. 6 Im Hinblick auf den Stabilisierungsprozeß wird dreifach zwischen segmentärer, schichtenmäßiger und funktionaler Differenzierung unterschieden. 7 Aufgrund dieser Erneuerung des Evolutionsgedankens hat Luhmann versucht, die Rechtssoziologie auf eine gesamtgesellschaftliche Theorie, „damit wieder auf das Recht selbst als Struktur des Gesellschaftssystems" zu beziehen.8 Diese Entwicklungen des Entwicklungsgedankens sind nicht erst durch die Theorie Webers über den Rationalisierungsprozeß ausgelöst worden. Ihering hat ebenso wie Weber die Rechtsentwicklung in die Gesellschaftsentwicklung eingebettet und als einen Rationalisierungsprozeß verstanden. Dies ist desto interessanter, als Ihering derjenige ist, der die Begriffsjurisprudenz als eine bloße, vorübergehende Phase im Entwicklungsprozeß des Rechts angesehen und ihre rechtswissenschaftliche Überwindung selber geleistet hat. Im vorliegenden Zusammenhang geht es demnach nicht darum, ob die Gesellschaftsge4
Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, 2. Aufl., Opladen 1983, S. 132. Ders., Systemtheorie, Evolutionstheorie und Kommunikationstheorie, in: Soziologische Aufklärung, Bd. 2, 3. Aufl., Opladen 1975, S. 193-203, 195; ders., Rechtssoziologie, (§2 F N 4), S. 139. 6 Ders., Evolution und Geschichte, in: Soziologische Aufklärung, Bd. 2, (§ 2 FN 5), S. 150-169, 152. 7 Ebd., S. 153. 8 Ders., Evolution des Rechts, in: Ders., Ausdifferenzierung des Rechts, Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt am Main 1981, S. 11-34, 12. 5
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§ 2 Rechtsnormen und Rationalisierungsprozeß bei R. v. Ihering
schichte Webers als eine evolutionistische zu bezeichnen ist 9 , und wie sie mit der Evolutionstheorie Schelskys und Luhmanns zu vergleichen wäre. Es geht auch nicht darum, die Entwicklungstheorie Iherings und ihre philosophischen Anlehnungen an das geistige Klima des ausgehenden 19. Jahrhunderts herauszuarbeiten. Es soll vielmehr versucht werden, vor dem Hintergrund der Problemstellungen der Rechtssoziologie Webers die Struktur und Funktion der Rechtsnormen „auf den verschiedenen Stufen" der Gesellschaftsentwicklung bei Ihering herauszustellen. 1. Der „Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung" sollte für Ihering eine „Lehre über das Wesen und die Natur des positiven Rechts" als „Kulturelement" in der gesellschaftlichen Entwicklung darstellen. 10 Was das Werk beabsichtigt, „ist eine das Recht auf seinem ganzen Wege von Anfang bis zu Ende" begleitende „geschichtsphilosophische Kritik". Dabei handelt es sich nicht darum, sich mit der äußeren historischen Tatsache zu begnügen, wie es die römische Rechtsgeschichte zu tun pflegt. Vielmehr sollen das „innere Getriebe des geschichtlichen Werdens, die verborgenen Triebfedern, die letzten Gründe, der geistige Zusammenhang der gesamten Rechtsentwicklung" ergründet werden. 11 Statt einer rechtswissenschaftlichen Kritik, welche die „Überlieferungsform" des römischen Rechts, die „Handschriften, Varianten usw." zum Gegenstand hat, soll hier eine „Kritik des Rechts überhaupt", eine „allgemeine Naturlehre" desselben dargestellt werden. 12 Diese Lehre von der „Natur und Erscheinungsform" des Rechts ist keine Aufzeichnung der Gedankengänge und Gedankenentwicklungen, mit denen das Rechtssystem Entscheidungserfahrungen speichert und zur Wiederverwendung aufbereitet. Sie ist keine Geschichte der rechtsdogmatischen Begriffe und Theorien. Ihering betrachtet in diesem Fall das Recht nicht „mit der exegetischen Lupe in der Hand", damit er auch in der „kleinsten unscheinbarsten Stelle aus den Pandekten oder Gaius gewissermaßen das Blut zirkulieren sehen kann". Er wendet sich von „mikroskopischen Beobachtungen" ab, die er sonst als Dogmatiker betrieben hat, um sich jener für die Erkenntnis der „charakteristischen Eigenschaften" des Rechts nötigen „Weitsichtigkeit" der Theorie zu widmen. 13 Er hat die Absicht, „bei Gelegenheit der Beurteilung eines einzelnen 9 Zum Thema: Weber vergleichender Universalhistoriker oder Evolutionist, s. Wolfgang Schluchter, Max Webers Gesellschaftsgeschichte. Versuch einer Explikation, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 30 (1978), S. 438-467, 438, 440, 442. 10 Rudolph von Ihering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 10. Aufl. Aalen 1968, unveränderter Neudruck der 6. (letzten veränderten) Aufl., Leipzig 1907, Bd. 1, S. 3. Im folgenden zitiert: Geist. Die 3 Teile des Werkes werden in römischen und die 2 Abteilungen des 2. Teiles in arabischen Ziffern zitiert. 11 Geist I, S. 15 f. 12 Hier und zum folgenden: Geist I, S. 16, 22ff. 13 Einerseits wird in der Rechtswissenschaft das Auge für rechtsdogmatische Beobachtungen geschärft, andererseits stellt sich „wohl gar geradezu eine Abneigung gegen die Einnahme entfernterer Standpunkte" ein. In allgemeineren Gesichtspunkten erblicke man
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Rechts" Gesichtspunkte aufzustellen, die dem „Wesen des Rechts überhaupt" entnommen sind und eine „allgemeine Wahrheit" beanspruchen. Auf diese Weise macht Ihering im römischen Recht das Recht zum Gegenstand seiner Beobachtung. Im Bereich des Rechts entwirft er eine Theorie des Rechts, die das ganze Rechtssystem, Wissenschaft und Praxis im Hinblick auf nicht Rechtliches reflektiert. 14 Modern formuliert haben wir es mit einer „Theorie des Systems im System" zu tun, mit einer „Reflexionstheorie", die die Identität des Rechtssystems im Unterschied zu seiner sozialen Umwelt beobachtet. Das reflektierende Teilsystem kann das umfassende Rechtssystem nicht vergegenständlichen, ohne sich selbst als Teil seines Gegenstandes mitzuerfassen. 15 Es ist eine weitere Differenzierung des systemtheoretischen Grundkonzepts einer „Theorie des Systems im System" vorgeschlagen worden. 16 Es geht um den Tatbestand von „Wechselwirkungen in Reflexionsverhältnissen", und zwar in den Reflexionsverhältnissen zwischen dem sozialen Reflexionssystem „Rechtstheorie" im sozialen Reflexionssystem „Rechtswissenschaft" im Hinblick auf das „staatlich organisierte Rechtssystem". Genau genommen haben wir es in diesem Fall mit einer „Theorie des Systems im System im System" zu tun. Die Rechtstheorie stellt dementsprechend die „Selbstreflexion des Rechtswissenschaftssystems" dar. Von „Selbstreflexion im Rechtssystem" kann man nur sprechen, wenn man den Begriff des Rechtssystems so ausweitet, daß er die Rechtswissenschaft in sich schließt. Die unterschiedlichen Reflexionsebenen im Rechtssystem sind nach dieser Auffassung so ausdifferenziert und verselbständigt, daß sie „jeweils für sich als eigenständige soziale Handlungssysteme" bezeichnet werden können. Angesichts dieser Differenzierung hat Ihering nicht nur eine „Theorie des Systems im System im System", also eine Rechtsepistemologie, sondern auch eine Theorie der Operationen des Systems in bezug auf seine Umwelt geleistet. In systemtheoretischer Perspektive läßt sich seine „Naturlehre des Rechts" wie nichts als „verschwimmende Umrisse, Seifenblasen, an denen nur oberflächliche Naturen Gefallen finden können". Geist I, S. 22 f. 14 Dieser Sachverhalt ist systemtheoretisch im Rahmen der Parallelproblematik des Verhältnisses von erzieherischer Praxis und Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft beleuchtet worden: Niklas Luhmann / Karl-Eberhard Schorr, Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, Stuttgart 1979, S. 109ff., 123ff., 338ff. Hierzu s. auch Werner Krametz, Reine Rechtslehre oder Systemtheorie. Anfragen an eine analytische Jurisprudenz, in: ders., Recht als Regelsystem, Wiesbaden 1984, S. 81 -143, 114. Allgemein zum Reflexions- und Beobachtungsbegriff: Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, S. 61, 620. Reflexion stellt kein Monopol des Einzelbewußtseins dar. Das reflektierende cogito des Monsieur Teste bei Paul Valéry, das Reflexivwerden der Reflexion: „Je suis étant et me voyant; me voyant me voir, et ainsi de suite" findet auch auf soziale Systeme Anwendung. Paul Valéry , La jeune Parque et poèmes en prose, Paris 1974, S. 151. 15 Niklas Luhmann, Selbstreflexion des Rechtssystems. Rechtstheorie in gesellschaftstheoretischer Perspektive, in: Ausdifferenzierung, (§ 2 FN 8), S. 419-450, 422. 16 Hier und zum folgenden: Krawietz, Reine Rechtslehre oder Systemtheorie, (§ 2 F N 14), S. 98 f. (Anm.72). 5 Gromitsaris
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folgt beschreiben. Durch Selbstbeobachtung beschreibt sich das Rechtssystem im „Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung" diachronisch als Inbegriff von Kommunikationen über die Differenz Recht/Unrecht. Dabei wird ein jeweils unterschiedlicher Zumutungsgehalt, d. h. jeweils unterschiedliche Themengrenzen und Themenrelevanz zu Grunde gelegt. Diese Themenrelevanz oder Grenzziehung erfolgt durch das eigentliche Operieren des Rechtssystems und seine jeweilige Selbstbeschreibung. Externe Beobachter, d.h. andere soziale Teilsysteme wie das Wirtschafts- ReligionsWissenschaftssystem, stellen ihr Beobachtung des Rechtssystems aufgrund der Handhabung von ihren eigentümlichen Unterscheidungen an. Diese Unterscheidungen werden im beobachtenden System, nicht im beobachteten Rechtssystem konstituiert. Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung des Rechtssystems muß anhand einer Differenz erfolgen, die im Rechtssystem selber konstituiert wird. So ist das Selbst in der Selbstbeobachtung „zu Exklusivität gezwungen". Das Rechtssystem hat mithin einen „privilegierten Zugang" zu sich selbst, „nur sich selbst kann sich selbst beobachten". Dies hat zur Folge, daß es trotz übernommener Begrifflichkeit und Weltwissens seine Selbstbeobachtungsdifferenz selbst konstituieren muß. Es kann sich nicht „am berauschenden Wein des Konsenses stärken". 17 Diese systemtheoretische Erfassung von Reflexion im Rechtssystem kann dazu dienen, die Ebene, auf der die Reflexion Iherings über das Recht erfolgt, festzulegen. Ihrering hat ganz gewiß nicht systemtheoretisch gedacht. Gleichwohl ist er bestrebt gewesen, eine Reflexionsebene über das Recht zu schaffen, für die er keinen Namen und keine Begrifflichkeit hatte. Die „Doppelstellung des römischen Rechts als Stück des Altertums und als geltende Rechtsquelle" hat ihn auch noch dazu genötigt, die Beobachtung und Beschreibung des Rechtssystems in einer entwicklungsgeschichtlichen Perspektive zu vollziehen. 18 Diese Ambivalenz und Doppelstellung des römischen 17 Luhmann, Soziale Systeme (§2 F N 14), S. 61 ff., 267f., 622f. Vgl. ferner: George Spencer Brown , Laws of form, London 1969, S. 1, 3ff., 85, 91, 101, 103ff., 109f., 126 (Anm.): „We take as given the idea of distinction and the idea of indication, and that we cannot make an indication without drawing a distinction. We take, therefore, the form of distinction for the form. . . . Thus it is evidently not enough... to write down an expression, and expect it to be understood. We must also indicate where the observer is supposed to be standing in relation to the expression. . . . Any given universe .. .is the appearance of any first distinction... Its particularity is the price we pay for its visibility . . . To explain, . . . sacrificing other dimensions for the sake of appearance . . . at the cost of ignoring the reality or richness of what is .. .put out." Ferner hierzu: Francisco J. Varela, Principles of Biological Autonomy. The North Holland Series in General Systems Research, New York-Oxford 1979, S. 61 ff.; Antony Wilden , System and Structure. Essays in Communication and Exchange, 2. Aufl., New York 1982, 155 ff., 161. Ähnlich: Paul Valéry , Cahiers. Édition établie, présentée et annotée par Judith Robinson, Bd. 1., Paris 1973, S. 560 f. „Les choses sont en tant et pour autant que je suis. Pas plus. Etre sûr, c'est relatif aux actions. . . . Il n'y a ni temps, ni espace, ni nombre en soi, ni causes . . . Il n'y a que des opérations c'est à dire des actes, et ce qu'il faut pour ces actes." 18 Rudolph von Ihering, Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts, Leipzig 1894, S. 8. Im folgenden zitiert: Entwicklungsgeschichte.
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Rechts sind „das Verhängnis des Romanisten geworden", sie tragen die Schuld, das „weder die Geschichte noch die Dogmatik zu ihrem vollen Recht gekommen ist". 1 9 Ihering hat mithin Rechtsgeschichte und Theorie des Rechts im Rechtssystem vermengen müssen. In der römischen Rechtsgeschichte hat er alles gefunden, was er benötigte, nämlich „Anschauungen vom geschichtlichen Werden und Wachsen des Rechts, Erkenntnis seines Wesens, Verständnis der eigentümlichen juristischen Methode". Für diese Reflexionsebene hat er einen besonderen Namen geschaffen. Die römische Rechtsgeschichte „wird angewandte Rechtsphilosophie sein". 20 Die Hauptschwierigkeit jedoch, die Ihering zu überwinden hatte, lag darin, daß es an einer adäquaten Begrifflichkeit völlig gefehlt hat. „Wer messen will, bedarf eines Maßstabes". 21 Wie dürftig es mit der Begrifflichkeit einer „allgemeinen Lehre von der Natur und Erscheinungsform des Rechts" bestellt war, sagt Ihering selber: „Wie gering ist das Kapital von Begriffen, Anschauungen und Gesichtspunkten, das uns die heutige Jurisprudenz zu diesem Zweck zu Gebote stellt". Zu einer „wahrhaften Kritik des römischen Rechts", zur Erforschung seines „innersten Wesens" und seiner „letzten Gründe" fehlt es der romanistischen Jurisprudenz „sowohl an der subjektiven Fähigkeit wie an dem objektiven wissenschaftlichen Apparat". Ihering bemängelt die Tatsache, daß es an einer Ebene der Beobachtung des Rechts in bezug auf die jeweiligen sozialen Grundstrukturen völlig fehlt. Das römische Recht wird hingenommen, „als könne es nicht anders sein, als sei mit einer möglichst reinen Darstellung desselben" die Aufgabe der Wissenschaft ihm gegenüber schon völlig gelöst. 22 Die praktische Tendenz der Jurisprudenz, die rechtsdogmatische Beschäftigung mit der praktischen Anwendbarkeit des Rechts läßt einer allgemeineren Reflexion über das Recht im Rechtssystem selbst keinen freien Spielraum übrig. Der „Grundzug" der ganzen dem römischen Recht zugewandten wissenschaftlichen Tätigkeit ist „der des unbefangenen Positivismus". Ihr „Skeptizismus reicht über die rein positiven Fragen nicht hinaus". Ihrering vermißt eine Betrachtungsweise des Rechts, die den „inneren Zusammenhang des Gleichzeitigen im Recht" mit dem der Darlegung des Zusammenhangs des „Nachfolgenden" vereinigt. 23 Hierbei handelt es sich nicht um das äußere, dogmatisch-begriffliche Nebeneinanderbestehen des Gleichzeitigen oder Nachfolgenden. Vielmehr werden die „inneren treibenden Kräfte" und die „kausale Beeinflussung der einen Tatsache durch die andere (inneres Hervorgehen des Einen aus dem Anderen)" damit bezeichnet. Ihering will die Rechtsbetrachtung vom Banne der Dogmatik befreien. Die Beobachtung des Rechts soll die Berücksichtigung der sozialen Grundstrukturen miteinbeziehen. Sein Augenmerk ist auf „das propter hoc" im Recht gerichtet. Sein Problem ist die „Verfolgung des Kausalitätsgedankens in der Geschichte 19 20 21 22 23
5=
Ders., ebd. Ders., ebd., S. 5. Hier und zum folgenden: Geist I, S. 22f. Hier und zum folgenden: Geist I, S. 21 f. Hier und zum folgenden: Entwicklungsgeschichte, (§ 2 FN 18), S. 5 f.
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des römischen Rechts". Das ist es, was er mit dem Namen „Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts" und mit dem langen Titel „Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung" zum Ausdruck bringen wollte. Es ist ihm sehr daran gelegen, nicht nur nachzuweisen, daß das Recht sich im Laufe der Zeit in engem Zusammenhang mit der Gesellschaft verändert, daß „es sich bewegt". Darüberhinaus hat er verlangt, „den Grund der Bewegung zu erfahren". Dies ist eine Aufgabe, welche die Dogmatik und die rechtsdogmatische Geschichte als „Disciplin" nicht erfüllen können. Die Geschichtsschreibung 24, das historische Aneinanderreihen von dogmatischen Figuren, ist die äußerlichste Zusammenstellung des rechtshistorischen Materials, die sich denken läßt. Man wird an die „Systematik eines Waschzettels erinnert: Hemden, Kragen, Taschentücher — leges, Senatus consulta, constitutiones principum u.s.w." 2 5 Ihrering wendet sich gegen eine rechtsgeschichtliche Forschungsrichtung, die in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts aufgetreten war, nämlich die elegante Richtung. Diese war ursprünglich in Frankreich des Cujacius und Donellus zuhause. In Deutschland wurde sie vor allem durch Johann Gottlieb Heineccius (1681-1741) heimisch, der zahlreiche Nachamer fand. Dabei wird das Historische zum Gelehrten überhaupt, alles Antiquarische ist gleich interessant. Man sammelt ohne zu sichten, weil man „Freude an der Pracht des Früheren" hat. 2 6 Im Anschluß an Johann Stephan Pütter (1725-1807) 27 bezeichnet Gustav Hugo (1764-1844) 28 die elegante Jurisprudenz als eine „historisch antiquarische Methode" im Recht und rückt ihr auf den Leib. 2 9 Seine „befreiende Tat" 3 0 liegt 24
Ebd., S. 1. Ebd., S. 7. 26 Hier und zum folgenden: Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. IV. Dogmatischer Teil, Tübingen 1977, S. 70 ff. 27 Vgl.: Gustav Hugo, Pütter, in: ders. (Hrsg.), Civilistisches Magazin Bd. 5, Berlin 1825, S. 54-98; Wilhelm Ebel, Der Göttinger Professor Johann Stephan Pütter aus Iserlohn, Göttingen 1975. 28 Hugo ist derjenige, der nach den Kritiken Kants und unter Ablehnung des Naturrechts das positive, empirisch erfahrbare Recht und seine Darstellung im System zum rechtswissenschaftlichen Gegenstand machte. Problemaufschließend dazu: Jürgen Blühdorn, Kantianer und Kant. Die Wende von der Rechtsmetaphysik zur Wissenschaft vom positiven Recht, in: Kantstudien 64 (1973), S. 363-394; ders., Naturrechtskritik und „Philosophie des positiven Rechts". Zur Begründung der Jurisprudenz als positiver Fachwissenschaft durch Gustav Hugo, in: Tijdsschrift voor Rechtsgeschiedenis, Tome X L I (1973), S. 1-17; ders., Zum Zusammenhang von „Positivität" und „Empirie" im Verständnis der deutschen Rechtswissenschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: ders./Joachim Ritter (Hrsg.), Positivismus im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1971, S. 123-159; Theodor Vieweg, Einige Bemerkungen zu Gustav Hugos Rechtsphilosphie, in: Festschrift für Karl Engisch, Frankfurt a.M. 1969. Von den älteren Arbeiten zu Gustav Hugo: Fritz Eichengrün. Die Rechtsphilosophie Gustav Hugos, Haag 1935; Heinrich Weber, Gustav Hugo — Vom Naturrecht zur historischen Schule, Göttingen 1935; Fritz von Hippel. Gustav Hugos juristischer Arbeitsplan. Berlin 1931. 25
29 Hierzu: Ernst Landsberg in Roderich von Stinzing-Ernst Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abteilung, 2. Halbband, Text, München—Berlin 1910,
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in der rechten Abgrenzung v o n Rechtsphilosophie u n d Rechtsgeschichte einerseits u n d in der Gesamtschau 3 1 der Rechtswirklichkeit. H u g o hebt sich vorteilhaft v o n der Einseitigkeit seiner Nachfolger a b . 3 2 I n den auf Pütter u n d H u g o folgenden Jahren t r i t t ein „rechtshistorischer Eklektizismus" ein, der u m des Systems willen, die „Innenseite der Rechtsentwicklung" vernachlässigte. So opfert auch Savigny die Diachronie der Synchronie 3 3 u n d vergiß das Hauptanliegen Pütters und Hugos. Er steht der historisch-antiquarischen Geschichtsbetrachtung näher als jener v o n Pütter u n d H u g o ins Auge gefaßten Entwicklungsgeschichte. Savigny steht „ m i t demRücken zur Z u k u n f t " da m i t Zukunftsfragen politische Felder betreten werden, die für i h n außerhalb der Rechtsbetrachtung stehen. I h m geht es u m eine „aspektivische Gegenwartsbestätigung aus der Geschichte". 3 4 Der Zukunftshorizont k a n n i n das Recht nur einbezogen werden, wenn das Recht politisch verstanden wird. Dieses politische Rechtsverständnis kennzeichnet vor Savigny die pragmatische Geschichtsauffassung des späten Naturrechts einerseits u n d die Schriften v o n Pütter, Hugo, Feuerbach u n d Thibaut 35 andererseits. N a c h Savigny hat Ihering die Zukunftsorientierung, an 2. Neudruck der Ausgabe 1880-1910, Aalen 1978, S. 1 ff.: „Endlich kam Hugo". Über den Begriff des „eleganten" vgl. ders., ebd., 3. Abteilung, 1. Halbband, S. 163, 249: „ I m Sammeln stark, im Sichten schwach" sei diese Entwicklungsphase der rechtsgeschichtlichen Forschung und der Jurisprudenz. 30 Wilhelm Felgentraeger, Rezension von Fritz von Hippel, Gustav Hugos juristischer Arbeitsplan. Ein Beitrag zur Wiedergewinnung juristischer Arbeitseinheit, Berlin 1931, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Rom. Abt. 52 (1932), S.455f. behauptet, daß Hugos Geschichtsauffassung über den Pragmatismus der Aufklärungszeit nur in Einzelheiten hinausgekommen sei. 31 Vgl.: Gustav Hugo, Ueber den Plan dieses Journals, in: Civilistisches Magazin 1 (1810), S. 1-22, 5f.: „Zum vollständigen Römischen Rechte gehört aber nicht nur die Verbindung aller Begriffe und Sätze, die ehemals coexistirten..."; ders., Ein Beitrag zur Ehrenrettung Tribonian's, in: Civilistisches Magazin 2 (1812), S. 84-95. 32 Vgl. Hier und zum folgenden: Fikentscher, (§ 2 FN 26), S. 71 ff. 33 Vgl. hierzu die Diskussionsbeiträge zu Walter Wilhelms Vortrag, Savignys überpositive Systematik, in: Jürgen Blühdorn und Joachim Ritter (Hrsg.) Philosophie und Rechtswissenschaft. Zum Problem ihrer Beziehung im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1969, S. 123-136, Diskussion: 137-147, 144ff.: Blühdorn hält es durchaus für möglich, daß „historisch" in der Methodenlehre von Savigny 1803 „historisch-antiquarisch" bedeutet. Erschütternd sei, so Wieacker (ebd., S. 147), daß Savigny genau das, was er in den Programmschriften der Jahre 1814/15 forderte, nicht getan hat. Im „Recht des Besitzes" wird ein dogmatisches Modell als Auswahlprinzip für die Sichtung des Quellenstoffs verwendet. Die „Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter" lieferte ebenfalls äußere Rechtsgeschichte, nämlich Geschichte der Quellen, der Literatur und des rechtswissenschaftlichen Unterrichts im Mittelalter, nicht aber eine Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts. 34 Hier und zum folgenden: Fikentscher, (§ 2 F N 26), S. 72 f., 79 Anm. 35 Paul Johann Anselm Feuerbach (1772-1833), Anton Friedrich Justus Thibaut (1772-1833). Thibaut hat sich immer gegen seine Diskreditierung als ungeschichtlich aufs entschiedenste gewehrt. Vgl.: A. F. J. Thibaut, Ueber die sogenannte historische und nicht-historische Rechtsschule, in: Archiv für die Civilistische Praxis 21 (1838), S. 301 419, 403; ders., Ueber den Einfluß der Philosophie auf die Auslegung der positiven
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H u g o vor allem wieder anknüpfend, aufgegriffen. Das geschichtliche Rechtsverständnis Hugos ist erstaunlich modern. Er vergleicht vielleicht noch anschaulicher als es Ihering später gemacht hat, die Rechtsentstehung m i t der Entstehung und Befolgung v o n Spielregeln. Spielregeln werden i n der A n w e n d u n g stets modifiziert. Sie sind vergangenheits- u n d zukunftsorientiert zugleich. Sie lassen sich nicht aufgrund einer Quellenforschung, sondern aufgrund einer Beobachtung der sozialen K o m m u n i k a t i o n ausfindig machen. Das Geschichtliche schließt die Vergangenheit der Spielregeln, ihre gegenwärtige praktische Anwendung und die Perspektive der künftigen K o m m u n i k a t i o n s s t r u k t u r i e r u n g i n sich. Das Spielverständnis kann sich unmöglich auf einen hypothetischen Erfinder oder Erfindungsakt stützen. Das Rechtsverständnis k a n n unmöglich auf dem Rezeptionsakt eines fremden Rechts oder auf dem Setzungsakt eines Gesetzgebers beruhen. „Der Ursprung alles Juristischen läßt sich vielleicht für manche Leser am besten durch etwas erläutern, was mit dem übrigen Rechte sehr viele Ähnlichkeit hat, weil dieses Beispiel in der That auch etwas juristisches i s t . . . Es sind die Spiele, von denen ich rede, gleich viel ob Schach oder Billard oder Cartenspiele. Kein Spiel beruht ganz auf Verordnungen; . . . Kein Spiel beruht ganz auf Verabredungen... Wie sind nun die übrigen Regeln entstanden? Nach und Nach, indem immer mehr zweifelhafte Fälle vorkamen, die in Gemäßheit der anderen Regeln, oder wie es zu dem Geiste des Spiels am passendsten schien, entschieden wurden. Hundert solche Entscheidungen mögen wieder vergangen seyn, weil diese ihre Vorzüge anderen Spielern nicht einleuchteten; viele haben sich erhalten, sie werden stillschweigend vorausgesetzt, und wenn sich ein Fall eräugnet, den die Spieler noch nicht kennen, so tragen sie ihn am liebsten irgend einem unpartheischen Dritten, etwa dem benachbartenTische vor, und dessen Entscheidung wird dann Regel für künftige Fälle. An solche prudentes wendet man sich, nie aber ist bey einer GesetzCommission eine solche Lücke des positiven Rechts angezeigt worden. Bey Spielen, z. B. dem Billiard, hat man sogar eine Tafel darüber (nicht zwölf), und dieß ist keine GesetzTafel, weil sie von keinem Obern herkommt, nur eine Rechtstafel, wie es nun einmal gehalten werde, und zwar nur so lange nichts anderes ausgemacht sey." 36 Dieser Vergleich zwischen Spielregeln u n d Rechtsregeln erfolgt fast anderthalb Jahrhunderte vor Wittgenstein u n d eine geraume Weile vor Ihering u n d M a x Weber. Ihering hat diesen Vergleich theoretisiert u n d daraus die Konsequenzen gezogen. Es ist i h m von seinen frühen Versuchen 1842 an über seine System- u n d Zweckstudien bis zu seinen letzten Briefen an Roderich von Stinzing u n d L u d w i g M i t t e i s 3 7 immer klarer geworden: D a ß eine Trennung v o n RechtsdogGesetze. Versuche über einzelne Teile der Theorie des Rechts, Bd. 1, Jena 1798, S. 140207, S. 185: „ . . .euer gesunder Verstand wird sich in fruchtlosen Anstrenungen erschöpfen, muthlos die Flügel sinken lassen, und euch, (wie die Glossatoren und viele der älteren Juristen) statt eines aufgelösten Problems, todte Worte und nachgebetete Formeln wiedergeben, daß man uns doch stets durch das was war, aber nicht immer so bleiben darf, und wird, widerlegen will!". 36 Gustav Hugo, Die Gesetze sind nicht die einzige Quelle der juristischen Wahrheiten, in: Civilistisches Magazin 4 (1815), S. 89-134, 130ff. 37 Vgl. hierzu: Wolf gang Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III, Tübingen 1976, S. 204ff.; ders., Methoden des Rechts, Bd. IV, (§2 F N 26), S. 77f.; Mario G. Losano,
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m a t i k u n d Rechtsgeschichte nach A r t Pütters u n d Hugos vollzogen werden müßte. 2. Iherings Anliegen ist es, i n seiner angewandten Rechtsphilosophie den Kausalitätsgedanken i m Recht zu verfolgen. Dies macht natürlich deutlich, daß seine Entwicklungstheorie, gemessen an heutigen Anforderungen u n d den verfeinerten Evolutionsmechanismen Luhmanns, p r i m i t i v ist. Gegenüber den Entwicklungstheorien seiner Zeit stellt jedoch seine Entwicklungstheorie des Rechts u n d der Gesellschaft eine Errungenschaft dar. Dies springt sofort ins Auge, wenn man sie m i t der Epistemologie des Naturrechts, der Rechtstheorie Savignys u n d derjenigen Puchtas vergleicht. 3 8 a) I n der naturrechtlichen Epistemologie wurden Rechtsnormen i n ihrer Werthaftigkeit erkannt u n d anhand dieser erkenntnistheoretischen Tätigkeit erzeugt. 3 9 Die N o r m galt aufgrund der Gleichsetzung des Erkenntnisprozesses m i t dem Erzeugungsprozeß. N a c h der Verabschiedung des Naturrechts trennten sich diese Prozesse. Die N o r m wurde v o n Wert u n d Wahrheit abgekoppelt. Sie wurde als auch anders möglich u n d i n formalem Verfahren veränderbar empfunden. Die einmal bewußtgewordene normative Kontingenz w i r d ein „dauerndes Hindernis für die Rechtsepistemologie" darstellen. 4 0 Es drängt sich die Frage auf, wie sich die stets kontingente Geltung des positiven Rechts als notwendig begründen läßt. Studien zu Ihering und Gerber, Teil 2, Ebelsbach 1984, S. 210f.; Helene Ehrenberg (Hrsg.), Rudolph von Ihering in Briefen an seine Freunde, Leipzig 1913, S. 217 ff., 433 ff. 38 Zur historischen Rekonstruktion und Würdigung des Paradigmawechsels in der Jurisprudenz: Werner Krawietz, Zum Paradigmenwechsel im juristischen Methodenstreit, in: Ders. u.a. (Hrsg.), Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprudenz, Berlin 1979, S. 113-152; ders., Zur Kritik der Juristischen Methodenlehre seit Friedrich Carl von Savigny, in: Savigny y la Ciencia Juridica del Signo X I X , Granada 1979 (Anales de la Catedra Francisco Suarez No 18-19-1978-1979), S. 101 -131; ders. Begriffsjurisprudenz, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel— Stuttgart 1971, Sp. 809-813; ders. (Hrsg.), Theorie und Technik der Begriffsjurisprudenz, Darmstadt 1976. 39 Im vorliegenden Zusammenhang wird von der Unterscheidung zwischen frühem und spätem Naturrecht abgesehen. Dazu und zu den rechtswissenschaftlichen Vorurteilen gegenüber der Jurisprudenz des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts: Hans Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts. Eine privatrechtliche Studie, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 51 (1936), S. 202-263; ders., Die preußische Kodifikation, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. Bd. 52 (1937), S. 355-416; ders., Ideengeschichte und Rechtsgeschichte, in: Festschrift Julius v. Gierke, Berlin 1950; ders., Das Naturrecht und die europäische Privatrechtsgeschichte, 2. Aufl., Basel 1954; ders., Natürliches Privatrecht und Spätscholastik, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 70 (1955), S. 230-266; ders. (Hrsg.), Humanismus und Naturrecht in Berlin—Brandenburg—Preussen. Ein Tagungsbericht, Berlin—New York 1979; vgl. ferner: Gotthard Paulus, Die juristische Fragestellung des Naturrechts, Berlin 1979; Otfried Höffe, Naturrecht — Ohne naturalistischen Fehlschluß. Ein rechtsphilosophisches Programm, Wien 1980. 40 Hier und zum folgenden: Raffaele De Giorgi, Wahrheit und Legitimation im Recht. Ein Beitrag zur Neubegründung der Rechtstheorie, Berlin 1980, S. 16ff., 24, 26.
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Savigny ist derjenige gewesen, der die „Kategorie der Juridizität" i m formalen Bezug auf den Staat sah u n d sie v o n Sittlichkeit u n d N a t u r loslöste. 4 1 Staatsbezug ist Selektion u n d Herstellung normativen Stoffs aufgrund v o n Entscheidungen. Das dem Entscheiden innewohnende M o m e n t der W i l l k ü r w i r d jedoch einerseits durch den Volksgeist, andererseits durch die wissenschaftliche Praxis aufgewogen. I m Volksgeist w i r d die Geschichtlichkeit 4 2 des Rechts als notwendige, gesellschaftlich vorhandene Gegenwart festgelegt. D u r c h den Staatsbezug, d . h . durch Verknüpfung v o n staatlich festgesetzten Folgen m i t ausgewählten Fakten, w i r d dieser Gegenwart Juridizität verliehen. Als einzig mögliche wissenschaftliche H a n d h a b u n g der so erzeugten Juridizität w i r d die methodologisch-systematische angesehen. Savigny wählt hier einen internen Bezugspunkt, der als extern hingestellt werden muß, damit die Selbstreferenz i m Rechtssystem asymmetrisiert wird. Es ist die Beziehung auf Bedingungen der Wissenschaftlichkeit, die i m Wissenschaftssystem vermeintlich apriorisiert worden sind. Dadurch, daß die Systematik zugleich immer Wissenschaft u n d Philosophie ist, schreibt sie dem kontingenten postiven Recht logisch-wissenschaftlichen Notwendigkeitscharakter z u . 4 3 Schwierigkeiten liegen darin, daß die L o g i k dogmatisch Systematisierbares zu rechtfertigen u n d zu legitimieren scheint. Volksgeist, Staatsbezug u n d Juristenrecht haben ein interpretationsbedürftiges Verhältnis zueinander. 4 4 41 Juridizität wird erzeugt, wenn „rechtliche Folgen" mit Beziehungen oder Fakten verbunden werden, s. Friedrich Carl von Savigny, Das Recht des Besitzes. Eine civilistische Abhandlung, 3. Aufl., Gießen bey Heyer 1813, S. 25; Ders., System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, Neudruck der Ausgabe Berlin 1840, Aalen 1981, S. 333: Injedem Rechtsverhältnis ließen sich „zwei Stücke" unterscheiden, erstens ein „ S t o f f , d.h. jene Beziehung an sich, und zweitens „die rechtliche Bestimmung dieses Stoffs". Ders., Das Obligationenrecht als Theil des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, Neudruck der Ausgabe Berlin 1851, Aalen 1973, S. 4, 8: Die Verknüpfung von Handlungen mit rechtlichen Folgen bewirke die „Verwandlung" ungewisser künftiger Ereignisse in gewisse Ereignisse. 42 Dazu statt anderer: Ernst-Wolfgang Böckenförde. Die Historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts, in: ders. (Hrsg.), Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1976, S. 941. 43 De Giorgi , (§ 2 FN 40), S. 43 f. 44 Einen interessanten Versuch, diesen Schwierigkeiten in der Rechtstheorie Savignys Abhilfe zu leisten, stellen die Arbeiten von Hans Kiefner dar. Zum nicht einfach zu bestimmenden Verhältnis zwischen Rechtsinstitut und Rechtsverhältnis: Hans Kiefner, „Lex frater a fratre". Institution und Rechtsinstitut bei Savigny, in: Rechtstheorie 10 (1979) 129ff.; ders., Das Rechtsverhältnis. Zu Savignys System des heutigen Römischen Rechts: Die Entstehungsgeschichte des § 52 über das „Wesen der Rechtsverhältnisse", in: Norbert Horn (Hrsg.), Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart, Festschrift für Helmut Coing, Bd. 1, S. 149-176; ders., Ideal wird, was Natur war, in: Quaderni Fiorentini 9 (1980), S. 515-522. Zum Verhältnis zwischen Institution, Rechtsinstitut und Rechtsverhältnis: Helmut Coing , Rechtsverhältnis und Rechtsinstitution im allgemeinen und internationalen Privatrecht bei Savigny, in: Eranion in honorem Georgii S. Maridakis, Bd. 3, Athenis M C M L X I V (1964), S. 19-28. Coings Untersuchung erfolgt nicht unter dem Gesichtspunkt einer institutionellen Rechtsauffassung Savignys, wie der Titel (Rechtsinstitution) vermuten lassen könnte.
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Nach Puchta, 45 dem Lehrer Iherings, schlägt das Recht die individuellen Verschiedenheiten der Wirklichkeit in Gleichheit um, indem es an das allen gleichmäßig Zukommende, die Persönlichkeit und die Möglichkeit eines Willens anknüpft. Dies ist das Prinzip der Freiheit, das durch das Prinzip der Vernünftigkeit oder Notwendigkeit ergänzt wird. Die durch Abstraktion geschaffenen Formen der Gleichheit sollen anhand logischer Erarbeitung in eine Vielfältigkeit von Funktionen innerhalb eines begrifflich genealogischen Systems übergehen. Die verschiedenen Funktionen in der Begriffspyramide stellen den einzigen rechtswissenschaftlichen Gegenstand dar. Die Mannigfaltigkeit des Wirklichen, diese „materielle Instanz" 4 0 , bedingt die rechtliche Abstraktion, indem sie ständig Widerstand leistet. Die Einheit des Systems ist eine ausschließlich logische. Das Recht ist in seiner Systematisierbarkeit etwas Vernünftiges und in seiner Vernünftigkeit etwas Wissenschaftliches. 47 Puchta stellt die Brücke 48 zwischen Savigny, der an der Vergangenheit orientiert ist, und dem entwicklungsgeschichtlich denkenden Ihering dar. Sein dogmatisches System ist, da von der Vergangenheit her in die Zukunft gerichtet, produktiv. Für Savigny konnte das System nicht produktiv sein. Es war ein darstellendes Begriffssystem. In seiner Rechtsquellenlehre stellte Puchta dem Richter ausdrücklich die Aufgabe der Lückenfüllung. Ihering war Puchtas Schüler und erweiterte diesen Ansatz zu einer höheren und später teleologischen lückenschließenden Jurisprudenz. b) Ihering hat von Gustav Hugo die Ablehnung 49 des Vernunftrechts und die Gesamtschau der Rechtswirklichkeit, von Savigny die Kategorie der Juridizität 45 Die Reflexion über die Rechtslehre Puchtas leidet nach De Giorgi , (§ 2 F N 40) unter einer „vorschnellen Oberflächlichkeit". Er mußte, so Joachim Bohnert, Über die Rechtslehre Georg Friedrich Puchtas (1798-1846), Karlsruhe 1975, Vorwort, für alle Fehler der historischen Rechtsschule um so mehr einstehen, als „vor diesem Schatten das Licht Savignys noch heller, noch verehrungswürdiger leuchtete". Der Vorrat an Gemeinsamkeiten zwischen Puchta und Savigny war in Wirklichkeit größer als angenommen wird. Dazu: Joachim Bohnert (Hrsg.), Vierzehn Briefe Puchtas an Savigny, Göttingen 1979. 46 Ausdruck von De Giorgi , (§ 2 F N 40), S. 52, 59, 61. 47
Tuisco Ziller, Über die von Puchta der Darstellung des römischen Rechts zu Grunde gelegten rechtsphilosophischen Ansichten, Leipzig 1853. 48 Hier und zum folgenden: Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. IV, (§ 2 FN 26), S. 78. 49 Bereits in der Preisschrift, Commentatio de fundamento successionis ab intestato ex iure Romano antiquo et novo, Göttingen 1785, S. 46 schließt Hugo mit der Bemerkung, zu einer künftigen Gesetzgebung seien die Kenntnis der Geschichte und die Erfahrung des täglichen Lebens unentbehrlich. Hugo war damals 21 Jahre alt. Diese ersten Ansätze hat er in seiner Dissertation, De bonorum possessionibus commentatio, Halle 1788 und seinem späteren Werk weitergetragen. Sein Hauptgedanke läßt sich, zugespitzt formuliert, dahingehend zusammenfassen: Es gibt kein absolutes Recht, alles ist willkürlich und positiv. Vgl. hierzu: ders., Lehrbuch eines civilistischen Cursus, Zweiter Band, welcher das Naturrecht, als eine Philosophie des positiven Rechts enthält. Zweiter, ganz von neuem ausgearbeiteter, Versuch, Berlin 1799; ders., Lehrbuch des heutigen römischen Rechts, 5. sehr ver. Aufl., Berlin 1816, S. I I I - X I V , 1-14; ders., Rechtswissenschaft überhaupt, in: ders.; Lehrbuch der juristischen Enzyclopädie, 5. Aufl. Berlin 1817, S. 1-64.
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und von Puchta das Spannungsverhältnis zwischen materieller Instanz und juristischer Form einerseits sowie die Möglichkeit wissenschaftlicher Rechtsfortbildung andererseits übernommen. In seiner ersten wissenschaftlichen Phase hat er versucht, die materielle Instanz, das ursprünglich kontingente, normative Element des Rechts zu verdrängen. Er hat versucht, dieses Element dadurch in einen höheren Aggregatszustand zu erheben. Da der Emanzipationsprozeß der Form vom Stoff die Aufgabe einer logisch operierenden „höheren Jurisprudenz" sein soll, wird auch im System Iherings die abstrahierende produktive Tätigkeit auf den normativen Stoff und die dogmatischen Begriffe mit dem Zusatzsinn der Wissenschaftlichkeit angereichert. Diese Aufgabe legitimiert die Befreiung der Rechtsform von der materiellen Instanz. Die Leistung des frühen Ihering besteht darin, daß er die Funktion der rechtswissenschaftlichen Konstruktion in der Unterdrückung des Positiven sah. Die berühmte Bekehrung stellte sich ein, als sich Ihering der Tatsache bewußt wurde, daß auch auf dem Gebiet der rechtsdogmatischen Wissenschaft die Kontingenz das Feld behauptet. Der Schein der absoluten Wahrheit der juristischen Begriffe muß vernichtet werden. Die Begriffe müssen als das erkannt werden, was sie sind, als „bloße Formen eines gegebenen Inhalts, der unter anderen Umständen auch anders sein könnte". 5 0 Der Bezug auf die Wissenschaftstheorie verliert nun seine legitimierende Wirkung. Vielleicht wendet sich Ihering deshalb einem anderen Bezugspunkt der Asymmetrisierung und Externalisierung von Selbstreferenz, nämlich dem Bezug auf Organisation zu. 5 1 Es geht um die Organisation des Unterrichts der juristischen Fakultäten, der juristischen Ausbildung überhaupt. Strukturgesetzlichkeiten dieser Organisation erscheinen der Rechtstheorie im allgemeinen als eine Art Fremdkörper, weil Fragen der Ausbildung auch in Politik und Wirtschaft entschieden werden. 52 Ihering reagierte auf die Unzulänglichkeiten der Begriffsjurisprudenz auch mit Reform Vorschlägen des juristischen Unterrichts. 53 Das nicht so vorteilhafte Bild von „unserer heutigen romanistischen Wissenschaft", die Schwäche der Begriffsjurisprudenz konnten auf diese Weise von Ihering zusätzlich aufs Konto der Organisation des Rechtsunterrichts gebucht werden. Er reflektierte die Wechselwirkungen zwischen Theorie und Praxis, zwischen den verschiedenen juristischen Berufsständen und forderte Reformen und Änderungen, den 50 Helene Ehrenberg (Hrsg.), Rudolph von Ihering in Briefen an seine Freunde, Leipzig 1913, Brief Nr. 54 an Bernhard Windscheid, S. 173-180, 176f. 51 Zu den Begriffen der Asymmetrisierung und Externalisierung: Luhmann, Soziale Systeme, ebd. (§ 2 F N 14), S. 631 ff. Asymmetrisierung dient als Grundbegriff. Er besagt, daß „ein System zur Ermöglichung seiner Operationen Bezugspunkte wählt, die in diesen Operationen nicht mehr in Frage gestellt werden, sondern als gegeben hingenommen werden müssen." 52
Zur Parallelproblematik im Erziehungssystem: Luhmann/ Schorr, Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, (§ 2 F N 14), S. 341 f. 53 Hierzu: Ernst E. Hirsch, Ihering als Reformator des Rechtsunterrichts, (die Jurisprudenz des täglichen Lebens), in: Franz Wieacker und Christian Wollschläger (Hrsg.), Iherings Erbe, Göttingen 1970, S. 89-100.
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„Durchgang des Theoretikers durch die Praxis". 54 Ebenso verlangte er die „Gestaltung des akademischen Rechtsstudiums in einer Weise, wie sie der praktische Endzweck desselben mit sich bringt", sowie eine neue „ A r t des Examinierens und Zusammensetzens der Examinationskommissionen". Diese Reform vor Schläge sind ebenso wie das ganze Buch, „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz", das Ergebnis von Selbstbeobachtung im Rechtssystem. Ihering ist es einerseits gelungen, die von der juristischen Wirklichkeitsferne der bisherigen rechtsdogmatischen Methode bewirkte Enttäuschung im obigen Sinne zu externalisieren. Andererseits konnte er die Selbstbeobachtungsmöglichkeiten des Rechtssystems durch Aufdeckung der latenten Legitimierungsfunktion der logischen Konstruktion erweitern. Der Sachverhalt, der Zustand der juristischen „Scholastik", konnte nicht verborgen bleiben. Die Einsicht mußte jedoch als Ironie und Scherz neutralisiert werden, um in die rechtswissenschafltiche funktionale Latenz einzubrechen und sie zugleich zu respektieren. 55 Dieser Latenzverlust wurde nun deswegen aufklärerisch wirksam, weil die Beobachtungsdifferenz, deren Ihering sich bedient hat, kein externes wirtschaftliches, religiöses oder politisches Schema gewesen ist. Sie konnte von der Selbstbeobachtung des Rechtssystems übernommen werden. Anstatt der Differenz materielle Instanz/juristische Form (kontingente Normativität / rechtswissenschaftliche Notwendigkeit) hat er die Differenz normative Kontingenz/rechtswissenschaftliche Kontingenz benutzt. Demzufolge mußte er die Einheit des Rechtssystems erneut definieren. Sein Lösungsversuch lag in der Aufstellung einer Teleologie in der Rechtsdogmatik und der „angewandten Rechtsphilosophie" auf der Reflexionsebene des Rechtssystems. Beide enthalten eine rudimentäre Theorie der Kontingenz im Rechtssystem. In diesem Rahmen wird die Rechtsgeschichte als Geschichte der umweltbezogenen Selektivität eines sich entwickelnden sozialen Systems im „Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung" rekonstruiert. 56 Sie ist keine „successive Dogmatik" 5 7 mehr. 54 Hier und zum folgenden: Rudolph von Ihering, Wieder auf Erden, Wie soll es besser werden, in: Ders., Scherz und Ernst in der Jurisprudenz. Eine Weihnachtsgabe für das juristische Publikum. Nachdruck der 13. Aufl., Leipzig 1924, Darmstadt 1980, S. 337, 365 f., 368. 55 Diese Enthüllung, die die alte Rechtsepistemologie zugrunde richtete, fand also auf eine Weise statt, die aus Ihering einen François Rabelais der deutschen Jurisprudenz machte. Die Leser von „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz" sollen ebenso wie die Leser (Amis lecteurs . . . bons beuveurs, bons compaignons et beaulx joueurs de quille-là) von „Gargantua" „rompre l'os et sugcer la sustantifique mouelle", in: Rabelais, Oeuvres Complètes, (Seuil) Paris 1973, S. 37, 39, 49. Zum Latenzbegriff: Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), S. 457,459,465 f., 654. „Die Funktion der Latenz ist die Latenz der Funktion". 56 Iherings Denken umspannt beides, Geschichte und Dogmatik im Rechtssystem. Fikentscher ist vielleicht der einzige, der dies hervorhebt: Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. IV, (§ 2 F N 26), S. 80, ohne jedoch Ihering systemtheoretisch zu interpretieren. 57 Entwicklungsgeschichte, (§ 2 F N 18), S. 11.
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II. Rationalisierungsprozeß im Recht bei Rudolph von Ihering Im folgenden wird der Versuch unternommen werden, die Ergebnisse der angewandten Rechtsphilosophie oder der Naturlehre des Rechts, was die Struktur der Rechtsnormen in entwicklungstheoretischer Perspektive angeht, nachzuzeichnen. Nach Ihering hängt die Rechtsbildung nicht von der Staatsbildung ab. Den Stoff, den die Geschichte hinsichtlich des ältesten römischen Rechts darbietet, ordnet Ihering nach drei „Gesichtspunkten oder Prinzipien". 1. Das Prinzip des subjektiven Willens, beruhend auf der Idee, daß persönliche Tatkraft, Rechtsgefühl und Selbsthilfe den Grund der Stiftung und der Verwirklichung allen Rechts darstellen. 2. Das staatsbildende Prinzip, beruhend auf der Familien Verbindung und der Wehrverfassung der Gemeinschaft. 3. Das religiöse Prinzip mit seinem Einfluß auf Recht und Staat. 58 Diese drei Prinzipien werden von Ihering nicht in einer zeitlichen Reihenfolge dargestellt. 1. Die Rechtsnormen sind in der vorstaatlichen Urgemeinschaft der Individuen ins Leben gerufen worden. Die durch Willkür und Erbeutung erweckten beliebigen Forderungen und Erwartungen mit ihren rachgierigen Enttäuschungen schließen Unmöglichkeit und Notwendigkeit aus. In dieser archaischen Gesellschaft kommen die elementaren Mechanismen der Rechtsbildung zum Zuge. Die Norm hat in der Enttäuschung und in der Reaktion des Enttäuschten, in der Selbsthilfe ihren Ursprung. Sie ist eng an gewaltbereite Selbsthilfe und physische Gewalt gebunden. Das durch physische Tatkraft verteidigte praktische Interesse tut das Normativitätsbewußtsein und die Existenz der Norm kund. Die Reaktion war vor allem darauf bedacht, die persönlichen Forderungen aufrechtzuerhalten und zu bekunden. Deswegen war auch der Ausbruch des Zorns rachgierig und maßlos. Es wird keine Unterscheidung zwischen verschuldeter und unverschuldeter Rechtsverletzung getroffen. Im „System der Selbsthilfe" ist das Auge des Naturmenschen verschlossen gegenüber der Wahrnehmung der Schuld und Schuldlosigkeit. 59 Das Unrecht wird nicht nach seiner Ursache, sondern nach seiner Wirkung gewürdigt. Grundzug des archaischen Rechts ist die Herrschaft des Affekts, die Heftigkeit der Reaktion gegen erlittenes Unrecht. In der Blindheit der Leidenschaft wird das Schuldmoment übersehen. Die Reaktion begnügt sich nicht mit der Aufhebung der nachteiligen Folgen des Unrechts, sondern verlangt auch noch eine persönliche Genugtuung für das gereizte und verletzte Gefühl, eine Strafe. 60 Erst wenn diese Stufe des 58
Geist I, S. 106. Geist I, S. 118 ff., 127; Rudolph von Ihering, Das Schuldmoment im römischen Privatrecht, in: Ders., Vermischte Schriften juristischen Inhalts, Neudruck der Ausgabe Leipzig 1879, Aalen 1968, S. 155-240 (Mit Nachtrag). Im folgenden zitiert: Das Schuldmoment. 60 Das Schuldmoment, S. 163 f., 165 f.: „Wie das Kind den Stein schlägt, an dem es sich gestoßen, und wie selbst der Erwachsene unter dem ersten Eindruck des Schmerzes unwillkürlich eine Regung des Unwillens und Grolles gegen die unschuldige Ursache desselben empfindet, so steht auch das Rechtsgefühl des Naturmenschen unter der Herrschaft des Schmerzes". 59
II. Rationalisierungsprozeß im Recht bei Rudolph von Ihering
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noch im Affekt des Schmerzes befangenen Rechtsgefühls überwunden ist, wird der Begriff der Verschuldung als Maßstab für die Würdigung des Unrechts gewonnen. Dolus und culpa werden erst später als Maßstab für Schuld eingeführt. Dieser Gedanke ist nicht nur für das römische Recht gültig. Nach dem Maß, wie ein jedes Recht das Schuldmoment in den einzelnen Rechtsverhältnissen „zu der ihm gebührenden Geltung bringt, bestimmt sich die Kulturstufe desselben"61. Die Vergeltung hat in dieser Form die Funktion, die Forderungen und die enttäuschten Erwartungen aufrechtzuerhalten. Sie beabsichtigt keinen Schadensersatz. Später wird die Idee der Strafe der des Schadensersatzes erliegen. Um die Struktur der Rechtsnorm in der archaischen Gesellschaft herauszustellen, hat sich Ihering dazu genötigt gesehen, mit der gängigen Art der Rechtsbetrachtung zu brechen. Er mußte seine rechtsgeschichtliche und rechtstheoretische Beobachtung von Voruteilen, die Funktion und Organisation des Rechts in der neuzeitlichen Gesellschaft entstehen läßt, befreien. Vor allem hat er sich gegen das Vorurteil gewandt, das Recht könne erst entstehen, „wenn der Staat jene Aufwallungen des subjektiven Rechtsgefühls bezwungen und Organe zur Verwirklichung des Rechts hervorgetrieben hat". 6 2 Die Entstehung des Rechts datiere erst von der des Richteramts an, Rechtsordnung und Rechtshandhabung von Seiten des Staats seien ihr synonyme Begriffe. Er ist bestrebt gewesen, sich von dem doppelten Irrtum loszusagen, daß 1. ein Rechtszustand ohne Gesetzgeber unmöglich sei und 2. der Richter im heutigen Sinne hinsichtlich der Verwirklichung des Rechts unentbehrlich sei. 63 Rechtsbildung geht nicht einher mit Staatsbildung. Ihering warnt davor, die Rechtsnorm als den Willen des Staates zu definieren und die Vewirklichung derselben als eine Staatsaufgabe anzusehen. Der Ausgangspunkt für das Verständnis archaischen Rechts liegt seiner Ansicht nach in der Gesellschaftsstruktur. Gesellschaften archaischen Typs beruhen auf dem Prinzip der Familienverbindung oder Verwandtschaft. Sie sind Gesellschaften segmentärer Differenzierung oder mechanischer Solidarität. Sie sind in gleiche oder ähnliche Teilsysteme gegliedert. Sie bestehen aus mehreren Familien, Stämmen usw., und ihr Zusammenhalt geht aus ähnlichen Segmenten hervor. Ihering erblickte in den Gentilverbindungen der archaischen römischen Gesellschaft dieses Prinzip der segmentären Differenzierung. Die Gens beruht „ihrem ganzen Geist und Zuschnitt nach ursprünglich auf der Idee der Familien Verbindung", unabhängig davon, ob alle 61
Geist I, S. 127; Das Schuldmoment, S. 176f., 199ff., 211 ff., 215, 222, 230. Hier und zum folgenden: Geist I, S. 118 ff. 63 Geist I, S. 119f.: „Hatte der Staat etwa nötig, die Rechtssätze aufzustellen, nach denen die Völker in ihrer Urzeit sich richteten, waren sie von Gott und Recht verlassen, bis der Gesetzgeber sich ihrer annahm und ihnen vorschrieb, was rechtens sei?... Wir wissen, daß das Recht nicht auf den Gesetzgeber gewartet, vielmehr in Form des Gewohnheitsrechts von den ältesten Zeiten an existiert h a t . . . Richter hat es von den ältesten Zeiten an gegeben... Aber die Frage ist nur, ob sie wie unsere heutigen im Namen des Staates Recht sprachen und verwirklichten." 62
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Mitglieder einer Gens wirklich denselben Stammvater haben. 64 Die Verbindung, welche die Gens begründet, umfaßt die „ganze Existenz des Einzelnen". Alle Interessen, die sein Leben bewegen, verweisen ihn auf sie zurück. Sie finden innerhalb der Gens ihre „ausschließliche Befriedigung oder wenigstens Anknüpfungspunkte". 65 Alle gesellschaftlichen Funktionen stützen sich auf verwandtschaftliche Nähe. Das gilt für die „gegenseitige Unterstützungspflicht der Verwandten", die sich bis zur Blutrache steigert. Wenn eines der Mitglieder erschlagen war, fiel den Verwandten das „Rächeramt" zu. 6 6 Praktisch entwickelt sich die Achtung vor fremdem Rechtsgefühl und die Anerkennung fremder Forderungen und Rechte nur innerhalb des engen Kreises der Genossen. Wer draußen steht, ist rechtlos, „gegen ihn mag man der Gewalt völlig freien Lauf lassen". 67 Das römische Recht ist demnach zunächst einmal beschränkt auf die Gentilitätsverbindung. „Gentilität und volle Rechtsfähigkeit, Nicht-Gentilität und Rechtslosigkeit ist ursprünglich gleichbedeutend, es gibt von vornherein keine Gradationen der Rechtsfähigkeit". 68 Wer außerhalb der Gens steht ist fremd, d. h. rechtlos. Mit dieser ursprünglichen Rechtlosigkeit des Fremden hängt die furchtbare Gestalt des Exils im Altertum zusammen.69 Nur die Zugehörigkeit zu einem Verwandtschaftsverband konnte mithin den Erfolg der Selbsthilfe und Rechtsverwirklichung garantieren. Das „Zeugengeschäft" bei der Vornahme einer mancipatio ist nach Ihering ein Ausfluß der Unterstützungspflicht unter den Gentilen. Das Zeugengeschäft selbst gehöre bereits dem System der Selbsthilfe an. Bei der Selbsthilfe hätten die Zeugen die Pflicht der Mitrealisierung der Normprojektion. Zeugen seien Beistände bei der Selbsthilfe. 70 Im archaischen Recht beruht die Struktur der Rechtsnorm auf der Organisation der Selbsthilfe. Die Sicherheit der Realisierung der persönlichen Normprojektionen beruht auf der „energischen Mitwirkung der Individuen, diese Energie aber wiederum auf der Heftigkeit der Reaktion" des subjektiven Rechtsgefühls auf erlittenes Unrecht. Der Mensch muß die „Rechtssätze erst fühlen, damit er sie sich einpräge". 71 Die Rechtsbehauptung wird ohne jeglichen Bezug auf Prozesse der Beseitigung von Zweifeln und der Entscheidung über Fakten 64 Geist I, S. 183. Vgl. hierzu: Philipp Heck, Blut und Stand im altsächsischen Rechte und im Sachsenspiegel, Tübingen 1935, S. 3 „Erst dadurch, daß wir neben der Rechtsgliederung auch die Sozialgliederung sehen, wird uns die Vergangenheit lebendig". 65 Geist I, S. 184. 66 Geist I, S. 184f., 186f. 67 Geist I, S. 109. 68 Geist I, S. 225 ff. 69 Geist I, S. 228. Rechtsperson ist man nur kraft Zugehörigkeit zu einer Gens. Dies ist nach Luhmann, Rechtssoziologie, ebd. (§2 F N 4), S. 151, ein Symptom konkreten Denkens, das nicht fähig ist, „zwischen der Negation des Inhalts einer Rechtserwartung und der Negation ihrer Sollform und der Negation von Recht schlechthin zu unterscheiden". 70 Geist I, S. 140ff., 144. 71 Das Schuldmoment, (§ 2 F N 59), S. 175.
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vorgetragen. Die „Übermacht begründet das Recht". 72 Die Struktur der Rechtsnorm in der archaischen Gesellschaft hängt nach Ihering unzertrennlich mit dem Prinzip der segmentären Differenzierung zusammen. Das „Wesentliche" im Begriff der Rechtsordnung, „die gesicherte und konstante Verwirklichung des Rechts" beruht auf der „Stärke und Wirksamkeit der natürlichen Organisationskraft der Rechtsidee".73 Dies bedeutet jedoch nicht, daß Rechtsnormen ausschließlich von der rudimentären Organisation der Sanktion in der Selbsthilfe abhängig sind. Die Rechtsbehauptung bringt das Normati vi tätsbewußtsein zum Vorschein. Es ist aber verkehrt zu glauben, daß Rechtsnormen nach Ihering nur im maßlosem Zornausbruch des gereizten Rechtsgefühls existieren. Die segmentäre Differenzierung selbst und die Gentilverbindungen im einzelnen erzeugen die Ordnung, die das Leben unmerklich bereits regelt. Die Selbsthilfe beruht auf einer bereits bestehenden Ordnung und setzt sie sogar voraus. Die Sippen verfügen schon über eine „sittenrichterliche Gewalt" 7 4 in dem Sinne, daß sie durch bloße „Solidarität" oder Zusammengehörigkeitsgefühl und Kontrolle die theoretisch" unbeschränkte Freiheit des Individuums in höchst wirksamster Weise" temperieren. 75 Die konstante Verwirklichung des Rechts braucht demnach nicht durch einen Staat und seine Behörden zu erfolgen. Sie kann durch die „unmittelbare Macht des Lebens" erfolgen. Rechtsverwirklichung bedeutet nicht nur Durchsetzung von Normprojektionen. Das geregelte Leben in der Sippe und die Sippendifferenzierung selbst sind für die Ermöglichung des Zeugengeschäfts und der Selbsthilfe unentbehrlich. 76 Die Vergeltung schafft nicht erst die Rechtsnormen. Sie bekundet lediglich die Enttäuschung und Entrüstung des verletzten Rechtsgefühls und damit das Bewußtwerden einer schon existierenden Norm. Die Selbsthilfe hat einen deklarativen Charakter. Sie will das Normativitätsbewußtsein als solches kundtun und ist deshalb maßlos. Dies bedeutet, daß die Norm in sachlicher Hinsicht flüssig ist. Erst die Einführung des Maßstabes der Schuld steckt den Themenkreis ab, auf den sie sich beziehen soll. Die durch Selbsthilfe bewußt gewordenen Normen erschöpfen den Vorrat an gesellschaftlichen, tatsächlichen Regelungen nicht. Ihering unterscheidet zwischen „Formen und Umfang der legalen Selbsthilfe" und den Sippeninternen Regelungen (sittenrichterliche Gewalt). 77 Die Formen der Selbsthilfe scheinen über die verschiedenen einzel72
Geist I, S. 109. Hier und zum folgenden: Geist I, S. 118 f. 74 Geist I, S. 190. 75 Ihering geht sogar soweit, zu behaupten, daß die römische „Sittenpolizei" in dem Maße ein „Ausfluß des Familienprinzips" sei, daß die Handhabung derselben von Seiten des Zensors uns nicht bloß berechtige, auf eine frühere Ausübung derselben durch die Gens zu schließen. Sie selbst werde erst mittels dieser Anknüpfung an die Familie verständlich. In: Geist I, S. 191 f., 193. 73
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Organisation und Recht sind nicht identisch; „Bevor eine gesteigerte Entwicklung nach und nach besondere Organe für die verschiedenen Aufgaben und Interessen der Gemeinschaft ausgeschieden hatte, waren letztere nicht dem Zufall preisgegeben, sondern die natürliche Selbsthilfe oder Heilskraft des Lebens half sich selber". In: Geist I, S. 119.
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nen Sippen hinaus institutionalisierbar zu sein. Dies führt dazu, daß der Bezug von Normprojektionen mit diesen Formen dazu geeignet ist, ihnen gesamtgesellschaftliche Relevanz zu verleihen. Damit fangt die soziale Stabilisierung von Normprojektionen an. 2. Um weiterzukommen, knüpfen wir nun an zwei soziale, evolutionäre Errungenschaften an, die Ihering als Stimulakren für die Rechtsentwicklung angeführt hat. Dies sind die Erfindung der Schrift und die Stadtbildung. 78 Der „Befestigungszweck" hat nach Ihering die Stadt ins Leben gerufen. 79 Die befestigte Stadt bezeichnet in politischer Beziehung einen entscheidenden Wendepunkt im Leben der Völker der alten Welt. 8 0 Sie begründet die „definitive Seßhaftigkeit des Volks" und fördert ungemein die „Verwirklichung des Gesetzes der Teilung der Arbeit". 8 1 Dies führt zu den ersten Ansätzen einer sozialen, funktionalen Differenzierung. Die „Hausindustrie hat" allmählich „einzelne Gewerbsarten", die eine besondere „Geschicklichkeit" erforderten, „aus sich entlassen".82 Arbeitsteilung und zugleich Konkurrenz sind der Stadtbildung zu verdanken. Die Erfindung der Schrift ermöglicht Kommunikation mit Unbekannten und Fernstehenden und bewirkt Abstandnahme von der Sozialbindung und Nahestehenden. Die Benutzung von Schreibtafeln aus Holz, Stein oder Erz gewährt dem Geschriebenen Beständigkeit und Dauer. 83 Mit diesen beiden evolutionären Errungenschaften verbindet Ihering den „Selbständigkeitstrieb", die Ausdifferenzierung des Rechtssystems in der Gesellschaft. Den Selbständigkeitstrieb erblickt Ihering darin, daß ein Apparat, der „ausschließlich" dem Zwecke der „gleichmäßigen Verwirklichung des Rechts" bestimmt ist, hergestellt wird. 8 4 Dies setzt Staatsbildung voraus. Die Ausgangspunkte der staatlichen Ordnung führt Ihering nun auf die Gentilverbindungen 77
Geist I, S. 150, 193. Zur Bedeutung der Stadtbildung bei Max Weber: WuG, S. 287 f., 254, 727ff. Zur Stadt als politischer Verband: WuG, S. 750 ff., 827, als ökonomischer Begriff: WuG, S. 731; zu den Motiven der Stadtgründung: WuG, S. 794, 804. Zu Schrift und Schriftgelehrtentum: WuG, S. 309ff., 323, 371, 379, 477. 79 Rudolph von Ihering Vorgeschichte der Indoeuropäer. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Viktor Ehrenberger, Leipzig 1894, S. 110 ff. Im folgenden zitiert: Indoeuropäer. 80 Ebd., S. 117. 81 „Je mehr der Mensch in den Boden hineingesteckt hat, um so mehr ist er an ihn gekettet . . . Unter allen Bändern, welche den Menschen mit dem Boden verknüpfen, ist der Stein das stärkste". Andererseits ist das Gesetz der Arbeitsteilung erst mit und in der Stadt zu Vollzug gelangt, „weil nur sie die nötigen Bedingungen dafür darbietet": Ebd., S. 118fT. 82 „Das Gesetz der Teilung der Arbeit vollzieht sich in unaufhaltsamer, stets wachsender Proportion. Vom Materiellen, dem Handwerk, wo es zuerst geschichtlich eingesetzt hat, zum Geistigen sich erhebend, ergreift es schließlich alle Zwecke der gesamten menschlichen Thätigkeit: Handel, Kunst, Wissenschaft, Staatsdienst". Ebd., S. 120 f. 83 Ebd., S. 170 ff. 84 Geist I I 1, S. 19ff. 78
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und die Wehrverfassung zurück. Die Gens gehe hervor aus der Familie und bewahre sich die Innigkeit dieser Verbindung. Andererseits sei sie, wie es schon gezeigt wurde, eine „politische Institution". 8 5 Die Wehrverfassung bestehe in der „Schlachtordnung". Die Schlachtordnung sei der erste Fall der Ordnung, aber damit letztere im Kriege ihre Dienste leiste, müsse sie auch im Frieden aufrechterhalten werden. Die Heereseinteilung werde nach Beendigung des Krieges beibehalten. Volksversammlungen seien also Heeresversammlungen. Das Volk sei Heer, das ganze Heer habe seinen Gottesdienst und seine politischen Funktionen. Die Staatsbildung beruhe auf der Ordnung des Heeres. Die Wehrverfassung „verbindet sich mit der Ordnung der Familie, dem Geschlechterstaat zu einer militärisch-politischen Einheit, der altrömischen Verfassung". 86 Demgegenüber bedeutet die Gründung einer Stadt zum Befestigungszwecke die Errichtung des Staatswesens über den Geschlechtern, Stämmen und Häusern der archaischen Gesellschaft. Die Stadt wird als „Sitz der feinen Sitte (urbanitas)" und der „politischen Bildung des Städters" (Polis, politisch) bezeichnet.87 In diesem Rahmen entfaltet sich der Selbständigkeitstrieb des Rechts. Es entsteht ein Rechtsverwirklichungsapparat, der durch seine „Scheidung" und seinen „Gegensatz zu den sonstigen Einrichtungen" der wirksamen Staatsgewalt die „Grenze zwischen dieser und allen sonstigen Aufgaben des Gemeinwesens signalisiert" und jeden Übergriff der Staatsgewalt in das Gebiet des Rechts als einen „Gewaltakt kundgibt". 8 8 Die ungegliederte Staatsgewalt muß intern differenziert werden. Dieser Prozeß der internen Systembildung im Recht wird nach Ihering durch die „Erhebung des Rechts zu der ihm eigenthümlichen Form" eingeleitet.89 Das Mittel dazu ist das Gesetz. Normprojektionen werden nun zu geschriebenem Recht. Die Niederlegung von Normprojektionen erschließt Bearbeitungs- und Interpretationsmöglichkeiten, welche „den Übergang von der naiven Auffassung des Rechts zur Reflexion, d. h. zur Jurisprudenz" mit sich bringen. 90 Rechtspraktiker, private Berater und
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Geist I, S. 184, 209 ff. Geist I, S. 247 ff.; Indoeuropäer, (§ 2 F N 79), S. 380ff. Die Gliederung des Heeres beeinflußt Staats- und Rechtsbildung. 87 Ihering meint, dem Stadtbau komme ein symbolischer Wert zu. Mit den „öffentlichen Bauten" beschreite die „Idee des Staats den Boden der Wirklichkeit. „Befestigungswerke der Städte, Tempel, Versammlungslokale für das Volk oder die Obrigkeit" stellten die ersten Akten aller staatlichen Tätigkeit, die ersten „Lebensregungen des Staats" dar. In den res publicae in diesem Sinne trete dem Römer die res publica im politischen Sinn greifbar, sichtbar vor Augen. Res publicae sind die „sinnenfallige Verkörperung des Staatsgedankens". Ihering faßt seine Ausführungen in dem Satz zusammen: „dem Stein kommt geschichtlich eine politische Bedeutung zu, der Pflug ermangelt derselben gänzlich, das Staatswesen hat ihm nicht das Mindeste zu danken." In: Indoeuropäer, (§ 2 F N 79), S. 122 (FN 103), 183. 88 Geist I I 1, S. 20. 89 Geist I I 1, S. 28. 90 Geist I I 2, S. 392. 86
6 Gromitsaris
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Sachwalter bilden diejenigen Personenkreise, welche durch ihre berufsmäßige Tätigkeit dem Recht seine formalen, spezifisch juristischen Qualitäten zukommen lassen. Es wird das Gesetz der Arbeitsteilung vollzogen. Besondere Rollen werden für die Betreuung von Normprojektionen ausgeschieden. Die Selbsthilfe wird durch eine „friedliche Ausgleichung des Rechtsstreits" und eine Schiedsrichterrolle ersetzt. 91 Es werden besondere Rollen für die Beschäftigung mit normativen Forderungen heraugebildet, aus denen die Rechtspflege erwächst. Vollstreckungs- und Entscheidungsgewalt können anfangs fehlen, sobald sie sich herausbilden, fängt der Prozeß ihrer weiteren Differenzierung an. Sie objektivieren sich allmählich in Rollen für Richter, streitende Parteien, konsultierende, interpretierende und respondierende Juristen. Zugleich erfolgt eine Ausscheidung des religiösen Moments aus dem Recht in Form des „fas" und der „Censur". 92 Das Rechtssystem wird demnach durch folgende Hauptmerkmale gekennzeichnet: Ausdifferenzierung und Organisation von Verfahren für die schriftliche Abfassung von Normprojektionen und die Schlichtung von Konflikten, die Entwicklung der juristischen Kunst. a) Es ist nun möglich, zwischen den „äußeren Einrichtungen der Gerichtsversammlung, den Formen des Verfahrens und dem materiellen Recht" zu unterscheiden. 93 Die Festlegung der Einrichtungen im Verfahren der Rechtsbehauptung sowie das Aufeinanderbezogensein und gegenseitige Kontrollieren verschiedener Instanzen sorgte dafür, daß der Prozeß als eine „Rechtsmaschine" Sicherheit und Gleichmäßigkeit gewährleiste. 94 Die „Theilung der Funktionen zwischen Prätor und Richter" stellt selbst eine Einrichtung dar, welche, indem sie beide zur „Cooperation" berief, die Gefahr einer „partheischen Justiz" wesentlich verminderte. 95 Diese halbierte Richtergewalt beruhte jedoch nicht nur auf der wechselseitigen juristischen Abhängigkeit, sondern auch auf einer gegenseitigen moralischen Kontrolle der beiden Teile. Schon die Tatsache, daß ein anderer „mit der Sache eine Voruntersuchung angestellt hatte und über den Stand derselben im Allgemeinen unterrichtet war", 9 6 nötigte den anderen Teil dazu, darauf bedacht zu sein. Die Sicherheit und Unabhängigkeit der Verwirklichung des Rechts wird somit institutionell ermöglicht. 91 Geist I, S. 167ff., 175. Der Weg der Analyse Iherings führt uns vom niedrigsten Punkt an, wo Recht und Gewalt noch zusammenfallen, „der Erbeutung vom Feinde", durch die Selbsthilfe hindurch bis zu dem Punkte, wo die „Gewalt gegen Zweifelhaftigkeit des Anspruchs sich als unausreichend erweist". Die ersten „Keime" zur Bildung des Richteramts erschlössen sich in der vertragsmäßigen Entscheidung des Rechtsstreites. 92
Geist I I 1, S. 50ff. Geist I I 1, S. 77. 94 In den bei der „Prozedur thätigen" Personen des Prätors und des Richters erblickt Ihering zwei „Stücke einer Prozeßmaschinerie", die sich „unabänderlich in derselben Weise" bewegte. In: Geist I I 1, S. 78. 95 Geist I I 1, S. 79. 96 Ihering vergleicht das Verhältnis Prätor-Richter mit dem zwischen den öffentlichen Kassenbeamten, „von denen jeder einen besonderen Schlüssel zur Casse hat, und keiner ohne den andern dieselbe öffnen kann". In: Geist I I 1, S. 79, 81. 93
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b) Der Vergleich der Rechtsverwirklichung mit einer Prozeßmaschinerie darf nicht zu der Auffassung verleiten, die Entstehung von Rechtsnormen sei das Monopol einer bestimmten Instanz im Rechtssystem. Ihering rechnet dem geschriebenen Recht einen „Selbsterhaltungs- und Erweiterungstrieb" zu. 9 7 Während das Gesetz bleibt, schreitet das Leben fort. Es stellt sich die Frage, wie man das Gesetz behalten und die Wirklichkeitsferne und Unbequemlichkeiten zugleich beseitigen oder veringern kann. Hier wird auf der Ebene der Rollenbildung der Jurist erforderlich. 98 Er bewirkt eine „Vermittlung zwischen dem geschriebenen Recht und dem Leben". 99 Die prozessualische Formulierung von Normprojektionen und die Verarbeitung von gesetzlichen Normen zum Zweck des Verkehrs sind Werk des Juristen und seiner Interpretation der Gesetze. Diese Interpretation ist nach Ihering eine „tendentiöse" gewesen.100 Sie war nicht sklavisch vom Wort abhängig, vielmehr sie benutzte das Wort als „erwünschten Anhalt". Das Verhältnis der alten Jurisprudenz zum Gesetz war keineswegs das einer „rückhaltslosen Unterwerfung unter den Buchstaben desselben". Es ist die Auffassung Iherings, daß über die Annahme eines Interpretationsversuches die „Frage von (seiner) praktischen Angemessenheit" entschied. 101 Als die besondere Instanz des Prätors noch nicht ausgeschieden war, war die ältere Jurisprudenz „viva vox juris civilis". Dem Namen nach bloße Interpretationen und Erklärungen, stellten ihre Auslegungen eine „wahre Umgestaltung und Weiterbildung des Gesetzes im Geiste der Zeit" dar. 1 0 2 Entgegen der späteren Auffassung, der Beruf des Juristen und Richters bestehe darin, die Gesetze „anzuwenden oder die Anwendung zu vermitteln", haben Prätor und Jurisprudenz in beträchlicher Weise rechtsbildende Tätigkeit ausgeübt. Sie haben Rechtsnormen produziert, und zwar „nicht selten auf Kosten des gesetzlichen Rechts". 103 Die zwischen Gesetz und Verkehr vermittelnde Tätigkeit des Juristen fördert den „Erweiterungstrieb" des gesetzlichen Rechts. Sie konnte die neuen Anforderungen des Verkehrs in juristische Formen bringen. Sie konnte ihn in juristische Bahnen leiten, ihn juristisch disziplinieren. 104 97
Geist I I 1, S. 62ff. Ihering spricht von der „Allgegenwart des Juristen". Sie war ein „stillschweigendes Postulat des alten Rechts". Sie bedeutet für den Verkehr eine unentbehrliche Hilfe und Einfluß auf denselben. In: Geist I I 2, S. 410, 417f. 99 Die Zurichtung der Gesetze zum Zwecke der gerichtlichen Geltendmachung oder der Verkehrsfähigkeit stellt die Hauptaufgabe des Juristen dar. „Die Ausarbeitung von Formularen für Contraete, Rechtsgeschäfte, letzwillige Dispositionen aller Art, die Entdeckung von Mitteln und Wegen, um rechtliche Zwecke, deren unmittelbare Verfolgung hätte zweifelhaft sein können, auf indirecte Weise möglich zu machen." In: Geist I I 2, S. 65. 100 Hier und zum folgenden: Geist I I 2, S. 455 ff., 461 ff. 101 Geist II 2, S. 463. 102 Geist I I 2, S. 467. 103 Die Jurisprudenz beschränkte sich nicht darauf, auszulegen, sondern „sie legte unter, sie drehte und deutete das Gesetz, wie sie es haben wollte, sie stellte sich, wenn auch der Form nach unter, doch der Sache nach über das Gesetz". In: Geist II 2, S. 463 f. 1( * Geist I I 2, S. 418. 98
6*
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c) Das Bedürfnis nach juristischem Beistand, das historische Auftreten des Juristen, bekunden einen „unvermeidlichen Wendepunkt im Leben des Rechts". 105 Zugleich wird dadurch die Kluft zwischen Juristen und Laien kundgetan. Der Versuch sie auszufüllen ist ein „eitles Bemühen", denn sie resultiert aus der Verwirklichung des allgemeinen Kulturgesetzes der Arbeitsteilung auf dem Gebiet des Rechts. Juristische Kunst und Ausdifferenzierung von verschiedenen Verfahren bringen beide die Entwicklung eines Formalismus mit sich. In den Einrichtungen der Rechtspflege, im juristischen Argumentieren und im rechtsbezogenen Handeln ist nicht alles möglich, Formen enthalten Beschränkungen. Sie sind mit „Gefährlichkeit und Unbequemlichkeit" verbunden. Erstere beruht auf der Möglichkeit und den nachteiligen Folgen des Formfehlers. Letztere besteht in ihrem hemmenden, beschränkenden Einfluß auf den Willen. Von allen Charakterzügen des älteren Rechts ist der ihm eigentümliche Formalismus der offenkundigste. Er dient vor allem dazu, übliches soziales Geschehen vom rechtlichen abzuheben. Die ausdifferenzierten Verfahren der Rechtspflege und der Erzeugung schriftlichen Rechts finden im Formalismus ein Mittel, ihre Eigentümlichkeit zu unterstreichen. Der allgemeine Nutzen der Form bewährt sich in bezug auf die äußere Klarstellung des juristischen Charakters von Rechtsgeschäften und Rechtsverfahren. Die Form ist „für die Rechtsgeschäfte, was das Gepräge für die Münze". 1 0 6 Sie dient einerseits der Erleichterung und Sicherung der Diagnose des Juristischen und andererseits der Herbeiführung der Vorstellung des „Geschäftlichen, rechtlich Gebundenen". 107 Die Form hat demnach die Funktion der Absteckung rechtlicher Relevanzbereiche im sozialen Erleben und Handeln. Sie stellt Ungewöhnlichkeit und Unterschied gegenüber dem sozialen Alltagshandeln her. Dank des Formalismus wird die Abstraktion von allem Nichtrechtlichen in den Verhältnissen erheblich erleichtert. Sie scheint ein Mittel zu sein, anhand dessen jedes Thema als rechtmäßig oder unrechtmäßig artikuliert wird. 1 0 8 Insofern ist auch die Erörterung des Formalismus ansatzweise eine Thematisierung des Problems der Umweltsicht des Rechtssystems oder des ihm eigentümlichen „binären Schematismus". 109 Die Form vermittelt ein ihr eigentümliches Wirklichkeits105
Hier und zum folgenden: Geist II 2, S. 312f. Das Gepräge erspare uns die Prüfung des Metallgehaltes und des Gewichtes, kurz des „Werthes der Münze". Ebenso überhebe die Form den Richter der Mühe der Untersuchung, ob rechtsrelevante Handlungen vorgenommen werden, „ob ein Rechtsgeschäft beabsichtigt" ist. In: Geist I I 2, S. 494f. 107 Geist I I 2, S. 496 f. 108 Diese Differenz ist von der anderen, nämlich Recht/Unrecht, zu unterscheiden. Diese bzeichnet keine Systemgrenze. Andernfalls gehörte alles rechtmäßige Handeln ausschließlich in das Rechtssystem und alles Unrecht ausschließlich in seine Umwelt, s. Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), S. 510 (Anm. 32). 109 Zur binären Schematisierung oder Code-Bildung: Niklas Luhmann, Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, in: Ders., Soziologische Aufklärung Bd. 2, (§ 2 F N 5), S. 170-192, 176ff.; Ders., Ist Kunst codierbar?, in: ders., Soziologische Aufklärung Bd. 3, Opladen 1981, S. 245-266, 249; 106
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bild, welches aus rechtserheblichen und rechtsunerheblichen Elementen besteht und gerade deswegen höchst limitiert und unvollständig ist. 1 1 0 Diese rechtlich relevante Konstruktion der Wirklichkeit wird auch noch dadurch gefördert, daß in den rechtlichen Verfahren und in der Jurisprudenz vom Mittel der Generalisierung Gebrauch gemacht wird. Ihering behandelt diesen Begriff im Rahmen seiner Überlegungen über den „Gleichheitstrieb" des Rechtssystems. Der Weg, auf dem ein jedes Recht die Gleichheit verfolgt und verfolgen muß, bemerkt er, „ist Generalisierung, d.i. Bildung von Klassen und Aufstellung von Regeln für dieselben". 111 Diese Klassifizierung bewirkt „rechtliche Verschiedenheiten", die den sozialen „Ungleichheiten" und lebensweltlichen Auffassungen nicht entsprechen. Der wichtigste Aspekt des Begriffs ist die Zulassung von Indifferenz gegen Unterschiedliches und die Einführung einer anderen eigentümlichen Differenzierung. Rechtliche Generalisierung ist nach Ihering Abstraktion, welche von den handlungsbezogenen, „natürlichen Unterschieden der Sachen abstrahierend" dem Rechtssystem eigentümliche Differenzen einführt. 112 Selbständigkeits- und Gleichheitstrieb, juristische Kunst und Formalismus bewirken die soziale Ausdifferenzierung des Rechtssystems. Die Rechtsnormen lassen sich nur in dem oben beschriebenen sozialen Zusammenhang in ihrer Struktur und Funktion festlegen. Schriftlich abgefaßte ders., Der politische Code: „Konservativ" und „progressiv" in systemtheoretischer Sicht, ebd., S. 267-286. 110 Ihering bedient sich eines Beispiels. Für das römische Ohr war das Wörtchen „spondesne", sobald es im Lauf des Gesprächs fiel, die „Kundgebung, daß die Unterhaltung, welche bis dahin einen unjuristischen, freundschaftlichen Charakter an sich getragen hatte, einen geschäftlichen Charakter an sich annehmen solle". Die Form war das Signal für einen Akt von rechtlicher Natur und Bedeutung. Wer „im Fluß der Rede Zusicherungen ertheilt hatte, mußte stutzig werden". Mit dem „spondesne?" trat an den Handelnden die „Nöthigung" heran, sich über die Natur seiner Zusicherungen und Äußerungen klar zu werden. Er muß sich den Inhalt, die Tragweite und die Folgen der „ihm zugemuteten Stipulation" vergegenwärtigen. Jenes „Wörtchen" hatte nach Ihering den „unschätzbaren Werth ein Wecker des juristischen Bewußtseins zu sein". In: Geist I I 2, S. 487 f. 111
Hier und zum folgenden: Geist I I 1, S. 92, 95. Das germanische Recht hat nicht denselben Gleichheitstrieb und Genralisierungstrieb wie das römische. Eine Fülle von rechtlichen Institutionen knüpfen sich im germanischen Recht an die Unterschiede ζ. B. zwischen dem Bürger, Bauer, Kaufmann, Adligen. Im römischen Recht hingegen gilt ein Recht für alle Stände und Berufsarten, für Stadt und Land. In: Geist I I 1, S. 100, 108. Diesen Punkt hat schon Puchta in extenso behandelt. Tuisco Ziller, (§2 F N 47), S. 1, 5, 40 f. spricht von dem gleichmachenden Charakter des Rechts bei Puchta. Auch Helmut Schelsky, ARS, (§2 F N 2) S. 133 ff., spricht von dem Leitbild der „Gleichheit bei Verschiedenheit" im Recht. Es erfolgt eine „Denaturierung oder Auflösung von Macht in Recht". Dem System der Herrschaft gegenüber, daß auf sozialer Ungleichheit oder Verschiedenheit bestehe, solle über das Recht, so Schelsky, eine Gleichheit der Verbindlichkeiten zwischen den Ungleichheiten der Herrschaft hergestellt werden. Den Sachverhalt der unschädlichen Indifferenz in bezug auf Recht haben Puchta, Ihering, Schelsky und Luhmann, jeder in seiner eigenen Weise, thematisiert. 112
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Normprojektionen, Verfahren der Rechtspflege und Rechtshonoratioren wirken in gegenseitiger Beeinflussung zusammen. Sie orientieren sich vornehmlich an dem Herausfinden von Kriterien, nach denen Konflikten rechtliche Relevanz und Schlichtung nach rechtlich festgelegten Entscheidungsprämissen zukommen kann. Der normative Sinn ist nicht ausschließlich den niedergelegten Gesetzen zu entnehmen. Die interpretative Vermittlung durch Juristen und Richter schafft stets neuen normativen Stoff. Der ganze normative Umfang der Rechtsnorm ergibt sich demnach in der jeweiligen Entscheidungssituation im Nachhinein aufgrund des Zusammenwirkens der genannten Faktoren des Rechtssystems. Diese Auffassung scheint sich mit dem Bild der „ältere(n) Civilrechtspflege als eine Rechtsmaschine", welche die Bestimmung hatte, „mit möglichster objektiver Berechenbarkeit, Gleichmäßigkeit und Sicherheit" den „Umsatz" der „abstracten Regel in concretes Recht" herbeizuführen, nicht zu vertragen. 113 Man könnte sogar die These aufstellen, daß nach Ihering bereits die Rechtspflege der vorneuzeitlichen Hochkulturen ausschließlich der mechanistischen, schablonenhaften Rechtsanwendung gewidmet war. Dann müßte erst recht die höhere Rechtssicherheit der Rechtspflege des modernen, positiven Rechts gewährleistet sein. Gleichwohl läßt sich nachweisen, daß Ihering in der Rechts„anwendung", sowohl des älteren als auch des modernen Rechts, zugleich eine Rechtsfortbildung erblickte. Wir werden an dieser Stelle von der Herausstellung der Bedingungen der Positivität des Rechts an diesem Ort absehen. Es wird sich lediglich um den Nachweis handeln, daß sich Rechtssicherheit und Rechtsfortbildung in der Rechtsverwirklichung gegenseitig nicht ausschließen. Es ist eine gängige Auffassung, so Ihering, daß „das Haften am Wort" die Rechtssicherheit fördere. 114 Ihering erachtet diesen Kultus des Worts für eine von den Erscheinungen, „durch die sich die Unreife geistiger Entwicklung wie überall so auch im Recht kennzeichnet". Das peinliche und skrupulöse Abwägen der Worte seitens der Jurisprudenz gerate in keinen Widerspruch mit dem allgemeineren Wortkultus der alten Zeit. Die Rechtsentwicklung bringe jedoch neben der grammatischen auch die logische Interpretation mit sich. Letztere bedürfe einer „Selbsttätigkeit" des Interpreten. Er dürfe nicht in einem „passiven Verhalten", in einem „bloßen Entgegennehmen eines Gegebenen" bei den Worten stehen bleiben, sondern müsse über die Worte hinaus gehen. Schauplatz seiner Tätigkeit ist nicht das tote Wort, das „gefrorene, erstarrte Denken". Seine Aufgabe liege in der „Vergegenwärtigung der Situation, in der das Wort gesprochen, das Zeichen gegeben wurde". Über das „WerthVerhältnis" der grammatischen zur logischen Interpretation meint Ihering folgendes. Die grammatische Interpretation stelle geringere Anforderungen an den Interpreten, als die logische. Der Grund dafür liege darin, daß sie nicht wie diese eines Suchens und Operierens, Schlußfolgerungen und künstlicher Deduktionen bedürfe. Sie halte sich an das Wort, an die äußere Erscheinung. Dies sei aber oft höchst trügerisch, unzuverlässig und unwahr, womit jener scheinbare Vorzug 113 114
Geist I I 1, S. 109. Hier und zum folgenden: Geist I I 2, S. 441, 445 ff.
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der Sicherheit zusammenbreche. Die grammatische Interpretation trage also ebensoviel zur Wahrheit wie zum Irrtum bei. 1 1 5 Die Gesetzesinterpretation muß nach Ihering im Rahmen der modernen Rechtsanwendung eine logische sein. Richter und Jurist haben nach allgemeiner Auffassung die Aufgabe, Gesetze anzuwenden, und nicht sie fortzubilden. Gerade diese Aufgabe gewähre jedoch die Möglichkeit „den Werth oder Unwerth der Gesetze, ihre Mängel, Lücken, ihre ursprüngliche oder erst im Lauf der Zeit eingetretene praktische Unangemessenheit" des näheren kennenzulernen. 116 Interpretationen müssen angesichts der unvermeidlichen Lückenhaftigkeit des Gesetzes tendenziös sein. Ihering geht so weit, zu behaupten, daß Richteramt und Jurisprudenz einen „stillen Krieg gegen das Gesetz" führen müßten, wenn das Gesetz unangemessen geworden sei. Gegen ein „unhaltbares Gesetz" müßten diejenigen wirken, die zu seinen Organen und Dienern berufen seien. Die „Theorie" schärfe dem Richter die Pflicht ein, seinem „Urtheil Folge zu geben". Trotzdem könne dies nichts an der Sache ändern. Dem „Verdammungsurtheil der Juristen ist auf die Dauer kein Gesetz gewachsen". 117 Gesetzesinterpretation und Gesetzesanwendung haben einen „materiell-produktiven Charakter". 118 Die Schaffung neuen normativen Stoffes von den eigentlichen „Dienern" des Gesetzes, diese normative Produktion in materieller Hinsicht, kann andererseits eine formelle Eingrenzung und Beschränkung haben. Diese besteht im „formellen Anschluß" der rechtsbildenden Interpretation und Anwendung „an die vorhandenen Gesetze". Das ist das Bestreben nach einer „Deckung durch das Gesetz". Ihering hat mit seiner Theorie der juristischen Konstruktion und der höheren produktiven Jurisprudenz sogar dieses Postulat der gesetzlichen Deckung des neuen normativen Stoffes aufgegeben. Die logischen Operationen der Rechtswissenschaft hatten nach seiner Ansicht legitimierende und institutionalisierende Funktion. In der späten Phase seiner wissenschaftlichen Entwicklung hat lediglich das Zweckmoment das logische Deduzieren ersetzt. A n der rechtsschöpfenden Funktion von Richteramt und Jurisprudenz hat er weiterhin festgehalten. Dies bedeutet, daß Rechtsnormen nicht ausschließlich vom Gesetzgeber produziert werden. Unabhängig von der jeweiligen juristischen Methode übt die Jurisprudenz eine rechtsbildende Tätigkeit aus, und die Gesetzesinterpretation des Richters ist tendenziös. Die Berechenbarkeit und 115 Das Prinzip der Wortinterpretation kann gegen die Umgehung der Gesetze nichts tun. Denn die Umgehung des Gesetzes enthalte ja keinen Verstoß gegen die Worte, sondern nur gegen die „wirkliche Absicht des Gesetzes", mithin gegen ein Moment, das die Wortinterpretation grundsätzlich ignoriere. In: Geist I I 2, S. 448, 468. 116 Hier und zum folgenden: Geist I I 2, S. 464ff. 117 Ihering beschreibt die ein „unangemessenes" Gesetz anwendende und tendenziös interpretierende Tätigkeit des Richters oder Juristen wie folgt: Absichtlich oder unabsichtlich „erlahmt der Arm der Gerechtigkeit". Der Scharfsinn des Exegeten biete alle Mittel auf, das Gesetz zu „durchlöchern und zu unterminiren". Die „erzwungensten Deductionen" fänden Eingang und willigen Glauben. Auch die Logik füge sich dem Interesse. In: Geist I I 2, S. 465. 118
Hier und zum folgenden: Geist I I 2, S. 467.
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§ 2 Rechtsnormen und Rationalisierungsprozeß bei R. v. Ihering
Sicherheit der „Prozeßmaschine" liegt nicht in der Wortinterpretation, sondern in der gegenseitigen Kontrolle zwischen den verschiedenen Instanzen der Rechtspflege (ζ. B. Richter und Prätor). Der Übergang Iherings zu einem neuen Systembegriff im Recht läßt sich nun näher konkretisieren. Das Rechtssystem besteht aus der sozialen Kommunikation im Hinblick auf Texte, Normprojektionen und sie betreuende Instanzen und Berufsrollen. Der Rationalisierungsprozeß des Rechts stellt bei Ihering nichts anderes dar, als daß das Prinzip der Arbeitsteilung auf dem Gebiet des Rechts im Laufe der sozialen Entwicklung zum Zuge gekommen ist. Die Entscheidungslasten wurden in den sich allmählich ausdifferenzierenden Verfahren unter verschiedenen Berufsrollen und Instanzen verteilt. Die Entstehung, die Aufstellung von Rechtsnormen wurde zu einer arbeitsteiligen Aufgabe.
§ 3 Normentheorie von Theodor Geiger I. Soziale Differenzierung und Vergesellschaftungsprozeß Geigers Gesellschaftstheorie ist von Tönnies, Simmel und Durkheim stark beeinflußt worden. Von Tönnies hat er die Problematik des Gegensatzes zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft übernommen. Durkheim und Simmel haben ihm, was die soziale Differenzierung, die Ermöglichung der sozialen Ordnung und die Konstitution des Individuums angeht, eine ausführliche Begrifflichkeit geliefert. Integrations- und Ausgliederungsablauf spielen sich in einem Bereich von Variablen ab, „die unter angebbaren Umständen empirisch co-variieren". 1 Jede Phase der sozialen Entwicklung hat eine besondere, eigene Integrierungsart. Von daher ist eine ausdifferenzierte Gesellschaft einer globalen Beobachtung überhaupt nicht zugänglich. Mitgliedschaften, Samtschaften (Gemeinschaft und Gesellschaft i.S. Geigers) und Intentionsgehalte bilden verschiedene Gruppen, soziale Kreise aus, die sich überschneiden. 2 Die intentionale Ausgliederung fokussiert das Leben der einzelnen Gruppe auf einen Einzelinhalt. 3 Der Typ der ungerichteten (allgerichteten) Samtschaft tritt vor den auf Einzelgehalte bezogenen Samtschaften zurück. 4 Verbundenes Handeln wird mit Intentionalitätstypen derartig gekoppelt, daß Verbundes Leben, verbundenes Werk und verbundener Erlebnisvollzug die „fortschreitende Rationalisierung des verbundenen Wirkens" herbeiführt. 5 Man könnte sagen, daß die Gesellschaft aus Gesellschaftsintegraten, bestehe. Aber selbst diese Aussage gibt die Auffassung Geigers nicht richtig wieder. Allgemein formuliert handelt es sich „um die aufgrund der Gesellschaftlichkeit als wesensnotwendiger Disposition des Menschen in immerwährender Abfolge reproduzierten Vorgänge der Vergesellschaftung". 6 Gesellschaft ist „Geschehen, nicht beharrendes 1 Niklas Luhmann, Arbeitsteilung und Moral. Dürkheims Theorie, in: Emile Durkheim , Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt a.M. 1977, S. 28. Im folgenden zitiert: Arbeitsteilung. 2 Theodor Geiger, Die Gruppe und die Kategorien Gemeinschaft und Gesellschaft, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 58, Tübingen 1927, im folgenden zitiert: Gruppe, S. 338-374, 349. 3 Ebd., S. 353. 4 Ebd., S. 350. 5 Ebd., S. 351, 353. 6 Theodor Geiger, Gesellschaft, in: Alfred Vierkandt (Hrsg.), Handwörterbuch der Soziologie, Unveränderter Neudruck, Stuttgart 1959, S. 209. Vgl. auch die anderen Artikeln von Geiger im Handwörterbuch der Soziologie: Führung, ebd., S. 136-141; Gemeinschaft, ebd., S. 173-180; Revolution, ebd., S. 511-518; Soziologie, ebd., S. 568578. Diese Artikel werden wie folgt zitiert: Handwörterbuch.
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§ 3 Normentheorie bei Theodor Geiger
Sein. Sie ist Funktion, nicht Ding". 7 Es gilt nun, die mit Vergesellschaftungsprozeß gemeinten Abläufe herauszuarbeiten. Dies wird unter Heranziehung von Ausführungen Dürkheims und Simmeis geschehen. Geiger gibt einen Überblick über das „System der sozialen Gebilde". Er liefert eine Kasuistik der „Gestalten und Hervorbringungen geselligen Seins".8 Er beantwortet nicht ausdrücklich die Frage danach, ob es sich bei seinen „Menschenverbindungen" und „gegenständlichen Gebilden" um realiter existierende Gehalts- und Formtypen oder um eine an das Soziale herangetragene Kategorie handelt. Allerdings läßt sich die Antwort dem Duktus seiner Theorie entnehmen. Die Gebildenentstehung und Gebildenerhaltung betreffende Problemstellung wiederholt sich im Rahmen seiner Untersuchungen jedesmal bei der Betrachtung jeder einzelnen Gesellungsart. Den Ausführungen über räumlich versammelte und ideell zusammengeschlossene Individuenvielheiten, über die Haupttypen von Gruppen sowie über Schaffens- und Sinngefüge liegt der Versuch zugrunde, die Erzeugung und die Erhaltung der Differenz eines sozialen Gebildes zu seiner Umwelt zu hinterfragen. 9 Diese Umweltdifferenz ist keine Beobachterdifferenz. Sie besagt, daß Vorgangsverläufe im Gebilde unter anderen Bedingungen als außerhalb seiner stehen. Der abwechslungsreiche Spielraum für Möglichkeiten in einem Vorgangsablauf bezeugt die Abhebung verschiedener Sozialgebilde voneinander. In seinem Bestreben, nachzuweisen, daß die Menschenvielheiten „sehr verschiedenen, gemeinsame Bezeichnung als ,Masse' nicht rechtfertigenden Charakter tragen", behandelt Geiger Elemente, die soziale Erscheinungen konstituieren, als vorgegebene Einheiten. Ihre Einheit wird nicht „von oben" durch das eigentliche Sozialgebilde erzeugt, das sie in Anspruch nimmt, sondern sie wird als Emergenz „von unten" vorausgesetzt. Bloße Einzelkontakte, Handlungen, eine räumliche Zusammendrängung, eine vorübergehend gleichgerichtete Intentionalität, zusammengescharte, zusammengerottete Menschen werden als schon emergente Einheiten daraufhingeprüft, ob sie gemeinschaftskonstituierend sind. Das Individuum scheint demgegenüber keine emergente Einheit zu sein. Es sei höchst labil, eine Fiktion. Labilität dürfte hier ein Ausdruck dafür sein, daß der Einzelne in verschiedenen Sozialgebilden als Träger einer jeweils anderen Einheit erscheint, welche durch das Relationsgefüge des Gebildes selbst konstituiert wird. In verschiedenen Sozialgebilden werden verschiedene Elemente für Relationierungen in Anspruch genommen. Einheitsstiftung findet auf verschiedenen Ebenen statt. Dieser Tatbestand bleibt zwar verdeckt, jedoch zielt die Problemstellung Geigers auf die Entstehung und Erhaltung von Gruppen als faktische Sozialgebilde.
7
Handwörterbuch, (§ 3 F N 6), S. 210. Gruppe, (§ 3 F N 2), S. 354. 9 Gruppe, (§ 3 F N 2), S. 355.; Theodor Geiger, Die Masse und ihre Aktion. Ein Beitrag zur Soziologie der Revolutionen, Stuttgart 1967 (Neudruck der Ausgabe Stuttgart 1926), S. 12, im folgenden zitiert: Masse; ders., Die Gestalten der Gesellung, Karlsruhe 1928, S. 56, im folgenden zitiert: Gesellung. 8
I. Soziale Differenzierung und Vergesellschaftungsprozeß
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Zusammenscharungen kommen unter Umständen zu einem spontan kongruenten Handeln oder einer gleichmäßigen Haltung. Ein Umschlagen des Verhaltens wird dadurch verursacht, daß „Schicksalsboden für Gruppenbildung" geliefert wird. Besondere hinzutretende Umstände bieten den Übergang zu kurzlebiger emotionaler Gruppierung. Diese Übergänge sind nicht bloß begrifflich, sie erfolgen realiter. 10 Hier kann Simmel zu Hilfe genommen werden. Elemente sind einheitlich, wenn sie in ihren Verhältnissen einheitlich wirken. Es sei nicht von vornherein eine „Gesellschaftseinheit" gegeben, aus deren einheitlichem Charakter sich nun „Beschaffenheiten, Beziehungen, Wandlungen der Teile" ergeben. Die Einheit entstehe vielmehr dadurch, daß sich „Beziehungen und Thätigkeiten von Elementen" zusammenfinden. 11 Der „Ordnungswert von Relationen" scheint hier schon aufgewertet zu sein. 12 Die Wechselwirkung konstituiert die Einheit ihrer beiden Pole. Genauso wie das physikalische und chemische Atom absolut genommen immer weiter zerlegbar, aber dies für die Betrachtung der betreffenden Wissenschaften gleichgültig ist, weil es tatsächlich als Einheit wirkt, „so kommt es auch für die soziologische Betrachtung auf die empirischen Atome an". Es komme also auf „Vorstellungen, Individuen, Gruppen, die als Einheiten wirken, gleichviel ob sie an und für sich noch weiter teilbar sind", an. Für Simmel scheinen in diesem Zusammenhang soziale Einheiten nicht emergent, sondern von oben durch die sie jeweils relationierende Wechselwirkung konstituiert zu sein. Sie werden am Leben gehalten, solange sie als Einheiten in Relationen wirken. Verbundenes Leben, verbundenes Werk und verbundener Erlebnisvollzug sind mithin Wechselwirkungen, die ihre Endpunkte im obigen Sinne als Einheiten relationieren. Handlungen in zielgerichteten Handlungszusammenhängen im Rahmen verbundenen Wirkens und Beratens, also gemeinsam erlebende Menschen, oder einzelne Erlebnisakte, Personalkontakte, sowie kurzlebige Zufallsverbindungen 13 seien vereinheitlichte Elemente, die mit ihren Relationierungen stehen und fallen. Vergesellschaftungsprozesse sind dementsprechend, modern gesprochen, Relationierungen, die Lebensausschnitte zu kombinatorischen Einheiten erheben. Sie sind ein laufendes Regenerieren der Einheitsstiftung von Elementen, und sie erzeugen einen eigentlichen Rhythmus zwischen Aktualität und Latenz der Inanspruchnahme von Einheiten. 14 „Ist doch jeder Mensch in eine Reihe von Gruppen hineingestellt, deren jede nur einen besonderen Ausschnitt seines Lebens beherrscht", so ergibt sich im Leben 10
Masse, (§ 3 FN 9), S. 20f., 22f., 24f. Georg Simmel, Über sociale Differenzierung. Sociologische und psychologische Untersuchungen, Leipzig 1890, in: Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen, Hrsg. von Gustav Schmoller, 10. Bd., Leipzig 1891, S. 1-147, 14. Im folgenden zitiert: Soziale Differenzierung. 12 Der Ausdruck und die Problemstellung bei Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 FN 14), S. 42, 43. 13 Gesellung, (§ 3 F N 9), S. 50 f., 60, 66, 76. 14 Gruppe, (§3 F N 2), S. 351. 11
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des Menschen „eine Art Rhythmus von — sollen wir sagen: Schlaf und Wachsein?"15 Dieses Abstellen von Sozialität auf regenerierbare Dynamik steht bei Simmel und Geiger in Verbindung mit der Arbeitsteilungstheorie, und das legt die Vermutung nahe, daß Geiger bei Durkheim hinter der Statik der Faktizität von Moral und Kollektivbewußtsein immerwährend reproduzierbare Vergesellschaftungsabläufe ausfindig machen konnte. Für den Begriff vom Kollektivbewußtsein ist eine doppelte Verwendungsweise vorhanden. Zunächst wird es im Gegensatz „zur differenzierenden Arbeitsteilung in der organischen Solidarität" als Voraussetzung für die mechanische Solidarität durch Ähnlichkeit angesehen. Es dient nämlich der Verdeutlichung der Unterschiede zwischen zwei Strukturtypen der Gesellschaft. 16 Sodann dient es der „theoretischen Spezifizierung der faits sociaux", um diese als eine Wirklichkeit sui generis nachzuweisen. In seiner letzteren Fassung bezieht sich das Kollektivbewußtsein auf „gemeinsame Glaubens Vorstellungen", auf das „Verhältnis von durchschnittlich akzeptierten moralischen Werten zum Handeln". 17 Es wird das gemeint, was Tönnies als Sitte bezeichnet, nämlich durch die Übung aus der Praxis entstandene Normen, die sich im Laufe der Zeit entwickeln. Hierin sind die Vorstellungen der „tatsächlichen Übung, der Norm und des sozialen Willens" verbunden. „Auch die Norm und der soziale Wille werden aber als tatsächlich gedacht. Und die wirkliche Übung ist immer vorausgesetzt." 18 Mit dem zentralen Postulat, soziale Erscheinungen wie Gegenstände zu behandeln, werden nicht materielle Dinge gemeint, sondern soziale Bräuche, Sitten, Rituale und Rechtsregeln, die abweichendes mit normgerechtem Verhalten unabtrennbar in Verbindung bringen. In die Unauffälligkeit versinkendes normgemäßes Verhalten sowie Abweichungsmöglichkeit und Sanktionierungsanspruch gewähren den Relationierungen eines Integrates „Bestandfahigkeit", indem sie die im Intégrât allgemein akzeptierten Normen aktivieren. 19 Demgemäß integrierend ist nicht der Vorrat an gefühlsbetonten, wertorientierten Gemeinsamkeiten, sondern die Tatsächlichkeit regelgeleiteter Abläufe, die sich in konkreten Akten des Verhaltens und in entsprechenden gehegten Erwartungen äußern. Dies führt uns zu einer doppelten Fragestellung, die den Zusammenhang zwischen Geiger, Durkheim und Simmel noch deutlicher zum Vorschein kommen läßt. 15
Gesellung, (§ 3 F N 9), S. 46. René König, Vorwort zur deutschen Ausgabe von Emile Dürkheims Regeln der soziologischen Methode, Soziologische Texte 3, Neuwied—Berlin 1961, S. 30, 32. Im folgenden zitiert: Vorwort. 16
17
Ebd., S. 29, 32. Ferdinand Tönnies, Die Sitte, in: Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien, Hrg. von Martin Buber, Frankfurt am Main 1909, S. 17, 70, 78. 19 Emile Durkheim Les formes élémentaires de la vie religieuse. Le système totémique en Australie, Paris 1912, S. 553: „ . . .C'est que les rites sont, avant tout, les moyens par lesquels le groupe social se réaffirme périodiquement."; s. auch König , Vorwort, (§ 3 F N 16), S. 67 f. 18
I. Soziale Differenzierung und Vergesellschaftungsprozeß
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1. Wie ist soziale Ordnung möglich? 2. Wie steht es mit dem Verhältnis der persona singula zur immer schon konstituierten Gesellschaft? 1. Konstitution
der sozialen Ordnung
Geiger lehnt den von Menschen als personalen Einheiten und von Beziehungen zwischen solchen Einheiten ausgehenden soziologischen Relationismus ab, weil er die Einzelwesen hypostasiere und Soziales als Interpénétration von Personen denke. Er behält aber seine dynamische Betrachtung des Geselligen bei. Eine Theorie vom Kontakt zwischen Individualitäten, von interpersonalverdichteten Sozialbeziehungen ist kein ausreichendes Grundlagenkonzept. Hier soll der Versuch gemacht werden, die paradoxe Möglichkeit der sozialen Ordnung anhand der Durkheim-Simmel Rezeption bei Geiger darzulegen. Dabei werden die in Begriffsformeln, wie beispielsweise Kollektivbewußtsein, eingelagerten „komplexen Relationierungsprobleme" 20 zu analytischen Sätzen aller drei Autoren in Beziehung gesetzt werden. Durkheim operiert in seinem Werk über die Teilung der sozialen Arbeit mit Hilfe „einer Theorieannahme und eines Gegenbegriffs" 21 . Gemäß der theoretischen Hypothese zieht eine „Veränderung der Form struktureller Differenzierung" eine Veränderung der „Formen des sozialen Zusammenhalts" nach sich. 22 Durkheim, wie übrigens auch Simmel, gelingt ein „komplexitätstheoretisches Argument". Die Verhinderung des Kontaktes von jedem mit jedem durch demographische Veränderungen und Kommunikationsverdichtungen bewirkt den Rückgang der mechanischen Art des Zusammenhalts und schafft „einen Freiraum für die Ausnutzung der Vorteile von Arbeitsteilung". 23 Quantitative Erweiterung fördert die Entwicklung über den engen, homogenen Zunftkreis hinaus. Letztere geht in zweifacher Richtung vor sich, nämlich einmal als individualisierende Differenzierung und andererseits als an das Ferne anknüpfende Ausbreitung. 24 „Die Differenzierung und Individualisierung lockert das Band mit dem Nächsten, um dafür eine neues — reales und ideales — zu den Entfernteren zu spinnen." 25 Je enger der Kreis ist, in dem man sich bewegt, desto weniger Freiheit der Individualität besitzt er. Vergrößerung des Kreises, in dem man sich betätigt, bedeutet mehr Spielraum für die Entwicklung der Individualität. Die Verabschiedung der Gleichheit, die die mechanische Solidarität ermöglichte, macht es nötig, daß die Reibung zwischen scharf ausgebildeten Individualitäten durch „nachgeschobene Bewußtseinsleistungen" und eigene 20 21 22 23 24 25
Luhmann Arbeitsteilung, (§ 3 F N 1), S. 33. Ebd., S. 2. Ebd. Ebd., S. 30. Simmel, Soziale Differenzierung, (§ 3 F N 11), S. 39, 42, 47. Ebd., S. 48.
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§ 3 Normentheorie bei Theodor Geiger
Intentionalität gemildert, ausgeglichen wird. 2 6 Für Moral bedeutet dies Freiheit, „Freisetzen von Individualität und Orientierung auf Andersheit des anderen". 27 Auch für Geiger geht Individualisierung der Personen nicht auf Kosten gesellschaftlicher Solidarität. Sozialer Zusammenschluß und soziale Ausdifferenzierung gelten bei ihm als zwei sich wechselseitig bedingende, aufgrund von Arbeitsteilung ermöglichte Steigerungsprozesse, die wiederum Arbeitsteilung möglich machen. „Individualität und Kollektivität sind gleich primär und dem Menschen als Korrelate gleichzeitig gleichwichtig gegeben. .. Sie sind et-et kein aut-aut." 28 Diese These der Wechselwirkung wird durch die Entwicklungstheorie durchbrochen. Sie beruht auf Größenveränderungen und verästelter Ausgliederung des sozialen Lebens. Die Hauptthesen dieser Theorie werden zwar nicht in einer Wissenschaftstheorie apriorisiert, wohl aber entsteht der Eindruck, daß sie keimhaft im Anfang des Entwicklungsprozesses ihres Objekts liegen. „Jene Polaritäten, die wir an uns Heutigen erleben und erkennen" scheinen nach Geiger in den sozialmenschlichen Frühstufen unentfaltet vorhanden gewesen zu sein. 29 Gesellschaft wird bei Geiger auf jeden Fall als Vergesellschaftungsprozeß möglich, d.h. als „ein Ablauf der Vorgänge der Integration und der Differenziation". Dieser Ablauf stellt zugleich den ganzen Prozeß der sozialen Entwicklung dar. 3 0 Nach Geiger ist es falsch, von Gesellschaft zu sprechen. Denn eigentlich geht es um die „in immerwährender Abfolge reproduzierten Vorgänge der Vergesellschaftung", die auf der vorausgesetzten, menschlichen Fähigkeit und Tendenz zur Gesellschaftlichkeit beruhen. Es sei ratsam, die Gesellschaft zunächst heuristisch in Beziehungen aufzulösen, um sie als Geschehen, nicht als beharrendes Sein auffassen zu können. „Serien aufeinanderfolgender und Netze gleichzeitiger Vorgänge" stellen ein von vergesellschafteten Menschen als „sinnzusammengehörig" verstehbares Vergesellschaftungsgeschehen dar 3 1 . Gesellschaftstheoretischer Gegenstand sind mithin nicht „Plurale von ,Mensch4 ", sondern die Sozialverfahren ständiger Reproduzierbarkeit der menschlichen Lebenszusammenhänge, welche die Vergesellschaftungsvorgänge ausmachen.32 Geiger unterscheidet an 26
Ebd., S. 48 f. Luhmann, Arbeitsteilung, (§ 3 F N 1), S. 23. 28 Theodor Geiger, Arbeiten zur Soziologie. Ausgewählt und eingeleitet von Paul Trappe, Soziologische Texte, Hrsg. von Heinz Maus, Friedrich Fürstenberg, Bd. 7, Neuwied am Rhein 1962, S. 340. Im folgenden zitiert: Arbeiten. 29 Ders., ebd., S. 369. 30 Ebd. 31 Zur dynamischen Betrachtungsweise des Sozialen, s. Theodor Geiger, Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel, Köln-Hagen 1949, S. 149 ff.: Der statischen Betrachtungsweise entsprechen Substanzbegriffe, der dynamischen prozessuale Begriffe, die ein kinematographisches Bild vermitteln. 32 Handwörterbuch, ebd. (§ 3 F N 6), S. 209, f.; Horst Bosetzky, Theodor Geiger — ein moderner Betriebssoziologe, in: Soziale Welt 1972, S. 319-330, handelt ebenfalls das Thema vom Verhältnis der Vergesellschaftungsprozesse zum Klassenbewußtsein und Klassengesellschaft bei Geiger ab. Hierzu auch: Paul Trappe, Über den Wandel der 27
I. Soziale Differenzierung und Vergesellschaftungsprozeß
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den Sozialvorgängen zwei Gestaltungsprinzipien, die Vergesellschaftung bewirken. Diese Prinzipien seien die grundlegenden Konstitutionsprinzipien einer jeden Gruppe. 33 Es handelt sich um das Begriffspaar Gemeinschaft und Gesellschaft, die hier nicht in der bei Tönnies vorgefundenen Bedeutung als Urund Endtypus in der sozialen Entwicklung zu verstehen sind. Tönnies versteht sie als zwei Formen oder Arten menschlicher Verbundenheit, zwei Qualitäten der Kollektivität. Geiger legt sie vielmehr als einander ergänzende, korrelative Strukturelemente fest, die einer jeden Gruppe wesensnotwendig sind. 34 Im objektiven Sinne bestehe Gemeinschaft als gruppliches, kollektives oder Gemeinschaftsverhältnis, als „Relation zwischen mehr als zwei Subjekten", die auf eine bestimmte Weise integriert seien. Dem Dritten komme eine kategoriale Bedeutung zu, denn das Paargebilde sei nicht gleich dem Gruppengebilde. Im letzteren wird ein Phänomen möglich, wobei zwischen mehr als zwei „Ichen" Perspektivenreziprozität bestehe. Das Ich erlebe nicht nur die intersubjektive Perspektivenreziprozität an einem Verhältnis, dessen Pol oder Partner es selbst ist, sondern es beteilige sich an einem aus der Subjektverhaftung gelösten und als Seinszusammenhang in die objektive Sphäre gerückten System adäquater reziproker Perspektiven. Im subjektiven Sinne ist Gemeinschaft Gemeinschaftsbewußtsein oder Gemeinschaftshaftung, d. h. eine „spezifische Zuständlichkeit des in das Verhältnis verwobenen Menschen". Damit ist die „Einbeziehung von Nicht-Ichen in die eigene Subjektivität", eine „Ausweitung des Ich" gemeint. 35 Gemeinschaft (objektiv) als Verhältnis und (subjektiv) als Zuständlichkeit des Subjekts wird in Akten vollzogen, in denen eine „vorübergehende Zentrierung" der vergemeinschafteten Subjekte auf eine ihrem Verhältnis untereinander adäquate Rolle stattfindet. 36 Die Persönlichkeit geht nicht in der Gemeinschaft auf. Das ganze Ich wird vielmehr nur in einer adäquaten Rolle mit Seinesgleichen vergemeinschaftet, wodurch es möglich wird, daß ein Subjekt gleichzeitig „in Zuordnung mit sehr verschiedenen Kreisen anderer Subjekte vielfach vergemeinschaftet sein" kann. Trotzdem kann es seine ganze Persönlichkeit in ihrer Eigenart in verschiedene Gemeinschaften einbrigen. Gemeinschaftsverwirklichung erfolgt stets nur an bestimmten Rollen intermittierend von Fall zu Mitbestimmungsforderung, Einführung in Mitbestimmung in Wirtschaft und Gesellschaft, Beiträge zum Symposium der Schweizer Sektion der IVR vom 18. 6. 82 Hrg. von P. Trappe, in ARSP, Beiheft Nr. 17, Wiesbaden 1983. 33 Masse, (§ 3 F N 9), S. 9. 34 Theodor Geiger, Handwörterbuch, (§3 F N 6), S. 175. Zur Aufspaltung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft s. Paul Trappe, Die Rechtssoziologie Theodor Geigers. Versuch einer Systematisierung und kritischen Würdigung auf der Grundlage des Gesamtwerks, Mainz 1959, S. 118 f.; Eugène Fleischmann, L'oeuvre de Theodor Geiger, in Archives européennes de sociologie, tome 6, numero 2,1965, S. 329-341.: Die Ausführungen Geigers über Gemeinschaft und Gesellschaft werden als eine „Tentative plutôt malheureuse, de réconcilier les positions de Tönnies et de Litt en matière de définition des concepts de base...", S. 330. 35 Handwörterbuch, (§ 3 F N 6), S. 176. 36 Ebd., S. 178.
§ 3 Normentheorie bei Theodor Geiger
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Fall, weil der Mensch „jeweils nur ,in einer Rolle4 vergemeinschaftet ist und demnach nicht ununterbrochen auf ein bestimmtes Gemeinschaftsverhältnis und seine Inhalte aktuell intendient". 37 Die jeweilige Rolle befindet sich „in motivischer Verhaftung" mit der Intention des betreffenden Gemeinschaftsverhältnisses, mit gegenständlichen Inhalten (Zielen, Sympathien, Wertschätzungen) und wird dadurch geprägt. Schließlich erwachsen aus den verschiedenen Kreisen von Menschen in adäquaten Rollen notwendigerweise auch Werte, die sich an Gegenstände heften, die „aus mancherlei Gründen repräsentativ für die Gemeinschaft sein können (Gemeinschaftsgegenstände)". Die Theorie der Gemeinschaft ist in diesem Zusammenhang identisch mit der allgemeinen Theorie der Gruppe. Das Gemeinschaftsverhältnis ist für das soziale Gebilde „Gruppe" konstitutiv. 38 Der sachlichen Verbundenheit der Mitglieder zu einem Kollektivwesen, also den seelischen Funktionen, die nicht zwischen den Gliedern untereinander, sondern zwischen jedem Gliede einerseits und der überpersönlichen Gruppe andererseits bestehen, kommt das Verbundensein durch eine Ordnung hinzu. 39 Letzteres ist die Art, wie sich die Mitglieder in einem Augenblick oder im Laufe der Zeit untereinander verhalten. Der „bloße seelische Zustand" der Verwurzelung des Wir der Gruppe in den Mitgliedern und des Ich des Individuums im Wir würde einer „geselligen Realität" entbehren, falls sich das Moment der Gesellschaft nicht hinzugesellte.40 Geiger identifiziert nicht wie Tönnies das Gesellschaftsprinzip mit dem „Kürwillen", sondern betrachtet wesenwillige und kürwillige Ordnung als zwei Gestalten des Gesellschaftsprinzips. 41 Das Phänomen der Ordnung überhaupt macht das Wesen des Begriffs der Gesellschaft aus, ganz gleich, welcher besonderen Art diese Ordnung sein möge. 42 Es wäre zu oberflächlich ausgedrückt, die Gesellschaft als bloßes Ergänzungsmoment der Gemeinschaft zu bezeichnen, denn die beiden stehen zueinander „in dem gleichen Verhältnis wie Form zum Inhalt. Das Verbundensein vom Menschen im Wesen tritt entweder nicht- oder als sinnvolles Geordnetsein in Erscheinung". 43 Die Wesensverbundenheit, das Wir, die Kollektivseele kommt als hauptsächlich gefühlbetonte oder hauptsächlich zielgerichtete Ordnungsverbundenheit zum Vorschein. Nun gibt es innerhalb des „ungeheuren sozialen Systems" der menschlichen Gesellschaft unzählige Gruppen und Verbände, wie Partei, Gewerkschaft, Kirche, Verein usw., welche sich in ihren Mitgliedern in unzählbaren Variationen überschneiden. Die Menschen verhalten sich jedoch im sozialen Milieu der einen Gruppe erheblich anders als in dem der anderen. Das Individuum scheint mithin für Geiger keine „konstante, differenzierte Einheit" zu sein. Wir vergegenwärtigen es uns in 37 38 39 40 41 42 43
Ebd., S. 177, f. Ebd., S. 177. Masse, (§ 3 F N 9), S. 14., Gesellung, (§ 3 F N 9), S. 30. Masse, (§ 3 F N 9), S. 9. Ebd. Gesellung, (§ 3 F N 9), S. 23. Ebd., S. 23.
I. Soziale Differenzierung und Vergesellschaftungsprozeß
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jedem Fall von einer anderen Warte, und die Art an sich in der es uns jeweils erscheint, ist bedingt durch das Wesen des Verbandes oder der Gruppe, als deren Mitglied es gerade betrachtet wird. 4 4 2. Regelhaftigkeit
und Regelmäßigkeit
Geiger unterscheidet zwischen Regelhaftigkeit an sich und Geregeltsein als Erfolg normierender Tätigkeit 45 . Der erste Begriff ist der allgemeinere und trifft einen tatsächlichen Befund, ohne ihn zu hinterfragen. Von diesem Begriff geht Geiger aus. Die Handlungsabfolge im verbundenen menschlichen Leben verrate das Walten bestimmter Gesichtspunkte, sie zeuge von einem in geordneten Bahnen gleitenden Ereignisverlauf im Intégrât, der nicht auf angeordneten, den Mitgliedern bewußten und gegenwärtigen Regeln zu beruhen brauche. 46 Die Ordnung habe hier keine „gegenständliche, vom Gruppenleben abgelöste Gestalt", sie offenbare sich im Mitgliedschafts verhalten, ohne daß es nötig sei, daß die Mitglieder ein „ausdrückbares Bewußtsein" vom ordnungsmäßigen Handeln hätten. 47 Diese unreflektierte, dem Gruppenleben immanente und aus ihm abgelesene Regelhaftigkeit sei nicht vergleichbar mit der „statistischen Regelmäßigkeit". Statistisch feststellbare aus den Lebensvorgängen abgelesene Regelhaftigkeiten sind nach Geiger äußeren Wertakzent entbehrende Gesetzmäßigkeiten, die die innere Disposition des Handelnden nicht treffen. In diesem Sinne unterscheidet er zwischen Regelhaftigkeit und Regelmäßigkeit. Ein regelhaftes Handeln lasse sich nur dann als soziale Ordnungserscheinung aussprechen, wenn es denkbar sei, daß der einzelne davon abweichendes Verhalten an den Tag legen könne, wenn er wolle. „Gesellige Ordnung" waltet also für ihn „nur in sogenannten Willenshandlungen". 48 Bei Abweichung zeigt sich das „Gewolltsein des Regelinhalts." Statistisch feststellbare Regelhaftigkeiten zeigten möglicherweise ein soziales Ordnungsverhältnis an, seien aber keine sozialen Ordnungserscheinungen an sich. Regelhaftig seien Verläufe, aus denen eine Regel abgelesen werden kann; regelmäßig seien jene, die einer Regel folgen. Um ein regelhaftes Handeln als soziale Ordnungserscheinung ansprechen zu können, müsse es denkbar sein, daß der Handelnde abweichen könnte, wenn er wollte. Soziale Ordnung beruhe auf Abweichungsmöglichkeit. 49 44
Ebd., S. 23, 30, 31; Masse, (§ 3 F N 9), S. 8, 10, 11. Paul Trappe, Soziale Norm, Normalität, und Wirklichkeit, in: ders., Kritischer Realismus in der Rechtssoziologie, Wiesbaden, 1983, S. 67-84. 46 Gruppe, (§3 F N 2), S. 345; Gesellung, (§3 F N 9), S. 31; Arbeiten, (§3 F N 28), S. 371; Paul Trappe , Zur Situation der Rechtssoziologie, Tübingen, 1968, S. 14ff.; Paul Trappe, Außerrechtliche Normsysteme, in: Grundfragen der Rechtssetzung, hrg. von Kurt Eichen berger, Walter Buser, Alexandre Métraux, Paul Trappe, Social Strategies, vol. 11, Basel, 1978, S. 149-171. 47 Gesellung, (§ 3 F N 9), S. 33. 48 Theodor Geiger , Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 2. Aufl., Neuwied am Rhein—Berlin 1970, S. 53 f. Im folgenden zitiert: Vorstudien. 45
7 Gromitsaris
§ 3 Normentheorie bei Theodor Geiger
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3. Gebarenskoordination
und Gebarenserwartung
Mit Gebarenskoordination meint Geiger die gegenseitige Bezogenheit des Handelns der Mitglieder an den verschiedenen Gesellschaftsintegraten. Leben in Gemeinsamkeit stütze sich auf Verhaltensberechenbarkeit. Der einzelne müsse mit einiger Sicherheit voraussehen können, wie sich andere in „oft wiederkehrenden typischen Situationen" benehmen würden. Soziale Ordnung beruht darauf, daß in einem gedachten Gesellschaftsintegrat zwischen bestimmten „typischen Situationen und entsprechenden typischen Gebarensweisen ein festes Verhältnis" bestehe.50 Soziale Ordnung sei als Gebarenskoordination zu verstehen. Gebarenskoordination erfolge aufgrund von Gebarenserwartungen. Jedesmal, wenn eine typische Situation eintrete, sei eine Gebarensweise als adäquate Antwort darauf zu erwarten. Es drängt sich nun die Frage auf, wer die situationsgemäßen Gebarenserwartungen bestimmt. Nach Geiger werden die relevanten Erwartungen von der jeweiligen Gruppenöffentlichkeit in den verschiedenen Gesellschaftsintegraten bestimmt. Dem Dritten kommt eine kategoriale Bedeutung zu, denn er ist der Zuschauer, bei dem die Gebarenserwartung vorhanden ist. Die Zuschauer sind aber gar nicht näher bestimmbar. Sie sind die Gruppenöffentlichkeit, d.h. immer „die Anderen". Sie sind die Träger des sozialen Drucks. Dieser soziale Druck wirkt nach Geiger „suggestiv", und zwar teils als Antrieb im Sinne eines kollektiven und kummulativen Beispiels und teils als Reaktion gegen Enttäuschung der GebarenserWartung. 51 Die suggestive Wirkung hat ihre Wurzel in der gedachten billigenden oder ablehnenden Haltung der Gruppenöffentlichkeit. Letztere wird anonymisiert. Sie wird einem anonymen „man" zugeschrieben. Man tut dies und unterläßt jenes. Die Gebarenserwartungen sind demnach Erwartungen unbestimmter Dritter. Die Unbestimmtheit der Gruppenöffentlichtkeit ermöglicht eine Intermutation der Rollen, einen Rollen Wechsel. Als Handelnder tut man gerade das, was man als Öffentlichkeit mit Schadenfreude verurteilt. Nun fragt sich, wie sich die Gebarensweisen bestimmen lassen, die von der Gruppenöffentlichkeit erwartet werden. M i t anderen Worten, im Hinblick auf welche typischen Situationen werden welche Gebarenserwartungen durch die Öffentlichkeit unterstützt. Diese Frage ist, modern ausgedrückt auch wie folgt formulierbar: Wie lassen sich Gebarenserwartungen institutionalisieren? Diesen Sachverhalt hat Geiger im Zusammenhang mit seinen machttheoretischen Überlegungen erörtert. Der Prozeß der Institutionalisierung von Gebarenserwartungen hängt mit der Machtstruktur der Gesellschaft zusammen. Dies läßt sich nur nachweisen, wenn eine Reihe von Definitionen wiedergegeben wird. 49
Geiger bringt folgendes Beispiel: der „instinkt-bedingte Nestbau von Vögeln zu gegebener Jahreszeit ist nicht soziale Ordnung, sondern Naturgesetz — wird aber der vom Wechsel der Jahreszeiten erzwungene Rhythmus im Lebensvollzug mit einem religiösen Ritus und Zeremoniell überbaut, ist er dadurch in das soziale Ordnungsgefüge einbezogen. In: Vorstudien, S. 53 f. 50 Ebd., S. 48 f. 51 Ebd. S. 80 f., 87 ff.
I. Soziale Differenzierung und Vergesellschaftungsprozeß
4. Institutionalisierung
99
von Gebarenserwartungen
Unter Macht 5 2 versteht Geiger in Anlehnung an Max Weber die „Chance, gewisse Ereignisverläufe steuern zu können". 53 Die Partner eines Machtverhältnisses könnten beiderseits Einzelpersonen, beiderseits Gruppen oder auf der einen Seite eine Einzelperson, auf der anderen eine Gruppe sein. Machtfaktoren hießen die Umstände, auf denen die Chance der Steuerung „andermenschlichen Verhaltens" beruht. Primäre Machtfaktoren seien solche, die von Natur gegeben seien (Beispiel: Körperstärke). Sekundäre Machtfaktoren seien solche, die auf der sozialen Organisation innerhalb eines Gesellschaftsintegrats beruhten (ζ. B. Macht des Beamten dank seiner Handhabung des Staatsapparates). Ein Machtverhältnis sei akzidentell, wenn es zwischen zwei Einzelpersonen bestehe, und der Machtfaktor auf deren persönlichen Eigenschaften beruhe. Ein Machtverhältnis sei kategorisch, wenn es zwischen zwei Einzelpersonen kraft ihrer Zugehörigkeit zu Gruppen bestehe (z.B. der einzelne Soldat einer Siegerarmee gegenüber dem einzelnen Bürger in Feindesland). Das gesamte Beziehungsnetz eines Gesellschaftsintegrats faßt Geiger als ein Gewebe ungezählter, auf verschiedenen Machtfaktoren beruhender Machtverhältnisse auf. In diesem Sinne spricht er von interkursiven Machtverhältnissen. Die soziale Interdependenz 54 beruhe demnach auf der suggestiven Wirkung des sozialen Drucks, 55 den die jeweils anderen auf den einen ausüben. M i t anderen Worten besage das aber, daß die jeweils anderen (die jeweilige Gruppenöffentlichkeit) durch ihre situationsgemäßen Gebarenserwartungen das Verhalten des einen steuern. Sie hätten also Macht über ihn. Ihm Gegensatz zu den interkursiven Machverhältnissen sei dies als das integrale Machtverhältnis zu bezeichnen. Es bestehe nicht zwischen persönlich benennbaren Partnern, sondern zwischen jedem einzelnen Mitglied auf der einen und der Gruppenöffentlichkeit auf der anderen Seite. Aufgrund dieser Begrifflichkeit lasse sich der Institutionalisierungsprozeß wie folgt beschreiben: 56 Wenn der überlegene Partner eines Machtverhältnisses das Verhalten des unterlegenen Partners „von Fall zu Fall nach Wunschrichtung des Augenblicks" zu steuern versucht, sei das „Willkürregiment". Stelle sich eine gewisse Regelmäßigkeit in den Steuerungsansprüchen des Mächtigeren und in der Fügsamkeit des Unterlegenen ein, so wirke sie als sekundärer Machtfaktor, der das primäre Machtverhältnis modifiziere. Der eingespielte Machtgebrauch wirke mit dem Beharrungsvermögen einer Institution. Dies bedeute, daß die Steuerungschancen nicht mehr von Augenblick zu 52
Hier und zum folgenden: Ebd., S. 337-355, 339 f. Ebd. S. 340. Von Max Webers Definition weicht diese von Geiger mit Absicht erstens darin ab, daß die Begriffe des eigenen Willens und fremden Widerstrebens entfallen. Der Begriff „Steuern" genügt nach Geiger vollkommen. Die zweite Abweichung liegt darin, daß der Begriff der Macht sowohl auf soziale Beziehungen, wie auch auf außersoziale Verhältnisse „zwischen Mensch und Ding" angewandt wird. 53
54 55 56
τ
Ebd. S. 46ff., 83 f., 86ff., 169ff., 327ff, 334f., 348 f., 375. Ebd. S. 74, 78, 80f., 87 ff., 118, 133, 146, 148, 167, 299, 301, 344. Hier und zum folgenden: Ebd. S. 342 ff.
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§ 3 Normentheorie bei Theodor Geiger
Augenblick den Schwankungen im Gleichgewicht der akzidentellen, primären Machtfaktoren zu folgen bräuchten. Der eingespielte Machtgebrauch neutralisiere diese Schwankungen innerhalb gewisser Grenzen. Er sei selbst, wie Geiger es in Anlehnung an Durkheim formuliert, ein „fait accompli", ein sekundärer Machtfaktor. Er hemme den sofortigen und vollen Ausschlag von Veränderungen in den primären Machtfaktoren. Institutionalisierung hat bei Geiger mit der Entstehung von sekundären Machtfaktoren, d.h. mit der Stabilisierung von Machtstatus zu tun. Man kann in der Institutionalisierung eine Art von „Trägheitsgesetz" in bezug auf den Machtstatus erblicken. Das integrale Machverhältnis zwischen einem beliebigen Gruppenmitglied auf der einen und der Gruppenöffentlichkeit auf der anderen Seite beruht demzufolge auf sekundären Machtfaktoren. Letztere sind von den Verschiebungen auf der Ebene der akzidentellen, primären Machtfaktoren unabhängig geworden. Eine Institution entsteht nach Geiger dort, wo die Ereignissteuerung ihre eigenen ursprünglichen Voraussetzungen in den interkursiven Machtverhältnissen überdauert. 57 Es kommt nicht auf die jeweilige Aktualität in den interkursiven Machtverhältnissen an. Wichtig ist vielmehr der Spielraum und der Umfang der Neutralisierung von Aktualität und Konkretheit. Vor allem hierin liegt die Beharrungskraft von institutionalisierten Gebarenserwartungen. Institutionalisierte Gebarenserwartungen sind von den persönlichen Erwartungen der Akteure, der unbeteiligten Zuschauer und der Mitinteressenten unabhängig. Der eingespielte Machtgebrauch läßt das Erwarten reflexiv werden. Man orientiert sich nicht mehr an konkreten Verhaltenserwartungen, sondern an objektiv erwarteten Gebarenserwartungen, an Erwartungserwartungen. Die situationsgemäßen Gebarenserwartungen sind in einem eingespielten, verfestigten Machtstatus eingebettet. Sie kommen im jeweiligen integralen Machtverhältnis zwischen Gruppenöffentlichkeit und Einzelperson zum Ausdruck. Sie bestehen unabhängig vom akzidentellen, persönlichen Erwarten der Akteure und Mitbeteiligten. 5. Individuum und soziale Ordnung Das Verhältnis des Individuums zur immer schon konstituierten sozialen Ordnung läßt sich wiederum anhand von auf Simmel und Durkheim beruhenden Überlegungen Theodor Geigers darlegen. Die „Kreuzung der sozialen Kreise" biete für den Einzelnen die Möglichkeitkeit, Mitglied verschiedener Gruppen zu sein. 58 Es ergebe sich eine Mischung zwischen Kollektivismus und Isolierung, die jeder Kreis biete. Einerseits finde der einzelne „für jede seiner Neigungen und Bestrebungen eine Gemeinschaft vor", die ihm die Befriedigung der Neigungen erleichtere. Diese Gemeinschaft biete, da sie zweckmäßig erprobt 57 Ebd. S. 362. Die Formulierung bei Geiger ist enger. Sie betrifft den „Herrschaftsstatus". Er kann fortbestehen, „obwohl er seine Voraussetzungen in den interkursiven Machtverhältnissen verloren hat". 58 Simmel, Soziale Differenzierung, (§ 3 F N 11), S. 104f.
I. Soziale Differenzierung und Vergesellschaftungsprozeß
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sei, alle Vorteile der Gruppenangehörigkeit. Andererseits werde das Spezifische der Individualität durch die „ K o m b i n a t i o n der Kreise gewahrt", die in jedem Fall eine andere sein könne. 59 Die Bedeutung dieser Aussage kann nicht genug betont werden, denn sie beschreibt schlaglichtartig die Funktion von Institutionen für den einzelnen. Das gesellige Dasein des Menschen vollziehe sich „in wechselndem sozialem Milieu". Unreflektierte Regelhaftigkeit sei als Grundtypus unmöglich und das Gepräge des Lebens in der einzelnen Gruppe werde intermittierend 60 . Fixe Ordnungen müßten den gruppenhaften Zusammenhalt stabilisieren und ihm über die Latenzphasen gruppenhafter Betätigung hinweg Kontinuität verleihen. Jede Gruppe entwickle bestimmte „Lebensformen", die, einmal vorhanden, eine gewisse objektive Macht darstellten. „Der Amerikaner würde von ,behavior patterns' sprechen, von Mustern oder Typen des Gebarens." 61 Der Mensch werde, soweit er vergesellschaftet ist, zum Schnittpunkt vieler sozialer Kreise 62 . „So wird die individuelle Differenziertheit des Menschen unterstützt durch wachsende, ja unendlich werdende Möglichkeiten der Variation der in ihm sich berührenden Gruppenzugehörigkeiten". 63 Gebarensmuster, Vorstellungen, Anschauungen und Symbole sind nun im einzelnen Intégrât „Gehalte und Formen", die vor dem neuen Mitglied „als ein ,fait accompli'" stehen, mit dem man sich irgendwie abfinden muß. 6 4 Im Zusammenhang damit steht das im Selbstmordwerk Dürkheims deutlich hervortretende Menschenbild. 65 Das Selbst des Handelnden entfalte sich als trieb- und willenhafte Einheit. Der vorwiegende Handlungsantrieb sei gerade nicht eine bewußte Erkenntnis. Das trieb- und willenhafte Bewußtsein stößt aber innerhalb der sozialen Wirklichkeit auf Widerstand. 66 Die Verbindung von 59
Ebd. S. 106. Vgl. den Prozeß der Individualisierung und Detribalisierung in: Paul Trappe, Die Entwicklungsfunktion des Genossenschaftswesens am Beispiel ostafrikanischer Stämme, Neuwied am Rhein—Berlin, 1966, S. 347 ff. 61 Gesellung, (§ 3 F N 9), S. 41, 42; Gruppe, (§ 3 F N 2), S. 353. 62 Zur Frage nach dem Zusammenhang der „vergegenständlichten geistigen Gehalte des geselligen Seins mit der geistigen Lebenswelt des Individuums" s. den Aufsatz, Theodor Geiger, Gruppe als verwirklichtes Ich-Ideal, in: Archiv für angewandte Soziologie, 1928, Heft 2 und 3, S. 1-10 und 7-19. In der Definition des Ich-Ideals als „vorgestellte Ballung bestimmter Personqualitäten zur vorbildlichen Gestalt" (S. 2), finden sich Züge des Kristallisationsprozesses im Sinne Stendhals: „Ce que j'appelle cristallisation, c'est l'opération de l'esprit, qui tire de tout ce qui se présente la découverte que l'objet aimé a de nouvelles perfections." Stendhal , De l'amour, Paris 1959, hrg. von H. Martineau, S. 9; s. auch S. 412, „ I I y a une véritable cristallisation en politique pour le parti qu'on adopte. Cette cristallisation se fait à coups de j o r n a l ; . . . " 63 Gruppe, (§ 3 FN 2), S. 371. 64 Gesellung, (§ 3 F N 9), S. 42. 65 Zu den vom Selbstmordwerk angeschnittenen Themen s. Talcott Parsons , The structure of social action. A study in social theory with special reference to a group of recent european writers, Glencoe-Illinois 1949, S. 324-338. Zum Menschenbild: „ . . . the concrete human individual whom we know cannot be accounted for in terms of individual' elements alone, but there is a social component of his personality.", S. 337. Im folgenden zitiert: Social action. 60
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§ 3 Normentheorie bei Theodor Geiger
Impuls, Bewegungsintention und Widerstand läßt das „Empfindungsaggregat des Druckes" entstehen. Wände der Tatsächlichkeit umgeben das der widerspenstigen Vorgeformtheit ausgesetzte und aufgeregte Willensleben. 67 Mehr oder minder festglegte Handlungsweisen üben auf den einzelnen einen äußeren Zwang aus und besitzen „ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben". 68 Für die Allgemeinheit der festgelegten Formen des Handelns ist nicht „bloße Gleichförmigkeit", sondern das „im Rahmen einer Variationsbreite" Kollektivobligatorische konstitutiv. Verhaltensmuster werden von der subjektiven Perspektive her als von außen kommend empfundene Wirkung von situationsgemäßen Erwartungen hingestellt. Dieses äußere Aufdrängen ist jedoch keine räumliche Exteriorität, sondern eine außerhalb des individuellen Bewußtseins liegende „transzendentale Ortsbestimmung". Sie ist als Äußerlichkeit im epistemologischen Sinne zu verstehen 69, denn der subjektiv externe soziale Druck auf den Akteur wird in der objektiven Perspektive des Beobachters und Forschers als „wesentliche Beziehung zwischen Individual- und Kollektivbewußtsein", als ganzer Wirklichkeitszusammenhang vergegenständlicht. 7 0 Auf diese Weise hat bei Durkheim nach der Auffassung Königs das Wort „conscience" die Bedeutung von Gewissen in der subjektiven und diejenige der Bewußtheit in der objektiven Perspektive. Im Gewissen gibt es keine Polarität von Individuum und Kollektiv, sondern Komplementarität der persönlichen Motivationsstruktur und der in einem Intégrât waltenden Normen durch Internalisierung 71 . Norm, Normenkonflikt und Abweichung werden als Gewissen internalisiert, ebenso wie „dinglich-sachliche Erscheinungen", insbesondere werkzeughafte Benutzung von Artefakten, als normative Einwirkungen zu 66
König, Vorwort, (§ 3 F N 16), S. 54 f. Ebd., S. 54, R. König zitiert hier Dilthey. 68 Emile Durkheim , Regeln der soziologischen Methode, Neuwied—Berlin 1961, S. 114. 69 Parsons , Social action, (§ 3 F N 65), S. 337, „ . . . the analytical distinction between individual' and ,social' cannot run parallel with that between the concrete entities individual' and ,society'." 70 König, Vorwort, (§ 3 F N 16), S. 41, 42, 43, 44. Parsons, Social action, (§ 3 F N 65), S. 350, Fn. 1, „ . . . ,exteriority' . . . cannot be taken in a spatial sense . . . It is meant here in the epistemological sense in which the body is part of the external world.", S. 355, „But the individual' .. .is not this concrete entity, but a theoretical abstraction". 71 Emile Durkheim, Définition du fait moral, 1893, in Emile Durkheim, Textes, 2. religion, morale, anomie., Paris 1975, S. 257-291, Emile Durkheim , L'éducation morale, Nouvelle édition, Avertissement de Paul Fauconnet, Paris, 1963, s. vor allem die Erläuterung der Begriffe „discipline" und „attachement aux groupes sociaux", S. 15 ff. und S. 47 ff. „ I I faut qu' à chaque moment du temps nos aspirations, nos sentiments de toutes sortes soient bornés. Le role de la discipline est d'assurer cette limitation.", S. 42. Disziplin ist das Ergebnis und die Manifestation der Einflußnahme faktischer sozialer Geregeltheit auf individuelle Lebensführung. Die disziplin-stiftenden Regeln bleiben transzendental außerindividuell: S. 24, „Or, tout au contraire, la règle est, par essence, quelque chose d'extérieur à l'individu." Emile Durkheim, Le Suicide, Etude de sociologie, Paris 1960, (Nouvelle édition), S. 275,279, „Ce que l'homme a de caractéristique, c'est que le frein auquel il est soumis n'est pas physique, mais moral, c'est à dire social." 67
I. Soziale Differenzierung und Vergesellschaftungsprozeß
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einem bestimmten Verhalten zwingen. 72 Geiger hat diese Überlegungen Dürkheims weitergeführt 73 . Er unterscheidet in den einzelnen Integraten zwischen Zustands- und Handelnsordnung. Erstere ist ein System von Platzbestimmungen oder von Kategorien von Mitgliedschaftsrollen, denen verschiedene Adäquanznormen entsprechen. 74 Der Begriff der Rolle erlaubt hier die Vereinigung von Dynamik und Statik, denn einerseits bleibt ein Intégrât ein Vergesellschaftungsprozeß, andererseits erfolgt eine darstellerisch bequeme Gliederung des Integrates. Als Handelnsordnung gilt die erwartbare Beantwortung von typischen Situationen durch Verhaltensmuster. Handelnde sowie Zuschauer erhalten innerhalb eines Integrates Adäquanzvorstellungen als Normvorstellungen aus dem Leben. Der einzelne erwirbt sich durch Internalisierung unmerklich eine Anlage zur Beantwortung von typischen Situationen mit adäquaten Gebarensweisen. Dieser Mechanismus beruht auf Herausbildung von Gebarenserwartungen sowohl beim Handelnden als auch beim beteiligten oder unbeteiligten Zuschauer. Adäquate Gebarensweisen werden in Ereigniserwartungen derart antizipiert, daß Abweichung Befremden, Störung, Unbehagen hervorruft. 75 Um die Entstehung und kollektive Akzeptanz von situationsgemäßen Gebarenserwartungen zu erklären, zieht Geiger die lernpsychologischen Untersuchungen von Richard Semon, insbesondere die „Mnemetheorie" desselben, hinzu. 76 Eindrücke hinterlassen Gedächtnisspuren, die „Engrammkomplexe", die zu einem späteren Zeitpunkt durch Herantreten eines den Elementen des Komplexes gleichenden Eindruckes eine „Ekphorie" des ganzen Engrammkomplexes hervorrufen. 77 Der engraphisch-ekphorische Mechanismus läßt einzelne Handlungsabläufe zu Gewohnheit verfestigt werden. 78 Mitinteressenten einer 72
König, Vorwort, (§ 3 F N 16), S. 44, 46, 52, 58. Er wendet sich gegen den „weitgetriebenen Institutionalismus" Dürkheims. Diese Kritik dürfte auf einem Mißverständnis bezüglich der „transzendentalen" Ortsbestimmung der sozialen Fakten beruhen. Im Grunde stimmt Geiger mit Durkheim in diesem Punkt überein: Er will keinen allzu deutlichen „Strich zwischen der Gruppe und dem einzelnen Menschen" ziehen. Er will den „Geist der Gruppe, den bestimmten Stil des Verhaltens, dessen Formen einen festen Bestand bedeuten", nicht nur als etwas dem einzelnen Menschen in der Gruppe gegenübertretendes, als ein „nach Dürkheims weitgetriebenem Institutionalismus deutlich zwangsmächtiges ,Äußeres 4" sondern zugleich als verwirklichtes Ich-Ideal festlegen. Geiger, Gruppe als verwirklichtes Ich-Ideal, (§ 3 F N 62), S. 2. 73
74
Vorstudien, (§ 3 F N 48), S. 53. Geiger, Arbeiten, (§ 3 F N 28), S. 371, 378. 76 Richard Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, 4. und 5. Aufl., Leipzig 1920, Geiger verwertet vor allem die Ausführungen Semons im zweiten Kapitel über die Engraphische Wirkung der Reize auf das Individuum sowie die Ausführungen im sechsten Kapitel über die Ekphorie der Engramme., S. 15 ff., 187 ff. 75
77
Vorstudien, (§ 3 FN 48), S. 92, f. Vgl. hierzu: Wolfram Zitscher, Normen und Feldtheorie, Berlin 1983., S. 46ff., Fünftes Kapitel über Beobachtung, Realität und Reproduzierbarkeit. 78
104
§ 3 Normentheorie bei Theodor Geiger
typischen Situation hegen adäquate Ereigniserwartungen, die sie im Enttäuschungsfall mit Irritation und Entrüstung bekräftigen. Im Gruppenleben machen die Mitglieder eine Intermutation der Rollen durch. Einmal verurteilen sie aktiv reagierend die Verhaltensweisen, die Erwartungen enttäuschen. Sodann machen sie sich selbst einer Übertretung schuldig. Auf diese Weise entsteht die Gruppenöffentlichkeit — die Anderen —, die als gedachte oder beteiligte Zuschauer eine „entscheidende, moralisierende Funktion haben" und zur Entstehung von situationsgemäßen Gebarenserwartungen beträchtlich beitragen 79 . Geigers Erklärungsversuch der sozialen Interdependenz aus der Sicht des Individuums spiegelt eine „längst überholte Lernpsychologie und leidet natürlich auch an deren Mängel". 8 0 Der engraphisch-ekphorische Prozeß scheint eine individualistische Erklärung der Gebarenskoordination zu liefern. Die Engramme scheinen Representationen von situationsgemäßen Gebarenserwartungen zu sein. Da nun jeder seine eigenen Engramme hat, sollte auch die soziale Ordnung auf der Gleichartigkeit der psychologischen Einprägungen bei den einzelnen beruhen. Das feste Verhältnis zwischen einer typischen Situation und der ihr entsprechenden Gebarensweise würde seinen Ursprung in einer psychologischen deterministischen oder probalistischen Hypothese nehmen. Doch ist dem nicht so. Es muß zwischen der Genesis und der laufenden Konstitution der sozialen Ordnung unterschieden werden. Die Genesis der sozialen Ordnung beruht zwar auf psychischen Systemen, ihre immer währende, laufende Konstitution ist jedoch nicht mehr vom Psychischen abhängig. Die situationsgemäßen Gebarenserwartungen brauchen demnach nicht von den persönlichen Erwartungen der Akteure und Mitbeteiligten abhängig zu sein. Dies ergibt sich auch aus den schon dargelegten machtheoretischen Überlegungen Geigers. Es wird hier die Interpretation von Hans Albert akzeptiert, nach welcher Geiger eine methodische Abstraktion von der Motivierung vollzieht, indem er zwischen „den beiden Ebenen der Motivations- und der Institutionen-Analyse" zu unterscheiden versteht. 81 Die institutionalisierten Gebarensmodelle einer Gruppenordnung zeigen sich ihm insofern von Motivkomplexen unabhängig, „als sie das oftmals ganz unterschiedlich motivierte Verhalten verschiedener Personen in gleicher Weise ,kanalisieren 4". Die gleichen Motive führen unter verschiedenen institutionellen Bedingungen zu verschiedenem Verhalten, während verschiedene Motive im gleichen institutionellen Rahmen annähernd 79
Vorstudien, S. 77. Herbert Keuth, Der Normbegriff in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 30 (1978), S. 680-700,682 ff., 684. Es wird richtig bemerkt, daß die mnemetheoretische Erklärung der Entstehung von situationsgemäßen Gebarenserwartungen zu unscharf ist. Es fehlt an einem Auswahlprinzip, aufgrund dessen die Fülle der Kombinationen von Situationsarten und Handlungsweisen selektiv gekennzeichnet werden könnten. 80
81 Hans Albert, Theodor Geigers „Wertnihilismus". Kritische Bemerkungen zu Rehfelds Kritik., in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 6 (1955), S. 92100, 94.
I. Soziale Differenzierung und Vergesellschaftungsprozeß
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gleichartige Verhaltenskonsequenzen haben. 82 Soziale Interdependenz und Gebarenskoordination sind zwar eine von Vorstellungen unabhängige Tatsache; aber bei der Auswahl der sozial bereits konstituierten Gebarenserwartungen, nach denen das Gebaren in einer gegebenen Gruppe koordiniert wird, spielen Vorstellungen eine Rolle. Der Vorgang der Orientierung an den situationsgemäßen Gebarenserwartungen läßt sich auf einer psychologischen Ebene erklären. Psychologische Ausführungen haben jedoch nicht den Prozeß der Institutionalisierung zum Gegenstand. Der Verweis Geigers auf die Mnemetheorie Semons darf nicht zu der Auffassung verleiten, der Institutionalisierungsprozeß von Gebarenserwartungen in typischen Situationen wäre ein psychischer Vorgang. Was im Handlungs- und Motivationsbewußtsein als typisch und ausschlaggebend erachtet wird, ist nicht unbedingt institutionell verfestigt. Die Beurteilung der Erwartbarkeit erfolgt schematisch-schablonenhaft und nicht individuell. Institutionell besteht wenig Verständnis für die jeweilige Eigenart des Falles. Im Gegensatz dazu ist der Handelnde geneigt, die Besonderheit und Eigentümlichkeit seines Handelns hervorzuheben. Die soziale Interdependenz stützt sich jedoch nicht auf die Inkonsistenz der aktuellen motivischen Vorstellungen, sondern auf das Bestandsvermögen von öffentlich unterstützten Gebarenserwartungen, d. h. auf integrale Machtverhältnisse. Erwartungskonstitution und Erwartungsinstitutionalisierung einerseits sowie Konstitution und Reproduzierbarkeit der sozialen typischen Situation andererseits sind keine psychischen Vorgänge. Selbstverständlich sind für die Identifizierung von Erwartungszusammenhängen seitens des einzelnen gewisse seelische Voraussetzungen und Wahrnehmungsfähigkeiten erforderlich. Die institutionalisierten Gebarenserwartungen bestehen jedoch unabhängig davon, ob sie vom einzelnen in concreto identifiziert werden können oder nicht. Die soziale Situation, die sich oft wiederholt, die typisiert und mit einer entsprechenden Gebarenserwartung verbunden wird, ist ebenfalls nicht als ein psychisches Produkt anzusehen. Ohne psychische Substrate gibt es keine Gesellschaft, dies bedeutet jedoch keineswegs, daß die soziale Ordnung auf individuellem Handeln und den ihm zugrunde liegenden seelischen Prozessen aufgebaut ist. Die methodische Abstraktion vom Psychischen und vom Handlungsbewußtsein durchzieht das ganze Werk Geigers. Der Versuch, Geiger demnach dahingehend extensiv zu interpretieren, daß der Kategorie der Zeit ein größeres Gewicht bei der Konstitution und Reproduktion von Erwartungen und typischen Situationen beigemessen wird, darf den Unterschied zwischen der Motivations- und Institutionsanalyse nicht aufgeben. 83 Die Konstitution und Reproduzierbarkeit von sozialen Situationen 82
Ebd., S. 94. Dieser Gefahr setzt sich der Versuch von Wolfram Zitscher, Normen und Feldtheorie, Berlin 1983, aus: Sie liegt darin, daß die zur Vertiefung des sozialwissenschaftlichen Ansatzes Geigers vorgeschlagene Feldtheorie von K. Lewin eine psychologische Theorie ist. Dies führt Zitscher dazu, bei zugegebenem Unterschied in den wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Theorie Th. Geigers und K. Lewins (S. 93 f.) die methodische Abstraktion von psychischen Einstellungen bei Geiger dennoch herunterspielen zu wollen (S. 37 f., 58 f.). 83
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§ 3 Normentheorie bei Theodor Geiger
und Gebarenserwartungen erfolgt, wenn das Äquilibrium von primären Machtfaktoren und persönlichen Einstellungen durch die Stabilisierung eines sekundären Machtstatus überlagert wird. II. Begriff der subsistenten Norm Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kann der Normbegriff Geigers bestimmt werden. Eine Norm liegt vor, wenn in der sozialen Interdependenz situationsgemäße Gebarenserwartungen mit Verbindlichkeit auftreten. Unter Verbindlichkeit wird die Disjunktion Erwartungserfüllung/Abweichungskorrektur verstanden. Damit ist die Wirkung der Norm disjunktiv bestimmt. 84 Sie besteht entweder in der Realisierung der Gebarenserwartung oder im abweichenden Gebaren mit der Folge sozialer Reaktion. Im Gegensatz dazu ist die Verbindlichkeit nicht disjunktiv, sondern einheitlich bestimmt. Sie ist die Einheit der Disjunktion. Inhalt der Verbindlichkeit ist „das EntwederOder, d.h. die Alternative selbst". 85 Die Alternative ist eine Einheit, aber sie wirkt nur als Alternative. Dementsprechend kann die Norm entweder als unauffällige Konformität oder als erzwungene Befolgung wirken. In dieser Doppelwirkung macht sie die zwei Dimensionen der Ordnungssicherheit aus. 86 Die erste Dimension ist die Orientierungssicherheit. Sie besteht darin, daß Gewißtheit im Erwarten von Gebarensweisen herrscht. Der eine weiß, wie sich der andere in typischen Situationen verhalten wird, damit er selbst sich darauf einstellen kann. Es geht um Erwartungssicherheit. Die andere Dimension betrifft die Sicherheit der Erfüllung von Erwartungen. Man darf darauf rechnen, daß die Wirkungsalternative der Norm in der Tat durchgeführt wird. Die Differenz Orientierungssicherheit / Realisierungssicherheit macht als Einheit die Verbindlichkeit der Norm aus, aber sie wirkt nur als Differenz. Dies bedeutet, daß Ordnungssicherheit ausschließlich als Orientierungssicherheit auftreten kann. Die Gewißheit im Erwarten von Gebarensweisen ist als Interaktionsgrundlage unentbehrlich und bedeutsamer als die Sicherheit der Erfüllung von Erwartungen. Orientierungssicherheit ist wichtiger als Realisierungssicherheit. Eine Norm kann ausschließlich als Erwartungssicherheit wirken. Die Sanktion allein kann keineswegs als Normkriterium dienen. Geiger will nun zwischen der verbindlichen, situationsgemäßen Gebarenserwartung, die den wirklichen Verlauf des Lebens in einem Gesellschaftsintegrat beeinflußt, und ihrem verbalen Ausdruck unterscheiden. In dieser Absicht spricht er von Norm im eigentlichen Sinn oder von subsistenter Norm und Normsatz oder Verbalnorm. 87 Die subsistente Norm könne das Primäre oder 84
Vorstudien, (§ 3 F N 48), S. 68, 70, 236. Ebd. S. 70. 86 Geiger verwendet für die zwei Aspekte der Ordnungssicherheit die Begriffe Orientierungssicherheit oder Ordnungsgewißheit und Realisierungssicherheit oder Ordnungszuversicht. In: Ebd., S. 101 ff., 118 ff., 136, 157. 85
II. Begriff der subsistenten Norm
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Sekundäre sein. Primär ist sie, wenn sie Niederschlag früherer Handlungsabläufe sei. Die Wortnorm konstatiere dann nur das Bestehen der subsistenten Norm, schaffe aber eine solche nicht. Deswegen bezeichnet Geiger die Wortnorm in diesem Fall als deklarativ. Andererseits könne die subsistente Norm durch den Normsatz eingeführt werden und sei dann sekundär. Der Normsatz proklamiere die subsistente Norm und werde als proklamativ bezeichnet. Die nachdrückliche Unterscheidung zwischen subsistenter Norm und Normsatz sei nicht müßig. Die Norm könne durchaus ohne die sprachliche Hülle des Satzes bestehen. Nicht jeder Satz in der äußeren Gestalt einer Wortnorm enthalte wirklich eine Norm. Für die subsistente Norm sei es unwichtig, ob sie deklariert oder proklamiert werde. Sowohl die habituell entstandene und nachträglich in Worten fixierte als auch die durch proklamativen Normsatz statuierte Norm enthielten eine fordernde Erwartung seitens der Gruppenöffentlichkeit im Hinblick auf das Gebaren der Gruppenmitglieder. Die Realität des Normsatzes 88 könne wie folgt bezeichnet werden: Normsatz sei entweder der deklarative Ausdruck für das Bestehen einer schon entstandenen, subsistenten Norm, oder der Ausdruck der überwiegenden Wahrscheinlichkeit, daß ein proklamierter 89 Norminhalt entweder befolgt oder durch Reaktion gegenüber Widerspenstigen behauptet werde. Der Normsatz drücke dementsprechend aus, daß die Gruppenöffentlichkeit die Beobachtung einer bestimmten situationsgemäßen Gebarenserwartung durch die Mitglieder intendiere. Der Normsatz sei in diesem Sinne eine „programmatische Kundgebung". 90 Es sei nach Geiger nichts dagegen einzuwenden, diese „programmatische Intention" als Imperativ 91 in einem weiteren Sinn bezeichen zu wollen, aber es erscheine wenig zweckmäßig, so zu verfahren, weil das Wort Imperativ den Eindruck eines Befehls und einer befehlenden Instanz wecke, eine solche aber im Falle der deklarativen Wortnorm fehle. Die Auffassung der Norm als Imperativ habe ihren Ursprung in der einseitigen Orientierung am proklamativen Normsatz. In diesem Fall entstehe die Vorstellung, daß eine Autorität Befehle erlassen habe. Dies Normverständnis könne nicht aufkommen, wenn man des Sachverhaltes der deklarativen Wortnorm gedenke. Die Wortnorm sei die nachträglich geschaffene Normhülle. Das Verhältnis Wortnorm — subsistente Norm ist besonderer Art. Geiger hat einen sehr großen intellektuellen Aufwand betrieben, um dieses Verhältnis herauszuarbeiten. Er tat das vor allem im Zusammenhang mit der ausführlichen Erörterung und Beschreibung der Wirkungsweise eines entwickelten, bürokratisch gestützten Rechtssystems. Er hat nämlich das Verhältnis zwischen 87 Zum Begriff der subsistenten Norm s. ebd., S. 58ff., 62ff., 84f., 95ff., 98, 120f., 191 f., 197 f., 211 f., 252f., 264, 269, 282. 88 Hier und zum folgenden: Ebd., S. 55 ff., 67, 79, 84ff., 182, 211, 243, 245 ff., 250, 253, 259, 261 ff., 265, 268 f., 277f., 280f. 89 Ebd., S. 85 f. 90 Ebd., S. 65. 91 Ebd., S. 64f.
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§ 3 Normentheorie bei Theodor Geiger
Wortnorm und subsistenter Norm auf das Recht angewandt und zwischen Rechtssatz und Rechtsnorm unterschieden. In der Wortnorm werden drei Elemente sprachlich festgesetzt: die Erwartung, die Themen, auf die sich dieselbe bezieht, und die adäquate soziale Situation. A n diesem Punkt weist Geiger auf eine Tatsache hin, die nicht durch „schematisierende Betrachtungsweise" verwischt werden darf. 92 Man dürfe nicht „operativ davon ausgehen", daß eine bestimmte soziale Situation eine „objektiv gegebene Einheit" sei. Die Umstände, die eine soziale Situation ausmachten, könnten in zwei verschiedenen Momenten einander unmöglich gleich sein. So drängt sich die Frage auf, nach welchen Gesichtspunkten sich eine Konstellation von Umständen der wahrnehmbaren Welt als eine bestimmte soziale Situation determinieren läßt, in der eine adäquate Gebarenserwartung eingebettet ist. Im Hinblick auf die subsistente Norm ist die Frage wie folgt formulierbar: Aufgrund welcher Merkmale sind ungleiche Konstellationen von Umständen aktueller Situationen als normtypisch erkennbar? Wolfram Zitscher hat versucht, diese Frage zu beantworten. Er ging davon aus, daß die psychologische Feldtheorie die „Probleme der Zeit und des Wandels" im Ansatz Geigers lösen würde. 93 An dieser Stelle wird vom Psychologischen abgesehen. Es soll vielmehr der Versuch unternommen werden, diesen Schwierigkeiten auf einem soziologischen Wege unter Berücksichtigung der neueren systemtheoretischen Forschung Abhilfe zu leisten. Die These vom unaufhaltsamen Wandel jeder aktuellen Situation bedeutet, daß die Elemente, aus denen sie besteht, als Ereignisse zu verstehen sind. 94 Sie stellen „momenthafte" und „sofort-vergängliche" Einheiten dar, welche die momenthafte Aktualität der jeweiligen Situation begründen. Der oben benutzte Ausdruck der situationsgemäßen Gebarenserwartung scheint demnach in sich einen Widerspruch zu beinhalten. Wenn Ereignisse entstehen, um sofort wieder zu verschwinden, wie sind dann Erwartungsbildung und Situationsformierung möglich? Ereignisse und Erwartungen bilden zwei verschiedene Realitätsebenen. Ereignisse haben Gegenwartsqualität, Einmaligkeit und Einzigartigkeit. Jedes neue Ereignis erscheint als vollkommen neu und singulär und erzeugt somit Unsicherheit. Es wird durch eine Überraschungskomponente gekennzeichnet, die eine Abweichung vom Vorherigen herbeiführt. Alles wird in das Schema Vorher/Nachher hineingezwungen.95 Erwartungen haben demgegenüber die Funktion, trotz des unentbehrlichen Überraschungsmoments Anschlußfähigkeit zwischen den sich laufend erneuernden Ereignissen herzustellen. Erwartungen absorbieren die Unsicherheiten der Zukunft, indem sie das ständige Aufhören und Neubeginnen von ereignishaften Elementen miteinander 92
Hier und zum folgenden: Ebd., S. 112. Zitscher, Normen und Feldtheorie, (§ 3 F N 83), S. 40 ff. 94 Der Ereignisbegriff wird im Sinne von Luhmann verwendet. Siehe hier und zum folgenden Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), S. 389 ff. 95 Ebd., S. 390f. 93
II. Begriff der subsistenten Norm
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verknüpfen. 96 Was wirkt aber erwartungsbildend? Nach Geiger gestalten sich Gebarenserwartungen in der Geschichte eines Gesellschaftsintegrats. In jedem Intégrât erfolgt, wie schon erwähnt, eine Intermutation der Beobachtungs- und Handlungsrollen. Es gibt ständig „fluktuierende Verteilungen von Handlungsund Beobachtungschancen".97 Handeln und Beobachten kommen beide nebeneinander vor und greifen ineinander. Jedes Mitglied des Integrats kann sowohl Handelnder als auch Gruppenöffentlichkeit sein. Dies bedeutet, daß sich jedes Intégrât einer Selbstbeobachtung unterzieht. Die Gruppenöffentlichkeit stellt im Intégrât eine für Selbstbeobachtung ausdifferenzierte Rolle dar. Die laufende Reproduktion von ereignishaften Handlungen wird mithin von einer mitlaufenden Beobachtung begleitet. Anschlußgeschehen wird durch Relationierung von Ereignissen aufgrund von Erwartungen ermöglicht. Aber auch die Erwartungen selbst unterziehen sich einem Wandel. Es findet eine laufende ErwartungsVerschiebung statt. Erwartungen können ausgewählt, widerlegt und neuausgewählt werden. Die Überraschungsmomente und Zukunftsunsicherheiten auf der Ebene der Ereignisse haben ihr Gegenstück auf der Ebene der Erwartungsbildung. Für diese laufende Erwartungsverschiebung ist die Differenz Handlung/Beobachtung konstitutiv. Gemäß der Begrifflichkeit Geigers ist der Wandel auf der Erwartungsebene nichts anderes als eine Verschiebung eines auf sekundären Machtfaktoren beruhenden, integralen Machverhältnisses. Der Unterschied zwischen Handlung und Gruppenöffentlichkeit 98 ermöglicht eine handlungsentlastete, mitlaufende Beobachtung, die die laufende Kommunikation beschreibt und Leitgesichtspunkte festhalten kann. Letztere können zur Anpassung und Veränderung der stabilisierten, situationsgemäßen Erwartungen benutzt werden. Nach alldem kann nicht behauptet werden, daß die normtypische Situation im Begriff der subsistenten Norm als etwas Festliegendes aufgefaßt werden darf. Sie betrifft einen komplexen Sachverhalt. Sie impliziert die Ermöglichung von Anschlußgeschehen im Ereignisablauf eines Integrats infolge stabilisierter Erwartungen. Darüber hinaus stützt sie sich auf ein Zusammenwirken von fortlaufendem Handeln und mitlaufender Beobachtung. Die Erwartungen selbst sind in stetigem Wandel begriffen. Die subsistente Norm ist bereits als eine situationsgemäße Gebarenserwartung definiert worden, die mit Verbindlichkeitsanspruch auftritt. Ihr Verhältnis zur Wortnorm läßt sich nun vor dem Hintergrund der obigen Überlegungen näher bestimmen. Geigers Auffassung ist es, daß die Anwendung der subsistenten Norm im Ereignisablauf eines Integrats den Inhalt der subsistenten Norm stets und notwendig verändert und verschiebt. 99 Jeder neue Fall der Strukturierung der Kommunikation aufgrund einer situationsgemäßen Gebarenserwartung bewirkt eine Verschiebung der 96 97 98 99
Ebd., S. 392f. Ebd., S. 407. Vorstudien, (§ 3 F N 48), S. 72 f. Hier und zum folgenden: Ebd., S. 120ff., 191 ff., 247f., 249f.
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§ 3 Normentheorie bei Theodor Geiger
typischen Situation und der Erwartung selbst. Hinter der Fassade der unveränderlichen und „ausdehnungslosen" Wortnorm lebt eine gleitende, ihrem Inhalt nach im Fluß bleibende subsistente Norm. Die verbindliche, situationsgemäße Gebarenserwartung kann nie aus dem deklarativen oder proklamativen Normsatz abgelesen werden. Sie ist vielmehr in jedem einzelnen sozialen Lebensaugenblick die „Quintessenz" 100 der tatsächlichen Kommunikationsstrukturierung. Bei jeder Normbefolgung und jedem Normbruch muß sich der Bedeutungsumfang der Wortnorm selber schmiegsam reproduzieren. Der die einzelne Situation beherrschende normative Inhalt wird in seinen Einzelheiten immer erst geschaffen, wenn die Situation geschehen ist. Im Weiterlaufen des sozialen Geschehens muß zunächst einmal unter Situationsdruck aufs Neue gehandelt werden. Alle Erfüllung oder Enttäuschung von situationsgemäßen Gebarenserwartungen ist im Grunde hinsichtlich der individuellen Bestimmtheiten der konkreten Situation stets rückwirkend. 101 Erst im Nachhinein ergibt sich, ob eine erweiterte Determinierung des Anwendungsbereichs der Norm stattgefunden hat oder nicht. Die Differenz von Beobachtung und Handlung stellt die Basis der Erwartungsveränderung dar. Die mitlaufende Beobachtung hält auffallende Überraschungen, Unsicherheiten und Abweichungen fest. Nachdem das Handeln stattgefunden hat, kann sie die faktisch geschehene Erwartungsverschiebung festlegen. Sie kann sogar die Veränderung der Wortgestalt des Normsatzes bewirken. Die Beobachtung vollzieht eine selektive Speicherung des schon erfolgten Erwartungswandels. Die bereitgehaltenen Leitgesichtspunkte können das nächste Mal zur Modifizierung der Kommunikationsstrukturierung benutzt werden. Das ,inbegriffliche Schema" 102 der zum Normtatbestand gehörenden Themen ergibt sich daher rückwirkend. Das Feld konkreter Tatbestände, die auf die Disjunktion Erwartung /Abweichung bezogen werden, läßt sich jedesmal erneut rückwirkend festlegen. Demgemäß besteht ein Primat der Institution vor der Wortnorm. Nachdem man in und durch Institutionen gehandelt hat, wird, wenn nötig, die Frage entschieden, was man eigentlich situationsgemäß und normativ hätte erwarten sollen. Angesichts der Tatsache, daß keine subsistente Norm der Determination ihrer situationsgemäßen Gebarenserwartung nach unwandelbar feststeht, brauchte Geiger einen Begriff, der dies zum Ausdruck bringen konnte. Er hat hierfür den Begriff der Latenz benutzt. Latenz sollte die Möglichkeit bieten, die Unterscheidung von Orientierungssicherheit und Realisierungssicherheit zu verdeutlichen. 103 Dieser Unterscheidung fehlt es nämlich an der Herausarbeitung des Sachverhalts der reflexiven Erwartungen. 104 Orientierungssicherheit und Erwartungssicherheit kann deshalb nur kognitiv auf Kenntnis der Normen, 100
Ebd., S. 249. Ebd., S. 266ff. 102 Zum Gegensatz zwischen begrifflichem und inbegrifflichem Schema: Ebd., S. 242 ff. 103 Diese Möglichkeit könnte man, wie erwähnt, bereits in der Machttheorie Geigers erblicken. 104 Luhmann, Rechtssoziologie, (§ 2 F N 4), S. 39, F N 22. 101
II. Begriff der subsistenten Norm
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d.h. auf der Kenntnis hinreichend scharf definierter Gebarenserwartungen beruhen. Erwartungen brauchen nicht unbedingt auf konkretes Verhalten bezogen zu sein. Der Begriff der Latenz verweist gerade auf Undefinierte Erwartungen oder auf Erwartungen, die leisen oder stärkeren Gleitungen unterworfen sind. 105 Man könnte nach dem heutigen Forschungsstand zwischen Bewußtsseins- und Kommunikationslatenz unterscheiden. 106 Diese Unterscheidung hat Geiger explixit nicht getroffen. Sie kann aber dazu beitragen, daß die Zusammenhänge, die er mit dem Begriff der Latenz zu erfassen versuchte, erläutert werden. Situationsgemäße Gebarenserwartungen können im Hinblick auf psychisch leistbare Bewußtheit latent bleiben. Es handelt sich um Unbewußtheit und Unkenntnis von Gebarenserwartungen. Davon zu unterscheiden ist die Kommunikationslatenz. Sie liegt in der Unmöglichkeit, daß hinsichtlich bestimmter Themen Erwartungen gebildet werden. Im Hinblick auf die gleitenden Elemente der subsistenten Norm liegt dementsprechend keine Kommunikationslatenz vor. Die Erwartungsverschiebung erfolgt ja aufgrund von Kommunikation in bezug auf neue, den Tatbestand modifizierende Themen. Es geht vielmehr darum, daß eine themenbezogene Unschärfe durch die Erwartungs Verschiebung herbeigeführt wird. Sie wird durch die mitlaufende Beobachtung einem semantisch noch nicht besetzten Bereich zugesprochen. Was die Bewußtseinslatenz angeht, spielt die Sanktion eine klärende Rolle. Die Orientierung an Gebarenserwartungen kann unreflektiert und unbewußt erfolgen. Die Enttäuschung der Erwartung und die dadurch ausgelöste Reaktion („Öffentliche Entrüstung") bringen eines Tages die verbindliche situationsgemäße Erwartung zum Bewußtsein. Letztere entsteht nicht erst mit der Sanktion. Die ausgelöste Reaktion „manifestiert" nur, daß die situationsgemäße Gebarenserwartung innerhalb eines Integrats mit Verbindlichkeitsstigma versehen ist. Ferner ist es möglich, daß bezüglich einer bestimmten Sanktionierungsart oder der Sanktion überhaupt keine Erwartungen gebildet werden können. Die Enttäuschungsabwicklung 107 von Gebarenserwartungen muß andere weniger eindeutige Wege einschlagen, etwa den der Ironie oder des Witzes. In diesem Falle besteht eine Kommunikationsschwelle, einerlei, worauf sie zurückzuführen ist. Es besteht bei der Erwartungsbildung eine Nichtberücksichtigung, ein Ausschluß von Themen. Die enttäuschte Gebarenserwartung kann oder darf nicht sanktioniert und durchgesetzt werden. Wir haben es mit Kommunikationslatenz zu tun. Wenn nun Geiger von der Sanktionsbereitschaft oder der „potentiellen Reaktivität" der Gruppenöffentlichkeit spricht, 108 versteht er Latenz in einem besonderen Sinne. Er hält nach wie vor daran fest, daß die Sanktion die Norm nicht konstituieren, sondern nur manifestieren kann. Sie hebt die Bewußtseinslatenz auf. „Der aktuelle" Reaktionsvollzug „offenbart die 105 106 107 108
Hier und zum folgenden: Vorstudien, (§ 3 F N 48), S. 96, 98. Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), S. 458. Der Begriff wird im Sinne Luhmanns verwendet. Vorstudien, S. 100.
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§ 3 Normentheorie bei Theodor Geiger
Norm, kann sie aber unmöglich konstituieren." 109 Mit potentieller Reaktivität wird Latenz im Sinne einer „Anwartschaft" verstanden. 110 Sie wird als Möglichkeit der Formierung von situationsgemäßen Erwartungen in Hinsicht auf den Themenkreis der Sanktion begriffen. Geigers Begriff der „latenten Norm" ist zu hoch aggregiert und muß deswegen aufgelöst werden. Er ist eine unscharfe Beschreibung der Tatsache, daß sich Bedürfnisse und Chancen für Bewußtseins- und Kommunikationslatenz nicht decken. 111 Er weist aber zugleich darauf hin, daß die Erwartungssicherheit nicht auf konkretem Verhalten und definierten oder sprachlich festgelegten Erwartungen zu beruhen braucht. Auch in diesem Zusammenhang scheint der Stellenwert der Sanktion zunächst einmal relativiert zu werden. Sie konstituiert die Norm nicht. Das kann jedoch für die Schwierigkeiten, die im Normbegriff Geigers stecken, nicht Abhilfe schaffen. Dieser Normbegriff beruht nämlich einerseits auf der Möglichkeit der Abweichung. Die Norm ist Bestandteil der sozialen Ordnung, sie ist eine soziale Regelmäßigkeit und keine bloße Regelhaftigkeit. Andererseits schließt die Norm die Alternative des sanktionierten Verhaltens ein. Sie wird als die Disjunktion Befolgung / Abweichungskorrektur definiert. Die Durchführung dieser Alternative läßt unsanktionierter Abweichung keinen Raum. Letztere kann demnach nur die „Ineffektivitätsquote" 112 der Norm erhöhen. Der unbestrafte Verstoß gegen die Norm hebt sie teilweise auf. Die Möglichkeit, mit enttäuschten und nicht durchsetzbaren normierten Erwartungen leben zu können, ist im Normbegriff Geigers nicht mitberücksichtigt. Dies stellt den Unterschied zum Normbegriff als kontrafaktische Verhaltenserwartung dar. 1 1 3 Zusammenfassend läßt sich durchaus feststellen, daß sich das Begriffspaar Gemeinschaft-Gesellschaft für Geiger als sehr fruchtbar erwiesen hat. Der unreflektierten Regelmäßigkeit steht die „durch Satzung oder Vereinbarung ersonnener Normen" erreichte Regelmäßigkeit gegenüber. Die Antithese wird jedoch in ihrer Tönniesschen Prägung aus drei Gründen nicht übernommen. 1. Zwischen der immanenten Regelhaftigkeit und der Normiertheit durch konventionelle Satzung stehen Mischformen. In der Tradition erblickt Geiger eine Verkettung wesenswilliger und kürwilliger Elemente. Immanent gewachsene, überlieferte Regelinhalte werden zur Satzung erhoben und so normativ mit dem Anspruch auf Zukunftsgeltung bekleidet. 114 2. „Durch Satzung wird das Gruppenleben stets nur in einigem recht geringen Umfang geordnet". Die unformuliert überlieferte Regelhaftigkeit waltet „hinter der augenfälligen Fassade ideell gesatzter Ordnungen". Die Mitteilbarkeit formaler Normiertheit kann nicht alle sich in „besonderen Formen des 109
Ebd. Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), S. 399. 111 Auf die Zusammenhänge zwischen den beiden braucht hier nicht eingegangen zu werden. 112 Vorstudien, (§ 3 F N 48), S. 103, 145, 228. 113 Luhmann, Rechtssoziologie, (§ 2 F N 4), S. 43, F N 32. 114 Gruppe, (§ 3 F N 2), S. 345; zum folgenden: S. 346f. 348. 110
III. Rechtssatz und Rechtsnorm
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Umgangs" abspielenden grupplichen Verhaltungsweisen umfassen. Die Nichtbeherrschung unmitteilbarer Schattierungen verunsichert und läßt den Betreffenden auffallen. „Allzu sklavische Verbundenheit an das generell Formulierbare der Lebensart verrät erst recht den Neuling". 3. Die Satzung ist nur „ein Hinzukommsei zu immanenter Ordnung, ist ohne sie undenkbar." Die Satzung ist als entworfenes Produkt der geistigen Leistung einzelner Menschen für eine konkrete Gruppe nicht konstitutiv. Der Satzungsakt ruft die Gruppe nicht ins Leben, sondern verleiht vorhandenen Gruppen eine andere, festere Form. Der „Darlebung" der immanenten Regelmäßigkeit tritt der Satzungsbeschluß hinzu. 1 1 5 Schematisierend sieht Geiger vier Typen der Ordnung. Zunächst ein unreflektiertes, dem Typ des Brauchs und der immanenten Ordnung entsprechendes Beobachten bestimmter Verhaltensweisen; zweitens die reflektierte, dem Typ der Sitte und der tradierten Ordnung entsprechende Beachtung hergebrachter Verhaltensweisen; drittens die Erhebung hergebrachter Regelinhalte zur formal motivierten, auf die Zukunft gerichteten Geltung (Typ des Gewohnheitsrechts); viertens das rationale, dem Gesetzesrecht und der Satzung entsprechende Ersinnen von Norminhalten, die künftig beachtet werden sollen. Alle vier Typen wirken auch heute zum größten Teil zusammen. Der letzte Typus läßt sich in seiner Wirkungsweise nicht losgelöst von den anderen erfassen. Diese Ordnungstypologie macht deutlich, daß der Typus Recht als eine an ganz bestimmte Voraussetzungen gebundene, späte Form der sozialen Ordnung erachtet wird. Der Satz, ubi societas ibi jus, hat für Geiger keine Geltung. Ohne soziale Ordnung meint er kann zwar keine Gesellschaft bestehen, aber „Gesellschaften ohne Recht gibt es und gab es". 1 1 6 Dies führt uns dazu, den Begriff der Rechtsnorm bei Geiger herauszuarbeiten. III. Rechtssatz und Rechtsnorm Die normtheoretischen Überlegungen Geigers bedeuten für das Recht, daß die Unterscheidung zwischen Rechtssatz und Rechtsnorm aufgewertet werden muß. Als erstes ist herauszustellen, worin der Rechtscharakter von Normen seinen Ursprung hat. 1 1 7 Recht wird als ein besonderer Ordnungstypus bezeichnet. Es ist eine Gebarenskoordination besonderer Art, die Gesellschaften einer besonderen Struktur zugehörig ist. 1 1 8 Die ethnologisch in primitiven Gesellschaften nachgewiesenen rechtähnlichen Befunde will Geiger nicht als Recht bezeichnen. Sie seien eher „Keime zu rechtlichen Erscheinungen". Der Name Recht sei für eine staatlich organisierte Sonderart sozialer Ordnung vorzubehalten. Anderenfalls müßte man den Rechtsbegriff maßlos erweitern. Man müßte 115 116 117 118
Ebd., S. 352. Vorstudien, (§ 3 F N 48), S. 352. Ebd., S. 169. Hier und zum folgenden: Ebd., S. 125 ff.
8 Gromitsaris
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§ 3 Normentheorie bei Theodor Geiger
zwischen „strukturell höchst verschiedenen Formen des ,Rechts'" unterscheiden. Geiger ist sich der Relativität seiner Rechtsdefinition bewußt. Definitionen seien „Krücken der Erkenntnis". Sie sollten vor allem handlich sein. Die Gedankenverknüpfung Recht-Staat ist insofern handlich, als sie nichtrechtliche (vorstaatliche) und rechtliche (staatsbezogene) Sachverhalte auseinanderhält. Sie verhindert, daß Kategorien der modernen gesellschaftlichen Vorstellungswelt auf ganz anders strukturierte soziale Wirklichkeiten angewandt werden. Trotzdem stellt sie nach dem gegenwärtigen Forschungsstand eine Verkürzung der Analyse dar. Recht wird als Erzeugnis einer gesellschaftlichen Entwicklung aufgefaßt. Es geht aus vorrechtlichen Ordnungsgefügen hervor, die sich durch langwierige Prozesse zu staatlichen, ordnungstragenden Gesellschaftsintegraten entwickeln. Wesentliches Begriffsmerkmal des Staates sei die „oberste Herrschaftsorganisation". 119 Von einer Rechtsordnung spricht Geiger demnach dann, wenn innerhalb eines Gesellschaftsintegrates eine übergeordnete Zentralmacht besteht. Sie wölbe sich über die einzelnen, nebeneinanderstehenden oder ineinander verschränkten Gruppenordnungen des Integrates. Das Recht überlagere eine Vielzahl von nicht rechtlichen Ordnungen. Die rechtliche Ordnung unterscheide sich von der vorrechtlichen dadurch, daß eine Apparat- und Organbildung zur Handhabung der Ordnung stattgefunden habe. Im rechtstragenden Gesellschaftsintegrat sei der Kontrollmechanismus nicht mehr spontan. In Anlehnung an Max Weber formuliert Geiger, daß unter der Rechtsordnung die Aufrechterhaltung der Norm und die Handhabung der Reaktion nicht mehr der spontanen Wirksamkeit der jeweils „Anderen" überlassen ist. Sie sei „eigens dafür geschaffenen Organen" anvertraut, die „ohne Ansehen der Person" situationsgemäße, verbindliche Gebarenserwartungen festlegen und durchsetzen würden. 120 Der Rechtscharakter von Normen habe seine Quelle in der Herstellung eines Bezugs zwischen Gebarenserwartungen und der verbeamteten Zentralmacht. Eine situationsgemäße Gebarenserwartung sei rechtlich verbindlich, sofern sie als Element in den gesamten, durch die politische Zentralmacht gesteuerten Rechtsmechanismus einbezogen sei. Diese Bezugnahme läßt einem proklamativ oder deklarativ statuierten Gebarensmodell Rechtscharakter angedeihen. 1. Die Verknüpfung von Gebarenserwartungen mit der bürokratischen Staatsorganisation hängt mit drei Problemkreisen zusammen, die auseinanderzuhalten sind. Es geht um die Zeitdimension, die Sozialdimension und den Machtbezug von Gebarenserwartungen. Geiger operiert unscharf und handelt Sozial- und Zeitdimension zusammen ab. In der Zeitdimension erfolgt die Konstitution der Normaktivität. In der Sozialdimension findet die Institutionalisierung statt. Normativität wird nach Geiger dadurch konstituiert, daß die Disjunktion Befolgung/Abweichungskorrektur durchgeführt wird. Im rechtstragenden Gesellschaftsintegrat beruht die Durchführung dieser Disjunktion 119 120
Hier und zum folgenden: Ebd., S. 129ff. Ebd., S. 131, 156.
III. Rechtssatz und Rechtsnorm
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einesteils auf der eingespielten Orientierungssicherheit und andernteils auf der Sanktionsbereitschaft von verbeamteten, besonderen Organen. In der Zeitdimension bedeuten Rechtsnormen nach Geiger, daß auch in der Zukunft ein Gebarensmodell unter staatlicher Sanktionsbereitschaft befolgt werden wird, im entgegengesetzten Fall wird es höchstwahrscheinlich durchgesetzt werden. Staatliche Sanktionierung oder zumindest Sanktionsbereitschaft bewirkt Stabilisierung gegenüber möglicher, künftiger Abweichung. In der Sozialdimension bedeutet der Staatsbezug die Erreichung einer sehr hohen Institutionalisierungsphase von Gebarenserwartungen. Die Herausbildung der Staatsbürokratie beruht auf der Etablierung eines Herrschaftsverhältnisses.121 Das verwickelte Kraftfeld von Machtverhältnissen läßt unter Umständen ein integrales Machtverhältnis entstehen, das das gesamte Gesellschaftsintegrat in seiner Ganzheit steuernd bestimmt. Sofern ein solches integrales Machtverhältnis in einer Gleichgewichtslage fest und dauernd zur Ruhe kommt, heißt es Herrschaftsverhältnis. Die Kontrolle des Herrschaftsapparats und die Beherrschung der Technik der Herrschaftsausübung seitens eigens dafür ausgebildeter Beamter wirken als sekundäre Machtfaktoren. Die Herrschaftsorgane werden bürokratisch „emanzipiert". Sie gewinnen durch ihren Anteil der Handhabung des Herrschaftsapparats eine „Schlüsselstellung" und eine besondere „funktionelle Macht". Die Herausbildung eines Herrschaftsverhältnisses ist ein Vorgang der „Veranstaltlichung" und Institutionalisierung. Die primäre Monopolisierung der integralen Macht wird durch eine kontingente Konstellation der interkursiven Machtverhältnisse möglich. Es ist aber „hinfort eine Institution geschaffen". Sie stützt sich auf sekundäre Machtfaktoren, die Verlagerungen in der Sphäre der interkursiven, gesellschaftlichen Machtverhältnisse absorbieren. Wer gegen die Institution handeln will, der muß Verschiebungen herbeiführen, die die „Beharrungskraft der Herrschafts- und Untertänigkeitsgewohnheiten" überzukompensieren vermögen. Wenn nun Gebarenserwartungen in den Betrieb dieses Herrschaftsapparats einbezogen werden, bedeutet dies, daß sie durch ein besonderes integrales Machtverhältnis unterstützt werden. Letzteres neutralisiert für die Erwartung die Schwankungen in den interkursiven Machtverhältnissen. Handeln wider Erwarten heißt in diesem Zusammenhang handeln gegen die Institution. Da ferner die integrale Macht das Gesellschaftsintegrat in seiner Gänze bestimmt, ist auch die durch sie unterstützte Gebarenserwartung mit gesamtgesellschaftlicher Relevanz versehen. Es stellt sich heraus, daß Recht „entschiedenermaßen" nicht das Gegenteil von Macht ist. Die Institutionalisierung des Inhalts der Rechtsnormen, die Gesamtheit der rechtlichen Gebarensmodelle ist in hohem Grade von der Machtstruktur der Gesellschaft abhängig. Die Tatsache, daß Geiger in der Herausbildung und Organisation der Zentralmacht einen Mechanismus rechtlicher Institutionalisierung erblickte, mißt den Regeln der Machtausübung eine besondere Bedeutung bei. Die „Veranstaltlichung" der 121
8=
Hier und zum folgenden: Ebd., S. 344ff.
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§ 3 Normentheorie bei Theodor Geiger
Macht beruht auf Entpersonalisierung und Formalisierung. Die Handhabung der Macht hängt nicht mehr von Personen ab und hat nach bestimmten Regeln zu erfolgen. 122 Soweit die Machtausübung „Verhängung" durch eine mit „Reaktionsmonopol" ausgestattete Instanz aufgrund eines ausgestalteten, förmlichen, regelrechten Verfahrens aufweist, und soweit eine „Gemessenheit" der Reaktion im Verhältnis zum Verstoße besteht, insoweit ist „die spontane Reaktion zur geregelten und organisierten rechtlichen Sanktion geworden". 123 Der Rechtszustand wird nun von dem der „schieren Macht" gerade dadurch unterschieden, daß die Macht nicht nach der Willkür des Augenblickes, sondern nach Regeln ausgeübt wird. Rechtsregeln bedeuten, auf die interkursiven Mach Verhältnisse einer Gesellschaft bezogen, daß die „Steuerung menschlichen Verhaltens in geregelten Bahnen erfolge". 124 Der Rechtszustand ist nicht das Gegenteil des Machtzustandes, sondern er ist „der Zustand gebändigter Macht". Die Rechtsnormen erweisen sich, auf den Begriff der Macht bezogen, als die „Modalität der Machtausübung", als die „Regulation" von Machtverhältnissen. Demnach bedeutet der Staatsbezug von Gebarenserwartungen nach Geiger sowohl ihre Institutionalisierung als auch die Eindämmung und Regulation des integralen Machtverhältnisses zwischen Staatsgewalt und Bürgern in der Gesellschaft. Im Hinblick auf die Herausarbeitung des Rechtsbegriffs hat Geiger sowohl Normierung als auch Institutionalisierung im Zusammenhang mit dem Staatsbezug von Gebarenserwartungen abgehandelt. Dies führte dazu, daß nicht eindeutig genug zwischen den beiden Mechanismen der Normierung und Institutionalisierung unterschieden wurde. Beide Mechanismen sind auch ohne Staatsbezug möglich. Rechtliche Gebarenserwartungen werden nicht ausschließlich in der bürokratischen Staatsorganisation normiert. Das gibt auch Geiger zu, indem er von deklarativen Rechtssätzen spricht. Bereits normierte Gebarenserwartungen werden gesetzlich deklarativ festgelegt. Was die Sozialdimension angeht, will Geiger den höchst möglichen Institutionalisierungsgrad für das Recht vorbehalten. Rechtlich sind diejenigen Gebarenserwartungen, die gesellschaftsweit zum Tragen kommen. Wenn also Geiger als Rechtskriterium den Staatsbezug von Erwartungen bezeichnet, so meint er damit vor allem die Generalisierung von Erwartungen in der Sozialdimension, d. h. die Institutionalisierung. Der Staatsbezug garantiert nicht nur die Realisierungsssicherheit durch Sanktionsbereitschaft. Er gewährleistet zugleich durch Institutionalisierung die Orientierungssicherheit. 2. Nach alldem läßt sich die Frage nach der Geltung der Rechtsnormen bei Geiger stellen. Sie bezieht sich auf zwei verschiedene Tatbestände. Sie betrifft erstens den Rechtscharakter von Normen; zweitens bezieht sie sich auf den Inhaltsumfang derselben. 122 123 124
Ebd., S. 150 f. Ebd., S. 157. Hier und zum folgenden: Ebd., S. 350ff.
III. Rechtssatz und Rechtsnorm
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a) Der Rechtscharakter wird nach Geiger durch Institutionalisierung verliehen. Sie erfolgt durch Einbeziehen der Norm in die Staatsorganisation. Rechtskriterium ist nicht die staatliche Sanktionsbereitschaft, sondern die gesellschaftliche Institutionalisierung. Die Orientierungssicherheit stützt sich auf die Institutionalisierung von Gebarenserwartungen. Selbst im Falle des Mangeins an Realisierungssicherheit, können Gebarenserwartungen als rechtlich bezeichnet werden, wenn sie hinreichend institutionalisiert sind. Die Ausführungen Geigers über das Völkerrecht erbringen dafür den Beweis. Die fehlende Erzwingbarkeit völkerrechtlicher Norminhalte und die Unzulänglichkeit der „embryonalen Zentralorganisation der Völker" bezeugt lediglich folgendes. Die Orientierungssicherheit ist erheblich größer als die Realisierungssicherheit. Das völkerrechtliche Leben stützt sich auf international institutionalisierte Erwartungen, die nicht in der typisch rechtlichen Art sanktionierbar sind, aber immerhin als Orientierungspunkte dienen. Übertritt man schon die Normen in re, ist man doch genötigt sie pro forma anzuerkennen. Die Verbindlichkeit der Normen des Völkerrechts reicht so weit, wie die „Interdependenz der Staaten im Weltkonzert eine Tatsache ist". 1 2 5 Geiger hat nicht die Konsequenzen daraus gezogen. Er hat die Institutionalisierung im Recht nicht an sich, sondern nur im engsten Zusammenhang mit dem Staat thematisiert. Er hat allerdings einen besonderen Prozeß der Ausstattung von Gebarensmodellen mit spezifisch rechtlicher Verbindlichkeit herausgearbeitet, der über die bürokratische Staatsorganisation hinausgeht, ohne sich jedoch von ihr loszulösen. 126 Dieser Mechanismus besteht aus sämtlichen Faktoren des Rechtslebens: Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit, Rechtswissenschaft, regelgeleitetes Verhalten der Bürger. Weder Gesetzgeber noch Gerichte, weder Rechtswissenschaft noch Gewohnheit können je für sich normierten Erwartungen Rechtscharakter verleihen. Die Faktoren, in denen der Rechtscharakter von Normen seinen Ursprung nimmt, nennt Geiger „Geltungsquellen" der Rechtsnorm. Kein einzelner Rechtsfaktor kann je für sich als Geltungsquelle in bezug auf Rechtsnormen angesehen werden. Der Gesetzgeber verleiht zwar durch Erlaß von Wortnormen programmatisch gewissen Gebarensmustern gesamtgesellschaftliche Relevanz, aber damit ist nicht entschieden, ob „die programmatische Forderung des Normsatzes" 127 von der Allgemeinheit der Bürger und vom Richter honoriert werden wird. Die richterliche Instanz wiederum „behauptet zwar als Handhaberin des Sanktionsmonopols" die Rechtsgeltung in den Normbruchsfallen, „aber die Geltung der Norm beschränkt sich ja nicht auf die Sanktionierung allein." Sie erstreckt sich vor allem auf die „gutwillige Fügung des Bürgers in die soziale Interdependenz" und auf seinen „unerpreßten 125 Ebd., S. 224f. „Wenn man sich scheut, den Terminus geltendes Recht auf solche Gebilde anzuwenden und zur Ruhe des theoretischen Gewissens unbedingt eines eigenen Terminus bedarf, mag man dergleichen als unvollständiges Recht, als Recht in statu nascendi oder als Juridoide bezeichnen." Auf die Bezeichnung kommt es Geiger nicht an. Ders., Über Moral und Recht. Streitgespräch mit Uppsala., Berlin 1979, S. 140 ff., 166ff. 126 Hier und zum folgenden: Vorstudien, (§ 3 F N 48), S. 169 ff. 127 Ebd., S. 171.
§ 3 Normentheorie bei Theodor Geiger
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Normgehorsam." Die faktische Verhaltensgeregeltheit kann nicht kraft Gewohnheit zu rechtlicher Geltungsquelle werden. Die „wissenschaftliche Rechtserkenntnis" endlich ist keine Geltungsquelle für sich, es sei denn, daß sich „eine in der wissenschaftlichen Diskussion vorgebrachte ,Rechtserkenntnis' im Rechtsleben durchsetzt." 128 Alle diese Faktoren tragen „zusammenwirkend und konkurrierend" dazu bei, daß gewisse Gebarensmodelle beliebigen Inhalts mit rechtlichem Verbindlichkeitsstigma ausgestattet, d. h. für die „Gebarenskoordination" innerhalb der gesamten Rechtsgesellschaft „maßgebend werden." Geltungsquellen sind somit sämtliche Faktoren des Rechtsmechanismus in ihrem Zusammenwirken. Recht ist nichts postuliertes normativ Gesolltes. Institutionalisierung im Recht beruht auf einer „strukturellen Gesamtverursachung". 1 2 9 Geiger operiert jedoch in diesem Zusammenhang unscharf. Wie ertragreich sein Begriff der Gesamtverursachung auch sein mag, er handelt doch drei verschiedene Tatbestände zusammen ab. Er spricht damit gleichzeitig die Normierung, Institutionalisierung und Wirksamkeit von Gebarenserwartungen an. Dies liegt daran, daß er Normativität als die Durchführung der Alternative Befolgung/Abweichungskorrektur ansieht. Die Frage der Wirksamkeit der Rechtsnorm erübrigt sich für ihn. Er hat sie in seine Normdefinition bereits eingebaut und mitabgehandelt. Nichtbefolgung und fehlende Sanktionsbereitschaft greifen die Normqualität und den Rechtscharakter der Gebarenserwartungen an. b) Bis jetzt sind die den Norminhalt betreffenden Überlegungen Geigers nicht in Betracht gezogen worden. Im folgenden Zusammenhang wird von der Quelle der Korrelation zwischen typischer sozialer Situation und sie beantwortender Gebarensweise die Rede sein. Geiger spricht in diesem Sinne von der Inhaltsquelle der Rechtsnorm. Quellen von Norminhalten sind Gewohnheit, Gesetzgebung, Rechtspraxis und Rechtswissenschaft. Ein sozialer Prozeß der „Verfestigung kollektiver Gewohnheiten" führt zur habituellen Entstehung von Gebarensmodellen, d. h. zu Gewohnheitsregeln, die dann durch „das Fungieren des Rechtsmechanismus" institutionalisiert und mit rechtlicher Relevanz versehen werden. 130 Die Bedeutung der Gesetzgebung als Inhaltsquelle von Rechtsnormen ist beileibe nicht so groß wie ihre Wichtigkeit als Geltungsquelle, d. h. wie ihre institutionalisierende Wirkung. Denn zum ersten legt sie gesetzlichdeklarativ Verhaltensmuster fest, die sozial konstituiert sind und schon lange bestehen. Zum zweiten wird sie in ihrer normschöpferischen Tätigkeit durch „faktische Bildungen des sozialen Milieus" und die „fachlich-rechtliche Diskussion" angeregt und beschränkt. „Rein konstruktiv erfundene Gesetzesbestimmungen" sind äußerst selten. Der Richter ist nicht nur in gewissen Fällen rechtsschöpferisch tätig, nämlich in den Fällen, wo er neues Recht auf die Weise konstruiert, daß er sich „bescheiden-verschämt auf analoge Anwendung einer 128 129 130
Ebd., S. 171. Ebd., S. 172. Ebd., S. 173.
III. Rechtssatz und Rechtsnorm
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schon bestehenden Norm oder auf ,die Natur der Sache' beruft." Darüber hinaus ist er bei jeder Entscheidung rechtserzeugend tätig. Die Subsumtion eines Lebensverhältnisses unter einen Tatbestand ist keine logische Operation, sondern eine unvermeidliche „Neudeutung des Norminhalts." Der Richter ist insofern Inhaltsquelle von Rechtsnormen, als er den ihm gegebenen Begriffsinhalt bestehender Normen „deutend modifiziert". 131 Die Rechtswissenschaft schließlich ist insofern Inhaltsquelle von Rechtsnormen, als sie durch die Vermittlung von Gesetzgebung und Gerichten zu Geltungsquelle erhoben wird. Nur dann sind ihre „rechtspolitisch gemeinten konstruktiven Vorschläge" als Norminhalte anzusehen. Nun läßt sich das Verhältnis zwischen Rechtssatz (Satzungsnorm) und Richternorm herausarbeiten. Die „scharfe funktionelle Scheidung zwischen Gesetzgeber und Richter" ist nicht aufrechtzuerhalten. Es läßt sich nur zwischen „Normstiftung im allgemeinen und Gesetzgebung im besonderen" unterscheiden, weil die „Funktionsmodalität der so gestifteten Normen" verschieden ist 1 3 2 : Die Neurechtserzeugung seitens des Richters erfolgt immer kasuistisch in concreto als „allgemeine Begründung für eine besondere Entscheidung." Die Richternorm wird „durch die mit deklarativem Normsatz begründete Sanktionierung" oder deren Ablehnung gesetzt. Sie nimmt zwar ihre Haltbarkeit und präjudikative Wirkung als Maßstab künftiger Entscheidungen in Aussicht, sie beinhaltet aber keine „programmatische Forderung" ihres Norminhalts. 133 Sie wird nicht proklamativ mit einem ihr immanenten „Zug der Prospektivität" statuiert, sondern als subsistente Norm geschaffen, die zugleich wörtlich deklariert wird. Ihr ist ein doppelter Aspekt eigentümlich. Befreit vom „Hindernis der programmatischen Statuierung ihres Norminhalts" ist sie als „Muster für künftige Entscheidungen" kontinuierlicher Anpassung an die Lebensprozesse fähig; andererseits gewährt ihr die durch die Autorität der richterlichen Instanz bekräftigte Deklaration ihres Inhaltes einen „Zuschuß an Beharrungskraft" 134 . Die Folgen der Entscheidungstätigkeit der richterlichen Instanz werden durch sich selbst aufgrund der Kenntnis des bisherigen Anwendungsgeschehens beurteilt. Aufgabe des Richters ist es, den zum Zeitpunkt des Normbruchs verbindlichen Geltungsumfang der subsistenten Norm zu ermitteln. Genau das geschieht nicht. Der Richter erforscht nicht den Bedeutungsumfang der subsistenten Norm zum Zeitpunkt des Normbruchs. Er beschränkt sich nicht auf die Beurteilung der zu dieser Zeit abgesetzten Entscheidungsgründe. Es wird vor allem die neuste höchstgerichtliche Rechtsprechung berücksichtigt. In der Zeit von der Normverletzung bis zum rechtskräftigen Urteil vergeht eine nicht unbeträchtliche Zeit. In dieser Zeit unterliegt die Normanwendung wesentlichen Veränderungen, die sich leicht in 131 132 133 134
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. 174, 175. S. 196. S. 197. S. 196 ff.
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§ 3 Normentheorie bei Theodor Geiger
den verschiedenen nunmehr jährlichen Auflagen der Kommentare feststellen lassen. Die rechtliche deklaratorische Wortnorm ist ebenso wie der proklamative Rechtssatz im Wandel begriffen. 135 Die Funktion der proklamativen Gesetzesvorschriften ist eine andere. Sie stellen „gedankliche Schemata" dar, in welche gewisse künftig erwartete Lebensverhältnisse einbezogen werden sollen. Geiger stellt die These auf, daß es den logischen Prozeß der Subsumtion schlechterdings nicht gebe, und die „Rechts-Neukonstruktion durch den Richter" die „durchgehende Regel" sei 136 . Der Inhalt des „verbal ausgedrückten begrifflichen Tatbestands — und Gebarens — Schemas" ist „punktuell, ausdehnungslos." Er ist nichts anderes als „ein dem Richter gegebener begrifflicher Bezugspunkt, der nicht ein Feld konkreter Fälle decken, sondern nur eine perspektivische Sicht auf sie bestimmen kann." 1 3 7 Durch Auslegung ist die Bedeutung des Norminhaltes nicht festzustellen. Auslegung und Anwendung verleihen dem Begriffsinhalt geradezu erst einen Bedeutungsumfang. Erst in der Anwendung des Normsatzes „gestaltet sich die subsistente Norm, gestaltet sich der nicht abstrakt — begriffliche, sondern konkret — inbegriffliche Typus, der für den wirklichen sozialen Geschehensablauf maßgebend ist." 1 3 8 Normsätze sind „begriffliche Skelette", erst die Anwendung konstituiert jenen „anschaulichen Inbegriff von Handlungsweisen, welcher der Beziehung des begrifflichen Inhalts des Normsatzes auf konkrete Fälle entspricht. Hinter der Fassade der „gewolltermaßen unveränderlichen" Wortnorm lebt eine gleitende, ihrem Inhalt nach ewig im Fluß begriffene subsistente Norm, und dies ist „ein Racheakt des Lebens gegen die Institution." 1 3 9 Die eher intendierte Starrheit des Satzes gewinnt in ihrer Handhabung als bloßer „begrifflicher Bezugspunkt für konkrete Tatbestände" faktisch unvermeidlich jene Biegsamkeit, die selbst den Absichten der richterlichen Instanz nach nicht auftreten sollte. Jeder neue Fall bewirkt eine Verschiebung des Normeninhaltes, indem er ihm eine neue Facette verleiht. Ein konkreter Fall wird dem Richter als „Entscheidungsaufgabe" gestellt. Er wird jedoch nicht „einer die Kette der Fälle in identischer Inhaltsbestimmung überdauernden Norm subsumiert", sondern einem Inbegriff früherer Fälle als ihnen angrenzend und verwandt beigeordnet. Erst aufgrund dieser Koordination wird ein Bezug zwischen konkretem Lebensverhältnis und begrifflichem Tatbestandsschema hergestellt. Das verbindliche Gebarensmodell der subsistenten Norm kann nie aus dem deklarativen oder proklamativen Normsatz 135
Wolfram Zitscher bemerkt, daß nicht selten die Entscheidung eines unteren oder mittleren Instanzgerichts „hinausgezögert" wird, um die neueste Rechtsprechung des übergeordneten Gerichts abzuwarten. In: Ders., Die Satzungsnorm — Sprachgehalt und Zeitbezug, in: ARSP, 65, 1979, S. 21—48, 37 ff., 40. Im folgenden zitiert: Die Satzungsnorm. 136 137 138 139
Vorstudien, (§ 3 FN 48), S. 197, 243. Ebd., S. 244. Ebd., S. 246. Ebd., S. 195, 246, 247.
III. Rechtssatz und Rechtsnorm
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abgelesen werden, „sondern ist in jedem einzelnen sozialen Lebensaugenblick die Quintessenz der tatsächlichen Normhandhabung" 140 . Die Tatsache, daß der Richter das für den Fall geltende Recht „lieber finden als er - finden" will, bezeichnet Geiger als klassisches Beispiel „berufsfachlicher Ideologiebildung." 1 4 1 Dies bedeutet jedoch nicht, daß der Normsatz inhaltlich völlig nach Belieben ausgelegt und angewandt werden könnte. Sein Verhältnis zu konkreten Tatbeständen ist durch die „sprachliche Konvention an einen gewissen Spielraum gebunden", der zwischen einem größten und einem kleinsten „Bezugsradius" liegt. Den Kern des Norminhalts stellt „der Komplex der klassischen Fälle, auf die der Normsatz seinem Buchstaben nach paßt." Innerhalb des Spielraums ist genaugenommen alle Normanwendung norminhaltlich rechtsschöpferisch und rückwirkend. Die Rückwirkung ist unumgängliche Eigenschaft der Rechtsanwendung. Sie liegt „im Fungieren des Rechtsmechanismus" und geht daraus hervor, daß es keine Identität zwischen konkreten Fällen gibt und daß sich der Bedeutungsumfang des Normsatzes in jedem Anwendungsfall „selber schmiegsam reproduziert". Der den einzelnen Fall beherrschende normative Inhalt wird „immer erst gestiftet, wenn der Fall" entschieden ist. Mit der Anwendung auf den konkreten Fall wird „Neu-Recht konstruiert und mit rückwirkender Kraft" angewandt. Rückwirkend ist hierbei nicht der Normsatz und sein begrifflicher Inhalt, sondern nur die „neue, erweiterte Determinierung" des inbegrifflichen Schemas hinsichtlich „der individuellen Bestimmtheiten" des konkreten Anwendungsfalles. 142 Es könnte der Eindruck entstehen, als ginge Geiger von zwei Normen aus, der proklamativen Satzungsnorm und der deklarativen Richternorm. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Geltungssubstanz des proklamativen Rechtssatzes wird von den Bürgern einerseits und der richterlichen Instanz andererseits bestimmt. Die Funktionsmodalität des Rechtssatzes liegt in seinem Zug der Prospektivität. Die prospektivische Funktion liegt darin, daß die Begriffe des Rechtssatzes dem Richter als Bezugspunkt dienen sollen, damit er seinen Bedeutungsumfang festlegt und stiftet. Die Funktion des Rechtssatzes läßt sich im Hinblick auf die Rechtsanwendung festlegen. Er stellt eine „programmati140
Ebd., S. 248 f., 250f. Theodor Geiger, Vorstudien, S. 255. Zur Berufsideologie und Ideologiekritik im allgemeinen: Theodor Geiger, Ideologie und Werturteil, in Kurt Lenk (Hrg.), Ideologiekritik und Wissenssoziologie, Darmstadt—Neuwied, 1972, S. 228-234: „Ideologien sind Gedanken oder Gedankenreihen, die der Wirklichkeit nicht entsprechen" (S. 228) Ideologie ist somit unechte Theorie, ScheinTheorie. Sie ist ein „theoretisch gemeintes aTheoretisches". Sie ist eine „para-theoretische Erscheinung", Umdeutung oder Verkleidung eines „Gefühlsverhältnisses des Denkenden zu Realfaktoren". Sie ist „Theoretisierung und Objektivierung eines primären Gefühlsverhältnisses" (S. 231); ders., Ideologie, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Tübingen 1954, S. 179-184; ders., Ideologie und Wahrheit. Eine soziologische Kritik des Denkens, Stuttgart—Wien, 1953, Neudruck: Soziologische Essays, Neuwied—Berlin 1968, mit einer „Nachbemerkung" von F. Benseier, S. 165 ff. 141
142
Vorstudien, (§ 3 F N 48), S. 261 f., 262 f., 266ff.
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§ 3 Normentheorie bei Theodor Geiger
sehe Kundgebung", eine „programmatische Intention" im Hinblick auf die generelle Tätigkeit von Richtern und Rechtsstab sowie angesichts des Verhaltens der Bürger dar. 1 4 3 In seiner Prospektivität zielt der Rechtssatz auf die Steuerung künftiger Ereignisabläufe. Er bezieht seine Bedeutung aus der Vorstellung künftiger, möglicherweise einzutretender Situationen und nicht aus dem Zeitpunkt der Normproklamation. Er ist auf die Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen Situation hin angelegt. Nach der Proklamation löst sich der Rechtssatz vom Situationskontext. 144 Einesteils wird die Bedeutung seiner Begriffe in der jeweiligen Situation ihrer Verwendung seitens des Richters gestiftet. Anderenteils unterliegt sie den Verschiebungen, die die faktische Verhaltensorientierung seitens der Bürger herbeiführt. Die Festlegung einer Rechtsnorm in der Sachdimension erfolgt jedenfalls im Nachhinein, nachdem Richter entschieden und Bürger gehandelt haben. c) Die Geltungsfrage hat bei Geiger eine „zweifache Richtung", sie betrifft das Ob und das Was. Im ersten Fall geht es um das „Funktionsverhältnis" zwischen „irgendwie bestimmten Gegebenheiten", nämlich sozialer Situation, Gebarensmodell, Adressaten, Benefiziaren. Es geht also um den Verbindlichkeitscharakter. Im zweiten Fall ist die Bestimmtheit der eben genannten Gegebenheiten und nicht die auf^ sie bezogene Alternativwirkungschance fraglich. Das wird als die „substantielle Geltungsfrage" bezeichnet und macht die Verbindlichkeitssubstanz oder Geltungssubstanz einer Norm aus. Das „Feld konkreter Tatbestände", welches die Geltungssubstanz umfaßt, ist der Verbindlichkeits- oder Geltungsumfang der Rechtsnorm. 145 Die substantielle Geltung rührt von den Inhaltsquellen, die formelle Geltung von den Geltungsquellen der Rechtsnorm her. Die Anwendung leistet einen Zuschuß an Verbindlichkeitssubstanz. Sie reproduziert „von Fall zu Fall die Geltungssubstanz der Norm in schmiegsamer Fortbildung". Es gibt noch einen dritten Geltungsbegriff, den Geiger als die „juristische Geltungsfrage" bezeichnet. Sie betrifft ein Sollen. Sie handelt davon, „welchen Gebarensmodellen durch Sanktionsverhängung rechtliche Verbindlichkeit verliehen werden soll," und wird als juridische Geltung bezeichnet. Es ist seine Auffassung, daß die Antwort darauf nicht theoretischer, sondern nur rechtskonstruktiver Art sein kann. Dies selbst dann, wenn 143
Ebd., S. 65. Zitscher, Die Satzungsnorm, (§ 3 FN 135), S. 41 ff.; ders., Die Normentheorie in der Rechtssoziologie Theodor Geigers und der Grundsatz „nullum crimen sine lege", in: Rüdiger Lautmann u.a. (Hrsg.). Die Funktion des Rechts in der modernen Gesellschaft, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 1, S. 235-256, 249 ff. Im folgenden zitiert: Die Normentheorie. 144
145
Geiger, Vorstudien, (§ 3 F N 48), S. 213. Vgl. Rupert Schreiber, Die Geltung von Rechtsnormen, Berlin, Heidelberg, New York 1966. Die Frage nach dem Geltungsumfang der Rechtsnorm schneidet Schreiber im Kapitel über „die Lehre von der Auslegung auf der Grundlage der Lehre von der Rechtsgeltung" an. (S. 156ff.). Er hält eine klare „Unterscheidung von Auslegung, Präzisierung und Rechtsschöpfung" für erforderlich, was Geiger ablehnt, weil er es für unmöglich erachtet. (S. 164 ff.). Vgl. die Rezension des Buches durch: Waltraut Brun, in: Rechtstheorie 2 (1971), S. 112-116.
III. Rechtssatz und Rechtsnorm
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theoretische Überlegungen den Überblick über die Sachlage zunächst geklärt haben. „Es geht nicht um rechtswissenschaftliche Schlüsse, sondern um rechtskonstruktive Entschlüsse." So gesehen stellt die „juridische Geltung" einen Fall der substantiellen Geltung und der rechtlichen Institutionalisierung dar. Die Geltungsfrage bleibt dementsprechend doppelseitig. 146 Formelle Rechtsgeltung bedeutet gesamtgesellschaftlich beachtliche Alternativwirkungschance, die nicht auf eine einzelne Ursache, auf einen einzelnen Faktor des Rechtslebens zurückgeführt werden kann. Proklamative Normstiftung, Sanktionierung, Verhaltensgeregeltheit und rechtsdogmatische Begriffsbildung können nur in einem „interkonnektiven" Operieren die Einheit der Differenz Befolgung / sanktionierbarer Normbruch konstituieren und ihr zugleich gesamtgesellschaftliche Relevanz gewähren. Was nun die substantielle Rechtsgeltung angeht, so ist eine Rechtsnorm mit derjenigen Substanz verbindlich, „welche die Anwendung ihr verleiht und für die Tatbestände, auf die sie tatsächlich angewendet wird." Demnach ist Rechtsgeltung in ihrer Doppelseitigkeit das Ergebnis gegenseitiger „Anpassung und Abstimmung zwischen einer Reihe von Faktoren", die den gesamten Rechtsmechanismus ausmachen. Eine geltende Rechtsnorm ist nach Geiger das Ergebnis einer „strukturellen Gesamtverursachung", ihre Ursache ist der „dynamischen Struktur des ganzen Systems zuzuschreiben". 147 Aus der bisherigen Analyse geht hervor, daß der Normsatz beileibe nicht geltende Rechtsnorm ist. Seine Verbindlichkeit hängt von den Entscheidungen der richterlichen Instanz und auch davon ab, „inwieweit die in diesen Entscheidungen sich abzeichnenden Beurteilungsmaßstäbe sich im Rechtsleben durchsetzen." Er bleibt ein bloßes Wortwerk, wenn er von den anwendenden Instanzen ignoriert wird. 1 4 8 Die Umsetzung des begrifflichen Inhalts des proklamativen Normsatzes in eine subsistente Norm erfolge nach Geiger nicht 140
Vorstudien, S. 253 ff., 259 ff. Schreiber, ebd., unterscheidet zwischen drei einzelnen Begriffen der Geltung von Rechtsnormen. 1. Die faktische Geltung, die derartige Wirksamkeit bedeutet, daß Tatbestandserfüllung Rechtsfolge mit sich bringt. 2. Die verfassungsmäßige Geltung, die sich aus der Übereinstimmung der Rechtsnorm mit den Vorschriften über die Geltung von Rechtsnormen ergibt. 3. Die ideelle Geltung, die bedeutet, daß eine Rechtsnorm „von einem Autor als allgemeine Lösung eines Interessenkonfliktes" vorgeschlagen ist. Nach Schreiber haben alle Rechtsnormen ideelle Geltung, die „weder faktisch noch verfassungsmäßig gelten. (S. 58, 64, 65). 147 Vorstudien, S. 170f., 260f. 289. Vgl. die Ausführungen Schreibers ebd., über „Rechtsnormen als Prognose für die Rechtsgenossen" (S. 148 ff.) über die Rechtsnorm als „Anweisung an die Staatsgewalt" (S. 151 ff.) und die Rechtsnorm „als Empfehlung zur Lösung von Interessenkonflikten". Es wird der gesamte Rechtsmechanismus angesprochen (S. 153 ff.). 148
Vgl. Wolfram Zitscher, Rechtssoziologische und organisationssoziologische Fragen der Justizreform, Köln u.a. 1969. In Anlehnung an Geiger behauptet er, daß die Gewaltenteilung neu zu überprüfen ist. Hinsichtlich der rechtssetzenden Funktion der gesetzgebenden Instanz und der rechtsstiftenden Tätigkeit der anwendenden Instanz muß das „Abgrenzungsproblem in der Bildung materiellen Rechts durch Gesetzgebung und Richterspruch" auf neue Grundlagen gestellt werden (S. 15).
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§ 3 Normentheorie bei Theodor Geiger
ausschließlich durch Sanktionsverhängung, sondern auch durch Sanktionsbereitschaft des gesamten Richterkorps. A u f diese Sanktionsbereitschaft rechne der Bürger, wenn er an einen Gesetzesparagraphen denke. Sie mache zusammen mit der Bereitschaft der richterlichen Instanz, „als Institution die Anwendung des Satzes seitens der einzelnen Richter durchzusetzen", die Verbindlichkeit der verbal fixierten Normprojektion eines Gesetzesparagraphen aus. 149 Daraus sei zu entnehmen, daß das, was in einem konkreten Fall rechtens sei, „immer einigermaßen im Ungewissen" stehe, denn es könne nicht aus Normsätzen herausgelesen und auch nicht aus der „bisherigen Rechtshandhabung" mit Sicherheit erschlossen werden. Die Rechtssicherheit erlaube mithin als Ordnungsgewißheit und Ordnungszuversicht ein „Verbindlichkeitskalkül". Dessen Anhaltspunkte seien gesetzlich-begriffliche Tatbestandsschemata, relativ konstante Entscheidungstypen, rechtswissenschaftliche Lehrmeinungen und die Verhaltensorientierung der Bürger. 150 In der Begrifflichkeit Geigers sind als Richtlinien für die Durchführung des Kalküls drei Aspekte angeführt: aa) Das System der gesetzlichen begrifflichen Bezugspunkte für konkrete Tatbestände.151 bb) Die während der Vorbereitung und der parlamentarischen Erörterung von Gesetzesentwürfen in Gang gekommene Diskussion. 152 cc) Die Tatsache, daß die Öffentlichkeit die Übertretungsmöglichkeiten der Formel für die Alternativwirkungschance des Gesetzes vorauszufühlen versucht. Dies geschieht, noch ehe der erste konkrete Fall zur Aburteilung vor die Rechtspflegeinstanz gebracht ist. Eine wichtige Rolle spielen dabei einerseits der „gemeine Menschenverstand" und die konventionelle Sprachbedeutung von Rechtsbegriffen; andererseits die Vertrautheit mit den Grundlinien und der instituionellen Tätigkeit im jeweils aktuellen Rechtszustand.153 Das Verbindlichkeitskalkül muß demnach die vorangegangene Diskussion über die möglichen Gesetzesfolgen für die rechtliche Entscheidungstätigkeit berücksichtigen. Es hat ferner das soziale Milieu selbst und seine Veränderungen mit in Rechnung zu stellen. Die Funktionsweise des Rechtsbetriebs soll in Fällen, in denen neue Tatbestandstypen zu ordnen sind, wegweisend wirken. 1 5 4 Dem Verbindlichkeitskalkül des Bürgers steht ein „Durchsetzungskalkül des Richters" gegenüber. In seiner Urteilstätigkeit „kalkuliert der einzelne Richter unter anderem auch danach, welche Entscheidung Aussicht hat, sich in der Judikative allgemein durchzusetzen" 155 . 149
Vorstudien, (§ 3 F N 48), S. 240f., 263 ff. Ebd., S. 277 f. 151 Ebd., S. 279. 152 Ebd., S. 281. 153 Ebd., S. 282. 154 Ebd., S. 285 f., 287f. Zitscher, Die Normentheorie, (§ 3 F N 144), S. 254. 155 Vorstudien, (§ 3 FN 48), S. 289. Diese ideologiekritischen Bemerkungen Geigers vermögen nach Rudolf Wassermann zu leisten, „was heute sehr bitter not tut, nämlich dem Richter zu zeigen, worin seine Tätigkeit eigentlich besteht". Rudolf Wassermann, Zur 150
III. Rechtssatz und Rechtsnorm
125
3. Aus diesen Ausführungen wird klar, daß Rechtsnormen bei Geiger bei weitem nicht ausschließlich an den Rechtsstab gerichtet sind. Das Verbindlichkeitskalkül muß auch das Verhalten der Bürger in Betracht ziehen. Die Definition der Norm als einer Alternativwirkungschance, bei der zumindest Sanktionsbereitschaft unentbehrlich ist, könnte jedoch zur Annahme verleiten, daß die Erzwingbarkeit Rechtskriterium und der Staatsapparat der ausschließliche Normadressat sei. Dabei ist die Unauffalligkeit der Normkonformität in der Orientierungssicherheit als Geltungselement und Eigenschaft der Rechtsnorm anzusehen. Das darf nicht außer acht gelassen werden, wenn man von Geiger als Zwangstheoretiker spricht. Auch bei ihm sollte man sich bei der Überlegung, ob der Zwang notwendig zur Struktur der Rechtsnorm gehöre, davor hüten, anstatt der Normstruktur verschiedene Sanktionierungsarten, d. h. Reaktionen auf ein Abweichungsverhalten zu untersuchen. Denn auf diese Weise wäre nur eine Seite des Rechtsphänomens, die Ausnahme und nicht der normale Zustand, in Betracht gezogen. Das wäre als ob man Gesundheit durch ihre verschiedenartigsten Negationen und das an ihnen orientierte medizinische Verhalten zu erklären versuchte. Die organisierte Sanktion ist Reaktion auf eine Normübertretung und stellt selber ein „Gebarensmodell", eine die primäre übertretene Norm überbauende „sekundäre Norm", dar. Man gewinnt deswegen keine Einsicht in die Struktur der Rechtsnorm, wenn man ihre Sanktionierung untersucht, weil sich der Untersuchungsgegenstand unmerklich verschiebt. Man geht von der „Aktions- zur Reaktionsnorm" über, oder man erforscht die Bewandtnis ihres gegenseitigen Verhältnisses, ohne auf die eigentliche Strukturproblematik einzugehen.156 Die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Normen bedeutet, daß alle Rechtsfaktoren von Rechtsnormen adressiert werden und bei der Stiftung von Rechtnormen „interkonnektiv" mitwirken. Die primären Normen richten sich vor allem an den Bürger. Sie sollen die Orientierungssicherheit im Gesellschaftsintegrat gewährleisten und herbeiführen. Die sekundären Normen richten sich vor allem an die Zentralmacht. Letztere soll durch ihre Reaktionsbereitschaft die Verbindlichkeit der primären Normen konstituieren. Die sekundären Normen garantieren demnach die Realisierungssicherheit im Gesellschaftsintegrat. Beide verwendeten Begriffe, des Programmes bezüglich des Rechtssatzes und der Bereitschaft bezüglich der Sanktion, führen in die Rechtsgeltung Wahrscheinlichkeiten, Chancen, soziale Tendenzen ein und bekräftigen die Wichtigkeit der Orientierungssicherheit für die Verbindlichkeit von Rechtsnormen. 157 Geltende Rechtsnormen sind die Soziologie des Gerichtsverfahrens, in Wolfgang Naucke, Paul Trappe (Hrg.) Rechtssoziologie und Rechtspraxis, Neuwied—Berlin, 1970, S. 127-154, 137. 156 Vorstudien, S. 139, 145. 157 Auf Sanktionsbereitschft und nicht auf Erzwingung kommt es auch beim Begriff der Rechtswidrigkeit an. Sie ist die „Unvereinbarkeit eines tatsächlichen Sachverhaltes oder eines menschlichen Verhaltens mit der Ordnung, die vom rechtsstiftenden und rechtsdurchsetzenden Willen im Staat programmatisch statuiert wird. Einige rechtswidrige Handlungen sind mit Strafe belegt, andere mit anderen Reaktionen.", in: Geiger, Über Moral und Recht. Streitgespräch mit Uppsala., (§ 3 F N 125), S. 165.
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§ 3 Normentheorie bei Theodor Geiger
„teils vorauskalkulierende, teils nachträglich berichtigende" 158 , immerwährende Strukturierung des Zusammenspiels zwischen organisationsgestützten und orientierungssicheren Verhaltensweisen. Rechtssatz und Rechtsnorm sind nicht identisch. Die Themen, auf die sich die verbindlichen Gebarenserwartungen beziehen, lassen sich aus dem Rechtssatz allein nicht ablesen. Sie sind im ständigen Wandel begriffen und werden erst durch die eigentliche Kommunikationsstrukturierung im Rechtsleben gestiftet. Bürger, Rechtsanwälte und Richter müssen unter dem jeweiligen Situationsdruck zunächst einmal trotz Undefiniertem oder problematisiertem Erwartungsinhalt weiterhandeln. Alle drei vollziehen zusätzlich neben ihrem eigenen Handeln eine mitlaufende Selbstbeobachtung. Es ist theoretisch einerlei, ob diese minimal ist. Sie vollziehen zugleich eine Fremdbeobachtung des Handelns der anderen Rechtsfaktoren. Fremd- und Selbstbeobachtung speichern und wählen die Erwartungsverschiebungen in der Sachdimension aus. Jeder Faktor des Rechtslebens handelt und beobachtet sich selbst und die anderen. Bürger und ihre Rechtsanwälte stellen ihr Verbindlichkeitskalkül, Richter ihr Durchsetzungskalkül an. Es ist zu beachten, daß keine zentrale Beobachtungsstelle und Normstiftungsstelle des Rechtssystems im Ansatz Geigers vorgesehen ist. Die Rechtswissenschaft hat insofern eine besondere Beobachtungsrolle, als sie am weitgehendsten vom Situations- und Handlungsdruck entlastet ist. Der Begriff der strukturellen Gesamtverursachung tut die Art der Festlegung von Gebarenserwartungen sowohl in der Sach- als auch in der Sozialdimension kund. Der Geltungsumfang der subsistenten Norm wird nicht nur durch Gesetzgeber und Richter, sondern auch durch das Verhalten der Bürger mitgestiftet. Die Institutionalisierung von Erwartungen im Recht beruht auf dem Aufeinanderbezogensein sämtlicher Rechtsfaktoren. Die staatliche Sanktionsbereitschaft darf ebensowenig fehlen wie ein anderer Faktor. Was nun den Staatsbezug von Gebarenserwartungen angeht, so hat Geiger ihn nicht als einen besonderen Fall von rechtlicher Institutionaliserung und Normierung von Gebarenserwartungen verstanden. Er stellt für ihn die einzige Möglichkeit der Institutionalisierung überhaupt für das Recht dar. Das hat ihn davon abgehalten, die Struktur von nichtstaatlichem, systemspezifischem Recht herauszuarbeiten. Verbindlichkeits- und Durchsetzungskalkül müssen jedenfalls vor allem berücksichtigen, ob und inwiefern die beobachteten faktischen Verschiebungen der themenbezogenen Erwartungen institutionalisierbar sind. Die Institutionalisierbarkeit der ständigen Norminhaltsveränderungen stützt sich darauf, daß die neuen Inhalte in das nächste Verbindlichkeits- und Durchsetzbarkeitskalkül eingehen könnten. Für die Institutionalisierung ist es nicht nötig, daß der Wortlaut des Rechtssatzes nachträglich verändert wird. Was nun insbesondere die Entstehung der Wortgestalt der deklaratorischen Norm des Richters angeht, so kann diese als eine „Form der Sprachanwendung" angesehen werden. 159 Mit 158 159
Vorstudien, (§ 3 FN 48), S. 289. Zitscher, Die Satzungsnorm, (§ 3 FN 135), S. 30.
III. Rechtssatz und Rechtsnorm
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jedem Sprechvorgang werden die Regeln für den sprachlichen Gebrauch von Rechtsbegriffen verändert und ergänzt. 160 Es wäre aber nicht im Sinne Geigers, wenn man die Pluralität von Handlungs- und Beobachtungschancen der verschiedenen Rechtsfaktoren vor der Einheitlichkeit einer Sprachgemeinschaft zurückdrängen würde. 161 Auch die Regeln für den Sprachgebrauch von Rechtsbegriffen werden nicht durch eine einzelne Instanz oder Sprachgruppe gestiftet und verändert, sondern durch das Aufeinanderbezogensein aller Rechtsfaktoren. Dies läßt sich leicht den Ausführungen zum Begriff der strukturellen Gesamtverursachung entnehmen. So verstanden erinnert dieser Begriff an die Grundlage von Schelskys Rechts- und Normentheorie also, an die juridische Rationalität. Auch sie beruht auf einem Zusammenspiel sämtlicher Rechtsfaktoren, auf der institutionellen Gestaltung des Instanzen- und Rollenspiels im Rechtssystem.
160
Ebd., S. 34ff. Gerade deswegen spricht Zitscher, ebd., S. 35, von verschiedenen Sprachgruppen und Sprachträgern. 161
Zweiter Abschnitt
Theorie der Rechtsnormen, Rechtsgeltung und Rationalität des Rechts § 4 Geltungsgrundlagen der Rechtsnorm bei Rudolph von Ihering Im folgenden wird der Versuch unternommen Iherings substantiellen und formellen GeltungsbegrifT herauszuarbeiten. Die geschriebenen Rechtssätze sind für ihn nur die Spitze des Eisberges, „die äußeren praktischen Spitzen des Rechts." 1 Sie entstehen vornehmlich durch zielbewußtes Denken unter dem Druck von Konflikten und Notsituationen. Das Verhältnis des proklamativen Normsatzes zur subsistenten Norm ist mit der Problematik von den Inhaltsquellen und Geltungsquellen der Rechtsnorm verknüpft. Ihering bezeichnet diese Problematik als das Problem der Rechtsverwirklichung. „Das Recht ist dazu da, daß es sich verwirkliche. Die Verwirklichung ist das Leben und die Wahrheit des Rechts, ist das Recht selbst." 2 I. Inhaltsquelle der Rechtsnorm Der Normsatz wird dynamisch-funktionell aufgefaßt. Seine Verbindlichkeitssubstanz kann vom Gesetzgeber nur „approximativ" zum Ausdruck gebracht werden. Um diesen Tatbestand wiederzugeben, bedient Ihering sich der naturwissenschaftlichen Begrifflichkeit und Bildsprache seiner Zeit. Er vermißt eine „Theorie der legislativen Technik", denn es sei ein „empfindlicher Mangel", daß die „in allen Rechten und auf allen Stufen der Rechtsentwicklung" vorhandene legislativ-politische Fundamentaloperation geringe Beachtung finde. 3 Schon im ersten Band des „Geist" hat er die Grundlagen zu dieser Theorie geschaffen. Ausgangspunkt ist die funktionale Betrachtungsweise der verschiedenen Rechtsfaktoren. „Der Zweck der Organe liegt in ihren Funktionen; die Organe sind vorhanden, damit sie bestimmte Verrichtungen ausüben." Es ist die „Kenntnis der Funktionen des Rechts", die zum Verständnis seiner Organe führen muß. Die „Physiologie" führt zum „wahren Verständnis der Anatomie" 4 . Der Wert eines Normsatzes liegt demnach in „seinen Funktionen, 1
Geist I, S. 26, 28; Entwicklungsgeschichte, (§ 2 F N 18), S. 13, 15. Geist I I 2, S. 322. 3 Rudolph von Ihering, Der Besitzwille. Zugleich eine Kritik der herrschenden juristischen Methode, Jena 1889 (Neudruck: Aalen 1968), S. 150. 4 Geist I, S. 48. 2
I. Inhaltsquelle der Rechtsnorm
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d.h. in seiner praktischen Brauchbarkeit". Die Paragraphen, der Text, den das Gesetz oder andere Rechtsformulierungen aufstellen, sind als ein Plan zu verstehen. „Die Formulierung des Rechts, die wir vor uns liegen haben, ist nichts als der Plan einer Maschine; die beste Erläuterung und zugleich die Kritik desselben gibt uns die Maschine, wenn sie geht". 5 Da die beste Eigenschaft eines Plans seine Realisierbarkeit ist, erweist sich auch als wohl wichtigster Vorteil des Normsatzes seine „Praktikabilität". 6 Letzere wird in materielle und formelle Realisierbarkeit zerlegt, nämlich in die „Brauchbarkeit" und „Angemessenheit der materiellen Bestimmungen" einerseits und in die „Leichtigkeit und Sicherheit der Anwendung des abstrakten Rechts auf die konkreten Fälle" andererseits. Die „bei jedem einzelnen Fall von neuem" zu lösende Aufgabe des Umsatzes der „abstrakten Regel in konkretes Recht" hängt zwar teils „von der Geschicklichkeit und juristischer Diagnose des Anwendenden" ab, vor allem aber von dem Erkennbarkeitsgrad der an die Bestimmungen angeknüpften Kriterien der Anwendbarkeit. 7 Diese Rücksicht auf die Leichtigkeit der Anwendung legt Ihering den Vergleich des Gesetzgebers mit einem Maschinenbauer nahe. Unpraktikable Normsätze gleichen dem Plan einer Maschine, „welche durch Reibung die Kraft, die sie erzeugt, selber consumirt". Dem Gesetzgeber biete sich folgende doppelte Möglichkeit, und zwar der ihm vorschwebenden Idee „abstrakt-approximativ" möglichst nahe zu kommen, was an sich eine genauso unlösliche Aufgabe wie die Quadratur des Kreises sei, und zugleich, sich auf das individualisierende richterliche Erkennen zu verlassen. Das Postulat der praktisch angemessenen Gestaltung der Rechtssätze impliziert die Einsicht Iherings in die gähnende Kluft zwischen angewandter Norm und begrifflichem Tatbestandsschema. Die „legislative Substituierung" der praktikablen, an möglichst handfeste Kriterien angeknüpften Form der Rechtssätze an Stelle der unpraktikablen setzt ein besonderes Verständnis der Verbindlichkeitssubstanz von Normsätzen voraus. Sie wird als „approximative Surrogationsmethode" bezeichnet.8 Die Verbindlichkeitssubstanz kann nur „vom Standpunkt des wirklichen Lebens", der eigentlichen Anwendungspraxis aus begriffen werden. Diesen Gedanken hat Ihering in seinem posthum veröffentlichten Aufsatz über den Takt explixit und prägnant formuliert. Die Normsätze werden im Hinblick auf ihre Anwendung proklamativ aufgestellt. Ihr Norminhalt ist in praktisch angemessener Weise gestaltet, aber er wird bei seiner Verwirklichung unvermeidlich Gleitungen und Verschiebungen erleiden. Es wird hier der Einfluß ins Auge gefaßt, den die ergänzende Tätigkeit des Richters bei der Anwendung des Rechts auf die Fortbildung desselben ausübt. „Dieselbe wendet sich zunächst nur dem einzelnen Fall zu und erschöpft sich an ihm. Aber nach und nach bildet sich aus der Entscheidung der einzelnen Fälle, wenn die richtige einmal getroffen ist und unausgesetzt sich wiederholt, ein fester Niederschlag: eine im 5 6 7 8
Geist I, S. 48, 50. Geist I, S. 51 (Fußnote 19a). Geist I, S. 52 f. Der Besitzwille, (§ 4 F N 8), S. 146, 148, 150.
9 Gromitsaris
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§ 4 Geltungsgrundlagen der Rechtsnorm bei Rudolph von Ihering
Gesetz überhaupt nicht oder wenigstens in dieser Fassung nicht enthaltene Regel. Wie bei der galvanoplastischen Vergoldung die einzelnen Atome des Goldes sich nach und nach ablagern, bis sie schließlich eine feste Kruste bilden, so hier aus den einzelnen richterlichen Urteilen ein Rechtssatz. Das Konkrete ist hier wie in der Sitte und im Gewohnheitsrecht die Form, in der das Abstrakte zuerst den Boden der Wirklichkeit betritt. Die durch den Gesetzgeber nötig gemachte ergänzende Tätigkeit des Richters erhebt sich aus der Sphäre des Konkreten oder Individuellen in die des Abstrakten, sie erweitert den Bereich des Rechts, schiebt wie beim Eindeichen die Dämme immer weiter vor und gewinnt dem Meere neues festes Land ab. Aber diese Tätigkeit ist nur da am Platz, wo das Terrain sich danach eignet, und damit kommen wir auf den obigen Gegensatz zurück. Die elastischen Rechtssätze bieten dazu keinen Anlaß, sie sind ihrer Bestimmung nach flüssig und sollen es bleiben — sie vergegenwärtigen uns, um den obigen Vergleich beizubehalten, das flüssige Element des Meeres, das der Gesetzgeber selber der Rechtsform hätte gewinnen wollen, oder das er hätte gewinnen sollen, bildet den Schauplatz jener richterlichen Tätigkeit; was er unterlassen, holt hier der Richter nach, sei es, indem er bei den schlecht gefaßten Gesetzen den richtigen Sinn feststellt oder bei den inhaltlich unvollkommen gedachten im Geist des Gesetzes die Lücke ergänzt oder bei dem gänzlichen Mangel einer Rechtsregel die geeignete aufsucht." 9
Nun läßt sich der zentrale Begriff der Rechtsverwirklichung bei Ihering näher bestimmen. Es wird damit vor allem eine Diskrepanz gemeint. Die Diskrepanz zwischen der scheinbaren Starrheit des Norminhalts eines Rechtssatzes und der Geltungssubstanz, die ihm durch anwendende Tätigkeit und verhaltensbezogene Regelbefolgung zugeführt wird. Der „gesunde Sinn" des Anwenders greift fortbildend ein, indem er das Gesetz nicht auf das Gesagte, sondern auf das Gemeinte hin interpretiert. 10 Die Rechtssätze sind der formulierte Teil des Rechts, der zwar ins Auge springt, aber vom Rechtsleben kein Zeugnis ablegt. Sie sind „Abstraktionen", „rohe Umrisse", im wesentlichen darauf berechnet, durch die „lebendige Anschauung" ergänzt und vervollständigt zu werden. Zwischen den Rechtssätzen und den Rechtsnormen, wie sie tatsächlich zur Anwendung gelangen, „herrscht sowohl in qualitativer wie quantitativer Hinsicht die größte Differenz." 11 Niedergelegte Wortnormen können in doppelter Hinsicht abstrakte begriffliche Schemata, rohe Umrisse sein, und zwar einmal als deklarative, darstellende Norminhalte, die andere wirkende, subsistente Normen unformuliert belassen. Andererseits können sie als proklamative Norminhalte dienen, die erst durch deutende modifizierende Anwendung ihren eigentlichen, ständig gleitenden Bedeutungsumfang erhalten. „Die Wirklichkeit beglaubigt erst den Text als wahrhaftes Recht. 12 „Zwischen dem Rechtssatz und seinem die wirkliche menschliche Lebensführung beeinflussenden Norminhalt 9
Rudolph von Ihering, Der Takt im sozialen Sinn, in: Der Takt. Aus dem Nachlaß herausgegeben und eingeleitet von Christian Helfer, Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen aus dem Jahre 1968, S. 73-97, 82 f. Im folgenden zitiert: Der Takt. 10 Der Besitzwille, (§ 4 F N 8) S. 479. 11 Geist I, S. 27 f. 12 Geist I, S. 49.
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besteht das Verhältnis, welches der römische Jurist Paulus für die regulae juris festlegt. „Regula est, quae rem, quae est, breviter enarrai; non ut ex régula jus summatur, sed ex jure, quod est, régula fiat." Regula juris wird als abstrakter Rechtssatz oder rechtswissenschaftliche Abstraktion verstanden, die mit dem tatsächlichen verhaltensbezogenen Norminhalt keineswegs identisch ist. 13 Dies führt uns zur Rolle der Rechtsdogmatik, bei der Gestaltung der Verbindlichkeitssubstanz einer Rechtsnorm. Bekanntlich hatte Ihering zur rechtswissenschaftlichen Tätigkeit keine einheitliche Auffassung. Es ist ihm beschieden, sie zweimal und mit entgegengesetztem Programm eine neue Wendung nehmen zu lassen oder, wie es Kantorowicz formuliert, zweimal „als ihr Erretter auftreten zu müssen". 14 Mit seinen Schriften der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, mit dem ersten Band seines „Geist" (1852) und vor allem 15 dem Programmartikel in seinen Jahrbüchern von 1856 / 7, wird er zum Begründer der jüngeren historischen Rechtsschule. Die Jurisprudenz soll aufhören, Dienerin des positiven normativen Stoffs zu sein; sie soll zu einer „fortschrittlichen schöpferischen Wissenschaft" erhoben werden. Das Mittel dazu sah er in der begrifflichen Konstruktion, in dem Verfahren, das er später selber „als das der Begriffsjurisprudenz" brandmarkte. 16 Seine dritte wissenschaftliche Phase setzte mit einer „gedämpften", den Nekrolog auf Savigny durchziehenden Kritik an der juristischen Methode (1861) ein. Sie gipfelte in der Entdeckung des Interessenmomentes im subjektiven Recht und der grundlegenden Bedeutung des Zwecks als Schöpfers des ganzen Rechts und Leitsterns aller „wahrhaft juristischen Auslegung" 17 . 13
Geist I, S. 33 f.; Der Besitzwille, (§ 4 F N 8), S. 269 f. Dieselbe Paulusstelle (D. 50. 17. pr.) hat Savigny auf das Juristenrecht bezogen. Der § 14 des ersten Bandes des „Systems des heutigen römischen Rechts" handelt vom „mannichfachen Einfluß des Juristenstandes auf das positive Recht". (S. 48) Die „formelle Rückwirkung" der Wissenschaft auf das Recht selbst sei einleuchtend, aber nicht ohne Gefahren: Omnis definitio in jure civili periculosa est (Iavolenus D.50.17.202). Die Paulusstelle wird dahingehend verstanden, daß die „Anerkennung von Ausnahmen neben der Regel" eigentlich „Anerkennung einer unvollkommenen Regelfassung" bezeugt. Als régula juris gilt ihm eher eine rechtswissenschaftliche Formel für die Behandlung von Rechtsverhältnissen. 14
Herman Kantorowicz, Iherings Bekehrung, in: Deutsche Richterzeitung 2 (1914), S. 84-87, 84. 15 Rudolph von Ihering, Unsere Aufgabe, in: ders., Gesammelte Aufsätze aus den Jahrbüchern für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts, Bd. 1, S. 1-46, Jena 1881. 16 Kantorowicz, (§ 4 F N 14), S. 84. 17 Ebd., S. 85. Eine Annäherung an die teleologische Rechtsdogmatik Iherings vollzog Dernburg. Er habe sich aber nach Ihering von der älteren Methode nicht völlig frei gemacht: Der Besitzwille, S. 253 (Anmerkung), 262ff.; vgl.: Heinrich Dernburg, Entwicklung und Begriff des juristischen Besitzes des römischen Rechts. Halle a. S. 1883, S. 67 (Anmerkung 2): Neben dem animus possidendi tritt die causa possessionis als Beweismoment zur Feststellung des Besitzwillens hinzu; ders., Das Pfandrecht nach den Grundsätzen des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, Leipzig 1860, S. IV: Im Rahmen der historischen Schule habe die Jurisprudenz, „die doch vor allem für das Leben und seine Bedürfnisse bestimmt ist", in den Händen mancher das „Ansehen einer Sammlung von 9*
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Es wird hier die vermittelnde Stellung bezogen, daß dieser Paradigmawechsel von der formellbegrifflichen auf die teleologische Phase bei Ihering zwar eindeutig stattfindet, daß jedoch bezüglich der Problematik der Quelle von Norminhalten Wesentliches unveränderlich bleibt. Wie schon H. J. Hommes bemerkt, hat Ihering erstens seine Ausführungen über die naturhistorische Methode in den späteren Auflagen des 2. Teiles des „Geist" aufrechterhalten und sie zweitens „sogar mit den Aussagen im 3. Teil § 59 für vereinbar gehalten" 18 . Die Jurisprudenz bleibt nach wie vor Inhaltsquelle von Rechtsnormen. Die Wendung erfolgte hauptsächlich auf dem Gebiet der Problematik der Geltungsquelle von Rechtsnormen. Die systematisch rechtliche Begriffsbildung wird nicht mehr für fähig gehalten, aufgrund der systematischen, d.h. der wissenschaftlichen Prägung einer Konstruktion Norminhalte zu legitimieren und mit Rechtsqualität zu beschenken. Von der schöpferischen Tätigkeit weicht die spätere Zweckjurisprudenz Iherings nicht ab. Es sollte nur die Überschätzung des logischen Elements, die wertblinde Gewinnung neuen normativen Stoffes aus darstellenden allgemeinen Begriffen aufgegeben werden. Dieses ist im folgenden nachzuweisen. Die Lehre von der juristischen Konstruktion ist für die Rechtsnormentheorie wichtig. Die Rechtstheorie der Pandektistik wird in einem römisch-juristischen begrifflichen Systemdenken19 betrieben. Man pflegt zwei Systemtypen zu unterscheiden, das innere und das äußere System.20 Das erste ist der innere Zusammenhang der Materie, des juristischen Gegenstandes. Das zweite besteht aus zusammenhängenden, beschreibenden Sätzen, es ist ein didaktisches System.21 Konstruktionslehre ist eine juristische MetawissenAntiquitäten, höchstens geschickt, um als Material für einen akademischen Vortrag zu dienen". 18 H. J. Hommes, Rudolf von Iherings naturhistorische Methode, in: Franz Wieacker u. Christian Wollschläger (Hrsg.), Iherings Erbe, Göttinger Symposion zur 150. Wiederkehr des Geburtstags von Rudolph von Ihering, Göttingen 1970, S. 101 -115, 102. 19 Hierzu und zum folgenden: Mario Losano, Studien zu Ihering und Gerber, Teil 2, Ebelsbach 1984, S. 114 ff. Zutreffend bemerkt Losano, daß die Unterscheidung zwischen innerem und äußerem System einer Hypostasierung des Begriffs des Systems entspringe: nachdem die Rechtsphilosophen für praktische Zwecke ein äußeres oder didaktisches Rechtssystem errichtet hätten, würde dieses als in die Rechtsordnung gegeben angesehen. Ursprünglich würde das System den Ausgang der Tätigkeit des Juristen darstellen, danach sei es zum Ausgangspunkt dieser Tätigkeit geworden. 20 Zur Genese und Entwicklung der juristischen Systembildung vgl. statt anderer Werner Krawietz, Rechtssystem und Rationalität in der juristischen Dogmatik, in: Aulis Aarnio/Ilkka Niiniluoto / Jyrki Uusitalo (Hrsg.), Methodologie und Erkenntnistheorie der juristischen Argumentation, Rechtstheorie (Beiheft 2), Berlin 1981, S. 299-335, 318ff.; ders., Begriffsjurisprudenz, (§ 2 F N 38), Sp. 809 f. 21 Die Anfange der gemeinrechtlichen Systematik sind nicht auf die klassische römische Jurisprudenz zurückzuführen. Der Versuch Ciceros die griechische Systematik für das Recht fruchtbar zu machen ist ohne Erfolg geblieben. Vgl. hierzu: E. Seidl, War Begriffsjurisprudenz die Methode der Römer?, in: ARSP 43 (1957), S. 343-366, 357 ff.; Max Käser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-historische Klasse, Göttingen 1962, S. 4978, 57 ff. spricht von der Herausbildung einer „reichen Erfahrung", des „sensus juridicus"
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schaft, sofern sie beschreibt, welche Elemente die Rechtswissenschaft bilden u n d kennzeichnen. Ihering hat eine Metatheorie der juristischen K o s n t r u k t i o n geliefert. Er hat sich aber nicht darauf beschränkt. Recht ist nicht nur Rechtswissenschaft. N a c h seiner Auffassung hatte sich Savigny auf eine Randerscheinung des Rechts, auf die Rechtswissenschaft, konzentriert. Der spezifische, nur dem Recht eigene Systemcharakter könne nicht i n beschreibenden wissenschaftlichen Sätzen liegen, denn das äußere System sei eine auf traditioneller L o g i k beruhende, für alle Disziplinen gültige A r t des Zusammenhangs. 2 2 Die Regeln der juristischen K o n s t r u k t i o n sollen daher eine Strukturtheorie v o n Rechtsordnung u n d Rechtswissenschaft darstellen. Ihering begibt sich auf die Suche nach einem inneren System. Seine strukturelle Analyse geht davon aus, daß die Einheit des Systems nicht aus etwas Idealem, sondern aus der konkreten W i r k l i c h k e i t hervorgeht. „ W i r legen damit dem Recht die Eigenschaften eines N a t u r p r o d u k t s bei, also Einheit i n der Vielheit, Individualibei den römischen Juristen; Franz Horac, Rationes decidendi. Entscheidungsbegründungen bei den älteren römischen Juristen bis Labeo, Innsbruck 1969; F. Schwarz, Begriffsanwendung und Interessenwertung im klassischen römischen Recht, in: AcP 152 (1952/53), S. 193-215, 198. 22 Die treibende Kraft der Entwicklung zur Pandektistik war die Demonstrationsmethode von Christian Wolff. Die logische Systematisierung konnte ungehindert von jeder positiven Rechtsquelle und more geometrico erfolgen. Vgl.: Christian Wolff, De differentia intellectus systematici et non systematici, in: ders., Horae subsecivae Marburgenses, quibus philosophia ad publicam privatamque utilitatem aptatur, Frankfurt—Leipzig 1729-1731, No 1 (1729), Neudruck hrsg. von Jean École, Hildesheim—Zürich—New York 1983, S. 109-154, 110: „Vocamus autem intellectum systematicum, qui propositiones universales inter se connectit."; ders., De Jurisprudentia civilis in formam demonstrativam redigenda, in: Horae subs. Marb., Trim. brum. No 2 (1730), Neudruck ebd., S. 84150: „Definitiones in disciplinis sunt prima principia, in quae demonstrationes propositionum resolvuntur"; ders., Specimen legum ad formam demonstrativam reductarum, secundum Titl 3,1. de jure personarum, in: Horae subs. Marb., Trim. brum. No 2 (1730), Neudruck ebd., S. 435-468. In diesen Abhandlungen wendet Wolff seine mathematische Methode auf das Recht an. Die Juristen haben nicht einheitlich diese Methode adoptiert. Vgl. hierzu: Marcel Thomann, Einleitung, in: ders., (Hrsg.), Christian Wolff. Gesammelte Werke, II Abt. Bd. 17, Jus Naturae, Hildesheim New York 1972, S. V I I - L X V , X X V I ff.: Ulrich Cramer (1706 -1772), Adam Ickstatt und J. J. Schierschmidt gehörten zu den treuen Wolffianern. Die Schüler von Thomasius und Heineccius waren feindlich eingestellt. Daniel Nettelbladt, J. C. Claproth und J. G. Darjes waren schließlich skeptische Wolffschüler. Zu den Bedenken der Juristen: Daniel Nettelbladt, Von den Verdiensten des Freyherrn von Wolf um die positive Rechtsgelahrtheit, in: Hallische Beyträge zu der juristischen gelehrten Historie, Halle 17541, 2. Stück, S. 207-249, 223: „Wie kann also die Logik vollständig heissen, wenn sie nur allein auf die natürlichen Wahrheiten gehet, und kaum der Unterschied zwischen natürlichen und positiven Wahrheiten erwehnet wird. Eine Logik aber, die wirklich auf beyde Arten von Wahrheiten gehet, ist, so viel mir wenigstens bekannt, noch nicht vorhanden." Nettelbladt bemerkt noch, daß Wolff „die positive Rechtsgelahrtheit zwar verstanden, aber kein Rechtsgelehrter von Profession" gewesen sei (ebd., S. 236). Darüberhinaus sei seine Methode unorthodox, weil er mit juristischen Wörterbüchern arbeiten würde, nämlich die von Simon Schard (1535-1573) und Barnabé Brisson (1525-1591), (ebd., S. 239). Die juristische Rezeption der Demonstrationsmethode bedarf demnach einer nüancierten Betrachtung und Untersuchung. Dies ist aber nicht dieses Ortes.
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tat, Wachstum von innen heraus usw." 2 3 Wenn Ihering die Metapher des Organismus benutzt, ist er bestrebt, die Kennzeichen des inneren Systems, die Rechtsstruktur zu ermitteln. Wenn er zur Metapher der chemischen Analyse übergeht und von der „Präcipitierung der Rechtssätze zu Rechtsbegriffen" spricht, meint er die Tätigkeit der Rechtswissenschaft. Erster Erkenntnisgrad seiner Strukturanalyse ist ein Normkern. Das ist die Verbindung typischer Situationen mit geforderten Verhaltensweisen. Der zweite Grad ist das Rechtsinstitut. Dies ist in seiner juristischen Form ein rechtswissenschaftliches Produkt und darf nicht mit dem soziologisch geprägten Begriff der Institution verwechselt werden. Die Rechtswissenschaft hat die Reduktion von Rechtssätzen auf logische Momente, auf eine übersichtliche Zahl einfacher Körper zur Aufgabe. Aus diesen Körpern können auf Verlangen die einzelnen Rechtssätze wieder zusammengesetzt werden. Durch Kombination der „präcipitierten" Normen kann die Wissenschaft neue Normen bilden. Die „Begriffe sind produktiv, sie paaren sich und zeugen neue". Hier tritt die Wissenschaft als Quelle des Inhalts und der Rechtsqualität der Rechtsnormen auf. 2 4 Die schon im Mittelalter aufgebrachte Lehre, daß das gemeine Recht in Zweifelsfragen durch die communis opinio doctorum Präzisierung und Fortbildung erfährt, wird über Puchta von Ihering übernommen. Systembildung und Rechtsfortbildung durch communis opinio werden bei Puchta insofern miteinander verknüpft, als die Gelehrtenmeinung gerade deshalb Autorität 2 5 gewinnt, weil sie wissenschaftlich, d.h. systematisch entwickelt und abgeleitet ist 2 6 . Die 23
Geist I, S. 26. Zum Systembegriff Iherings s. Losano, Studien zu Ihering und Gerber, Teil 2, (§4 FN 19), S. 114ff., 115, 117. 24 Geist I, S. 39f. 25 Das Recht kommt wohl mit dem Recht allein nicht zurecht. In der Zeit des Naturrechts brauchte man die Vorstellung einer Art zweiten Rechts hinter dem Recht. Die Pandektistik hat statt dessen zum Wissenschaftssystem ihre Zuflucht genommen. Das System legitimiert die produzierende Tätigkeit der Jurisprudenz. Vgl. hierzu: Helmut Coing , Der juristische Systembegriff bei Rudolph von Ihering, in: Jürgen BlühdornI Joachim Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft, Frankfurt a. M. 1969, S. 149-171, S. 150; Friedrich Georg Puchta, Pandekten, 12. Aufl., hrsg. von Th. Schirmer, Leipzig 1877, S. 29: „ I n vielen Fällen wird sich der Richter von der actuellen Volksüberzeugung und Gesetzgebung verlassen finden, hier tritt die Wissenschaft als ergänzende Rechtsquelle ein, indem sie den anzuwendenden Rechtssatz aus den Prinzipien des bestehenden Rechts erschließt. Ein solcher Rechtssatz beruht auf inneren Gründen, auf der Autorität, die ihm seine wissenschaftliche Wahrheit giebt, diese Wahrheit ist die Bedingung seiner Gültigkeit;" ders., Kritik von Georg Beseler's Volksrecht und Juristenrecht, aus den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik besonders abgedruckt, Berlin 1844, S. 11 f., 17f.: Ein Rechtssatz gilt entweder, weil er Volksüberzeugung sei, oder aber, weil er „mit innerer Notwendigkeit" dem gegebenen Rechte entnommen ist; ders., Vorlesungen über das heutige römische Recht, aus dem Nachlaß heraugegeben von Adolf Friedrich Rudorff, 6. verm. u. verb. Aufl., Bd. 1, Leipzig 1873, S. 42ff., 44. 26
Diese Verknüpfung beruht zugleich auf den Kritiken Kants und der demonstrativischen Methode Wolffs. Durch die Kritik Kants wurden nur die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des Naturrechts* getroffen, jedoch nicht der methodische Ertrag der „mathematischen" Methode Wolffs. Diese wurde nunmehr als eine rein wissenschaftliche
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Wissenschaft bleibt mithin systematisch. Einerseits hat sie als rezeptive Tätigkeit eine äußere, ordnende Funktion. Sie erschließt die gegebenen Rechtsquellen durch Textkritik und Auslegung. Andererseits entwickelt sie eine produktive Denktätigkeit. Diese beruht auf einer systematischen Deduktion, die nach strengen, ausschließlich wissenschaftlichen Kriterien vollzogen wird und der „communis opinio doctorum" Autorität verleiht. 27 Es ist dieser doppelten Systematisierung zu verdanken, daß aus dem rezipierten römischen Recht ein nationales Geistesprodukt gemacht wurde. Iherings Hinwendung zur systematischen Dogmatik wird mit der Absicht vollzogen, die Übersicht über den Rechtsstoff zu fördern und den ästhetischen Geist zu befriedigen, vor allem aber durch produktive Tätigkeit Lücken in den vorhandenen Rechtsnormen zu füllen. Das System erlaubt es, ein Defizit an Rechtssätzen zu vermeiden. 28 Im zweiten Teil des zweiten Bandes vom „Geist" ist eine klassische Darstellung der Begriffsjurisprudenz entwickelt worden. Die Theorie der juristischen Systematik besteht aus drei Grundoperationen: Analyse, Konzentration und Konstruktion. Erstere bedeutet die Rückführung der unzähligen Sozialverhältnisse auf juristische Typen einerseits und der auftretenden Subsumtionsprobleme auf bestimmte typische Grundprobleme andererseits. Hierbei ergeben sich technisch-juristische Allgemeinbegriffe. Diese beziehen sich auf juristische Geschäftstypen sowie auf allgemeine juristische Probleme und ihre schon gespeicherten Lösungen. Diese technisch-juristischen Begriffe sind allgemeine Grundelemente, die Rechtskörper genannt werden und selbständig oder unselbständig, d. h. nur in Zusammenhang mit anderen Rechtskörpern bestehen können. Ihering geht davon aus, daß juristische Problemlösungen immer einen historischen Durchbruch erfahren. Probleme werden zunächst an engeren Fallgruppen erkannt und gelöst und sodann auf weitere Fälle übertragen 29 . Die zweite Grundoperation, die Konzentration, ist einfach eine höhere, einzelne Rechtsinstitute übergreifende Aggregationsebene. Die Konstruktion hingegen ist die eigentliche Gewinnung jenes Bündels von allgemeinen Grundbegriffen aus dem positiven Stoff der Rechtsnormen. Es werden Regeln angegeben, nach denen sich die Gewinnung vollziehen soll. Sie sind streng logischen Charakters und lassen sich einer Richtigkeitsprüfung nach ebenfalls logischen Kriterien unterOperation am positiven Rechtsstoff aufgefaßt. Unter diesem Aspekt springt die Ähnlichkeit zwischen Demonstrationsmethode und Pandektistik ins Auge. Vgl. hierzu: Georg Friedrich Puchta, Zu welcher Classe vonRechten gehört der Besitz? Beantwortung durch eine Classification der Rechte überhaupt (1829), in: ders., Kleine civilistische Schriften. Gesammelt und herausgegeben von Adolph August Friedrich Rudorff, Leipzig 1851, S. 239-263; ders., Besitz (1839), in: ebd., S. 408-455; ders., Cession (1839), in: ebd., S. 439497. Diese Abhandlungen sind den Aufsätzen Nettelbladts und den juristischen Arbeiten Wolffs, was den systematischen Aufwand angeht, ähnlich. Sie beruhen jedoch auf anderen epistemologischen Voraussetzungen. 27
Sehr eingehend hierzu: Coing, Der juristische Systembegriff bei Rudolf von Ihering, (§4 FN 25), mit Diskussionsbeiträgen: S. 149ff., 151. 28 Hierzu und zum folgenden: Ebd., S. 157 f., 162ff. 29 Geist I I 2, S. 331, 335, 344; Coing, (§ 4 F N 25), S. 162f.
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ziehen. Zunächst soll der gewonnene allgemeine Begriff alle unter ihn fallenden Rechtssätze decken und erklären. Keiner der Rechtssätze darf ihm widersprechen. Er soll anschaulich sein und seine eigene Stellung in der systematischen Klassifikation der Rechtssätze haben. Iherings System ist eine „Klassifikation juristischer Allgemeinbegriffe". Sie können sich inhaltlich auf ganz Verschiedenes beziehen, auf typische Geschäfte, auf Formen subjektiven Rechts, auf technisch-juristische Mittel usw. 30 Dieses System wird in der Rechtsanwendung produktiv. Lücken werden durch logische Kombinationen und Ableitungen geschlossen. Diese kreative Konstruktion der Begriffsjurisprudenz sieht man nur dann im richtigen Licht, wenn man bedenkt, daß der positive Rechtsstoff vor der bürgerrechtlichen Kodifikation durch schöpferisches, anschauliches juristisches Denken erzeugt werden mußte. 31 Unter der kasuistischen widersprüchlichen Sammlung des Corpus Juris erscheint ein juristischer Positivismus völlig anders als in einer modernen Kodifikation. Die höhere Konstruktionsjurisprudenz Iherings ist wissenschaftspositivistisch. 32 Die von Iherings Rechtstechnik bezweckte Verringerung des Rechtsstoffs war unter diesen Umständen schlicht notwendig und hatte die Bedeutung und Funktion, die dem Pandektenlehrbuch Winscheids später, aber immer noch vor der Kodifikation zukamen. Die normstiftende, konstruierende Rechtsklugheit findet somit ihre Rechtfertigung in der damaligen Rechtslage in Deutschland. Ihre Begriffsbildung hat sich aber von ihrem Gegenstand, dem geltenden Recht gelöst. Sie wird nach dem Prinzip der logischen Vergleichung und der ausreichenden Ähnlichkeit zwischen den Begriffsmerkmalen verschiedener „Rechtskörper" produziert und erhebt trotzdem normativen Anspruch. Rechtsnormen werden aufgrund einer kognitiven Denktätigkeit erzeugt; rechtsdogmatische Systematisierung ist dann zugleich Norminhaltsstiftung. 33 Seine berühm30
Ebd. S. 164, 166. Hierzu: Franz Wieacker, Die Ausbildung einer allgemeinen Theorie des positiven Rechts in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Hans Martin Pawlowski u. ders. (Hrsg.), Festschrift für Karl Michaelis zum 70. Geburtstag am 21. Dezember 1970, S. 355-362; ders., Aufstieg, Blüte und Krisis der Kodifikationsidee, in: Festschrift für Gustav Boehmer. Dem Siebziger von Freunden und Kollegen dargebracht, Bonn 1954, S. 34-50; ders., Friedrich Carl von Savigny, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Rom. Abteil. 72 (1955), S. 1-38; Hans Thieme, Zwischen Naturrecht und Positivismus. Zur Methode des jungen Savigny, in: Deutsche Juristen-Zeitung 41 (1936), S. 153-157; ders., Der junge Savigny, in: Deutsche Rechtswissenschaft. Vierteljahresschrift der Akademie für Deutsches Recht, 7 (1942), S. 53-64; 31
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Wissenschaftlicher Positivismus im Sinne Wieackers. Vgl. hierzu die Diskussionsbeiträge von Wieacker und Coing in: Blühdorn I Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft. (§4 F N 25), S. 172f.; Johann Georg Schlosser, Vorschlag und Versuch einer Verbesserung des deutschen bürgerlichen Rechts ohne Abschaffung des römischen Gesetzbuchs, Leipzig, 1777, Neudruck, Glashütten im Taunus, 1973, S. 20, 22, 26, beschreibt die Rechtspraxis aus der Erfahrung, die er als Advokat und als Richter unter dem römischen Gesetzbuch in Deutschland gesammelt hatte, sehr anschaulich; ders., Briefe über die Gesetzgebung überhaupt, und den Entwurf des preussischen Gesetzbuchs insbesondere, Frankfurt 1754, Neudruck Glashütten im Taunus 1970.
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te Bekehrung, die Verabschiedung der „formalistischen oder dialektischen" und die Hinwendung zur „realistischen oder teleologischen" Methode in der Jurisprudenz, beschreibt Ihering wie folgt: „ I n meinen jüngeren Jahren selber der formalistischen Richtung mit Leib und Seele zugethan, bin ich in der Mitte meines Lebens allmählich zur Erkenntnis ihrer Vekehrtheit gelangt, und seitdem habe ich nicht geruht, sie zu bekämpfen." 34 Der Umschwung kam jedoch nicht nur von innen heraus, sondern „durch äußere Anregungen". Ihering kam durch den regen Verkehr mit Praktikern", den er immer suchte, pflegte und sich zunutze machte, durch die Aufstellung von Rechtsgutachten und durch das Pandektenpraktikum. 35 Es ist in der Tat der Lösungsversuch eines Rechtsfalles, der ihm den Anstoß zum Überdenken seiner Methodenlehre gab. In der Abhandlung „Beiträge zur Lehre von der Gefahr beim Kaufkontrakt" befaßte er sich mit der Frage, ob der Verkäufer, der mehreren Personen hintereinander abgesondert dieselbe Sache verkauft hat, im Fall des „casuellen Untergangs" der Sache von jedem der Käufer den Kaufpreis fordern könne. 36 Nach der formallogischen Methode sollte der Verkäufer von jedem den Kaufpreis fordern. Der Widerspruch, in den dieses Resultat mit den „einfachsten Anforderungen des Rechtsgefühls" tritt, nötigte Ihering dazu, nach einer anderen, juristisch vertretbaren Lösung zu suchen. Sämtliche rechtsdogmatischen Versuche, der offenbaren Unbilligkeit der doppelten Zahlung zu entgehen, mußten erfolglos bleiben. „Hülfe" könne nur an einem Punkt gesucht werden, nämlich in dem Rechtssatz selber, dem Satz, „daß der Verkäufer nach Untergang der Sache von dem Käufer den Kaufpreis fordern kann". Ihering macht es sich zur Aufgabe, den Sinn und Zweck dieses Rechtssatzes zu ermitteln und „daraus zu deduciren", daß sich die doppelte Beitreibung des Kaufpreises 33 Der späte Ihering hat dieses Konstruktionsverfahren mit dem bekannten Namen der „Begriffsjurisprudenz" und mit dem weniger bekannten aber ebenfalls ironisch gemeinten Namen der „Transcendentaljurisprudenz" bezeichnet: Rudolph von Ihering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen (1885), in: ders., Gesammelte Aufsätze aus den Jahrbüchern für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts, Bd. 3, 2. Neudruck der Ausgabe Jena 1886, Aalen 1981, S. 233-408, 316 f. Wenn das Interesse aufhöre, aber der Begriff sein „Spiel" weiter treibe, hätten wir es mit einer besonderen Species der Begriffsjurisprudenz zu tun, nämlich der „Transcendentaljurisprudenz". Sie gehe über die „sinnliche Erfahrung", die „reale Welt des Rechts, die ausschließlich dem praktischen Bedürfnis" diene, hinaus. Sie leiste der wahren Erkenntnis des Rechts den „werthvollen Dienst, an abschrenkenden Beispielen jedem Einsichtigen die Wahrheit klar zu machen", daß die Begriffe an Interesse und Zweck ihre Grenzen fanden. 34
Der Besitzwille (§ 4 F N 8), S. IX f. Es klingt hier Dante an: „Nel mezzo del cammin di nostra vita mi ritrovai per una selva oscura, ché la diritta via era smarrita." Die „hohe wissenschaftliche Dynamik" des Gelehrtenlebens Iherings hat ihn in die „selva oscura" geführt, um ihn anschließend kräftiger die Grundprobleme des Rechts hinterfragen zu lassen, s. auch Hommes, (§ 4 F N 18), S. 115. 35 Rudolph von Ihering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz. Eine Weihnachtsgabe für das juristische Publikum, unver. Neudruck der 13. Aufl. Leipzig 1924, Darmstadt 1980, S. 338 f. 36 Gesammelte Aufsätze, Bd. 3, Jena 1886 (Neudruck Aalen 1981), S. 291 f.
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nicht mit ihm verträgt. Er wollte juristisch begründen, daß dem Anspruch des Verkäufers mit der einmaligen Zahlung vollkommen Genüge geschehe.37 Ihering hat seine Lösung im Zweckgedanken gefunden. 38 Seine Begründung dafür, daß der den Fall beherrschende Rechtssatz dem Wortlaut zum Trotz einzuschränken wäre, konnte er nicht mit Stellen aus dem Corpus Iuris abstützen. Die Lösung liegt nicht in den „ausdrücklichen Quellenäußerungen", im Wortlaut des Gesetzes und seinem begrifflichen Tatbestandsschema. Sie ist vielmehr in Zweckerwägungen und in der „Deduction aus der inneren Consequenz" des Rechtsinstituts zu finden. „Quellen gibt es hier nicht; sonst wäre die hier aufgestellte Theorie wohl schon längst vorgetragen worden." 39 Modern ausgedrückt sind Quellenäußerungen niedergelegte Rechtswortnormen, die bezüglich eines Sonderfalls auf ihre Anwendbarkeit hin geprüft werden. Ihering sieht, daß die Quellen „bei gar vielen Rechtssätzen es unterlassen haben, ihren eigentlichen Grund und Zweck näher anzugeben". Er sieht seine Aufgabe darin, den Zweck aufzusuchen und „danach den wirklichen Sinn des Rechtssatzes gegenüber einer vielleicht zu weiten oder engen Fassung festzustellen." 40 Hier wird zum ersten Mal die Rücksicht auf das praktische Resultat, zu dem ein Rechtssatz führt, als zureichender Grund zur Vornahme extensiver oder restriktiver Interpretation eingeführt. Die teleologische Interpretation, welche mittlerweile der juristischen Praxis so geläufig geworden ist, läßt uns vielleicht die Begeisterung Iherings für sie „abgeschmackt" vorkommen. Die teleologische Auslegung war jedoch damals rechtswissenschaftlich verpönt. Ihering hat sie in dieser klaren Gestalt erfinden müssen.41 Sie hat ihn zur Lösung geführt. Sie lag 37
Ebd., S. 302. Am Sylvesterabend 1858 ist Ihering mit seiner Akte fertig. Nach Wochen langen Nachdenkens ist ihm „in der 11. Stunde ein Licht aufgegangen", und das war kein „Talglicht sondern ein Stearinlicht", so scherzt er Gerber gegenüber. In: Mario Losano, Der Briefwechsel zwischen Ihering und Gerber. Teil 1, Brief an Gerber, 6.1. 1859, S. 306311, 307. 39 Gesammelte Aufsätze Bd. 2, Jena 1882 (Neudruck Aalen 1981), S. 319. 40 Ebd., S. 319f. 41 Ähnliche Ansätze finden sich in der Auslegungslehre Thibauts, der sich eingehend mit der Interpretation von Gesetzen befaßt hatte. Diese Auslegungslehre ist das Resultat langjähriger Überlegungen gewesen. Vgl.: Anton Friedrich Justus Thibaut , Theorie der logischen Auslegung des römischen Rechts, 2. vermehrte u. verbesserte Aufl., Altona 1806, Neudruck Düsseldorf 1966, S. 58 ff.; hierzu: Lutz Geldsetzer, Vorwort zum Neudruck und Einleitung, in: A. F. J. Thibaut, ebd., S. V - X V I I I , X X X I I , XL. Der Begriff „logisch" im Ausdruck „logische Auslegung" bedeute nicht begriffsjuristisch. Die Auslegung Thibauts sei eine (Sprachgebrauch in Anlehnung an Kant in: Werke Akad. Ausg. Bd. 2, S. 307) „dogmatische" im Gegensatz zu einer „zetetischen Hermeneutik" gewesen; vgl. dieRezension des Buches durch: Werner Krawietz, in: Rechtstheorie 6 (1975), S. 253f.; A. F. J. Thibaut , Einige Erinnerungen gegen Höpfners Commentar über die Institutionen, die Regeln der Interpretation betreffend, in: Versuche über einzelne Theile der Theorie des Rechts, Bd. 1, Jena 1798, S. 323-342, 325: „Wenn wir den Grund eines Gesetzes kennen, der Gesetzgeber aber die ausdehnende Erklärung desselben untersagt hat: läßt es sich alsdann dennoch rechtfertigen, wenn der Richter den Umfang des Gesetzes nach dem Grunde desselben erweitert, oder nicht?"; ders. Noch etwas über den 38
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in der „freien Findung des Satzes", daß der Verkäufer, wenn er schon einem Käufer tradiert hat, nur diesen zur Verantwortung ziehen kann, sonst einen von beiden nach seiner Wahl. 4 2 Erst am Ende der Arbeit wird die Frage der juristischen Konstruktion angeschnitten. Ihering macht verschiedene funktional äquivalente Vorschläge der Konstruktion des Satzes, zu dem der Zweckgedanke ihn leitete. Die einst höhere produktive Jurisprudenz wird hier aufgefordert die „untergeordnete, praktisch völlig einflußlose" Konstruktionsfrage abzuhandeln.43 Dies war der erste öffentliche Schritt auf dem neuen Gleis. Er wurde mit folgenden Worten gerechtfertigt. „Es ist in der That ein anderes Ding, unbekümmert um die Folgen und das Unheil, das ein Rechtssatz, den man in den Quellen zu lesen aus der Consequenz zu entnehmen glaubt, im Leben anstiftet, sich rein theoretisch mit ihm abzufinden oder aber ihn zur Anwendung zu bringen. Eine ungesunde Ansicht, wenn sonst nur das Subjekt selbst noch gesund ist, hält eine solche Probe nicht aus. u 4 4 Das Subjekt ist gesund gewesen. Die höhere Jurisprudenz der Kosntruktionsphase sah sich zwar vor die Aufgabe der Erhebung des positiven Stoffs „zu einer höheren, d. h. begrifflichen Form" gestellt, es vertrug sich aber damit sehr wohl, daß sie in Fällen, in denen der Gesetzgeber sie absolut im Stich ließ, sich selber zu helfen suchte. Sie entwickelte „sowohl in materieller wie formeller Beziehung eine schöpferische Thätigkeit". 45 Demnach umweht die Begriffsjurisprudenz Iherings ein realistischer Hauch. 40 Schon die begriffsjuristisch arbeitende Dogmatik wird als Inhaltsquelle von Rechtsnormen bezeichnet. „Das praktische Leben kann sich Begriff der logischen und grammatischen Interpretation, und die Arten der ersten, in: ders., ebd., Bd. 2, Jena 1801, S. 227-243. 42 Ebd., S. 314, 320; Kantorowicz, (§ 4 F N 14), S. 86 f. 43 Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, S. 323. 44 Ebd., S. 292. 45 Geist I I 2, S. 386f. (Anmerkung 528 a). 46 Dies hat die Interessenjurisprudenz verkannt. Sie hat ihr Augenmerk auf die Darstellung und Kritik der begriffsjuristischen „Inversionsmethode" gerichtet: Philipp Heck, Was ist diejenige Begriffsjurisprudenz, die wir bekämpfen? In. Deutsche Juristenzeitung 1909, S. 1457-1461; ders., Begriffsjurisprudenz und Interessenjurisprudenz, in: ders., Grundriß des Schuldrechts (Anhang), S. 471-482; ders., Die logische Analyse des juristischen Methodenstreits durch Richard Hönigswald. Eine Nachprüfung, in: Archiv für die civilistische Praxis (AcP) 138 (1934), S. 129-143. Heute noch aktuell und wertvoll sind die Ausführungen der lnteressenjurisprudenz zur juristischen Begriffsbildung und Rechtsgewinnung: Philipp Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung. Rektoratsrede, Tübingen 1912; ders., Gesetzauslegung und Interessenjurisprudenz, in: AcP 112 (1914), S. 1-318; ders., Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, Tübingen 1932; ders. Rechtserneuerung und juristische Methodenlehre, Tübingen 1936; Gustav Rümelin, Juristische Begriffsbildung, Leipzig 1878; Max von Rümelin, Zur Lehre von der juristischen Konstruktion, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 16 (1922/23), S. 343-355; Heinrich Stoll, Begriff und Konstruktion in der Lehre der Interessenjurisprudenz, in: Festgabe für Philipp Heck, Max Rümelin, Arthur Benno Schmidt. Beilageheft zu AcP 133 (1931), 60-117.
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§ 4 Geltungsgrundlagen der Rechtsnorm bei Rudolph von Ihering
dieser Ergänzung des positiven Rechts durch die Jurisprudenz gar nicht entziehen. Jede Jurisprudenz producirt, selbst wenn sie sich dessen nicht bewußt ist oder wohl gar in der Theorie sich das Recht dazu abspricht, wie dies ja noch heutzutage geschieht." 47 Der Verbindlichkeitsumfang ist nicht im Rechtssatz beinhaltet. Er wird aufgrund logischer Operationen begriffsjuristischer Prägung vor allem seitens der Rechtsanwendung und der Rechtsdogmatik abgesteckt. Dürfte die Jurisprudenz nicht konstruktiv sein, „so würde ihr nichts übrig bleiben als die Paragraphen des Gesetzbuchs auswendig zu lernen". Wo die Gesetzesparagraphen nicht ausreichten, müßte der Gesetzgeber „selber den Prozeß entscheiden" 48 . Für die Zweckjurisprudenz des späten Ihering ist die Wissenschaft lediglich Inhaltsquelle, nicht länger Geltungsquelle von Rechtsnormen. Hinzu kommt noch die Tatsache, daß die Rechtsanwendung nun auf eine neue, bestimmte Art Inhalte stiftet. Teleologisch deutend beteiligt sie sich an der Erzeugung der Norminhalte. Die Dogmatik bedient sich der Methode der Zweckuntersuchung, um rechtspolitische Vorschläge zu machen. Diese bleiben jedoch einflußlos und ohne Rechtscharakter, solange sie von der Gerichtspraxis nicht honoriert werden. In Anbetracht der Rechtswissenschaft geht es mithin aus dem vorhergehenden hervor, daß sowohl der Begriffsjurist als auch der Teleologe Ihering sich darüber im klaren war, daß der Norminhalt wandelbar und „leisen oder stärkeren Gleitungen" unterworfen ist. 4 9 Das im Normsatz verbal ausgedrückte begriffliche Tatbestands- und Gebarensschema sollte bei der Anwendung auf seine Verallgemeinerungsmöglichkeiten, auf seinen Bedeutungsumfang hin geprüft und von „seiner localen historischen Erscheinungsform" durch analoge Ausdehnung befreit werden. 50 Später verzichtete Ihering nicht auf die These, daß die Norm, um es mit Geiger zu formulieren, „im Hinblick auf die gleitenden Elemente ihres Normkerns latent ist". Er veränderte seine Auffassung lediglich bezüglich der Weise, in der die Norminhaltsgleitungen bei der Rechtsanwendung und der rechtswissenschaftlichen Behandlung zu erfolgen haben. Norminhalte sollen nicht mehr durch Ableitung des im Gesetz liegenden logischen Prinzips und durch Verfolgung seiner Konsequenzen, sondern durch Orientierung an den praktischen Zwecken des Rechtsschutzes hervorgebracht werden. Dies bedeutet, daß sich der funktionelle Unterschied zwischen Gesetzgeber einerseits und produktiver Begriffs- oder teleologischer Jurisprudenz und Richter andererseits bezüglich der Problematik der Norminhaltsquelle nicht aufrechterhalten läßt. Rechtsanwendung und Rechtswissenschaft stiften Norminhalte, indem sie konkrete Tatbestände auf den Begriffsin47
Geist I I 2, S. 387 f. Ebd. 49 Geiger, Vorstudien, (§ 3 F N 48), S. 98, 169, 172, 213 f. 50 Geist I I 2, S. 342; Gesammelte Aufsätze Bd. 1, S. 7; Vgl. hierzu den exemplarischen Stellenwert der Ausführungen Savignys über die Analogie und Interpretatio extensiva und restrictiva in seiner Juristischen Methodenlehre: Friedrich Carl von Savigny, Juristische Methodenlehre. Nach der Ausarbeitung des Jacob Grimm, hrsg. von Gerhard Wesenberg, Stuttgart 1951, S. 39 ff. Anders der späte Savigny, vgl. ders., System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1 (§ 2 F N 41), S. 231. 48
II. Geltungsquelle der Rechtsnorm
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halt des Normsatzes beziehen. Sie bewirken dadurch eine gleitende Verschiebung des vorhandenen Normkerns. 51 Wenn man das alles in Betracht zieht, kann der Satz Iherings, die Verwirklichung sei das Leben und die Wahrheit des Rechts, dahin interpretiert werden, daß die Rechtsnorm in Anbetracht ihres Anwendungsbereiches das Ergebnis ihrer Verwirklichung ist. Im Vorgang der Anwendung wird der Norm mit jedem neuen Fall neue Geltungssubstanz zugeführt. Die Normsubstanz ist in diesem Sinne der Auszug eines konkret inbegrifflichen Typus aus allen Anwendungsfallen der Norm. „Was bloß in den Gesetzen, auf dem Papier steht, ist ein bloßes Scheinrecht", ein bloßes Wortwerk, welches zu weit oder zu eng gefaßt ist und nur durch Anwendung aus einem schlichten begrifflichen Bezugspunkt zu einem Norminhalt wird. 5 2 II. Geltungsquelle der Rechtsnorm Wenden wir uns nun der Beantwortung der Frage nach der Geltungsquelle der Rechtsnorm bei Ihering zu. Diese Frage kann besser behandelt werden, wenn die Unterscheidung Kelsens zwischen Geltung und Wirksamkeit und der „empirischen Geltung" Max Webers berücksichtigt wird. M i t dem Wort „Geltung" bezeichnet Kelsen „die spezifische Existenz einer Norm", d.h. eines Bekundens, „daß etwas sein soll". Geltung ist die Seinsweise der Norm und „besagt etwas anderes als daß die Norm tatsächlich angewendet und befolgt wird", obwohl diejenige, die keine Wirkung entfaltet, nicht als gültig angesehen werden könne. Die Herstellung dieses „gewissen Zusammenhanges" zwischen Geltung und Wirksamkeit, bestehe darin, daß die „Wirksamkeit zur Setzung einer Rechtsnorm hinzutreten muß, damit diese ihre Geltung nicht verliere". Die Wirksamkeit wird als Bedingung der Geltung dargestellt. Diese Unterscheidung darf nach Kelsen nicht aufgegeben werden. Das enge Verhältnis zwischen Geltung und Wirksamkeit beschreibt er dahingehend, „daß man eine normative Ordnung als gültig nur ansieht, wenn sie im großen und ganzen wirksam ist und das von ihr geregelte menschliche Verhalten ihr im großen und ganzen entspricht." 53 Der Zweck dieser Unterscheidung sollte es sein, daß man juristische und soziologische Betrachtungsweise dadurch auseinander hält, daß die „ideelle Geltung" von der empirischen im Sinne Max Webers abgehoben werde. Letztere beruht auf der „Chance der faktischen Orientierung" an der Differenz Befolgung/Abweichung bezüglich einer Ordnung. 54 Der Verwirklichungsbegriff Iherings umfaßt sowohl den Wirksamkeitsansatz Kelsens, als auch den Begriff der empirischen Geltung Max Webers. Die ideelle Geltung wird insofern vorausgesetzt, als sie den Rechtscharakter einer Norm ausmacht. 51 Geiger, Vorstudien, (§ 3 F N 48), S. 196, 198, 246; Ihering, Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, S.7. 52 Geist I I 2, S. 322; siehe auch Geiger, Vorstudien, S. 246, 251, 263. 53 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. vollständig neubearbeitete und erweiterte Auflage, Wien 1960, Neudruck ebd. 1976, S. 9 ff., 91. 54 Weber, WuG, (§ 1 F N 9) S. 16, 181 f.
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§ 4 Geltungsgrundlagen der Rechtsnorm bei Rudolph von Ihering
Den im Corpus Iuris stehenden Sätzen erwuchs infolge der durch die Rezeption erfolgten Institutionalisierung Rechtscharakter. Dies warf anschließend die Frage auf, ob sich alle als rechtlich anerkannten Sätze tatsächlicher Praktikabilität erfreuten oder eher ein „Scheinrecht" waren. Dies war die Frage nach dem Anlegen eines Maßstabes für die Verwirklichungs- und Anwendbarkeitsaussichten eines Rechtssatzes, d. h. für die Differenzierung des praktikablen vom toten Recht. Die ideelle Geltung war somit mit der Rechtsqualität identisch, während die Wirksamkeit zur eigentlichen Geltungsfrage wurde. Auf den ersten Blick vermitteln die Ausführungen über die „Bedingtheit des Rechts durch den Zwang" den Eindruck, als ob Rechtsgeltung von der Sanktionierung abhinge. „Nur diejenigen von der Gesellschaft aufgestellten Normen verdienen den Namen des Rechts, welche den Zwang, oder, da der Staat allein das Zwangsmonopol besitzt, welche den Staatszwang hinter sich haben, womit denn implicite gesagt ist, daß nur die vom Staate mit dieser Wirkung versehenen Normen Rechtsnormen sind, oder daß der Staat die alleinige Quelle des Rechts ist." 5 5 Ihering setzt sich dem Verdachte des Sanktionsmonismus aus. Freiwillige Befolgung von Normen innerhalb eines gewissen Kreises ist nicht ausreichend, um der Norm Rechtsqualität zu verleihen. Wäre sie es, „so müßten auch die Normen eines verbotenen Vereins Rechtssätze sein". 56 Den Grund für diese Verengung gibt Ihering selber an. Für den Juristen, der „nicht allen festen Boden unter den Füssen verlieren will", gebe es kein anderes Kriterium des Rechts als Anerkennung und Verwirklichung desselben durch die Staatsgewalt. Damit ist gemeint, daß der Staat insofern Quelle allen Rechts ist, als er die in der Gesellschaft aufgestellten Normen mit einer Entscheidung des verbeamteten Rechtsmechanismus verbindet und sanktioniert. Diese Bezogenheit auf den staatlich organisierten Rechtsmechanismus und seinen Erzwingungsstab soll bei Ihering der fachjuristischen Arbeit zu Hilfe kommen. Sie ermöglicht „Nichtkontingenz" auf der Ebene gesetzlicher Normprojektionen. 57 Sie bewirkt eine Ausschaltung von allen in die Staatsorganisation nicht einbezogenen normativen Möglichkeiten. Der Jurist wäre andernfalls einer ihn überfordernden Normkontingenz ausgeliefert. Die verschiedenartigsten normativen Ansprüche kämen in Betracht, unabhängig davon, in welchem Kreis sie aufgestellt worden wären. Kriterium der Rechtsqualität ist der Staatsbezug in einem besonderen Sinne. Rechtlich ist nicht das moralisch Geforderte. Die Normen einer Räuberbande entbehren des Rechtscharakters, nicht weil sie moralisch unannehmbar, sondern weil sie staatlich weder sanktionierbar sind noch unterstützt werden. Die Sanktion steht hierbei repräsentativ für die Verknüpfung einer Normprojektion mit der staatlichen Organisation des Rechtsmechanismus. Die 55
Zweck I, S. 321 ff., 324 (Anmerkung). Ebd. 57 Formulierung in Anlehnung an Luhmann. Er spricht von „Nichtkontingenz auf der Ebene normativer Erwartungserwartungen". Niklas Luhmann, Rechtstheorie im interdisziplinären Zusammenhang, in: Ausdifferenzierung des Rechts, (§2 FN 8), S. 191-240, 217. 56
II. Geltungsquelle der Rechtsnorm
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fachjuristische Dienlichkeit des Zwanges liegt nicht in der Erzwingung selbst, sondern im Moment der Bezogenheit der Norm auf den staatlich organisierten Rechtsmechanismus. Der Zwang ist lediglich eine Form derselben. Obwohl beispielsweise die staatsrechtlichen Normen gesicherter Erzwingbarkeit entbehren, werden sie von Ihering als Rechtsnormen anerkannt, vor allem weil „die ganze Institution, von der sie nur ein kleines Stück bilden, rechtlicher Art ist." 5 8 Nicht die tatsächliche Erzwingung, sondern die staatsbezogene Sanktionsbereitschaft ist das Entscheidende. Diese vermag, einer Normprojektion gesamtgesellschaftliche Relevanz zu verleihen. Die Normen des staatlich verbotenen Vereins können ihrer Territorialität nicht entledigt werden. Sie dienen nicht der gesamtgesellschaftlichen Orientierungssicherheit und werden ausschließlich von der Gruppenöffentlichkeit des Vereins durch Sanktionsbereitschaft gestützt. Anders verhält es sich mit dem anderen wichtigen Prüfstein für eine Rechtsnormentheorie, dem Völkerrecht. In diesem Fall fehlt es an gesicherter Erzwingbarkeit. Dennoch spricht Ihering den völkerrechtlichen Normen den Rechtscharakter nicht ab. „Der rechtliche Charakter des Völkerrechts kann nicht Gegenstand des Zweifels sein." 59 Es geht nur darum, daß hier die „Organisation des Zwanges mit der Rechtsnorm nicht gleichen Schritt halten kann". Die Realisierungssicherheit ist auf die „unvollkommene Form" der „ungeregelten, unorganisierten Gewalt" angewiesen. Es sind die „Formen der öffentlich-rechtlichen Selbsthilfe", die hier in Ermangelung einer Zentralmacht die Verfolgung des Rechts in die Hand nehmen. Dieselbe Rolle hat die Selbsthilfe übrigens „desselben Mangels wegen in der Urzeit für das Privatrecht" angenommen.60 In der Selbsthilfe der Völker „zum Zwecke der Behauptung ihrer Rechte bewährt sich die Zusammengehörigkeit" von zwei Momenten, „des inneren der Norm und des äußeren des Zwanges." 61 Mit dem inneren Moment wird die Ordnungsgewißheit oder Orientierungssicherheit gemeint. Es wird auf die Normativitätsbedingungen Bezug genommen unabhängig davon, ob Erzwingbarkeit gesichert ist. Damit wird angesprochen, daß es im Völkerleben Normen gibt, wonach „man sich richtet". 62 Mit dem äußeren Moment des Zwanges ist die Realisierungssicherheit gemeint. Von Bedeutung ist aber auch hier nicht die tatsächliche Erzwingung, sondern die internationale Sanktionsbereitschaft. Nicht die Sanktion ist das wichtigste, sondern die allgemeine Annahme, daß, wenn eine Zentralmacht existieren würde, diese auch zur Sanktionsausübung bereit wäre. Es kommt gar nicht darauf an, ob Normerzwingung in concreto überhaupt möglich ist. Das Festhalten am Rechtscharakter trotz des Fehlens an Realisierungssicherheit und die gleichzeitige Betonung der Bedeutung dieses durchaus unvollkommenen 58 59 60 61 62
Zweck Zweck Zweck Ebd. Zweck
I, S. 329. I, S. 326. I, S. 327. I, S. 330.
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§ 4 Geltungsgrundlagen der Rechtsnorm bei Rudolph von Ihering
Zwangsmomentes sind ein Hinweis darauf, daß Ihering auf der Suche nach einem sozial generalisierfahigen Moment war. Er suchte nach der Festlegung der Institutionalisierung im Recht. Der „weite Gesichtspunkt allgemein anerkannter und tatsächlich befolgter Normen" schien ihm dafür ungeeignet, weil er das „charakteristische Unterscheidungsmerkmal der Normen des Rechts von denen der Sitte und Moral" preisgebe. 63 M i t der Sanktionsbereitschaft einer Zentralmacht wird eine gesamtgesellschaftliche oder internationale Durchschlagskraft symbolisiert. Wenn tatsächliche Sanktionierung mangels zentraler Gewaltorganisation nicht erfolgen kann, wird dem Symbolisierten, solange man im allgemeinen mit einer hypothetischen Sanktionsbereitschaft rechnet, kein Abbruch getan. Nicht jede Sanktion oder Sanktionsbereitschaft kann jedoch diese Rolle spielen. Die durch die Gruppenöffentlichkeit der Räuberbande sanktionierten Normen erlangen deswegen noch keine generalisierfahige Erheblichkeit. Im Gegensatz dazu genießen völkerrechtliche Normen trotz ständigen Zuwiderhandelns nichtsanktionierte internationale Relevanz. Es läßt sich abschließend die These aufstellen, daß der „gesetzgeberischen Fixierung" einer Norm aufgrund staatlicher Erzwingbarkeit gesamtgesellschaftliche Relevanz beschieden wird. Dies bedeutet jedoch nicht, daß sie empirisch gilt. Der Rechtssatz ist ein, um es mit Max Weber zu formulieren, „bloßes Symptom gewünschter, bis zur Stellungnahme der Rechtspraxis problematischer" empirischer Geltung. 64 Geltung und Wirksamkeit sind bei Ihering identisch. Geltung kann demnach bei ihm dahingehend definiert werden, daß sie die tatsächliche Ausschaltung anderer normativen Möglichkeiten durch faktisches Verhalten der Bürger und Anwendung bestimmter Normen von Fall zu Fall ist. Gültig sind diejenigen Rechtssätze, welche sich durch fallweise Verwirklichung zu Rechtsnormen machen. Unanwendbarkeit führt zu desuetudo, Abstreifen der Geltung und Herabsetzung des Rechtssatzes zu einem Schema bloßer Zugehörigkeit zum begrifflichen Wortwerk eines Satzgefüges. Diese Zugehörigkeit wird in dem durch den Sanktions- und Erzwingbarkeitsbegriff hergestellten Staatsbezug impliziert. Sie beschenkt den Rechtssatz mit sozialer Generalisierfahigkeit. Sie stellt die ideelle Geltung Kelsens dar. Der Tatbestand der Rechtsverwirklichung kann nun wie folgt interpretiert werden. Er bezieht sich sowohl auf die Erzeugung von Norminhalten als auch auf die Wirksamkeit und die Rechtsqualität von Normen. Sämtliche Faktoren des „verwickelten Getriebes des Rechtslebens, des gesamten Rechtsmechanismus" beteiligen sich daran. Dazu zählt Ihering die Aufstellung abstrakter Gesetzesinhalte, die knappe, strenge Form des Prozesses, die „juristische Kunst und de(n) gelehrte(n) Juristenstand", die „intellektuelle und sittliche Kulturstufe des Volks". 6 5 Der Norminhalt ist keinem bestimmten dieser Faktoren zu verdanken. Gesetzgebung, Verwaltung und richterliche Instanz, Dogmatik und faktische Geregeltheit sind nur in ihrem Zusammenwirken imstande, den Inhalt 63 64 65
Zweck I, S. 326. Weber, WuG, (§ 1 F N 9), S. 508. Geist I I 2, S. 322 ff.
III. Rechtsnorm und soziale Ordnung
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einer Rechtsnorm hinreichend zu definieren. Was die Rechtsqualität von Normen angeht, so ist diese ebenso ein Gesamtprodukt, da sie mit der Geltung und diese wiederum mit der Wirksamkeit identifiziert wird. Letztere ist das Ergebnis der Betätigung der ganzen Rechtsmaschinerie. Die Rechtsverwirklichung hat mithin drei Aspekte. Sie betrifft den Rechtscharakter, den Inhalt und die Wirksamkeit von Normen. Sie stellt das Ergebnis der dynamischen Struktur des ganzen Rechtssystems dar. Sie wird nur durch eine „strukturelle Gesamtverursachung" möglich. III. Rechtsnorm und soziale Ordnung Dem Schüler der früheren und dem eigentlichen Stifter der neueren historischen Rechtsschule ist der Tatbestand sehr geläufig, daß ein Spannungsverhältnis zwischen proklamativem Rechtssatz und immanenter Lebensordnung besteht. In „Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung" wird die Antithese zwischen gewachsener, immanenter Lebensbestimmtheit und planmäßiger Normiertheit in der Einleitung thematisiert. Das Recht ist nicht nur „ein äußerliches Aggregat willkürlicher Bestimmungen, welches der Reflexion des Gesetzgebers seinen Ursprung verdankt". Es ist, ebenso wie die Sprache eines Volkes ein „innerlich abgeschlossenes Produkt der Geschichte". 66 Die damals beliebte Sprachmetapher wird zur Veranschaulichung unreflektierter Regelhaftigkeit benutzt. Ihering verweist auf die Aussagen eines von ihm oft zitierten Sprachforschers. Genauso wie man die Muttersprache spricht, ohne ihre grammatischen Regeln unbedingt zu beherrschen, so legt man auch ein regelgeleitetes Verhalten an den Tag, ohne sich der Regeln bewußt zu sein. Dem Fremden fallen auf den ersten Blick hervorstechende Punkte auf, die dem, welcher die Sprache „von Kindesbeinen an redet, eben der Gewohnheit wegen" entweder nie oder nur schwer inne werden. 67 Das Ergebnis einer „auf die Erkenntnis des Rechts gerichteten Tätigkeit ist das Aussprechen des Erkannten . . . das Formulieren des Rechts" 68 . Es geht um die deklarative Statuierung einer subsistenten Norm. „Menschliche Absicht und Berechnung" beteiligt sich freilich an der Ordnungsbildung „aber sie findet mehr als daß sie schafft". Die Verhältnisse, in denen sich das soziale Leben bewegt, warten nicht erst auf die Gesetzgebung, „daß sie dieselben aufrichte und gestalte." 69 Damit meint Ihering eigentlich, daß reine Immanenz und planmäßig konvenierte Vergegenständlichung der sozialen Ordnung sich als Erscheinungsformen ein und derselben Tatsache darstellen. 70 Immanente unformulierte Lebensordnung ist möglich; zweckmäßig aufgestellte und gesetzte Ordnung ist hingegen nur auf dem Hintergrund einer immanenten Ordnung lebensfähig. 66 67 68 69 70
Geist I, Geist I, Geist I, Geist I, Geiger,
10 Gromitsaris
S. 25 f. S. 30 (Anmerkung 3). S. 27. S. 26. Arbeiten, (§ 3 F N 28), S. 371.
146
§ 4 Geltungsgrundlagen der Rechtsnorm bei Rudolph von Ihering
Das hat Ihering an der altrömischen Familienordnung exemplifixiert. Geordnetes Familienleben gibt es auch ohne ein i n Worten niedergelegtes Normgefüge. Das beste M i t t e l , u m sich über den Sinn u n d Bestimmung der familienrechtlichen Gewalt Klarheit zu verschaffen, bestehe darin, diese i n ihrer wirklichen Gestalt i m römischen Leben zu betrachten. 7 1 Es gelte hier, sich v o n den fest verwurzelten Vorurteilen hinsichtlich des römischen Familienlebens loszusagen. Das abstrakte Recht habe Juristen, die nur gewohnt seien sich an die „Rechtsabstraktionen" zu h a l t e n 7 2 , sowie Philologen u n d Philosophen wie Hegel i n die Irre geführt. 7 3 Der „Schluß v o m F a m i l i e n - R e c h t auf das Familien- L e b e n " ist ein übereilter 7 4 , weil er die „ o f t despotische Herrschaft der Sitte", diese „Selbstbeschränkung der Freiheit" u n d die öffentliche Meinung, kurz die immanente Lebensordnung, außer A c h t l ä ß t . 7 5 Die i n Thesi unbeschränkte „herrschaftliche G e w a l t " über die Sklaven war in W i r k l i c h k e i t durch soziale „Einflüsse, Rücksichten, Umstände" auf ein „ganz verständiges M a ß " zurückgeführt 7 6 . D i e Sitte hatte N o r m e n aufgestellt, von denen der einzelne, ohne sich dem „öffentlichen Gerede" auszusetzen, nicht abgehen konnte. M i t der „väterlichen" u n d der „eheherrlichen G e w a l t " verhielt es sich genauso. 7 7 Die ,thatsächliche Gestalt der Familienverhältnisse i m Leben" war 71
Geist I I 1, S. 199. Ebd. (Anmerkung 302). 73 Zum Rombild Hegels und zu den Divergenzpunkten mit Ihering s. Wolfgang Pleister, Persönlichkeit, Wille und Freiheit im Werke Iherings, Ebelsbach 1982, S. 159. 74 Geist I I 1, S. 200. 75 Friedrich Carl von Savigny, Darstellung der in den Preußischen Gesetzen über die Ehescheidung unternommenen Reform, in: ders., Vermischte Schriften Bd. 5, Berlin 1850, S. 222-414, 231 ff., thematisiert ebenfalls den Unterschied zwischen Familienrecht und Familienleben. Das Eheverhältnis sei nicht von ganz gleicher Natur mit den übrigen Verhältnissen des Privatrechts; ders., System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, ebd. (§ 2 F N 41), S. 342, 345; ders., ebd., Bd. 8, 2. Neudruck der Ausgabe Berlin 1849, Aalen 1981, S. 119, 324, 493; ders., Recension. R. Th. v. Gönner, über Gesetzgebung und Rechtswissenschaft in unserer Zeit, Erlangen bei Palm 1815, in: ders., Vermischte Schriften, Bd. 5, S. 115-172, 142. Die Familie sei durch eine von dem positiven Recht unabhängige Notwendigkeit gekennzeichnet; Kiefner, Lex Frater a Fratre, (§ 2 F N 44), S. 136ff., hat nachweisen können, daß trotz dieser Betrachtung des Familienlebens Savigny nicht als Begründer einer institutionellen Rechtsauffassung zu bezeichnen ist. Savigny unterscheidet streng zwischen Institution und Rechtsinstitut. Die Rechtsinstitute sind technisch-juristische Figuren. Lebensverhältnisse (oder Institutionen) werden überhaupt erst dadurch zu Rechtsverhältnissen, wenn man sie unter die Merkmale eines Rechtsinstituts zu fassen vermag. Allein dieser Subsumtionakt stellt rechtliche Qualität her. Vgl. Georges S. Maridakis, Die internationalprivatrechtliche Lehre Savignys im Lichte seiner Rechtsentstehungstheorie, in: Festschrift für Hans Lewald, Basel 1953, S. 309-315, 310: Das positive Recht sei im Savignyschen Sinne ein System der Rechtsverhältnisse. Nach Jan Schröder, Savignys Spezialistendogma und die „soziologische" Jurisprudenz, in: Rechtstheorie 7 (1976), S. 23-52, 39,43 ff., stehe Savigny der Freirechtsschule näher als Max Weber. 72
76
Geist I I 1, S. 143, 178. Bernhard Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 9. Aufl. unter vergleichender Darstellung des deutschen bürgerlichen Rechts bearbeitet von Theodor Kipp, 2. 77
III. Rechtsnorm und soziale Ordnung
147
eine vollkommen andere als die, welche die verbal niedergelegte Ordnung wiedergeben kann. Das Eingreifen des Gesetzes beschränkt sich auf ein Minimum. Im römischen Haus sind die Lebensverhältnisse vor allem durch die Sitte geregelt. Sie sind ein „der todten Rechtsregeln eximirtes Gebiet". Die „dürre Prosa" des Rechts kann nicht überall eindringen. Für eine Reihe von Streitigkeiten, die sich in verschiedenen sozialen Bereichen entspinnen, hat das Recht sogar keine Normen. 78 Es ist die Sitte, „die richten muß." 7 9 Realordnung und Wortnormengefüge stehen in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis, welches bei Ihering nicht nur auf das Familienleben lokalisiert werden darf, sondern als verallgemeinerungsfähig auf sämtliche Gesellschaftsintegrate übertragen werden soll. Es ist nicht die Ausdrückbarkeit, welche für die Regelmäßigkeit im Gruppenleben ausschlaggebend ist. Es ist wiederum nicht die gewachsene Ordnung allein, die die Gruppenordnung ausmacht. Es bedarf der Wechselwirkung. Diesen doppelten Tatbestand hat Ihering deutlich angesprochen. In seinem Versuch, den Gedanken der Herrschaft als Inhaltsmoment des älteren römischen Rechts herauszuarbeiten, kommt er zu folgender Auffassung. Der Inhalt eines jeden Rechtsverhältnisses sei „Willensmacht" und Herrschaft. Die Unterschiede der Rechtsverhältnisse seien „Unterschiede der Herrschaft" 80 . Das Charakteristische der Rechtsverhältnisse liege „in der Fülle der Machtbefugnisse, die sie gewähren". Sie seien „leere, abstrakte Formen, die ihren Inhalt erst von dem subjektiven Willen erwarten". Sie könnten daher im einzelnen Falle eine „abstoßende sowohl und sittlich verletzende als eine anziehende und sittlich befriedigende" Gestalt annehmen.81 Es komme auf den Inhalt an, den das römische Leben in die abstrakten Formen gieße. Man solle sich von der „fixen Idee" losmachen, daß aus der rechtlichen Möglichkeit des Mißbrauchs jener in den Rechtsverhältnissen liegenden Gewalt die „reale Möglichkeit, die Wirklichkeit desselben" gefolgert werden müsse. Man müsse bedenken, daß vieles, was dem Recht nach geschehen könnte und dürfte, „factisch nicht durchführbar ist". Als Beispiel wird die Lex Canuleja angegeben. Es dauerte sehr lange bis dieses Gesetz, welches die Ehen der Patricier und Plebejer erlaubte, Neudruck derAusgabe Frankfurt a.M. 1906, Aalen 1984, Bd. 1, § 37a Text und Anm. 1, S. 165 f. behandelt dieses Problem ebenso wie Savigny anhand des Begriffspaars Lebensverhältnis/Rechtsverhältnis. Er reduziert somit das rechtlich Relevante auf das Ergebnis eines Subsumtionsaktes: „Ein Rechtsverhältnis ist ein rechtlich bestimmtes Verhältnis. Dieses Verhältnis kann möglicherweise nur ein Rechtsverhältnis sein, d.h. ein von der Rechtsordnung geschaffenes Verhältnis, ζ. B. das Eigentum, oder zugleich ein Lebensverhältnis, an welches die Rechtsordnung nur herantritt, z.B. Besitz". Unter Rechtsinstitut versteht Windscheid die Gesamtheit der auf ein Rechtsverhältnis (in seiner hervorgehobenen doppelten Bedeutung) sich beziehenden Rechtsvorschriften. Was nicht subsumiert werden kann, ist rechtlich unerheblich und kann nichts zum Rechtsverständnis beitragen. 78 79 80 81
10*
Geist Geist Geist Geist
II II II II
1, 1, 1, 1,
S. 182ff., 187ff., 195. S. 202 ff. S. 140. S. 141.
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§ 4 Geltungsgrundlagen der Rechtsnorm bei Rudolph von Ihering
„Wahrheit ward". 8 2 Die Konklusion Iherings, die nicht nur für das alte römische Recht gilt, ist wie folgt: Wer ein angemessenes Urteil über das Rechtssystem einer älteren sozialen Entwicklungsphase fallen will, der darf keineswegs aus dem Auge verlieren, daß der Sinn und Zweck der Rechtsinstitute im Zusammenhang mit der „Sittlichkeit" und der „ganzen Zeit" zu suchen ist. Dieser Zusammenhang zwischen der immer schon konstituierten sozialen Ordnung und den formulierten Gesetzen ist der „unentbehrliche Schlüssel" zum Rechtsverständnis. Die immer schon etablierte soziale Regelmäßigkeit ist eine Bedingung für die Entwicklung der gesetzgeberischen Tätigkeit. 83 Das Recht kann nur aus dem Leben heraus verstanden werden. Das planmäßig konvenierte Wortnormengefüge gewährt kein „Bild der Institute" wie sie im Leben wirklich bestehen, sondern einen bloßen Schattenriß, der von einem treuen Bilde des römischen Lebens soweit entfernt ist, „wie die Silhouette von dem Porträt". 8 4 Die abstrakten Rechtsvorschriften finden faktisch im Leben ihr richtiges Maß und Ziel. Ein proklamatives Gebarensmodell wird insofern subsistent, als es „die richtigen Bahnen einhält", das heißt, solange es auf keine zu starken „Hemmnisse, Rücksichten, Einflüsse seitens der Sitte stößt. Es ist einerlei, ob uns eine gesetzliche Vorschrift zwingt oder die öffentliche Meinung und die „herrschenden Begriffe von Ehe". Letzteren „läßt sich ebensowenig trotzen" wie dem Gesetz. Es ist nicht nötig, daß alles was unterbleiben soll, gerade durch das Gesetz verboten werde. 85 Die soziale Ordnung wird nicht erst durch dieProklamation von Rechtsnormen geschaffen. Gerade in diesem Spannungsfeld zwischen immanenter Regelmäßigkeit und zweckgerichteter Normstiftung entfaltet das Umwälzungsmoment der planmäßigen Gesetzgebung seine Wirkung. Zu seinem Wesen gehört es nicht, daß uno actu, plötzlich und jäh, eine Verschiebung der Konstellation von primären und sekundären Machtfaktoren herbeigeführt wird. Das revolutionäre Element der Zweckgesetzgebung liegt in der Verursachung eines Umstellungsprozesses. Dieser kann ein Versuch sein, feste Niederschläge des Kulturgehaltes, d.h. beharrende Verhaltensregularitäten oder etwa verfestigte Machtverhältnisse, mit neueren Erwartungszusammenhängen zu verbinden. 86 Es wird eine direkte Beeinflussung der Ordnungsgewißheit und ihrer vorhandenen eingespielten Orientierungsmodalitäten angestrebt. Dies kann nur dann zum Erfolg führen, wenn die gesetzgeberische Normprojektion hinter der Fassade der überkommenen Formen eine „schleichende Revolution" hervorrufen kann. Ein im Spannungsfeld selbst faktisch zu bestimmender Grad der durch die Neuregelung ausgelösten Orientierungsunsicherheit darf nicht überschritten werden. Sonst hält man lieber an der alten Ordnungsgewißheit fest. Auf Machtkonstellationen beruhende immanente Gruppenordnungen und absichtsvoll statuiertes Wortnormengefüge treten in 82 83 84 85 86
Ebd. Geist I I 1, S. 307 f. Geist I I 1, S. 141 f. Ebd. Zum Thema Revolution s. Geiger, Handwörterbuch, (§ 3 F N 6), S. 511-518, 514.
IV. Staatszwang und Rechtsnorm
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ihrer Wechselwirkung „als objektive Macht" den jeweiligen Gruppenmitgliedern gegenüber, „Geltung heischend, Beachtung fordernd." 87 Die individuelle Lebensführung in den einzelnen Gesellschaftsintegraten sieht sich mit einem Gefüge formulierter und unformulierter Beschränkungen konfrontiert. Die Rechtsnormen sind subsistent, und zwar einmal durch ihren Macht- und Zwangsbezug auf der Ebene der Realisierungssicherheit und andererseits durch ihre Verhaltensbezogenheit auf der Ebene der Orientierungssicherheit. Das Recht stellt sich unter dem Gesichtspunkt seiner staatlichen Organisation „als das durch den Staat verwirklichte System des Zwanges dar. 8 8 Die rechtlich geforderten Verhaltensweisen nehmen deswegen im Beziehungsnetz der Gesellschaftsintegrate einen besonderen Platz ein. Erzwingbarkeit der Rechtsnormen bedeutet nichts anderes als ein voraussichtliches Eingreifen physischer Gewalt, deren zweifelloses Übergewicht moralisch gestützt und gefördert wird. Der Vorteil dieser Gewaltausübung liegt vor allem darin, daß sie kontextfrei ist. Physische Gewalt umgeht sämtliche in den verschiedensten Gruppenordnungen eingespielten Steuerungsansprüche. Sie braucht die Konstellationen primärer und sekundärer Machtfaktoren nicht zu beachten. Ihr voraussichtliches Eingreifen wird selbst zu einem Machtfaktor, der die Steuerungsmöglichkeiten desjenigen, der sich darauf berufen kann, erheblich erweitert, ungeachtet der Machtverhältnisse, in denen er bereits steckt. Staatliche Sanktionsbereitschaft ersetzt das Zusammentreffen beliebiger Umstände von interkursiven Machtverhältnissen durch ein einziges integrales Machtverhältnis zwischen Staatszwang und einer beliebigen Lebenskonstallation. Diese gesamtgesellschaftliche Relevanz der Staatsgewalt ist der Beitrag des Rechts zur sozialen Integration auf der Ebene der Realisierungssicherheit. Sie bewirkt auf der Ebene der Ordnungsgewißheit eine Verhaltensorientiertheit, die die fordernden Erwartungen der vereinzelten Gruppenordnungen festigt, aufbaut oder verunsichert und abbaut. Die kontextfreie Staatszwangsandrohung greift als Potentialität von legitimer Gewaltanwendung in die niedrigere Integrationsebene der Gruppenordnungen ein. Sie wirkt polemisch, integrationsfeindlich und entfaltet trotzdem höhere, abstraktere integrationsfördernde Wirkung. Das Recht bringt als musterhaftes soziales Faktum eine genuin solidarische Leistung. Die Disjunktion Konformität/Abweichung nimmt durch ihren Staatsbezug die Gestalt der Differenz Recht / Unrecht an und wird in allen Integraten relevant und zitierfähig. IV. Staatszwang und Rechtsnorm Ihering hat sich bemüht, nicht nur den Zusammenhang zwischen Recht und Zwang herzustellen, sondern auch den geschichtlichen Ursprung desselben zu schildern. Er verwendet den Zwang als Oberbegriff und zerlegt ihn in den mechanischen (vis absoluta) und den psychologischen Zwangstypus. Hinzu 87 88
Geiger, Gesellung, (§ 3 F N 9), S. 34. Zweck I, S. 335.
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§ 4 Geltungsgrundlagen der Rechtsnorm bei Rudolph von Ihering
kommt die Unterscheidung nach der Verschiedenheit des zu erreichenden Zwecks, nämlich ob der Zwang propulsiv zur Abwehr oder compulsiv zur Vornahme eines gewissen Handelns ausgeübt wird. Beim psychologischen Zwange erfolgt die Widerstandsüberwindung des fremden Willens „von innen heraus an ihm selber". Bei dem mechanischen Zwange „wird der Akt durch den Zwingenden, bei dem psychologischem durch den Gezwungenen vorgenommen". Im ersten Fall handelt es sich darum, negativ den Widerstand des Willens zu brechen. Im zweiten darum, diesen „positiv in Bewegung zu versetzen". Als Beispiele werden entsprechend der Raub und die erzwungene Eigentumsübertragung angeführt. Diese Begrifflichkeit ist unscharf. Der Zwang bleibt immer darauf bezogen, etwas konkret genau Bestimmtes zu tun. Die durch Autorität bewirkte Steuerung der eigentlichen Selektivität des anderen wird nicht berücksichtigt. Die freiwillige Übernahme fremder Selektionsleistungen in der Form, daß die Selektionsweise des einen Partners zur Motivationstruktur, zur Prämisse des Verhaltens des anderen wird, findet in Iherings Zwangsschema keinen Platz. Das tut jedoch seiner Zwangstheorie hinsichtlich des Recht/Zwang Verhältnisses keinen Abbruch, weil es ihm gelingt, die Organisation der interkursiven Machtverhältnisse zu einem integralen Machtverhältnis darzulegen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist nicht der fertige Staat und die Bedingtheit des Rechts durch denselben, sondern das vorstaatliche soziale Zwangssystem. Der Tatbestand der sozialen Interdependenz habe den Menschen zur Bändigung der Gewalt geführt. Es geht um die Tatsache, daß der Mensch nicht anders könne, als einen Zustand herzustellen, bei dem eine Gemeinschaft des Lebens möglich sei. Dies habe ihn zu der Einsicht geführt, wie er die Gewalt zu benutzen habe, um die fremde Kraft nicht nur unschädlich, sondern sich nutzbar zu machen. Die Schonung des besiegten Feindes anfangs, durch Versklavung und später durch seine Verpflichtung, Tribute in Frieden abzutragen, zeuge von der im eigenen Interesse vollzogenen Selbstbeherrschung der Gewalt. „Die Gewalt setzt sich damit ein Maß, das sie beachtet, sie erkennt eine Norm an, der sie sich unterordnen will, und diese von ihr selbst genehmigte N o r m . . . die Beilegung des Kampfes durch Herstellung eines modus vivendi ist das Recht." 89 Die weitere Untersuchung Iherings geht um die Frage nach der Entstehungsweise der Richtschnur und des Maßstabes für selbstbeschränktes Handeln und Selbstbeurteilung der Gewalt. Er lehnt die in seiner Zeit herrschende juristische und rechtsphilosophische Auffassung über die Rolle der Gewalt ab. In dieser Auffassung wurde im Verhältnis zwischen Rechtsnorm und Gewalt der Nachdruck ganz auf die erstere gelegt. Der zweiten wurde „die unselbständige Stellung einer bloßen Dienerin" zugewiesen.90 Ihering behauptet hingegen, daß nicht das „ideale Moment" des rechtlichen Gedankeninhaltes, sondern das reale des „Kampfes der Interessen" und die Mittel, durch welche er ausgekämpft 89 90
Zweck I, S. 236f., 242, 245. Zweck I, S. 253.
IV. Staatszwang und Rechtsnorm
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werde, tatsächlich die „Fundamentierung der gesellschaftlichen Ordnung" herbeiführe. 91 Wenn im „geregelten Rechtszustande" Fälle vorkommen, wo die Gewalt „dem Recht den Gehorsam aufkündigt" und ungebändigt auftritt, verrichtet sie dasselbe Werk, „wie einstens beim ersten Aufbau der gesellschaftlichen Ordnung: Das Setzen des Rechts." Wie unverständlich es auch für diejenigen sei, die „das Recht als den Willen des Staates zu definieren und die Verwirklichung desselben ihm zu überlassen gewohnt sind", ist „persönliche Thatkraft" die Quelle des Rechts. Die ganze heutige Vorstellungsweise von Staat und Rechtsordnung muß zurückgelassen werden, wenn der Boden des Urzustandes der rechtlichen Kosmogonie betreten wird. In physischer Kraft, Raub und Erbeutung liegt die „rechte Entstehung der rechtlichen Herrschaft". Die Gewalt hat als Mutter des Rechts ihre Entsprechung auch in der „uranfänglichen Lebensanschauung" der Völker; letztere nahmen an Gewalttätigkeit keinen Anstoß. 92 Das Beziehungsnetz menschlicher Interrelationen wird in dieser Phase als ein Gefüge interkursiver Machtverhältnisse beschrieben. Die Berücksichtigung der Stärke und Widerstandsfähigkeit des anderen ist das Maß der Regulierung von Verhaltensbeliebigkeit. Mächtigere stehen weniger Mächtigen gegenüber. Der Gewalt- und Machtgebrauch des Mächtigen wird durch die bloße Voraussicht des Widerstandes gesteuert. Der erbeutete Gegenstand, das Erworbene und Erkämpfte wird „zu einem Teile der Person selbst" und durch das „Gefühl der eigenen Berechtigung" geprägt. Diese Berechtigung stützt sich auf die „Bewährung der eigenen Kraft und auf die Behauptung der Früchte derselben". Das mühsam Gewonnene will behalten werden. Ihering meint, daß dieses eine Stabilisierung von Machtpositionen mit sich bringe, Laune und Wunschrichtung des Augenblicks träten zurück und ein bestimmter Gewaltund Machtgebrauch stelle sich habituell ein. 93 Wie lückenhaft dieses Entstehungsbild auch sein mag, so sagt es sich doch von der herkömmlichen Theorie des Rechts und der Gewalt aufs entschiedenste los. Letztere verdeckte „durch den Nimbus göttlicher Entstehung den menschlichen Schweiß und das Blut, das dem Ursprung des Rechts anklebt". 9 4 Interkursive Gewalt und Machtverhältnisse führen zum Recht am tatsächlichen erworbenen Gegenstand. Regelmäßigkeiten des Gewalt- und Machtgebrauchs spielen sich allmählich ein und werden selbst zu einem fait accompli, einem sekundären Machtfaktor. Das Gleichgewicht der primären, von Natur gegebenen Machtfaktoren wie Körperstärke, Schnelligkeit, Waffenübung usw. wird überlagert. Der sofortige und volle Ausschlag von Verschiebungen der primären Faktoren wird gehemmt, weil er das Beharrungsvermögen der sekundären Machtfaktoren überkompensieren muß. Die Bewährung der eigenen Kraft auf längere Sicht und das Gefühl der eigenen Berechtigung stabilisieren innerhalb gewisser Grenzen einen Machtstatus. Der so entstandene modus vivendi stellt ein Maß der Beurteilung und eine 91 92 93 94
Zweck I, S. 255 ff. Geist I, S. 112, 114; Zweck I, S. 256. Geist I, S. 102; Geiger, Vorstudien, (§ 3 F N 48) S. 342. Geist I, S. 107.
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§ 4 Geltungsgrundlagen der Rechtsnorm bei Rudolph von Ihering
Richtschnur für die Gewalt- und Machhandhabung dar. Er ist eine Rechtsnorm. Die Gewalt gelangt zur Rechtsnorm „nicht als zu etwas ihr Fremdem, das sie von außerhalb vom Rechtsgefühl entlehnen, und nicht als zu etwas Höherem.. sondern sie treibt das Recht als Maß ihrer selbst aus sich heraus — das Recht als Politik der Gewalt". 95 Sie legt sich das Recht nur „als ein akzessorisches Moment" ihrer selbst zu. Sie wird zu rechter Gewalt. 96 Das Problem, ob nun das Übergewicht der Gewalt auf Seiten des eingespielten Macht- und Gewaltgebrauchs bleibt, hängt mit dem zusammen, was Ihering „soziale Organisation oder Selbstregulierung des Zwanges" genannt hat. Die Rechtsnorm setzt als fait accompli und eingespielter modus vivendi schon voraus, daß das Übergewicht der Gewalt auf ihre Seite gebracht worden ist. Als treibende Kraft dieser Verschiebung wird die Überlegenheit „der gemeinsamen Interessen aller über das Partikularinteresse eines einzelnen" angeführt. 97 Alliance und Garantie im Völkerverkehr sowie das Zeugengeschäft und die sozialen Verbände sind Beispiele erstrebter Veränderungen im Beziehungsnetz der interkursiven Machtverhältnisse aufgrund gemeinsamer Interessen. 98 Interessengemeinsamkeit ist der „springende Punkt" in der ganzen gesellschaftlichen Organisation der Gewalt. Sie ist jedoch nicht das Rechtskriterium. Sie stellt lediglich einen der Machtfaktoren dar, die zur Herausbildung von sozialen Verbänden leiten. Als sozialer Verband wird auch der Staat festgelegt 99. Er entspringt einer Konstellation interkursiver Machtverhältnisse, die in ein mit generellgesellschaftlicher Durchschlagskraft verknüpftes, integrales Macht Verhältnis ausmünden. Seine Verbindung mit der Rechtsnorm beruht nicht auf einer angeblich in ihm verdichteten Interessengemeinsamkeit. Rechtsnorm ist die Tatsächlichkeit der Selbstbeschränkung und der Regulierung der Gewalt. Ihr Rechtscharakter liegt im Beharrungsvermögen der sekundären Faktoren des integralen Machtverhältnisses. Letztere wirken mit der Beständigkeit einer Institution. Staat und Recht sind nichts anderes als die soziale Organisation des Zwanges. „Der Staat ist die Gesellschaft als Inhaberin der geregelten und disziplinierten Zwangsgewalt." Der „Inbegriff der Grundsätze", nach denen der Staat diszipliniert tätig wird, stellt die Rechtsnormen dar. Die „Disziplin des Zwanges ist das Recht." 1 0 0
95
Zweck I, S. 249. Zweck I, S. 250 f. 97 Zweck I, S. 294. 98 Geist I, S. 140ff., 142f.: Im altrömischen Recht hatten die Zeugen ein Interesse für den Erfolg der Selbsthilfe. Sie waren daher nach Ihering als Garante zugezogen, um helfend eine in den Fäusten ruhende Wahrheit zu „bezeugen"; Zweck I, S. 293 f. 99 Zweck I, S. 305f.: „Es ist in meinen Augen eine begriffliche Willkür, wenn man den Begriff des öffentlichen Rechts auf Staat und Kirche beschränkt . . . Der Verein gehört dem öffentlichen Recht an, oder richtiger, letzteres fallt gänzlich mit ihm zusammen, sowie das Privatrecht mit dem Individuum... Mit dem Verein hat unsere Begriffsentwicklung das Niveau des Staates erreicht, in bezug auf seine Form steht derselbe mit allen Vereinen auf einer L i n i e . . . " 100 Zweck I, S. 308 f. 96
IV. Staatszwang und Rechtsnorm
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Diese Rechtsdefinition ist nicht absolut. Das Recht wird im Hinblick auf seinen Machtbezug definiert. Die Symbiose von Staatsgewalt und Recht ist von großem beiderseitigem Nutzen. Beide Begriffe stehen im Verhältnis gegenseitiger Bedingtheit. „Die Staatsgewalt hat das Recht, das Recht die Staatsgewalt nötig." 1 0 1 Der Staat ist der einzige Inhaber der sozialen Zwangsgewalt. Das „Zwangsrecht bildet das absolute Monopol des Staates". Das Zwangsrecht anderer Vereine, ζ. B. Kirche, ist ein „staatsrechtliches Prekarium" 1 0 2 . Das numerische Moment ist für die Machtfrage beim Staat einflußlos; es wird durch die beiden Faktoren der „Organisation der Macht in den Händen der Staatsgewalt und der„moralischen Macht des Staatsgedankens" aufgewogen. 103 Die organisierte Staatsgewalt gleicht der Überlegenheit des Mannes, der ein „scharfgeschliffenes jederzeit bereites Schwert" besitzt, über denjenigen, der „mehrere aber stumpfe hat, und die er nicht zu führen versteht". Der zweite, das Übergewicht des Staates über die „elementare Volkskraft" begründende Machtfaktor ist moralischer Natur. Damit meint Ihering „psychologische Motive", welche „für die Sache des Staates in die Wageschale fallen". Diese Auffassung Iherings erinnert an die Ausführungen von Max Weber, der die Legitimität als Glaube versteht und von „Legitimitätsglaube" spricht. Ihering meint, daß „die Einsicht in die Notwendigkeit der staatlichen Ordnung, den Sinn für Recht und Gesetz, die Angst vor der mit jener Störung der Ordnung verbundenen Bedrohung der Person und des Eigentums, die Furcht vor der Strafe" Faktoren sind, die den Legitimitätsglauben verstärken. 104 In diesem Punkt zieht der Staatszwang seinen Nutzen aus der Symbiose mit der Rechtsnorm. Er darf als legitim gelten, weil und solange er sich die Rechtsnorm zur Richtschnur seiner nackten Gewalt macht. Das Verständnis der Rechtsnormen als Gebrauchsanweisungen der Staatsgewalt ist daher zugleich eine Stellungnahme zur Problematik der Herrschaftslegitimation. Gewaltanwendung ist legitim, wenn sie unter bestimmten Bedingungen erfolgt. Die Rechtsnorm stellt hiernach eine Form der Verwendung der Gewalt für soziale Zwecke dar, welche nach einer langwierigen Entwicklung zur sozialen Organisation der Zwangsgewalt, dem Staat, gelangen sollte. Der moderne Staat hat erstens die Herstellung einer Macht, welche die Zwangsgewalt ausübt, zur Voraussetzung und zweitens die Aufstellung von Rechtsnormen, d.h. von Regeln über die Ausübung des Zwanges. Auf den Begriff der Macht bezogen bedeuten Rechtsnormen für Ihering demzufolge nichts anderes als die Grundsätze, welche den Gebrauch der Staatgewalt in ordnungsgemäße Bahnen lenken. Dem Zwang bzw. der Gewalt kommt bei Ihering kein allzu prominenter Stellenwert zu. Das Verhältnis von Staatszwang und Rechtsnorm kann nur im Lichte des ganzen Werkes zufriedenstellend bestimmt werden. Es sind sowohl 101 102 103 104
Zweck Zweck Zweck Zweck
I, I, I, I,
S. 311 f. S. 318, 319. S. 315, 316. S. 319, 320.
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§ 4 Geltungsgrundlagen der Rechtsnorm bei Rudolph von Ihering
Iherings Ausführungen zur Staatsgewalt als auch seine Äußerungen zur institutionalisierten Regelbefolgung innerhalb der schon etablierten sozialen Ordnung in Betracht zu ziehen. Anerkennung oder Erzwingbarkeit einer Norm durch die Staatsgewalt stellt kein Kriterium rechtlicher Prägung dar. Die Staatsbezogenheit einer Norm symbolisiert einen besonders hohen Generalisierungsgrad in der sozialen Dimension. Sie bedeutet Unterstellung von gesamtgesellschaftlicher Relevanz und dient als Kriterium für die Auswahl von möglicherweise zu berücksichtigenden Normen bei der juristisch-dogmatischen Beschäftigung und Rechtsanwendung. Normierung und Institutionalisierung sind nach Ihering kein Monopol der Staatsgewalt. Seine staatstheoretischen Überlegungen lassen jedoch - und nicht nur aus heutiger Sicht - sowohl an Genauigkeit als auch an der Art der Problemstellung zu wünschen übrig. Das Verhältnis der „List" des Staates, d.h. der „Gesellschaftssteuerung durch Verhandlungssysteme" zu der „List" der Gesellschaft, d. h. zu der „Entzauberung des Staates" 105 sowie die Semantik der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft überhaupt werfen eine Reihe von Fragen auf: Welche sind die Grenzen der einheitsstiftenden Rolle des Staates? Welche Aufgaben kommen dem Staate in einer funktional differenzierten Gesellschaft zu? Wer beobachtet schließlich die Wirklichkeit, in der staatliche Aufgaben wahrgenommen und erfüllt werden? Ob der Staat zum privilegierten Beobachter und Teilsystem der Gesellschaft werden kann, und ob er imstande ist, die autonome Intelligenz der anderen Teilsysteme zu stimulieren, ohne ins innere Funktionieren derselben einzugreifen, ist stark zu bezweifeln. 106 Das alles sind auf jeden Fall Probleme, die der Zivilrechtler Ihering nicht behandelt hat. In bezug auf den Staat erscheint Ihering die Rechtsnorm als eine beobachtete oder erstrebte Regelmäßigkeit der Machhandhabung durch Verhalten von Beamten. Sie ist die Festlegung von Umfang, Intensität und Richtung des staatlichen integralen Machtverhältnisses. Sie ist die Modalität organisationsgestützter Machtausübung und dies schon mehr als ein halbes Jahrhundert vor Theodor Geiger.
105
So das gleichnamige Buch von Helmut Willke, Entzauberung des Staates. Überlegungen zu einer sozietalen Steuerungstheorie, Königstein/Ts 1983, S. 128, 144. 106 Hierzu s. den Tagungsbericht von Gustav Seibt, Was kann der Staat? Bielefelder Forschungen über die Aufgaben des Staates, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.2. 1988, Nr. 46, S. 33.
§ 5 Institutionentheorie des Rechts von Helmut Schelsky In seinem Bestreben, die Schwierigkeiten der gesellschaftstheoretischen Erfassung des Rechts zu überwinden, hat Schelsky einen bestimmten theoretischen Ausgangspunkt gewählt. Er liegt darin, daß Schelsky die Überzeugung nicht teilen konnte, daß „ ,eine allgemeine Theorie 4 der Gesellschaft oder gar des menschlichen Handelns" geschaffen werden könnte, ohne daß die Erkenntnis der Vielseitigkeit der sozialen Wirklichkeit darunter leidet. Seine Untersuchungen gehen vielmehr von der Annahme aus, daß nur eine „Vielfalt von sozialwissenschaftlichen Theorieansätzen" der Vielfalt des Sozialen gerecht werden kann, indem die verschiedenen und oft entgegengesetzten Ansätze „jeweils aspekthafte Theorie-Schritte in die soziale Wirklichkeit" darstellen. Die Ansätze „ergänzen sich zwar in der Leistung der Wirklichkeitserkenntnis, nicht aber selbst zu einem Erkenntnissystem". Der Denkzwang der allgemeinen Theorie muß „mit dem Verlust an Wirklichkeitserkenntnis bezahlt werden." 1 I. Systemfunktionaler und der politischfunktionale Theorieansatz Auf diesen Ausgangspunkt der Theorie Schelskys ist eine Reihe von Mißverständnissen und Irrtümern zurückzuführen, die die „zutreffende Einschätzung" 2 seiner Rechtssoziologie belasten. Im Hinblick auf die Überlegungen Schelskys zum systemfunktionalen, anthropologischen und personfunktionalen Ansatz der Rechtssoziologie wird behauptet 3 , daß Schelskys eigener Zugang zum Recht ein personfunktionaler Ansatz sei. Darüber hinaus wird die Auffassung vertreten, daß Schelsky die moralisch begründete Forderung eines personfunktionalen Ansatzes in der Rechtssoziologie erhoben habe. Diese Ansicht wird auch noch in Zusammenhang mit einer angeblich ablehnenden Haltung Schelskys dem Werk von Niklas Luhmann gegenüber begründet. Schelsky sei der Retter der Menschlichkeit des Menschen. Mit der moralischen Forderung eines personfunktionalen Ansatzes ziehe er gegen die ärgerniserre1 Helmut Schelsky, Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie, in: Ders. Die Soziologen und das Recht, (§ 2 F N 2), S. 95146, 107. Im folgenden zitiert: ARS; ders., Die Soziologen und das Recht, in: ebd. S. 7794, 77. Im folgenden zitiert: SR. 2 Werner Krawietz, Rechtssystem als Institution? Über die Grundlagen von Helmut Schelskys sinnkritischer Institutionentheorie, in: Dorothea Mayer-Maly/Ota Weinberger, Michaela Strasser (Hrsg.), Recht als Sinn und Institution, Beiheft 6 der Rechtstheorie, S. 209-243, 231 ff., hat die drei „häufigsten Fehleinschätzungen" der Theorie Schelskys richtiggestellt. 3
Vgl. die von Krawietz,
ebd., S. 231 f. zitierte, einschlägige Literatur.
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§ 5 Institutionentheorie des Rechts von Helmut Schelsky
gende Tatsache zu Felde, daß in Luhmanns System Menschen eigentlich nur als Umwelt vorkommen. Es habe in seiner Absicht gelegen, der auf den Höhen der Systemtheorie herrschenden „Weltraumkälte" 4 Abhilfe zu leisten. 1. Demgegenüber wird hier davon ausgegangen, daß es in der Rechtstheorie und Rechtssoziologie Schelskys weder um Moral noch um Moraltheorie geht, „sondern ausschließlich um Recht". 5 Schelsky vertritt keine „normative Rechtstheorie und Rechtssoziologie". Es ist ihm keineswegs darum gegangen, für eine der Zugangsweisen zum Recht zu optieren. Sein Forschungsinteresse ist analytisch-theoretischer Art und darauf gerichtet, in „interdisziplinärer Erörterung" den „begrifflichen Rahmen" der möglichen Funktionsanalysen des Rechts zu ziehen. Schelsky erwähnt zunächst einmal zwei Theorieansätze einer Soziologie des Rechts: die systemfunktionale und die anthropologischfunktionale Analyse des Rechts. Beide Theorieansätze können ohne den Rekurs auf eine „politisch-funktionale Analyse" nicht auskommen. Nur soweit letztere angeht, betont Schelsky eine Betrachtungsweise, die Endziele und Leitideen sowohl von psychischen als auch von sozialen Systemen berücksichtigt. Der personfunktionale Ansatz ist daher insofern ein Fall der politisch-funktionalen Analyse, als diese auf psychische Systeme in einer soziologischen Perspektive angewandt wird. Sie ist nicht normativ. Sie bleibt deskriptiv, denn sie macht die vorhandenen Leitideen zum Gegenstand einer Funktionsanalyse. Sie schreibt derartige Leitideen nicht vor. 6 Dieser Komplex der rechtstheoretischen Untersuchungen Schelskys soll im folgenden analysiert werden. Es soll der Nachweis dafür erbracht werden, daß sich Schelsky für einen moralisch begründeten personfunktionalen Ansatz nicht eingesetzt hat. Er hat vielmehr eine systemund politischfunktionale Analyse des Rechts betrieben. Die verschiedenen „begrifflich-sprachlichen Ansätze", von denen die askpekthafte Erkenntnis des Sozialen abhängt, lassen sich nach Schelsky in hauptsächlich zwei Typologien des sozialwissenschaftlichen Denkens zerlegen, den individualistischen und den universalistischen Erklärungsansatz. Sämtliche grundlegenden Sozialbeziehungen werden „entweder vom Ganzen der Gesellschaft oder vom Individuum her" analysiert. Beide Theorieansätze sind komplementär. Die gleichen Wirklichkeiten des sozialen Lebens werden „komplementär angesprochen" und jeweils „verschieden problematisiert." Diese Komplementarität „führt zu zweierlei Erscheinungen". 7 Einerseits führt sie zur Aufstellung von „antagonistischen" 4 Vgl.: Nikolaus von Felsenberg, Ein Theoretiker der neuen Göttin Angst. SpiegelRedakteur Nikolaus von Felsenberg über Niklas Luhmanns „Ökologische Kommunikation", in: DER SPIEGEL, Nr.41, 1986, S. l l l f f . 5 Hier und zum folgenden: Krawietz, (§ 5 F N 2), S. 232 ff. 6 Krawietz, ebd., S. 234. Die Funktion von Endzielen und Leitideen hat Schelsky auch an konkreten Beispielen herausgearbeitet: Helmut Schelsky, Die strategischen Voraussetzungen politischer Grundsatzprogramme, in: ders., Der selbständige und der betreute Mensch. Politische Schriften und Kommentare, Stuttgart—Degerloch 1976, S. 49-56; ders., Rechtsstaat aktuell. Was verdanken wir der Baader-Meinhof-Bande?, ebd., S. 140144; ders., Über den Verfall der moralischen Institutionen, ebd., S. 150-153; ders., Der selbständige und der betreute Mensch, ebd., S. 13-48.
I. Systemfunktionaler und der politischfunktionale Theorieansatz
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Problem- und Kategoriensystemen und andererseits zur Auslösung einer „Tendenz zum Umschlagen" des einen Theorieansatzes „ i n die Problematik des anderen". Die Gegensätzlichkeit der Gesichtspunkte liegt darin begründet, daß sich der universalistische Ansatz des hoch abstrakten Begriffs des Systems und der individualistische des Begriffs der Person bedienen. Die „denkkonsequente Verfolgung" des Systemansatzes führt zur „Aufstellung von Ordnungs-, Integrations- und Institutionsproblematiken. Der indivualistische Ansatz läßt hingegen „Freiheits-, Konflikt- und Bewußtseinsproblematiken" in den Vordergrund treten. Die sozialwissenschaftlichen Grundkategorien sind demnach von den zwei verschiedenen Theorieansätzen her „durchproblematisiert". Das „dualistische Aufeinandertreffen" solcher Grundkategorien „im methodisch unreflektierten Bewußtsein" läßt „endlos diskussionsfahige, aber unlösbare sozialwissenschaftliche Probleme" in der komprimierten Form von Begriffspaaren entstehen, wie etwa „,Freiheit-Ordnung',,Konflikt-Integration',,Individuum-Gemeinschaft' u.a.". Diese Gegensätzlichkeiten lassen sich nach Schelsky nur scheinbar auflösen. Die Schwierigkeiten würden dadurch gelöst, daß denksystematische Vertreter eines Ansatzes die Kategorie der Gegenseite in das eigene System „hineindefinierten". 8 Das Ganze der Gesellschaft etwa werde als „objektiver Geist", als „kollektives Subjekt" begriffen. Umgekehrt werde das Individuum als abhängiger Faktor von sozialen Systemen oder formal als „SubSystem" verstanden. Dies führe zwar zu „Systembefriedigung" des jeweiligen Denkers, aber nicht zur „Aufhebung der vom anderen Ansatz her gedachten Problematik". Demgegenüber legt Schelsky Wert auf „den Vorteil antagonistischer soziologischer Theorieansätze". Die Sozialwissenschaft müsse mit zwei oder mit mehreren grundsätzlichen Theorieansätzen nötigenfalls auch arbeitsteilig operieren. Jeder Erkärungsansatz habe eine verschiedene „Erkenntnisund Praxisfunktion". Die Auffassung Schelksys von „soziologischer Theorie" ist zwei Beschränkungen unterlegen. 9 Er halte sie einerseits nur für notwendig, um „empirisch-operationale Hypothesen" zu formulieren. So habe er jedenfalls den Begriff Robert K. Mer tons von „den ,Theorien mittlerer Reichweite'" aufgefaßt. 10 Es gelte nicht, ein „System der theoretischen Soziologie" aufzustellen, sondern „jeweils theoretische Aspekte" zu entwickeln. Die zweite Beschränkung seiner theoretischen Tätigkeit habe Schelsky darin gesehen, daß soziologi7
Hier und zum folgenden: ARS, (§ 5 F N 1), S. 98 f. Hier und zum folgenden: Ebd. 9 Hier und zum folgenden: Helmut Schelsky, Soziologie — wie ich sie verstand und verstehe, in: Die Soziologen und das Recht, (§ 2 F N 2), S. 7-33,17 f. Im folgenden zitiert: SVV. 10 Schelsky, ebd., S. 17 macht darauf aufmerksam, daß die Auffassung Mertons in dem Begriff Hegels von der „mittleren Allgemeinheit" ihre Wurzel habe. Vgl. demgegenüber: Niklas Luhmann, Wie ist soziale Ordnung möglich?, in: Semantik und Gesellschaftsstruktur. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1981, S. 195-285, S. 267 (Anm. 134): Fachuniverselle Theorieangebote könnten in Plural entwickelt werden und vom Entwicklungsstand der Theorien mittlerer Reichweite profitieren. 8
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§ 5 Institutionentheorie des Rechts von Helmut Schelsky
sehe Aussagen zeit- und sozialgebunden seien. Er könne Aussagen nur „über die soziale Wirklichkeit der Bundesrepublik zu bestimmten Zeitpunkten" machen. Die Pluralität der Theorieansätze ist im Rahmen dieser Auffassung von soziologischer Theorie zu verstehen. Der System- und der personenbezogene Ansatz konvergieren auf das gemeinsame Erkenntnisziel, das soziale Handeln zu erklären. Daher müßte, so Schelsky, in jedem Theorietypus „der Ansatzpunkt des anderen schließlich als Problem auftauchen". Sozialwissenschaftliche Erklärungs vorschläge sollten sich „sowohl auf die Handlungen des Individuums als auch seine Beziehungen zum Ganzen oder zu ganzheitlichen Teilen der Gesellschaft" beziehen. Diese Konvergenz darf nicht als eine typologische Vermischung von Theorien verstanden werden. Es ist die methodisch konsequente Verfolgung eines Theorieansatzes, die die eigenen Problemstellungen in die Problematik des anderen umschlagen läßt. So meint Schelksy beispielsweise bei Parsons eine solche Verschiebung der Problemaufstellungstechnik feststellen zu können. Die sozialanalytische „Betrachtung mit der Blickrichtung des Handelnden, ,νοη drinnen nach draußen' " schlägt in die „vogelperspektivische" Betrachtung der Systemanalyse „von oben nach unten" um. 1 1 Die ursprünglich „unverkennbare Neigung, den,Akteur 4 mit sozial geprägten Mitteln und Zielen herauszustellen", schlägt in die systemtheoretische Blickrichtung um. Antagonistische Komplementarität und Konvergenz der beiden Theorieansätze in der Soziologie lassen sich in ihrem analytischen Wert anhand von Schelskys Auffassung des Funktionsbegriffes besser verstehen. Schelsky versucht, unter Berücksichtigung verschiedener Theorieansätze, einen Rahmen der möglichen Funktionsbegriffe zu ziehen.12 Dieser Versuch beruht auf dem zentralen Begriff des „Äquivalenzfunktionalismus". Zur Erläuterung dieses Begriffes stützt sich Schelsky bezüglich der Systemfunktionalität auf Niklas Luhmann und Bronislaw Malinowski. 13 2. In seinem Aufsatz „Funktion und Kausalität" 1 4 liefert Luhmann den Nachweis, daß funktionale Beziehungen keine besondere Art von Kausalbezie11 ARS, (§ 5 FN 1), S. 99. Schelsky zitiert hier Heinz Hartmann, Stand und Entwicklung der amerikanischen Soziologie, in: Ders. (Hrsg.), Moderne amerikanische Soziologie, 2. Aufl., Stuttgart 1973, S. 87. 12 ARS, (§ 5 FN 1), S. 99. 13 Ebd. S. 103: Malinowski habe das Prinzip der funktionalen Äquivalenz der Institutionen gegenüber den anthropologischen Bedürfnissen herausgearbeitet. Luhmann habe den Beweis für die systemfunktionale Relevanz desselben Prinzips erbracht. Das Fehlen einer „point for point correlation between biological need and institutionalized response" mache eine eindeutige Kausalanalyse auch für die anthropologisch-funktionale Methode unmöglich und zwinge sie, sich als „,Äquivalenzfunktionalismus' zu verstehen", wie es N. Luhmann für die Systemfunktionalität nachgewiesen habe. 14 Niklas Luhmann, Funktion und Kausalität, in Soziologische Aufklärung, Bd. 1, Opladen 1972, S.9-30. Ferner s. die klassische Monographie von Ernst Cassirer , Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Berlin 1910 (Nachdruck: Darmstadt 1980). Zur Funktion funktionaler Erklärungen: Philippe Van Parijs, Evolutionary Explanation in the Social Science. An Emerging Paradigm, London—New York 1981, S. 26 ff.
I. Systemfunktionaler und der politischfunktionale Theorieansatz
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hungen sind, sondern „umgekehrt Kausalität als ein besonderer Anwendungsfall funktionaler Kategorien" zu betrachten ist. 15 Die Funktion kann das faktische Vorkommen von sozialen Wirklichkeiten kausal nicht erklären. Sie ist „keine zu bewirkende Wirkung, sondern ein regulatives Sinnschema" 16 , welches verschiedene Tatbestände als vergleichsfähig organisiert. Sie stellt einen „abstrakten Gesichtspunkt" dar, unter welchem mehrere „Leistungsmöglichkeiten", soziale Gebilde, Tatbestände in ihrer Vergleichbarkeit sichtbar werden. Sie ist ein bestimmter Standpunkt, der einen „Vergleichsbereich äquivalenter Leistungen" eröffnet. Dieser Auffassung des Funktionsbegriffs liegt eine bestimmte Auffassung des Begriffs der Kausalität zugrunde. Das Kausalschema impliziert folgendes: mehrere Ursachen können ein und dieselbe Wirkung erzielen, und mehrere Wirkungen können von einer einzigen Ursache hervorgerufen werden. Es wird eine Abwendung von dem traditionellen Kausaldenken vollzogen. Die Suche nach Kausalgesetzen im Sinne von „invarianten Korrelationen" zwischen je einer Ursache und je einer Wirkung wird aufgegeben. 17 Das Kausalschema besitzt vielmehr eine Alternativstruktur. Es gebe immer andere Ursachen, die eine bestimmte Wirkung ebenfalls erzielen könnten; und es gebe immer andere Wirkungen, die eine bestimmte Ursache ebenfalls hervorrufen könnte. Sowohl hinsichtlich der Ursachen als auch hinsichtlich der Wirkungen bestehen „Austauschmöglichkeiten". Wirkung und Ursache sind keine Eigenschaften des Geschehens, sondern „Leerplätze für den Austausch" von Alternativen. Die Kausalauslegung des Handelns „stimuliert die Suche nach Alternativen" und eröffnet einen „begrenzten Vergleichsbereich". Verschiedene Ursachen sind im Hinblick auf eine Wirkung, die sie herbeiführen können, gegenseitig ersetzbar. Dasselbe gilt für Wirkungen im Hinblick auf eine bestimmte Ursache. Eine Aussage, welche auf das Verhältnis mehrerer Ursachen zueinander bzw. mehrerer Wirkungen zueinander zielt, bezweckt die Feststellung funktionaler Äquivalenzen. Sie ist daher eine funktionalistische Aussage. Eine Ursache oder eine Wirkung stellt einen Gesichtspunkt dar, in bezug auf welchen mehrere Leistungen die gleiche Funktion haben können. In diesem Fall gehören sie zu demselben Ursachen- bzw. Wirkungsfeld. 18 Mehrere mögliche Ursachen bzw. Wirkungen sind unter dem Gesichtspunkt einer problematischen Wirkung bzw. Ursache funktional äquivalent. Jede Funktion hat einen Äquivalenzbereich, der von der Definition des funktionalen Bezugsgesichtspunktes abhängt. Funktionalistische Analyse bedeutet „Erforschung von Wirkungen unter dem Leitgesichtspunkt einer Ursache" oder „Erforschung möglicher Ursachen unter dem Leitgesichtspunkt einer Wirkung." 1 9 Die 15
Luhmann, ebd. S. 10. Ebd. S. 14. 17 Hier und zum folgenden: Niklas Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen, Tübingen 1968, S. 24ff., 27. Im folgenden zitiert: Zweckbegriff. Vgl. die kritische Besprechung des Buches durch Klaus Dammann, in: Rechtstheorie 1 (1970), S. 119-121. 18 Luhmann, Zweckbegriff, S. 22 ff., 26, 29f. 19 Luhmann, Funktion und Kausalität, (§ 5 F N 14), S. 17. 16
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§ 5 Institutionentheorie des Rechts von Helmut Schelsky
„äquivalenzfunktionale Methode" benötigt demnach nur einen „abstrakten Gesichtspunkt, in bezug auf welchen mehrere Leistungen die gleiche Funktion haben können." 20 Die Definition einer Bezugseinheit, eines Bezugsgesichtspunktes entwirft einen Bereich „der Indifferenz gegen Abweichungen und der Toleranz von Widersprüchen, einen Bereich der Freiheit zur Wahl von Lösungen, die unter diesem Gesichtspunkt gleich brauchbar oder zumindest gleich unschädlich sind." Die funktionalistische Methode „begründet die Feststellung, daß etwas sein und auch nicht sein kann, daß etwas ersetzbar ist." 2 1 Diese Entdeckung von Alternativen beruht auf der Verwendung der Funktion als eines heuristischen Denkschemas. „Darin wirkt nicht mehr die alte Vernunft des Vernehmens, sondern eine neue Vernunft der Vergleichens." 22 Die Tatsache, daß Schelsky den Äquivalenzfunktionalismus in seine sozialwissenschaftliche Theorie des Rechts und der Gesellschaft aufnimmt, bedeutet somit, daß er auch die „vergleichende Vernunft" und die Suche nach Alternativen als unentbehrliche Prinzipien seiner eigenen Theorie auffaßt. Erst vor diesem Hintergrund kann die Stellungnahme von Schelsky zu Luhmanns Werk verstanden werden. Der Stellenwert dieser Einschätzung ist insofern grundlegend, als die kritischen Ansätze Schelskys häufig in der Literatur nicht nur zur Abstützung von Versuchen einer Widerlegung Luhmanns verwendet werden, sondern auch eine Schlüsselfunktion für das Verständnis des ganzen rechtsoziologischen Werks Schelskys erlangen. Im folgenden soll zunächst einmal eine oft zitierte Stellungnahme Schelskys zur Systemfunktionalität Luhmanns kommentiert werden. Anschließend ist die Position zu beurteilen, die Schelsky zum Anspruch der Systemtheorie, „soziologische Aufklärung" zu betreiben, bezog. Schelsky hat einen Satz geschrieben, der sich in seiner epigrammatischen Wirkung besonders gut dazu eignet, im Rahmen einer Kritik an die Systemtheorie zitiert zu werden. Man kann ruhig polemisch werden, weil man sich auf die Autorität Schelskys stützen kann. Der Satz lautet: „ I n der Systemtheorie Luhmanns werden alle Katzen funktional grau". 2 3 Es entsteht der Eindruck, daß sich Schelsky entschieden gegen den Äquivalenzfunktionalismus wende. Doch ist dem nicht so. a) Der Begriff der funktionalen Äquivalenz war Schelsky schon aus der amerikanischen Soziologie bekannt und gebräuchlich. Seine Erörterung des Funktionsbegriffes läßt er auf die „inzwischen fast klassisch zu nennenden" Untersuchungen von Robert Merton fußen. 24 Schelsky akzeptiert die Ergebnisse der Studie Mertons vollkommen. Er wendet sich vom „Postulat der Unentbehrlichkeit" in der funktionalistischen Analyse ab. 2 5 Dieses Postulat 20
Ebd., S. 22. Ebd., S. 15, 19. 22 Luhmann, Zweckbegriff, (§ 5 F N 17), S. 49. 23 Schelsky, SR, (§ 5 F N 1), S. 93. 24 ARS, (§ 5 F N 1), S. 99. 25 Robert Κ. Merton , Funktionale Analyse, in: Moderne amerikanische Soziologie, (§ 5 FN 11), S. 186-190, 186. 21
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enthält „zwei miteinander verbundene aber unterscheidbare Behauptungen". 26 Erstens bezieht sich die Unentbehrlichkeit auf bestimmte Funktionen, deren Unterlassung den Fortbestand der Gesellschaft oder der Gruppe oder des Individuums beeinträchtigt. Diese Annahme impliziert einen „Begriff der funktionalen Voraussetzungen oder für eine Gesellschaft funktional notwendigen Vorbedingungen". 27 Zum zweiten wird angenommen, daß „bestimmte kulturelle oder soziale Formen zur Erfüllung (bestimmter) Funktionen unentbehrlich sind". Diese Auffassung führt zur Annahme von spezialisierten und unentbehrlichen Strukturen und lenkt somit die Aufmerksamkeit von der Alternativität der Sozialstrukturen und Kulturformen ab. Unentbehrlich könnte nach Merton nur die Funktion, nicht die sie erfüllende Sozialform sein. Das „Haupttheorem der funktionalen Analyse" formuliert er demnach wie folgt. 28 Ebenso wie das gleiche Objekt mehr als eine Funktion haben könne, so könne die gleiche Funktion verschiedentlich durch alternative Objekte erfüllt werden. Funktionale Notwendigkeiten würden nicht bestimmte unentbehrliche kulturelle Formen „(Institutionen, standardisierte Praktiken, Glaubenssysteme usw.)" bedingen, sondern entwürfen einen gewissen Spielraum, einen „Variationsbereich", innerhalb dessen die Strukturen, welche die in Frage stehende Funktion erfüllten, variierten. Die Strukturen und kulturellen Formen eines solchen Variationsbereiches seien „funktionale Alternative oder funktionale Äquivalente oder funktionale Substitute". Die Annahme der funktionalen Unentbehrlichkeit bestehender sozialer Institutionen, Kulturformen oder ähnlicher Gegebenheiten wird von Merton und Schelsky als unbegründet erachtet. Die funktionale Analyse richtet das Augenmerk auf den „Bereich möglicher Variation der Objekte, die im anstehenden Fall ein funktionales Erfordernis erfüllen können." Unabhängig davon, ob Schelsky den Begriff der Funktion mit Merton als eine von mehreren Ursachen zu bewirkende Wirkung oder mit Luhmann als Prinzip der Methode und regulatives Sinnschema ansieht, hält er an der „Vernunft des Vergleichens", an dem Äquivalenzfunktionalismus fest. Abgelehnt hat er die Festlegung des Funktionsbegriffs „als bloße Abhängigkeit eines variablen Faktors von einem oder mehreren anderen variablen Faktoren, also den mathematischen Funktionsbegriff', weil er ihm für die soziologische Theorie unbrauchbar schien.29 Man könnte nun einwenden, daß dieser mathematische Funktionsbegriff ebenfalls dem Begriff der funktionalen Äquivalenz zugrunde liegt. Schelsky thematisiert die Überbrückung der Kluft zwischen logisch-mathematischem und sozialwissenschaftlichem Funktionalismus nicht. 30 Er bezieht sich auf einen Gedanken von Merton, den er in beinahe gleicher Form aufgreift. In seiner Erörterung der mehreren Bedeutungen des Funktionsbegriffs führt Merton die mathematische Abgrenzung des Begriffs auf 26 27 28 29 30
Ebd., S. 187. Hier und zum folgenden: Ebd., S. 187. Hier und zum folgenden: Ebd., S. 197. ARS, (§5 F N 1), S. 99 f. Luhmann, Funktion und Kausalität, (§ 5 F N 14), S. 14.
11 Gromitsaris
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Leibniz zurück und bezeichnet die Funktion mathematisch als „eine Variable, die in Beziehung zu anderen Veränderlichen steht. 31 Der mathematische Terminus wird nicht mit dem Äquivalenzfunktionalismus in Verbindung gebracht. Schelsky lehnt ihn ab, um für eine Bedeutung des Funktiojisbegriffs zu optieren, welcher der Tatbestand der funktionalen Äquivalenzen zugrunde liegt. Funktion bedeutet „in der soziologischen Theorie stets eine wie immer geartete soziale Leistung für ein immer bestimmtes Ziel." 3 2 Der Angelpunkt dieser Begriffsbestimmung liegt gerade darin, daß ein Äquivalenzbereich (: „wie immer geartete Leistung") von der Festlegung eines Bezugspunktes („ein immer bestimmtes Ziel") abhängt. Hinzu kommt, daß Schelsky in der funktionalen Äquivalenz ausdrücklich ein Prinzip sowohl der politisch-funktionalen als auch der systemfunktionalen Methode erblickt hat. 3 3 Die polemische Äußerung, in der Systemkategorie würden alle Katzen funktionell grau, führt nicht zur Aufhebung der systemfunktionalen Methode. Diese Äußerung läßt sich richtig verstehen, wenn man sie im Lichte von Schelskys Theorienpluralismus sieht. Der hoch abstrakte Systembegriff wird nicht als Ausgangspunkt sozialwissenschaftlicher Erklärungen abgelehnt, sondern bloß als ebenso einseitig wie jeder andere Theorieansatz erklärt. „Seine Abstraktionshöhe, seine Konformität mit den theoretischen Ansätzen anderer Disziplinen, seine Technisierbarkeit usw. sind Vorzüge", die Schelsky gar nicht in Zweifel zieht. 34 Das Denken in funktionalen Äquivalenzen untersucht Kulturformen auf ihre Ersetzbarkeit hin und löst mithin die „Identität von Existentem und Unvermeidlichem" auf. 35 In der Funktion können sich die verschiedenen Kulturformen durchaus gegenseitig ersetzen. Dies bedeute für das Recht, daß innerhalb einer Gesellschaft oder im Vergleich mehrerer Gesellschaften oft die gleichen Handlungsbereiche bald rechtlich, bald durch äquivalente soziale Kontrollfunktionen, geregelt und normiert seien. Wo z.B. hohe berufliche Konventionen herrschten, brauche vieles nicht gesetzlich geregelt zu werden. Umgekehrt sei der „Verfall der Sitten" meist von einem „Anwachsen gesetzlicher Vorschriften" begleitet. 36 Schelsky vermißt nicht das Unentbehrliche und Unvermeidliche, er nimmt nicht an der Erschließung von Ersatzlösungen Anstoß. Er will vielmehr den systemfunktionalen Ansatz durch den politisch-funktionalen ergänzt sehen. Diese Absicht macht sich auch im Hinblick auf den systemtheoretischen Tatbestand der Reduktion der Komplexität und der soziologischen Aufklärung bemerkbar. b) Bezüglich der aufklärerischen Leistung der Systemtheorie und des Selbstwiderspruchs in der Haltung des Systemtheoretikers bemerkt Schelsky folgendes. 31 32 33 34 35 36
Merton, (§ 5 F N 11), S. 173. ARS, (§ 5 F N 1), S. 100. Ebd., S. 103. Ebd., S. 96. Merton , (§ 5 F N 11), S. 197. ARS, (§ 5 F N 1), S. 110.
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„Aber diese ,Reduktion von Komplexität', die (der Systemtheoretiker) abstrakt fordert, selbst zu leisten, sieht er nicht als Aufgabe der Soziologie an. Er treibt keine Orientierungssoziologie, sondern er analysiert die Mechnismen der Reduktion von Komplexität selbst theoretisch als systemfunktionale Vorgänge, z.B. als ,reflexive Mechanismen', nicht aber als,Reflexion' oder Überlegung einer zum Handeln gezwungenen Person." 37
Es läßt sich nachweisen, daß Schelsky auch an dieser Stelle sein Postulat des Theorienpluralismus zum Ausdruck bringt. Er wendet sich nicht gegen die systemfunktionale Analyse. Die Reflexion des Einzelbewußtseins soll nicht die sozial etablierten reflexiven Mechanismen ersetzen. Das widerspricht der institutionellen Grundlage der Theorie Schelskys. Der Rekurs auf die Überlegung und die Leitideen der Person soll lediglich auf die politisch-funktionale Analyse verweisen. Diese hat nicht nur persönliche, sondern auch institutionelle Zwecke und Leitideen zum Gegenstand. Die soziologische Aufgabe, menschliches soziales Verhalten und menschliche Institutionen wissenschaftlich zu erkennen, wird in dreifacher Form nach Schelsky geleistet. Sie wird sowohl als „systematische Theorie" als auch als „empirische Forschung" sowie als „fachübergreifendes, praktisches Orientierungswissen" verstanden. 38 Letztere dieser drei „soziologischen Erkenntnisformen" lasse das Fach Soziologie, so wie einst die Philosophie oder die Geschichtswissenschaft, als „Bewußtseinsführungswissenschaft" der Epoche Anspruch auf eine „Erkenntnis und Erkenntnisvermittlung" erheben. Diese beschränke sich nicht auf den Kreis der Wissenschaftler. Sie stelle einen „allgemeinen Aufklärungsanspruch". 39 Die aufklärerischen Ansprüche zeitgenössischer Soziologie sollten nicht nur in wissenschaftlichen, sondern auch in „außerwissenschaftlichen Wirkungsabsichten und -möglichkeiten" erblickt werden. 40 Zu der Auffassung Luhmanns, soziologische Aufklärung sei „als ,Reduktion von Komplexität' und zugleich als das ,Reflexivwerden des Aufklärens selbst'" zu bestimmen, bezieht Schelsky nüancierte Stellung. Erstens nimmt er im Rahmen seines universalistischen Ansatzes die Deutung des Aufklärungsgedankens als Erweiterung des Vermögens des Handelnden auf. Diese dient dazu, die soziale Komplexität zu erfassen und zu reduzieren oder die Grenzen des Erlebnishorizontes zu sprengen. 41 Zweitens meint er, daß jede theoretische und nicht nur die soziologische Aufklärung Gegenaufklärung produziert. Aufklärung soll auch Befreiung des einzelnen „von der intellektuellen Vormundschaft von staatlichen, kirchlichen und — was heute das Entscheidende ist — von wissenschaftlichen und
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SR, (§5 F N 1), S. 90. Schelsky, Die Arbeit tun die anderen, (§ 2 F N 1), im folgenden zitiert: ATA, S. 259; ders., Herrschaft durch Sprache, in: ders., Der selbständige und der betreute Mensch. Politische Schriften und Kommentare, (§ 5 F N 6), S. 116-120. 39 ΑΤΑ, (§5 FN 38), S. 261. 40 Ebd., S. 261. 41 Ebd., S. 119. 38
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pseudowissenschaftlichen Autoritäten" bedeuten.42 Daraufhin meint Schelsky, daß „unter diesem Maßstab" eine jede Theorie mit gespaltener Zunge spreche, denn sie bekämpfe im Bewußtsein der einzelnen die geistige Autorität der anderen Wissenschaften und Theorien nicht aber ihre eigene.43 Die Gesamtwirkung der Soziologie auf die „Bewußtseinsselbstführung" des Menschen wird als Themenblock und Argumentationsfeld in der Systemtheorie nach Schelskys Ansicht nicht hinreichend thematisiert. 44 Der Theoretiker dürfe sich nicht auf die erste der drei soziologischen Erkenntnisformen, die Aufstellung einer systematischen Theorie beschränken. 45 Darüber hinaus sei das praktische Orientierungswissen, die „orientierungswissenschaftliche Publizität", die einen „allgemeinen Aufklärungsanspruch stellt", erforderlich. 46 3. Die Entwicklung einer Systematik der Erkenntnisse und der Begrifflichkeit sozialwissenschaftlicher Problemstellungen erachtet Schelsky als einen Fall des „selbstverständlichsten und niemals aufzugebenden Denkanspruchs jeder Wissenschaft nach einer Theorie". Die Einheitlichkeit jedoch des Begriffssystems befriedige zunächst nur „Denk- und Wissensansprüche", die sich bis zu diesen begrifflich-sinnhaften Fragestellungen „professionell vorgearbeitet" hätten. „Nichts ist professionell begrenzter als ein theoretisches System". Andererseits könne die Theorie die soziale Komplexität adäquat nur umfassen, wenn sie vom Konkreten hinreichend stark abstrahiere. 47 Dem „Erleben und Bewußtsein des handelnden Menschen" würden die sozialen Sinnverstrickungen versagt bleiben. Theoretische Erfassung von Komplexität bleibe aber immer etwas professionell Begrenztes: „Je mehr (der Theoretiker) sich von der Fülle des institutionellen und persönlichen Handelns reduziert, um so besser kann er theoretisieren, d.h. die ihm gemäße Handlung vollziehen." 48 Die theoretische Komplexitätserfassung wird durch eine „vereinseitigende Abstraktionserhöhung" und eine „völlige Abstinenz vom Handlungsbezug" erkauft. Der Einseitigkeit versucht Schelsky durch die Pluralität von Theorien mittlerer Reichweite Abhilfe zu leisten. a) Individualistische Theorieansätze 49 gehen von der Annahme aus, daß das handelnde, individuelle Subjekt „durch sein Bewußtsein (Motiv), sein Sinnverständnis und seine Sinngebung und damit durch seinen ,Erlebnishorizont' die soziale Handlung bestimmt." Soziale Handlungstheorien, die am subjektiv gemeinten Sinn des Handelns als dem einzig gegebenen Anhaltspunkt festhalten und von der individuellen Ichbewußtheit her Idealtypen sozialer Gebilde 42 43 44 45 46 47 40 49
Ebd., S. 261. Ebd. ATA, (§ 5 F N 38), S. 264. SR, (§ 5 F N 1), S. 90; ΑΤΑ (§ 5 F N 38), S. 259. Hier und zum folgenden: ΑΤΑ, (§ 5 F N 38), S. 259. SR, (§5 F N 1), S. 93. Ebd. Hier und zum folgenden: Ebd., S. 96.
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aufzustellen versuchen, „beschränken sich in ihrer Erkenntnis auf ichsubjektive Bewußtseinshorizonte". 50 Schelskys Erfassung der Person liegt nicht in der „Tradition der Bewußtheit" als Ausgangspunkt individualistischer Sozialtheorie. Er beruht vielmehr auf Abstraktion und Generalisierung. Das Individuum sei, sowohl in der Tiefenpsychologie und ihren wissenschaftlichen und ideologischen Nachfolgeerscheinungen als auch in der kulturellen und philosophischen Anthropologie, längst seiner „Bewußtheits-Dominanz und -Kennzeichnung" entkleidet und zur „Kategorie ,Der Mensch 4 " generalisiert worden. 51 In entschiedener Abkehr von der deutschen idealistischen Tradition der Philosophie begab sich Schelsky „auf die Suche nach Wirklichkeit". Er forderte eine „die Wissenschaft selbst überschreitende, ,transzendierende' Erkenntnis. 52 Im Rahmen dieser Abwendung von der begrifflichen und gedanklichen Abstraktion, von der „systematisierenden Begriffsrechnerei" 53, versuchte er, den „Verlust an erfahrener Welt, das Realitätsdefizit" der idealistisch-philosophischen Tradition durch eine „Kulturanthropologie und Kultursoziologie" durch die theoretisch-wissenschaftliche Grundposition des„anthropologisch begründeten Institutionalismus zu ersetzen. Diese Abkehr darf nicht als antiphilosophische Haltung mißdeutet werden. Schelsky gelang vielmehr eine Verbindung der Philosophie mit der soziologischen Theorie. 54 Die idealistisch-philosophische Grundausbildung begründet die hohe Reflexionsfähigkeit, die die „Verabsolutierung von sogenannten erfahrenen ,Tatsachen' verhindert" und zugleich zur Theoriebildung beiträgt. 55 Theorie ist hier nicht als „Begriffssystem mit immanenten Begriffsproblemen" zu verstehen, sie ist die „vorsichtige Verallgemeinerung empirischer und geschichtlicher Erkenntnisse". 56 Vor diesem Hinter50
Ebd., S. 97. Ebd. 52 SVV, (§5 FN 9), S. 7-33, 10. 53 Hier und zum folgenden: Ebd., S. 9f., 12ff. 54 Hierzu statt anderer: Werner Krawietz, Helmut Schelsky — Ein Weg zur Soziologie des Rechts, in: F. Kaulbach, ders. (Hrsg.): Recht und Gesellschaft. Festschrift für Helmut Schelsky zum 65. Geburtstag, Berlin 1978, S. X I I I - L X X V I I I ; ders., In memoriam Helmut Schelsky (1912-1984): Soziologie als Theorie von Recht und Gesellschaft, in: Rechtstheorie 15 (1984), S. 133-137, 136f. 55 Hierzu s. die Kontroverse um die theoretische Erheblichkeit der sogenannten KOLForschung (:„Knowledge and Opinion about Law") zwischen: G. Smaus, Theorielosigkeit und politische Botmäßigkeit der KOL-Untersuchungen, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 3 (1981), S. 245-277; E. Blankenburg, Die impliziten Theorien der KOL-Forschungen und der double-talk der politischen Botmäßigkeit, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 4 (1982), S. 291-296; G. Smaus, Eine Erwiderung auf Blankenburg, ebd., S. 297-304. Grundlegend auch noch hierzu: A. Sajó, Rechtsbewußtsein oder Meinungen vom Recht?, in: Rechtstheorie 12 (1981), S. 29-51, 30ff. 51
56 Zur Kritik Schelskys an der Theorielosigkeit der empirischen Sozialforschung in der Bundesrepublik: Hierzu und zum folgenden: Helmut Schelsky, SVV, (§ 5 F N 9), S. 79 ff.; Werner Krawietz, Über die Fachgrenzen der Soziologie hinaus: Helmut Schelskys „transzendentale" Theorie von Recht und Gesellschaft, in: Ο ta Weinberger / ders. (Hrsg.), Helmut Schelsky als Soziologe und politischer Denker, Stuttgart 1985, S. 12-22, 17ff.
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grund wird der Stellenwert der anthropologischen Überlegungen im Denken Schelskys deutlich. Sie lösen die Suche der idealistischen Philosophie nach wissenschaftlichen Erkenntnisarten ab. 5 7 Sie zielen auf das „Handeln und Existieren" des Menschen selbst, auf den handelnden Menschen, die „Praxis des Lebens". 58 Die „Vermittlung zwischen Bewußtsein und Sein, zwischen Subjekt und Objekt" wird durch eine „philosophische Theorie der Handlung" überwunden, die zur „philosophischen Anthropologie" führt. 5 9 Die menschliche Handlung wird zur „Vorbedingung aller Erkenntnis, ja aller Wirklichkeitserfahrung" emporgehoben. Hierhin gehört die von Arnold Gehlen als die wesentlichste Einsicht Kants in der praktischen Philosophie bezeichnete „Erkenntnis des paradoxen Sachverhaltes: Die Notwendigkeit zu handeln geht weiter, als die Möglichkeit des Erkennens". 60 Es besteht ein Primat des Handelns. Die anthropologische Betrachtung bei Schelsky richtet sich nicht auf die Festlegung des „wahren", eigentlichen Wesens des Menschen. Sie bedeutet nur den Bruch mit einer philosophischen Tradition und den Anschluß an eine andere. Es gibt nach seiner Auffassung eine „geistige Einheit und Front, die von Vico über Kant, Herder, Feuerbach, Marx, James, Dewey und die amerikanische,cultural anthropology' bis zu Scheler und Pleßner und dem politischen konservativen Arnold Gehlen" reiche. Ihr gegenüber stehe typologisiert eine „geistige Front", die das moralische Bewußtsein, die „Ideen", die vorgedachte „utopische Vollkommenheit" zur Richtschnur des Lebens erhebe. Sie reiche von „Plato über Fichte bis zu Bloch oder Habermas in der deutschen Gegenwart." 61 Die Überbetonung des moralischen Bewußtseins verdeckt den von Max Weber aufgedeckten Widerspruch zwischen Gesinnungsethik einerseits und Erfolgsund Verantwortungsethik andererseits. Beiden Ethiken ist gleiche Berechtigung zuzubilligen, denn im menschlichen Handeln sind - wie es Sorel formuliert- zwei sich widersprechende Handlungswelten auszutragen: „die Welt des ethischen Idealismus und die Verantwortung für rationales Handeln in Wirtschaft und Recht, d.h. in der politisch-technischen Gestaltung der Welt". 6 2
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Diese Tendenz ist bei Schelsky sehr früh spürbar. Er hielt eine „aposteriorische Philosophie des Willens oder der Existenz" mit der Philosophie des Idealismus für vereinbar: Ders., Schellings Philosophie des Willens und der Existenz, in: Gotthard Günther, ders. (Hrsg.), Christliche Metaphysik und das Schicksal des modernen Bewußtseins, Leipzig 1937, S. 47-108, 92 ff. Auch in seiner 1941 abgeschlossenen Habilitationsschrift über Hobbes und insbesondere im ersten Teil „Die vier Menschenbilder" sind bereits seine wissenschaftlichen Stellungen nach dem Kriege angelegt. Vgl. ferner die Dissertation, ders., Theorie der Gemeinschaft nach Fichtes „Naturrecht" von 1796, Berlin 1935. 58
SVV, (§ 5 FN 9), S. 20. Helmut Schelsky, Die Hoffnung Blochs. Kritik der marxistischen Existenzphilosophie eines Jugendbewegten, Stuttgart 1979. Zitiert: Bloch. S. 56, 58. 60 SVV, (§ 5 FN 9), S. 21; Bloch, (§ 5 F N 59), S. 59. 61 Bloch, S. 137. 62 Bloch, S. 99 f. 59
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b) Bei Schelsky gibt es somit zwei Theorieansätze: den systemtheoretischen und den politischfunktionalen Ansatz. Die kulturelle Anthropologie stellt den philosophischen Hintergrund dar. Sie soll „die unbestreitbaren Fakten der menschlichen Determination gegen den Bewußtseins- und Selbstbewußtseinsüberschwang der Idealisten und Vernunftdenker" ans Licht bringen. 63 Das Verständnis der menschlichen Einzelperson ist eigentümlich. Schelskys analytische Auffassung der Person „zeigt ein extrem hohes Variabilitätspotential". 64 Die Person ist ein „labiles System", das dauernd seine Stabilität, Autonomie und Gesundheit „in der Selbstführung und im sozialen Zusammenleben des Menschen" neu schaffen und gründen soll. 65 In dem so abgezogenen „Schema der Person" sind zwei dauernde Konfliktebenen entscheidend, in denen gleichzeitig das System Mensch seine Stabilität schaffen und reproduzieren muß. Menschliches Leben bedeutet, von der Perspektive der Person aus betrachtet, zweierlei: einerseits lebt der Mensch „in Auseinandersetzung mit der leiblichen Innenwelt der Triebe und Antriebe" 6 6 und zum anderen mit der Bewältigung der „Faktenaußenwelt", also vor allem der „sozialen Verhältnisse". Es vollzieht sich eine Spaltung des Ichs. Einerseits gibt es das Ich, das in moralisch-orientierender Auseinandersetzung mit seiner „somatischen Fakteninnenwelt" lebt, andererseits dasjenige Ich, das „handelnd-orientierend mit seiner Faktenaußenwelt" fertig werden muß. Faktenfaktoren und Selbstführungsfaktoren verändern sich in sich selbst und in gegenseitiger Auseinandersetzung, so daß ein „Vier-Faktoren-Gegenseitigkeits-System" entsteht. Letzteres erzeugt ein Ausmaß an Komplexität, „das sowohl den Arzt als den Helfer der Innenstabilisierung wie den Politiker als Programmatiker der Außenstabilisierung vor eine wissenschaftliche Unauflösbarkeit der,Reduzierung von Komplexität 4 stellt". Die Auseinandersetzung der Person in den zwei Konfliktebenen ist ein ambivalenter Lebensprozeß, der bei „Nichtbewältigung und Selbstführungsversagen" zur sozialen oder psychosomatischen Defiziens der Person führen kann. Bei Gelingen der Lebens- und Sozialführung demgegenüber stützt und stabilisiert dieser Prozeß die Person. In beiden Fällen bildet sich das Ich „selbst erst im Lebensprozeß". Die Person wird bei Schelsky nicht als apriorische Kategorie vorgestellt. „Der Mensch wird ich-los geboren." Hinzu kommt die Erfassung der Person als ein finales System. Dieses Merkmal hat Schelsky bei Gehlen und Pleßner vermißt. Personen orientieren sich an Zielen, „die bloßen Bestand und Funktion übersteigen". Lebensselbstführung und Umweltbewälti63 Helmut Schelsky, Rückblicke eines ,Anti'-Soziologen, Opladen 1981, S. 112. Im folgenden zitiert: RAS. 64 RAS, (§5 F N 63), S. 116. 65 Hier und zum folgenden: Ebd., S. 115 ff. 66 Zur Erfassung der Person als System und Gegenseitigkeit zwischen „Innen" und „Außen": Helmut Schelsky, Soziale Formen der sexuellen Beziehungen, in: Hans Giese (Hrsg.), Die Sexualität des Menschen. Handbuch der medizinischen Sexualforschung, 2. Aufl., Stuttgart 1968, S. 133 -170. s. insbesondere den für den hiesigen Zusammenhang interessanten Abschnitt zur „Institutionalisierung der Rolle der Geschlechter": S. 137ff.
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gung erfolgen auch „jenseits von Selbsterhaltung oder Umweltanpassung". Der Mensch lebt nicht nur zum Nutzen seiner Gesundheit und sozialer Stabilität. Er ist auch auf „unabdingbare und folglich weitgehend ,tabuisierte' persönliche Lebenssinngebungen", auf Endziele und Letztwerte gerichtet. Der Bruch mit der aufklärerisch-idealistischen Philosophie wird auch hier deutlich. Der Mensch ist nicht frei, sondern „zur Freiheit" geboren. Freiheit wird als „das kontrafaktische Lebensziel der menschlichen Existenz", definiert, an dem man trotz ständiger Enttäuschung festhält. Letztwerte und Lebensziele machen als absolute Sinngebungen den finalen Aspekt der Person aus. Sie sind „Sinnprogrammierungen" 67 , die einerseits als „personale Steuerungssysteme" dienen und andererseits auf Fortbestand und Funktionieren des personalen Systems nicht unbedingt Rücksicht zu nehmen brauchen. Sie können auch das System „bewußt vernichten und zerstören". 68 Dieses abstrahierte Schema der Person ist nicht als ein Menschenbild zu verstehen, das das „normativ oder analytisch Allgemeine bereits der Verantwortung gegenüber dem Individuellen, dem Einmaligen im Menschen" überordnet. Demgegenüber betont Schelsky die persönliche Erfahrung „als ein Lebens- und Denkprinzip". 69 Persönliche Erfahrung als Prinzip, das ist für Schelsky die „geistige Waffe", mit der die moderne Soziologie und die moderne Naturwissenschaft, die „Einzelfallwissenschaften" gegen die „Verallgemeinerungswissenschaften", gegen die metaphysisch-spekulativen Deutungen der Welt zu Felde ziehen sollen. 70 Bei Einzelwissenschaften steht die Einzelfallwürdigung im Vordergrund. Es werden anhand von Fällen neue Erkenntnisse für das Fach gewonnen, „deren hypothetische Generalisierung dann empirischer Einzelfallkontrolle unterliegt". 71 Bei den Verallgemeinerungswissenschaften wird der Einzelfall aller Individualität entkleidet, er wird dem Schema „abstrakter Vorurteile" subsumiert. Für analytische und normative Verallgemeinerungen ist der Mensch ein „ausdefiniertes Wesen". Wo die Einzelwürdigung zur Geltung kommt, wird die „Komplexität der im menschlichen Einzelfall beteiligten Faktoren" nicht niveliert. Die Komplexität wird vielmehr sinnvoll reduziert, und die „Freiheit personaler Sinngebungen und Lebensführungen" wird nicht als unmöglich erachtet. Das Prinzip Erfahrung bezieht sich auf das Persönliche und Individuelle. Die Beschränktheit des Menschen im eigenen Erlebnishorizont sowie im Zeithorizont des eigenen Lebens, der systemtheoretisch aufklärerisch gesprengt wird, muß theoretisch in Rechnung gestellt werden. 72 Die Person ist bei Schelsky eine ständig zu erbringende Leistung, sie ist ein personales System, das seine 67
Ebd. Hier und zum folgenden: RAS, (§5 FN 63), S. 118 ff. Vgl. hierzu: Fred Emery , Futures we are in, Leiden 1977, S. 67-123, 67, „Active adaptation: the emergence of ideal seeking systems". 69 Bloch, (§ 5 FN 59), S. 45. 70 RAS, (§ 5 FN 59), S. 119; Bloch, S. 45. 71 Hier und zum folgenden: RAS, S. 119f. 72 Hier und zum folgenden: Bloch (§ 5 F N 59), S. 45 f. 68
I. Systemfunktionaler und der politischfunktionale Theorieansatz
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Stabilität in sozialer Kommunikation und in der zeitlichen Dimension erringen muß. Hierhin gehört auch das Problem der psychischen Erkrankung und Abnormität, sowie die Rolle, die die psychiatrische Sinnvermittlung und Definitionsmacht dabei spielt. 73 Die Selbstbestimmung des Menschen gründet nicht in der Geschichte im objektiven Sinne, sondern im „Rückblick und Vorblick auf sein eigenes gelebtes Leben". Die Zeithorizonte sind im personalen System persönlich. Die relative, unsichere „Wirklichkeits- und Sinnbürgschaft des Menschen" liegt in der „dauernden Besinnung auf die eigene persönliche Vergangenheit und die eigene zu erfolgende Zukunft", also auf das von ihm „Getane und das noch zu Tuende". Persönliche Erfahrung ist deshalb ein „übergreifendes Denk- und Lebensprinzip", weil es das Bewirkte, die persönliche Vergangenheit und zugleich „die Erfahrung der Zukunft als Wille und Vorstellung" in sich aufnimmt. 74 Dies bedeutet, daß „Vorstellungen, Phantasie, Hoffnungen und Planungen alle Formen der Rationalität und des Glaubens" nur in der ichbezogenen, individuellen Erfahrung im „gelebten Leben der Person" als Medien der Lebensführung Gehalt und Funktion erhalten. 75 Sie gehören zur personalen Sinnwelt, welche jedoch auch zum „bloßen wirklichkeits· und erfahrungsabschaltenden ,Gehäuse' werden kann", indem sie eine „Sinnbegrenzung des Menschen auf seine eigene, individuelle Lebensimmanenz" herbeiführen kann. Wie diese Sinnbegrenzung erfolgt, hat Schelsky nicht herausgearbeitet. Er verweist diesbezüglich auf Karl Jaspers. Schelsky kommt es darauf an, daß das Bewußtsein des Menschen, sein Denken und sein ganzer Lebensvollzug in seiner Individualität „als ein autonomer Realfaktor des sozialen Lebens" angenommen wird. 7 6 Der Mensch soll als personales System in seiner Fähigkeit, durch die persönliche Erfahrung der Zukunft Endziele seines Handelns zu bestimmen und sich einen spezifischen Lebenssinn zu geben, sozialwissenschaftlich in Rechnung gestellt werden. Auf diese Weise wird am Beispiel der personalen Systeme die Beziehung zwischen Zeithorizonten und systemeigener Stabilität thematisiert. 77 Die gesammelte Lebenserfahrung ist nicht nur als Systemgeschichte zu verstehen. Die Stabilisierungsleistung des Menschen produziert Zeit. Erfahrung setzt reproduzierte eigene Selektionsgeschichte voraus. Selektivität setzt ein Repertoire von Möglichkeiten voraus, die nur teilweise aktualisiert werden können. Schelsky bricht demnach mit der semantischen Tradition, die ihr Zeitverständnis „am Anschauungsmodell der Bewegung" 78 festgemacht hatte. Sie hatte die Übertra73 RAS, (§ 5 F N 63), S. 127 ff.; vgl. auch hierzu: Thomas S. Szasz, The Myth of Mental Illness. Foundations of a Theory of Personal conduct, London u.a 1972. 74 Bloch, S. 51. 75 Hier und zum folgenden: Ebd., S. 49 f. 76 ARS, (§ 5 F N 1), S. 105. 77 Hierzu s. Niklas Luhmann, Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme. In: Ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 2, (§ 2 F N 5), S. 103-133.
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gung von Raumbegriffen und Sachproblemen auf Zeitverhältnisse als selbstverständlich behandelt und konnte sich demnach von Zenons Paradoxie nicht befreien. 79 Der Zeitbedarf enspringt nach Schelsky nicht so sehr der Problematisierung des Fortbestehens in der Vergänglichkeit der Momente, also nicht so sehr einem Verfallsbewußtsein, sondern der Komplexität selbst, d.h. den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungskonstitution beim personalen System. Die Entstehung von Selektionsgeschichte geht auf eine Strukturierungstechnik zurück, die Luhmann als „Mehrfachmodalisierung" oder „reflexive Modalisierung" der Zeit bezeichnet hat. 8 0 Damit ist gemeint, daß die räumlichen und dingbezogenen Metaphern völlig zurücktreten, und daß ein Reflexivwerden der Zeitbestimmungen stattfindet. 81 Im Rahmen einer temporalen Dreifachmodalisierung müssen die jeweiligen Zeithorizonte der vergangenen oder zukünftigen Gegenwarten berücksichtigt werden. In der Vergangenheit und in der Zukunft der jeweiligen Gegenwart tauchen wiederum Gegenwarten mit eigenen Zukünften und Vergangenheiten auf. Was sich in der Zeit bewegt ist die Gegenwart samt ihren Zeithorizonten. Die Individualität und Unwiederholbarkeit eines Ereignisses liegt demnach nicht in seiner Position in einer Zeitpunktreihe. Sie beruht vielmehr auf der Eigentümlichkeit seiner Selektivität, die seine gegenwärtige Vergangenheit und gegenwärtige Zukunft konstituiert. Das unaufhaltsame Verschwinden des Augenblicks wird nicht aufgehalten, es nimmt aber eine Gestalt an, die Anschlußfähigkeit ermöglicht, und zwar auf eine Weise, welche die lineare Sukzessivität von Ereignissequenzen überspringt. Wenn auch in jedem Moment des Vollzugs einer Melodie nur wenige Einzeltöne erklingen, so rufen sie ein Zurück- und Vorwärtshören hervor, das schon Gehörtes, gegenwärtig Klingendes und noch zu Hörendes verbindet. Gegenwartstöne können in einer vorwärtslaufenden Tonfolge lange bedeutsam bleiben, indem sie Vergangenheit und Zukunft im Sinne von Husserls Begriffen der Retention und Protention 82 beinhalten. Andere verlieren ihre Bedeutung 78 Niklas Luhmann, Temporalisierung von Komplexität: Zur Semantik neuzeitlicher Zeitbegriffe. In: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1980, S. 235-300, 293. 79 Vgl. hierzu „la strophe de Zenon" in: Paul Valéry , Le cimetière marin, zit. nach: Oeuvres (Bibliothèque de la Pléiade), Bd. 1, S. 147-151, 151, Paris 1957; ders., Cahiers (Bibliothèque de la Pléiade), Bd. 1, Paris 1973, S. 510f., 556f., 694f. 80 Luhmann, (§ 5 FN 77), S. 112. 81 Vgl. die Reflexivität der temporalen Modalitäten bei T. S. Eliot: „Time present and time past / are both perhaps present in time future / and time future contained in time past." In: The complete Poems and Plays of T. S. Eliot,, Four Quartets, Burnt Norton, London 1981, S. 171; Hierzu: Helen Gardner, The Art of T. S. Eliot, London 1985, S. 160; dieselbe, The Composition of Four Quartets, London 1978, S. 29 ff. „The major sources of Four Quartets are experiences .. .the actualities and potentialities of the past". Auch beiRilke ist von einer „erfüllten", aus Vergangenheit und Zukunft angereicherten Zeit auszugehen, die sich nicht bloß im Verwesen und Verfließen des Augenblicks erschöpft: Beda Allemann, Zeit und Figur beim späten Rilke. Ein Beitrag zur Politik des modernen Gedichtes, Pfullingen 1961, S.25ff., 128 f., 136ff. 82 Siehe die Darstellung der phänomenologischen Theorie der Zeit bei Werner Bergmann, Die Zeitstrukturen sozialer Systeme. Eine systemtheoretische Analyse, Berlin
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schon mit dem unmittelbar anschließenden Ton. Es ist die „musikinvolvierte Zeitlichkeit selbst", die die Anschlußselektivität bestimmt. Jeder Ton blendet innerhalb der Tonkette neue Erwartungshorizonte auf. 83 Die Relevanz eines Handlungsereignisses beschränkt sich nicht auf die intendierte und ausgelöste Anschlußhandlung. In jedem Schritt der Abfolge kann auf mehr zurück- bzw. vorgegriffen werden als nur auf die unmittelbar anschließenden Ereignisse. 84 Im jeweiligen Ereignis gestalten sich Vergangenheit und Zukunft jedesmal neu. Wenn ich erfahre, daß alle drei juristischen Examensklausuren mangelhaft sind, während ich mich auf die mündliche Prüfung vorbereite, ändert dies das, was mein Studium war. Es stellt sich nun heraus, daß Fleiß allein nicht ausreicht, und daß ich beim zweiten Anlauf vielleicht doch zum Repetitor gehen muß. 85 Informationshaltige Ereignisse distanzieren das System von seiner eigenen Geschichte und stellen es selektiv zu seiner Vergangenheit und seiner Zukunft ein. Hinzu kommt es, daß die soziale Dimension der Kommunikation, d. h. das Erleben und Handeln anderer Personen zur „Ausweitung und Objektivierung der Zeit" dient. 86 In sozialer Kommunikation kann man sich die Vergangenheiten und Zukünfte anderer Personen vergegenwärtigen. Man ist somit nicht auf Erinnerung und Antizipation eigener Handlungen angewiesen. In sozialen Handlungssystemen, die in kulturellen Zusammenhängen eingebettet sind, nehmen Zeithorizonte die Gestalt eines Horizontes an, der als „intersubjektivgemeinsam" unterstellt werden kann. Durch die Empfindungen, Erinnerungen, Wunschträume, Begierden, Gedankenvorgänge, d.h. durch die Hervorhebung der gegenwärtigen Vergangenheit und der gegenwärtigen Zukunft von Leopold Bloom macht Joyce einen Querschnitt durch die Zivilisation einer modernen Großstadt und durch das Bildungsgut des Abendlandes zugleich. 87 Nach dem Übergang von der Zeit der Bauern zur Zeit der Händler wird in der heutigen funktional differenzierten Gesellschaft dem Rück- und Vorblick auf das eigene 1981, S. 17-36; Wilhelm Keller, Die Zeit des Bewußtseins. In: R. W. Meyer (Hrsg.), Das Zeitproblem im 20. Jahrhundert, Bern u. München 1964, S. 44-69. 83 Hierzu: Kurt von Fischer, Das Zeitproblem in der Musik, in: R. W. Meyer (Hrsg.), ebd. S. 296-318, 298, 300f.; Peter Fuchs, Vom Zeitzauber der Musik — Eine Diskussionsanregung. In: Dirk Baeker u. a. (Hrsg.), Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1987, S. 214-237, 228. 84 Niklas Luhmann, Temporalstrukturen des Handlungssystems. Zum Zusammenhang von Handlungs- und Systemtheorie, in: Soziologische Aufklärung, Bd. 3, Opladen 1981, S. 126-150, 137. 85 Luhmann, (§ 5 F N 78), S. 242. 86 Hier und zum folgenden: Ebd., S. 247. 87 Vgl. Clive Hart, Structure and Motif in Finnegans Wake, London 1962; Zu „Ulysses" s. T. S. Eliot, Ulysses, Ordnung und Mythos. In: Essays I I (dt. Übers.), hrsg. von Helmut Viebrock, Frankfurt a.M. 1969, S. 293-297, 296f. Heinrich Straumann, Das Zeitproblem im englischen und amerikanischen Roman: Sterne, Joyce, Faulkner und Wilder. In: R. W. Meyer (Hrsg.), (§ 5 F N 81), S. 140-160, 144ff.; Rudolf Wendorff Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, Opladen 1980, S. 578 f.; Dietrich Schwanitz, Zeit und Geschichte im Roman — Interaktion und Gesellschaft im Drama: zur wechselseitigen Erhellung von Systemtheorie und Literatur. In: Dirk Baeker u. a. (Hrsg.) (§5 F N 83), S. 181-213, 199.
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Leben eine gesteigerte Aufnahmefähigkeit für Komplexität abverlangt. Dies führt zu einer „Futurisierung" 88 der Zeit. Da die Zukunft der Zeithorizont mit höchster Komplexität ist, orientiert sich die gegenwärtige Verhaltenswahl primär an künftiger Selektivität. Die Gegenwart versteht sich als „Vergangenheit künftigkontingenter Gegenwarten" (Luhmann). Man muß seine Zukunft für einen Möglichkeitsüberschuß, d.i. für mehr als eine mögliche künftige Gegenwart öffnen und sich mit dieser Unsicherheit abfinden. Ziele und Zwecke werden demnach als jeweils gegenwärtige Selektionsstrategien einer kontingenten Zukunft aufgefaßt. In der Gegenwart wählen Gegenwart und Vergangenheit sich selbst als eine „Vor-Zukunft" (Schulz, S. 146), als eine Vorauswahl künftiger Möglichkeiten und Nicht-Notwendigkeiten. Wer sich auf eine angeblich notwendige künftige Gegenwart kapriziert, der muß sehr enttäuschungsreich leben. Schelsky behandelt die Zeit nicht als objektive Erkenntniskategorie. Ihre Mehrfachmodalisierung, ihr Reflexivwerden, der Eindruck ihres Fließens werden persönlich als Zeiterfahrung erlebt, wie dies etwa für die Semantik des Zeitbewußtseins in der Liebe charakteristisch ist. Für platonische Naturen stellt sich Liebe als Einbruchsstelle für ein tiefes Bedürfnis nach Ewigkeit dar, das zur Todeserfahrung führt. 8 9 Swann ist platonisch par excéllence. Sein liebendes Ich stirbt, indem es von dem Menschen, der dieses Ich trug, überlebt wird. Seine Heirat mit Odette, die er nicht mehr liebt, kann nur noch als „un bonheur après décès" bezeichnet werden. 90 Mephistophelische Naturen ziehen statt dessen eine säkularisierte creatio continua vor: In jeder punktuellen launischen Gegenwart vernichten sie und schaffen sie die Welt neu, ohne sich um die Rettung von Kontinuierbarkeit und künftiger Anschlußfähigkeit zu kümmern. Realistische Naturen profitieren vom Geschichtsbedarf von Liebesgeschichten. Sie benutzen 88 Hier und zum folgenden: Luhmann, (§ 5 F N 77), S. 115, 123; Karlheinz A. Geißler, Zeit leben. Vom Hasten und Rasten, Arbeiten und Lernen, Leben und Sterben, Weinheim u. Basel 1985, S. 30 ff. Eberhard Wilhelm Schulz, Zeiterfahrung und Zeitdarstellung in der Lyrik des Expressionismus. In: ders., Wort und Zeit. Aufsätze und Vorträge zur Literaturgeschichte, Neumünster 1968, S. 135,143 f., 146: „Von Zukunftsangst geschüttelt oder von Zukunftshoffnung erhoben ist diese (expressionistische) Lyrik futurisch bis in die Einzelheiten ihres sprachlichen Ausdrucks." (S. 135). Wie Zeit und Simultaneität in der modernen Kunst als vierte Dimension mitgemalt werden s. in: Gudula Overmeyer, Studien zur Zeitgestalt in der Malerei des 20. Jahrhunderts. Robert Delaunay — Paul Klee, Hildesheim 1982, S. 38 ff. Kontingente Welten werden als „Anleihen aus der Zukunft" in modernen Kunstwerken vergegenständlicht: Arnulf Rohsmann, Manifestationsmöglichkeiten von Zeit in der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts, Hildesheim 1984, S. 156 ff. 89 Plato , Symposion, 183 e 6,192 d-e, 206 a 11; vgl. auch das Vergängnisbewußtsein in der ersten Rede von Sokrates mit dem Drang nach Ewigkeit und Treue in der „Palinodie": Phaidros, 237 b — 241 d, 243 a-b. In den Sonnetten von Shakespeare wird der Gegensatz zwischen Ewigkeitswunsch und Vergänglichkeit am Wechselgang der Dinge als eine der Liebe immanente Antinomie erfahren, s. z. B. das Sonnett Nr. LXIV. 90 Marcel Proust, A la Recherche du Temps Perdu. A l'Ombre des Jeunes Filles en Fleurs, Première Partie, Autour de Mme Swann, zit. nach der Ausgabe: Bibliothèque de la Pléiade, Bd. 1, Paris 1954, S. 471; s. ferner: Le Temps retrouvé, ebd., Bd. 3, S. 1037f.; Vgl.: Georges Poulet , L'instant, point de depart du temps. Essai sur le temps dans la littérature contemporaine en France. In: R. W. Meyer (Hrsg.), (§ 5 F N 82), S. 111-139.
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Strategien der Herstellung von Systemgeschichte. So bilden sich einigermaßen erprobte Erwartungszusammenhänge, die nicht „im Allgemeinen verschweben" 9 1 , sondern die Beziehung in ihrer Konkretheit und Geschichtlichkeit festigen können. Vorausgesetzt, daß man zwischen gegenwärtiger Zukunft und künftigen Gegenwarten zu unterscheiden weiß, kann man sich sogar in der Gegenwart für die Gegenwart Dauer schwören. 92 Möglichkeiten sind in der systemeigenen gegenwärtigen Zukunft enthalten, die erheblich mehr Möglichkeiten enthält, „als in künftigen Gegenwarten Wirklichkeit werden können". 93 Erfahrung modalisiert nach Schelsky demnach das personale System im Hinblick auf seine eigene Systemgeschichte, d. h. seine gegenwärtige Vergangenheit, und auf seine gegenwärtige Zukunft. Sie verbindet die Selektivität der Vergangenheit mit der Selektivität der Zukunft. Für Schelsky ist die Erfahrung der Verbindung zwischen Selektionszwang (die Notwendigkeit zum Handeln, der Primat der Praxis) und Zeitlichkeit das entscheidende Stabilisierungsprinzip des personalen Systems. Sie stellt das Prinzip Erfahrung in der menschlichen Lebenführung dar. c) Die Fähigkeit, alle Handlungen Letztwerten und Lebenszielen zu unterstellen, bezeichnet Schelsky als die eigentliche politische Tätigkeit des Menschen. Sie besteht nämlich in der „Endziel-Programmfunktion" und nicht erst in dem Bezug des persönlichen Verhaltens auf politische Institutionen und Rollen. 94 Die politische Programmsetzung braucht nicht in Einklang mit dem Fortbestand und Funktionieren des personalen Systems zu stehen. Sie kann in Grenzfallen durchaus beabsichtigen Struktur und Bestand desselben zu beeinträchtigen oder sogar zu zerstören. Schelsky fordert demnach eine sich auf diese politische Programmsetzung und diese politischen Endziele von personalen Systemen beziehende Funktionsanalyse. Diese darf nicht unter Auschluß der bestandsfunktionalen Betrachtung, sondern muß zusätzlich erfolgen. Politische oder Programmierungsfunktion und Bestandsfunktion sind voneinander unabhängig. Politische auf personale Systeme bezogene Endziel-Bestimmungen sind Leitideen persönlichen Handelns. Leitidee dieser Art wäre beispielsweise der Grundgedanke der Freiheit der Person, „also der größtmöglichen freien Selbstbestimmung des Individuums" oder der „Glaube des Christen an seine Erlösung durch Christus". Eine Analyse der sozialen Wirklichkeit könne somit alle ihre Einrichtungen, Handlungen usw. daraufhin abfragen, wieweit diese den auf die Person bezogenen Leitideen entspreche und das in ihnen vorausgesetzte Endziel erfülle. Schelsky möchte diese Theorien, die so vorgehen, „personenfunktionale Analysen" nennen. Die Theologie, die Pädagogik und eben auch die 91 Goethe, Urworte. Orphisch, zit. nach der Ausgabe: Goethes Werke, 3. Bd., Weimar 1890, S. 95 f. 92 Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M. 1984, S. 132; ders., (§ 5 F N 77), S. 119. 93 Luhmann, (§ 5 F N 77), S. 112 f. 94 ARS, (§ 5 F N 1), S. 103.
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Jurisprudenz hätten „solche Theorieansätze in Fülle aufzuweisen." 95 So definiert ist der personfunktionale Ansatz ein Fall der politisch-funktionalen Analyse. Es darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, daß letztere sich nicht nur auf personale Systeme sondern auch auf Institutionen beziehe. Nicht nur personale, sondern auch soziale Systeme sind der politischen Programmsetzung fähig. Eine „Gemeinsamkeit der hier zur Analyse stehenden ,Objekte' - ,der Mensch' und das ,soziale System' " - bestehe darin, daß sie selbst zu „Prozessen der Willensbildung und damit zur Bestimmung von,Endzielen' ihres Handelns" fähig seien.96 Der politischfunktionale Ansatz bringt eine Akzentsetzung mit sich und setzt zwei Ebenen der Personkonstitution voraus. Er stützt sich auf die Unterscheidung zwischen dem „sozialen Vordergrund der Person" und der „Person als individuelle Lebensanforderung". 97 Personenhafter sozialer Vordergrund bedeutet Rollenhaftigkeit sozialen Verhaltens, Auflösung der Person aufgrund von Rollenscheidung. „ M a n hält die,Rollen' so auseinander, daß man in einer Rolle kriminell in anderen ,anständig' sein kann." 9 8 In den verschiedenen Organisationen und Gruppen findet man verschiedenartige Verhaltensvorschriften, die die sogenannte Identität der Person nicht im ganzen in Anspruch nehmen. Auf diese Weise entsteht ein Widerspruch zwischen dem moralischen Bild des Menschen „als einem ganzen, einmaligen, freien Wesen und seinem wissenschaftlichen Bild als zerstückeltem, exemplarischem, determiniertem Aggregat von Rollen". 9 9 Sozial vordergründig konstituiert sich die Person als Rollenverhalten und Rollenkombination. Die Vorstellung, daß das Ich eine Art zentrale Ganzheit besitzt und daß deshalb jeder einzelne ein wahres Ich hat, erweist sich als Trugbild. Das Ich ist vielmehr ein „Loch", das sozial, von einem selbst wie auch von anderen mit bestimmbaren Identitäten ausgestattet und auf irgendeine Weise „gefüllt" werden kann. „Ideale und Moral" scheinen „das beste Mittel" zu sein, „um das große Loch zu füllen, das man Seele nennt". Auf den Inhalt der Moral oder der Ideale kommt es selbstverständlich nicht an. „Ein Mann ohne Eigenschaften besteht aus Eigenschaften ohne M a n n " . 1 0 0 Gibt es denn einen archimedischen Punkt außerhalb des sozialen Siiines?101 Jeder Versuch, der Subjektivität eine unverkennbar individuelle Gestalt zu geben, scheint auf die Sandbank der institutionalisierten Komponenten jeder Selbsterfahrung aufzulaufen. Auf der Suche nach Originalität und Partikularität löst 95
Ebd., S. 104. Ebd., S. 103. 97 ATA, (§ 5 F N 1), S. 287. 98 Ebd. S. 286. 99 Ebd. S. 287. 100 Zum ganzen Zusammenhang: Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, Erstes und zweites Buch Hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 148, 185. Hierzu: Peter L. Berger, Robert Musil und die Errettung des Ich. In: Zeitschrift für Soziologie, (1988) 17/2, S. 132-142, 136f., 139f. 101 „Anywhere out of the world." Vgl. die Funktion der „Paradis artificiels" bei Baudelaire. Hierzu: Jean-Paul Sartre, Baudelaire, Paris 1947, S. 111. 96
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sich der „integer ipse" in verschiedene Funktionen der Selbstmitteilung, Selbstthematisierung und Selbstdarstellung auf. Ein heroisches, burleskes, beichtendes, klinisches, satirisches, epistulares, lyrisches oder empirisches Ich begibt sich auf die Suche nach dem Eigensten, Idiosynkratischen und Intimvertraulichsten, indem es zwischen Uneingestehbarem und Normalitätssinn, zwischen „immenso ardore" und „moderati desiri" schwingt. 102 Zur Herstellung einer individuellen Weltsicht sieht man sich dann genötigt, seine Zuflucht zu den Mitteln eines magischen Surrealismus zu nehmen, der seine eigenwillige Sondersemantik schafft, indem er institutionalisierte Begriffe „explodieren" läßt. 1 0 3 Begriffsexplosionen werden dadurch ausgelöst, daß ein neues Merkmal mit den aufbewahrten Eigenschaften eines bestimmten Begriffs in Beziehung gebracht wird. Das Auftauchen des neuen Merkmals bricht den Anspruch, den die sozial etablierten Eigenschaften des Begriffs an uns stellen. Die zertrümmerten Relevanzen stellen „Begriffsruinen" dar, die zur Abweichung und zum Wahnsinn führen können. Tragisch ist, daß sowohl der Abweichler als auch der Verrückte durchaus sozialisiert bleiben. 104 Demgegenüber nimmt jedoch Schelsky einen Hintergrund des Rollenverhaltens an, wo die Person unter anderen Konstitutionsbedingungen steht. Vor dem Hintergrund der den Menschen konsumierenden Sachgesetzlichkeiten muß die individuelle Leistung der Einheitsstiftung im ganzen Lebensvollzug erbracht werden. 105 Vor dem Hintergrund der institutionell abverlangten Rollentrennung und des unvermeidlichen Rollenkonflikts kann auch der heutige Mensch nicht „als jeweiliger 102 Zum zitierten Sonett von Pietro Bembo s.: Ulrich Schulz-Buschhaus, Drei Figuren des Ich in der italienischen Renaissance-Dichtung: Berni-Bembo-Ariost, in: Alois Hahn/Volker Kapp (Hrsg.), Selbsthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt a.M. 1987, S. 265-280; ferner zum ganzen Zusammenhang: Claudia Honegger, Hexenprozesse und Heimlichkeiten der Frauenzimmer': Geschlechtsspezifische Aspekte von Fremd- und Selbstthemasierung, in: ebd., S. 95-109; Robert Castel , Die Institutionalisierung des Uneingestehbaren und die Aufwertung des Intimen, in: ebd., S. 170-180; David Armstrong, Das Problem der Sicht des Patienten, in: ebd., S. 193-207; Dietrich Schwanitz, Selbstthematisierung im englischen Liebesroman, in: ebd., S. 281-296. 103 Zu dieser Terminologie: Jürgen Markowitz, Die soziale Situation. Entwurf eines Modells zur Analyse des Verhältnisses zwischen personalen Systemen und ihrer Umwelt, Frankfurt a.M. 1979, S. 97ff.; vgl. auch: Jean-Paul Sartre, Qu' est-ce que la littérature?, Paris 1948, S. 22, 48 (Anm. 5): „Ainsi chaque mot est employé simultanément pour son sens clair et social et pour certaines résonances obsures". 104 Vgl. den Fall Moosbrugger und den Fall Ciarisse in „Der Mann ohne Eigenschaften". 105 Vgl. hierzu den „zehnten Charakter" eines jeden Erdbewohners bei Musil, (§ 5 F N 100), S. 34: Dieser sei nichts als die „passive Phantasie unausgefüllter Räume". Er gestatte dem Menschen alles, nur nicht das eine: das ernst zu nehmen, was seine ihm zugeschriebenen Rollen und Charaktere täten und was mit ihnen geschehe. Das ist die menschliche Fähigkeit zu utopischem Träumen; Berger, (§ 5 F N 100), S. 140. Definitionen des Begriffs der Person, die Gesellschaft transzendieren wollen, haben jedoch meistens naturrechtliche Züge, s. etwa die interessante Arbeit von Christos Y annaras, Person und Eros. Eine Gegenüberstellung der Ontologie der griechischen Kirchenväter und der Existenzphilosophie des Westens, Göttingen 1982.
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Doppelgänger seiner selbst" existieren. Die Einheit betrifft nicht nur die rollenübergreifende Selbstdarstellung gegenüber anderen. Sie betrifft nach Schelsky die Frage nach der „Vermittlung von autonom-sittlicher Subjekt- und Personhaftigkeit" mit der grundsätzlichen Vielfalt sozialer Verhaltensvorschriften. Diese Spannung muß individuell ausgehalten und ausgetragen werden, und zwar von einer personhaften Einheit, die vorerst als Lebensvollzug, „nicht als vergegenständlichtes Bewußtsein, als Gedachtes, als Philosophie" gestiftet werden muß. „Die Einheit ist der Lebensvollzug selbst", der die Persönlichkeit als Lebenserfahrung entstehen läßt und das „Immer-Wieder des Widerspruchs" beinhaltet. „Arbeit und Denken, Handeln und Leiden, Hoffnung und Erinnerung, Erfolg und Scheitern". 106 Was nun die neue Akzentsetzung angeht, will Schelsky gegenüber den soziologischen Rollentheoretikern, die eine einzige Ebene der Personkonstitution oder Personauflösung überbetonen, die „Frage der personalen ,Einheit' ,hinter' der Vielfalt sozialer Rollen" erneut 107 in den Vordergrund rücken lassen. Er will der Frage sozialwissenschaftliche Beachtung schenken, wie „die Person sich in der modernen Gesellschaft bilden und behaupten läßt" oder wie es mit der Gesellschaft „angesichts der ärgerlichen Tatsache des Menschen als Person" bestellt ist. 1 0 8 Forschungsgegenstand sind im vorliegenden Zusammenhang personale Systeme in ihrer Interpénétration 109 mit sozialen Systemen und im allgemeinen in der Beziehung zu ihrer sozialen Umwelt. Interpénétration kann systemtheoretisch weder als Kommunikation noch als Gegenkommunikation begriffen werden. Kommunikation kann nur als Operation eines sozialen Systems existieren. Es kann keine Kommunikation zwischen sozialen und nichtsozialen Systemen geben, also auch keine Kommunikation zwischen sozialen und psychischen Systemen, zwischen Individuum und Gesellschaft. Die Gesellschaft besteht nicht aus psychischen Systemen. Das „innere" emergente Ordnungsniveau des Menschen, seine „Binnenselektivität", die Relationierungsebene seiner organisch-psychischen Einheiten ist nicht identisch mit der „Außenselektivität" der sozialen Kommunikationssysteme. 110 106
Bloch, (§ 5 F N 59), S. 76. Schelsky, ATA, (§ 5 FN 38), S. 287, zitiert zum Problem der Rollenauflösung der Person Kant und Nietzsche. Zum „Ich-Begriff als soziale Institution" bei Nietzsche grundlegend: Henry Kerger, Autorität und Recht im Denken Nietzsches, Berlin 1988, S. 103 ff. 108 ATA, S. 288. 109 Terminus von Niklas Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), S. 286ff. 110 Das system theoretische Interpenetrationsmodell ist neuerdings von Hans-Joachim Giegel, Interpénétration und reflexive Bestimmung des Verhältnisses von psychischem und sozialem System, in: Hans Haferkamp/ Michael Schmid (Hrsg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung. Beiträge zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme, S. 212244, der Kritik ausgesetzt worden. Vgl. die Antwort Luhmanns darauf: Autopoiesis als soziologischer Begriff, in: ebd., S. 307 - 344,314fT. Komplexitätsbewußt heißt es bei Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. II, Aus dem Nachlaß herausgegeben von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1987: die „Gedanken der Person, der Seele und des Ich, aber auch schon die vollen Vorstellungen des Innen und Außen" sollen als etwas erscheinen, 107
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Demgegenüber handelt es sich bei Schelsky um die Selbsterhaltung von personalen Systemen trotz ihrer Auflösung zu Wirklichkeitsausschnitten von sozialen Systemen.111 Personale Systeme werden von Schelsky vom Ganzen her aber auch auf die Erhaltung ihrer Struktur hin betrachtet und analysiert. Personale ebenso wie soziale Systeme werden ferner politisch-funktional untersucht. Ausschließlich das Prüfen personaler Systeme auf ihre Leitideen hin stellt den personfunktionalen Ansatz in der Theorie Schelskys dar. Dieser ist — wie gesagt — ein Fall der politischen Analyse. Im Folgenden sind die Hauptmerkmale des doppelten systemfunktionalen und politisch-funktionalen Theorieansatzes Schelskys systematisierend und zusammenfassend darzustellen. 4. Es besteht ein Reflexionsüberschuß des analytischen Denkens gegenüber dem Motivbewußtsein des handelnden. Das analysierende Bewußtsein kann höhere Komplexität als der individuell subjektive Erlebnishorizont des handelnden Individuums erfassen. Personale und soziale Systeme erfassen als analytische Kategorien des Forschers höhere Komplexität als diejenige, die sie als realiter existierende Gebilde erlangen können. a) Das „generalisierte Individuum", „der Mensch" und das „soziale System" werden einesteils auf ihren Bestand und ihre Anpassung, d.h. auf ihren Fortbestand und die ihre Kontinuität aufrechterhaltende Struktur abgefragt. Somit wird ihr Zustand strukturell gekennzeichnet und auf den Prozeß seiner Herstellung zurückgeführt. 112 Personale und soziale Systeme sind „,Ziele', auf die hin soziale Handlungen, Leistungen, Einrichtungen usw. als Funktion begriffen werden". Sie sind „,objektive' Tatbestände . . . , d.h. von einem „das zu erklären ist, und nicht als etwas, mit dessen Hilfe man ohne weiters anderes erklärt.", S. 1162. Die Gefühlspsychologie Ulrichs beruht auf der klaren Unterscheidung zwischen dem Gefühl als psychischer Binnenselektivität des Einzelbewußtseins und dem sozialen Mechanismus, der dem äußeren Verhalten Gefühle zurechnet; „ . . . denn wir setzen gewöhnlich, ohne viel zu überlegen, voraus, daß einer, der sich so zeigt, wie es einem bestimmten Gefühl entspricht, auch wirklich so fühle." Das ist die „amphibische Zweideutigkeit", das sind die „zwei Welten des Gefühls: S. 1138-1146,1156-1174,11961203. 111 Zu diesem Tatbestand führt Schelsky ein Beispiel an. Allerdings nehme die „Rollenoffenheit" ab, seit die „Funktions-, Berufs-, Organisations- und Unternehmensideologie" durch die auch private und berufsfremde Bereiche erfassende „sozialreligiöse Einstellung" vereinheitlicht werde. Das „sozialreligiöse Bekenntnis" werde zur „QuasiPersoneinheit hinter den Rollen Verständnissen". Inzwischen hätten wir an den Universitäten längst die Erfahrung gemacht, „daß Studenten und Assistenten als ihre Statusrollen, aber auch Kollegen als ihre Gesinnungsgruppenrollen es als selbstverständlich in Anspruch nehmen, die geistige und moralische Existenz anderer Studenten, Assistenten und Professoren zu bekämpfen, aber gleichzeitig von ihnen die institutionellen Normerwartungen zu verlangen, d.h. den funktionalen und kollegialen Leistungsanspruch der anderen zu ihren Gunsten einzukassieren, aber zugleich ihre Existenz in Frage zu stellen, zu bedrohen oder gar zu vernichten." In: ATA, (§ 5 F N 38), S. 286; ders., Der Realitätsverlust der modernen Gesellschaft (1954), in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf—Köln 1965, S. 391-404. 112 Zum ganzen Zusammenhang s. ARS, (§ 5 F N 1), S. lOOf., 103. 1
Gromitsaris
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Betrachter vorgefundene und so in ihrem gegebenen Sein erkannte ,Objekte'". Die Formel „Fortbestand und Funktionieren" ist nur ein mögliches, wenn auch naheliegendes Erkenntnisziel des analysierenden Beobachters, auf das „diese Objekte" hin geprüft werden. Sie stellt nicht Selbstverständliches dar, sondern sie ist wissensmethodisch als eine wissenschaftlich nicht bewiesene, vorgegebene „Grundannahme des Analytikers" zu verstehen, die ersetzt oder ergänzt werden kann. Personale und soziale Systeme werden selbst anderenteils als zur Entwicklung von Prozessen eigener Willensbildung und zur „Bestimmung von ,Endzielen' ihres Handelns" fähig erachtet. Diese besondere Zielsetzung, die Träger spezifischen Lebenssins ist, wird als politische Programmierungsfunktion bezeichnet. Die Endziele dieser Art sind Leitideen individuellen und kollektiven Handelns. Die in beobachtendem Reflexionsüberschuß erzielten Ergebnisse der bestandsfunktionalen und der politisch-programmierungsfunktionalen Analyse haben einen unterschiedlichen Gültigkeitsgrad. Bestandsfunktionale Analysen hängen vom Bewußtsein des Betrachters ab, „d. h. von seiner Bestimmung des ,Systems' oder der ,Natur des Menschen'". Ihre Überzeugungskraft beruht auf der Akzeptanz dieser Bestimmungen, d.h. auf einem mehr oder minder weitverbreiteten wissenschaftlichen Konsensus, der „nichtdestoweniger in seinen Grundlagen Konvention (wenn nicht gar ,Leitidee') ist (und damit selbst,Hintergrundsideologie' der Wissenschaft)". 113 Die Glaubwürdigkeit von politischen Programmierungsfunktionen reicht so weit, als wiederum ein „,Hintergrundskonsensus' der Leitideen" geteilt wird. Derselbe ist „gruppenhaft zweifellos enger als der konventionelle Konsensus der in den bestandsfunktionalen Analysen vorausgesetzten Wissenschaftsauffassung". Dies trägt vor allem dazu bei, daß „politisch-funktionale Analysen" als wissenschaftliche Tätigkeiten von „geringerer Allgemeinheit" vernachlässigt und „unter Ideologieverdacht" abgetan werden. 114 b) Großorganisation und Großräumigkeit sowie weitreichende gegenseitige Abhängigkeit der gesellschaftlichen Beziehungen lassen sich aufgrund der „unmittelbaren Sozialerfahrung der Einzelperson" nicht erfassen. 115 Weder der Wissenschaftler noch der Handelnde können „als Person das sozusagen verallgemeinerte Subjekt des sozialen Handelns" sein. 116 In der heutigen wissenschaftlich-technischen Zivilisation ist die auf primärer Erfahrung beruhende Wirklichkeitserfassung der handelnden und erlebenden Person analytisch ungenügend. Die analytisch-wissenschaftliche Wirklichkeitsbeschreibung entstellt und danaturiert die persönliche Primärerfahrung. Das alltägliche Primärerleben der Person wird zum Gegenstand wissenschaftlicher Dekomposition. Primäre Erfahrungstatbestände „treffen keine belangvollen Gegenstände mehr und verfehlen im sozialen Leben eben das, worauf es der sozialen und politischen 113
Ebd. S. 106. Luhmann, (§ 5 F N 78), S. 242. 115 Helmut Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, 1. Aufl., DüsseldorfKöln 1959, S. 231. Im folgenden zitiert: OdS. 116 OdS, S. 124. 114
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Wirkabsicht ankommt." 1 1 7 Wissenschaftliche Beschreibung der sozialen Wirklichkeit bedeutet Entsubjektivierung. Ausschaltung von „tatbestandsverzerrenden Subjektivismen' " der Primärerfahrung. 118 Nun stützt sich alles belangvolle, praktische Handeln nicht auf unmittelbare Sozialerfahrung der Einzelperson, sondern auf wissenschaftliche Vermittlung von Kenntnissen und Erfahrungen. Berufliches Handeln steht unter besonderen Bedingungen der Handlungsformierung. 119 Es stellt eine versachlichte Orientierung an den wissenschaftlich herausgearbeiteten Gesetzlichkeiten eines sozialen Funktionsbereiches dar. 1 2 0 Die Verwissenschaftlichung der Berufstätigkeiten bringt eine Verselbständigung der Handlungsformierung in den verschiedenen Bereichen mit sich und läßt ein Spannungsverhältnis zu der analytischen Sozialwissenschaft entstehen. Die angewandten Wissenschaften sehen sich „in ihrer Handlungsfreiheit und Anweisungskompetenz" von dem soziologischen totalen Determinationsanspruch allen Handelns beschränkt. 121 Dieses Spannungsverhältnis hebt Schelsky theoretisch dadurch auf, daß die angewandten Wissenschaften seiner Ansicht nach selbst Untersuchungsgegenstand der Soziologie sind. 122 Aspekte der sozialen Wirklichkeit und das soziale Handeln sind als verwissenschaftlichte Praxis zum Anwendungsbereich von Wissenschaften geworden. Die „Ziel- und Normvorstellungen", die wissenschaftlich bedingten Handlungsmotive und -leitbilder des Praktikers sind als angewandte normative Wissenschaft Gegenstand der Soziologie. Der Praktiker oder normative Wissenschaftler muß im betreffenden sachgesetzlichen Handlungssystem immanent bleiben. Der Soziologe muß hingegen das Handlungssystem „im Gesamtzusammenhang der Gesellschaft mit allen seinen sozialen Wechselwirkungen" zu erfassen suchen. 123 Praktiker und anwendende Wissenschaftler handeln und denken in systemgemäßen Alternativen und Handlungsmustern. Der Soziologe zieht auch die „systemfremden Einwirkungen auf das Handlungssystem" in Betracht. Es handelt sich darum, daß die Ausblendung gewisser Einwirkungen, Ursachen oder Folgen des sachgerechten beruflichen Handelns die Handlungsformierung mitbestimmt. Es geht dabei um die Problematik der Latenz und die Entgegensetzung von latenten und manifesten Funktionen. c) Latenz besagt kein bloßes Außerachtlassen seitens des Handelnden. Der Praktiker oder anwendende Wissenschaftler handelt nur dann systemimmanent, wenn er gewisse „soziale Abhängigkeiten, Voraussetzungen, Zwänge und 117
Ebd. S. 71. Ebd. S. 74. 119 Hierzu auch die Untersuchung: Hermann BöhrsI Helmut Schelsky, Die Aufgaben der Betriebssoziologie und der Arbeitswissenschaften, Stuttgart—Düsseldorf 1954, S. 12ff., 21 s. insbesondere den Abschnitt zu „Produktionsformen, Berufstätigkeit und soziale(n) Leitbilder(n)": S. 28. 120 ATA, (§ 5 F N 38), S. 64ff. 121 OdS, (§5 F N 115), S. 132. 122 Ebd. S. 142. 123 Hier und zum folgenden: OdS, (§ 5 F N 115), S. 143 f. 118
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Einseitigkeiten" verdeckt. Nur so gewinnt er die nötige Handlungsorientierung. 1 2 4 Der soziologische Äquivalenzfunktionalismus deckt das Verdeckte oder das, „was der Handelnde in einem System gar nicht verantworten will oder kann" auf. Die notwendige Verschränkung des Horizonts des normativen Wissenschaftlers wird vom Sozialwissenschaftler durchbrochen. Das für den ersteren notwendig Latente muß für den letzteren manifest werden. Es gibt keine „Universalwissenschaft vom sozialen Handeln". 1 2 5 Das normative „Handlungs- und Berufsethos" des Vertreters einer angewandten Wissenschaft, seine „Verpflichtung zu der Sachverantwortung gegenüber dem jeweiligen Fachgebiet" und die „normativ gesteuerte Erfassung der Tatsachen" erfolgen nur unter der Voraussetzung der Verdrängung wichtiger Seiten des Handlungszusammenhangs. Dem normativen Druck, auf eine bestimmte Weise zu handeln, wird der Praktiker oder normative Wissenschaftler nur durch Sinnausblendung und Reduktion von Komplexität, d.h. durch handlungsnotwendige Latenz gerecht. Demgegenüber beruht die Funktion der analytisch-diagnostischen Sozialwissenschaft „gerade auf der Freiheit, nicht handeln zu müssen". Diese Befreiung vom normativen Handlungsdruck erweitert im Rahmen der Suche nach funktionalen Äquivalenzen den Vergleichshorizont erheblich. Die Handlung ist weder von der Person noch von einer einzelnen Wissenschaft her zu konzipieren. Die „falsche Vorstellung von der eigenen Handlungstotalität" in den verschiedenen einzelnen Wissenschaften und den ihnen zugeordneten sozialen Institutionen der Praxis muß aufgegeben werden. 126 Es gibt keinen einheitlichen Handlungsbegriff. Es bestehen vielmehr „Systeme des sozialen Handelns", die in komplizierten Formen der Kooperation, „in einer grundsätzlich kooperativen Handlungsverschränkung zwischen analytischen und angewandten Wissenschaften" liegen. Dies ist die systemfunktionale Handlungsauffassung Schelskys.127 Er faßt sie selber anhand seiner systemtheoretischen Grundkategorie der Institution zusammen. Die „Gesamtverantwortung" 128 der Handlung sei nicht von der Person, sondern nur von der „Kooperation in den Institutionen" her zu tragen. Die Institutionen seien daher nicht nur „Zweck", sondern auch „Denksynthesen", in die die einzelnen Wissenschaften mit ihren „partiellen Wahrheiten" einzugehen hätten, „um das System eines sozialen Handelns zu ermöglichen". 124 Hierzu vgl.: Helmut Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universtität und ihrer Reformen, 2. um einen „Nachtrag 1970" erweiterte Aufl., Düsseldorf 1971, S. 69ff., 102ff., 207ff. Schelsky thematisiert das Spannungsverhältnis zwischen den Sachgesetzlichkeiten und Funktionsansprüchen der verwissenschaftlichten Gesellschaft einerseits und der Möglichkeit der Bildung durch Wissenschaft andererseits. 125
Hier und zum folgenden: Ods, (§ 5 F N 115), S. 128. Hier und zum folgenden: Ebd., S. 144. 127 Diese besonderen Bedingungen der Handlungsformierung wirken sich auch auf das Bildungsideal der heutigen Kultur aus: Helmut Schelsky, Bildung in der wissenschaftlichen Zivilisation, in: soziale Welt 13 (1962/1963), Heft 3/4, S. 193-208. 128 Hier und zum folgenden: OdS, (§ 5 F N 115), S. 126. 126
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d) Das soziale Handeln erfordert, vom Handlungsbewußtsein her gesehen, eine „Zusammenfassung der erfahrungshaft unübersichtlichen Zusammenhänge zu Handlungsmotiven und -Orientierungen". 129 Dies erfolgt auf drei verschiedenen Ebenen der Abstraktionserhöhung. Die erste Ebene betrifft die an den einzelnen herangetragene Forderung der modernen Zivilisation nach wissenschaftlicher oder berufspraktischer Spezialisierung. 130 Sie betrifft die Spezialisierung zur „Komplexität bestimmter Aktionsfelder". Schelsky nennt das „Rückzug auf die praktische oder technologische4 Beherrschung" der komplizierten Zusammenhänge der zeitgenössischen Kultur durch Aneignung eines „denkerisch hochabstrakten wie zugleich spezialisierten Repertoires an ,Herrschaftswissen', d.h. Produktionswissen". Diese technische aspekthafte Weltbeherrschung und Weltbewältigung leistet jedoch nichts „für das persönliche Sinnund Selbst Verständnis des einzelnen Menschen". Politischfunktional gesehen, bedarf es zur menschlichen Lebensführung einer weiteren Ebene der „Welterläuterung", auf der das praktisch-technologisch verwissenschaftlichte Arbeitswissen geistig und emotionell vom einzelnen bewältigt wird. Dazu bedarf es eines Wissens, welches sich auf die „emotionellen Antriebs- und Selbststeuerungskräfte des Menschen" bezieht. Schelsky nennt es Informations- Sinndeutungsoder Orientierungswissen. Seine Vermittlung ist das Ergebnis der Zusammenwirkung vielerlei Institutionen. Sämtliche „moralische Handlungsnormen vermittelnden Einrichtungen" der Informations- und Meinungsbildung, der Erziehung und Ausbildung, also der Kultur „im Sinne ihrer Definition als Zweckfreiheit und sozialer Unproduktivität" wirken zusammen. Auf dem Umgang mit dem Informationswissen beruht die Ausbildung des „Weltorientierungsbewußtseins" des einzelnen mit seinen moralischen und sozialen Leitideen. Hier eröffnen sich Wirkungsfelder für Institutionen und Gruppen, die durch die Vermittlung von Einsichten und Stellungnahmen zu „Deutungsproduzenten" und „Sinnvermittlern" werden. Sie beherrschen somit die geistige und emotionelle Selbststeuerung des Menschen. Andererseits korrigieren und beeinflussen sich technologisches Arbeitswissen und „moralische, sozialideelle Steuerung", grob gesagt also „Technik und Moral" wechselseitig. Sie befinden sich insofern in einer „Gegenseitigkeitsbindung", als die Sinndeutungen zwar in relativer Praxisferne und „Sanktionsfreiheit" gegenüber der technologischen Wirklichkeit, aber immerhin relativ praxis- und technikbezogen erfolgen. Sobald diese Gegenseitigkeitsbindung völlig abgebrochen wird, entsteht die dritte Ebene gesteigerter Abstraktionserhöhung. Die Arbeitsentlastung zunächst stellt eine Realitätsentlastung von der technisch zu bewältigenden Welt dar. Die „Sinnüberbietung" demgegenüber ist das Versprechen, mehr Glück und Vollkommenheit der Lebensumstände herbeizuführen. 131 In den Zwecksetzungen und 129
Hier und zum folgenden: ATA, (§ 5 F N 38), S. 119f. Hierzu s. das Beispiel aus der Arbeiterwelt: Helmut Schelsky, Die Zukunft der industriellen Arbeitswelt, in: Friedrich Fürstenberg (Hrsg.), Entwicklungstendenzen der industriellen Arbeitsbeziehungen, Schriften zur Industriesoziologie und Arbeitswissenschaft, H. 6 (1968), S. 7-19. 130
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Motivvorstellungen der einzelnen handelnden Personen brauchen die drei Ebenen der Abstraktionserhöhung nicht erkannt zu sein. Schelsky unterscheidet die subjektive Kategorie des Motivs von der objektiven Kategorie der Funktion. Aus Gründen der Bewußtseinsentlastung des Handelnden sind zumeist die Funktionen des Erfahrungsprinzips, des verwissenschaftlichten speziellen Arbeitswissens sowie des Orientierungs- und des Heilswissens in der persönlichen Lebensführung dem einzelnen zumeist gar nicht bekannt. Auch im politischfunktionalen Ansatz besteht ein Reflexionsüberschuß zugunsten des theoretischen Betrachters. Auch hier obliegt dem Analytiker die Erkenntnis der Funktion als objektiver Kategorie des sozialen Lebens. Was dem Motivbewußtsein des einzeln handelnden Individuums bezüglich seiner Lebensführung latent bleibt, wird dem Betrachter manifest. In der Handlungsnotwendigkeit bleiben die Leitideen dem Motivbewußtsein des einzelnen, selbst wenn er „unter ihrem Bestimmungsgrund handelt", kaum angemessen bewußt. 132 Sie rücken „in den Bereich der ,Hintergrundserfüllung' des Lebens" und werden „in der reflektierenden Betrachtung" erkannt. 133 II. Institutionen des Rechts als Kommunikationsstruktur Der Begriff der Institution ist in den von der Ethnologie und den allgemeinen Kulturtheorien ausgehenden Soziallehren als theoretischer Grundbegriff in der Soziologie aufgenommen worden. Schon lange Zeit existierten die Institutionentheorien und die Theorien, die den Begriff der Gruppe zur Grundkategorie ihrer „Formanalysen sozialer Gebilde" machen nebeneinander. Hinzu gesellt sich die juristische Institutionentheorie, wie sie der französische Rechtslehrer M. Hauriou in seiner „Théorie de l'Institution et de la Fondation" gegeben hat. Es ist Schelskys Auffassung, daß die drei theoretischen Systeme der soziologischen Gruppenlehre, der soziologischen Institutionenlehre und der juristischen Institutionenlehre in ihren „Grundbegriffen und ihren Denkmethoden" verschiedenartig sind. Ein ausführlicher Vergleich zeige jedoch, daß sie sich in ihren Ergebnissen weitgehend decken - „weitgehender übrigens, als die Vertreter dieser Theorien bisher selbst bemerkt zu haben scheinen." 134 Schelskys Institutionentheorie speist sich aus allen drei theoretischen Systemen. Aus dem Vorrat 131
ATA, ( § 5 F N 1 ) , S. 121. ARS, (§5 F N 38), S. 106. 133 Ebd. Schelsky zitiert hier Arnold Gehlen. 134 Helmut Schelsky, Die Aufgaben einer Familiensoziologie in Deutschland (Zu René König: Materialien zur Soziologie der Familie), in Kölner Zeitschrift für Soziologie 2 (1949/50), Heft 2, S. 218-247, 238f. Im folgenden zitiert FS; vgl. ferner: ders., Wandlungen der Deutschen Familie in der Gegenwart. Darstellung und Deutung einer empirisch-soziologischen Tatbestandsaufnahme, 5. unver. Aufl., Stuttgart 1967, S. 7-32. Zur Bedeutung der begriffsgeschichtlichen Entwicklung der Körperschaft für den Begriff der Institution s.: Werner Krawietz, Körperschaft, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Basel—Stuttgart 1976, Sp. 1101-1134. 132
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an Gemeinsamkeiten der drei Theorien hebt er den Struktur- und den Normbegriff einerseits, den Begriff der Leitidee andererseits heraus. 135 1. Den Strukturbegriff hat Schelsky nicht ausdrücklich definiert. Es wird sich jedoch nachweisen lassen, daß seinen institutionentheoretischen Untersuchungen ein Strukturbegriff zugrunde liegt, der erst in der modernen Systemtheorie ausgearbeitet worden ist. Unter Berufung auf die Definition der Institution bei Leopold von Wiese 136 sieht Schelsky das Eigentümliche einer Institution darin, daß „Dauer und Kontinuität" sowie „Stabilität und Hierarchie eines Sozialgebildes im Bestand einer Gesellschaftsordnung" und die „damit verbundenen gesellschaftlichen Verhaltensweisen" realiter vorhanden sind und zugleich theoretisch thematisiert werden können. 137 Dies bedeutet, daß eine Institution auf die Erscheinung der Stabilität und zugleich auf die Einordnung derselben in den Gesamtzusammenhang der Gesellschaft bezogen wird. Stabilisierung, gesellschaftliche Dauer und Einordnung in die soziale Umwelt sind die Kennzeichen der Institution. Wie es möglich ist, daß sich Institutionen in einer unstabilen Umwelt ändern können, ohne sich selbst aufzugeben, hat Schelsky systemfunktional anhand des Strukturbegriffs in dem Aufsatz „Ist Dauerreflexion institutionalisierbar?" abgehandelt. a) Struktur bedeutet nicht Invarianz. Strukturiertes besteht nur im Hinblick auf Unstrukturiertes. Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft bringt eine Aufteilung von Themenbereichen und selbständigen Rollen mit sich. Themen sind keine Diskussionspunkte, sondern Bezugspunkte sozialer Kommunikation. In den funktional aufgeteilten Themenbereichen gibt es bestimmte Formen sozialer Kommunikation. Es handelt sich um „Verhaltens- und Verstehensmuster" 138. Die Strukturierung sozialer Kommunikation erfolgt dadurch, daß Verhaltensformeln stabil bleiben und als sozial verbindlich behandelt werden. Diese Verhaltensformeln sind institutionelle Formen, die „im Zeitbewußtsein zu Formen von trivial-banaler Selbstverständlichkeit 135 Er bemerkt, daß „schon die definitorischen Grundpositionen" die Übereinstimmung der Theorien zeigten. Summer bezeichne in seiner klassisch gewordenen Formel einen Begriff (oder Zweck) und eine Struktur (,a concept plus a structure 4 ) als die Elemente einer Institution. Dies sei eine Unterscheidung, die bei Malinowski etwas differenzierter als „charter (Idee plus Normen) und personeller und materieller Apparat" wiederkehre. Die gleichen Wesenszüge fänden wir „als die ersten zwei Elemente einer korporativen Institution bei Hauriou angeführt". Sie hießen dort Leitidee (idée de l'oeuvre oder idée directrice) und Machtorganisation (pouvoir organisé). Als drittes Element nenne Hauriou die „manifestations de communion" und verstehe darunter genau die gleichen Erscheinungen, die die Gruppenlehre als Gruppengeist und Kollektiwerhalten erörtere. In: FS, (§ 5 F N 134), S. 239. 136 Leopold von Wiese, Allgemeine Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen, Teil I, Beziehungslehre, München u. Leipzig 1924, S. 282ff., 284ff.; ders., ebd., Teil II, München u. Leipzig 1929, S. 45, 205 f., 267. 137 FS, (§ 5 F N 134), S. 240. 138 ΑΤΑ, (§ 5 F N 38), S. 138.
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gelangen". 139 Sie werden dadurch gekennzeichnet, daß sie in der Sozialdimension für eine Bezugsgruppe verbindlich behandelt werden und außerdem ein besonderes Verhältnis zur Zeit haben, denn hier wird das Verhältnis Struktur / Ereignis thematisiert. Konkretes Verhalten ist ereignishaft. Ereignisse entstehen und verschwinden, sie sind zusammenhanglos; sie können jedoch in Beziehung zueinander gebracht werden. Dies ist die Leistung von Strukturen. Das Gespräch beispielweise in einer Glaubensgemeinschaft ist eine Verhaltensformel, die Strukturwert hat. Es stellt gewisse Kombinierungs- oder Relationierungsmöglichkeiten 140 von Ereignissen dar. Aus der Mannigfaltigkeit der Ereignisse werden einige herausgegriffen und als Einheiten sozialer Kommunikation in Anspruch genommen. Schelsky formuliert diesen Zusammenhang anhand eines Beispiels 141 wie folgt. In einer religiösen Glaubensgemeinschaft moderner Menschen etwa flössen der „Gefühls-, Gedanken-, Vorstellungs- und Redestrom, die Reflexionen der Subjektivität" immer weiter. Sie ließen sich auf keine Objektivierung fixieren. Daran liege es, daß die Kommunikationsgrundlage, der „Bestand von Gemeinsamkeiten" der Subjektivität unstabil bleibe. Demgegenüber stelle das „Gespräch" die permanente und fundamentale Möglichkeit der Wiederherstellung der Gemeinsamkeiten unter den verschiedenen Subjektivitäten dar. Das Gespräch ist hier als eine Verhaltensform mit Strukturwert beschrieben, die Zeit reversibel macht. Ereignisse verschwinden, Strukturen bleiben als Verbindungsmöglichkeiten von Ereignissen bestehen. Sie ermöglichen die Wiederherstellbarkeit sozialer Kommunikation. Gemeint ist mit Reversibilität nicht die Umkehrbarkeit objektiver Verläufe, sondern ein allen Sinnstrukturen immanentes Problem 142 . Der Blumentopf, der auf den Balkon zurückgebracht wurde, nachdem er dem Beobachter auf den Kopf gefallen war, zeigt die Grenzen der Reversibilität. Gemeint ist die Möglichkeit, zu früheren Sinngehalten zurückzukehren, sie in neuen Gegenwarten zu aktualisieren, die Rückkehrbarkeit als Sinnkonstrukt zu realisieren. Reaktualisierte Handlungen sind andere Handlungen; man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen. Trotzdem wird an der Differenz festgehalten: Reversibilität besagt, daß noch weiter Handlungschancen bestehen, während Irreversibilität auf bloße Erinnerung verweist. Den Blumentopf kann man zurückbringen, an einen Schädel ohne Silberplatte kann man sich nur erinnern. 143 Man kann zu Relationierungs- und Selektionsmöglichkeiten, die man „im Verlauf des Erlebens und Handelns" in Anspruch genommen und sodann verlassen hat, um sich 139
Helmut Schelsky, Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? Zum Thema einer modernenReligionssoziologie (1957), in: Auf der Suche nach Wirklichkeit, (§ 5 F N 111), S. 269. Im folgenden zitiert: DI. 140 Terminus von Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), S. 41 ff., 383 ff., 479, 600f., 605. 141 DI, (§5 F N 139), S. 268 f. 142 Luhmann, Temporalstrukturen des Handlungssystems, (§ 5 F N 84), S. 132. 143 Axel Görlitz, Rüdiger Voigt, Rechtspolitologie. Eine Einführung, Opladen 1985, S. 64-89, 77 ff., mit weiteren Beispielen.
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anderem zuzuwenden, zurückkehren. 144 Strukturen wandeln die Unumkehrbarkeit des Verschwindens von Ereignissen in Umkehrbarkeit um, indem sie die Möglichkeit der Wiederbenutzung ihres Relationierungsmusters bereithalten. Gedanken fließen, die Gesprächsmöglichkeit bleibt — vorausgesetzt, daß das Gespräch als Selektionsschema Strukturwert hat. 1 4 5 In der Zeitdimension wird soziale Kommunikation in bezug auf Ereignisse als irreversibel und in bezug auf Strukturen als reversibel erlebt. Im Hinblick auf die Differenz Struktur / Ereignis geht es um strukturierte Kommunikation. Dies bedeutet Inanspruchnahme und Inverbindungsetzen von Ereignissen. Die Institution besteht nicht aus Ereignissen, sondern aus den Relationierungsmöglichkeiten von Ereignissen. Verhaltensformeln oder Verhaltensmuster sind Selektions- und Kombinationsschemata von Ereignissen, sie sind Strukturen. Eine Institution in diesem Sinne muß über zwei verschiedene Arten von Gegenwart verfügen können: über eine punktuelle Gegenwart, in der unaufhörlich und unaufhaltsam Ereignisse Irreversibilität produzieren, in der also Zukunft zur Vergangenheit wird, und über eine dauernde Gegenwart, in der Strukturen die Reversibilität von Sinn garantieren, in der also Handlungsereignisse in ihrer Selektivität fortdauern, während sie als Selektion schon irreversibel geworden sind. Keine der beiden Gegenwarten ist imaginär. Das Erfassen des imaginären Präsens fällt — wie Sartre nachgewiesen hat — mit der Auflösung des realen Präsens zusammen. 146 Beide Gegenwarten sind gleichzeitig gegenwärtig und werden simultan benutzt. So kann man sich, während die Zeit verrinnt und ständig was passiert, in einer Gegenwart aufhalten, die noch läuft, und sich überlegen, welcher der nächste Schritt sein soll. Es ist Vorsicht geboten, denn mit ausgedrückten Erwartungen passiert immer etwas irreversibles; man legt sich auf sie fest und kann sie schlecht im Nachhinein einschränken, geschweige denn widerrufen. Eine ausgestreckte Hand kann es nicht gut leugnen, daß sie ein Angebot von vorweggenommenen Folgehandlungen ist. Sie möchte ergriffen werden. 147 b) Der Strukturbegriff ist noch nicht hinreichend festgelegt. Er bezieht sich überdies auf eine zusätzliche Differenz. Das ist die Differenz Institution / Umwelt, die identisch mit der in der Systemtheorie herausgearbeiteten grundlegenden Differenz System / Umwelt ist. Es handelt sich um eine Grenzen144
Formulierung in Anlehnung an Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), S. 303,414,
472. 145 Luhmann, ebd., S. 608: „Ereignisse präsentieren im System die Irreversibilität der Zeit. Um Reversibilität zu erreichen, muß man Strukturen bilden." Siehe noch S. 71 : „Was immer die Zeit ,sein' mag: Sie zwingt nicht zur Irreversibilität." Ereignisse und Strukturen haben verschiedene „zeitliche Erstreckungen": Reinhart Koselleck, Darstellung, Ereignis und Struktur. In: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 144-157, 148ff. 146 Jean-Paul Sartre, L'imaginaire. Psychologie phénoménologique de l'imagination, Paris 1940, S. 239 ff., 252. 147 Luhmann, Temporalstrukturen des Handlungssystems, (§ 5 F N 84), S. 135. Vgl. den Vers Rilkes: „Denn, wie beschränk ich, wie, den gerufenen Ruf?". Die siebente Elegie, zit. nach Rainer Maria Rilke, Sämtliche Werke, Frankfurt a.M. 1970, Bd. 1, S. 710.
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ziehung zwischen funktional differenzierten Themenbereichen sozialer Kommunikation und sie betreuenden sozialen Rollen. Die Themen sind Bezugspunkte in der Sachdimension. Das Unabhängig- und Selbständigwerden der verschiedenen Lebensbereiche bringt notwendigerweise eine Rollentrennung und themenspezifische Aufteilung mit sich. 148 An diesem Punkt wird der Erwartungsbegriff von Schelksy eingeführt. Themenspezifische Rollen machen nur einen bestimmten Anteil an dem Gesamthandeln einer Person erwartbar und dienen dem Abstecken von Relevanzbereichen. Erwartungen werden in der Sach- und in der Sozialdimension festgelegt. Sachlich beziehen sie sich auf Themen. Die soziale Festlegung von Erwartungen betrifft eine besondere Bezugsgruppe, einen Bezugskreis von Personen, von denen die Erwartungen gehegt werden. Sozial und sachlich definierte Erwartungen stellen die erwarteten Selektionen aus der Fülle des Möglichen als „soziale Modelle des Verhaltens" oder „Verhaltensformen und Verhaltensauffassungen" hin. 1 4 9 Diese Erwartungszusammenhänge haben Strukturwert, wenn sie themenspezifische soziale Kommunikation im Gange halten, wenn nämlich die Kommunikation ohne sie aufhören würde. So definiert beziehen sich Strukturen auf die Differenz zwischen Erwartbarem und Unerwartbarem und thematisieren somit das Spannungsverhältnis der Institution zu ihrer sozialen Umwelt. Erwartungen behandeln Soziales als konform oder abweichend (enttäuschend). Institutionelle Strukturen sind Erwartungsstrukturen, weil sie Soziales in Konformes und Abweichendes zerlegen und mithin ein Behandlungsschema von Ereignissen darstellen. Dies bringt Schelsky im Zusammenhang mit der Problematik der Strukturveränderung und der Anpassung einer Institution zum Ausdruck. Er thematisiert das Generelle anhand des Besonderen. Um das Problem der Strukturanpassung an ihre soziale Umwelt lösen zu können, sieht er sich genötigt, den Strukturbegriff theoretisch herauszuarbeiten. 150 Die Umwelt einer Institution ist auch stukturiert. Sie besteht aus anderen Institutionen, die ihren eigenen Konformitätsdruck ausüben, indem sie ihre eigene Umwelt mit ihrer eigenen Erwartungsstruktur behandeln. Jede Institution erhebt eigenen Konformitätsanspruch und reproduziert sich, indem sie ihr eigenes Schema der 148
ATA, S. 130, 35; Helmut Schelksy, Der behavioristische Ansatz der Institutionenlehre (Floyd Henry Allport), in: Ders., Die Soziologen und das Recht, (§ 2 F N 2), S. 232247, S. 245. Im folgenden zitiert: IB. Das „Rollenverhalten sei als der Individualteil der Institutionen zu verstehen. Damit werde aber deutlich, daß institutionelles Handeln nur als ein spezifischer Anteil am Gesamthandeln und den gesamten Lebensäußerungen des Individuums verstanden werden könne. Gegenüber der „realen Ganzheit der einzelnen Person", d.h. allen ihren beobachtbaren Handlungen und Lebensäußerungen sei das institutionell handelnde Individuum selbst eine „Auswahl von Daten zur Person", sei selbst eine Abstraktion, ein nur gedachter „homo soziologicus", wie Dahrendorf dieses Individuum als Gegenstand der Soziologie unter gleichen Gesichtspunkten genannt habe. 149 Helmut Schelsky, Die Bedeutung des Berufes in der modernen Gesellschaft. In: Unser Verhältnis zur Arbeit. Buchausgabe der gleichnamigen Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks, Stuttgart 1968, S. 37, 44f. 150 DI, (§5 F N 139), S. 252f.
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Umweltbehandlung beibehält. Eine rein „passive, opportunistisch-harmonisierende Spannungsvermeidung" hebt die Institution auf. Das eigene Behandlungsschema von Ereignissen wird aufgegeben und ein anderes wird übernommen. Dies ist gerade „keine Anpassung, sondern die Zerstörung, Aufsaugung und Entfremdung der ursprünglichen Lebensgesetzlichkeiten einer Person oder Institution". 1 5 1 Diesem Anpassungsbegriff liegt die unentbehrliche Spannung zwischen Institution und Umwelt zugrunde. Schelsky beschreibt Anpassung als Strukturveränderung. Anpassung setzt Vorhandensein und Weiterbestehen von Strukturen trotz Veränderung voraus. 2. Die theoretischen Grundlagen dieser Auffassung hat Schelsky nicht abstrakt formuliert, sondern am Fall der strukturellen Anpassung der „sozialen Erscheinungsweisen des Christentums an die Strukturen der modernen Welt und Gesellschaft" exemplifiziert. Seine Überlegungen haben jedoch allgemeinen institutionentheoretischen Charakter. Strukturen ändern sich, wenn trotz neuer themenspezifischer Erwartungsbildung die sachbezogene soziale Kommunikation weiterläuft. Schelsky scheinen „soziologisch drei Arten von Vollzügen unterscheidbar" in denen sich neue Verhaltensmuster oder Erwartungszusammenhänge „institutionell mit den überlieferten auseinandersetzen, beziehungsweise zusammenleben." 152 Unterschieden wird zwischen „Einbau", „Funktionswechsel" und „Neutralisierung". a) M i t „Einbau" ist die Tatsache gemeint, daß die soziale Kommunikation zu neuer Erwartungsformierung gelangt, ohne daß die schon institutionalisierten Erwartungen aufgegeben werden. Der Bereich institutioneller Relevanz wird verhältnismäßig mühelos verändert, weil die neue Ewartungsbildung auf schon vorhandenen Erwartungen aufbaut. Die neuen Erwartungen werden „zum anerkannten Einfügsei der tradierten Organisations- und Verhaltensformen, die dann von hier aus als „verlebendigt" erscheinen". 153 Es besteht ein Gegenseitigkeitsverhältnis. Die tradierten Verhaltensformen tragen die neuen Erwartungszusammenhänge mit, und die neu institutionalisierten Erwartungen verlebendigen die alten institutionellen Formen. Dies scheint der Grundmodus der Erweiterung von Institutionengrenzen, d.h. des institutionellen Relevanzbereiches zu sein. Entweder werden neue Themen sinnhafter Kommunikation in der Sachdimension von den tradierten Relationierungsmustern in Anspruch genommen oder aber es werden neue Relationierungsmuster eingeführt. Man denke beispielsweise an die „Herübernahme... der Predigt in das Tagungsleben der Akademien oder der Massenversammlungen der Kirchentage" und an die 151
Ebd. S. 253. Ebd., S. 270. Schelsky bespricht die Möglichkeit der Institutionalisierung neuer Glaubensformen. Seine diesbezüglichen Ausführungen sind jedoch in seiner allgemeinen Theorie der Institutionalisierung eingebettet und erfolgen bezeichenderweise nach der abstrakten Festlegung des Institutionalisierungsbegriffs an zentraler Stelle des zitierten Aufsatzes, s. ebd. S. 262, Ausgangspunkt ist die Frage: „Zuvor ist zu klären: Was heißt institutionalisieren'?". 152
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Hier und zum folgenden: Ebd. S. 270 f.
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„Abhaltung des Abendmahles in Fabriken bei der Arbeiterseelsorge". Man denke auch an die Einfügung der neuen Relationierungsmuster des „Gesprächs, der Diskussion und der Tagung" in die traditionelle kirchliche Organisation. Konservative Haltungen sind sehr oft auf Schwierigkeiten in dem Umgang mit dem neuen Relationierungsmuster der Institution zurückzuführen. b) Unter Funktionswechsel wird die Tatsache verstanden, daß „das Institutionelle als solches, das Äußerliche der sozialen Organisations- und Kommunikationsform" unverändert bleibt, während sich die sozialen Bedürfnisse, die darin ihre Erfüllung finden, gewandelt haben. Funktion wird hier im Anschluß an Malinowski als soziale Bedürfniserfüllung bezeichnet. Erwartungszusammenhänge werden in diesem Fall insofern verändert oder erweitert, als sie neue Bedürfnisse und Bedürfniserfüllungen institutionell relevant machen. 154 In diesem Fall ändern sich die Erwartungsstrukturen weder in der Zeit- noch in der Sozial- wohl aber in der Sachdimension. Der alte Themenbezug wird aufgegeben und ein neuer wird hergestellt. Bedürfnisse und Bedürfniserfüllungen sind als Erwartungsbezogene Kommunikationsthemen zu verstehen. Beispielhaft ist hier der „Bedeutungswandel der Predigt" oder der Beichte. Erstere wird heutzutage eher als „Einleitung und Anregung des,Deutens' des Reflexionsprozesses und Subjektivitätsstromes der modernen Gläubigkeit" aufgefaßt. Die Beichte dagegen hat eher die Funktion der „Seelentherapie" angenommen. Die Relationierungsmuster Predigt und Beichte beziehen sich nun auf neue Themen, auf neue Bedürfnisse. c) Mit dem Begriff der „Neutralisierung" wird schließlich eine Konstellation bezeichnet, in der zunächst einmal Verhaltenserwartungen „ i n ihrem Dasein und ihrer sozialen Verbindlichkeit durchaus intakt bleiben". Sie „werden gehegt und konserviert", obwohl sie in der Sachdimension ein mächtiges Schrumpfen erleiden. Der Institution widerfahrt ein Themenschwund und eine Themendiskreditierung. Der „spannungs- und bedürfnislösende Ernst der Funktion" ist aus den Themen gewichen. Die Bedürfnisse und Bedürfniserfüllungen, die mit den tradierten Verhaltenserwartungen verbunden sind, nehmen die „Form des Musealen und der Versteinerung" an. Das institutionelle Themenrepertoire wird demnach geändert. Die tradierten Einschränkungen von Kombinationsmöglichkeiten in der Sachdimension werden diskreditiert, aufgegeben oder ersetzt. Sie werden neuinterpretiert und zugleich in ihrer institutionellen Eigentümlichkeit neutralisiert. Ihre neue Bedeutung stellt kein eigentümliches Thema der bestimmten Institution dar. Die Kommunikation in der Institution wird danach durch die in der Sachdimension diskreditierten Verhaltenserwartungen im Gange gehalten. 155 Die Themendiskreditierung erfolgt durch die „Zeremoniali154 Bedürfnisse werden auch institutionell hergestellt. Hierzu s. die Studie Helmut Schelsky, Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen. Kulturanthropologische Gedanken zu einem rechtssoziologischen Thema (1949), in: Auf der Suche nach Wirklichkeit, (§ 5 F N 111), S. 33-55. Im folgenden zitiert: STV. 155 Die alten religiösen institutionalisierten „Verhaltensformulierungen" stützen sich beispielsweise — wenn „der Strom des Glaubenslebens an ihnen vorbei fließt" — „auf alle
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sierung" oder das Rücken von Verhaltensformeln" in die Vordergründigkeit des nur demonstrativen Gebrauchs". Die diskreditierten Themen, auf die sich die Verhaltenserwartungen beziehen, sind nur noch als „unverbindliche Maßgeblichkeiten" akzeptabel. Die Zumutbarkeit des Ernstes der Funktion dieser Verhaltenserwartungen ist nicht mehr selbstverständlich. Als zumutbar wird nur noch eine äußere Konformität behandelt. Die Erwartbarkeit von damit zusammenhängenden institutionellen Bedürfnissen und Bedürfniserfüllungen ist als Themenerwartung unzumutbar. 156 3. Somit läßt sich die Struktur einer Institution in der Sachdimension als Grenzenziehung aufgrund von Themenerwartungen bestimmen. Nachfolgend geht es um den Nachweis, daß diese Festlegung von relevanten Themen, Erwartungen und Bezugskreisen von Personen in der Sozialdimension eine institutionelle Leistung ist. a) Die Erwartungen in den institutionellen Verhaltensmustern sind bei Schelsky ebenso wie bei Max Weber objektiver sozial konstituierter Sinn. Dies kommt bei der Erörterung der Frage nach der Institutionalisierbarkeit der Dauerreflexion deutlich zum Vorschein. Was das einzelne Individuum konkret, situativ erwartet, ist für Schelskys Institutionentheorie nicht entscheidend. Schelsky spricht von „Außen- und Fremdgesteuertheit" der „reflektierenden Selbstkommunikation des modernen Menschen". 157 Soziale Formen des Sichverhaltens erregen von außen her die subjektive Reflexion und halten sie formal im Gange, indem sie eine „Grundlage" dieser Erlebnis- und Bewußtseinsform in „Außenweltdaten" festmachen und formalisieren. Diese Grundlage kann auf diese Weise durch die Zeiten und „für die Menge" dauernd zur Verfügung stehen. Die ständige, „unaufhörliche Erlebnis- und Vorstellungsunruhe der Subjektivität" wird durch eine „(wohlgemerkt) formale Außenweltgebundenheit" gekennzeichnet. Es handelt sich um ein „Verharren in der Formalität, im bloß Äußerlichen" 158 , welches die soziale Gestalt und Erscheinungsform der Reflexion darstellt. Die Formalität von Verhaltensformen und Erwartungen möglichen Motive und Ursachen — auf Traditions-und Gewohnheitsbedürfnisse, . . . auf ihre Bedeutung im Gefüge der Gesamtkultur, auf das mit ihnen verbundene soziale Prestige usw. —, nur nicht mehr auf die vitalen Ansprüche der Glaubensinnerlichkeit." Auf diese Weise sachlich festgelegt seien Verhaltenserwartungen „als religiöse Institutionen doch zugleich religiös neutralisiert." In: DI, (§ 5 F N 139), S. 271. Zum Verhältnis von Themen- und Systemgrenzbestimmungen s. Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 FN 14), S. 267 f. 156 Die Kategorie der „unverbindlichen Maßgeblichkeit" stammt von Arnold Gehlen. Damit ist eine Kulturgestalt gemeint, die insofern maßgeblich sei, als niemand sie anstößlich findet und viele sich beeindrucken lassen, die aber folgenlos dastehe, indem „keine Impulse von ihr ausgehen, außer in der Richtung der eigenen Reproduktion, und niemand sich davon belebt und bekräftigt fühlt". Hier zitiert Schelsky Gehlen. Als weitere Beispiele führt Schelsky aus dem religiösen Bereich, die kirchliche Taufe, die Konfirmation oder Firmung, die Trauung, die Beerdigung an. Diese würden weithin zu solchen nur „zeremoniellen Sozialakten". In: DI, (§ 5 F N 139), S. 271. 157 Hier und zum folgenden: Ebd. S. 266f. 158 Ebd. S. 269.
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§ 5 Institutionentheorie des Rechts von Helmut Schelsky
definiert Schelsky im Hinblick auf die sozialen Verhaltensmuster der Dauerreflexion wie folgt. „Außenwelt-Einrichtungen" 159 könnten die Dauerreflexion und Bewußtseinsdynamik der modernen Innerlichkeit sichern. Sie würden „Handlungs- und Ausdrucksformen" der Subjektivität nahelegen, ja aufdrängen. Bei aller Vielfalt ihrer inneren Erlebniserfüllung und ihres Erlebnisniveaus würden diese Ausdrucks- und Handlungsformen formal, „d. h. im beobachtbaren Außenweltverhalten" deutlich auf eine immer größere „Stereotypie" hinauslaufen. Obwohl also eine subjektiv noch so verschiedenartige Innerlichkeit vorausgesetzt werden könne, laufe ihre Äußerung immer mehr auf bekannte, von jedem zu ergreifende und weitgehend schon in gewohnheitsmäßige Selbstverständlichkeit abgesunkene einheitliche Verhaltensformeln hinaus. 160 Die sozial bereitgehaltenen Verhaltensweisen beziehen sich gar nicht auf die situative psychische Lage der Person. Ferner können sie „den inneren Aufschwung der Person" nicht sicherstellen. Sie können bloß dessen „dauernde Möglichkeit" garantieren und zur „inneren Bemächtigung" und zum „geistigen Ausleben" des in den stabilisierten Verhaltensformeln Trivialisierten herausfordern. Das sei der „,Appell nach oben' ", der jeder Institution als normative Leitidee in Spannung zu ihrer trivialen Stabilität innewohne. 161 Erwartungen haben einen „sozialen Außengehalt" 162 , der von dem situativen Motivationsund Vorstellungsgefüge des Individuums unabhängig ist. In den verschiedenen Lebensbereichen sind die Dauerformen des Verhaltens formal, rollenhaftig und daher als spezialisierte, sektorenhafte Erwartungszusammenhänge in der Sachund Sozialdimension zu verstehen. 159
Hier und zum folgenden: Ebd. S. 267f. Zur ausgelösten theologischen Diskussion über die in der hier erörteten Abhandlung vertretenen Thesen s. Friedrich Delekat, Kann und darf die dauernde theologische Reflektion zu einem kirchlich-institutionellen Dauerreflex werden?, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik, 1957 (Heft 6), S. 254-271, 256. Nach seiner Auffassung sei die Wirklichkeit des Geistigen und Geistlichen weder von der Soziologie noch von der Psychologie aus zu erfassen.; Heinz Horst Schrey, Die künftige Gestalt der Religionssoziologie. Zu H. Schelskys Frage nach der Institutionalisierung der Dauerreflexion, ebd., S. 271-278, 273: Theologie und Reflexion seien gegenüber der Verkündigung des Wortes Gottes ein „sekundäres Unternehmen". Die Verkündigung sei das eigentlich „Kirchgründende", so daß alles andere eine Dienstfunktion habe. Daher sei die Frage nach der Institutionalisierbarkeit der Dauerreflexion weder zu stellen noch zu beantworten.; Otto H. von der Gablentz, Kann Religion die Dynamik der Gegenwart deuten und bewältigen?, ebd., S. 278-281; Wilhelm Loew, Dauerreflektion?, ebd., S. 281-283; H.-R. Müller- Schef e, Naive oder reflektierte Aufklärung? Eine Anfrage an Helmut Schelsky, ebd., S. 283-285; Oskar Hammelsbeck, Warum bin ich evangelisch? Zu Schelskys Frage nach Reflexion und Institution, ebd., S. 286-291. In allen diesen Beiträgen ist deutlich, daß man vor allem an dem Tatbestand der Banalisierung und Trivialisierung von Glaubensbedürfnissen durch Institutionalisierung Anstoß genommen hat. Die Antwort von Helmut Schelsky, Religionssoziologie und Theologie, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik, 1959 (Heft 3), S. 129-145, ging dahin, daß institutionentheoretische Fragestellungen und Glaubensbekenntnisse auseinander zu halten seien. 160
161 162
DI, (§5 F N 139), S. 267. Ebd., S. 272.
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b) Die Verhaltenserwartungen beziehen sich auf Themen. Damit werden Bezugspunkte sozialer Kommunikation gemeint, die einen sachlichen Gehalt, eine Geschichte von schon gelieferten Beiträgen zum Thema und einen Kreis von kompetenten Teilnehmern (Beiträgern) haben. Soziale Kommunikation wird durch Themen geordnet, auf die sich dann „Beiträge zum Thema beziehen können". Durch Themen wird „Negierbarkeit reguliert". Einerseits „gibt es Thematisierungsschwellen", z.B. Obszönitäten. Andererseits ist das Thema Maßstab dafür, „daß Beiträge inhaltlich abgelehnt, korrigiert, modifiziert werden können". 1 6 3 Solange die Kommunikation im System stattfindet, kennt die Spezialisierung des Themengehaltes keine Grenzen. Auch Bedürfnisse sind demnach systemtheoretisch als Themen zu kennzeichnen. Diesem systemtheoretisch ausgearbeiteten Sachverhalt entsprechen die Ausführungen Schelskys über menschliche Bedürfnisse und Institutionen. Bei der Erörterung des Begriffs des Bedürfnisses warnt Schelsky vor allem davor, den Fehler zu begehen, dem Bronislaw Malinowski teilweise erlegen ist. Die Bedürfnisse nämlich aus den Leistungen der Institutionen zu erschließen und sie dann als ,Bedürfnisse' in die menschliche Natur zu projizieren. 164 Die Bedürfnisse werden nicht biologisch betrachtet. Es handelt sich um kulturell abgeleitete Bedürfnisse, deren „spezielle Erfüllungen" und „Dauerbefriedigung" zugleich neue „Typen der Gesetzmäßigkeiten im menschlichen Verhalten" auftreten lassen. 165 Aus dem „Erfüllungsbestand" heraus entwickeln sich „Folgebedürfnisse". Sie werden als tertiäre, quartäre usw., d.h. also abgeleitete Bedürfnisse höheren Grades bezeichnet. Diese fordern ihrerseits zu einem „Weitertreiben der sozialen Institutionsbildung" auf. 1 6 6 Jede Institution stellt den „Zusammenhang eines ganzen Systems von Bedürfnissen" dar, die als zuzumutende Themenerwartungen sozialer Kommunikation die Grenzen der Institution ausmachen. Die Stabilität einer sozialen Institution hängt davon ab, daß i.
die Quantität der in der Institution befriedigten Bedürfniskorrelationen" relativ konstant bleibt; dies besagt, daß das Repertoire von Themenerwartungen eine relative Konstanz aufweisen soll; ii. es eine „wechselseitige Leistungsfähigkeit" zwischen Institutionen gibt, die bezüglich der untergebrachten Bedürfnisse in hierarchischem Verhältnis zueinander stehen. Dies bedeutet, daß die Zumutbarkeit der themenerwartungen in der einen Institution die Aufrechterhaltung der Zumutbarkeit der Themenerwartungen in einer anderen Institution voraussetzt; iii. die Entstehung von Folgebedürfnissen mit ihren Erfüllungen fortgeführt wird. Dies bedeutet, daß die Stabilität der Institution den Wandel ihrer 163 Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), S. 213 ff., legt die Bedeutung der Differenz von Themen und Beiträgen für die Strukturierung sozialer Kommunikation in sozialen Systemen dar. 164 ARS, (§ 5 F N 1), S. 114. 165 STV, (§ 5 FN 154), S. 37. 166 Hier und zum folgenden: Ebd. S. 39ff.
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§ 5 Institutionentheorie des Rechts von Helmut Schelsky
eigenen Struktur notwendig mitimpliziert; soziale Kommunikation in einer Institution impliziert unvermeidlich ein Testen von Abweichungen auf ihre Zumutbarkeit hin. Bedürfnissynthesen und Bedürfniserfüllungen sind nicht nur in ihrem Gehalt als Themenerwartungen einer Institution von der psychischen Innerlichkeit des einzelnen unabhängig. Sie haben auch einen Zeitaspekt. Bedürfnisse können als Themen alt sein. In diesem Fall kann „die Einsicht eines noch wachen historischen Erinnerungsvermögens" ältere Beiträge zu einem Thema ihrer einstigen Banalität entledigen. Damit wird begonnen, die „Größe der abgelebten Zeiten an der Unvollkommenheit" einer Gesellschaft zu messen, die ihrerseits Nöte und Irrwege aufdrängt. 167 Gegenwärtige Beiträge können andererseits in Hinblick auf einen „noch unerforschten Horizont der schöpferischen Möglichkeiten" als „präsente Trivialitäten" negiert werden und sogar zu dem Anspruch einer Neubestimmung der Themen führen. Schließlich kann zum Thema „ohne Vergangenheits- und Zukunftsausgriff" unter Bejahung desselben beigetragen werden. Die Bedürfnisse oder Themenerwartungen brauchen nicht explixit formuliert und bewußt zu sein. Die Kommunikation ist um so sicherer, je unbewußter die Erwartungen sind, die sie strukturieren. Erwartungszusammenhänge, die „vor der Bewußtheit des Menschen den Charakter des Selbstverständlichen, Banalen und Inferioren annehmen", beziehen sich auf entaktualisierte Bedürfnisse und Lebensinhalte oder auf ganz selbstverständliche themenspezifische Verhaltenserwartungen. 168 Die Dauerhaftigkeit und Stabilität von Institutionen ist „tiefer begründet als auf dem planenden Zweckhandeln". 169 Bei allem institutionellen Handeln sei also „letzte Rationalität und Zweckdienlichkeit" aus der Motivebene des Handelnden verschwunden. Sie sei gleichsam in die Institution selbst übergegangen und zur nicht mehr bewußten „Selbstverständlichkeit ihrer Existenznotwendigkeit" abgeblaßt. Die chronische „virtuelle Dauererfüllung und Absättigung" der in Institutionen untergebrachten Bedürfnisse, welche zu ihrer Entaktualisierung führt, nennt Schelsky mit Gehlen „Hintergrundserfüllung". Es handelt sich um eine Trivialisierung von Verhaltens· und Themenerwartungen dadurch, daß die Erwartungen nicht mehr auf aktuellem, sondern auf erfolgreich überschätztem, also unterstelltem Konsens beruhen. Selbstverständlichkeit bedeutet unbestrittene Konsensfahigkeit. 170 Selbstverständliche Themen werden nicht einmal als solche wahrgenommen. Sie 167
Hier und zum folgenden: DI, (§ 5 FN 139), S. 265 f. Ebd. S. 264. 169 Hier und zum folgenden: Ebd., S. 262ff. 170 Für Luhmann bedeutet Institutionalisierung erfolgreiche Unterstellung von Konsens. Er spricht von einem „Fundus von kommunikationslos angenommenen Selbstverständlichkeiten . . . , den zu thematisieren das Interesse fehlt." Die Sprengung von solchen Selbstverständlichkeiten wird als „scherzhaft, versehentlich, unverständlich im schlimmsten Fall geisteskrank" empfunden. Niklas Luhmann, Institutionalisierung — Funktion und Mechanismus im sozialen System der Gesellschaft. In: Helmut Schelsky (Hrsg.), Zur Theorie der Institution, (1. Aufl., Düsseldorf 1970), 2. Aufl., Düsseldorf 1973, S. 32. 168
III. Institution als Realitätskategorie und Beobachtungsschema
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liegen der Kommunikation zugrunde, ohne explixit thematisiert werden zu müssen. Somit wird die Kommunikation in der Institution von der Thematisierung des Selbstverständlichen entlastet und wendet sich Aktuellerem und Wichtigerem zu. Dies besagt jedoch nicht, daß das Banale institutionell entschwindet. Es bleibt entaktualisiert, „solange es nicht grundsätzlich in Frage gestellt ist". 1 7 1 III. Institution als Realitätskategorie und Beobachtungsschema Verhaltens- und Themenerwartungen sind als Relationierungsschemata von Ereignissen einerseits ratio essendi und andererseits ratio cognoscendi von Institutionen: Bestimmungsgrund der Existenz einer Institution ist die Strukturierung der sozialen Kommunikation in derselben anhand von Relationierungsschemata. Institutionen sind demnach keine Realitätseinheiten „der gleichen Art wie der empirisch feststellbare Organismus eines Individuums". 1 7 2 Sie sind keine gegenständlich körperhaft Gegenstände und gehören trotzdem zur Wirklichkeit des Sozialen. Letztere hat keine „unmittelbar materiell feststellbare Realität." Sie führt ihre Existenz „in den Vorstellungen, den Überzeugungen, dem Glauben usw. der Menschen". 173 Sie führt eine „Sinn-Existenz", die von den Sozialwissenschaften anerkannt werden muß, „weil sie die Realitätsform sozialer Gebilde überhaupt ist." Sozialer Sinn wird dadurch konstituiert, daß Ereignisse den verschiedenen Institutionen zugeordnet werden oder daß sie durch verschiedene Verhaltensmuster strukturiert werden. 1. Die Relationierungsschemata, die jeweils Ereignisse für sich in Anspruch nehmen, sind zugleich ratio cognoscendi von Institutionen. Ein Marsbewohner sieht als externer Beobachter des städtischen Verkehrs nur Ereignisse. Erst nachdem er um die strukturierenden Relationierungsschemata Bescheid gewußt hat, beobachtet er das städtische Verkehrssystem als Institution. Das Relationierungsschema ist Erkenntnisvoraussetzung institutionellen Verhaltens. Erst wenn ein solcher Marsbewohner informiert wird, daß die „Lichter und die Armbewegungen der Polizisten Verkehrszeichen" sind, die eine Verkehrsordnung bedeuteten, die den Zweck habe, Menschen und Wagen möglichst schnell und ohne Zusammenstöße durch die Stadt zu bewegen, erst dann würden nach Schelsky seine Einzelbeobachtungen sich für ihn zu einem „einheitlichen Beziehungsbild" zusammenschließen. Er würde die Verkehrsordnung verstehen. 1 7 4 Dem Beobachter vom Mars bleibt die Sinnkonstitution verborgen. Er erfaßt Lichtsignale, Verkehrszeichen und Polizisten als Schilder und sinnlich wahrnehmbare Objekte, die möglicherweise mit „Regelmäßigkeiten des Bewegungsverhaltens der Menschen" korrelieren. Er könnte somit das „soziale 171 172 173 174
DI, (§5 F N 139), S. 264. IB, (§ 5 F N 148), S. 234. Ebd., S. 244. Ebd., S. 241.
13 Gromitsaris
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§ 5 Institutionentheorie des Rechts von Helmut Schelsky
Verhaltesmuster ,Verkehr' als individuelle Verhaltenswirklichkeit" weitgehend beschreiben, aber er könnte niemals darauf schließen, daß und weshalb diese Regelmäßigkeiten von bestimmten Menschengruppen allen anderen vorgeschrieben seien und weshalb diese sich nach diesen Vorschriften richten würden. 175 Der Beobachter vom Mars stellt Tatsachen als solche fest, nicht aber ihre Gründe. Er sieht Ereignisse und nicht die sie relationierenden, sozialen Verhaltensmuster. Die Position des Marsmenschen ist jedoch bloße theoretische Abstraktion. Das praktische Leben hat allen Vergesellschafteten „die Realität von Gesetzen und Polizei ebenso gelehrt wie die Realität von Körpern und ihren Bewegungen." Daß institutionelle Verhaltensmuster Erkenntnisgrund institutionellen Verhaltens sind, hebt übrigens den Unterschied zwischen Beobachter und Beobachteten nicht auf. Der Beobachter institutionellen Verhaltens braucht „die Ziele, Zweckvorstellungen, Realitätsannahmen des beobachteten handelnden Individuums" nicht selbst zu übernehmen oder zu teilen. Der Beobachter untersteht als „Erkenntnis-Handelnder" einer ganz anderen „Zielvorstellung, einer anderen ,Leitidee'". Diese kann in sich selbst auch eine „institutionelle Ziel Vorstellung", nämlich der Institutionen der Wissenschaft, ζ. B. der Universität, eines Forschungsinstituts usw. darstellen. 176 Die Nichtanteilnahme des Beobachters an den Zielvorstellungen oder dem Realitätsglauben der in der beobachteten Institution Handelnden bedeutet lediglich, daß der Beobachter gegenüber dem gleichen Tatbestand ein anderes Handlungsziel, nämlich der „wissenschaftlich fachgebundenen Analyse", hat. In der Beobachterperspektive erfolgt eine Vergegenständlichung der Zielvorstellungen und Realitätsannahmen der institutionell Handelnden, welche den Forschungsgegenstand geradezu schafft. 2. Nicht alle Beobachtungen führen zu denselben Ergebnissen. Es gibt verschiedene Beobachtungsschemata, die jeweils nur Ausschnitte der Wirklichkeit erfassen können. Dies bedeutet, daß keine einheitliche Realitätsbestimmung möglich ist. Es wäre eine willkürliche Wirklichkeitsverengung, für real zu erklären, was man „mit einer bestimmten Beobachtungsmethode in den Griff bekommt." Dies wäre eine „operationale Realitätsbestimmung", sie wäre nämlich „von der Methode (des) wissenschaftlichen Zugriffs abgeleitet". Schelsky geht vielmehr von einer Pluralität der Beobachtungschemata aus, die einer Pluralität der Relationierungsebenen von Ereignissen entspricht. Institutionelle Verhaltensmuster halten einen Wirklichkeitsausschnitt als einen institutionellen Relevanzbereich bereit. Alles nicht Relevante befindet sich auf einer anderen Relationierungsebene und setzt zu seiner Beobachtung ein anderes Beobachtungsschema als das institutionelle Verhaltensmuster voraus. Es sind nicht Individuen schlechthin, die eine Institution bilden. Institutionen bestehen aus Ausschnitten sozialer Realität. 177 Nur ein Teil des Gesamthandelns von 175
Hier und zum folgenden: Ebd., S. 242f. Hier und zum folgenden: Ebd., S. 244. 177 In einer „Theorie oder Empirie der Institution" umfasse der Begriff des Individuums genauso nur einen abstrahierten Teil des „Gesamthandelns der Person" wie die Institution 176
III. Institution als Realitätskategorie und Beobachtungsschema
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Individuen gehört zu dem jeweiligen institutionellen Verhalten. Ereignisse, die durch das jeweilige institutionelle Verhaltensmuster nicht relationiert werden, befinden sich in „Freiheitsräume(n), die jede institutionelle Ordnung als institutionelle Belanglosigkeiten" aus dem jeweiligen Verhaltensmuster ausspart oder freigibt. 178 Jenachdem ob man sich in der Beobachterperspektive hinsichtlich der Untersuchung einer bestimmten Institution des „institutionellen Erkenntnis-Bezugssystems" oder etwa des biologischen oder des individualpsychologischen bedient, befindet man sich auf dem Boden einer anderen Wissenschaft. 179 Sozialwissenschaftlich bleibt „die doppelte Möglichkeit offen", die Theorie der Institution einmal vom sozialen Handeln des Individuums und zum anderen von den institutionellen Verhaltensmusters ausgehend zu entwerfen. Die Analyse des sozialen Handelns des Individuums in den Institutionen schließt die „Realitäts-, Ziel- und Zweckvorstellungen" des Handlungs- und Motivbewußtseins ein. Handlungsvorstellungen und Realitätsentwurf sind zwar für den einzelnen notwendig, aber sie können die Institution ohne „jenen Struktur- und Funktionszusammenhang, jenes institutionelle Verhaltensmuster' " nicht hinreichend beschreiben. Individuelles Handeln und persönlicher Realitätsentwurf sind wiederum „ohne die Annahme einer Institution'" und ihres „Funktionsschemas" oder „Strukturzusammenhangs" nicht zu verstehen. 180 Es ist schließlich zu beachten, daß Schelsky im Rahmen seiner Analyse der Operation des Beobachtens von Institutionen sich gar nicht für einen „Triumph der Außensicht" 181 eingesetzt hat. Systemtheoretisch ausgedrückt, bedeutet jedes Beobachten das Operieren mit einer Differenz. 182 Schelsky vertritt die Auffassung, daß sich eine zureichende Beobachtung einer Institution auf die Außensicht nicht beschränken darf. Sie muß das institutionelle Relationierungsschema sowie die Selbstbeobachtungsdifferenz der Institution eine auf eben diesem Ausschnitt des Gesamthandelns der Person aufbauende höhere und zusammenfassende Abstraktion darstelle. Für die Sozialwissenschaft seien Individuum und Institution „sich entsprechende, vom Gesamtverhalten der Person abstrahierte, also gedachte soziale Handlungseinheiten." In: Ebd., S. 246. 178 Hier und zum folgenden: Ebd., S. 245 f. 179 Alle Wissenschaften vom Menschen hätten jeweils nie den ganzen Menschen „in allen seinen beobachtbaren Lebensäußerungen zum Denk- und Untersuchungsgegenstand". Sie bezögen sich vielmehr auf immer nur „spezifisch" ihre „Erkenntnisabsichten" betreffende „Segmente, Aspekte oder Abstraktion". Das Individuum sei in der Sozialwissenschaft genauso eine gedachte Handlungseinheit wie die Institution. Ebd., S. 246. 180 Zum ganzen Zusammenhang s. ebd. S. 246. Schelsky bemerkt, daß „die eigentlichen Theorien der Institution fast immer" vom Verhaltensmuster oder Funktionsschema der Institution ausgegangen sind, „daß aber auch in den Theorien des sozialen Handelns, die vom Individuum ausgehen, etwa der Theorie Max Webers, die Annahme einer institution' notwendig gefolgert wird." 181 Klaus-Peter Koepping, Feldforschung als emanzipatorischer Akt? Der Ethnologe als Vermittler von Innen- und Außensicht, in: Ernst Wilhelm Müller/ René König u.a (Hrsg.), Ethnologie als Sozialwissenschaft, Opladen 1984, S. 216-239, 219f. 225ff. 182 Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), S. 359f., 406ff., 468 ff., 491 f., 545ff., 590, 593 ff., 596f., 654f. 13*
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§ 5 Institutionentheorie des Rechts von Helmut Schelsky
mitberücksichtigen. Die Beobachtungsdifferenz des Marsbewohners kann die Institution des städtischen Verkehrs nicht adäquat beschreiben. Diese Innenund Außensicht vermittelnde Position geht, wie schon am Beispiel der konstitutiven Skatregel gezeigt wurde, auf spätestens Max Weber zurück. Ihering hatte schon vorher faktisch diese „Vermittlung" für die evolutionstheoretische Beobachtung des Rechtssystems im „Geist" und in seinen späten Schriften geleistet. Aus dieser „Vermittlung" hat Krawietz 183 ganz im Sinne dieser Tradition die Konsequenzen für die Rechtstheorie gezogen. Er versteht dieselbe als eine Beobachtungs- und Beschreibungstätigkeit der Kommunikationsstrukturierung im Rechtssystem, die weder auf die Außensicht noch auf die Innensicht verzichten darf. Die adäquate Beobachtung einer Institution im allgemeinen oder des Rechtssystems insbesondere läßt sich demzufolge als ein successives Operieren mit unterschiedlichen Differenzen festlegen. Die Fremdbeobachtung einer Institution muß das institutionelle Relationierungsschema als ratio essendi und ratio cognoscendi des Beobachtungsgegenstandes in Anspruch nehmen. Darüberhinaus muß sie die Selbstbeobachtung des zu beobachtenden Gegenstandes mitberücksichtigen. Der Selbstbeobachtung kann andererseits von außen nicht geholfen werden. Die Berücksichtigung von externen Beobachtungsschemata stellt jedoch die einzige Möglichkeit dar, Realitätsverschätzung und operationeile Wirklichkeitserfassung zu vermeiden. IV. Normativität und Institution Themenbezogene Verhaltenserwartungen behandeln konkretes Verhalten als konform oder abweichend (enttäuschend). Als Erwartungsstrukturen sorgen sie dafür, daß Weiterhandeln in der Institution ermöglicht wird. Dies Weiterlaufen der Kommunikation wird jedoch nicht durch Herstellung von Vorhersehbarkeit ermöglicht. Im Weiterhandeln lauert ein nötiges Maß an Unsicherheit und Überraschung, welches nicht einmal „sicherheitsfanatische Strukturbildungen wie Bürokratien und Rechtsordnungen" ausmerzen können. 184 Erwartungsstrukturen leisten die Wiederherstellung von Erwartbarkeit trotz der Singularität und unvermeidbaren Neuheit von Ereignissen. Die „Schadensfreude" 185 183 Werner Krawietz, Identität oder Einheit des Rechtssystems? Grundlagen der Rechtsordnung in rechts- und gesellschaftstheoretischer Perspektive, in: Mitsukini Yasaki/ Alois Troller ! José Llompart (Hrsg.), Japanisches und europäisches Rechtsdenken — Versuch einer Synthese philosophischer Grundlagen, in: Rechtstheorie 16 (1985), S. 233-277, 235 (Anm. 2): Es dürfte schlechterdings unmöglich sein, „ein Rechtssystem bloß von außen, d. h. ohne jede Bezugnahme auf seine normative Binnenperspektive, zureichend zu beschreiben. Ebensowenig kann ein Rechtssystem bloß von innen, d.h. unter Verzicht auf jede Außensicht, beobachtet und beschrieben werden." 184 „Ohne Überraschungsmomente gäbe es ... keine Strukturbildung, weil nichts vorkäme, was zu verknüpfen wäre." Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), S. 391. Siehe auch S. 390f.: „ M i t der Ausmerzung jeder Unsicherheit würde auch die Struktur sich selbst aufheben, denn ihre Funktion liegt gerade darin, die autopoietische Reproduktion trotz Unvorhersehbarkeit zu ermöglichen." 185
Ebd., S. 391, 476.
IV. Normativität und Institution
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gegenüber dieser strukturnotwendigen Unsicherheit vergeht sehr schnell, weil das überraschend Neue das Weiterlaufen der Kommunikation nicht hindert. Zunächst muß weiter gehandelt werden. Erst danach kann man beurteilen, ob alles Neue und Überraschende so zu behandeln ist, als ob man es hätte erwarten können oder sollen. Das Neue kann aber auch zu abweichend sein. Dann hat es keinen Strukturwert gewinnen können, und die Enttäuschungsgefahr wäre bei neuer Erwartungsbildung zu groß und nicht zu verantworten. 1. Erwartungen werden enttäuscht. Je nachdem ob Erwartungen im Enttäuschungsfall geändert werden oder „kontrafaktisch festgehalten" an ihnen wird, sind sie „Kognitionen" oder Normen. 1 8 6 Der Einführung des Normbegriffs an dieser „theoretisch sekundäre(n), abgeleitete(n) Stelle" stimmt Schelsky ausdrücklich zu. Er versteht Normen „im Sinne,kontrafaktischer Verhaltenserwartungen4 (Luhmann)", die „letzthin daher von keiner Empirie belehrt und zurechtgewiesen werden könnte(n)". 187 Theoretisch primär ist der Begriff der Erwartungsstruktur, der die Existenz der Institution als ein dauerhaftes Verhaltensmuster beschreibt. Gewisse Relationierungsmöglichkeiten von Ereignissen erhalten Strukturwert, indem ihnen die ständige Wiederherstellung von Verhaltens-Erwartbarkeit gelingt; Verhaltenserwartungen können eine „Vorwegregulierung des Enttäuschungsfalles" enthalten. 188 Sie sind dann Kognitionen oder Normen. Da Erwartbarkeit keine Bewußtheit voraussetzt und die Zweckgerichtetheit menschlichen Handelns nur die Front der Institutionen darstellt, sind die meisten Alltagserwartungen hinreichend vertraut, banal, selbstverständlich und daher auch sicher. Dies hat zur Folge, daß Normativität nicht an dem Normbewußtsein erkannt werden kann. Nur „besonders problematisierte Verhaltenserwartungen" sind es, die formuliert, bewußt und normativ oder kognitiv festgelegt werden. 189 Trotz problematisierten oder unsicheren Erwartens muß zunächst einmal weitergehandelt werden. Erst im Nachhinein sieht man, ob das Überraschende kognitiv oder normativ hätte erwartet werden können oder sollen, oder aber ob eine neue Erwartungsformierung angebracht ist. Schelsky bringt diesen Tatbestand zum Ausdruck, indem er die Institutionalisierbarkeit von Bedürfniserfüllungen erörtert. Die Begriffe Bedürfnis und Bedürfniserfüllung sind als durch den Begriff der themenspezifischen Verhaltenserwartungen ersetzbar anzusehen. Das bewußt geführte Leben der Person fixiere sich an der „Ausgestaltung, Verfeinerung und Kultivierung der Mittelhandlungen" oder an der Erfüllung noch „problematischer, ungesicherter Bedürfnisse". Es empfinde daher diese als den Vordergrund, die „Front oder den eigentlichen Sinn des Lebens" gegenüber jenen trivialisierten, „formal geworde186
Ebd., S. 436f. Schelsky, JR, (§ 6 FN 1), S. 60; Luhmann, ebd., S. 444. Dagegen Ota Weinberger, Soziologie und normative Institutionentheorie, in: Recht und Institution, Helmut Schelsky-Gedächtnissymposion Münster 1985, Berlin 1985, S. 55: „Aus Erfahrung nicht lernen zu wollen hat mit Normen nichts zu tun." 188 Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), S. 436, 476. 189 Ebd., S. 476. 187
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§ 5 Institutionentheorie des Rechts von Helmut Schelsky
nen und institutionsgesicherten Hintergrundserfüllungen". Andererseits nun würden sich nicht „die problematischen, hochbewußten und in schöpferischer Anstrengung erreichten Erfüllungen neuer Bedürfnisse oder Lösungen von Lebensfragen" in institutionelle Formen bringen lassen, sondern erst deren trivialisierte, banalisierte und formalisierte, leicht und sicher gewordenen Befriedigungen. Dies liege daran, daß unproblematisch gewordene Befriedigungen „auf den Durchschnitt und die Menge" der jeweilig betroffenen Menschengruppe übertragbar seien. 190 Die institutionelle Dauererfüllung der in den Institutionen untergebrachten Bedürfnisse läßt neue Bedürfnisse entstehen, deren Erfüllung in den vorhandenen Institutionen problematisch ist. Das Problematischwerden von Bedürfniserfüllungen läßt institutionelle Strukturen bewußt und kommunikationsfähig werden. Nachdem schon im Weiterhandeln die neuen Bedürfnisse auf irgendeine (meistens unsichere) Weise erfüllt worden sind, versucht man sicherzustellen, daß durch die Bildung neuer Erwartungen die Bedürfniserfüllung sicher gestellt wird. 1 9 1 Das Normensystem einer Institution ist daher nichts Feststehendes. Wenn das institutionelle Handeln ins unsicher Erwartbare gerät, rettet die Institution zunächst einmals die Situation, indem sie die Kommunikation trotz Unsicherheit weiterlaufen läßt. Anschließend werden die Normen im Hinblick auf das Problematische nachträglich extrapoliert und in das System der als unproblematisch angesehenen normativen Erwartungen eingefügt. Der Richter muß trotz Gesetzeslücke eine Entscheidung fällen. Im Nachhinein stellt sich heraus, ob seinem Urteil Präjudizwert zukommen soll. 2. Neben dem Normensystem der Institution enthält auch die Leitidee derselben Normativitätsgehalt. Es handelt sich konkret um die Spannung zwischen trivialer Stabilität und normativer Leitidee in der Institution. Der gesicherte Bestand jeder Institution beruht auf einem „Unterbau gewohnheitsmäßigen, auf Außensteuerung abgestellten Verhaltens", welches in seinem Kulturgehalt damit „notwendig formalisiert" wird. 1 9 2 Das mühselige sich über Jahrhunderte hinziehende Herausarbeiten von hohen kulturellen Inhalten schlage in ein „Umgießen dieser Inhalte zu festen Formen" um, so daß sie jetzt, gleichgültig gegenüber der „geringe(n) Kapazität der kleinen Seelen", weitergereicht werden könnten, um nicht nur die Zeit, sondern auch die Menschen zu überstehen. Gerade die hohen und verdichteten Inhalte können nur „in den Formalismus eingewickelt" lange Zeit und „große Zahlen" überleben: „Forms 190
DI, (§ 5 F N 139), S. 264. STV, (§5 F N 154), S. 39 ff. 192 Schelsky zitiert hier Gehlen. Hierzu und zum folgenden: DI, (§ 5 FN 139), FN 6, S. 274. Die heutige Forschung auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Semantik weist auf die analytischen Vorteile hin, die man gewinnt, wenn man von „idées directrices" zu „distinctions directrices" übergeht: Niklas Luhmann. „Distinctions Directrices", über Codierung von Semantiken und Systemen, in: Friedhelm Neidhardt (Hrsg.), Kultur und Gesellschaft. Sonderheft Nr. 27 (1986) der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, S. 145-161. 191
IV. Normativität und Institution
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are food of faith, und es finden sich schon wieder Geister, die ihre mögliche Ergiebigkeit entwickeln." In jeder Institution ist ein Selbstwiderspruch mitinstitutionalisiert. Institutionalisiert wird einerseits das banalisierte, trivialisierte und formalisierte, welches somit leicht, sicher und „verdaulich" für „die Menge und den Durchschnitt" wird. 1 9 3 Andererseits wird jedoch eine Herausforderung zu innerer Bemächtigung und Entwicklung der Ergiebigkeit der Institution in der Leitidee mitinstitutionalisiert. Die jeweilige Leitidee verlangt den Mut ab, „das Banale in der eigenen Gegenwart zu bejahen, zu ertragen und auf Dauer stellen zu wollen". Sie stellt den abstrakten Appell 1 9 4 dar, in den institutionsgesicherten Hintergrundserfüllungen nicht nur „Abfall, Erniedrigung, ,Entfremdung4 der Person in ihrem Lebenssinn44 zu sehen, sondern auch einen „Minimalbestand von Erfüllungen 44, der Ausgangspunkt des „geistigen Auslebens44 der Institution sein kann. Die Leitidee übt daher einen normativen Druck aus, der von ihren Erwartungsstrukturen zu unterscheiden ist. 3. Aus der Sicht dieser institutionellen Normentheorie ist das Recht als eine Pluralität realiter existierender, sozialer Handlungssysteme anzusehen und zu erforschen. Recht existiert nicht nur als Wortnorm, Gesetz oder staatliche Organisation. Es ist in trivialisierten, institutionalisierten Verhaltenserwartungen verankert und läßt sich nur im Rahmen einer Institutionentheorie erfassen, die auf die normative Binnenperspektive nicht verzichtet. Schelsky hat versucht, das Recht als einen Prozeß der Reproduktion und der Fortbildung von mehr oder weniger sprachlich fixierten und mehr oder weniger organisierten Verhaltensstrukturen zu untersuchen. Dieser Versuch ist im folgenden darzulegen.
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Ebd., S. 264. Ebd., S. 264,267,272. Dieser Appell nach oben, der die Form des Widerspruchs der Institution zu sich selbst annimmt, sei als Problem in der kirchlichen Tradition seit jeher bekannt: „es ist der von Anfang an gesetzte Widerspruch zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche, zwischen dem verbindlichen ,Wort' und dem verbindenden ,Geist4 der Institution." Ebd., S. 272. 194
§ 6 Juridische Rationalität bei Helmut Schelsky Der Kernpunkt der Rechtstheorie Helmut Schelskys liegt in der These, das Recht bestehe aus verschiedenartigen Inhalten, die nicht sinneinheitlich aufzufassen seien. Die Begriffe der „Wissenschaft des Rechts" und die „juridischinstitutionelle Praxis des Rechts als Gesetzgebung oder Justiz" können insofern als identisch gelten, als die rechtswissenschaftlichen Denkgewohnheiten auf den Operationsmodus der juridischen Instanzen übergreifen. 1 Für die Rechtswissenschaft ist das Recht ein Inbegriff von begrifflich erfaßbaren sprachlich formulierten und niedergelegten Rechtssätzen. A m Werk ist hier das Bewußtsein in seiner „eigentümlichen Tätigkeit, des Denkens oder der ,Reflexion'". 2 Die Rationalität der rechtsdogmatischen Beschäftigung fußt auf einer gedanklichen Einheitlichkeit. Gesetze, Verordnungen, Urteile stellen aber nicht nur auf ein Denkprodukt ab, sondern „sie wollen nichtiges Verhalten' bei anderen im sozialen Zusammenhange bewirken". 3 Die juridischen Prozesse sind nicht ausschließlich Denkprozesse. 4 I. Funktionale Differenzierung Schelsky legt auf die vorhandene Instanzenpluralität besonderen Wert, weil sie vor allem zusammen mit ihrer eigentümlichen Rationalität denRechtsentstehungsprozeß strukturiert. In seiner Analyse der juridischen Instanzen entwickelt er das Bürokratiemodell von Max Weber fort, indem er die juridische Rationalität nicht auf die wissenschaftliche Vernünftigkeit, also nicht auf „individuell-solitäre kognitive Akte" beschränkt. Vielmehr läßt er diese Ratio1 Helmut Schelsky, Die juridische Rationalität, in: Ders., Die Soziologen und das Recht, (§ 2 FN 2), S. 34-76, 34: Im folgenden zitiert: JR. Vgl. hierzu schon: Gustav Hugo, Practische Laufbahn eines bloßen Theoretikers, in: Civilistisches Magazin 6 (1837), S.161-171. 2
JR, S. 34. Ebd., S. 35. 4 Ansätze zu einer institutionentheoretischen nicht nur auf Rechtswissenschaft abstellenden Betrachung des Rechts sind schon früher entwickelt worden. Der Staat, die Verfassung, sowie die auf dieser Geltungsgrundlage errichtete Rechtsordnung wurden als soziale Institutionen angesehen. Hierzu: B. Rüthers, „Institutionelles Rechtsdenken" im Wandel der Verfassungsepochen, Bad Homburg v.d.H. 1970, S. 18ff., 32ff.; M. Hauriou, Die Theorie der Institution, in: Roman Schnur (Hrsg.), Berlin 1965, S. 28 ff., 34f.; Christopher Β. Gray, Critique of Legal Theory. From Rousseau to Kelsen; Maurice Hauriou on his Predecessors, in: Rechtstheorie 14 (1983), S. 401 -417; Santi Romano, Die Rechtsordnung, in: Roman Schnur (Hrsg.), Berlin 1975; vgl. ferner: Werner Krawietz: Artikel: Körperschaft, in: Joachim Ritter /Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1976, Bd. 4, Sp. 1101-1134. 3
I. Funktionale Differenzierung
201
nalität auf der Aufeinanderbezogenheit, dem Zusammen- und Entgegenwirken von verschiedenen Instanzen beruhen. 5 So entsteht ein Prinzip der Gewaltenteilung oder der Beschränkung von umfassender Macht- und Herrschaftsausübung. Dies wird durch Aufteilung von Machtmitteln und Möglichkeiten herrschaftlicher Beeinflussung auf verschiedene Herrschaftsgruppen, die sich gegenseitig kontrollieren, möglich. Auf die Gewaltenteilung wird in diesem Zusammenhang nicht von einem herrschaftstheoretischen sondern von einem funktionell juridischen Standpunkt aus eingegangen. Es sind nicht die Entstehungsbedingungen der „herrschaftsgruppenhaft geteilten Instanzen der Regierung, des Parlaments und der Justiz" zu hinterfragen. 6 Vielmehr ist vom Ertrag und Ergebnis der herrschaftstheoretischen Überlegungen Schelskys auszugehen, um Funktion und Beitrag des Rechts zur Einrichtung und gegenseitigen Abstimmung der Machtinstanzen aufeinander zu erläutern. Die Funktions- und Aufgabenteilung, die realiter vor Herrschaftsallmacht schützt, wird in das gesamtgesellschaftliche Leben verlängert und beschränkt sich nicht nur auf eine Arbeitsteilung innerhalb des staatlich-politischen Herrschaftsstabes. Die klassische Gewaltenteilung wird dadurch verlängert, daß die „Erfüllung von sachaufgaben der Gesellschaft nach Möglichkeit an die Beherrschten" und ihre Organisationen übertragen werden. Schelsky stellt einen arbeitsteiligen Herrschaftsapparat den ebenso arbeitsteilig organisierten Beherrschten gegenüber: „Das Grundgesetz der modernen Gesellschaft, das der Arbeitsteilung, entspricht also dem Grundgesetz der Gewaltenteilung in der modernen Demokratie". 7 Dies bedeutet, daß eine einheitliche Gesellschaftsauffassung unmöglich ist. Unabhängig davon, ob die klassische Gewaltenteilung der wirklichen Entstehung von Macht in der modernen Sozialverhältnissen entspricht, und ob „eine neue,Gewaltenteilung4 als Ordnungsprinzip der industriellen Gesellschaft" gefordert werden müßte, ist festzuhalten, daß Schelsky seine Rechtstheorie auf einer funktional differenzierten modernen Gesellschaft aufbaut. 8 Funktionale Arbeitsteilung ergibt verschiedenartige „Leistungsfelder", die bestimmten Verbänden und Organisationsformen eine „sachbezogene Verantwortung" auferlegen. 9 Die instanzen- und herrschaftsgruppenhafte Aufteilung der Aufgaben der Machtausübung auf verschiedene staatliche Verbände stellt das Prinzip der Gewaltenteilung innerhalb einer funktional differenzierten Gesellschaft dar. Die klassische Gewaltenteilung 10 der staatli5
JR, S. 41. ATA, (§ 5 F N 38), S. 34. 7 Ebd., S. 35. 8 Ebd., S. 37. 9 Ebd., S. 35. 10 Eingehend zu einer institutionentheoretischen Erfassung des Staates und der Gewaltenteilung: M. Dendias, Développement de la théorie de l'institution. Ses fondements et ses buts, in: Estudios Juridico-Sociales, Homenaje al Professor Luis Legaz y Lacambra, Santiago de Compostella 1960, S. 479-486; ders ., Sur la théorie de l'institution, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart 17 (1968), S. 23-32; Vgl. ferner die Ansätze von R. Smend, Das Problem der Institutionen und der Staat, in: ders., 6
202
§ 6 Juridische Rationalität bei Helmut Schelsky
chen Regierungsgewalt in Exekutive, „gruppenhafte Meinungs- und Interessenvertretung" und Justiz ist „nur ein Sonderfall dieses Prinzips". 11 Diese „gewaltenteilende Verselbständigung von Organisationen" und instanzenhafte „Pluralisierung der Macht" folgen einer „Funktionenteilung innerhalb einer komplexen Gesellschaft". 12 Gewaltenteilung ist ein Sonderfall der funktionalen Sozialdifferenzierung. Die Aufteilung staatlich unterstützter Herrschaft, die Ausdifferenzierung von Staatsverbänden steht in einem besonderen Verhältnis zum Recht. Das staatsbezogene Recht kennt einen arbeitsteilig organisierten Entstehungs- und Operationsprozeß. Gesetzgebungsverfahren und Gerichtsbarkeit sind die zwei Hauptorganisationen des Rechtsverfahrens. Beide lassen sich auf eine Ämter- und Rollenstruktur hin zerlegen. Auf dem Gebiet der Gerichtsbarkeit ist herkömmlich die „Drei-Ämter-Struktur von Staatsanwalt, Verteidiger und Richter im Strafprozeß, von zwei gegnerischen Anwälten und Richter im Zivilprozeß" grundlegend. Im Gesetzgebungsprozeß sieht Schelsky den„klassischen Modell- und Mindestfall" der Pluralität von sachautonomen eigenverantwortlichen, amtlichen Leistungsträgern. Diese stehen sich als Regierung bzw. Mehrheitsgruppe einerseits und Opposition andererseits gegenüber. Kontrolliert werden sie von einer obersten Gerichtsbarkeit als Drittinstanz. 13 Die Struktur der Pluralität autonomer Leistungsträger und die damit zusammenhängende juridische Rationalität lassen sich anhand von einer Unterscheidung zwischen Rechtssatz, Rechtsnorm und Rechtsregel am besten darlegen und erläutern. II. Instanzen- und Rollenspiel im Recht Die juridische Rationalität beruht darauf, daß Berufsrollen herausgebildet sind und daß die Wege ihres kommunikativen Aufeinanderbezogenseins dauerhaft stabilisiert sind. Die Struktur derPluralität autonomer Leistungsträger wird auch anhand der Begriffe Rolle und Amt erklärt. Die soziologische Rollentheorie hat sich den Rollenbegriff aus dem Bereich des Theaters und von der Schauspielertätigkeit geborgt. 14 Überträgt man diesen Begriff und damit notwendigerweise gleichzeitig die damit eng verbundene soziologische Abstraktion auf das Handeln im Alltag und die erfahrene Lebenswelt, so wird dadurch das Auflösungsvermögen bei der Betrachtung sozialer Gebilde erhöht. Die Gesellschaft wird als „,Theater 4 und Schaugeschäft begrifflich verstanden". In bestimmten Situationen, vor bestimmtem Publikum wird hier wie dort eine angebbare Verhaltensweise erwartet, die als Rolle zu kennzeichnen ist. Die Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. erw. Aufl. Berlin 1968, S. 500516; Ch. Β. Gray, Critique of Legal Theory, (§ 6 F N 4). 11 Helmut Schelsky , Systemüberwindung, Demokratisierung, Gewaltenteilung, München 1973, S. 55. Im folgenden zitiert: Systemüberwindung. 12 Ebd., S. 57. 13 JR, (§6 FN1), S. 36, 39. 14 Hierzu und zum folgenden: Ebd., S.42f.
III. Handlungsformierung
203
Verhaltens- und Lebensführung wird als rollenhaft oder als relativ rollenfrei aufgefaßt. Bestimmten rollenhaften Verhaltensweisen gegenüber scheint alles rollenfremde Verhalten, der „subjektiven Lebens- und Handlungsbeliebigkeit" überlassen oder von einer anderen Rolle in Anspruch genommen zu sein. Mit dem Amtsbegriff wird eine besondere Rolle, eine Verantwortung der Person in einem dauerhaft organisierten gesellschaftlichen Zusammenhang bezeichnet. Diese Verantwortung beschränkt die „subjektiven Freiheitsrechte der Person" zugunsten einer bestimmten öffentlichen Aufgabe und durchzieht öffentliches Auftreten sowie persönliche, private und familiäre Lebensführung des Amtsträgers. In der Amtsverpflichtung erblickt Schelsky nicht nur eine bürokratische Einheit sondern den allgemeineren Tatbestand einer „beherrschenden Rolle", eines beherrschenden Gesichtspunktes, unter welchem die „ganze Welterfahrung" des Rollenträgers verarbeitet wird. 1 5 Es handelt sich um die Zusammenballung von Lebensinhalt und Lebenssinn auf eine Rolle, sei es die des Malers, Schriftstellers, des informationsverpflichteten Journalisten oder des fairen Richters. Das in seiner Staatsbezogenheit in juridisch klassischen Rollen aufgefächterte Leben läßt sich demnach zugleich im Hinblick auf die beschäftigten Personen als ein Inbegriff von traditionellen Amtsträgerschaften betrachten. Traditionelle Amtsträger und juridische Rollen wie Richter, Minister und Abgeordnete, Ministerialbeamte und Polizisten können ohne „diese ihre ganzen Lebensäußerungen und Lebenssicht umfassende Verpflichtung" die angemessene erwartete Leistung nicht erbringen, ja sie verlieren sogar „ihre soziale Trägerschaft". 16 Arbeitsteilung in dem Verfahren der Gesetzgebung und der Gerichtsbarkeit ist Äußerung eines Funktionsunterschiedes unter festgelegten sozialen Rollen und den jeweils ihnen entsprechenden Verantwortungsmoralen. 17 Die Bedingungen der Rollentrennung und die Strukturierung des Rollenspiels führt Schelsky auf „Verfahrensgesetze" zurück, „die im Grunde die juridische Rationalität konzentrierter enthalten als alle sozial-materiellen Rechtsinhalte". 18 Die Verfahrensgesetze lassen sich nicht als Rechtssätze, sondern als Rechtsregeln erfassen, weil sie nur als realiter existierende Geregeltheiten das Verfahren strukturieren können. Die Rechtsregeln sind Strukturen, die die Rollenstiftung und den weiteren Bestand des Rollenspiels durch institutionalisierte Sinnkonstitution ermöglichen. Nachfolgend soll darüber der Nachweis erbracht werden. Zugleich werden die Begriffe des Rollenspiels, der Institutionalisierung und der Sinnkonstitution erläutert. I I I . Handlungsformierung Es ist die These Schelskys, daß die „juridischen ,Produkte' (Gesetze, Urtçile und ihre Handlungsfolgen als Verwaltung, Sanktion und Individualverhalten)" 15 16 17 18
Ebd., S. 44. Ebd., S. 44. SR, (§ 5 F N 1), S. 205. Ebd., S. 203.
204
§ 6 Juridische Rationalität bei Helmut Schelsky 4
nur „,ausgehandelt werden können". 19 Dem Begriff des Aushandelns läßt er zwei Bedeutungen zukommen. Zunächst die einer „Gegenseitigkeitsfestlegung" des Verkehrs und der Kommunikation unter den juridischen Berufsrollen, ζ. B. zwischen Richtern, Anklägern, Verteidigern, Verwaltungsbeamten. Dies besagt, daß die justiziellen und letzthin auch verwaltenden Instanzen nicht vollständig von der Gesetzgebung abhängen. Diese unzutreffende Auffassung äußert sich aber unter dem technologisch-exekutiven Begriff der „Anwendung der Gesetze".20 Es handelt sich um die gegenseitige Festlegung im sozialen Verkehr der jeweils relevanten kommunikativen Einheiten, die das „Rollenspiel und (den) Rollenkonflikt" überhaupt erst ermöglichen. 21 Die Ausdifferenzierung der juridischen Berufsrollen erfolgt im Rahmen der funktionalen Aufteilung der Gesamtgesellschaft auf besondere soziale Aufgaben. Eine Berufsrolle stellt somit als Ergebnis funktionaler Arbeitsteilung ein konkret angebbares Leistungsfeld der Gesellschaft dar, das mit Sachkundigkeit und sachbezogener Verantwortung verbunden ist. Funktionale Arbeitsteilung und Sachbezogenheit prägen innerhalb des juridischen Rollenspiels die Entstehungsweise und den Ablauf sozialer Kommunikation. Sie halten gesellschaftliche Sachaufgaben auseinander und lassen die Eigentümlichkeiten der jeweiligen Sachgesetzlichkeiten zum Zuge kommen. Die Ausbildung besonderer spezialisierter Rollen und Ämter bedeutet bei zunehmender sozialer funktionaler Differenzierung, daß eine jede berufliche juristische Beschäftigung sich als zu einer autonomen Sachwelt mit eigenen Gesetzlichkeiten zugehörig auffaßt. Die funktionale Differenzierung bedeutet für das Recht die Entdeckung des Sachzwanges in den Berufsrollen und der Amtsverpflichtung. Letztere ist das Produkt von Sachzwang in einem Sachsystem. Relevanz bedeutet seitdem „Unterwerfung unter die erkannten Sachgesetzlichkeiten" oder sachgesetzliche Bezogenheit von Sachkonstellationen.22 Diesen Tatbestand hat Schelsky allgemein als „Verselbständigung der Handlungsformierung im sozialen Bereich" bezeichnet.23 Kommunikative Einheiten können nicht länger gesellschaftseinheitlich durch „heilsherrschaftliche" religiöse Steuerung oder durch die dem Individualbewußtsein zugrunde liegende, vermeintlich sozialblinde und sozialunabhängige Vernunft konstruiert werden. Es vollzieht sich ein „Umschlagen religiöser Innerlichkeitsforderungen in die Freisetzung" von Sachwelten wie Wirtschaft, Politik und Recht, welche ihre kommunikativen Einheiten selbst nach eigentümlichen Sachgesetzlichkeiten konstituieren. In der modernenWelt der Handlungsformierung muß die Ausbildung von Kommunikationseinheiten, sofern sie den Sachzwängen der verschiedenen sozialen Leistungsfelder widerspricht, an dem sachgesetzlichen Bezug und der jeweils sachgerechten spezifischen Handlungseinheit scheitern. Nichtsachgerechte Kommunikationseinheiten werden als 19 20 21 22 23
JR, (§6 F N 1), S. 47f. Ebd., S. 48. Ebd., S. 41. ATA, (§ 5 F N 38), S. 65 f. Hierzu und zum folgenden: Ebd., S. 64ff.
I.
inbegriff
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sachfremde Ereignisse identifiziert. Man kann mit ihnen im bestimmten Sozialfeld nichts anfangen. Das juridische Rollenspiel ist ein Sonderfall dieses Tatbestandes. Die Konstitution der adäquaten kommunikativen Einheiten erfolgt auch in diesem Zusammenhang durch Orientierung an „,sachgesetzlichen4 Bezügen". Dies bedeutet, daß das Rollenspiel selbst bestimmte Umstände als Handlungssituationen definiert und für eine konkrete, das Spiel reproduzierende Handlungsformierung optiert. Es bestimmt mit anderen Worten das Handlungsfeld seines eigenen Sachhandelns selbst. 24 IV. Sinnbegriff Die Sachanforderungen im Bezugsrahmen des juristischen Rollenspiels lassen sich unter Zuhilfenahme des Begriffs des Sinnes und der Sinnkonstitution herausarbeiten. Sinn heißt nicht Bedeutung von Worten oder Sätzen. Er wird sozial konstituiert und kann nicht Produkt des Individualbewußtseins sein. Sinn bezieht sich auf Lebensführung oder auf „lebens- und handlungsleitende" Leitbilder. 25 Das Entstehenlassen einer „Vorstellungswelt, nach der die Menschen ,ihr Leben führen'", heißt „Sinngebung des Lebens". Das „Zusammenschließen solcher Sinngebungen zu sozial wirksamen und im sozialen Zusammenhang stehenden Gebilden" bezeichnet Schelsky als „sinnhafte oder geistige Führungssysteme". 26 Sinnsysteme dürfen nicht auf ein bestimmtes Muster verengt werden, wie ζ. B. auf die Struktur von Sekten oder Kirchen. Sie existieren realiter in jedem Sinngebungsfall und entspringen nicht einer inneren Gesinnung. Vielmehr leiten sie dieselbe und lassen sie überhaupt erst entstehen. Die Gedanken-, Vorstellungs- und Gefühlsgebäude, die Handlungsanweisungen erteilen, brauchen nicht einem großangelegten Ideologiesystem anzugehören. Eine Rolle, ein Amt sind bereits sinnhafte Führungssysteme. „Sinn, das heißt Informationen, Normen, Ideale, Orientierungen, vermeintliche Forschungsergebnisse, Nachrichten usw. 27 Gemeint ist damit demnach jeder Lebensführung und Lebensleitung bewirkende Sachverhalt. Die Versachlichung der Handlungsorientierung und Handlungsleitung in den Sinnsystemen der juridischen Berufsrollen beruht einerseits auf der dogmatischen Rechtswissenschaft. Letztere sieht ihre Aufgabe darin, der konkreten Fallentscheidung vorund nachzuarbeiten und erhebt Anspruch darauf, die soziale Praxis im juridischen Rollenspiel als eine „verwissenschaftlichte Praxis" erscheinen zu lassen.28 Das ist allerdings insofern der Fall, als Rechtspraktiker die „Stützen" rechtswissenschaftlicher Diagnose nötig haben, damit sie die Routine und Eigengesetzlichkeit der Techniken ihres Gebiets unter ein System normativer 24
Ebd., S. 66, wo allerdings über Handlungsformierung in den verschiedenen Sachund Leistungsfeldern im allgemeinen die Rede ist. 25 Ebd., S. 40. 26 Ebd. 27 Systemüberwindung, (§ 6 F N 11), S. 24. 28 Schelsky, OdS, (§ 5 F N 115), S. 131.
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§ 6 Juridische Rationalität bei Helmut Schelsky
Handlungsvorstellungen subsumieren. 29 Die Rechtsdogmatik wendet sich somit in ihrer wissenschaftlichen Tradition an ganz bestimmte Zielgruppen der nicht wissenschaftlichen Berufspraxis „als intellektuelle Aufklärung und Hilfeleistung". Dies schlug sich auch in ihrem früheren wissenschaftlichen Selbstverständnis entscheidend nieder. 30 Die dogmatische Rechtswissenschaft setzt die berufliche Rechtspraxis unter normativen Handlungsdruck. 31 Dies ist dahingehend zu verstehen, daß die hermeneutisch interpretierende Beschäftigung mit dem als Gesetz festgelegten positiven Recht des Gesetzgebers und den (meist höchstrichterlichen) Richterurteilen 32 auf die „Mitglieder der juridischen Instanzen" Einfluß ausübt und die Berufspraxis in angewandte Rechtswissenschaft zu verwandeln versucht. 33 Wissenschaftlich aufbereitete Interpretationsvorschläge der Inhalte von Gesetzestexten und von konkreten Fallentscheidungen erlegen den Berufspraktikern eine „normative Handlungsverantwortung" auf, indem sie bestimmte interpretationskonforme „Handlungsentscheidungen" diktieren. 34 Der Gesetzestext und die Rechtsprechung üben mithin samt ihrer dogmatischen Aufbereitung deswegen einen normativen Handlungsdruck auf die Praktiker aus, weil sie eine „Sollens- und Idealqualität" haben, die als Handlungsleitbild und Maßstab dient. Die Handlungsformierung findet jedoch nicht ausschließlich unter wissenschaftlicher Leitung statt. Die relevante Kommunikationseinheit (Handlung) in der juridischen instanzhaften Berufspraxis kann nur im Rahmen eines angebbaren Sinnsystems verstanden werden. Schelsky sagt Wesentliches über die Handlungs- und Sinnkonstitution in der Rechtspraxis aus. Die Bedingungen der Handlungsformierung werden in den Sinnsystemen der verwissenschaftlichten Rechtspraxis über Kommunikation und arbeitsteilige Zurechnung konstituiert. Kommunikation ist das grundlegende Produktionsverfahren von relevanten kommunikativen Einheiten (Elementen), aus denen die Sinnsysteme bestehen. Dies ist keine Tautologie, sondern Verallgemeinerung und Übertragung des kantischen erkenntnistheoretischen Prinzips auf das Soziale: „wir erkennen nur, was wir machen". 35 Das Erkenntnisobjekt läßt sich nur nach Maßgabe des Kategorialapparates des Erkenntnissubjektes erfassen. Genau wie die Verstandskategorien das Erkenntnisobjekt überhaupt erst konstruieren und das „Ding" in erkenntnisrelevante Relationen zerlegen, schiebt auch die soziale Kommunikation die „gesamte Dingmetaphysik" beiseite und stiftet selbst die Einheit ihrer eigenen Elemente. 36 Die soziale Handlung sei, nach Schelskys 29
Ebd., S. 124. Helmut Schelsky, Die Wirtschaftswissenschaft und die Erfahrung des Wirtschaftens, Wiesbaden 1980, S. 28 f. Im folgenden zitiert: WEW. 31 Ebd., S. 128f. 32 JR, (§ 6 F N 1), S. 54. 33 OdS, (§5 F N 115), S. 134f. 34 Ebd., S. 139. 35 Schelsky, Bloch, S. 59. 30
I.
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Auffassung, endgültig nicht mehr nach den anthropologischen und geistigen Strukturen zu denken, die sich auf die Einheit der Person bezögen. Weder der Wissenschaftler noch der Praktiker könne heute noch die „Attitüde und das Selbstverständnis" 37 in Anspruch nehmen, als Person das „sozusagen verallgemeinerte Subjekt" des sozialen Handelns zu sein. Das soziale Handeln sei vielmehr grundsätzlich als ein „System der Kooperation und Spezialisierung" zu verstehen, in dem nicht nur der Gegenstandsbereich, sondern die Handlungsund Denkformen selbst „arbeitsteilig aufgespalten und aufeinander verwiesen" seien. Dieses System des sozialen Handelns erlaube es nicht mehr, „diagnostische und programmatische Denkformen, Sollens- und Seinsgesichtspunkte" in dem gleichen Kopf zusammenzufassen, ohne „jede Richtung in ihrer Leistungsund Verantwortungsfähigkeit zu korrumpieren". Alle Verantwortung des sozial Handelnden oder Denkenden laufe „durch das Medium einer notwendigen Kooperation", in der er „die eigene Aufgabe gerade als partielle Funktion erkennen und behaupten muß." Man zitiert nicht in Schelsky im allgemeinen und in seine Ausführung zur Handlungskonstitution im besondernen zuviel hinein, wenn man mit der modernen Begrifflichkeit seine Begriffe der Sinnkonstitution und der Handlungsformierung wiedergibt. Sinnbegriff und Kommunikation hängen eng miteinander zusammen. Der Sinn bezieht sich auf die Eröffnung einer Vorstellungswelt von Verweisungen auf mögliche Verhaltensweisen. Sinnträchtig ist ein Akt deshalb, weil er eine Vorstellungswelt von Verweisungen auf Anschlußmöglichkeiten des Erlebens und Handelns entstehen läßt. Sinndeutung, Sinnführung besagen demnach Bedingungen der Selektion aus der Mannigfaltigkeit der Verweisungen und Anschließbarkeiten. Der Sinnbegriff wird in Vebindung mit der „Komplexität aller sozialen Bezüge in der modernen Gesellschaft" gesetzt.38 Die sozialen Zusammenhänge werden der Erfahrung des einzelnen Lebens entzogen und werden zur „Grundlage des gesellschaftlichen Lebens, auf der alle Arbeit und Produktion, Verwaltung und politische Führung, Freizeit und Ausbildung des Menschen beruhen". Dieser Vorgang der unübersichtlichen „Abstraktionserhöhung" sozialer Beziehungen ist nach Schelsky „von fast allen modernen Soziologen unter verschiedenen Begriffen" festgestellt worden. 39 So 36 Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), S. 193. Vgl. ferner die Fragestellung und den Vorschlag von Jürgen Markowitz, Verhalten im Systemkontext. Zum Begriff des sozialen Epigramms. Diskutiert am Beispiel des Schulunterrichts, Frankfurt a.M. 1986. Siehe hierzu das Vorwort von Luhmann, S. I - V I , II: Wenn psychische und soziale Systeme aus unaufhaltsam entschwindenden Ereignissen bestehen, wie kann etwas entstehen, was Dauer und Änderbarkeit beanspruchen kann? 37 Hierzu und zum folgenden: OdS, (§ 5 F N 115), S. 124. 38 ΑΤΑ, (§5 F N 38), S. 118 f. 39 Er hat diese Problematik in verschiedenen gesonderten Untersuchungen thematisiert: Helmut Schelsky, Bildung und Freizeit. Ansprache bei der Eröffnung des Hamburger Kongresses Deutscher Volksbibliothekare, in: Bücherei und Bildung 11 (1979), S. 485495, 486f.; ders., Schwerpunktbildung der Forschung in einem Lande, in Heinz Kühn (Hrsg.), Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, S. 1-32.
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§ 6 Juridische Rationalität bei Helmut Schelsky
nenne ihn Tönnies „Gesellschaft" gegen „Gemeinschaft", Freyer „sekundäres System" gegen „primäre Gruppen", 40 Luhmann — dem sich Schelsky hier begrifflich anschließt — spreche von einer „Erhöhung der Komplexität" in modernen sozialen Systemen.41 M i t der Unüberschaubarkeit leben zu können, erfordere eine „Reduktion der Komplexität" (Luhmann) in allen praktischen Lebensbereichen. Dazu bedürfe es einer „Entlastung" (Gehlen) von der Überfülle der Daten, Beziehungen und Rücksichten, von den verwirrenden Sinnzusammenhängen, die sich aus der Informations- und Reizüberflutung ergäben, sowie von der ins Unübersehbare wachsenden Zahl der „Sachverpflichtungen und Interessenansprüche". Der Handelnde brauche sinnfälligere Motive. Der Begriff des Sinnes wird hier im Hinblick auf den Komplexitätstatbestand festgelegt. Er stellt die unüberschaubare Komplexität als nicht mehr zu überblickende Möglichkeiten des Erlebens und der Handlungsformierung dar. Nicht alle Möglichkeiten können aktualisiert werden. Es bedarf der Selektion oder der „Sinnausblendung". Aus dem Inbegriff der Sinnverweisungen wird ein bestimmtes Feld von Möglichkeiten, ein „Aktionsfeld" herausgewählt. Dieses dezimiert die Vielzahl an Verweisungen, die Überfülle von Daten, Beziehungen und Rücksichten auf ein überschaubares und in die persönliche Erfahrung eingliedbares Maß von Orientierungsdaten. Dieser Vorgang ist allerdings mit einer Erfahrungs- und Handlungsverengung, also einem Sinnverzicht verbunden. 42 Es herrscht Sinnzwang, weil ein Selektionszwang unentbehrlich ist. Die Komplexität muß als Sinn formulierbar sein, damit sie überhaupt reduzierbar wird; sie ist ein Gefüge von „verwirrenden Sinnzusammenhängen" und Sinn Verstrickungen. Die Komplexität enthält eine Überfülle von Möglichkeitsbereichen mit jeweils eigenen Bedingungen der Reduktion durch Selektion. Die Handlungsformierung ist nichts als ein Sonderfall der Reduktion von Komplexität auf einen dieser Möglichkeitsbereiche. 43 „Hier wird Handlungsfähigkeit mit Sinnausblendung erreicht." 44 Das juridische Rollenspiel stellt einen dieser Möglichkeitsbereiche dar. Es wird durch ein selektives Geschehen in Gang gesetzt. Das Erbringen von Selektionsleistungen durch Sinnausblendung, d.h. durch die Selektivität der Information, die Selektivität des Mitteilungsverhaltens und die Selektivität des Annahmeverhaltens machen den Kommunikationsvorgang nach den modernen 40 Vgl. die mit der institutionellen Verselbständigung des Schulsystems in der Form des sekundären Systems verbundenen Probleme in der primären Gruppe der Familie: Helmut Schelsky, Anpassung oder Widerstand. Soziologische Bedenken zur Schulreform. Eine Streitschrift zur Schulpolitik, 2. Aufl., Heidelberg 1961. 41 Hier und zum folgenden: ATA, (§ 5 F N 38), S. 118f. 42 Ebd., S. 83, 119. 43 Zur Übertragung der Sinn- und Selektivitätsproblematik auf das Rechtssystem: Werner Krawietz, Rechtssystem und Rationalität in der juristischen Dogmatik, in: ders., Recht als Regelsystem, (§ 2 F N 14), S. 58f., 110,115f., 134,160. Ganz im Sinne Schelskys sind nach Krawietz Selektionsleistungen immer von den Teilsystemen des Rechtssystems abhängig. 44
ATA, (§5 F N 38), S. 119.
IV. Sinnbegriff
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Erkenntnissen aus. 45 Im Gefüge der Kommunikation zwischen den verschiedenen juridischen Instanzen bedeutet konkrete Handlungskonstitution Herausgreifen von etwas Bestimmtem und Beiseiteschieben von allem übrigen aus dem Möglichkeitsrepertoire, welches in der jeweiligen juristischen Instanz bereitgehalten wird. 4*5 Im juridischen Wirkungsfeld der Rollen- und Ämterrationalität ist jede Rolle und jedes Amt ein „soziales Gebilde", ein „sinnhaftes oder geistiges Führungssystem". 47 Dies wirkt auf das „moralische Selbstbewußtsein oder die sogenannte ,Identität' der Person" auflösend und läßt keine einheitliche Betrachtung der Rollen und Ämter zu. 4 8 Die arbeits- und funktionsteilige Rollenhaftigkeit des juridischen Verhaltens wirft besondere Sachaufgaben auf. Die Rechtswissenschaft sieht sich demgegenüber imstande, „durch das Ausbildungsmonopol der rechtswissenschaftlichen Fakultäten" die Selektionsvorgänge in den instanzhaften Sinnsystemen zu leiten. 49 Andererseits wird die sachorientiert verbindliche Handlungsformierung durch einen „Gesinnungshintergrund" als Handlungsmotivation unterstützt. Die geistige und emotionale Haltung des Rollenträgers kann zwar zur „Einbruchsstelle heilsherrschaftlicher Überzeugungen in die sachgesetzliche Handlungsformierung" werden. 50 Dies läßt sich jedoch insofern verhindern, als „neben der sachbezogenen Fachausbildung auch sachbezogene, moralische Haltungen und Motive, z.B. Berufsethiken" für den Bereich des Rechts vermittelt werden. Diese orientieren sich an dem geregelten Rollenkonflikt und an der gegenseitigen Instanzenkontrolle. Es ist gerade diese „Rückwirkung auf das sachorientierte Handeln, ja sogar seine womöglich dadurch erfolgende sachgemäße Stützung" 51 , die dazu veranlaßt, diesen moralischen „Innerlichkeitszuschuß" dem Recht zuzuschreiben. 52 45 Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 FN 14), S. 212: „Kommunikation ist koordinierte Selektivität". 46 Zur Übertragung des systemtheoretischen Tatbestandes der Sinnkonstitution auf das Rechtssystem: Werner Krawietz, Identität oder Einheit des Rechtssystems? Grundlagen der Rechtsordnung in rechts- und gesellschaftstheoretischer Perspektive, in: Mitsukuni Yasaki/Alois Troller ! José Llompart (Hrsg.), in: (§ 5 F N 183), S. 233-277, 262. Er hebt vor allem die Tatsache hervor, daß der Sinn sozial konstituiert wird. Die Sinnkonstitution im Instanzen- und Rollenspiel ist lediglich ein Fall der allgemein-gesellschaftlichen Möglichkeit, durch „Prozesse wechselseitiger Selektion von Verhaltensweisen zum sukzessiven Aufbau von Verhaltensstrukturen" zu kommen, die dann ihrerseits als „Bedingung der Möglichkeit weiterer Kommunikation" fungieren. Diese Möglichkeit von „ Anschlußkommunikationen" besteht somit nicht nur im Hinblick auf den Staat, sondern auch „für sonstige, mehr oder weniger organisierte Handlungssysteme". 47
ATA, (§ 5 F N 38), S. 40. Ebd., S. 286. 49 JR, (§6 F N 1), S. 54. 50 ΑΤΑ, (§ 5 F N 38), S. 67. 51 Ebd., S. 66. 52 Ota Weinberger , Diskussionsbeitrag in: Recht und Institution, (§ 5 F N 187), S. 82: „Auch die persönliche Moral — und das ist einer der Gründe, warum ich diese Erweiterung fordere — hat eine Rolle. Der Richter sieht als Person seine Tätigkeit als moralische Aufgabe. Das ist meiner Einsicht nach ein Bestandteil des Rechtslebens und muß einer sein." 48
14 Gromitsaris
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§ 6 Juridische Rationalität bei Helmut Schelsky
V. Institutionalisierung Mit dem Sachverhalt des,, Aushandelns der juridischen Rationalität" bezeichnet Schelsky — wie bereits teilweise dargestellt — einerseits eine „nach Regeln erfolgende Gegenseitigkeitsfestlegung" des Rollenspiels und Rollenkonflikts. Andererseits aber wird damit die Sinnkonstitution oder die Tatsache gemeint, daß die juridische Rationalität sowohl aus Handlungsprozessen entsteht wie ihren Vernunftgewinn nur in individuellen und sozialen Handlungsvorgängen findet und offenbart. 53 Letzteres bedeutet Handlungsleitung und Lebensführung im Gegensatz zur Selbstbewußtseinsreflexion. Die besondere Funktion der Stabilisierung von lebensführenden Selektionsleistungen ist von Schelsky im Rahmen seiner Ausführungen über den Institutionalisierungsbegriff dargelegt worden. Institutionaliserung heißt Dauerhaftes stiften. Soziale Formen werden derartig „auf Dauer gestellt", daß eine „in die Zukunft reichende Stabilisierung" von sozialen Verhältnissen „weitsichtig und planend" in Rechnung gestellt werden kann. 5 4 Die Formel der „dauerhaften Ordnungseinrichtung", welche begrifflich explikativ und gleichbedeutend mit dem Institutionalisierungsbegriff benutzt wird, bringt zweierlei zum Ausdruck: einerseits eine Stabilisierung in der Zeitdimension, d.h. das Festhalten einer sozialen Form in der Zukunft trotz Zufälligkeiten, Kontingenz und Entgegenwirkens; andererseits eine Stabilisierung in der Sozialdimension: die dauerhafte Ordnungseinrichtung impliziert nämlich das Rechnen darauf, daß die eingerichtete Ordnung, als ein von allen in Rechnung zu stellendes soziales Verhältnis betrachtet werden kann. Zeitliche und soziale Stabilisierung sind die beiden Hauptmerkmale der dauerhaften Ordnungseinrichtung oder des Institutionalisierungsvorganges. Dieser Institutionalisierungsvorgang findet auch insofern im juridischen Handlungsfeld statt, als er auf Dauer die Formen des juridischen Zusammen- und Widerspiels stellt. Juridische Berufsrollen und Ämter sind zeitlich und sozial stabilisierte Bündel von Verhaltensweisen. Das Aufdauerstellen bezieht sich auf organisiertes Gruppenverhalten sowie auf Artefakte und Symbole 55 . Zunächst gibt es institutionalisierte Organisationsordnungen von berufspraktischen Gruppen; sodann gibt es Symbole und Gesetzestexte, die institutionell stabilisiert sind und in einer „deutschsprachlich formalisierten Begrifflichkeit" abgefaßt sind. Letztere ist zwar „umweltunverständlich", sie ist jedoch fachintern institutionalisiert, d.h. sie besteht aus einem fachlich verselbständigten und binnenfachlich isolierten „standardisierten Sprachschatz", der in der juridischen Berufspraxis zur sprachlich-informativen Kommunikationsweise geworden ist. 5 6 Berufsor53
Hierzu und zum folgenden: JR, (§ 6 F N 1), S. 47. ΑΤΑ, (§ 5 F N 38), S. 27. 55 Schelsky, Zur soziologischen Theorie der Institution, in: ders. (Hrsg.), Zur Theorie der Institution, (§ 5 F N 170), S. 9-26) 25. Im folgenden zitiert: ThI; ders., Die Institutionenlehre Herbert Spencers und ihre Nachfolger, in: ders., Die Soziologen und das Recht, (§2 F N 2), S. 248-261. 56 WEW, (§ 6 F N 30), S. 28; ThI, (§ 6 F N 55), S. 25. Vgl. hierzu: Gustav Hugo, Ueber die bey den Neuern gewöhnlichen Versetzungen der zu denselben Kunstworte gehörigen 54
V. Institutionalisierung
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ganisationen, Gesetzestexte, Fachsprache werden auf Dauer gestellt und sozial stabilisiert, d.h. institutionalisiert. Dadurch entstehen Kommunikationsbeschränkungen, bestimmte Sinnverweisungen oder angebbare Möglichkeitsfelder, die alles institutionell nicht Unterstützte unerheblich machen. Aufgrund von Selektionsvorgängen innerhalb der institutionell abgegrenzten Möglichkeitsfelder finden Ereignisse statt, die als institutionelles Handeln, als Rechtsakte identifizierbar sind. Sinnkonstitution und InstitutionalisierungsVorgang hängen eng zusammen. Schelsky grenzt sie gegen die Legitimation des staatsbezogenen Rechts sehr vorsichtig ab. Legitimität wird an die Begriffe der Macht und Herrschaft geknüpft. Von der klassischen Machtdefinition Max Webers ausgehend gelangt Schelsky zur Herrschaftsdefinition. Er versteht darunter — Weber interpretierend — nur die Formen der Machtausübung, die einerseits von den Machtunterworfenen ausdrücklich bejaht und anerkannt würden, andererseits sich in „dauerhaften sozialen Einrichtungen und Regeln" niederschlügen. Diese würden von den im sozialen Zusammenhang gemeinsam lebenden und handelnden Personen, z.B. der Bevölkerung eines Staates, einer Stadt oder Gemeinde, als die „soziale Ordnung" betrachtet, in denen ihr Leben ablaufe. 57 Die zwei Bedingungen der Herrschaft sind demnach der „gesinnungshafte" Legitimationsglaube der Machtunterworfenen, der „quasi-religiösen Charakter" 58 annimmt auf der einen, sowie das dauerhafte Gegenseitigkeitsverhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten, das durch stabilisierte Ordnungseinrichtungen gekennzeichnet ist, auf der anderen Seite. Sie werden als „Herrschaftslegitimation und Herrschaftsinstitutionalisierung" thematisiert. Letztere ist als Selektionsleitung bei der Sinnkonstitution in den verschiedenen juridischen Rollen und Ämtern zu verstehen. Sie bezieht sich auf „die Vernünftigkeit der juridisch-institutionellen Prozesse" oder, anders gesagt, ausschließlich auf Legalität. Legitimität ist hingegen kein „Rationalitätsprinzip", sondern bereits nach Weber, „ — was gern übersehen wird — politisches Glaubenspostulat". Sie ist als „metaphysischer Grund der Befolgung von Gesetzen durch die Rechtsbevölkerung und die Einzelperson", als ein „Glauben a n . . . " zu verstehen. Sie kann demnach nicht „allein von der juridischen Rationalität her" begründet und „damit auch nicht im bloßen juridischen Verfahren" geschaffen werden. 59 Der Legitimätsglaube wird nicht in der „gleichsam punktuellen Zustimmung zu einzelnen Herrschaftsakten" sondern im nicht mehr Hinterfragten begründet. 60 Er fußt auf einer „nicht mehr dem Zweifel unterworfenen, ja weitgehend nicht mehr be wußten ,Hintergrundsideologie 4 (Gehlen) 44 . 61 Letztere kann sich nur insoweit in dem einzelnen Ausdrücke, in: Civilistisches Magazin 5 (1825), S. 291 -318; ders. Vergleichung einiger civilistischen Kunst-Wörter bey den Alten und bey den Neuern, in: ebd., S. 252256, 379-384. 57 ATA, (§ 5 F N 38), S. 20. 58 Ebd., S. 26. 59 JR, (§6 FN1), S. 49. 60 ATA, (§ 6 F N 38), S. 22. 14*
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§ 6 Juridische Rationalität bei Helmut Schelsky
juridisch-rationalen Verfahren auswirken, als sie sich zur sachgemäßen Berufsethik macht. Hinsichtlich der Herrschaftsinstitutionalisierung handelt es sich um den allgemeineren Tatbestand der Institutionalisierung, der im konkreten Fall folgendes leistet: „die dauernden und aktuellen Kämpfe um Machtausübung, um Herrschaftsanspruch und Herrschaftsunterwerfung" werden „zugunsten einer von allen anerkannten Regel, wie Herrschaftsgewalten besetzt und verteilt werden", zurückgedrängt. 62 Institutionalisierung bedeutet demnach zugleich Regelstiftung. Sie hat zur Folge, daß „politisch staatliche Herrschaft sich im Normalfall friedlich abspielt, nämlich durch geregelte Gesetzgebung und Verwaltung jeweils im weitesten Sinne des Wortes." 63 Hieraus ergibt sich, daß sich Schelsky anhand von drei Begriffen Zugang zum Recht schafft: Institutionalisierung, Sinnkonstitution und Regelbefolgung. VI. Entscheidungsbegriff Berufsrollen und Ämter werden sozial stabilisiert und auf Dauer gestellt. Jede Berufsrolle hat ihre eigene Berufsethik und sachgerechte Handlungsformierung. Regeln der Kommunikation, d.h. ein „institutionell gebändigter Rollenkonflikt" erzeugen die juridische Rationalität. 64 Der darin begründete Sinn und die damit zusammenhängende Begrifflichkeit sowie der Institutionalisierungsvorgang erlauben es Schelsky, sein Augenmerk auf den Inbegriff der Bedingungen der Handlungskonstitution in den juridischen Sinnsystemen zu richten. Er vermeidet somit die Überbewertung des Tatbestandes der Entscheidung. Entscheidungen seien für ihn „gar kein persönlicher Wahlakt sondern ein institutioneller Vorgang", der an der Spitze nur noch der Unterschrift bedürfe. Das gelte nicht nur für Großunternehmen der Wirtschaft, sondern fast noch in höherem Maße für die politisch-administrative Organisation des Staates und der Kommunen. 65 Der Begriff der institutionalisierten Ordnungseinrichtung und Organisation bringt ein anderes Verständnis des Entscheidungstatbestandes mit sich. Das Entscheiden entledigt sich seines personengebundenen Charakters. Die Hauptverantwortung der „Spitzenfunktionäre (,Unternehmer', wirtschaftliche Vorstandsmitglieder, Minister und sonstiger Behörden-Chefs)" liege gar nicht im „Entscheiden", sondern in der „Organisation und Kontrolle der von ihnen geleiteten ,Institution'." 6 6 Entscheidung und Organisation werden in Verbindung miteinander gebracht, so daß von einer Entscheidungsorganisation in den verschiedenen Sinnsystemen die Rede sein muß. Das zu 61
Ebd., S. 23. Ebd., S. 27 f. 63 Ebd., S. 22. 64 JR, (§6 FN1), S. 66. 65 WEW, (§ 6 F N 30), S. 14f. Vgl. hierzu: Thomas Wälde, Entscheidungstheoretische Perspektiven für die Rechtsanwendung, in: Rechtstheorie 6 (1975), S. 205-246. 66 WEW, (§6 F N 30), S. 14 f. 62
VI. Entscheidungsbegriff
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verdeutlichen wäre die Aufgabe der „Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften". Daß Minister aufgrund bestimmter Pannen und Fehlleistungen ihrer Behörde zurückträten — „nicht zufallig vor allem Justizminister" —, sei ein „ehrenwerter Selbstbezug von Organisations- und Institutionsleistung nicht aber von Fehlentscheidungen'." 67 Der Charakter eines erklärten Willens wird von der Entscheidung als solcher getrennt. Es kommt nicht auf einen Willen von Instanzen- oder Vorstandsmitgliedern an. Wichtig ist vielmehr die „Organisation der Leistung der Planungs-, Verwaltungs- und Produktionstätigen". Auf dem juridischen Wirkungsgebiet ist die Entscheidung auch ein institutioneller Vorgang, der erheblich mehr impliziert als einen abgeschlossenen Selektionsakt. Institutionalisierte Möglichkeitsfelder und bereitgehaltene Selektionsvorschläge in verschiedenen Sinnsystemen bedingen die Entscheidungsfähigkeit, welche somit nicht auf ein individuelles Bewußtsein zurückzuführen ist. Es ist beispielsweise nicht der weise, charismatische Richter, der über Entscheidungsfahigkeit verfügt, diese wird vielmehr in ihrer Sachlichkeit institutionell ermöglicht. Im juridischen Zusammen- und Widerspiel handelt es sich um institutionelle Vorgänge, die in instanzhaften Sinnsystemen stattfinden. Dabei berücksichtigen sie sich gegenseitig und teilen Arbeit und Kompetenzen untereinander auf. Die justiziellen und verwaltenden Instanzen sind nicht total von der Gesetzgebung abhängig. Schelsky pflichtet der Auffassung Luhmanns bei, der „das Verhalten des Gesetzgebers und das der Gerichte durch die Formel vom programmierenden und programmierten Entscheiden' auf eine gleiche Rationalitätstufe des Verfahrens hob." 6 8 Der „technologisch-exekutive Begriff der Gesetzesanwendung wird der Gleichordnung der institutionellen Vorgänge in beiden Instanzen nicht gerecht. Der Gesetzgeber wird „in unerreichbare Höhen hinaufdefiniert". Die „nötige Gesetzestreue muß offenbar mit der Heiligsprechung (der) Gesetzgebung erkauft werden". 69 Mit dem Begriff der Programmiertheit versucht Schelsky eine „Zuordnung" nicht nur unter den juridischen Instanzen des Gesetzgebers und Richters sondern auch unter Verfassung und Gesetzgeber. Er untersucht deswegen die Sinnkonstitution und Institutionalisierung sowohl in dem Gesetzgebungsverfahren als auch in der Gerichtsbarkeit und in der verfassungsgebenden Versammlung. Letztere ist keine „juridische Höchstinstanz". Sie sei vielmehr als „der institutionelle Gründungsakt aller juridischen Institutionen" zu verstehen. Sie sei der einmalige und zugleich grundsätzliche Dauergültigkeit beanspruchende „ A k t der Verwandlung politischer Glaubenspostulate und Letztwertüberzeugungen" in eine durch juridisch-institutionelle Rationalität führbare soziale Ordnung. Sie gründe erst die „Ebene juridischer Rationalität". Sie sei ihrem „Kommando" aber nicht unterworfen. 70 Im Gesetzgebungsverfah67 68 69 70
Ebd. JR, (§6 FN 1), S. 48. Hier zitiert Schelsky Peter Noll: Ebd., S. 61. Ebd., S. 49.
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§ 6 Juridische Rationalität bei Helmut Schelsky
ren wird zwischen politischen Parteien, der Regierung mit ihrer Verwaltung und den Sachverständigengremien unterschieden. Letztere sind keine „bloßen Argumentationshelfer" der Gesetzgebungsgruppen, die als Beiräte den schon vorhandenen Instanzen angehören sollen. Sie müssen im Gegensatz zu dieser „Beraterauffassung" als institutionalisierter wissenschaftlicher Sach- und Fachverstand verstanden werden, der eine „autonom zu stellende Instanz für eine gesetzgebende und regierende rationale Politik geworden ist." 7 1 Diese „mehr oder minder institutionalisierten Gremien" haben ihr eigenes „Amtsethos" und Auftragsbewußtsein". Ihre Funktion im Entstehen der juridischgesetzgeberischen Rationalität liegt im „Zusammen- und zugleich Gegeneinanderwirken, im Vorgang der Gesetzgebung."72 Dies geschieht nach Regeln, welche Ergebnis eines Institutionalisierungsprozesses sind. Derselbe bedeutet den faktischen oder gesetzlichen Zwang zur „Beteiligung des wissenschaftlichen Sach Verstandes", zur Einschaltung des „sachverständigen neutralen,Dritten' im parteipolitischen Konflikt der Inkompetenzen" oder der „dilettantischen Kompetenzen" einer bestimmten Entscheidungsmaterie gegenüber. 73 Die „Machtkompetenz" des Sachverstandes soll nicht die „mehrheitlich-politische Willensbildung" ersetzen oder gar verdrängen. Ihre Aufgabe liegt vielmehr in der „Programmierung des Entscheidunsfeldes". Sie besteht darin, der „wahldemokratischen Mehrheitsmacht" und dem „demokratisch-pluralistischen Wahlvorgang" der politischen Willensbildung „die Fragestellungen und Wahldimensionen der überhaupt möglichen Entscheidung zu verdeutlichen." 74 Das gleiche spielt sich auch in der Gerichtsbarkeit ab. Das Entscheiden ist keine argumentative, persongebundene Tätigkeit. Die institutionalisierte Instanz des Sachverstandes leistet den Anwälten, Anklägern oder Verteidigern oder auch Richtern, die „fachlich kritikunfähig sind", keine bloße Argumentationshilfe. 75 Eine Beschränkung ihrer Leistung auf die theoretisch-argumentative Ebene würde ihre „justiz-institutionelle Amtspflicht" unterschlagen. Die Forderung Schelskys nach „Einschaltung von wissenschaftlichem Sachverstand in die politische (und justizielle) Willensbildung" verdichtet sich auf zwei Postulate. Die sachverstandsimmanente innere Strukturierung der Gremien zum einen und die „Forderung der Institutionalisierung", d. h. daß im justiziellen und Gesetzgebungsprozeß „wissenschaftliche . . . unabhängige Sachverständige eingeschaltet werden müssen" zum anderen. 76 Beide Postulate sind verallgemeinerungsfähig. Die Entstehung der juridischen Rationalität beruht auf dem nach vorgegebenen Regeln erfolgenden Zusammen- und zugleich Gegeneinanderwirken von unabhängigen Instanzen. Der Tatbestand des Entscheidens muß in diesem Zusammenhang des geregelten Spiels gesehen werden. Die Verallgemeinerung der 71 72 73 74 75 76
Ebd., S. 37f. Ebd., S. 38. Ebd., S. 39. Ebd., S. 39f. Hierzu und zum folgenden: Ebd., S. 37. Ebd., S. 41.
VI.
ensbegriff
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beiden Postulate: nach der eigentümlichen inneren Instanzenstrukturierung und der institutionalisierten Instanzeneinschaltung — bedarf einer Untersuchung ihrer Möglichkeitsbedingungen. Dies führt uns zum Thema der Struktur des eigentlichen Instanzenspiels, des eigentlichen juridischen Verfahrens. VII. Verfahrensbegriff Jede Instanz hat eine „Mindest-drei-Ämter-Struktur" 77 . Der Ursprung derselben wird auf „das Grundprinzip des Rechts (und) der sozialen und politischen Vernunft" zurückgeführt 78 : die dauerhafte Gegenseitigkeit. Die Gegenseitigkeitsbeziehung von Nehmen und Geben, der gegenseitige Austausch von materiellen oder immateriellen Gütern" beinhaltet die Kontrollierbarkeit und Sanktionierbarkeit der Beziehung in sich; die Sanktion liegt bei Ausbleiben der Leistung „beim Empfangenden selbst, insofern er den anderen prompt in die gleiche Lage versetzt". 79 Durch Institutionalisierung wird diese Beziehungsform auf Dauer gestellt. Eine Zukunftsfestlegung wird mit dem Eingehen und Vollzug des Gegenseitigkeitsverhältnisses verbunden. Die Dauerhaftigkeit treibt zugleich in ihrer Forderung nach einer zukunftssicheren Gegenseitigkeitsleistung ein weiteres Prinzip hervor, das die „Variabilität der Interessen der Partner", die Hauptschwäche der reziproken Sozialbeziehung auf Dauer, aufhebt. Das ist das „Prinzip der institutionellen Entlastung" oder des „übermächtigen Dritten", welches zweierlei leistet: erstens läßt es die dualistische Handlungsbeziehung auf „dauerhaftere(n) Kräfte(n)" als dem Individuum fußen; zweitens läßt es die Folgen des reziproken Austausches auch die daran nicht unmittelbar beteiligten anderen treffen (Zusatzstabilisierung). 80 Der übermächtige Dritte, das sind in der „allgemeinsten und schwächsten Form" die anderen. Er wird als „Zeuge" in die Gegenseitigkeit eingespannt, mit der Funktion, „daß die reziprok Handelnden ihm gegenüber eine Bindung bezeugen und sie so über die Reziprozität hinaus verpflichtend sichern wollen." 8 1 Entscheidend in dieser „Erklärung vor Dritten" ist die sich vom „Alltagsumgang der Menschen" unterscheidende zeremonielle Form des Handlungsvorganges, welche die „Aufmerksamkeit" und die „passive Zeugenschaft" der anderen auf die Handlung ziehen soll. Die Zweckdienlichkeit der „Formen des Zeremoniells" liegt „ihrem Wesen nach (in) der Herstellung von,Öffentlichkeit' ". Es wird eine über die GegenseitigkeitsVorgänge von Individuen oder Gruppen hinausgehende „dritte Instanz" erzeugt. Letztere entwickelt sich von einem passiven Zeugen und Adressaten zum „aktiven Garanten und zur sanktionierenden Kraft für die Aufrechterhaltung der gegenseitigen Verpflichtung" und entlastet somit institutionell die „Sozialbeziehung von der sanktionierenden Funktion der Reziprozität selbst." Das 77 78 79 80 81
Ebd., S. 39. Ebd., S. 47. ARS, (§ 5 F N 1), S. 127. Ebd., S. 130. Hierzu und zum folgenden: Ebd., S. 131.
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§ 6 Juridische Rationalität bei Helmut Schelsky
Prinzip der „Symmetrie von Handlungen" 82 oder gegen Gegenseitigkeit auf Dauer und der Vorgang ihrer institutionellen Entlastung durch einen übermächtigen Dritten sind für Schelsky nicht nur evolutionstheoretisch, sondern vor allem systematisch von grundlegender Bedeutung. Die Einschaltung „eines dritten Rollenspielers" in die Reziprozität zwischen ego und alter ist ein für die moderne Gesellschaft relevanter Tatbestand. Gegen die Schwächen der Gegenseitigkeit kann nur die „Intervention ,dritter 4 Strukturen, die eine sogenannte ,Polizeifunktion' ausüben", genügend Schutz bieten. Es ist gerade die „stabilisierende Tätigkeit von ,dritten Parteien', z. B. von Zeugen, des amicus curiae, der Polizei, von Freunden der Familie, von Schiedsrichtern oder rituellen Friedensstiftern", welche Schelsky zur Erfassung der „Mindest-drei-Ämter-Struktur" geführt hat. 8 3 Es geht in diesem Zusammenhang nicht um einen geschiehtstheoretischen, sondern um einen strukturtheoretischen Befund, der die gegenseitige Bezogenheit zwischen Zeremoniell, Institution und Recht in den Vordergrund treten läßt. Die in außeralltäglichen Formen geäußerte Hinwendung zum übermächtigen Dritten oder die dauerhaft stabilisierte Einspannungsmöglichkeit einer dritten Instanz sind die Wurzel der juridischen Rationalität. Das Zeremoniell ist nach Schelskys Auffassung der Ursprung der Institution aus der „Reziprozität von Sozialbeziehungen". Es gehöre insbesondere zu den ursprünglichsten Kennzeichen des Rechts bis heute, ja es sei zu vermuten, daß hierin die „Wurzel der Formalität des Rechts" zu suchen sei. 84 Zeremoniell oder — in heutiger Terminologie —juridische Verfahrensformalität erbringen eine Institutionalisierungsleistung. Sie stellen Öffentlichkeit her, indem sie „die anderen" zu herangezogener Drittinstanz erheben und als solche voraussetzen. Letztere war zunächst „der Clan, die Familie, der Stamm, selbstverständlich auch die ,Götter'", in modernen Gesellschaften der Staat oder sonstige gesellschaftliche Institutionen. Die Einführung einer Rolle ins juridische Spiel der unabhängigen und gegenseitig kontrollierenden Instanzen kann nur durch zeremoniellhafte, Öffentlichkeitsstiftende Verfahrensformalität erfolgen. Anders gewendet ist dieses Verfahren ein institutionelles, denn es ist zeitlich und sozial stabilisiert. In der zeitlichen Dimension wird es durch Dauerhaftigkeit und Zukunftsbestimmung gekennzeichnet, wobei es in der sozialen Dimension als publizitäterzeugend, d.h. als öffentlich und allgemein anerkannt gilt. Dies institutionelle Verfahren ist die eigentümlich juridische Kommunikationsweise, die „unvermeidbar einzuschaltende Instanzen" als 82
Ebd., S. 127: Hier zitiert Schelsky Richard Thurnwald, Die menschliche Gesellschaft, Bd. V: Werden, Wandel und Gestaltung des Rechts im Lichte der Völkerforschung, Berlin—Leipzig 1934. 83 Ebd., S. 133: Hier zitiert Schelsky Alvin W. Gouldner, Reziprozität und Autonomie in der funktionalen Theorie, in: Hartmann (Hrsg.), Moderne amerikanische Soziologie, (§ 5 F N 11), S. 296, allerdings mit der Bemerkung, daß bei der Herausarbeitung des Prinzips der Reziprozität als einer Grundstruktur aller Gesellschaftsverfassung die amerikanische Soziologie den Bereich des Rechts „fast völlig außer Acht läßt". 84 Hierzu und zum folgenden: ARS, (§ 5 FN 1), S. 131.
VI.
ensbegriff
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solche sozialöffentlich stabilisiert und in Anspruch nimmt. 8 5 Das Verfahren ist formal. Die Formalität liegt darin, daß die „begrifflich-geregelte Argumentationsebene" von dem institutionell-kommunikativen Rollenspiel und Rollenkonflikt streng getrennt wird. Die „kognitiven Vorstellungen, Motivationen, Grundsätze und Ideen der einzelnen beteiligten Rollenträger" hätten nach Schelsky nur „Argumentationsfunktion" und setzten eine grundsätzlich zweitrangige, „Hilfsdienste leistende Rationalität 4 " voraus, die zur juridischen Vernünftigkeit erst in dem Augenblick werde, wo sie „unter institutionellem Führungszwang 44 die Ebene der Argumentation abschließend überwinde. 86 Schelsky hat diese Unterscheidung schon in seinem Buch über die politische Lehre von Thomas Hobbes getroffen. „Dem Bürger tritt die Herrschaftshandlung als die den Zustand der Überlegung bereits verlassen habende Tat gegenüber; das Wesen der Tat ist für ihn also nicht Verfügbarkeit, Überlegung, sondern Faktizität, Zwang. 4487 Zwischen dem Zustand der Überlegung, der „argumentativen oder semantischen Verständigungsebene44 und dem institutionalisierten Verfahren gibt es ein Rationalitätsgefalle. Die im Verfahren „gewonnenen44 Bestimmungen des sozialen Handlungsfortganges, z. B. der Frieden, die Rechtssicherheit usw.44, seien von höherer Rationalität als das subjektive Allgemeine. 88 Die „Verabsolutierung der philosophisch-wissenschaftlichen ,Vernunft 4 zur Rationalität des Handelns schlechthin" opfert die Vernünftigkeit des institutionalisierten Verfahrens für eine sich nach Regeln und Konventionen der institutionalisierten Philosophie rechtfertigenden Vernünftigkeit. 89 Sie versteht die Jurisprudenz als Rechtswissenschaft, als einen „einheitlichen Teil der (gar nicht mehr vorhandenen) ,Uni versi tas4 der Wissenschaften 44, indem sie die „universitätshafte Wissenschaftsauffassung" in dieselbe hineinprojiziert. Dabei ist es für das Verständnis des Rechts geradezu unentbehrlich, daß die begrifflichdeduktive Argumentationsebene der rechtswissenschaftlichen Begründungen von der institutionellen Verfahrensorganisation getrennt wird. Die Rechtswissenschaft hat „keine autonome wissenschaftliche Rationalität, sondern ist ihrem Wesen nach,sekundäre Rationalisation4 ", die von dem institutionellen Handeln der juridischen Instanzen „in eben dem Maße abhängig (ist) wie die christliche Theologie von der biblischen Offenbarung und den dogmatisierten Glaubensfeststellungen der Kirchen 44 . Die Trennung daher zwischen rechtsdogmatischer Begründung und institutionellem rollen- oder amtsgemäßem Handeln bringt es mit sich, daß juridisch gleiche Urteile auf sehr verschiedenen Begründungen beruhen können. Die „Ausdeutung dieses Tatbestandes" dahingehend, daß hier 85
JR, (§ 6 F N 1), S. 39. Ebd., S. 41. 87 Helmut Schelsky, Thomas Hobbes. Eine politische Lehre, Leipzig 1941, unveränderter Neudruck Berlin 1981, S. 392. Im folgenden zitiert: HPL. 88 JR, (§6 F N 1), S. 47. 89 Hier und zum folgenden: Ebd., S. 53 ff. 86
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§ 6 Juridische Rationalität bei Helmut Schelsky
richterliche Willkür insofern am Werk ist, als sich subjektive Vorurteile „nur sekundär in eine rechtswissenschaftliche Argumentation verkleiden und gleichsam betrügerisch rationale Gründe für sich in Anspruch nehmen", setzt ein in der „bloßen Bewußtseinsphilosophie" verwurzeltes, hinsichtlich des institutionellen Verfahrens „systemfremdes" Rationalitätskriterium voraus. Demgegenüber versteht Schelsky die juridisch institutionelle Rationalität, in offenkundiger Anlehnung an Luhmann, als eine Rationalität durch Verfahren. Wichtiges Merkmal dieses Verfahrens ist die Ausdifferenzierung oder das Vorhandensein von gesellschaftlich vorher schon eingerichteten Rollen. In einer Rolle sind nur ganz bestimmte Verhaltensmöglichkeiten zugelassen und realisierbar. Sie sind in einer anderen Rolle, die wiederum aus einem anderen Möglichkeitsrepertoire besteht, nicht potentiell vorhanden. Rollenausbildung bewirkt eine Trennung des gesellschaftlichen Hintergrunds von dem Verfahren. Einfluß auf das Verfahren kann nur noch durch Übernahme einer Rolle im Verfahren selbst ausgeübt werden. Jede andersartige Einwirkungsweise wird entweder als Störung oder überhaupt nicht wahrgenommen. Diese Ausdifferenzierung hat zur Folge, daß nur Rollenspezifisches Relevanz erhalten kann, wobei alle rollenunabhängigen Elemente oder alle anderen verfahrensfremden Rollen nicht sinnträchtig und daher zusammenhanglos sind. Damit wird das Problem des Bezuges des Verfahrens als das Verhältnis eines Gefüges von rollengemäßen Handlungsmöglichkeiten zu seiner gesellschaftlichen Umwelt thematisiert. Seine Lösung liegt in der Unterscheidung zwischen Autonomie und Autarkie. 90 Letztere würde beinhalten, daß das juridische Verfahren seine Austauschbeziehungen mit der Umwelt „drosseln" kann, weil es sich es leisten kann, selbstgenügsam und wirklichkeitsfremd zu existieren. Autonomie setzt hingegen gerade den Mangel an Autarkie voraus und besagt, daß die Austauschprozesse im Verfahren selbst in Eigengestzlichkeit gesteuert werden. Umweltinformationen werden unter immanenten Gesichtspunkten in den verschiedenen rollengemäßen Verhaltenschancen behandelt und ausgewählt. VIII. Spielregelbegriff Das Verfahren beruht auf realiter existierenden Geregeltheiten. Letztere sind Strukturen, die die Rollenstiftung und den weiteren Bestand des Rollenspiels durch institutionalisierte Sinnkonstitution ermöglichen. Sie nehmen daher dem Gesetzestext gegenüber, der die juristische Begründungsargumentation in der verwissenschaftlichten Rechtspraxis steuert, eine bevorzugte Stellung ein. Es ist die Stabilität der Institutionen, also die „im institutionalisierten Verfahren gewonnene(n) Bestimmungen des sozialen Handlungsfortgangs", die in den 90 Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied-Rhein 1969, S. 64, 69ff.; vgl. ferner zum Verhältnis von Person, Situation, Rolle und Themenfeld die allgemeinen Ausführungen von Jürgen Markowitz, Die soziale Situation, in: ebd. (§ 5 F N 103), S. 126ff., 140,147ff. Themenbewegungen sind als situative osmotische Prozesse auch bei den juristischen Berufsrollen möglich.
VI.
i e g r i f f
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Instanzen Spielraum für die argumentativ-semantische Verständigungsebene geradezu schaffen. 91 In der gesicherten Stabilität der Institutionen erst kann „die philosophische Wahrheitssuche, die Meinungs- und Diskussionsfreiheit, die Formulierung der Selbst- und der Gruppenidentität als Person oder als Interessengruppe" vollziehen. Semantisch-argumentative Begründungsprogrammierung durch den Gesetzestext setzt institutionalisierte Instanzen voraus. Programmiertheit setzt eine institutionell-regelhafte Programmierung von entgegenwirkenden Instanzen in Prozessen des wechselseitigen Kontrollierens und Disziplinierens voraus. Programmierung ist allerdings in diesem Fall nur insofern eine zutreffende Beschreibung, als den Geregeltheiten des Handlungsfortganges in den realiter vorhandenen Sinnsystemen Regeln entnommen und sprachlich formuliert werden, die in verschiedenem Detaillierungsgrad die Bedingungen verfahrensmäßig richtigen Verhaltens festlegen. Zutreffend ist die Beschreibung auch dann, wenn unformulierte Geregeltheiten zur dauerhaften Sicherung des Verfahrens beitragen. Auf der institutionellen Ebene erfolgt die Programmierung durch Festlegung der Bedingungen von Instanzeneinschaltung, Rollenkomplementarität und Rollenkonflikt. Die weiteren Selektionen in den institutionell gesicherten Möglichkeitsfeldern lassen sich durch begrifflichargumentative Programmierung semantisch leiten. Man könnte Gesetzestexte von Rechtsregeln bei Schelsky unterscheiden. Letzteren gelingt das Aufdauerstellen des juridischen instanzhaften Verfahrens. Dies erfolgt durch die Einschränkung der Möglichkeiten des Aufeinanderbezogenseins. Nicht alle Instanzen, nicht alle Ämter und nicht alle Rollen dürfen beliebig zusammen- und einander entgegenwirken. 92 Dies ist unabdingbare Voraussetzung der Selbstreproduktion, des Ersetzens von verschwindenden Elemente durch andere. Rechtsregeln sind in diesem Zusammenhang diejenigen handlungsformierenden Geregeltheiten, die unabhängig von jeglichem konkreten Fallentscheiden, einen „institutionell gebändigten Rollenkonflikt", d.h. eine Einschränkung von kombinatorischen Möglichkeiten dauerhaft festlegen und die Selbstreproduzierbarkeit des Instanzenspiels bewirken. Diese Leistung kann nicht kraft gesetzlich niedergelegter Entscheidung erbracht werden. Sie erfordert law in action und nicht law in books. 93 Sie bedarf der regelgeleiteten Handlungsformierung, d.h. der regelgeleiteten Behandlung von instanzen- oder rollenfremder Umweltinformation, sowie der regelgeleiteten Selektion von Kommunikationseinschränkungen. Notwendig ist also ein Selektionsvollzug derjenigen Einschränkungen, die das Instanzenspiel als solches identifizieren und reproduzie91 Hierzu und zum folgenden: JR, (§ 6 FN 1), S. 47. Vgl. hierzu die immer noch aktuelle Aussage von Georg Friedrich Puchta, Cursus der Institutionen, 5. Aufl., Leipzig 1856, S. 4ff.: „Die Philosophen, welche das Recht aus der Vernunft ableiten, bleiben außerhalb ihres Gegenstandes. Sie kommen gar nicht oder nur durch einen Sprung zum Recht". Siehe dazu den Kommentar von Luhmann, Konflikt und Recht, (§ 2 F N 8), S. 92-112, 105. 92 Bei Luhmann ist die „selektive Einschränkung von Relationierungsmöglichkeiten" Strukturbildung: Ders., Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), S. 386. 93 Hierzu und zum folgenden: JR, (§ 6 F N 1), S. 56, 203 f.
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§ 6 Juridische Rationalität bei Helmut Schelsky
ren lassen. Den Rechtsregeln in diesem Sinne ist es zu verdanken, daß nach der Beendigung eines Gerichtsprozesses das juridische Gerichtsverfahren weiterhin andauert. Der konkrete Prozeß ist nicht das juridische Verfahren. Ein einzelner Prozeß verschwindet, die Rollen aber, die Instanzen und Kommunikationseinschränkungen bleiben als erwartbare Geregeltheiten bestehen. Schelsky hat sich für die Aufwertung der „prozessualen Rechtsregelungen" eingesetzt. Er beanstandet die Tatsache, daß die Verfahrensgesetze, „als bloße Organisationsregelungen, wenn nicht gar nur als professionsmonopolistisches Handwerkzeug angesehen und verwendet werden". 94 Dabei würden sie den Anwaltsberuf nicht nur zu der „finanziell, sondern auch intellektuell attraktivsten Vertretung der Rechtspraxis" machen. Der soziale und geistige Hintergrund dieser „Organisationstechnologie" liegt nach seiner Auffassung in der Uneinheitlichkeit der handlungsleitenden Regeln der verschiedenen Instanzen, Ämtern und Rollen. Das heutzutage „höchst aktuelle Dilemma zwischen philosophischer Rationalität und juridischer Rationalität" findet in der Formalität eines „sozial und institutionell gegliederten Verfahrens" seine Lösung. Die rollenabhängigen Geregeltheiten in den Instanzen und die Institutionaliserung der gegenseitigen Instanzenkontrolle stellen die Spielregeln eines Zusammenund Entgegenwirkens dar. Dieser Umstand schützt Rechtssicherheit erheblich entscheidender als die „moralisch-emanzipatorische(n) Rationalitätsansprüche" von „allen philosophischen Vernunftsbegriffen". 95 Der Spielregelcharakter der Rechtsregeln wird von Schelsky näher im Zusammenhang mit den Ausführungen über die juristische Ausbildung beschrieben. Die spezifisch juridische Rationalität führt zu gewissen Konsequenzen für die Juristenausbildung. Schelsky fordert eine Ausbildungsmethode „der nachträglichen Simulation", welche Ausbildungsformen entspreche „wie sie in der Wirtschaft als Managerausbildung, vor allem aber in der militärischen Führung vom Manöver bis zum Sandkastenspiel längst üblich sind." Nach dieser Methode soll in Lehrveranstaltungen ein ganzer Prozeß „,nachgespielt4 und juristisch erläutert werden. 44 Das „Durchspielen von Justizprozessen44 dürfe nicht auf die Besprechung eines Rechtsfalles verengt werden. Es müßten die „Wirkungs- und Handlungsmöglichkeiten" in den verschiedenen Berufsrollen und Instanzen nachgespielt und kritischlehrreich begutachtet werden. „Der Ernstfall des institutionellen Handelns muß als ,Übungsspiel4 " gesetzt werden. Zu verlangen sei „die Beherrschung der institutionellen Rollen in Zusammenarbeit und Gegnerschaft." Die Einübung der institutionell gefestigten rollenabhängigen Spielregeln wird auch die „Kautelarjurisprudenz, aber darüber hinaus auch die Gesetzgebungs- und Vewaltungsprudenz in der Juristenausbildung zum Zuge 94
Hierzu und zum folgenden:Ebd., S. 63, 69f., 203 f. Unter dem Gesichtspunkt der argumentativen Vernünftigkeit besteht wenig Aussicht, daß Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit gewährleistet werden, genauso wie „im Dritten Reich politisch überzeugte Richter mit Berufung auf das von ihnen subjektiv interpretierte ,gesunde Volksempfinden' die juridische Rationalität und Verpflichtung beiseite schoben und Schandesurteile fällten." S. 63. Zum folgenden: S. 69f. 95
IX. Rechtssatz
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kommen lassen." Die Vermittlung der „bloßen Gesetzeskenntnis" ist keine „Einübung in die Rationalität juridischer Prozesse, weil sie es mit Gesetzestexten, mit Sätzen samt ihrer dogmatisch herausdestillierten semantischen Bedeutung, nicht aber mit rechtlichen Spielregeln zu tun hat. Dabei sind letztere die sachgerechten Bedingungen der verwissenschaftlichten Handlungsformierung für alle juristischen Berufsrollen. Folglich kann die eigentliche juridische Verfahrensrationalität bei Schelsky mit dem Begriff der Rechtsregel als Spielregel am genauesten wiedergegeben werden. Die Regel ist Ergebnis von Institutionalisierung. Letztere ist ein Vorgang der sozialen Sicherung von Verhaltensformen und von der Koordination von „menschlichen Teilaktivitäten", welche durch Dauerhaftigkeit und Stabilität ausgezeichnet sind. Regelgeleitetes Verhalten braucht nicht auf planendem Zweckhandeln zu beruhen. Andererseits schließt wiederum der Begriff der Spielregel Bewußtheit nicht aus. Es handelt sich vielmehr um Verhaltensmodelle, welche gegen Veränderungen persongebundener Ziele und Interessen seitens des subjektiv Handelnden gleichsam immunisiert sind. Verschiedenartige Handlungsmotivationen sind deshalb zugelassen. Die juridischen Berufsrollen und Ämter stellen einen Inbegriff von objektiven Verhaltensformen und Verhaltensgeregeltheiten dar. Sie behandeln in Eigengesetzlichkeit Umweltinformationen in einer Weise, daß die Behandlungsweise als zeitlich und sozial stabilisiert gelten darf. Die Tatsache, daß die Spielregeln sprachlich formuliert oder formulierbar sind, darf nicht zu der Auffassung verleiten, Regeln würden primär eine sprachliche Existenz führen. Hier muß man Bedeutung und Sinn streng auseinanderhalten. Diese Unterscheidung durchzieht die ganze Begrifflichkeit Schelskys. Sie liegt auch der Verwendung des Adjektivs „juridisch" zugrunde. Das üblicherweise benutzte Adjektiv „juristisch" ist mit einer Verengung des Blickes auf die wissenschaftliche Rechtsdogmatik und die sprachliche Bedeutung von Rechtssätzen verbunden. Die juridische Rationalität dagegen bezieht sich vor allem auf institutionelles Handeln und Sinnkonstitution. IX. Rechtssatz Schelsky hat den Begriff des Rechtssatzes nicht explizit definiert. Seinen Ausführungen über die dogmatische Rechtswissenschaft ist jedoch folgendes zu entnehmen. Der Begriff des Rechtssatzes bezieht sich auf die Jurisprudenz als Rechtswissenschaft andererseits aber auch auf die universitätshaft rechtswissenschaftlichen Vorbedingungen der Tätigkeit in den verschiedenen juristischen Berufsrollen als Rechtsprofessor, Richter, Anwalt, Notar usw. Der sprachlich niedergelegte mit symbolisch autoritativer Bedeutung verbundene Gesetzestext wird zum Gegenstand der textinterpretierenden und erkenntnishaft-begrifflichen Tätigkeit der dogmatischen Rechtswissenschaft. Diese arbeitet hermeneutisch die sprachliche Bedeutung des Rechtssatzes heraus. Die rechtsdogmatisch herausfiltrierte und untermauerte Bedeutung des Rechtssatzes wird als eine
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§ 6 Juridische Rationalität bei Helmut Schelsky
gesetzgeberische Entscheidung angesehen, die eine programmierende Funktion hat. Sie erweckt die allgemeine Erwartung, daß sich die konkrete Fallentscheidung danach richten wird. Es handelt sich um den Tatbestand des programmierenden und programmierten Entscheidens auf der begrifflichen Begründungsebene der konkreten Fallentscheidung. Die begrifflich-argumentative Programmierung nimmt die Gestalt der Bindung an rechtsdogmatisch interpretierte Gesetze an. Schelsky verweist in diesem Punkt auf die juristische Methodenlehre der Interessenjurisprudenz. Sie habe früh genug gegen die „Gefahren des subjektiven Urteils" polemisiert. Sie habe statt dessen eine notwendige oder rechtsdogmatisch argumentativ fundierte „richterliche Abwägung der Interessen für den Einzelfall" gefordert. 96 Eine freie von der Individualität des Prüfenden abhängende Abwägung von Interessen sei deshalb unannehmbar, weil sie gesetzgeberisch-dogmatisch unprogrammiert sei. Begründungsprogrammierung darf nicht auf das Verhältnis Gesetz-Richter beschränkt werden. Eine Konzentrierung auf die Richter und die sonstigen Justizjuristen ist eine „Einengung", die auch von den Sozialwissenschaftlern vollzogen wird, welche sich „kritisch mit dem Recht und den Juristen" befassen. 97 Sie verkennt jedoch daß der Jurist nicht nur Justizjurist ist. Die Einengung des juristischen Blickfeldes auf die richterliche Funktion blendet die Funktion des Rechtsanwaltes und der Kautelarjurisprudenz aus, welche schon sehr früh „auf die Funktion der Beratung von vertragsschließenden Parteien bezogen war". 9 8 Wie es der von Schelsky zitierte Peter Noll formuliert: „Der Bürger sucht sein Recht und findet einen Richter". 99 Je nachdem ob der Jurist Richter, Ankläger oder Verteidiger ist, ist auch die Sachverhaltsdefinition und -interpretation weitgehend eine andere. 100 Die auf den Richter oder Richtergehilfen abstellende dogmatische Begründungsprogrammierung geht von einer einheitlichen Sachverhaltsbeurteilung aus. Dabei gibt es eine Pluralität von tatbestandsmäßigen Vorformulierungsmöglichkeiten eines Rechtsfalles. Die „Vorbeurteilung der Sachverhältnisse durch die vorbereitende Justiz (Polizei, Staatsanwalt, Berichtserstatter usw.)" wird auf unterschiedliche „Urteilsschematismen", d.h. auf verschiedenartige „dem Urteil zugrundeliegende Tatbestandsbeurteilungen" ausgerichtet. Die im Gesetzestext und in den Präjudizien verwurzelte, begrifflich-dogmatische Programmierung hat einen weiten Anwendungsbereich. Es wird nicht nur die Programmiertheit der „hermeneutisch-interpretativen Subsumtion unter die geltenden Rechtssätze und -Vorschriften" angezielt, sondern auch die je nach Juristenrolle verschiedene „Darstellung des richterlich zu beurteilenden 96
JR, Ebd., S. 64. Ebd., S. 75. 98 Schelsky zitiert hier: Ebd., S. 60f., Peter Noll, Gesetzgebungslehre, Reinbeck bei Hamburg 1973. 99 Ebd., S. 60. 100 Helmut Schelsky, Nutzen und Gefahren der sozialwissenschaftlichen Ausbildung von Juristen, in: ders., Die Soziologen und das Recht, (§ 2 F N 2), S. 196-214. Hier und zum folgenden. S. 204f. 97
X. Rechtsnorm
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Sachverhalts". 101 Die Rechtspraxis von Staatsanwalt und Verteidiger unterscheidet sich in bezug auf die Beurteilung des Sachverhalts und des daraus gefolgerten Tatbestandes ganz erheblich von der Richtertätigkeit. Dadurch wird die herkömmliche Auffassung, daß der gute Richter nebenbei auch ein guter Ankläger oder Verteidiger sei, praktisch dauernd widerlegt. Schelsky zerlegt mithin den Begriff der Entscheidungsprogrammierung in einen doppelten Tatbestand: in die Programmierung der Urteilsbegründung und in die Programmiertheit von rollenangemessenen Sachverhaltsformulierungen aus entsprechenden Tatbestandsbeurteilungen. Die Tatbestandsbeurteilung macht einen Kollektivakt von juristischer Rollenzusammenarbeit aus. Das ist genau der Sinn des Zitats von Noll bei Schelsky: „Ein guter Rechtsanwalt kann die Schwächen und Fehler eines Richters kompensieren, indem er ihn zwingt, zu bestimmten Fragen Stellung zu nehmen". 102 Die Subsumtion ist begrifflichargumentativ programmiert. Die Tatbestandsbeurteilung ist in ähnlicher Weise durch die Sachverhaltsformulierung schon im Vorfeld gesteuert. Diese doppelte Programmiertheit soll darauf hinweisen, daß die aus dem „wirtschaftlichen Unternehmensbereich" übernommene „Entscheidungstheorie" des Richters verdrängt werden soll. Dieselbe „deformiert das rechtliche Verfahren dahin, daß Richter als dezisionistische Diktatoren erscheinen" 103 , die der Gefahr „subjektiv-sozialer Abweichungen" in ihren Entscheidungen dauernd ausgesetzt sind. Der Rechtssatz ist somit ein Programm, das Prämissen juristischer Argumentation derartig festgelegt, daß es immer dann, wenn diese im Rahmen einer juristisch-beruflichen Tätigkeit vorliegen, bestimmte Begründungen als berechtigt erscheinen läßt oder gar diktiert. Dies setzt allerdings voraus, daß eine dogmatische Begriffsarbeit paralleli geleistet wird, die die argumentativen Prämissen im Hinblick auf Subsumtionsvorgang und Sachverhaltsdarstellungen interpretiert. Der Rechtssatz ist demnach ein konditionales Programm, ein Bedingungssatz, der die Forderung beinhaltet, daß seine wissenschaftlich interpretierten Argumentationsprämissen die verwissenschaftlichte Rechtspraxis steuern. X. Rechtsnorm Das Recht steht in einem besonderen Verhältnis zur Zeit: „Seine Größe ist, daß es das Moment der Zeit in das soziale Leben einführt." 1 0 4 In der zeitlichen 101
Hierzu und zum folgenden: Ebd., S. 205. JR, (§ 6 F N 1), S. 60. 103 SR, (§ 5 F N 1), S. 204. 104 Helmut Schelsky, Das Ihering-Modell des sozialen Wandels durch Recht. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Beitrag, in: Werner Maihofer/Helmut Schelsky (Hrsg.), Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 3: Manfred RehbinderI Helmut Schelsky (Hrsg.), Zur Effektivität des Rechts, Düsseldorf 1972, S. 47-86,83. Im folgenden zitiert: SWR. Schelsky schließt sich im Thema Recht und Zeit den Ausführungen Haurious an. Was die Interpretation der Institutionentheorie von Hauriou angeht, akzeptiert er den Explikationsvorschlag von Victor Leontovitsch, Die Theorie der 102
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§ 6 Juridische Rationalität bei Helmut Schelsky
Dimension nimmt die Normativität ihren Ursprung. In dieser Hinsicht bedeutet Rechtssetzung Transzendenz des Aktuellen und sichere Orientierung an Zukünftigem. Zukünftiges Verhalten von Menschen soll in der Gegenwart festgelegt werden. Die zeitliche Funktionalität des Rechts ist doppelt: es stellt in der Gegenwart die Geltung von Verhaltenserwartungen sicher und schafft zugleich Erwartungsgewißheit für die Zukunft. Die Umstellung der Zeitorientierung in der modernen Gesellschaft auf die Zukunft, d.h. die Futurisierung und Historisierung (Mehrfachmodalisierung, Reflexivwerden) der Zeit muß auch vom Recht in Rechnung gestellt werden. Rechtsänderungen können in der jeweiligen Gegenwart als Aufgabe gesamtgesellschaftlicher Planung betrachtet werden. Mit seiner planerischen Funktion kann das Recht programmierende Entscheidungen treffen, die als Vergangenheit zukünftiger Gegenwarten künftig brauchbar sein werden. Diese Zukunftsorientierung des Rechts bedeutet Umstellung in der vorrangigen Zeit- und Grenzorientierung des Rechtssystems, und zwar von der Input/Vergangenheitsorientierung auf eine Zweck/Zukunftsorientierung. Die Normativität im Recht entfaltet also eine zeitüberbrückende Wirkung, indem sie die Zukunft ihrer Offenheit und Beliebigkeit beraubt, während seine Positivität es von Traditionsgebundenheit und Vergangenheitsorientierung frei macht. Zugespitzt formuliert, stellen Normativität und Positivität des Rechts eine doppelte Negation dar: die Negation der offenen Zukunft und die Negation der Vergangenheit. „Gesetze, Verordnungen, Verträge, also das ganze System der Rechtsordnung, zielen primär in die Zukunft und gebieten sozial bestimmte zukünftige und als solche festgelegte, d. h. kalkulierbare Verhaltensweisen." 105 Die Festlegbarkeit sozialen Verhaltens auf Dauer setzt die Anerkennung einer Verbindlichkeit für und in die Zukunft voraus, d. h. daß Verhaltensentwürfe zugleich „Verhaltenssicherheiten" sind. 1 0 6 Man gibt sie
Institution bei Maurice Hauriou, in: Roman Schnur (Hrsg.), Institution und Recht, Darmstadt 1968, S. 176-264. Er hat hingegen die Interpretation, von Georges Davy , Le Droit, l'Idéalisme et l'Expérience, Paris 1922, jetzt deutsch in: Roman Schnur (Hrsg.), ebd., S. 1 ff., abgelehnt. Schelsky konnte ferner der thomistischen Auslegung des Werks von Hauriou, wie sie Georges Renard, La théorie de l'institution, Paris 1930 vorgelegt hatte, nicht zustimmen. Das Werk von Hauriou stand bereits in den dreißiger Jahren zur Debatte. Vgl. hierzu: Gaston Morin, Vers la révision de la Technique juridique. Le concept d'Institution, in: Archives de Philosophie du droit et de Sociologie juridique, Paris 1931, Neudruck Glashütten im Taurus 1972, S. 73-85; J.-T. Delos, La Théorie de l'Institution. La Solution réaliste du Problème de la Personnalité Morale et le Droit à fondement objectif, ebd., S. 97-153; Georges Gurvitch , Les idées-maitresses de Maurice Hauriou, ebd., S. 155-194, Louis Le Fur , Droit individuel et droit social. Coordination, subordination ou intégration, ebd., S. 279-309. 105 Helmut Schelsky , Technische und soziale Aspekte der Planung, in: Die Soziologen und das Recht, (§ 2 F N 2), S. 276-287, 277. Im folgenden zitiert: AdP; ders., Planung der Zukunft. Die rationale Utopie und die Ideologie der Rationalität, in: ebd., S. 288-307; Vgl. ferner: Werner Bergmann, Die Zeitstrukturen sozialer Systeme, (§ 5 FN 82), S. 198 ff., 203 ff.,209,212; im 18. Jahrhundert wird der Schluß von der bisherigen Erfahrung auf die Zukunft dank dem Fortschritt von Wissenschaft und Technik unmöglich. Planung tut not: R. Koselleck, Die Verfügbarkeit der Geschichte. In: ders., (§ 5 F N 145), S. 260-277, 266.
X. Rechtsnorm
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trotz der Möglichkeit anders und sogar entgegengesetzt zu handeln nicht auf. Der Mieter geht beispielsweise im Mietvertrag „eine Sozialplanung seines zukünftigen Verhaltens" ein. 1 0 7 Das Aufstellen und Einhalten von die Zukunft festlegenden Handlungsentwürfen verweist auf eine Ebene der Erwartungsbildung, die für Rechtsbildung und Rechtsverständnis unentbehrlich ist. Zukunftsfestlegung und Zukunftsgestaltung kann nur durch Stabilisierung von Verhaltenserwartungen im sozialen Bereich erfolgen, welche trotz Enttäuschung weiterhin gehegt werden. Dies ist das Kennzeichen der Normativität. Schelsky definiert seinen Normbegriff, indem er sich der Ausdrucksweise Luhmanns bedient: Norm ist eine „kontrafaktische Verhal tenser Wartung". 108 Normativität hängt eng mit enttäuschungsfester Stabilisierung von Erwartungen" zusammen. Das bedeutet, daß „die soziologische Verwendung des Begriffes der Norm" einen sehr weiten Umfang erlangen kann. 1 0 9 Es ist Schelskys Ansicht, daß dieser Gebrauch zwar legitim aber analytisch nicht aufschlußreich genug ist. Dies liege daran, daß „sowohl politische Glaubenssätze wie das religiöse oder philosophische Gewissen, das gesatzte Recht des Gesetzgebers und der Verwaltung ebenso wie die verfeinerte Berufsethik von hochspezialisierten Funktionsgruppen, einheitlich auf den Begriff der ,Norm' reduziert werden können." Normativität ist verbindliche Zukunftsstabilisierung; sie stellt kein Rechtskriterium dar. Das bedeutet, daß die Spielregeln keine bloße Wiederholbarkeit von bestimmten Verhaltensformen ermöglichen; sie stellen Verhaltensentwürfe auf, die als Orientierungspunkte dienen müssen, selbst wenn sie nicht verwirklicht werden. Das Falschspielen kann die Spielregeln nicht verschwinden lassen. In der verwissenschaftlichten Rechtspraxis gibt es Verhaltensmuster, die normativ eingeschärft werden: sie sind kontrafaktisch stabilisiert und setzen die Sinnkonstitution unter normativen Druck. Zu den Sachgesetzlichkeiten, die im juridischen Instanzen- und Rollenspiel die Handlungsformierung diktieren, gehören: a. Die normativ stabilisierten Argumentationsinhalte auf der dogmatischwissenschaftlichen Ebene. Dieselben sind das Ergebnis des arbeitsteiligen, juristischen Argumentationspiels zwischen den Instanzen, welches auf der Einheitlichkeit der universitätshaften rechtsdogmatischen Leitung und Ausbildung beruht. Ihre normative Stabilisierung steuert die Selektionsvorgänge im Argumentationsspiel. Sie leistet eine Zukunftsfestlegung auf der begrifflichsemantischen Ebene. b. Die normativ eingeschärften Verhaltensmaßregeln, die die Spielregeln des juridischen Verfahrens ausmachen. Dieser normative Druck bewirkt eine Verkürzung der Verhaltensalternativen und lenkt somit die Sinnkonstitution.
106 Helmut Schelsky, über die Abstraktheiten des Planungsbegriffes in den Sozialwissenschaften, in: Die Soziologen und das Recht, (§ 2 FN 2), S. 262-275, 273. 107
AdP, (§6 FN 105), S. 283. JR, (§ 6 FN 1), S. 60. Der Erwartungsbegriff darf nicht, wie es schon im vorigen Paragraphen gezeigt wurde, psychologisch verstanden werden. 109 Hier und zum folgenden: ATA, (§ 5 FN 38), S. 269. 108
15 Gromitsaris
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§ 6 Juridische Rationalität bei Helmut Schelsky
Normierung hat Rechtscharakter nur in ihrem „sektorenhaften" 110 Bezug auf das formal-institutionelle juridische Verfahren oder auf rollenabhängigen, begrifflich-argumentativen juristischen Gepflogenheiten. Der Begriff der Rechtsnorm bezieht sich mithin sowohl auf Rechtssätze (Gesetzestexte) als auch auf Spielregeln. Er bringt die Normierung von juristischen Argumentationsprogrammen und von institutionellen Verfahrensprogrammierungen zum Ausdruck. Rechtsnormen sind demnach Normierungen von Rechts-Sätzen und Rechts-Regeln. XI. Staatliches und gesellschaftliches Recht Die überkommene Trennung Staat / Gesellschaft wird von Schelsky modifiziert. Sie wird durch die systemtheoretische Vorstellung einer Differenzierung von politischem System und gesellschaftlichen Teilsystemen zwar ersetzt 111 , ohne jedoch daß die Bedeutung der politischen Herrschaft und Staatsbürokratie nivelliert wird. In dem Aufsatz „Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen. Kulturanthropologische Gedanken zu einem rechtssoziologischen Thema" (1949) 112 stellt Schelsky fest, daß sich die Strukturmerkmale einer modernen Rechtsordnung adäquat wohl kaum herausarbeiten lassen, wenn man die Errungenschaften der benachbarten Wissenschaften nicht berücksichtigt. Die Problematik entziehe sich dem Zugriff einer einzelnen Fachwissenschaft und sprenge den Rahmen der „positivistischen Kompetenzeneinteilung der Fachwissenschaften im 19. Jahrhundert". 113 Die Fragen nach dem Ursprung und der Stabilität von Rechtsinstitutionen würden den Bereich der Rechtswissenschaft, für deren Gegenstand und mit deren Methoden sie erhoben werden, überschreiten. Wie die rechtstheoretische Frage nach der Stabilität der geschriebenen Verfassung auf die soziologische Betrachtung der realen Machtzustände zurückverweise, so komme die Soziologie in Denkbereiche anderer Wissenschaften hinein, wie in diejenigen der Anthropologie, Ethnologie, Psychologie oder Biologie. Vor diesem theoretischen Hintergrund gelingt es ihm, die Diskrepanzen zwischen klassischer Staatslehre und der Verkoppelung 110
AdP, (§ 6 F N 105), S. 282. Zur Formel der Trennung von Staat und Gesellschaft als unzureichendes Vorstellungsmodell: Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Berlin 1965, S. 26ff.; ders., Politische Verfassungen im Kontext des Gesellschaftssystems (1. Teil), in: Der Staat 1/1973, S. 1-22 und (2. Teil) 2/1973, S. 165-182; ders., Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 4, Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Opladen 1987, S. 67-73; ders., Staat und Politik. Zur Semantik der Selbstbeschreibung politischer Systeme, in: ebd., S. 74-103; ders., Der Wohlfahrtsstaat zwischen Evolution und Rationalität, in: ebd., S. 104-116; ders., Machtkreislauf und Recht in Demokratien, in: ebd., S. 142-151; Gunther Teubner, Organisationsdemokratie und Verbandsverfassung. Rechtsmodelle für politisch relevante Verbände, Tübingen 1978, S. 68 ff. 111
112 In: Helmut Schelsky, Auf der Suche nach Wirklichkeit, Düsseldorf/Köln 1965, S. 33-55. 113 Hier und zum folgenden: Schelsky, STV, (§ 5 FN 154), S. 33 f., 35.
XI. Staatliches und gesellschaftliches Recht
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von Organisationen und Institutionen innerhalb einer funktional differenzierten Gesellschaft aufzuzeigen und zu überwinden. Die Verwerfung der Annahme von „point-to-point-relations" zwischen ursprünglichem biologischem Antrieb und kultureller Erfüllung (Malinowski) führt Schelsky zu der These, daß „jede Institution" eine „Funktionssynthese" sei. Sie erfülle stets vielerlei Zwecke auf einmal. Umgekehrt gesehen heiße dies: an der Befriedigung eines spezifischen menschlichen Antriebes, eines einzelnen Bedürfnisses oder einer bestimmten Funktion sei immer eine „Vielheit von Organisationsgruppen und Kulturgebilden" beteiligt. 114 Wenn man zusätzlich in Betracht zieht, daß trotz der Neigung des rechtstheoretischen Denkens, „nur die Organisation einer Personengruppe selbst als Institution zu bezeichnen" 115 , Organisation und Institution nicht identisch sind, kann man aus der obigen These Schelskys zwei Schlußfolgerungen ziehen. Erstens ist anzunehmen, daß trotz des Prinzips der Gewaltenteilung die verschiedenen staatlichen Institutionen multifunktional sind. Die Gewaltenteilung darf nicht nur unter dem Gesichtspunkt „der gegenseitigen Kontrolle der Staatsorgane zum Schutz des Bürgers vor staatlichem Mißbrauch" 1 1 6 gesehen werden. Die verschiedenen autonomen Funktionen der Staatsorgane dienen zur „staatlichen Stabilität", die darin beruht, daß es zugleich eine funktionale Zuständigkeit und Multifunktionalität der einzelnen Staatsorgane gibt. Dies ermöglicht nicht nur „ein Ausweichen der souveränen Entscheidung auf ein anderes Führungsorgan" in Zuständigkeitskrisen und Ausnahmesituationen. Vielmehr bedeutet dies vor allem die Möglichkeit, die „Verlagerung des Führungsschwergewichts im Bau der Verfassung" vorzusehen, damit eine „Elastizität der Staatsführung" und der „Verfassung als Intitution" gegenüber den „Anforderungen der verschiedenen geschichtlichen Lagen" herbeigeführt wird. Das beste Beispiel für diese Verfassungselastizität sei nach Schelsky die Verfassung der USA, weil sie die Verlagerung der „faktisch staatsführenden Entscheidungen ebensowohl auf die Person des Präsidenten als auch auf den Kongreß oder gar auf den Obersten Gerichtshof vorsehen. Die zweite Schlußfolgerung aus der obigen These Schelskys geht dahin, daß die Erfüllungsmöglichkeiten der bestimmten einzelnen politischen oder Staatsfunktionen auf mehrere „institutionelle Verhaltensweisen" 117 aufgeteilt sind. Aus systemtheoretischer Sicht bedeutet dies die Ablösung einer organisationsinstitutionellen durch eine funktionale Betrachtungsweise. Das politische System eines demokratischen hochindustrialisierten Staates ist nicht mit den Organisationen einer „bis zu einem bestimmten Maß zentralistischen, wohlausgebildeten und einem hohen Berufsethos verpflichteten Verwaltungsbürokratie" 118 identifizierbar. Es 114 115 116 117 118
15=
Ebd., S. 39. Ebd., S. 55, Anmerkung Nr. 16. Hier und zum folgenden: Ebd., S. 51 f. Ebd., S. 39. Ebd., S. 34.
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§ 6 Juridische Rationalität bei Helmut Schelsky
ist vielmehr ein System von sinnhaft aufeinander bezogenen Handlungen, deren Funktion die Herstellung einer „Verfassungswirklichkeit" und einer „Verfassungsnormierung" innerhalb einer gegebenen Gesellschaft ist. Systemtheoretisch gesprochen liegt seine Funktion im Aufbau von politischer Macht zur Herstellung von noch unbestimmten kollektiv bindenden Entscheidungen.119 Für die Funktionen, die eine Verfassung als Institution „gegenüber ihrer Bedürfnisgrundlage" 120 zu erfüllen hat, ist nun die Einsicht wesentlich, daß die Erfüllungsmöglichkeiten durchaus quer zu den konkreten Organisationen stehen können. Es gibt keinen besonderen Organisationstypus, etwa den verwaltungsbürokratischen, der sich mit dem politischen System identifizieren ließe. Nicht nur „staatliche" sondern auch„gesellschaftliche" Organisationen können funktional Teil des politischen Systems sein. Institutionelle Verhaltensweisen gehören nach Schelsky zum politischen System nicht bloß insofern, als die dem Aufbau von Macht zur Herstellung von verbindlichen Entscheidungen dienen. Verhaltensweisen sind eher insoweit politisch, als sie eine „institutionelle Lösungs- und Gestaltungsfähigkeit" gegenüber den zur Zeit vorhandenen und abzuleitenden verfassungstragenden Bedürfnissynthesen darstellen. Der Wandel der verfassungstragenden Bedürfnisse muß als stabiler Institutionswandel in Betracht gezogen werden. Dies ist die rechtssoziologische Anwendung des Gedankens des Weitertreibens der sozialen Institutionsbildung aufgrund der Entwicklung von Folgebdürfnissen aus einem institutionellen Erfüllunsbestand. Die institutionelle Erfüllung des Bedürfnisses nach dem Aufbau von politischer Macht zur Herstellung von gesamtgesellschaftlich verbindlichen Entscheidungen führt zu abgeleiteten Bedürfnissen höheren Grades, die wiederum durch Institutionsbildung befriedigt werden müssen. Politisch bindende Entscheidungen werden erlassen, Parteien suchen Unterstützung für Programme und Entscheidungen, Verbände stellen ihre Interessen dar und melden ihre spezifischen Forderungen an. Gegenüber den „ursprünglichen Bedürfniserfüllungen", die in der Interessenartikulation und Parteienpolitik sowie in Legislative, Exekutive und Justiz stattfinden, ist ein „reversibler Vorgang" zu erblicken 121 . Dieser besteht darin, daß die am Ursprung der Institutionen beteiligten Antriebe der demokratischen Verfassungsgesetzgebung und die Notwendigkeit des Treffens kollektiv bindender Entscheidungen „von einer bestehenden, versachlichten und eigengesetzlichen Organisationswirklichkeit her eine Führung, eine Norm des Handlungsvollzuges, auferlegt bekommen". So entstehen Bedürfnisse „hochbürokratischer Herrschafts- und Verwaltungsmethoden", die mit der Entwicklung von neuen Karrierestrategien verbunden sind, da sie breite Schichten ursprünglicherer Leitbilder, Zielvorstellungen, Ideologien und Programmen des Motivbewußtseins der Handelnden institutionell „heimatlos" machen oder kritisch-analytischen Anforderungen aussetzen122. Demnach ist es 119
Hierzu mit einschlägigen Literaturhinweisen: Teubner, Organisationsdemokratie und Verbandsverfassung, (§ 6 FN 111), S. 69. 120 STV, (§5 F N 154), S. 42 f. 121 Hier und zum folgenden: Ebd., S. 43.
XI. Staatliches und gesellschaftliches Recht
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auch gar nicht notwendig, daß die gesetzgeberische Tätigkeit eine Reaktion auf den um Anerkennung beim Gesetzgeber ringenden „sozialen Druck" darstellt. Politische Strategien der Machtgewinnung und der Erhaltung von Machtpositionen führen öfters dazu, daß die regierende Partei Gesetze hauptsächlich mit der Absicht erläßt, einen guten Teil der politischen Programmatik der Opposition vorwegzunehmen. Man betreibt Sozialpolitik, obwohl man es ursprünglich gar nicht vorhatte, um der Opposition einen Tätigkeitsbereich zu entziehen. Wie die juristische teleologische Gesetzesinterpretation später damit zurechtkommen wird, steht auf einem anderen Blatt. Sie wird wahrscheinlich die Zweckmäßigkeit des Gesetzes aus der Verfassung ableiten. Schelsky stellt zwei Stabilitätsgesetzlichkeiten für den Vorgang der Entwicklung neuer Bedürfnisse aus dem in den schon vorhandenen Institutionen aufgenommenen Grundstock an kulturellen Bedürfnissen heraus: Erstens müssen die Folgebedürfnisse höheren Grades in neuen, sich auf die alten Gebilde stützenden Institutionsformen untergebracht werden. Zweitens müssen die ursprünglicheren in der Institution fixierten Bedürfnisse in den alten Institutionsbildungen weiterhin gebunden bleiben. 123 Auf diese Weise entsteht Stabilität durch „gegenseitige Entlastung der Institutionsformen". Die „eigentliche institutionsschöpferische Tätigkeit" wird nämlich am besten gefördert und entlastet, wo ein großer Teil der „alten und persistierenden Bedürfnisse" im Fortbestand alter Institutionen untergebracht bleibt. Daraus kann man für die herkömmliche Trennung von Staat und Gesellschaft in rechtstheoretischer Hinsicht eine doppelte Konsequenz ziehen. Zum einen ist die übergreifende Rechtsordnung des staatlichen Rechts auf die Selbstregulierung der verschiedenen gesellschaftlichen Teilordnungen angewiesen. Der „Mangel an stabilen rechtsschöpferischen Leistungen der Moderne", den Schelsky zu konstatieren meint, beruhe gerade in ihrer „revolutionären Zerstörungs- und Neuordnungssucht gegenüber den alten, scheinbar unnötigen und unangepaßten Institutionsformen" 124 . Zum zweiten muß vor der Annahme gewarnt werden, die Funktion eines sozialen Kommunikationssystems könne klar festgelegt werden. Das Weitertreiben der Institutionsbildung verschiebt ständig die funktionalen Kompetenzen, läßt neue funktionale Äquivalente entstehen und modifiziert die Beobachtungsgewohnheiten, die die Funktionsleistungen definieren. So ist beispielsweise die „axiomatisch angewandte Dreiteilung der Gewalten eine funktionelle Gleichgewichtslösung des Staates als Institution", die den heutigen sozialen Kräfteverhältnissen keineswegs mehr entspricht. 125 In der geschichtlichen Entwicklung des „staatlichen Lebens" treten ständig neue „gewichtige Funktionen und damit auch Institutionen und politische Gewalten" auf— man denke an die „Presse und Publizistik", an die „wirtschaftliche Gewalt der Unternehmerschaft oder der Arbeiterschaft in ihren Organisationen". Das 122 123 124 125
Ebd., S. 45 ff. Hier und zum folgenden: Ebd., S. 48 ff. Ebd., S. 50. Hier und zum folgenden: Ebd., S. 53.
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§ 6 Juridische Rationalität bei Helmut Schelsky
Prinzip der institutionellen gegenseitigen Entlastung und des stabilen Verfassungswandels wirft die Frage nach dem Zusammenhang der Rechtsordnung mit den verschiedenen Teilordnungen innerhalb einer Gesellschaft auf. Traditionell wird von einer gegebenen Gesellschaft angenommen, sie verfüge über ein einziges, das Verhalten aller ihrer Mitglieder regelndes, Rechtssystem. Im Gegensatz zu dieser Aufassung geht Schelsky von der Vielzahl von rechtlichen Systemen innerhalb ein und derselben Gesellschaft aus. Das Recht wird nicht ausschließlich der Gesamtgesellschaft und ihrer politischen Organisation zugeordnet. Schelsky weigert sich, eine Monopolstellung des Staates (der politischen Organisation) oder der Gesellschaft in bezug auf das Recht anzuerkennen. Recht ist nach Schelsky — wie wir im folgenden mit Zitaten belegen werden — eine eigentümliche Ordnung für menschliches Verhalten, die in jeder beliebigen sozialen Institution, in jedem beliebigen, innerhalb einer gegebenen Gesellschaft funktionierenden Kommunikationssystem stattfinden kann. Recht wird nach dieser Auffassung auch in Gesellschaften als vorhanden angenommen, die politisch nicht organisiert sind und keinen Staat haben oder in Gesellschaften, die keine Rechtseinheit darstellen 126 . Die Arbeiten einer Reihe von Ethnologen, auf die sich Schelsky stützt, verweisen auf die Tatsache, daß die Gesellschaft als Ganzes nicht der einzige Bezugspunkt sein darf. Die einzelnen Untergruppen, die kleinen funktionierenden sozialen Einheiten müssen ins Blickfeld treten, weil bei ihnen verschiedene Rechtssysteme gefunden werden können, die mit dem auf der Ebene der Gesamtgesellschaft geltenden Rechtssystem nicht übereinzustimmen brauchen. Das gesamtgesellschaftlich geltende Recht erlaubt nur verwegene Verallgemeinerungen hinsichtlich der Rechtssysteme, die in den verschiedenen Untergliederungen der Gesellschaft, etwa in einer bestimmten Familie oder in einem bestimmten Verband gelten. Die in einer gegebenen Gesellschaft bestehende Rechtsordnung erschöpft sich nicht in einem übergreifenden Rechtssystem. Sie stellt vielmehr ein Gefüge, eine Vielzahl von unter- und beigeordneten Rechtssystemen dar. Diesen Gedanken kann man mit Luhmann wie folgt formulieren: In jedem sozialen Kommunkationssystem findet ein gewisses Maß an „kongruenter (zeitlicher, sachlicher und sozialer) Generalisierung von Verhaltenserwartungen" statt. 127 Der Bestand an kongruent generalisierten Erwartungen ist „in einem elementaren Sinne das Recht" des jeweiligen Systems. Es ist dem Rechte nicht begriffswesentlich, daß es vom Staate ausgehe oder durch ihn sanktioniert werde. Schelsky hat keine einheitliche Rechtsdefinition und kein allgemeingültiges Rechtskriterium aufgestellt. Je nach Systemreferenz sowie je nach Entwicklungs- und Differenzierungsphase der Gesamtgesellschaft läßt er eine bestimmte Funktion in den Vordergrund rücken. Zunächst einmal ist das Recht — im Rahmen der allgemeinen Theorie der schöpferischen Versachlichung und Vergegenständlichung der institutionel126 Vgl. hierzu: Leopold Pospisil, Anthropologie des Rechts. Recht und Gesellschaft in archaischen und modernen Kulturen, München 1982, S. 137ff. 127 Hier und zum folgenden: Niklas Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme. In: Ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 1, Opladen 1972, S. 113-136, 122.
XI. Staatliches und gesellschaftliches Recht
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len Bedürfnisbefriedigungen — in dem sozialen Vorgang der Wechselwirkung zwischen den Bedürfnissen und den Institutionen eingebettet. Es ist nämlich ein Kreisprozeß zwischen den in Wechselwirkung zueinander stehenden Motivationsstrukturen des Handlungsbewußtseins und den sozialen Kommunikationssystemen. Motivations- und Bedürfnissynthesen und institutionell-gesellschaftliche Steuerungsimpulse durchdringen sich wechselseitig und führen zur weiteren Institutionsbildung. Was das Recht in diesen Kreisprozessen leistet, ist das Erschaffen eines „Bereiches des bewußten Zweckhandelns". Es ist die „stets bewußte Regelung" und Neugestaltung des institutionell sublimierten Bedürfnisüberbaus durch Zwecksetzung und Zukunftsfestlegung. Dies hat zur Folge, daß wir es — nach diesem Kriterium — in jedem sozialen Kommunikationssystem mit Recht zu tun haben, wenn ein zweckgerichtetes, ordnungs- und zukunftsgestaltendes Handeln auf abgeleitete Bedürfnisse reagiert. So gesehen kann das Recht in jeder beliebigen Institution entstehen. Im Rechtscharakter der Maffia als Institution liegt daher ihre Veränderbarkeit, ihre planende und gründende Funktion für die Gestaltung der Zukunft, ihre Anpassungsfähigkeit gegenüber neuen Umweltanforderungen und Bedürfnissynthesen, in anderen Worten ihre „Rationalitäts- und Zukunftsdimension". 128 Abgesehen von der Zweckgerichtetheit des Rechts in den institutionellen Kreisprozessen, weist auch die erste Leitidee Schelskys, nämlich die „Gegenseitigkeit auf Dauer", daraufhin, daß in vorstaatlichen, politisch nicht zentral organisierten primitiven Gesellschaften ein vorstaatliches Recht vorhanden ist. Die Dauerhaftigkeit von Reziprozitätsbeziehunen stellt die Rechtsstruktur in einer Gesellschaft dar, die über keine übergreifende Stammesorganisation mit Stammesoberhäuptern verfügt 129 . Mit der Entstehung des Staates und der Staatlichkeit stellt sich eine „politische und soziale Verschiedenheit von Herrschenden und Beherrschten" ein 1 3 0 . Das Herrschaftsverhältnis der Verschiedenheit von Herrschenden und Beherrschten ist zunächst einmal reines Machtverhältnis „ohne Rechtsgehalt". Erst die Entstehung der Figur des subjektiven Rechts ermöglicht die Verteilung von Macht auf die einzelnen Individuen und die Herstellung eines Gleichgewichts im Herrschaftsverhältnis durch die Gewährung von personalen Gegenansprüchen. Das subjektive Recht ist eine „denaturierte" Machtquelle, und hier zitiert Schelsky Max Weber, welche „durch die Existenz des betreffenden Rechtssatzes im Einzelfall auch dem zufallen kann, der ohne ihn gänzlich machtlos wäre". Wenn man nun Schelsky optimal auslegen will, darf man die Herrschaftsverhältnisse innerhalb einer Gesellschaft nicht mit einer Staatsherrschaft gleichstellen. Es geht darum, daß das „Recht das erfolgreichste Mittel zur Sicherung der Person gegenüber den Zwängen der Gesellschaft in Form von Herrschaft darstellt" 131 . Dies bedeutet, daß in asymmetrischen sozialen Situationen, wo Autoritätsstrukturen 128 129 130 131
ARS, (§ 5 F N 1), S. 122f. Vgl. hierzu: Pospisil, (§ 6 F N 126), S. 160. Hier und zum folgenden: ARS (§ 5 F N 1), S. 133 ff. Ebd., S. 136.
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§ 6 Juridische Rationalität bei Helmut Schelsky
ausgespielt werden können, sowie in Organisationssystemen, wo eine formale Kompetenzenverteilung im Statut vorgesehen ist, personale Machtpositionen institutionell geschaffen und bereitgehalten werden können. Herrschaftspositionen lassen sich dann in „individualistisch behauptete Rechtspositionen umwandeln" 132 , unabhängig davon, ob es sich um gesamtgesellschaftliche oder um gruppenbezogene Rechtspositionen handelt. Ähnlich ist es mit dem oben dargestellten Konzept der juridischen Rationalität bestellt. Dies bezieht sich nämlich nicht ausschließlich auf staatlich gestützte Verhaltensstrukturen. Es gebe nach Schelsky genügend „Einrichtungen und Praktiken der rechtlichen Konfliktlösung", die nicht an das Entscheidungsmonopol der staatlichen Gerichtsbarkeit und Justiz gebunden seien 133 . Die „Mindest-Drei-ÄmterStruktur" kann auch ein Merkmal von nichtstaatlichen Rechtsinstanzen sein, welche auf diese Weise im Sinne der„rechtsstaatlichen Konfliktlösung und Friedenswahrung" vorgehen können und die offiziell-staatliche Justiz entlasten können. Schelsky denkt dabei an die in wirtschaftlichen Auseinandersetzungen längst praktizierten Schiedsgerichte, an die Betriebsjustiz, an die außerjustizielle Regelung der Ladendiebstähle, an die Einrichtung von Rechtsberatungsstellen usf. Es sei sogar wünschenswert die Einrichtung von in juridischer Rationalität vorgehenden Instanzen zu fördern, die sich „unterhalb der staatlich-offiziellen Justiz — die immer anrufbar bleiben muß — " betätigt und zur gegenseitigen institutionellen Entlastung beiträgt. Aus den obigen Ausführungen kann man die Konsequenz ziehen, daß die Vielzahl von Rechtssystemen in einer gegebenen Gesellschaft dazu führt, daß der einzelne gleichzeitig mehreren Rechtsordnungen angehört. Er ist nämlich all den verschiedenen Rechtssystemen der Institutionen unterworfen, deren Mitglied er ist; somit gelangen bei einer Person gleichzeitig verschiedene Rechte und bei verschiedenen Personen jeweils verschiedene Rechtsordnungen zur Anwendung. Die Mitgliedschaft an Interaktions- und Organisationssystemen und an einem oder mehreren Gesellschaftssystemen bringt eine Kollision von Rechtsordnungen und Systemreferenzen mit sich. Die Kollision von Rechtsordnungen auf der Ebene von Gesellschaftssystemen stellt den Gegenstand einer besonderen Disziplin, des internationalen Privatrechts dar. Die Kollision von Rechtssystemen innerhalb eines einzigen Gesellschaftssystems wird in der Soziologie üblicherweise unter dem allgemeineren Begriff des Rollenkonflikts abgehandelt. Angesichts der Schwierigkeiten, die der einzelne hat, sich im Gefüge der ",organisierten'" und kollektiv oder gruppenbezogen institutionalisierten Rechte zurechtzufinden, tritt nach Schelsky eine neue Schutzbedürftigkeit der Person nicht mehr nur gegenüber dem Staat, sondern auch gegenüber den sozialen Organisationen auf 1 3 4 . Es geht nicht darum, die schon weit fortgeschrittene verfeinerte Rollendifferenzierung zurückzuschrauben. Es handelt sich eher 132 133 134
Ebd. Hier und zum folgenden: JR, (§ 6 F N 1), S. 67. Hier und zum folgenden: ARS, (§ 5 F N 1), S. 137 ff.
XI. Staatliches und gesellschaftliches Recht
233
darum, durch zweckbewußtes Handeln die Institutionsbildung innerhalb schon vorhandener Institutionen zu fördern. Dies hat zur Folge, daß die Person aus der Reflexions- und Selbstbewußtsseinsimmanenz heraustritt und sich ordnungsgestaltend auf die Sozialerwartungen und die institutionelle Steuerung auswirkt. Es gibt also viel zu tun. Man muß sich ernsthaft um die Institutionenstiftung bemühen, und dies nicht nur in der übergreifenden Rechtsordnung, sondern auch in den verschiedenen Teilrechtssystemen, denen man unterworfen ist. Bekanntlich hat man aber oft Wichtigeres und Entspannenderes zu tun, und dafür sind jeweils andere schon bereitgehaltene Institutionen relevant. Es bleibt fraglich, ob Recht immer das geeignete Mittel für das Wohlergehen von Personen in Organisationen ist. Während die Herstellung und Änderung von kongruent generalisierten Erwartungsstrukturen manchmal mühsam vor sich geht, kann man durch die Trennung von formalem und faktischem Verhalten, durch die Trennung von formalen und informalen Rollen Systembedürfnisse, die im Rahmen des offiziellen Rechts der Organisation nicht anerkannt werden können, in informalen Situationen befriedigen 135 . Ein Organisationsmitglied kann sich mit Strategien tolerierter Illegalität helfen, anstatt den schwerfälligen Mechanismus der Rechtsveränderung zu betätigen. Die Entlastungsleistung von offiziell nicht legitimierbaren aber doch institutionell brauchbaren Erwartungen darf nicht unterschätzt werden. Wenn man die Frage nach den funktionalen Äquivalenzen ausklammert, scheinen sich die Möglichkeiten zweckbewußten rechtlichen Handelns in Organisationen nach Schelskys Auffassung vor allem auf das formalisierte Kommunikationsnetz zu beziehen.
135 Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964, S. 268 ff., 283 ff., 304ff. Vgl. ferner: Ph. G. Herbst, Alternatives to hierarchies, Leiden 1976, S. 29 ff.
Dritter
Abschnitt
Rechtsordnung als gesellschaftliche Ordnung § 7 Konstitution der sozialen Ordnung bei Rudolph von Ihering I. Institutionsbegriff Ein Rechtsgelehrter, der das Recht als Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft und die Berechtigung als rechtlich geschütztes Interesse definiert, muß sich über Zweckbezogenheit des positiven Rechts, über Struktur und Funktion der Rechtsnormen und über die Lebensbedingungen der Gesellschaft äußern. Dabei ist er auf die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen in dem Sinne angewiesen, daß er ihre Einsichten in Sachgesetzlichkeiten berücksichtigen und zur Grundlage seiner rechtstheoretischen Problemstellung machen muß. Es wird allgemein angenommen, daß es im Bereich der Jurisprudenz verschiedenartige Aktivitäten gibt. Erstens spricht man von der juristischen verwissenschaftlichten Praxis, zweitens von der juristischen Methodenlehre der dogmatischen Rechtswissenschaft, welche der Rechtsgewinnung durch Verwaltung und Rechtsprechung Vorarbeit leistet und sie im Nachhinein aufarbeitet, indem sie Regeln und Begriffe zur Behandlung der Rechtssätze bildet. Drittens gibt es die Rechtstheorie, die als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft betrieben wird und, auf einer höheren Ebene einsetzend, Abstraktionen von Abstraktionen bildet. Entsprechend müssen auch Sprachstufen unterschieden werden. Neben der Objektssprache des Gesetzgebers gibt es die dogmatische Fach- und Berufssprache des Juristen und die eigentümliche Begrifflichkeit der rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung. 1 Weder die praktische Rechtsanwendung noch die Rechtstheorie können außerhalb der Jurisprudenz betrieben werden. Rechtswissenschaftlich geleitete Handlungen stehen im Gegenstandsbereich sowohl der Jurisprudenz als auch der Soziologie. Letztere kann ihr eigenes Erkenntnisinteresse verfolgend alle rechtsbezogenen Handlungen auf ihre Ersetzbarkeit hin prüfen und sie einem Vergleich mit anderen Möglichkeiten aussetzen. Der Unterschied zwischen Soziologie und Jurisprudenz dürfte nicht in der Tatsache liegen, daß erstere „sollfreie Kausalitäten" feststellt, sondern eher darin, daß der Jurist vor einer Verkürzung des Vergleichsbereichs steht 2 . Er kann bei der Rechtsanwendung keinen Vergleich 1 Werner Krawietz: Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Wien—New York 1978, S. 200 ff., 222ff.
Erkenntnis,
2 Niklas Luhmann, Funktionale Methode und juristische Entscheidung, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, (§ 2 F N 8), S. 273-307.
I. Institutionsbegriff
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mit den durch die Normen ausgeschlossenen Alternativen anstellen. Die verwissenschaftlichte juristische Praxis muß ihre Fachautonomie aufrechterhalten; sie darf aber nicht „sich eine Soziologie und Psychologie auf den Leib schneidern". 3 Der Gesetzgebung, der Rechtsdogmatik und der Rechtsprechung bleibt die Freiheit, die „Tatbestandsfeststellungen" der Soziologie „normativ zu bejahen oder zu verneinen und daraufhin planend zu denken und zu handeln". 4 Die Rechtstheorie ihrerseits setzt sich in den Stand, Realitätsverschätzungen zu vermeiden, indem sie die Ergebnisse und die sachentsprechende Begriffsbildung der soziologischen Forschung aufgreift. Iherings Werk ist dadurch geprägt worden, daß er die Funktion und Wirkung des positiven Rechts in der Sozialwelt untersuchen wollte, ohne jedoch auf soziologisch ermittelte und gesicherte Eigengesetzlichkeiten der gesellschaftlichen Lebenswelt aufbauen zu können. „Gerne hätte ich", sagt er in der „Vorrede" des „Zweck im Recht", den Zweckbegriff „von Andern entlehnt und auf den von ihnen gewonenen Resultaten weiter fortgebaut, aber ich überzeugte mich, daß sie mir dasjenige, was ich suchte, nicht gewährten." 5 So hat er sich genötigt gesehen, das Problem selber in Angriff zu nehmen, und hat eine zweckrationale Gesellschaftsanalyse erstellt, welcher schon „ein Stück Psychologie des Rechts", der „Kampf ums Recht" vorausgegangen war. 6 Er beschäftigte sich intensiv mit der Problematik der Wechselbeziehung zwischen Normengefüge und sozialer Wirklichkeit und begab sich auf diese Weise auf ein Gebiet, auf dem er Dilettant war. Seine Fragestellung hat ihn aus dem Bereich seiner Disziplin herausgeführt. Er benötigte eine soziologische Normentheorie, welche nur von Spencer teilweise erbracht wurde, die ihm aber aller Wahrscheinlichkeit nach unbekannt war. Daher mußte er sie selber aufstellen, um der Frage nach dem Ursprung des Rechts nachgehen und Rechtstheorie sicherer betreiben zu können. Trotz des unvermeidlichen Dilettantismus hat Ihering einen beachtlichen Beitrag zur allgemeinen soziologischen Theorie geleistet. Bezüglich der Darstellung und Würdigung dieses Beitrages wird in diesem Zusammenhang an die einschlägigen Untersuchungen Schelskys angeknüpft, der der Analyse der Texte Iherings den „gegenwärtigen Stand des Faches" Soziologie und die Resultate seiner langjährigen philosophischen Beschäftigung zugrunde legte. „Das inzwischen gestiegene Auflösevermögen" läßt zum Vorschein kommen, „was der klassische Text mit relativ einfachen Mitteln zusammenfügen konnte". 7 Der heutige Stand dient als Hintergrund, von dem sich die Thematisierungen und Problematik Iherings abheben sollen. 3
Schelsky, OdS, (§ 5 F N 115), S. 137. Der Beitrag der soziologischen Analyse zur interdisziplinären Zusammenarbeit besteht nach Schelsky „gar nicht mehr in der Angabe dessen, was zu tun und wie zu entscheiden ist, sondern vielmehr darin, sichtbar zu machen, was sowieso geschieht und was gar nicht zu ändern ist.": Ebd., S. 125 f. 4 Ebd., S. 128 f. 5 Zweck I, Vorrede S. VIII. 6 Rudolph von Ihering, Der Kampf ums Recht, Wien 1872, Vorrede, S. V. Siehe zum folgenden auch: Zweck I, S. IX; Schelsky SWR, (§ 6 F N 104). 7 Luhmann, Arbeitsteilung, (§ 3 F N 1), S. 18 f.
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§ 7 Konstitution der sozialen Ordnung bei Rudolph von Ihering
1. Paradoxie der sozialen Ordnung In seiner Gesellschaftslehre geht Ihering davon aus, daß die Menschen vornehmlich im Eigeninteresse um ihrer Selbsterhaltung willen handeln. Fraglich ist aber, wie Individuen, wenn sie aufgrund eigener Interessen handeln, in einer sozialen Ordnung leben können. Diese Frage liegt seinen Überlegungen zugrunde und ist nichts anderes als eine implizite Formulierung der in der modernen Soziologie explizit gestellten Frage: „Wie ist soziale Ordnung möglich?" 8 Im Kontext der aus dieser Fragestellung entspringenden neuen soziologischen Theorie können die scheinbar antiquierten Ansätze Iherings insofern noch Interesse und Aktualität beanspruchen, als man in ihnen eine immer noch erhebliche Problemlösung erblickt. Es ist die Auffassung Schelskys, daß Ihering Gedankengut vorwegnahm, welches Max Scheler und Arnold Gehlen „später anthropologisch begründeten" und Helmut Pleßner epigrammatisch mit der Formel ausdrückte, daß „das Tier sein Leben lebt, der Mensch aber sein Leben führt". 9 a) Ihering betrachtet die soziale Realität aus der Sicht des Einzelnen. Dabei fragt er sich, wie es möglich ist, daß trotz der ausschließlichen Wahrnehmung von Einzelinteressen, trotz egoistischer Selbstbehauptung also, eine soziale Ordnung entstehen kann. Ihering fragt daher, wie die Welt bestehen kann „beim Egoismus, der nichts für sie, sondern alles nur für sich selber will". Er beobachtet den Gegensatz von einerseits sich rastlos und scheinbar völlig unabhängig voneinander bewegenden „Walzen, Rädern, Messern", die einer „gewaltigen Maschine" gleichen. Andererseits geht er davon aus, daß „ein einziger Plan" das Ganze regiert. Ihm drängt sich die Frage auf, wer den „elementarsten Kräften der Gesellschaft" ihre Bahnen und Bewegungen vorzeichnet, wer sie zur „Ordnung und zum Zusammenwirken" zwingt. 10 Die Frageform setzt schon voraus, daß soziale Ordnung wirklich besteht. Sie formuliert ein „immer schon gelöstes Problem". 11 Die Isolierung des Individuums auf sich selbst ist nicht denkbar und das Anliegen Iherings ist, zu zeigen, durch welche Garantien und welche Mechanismen die Gesellschaft sich das egoistische individuelle Interesse dienstbar macht. Wie Schelsky es formuliert, ist der Mensch für Ihering „in einem besonderen Sinne ein gesellschaftliches Wesen: während das einzelne Tier aus sich heraus lebt, der Gattungszweck in seiner Natur gesichert ist, muß der Mensch den Gattungszweck zum bewußten Ziel seiner tätigen Anstrengungen machen". 12 Eine Ähnlichkeit zwischen der Gesellschaftstheorie Iherings und der 8 Niklas Luhmann, Semantik und Gesellschaftsstruktur. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt am Main 1981, S. 195-285. 9 Hier zitiert Schelsky Dieter Stephanitz, Exakte Wissenschaft und Recht, Berlin 1970, S. 183, Anm. 398., in: SWR, (§ 6 F N 104), S. 55. 10 Zweck I, S. 33, 93 f. 11 Hier und zum folgenden: Niklas Luhmann, Wie ist soziale Ordnung möglich?, (§ 7 F N 8), S. 195 ff. 12 SWR, (§ 6 F N 104), S. 55.
I. Institutionsbegriff
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sich auch aus anthropologischen Grundsätzen speisenden Institutionentheorie Schelskys zu sehen, liegt nahe. Den Vergleich hat Schelsky selbst angestellt. Die Sprache stellt eine zwischen Wahrnehmung und Handlung eingefügte „Scheidewand" dar, welche die menschliche „Umweltentlastetheit" im Gegensatz zur „Umweltgebundenheit" tierischer Handlungen bewirkt. Wort und Benennung vereinfachen die erlebte Wirklichkeit und ermöglichen die „eigentlich menschlische Tätigkeit, das planende Handeln". Die Instinktunsicherheit bewirkt, daß die Hauptaufgabe der Selbsterhaltung und Schaffung einer Wirklichkeit, die die menschlichen Bedürfnisse befriedigt, von der menschlichen Handlungsverfügbarkeit geleistet wird. 1 3 Institutionen beruhen auf „versachlichter und in Akten der Wirklichkeitsschöpfung bestehender Bedürfnisbefriedigung". 14 Ein Minimum an lebensbewahrenden Antriebsrichtungen und die schon gesammelte Erfahrung zwingen zu planendem, werkzeughaftem Handeln, welches befriedigende Problemlösungen ausfindig und zum Kulturbedürfnis macht, indem es sie aufgrund dauernder Bedürfnisbefriedigung ins Gewohnheitsfeld rücken und ihnen normativen Wert erwachsen läßt. Das durch bewußtes, zweckgerichtetes Handeln Geleistete „entlastet sich aus der Bewußtheit und Aktualität in Gewohnheit und Institution" (Hintergrundserfüllung). 15 Diese Aufbauart einer nicht auf Zweckbewußtheit beruhenden Verhaltensschicht entspricht der systemtheoretischen Kategorie der „Reduktion von Komplexität" durch Institutionalisierung, selbst wenn man behaupten würde, sie sei „impressionistisch" erschlossen 16. Das Tier besitzt Instinkte, beim Menschen ist die für die Erfüllung seiner biologischen Grundbedürfnisse unentbehrliche und zur Hintergrundserfüllung und Entlastung des aktuellen Zweckbewußtseins führende planende Tätigkeit vorhanden. 17 Das zu „gemeinsam-übereinstimmendem Erleben" unfähige „Aktualisierungspotential des Einzelbewußtseins" ist zur Ausbildung einer Ablagerung von „kommunikationslos angenommenen Selbstverständlichkeiten" auf die „Unterstellung des Konsenses anonymer Dritter" angewiesen. Unterstellbare, allgemein konsensfähige Erwartungen erzeugen „Verläßlichkeit und Homogeneität der Institutionen" und bleiben trotz entgegengesetzten Handelns außerhalb jeder Kritik und Reflexion. 18 Es würde einen Verlust an konkreter Welt bedeuten, zu behaupten, daß diese Unterstellbarkeit die Institution zu bloßem Bewußtseinsinhalt der institutionell Handelnden macht. Die Realitätsannahmen letzterer müssen zwar in die Ebene eines Untersuchungsgegenstandes überführt werden, aber sie sind mit „sozial und sachlich abstrahierten Konsensunterstellungen" beileibe nicht identisch. Zur Institutio13 Helmut Schelsky, Thomas Hobbes. Eine politische Lehre, (§ 6 F N 87), zitiert HPL, S. 50f., 57f., 88; STV, (§ 5 F N 154), S. 37. 14 Ebd., S. 43. 15 ARS, (§ 5 F N 1), S. 121 f.; HPL, S. 105. 16 Luhmann, Zweckbegriff, (§ 5 F N 17), S. 184, (Anm.). 17 ARS, (§5 F N 1), S. 114f. 18 Luhmann, Institutionalisierung — Funktion und Mechanismus im sozialen System der Gesellschaft, (§ 5 F N 170), S. 30f., 32f.
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§ 7 Konstitution der sozialen Ordnung bei Rudolph von Ihering
nalisierung bedarf es eines zweiteiligen Prozesses, der einerseits konsensfähige Themen durch bindende Entscheidungen festlegt und andererseits diese Entscheidungen durch Sozialisierung und Erwartungsbildung legitimiert. Damit hängt die Generalisierung der Institutionalisierung oder die Befreiung der Konsensunterstellungen von allzu „konkreten Sinnverstrickungen" des Alltagslebens zusammen.19 b) Vor dem Hintergrund dieses Institutionalisierungsbegriffs und dieser Institutionentheorie ist nun der eigentliche Beitrag Iherings zur Theorie der Institution herauszuarbeiten. Nach Schelsky erweist sich eine Dreiteilung der Institutionenlehre als notwendig. Zur „sozial-philosophischen" Betrachtungsweise der Zweckvorstellungen der institutionell Handelnden sollen sich die„sozio-anthropologische Funktionenlehre" im Hinblick auf Bedürfniserfüllung und die „soziologische Organisationsanalyse" der Institution gesellen. Diese Dreiteilung hat Ihering in Ansatz erbracht: Die Organisationsanalyse war für ihn als Juristen vollkommen selbstverständlich, da Satzungen und Mitgliedschaftsbedingungen meistens rechtlich normiert sind und ohnehin das juristische Augenmerk auf sich lenken. Ihering versucht, die gesellschaftlichen Organisationsformen darzulegen, indem er die juristischen Begriffe der „Societät" und des „Vereins" verwendet. Diese lassen sich durch sozialwissenschaftliche Begriffe ersetzen, ohne daß den Gedankengängen Abbruch getan wird. System theoretisch gesehen wird in den organisierten Sozialsystemen die Mitgliedschaft an bestimmte Bedingungen geknüpft. Mitgliedschaftsregeln bedingen Verhaltensanforderungen und Verhaltensmotive. Der Eintretende verpflichtet sich dazu, sich der Satzung im Hinblick auf alle durch sie geregelten Themen zu unterwerfen. 20 Vereine und Sozietäten werden außerdem auch bei Ihering als Bedürfnissynthesen aufgefaßt, und zwar indem der einzelne eigene Ziele verfolgt, der gemeinsamen Zwecksetzung unbewußt oder willens dient. Die Verfolgung gewisser Zwecke übersteigt in dem Maße die Mittel der einzelnen, daß die „vereinte Anstrengung Vieler" unabweisbar wird. Die „Societät" wird zur „einzig denkbaren" Form der individuellen Interessenverfolgung. Für solche Zwecke steht dem Individuum die Wahl zu, entweder gänzlich auf sie zu verzichten oder sie „in Form der Vereinigung mit Mehreren" zu verfolgen. 21 Die Verbände leisten die Vermittlung zwischen menschlicher Subjektivität und sozialer Objektivität und fördern eine gesellschaftliche Differenzierung in strukturell einheitliche Gebilde mit eigentümlichen Gesetzlichkeiten und Regelmäßigkeiten, die Organisationssysteme. Sozietäten und Vereine sind demnach Ihering zufolge einerseits Organisationssysteme mit geregelten Mitgliedschaftsbedingungen und andererseits institutionelle Bedürfnissynthese. Zugleich stellen sie die Art und Weise dar, wie soziale Ordnung überhaupt ermöglicht wird. 19
Ebd. Niklas Luhmann, Interaktion, Organisation, Gesellschaft in: Soziologische Aufklärung, Bd. 2, ebd. (§ 2 F N 5), S. 9-20, 12. 21 Zweck I, S. 209f. 20
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Letztere liegt nicht ausschließlich in der Organisierung, sondern in dem allgemeineren Tatbestand der Vermittlung individueller Subjektivität und sozialer Objektivität. Eine Gesellschaft betrachtet Ihering zunächst einmal in einem juristischen Sinne. Unter diesem Blickwinkel hebt er einen auf die „Errichtung und Regelung" 22 der Gesellschaft gerichteten Vertrag und die „Verfolgung eines gemeinsamen Zweckes" hervor. Darüber hinaus versucht er, abgesehen vom Juristischen, das „Faktische" einer Gesellschaft herauszustellen. Dies wiederhole sich im Leben auch ohne die juristische Form. Das ganze Leben, der ganze Verkehr sei in einem „faktischen, tatsächlichen Sinn" eine Gesellschaft. Dieser Sinn liege darin, daß „jeder, indem er für Andere handelt, auch für sich handelt, und die Anderen, indem sie dasselbe tun, es für ihn tun". Demzufolge definiert Ihering die Gesellschaft im faktischen Sinn dahingehend, daß sie die „tatsächliche Organisation des Lebens für und durch Andere" darstellt. Sie sei die „unerläßliche Form" des menschlichen Lebens. Die Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft ist nicht ausschließlich die Leistung von Organisationssystemen. Sie erfolgt in sozialer Kommunikation. Letztere ist von Ihering wie folgt beschrieben worden: Der Mensch kann nicht aus seiner vorgegebenen Natur heraus leben, sondern er ist (modern ausgedrückt) auf Institutionenbildung angewiesen; er lebt „primär für und durch andere, er lebt und erhält sich selbst, indem er Gesellschaft bildet und erhält." 23 Die Gesetze und Anforderungen der Gesellschaftsbildung stellen zugleich die Art der Selbsterhaltung des Menschen dar. Die Formel Iherings, daß niemand für sich allein da sei, sondern jeder vor allem für andere und durch andere, ist seine sehr oft wiederholte Grundthese, die einerseits den Gesellschaftsbegriff bestimmt und andererseits nach Schelsky eine „entscheidende Wendung in der Position des Liberalismus" bedeutet. Hier werde die altliberale Auffassung von der „Harmonie der individuellen ^egoistischen') und gesellschaftlichen ^altruistischen') Interessen" zwar aufgestellt, aber „in einer kennzeichnenden sozialen Wendung". Die Auffassung, daß die Verfolgung der egoistischen Ziele die gemeinsamen Zwecke der Gesellschaft und des Staates am besten erfülle, wird nun umgekehrt, indem sich der Mensch den gesellschaftlichen Zielen unterwirft und somit „vernünftiger- und langfristigerweise" seine Interessen als Individuum fördert. 24 Somit ist ein gesellschaftliches Ziel aller Einzelhandlungen gesetzt, das Ihering als Kultur bezeichnet. Im Verkehr, d. h. in sozialer Kommunikation, werden die „vier Hebel der sozialen Mechanik" in Bewegung gesetzt; sie bewirken „soziale Handlungen der Gegenseitigkeit" und schaffen „die Lebensbedingungen für den Einzelnen". 25 Dieser These liegen nach dem heutigen Forschungsstand zwei verschiedene Fragestellungen zugrunde: die eine Frage zielt auf Interaktionen zwischen Einzelmenschen, die trotz 22 23 24 25
Hier und zum folgenden: Zweck I, S. 94 f. Schelsky interpretiert Ihering: SWR, (§ 6 F N 104), S. 55. Ebd. Ebd., S. 56.
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ihrer Individualität „hinreichend erwartbar, hinreichend enttäuschungssicher, hinreichend schnell in geordnete Beziehungen treten können"; 26 die andere Frage beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen dem einzelnen und der schon immer konstituierten sozialen Ordnung. Auf diese doppelte Fragestellung reagiert Ihering nicht mit einer petitio principii, d. h. mit der Hinstellung einer schon vorhandenen Gemeinschaft als selbstverständlich, die ein jedes Hinterfragen abschneidet. Er benutzt aber auch nicht die Metapher der Verschmelzung oder Wechselwirkung gegenseitiger Interessen und sieht im vertraglichen Konsens bei weitem nicht den einzigen Modus der Vereinheitlichung der von den zwei Fragen thematisierten Differenzen. Er hat den Kunstgriff benutzt, der darin besteht, von der „Unwahrscheinlichkeit des Normalen auszugehen und dafür Theoriegrundlage zu entwickeln". Seine Problematisierung der zweifellos vorhandenen gesellschaftlichen Ordnung verhalf ihm zur Auflösung der seines Erachtens für sie konstitutiven Mechanismen, die aber keine endgültige, unproblematisierbare Ordnung schaffen können, sondern „Problematik und Reproblematisierbarkeit" mit sich bringen. Durch das von ihm entworfene Modell der sozialen Mechanismen wird der Egoismus in den Dienst fremder Zwecke gestellt und das Leben durch und für die Anderen oder die Gesellschaft geführt. 27 M i t anderen Worten, der „originäre Zugang des Einzelmenschen zur Welt" reicht für ihren „sinnhaften Aufbau" nicht aus. 28 Die mannigfache Gliederung, der Mangel an Homogeneität, die Komplexität lassen sich durch das Ichbewußtsein nicht sinnhaft reduzieren. Der sozial Handelnde kann nicht nur für sich allein Sinn konstituieren, denn er ist dem Mitmenschen, und beide sind dem Beobachter „jeweils in verschiedenen Graden der Anonymität, der Erlebnisnähe und Inhaltsfülle gegeben".29 Da der „subjektiv gemeinte" Sinn Beliebigkeit nicht ausschließt, muß sich der einzelne im eigenen „Erleben und Handeln" auf Sinngebungen anderer stützen und deren Selektionsleistungen übernehmen. 30 Die gegenwärtige Soziologie hat vier Übertragungsmedien von Selektionsleistungen, d. h. von Sinngebungen ausfindig gemacht: Wahrheit, Liebe, Macht und Geld. Es ist interessant, ähnliche Gedankengänge im späteren Werk Iherings im Rahmen seiner Ausführungen über den Wahrheitsbegriff zu verfolgen. Die heutige Forschung bezeichnet denjenigen Sinn als wahr, „dem niemand die Anerkennung verweigern kann, ohne sich aus der Gemeinschaft vernünftiger, wirkliche 26 Hier und zum folgenden: Niklas Luhmann, Wie ist soziale Ordnung möglich?, (§ 7 F N 8), S. 195 ff. 27
Zweck I, S. 77. Niklas Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, in: Soziologische Aufklärung, Bd. 1, ebd. (§ 5 F N 14), S. 126; Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Wien 1932, Frankfurt a. M. 1974, S. 5. 29 Schütz, ebd. 30 Subjektiv gemeinter Sinn im Sinne Max Webers, s. ders., Wirtschaft und Gesellschaft, 1. Halbband, S. 1. Zum Thema Erleben und Handeln s. Luhmann, Soziologische Aufklärung, Bd. 3, (§ 5 F N 84), S. 67-80. 28
I. Institutionsbegriff
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Welt erlebender Menschen auszuschließen".31 Nach Ihering hat das sittliche Postulat der Wahrhaftigkeit seinen Grund und sein Maß in „der praktischen Bedeutung der Wahrheit für die Gesellschaft". 32 Diese liege in der Unmöglichkeit, alles, was wir für wahr halten, selber auf seine Wahrheit hin zu prüfen, und zum anderen in der Notwendigkeit, uns auf von uns ungeprüfte Wahrnehmungen anderer zu verlassen. Bei fortschreitender Differenzierung und steigender sozialer Komplexität ist man in der Gesellschaft darauf angewiesen, „in Ermangelung der eigenen Wahrnehmung" 33 sich mit Aussagen von Fachleuten zu begnügen. Wahrheit wird nach Ihering immer „derivativ" erworben. Die Wahrheit ist immer „aus zweiter Hand". Sie ist mit „Autoritätsglaube(n)" verbunden und impliziert die Tatsache, daß man sich aufgrund der überhöhten Komplexität der „eigenen Prüfung" enthalten muß. Ihering gelangt sogar zu der Paradoxie, daß die „objektive Wahrheit" nicht den Maßstab der subjektiven, sondern daß umgekehrt die subjektive den der objektiven bildet. Wenn auch „Tausende und Millionen" die sogenannte objektive Wahrheit teilen, so können sie sich dafür nur auf ihr „subjektives Urteil" stützen. Jeder einzelne kann nur sein subjektives Urteil in die „Waagschale" werfen, ebenso wie derjenige, der die sogenannte objektive Wahrheit bestreitet und mit seiner Ansicht ganz allein steht. Wahrheit stellt nichts anderes dar als die Bestimmung der Bedindungen, „unter denen jedermann sich Wahrnehmungen verschaffen kann und deren Sinn dann annehmen muß." 3 4 Sie soll die Übertragung von Selektionsleistungen aus zweiter, hundertster, tausendster Hand gewährleisten. 35 Im Zusammenhang mit der Erörterung des Wahrheitsbegriffes sind Ihering sogar Formulierungen gelungen, die der modernen Bestimmung des Institutionalisierungsbegriffes als erfolgreicher Kosensunterstellung und -Überschätzung sehr nahekommen. Nach Ihering beruht unser ganzes Leben, „nicht nur der Geschäftsverkehr", auf Treu und Glauben. 36 Er sieht darin das „Postulat des Glaubens" auf der einen, das der Treue auf der anderen Seite. Dies veranschaulicht er mit der Metapher über den Bau eines Hauses, bei dem der Bauunternehmer sich auf die Qualität des gelieferten Baumaterials verlassen können muß. Wahrheit wird arbeitsteilig sozial in den verschiedenen Sachfeldern konstituiert. Sie ist zumeist nur „Glauben". Sie ist Wahrheit aus zweiter Hand, „die wir auf die Autorität anderer Personen hin als wahr annehmen." 37 Selektionsleistungen werden in bestimmten, spezialisierten Sachaufgaben zustandegebracht und infolge beson31 Hier und zum folgenden: Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, in: (§ 7 FN 28), S. 127 f. 32 Zweck II, S. 597. 33 Hier und zum folgenden: Zweck II, S. 593 ff., 599f. 34 Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, (§ 7 FN 28). Zum Problem der Feststellung von „wahren" Tatsachen im Prozeß s.: H. W. Erdtmann, Der Ersatz der Wahrheit im Prozeß, in: Rechtstheorie 14 (1983), S. 472-504. 35 Zweck II, S. 597. 36 Hier und zum folgenden: Zweck II, S. 601 f. 37 Zweck II, S. 600.
16 Gromitsaris
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derer Institutionalisierungsprozesse mit unterstelltem Konsens unterstützt. Sie werden anschließend „aus zweiter Hand" und trotz „Unmöglichkeit der eigenen Prüfung" von der übrigen Gesellschaft übernommen. Die Wahrheit besteht in der Unmöglichkeit, Informationen überprüfen zu können. So übernimmt der Philosoph beispielsweise die vom „Historiker, Naturforscher, Juristen" gewonnenen Erkenntnisse als wahr, weil er sie nicht überprüfen kann. 38 Ihering thematisiert mit diesen Ausführungen im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert bereits die Tatbestände des Vertrauens und der „überzogenen Information" als unerläßliche Mechanismen der Reduktion sozialer Komplexität. 39 Er sieht sogar in der Zuverlässigkeit der Personen, denen man sein Vertrauen schenkt, „die einzige Garantie der Wahrheit". 40 Er war sich darüber im klaren, wie sehr gesellschaftliches Leben in der Tat auf „Wahrhaftigkeit", d.h. auf Vertrauen angewiesen ist. Wahrheit wird als ein zu den Bedingungen des Lebenkönnens gehörender Vertrauensakt verstanden. 41 Wahrhaftigkeit bildet die „Grundbedingung" des ganzen „menschlichen Getriebes". Ersetzt man die Wahrhaftigkeit durch Unzuverlässigkeit, so wird die ganze „Sicherheit des Lebens" bedroht. Der Bestand der gesellschaftlichen Ordnung wird „in seinen Grundfesten" erschüttert. 42 2. Erwartungsbegriff Diese skizzenhaften Bemerkungen zur Sinnkonstitution und Sinnübertragung in der Gesellschaft wecken das Bedürfnis nach einer weiteren Durchdringung vom Standpunkt der neueren Forschung her, damit das bei Ihering keimhaft Formulierte und Vorhandene hervortritt. In seiner Interpretation der Hobbeschen Lehre vom Geist geht Schelsky davon aus, daß das Denken anfänglich „im Dienste einer Handlungsabsicht steht". 43 Bei steigendem Abstraktionsvermögen wird die Welt „auf die in ihr möglichen Wirkungen von Geschehnissen und ihre Ursachen hin betrachtet". Sie wird in der Vorstellung in „Beziehungen von Handlungen und Geschehnissen" zerlegt und ermöglicht somit die Erschließung des Kausalitätsbegriffes. 44 Letzterer entsteht nämlich dadurch, daß er „von der anthropologischen, d. h. auf Handlung hinweisenden Bestimmung" des Denkens absieht. So vollzieht sich nach Schelsky ein Prozeß der „Entmenschlichung" der Begriffe, des Abbaus der „Fülle" ihrer „anthropologischen Gehalte", welcher dem „Entstehungs- und Entwicklungsgesetz der Wissenschaften entspricht". Die Begriffe verlieren den unmittelbaren Bezug zur 38
Ebd. Hierzu s. das gleichnamige Buch von Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 2. Aufl., Stuttgart 1973. 40 Zweck II, S. 600. 41 Zu Luhmanns Buch über das Vertrauen und zum Urteil Schelskys darüber s. Hermann Lübbe, Diskussionsbeitrag, in: Recht und Institution, (§ 5 F N 187), S. 94f. 42 Zweck II, S. 602. 43 Schelsky, Thomas Hobbes. Eine politische Lehre, (§ 6 F N 87), S. 202. 44 Hier und zum folgenden: HPL, S. 206. 39
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Handlung und werden „sachgerichteter, gegenstandseigentümlicher", denn sie sind nicht „in Analogie zur menschlichen Wirklichkeit" gebildet. 45 Die „erfahrungsmäßigen Handlungsvorstellungen" schlagen ins wissenschaftliche Denken um, die „Natur" wird in „Künstlichkeit" umgeformt, die „Gesetzlichkeit des Handlungs- oder Erfahrungsdenkens" sowie ihre anthropomorphistische Begrifflichkeit treten fortdauernd zurück. 46 Dieser Vorgang der Entmenschlichung der Begriffe ist auch für die gesellschaftstheoretische Entwicklung von höchster Bedeutung. Eine „personabhängige Auffassung von Gesellschaft" unterstellt ein allgegenwärtiges „Personenverhältnis" und wirkt einer differenzierteren Analyse entgegen.47 a) In seinem Bestreben, die begriffliche Handlungsbezogenheit zu verlassen, hat Ihering naturwissenschaftliche und juristische Terminologie herangezogen. Er ist also insofern einer „Kurzschlüssigkeit" 48 anheimgefallen, als er dieses übernommene gedankliche Instrumentarium unmittelbar auf gesellschaftliche Phänomene anzuwenden versuchte. Wird jedoch diese Kurzschlüssigkeit von der Interpretation aufgehoben, so ist es möglich, seine „allgemein sozialwissenschaftliche Aussage herauszupräparieren". 49 In der heutigen soziologischen Theorie lassen sich zwei Ausgangspunkte unterscheiden, und zwar der Ansatz vom sozialen Handeln her und der Ansatz vom Ganzen der Gesellschaft her. Weder der individualistische noch der gesamtgesellschaftliche Erklärungsansatz sind anthropomorph. Sogar das Individuum ist schon in der Philosophie als Bewußtsein und Reflexion zur Kategorie „Der Mensch" generalisiert worden. Im Hinblick auf das analysierende Bewußtsein des Sozialwissenschaftlers steht das Motivbewußtsein des Handelnden vor einem Reflexionsüberschuß. Das individuelle Handlungsbewußtsein sieht sich nicht imstande, die nur anhand der beiden generalisierten Kategorien „das System" und „der Mensch" faßliche Komplexität zu bewältigen. Die heutige Systemtheorie benutzt den Systembegriff als universalistischen Theorieansatz und erstrebt die Herausarbeitung der Einrichtungen und Mechanismen, welche die Komplexität reduzieren und die Sozialordnung ermöglichen. Es ist auffallend, daß Iherings theoretische Ermittlung einer sozialen Mechanik genau an diesem Punkt ansetzt. Das Thema der Ermöglichung von Kommunikation trotz Kontingenz findet in den kurzschlüssigen, handlungsorientierten Begriffen Iherings Anklang. Wenn wir alles, was „weder notwendig noch unmöglich ist", als kontingent bezeichnen, so stellen nach Ihering die durch die sozialen Mechanismen nicht geleiteten Handlungen der Individuen — modern ausgedrückt — etwas „Gegebenes im Hinblick auf mögliches Anderssein", d.h. etwas Kontingentes dar. 5 0 Die vier Hebel Lohn, 45 40 47 48 49 50
16*
Ebd., S. 209. Ebd., S. 210, 215, hier zitiert Schelsky Thomas Hobbes. Luhmann, Wie ist soziale Ordnung möglich? (§ 7 F N 8), S. 250. Ausdruck von Helmut Schelsky, in: SWR, (§ 6 F N 104), S. 56. Ebd., S. 56. Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), S. 152.
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Zwang, Liebe, Pflichtgefühl konstituieren in der Gesellschaft Sinn und setzen ihn gleichzeitig voraus. Nach Luhmann und Schelsky sieht die Sinnkonstitution wie folgt aus: Ein jeder menschlicher Akt eröffnet eine „Mannigfaltigkeit der Anschließbarkeiten", einen „Überschuß von Verweisungen" auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns, welcher „im nächsten Zuge faktisch nicht aktualisiert werden kann" und folglich zur Selektion zwingt. 51 Der Sinn besteht in dem mit Selektionszwang verbundenen Übermaß an Möglichkeiten. Die vier genannten Mechanismen Iherings dienen zur Steuerung dieser Selektion, ohne jedoch die einzigen sinneinrichtenden Prozesse zu sein. Iherings Analyse ist nicht bis zur Thematisierung des eigentlichen Sinnphänomens vorgedrungen, geschweige denn zur Unterscheidung zwischen Sinnsetzungs- und Sinndeutungsakten. Diese finden einerseits in der Verworrenheit des schlichten Dahinlebens und anderenteils in der Beobachtung der Sozialwissenschaften statt. 52 Die Tatsache, daß er ein jedes Verhalten als auch anders möglich betrachtete und mithin die Selektionssteuerung als Bedingung der Möglichkeit der sozialen Ordnung festlegte, führte jedoch dazu, daß seine Theorie „vom Problem der unwahrscheinlichen Normalität zum Problem der gefährdeten Gesundheit" überglitt. 53 Die vier sozialen Hebel werden eingeführt, um den Bestand der Gesellschaft zu retten, seine Theorie weist insofern eine gewisse Ähnlichkeit mit derjenigen Hobbes' auf. Ihre Stärke liegt hingegen vornehmlich darin, daß die Aufrechterhaltung der Gesellschaft nicht im einzelnen, nicht in seiner „im Wege der Selbstkonsultation" gewonnenen Einsicht in die Notwendigkeit der Ordnung liegt, sondern im faktischen Verkehr, also in der sozialen Kommunikation. 5 4 In seinem Bestreben, die Organisation des Verkehrs hervortreten zu lassen, bildete Ihering eine,,Beziehungslehre", in der er Tausch, Vertrag, Gefälligkeit, Entgeltlichkeit, Assoziation, Lohn, Freundschaft und Liebe auf ihre Wirksamkeit hin prüfte. Er unterließ es dabei allerdings, sein Augenmerk auf einen nach dem heutigen Forschungsstand all diesen Verhältnissen zugrundeliegenden Begriff zu richten. Es geht hierbei um den Erwartungsbegriff, welcher in der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Theorie einen zentralen Platz einnimmt. Die Erwartung ist „die Form", in der der einzelne „sich der Kontingenz seiner Umwelt aussetzt".55 Sie ist eine „Orientierungsform", welche das gesellschaftliche, ungewisse Feld anhand der Differenz Erfüllung / Enttäuschung erkundet und den „Zugang zu Anschlußvorstellungen vorstrukturiert". Erwartungen ermöglichen anschlußfähiges Handeln und daher die Selbstreproduktion von Interaktionselementen, von Kommunikation. Sie ermöglichen also letztlich die Bildung von Strukturen. Sie sind kein „innerpsychischer Vorgang", sondern sie entstehen durch „Einschränkung" des 51 52 53 54 55
399.
Ebd., S. 93 f., 95 (Anmerkung). Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, (§ 7 F N 28), S. 7. Luhmann, Allgemeine Theorie sozialer Systeme, (§ 7 F N 28), S. 13. SWR, (§ 6 F N 104), S. 55 f.; Luhmann, ebd. Hier und zum folgenden: Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), S. 362 f., 392, 397,
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jeweiligen Möglichkeitsüberschusses. Was übrig bleibt, „wird dann eben erwartet". In seiner „Theorie der Umgangsformen" bearbeitete Ihering den Begriff, den Maßstab und die Kategorien des Anstandes, der Höflichkeit und des Taktes. 56 Dabei geht es um nichts anderes als um das Aktualisieren von bestimmten Verhaltensmöglichkeiten, die aus einer Mannigfaltigkeit von Anschließbarkeit ausgewählt werden. Diese Umgangsformen können, modern ausgedrückt, ohne die „Sicherung von Anschlußverhalten" gar nicht bestehen.57 Nun wird diese Anschlußfähigkeit zwar als Problem behandelt, aber sie läßt den Erwartungsbegriff nicht zu einem deutlichen Forschungsgegenstand werden. 58 Letzterer bleibt unterstellt. In seiner „Theorie der Sitte" und in der „Theorie der Umgangsformen" versuchte er festzustellen, wie die Regelmechanismen das Problem der doppelten Kontingenz lösen, wie diese Regeln des gesellschaftlichen Umgangs also Kommunikation modalisieren und ermöglichen. In dieser Leistung erblickte er die praktische Nützlichkeit aller Geregeltheitsformen, ihren Vorrat an Gemeinsamkeiten sowie ihre „planvolle Anlage". Ebenso wie die ältere Literatur über „gesellige Konversation" in den Höfen Westeuropas mit ihrer alteuropäischen Begrifflichkeit bezüglich des „Zusammenhangs von Themen und Grenzen" „sensibel und aufschlußreich" war, machen auch die Ausführungen Iherings die Erwartungsrelevanz, nicht aber den Erwartungsbegriff selbst zum „zentralen Gegenstand". 59 Erwartungsbildung und Identifikation von Erwartungszusammenhängen sind von Ihering wohl am deutlichsten in den posthum veröffentlichten Ausführungen über den „Takt im sozialen Sinn" thematisiert worden. Die Erwartbarkeit eines Verhaltens hängt von den „Umständen" ab, 6 0 unter denen dieses auftritt. In der heutigen Terminologie heißt das, daß die Erwartbarkeit nach der jeweiligen Systemreferenz entschieden wird. Ihering nimmt einen Fall an, wo ein Verhalten unbeachtet seiner Systemreferenz als unerwartbar gilt. M i t seiner eigenwilligen Begrifflichkeit bezeichnet er dieses Verhalten als das „absolut Anstößige". Dem setzt er ein Verhalten entgegen, welches je nach Systemreferenz erwartbar oder unerwart56
Zweck II, S. 336ff. Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), S. 418. 58 Zu den Schwierigkeiten der Herausbildung einer angemessenen Begrifflichkeit bemerkt Ihering Folgendes: „ . . . wie manche Einwendungen hätte ich mich aufzuwerfen und zu widerlegen brauchen, die Niemand mehr erheben wird, wenn die Grundanschauungen und Begriffe, welche es erst einzuführen gilt, einmal anerkannt, angenommen und Jedem geläufig geworden sind. Kurz die erste Bearbeitung und Einführung einer Lehre steht unter völlig anderen Gesetzen, als die spätere Behandlung derselben, und dies bitte ich bei der Beurteilung meiner Untersuchungen nicht außer Acht zu lassen - wer mit fertigen Begriffen und Anschauungen operiert, kann und soll sich bei der Darstellung durch andere Rücksichten leiten lassen, als wer sie erst zu begründen h a t . . . " : Zweck II, S. 336 ff. 59 Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), s. die Fußnoten auf den Seiten: 58,209,214, 226, 306, 321, 323, 370, 615. Vor allem s. S. 267. 60 Hier und zum folgenden: Ihering, Der Takt, (§ 4 F N 9), S. 13 f., 16ff. 57
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bar ist. Das bezeichnet er als das „Unpassende, das relativ oder bedingt Anstößige". Da es ihm an abstrakten Begriffen fehlte, versuchte er mit Metaphern diesen Tatbestand zu veranschaulichen. Ein Verhalten kann unter bestimmten Umständen passend sein und sogar eine „Würze des geselligen Verkehrs enthalten". „Gewürze" aber könnten den „Wohlgeschmack von Speisen" erhöhen oder vielleicht verleiden. Es komme darauf an, daß man gleich einer „Köchin" weiß, „was zueinander stimmt". Gerade vom „Mann der guten Gesellschaft" verlange die „feine Sitte", daß er weiß, was erwartbar ist. Man müsse imstande sein, Erwartungszusammenhänge zu identifizieren. „Scherze an der Unrechten Stelle, Vertraulichkeiten gegen oder Mitteilungen an Personen, für die sie sich nicht eignen", sind in Iherings Bildersprache „Salz in den Wein, Senf in die Milch". Die Maßstäbe für die Wahrnehmung und Erkenntnis vom jeweils erwartbaren Verhalten sind unterschiedlich. Sie sind mit der Systemreferenz verbunden. Ihering hebt exemplarisch drei solche Kriterien hervor. „Unpassend kann etwas sein dadurch, daß es sich nicht verträgt: 1. mit dem Zweck des Zusammenseins, 2. mit der Situation, 3. mit dem persönlichen Verhältnis...". Wer in der Kirche, im Theater, im Konzert lärmt, stört die Anderen „in ihrer Andacht oder im Genuß . . . ". Der Prediger oder Redner, der „in einen burlesken Ton verfällt", verhält sich unpassend. Ein Besuch kann sehr ungelegen kommen. Der Gastgeber kann etwa im Umziehen begriffen sein, einen schweren Krankheitsfall im Hause haben, zu einer Sitzung, Gesellschaft, zum Ball gehen wollen. Der Ton der Vertraulichkeit einem Bekannten gegenüber „ziemt sich nicht" einer fernstehenden Person gegenüber. Der Ton, den der „Lehrer dem Schüler, der Vorgesetzte dem Untergebenen gegenüber anschlägt", ziemt sich nicht „im Munde des letzteren". 61 Auf der Ebene des faktischen Handelns „im individuellen und sozialpsychologischen Sinne" würden alle Regelmäßigkeiten und Gebarensmuster als „einheitliche Schöpfung aus einem Guß" erscheinen. 62 Die Sozialisation des Heranwachsenden erfolge durch die Schulung der Orientierungsfahigkeit an jeweils relevanten Erwartungszusammenhängen. Dies geschehe gleichsam durch Einatmung „in der sittlichen Luft schwebender normativer Sporen". 63 Faktische Rechtsverhältnisse, Höflichkeitsformen und Taktstrategien würden gemeinsam bestimmte relevante Erwartungszusammenhänge beinhalten. 64 b) Im Alltagsleben und in der Ausbildung wird gelernt, wie Erwartungskomplexe durch verschieden abstrakte „Identifikationsprinzipien" sinnhaft aufgespürt werden können, indem sie auf konkrete Personen, auf „Rollenauffassun61
Ebd. Ebd., S. 6. 63 Zitiert nach Schelsky, SWR, (§ 6 F N 104), S. 74f. 64 Ebd., S. 74; Zweck II, S. 313: Bei Kindern in den ersten Lebensjahren pflege das Geschlecht „durch die Tracht noch nicht unterschieden zu werden". Aber kaum hätten die Kjnder die Kinderschuhe ausgetragen, so beginne bereits der „Gegensatz der Tracht". Warum? Von einer sexuellen Gefahr könne hier noch keine Rede sein. Der Grund sei darin zu sehen, daß diese „Einrichtung" einen „ersten pädagogischen Zweck" hat. 62
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gen", auf Programme oder auf Werte bezogen werden. Der „Zweck des Zusammenseins", die „Situation", das „persönliche Verhältnis" dienen bei Ihering der Ermittlung von „Erwartungsbündeln" und der „Vorziehenswürdigkeit von Handlungen". Sie treffen eine Unterscheidung zwischen Relevantem und Irrelevantem und definieren somit aus heutiger Sicht Systemgrenzen. Grenzen sind „Grenzen der Erwartbarkeit von Handlungen", die „Relevanzund Irrelevanzregeln" hervorrufen. Ein Verstoß gegen diese Regeln stellt oft einen Versuch dar, das „Themenrepertoire eines Systems" zu erweitern, und zieht meistens Unzumutbarkeit nach sich. In der Welt des faktischen Handelns weiß man jedoch in der Regel, was von anderen und was von einem selbst erwartet werden kann. 3. Zweckbegriff Diese Erwartbarkeit setzt kein Abtasten von innerpsychischen Gefühlslagen voraus. Erwartungen sind soziale Objektivität und keine psychische Subjektivität. Ihering erblickt in ihnen soziale Institutionen. Was jeweils subjektiv erwartet und intendiert wird, spielt in seiner Zweckanalyse gesellschaftlicher Zusammenhänge nicht die entscheidende Rolle. Iherings Teleologie gelingt eine Analyse der sozialen Ordnung, ohne Rückgriff auf die These, daß Zwecke ihren eigentümlichen Charakter im Zweckbewußtsein gewinnen. Sie vollzieht den Übergang von der Intentionalisierung und Mentalisierung der Finalität in Interaktionskontexten zu einer mehr strukturellen Analyse. Die Annahme, daß sich der subjektiv gemeinte Sinn des Handelns im Hinblick auf den Zweck als Vorstellung geschätzter Wirkung des Handelns formieren läßt, ist für die Erklärung sozialer Institutionen unzulänglich. 65 Iherings Teleologie bewirkte nicht, daß die Zweckmäßigkeit als ein vorgegebenes Wesen des Handelns enthüllt wurde. Sie ist eher als heuristisches Denkschema verwendet worden. Die Berufung auf die vorgegebene Zweckmäßigkeit der göttlichen Schöpfung scheint den nötigen Schutz vor dem damals bitteren Vorwurf des Darwinismus geboten zu haben. 66 Im „Zweck im Recht" ist die äquivalenzfunktionalistische Methode, welche von der heutigen Systemtheorie erst ausgearbeitet wurde, in Anspruch genommen worden. Diese Methode funktionaler Äquivalenz war Ihering gewiß unbekannt. Dennoch hat er im Bemühen, die schlicht praktische Bedeutung aller Umgangsformen für den Bestand der Gesellschaft nachzuweisen, die Zweckformel zu Genüge benutzt. Er ist sich darüber im klaren, daß nur wenige Handlungen in der täglichen Lebensführung zweckbewußt, als Bewirken einer Wirkung erlebt werden. Seine Zwecksetzungen sind meistens diejenigen eines Beobachters, der ein Feld vergleichbarer möglicher Ursachen dadurch absteckt, daß er in bezug 65
Hierzu s. Niklas Luhmann, Selbstreferenz und Teleologie in gesellschaftstheoretischer Perspektive, in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt am M. 1981, S. 9-44, 23ff. 66 Zitiert nach Erik Wolf Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl., Tübingen 1963, S. 650.
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auf eine wertvolle Wirkung einen Bereich funktional äquivalenter Mittel entdeckt. Die Funktionsorientierung Iherings, d.h. sein Versuch, die praktische Nützlichkeit der rechtsbezogenen Verhaltensweisen für die Gesellschaft herauszufinden, ist für ihn ein Prozeß und eine Form der Erzeugung von Redundanz 67 gewesen. Er richtete sich auf das objektiv Nützliche. Dabei generalisierte er seine theoretisch, funktional-analytische Zwecksetzung inhaltlich so sehr, daß mehr oder minder offen blieb, welche Mittel den Zweck erfüllen. Er sah sich mithin genötigt, die verschiedensten, sozial etablierten Verhaltensmodelle einem Vergleich miteinander auszusetzen, was natürlich den Umfang seines Werkes übermäßig vergrößerte. „Eine Frage rief die andere hervor". 68 Ihering wurde von der„Sittlichkeit" auf die „Sitte zurückgeworfen". Sodann mußte er feststellen, ob Mode, Tracht und Moral ähnliche soziale Leistungen erbringen wie die Sitte. Er suchte nach Unterscheidungskriterien, um sozial „verwandte Erscheinungen" voneinander abheben zu können. Der Zweck wird an anderer Stelle ausdrücklich als analytisches Denkschema (Klassifikationsprinzip) bezeichnet, welches den Vergleich möglichst heterogener Verhaltensweisen unter einem bestimmten Gesichtspunkt ermöglicht. Feine Sitte, Tracht und etliche Umgangsformen erweisen sich demnach angesichts einer spezifischen sozialen Leistung funktional äquivalent. Der Zweck dient dem späten Ihering zwar als ein „natürliches Klassifikationsprincip" 69 bei allen „praktischen Dingen". Er geht jedoch nicht davon aus, daß bei den verschiedenen sozialen Erscheinungen die einzelnen Zwecke „rein und unvermischt zu Auswirkung gelangen". Bei den verschiedenen Gestaltungen der Sitte „kreuzen, vermischen sich" die Zwecke mit anderen in ein und demselben Punkt. Die klare Zwecksetzung ist eine analytisch-theoretische Leistung, die die „Einheit der natürlichen Bildungen der Sitte" zerreißt, um eine andere Beobachtungseinheit zu errichten. Erst dann kann alles, was die Sitte „für irgend einen bestimmten Zweck" tut, aus den „verschiedensten Winkeln und Ecken" zusammengesucht werden. Der Zweck der „Sicherung der weiblichen Keuschheit" werde beispielsweise durch Gebote der feinen Sitte, die weibliche Tracht und bestimmte Umgangsformen gefördert. Alle drei Erscheinungen sind in diesem Fall sozial äquivalent. Die wissenschaftliche Benutzung des Zweckes als Klassifikationsprinzip und Denkschema bedeutet nicht, daß die soziale Ordnung nach Ihering wissenschaftlich konstituiert wird, oder daß nur eine wissenschaftliche Zwecksetzung möglich wäre. Vielmehr geht es um den Reflexionsüberschuß des analytischen Bewußtseins, welches imstande ist, nicht nur manifeste Funktionen, d.h. bewußte Handlungszwecke, sondern vor allem latente Funktionen zu erschließen. Die Blickbegrenzung der Handlungsperspektive wird somit aufgehoben. 67
Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), S. 406, Ders., Vertrauen, (§ 7 F N 39), S. 3, Anm. 7. 68 Hier und zum folgenden: Zweck II, Vorrede, S. X I , XII. 69 Hier und zum folgenden: Zweck II, S. 292 f.
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Durch „transintentionale Forschung" wird mehr Komplexität erfaßt. 70 Die soziale Ordnung wird nicht wissenschaftlich konstituiert, sondern erkannt. Die Wissenschaft tritt „mit der Leuchte" heran und rückt, was „im dunklen Drange" des Lebens geschaffen wurde, aus dem „Zwielichte des Unbewußten in das helle Licht des Bewußtseins".71 Unter dem Zweckbegriff versteht Ihering einerseits eine analytische Kategorie, die funktionale Äquivalenzen ausfindig machen kann, und andererseits die eigene „Willensbildung", die Zwecksetzung von einzelnen Menschen und sozialen Systemen. Das menschliche Bewußtsein wird in seiner Fähigkeit Zwecke zu intendieren als autonomer Faktor der gesellschaftlichen Realität in Anschlag gebracht. Seine Welt- und Handlungsentwürfe können jedoch nur im Rahmen von etablierten sozialen Institutionen richtig verstanden werden. Zwecksetzung ist von Wissens- und Wollensverschränkungen abhängig. Die Wahl der Vorstellung von Handlungswirkungen ist gesellschaftlich nicht freigegeben. In den sozialen Institutionen wird ein Repertoire von Möglichkeiten des Erlebens und Handelns bereitgehalten, das die Zweckwahl durch Abdunkeln von institutionell irrelevanten Sinnbezügen geradezu leitet. Institutionen bieten der Zwecksetzung den „Begleitschutz durch Latenz" (notwendige Latenz) an, den sie benötigt. 72 Individuelle Zweckwahl ist nur in und durch Institutionen möglich. Dies führt Ihering dazu, den Ansatz vom Ganzen der Gesellschaft her in den Vordergrund zu stellen. Seine bestandsfunktionale Analyse geht dahin, Institutionen auf ihre Bedeutung für die Gesamtgesellschaft hin zu prüfen. Er bezieht ausdrücklich die Stellung des „gesellschaftlichen (objektiven) Utilitarismus", unter Verwerfung des „abgestandenen öden individuellen Utilitarismus". 73 Forschungsabsicht Iherings ist es, wie er es selber aus Anlaß der Untersuchung der Sitte formulierte, „den Sinn und die Bedeutung, welche der Sitte als Institution für das gesellschaftliche Leben zukommt", zum Untersuchungsgegenstande zu machen. 74 Sitte und Umgangsformen werden von Ihering als soziale Institutionen behandelt und einer bestandsfunktionalen Analyse im Hinblick auf die Gesamtgesellschaft unterzogen. Sie sind kein Erzeugnis vom subjektiven sittlichen Gefühl, sie werden geschichtlich sozial hergestellt. Ihre Funktion liegt darin, soziale Kommunikation zu ermöglichen und reproduzierbar zu machen. Man würde sie daher heute als Strukturen bezeichnen. Ihering macht die Sitte nicht zum Gegenstand einer ontologischen Untersuchung. Vielmehr untersucht er sie „in ihrer nachweisbaren socialen Function, als sociale Institution neben Recht und Moral". 7 5 Ihm geht es um die „Bedeutung" von sozialen Erscheinungen „für das Bestehen und Wohlergehen der Gesellschaft". Im Hinblick auf die Umgangsformen etwa 70
Luhmann, Vertrauen, (§ 7 F N 39). Zweck II, S. 335. 72 Luhmann, Selbstreferenz und Teleologie in gesellschaftstheoretischer Perspektive, (§ 7 F N 65), S. 26. 73 Zweck II, Vorrede, S. X X I . 74 Zweck II, S. 278. Die Hervorhebung ist von Ihering. 75 Zweck II, S. 279 f. 71
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kommt es nicht auf „ein bloß individuelles Interesse", auf das Bedürfnis des Einzelnen nach Geselligkeit an. Forschungsgegenstand ist der „Umgang als sociale Institution", der Umgang „als sociale Pflicht". Das subjektive Motiv ist nur im Rahmen dieses institutionellen Zusammenhangs interessant. Das Individuum „dient im Umgang den Zwecken der Gesellschaft". 76 Sitte und Umgangsformen sind institutionelle Verhaltensweisen mit Strukturfunktion, sie ermöglichen die Wiederherstellung und das Weiterlaufen sozialer Kommunikation. „Alle Umgangsformen haben den Zweck, den Umgang zu ermöglichen, zu sichern, zu fördern, angenehm und behaglich zu gestalten". Sie enthalten die „Disciplin des gesellschaftlichen Benehmens", wie sie den Vorstellungen der „massgebenden Gesellschaftskreise dieses Volks und dieser Zeit entspricht." 77 Nicht das subjektive Bewußtsein in seiner Intentionalität und Zweckintendierung hat daher Strukturwert, sondern die jeweilige institutionelle Verhaltensform. Das sittliche Gefühl und die Motivation des Einzelnen sind sekundär. Moral, Sitte, Umgangsformen und Recht haben in ihrer sozial etablierten institutionellen Form den Primat vor dem „subjektiven Gefühl". Nicht dieses erscheint Ihering als die Quelle der Institutionen, „wie die herrschende Theorie lehrt", sondern die Institutionen sieht er als den Ursprung des subjektiven Gefühls. 78 4. Symbolische Generalisierung Man würde in Ihering nicht zuviel hineinlesen, wenn man in diesem Zusammenhang eine Thematisierung des Verhältnisses von Individuum und Institution sähe. Gepflogenheiten, Sitten, Umgangsformen, Höflichkeitsformen Bräuche, die Mode sind Institutionen. Institution ist bei Ihering objektiviertes, Individuum und Gesellschaft vermittelndes Gebarenschema, das bestimmte Handlungskombinationen und Handlungsspielräume darbietet. Interessant ist dabei, daß schon das Vorfeld der sozialen Organisation als institutionsrelevant angesehen wird. Institutionalisierte Verhaltensweise und Mitgliedschaftsrolle werden nicht gleichgesetzt. Das Trauergewand, das Festkleid, die Amtstracht, das Besteck, ein Stuhl, ein Kuß, der Handschlag, die Schrift, eine Rede, das alles ist bei Ihering sozial konstituierter Sinnbestand, Verhaltensformen diktierende Objektivität, also Institution. Die Sinnkonstitution ist weder die ausschließliche Leistung der Organisationssysteme noch der Selbstreferenz des Bewußtseins. Sie braucht auch nicht mit sprachlichen Formulierungen zusammenzuhängen. Diese letzte These hat Ihering im Abschnitt über die „Phänomenologie der Höflichkeit", und zwar im Paragraphen über die „symbolischen Höflichkeitsformen", klar aufgestellt. 79 Es handelt sich um den Tatbestand der „symbolischen Generalisierung" von konkreten Sinn Verstrickungen. 80 Sinnhafte Sach76 77 78 79 80
Zweck II, S. 339. Zweck II, S. 352. Zweck II, Vorrede, S. X. Zweck II, S. 632ff., 641 ff. Hierzu: Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), S. 135 ff.
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verhalte können sich über das Moment hinaus retten, wenn sie Sorge dafür tragen, daß sie als sinnhafte Gegebenheiten bei Bedarf in mehr oder minder andersartigen Situationen, „zu anderen Zeitpunkten, mit möglicherweise anderen Partnern sozialer Kommunikation" wieder verfügbar sind. 81 Komplizierte Erwartungszusammenhänge, die im konkreten Umgang nur schwierig jedesmal aufs neue identifiziert werden können, werden durch symbolische Generalisierung gegenständlich bzw. thematisch erreichbar. Sie werden in all ihrer mannigfaltigen Verschiedenheit einem Sinnbild zugeordnet, das dann die Funktion der Einheitsbildung übernimmt. Die Erwartungsverschiedenheiten werden durch das Sinnbild symbolisiert, sie werden zu identifizierter Erwartungseinheit. Man kann sich demzufolge das mühsame Abtasten und Erkunden des Erwartens in der konkreten Situation sparen, man braucht nur noch das Sinnbild zu identifizieren, das die Identifikation des komplizierten Erwartungszusammenhangs symbolisiert. Unter Symbol versteht Ihering „einen Gegenstand oder einen Vorgang, der zugleich etwas ist und etwas bedeutet." 82 Der Gegenstand des Symbols hat „eine von dem Gedanken, dem er dienen soll, unabhängige Existenz". In der „Symbolik der Höflichkeit" geht es darum, daß einige der körperlichen Bewegungen des menschlichen Körpers „durch die Sitte für gewisse Anlässe aus freien zu gebotenen Acten erhoben werden". Sie sind zu Symbolen gemacht worden, „sie haben hier die Bedeutung von symbolischen Formen". Sie erlangen durch körperliche Bewegung die Bedeutung eines „typischen, die Rede begleitenden oder ersetzenden Ausdrucks gewisser Gefühle und Gedanken". Es handelt sich wohlgemerkt nicht um innerpsychische Vorgänge, sondern um soziale Symbole. Ihering fügt hinzu: „Für uns haben nur diejenigen ein Interesse, welche den Zwecken der Höflichkeit dienen; sie lassen sich bezeichnen als die Höflichkeitssprache des menschlichen Körpers." 83 Die symbolische Generalisierung von Höflichkeitsformen ist demnach keine selbstreferentielle Leistung des Einzelbewußtseins. Sie erfolgt vielmehr gesellschaftlich und stellt sich dann dem Einzelbewußtsein als gesellschaftliche Wirklichkeit dar. Zu den Höflichkeitssymbolen zählt Ihering „die der Person zugekehrte Richtung des Körpers", die Symbolik des „Sitzens und Stehens", die „Verbeugung", das „Geben der Hände", den „Kuss" und die Symbolik „von Zeit und Raum". Dies alles sind Sinnbilder, die komplexe Sinnverstrickungen einheitlich symbolisieren und als schon identifizierten Erwartungszusammenhang bereit halten. 84 „Jemanden stehen zu lassen, während man selber sitzt, enthält eine Ungezogenheit, man behandelt ihn wie einen Diener oder als einen geringen 81
Ebd., S. 136. Hier und zum folgenden: Zweck II, S. 641 f. 83 Zweck II, S. 645. 84 „ . . . es gilt als unschicklich und unter Umständen als Beweis der Geringschätzung, Missachtung, Jemandem mit abgewandtem Körper etwas zu sagen oder zu reichen..." Verbeugung, das Abnehmen des Huts, die leichte Neigung des Huts symbolisieren Achtung und Verehrung. Zu den Höflichkeitsformen der Achtung gehört auch das Geben der Hände: Zweck II, S. 645, 652 ff. 82
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Mann, gegen den man die Rücksichten der Höflichkeit nicht zu beobachten braucht." 85 Der Sinn ist in diesem Falle einerseits situativ konkret. Es sind konkrete Kommunikationspartner, bestimmte Themen und bestimmte räumliche und zeitliche Verhältnisse gegeben. Insofern ist er unwiederholbar und unübertragbar erfaßt. Andererseits wird er aber infolge symbolischer Generalisierung auf Einheiten bezogen, die auch unter anderen Umständen wieder zugänglich oder verfügbar sind. Durch Stehen oder Sicherheben kann Achtungserweisung in das jeweils konkrete Erleben und Handeln eingeführt werden. Die Wiederzugänglichkeit des Sinnbildes bedeutet das Wiederverfügbarsein von Sinnverweisungen, deren Identifikation allgemein bekannt, vertraut und gesichert ist. Kernpunkt der Gesellschaftstheorie Iherings ist weder der individuelle Handlungszweck noch die integrierende Kraft des Konsenses. Zentralen Stellenwert hat vielmehr der Begriff der sozialen Institution. Er ermöglicht gesellschaftliche Integration trotz Abwesenheit von Konsens und trotz Konfliktträchtigkeit menschlicher Beziehungen. In seinen Ausführungen über Sitte, Anstand und Höflichkeit versteht Ihering unter Institution die Festlegung und Stabilisierung von Bedingungen für die Zuteilung und Übertragung von Sinnleistungen. Diese Bedingungen sind mehr oder minder erwartbar vorformuliert und brauchen nicht individuell und fallweise erfunden zu werden. Höflichkeitsbeweise, Ehre, Achtung und Mißachtung fallen einer Person ohne ihr Zutun zu und werden ihr unter bestimmten Bedingungen abgesprochen. Höflichkeit, Achtung und Ehre sind keine Eigenschaften, sondern Zuteilungen. 86 Ihre Zuteilungs- und Entziehungsbedingungen können gesamtgesellschaftlich generalisiert oder aber systemrelativ festgelegt sein. Achtung und Ehre brauchen nicht „erst erworben zu werden". Sie können aber vom Individuum „verwirkt" werden. Der Einzelne kann „die abstrakte Präsumtion seines sozialen Werthes durch den concreten Gegenbeweis seines Unwerthes" 87 entkräften. Ihering entwickelt eine Kasuistik für systemrelativen Achtungserweis und Achtungsentzug. Als „Anlässe und Gegenstände für die Beachtung der Person" führt er an. 1. Das bloße Auftreten der Person innerhalb unseres Gesichtskreises. 2. Die Begegnung mit der Person auf der Straße. 3. Den Besuch. 4. Die Frage. 5. Die Rede. 6. Das Urteil der Person. 7. Das „Selbstbestimmungsrecht" der Person. 8. Die „Zeit des Anderen". Bei jedem dieser Anlässe ist 85
Zweck II, S. 648. Niklas Luhmann, Soziologie der Moral, in: ders. und Stephan H. Pförtner (Hrsg.), Theorietechnik und Moral, Frankfurt 1978, S. 8 -117 bezieht den Begriff der Achtung und die Bedingungen von Achtungserwerb und Achtungsentzug auf Moral; Ders., Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), S. 121, 215; vgl. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, (§ 5 F N 100), S. 748 f., 869 f., 871 f.: So kann „die gleiche Handlung gut oder bos" sein, „je nach dem Zusammenhang". Nach Ulrichs Theorie sind die moralischen Werte nicht absolute Größen, sondern Funktionsbegriffe. Moral scheint Zurechnungsregeln bereitzuhalten, die die „Zuordnung jedes Augenblickzustandes unseres Lebens zu einem Dauerzustand" leisten. 86
87
Zweck II, S. 516.
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Beachtung oder Verachtung der Person möglich, ohne daß subjektive Gefühle beteiligt werden. In jedem dieser Fälle sind die Formen vom Achtungserweis institutionell festgelegt. Die Frage wird beachtet, „indem wir eine Antwort ertheilen"; die Rede, indem wir dem Redenden zuhören; das Urteil, indem die eigenen abweichenden Behauptungen „in die Formen des subjektiven Meinens" gekleidet werden. Der Zeit des Anderen wird durch Pünktlichkeit Beachtung geschenkt.88 Die Zuteilung von Sinnkomplexen hängt nicht von der Bewußtseinsintention und der Motivationsstruktur des Einzelnen ab. Bei den „Höflichkeitsformen der Achtung" geht es nicht um die Anerkennung des sozialen Wertes der „concreten Person". 89 Die „Höflichkeitsbeweise der Achtung" betreffen nicht das Individuum, sondern die Person im Individuum. Das konkrete individuelle Moment in der Achtung kommt nur „als äusserer Anlass für die Erweisung der Achtung und sodann als Ausschliessungsgrund des Anspruchs darauf in Betracht". Bezüglich der eigentümlichen Formen des „sozialen Wohlwollens" und insbesondere der „socialen Theilnahme" bemerkt Ihering, daß wir es nicht mit einem „inneren psychologischen Vorgange zu thun" haben. Es handelt sich vielmehr um die schlichte „Aeusserung der Theilnahme". Diese ist durch die Höflichkeit „zu einer socialen Pflicht gestempelt". Ihering unterscheidet ausdrücklich zwischen der „äusseren oder socialen im Gegensatze der inneren oder psychologischen" Teilnahme. „Wie immer" sei auch hier das „subjektive Motiv" von dem „objektiven Zwecke der Einrichtung" genau zu unterscheiden. Es kommt auf die Teilnahme als soziale Institution an, d.h. auf die sozial etablierten Voraussetzungen der „äusseren Bezeugung der Theilnahme". 90 Die Zuteilung von Selektionsleistungen unter sozialäußerlich verfestigten und etablierten Bedingungen ist kein Produkt ausdrücklich oder stillschweigend konsentierten Verhaltens. Sie hat auch nicht unbedingt sozialen Frieden zur Folge. Ganz im Gegenteil können die institutionalisierten Verhaltensmuster zur Verfeindung und Abstoß eingesetzt werden. Höflichkeit und Anstand müssen in ihrer Konfliktträchtigkeit erkannt werden. 91 Der Begriff der sozialen Institution betrifft bei Ihering eine soziale, auf Dauer gestellte Objektivität, die unabhängig von den jeweiligen Kommunikationspartnern existiert und zu verschiedenen Zeiten in Anspruch genommen werden kann, um aus der Auswegslosigkeit der doppelten Kontingenz herauszuführen. Im Interaktionssystem ist es nicht nötig, daß Verhaltensorientierung erst an einem bereits vollzogenen Verhalten anderer erfolgt. Die Verfügbarkeit und Zugänglichkeit institutioneller Verhaltensschemen bietet den Ausweg aus der Unmög88
Zweck II, S. 50811.: „Casuistik und Zurückführung der Achtung auf den Gesichtspunkt der Beachtung der Person." 89 Hier und zum folgenden: Zweck II, S. 513 f. 90 Zweck II, S. 550f., 624f. 91 Zweck II, S. 555: Eine praktisch-historische Illustration dazu gewähre der bekannte Vorfall, der sich zwischen Metternich und Napoleon I. abspielte. Metternich hob den Handschuh, den Napoleon absichtlich fallen ließ, „um ihn zum Bücken zu nöthigen", nicht auf.
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§ 7 Konstitution der sozialen Ordnung bei Rudolph von Ihering
lichkeit des wechselseitigen Voraussehens des Verhaltens an. Das Wiederzugänglichsein der Konstellationen von Verhaltenserwartungen ermöglicht den Umgang mit Unbekannten und den Entwurf von streitentfachenden Strategien. Eine plötzliche Abweichung vom Verhaltensschema kann die Anderen „auf dem falschen Fuß erwischen", sie hereinlegen und dazu nötigen, mit einer anderen stereotyp verfügbaren Erwartungskonstellation zu operieren. 92 Im Hinblick auf die bewußte Lebensführung des Einzelnen wirken die sozialen Institutionen entfremdend. Standardisierte Verhaltenserwartungen gehören für die um die Erfüllung von problematischen, ungesicherten Erwartungen ringende Person nicht zum eigentlichen Sinn des Lebens. Sie stellen trivialisierte, formal-äußerlich gewordene Verhaltensorientierungen dar, die als Abfall und Erniedrigung der Person empfunden werden. Ihering hatte diesen Tatbestand des Gleichsetzens der gesicherten, eingespielten Institutionalisierung von sozial konstituierten Erwartungen mit der Trivialisierung oder Banalisierung von Bedürfniserfüllungen und Verhaltensweisen bereits im Sinne Schelskys thematisiert. Er hat dies am Beispiel des Scheinwesens und der Unwahrheit der Höflichkeitsformen veranschaulicht. An der Äußerlichkeit der Höflichkeit kann die Wahrheitsliebe der Person Anstoß nehmen. Die Banalisierung der Höflichkeitsformen verletzt, könnte man sagen, die „Ehrlichkeit, Biederkeit, Geradheit" eines wahrheitsliebenden Mannes. 93 Ihering löst das Problem, indem er darauf hinweist, daß die eigentliche Leistung der Höflichkeitsformen nicht im Ausdruck wahrer Gefühle, 94 sondern in der Ermöglichung und Erhaltung sozialer Kommunikation liegt. Die „üblichen Höflichkeitsphrasen" gelten nicht dem Individuum, sondern der „abstracten Person". Sie können daher „gegen alle Personen ohne Unterschied" gleichmäßig angewandt werden. Wer Höflichkeitsbeweise „für baare Münze" nimmt, sei „gänzlich Unkundig" und erblickt in „Rechenpfennigen Goldstücke". Dem Kundigen gibt die Höflichkeit den Schein „nicht für Wahrheit, sondern für Schein aus". 95 Mit diesem Sachverhalt der Trivialisierung von institutionalisierten Verhaltenserwartungen hängt die Frage nach dem institutionellen Wandel zusammen. Es fragt sich nämlich, ob das veränderte Bewußtsein des Einzelnen zu einer Verschiebung institutioneller Formen beitragen kann, ob die Bagatellisierung von beispielsweise Höflichkeitsformen zu ihrer Verabschiedung führt. Hierbei spielt die Möglichkeit, Erwartungskonstellationen in bezug auf bestimmte Situationen und Themen zu normieren, eine grundlegende Rolle. Institutioneller Wandel und Tatbestand des Normierens sind zusammen zu untersuchen.
92 Zu dieser Spielerei mit der Voraussehbarkeit und den Erwartungen der anderen s. Heinrich Popitz, Die normative Konstruktion von Gesellschaft, Tübingen 1980, S. 5 f.; Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), S. 215 f. 93 Zweck II, S. 574. 94 Ebd. 95 Zweck II, S. 627f.
II. Elemente des Normbegriffs
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I I . Elemente des Normbegriffs
In den sozialen Institutionen im Sinne Iherings wird Verhalten standardisiert. Fraglich ist, ob diese Standardisierungen des Verhaltens auch normatives Gewicht haben, und welches das Kriterium der Norm im allgemeinen ist. Im Alltagsleben erfolgt die Verhaltensorientierung aufgrund der Sinnkonstitution in den Institutionen. Beim Einzelnen findet eine subjektive Aneignung der institutionellen Verhaltensformeln statt. Sie braucht jedoch nicht bewußt zu sein. Gewohnheit und Übung spielen in diesem Fall eine gewichtigere Rolle als das Bewußtsein. Es ist sogar eine besondere institutionelle Leistung, daß das Handlungsbewußtsein von möglichst vielen angewöhnten und vertrauten Sinn Verweisungen entlastet wird. Das hat Schelsky als institutionell gesicherte Hintergrundserfüllung von Bedürfnissen oder als Entlastung des Bewußtseins durch Institutionen bezeichnet. 1. Reflexionsüberschuß
und Forschungsgegenstand
Der Einzelne macht sich nach Ihering eine Sitte durch Brauch und Übung zu eigen. Die Übung bewirkt eine Entlastung. Sie vereinfacht das Handeln in zunehmendem Maße und verringert den „erforderlichen Kraftaufwand des Willens". Schließlich bedarf es nicht einmal der „Anpassung der Willenskraft" und des „bewußten Entschlusses". Man handelt, wenn „die Situation des Handelns" einmal an einen herangetreten ist. Bewußtseinsentlastung macht das Handeln „zur zweiten Natur". Dies Phänomen, das Ihering als das „der Gewohnheit" bezeichnet, wiederholt sich „ebensowohl im Leben der Völker wie m dem der Individuen". 96 Die institutionelle Bewußtseinsentlastung bringt es mit sich, daß der Handelnde von relativ wenigen, sein Verhalten steuernden Sinngehalten Kenntnis hat. Dies bedeutet, daß auch Normierungen vom Einzelbewußtsein nicht hinreichend erkannt werden können. Ihering hat das Normbewußtsein deswegen als Kriterium der Norm ausdrücklich abgelehnt. Die Verhaltensorientierung beruht auf der institutionellen Sinnkonstitution. Das Normbewußtsein spielt dabei eine nur sekundäre Rolle. „Jeder Gebildete" kennt insofern die Normen des Umgangs, als er sie „praktisch zur Anwendung" bringt. Ihering greift hier wieder auf den Vergleich mit der Sprache zurück. Man kennt die sozialen Regeln wie die meisten ihre Muttersprache. Man spricht, ohne sich selbst nur einmal der elementaren Regeln klar bewußt zu sein. Im sozialen Leben erstreckt sich das Bewußtsein nicht weiter, „als es durch Verstösse geweckt wird". Die unauffällige Normbefolgung nimmt man nicht wahr. Das „Positive" wird erst durch das „Negative der Erkenntnis vermittelt" 96 Ihering bemerkt, daß dieser Tatbestand schon von den Römern erkannt und im Bezug auf das römische Recht zum Ausdruck gebracht worden sei: „Der usus der Lateiner, welcher ebenfalls das Zueigenmachen in sich schließt: Uebung eines Rechtssatzes = usus longaevus, in usu esse, d. h. Begründung desselben auf gewohnheitsrechtlichem Wege, eines Rechts = usus, usu-capio d.h. Begründung desselben durch Ersitzung.", in: Zweck II, S. 21. Anm.
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§ 7 Konstitution der sozialen Ordnung bei Rudolph von Ihering
— wie im „Mythos vom Sündenfall". Selbst dieses „Kennen" ist aber „dürftig". Einerseits liegt es nicht in „theoretischer Einsicht", sondern in „praktische Anwendung". Andererseits betrifft es nur die Regeln, die „auf der Oberfläche" des aktuellen sozialen Lebens liegen. Was auf „längst überwundenen Culturstufen" als anständig galt, ist heute so „gänzlich unmöglich" geworden, daß man die Regeln, die uns dagegen schützen, „faktisch nie mehr wahrnimmt". Dies liegt nach Ihering daran, daß frühere „Niederschläge" des gesellschaftlichen Lebens von „späteren Bildungen" überlagert und dadurch obsolet werden. 97 Ihering geht mithin davon aus, daß das Normbewußtsein eher als ein Sanktionierungsbewußtsein oder als ein Wissen um soziale Sanktionsbereitschaft zu bezeichnen ist. Eingespielte Normen, die praktisch angewandt werden, macht sich der Handelnde nicht bewußt. Sie können sich nur dem wissenschaftlichen Bewußtsein und der theoretischen Einsicht erschließen. Das Motivbewußtsein und der Erlebnishorizont des einzelnen Individuums lassen sich durch die Sanktionsandrohung leiten. Sie können und brauchen die für die Verhaltensorientierung unerläßlichen Normen nicht zu kennen. Entscheidende Normen sind gerade deshalb gesichert, weil sie unreflektiert angewandt werden. Der individuelle Erlebnishorizont steht jedoch vor einem Reflexionsüberschuß des analytischen Denkens, das erheblich mehr Komplexität erfassen kann. Dieses wissenschaftstheoretische Problem des Verhältnisses von analysierendem Bewußtsein des Beobachters zum Motivbewußtsein des Handelnden hat Ihering hinsichtlich der Normerkenntnis thematisiert. Er beanstandet die Tatsache, daß sich die Wissenschaft seiner Zeit die sozialen Normen und Institutionen nicht angelegen sein ließ und daß es daher an einer analytischen Begrifflichkeit vollkommen fehlte. Es ist seine feste Überzeugung, daß er mit seinen Ausführungen im zweiten Band des „Zweck im Recht" „für die Wissenschaft ein Gebiet erschlossen" hat, das sie bisher nie betrat. Durch die Ausbeute, die er gewonnen habe, habe sich der Aufenthalt auf diesem Gebiet vollauf bezahlt gemacht. Die Redundanz, der Reflexionsüberschuß des analytischen Bewußtseins gegenüber dem Handlungszwang des Einzelnen, müßte zunächst einmal wissenschaftlich ermöglicht werden. Dies geschah durch die theoretische Vergegenständlichung und Thematisierung der „banalen" sozialen Wirklichkeit. 98 Die Untersuchungen, die Ihering in dieser Richtung angestellt hat, gehören für ihn zu den ergebnisreichsten seines ganzen Lebens. Die Genesis der neuen Wissenschaft war mit heftigen Geburtswehen verbunden. Er sah sich genötigt, „im Dienste der Wissenschaft" eine Arbeit auszuführen, die „nie beschafft worden ist, und die doch gethan werden" mußte. In seiner langjährigen Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit versetzte er sich „in die 97
Zweck II, S. 330 f. Zum Bezug vom Prozeß der Vergegenständlichung eines Gebiets des Seienden und der Herausbildung einer neuen wissenschaftlichen Begrifflichkeit oder der Genesis einer Wissenschaft s. den zweiten Paragraphen des Buches: Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, Frankfurt a. M. 1977, S. 17-35: „§ 2 Allgemeine Bedeutung der Grundlegung einer Wissenschaft." 98
II. Elemente des Normbegriffs
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niedersten Regionen des täglichen Lebens", suchte das Material zur Lösung seiner Aufgabe und begann ihm eine „ebenso emsige, unverdrossene und eindringliche Beachtung" zuzuwenden, wie er bis dahin nur bei den höchsten Problemen aufzubieten gewohnt gewesen w a r . " Aus diesen Mühen und Anstrengungen erwuchsen die Grundbegriffe, die das neue Wissenschaftsgebiet umgrenzten. Ihering ging es dabei um Redundanzerzeugung. Wollte er soziale Verhaltensregelmäßigkeiten und Normierungen hinreichend untersuchen, so mußte er sich der Ausbildung von Grundbegriffen widmen, die den Erlebnishorizont des Einzelnen sprengen und mehr Komplexität erfassen können. Die neue analytische Begrifflichkeit besagt zugleich die Vergegenständlichung eines Gebiets, das nun als gegenständlicher Zusammenhang in verschiedenen Hinsichten befragt, d.h. als Thema festgesetzt werden kann. Ihering gelang die Erzeugung von theoretischem Reflexionsüberschuß. Es ist kennzeichnend für die Unterschätzung der systematischen Bedeutung des Werkes Iherings, daß ihm gerade die wissenschaftstheoretische Redundanzerzeugung als Fehler, als Weitläufigkeit vorgehalten worden ist. Dieser Bemängelung, welcher sein Werk in der Tat ausgesetzt worden ist, versuchte er vorzubeugen. Deshalb stellte er die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Reflexion und Theoriebildung für die Beobachtung von sozialen Normen und Institutionen besonders heraus. Er rügt die Dürftigkeit der wissenschaftlichen Anstrengungen auf diesem Gebiet. „Sache der Wissenschaft" wäre es nach seiner Auffassung gewesen, auch hier wie überall das „bloße Kennen zum Wissen" zu erheben. Aber die Aufgabe für sie lag, so vermutet er, zu tief unter dem Niveau des „wissenschaftlich Wissenswerthen". 100 Ihering vertritt die Auffassung, daß die soziale Wirklichkeit weder vom Motivbewußtsein noch von der empirischen Beobachtung her hinreichend erfaßt werden kann. Es bedarf der Theoriebildung, des Schemas, mit Hilfe dessen die Beobachtung erfolgt. Anderenfalls fällt die „literarische Behandlung des Gegenstandes fast ausschliesslich dem literarischen Gewerbe, den Verfassern von Complimentirbüchlein und Anleitungen zur guten Lebensart" anheim. Kasuistische empirische Beobachtung und ideologischer Wunsch sind keine hinreichende Theoriegrundlage. Ihering begibt sich nicht auf die Suche nach „dürren Regeln zum Zwecke der äusseren Abrichtung", sondern er versucht „in den Sinn derselben einzudringen" 101 . In dem Lebensgebiet der 99 Die „Mühen und Anstrengungen", die Ihering dieser Aufgabe widmete, zählte er zu den schwersten Prüfungen seines ganzen Lebens. Er sei dem „Drucke des Kleinen und Kleinsten", das er zu untersuchen hatte, „fast erlegen". In: Zweck II, Vorrede, S. X I I I . 100 „Soll die Wissenschaft untersuchen, warum wir uns grüßen, warum wir uns erheben, wenn Jemand ins Zimmer trifft, warum wir uns nicht Du, sondern mit Sie anreden? Das sind Nichtigkeiten, Aeusserlichkeiten, um die sich die wissenschaftliche Erkenntnis nicht zu bekümmern hat." In: Zweck II, S. 332. 101 Es ist interessant, daß Ihering die Literatur des siebzehnten Jahrhunderts heranzieht. Das hat er auch noch mit der modernen Forschung gemeinsam, s. ζ. B. die Studien Luhmanns in: Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 1, 2. Eine „hervorragende Stellung" nimmt hier nach Ihering der Abbé de Bellegarde ein. Er scheine sich den „Aufbau einer Theorie des Umgangs" zur Lebensaufgabe gemacht zu haben, wie die
17 Gromitsaris
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§ 7 Konstitution der sozialen Ordnung bei Rudolph von Ihering
Umgangs-, Höflichkeits- und Anstandsformen erblickt er „einen dankbaren Stoff zum tiefern Eindringen, zum philosophischen Denken". Empirisch verankerte theoretische Reflexion stellt für ihn das einzelne zuverlässige Beobachtungsmittel von Normen dar. 2. Das Normieren Eine ausdrückliche Normdefinition hat Ihering nicht geliefert. Er hat sich vielmehr über den Zusammenhang zwischen den sozialen Normen und der Sanktionierungsfähigkeit sowie der Sanktionsbereitschaft ausgelassen. Es fragt sich, ob die Sanktionsandrohung bei Ihering als das Normkriterium zu bezeichnen ist. Unter Sanktion ist allerdings nicht nur die staatliche Reaktion auf eine Normübertretung zu verstehen, sondern auch der gesellschaftliche Druck im allgemeinen. Dies wird an der Irrigkeit der allgemeinen These deutlich, Recht und Staat bezögen sich auf äußeres Verhalten, während Moral die innere Gesinnung betreffe. Nach Ihering liege die „gänzliche Irrigkeit" dieser Lehre außer Zweifel. 102 Äußere Handlung und innere Gesinnung seien beide sowohl für das Recht als auch für die Moral unentbehrlich. Die Theorie sei „nach beiden Seiten hin" verkehrt. Zur Moral hin, indem sie „das Moment des Zwanges übersah". Dies sei auch ihr unerläßlich. Allein bei ihr nehme es eine „andere Gestalt an als beim Recht, die des „gesellschaftlichen Zwanges im Gegensatz des staatlichen". Zum Recht hin sei diese Theorie falsch, weil sie das „innere Moment der Gesinnung" aus der Acht lasse. Ohne dieses Moment wären Gesetze nur dann „wirksam", wo der „Büttel in Sicht" wäre. Anderenfalls wären sie „stets ohnmächtig". Die gesamte Gesellschaft würde ohne Ausnahme zu der Rechtsordnung „dieselbe Stellung einnehmen" wie jetzt ein „Bruchtheil" derselben, der nur durch die Furcht der Strafe „im Zaume gehalten wird: das Verbrechentum". Sanktionsfähig im weiteren Sinne sind alle Normen. Soziale Kontrolle und sozialer Druck manifestieren sich auch sprachlich. Einem Verhalten wird eine „negative Ausdrucksform" beigelegt. Ihering erblickt in der Tatsache, daß die Sprache „von den Tugenden Negationen bildet", eine kontrollierende soziale Instanz, die sanktionierenden Druck ausübt. Für die gesellschaftliche Sanktion reicht die Negation vollkommen aus. Der Begriff des „Sittlichen" bedarf der „positiven Charakteristik", für den des „Unsittlichen" reiche die negative aus. 103 Negative Ausdrucksformen oder Lasterbezeichnungen werden bei institutionell angebrachten Gelegenheiten verwendet, um Menge der von ihm herrührenden Werke zeige. Ihering zitiert eine Reihe von Werken dieses Autors. In: Zweck II, S. 333 f., Anm. 102 Zweck II, S. 10f. 103 Zweck II, S. 78 ff. Beispiele: „Recht-Unrecht, Ordnung-Unordnung, FriedenUnfrieden, Sitte-Unsitte, Sittlichkeit-Unsittlichkeit, Anständig-Unanständig, TugendUntugend, Ehre-Ehrlosigkeit, Dankbarkeit-Undankbarkeit, Barmherzigkeit-Unbarmherzigkeit, Treue-Treulosigkeit (oder) Untreue, Gerechtigkeit-Ungerechtigkeit, Friedfertigkeit-Unfriedfertigkeit, Verträglichkeit-Unverträglichkeit, Liebe-Lieblosigkeit, SchamSchamlosigkeit (oder) Unverschämtheit."
II. Elemente des Normbegriffs
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Empörung, Enttäuschung und sanktionierende Kontrolle zum Ausdruck zu bringen. Gesellschaftliche oder staatliche Sanktionsbereitschaft ist bei Ihering kein Normativitätskriterium. Die Norm beruht nach ihm nicht auf Tatsächlichkeit. Ihre verbindende Kraft liegt nicht in der tatsächlichen Befolgung, sondern darin, daß dieselbe trotz Nichtbefolgung erhalten bleibt. Diesen Tatbestand verdeutlicht Ihering, indem er bedingte und absolute Bindung zu unterscheiden versucht. Bei der Besprechung der absoluten Bindung gibt er ein Merkmal an, welches die artbildende Differenz für seinen Normbegriff ausmacht. Bedingt bindend ist die Sitte, absolut bindend ist die Sittlichkeit. Die Sitte bezeichnet Ihering als etwas „local, national, sozial bedingtes". 104 Sie binde nur da, wo und solange sie bestehe. Ihre „verpflichtende Kraft" liege lediglich in „ihrer Thatsächlichkeit". Gehe man auf Reise, so lasse man die Sitte „in der Heimat zurück" und ordne man sich „der Landessitte" unter, selbst wenn sie von der seiner Heimat noch so sehr abweiche. Mit der „Sittlichkeit" sei es anders bestellt. Sie behalte ihre verpflichtende Kraft, „auch wenn Tausende sie mit Füssen treten, ihre Autorität ist von der Thatsächlichkeit völlig unabhängig". Das sittliche Urteil erkenne die äußere Wirklichkeit nicht als Maßstab des Sittlichen an. Es „provociert" vielmehr „auf sich selber, auf seine eigene innere Wahrheit". Es sei von der „Zuversicht beseelt", die den Denker kennzeichne, der eine Wahrheit gefunden habe, „mit der er einsam der ganzen Welt gegenüber" stehe. Die Ausführungen über das absolut Bindende kommen der zeitgenössischen Normdefinition Luhmanns nahe. Er definiert die Norm als kontrafaktisch stabilisierte, lernunwillige Verhaltenserwartung. Die Sittlichkeitsnorm ist bei Ihering kontrafaktisch stabilisiert. Es bedarf zur Normierung von Sinngehalten keiner Sanktionsbereitschaft, sondern die Norm bleibt trotz Sanktionierung jeder Normbefolgung bestehen. In diesem Sinne ist die „Autorität" der Norm „von der Thatsächlichkeit völlig unabhängig". Sie ist kontrafaktisch und lernunwillig, weil sie „die äußere Wirklichkeit nicht als Massstab" anerkennt. Man kann mit der eigenen Normierung „einsam der ganzen Welt gegenüber stehen". Ob man in diesem Fall sehr enttäuschungsreich leben muß oder nicht, ist eine andere Frage. Es kommt darauf an, daß die Erwartung trotz ständiger Enttäuschung, „auch wenn Tausende (die Norm) mit Füssen treten", nicht aufgegeben wird. Dies stellt die Festlegung der Norm in der Zeitdimension dar: sie ist als enttäuschungsfeste, von der tatsächlichen Erfüllung oder Nichterfüllung unabhängige Verhaltenserwartung zu verstehen. Was nun den Vergleich zwischen Sitte und Sittlichkeit im Zusammenhang mit der angeführten Textstelle Iherings angeht, handelt es sich um die unterschiedliche Festlegung von Normen in der Sozialdimension. Ihering operiert unscharf, indem er die Bindung undifferenziert untersucht, ohne die drei Sinndimensionen in Betracht zu ziehen. In der Zeitdimension ist die Sitte genauso kontrafaktisch stabilisiert wie die Sittlichkeit. In der Sozialdimension wird sie jedoch auf partikuläre soziale Gruppen bezogen. Die Sitte ist „etwas local, national, social Bedingtes", sie ist 104
17*
Hier und zum folgenden: Zweck II, S. 61 f.
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„Landes-, Standes, Volks-, Orts-Sitte". 105 Demgemäß läßt sich das kennzeichnende Merkmal des Normbegriffs bei Ihering dahingehend definieren, daß Sinngehalte in der Zeitdimension kontrafaktisch und lernunwillig stabilisiert werden, und zwar unabhängig davon, ob sie sanktionsfähig oder sanktionsbedürftig sind. Das Durchhalten der Erwartung ist wichtiger als ihre Sanktionierung. Der Normativitätsgehalt liegt in der Zeitdimension. In der Sachdimension werden die Themen ausfindig gemacht, die in der Sozialdimension bestimmte soziale Bezugsgruppen betreffen und in der Zeitdimension normiert werden. Die Normierung von institutionalisierten Verhaltensweisen ist keine individuelle, sondern wiederum eine gesellschaftliche Leistung. Sitte und Sittlichkeit „entwickeln sich aus dem Leben des Volks als Normen, welche sich durch die Erfahrung als nothwendig bewährt haben. Sitte und Sittliches sind nichts rein „Individuelles", welches das „Subjekt aus sich selber entnehmen könnte". Für beide bedarf es „des Volks und zwar des geschichtlichen Lebens des Volks, der gesellschaftlichen Erfahrung", um sie ins Dasein zu rufen. 106 In bezug auf die „Form der Bildung" der Höflichkeitsformen bemerkt Ihering, daß „das Denken, Fühlen, Empfinden von unzähligen Individuen" dieselben geschaffen hat. Es handle sich um einen „Process vergleichbar dem galvanischen Niederschlage, sowohl was die Unmerklichkeit seines Vorganges anbetrifft, bei dem Atom sich zum Atom gesellt, als das schliessliche Product: die Treue des Abdrucks des nachzubildenden Gegenstandes."107 Dieser „galvanische Niederschlag" von Norminhalten und die Unmerklichkeit der Normbefolgungen seitens des Einzelnen haben also nicht zur Folge, daß die normierten institutionalisierten Verhaltensweisen gleichsam tautologisch jedesmal in Anspruch genommen werden. Institutionalisierte, enttäuschungsfeste Verhaltenserwartungen können nicht alle dazu gehörenden möglichen Fälle konkreten kontrafaktischen Erwartens in sich schließen; oder, anders gesagt, die sozial etablierten Normen können die möglichen Normbefolgungen nicht vorwegnehmen. 3. Die Maxime Dem sozial etablierten normierten oder auch nicht normierten Sinn gegenüber muß der Einzelne faktisch, bewußt oder unreflektiert durch seine Handlung Stellung beziehen. Er muß sich seine eigenen Maximen bilden. Das Wort Maxime verwendet Ihering nicht, aber er unterscheidet sehr deutlich zwischen den sozial etablierten Regeln und „der subjektiven Aneignung der Regeln in Form des Unbewussten". 108 Diese „subjektive Aneignung" von sozialem Sinn nennt er „Gefühl". Dieses zerlegt er in zwei verschiedene Funktionen. 105 106 107 108
Zweck Zweck Zweck Zweck
II, II, II, II,
S. 61. S. 59 f. S. 563f. S. 44.
II. Elemente des Normbegriffs
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a) Einerseits in die „kritische Function" des Gefühls, „in der dasselbe sich gleichmässig in der Beurtheilung des fremden wie des eigenen Benehmens bethätigt", und andererseits in die „practische Function" des Gefühls, in der dasselbe „als Wegweiser für das eigene Handeln" dient. 1 0 9 Sowohl in bezug auf das Schöne, als auch in bezug auf die Sitte, das Sittliche und das Recht, meint Ihering diese doppelte Funktion von Maximen nachgewiesen zu haben. Er stellt sogar fest, daß die Sprache für die zwei verschiedenen Funktionen unterschiedliche Ausdrucksformen anbietet. Von einer „fremden unschicklichen Handlung" sage man nicht, daß sie seinen Takt, sondern daß sie sein Schicklichkeits- oder Anstandsgefühl verletze. Bei Takt denke man also „bloss an den Einfluss, den letzteres auf das Benehmen ausüben soll... " n o Ihering unterscheidet mithin in der Maximenbildung, je nachdem, ob es um Verhaltensbeurteilung oder Verhaltensbestimmung geht, zwischen Schönheitsgefühl und Geschmack (das Schöne), Schicklichkeits- oder Anstandsgefühl und Takt (die Sitte), Sittlichkeitsgefühl und Gewissen (das Sittliche), Rechtsgefühl und juristischem Takt (das Recht). Nach Ihering sagen wir von einer „fremden unsittlichen Handlung" nicht, daß sie „unser Gewissen", sondern unser „Sittlichkeitsgefühl" verletze. 111 Demjenigen, der sie verübt hat, sprechen wir dagegen das „Gewissen" ab. Wir bezeichnen seine Handlung als gewissenlos. Nun verhalte sich der „Geschmack" zum „Schönheitsgefühl" wie der „Takt" zum „Schicklichkeits-, das „Gewissen" zum „Sittlichkeitsgefühl". Er betreffe ausschließlich die „praktische Function des Schönheitsgefühls im Gegensatz der kritischen". Er gelte der „Bethätigung" des „Schönheitsgefühls" in der eigenen Gestaltung des Schönen. Was die juristische Entscheidungstätigkeit angeht, unterscheidet Ihering zwischen dem „juristischen Takt" und dem „Rechtsgefühl". Unter ersterem versteht er den „Treffer des juristischen Gefühls" in der Entscheidung schwieriger Rechtsfälle. Unter letzterem versteht er die „kritische Function" der Beurteilung fremder juristischer Entscheidungen. Der juristische Takt habe eine „praktische Function". Er ist, mit anderen Worten, Bestimmungsgrund des eigenen Entscheidens. Eine verkehrte Entscheidung verletzt nicht den Takt, sondern das Rechtsgefühl des Juristen. Mit diesen Ausführungen nimmt Ihering Gedankengut vorweg, das Max Weber später in seinem Versuch, den Begriff der Maxime zu definieren, zum Ausdruck gebracht hat. Es handelt sich um die Maxime als Bestimmungsgrund und als Erkenntnisgrund menschlichen Handelns. In ihrer praktischen Funktion ist die Maxime als Bestimmungsgrund des eigenen Handelns zu bezeichnen. In ihrer kritischen Funktion hingegen ist sie als Erkenntnisgrund des zu beurteilenden Verhaltens schon vorausgesetzt. Es ist die Norm in ihrer internalisierten Form, in ihrer subjektiven mehr oder minder bewußten Überformung, die den zu beurteilenden Gegenstand aus der Mannigfaltigkeit des Vorhandenen herausgreift. Die einzelnen Akte der Verhaltensbeur109 110 111
Zweck II, S. 41. Ebd. Hier und zum folgenden: Zweck II, S. 41 ff.
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§ 7 Konstitution der sozialen Ordnung bei Rudolph von Ihering
teilung (kritische Funktion des Gefühls) und der Verhaltensbestimmung (praktische Funktion) lassen sich nicht deduktiv von den etablierten Normen ableiten. Die Norm ist etwas anderes als ihre Internalisierung vom Einzelnen. Norm und Normbefolgungen sind nicht identisch, sie stehen in einem Verhältnis gegenseitiger Beeinflussung, was auch für den institutionellen Wandel ausschlaggebend ist. Die subjektive Aneignung der Norm, einerlei, ob bewußt oder unbewußt, bewährt sich sowohl im Handeln als auch im Urteilen. Sowohl das Handeln als auch das Urteilen erbringen eine fortbildende Leistung. Normbefolgung ist bei Ihering zugleich Normfortbildung. b) Er zeigt dies am Beispiel des Takts. Im Begriffe vom Takt sieht er eine „Steigerung des Gefühls für das Schickliche". 112 Diese Steigerung bewähre sich an „zweifelhaften Fällen" und „kritischen Lagen", wo man „verlassen von den Regeln", die einem in die Hand gegeben sind, „selbständig das Richtige", d. h. das „ihrem Sinn und ihrer Bestimmung Gemässe" zu treffen hat. Der Takt sei nicht die „blosse mechanische Anwendung", die „schablonenmässige" Befolgung der Regeln, zu der es nur der „Abrichtung" bedürfe. Takt sei die „Bewährung" der „verständnisvollen Aneignung" der Regeln durch „Ergänzung" und „Fortbildung" derselben, in Fällen, wo sie einen im Stich ließen. Um es juristisch zu formulieren, Takt sei die Bewährung der „analogen Ausdehnung". Dies gelte sowohl für die Regeln des Rechts als auch für alle sozialen Regeln. Die Regeln des Anstandes und des Rechts ließen sich nicht so erschöpfend aufstellen, daß sie „für alle Fälle" ausreichten. Regeln verdankten ihre Existenz lediglich ihrer eigenen „Unzulänglichkeit und der damit gegebenen Nothwendigkeit ihrer verständnisvollen Ergänzung durch das Subjekt". Maximen beschränken sich nicht auf „blosse praktische Bethätigung" bei der Normbefolgung. Sie besitzen nach Ihering das Vermögen „zur eigenen, selbständigen Erfindung". Der Geschmack, wie der Takt und der juristische Takt, ist „erfinderisch", er geht „über die blosse Nachahmung gegebener Muster, über die blosse Befolgung feststehender Regeln hinaus, (er) versuch(t) sich selber". 113 Die Maximenbildung ist nach Ihering kein bloßer Erkenntnisakt, sondern sie hängt auch mit dem praktischen Erfindungsvermögen des Einzelnen zusammen. Mit der bloßen Erkenntnis dessen, was ist, ist es in praktischen Dingen noch nicht getan. Es muß trotz des Überraschungseffektes jeder neuen Situation gehandelt werden. Ihering stuft auch die Maximen nach ihrem Bewußtheitsgrad ab. Es ist seine Auffassung, daß die Reflexion bei der Maximenbildung die Normfortbildung in der Normbefolgung anders beeinflußt als die mechanische Verhaltensbestimmung. Das Mitspielen von innerer Gesinnung oder Reflexion beim Zueigenmachen und Verwenden von etablierten Normen führt zu geschickter „Nüancirung" und Individualisierung derselben. So wird ζ. B. die Einsetzung von Höflichkeit zur Verhinderung von Annäherung und nicht zur Herbeiführung derselben als Befolgung von Höflichkeitsnormen 112 113
Hier und zum folgenden: Zweck II, S. 45 f. Zweck II, S. 46f.
II. Elemente des Normbegriffs
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verstanden, weil sie den Zweck, welchen die Höflichkeit als soziale Institution verfolgt, nicht verleugnet, „die gesellschaftliche Berührung zu ermöglichen, denn sie ermöglicht dieselbe mit Leuten, denen man sonst aus dem Wege gehen würde". 1 1 4 Ein und derselbe Höflichkeitsakt kann den verschiedenartigsten, mehr oder minder typischen Charakter annehmen. Die Nuancen der Normbefolgungen sind unerschöpflich. 115 Es darf hier nicht angenommen werden, daß Normfortbildung nur unter der Voraussetzung des Versuchs der bewußten Veränderung der Norm in der Anwendung möglich ist. Der Handelnde ist nicht auf die Normänderung bedacht. Er steht im Handlungszwang und hat Wichtigeres zu tun, als über Sinn und Zweck der Selbstverständlichkeiten seiner Verhaltensweisen zu reflektieren. Ihering will lediglich dem Erlebenshorizont des Einzelnen gesellschaftstheoretische Relevanz zukommen lassen. Erleben ist für die Normentheorie Iherings eine wissenschaftlich interessante und erkennbare Realität. Ihre Folgen machen sich in der Normfortbildung bemerkbar. Die „echte Höflichkeit" 1 1 6 unterscheide sich von der „blossen mechanischen Abrichtung" dadurch, daß sie die vorgeschriebenen Regeln „ihrem Sinn und Geiste nach" erfasse. Sie sei daher in der Lage, sie zu ergänzen, wo sie nicht ausreichten. In diesem Sinne erfaßt und durchgeführt, dürfe „sich die Höflichkeit den Namen einer Kunst vindiciren". Der „geschulte Mann", der in den Geist dieser Kunst eingedrungen sei, erweise sich, „wenn ihm auch die Gesinnung abgeht", dem bloßen „Naturalisten", der nichts als die Gesinnung besitze, weit überlegen. Regelbefolgung im sozialen Leben beruhe nicht auf „Dressur" und „rein äusserlicher Aneignung" der bekannten, festgelegten Regeln. Im Handlungszwang des Alltagslebens erfolgt die Normfortbildung durch die mechanische oder nuancierte Inanspruchnahme von normierten Sinngehalten. Die Maxime beteiligt sich in ihrer doppelten Funktion als persönliches Urteil oder als Bestimmungsgrund des eigenen Handelns am institutionellen Wandel. Sie ist nicht das „historische Prius, sondern das Posterius der realen, durch den praktischen Zweck geschaffenen Welt". 1 1 7 Norm und Maxime befinden sich insofern in einem Gegenseitigkeitsverhältnis, als die Maxime kein treues Abbild der Norm im Einzelbewußtsein darstellt, sondern sich verändernd auf die Norm auswirkt. Dies stellt nach Ihering eine Möglichkeit des institutionellen Wandeins durch Maximenbildung im täglichen Handeln dar. Der weiteren Möglichkeit des institutionellen Wandeins durch Recht werden wir uns im Rahmen der Besprechung der Rechtstheorie Iherings zuwenden.
114
Zweck II, S. 630 f. „Der Gruß, der Empfang, die Anrede können sein: kühl, kalt, gemessen — herablassend, vornehm, gnädig — devot, ehrfurchtsvoll, unterthänig — freundlich, vertraulich, herzlich — alles innerhalb des Rahmens der Höflichkeit." In: Zweck II, S. 630. 116 Hier und zum folgenden: Zweck II, S. 629. 117 Zweck II, Vorrede, S. X. 115
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§ 7 Konstitution der sozialen Ordnung bei Rudolph von Ihering
4. Der Zweck Zum Verhältnis von Normen und Zwecken ist folgendes zu bemerken. Ihering unterscheidet zwischen der Frage nach dem Zweck einer sozialen Norm und der Frage nach dem Zweck des Subjekts bei der Maximenbildung oder Normbefolgung. 118 Sozial etablierte Normen brauchen nicht mit unveränderbaren Zwecken verbunden zu sein. Der funktionale Vergleich von normierten Verhaltensformen mit dem Sinn und Grund ihrer Entstehung unter anderen sozialen Umständen führt zu dem Ergebnis, daß Verhaltensformen unveränderbar bleiben können, während sich ihr Zweck vollkommen verändert hat. Das Geben der Hände hatte beispielsweise ursprünglich die reale Bedeutung der Zusicherung der friedlichen Gesinnung. Heutzutage hat es die Bedeutung des Grußes oder der Achtung. 1 1 9 Höflichkeitsformen, die heute den seltsamsten Eindruck erregen, weil ihr Zweck nicht eingesehen wird, haben bei ihrer Entstehung ihren guten Grund und Sinn gehabt. 120 Diese Art von Zweckerwägungen über Normen sind Gegenstand einer funktional äquivalenten Analyse. Es wird nach dem sozialen Zweck gefragt, welche die Norm verfolgen könnte, damit sie dem Bereich von Alternativen, die denselben Zweck erfüllen können, zugeteilt wird. Dieser die Suche nach Alternativen stimulierende Zweck ist veränderlich und zeugt von jedem Funktionsverlust oder jeder Funktionsverschiebung der Norm in der Gesellschaft. Davon hebt sich die Zweckerwägung des Subjekts bei der Maximenbildung ab. Der Zweck des Einzelnen bei der Normbefolgung braucht sich mit der sozialen Funktion der Norm nicht zu decken. 121 Subjektives und objektives Zweckmoment können auseinanderfallen. Trotz objektiver Zweck Veränderung kann die Norm weiter bestehen, indem sie eine neue soziale Funktion annimmt und erfüllt. Trotz Beliebigkeit des subjektiven Zweckmomentes kommt es zu einer mehr oder minder einheitlichen Normbefolgung.
118
Zweck II, S. 135. Zweck II, S. 653 f. 120 Zweck II, S. 561 f. 121 „Die Fortpflanzung des Menschengeschlechts ist objektiv Zweck der Natur, etwas, was sie erreichen will, aber das subjektive Motiv, das sie zu dem Zwecke beim Menschen in Bewegung setzt, ist die Lust." In: Zweck II, S. 136. 119
§ 8 Iherings Begriff der Rechtsnorm in institutionentheoretischer Perspektive I . Organisation im Rechtssystem
Schelsky hat den Prozeß der Institutionalisierung in Anlehnung an Gehlen als Hintergrundserfüllung von sozial konstituierten Bedürfnissen gedeutet. Die dauernde Bedürfniserfüllung ermöglicht die Verdrängung von Antrieben aus der Bewußtheit in den Bereich der unbewußten zweckfreien Gewohnheit. Die Festlegung des Institutionalisierungsbegriffs erfolgt im Hinblick auf den Begriff der Zweckbewußtheit. Hintergrundserfüllungen sind „Lösungen" und Entlastungen des bewußten, zweckgerichteten Handelns, die „durch Außenstützung (Riten, Symbole, Personifizierungen usw.),objektiviert' " werden, institutionellen Halt gewinnen und normativen Selbstwert erhalten. Mit Institutionalisierung ist eine Entlastung aus der Bewußtheit und Aktualität des Zweckhandelns in bewährte Lösungen, kulturelle Selbstverständlichkeiten und ihre institutionelle Formen gemeint. Brauch, Sitten, Artefakte, Institutionen stellen eine habituelle, institutionelle Verhaltensschicht im Menschen dar. Sie ist von seiner Motivationsstruktur unabhängig und wird „von einem stetigen Zufluß aus dem Bereich der bewußten Zweckhandlungen" aufgefüllt. 1 Von hier bestimmt Schelsky die anthropologische Funktion des Rechts wie folgt: „Recht ist die stets bewußte Regelung und Gestaltung sozialer Beziehungen durch freies und bewußtes Zweckhandeln." Die Tatsache, daß die Bewußtheit des Zweckhandelns zum anthropologischen Kennzeichen des Rechts wird, bedeutet, daß es von allen Entlastungsformen des bewußten Zweckhandelns unterschieden werden muß. Die Funktion des Rechts wird hier als bewußte, aktuelle Regelung festgelegt. Sie wird außerdem noch mit der These verbunden, daß Rechtsgestaltungen und Rechtsbehandlungen schon eher vorhanden waren als in die „ ,Unbewußtheit' entlastete" Formen der Regelung sozialer Beziehungen und sozialen Handelns.2 Schelsky will hiermit die übliche Problemstellung der Rechtssoziologie entwerten, daß in den Frühzeiten der Kulturen „jeweils Sitten, Brauchtum, Konventionen usw. mit dem Recht ununterscheidbar verschmolzen waren". Der Bewußtheitsgrad zweckgerichteter sozialer Regelungen der Frühzeiten darf nicht unterschätzt werden. Der Gegensatz zwischen der sozialen Zweckbewußtheit von Regelungen und den im „Reaktionsbereich unbewußter ,Hintergrundserfüllung' " versunkenen Verhaltensregeln wird durch den Gegensatz zwischen Recht und Institution thematisiert. „Das Recht schafft in den 1 2
ARS, ( § 5 F N 1 ) , S. 122. Hier und zum folgenden: Ebd., S. 122 f.
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§ 8 Rechtsnorm und Institution bei Ihering
Institutionen den Bereich des bewußten Zweckhandelns." Es macht die Institutionen zum Gegenstand und Ziel immer „erneuten aktualisierten Zweckhandelns". Dies geschieht sogar unabhängig von den schon erfüllten „Instinktoder Instinktmangelbedürfnissen". Durch das Recht wird eine Bewußtheitsfront und ein Positivitätsbereich in den Institutionen geschaffen. 3 Institutionen sind nicht nur „ ,Führungs- und Entlastungssysteme' " (Gehlen), sondern auch Systeme, die ihre Rationalität auf Zwecksetzung und Ζ weck Verfolgung fußen lassen. Das Recht wird als eine bestimmte Ebene innerhalb von Institutionen bezeichnet. Es ist die Ebene von zweckgerichteten, bewußt ordnungsgestaltenden Regelungen. Im Wege rechtlicher Entscheidungen wird die Institution einem „sich situationsorientierenden, adaptiven, bewußte Zwecke verfolgenden Handeln des Menschen ausgeliefert." Da das bewußte Zweckhandeln — anthropologisch gesehen — zum Rechtskriterium erhoben wird, wird dem Recht eine planende, im Hinblick auf Institutionen zukunftsgestaltende und gründende Funktion zugeschrieben. „ I m Rechtscharakter der Institution liegt ihre Veränderbarkeit, ihre Anpassungsfähigkeit gegenüber neuen Umweltsituationen, ihre Dimension der bewußten, zweckgerichteten Planung der Zukunft." Infolge von rechtlichen Entscheidungen gelingt es auch der Institution, ihre eigene Tradition zu revidieren. Sobald institutionalisierte Entlastungsformen „in den Fokus des bewußten Zweckhandelns", in die Bewußtseinsfront gezogen und aufgehoben werden, treten sie „in den Bereich der Rechtsgestaltung und des Rechtshandelns". Das Recht erweist sich als die „Rationalitätsund Zukunftsdimension der Institution". Diese Zweckgebundenheit und Zukunftsorientiertheit des Rechts ist ein Tatbestand, den Ihering im schroffen Gegensatz zur herrschenden Rechtsauffassung seiner Zeit zu erläutern versuchte. In der geschilderten These Schelskys wird bewußtes Zweckhandeln mit Veränderbarkeit, Anpassungsfähigkeit und Kontingenz in Verbindung gebracht. Recht bringt mithin als der Bereich von Zweckbewußtheit ein Positivitätsbewußtsein mit sich. Jede Institution hat ihr eigenes Recht, weil sie über eine Bewußtseinsfront der Ordnungsgestaltung verfügt. Nun ist die Frage nach der Funktion von Zwecken im Recht nach der Rechtstheorie Rudolph von Iherings zu stellen. Es ist zu prüfen, ob nach Ihering Zwecksetzungen zur Struktur der Rechtsnorm gehören. Ferner ist festzustellen, ob seine Rechtstheorie den verschiedenen Systemen der Staatsorganisation und der Rechtswissenschaft einen Bereich eigenen, zweckbewußten Handelns einräumt. Schließlich ist die naheliegende Vermutung zu prüfen, ob nicht die Entdeckung des Zweckmoments bei Ihering die Durchbruchsstelle des Positivitätsbewußtseins gewesen ist. 1. Der Wille Der Umstand, daß von Ihering der Zweck als Schöpfer des ganzen Rechts hingestellt wird, weist darauf hin, daß in der Gesetzgebung die durch die 3
Positivität im Sinne Luhmanns und Schelskys, d.h. verstanden als Kontingenz- und Veränderbarkeitsbewußtsein.
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Rechtsnorm getroffene Auswahl aus dem Bereich möglicher Handlungen auf einer zielgerichteten Entscheidung beruhen soll. Diese gesetzgeberische Zweckbewußtheit setzt üblicherweise im Rahmen der Willenstheorie des klassischen Rechtspositivismus einen gesetzgeberischen rechtsetzenden Willen voraus. Es ist in der Tat die These aufgestellt worden, Ihering habe sich dem Rechtspositivismus seiner Zeit angeschlossen.4 Er habe die Realität des Rechts darin erblickt, daß es der Ausdruck eines Willens sei. Es sei ein geschlossenes System, „das man sich als den Inhalt eines einheitlichen Bewußtseins denken könnte." 5 Es ist jedoch äußerst fraglich, ob Ihering das Vorhandensein selbst eines fingierten Einheitsbewußtseins angenommen hat. Die Verbindung von Wille und Recht erlaubt keinen Schluß auf eine fiktive Einheit des Rechtsbewußtseins. Die Voluntarismen der Vertreter einer voluntaristischen Grundauffassung brauchen einander keineswegs zu gleichen. Die Iheringsche Spielart des Voluntarismus unterscheidet sich, wie es Wolfgang Pleister nachgewiesen hat, fundamental vom Willensbegriff bei Kant, Savigny und Puchta. 6 Ihering versteht den Willen primär vitalistisch und zugleich instrumental, zweckorientiert. 7 Der Wille ist keine „logische Potenz", sondern schöpferische Kraft und Tätigkeit. 8 Entscheidend ist, was der Wille leistet, was er ins Werk setzt. Er ist die reale Kraft, mit deren Hilfe Zwecke „in geschichtliche Taten, konkretes Leben umgesetzt werden. Nach der bekannten Devise in Geist I „beglaubigt die Wirklichkeit erst den Text". 9 Wille und Zweckbewußtheit gehören keinem bestimmten psychischen Substrat an. Es wird damit kein psychisches Faktum gemeint. Der Wille ist eine zusammenfassende Formel für Entscheidungsvorgänge und für einen Verwirklichungsapparat. Für das Recht im objektiven Sinne sei die Bezeichnung des „allgemeinen Willens" 1 0 in einer besonderen Beziehung angebracht. Unabhängig davon, was für eine Aufgabe, was für ein Ziel oder Inhalt das Recht habe, bestehe sein „Wesen in der Verwirklichung". Die „Voraussetzung dazu" sei die Macht, „Organ und Träger der Macht" aber sei der Wille. Das volitive Element symbolisiert bei Ihering im Recht das unerläßliche Rechtsmerkmal der eigentlichen Beeinflussung oder Strukturierung der sozialen Kommunikation durch Recht, d. h. die Rechtsverwirklichung. Erst durch sie werden die Rechts„gedanken" zu „wahrhaftigem Recht" erhoben, d.h. zu einer Macht, die „das Leben gestaltet und beherrscht". Im 4
Karl Olivecrona, Iherings Rechtspositivismus im Lichte der heutigen Wissenschaft, in: Iherings Erbe. Göttinger Symposion zur 150. Wiederkehr des Geburtstags von Rudolph von Ihering, Hrsg. von Franz Wieacker und Christian Wollschläger, (§ 4 F N 18), S. 165176. 5 Ebd., S. 174ff. 6 Pleister, Persönlichkeit, Wille und Freiheit im Werke Iherings, (§ 4 F N 72), S. 41 f., 54f., 170 f., 173 (Anmerkung 711). 7 Ebd., S. 47. 8 Ebd., S. 230, mit zahlreichen Zitaten. 9 Ebd., S. 51. 10 Hier und zum folgenden: Geist III, S. 328 f.
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§ 8 Rechtsnorm und Institution bei Ihering
Recht hätten wir es nicht mit kognitivem Denken und Wahrnehmungsurteilen zu tun. Was das Rechtsdenken angeht, handele es sich vor allem um „Willensakte und Zweckvorstellungen". 11 Ihering geht einen Schritt weiter und behauptet, daß es im Recht vor allem um Handeln und sekundär um Denken geht. Ohne die „Betätigung" 12 einer „praktischen Kraft" durch „unausgesetzte konstante Verwirklichung" wären die Gesetze „Gedanken, Ideen, Ansichten wie alle anderen, aber keine Rechtssätze". Sie wären nämlich keine „Normen", deren „wahres Wesen" nicht in der „Aufstellung", sondern in ihrer „Befolgung" bestehe. Der Begriff des Willens bedeutet für das Recht Verwirklichungsnotwendigkeit. In diesem Sinne ist auch der Wille für die Rechtstheorie Iherings ein entbehrlicher Begriff. Letztere hat sich des psychischen Gehaltes des Rechtswillens vollkommen entledigt. Es bleibt jedoch unklar, welche Rolle die so verstandenen, zweckorientierten Willensakte im Rechtsverwirklichungsprozeß spielen; oder anders formuliert, welchen Stellenwert das Zweckmoment in der rechtlichen Entscheidungsorganisation (Gesetzgebung und Rechtsprechung) und in den juristischen Entscheidungen der Rechtswissenschaft hat. Wir wenden uns zunächst der Zweckorientierung bei der gesetzgeberischen Normstiftung zu. Ihering gehört mit Sicherheit nicht zu den Theoretikern, die den Bewußtheitsgrad zweckgerichteten Handelns der Frühzeiten unterschätzen. Im Geist I 1 3 bezeichnet er die Tat- und Willenskraft, d.h. die Zweckbewußtheit im Handeln als die eigentliche Ebene der Rechtsgestaltung.14 Begriffe und Wortzusammensetzungen wie „Kraft", „Energie", „Kraftanstrenung", „Zweckmäßigkeit", „Bereitwilligkeit" und „Willenskraft" durchziehen „fast leitmotivartig den Text". 15 Es ist nicht die intellektuelle Begabung der Römer, sondern ihr Zweckmäßigkeitssinn, ihre Willensenergie und die zweckbewußte Regelung und Gestaltung ihrer sozialen Beziehungen, die am Anfang der römischen Rechts11 Zur Unterscheidung zwischen dem Urteiltypus des Aussagesatzes und den logischen Denkakten in den emotionalen Vorstellungen s. Heinrich Maier, Psychologie des emotionalen Denkens, Tübingen 1908, Neudruck Aalen 1967, S. 678; s. ferner: ders., Die Syllogistik des Aristoteles, Tübingen 1896-1900; ders., Das geschichtliche Erkennen, Göttingen 1914; ders., Die mechanische Naturbetrachtung und die „vitalistische" Kausalität, Berlin 1928, in: Sitzungsberichte der Preuss. Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse. Jg. 1928, S. 551-564; ders., Philosophie der Wirklichkeit. T. 1-3, Tübingen 1926-1935, s. insbes. Bd. 3: Die psych, geistige Wirklichkeit. Einen philosophisch interessanten Versuch, die Urteilslehre von Heinrich Maier zu widerlegen, hat Martin Heidegger in seiner Dissertation unternommen: Die Lehre vom Urteil im Psychologismus, in: ders., Frühe Schriften, Frankfurt a.M. 1972, S. 3-129, 33-56 (Abschnitt II, Das Wesen des Urteils wird gesucht in den für die Urteilstätigkeit konstitutiven Akten, Heinrich Maier); vgl. ferner allgemein zum „Psychologismus": Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Prolegomena zur reinen Logik, Bd. 1, 6. Aufl. Tübingen 1980, S. 50ff., 78 ff., 154ff. 12
Geist III, S. 328 f. Im Paragraphen 20 über „Das Wesen des römischen Geistes und die Prädestination desselben für die Kultur des Rechts". 14 Hier und zum folgenden: Geist I, S. 312 ff. 15 Pleister, (§ 8 FN 6), S. 51 f. 13
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entwicklung stehen. Das Recht ist keine „intellektuelle Potenz". Es ist keine „Überzeugung" „Ansicht", „Wissen", sondern eine „real gewordene, schöpferische Kraft". Es ist der „Triumph der Idee der Zweckmäßigkeit". 16 Mit diesen Ausführungen bezieht Ihering Stellung zum Problem des logischen Charakters der Rechtssätze. Er zieht gegen die intellektualistische Deutung der Rechtsvorstellungen zu Felde. Auf dem Boden dieser Deutung entstand die Grundanschauung der historischen Rechtsschule. Letzterer galt die Geschichte als die Offenbarungsstätte einer schöpferischen „Vernunft". Die aus dem Volksbewußtsein erwachsenen Rechtsanschauungen werden als Intuitionen einer objektiven Gesetzmäßigkeit gedacht. Aus dem Rechtsbewußtsein des Volkes werden Überzeugungen hergestellt, die als Urteile gefaßt werden. Der Wissensfaktor des Rechts wird einseitig in den Vordergrund gerückt. Gerade gegen diese Vereinseitigung, gegen die „Überschätzung des logischen Moments im Recht" hat sich Ihering so energisch in seinem „Geist des römischen Rechts" gewandt. Nicht nur in der rechtswissenschaftlichen, sondern auch in der gesetzgeberischen Tätigkeit selbst liegt eine eminente Erkenntnisarbeit. Die Rechtsnormen sind zwar lediglich Mittel zur Herbeiführung eines gesellschaftlichen Zustandes. Die Auffindung der Mittel, die zur Verwirklichung eines vorgesetzten Zweckes führen können, beruht jedoch auf urteilendem, kognitivem Denken. Man kann zwischen dem Zweckbegehren und den kognitiven Funktionen, die in seinem Dienst stehen, unterscheiden. Zur Zeit der historischen Rechtsschule ist die kognitive Seite der rechtsproduzierenden Arbeit deutlich ins Licht getreten, während die Zweckerwägungen sich meist im Hintergrund hielten. So ist die rechtsetzende Arbeit in ihrem ganzen Umfang als Erkenntnistätigkeit und das Recht selbst als ein Inbegriff von Wahrheiten erfaßt worden. Sofern die Erkenntnisprozesse bei der Rechtsbildung unwillkürlich verlaufen — so vor allem dann, wenn es an einer gesetzgebenden Instanz fehlt — neigt man dazu, in ihnen ein bloßes Hervorquellen vorhandener, in den Tiefen der Volksseele wohnender Grundbegriffe zu sehen. Diesen Tatbestand hat Ihering als Hintergrund der sogenannten Begriffsjurisprudenz erkannt. Dem hat er seine Entdeckung des Zweckmoments, die Eminenz der volitiven Prozesse im Recht, entgegengesetzt. 2. Das Positivitätsbewußtsein Die Zweckorientiertheit des Rechts hat, institutionentheoretisch betrachtet, eine zentrale Bedeutung. Nach der Interpretation Schelskys ist der Zweck bei Ihering eine zusammenfassende Formel für eine grundlegende Lebensleistung des Menschen, seine eigentümliche Fähigkeit, „bewußt, planend und erfahrungsgesteuert unter Zielvorstellungen der Zukunft handeln zu können." 17 Das Recht wird mithin zum rationalen Mittel schlechthin, mit dem die „soziale 16 17
Geist I, S. 322, 324, 332. Hier und zum folgenden: Schelsky, SWR, (§ 6 F N 104), S. 57 f.
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§ 8 Rechtsnorm und Institution bei Ihering
Selbstbändigung" des Menschen, die Sicherung und Fortentwicklung von günstigen sozialen Lebensbedingungen erfolgen kann. Dem Recht als bewußt gemachter Ordnung kommt daher die Funktion zu, zur institutionellen Fortentwicklung durch angemessene Zukunftsfestlegung und zur institutionellen Stabilisierung durch „Anhäufung und Aufschichtung des Bewährten und der erfolgreichen Lösungen" beizutragen. Die Bedeutung des Rechts wird nach seinen praktischen Konsequenzen gemessen. Es ist die planmäßige, zweckbewußte Tat, mit der das Recht gemacht worden ist und werden muß. Diese These ist der Auffassung der historischen Rechtsschule über die organische Rechtsentstehung diametral entgegengesetzt. Außerdem stellt sich eine Thematisierung des Verhältnisses zwischen den institutionalisierten Entlastungsformen und den Hintergrundserfüllungen einerseits und dem zweckbewußten Handeln, der Bewußtheitsfront in den Institutionen andererseits dar. In seinem Versuch, die von „Savigny als Programm der historischen Schule aufgestellte und von seinen Anhängern widerspruchslos entgegengenommene Lehre vom letzten gewohnheitsrechtlichen Ursprung des Rechts" 18 zu widerlegen, bedient sich Ihering eines Beispiels. „Nehmen wir ein Bild zu Hülfe. Ein Weg führt durch den Urwald, durch die Wildnis, Jeder geht ihn, niemand hat ihn gemacht, er ist geworden, geworden dadurch, daß Tausende nach und nach ihn gegangen sind. Jetzt ist er fertig, völlig ausgetreten. Aber von Anfang an war er nicht da, er hat gesucht werden müssen, und es hat mancher Versuche bedurft, bis der kürzeste und bequemste Weg gefunden war; manches Gestrüpp mußte beseitigt, manche sumpfige Stelle ausgefüllt werden. Dann haben erst noch viele ihn austreten müssen, bis er fest ward. Jetzt geht die Masse ihn völlig gedankenlos. Aber sie kann es nur darum, weil andere ihr Denken daran gesetzt haben, ihn zu finden, und sie haben gewußt, was sie wollten — der Weg verdankt seinen Ursprung also nicht dem dunklen Drange, welcher die Masse unbewußt beseelte, sondern der bewußten Absicht einzelner Individuen; sie sind die Pfandfinder gewesen, welche der Masse das eigene Denken abgenommen haben. Der Weg ist das Gewohnheitsrecht, beide sind in ihrer jetzigen Gestalt eine Kollektivthat der Masse, — ohne Gewohnheit, d.i. fortgesetztes gleichmäßiges Handeln der Masse kein Gewohnheitsrecht; jeder hat also sein Handeln bei beiden seinen Teil beigetragen, daß sie fest wurden."
In diesem Beispiel ist eine Thematisierung des Verhältnisses von Recht und Institution zu sehen. Als institutionelles Moment soll hier das gelten, was Ihering Gewohnheitsrecht nennt. Die naheliegende Rückblendung von seiner Theorie der Sitte des sozialen Umgangs und der Institution auf den Begriff des Gewohnheitsrechts ist es, daß es sich genau genommen um im weiteren Sinne verstandene Gewohnheit handelt. Im Begriff des Gewohnheitsrechts liegt ein Widerspruch. Es ist ein kontroverses Phänomen, in dem Zweckbewußtheit und Entlastungsform miteinander verbunden sind. Die in den Hintergrund gedrängte Begründung, d.h. Zweckableitung des Rechts, und die Funktion des Rechts als bewußte, aktuelle Regelung dürfen jedoch nicht vermischt werden. Schelsky und Ihering beziehen hierzu einheitlich Stellung. Das „Gewohnheitsrecht" 18
Hier und zum folgenden: Ihering, Entwicklungsgeschichte, (§ 2 FN 18), S. 13, 15.
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erhält eine Funktion als Recht, „wenn es als Recht bewußt wird, aber von seiner Zweckbegründung unter Berufung auf eine verdrängte, zur unbewußten Tradition gewordenen Zweckmäßigkeit und Bewußtheit entlastet". 19 Abstrakt formuliert geht es um herkömmliche, sozialgeschichtlich erprobte, durch Wiederholung stabilisierte und gültig gewordene Verhaltensweisen. Es geht um sozial etablierten Sinn. Das obige Beispiel behandelt somit einen besonderen Fall der Beziehungen zwischen sozial etablierten Verhaltensschemen und dem zweckbewußten Entwerfen oder Überdenken derselben. Es betrifft das Verhältnis zwischen rechtlicher Geregeltheit aufgrund von unbewußtem Handeln einerseits und der absichtsvollen zweckgerichteten Rechtssetzung andererseits. Machen und Werden lassen sich nicht voneinander trennen. Rechtssätze werden zwar gemacht, aber immer im Hinblick auf das Werden oder das Gewordene. Der Sinn einer jeden Regelstiftung liegt entweder in der Einführung eines regelgeleiteten Verhaltens oder in der Deregulierung und Entinstitutionalisierung. Zweckbewußte normative Entscheidungen und unbewußte Regelbefolgung sind für die Wirksamkeit einer Rechtsnorm gleich bedeutend. „Wenn den Menschen der Schuh drückt, so ändert er ihn, oder macht sich einen neuen." 20 Hier nimmt Ihering Gedankengut vorweg, welches zur Grundlage der Institutionentheorie Arnold Gehlens gehört. Das bewußte und mühsame „Herausarbeiten von hohen Gedanken und Entscheidungen" führt zu einem „Umgießen dieser Inhalte zu festen Formen, so daß sie jetzt, gleichgültig gegen die geringe Kapazität der kleinen Seelen, weitergereicht werden können." 21 Die sozial etablierten, unproblematisierten festen Formen der Institutionen dürfen dem Analytiker den richtigen Weg zu Einsicht der Bedingungen der Rechtsentstehung nicht verbauen. Der bloße Umstand, daß ein Machen nicht nachweisbar ist, berechtigt nicht dazu, ein Werden anzunehmen. Die infolge der Institutionalisierung trivial und banal gewordenen sozialen Formen waren am Anfang problematisch. Nach Ihering ist die von Savigny benutzte Analogie der Sprachentwicklung für die Erklärung der Rechtsentstehung fehl am Platze. Soll überhaupt eine „Analogie angerufen werden", so sollte es die „des Rechts selber in historischer Zeit" sein. Sowohl in der ungeschichtlichen als auch in der geschichtlichen Zeit des Rechts sind „unbewußtes Werden" und „bewußtes, absichtliches Machen" zugleich tätig gewesen.22 Die Rechtssätze werden gemacht. Diese Setzung des Rechts, sein Machen, hat Ihering dazu geführt, die Vernunft des Rechts als eine Zweck-Mittel Rationalität im Sinne Max Webers zu bestimmen. Rechtsbewußtsein und Rechtsgefühl werden daher folgerichtig als 19
Schelsky, ARS, (§ 5 F N 1), S. 123. Ihering, Entwicklungsgeschichte, (§ 2 F N 18), S. 15. 21 Schelsky, DI, (§ 5 FN 139), S. 274, Fn 6. 22 Ihering, Entwicklungsgeschichte, (§ 2 F N 18), S. 14. Ihering versteht das Verhältnis von Recht und Institution im Sinne Nietzsches. Grundlegend hierzu: Kerger, Autorität und Recht im Denken Nietzsches, (§ 5 F N 107), „Wollen und Zweck bei Ihering und Nietzsche" S. 89ff., insbesondere siehe den §10 „Wille zur Macht als rechtsetzende Gewalt" S. 110 ff., 120ff. 20
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„nachträglicher Ü b e r b a u " der planmäßigen, zweckbewußten Rechtsetzung verstanden. 2 3 Es w i r d die „ A b h ä n g i g k e i t des Rechts v o n den geschichtlichen Bedingungen der Völker u n d Zeiten und damit größte Mannigfaltigkeit desselben" zum Vorschein gebracht. 2 4 Die Bedeutung des Gesetzgebers für die Bestimmung des Schutzwertes der Interessen t r i t t deutlich hervor. Dies w i r d für den Übergang v o n der m i t historischen Materialien arbeitenden Pandektistik u n d Begriffsjurisprudenz zu Interessenjurisprudenz entscheidend sein. Diesem Übergang liegt die „ E n t d e c k u n g " des Gesetzgebers u n d die Verdrängung der Lehre v o m unbewußten Werden des Rechts, der „Emanations- oder Evolutionsoder N a t i v i t ä t s t h e o r i e " 2 5 zugrunde. „ D e r Lehre v o m unbewußten Werden des Rechts" setzte er seinerseits die des „bewußten Machens entgegen." 2 6 Das Recht sei „das Werk menschlicher Absicht u n d Berechnung, die auf jeder Stufe der gesellschaftlichen E n t w i c k l u n g das Angemessene zu treffen bestrebt w a r . " Ihering wollte es sich zur Aufgabe machen, „ d e n Gründen, welche die Bewegung des Rechts verursachen, nachzuforschen." N a c h seiner Auffassung sei nicht das Recht aus dem Rechtsgefühl, sondern das Rechtsgefühl aus dem Recht entstanden. 2 7 Das Rechtsgefühl sei dem Menschen nicht angeboren. Das Recht 23
Schelsky, SWR, (§ 6 F N 104), S. 58. Ihering, Entwicklungsgeschichte, (§ 2 F N 18), S. 16 f. 25 Eine differenziertere Interpretation der „Emanationstheorie" hat Helmut Coing , Diskussionsbeitrag zum Vortrag von Wilhelm, Savignys überpositive Systematik, in: BlühdornIRitter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft, (§4 F N 25), S. 123-136, Diskussion: 137-147, 137, vorgelegt. Er unterscheidet zwischen zwei Stufen der Rechtsentstehung, der allgemein-menschlichen Anschauung von den Instituten einerseits und der gesetzgeberischen Tätigkeit andererseits, die von dieser Institutsvorstellung die Rechtssätze formuliert. Der Gesetzgeber schöpfe „aus der vollen Anschauung des Instituts", wie es im Volksgeist lebe, seine Rechtssätze. Letztere seien kein unbedingtes Produkt der Geschichte. Trotz dieser Nuancierung kann man bei Savigny nicht von der Positivität und Zweckgerichtetheit des Rechts ausgehen. 24
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Hier und zum folgenden: Entwicklungsgeschichte, (§ 2 F N 18), S. 16, 19f., 28. Dies ist ebenso als Kritik an der Volksgeistlehre Savignys und der historischen Rechtsschule überhaupt gemeint. Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, in: Jacques Stern (Hrsg.), Thibaut und Savigny. Ein programmatischer Rechtsstreit auf Grund ihrer Schriften, Darmstadt 1959, S. 77 ff.; sehr kritisch: Ernst Kantorowicz, der mit seinem Aufsatz: Was ist uns Savigny (1911) in: H. Coing IG. Immel (Hrsg.), Rechtshistorische Schriften, Karlsruhe 1970, S. 397-417, den öffentlichen Protest der Berliner Juristenfakultät entfachte; im Gegensatz dazu s. die Verteidigung Savignys von Alfred Manigk, Savigny und der Modernismus im Recht, Neudruck Aalen 1974, zum Begriff des Organischen S. 163 f.; Vgl. zur Differenzierung zwischen den Auffassungen von Hugo, Savigny, Puchta und Thibaut: Franz Wieacker, Wandlungen im Bilde der historischen Rechtsschule, in: Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe, Heft 77, Karlsruhe 1967, S. 6, 11 f., 14, 16; Roderich Stinzing, Friedrich Carl von Savigny. Ein Beitrag zu seiner Würdigung, Berlin 1862, ohne Polemik gegen Thibaut; Hans Thieme, Savigny und das Deutsche Recht, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 80 (1963), S. 1-26, lOff., 9: „Wie wurden nun Savigny und seine Gefolgsleute mit der Tatsache fertig, daß eben gerade nicht ein . . . aus der Volksüberzeugung abgeleitetes Gewohnheitsrecht in Deutschland galt, sondern auf weite Strecken das römische Recht?"; vgl. ferner: Karl Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphi27
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und das Sittliche seien menschliche Schöpfungen. Die Natur habe nicht den „mindesten inhaltlichen Beitrag" geliefert. Die „naturalis und die civilis ratio, die ratio juris und die utilitas" gälten den römischen Juristen als „ganz verschiedene Dinge". Aber die „ratio naturalis" sei die „in Vergessenheit geratene ratio civilis". Die „ratio juris" sei nur „abgelagerte utilitas". Diese Täuschung über das wirkliche Verhältnis dieser rationes zueinander werde „sich zu allen Zeiten wiederholen". Bloße Zweckmäßigkeit 28 habe die Rechtssätze ins Leben gerufen und werde „noch eine Menge anderer zu Tage fördern". Die Verbindung des Rechts mit menschlicher Absicht und Berechnung, diese Zweckbezogenheit allen Rechts, stellt etwas historisch Neues und Riskantes dar. Rechtsnormen werden auf einen variablen Faktor, auf eine gesetzgeberische Entscheidung bezogen. Letztere wird als etwas kontingentes erlebt. Der Gesetzgeber hätte sich auch anders entscheiden können. Entscheidungsgesetztheit von Rechtsnormen bedeutet jedoch keine Allmacht des Gesetzgebers. Machen und Werden sind eng miteinander verbunden. Es wird im Hinblick auf schon vorhandene gesellschaftliche Möglichkeiten entschieden, d.h. angesichts des jeweils sozial etablierten Sinns. Die Entscheidung des Gesetzgebers findet eine Fülle von Institutionen vor, und sie wird selber innerhalb einer Institution, der Gesetzgebungsinstanz, gefallt. Die Entdeckung der gesetzgeberischen Entscheidungsgesetzheit von Rechtsnormen bedeutet für Ihering folgendes. Erstens wird damit die historische Tatsache der kausalgenetischen Wirkung gesetzgeberischer Entscheidungen bezeichnet. Zweitens erfolgt das zweckbewußte Entscheiden in und durch soziale Institutionen. Drittens wird die gesetzgeberische Entscheidung als zweckmäßig, d.h. als eine Selektion aus verschiedenen Möglichkeiten und somit als nicht notwendig, als veränderlich erlebt. Ihering hat nicht nur den Akt der Normgesetztheit, sondern auch die Tatsache der Normkontingenz sichtbar gemacht. Er entdeckte die Positivität des losophie. Kritische Abhandlungen, Leipzig 1892, S. 535 ff.; Georg Beseler, Erlebtes und Erstrebtes 1809-1859, Berlin 1884, S. 254ff., 257; ders., Volksrecht und Juristenrecht, Leipzig 1843, S. 59; über Thibaut: Hans Kiefner, „A.F.J. Thibaut", in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Roman. Abt. 77 (1960), S. 304-344; Rainer Polley, Anton Friedrich Justus Thibaut (1772-1840) in seinen Selbstzeugnissen und Briefen, Teil 1, Frankfurt a.M. 1982, S. 65 ff. 28 Ansätze dieser Forschungsrichtung existierten bereits im 18. Jahrhundert. Naturrecht und historische Empirie hatten sich sehr wohl vertragen können. Um die Jahrhundertwende hatten Anton Friedrich Justus Thibaut (1772-1840) und Paul Johann Anselm Feuerbach (1772-1833) Geschichte und Philosophie in ihrer Rechtsbetrachtung vereinigt. Vgl.: P. J. A. Feuerbach, Civilistische Versuche I, Gießen 1803, Vorrede; ders., Über Philosophie und Empirie in ihrem Verhältnis zur positiven Rechtswissenschaft, Landshut 1804; s. hierzu: Gustav Radbuch, P. J. A. Feuerbach, Wien 1934, S. 59, 72; Friedrich Kaulbach, Naturrecht und Erfahrungsbegriff im Zeichen der Anwendung der kantischen Rechtsphilosophie; dargestellt an den Thesen von P. J. A. Feuerbach, in: ders., Studien zur späten Rechtsphilosophie Kants und ihrer transzendentalen Methode, Königshausen u. Neumann 1982, S. 219-243. Für die Folgezeit besonders wichtig: A. F. J. Thibaut , Über den Einfluß der Philosophie auf die Auslegung der positiven Gesetze, in: Versuche über einzelne Teile der Theorie des Rechts I, Jena 1798, S. 140-205. 1
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Rechts. 29 Die Bindung des zweckbewußten gesetzgeberischen Entscheidens an den sozial etablierten Sinn und die Änderbarkeit und Ersetzbarkeit von einmal gesetzten Normen formuliert Ihering wie folgt. Die Zwecksetzung im Recht erfolge nicht beliebig. 30 Sie hänge von „inneren" und „äußeren Impulsen" ab. Zu den inneren Impulsen zählt Ihering die „Sinnes- und Denkweise" sowie die „Kulturstufe" eines Volks zu einer gegebenen Zeit. Zu den äußeren Impulsen würden die „wirtschaftlichen, sozialen, politischen Zustände" und insbesondere die „Berührung" des Volks mit anderen Völkern gehören. Innere und äußere Impulse würden den „Kausalitätsgedanke(n) in der Geschichte des Rechts" darstellen. Dieser sei die Darlegung der „historischen Thatsachen", die dem Recht auf einer „bestimmten Stufe seiner Entwicklung" eine bestimmte „Gestalt" verleihen würden. Von diesem „historischen Grund" der „causa legis" unterscheidet Ihering den „äußeren Anlaß der gesetzlichen Bestimmungen", die „occasio legis". 31 Die Kenntnis dieser habe „wissenschaftlich nicht den mindesten Wert". Sie reiche für die Erkenntnis und Erklärung einer „Umwandlung" des Rechts, eines neuen Gesetzes überhaupt nicht aus. Gesetze müßten vor dem Hintergrund der „Denk- und Sinnesweise", der „Sitte und Lebensführung" eines Volks interpretiert und angewandt werden. Sie seien in einem „geistigen und moralischen Fluidum" eingebettet, das internationalen Einflüssen ausgesetzt sei. Bei der „Herübernahme" fremder Rechtssätze und Rechtseinrichtungen, oder ganz fremder Rechtsquellen dürfe dieses „Fluidum" keineswegs außer acht gelassen werden, wenn man die Veränderungen verstehen wolle, denen das rezipierte Recht unterliege. M i t diesen Ausführungen nähert sich Ihering einer eher soziologischen Betrachtungsweise der Vorgänge, die zur gesetzlichen Festlegung von Normvorstellungen führen. Die gesetzgeberische Entscheidung wird nicht als erklärende Ursache der gesetzten Rechtsnorm behandelt. Die Ursachenkette fängt nicht erst mit der Entscheidung des Gesetzgebers an. Nicht einmal die occasio legis ist immer bekannt. „Das Recht stammt nicht aus der Feder des Gesetzgebers". 32 Die Entscheidung des Gesetzgebers findet eine „Denk- und Sinnesweise", ein „geistiges und moralisches Fluidum", d.h. in der heutigen Terminologie eine „Fülle von Normprojektionen" vor, „aus denen sie mit mehr oder minder großer Entscheidungsfreiheit auswählt". 33 Rechtsbildung bezieht die gesamte Gesellschaft ein, und die Ursachen der konkreten Normstiftung sowie die gesetzgeberischen Zwecksetzungen sind unüberschaubar und 29 Zum Begriff und zur Funktion der Positivität s. Luhmann, Rechtssoziologie, (§ 2 FN 4), S. 207 ff. 30 Hier und zum folgenden: Ihering, Entwicklungsgeschichte, (§ 2 F N 18), S. 29 ff. 31 Die Trennung schon bei Λ. F. J. Thibaut , Theorie der logischen Auslegung des römischen Rechts, (§ 4 FN 41), S. 68: „Uebrigens ist von dem Grunde des Gesetzes, d.h. den Ideen, durch welche der Gesetzgeber zunächst zu einer Vorschrift bewogen wird, die Veranlassung des Gesetzes (occasio legis) wiederum genau zu unterscheiden." 32 Luhmann, Rechtssoziologie, (§ 2 F N 4), S. 208. 33 Ebd. Demzufolge nimmt Ihering Thesen vorweg, die die Interessenjurisprudenz später vertreten wird.
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verwickelt. Was nun das Bewußtsein der Legitimität von Normänderungen bei Ihering angeht, muß auf die „Doppelstellung des römischen Rechts als Stück des Altertums und als geltende Rechtsquelle" geachtet werden. 34 Es geht nicht darum, ob die Römer Positi vi tätsbewußtsein besaßen. Vielmehr handelt es sich um die Frage, ob in der Rechtstheorie Iherings der einmalige historische Akt der gesetzgeberischen Entscheidung in seiner Geschichtlichkeit als „Symbol der Unabänderlichkeit" 35 der gesetzten Normen dient, oder aber als kontingente Selektion aus anderen normativen Möglichkeiten bestimmt wird. Wir meinen nachgewiesen zu haben, daß Ihering von der Posivitität des geltenden Rechts ausgeht. Es fragt sich nun, wie sich praktische Bestimmung und Änderbarkeit der Rechtsnormen auf die Struktur derselben auswirken.
3. Zweckprogramme
und Konditionalprogramme
Ihering hat im Zweck I die gesetzgeberischen Entscheidungen im Hinblick auf die Erzwingbarkeit des Rechts als Gebrauchsanweisungen für die Handhabung der staatlichen Zwangsgewalt oder als vor allem an die Zwangsmaschinerie gerichteten abstrakten Imperative bezeichnet.36 Im Hinblick auf die in diesem Zusammenhang interessante praktische Bestimmung und Zweckgerichtetheit der gesetzgeberischen Entscheidungen unterscheidet Ihering, geschichtlich betrachtet, zwischen zwei Stufen der „staatlichen Imperative", zwischen dem Individualgebot und der Rechtsnorm. 37 Die moderne, system theoretische Erfassung der Entscheidungstätigkeiten in Organisationssystemen der Gesellschaft, also auch in der Staatsbürokratie und der Verwaltung, beruht einerseits auf dem Begriff der „Programmierung von Entscheidungen" und andererseits auf der Unterscheidung zwischen „Zweckprogrammen und Routine- oder Konditionalprogrammen". 38 Angesichts der hohen Lernfähigkeit, der Strukturflexibilität und der ständigen Zweckrevision in Prozessen sozialer Metakommunikation hielten Willke und Teubner es für nötig, einen dritten Programmtypus vorzuschlagen. Damit ist das Konzept des „reflexiven Rechts" verbunden, welches auf konstruktive Kritik, Widerspruch und Unverständnis gestoßen ist. 39 Wir wollen hier nicht auf diese Diskussion eingehen, sondern zunächst 34
Ihering, Entwicklungsgeschichte, (§ 2 F N 18), S. 8. Luhmann, Rechtssoziologie, (§ 2 F N 4), S. 208. 36 Zweck I, S. 329 ff. 37 Hier und zum folgenden: Zweck I, S. 339 ff. 38 Niklas Luhmann, Lob der Routine, in: Politische Planung, Opladen 1971, S. 113142, 117 ff. 39 Günther Teubner, Reflexives Recht: Entwicklungsmodelle des Rechts in vergleichender Perspektive in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 68 (1982), S. 13-59; Willke, Entzauberung des Staates, (§4 F N 105), S. 62ff.; Gunther Teubner/ Helmut Willke, Kontext und Autonomie: Gesellschaftliche Selbststeuerung durch reflexives Recht, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 5 (1984), S. 4-35; Gunther Teubner, Das regulatorische Trilemma: Zur Diskussion um post-instrumentale Rechtsmodelle, in: Quaderni Fiorentini 35
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feststellen, ob die Individualgebote Iherings der Zweckprogrammierung in irgendeiner Weise entsprechen. Die Besonderheit von Zweckprogrammen liegt in ihrem „zeitlichen Richtungssinn". Die Frage des Zeitpunktes, die Verbindung einer sachlich allgemeinen Wirkungsvorstellung mit einer bestimmten zeitlichen Situation, ist entscheidend. Im Falle von Zeitindifferenz hat man es nicht mit konkreten, angestrebten Wirkungen, sondern mit Zweckideen oder Werten zu tun. Die zeitliche Konkretisierung bringt den nötigen Situationsbezug mit sich, der geeignet ist, zum Auffinden und Beurteilen von Mitteln zu dienen. Die weitere Entscheidungstätigkeit wird durch den situationsbezogenen Zweck programmiert. Der Wahlbereich weiteren Entscheidens variiert je nach Abstraktion der Zweckfestlegung. 40 Das Individualgebot ist die einfachste Form des Gebots. Es wird durch das „unmittelbare Bedürfnis des einzelnen Falles, durch den Impuls des Moments" hervorgerufen und erschöpft seine Wirkung an dem bestimmten, einzelnen Falle, ohne verallgemeinerungsfähig zu sein. Für das Individualgebot ist der zeitliche Richtungssinn des Informationsflusses ebenso entscheidend wie für das Zweckprogramm. Individualgebote sind immer situationsbezogen und am jeweiligen Bedürfnis des einzelnen Falles orientiert. Sie sind keine konkrete Erscheinung eines schon vorhandenen abstrakten Typus. Die Situationsbezogenheit versucht Ihering durch den Begriff des Individuellen wiederzugeben. Das Individualgebot ist keine Konkretisierung eines allgemeinen Gebotes. Während das Konkrete das Korrelat des Abstrakten sei, sei das Individuelle der Gegensatz desselben. Das Individuelle sei keine bloße Wiederholung eines abstrakten Typus, sondern die Verleugnung desselben in irgendeinem Punkt, der ihm eigentümlich sei. Individuell seien die Anordnungen der Staatsgewalt, die nicht schon abstrakt vorgesehen und gesetzlich programmiert seien. Sie würden vielmehr auf „freiem, spontanem Wollen der Staatsgewalt" beruhen. Letztere befinde sich „in unausgesetzter Anspannung und Thätigkeit", sie sei „in ewiger Bewegung, lediglich dem Moment zugewandt, um durch das Gebot zu beschaffen", was er erfordere. 41 Wenn die Verbindung des Individualgebots mit einer bestimmten zeitlichen Situation angenommen werden darf, ist es dennoch fraglich, ob die Individualgebote auch noch als Entscheidungsprogrammierungen bezeichnet werden dürfen. Systemtheoretisch gesehen liegen Programme dann vor, wenn Geregeltheit und Erwartbarkeit des Verhaltens mehrerer Personen ermöglicht wird. Von Programmen geht diese Ansicht auch in dem Falle aus, wenn Erwartungszusammenhänge unabhängig von Personen und Rolleneinheiten auf eine fixierte Entscheidungsregel gestützt per la storia del pensiero giuridico moderno 13 (1984), S. 109-149. Aus der Reaktion auf den Vorschlag s.: Niklas Luhmann, Einige Probleme mit,,reflexivem Recht", in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 6 (1985), S. 1-18; Richard Münch, Die Sprachlose Systemtheorie. Systemdifferenzierung, reflexives Recht, reflexive Selbststeuerung und Integration durch Indifferenz, in: ebd., S. 19-28; Peter Nahamowitz, „Reflexives Recht": Das unmögliche Ideal eines post-interventionistischen Steuerungskonzepts, in: ebd., S. 29-44. 40 Luhmann, Lob der Routine, (§ 8 F N 38), S. 118 f. 41 Zweck I, S. 340f.
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werden können und diese Regel ihre Anwendungsbedingungen in sich spezifiziert enthält. 42 Demzufolge kann dem Individualgebot eine Programmierungsfunktion nur dann zukommen, wenn es die weitere Entscheidungstätigkeit einer Vielzahl von Personen und Rollen regelt und erwartbar macht. Diesbezüglich sind die Ausführungen Iherings unklar. Er versucht differenzierter zu operieren, indem er eine begriffliche Unterscheidung einführt. Die Individualgebote der Regierungsgewalt sollen Verfügungen, diejenigen der gesetzgebenden Gewalt Individualgesetze heißen. Es geht darum, inwiefern die Individualgesetze die Entscheidungsfreiheit von Verwaltung und Rechtsprechung beschränken. Darauf ist jedoch Ihering nicht eingegangen. Er begnügt sich mit der Aussage, daß das Individualgesetz „in Wirklichkeit ein Gesetz" sei, nur „kein abstractes, sondern ein individuelles." Es sei nur für den Fall erforderlich, „daß die beabsichtigte Maßregel" sich mit dem bestehenden Recht nicht vertrage. 43 Ihering hat die Programmierungsfunktion von Individualgesetzen gegenüber der Entscheidungstätigkeit von Gerichten nicht herausgearbeitet. Eine völlig andere Bewandtnis hat es mit dem Begriff der Konditionalprogrammierung bei Ihering. Auf einer höheren Entwicklungsstufe der Gesellschaft habe nach Ihering die entscheidende Gewalt an die Stelle des Individualgebots eine abstrakte Norm gesetzt. Individualgesetz und abstrakte Norm stünden auf ein- und derselben Linie. Beide hätten „zu ihrer Quelle und Voraussetzung dieselbe bewegende Kraft der Staatsgewalt." Verschieden sei nur der Spielraum, innerhalb dessen die Staatsgewalt tätig werde. Bei individuellen Geboten sei der „vorübergehende Fall", bei abstrakten Geboten das „dauernde Verhältnis" entscheidend.44 Bei der abstrakten Norm kann also die Frage des Zeitpunktes offen bleiben, weil sie bedingt formuliert ist, sie ist ein Routineprogramm im Sinne Luhmanns. Jedesmal, wenn eine bestimmte Anlaßinformation eintrifft, ist eine bestimmte Kommunikation zu geben.45 Dieser Wenn/ Dann-Typus ermöglicht zeitliche Umweltindifferenz und Routine. Auch sachlich wird gegenüber dem Individualgesetz eine Abstraktion vollzogen. Die entscheidende Gewalt befinde sich nicht mehr, so Ihering, im Zustand unausgesetzter Geschäftigkeit, „eine einzige Norm" ersetze „tausend und aber tausend Individualgebote". 46 Insofern stelle das Individualgebot die begriffliche Vorstufe der Norm dar. Der Übergang vom Polizeistaat zum Rechtsstaat vollzieht sich durch die Evolution des Zusammenhangs von Entscheidungsorganisation und Entscheidungsprogrammierung. Die Konditionalprogrammierung stellt eine Errungenschaft dar, die, unter sachlicher und zeitlicher Generalisierung, gesetzgebende Entscheidung und rechtsanwendende Entscheidungstätigkeit aufeinander bezieht. Den 42 Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), S. 432f.; ders., Rechtssoziologie, (§ 2 F N 4), S. 87 f. 43 Zweck I, S. 341. 44 Zweck I, S. 341 f. 45 Luhmann, Lob der Routine, (§ 8 F N 38), S. 119. 46 Zweck I, S. 346.
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Inhalt des Gesetzes bildet nach Ihering eine Norm oder Regel. Gesetze stellen Normen auf. Jede Norm enthält einen „bedingten Imperativ, sie besteht also stets aus zwei Bestandtheilen, dem bedingenden (Voraussetzungen, Thatbestand) und dem bedingten (Imperativ), sie läßt sich daher stets wiedergeben in der Formel: wenn — so." In dem Vorsatz sieht Ihering das „Motiv und die Rechtfertigung des Nachsatzes". Das „Wenn" sei stets ein „Weil". Es enthalte den Grund, der den Gesetzgeber zu dieser Bestimmung veranlaßt habe. 47 Diese Auffassung über die Struktur der Rechtsnorm in diesem Sinne, d.h. der gesetzgebenden Entscheidung, hatte Ihering schon in seiner früheren wissenschaftlichen Phase vertreten, zur Zeit der Entstehung des ersten Bandes seines „Geist". „Jeder Rechtssatz knüpft an eine bestimmte Voraussetzung (,wenn jemand dies und das getan hat') eine bestimmte Folge (,so soll dies und das eintreten 4); . . . Diese Form (,wenn — so') ist die einfachste, deutlichste und liegt jedem Rechtssatze zugrunde, wenn sie gleich äußerlich nicht h e r v o r t r i t t . . . i i 4 S
Dieser bedingte Imperativ hat in bezug auf die richterliche Entscheidungstätigkeit eine programmierende Funktion. Er ergeht stets und ausnahmslos „an die mit der Verwirklichung desselben betraute Behörde". Letztere hat zu dem Zwecke 1. zu prüfen, ob die Anwendungsvoraussetzungen im konkreten Fall vorliegen (Beweisfrage), und 2. hat sie die bloß abstrakt ausgedrückte Folge konkret auszudrücken, d. h. den Imperativ in Vollzug zu setzen. Eine Norm, die diese programmierende Funktion nicht hätte, die „nur an die Privatperson, nicht an die Behörde gerichtet wäre, ist ein Unding". 4 9 Der Wenn/ Dann-Typus des bedingten Imperativs der Rechtsnorm bringt zweierlei zum Ausdruck. Erstens den unentbehrlichen Bezug auf die richterliche Instanz und die Verwaltung und zweitens die Unmöglichkeit einer Vorwegnahme von konkreten Entscheidungsinhalten. Das weitere Entscheiden kann nur noch programmiert, nicht aber vorweggenommen werden. In diesem Zusammenhang sind die „Bekundungen des Entzückens" 50 zu verstehen, die Ihering bezüglich der
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Zweck I, S. 350. Geist I, S. 52, F N 20. 49 Geist I, S. 52, Zweck I, S. 350. 50 Um den Ausdruck von Lübbe bezüglich der Beziehung Helmut Schelskys zum Werk von Luhmann zu benutzen. In: Diskussionsbeitrag, (§7 F N 41), S. 94. Zu dieser Beurteilung Iherings s. 125. Brief, An Oskar Bülow, Göttingen, 20. Juni 1885. In: Helene Ehrenberg (Hrsg.), Rudolph von Ihering in Briefen an seine Freunde, Leipzig 1913, S. 387390, 387 f.: „Deine Schrift ist nach Form und Inhalt gleich vortrefflich... Manche Deiner Wendungen sind ganz vortrefflich, sie treffen den Nagel auf den Kopf. In sachlicher Beziehung bin ich ganz mit Dir einverstanden. Im dritten Bande meines Zweckes im Recht hatte ich mir bei Gelegenheit der Ausführung und Bedeutung, welche der Zweckgedanke für den Richter hat ( = der sogenannten Natur der Sache), die Begründung derselben Auffassung des Richteramts vorbehalten, die Du jetzt in so vorzüglicher Weise entwickelt hast. Neu ist sie ja allerdings nicht, Anklänge darin finden sich bei vielen, aber ein anderes sind die bloßen Anklänge, ein anderes die bestimmte, erschöpfende Formulierung." Die 48
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Schrift von Oskar Bülow, „Gesetz und Richteramt" 51 , in einem Brief an Bülow selbst äußert. Ihering hatte schon ziemlich früh die Übereinstimmung der Richtung Bülows erkannt. 52 Er meinte gesehen zu haben, daß letzterer nicht mit formalistischen Gesichtspunkten, sondern mit der dem Zwecke entnommenen, praktischen Anschauung operierte. Das Entzücken nun über die Schrift von Bülow begründet sich darin, daß in dieser die rechtssetzende, rechtsschöpfende Funktion allen richterlichen Entscheidens am deutlichsten herausgearbeitet ist. Ihering stimmt sachlich mit allen Ausführungen von Bülow überein. Die Ergebnisse desselben sind für das Verständnis der Normstruktur und der Entscheidungsprogrammierung bei Ihering besonders aufschlußreich. Das Richteramt besitzt eine rechtsordnende und rechtsschöpferische Kraft, die auf die Verwandtschaft zwischen Gesetz und richterlichem Urteil zurückzuführen ist. Das Gesetz ist noch kein geltendes Recht, „es ist nur ein Plan, nur der Entwurf einer zukünftigen, erwünschten Rechtsordnung". 53 Die Rechtsentstehung ist ein arbeitsteiliger Prozeß. Die Entscheidungstätigkeit des Richteramtes hilft das vom Gesetzgebungsapparat „nur begonnene Rechtsordnungswerk fortführen und vollenden". Die Rechtskraft der richterlichen Rechtsbestimmungen vollendet die Gesetzeskraft. Die Verwandtschaft zwischen Gesetz und Urteil liegt in der Gleichberechtigung zur Teilnahme an der arbeitsteiligen Entstehung von Recht. Die Unterschiede zwischen der gesetzlichen und der richterlichen Rechtsbestimmung dürfen jedoch nicht unterschätzt werden 54 : 1. Die richterliche Rechtsbestimmung ist allgemein und abstrakt, die gesetzliche hat „größere Bestimmtheit und unbedingte gegenwärtige Wirksamkeit". 2. Der Richter ist zwar von den Gesetzbestimmungen abhängig, ihm steht aber auch ein Raum eigener rechtsbestimmender Wirksamkeit zur Verfügung. Bei der richterlichen Tätigkeit geht es nicht um die Erkenntnis von geltenden Rechtsbestimmungen. Die Geltung hängt von der „rechtsumbildenden Macht des Richteramts" ab. 55 Der „rechtsschöpferische Beruf richterlicher Entscheidungspraxis in der Geschichte und in der Gegenwart des Rechts liefert nach Bülow den Nachweis, daß die Gesetzgebung „der Herstellung einer wirklichen Rechtsordnung bloß gebieterisch den Wissenschaft „kann fortan die Frage bei der Lehre von den Rechtsquellen nicht mehr einfach umgehen. Auch in meinem Teil I I I des Geistes hatte ich in dem Kapitel über die individualisierende Rechtsbildung die historische Seite Deines Themas in Aussicht genommen; wenn ich dazu gelange, diesen Teil zu schreiben, wird niemand sich über die dort gegebenen Ausführungen mehr freuen als Du." 51 Oskar Bülow, Gesetz und Richteramt, Leipzig 1885, S. 1 -48. Neugedruckt in Werner Krawietz (Hrsg.), Theorie und Technik der Begriffsjurisprudenz, Darmstadt 1976, S. 107135. 52 116. Brief, An Oskar Bülow, Göttingen, 24. Dezember 1880. In: Ehrenberg, (§8 FN 50), S. 356-362, 359f. 53 Hier und zum folgenden s. Bülow, (§ 8 F N 51), S. 108 f. 54 Hier und zum folgenden s. ebd., S. 112-116. 55 Ebd., S. 121.
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Weg weisen kann." 5 6 Die Rechtsnormen werden als Anweisungen verstanden. Der Richter hat innerhalb der von diesen Anweisungen vorgezeichneten Grenzen seine Entscheidung zu treffen. „Das Gesetz ist nur Vorbereitung, ein Versuch zur Bewirkung einer rechtlichen Ordnung." 57 Ausgehend von der unvermeidlichen Lückenhaftigkeit jeder Gesetzgebung und von der unabänderlichen rechtsschöpferischen Funktion des Richteramtes auch im unproblematischen Subsumtionsfall gelangt Bülow zu folgendem Schluß. Der Richter ist „vom Staate ermächtigt, auch solche Rechtsbestimmungen vorzunehmen, die nicht im Gesetzesrecht enthalten, sondern lediglich vom Richter gefunden, ja erfunden, von ihm, nicht vom Gesetze gewählt und gewollt sind!" 5 8 Der Rechtsbildungsprozeß ist demnach sehr verwickelt und beschränkt sich nicht nur auf Entscheidungsakte. Dies ist genau die Auffassung Iherings. Weder der Richter noch der Gesetzgeber sinà in ihrer rechtssetzenden Entscheidungstätigkeit frei. Für den Richter gibt es eine „Gebundenheit rechtlicher", für den Gesetzgeber eine solche „sittlicher Art". Für den Gesetzgeber gibt es die „Schranken der Staatsverfassung", für den Richter die Anweisungen des Gesetzesrechts. Der Gesetzgeber „bringt nicht selber die Rechtssubstanz hervor". 59 Er trifft eine Auswahl aus sozial vorhandenen Normprojektionen. Gesetz und Richteramt ergeben anschließend die geltenden Rechtsnormen. Nach alldem läßt sich die Antwort auf die Frage geben, ob Ihering der in der modernen Systemtheorie verwendete Begriff der Konditionalprogrammierung bekannt war. Diese Antwort geht dahin, daß nicht nur Ihering, sondern auch schon den Juristen vor ihm — wie es sich aus dem zitierten Brief Iherings ergibt — der Sachverhalt der Programmierung richterlichen Entscheidens nach dem Wenn / Dann-Typus im allgemeinen vertraut war. Ihering geht mit Bülow sogar so weit, die Deutlichkeit und Genauigkeit dieser Programmierung in Zweifel zu ziehen. Die Gesetze sind „Collektiverklärungen"; sie sind keine „einheitlichen Willenserklärungen" einzelner Personen. 60 Der Gesetzgeber schafft nicht das Recht, und sein Wille läßt sich nur schwer ermitteln. Zur Hervorbringung von Gesetzen wirken viele und „vielerlei Menschen" mit. Welche Zweckerwägungen, „was ,man', was dieser vielköpfige Gesetzgeber eigentlich gemeint und gewollt" hat, dies muß der Richter trotz der trügerischen Verhüllung der Einheit des Wortausdrucks herausstellen. 61 Der Richter muß den seine Entscheidungspraxis programmierenden Gesetzeszweck adäquat konstituieren. Dies macht einen Teil der richterlichen Entscheidungstätigkeit aus. Letztere stellt wiederum eine Form institutionellen Handelns, des Handelns der richterlichen Instanz dar.
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Ebd., S. 108, 116, 122. Ebd., S. 133. Ebd., S. 130. Ihering, Zweck I, S. 356; Bülow, ebd., S. 133 f. Ebd., S. 127. Ebd., S. 127.
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4. Instanzen- und Rollenspiel Das institutionelle Handeln des Richteramtes läßt sich jedoch aufgrund der Konditionalprogrammierung nicht hinreichend erklären. Es hat noch andere Voraussetzungen. Das formulierte Gesetzesrecht und die in ihm verborgen liegende „Vielheit von Rechtsmeinungen und Rechtswillensrichtungen" 62 programmieren die richterliche Entscheidung auf der Ebene der juristischen Argumentation. Ganz im Sinne Schelskys hat Ihering gesehen, daß es auch eine andere Programmierungsebene gibt, diejenige des institutionellen Instanzenspiels und des Rollenkonflikts. Die juristische Argumentation findet in einem dafür vorgesehenen und institutionell geschaffenen Raum statt. Es wird im folgenden untersucht werden, inwiefern Ihering der gesetzgeberischen und der richterlichen Entscheidungstätigkeit eine institutionentheoretische Betrachtung und Analyse angedeihen ließ. Dabei werden vor allem die Ausführungen über das römische Recht im „Geist" hinzugezogen werden. Es kommt nicht darauf an, diese Ausführungen auf ihre historische Richtigkeit und ihren Wirklichkeitsgehalt hin zu prüfen. Vielmehr gilt es, das Theoriemodell Schelskys als heuristisches Schema zu benutzen, um den theoretischen Zugang Iherings zum Prozeß der Rechtsentstehung in den Vordergrund treten zu lassen. Die Sachbezogenheit der Handlungsformierung in der Rechtspflege hängt von den eigentümlichen Bedingungen der Sinnkonstitution in den verschiedenen Instanzen und im Instanzenspiel ab. Die juristische Entscheidungstätigkeit wird nicht nur durch erkenntnishaft argumentative Leistungen des Einzelbewußtseins geleitet, sondern auch durch institutionalisierte Verhaltensmuster, die die Konstitution von Sachhandeln in bestimmten Handlungsfeldern ermöglichen. Diese Verhaltensmuster brauchen nicht gesetzlich festgelegt zu sein. Bei der Analyse des römischen Staatswesens und des Instanzen- und Ämterspiels 63 zwischen den Magistraturen richtet Ihering sein Augenmerk nur sekundär auf das geschriebene Recht der damaligen Zeit. Sowohl was die Zahl als auch den Inhalt der Gesetze betrifft, waren die schriftlichen gesetzlich festgesetzten Normen in bezug auf diesen Punkt „äußerst dürftig". 6 4 Ihering kommt es auf die eigentlichen Möglichkeiten sozialer Kommunikation in und zwischen den Ämtern an, einerlei ob dieselben gesetzlich normativ niedergelegt oder anders formuliert sind. Die Tatsache, daß die Gesetzgebung der damaligen Zeit nicht imstande war, die schon herausgebildeten juridischen Verfahren hinreichend zu schildern, bedeutet nicht, daß letztere ungeregelt waren. Die Abwesenheit von deklarativen oder proklamativen gesetzlichen Regelungen, die das Ineinandergreifen der Gewalten und ihre Kompetenzverhältnisse „nach Art eines Uhrwerks" genau bestimmen, oder die Unfähigkeit einer zentralen Entscheidungsstelle, um die Rückwirkung von partiellen Änderungen auf das 62 63 64
Ebd. Ausdruck von Schelsky. Geist II 1, S. 272.
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Ganze „im voraus zu übersehen und zu regulieren", stellen kein Indiz für die Abwesenheit von Ordnung dar. 65 Der Stoff, den die Gesetzgebung zur „Fülle und Vielseitigkeit staatsrechtlicher Entwicklung in Rom" lieferte, „schwindet auf ein Minimum zusammen". Für die unformulierten, aber realiter wirkenden Verhaltensmuster verwendet Ihering die Begriffe der Sitte und des Gewohnheitsrechts. Beide lassen sich aufgrund seiner im Zweck I I entwickelten Gesellschaftstheorie als normierte, mehr oder minder institutionalisierte Verhaltenserwartungen auffassen. Amtshandeln und rollenbezogenes Verhalten werden demnach erwartbar und regulierbar gemacht, ohne unbedingt durch das Gesetz vorgeschrieben zu sein. Ihering unterstreicht die Bedeutung der „staatsrechtlichen Sitte und Praxis". Das Ineinandergreifen der Instanzen und das rollenangemessene Handeln in ihnen beruhen auf einem Bündel von Verhaltenserwartungen, welche in verschiedenem Maße bewußt, institutionalisiert und gesetzgeberisch formuliert sind. Auf die Enttäuschung von verschiedenen Erwartungen wird verschieden reagiert. Die in der bisherigen Praxis erfüllten Erwartungen können ein unterschiedliches „inneres Gewicht" haben. Sie können als „löblicher Brauch, der so oder anders sein könnte, (wie z.B. die Reihenfolge der Abstimmung im Senat)" oder als „Ausdruck politischer Nothwendigkeit (ζ. B. Befolgung der Beschlüsse des Senats)" erscheinen. In bezug auf ein bestimmtes Thema kann Verschiedenes und Gegensätzliches erwartet werden. Die Geltendmachung des Interzessionsrechts seitens eines römischen Magistrats war institutionell erwartbar, aber er könnte andererseits als ein gehässiger, Aufsehen erregender Schritt, durch den dem Magistrat, gegen den er gerichtet war „der Fehdehandschuh" hingeworfen wurde, in concreto nicht erwartbar sein. 66 Gesetzliche Regelungen werden von nicht gesetzlichen Erwartungen unterstützt oder ausgehöhlt. Ihering geht deshalb davon aus, daß die Verhaltensmöglichkeiten in den Instanzen sowie die Regeln des Instanzenspiels nur unter Berücksichtigung von „Sitte und abstraktem Recht" zugleich beobachtet und erkannt werden können. Es gibt „gewisse Einrichtungen, Regeln usw., die, ohne vom Gesetz vorgeschrieben zu sein, doch von der Praxis unabänderlich zur Anwendung gebracht werden." 67 Es kommt nicht darauf an, ob die Regeln durch die Staatsmacht sanktionierbar sind oder nicht. Die Abweichung von herausgebildeten, nicht einmal formulierten Erwartungen, die „Abweichung von der Sitte", ist ein Schritt, der „Aufsehen" erregt und der „Rechtfertigung" bedarf. 68 Die Herausbildung von Sachaufgaben und Interdependenzen in der Rechtspflege beruht auf der Bildung von Erwartungszusammenhängen, die zur Verhaltensregelung und Verhaltensorientierung dienen. Hinsichtlich der Rechtspflege haben nach Ihering alle diejenigen Verhaltenserwartungen rechtliche Relevanz, die soziale Kommunikation in bezug auf die Rechtsinstanzen und ihr Aufeinanderbezogensein strukturieren. Mit anderen Worten, nicht nur 65 66 67 68
Hier und zum folgenden s. Geist I I 1, S. 273 ff. Geist I I 1, S. 270. Geist II 1, S. 275f. Geist I I 1, S. 277.
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Gesetze, sondern auch die Sitte und die Erfahrungsregeln, die die „sorgsame Abwägung der individuellen Verhältnisse" leiten, sind rechtlich relevant. 69 Im Hinblick auf den Prozeß ist Ihering demnach erstrebt gewesen, sein Augenmerk nicht nur auf die Argumentationstechnik der Römer, sondern auch und vor allem auf den „analytischen Mechanismus des processualischen Verfahrens" zu richten. Er läßt die römische Rechtsfindung nicht so sehr auf den besonderen juristischen Denktätigkeiten im Prozeß, sondern auf dem „geregelten Gang der Verhandlung und Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten" fußen. 70 Das juristische Denken und Entscheiden werde nach seiner Auffassung in der Verfahrensorganisation institutionell ermöglicht und unterstützt. Die Rechtspflege beruhe auf der Notwendigkeit der „gesetzlichen Ordnung des prozessualischen Verfahrens". Das Adjektiv „gesetzlich" bedeutet in diesem Zusammenhang nicht die erschöpfende Regelung des Verfahrens durch den Gesetzgeber, sondern die Stringenz und Unbiegsamkeit der Prozeßordnung: „ . . . denn Freiheit des Verfahrens heißt Freiheit der Unordnung, der Laune, Willkür, Parteilichkeit auf Seiten des Richters, der Schikane und der Verschleppung des Prozesses auf Seiten der Parteien." 71 Das Verfahren wird als eine Institution bezeichnet, derer Notwendigkeit dem Rechtsleben schon sehr früh seine Eigentümlichkeit verlieh. Der „Prozeß selbst gehört zu den frühst entwickelten Rechtsinstitutionen". 72 Das Verfahren erweist sich als eine „Einrichtung" mit eigenen Bedingungen der Sinnkonstitution und des Sachhandelns. Dies bringt mit sich, daß es die „Schwierigkeiten der Rechts Verfolgung häuft und vermehrt". Zu den „materiellen Fragen des Streitverhältnisses" werden noch die „formellen des Verfahrens" hinzugefügt, welche das Handeln des Richters und der Parteien „hemmen und beschränken". 73 Das Handeln im Verfahren läßt sich aufgrund der persönlich-individuellen Bewußtseinsintentionalität des Einzelnen und ohne jegliche Kenntnis der Gerichtsverfassung oder der Verfahrensordnung im allgemeinen nicht verstehen und erklären. Die Durchbildung und Gestaltung des prozessualischen Verfahrens besteht gerade darin, daß sich das Verhalten der Beteiligten an bestimmten bereitgehaltenen Mustern orientieren muß. Abweichung hat zur Folge, daß das Verhalten für den Prozeß irrelevant oder nachteilig ist. Im altrömischen Prozeß war die subjektive Denktätigkeit des Richters „durch eine äußere Einrichtung des Verfahrens unterstützt oder garantiert." 74 Die Römer hatten nach Ihering eine „prozessualische Scheidungsmaschine" erfunden, die dem Richter die Analyse, das Zersetzen des verwickelten Rechtsverhältnisses erheblich erleichterte. Im römischen Aktionensystem lag eine „Nötigung" zur „vorprozessualischen Ausschei69 70 71 72 73 74
Geist Geist Geist Geist Geist Geist
I I 1, S. 277. III, S. 15. III, S. 15 f. III, S. 17. III, S. 16. III, S. 19.
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dung" des Streitverhältnisses. Streitigkeiten konnten anders nicht vor den Richter gelangen, „als in Gestalt einer der vorhandenen Aktionen". Eine von dieser Form abweichende Klage war ein Ding der Unmöglichkeit. Es gab keine „Klage schlechthin", die für jeden beliebigen konkreten Inhalt geeignet gewesen wäre, sondern nur eine bestimmte Zahl von einzelnen starren, unabänderlichen genau formulierten Typen, den Aktionen. Die Anforderung der Zersetzung des Rechtsverhältnisses war „im römischen Prozeß eine in die Anstalt verlegte prozessualische Notwendigkeit". Das Aktionensystem stellte einen „prozessualischen Mechanismus mit Zersetzungszwang" dar. Richterliche Untersuchung und Verteidigung des Beklagten wurden durch die Klage streng fixiert und beschränkt, sie konnten nicht „nach der Seite ausschweifen, nicht zugleich einräumen und ein ,Aber' hinzufügen, sondern beide hatten nur die Wahl zwischen einem kategorischen Ja oder Nein." 7 5 Die Hauptleistung der „analytische(n) Struktur des Prozesses" 76 ist es, daß sich das juridische Verfahren als Institution von seiner sozialen Umwelt abhebt. Es erfolgt eine genaue Festlegung des Streitgegenstandes und des Streites selbst.77 Zunächst ist institutionell festgelegt, welche „Beachtung" der „Richter dem Verhalten des Streitgegenstandes während des Prozesses angedeihen zu lassen hat." Während das „neuere römische Recht" dem Richter die Berücksichtigung der Veränderungen oder des Unterganges des Streitgegenstandes abverlangt, erklärt das altrömische Recht sämtliche Veränderungen für einflußlos und verweist den Richter „auf den Moment, in dem der Prozeß vor ihm beginnt, d. h. den der Litiskontestation". Die Sachlage in diesem Moment soll die Grundlage des ganzen Verfahrens bilden. Ebenso wie der institutionell festgelegte, starre Aktionstypus aus einem „Gedankenganzen", aus dem „Gesamtverhältnis" der Parteien, das Rechtsverhältnis aussondert, sondert er auch aus „einem Zeitganzen, den flüchtigen Moment der Litiskontestation", d.h. einen einzelnen Daseinsmoment aus. Der Richter stellt sich auf den vorübergehenden Moment der Litiskontestation ein, der wie „bei einem Lichtbilde" aufgefangen und fixiert wird. Nun hält sich der Richter, „wie immerhin auch der Gegenstand selber sich ändere", bloß an das „in dem bestimmten Moment fixierte Bild". Dieser Ausscheidungsprozeß, der mit der Festlegung des Streitgegenstandes beginnt, setzt sich durch die Fixierung des Streites selbst fort. Diese Fixierung bedeutet „Ordnung für den Prozeß" und „Disziplinierung des Streites". Sie besteht darin, „daß dem Prozeß ein bestimmter Gang" vorgezeichnet und dementsprechend allem, was zu geschehen hat, eine bestimmte Stelle und Zeit gesetzt wird. Versäumte Handlungen werden ausgeschlossen. Dies stellt für Ihering die einzige Möglichkeit dar, einerseits die Parteien zu beschränken, und sie andererseits vor richterlicher Willkür und Parteilichkeit sowie vor Schikane der Gegenpartei zu schützen. Disziplinierung des Streites sowie zeitliche und 75
Geist III, S.20ff. Beispiele und Erläuterungsmaterial zum altrömischen Zersetzungszwang hat Ihering in den Paragraphen 51 und 52 geliefert: Geist III, S. 27-133. 76 Geist III, S. 133. 77 Hier und zum folgenden s. Geist III, S. 23 ff.
I.
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sachliche Festlegung des Streitgegenstandes beruhen auf der „Zerlegung des Prozesses in gewisse Stadien". Jedes Stadium hat seine eigentümliche Wirkung und ihm eigene Resultate, die im folgenden Stadium zur Grundlage der Operationen werden. Das ist die „Methode der stückweisen Erledigung der Aufgabe, man kann sie auch als die Idee der prozessualischen Cäzur bezeichnen". Im römischen Prozeß sieht Ihering drei „Cäsuren": Erstens „das Studium der Vorbereitungshandlungen und der Feststellung des Streitpunktes, endend mit der Litiskontestation (Verfahren in jure), zweitens das Stadium der Verhandlung vor dem Richter (judex im römischen Sinn), endend mit dem Endurteil (Verfahren in judicio) und schließlich das Stadium der Execution. 78 Dieser Sachverhalt bedeutet, in heutiger Terminologie ausgedrückt, daß der Prozeß eigene „Diskriminierungen und Interdependenzunterbrechungen" einführen muß, um sich gegen seine Umwelt abzuheben. Dies gelingt ihm insofern, als er Zäsuren annimmt, die die Ursachenketten und die Zusammenhänge seiner übermäßig komplexeren Umwelt abschneiden.79 Der Prozeß muß sich seinen eigenen Vergangenheits- und Zukunftshorizont konstituieren. Er muß auch noch seinen eigenen Gegenstand adäquat konstruieren. Ihering befaßt sich im vorliegenden Zusammenhang mit Interdependenzunterbrechungen im Vergangenheitshorizont 80 und mit der Festlegung des Streitgegenstandes. Er stellt fest, daß Entscheidungsprobleme sich dem Richter immer in Form von Fällen darstellen. Die Umwelt muß es tolerieren, in die Form des juristischen Falls und des Streitgegenstandes hineingezwungen zu werden. 81 Man kann nur prozessieren, wenn man sich des vorhandenen Typenrepertoires der Aktionen bedient. Die Fixierung in der Sachdimension erfolgt mit Hilfe der Behandlungsmuster, die dem Prozeß als Institution zur Behandlung seiner sozialen Umwelt zu Gebote stehen. Die Ausführungen Iherings haben nach alldem nicht nur historischen Charakter. Sie haben das institutionelle Moment, die Bedeutung der Verfahrensorganisation im altrömischen Prozeß, herausgestellt. Die Tatsache, daß diese Organisation im Laufe der Zeit grundlegende Veränderungen erlitten hat, bedeutet beileibe nicht, daß die Bedeutung der Prozeßordnung heutzutage verschwunden oder von einer besseren, gediegenen juristischen Argumentationskunst verdrängt worden ist. Die prozessualische Zerlegungsmaschine der Römer ist nicht mehr vorhanden, „die Prozeßmaschine, wie alle Maschinen, ist eine vollkommnere geworden". 82 Der heutige Prozeß wird durch 78
Geist III, S. 26. Niklas Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, Stuttgart 1974, S. 36. 80 Über die Interdependenzen im Zukunftshorizont wird anläßlich der Besprechung der Funktion der Rechtsdogmatik nach Ihering die Rede sein. 81 Vgl. den Anstoß, den daran Cicero, De leg. II.c.19., nimmt: „Jurisconsulti... quod positum in una cognitione est, id in infinita dispertiuntur." zitiert nach Ihering, Geist III, S . U . Siehe auch die Ausführungen zu den altrömischen prozessualischen Prinzipien: „soviel Gegenstände, soviel Vindikationen", „soviel Delikte, soviel Klagen", „soviel Delationen, soviel Klagen", in: ebd., S. 39, 43, 45. 82 Geist III, S. 18. 79
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andere Interdependenzunterbrechungen gekennzeichnet. In der Zeitdimension hat beispielsweise der neuere Prozeß an die Stelle des Zeitpunktes den Zeitraum gesetzt. Andererseits müssen die Veränderungen des Streitgegenstandes während des Prozesses vom Richter berücksichtigt werden. 83 Die Zerlegung des Rechtsverhältnisses tritt in der Struktur des heutigen Prozesses nicht hervor, sie vollzieht sich vielmehr, „ohne durch eine äußere Einrichtung des Verfahrens unterstützt oder garantiert zu werden, lediglich durch die subjektive Denktätigkeit des Richters." Letztere erhielt jedoch eine andere institutionelle Abstützung und Sicherung. Diese Richtertätigkeit wird durch den „Besitz der Rechtskenntnis, deren der Staat sich heutzutage in der Person seiner Richter versichert", oder, in der Formulierung Schelskys, durch „das Ausbildungsmonopol der rechtswissenschaftlichen Fakultäten" gewährleistet. 84 Aus den Ausführungen Iherings über den altrömischen Prozeß und die Strukturierung des Instanzenspiels im altrömischen Staatswesen läßt sich fürs heutige Recht folgende These ableiten: Die in den gesetzlichen Rechtssätzen zum Ausdruck gelangende Konditionalprogrammierung der rechtsanwendenden Instanzen hängt von der eigentlichen Organisation dieser Instanzen ab. Sie ist außerdem von der Regelung des Ineinandergreifens der verschiedenen Instanzen abhängig. Letztere ist nicht nur gesetzlich, sondern auch durch die Sitte in der Praxis festgelegt. Es kommt auf die eigentliche Sinnkonstitution und Praxis im Instanzenspiel und in den einzelnen Instanzen an. Die konditionale Programmierung der Entscheidungstätigkeit in der Justiz hängt von den prozessualen Rechtsregelungen und der Justizorganisation ab. II. Wissenschaft im Rechtssystem Die konditionale Programmierung der Entscheidungpraxis in Justiz und Verwaltung wird nach Ihering auch von der wissenschaftlichen Tätigkeit in der Rechtsdogmatik unterstützt und aufbereitet. Im folgenden geht es darum, das Normverständnis der Dogmatik Iherings und ihren Beitrag zur konditionalen Entscheidungsprogrammierung herauszuarbeiten. 1. Rechtsdogmatik,
Rechtszetetik und Folgenorientierung
Rechtsdogmatik und Rechtsforschung sind zu unterscheiden. Dogmatisches Denken hat die primäre Funktion, durch Meinungsbildung und unbezweifelte Behauptungen (Dogmata) juristische Entscheidungen zu steuern. Das Forschungsdenken ist nicht dogmatisch, sondern zetetisch. Es hat die primäre Funktion, durch „fragende Forschung (zetein)" alle Behauptungen in Frage zu stellen, also als Zetemata zu behandeln.85 Dogmatik ist daher mit einem 83
Geist III, S. 24. Geist III, S. 19 f.; Schelksy, JR, (§ 6 F N 1), S. 24. 85 Theodor Vieweg, Rechtsdogmatik und Rechtszetetik bei Ihering, in: WieackerI schläger (Hrsg.), Iherings Erbe, (§ 4 FN 18), S. 214. 84
Woll-
II. Wissenschaft im Rechtssystem
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„Negationsverbot", mit der „Nichtnegierbarkeit der Ausgangspunkte von Argumentationsketten" verbunden. 86 Kritikunterbindung und Sichtbegrenzung in Hinblick auf eine Anzahl von außer Frage gestellten Behauptungen fesselt jedoch nicht nur den Geist, sondern vergrößert seine Freiheiten im Umgang mit Erfahrungen und Texten. Die rechtsdogmatische Begrifflichkeit besteht nicht in Nichtnegierbarkeiten, sie hängt von ihnen ab. Sie erlaubt „Distanznahme" und Steigerung von Unsicherheiten „auch und gerade dort", wo die Gesellschaft Bindung an Rechtsnormen und Entscheidungszwang erwartet. 87 Iherings Verhältnis zum römischen Recht war anfänglich in einem besonderen Sinne dogmatisch. Um dies zu erläutern, ist es nötig, auf einen Unterschied aufmerksam zu machen, der in der Rechtswissenschaft durch die vorherrschende Unterscheidung von Norm und faktischer Wirklichkeit verdeckt wird. Es handelt sich um den Unterschied von „Input und Output" im Rechtssystem.88 Er liegt darin begründet, daß die Zeithorizonte auseinandergehalten werden müssen. Die Inputgrenze bestimmt den Vergangenheitshorizont, die Outputgrenze den Zukunftshorizont des Rechtssystems. Die Dogmatik der Pandektistik war primär an der Inputgrenze des Rechtssystems orientiert und setzte auch dort an. Sie war vor allem daran interessiert, aufgrund einer subtilen Begrifflichkeit das Informationsmaterial über Rechtskonflikte, welches an das Rechtssystem herangetragen wurde, in entscheidungsreife, standardisierte Klassen von Fällen und Fallelementen umzuwandeln. Der Dogmatik kam eine Klassifikations- und Kategorisierungsfunktion zu. Sie war erstrebt, für jeden Fall Entscheidungsfähigkeit zu gewährleisten. Die juristische Konstruktion von Sachverhalten diente dem Zwecke der Herstellung ihrer Subsumtionsfähigkeit. 89 Ziel war es, die Erfassungskapazität der Rechtssätze und der
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Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, (§ 8 FN 79), S. 15. Ebd., S. 16 f. 88 Der Unterschied von Input und Output im Rechtssystem hat im vorliegenden Zusammenhang die Bedeutung, die ihm in der neueren Diskussion über „Folgenorientierung" zukommt. Vgl.: Niklas Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, (§ 8 FN 79), S. 31 ff.; seitdem vor allem Günther Teubner, Folgenkontrolle und responsive Dogmatik, in: Rechtstheorie 6 (1975), S. 179-204; Christian Schöneborn, Zum Stellenwert juristischer Dogmatik im Rechtsfindungsgang, in: Rechtstheorie 7 (1976), S. 169-186, 178ff.; Reinhard Damm, Norm und Faktum in der historischen Entwicklung der juristischen Methodenlehre, in: Rechtstheorie 7 (1976), S. 213 -248,241 ff.; Thomas Sambuc, Folgenerwägungen im Richteramt: Die Berücksichtigung von Entscheidungsfolgcn bei der Rechtsprechung, erörtert am Beispiel des Paragraphen 1 UWG, Berlin 1977; Thomas Wälde, Juristische Folgenorientierung, Königstein 1979; Gertrude Lübbe-Wolff, Rechtsfolgen und Realfolgen, Freiburg 1981; Hubert Rottleuthner, Zur Methode einer folgenorientierten Rechtsanwendung, in: Wissenschaften und Philosophie als Basis der Jurisprudenz, in: Beiheft 13 des Archivs für Rechts- und Sozialphilosophie, Wiesbaden 1981, S. 97118; Winfried Hassemer, Über die Berücksichtigung von Folgen bei der Auslegung der Strafgesetze, in: Norbert Horn u. a. (Hrsg.), Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart, Festschrift Helmut Coing, München 1982, S. 493-524. 87
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dogmatischen Begriffe angesichts der Mannigfaltigkeit und des Konfliktpotentials einer zunehmend komplexen Gesellschaft sowie im Hinblick auf den Entscheidungszwang im Rechtssystem zu steigern. Das Problem der juristischen Konstruktion lag in der Standardisierung und Kategorisierung von Inputdaten. Dieses Konfliktsmaterial wurde zu juristisch konstruierbaren Fällen aufbereitet. Die Dogmatik war einseitig auf das Problem der Klassifikation und Bearbeitung von Inputinformationen, d.h. auf Probleme der Inputgrenze, fixiert. Gerade Ihering ist derjenige, der gegen diese Grundorientierung rebellierte. Schon vor seiner Kehrtwendung zeigte Ihering hervorragende Fähigkeiten als Dogmatiker. Seine konstruktive Phantasie verhalf ihm immer dazu, im konstanten römischrechtlichen Normmaterial des Corpus Iuris über Begriffserweiterungen und analogische Ausdehnungen das Nötige ausfindig zu machen, so daß Fälle subsumtionsfähig wurden. Seine rechtsdogmatischen Theorien stellten keine rein kognitiven Leistungen dar. Die Argumentationsweise in den rechtsdogmatischen Abhandlungen Iherings bewegte sich anfangs durchaus im Rahmen der herkömmlichen Methoden, der Quellenanalyse und der interpretativen Ausdeutung der Quellen. Es ist ihm jedoch gelungen, sich die Kategorisierung der Fälle und der Informationen über Entscheidungsmöglichkeiten an der Inputgrenze dadurch zu erleichtern, daß er im Laufe der Zeit in seinem Argumentationsstil eine Umorientierung von der Inputgrenze auf die Outputgrenze vollzog. Er bediente sich vornehmlich des Zweckmoments und der teleologischen Auslegung. Seine rechtsdogmatische Argumentation war auf ihre Folgen ausgerichtet und durch sie kontrolliert. Der Schwerpunkt der Argumentation ist vom Vergangenheitshorizont auf den Zukunftshorizont des Rechtssystems verlagert worden. Diese Verlagerung erfolgte aufgrund der Inanspruchnahme des Regel/Ausnahme-Schemas in der Ausdeutung und Anwendung von Rechtssätzen. Nach diesem Schema werden Rechtssätze als Regeln formuliert und verstanden, von denen Ausnahmen zugelassen werden. Es entwickelt sich somit ein Gebiet tolerierter Regelabweichungen. Diese zwingen die Rechtsdogmatik dazu, neue Begriffe und abstraktere Formulierungen der rationes legum bereitzuhalten, um diese tolerierte Illegalität aufzufangen. 90 Die Rechtsdogmatik Iherings hat mit Rechtsregeln operiert, die Ausnahmen zulassen. Sie mußte somit diese Abweichungsmöglichkeiten mitreflektieren und dem auf diese Weise entstandenen, unvermeidlichen Denk- und Abstraktionsdruck strukturell Rechnung tragen. Entscheidungen, die der Regel folgen, bedürfen keiner besonderen Begründung. Sie können den „schon ausgehobenen Kanal der Begründung durch die Regel" benutzen.91 Die Ausnahme muß hingegen konkret in ihrer Eigenschaft als 89
Rudolph von Ihering, Unsere Aufgabe (1857), in: Gesammelte Aufsätze aus den Jahrbüchern für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts, Iena 1881, Neudruck Aalen 1981, Bd. 1, S. 1-46. 90 Luhmann, (§ 8 F N 79), S. 32: „Wenn das Abtreibungsverbot Ausnahmen erhält, kann es nicht mehr schlicht auf den Wert des (organischen) Lebens gegründet werden." 91 Hier und zum folgenden s. ebd., S. 33 f.
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Abweichung von der Regel und sogar in ihrer Unschädlichkeit für die Regel „innovativ", also erstmals, begründet werden. Innovative Begründung wird bei Ihering durch Zweckorientierung geleistet. Dabei macht er auf schwerwiegende, unnormale Folgen der Regelanwendung aufmerksam, welche die „Signalfunktion" übernehmen, „den Entscheidungsprozeß von der Regel weg auf eine Ausnahme hinzulenken". Diese Signalfunktion der Folgenorientierung hat ihm in seinen berühmtesten rechtsdogmatischen Abhandlungen zu gelungenen Konstruktionen verhofen. In der Abhandlung „Beiträge zur Lehre von der Gefahr beim Kaufcontract" (1859) 92 , die seine rechtstheoretische Wende kennzeichnete, ist die Fixierung auf die Outputgrenze des Rechtssystems deutlich. Die Argumentation wird auf die voraussehbare, offensichtlich unerwünschte Folge einer Regelanwendung abgestellt. Der Verkäufer, der mehreren Käufern nacheinander dieselbe Sache verkauft hat, soll im Falle ihres „casuellen Untergangs" von jedem Käufer den Kaufpreis fordern können. 93 In seiner anderen, sehr berühmten Abhandlung über die „Culpa in contrahendo oder Schadensersatz bei nichtigen oder nicht zur Perfektion gelangten Verträgen" (I860) 9 4 , die er ein Jahr nach der offiziellen Bekundung seiner Kehrtwendung schrieb, verfährt Ihering ebenso. Auch hier stellt Folgenorientierung den Ausgangspunkt der innovativen Begründung der Ausnahme und Abweichung von der Regel dar. Die juristische Unmöglichkeit des Schadensersatzes bei nichtigem Vertrage und culpa in contrahendo ist eine unerwünschte Folge der Regel, daß Schadensersatz nur bei gültig abgeschlossenem Vertrage möglich sein soll. „Die Unbilligkeit und praktische Trostlosigkeit eines solchen Resultats liegt auf der Hand; der culpose Theil geht frei aus, der unschuldige wird das Opfer der fremden Culpa!" 9 5 Alarmierende Einzelfolgen werden zur Begründung von Ausnahmen und zugleich zur Bestätigung der Regel verwendet. 96 Die Wende Iherings besteht mithin darin, daß er bewußt die Folgen juristischer Entscheidungstätigkeit als Orientierungs- und gar Rechtfertigungsgesichtspunkte in Anspruch genommen hat. Folgenorientierung und Folgenkontrolle von Rechtsentscheidungen stellen seit dieser Wende die Grundlage des juristischen Argumentierens vom Ergebnis her dar. Darauf gründen sich die heutige Interessenjurisprudenz und die soziologische Jurisprudenz sowie die Forderungen nach einem gesellschaftspolitischen Engagement des Juristen. Folgenorientierung ist eine selbstverständliche Richtlinie für Praktiker und Interpreten, ein Ausgangs- und Bezugspunkt für rechtsdogmatische Erfindungen und ein Anfallstor für die Soziologie geworden. 97
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Ihering, Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, Neudruck Aalen 1981, S. 291 -326. Ebd., S. 292. 94 Ebd., S. 327-425. 95 Ihering, ebd., S. 328. 96 Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, (§ 8 F N 79), S. 34, 40. Ein Beispiel alarmierender Einzelfolge: „schwerwiegende Gesundheitsschäden der Mutter bei strikter Einhaltung des Abtreibungsverbots." 93
19 Gromitsaris
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Gegen diese Tendenz, daß Folgen der Rechtsentscheidungen als Kriterien für die Entwicklung einer modernen Dogmatik verwendet werden können, sind Zweifel angemeldet worden. 98 Die Möglichkeit, Rechtsentscheidungen durch ihre Folgen zu begründen, und der Versuch, eine Dogmatik über Folgenerwägungen aufzubauen, werfen als erstes die Frage nach der Abgrenzung des Relevanzbereiches von Folgen auf. Es werden „Scheuklappen" benötigt, die verhindern, daß „alle Nebenfolgen, alle Folgen von Folgen" berücksichtigt werden. 99 Die Rechtfertigung und Begründung durch Folgen beruht auf einer vorausgesetzten, gerechtfertigten Selektion der Folgen, die zur Bewertung herangezogen werden. Damit Folgenerwartungen als Kriterien benutzt werden können, müssen sie mithin schon vorher eigens für diese Funktion ausgewählt und präpariert werden. Dies bedeutet, daß Interdependenzunterbrechungen im Zukunftshorizont des Rechtssystems unentbehrlich sind. Es muß bei Rechtsentscheidungen präzisiert werden, in welchem Umfange Wirkungen und Wirkungswirkungen in Betracht zu ziehen sind. Die Orientierung an Entscheidungsfolgen ist Orientierung an einer noch ungewissen Zukunft und Gefährdung der Rechtssicherheit. Der Entscheidende orientiert sich nicht mehr an Kriterien, die „das Entscheidungsprogramm transzendieren, sondern nur noch direkt an den Folgenerwartungen selbst." Der Bürger wird andererseits „auf Voraussicht der Entscheidungen des Rechtssystems verwiesen". Wenn nun das Entscheiden des Rechtssystems auf „der Voraussicht seiner eigenen Folgen" beruht, wird der Bürger dazu genötigt, „Voraussicht vorauszusehen". Im Prozeß der Folgen voraussieht und Folgenabwägung ihrer Entscheidungen laufen die Juristen Gefahr, „zwischen ihren wertenden Erwartungen und ihren Kriterien" nicht mehr ausreichend differenzieren zu können. 100
2. Rechtsdogmatik bei Rudolph von Ihering Es ist interessant zu prüfen, wie man mit der Rechtsdogmatik Iherings auf diese Problemstellung reagieren kann. Zunächst muß einmal nach der Funktion von Zweckerwägungen im Rahmen des konditional programmierten Entscheidens gefragt werden. Es wird sich zeigen, daß Zweckerwägung und Folgenorientierung eine Korrektivfunktion erhalten. Zweitens vollzieht sich eine Folgeninternalisierung im Rechtssystem, drittens besteht ein Anschlußzwang im rechtsdogmatischen Argumentieren. Außerdem wird die Zweckerwägung nicht an 97 Nach der bremisch-frankfurtischen Schule der „Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft" soll der Jurist die Anwendung von Normen auf Sachverhalte in zweckbewußtem gesellschaftlichem Eingreifen zur sozialen Gestaltung einsetzen. Kritisch dazu: Helmut Schelsky, Nutzen und Gefahren der sozialwissenschaftlichen Ausbildung von Juristen, in: Die Soziologen und das Recht, (§ 2 F N 2), S. 196-214. Ders., JR, (§ 6 F N 1), S. 34-76, 62f. 98
Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, (§ 8 F N 79), S. 29 ff. Hier und zum folgenden s. ebd., S. 35f. 100 Ebd., S. 35, 48.
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legislativ festgelegten, einheitlichen Zwecken orientiert. Schließlich ist die rechtsdogmatische Begrifflichkeit durch „Gesellschaftsadäquität" gekennzeichnet, so daß der Dogmatik Iherings nach alledem ein besonderes Normverständnis zugrunde liegt. a) Konditionalprogramme haben die Form „Wenn-Dann". Der Jurist findet seine Entscheidungsaufgabe darin, zu prüfen, ob die Wenn-Bedingungen erfüllt sind. In solchen Konditionalprogrammen haben Zwecke eine Korrektivfunktion. Sie können sekundär zur „Ausräumung von Auslegungszweifel" herangezogen werden. Die rechtsdogmatische Auslegung gesetzter Normen greift insofern auf Zweckerwägungen zurück, als die Wenn-Bedingungen von juristischen Entscheidungen nur unter Berücksichtigung des Zwecks und der Funktion der Norm deutlich werden zur Anwendung kommen können. 101 Hierhin gehört die Benutzung des Regel / Ausnahme-Schemas, dessen sich Ihering mit Vorliebe bedient hat. In seiner Monographie „Der Besitzwille" 102 beispielsweise zieht er auf der Suche nach zusätzlichen Entscheidungshilfen den Zweck und die Funktion der gesetzlichen Regelungen des Besitzes in Betracht. Um Detention und Besitz im römischen Recht auseinanderzuhalten, versucht er die Funktion der Detentionsverhältnisse im römischen und zeitgenössischen Leben herauszuarbeiten. Er ist bestrebt, den „legislativ-politischen Gedanken", die „Teleologie" und die praktischen Lebensbedürfnisse, die zu dieser Begriffsunterscheidung geführt haben, herauszustellen. 103 Auf diese Weise gelingt es ihm, Korrekturen an der Besitzlehre Savignys anzubringen. Die „Teleologie des abgeleiteten Besitzverhältnisses" steuert die rechtsdogmatische Konstruktion und die Auslegung der Bedingungen der Entscheidungsprogramme. 104 b) Mit dem Begriff der Folgen von juristischen Entscheidungen sind in der Rechtsdogmatik nicht unbedingt die Realfolgen in der gesellschaftlichen Umwelt gemeint. Es handelt sich sehr oft um die unmittelbaren Rechtswirkungen von rechtlich fixierten Entscheidungen. Demgemäß geht es bei der Folgenabwägung von Rechtskonstruktionen vielfach um die Abwägung von den verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten, die „sich an die eine bzw. andere Konstruktion anknüpfen lassen". Dieser Sachverhalt wird als die „Internalisierung des Folgenproblems" bezeichnet.105 Das Rechtssystem be101 Luhmann, Funktionale Methode und juristische Entscheidung, in: Ders., Ausdifferenzierung des Rechts, (§ 7 F N 2), 275 ff. 102 Ihering, Der Besitzwille. Zugleich eine Kritik der herrschenden juristischen Methode., Neudruck der Ausgabe Iena 1889, Aalen 1968. 103 Ebd., S. 364f.: „Der Zweck d.i. praktische Erwägungen, Motive sind es gewesen, welche in Rom neben dem Besitz die Detention ins Leben gerufen haben." Siehe auch S. 103 zur geschichtlichen Entwicklung des Detentionsbegriffs: „Das römische Haus ist der historische Ausgangspunkt des Detentionsbegriffs, der Ursitz, die Heimath des relativen Detentionsverhältnisses." 104
Ebd., S. 364ff. Hier und zum folgenden s. Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, (§ 8 FN 79), S. 40 f. 105
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schränkt die Folgenberücksichtigung auf diejenigen Folgen, die „seine Selektionen für es selbst haben". Die unüberschaubaren Realfolgen werden durch „Zusammenhänge von eigenen Entscheidungsmöglichkeiten" ersetzt. Folgenkontrolle einer Rechtsentscheidung bedeutet demnach Kontrolle durch die aufgrund der Entscheidung selbst eröffneten weiteren Entscheidungsmöglichkeiten für andere, künftige Fälle. Aus mehreren Entscheidungsalternativen wird nach Maßgabe von schon bewerteten Rechtsfolgen und nicht von Realfolgen die juristisch bestmögliche Konstruktion des Falles ausgewählt. Dies ist eine besondere Art der Teleologie, die auf eine Auseinandersetzung mit Realfolgen des Entscheidens außerhalb des Rechtssystems verzichtet. Sie beschränkt sich bei der Folgenberücksichtigung auf die eröffneten Entscheidungsmöglichkeiten und ihre Vereinbarkeit mit anderen Entscheidungen. Nun fragt es sich, ob Ihering das Folgenproblem in dieser Weise internalisiert hat, und ob er es dabei bewenden ließ. Es wird sich zeigen, daß sich Iherings dogmatische Rechtsentscheidungen sowohl an internalisierten Folgen als auch an gesellschaftlichpolitischen Realfolgen orientierten. Die Antwort auf diese doppelte Fragestellung bezieht sich gleichzeitig auf den dritten oben angeführten Punkt über den „Anschlußzwang" in der Rechtsdogmatik. Diesen Sachverhalt hat Ihering im Kapitel über „Die juristische Ökonomie" und im berühmten Kapitel über die „Theorie der juristischen Technik" im „Geist" erläutert. 106 Die Internalisierung des Folgenproblems, diese „Transformation externer in interne Interdepenzen" 107 hat Ihering als Korrektiv von Abstraktionen benutzt. Fallkonstruktionen werden auf ihre rechtsdogmatischen Folgen hin geprüft. Wie die Prüfung erfolgen soll, und wie die internalisierte Folgenkontrolle am effektivsten sein kann, ist genauestens beschrieben worden. Ihering fordert bei der internen Folgenkontrolle die Beachtung des Gesetzes der Sparsamkeit und der Deckung des positiven Stoffes, des Gesetzes des „Nichtwiderspruchs" und desjenigen der „juristischen Schönheit". 108 Es handelt sich um Gesetze des juristisch Möglichen. Es müssen die juristisch möglichen Konstruktionen des Falles, d.h. die vorhandenen Entscheidungsalternativen gewonnen und ihre Interdependenzen im System (Gesetz des Nichtwiderspruchs) ermittelt werden. Hier wenden wir uns dem Problem des Anschlußzwanges und der sachlichen Vereinbarkeit im rechtsdogmatischen Begriffssystem zu. c) Unter dem Stichwort des Anschlußzwanges 109 ist der Sachverhalt zu diskutieren, daß in den rechtsdogmatischen Entscheidungen Kontinuität in der Veränderung durch Rückbindung an die Vergangenheit gesichert sein soll. 106
Ihering, Geist III, S. 243 ff., Geist I I 2, S. 322-389. Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, (§ 8 F N 79), S. 40. 108 Geist I I 2, S. 330f., 371 f., 374f., 379f. 109 Den Begriff benutzt Luhmann, Die Funktion des Rechts: Erwartungssicherung oder Verhaltenssteuerung?, in: Ders., Ausdifferenzierung des Rechts, (§ 2 FN 8), S. 73-91, 87 f.; ders., Rechtssystem und Rechtsdogmatik, S. 55, zur Erläuterung des Rechts als einer selbstsubstitutiven Ordnung. 107
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Neben diesem Problem der Kontinuität in der Zeit bestehen rechtsimmanente Bedingungen der sachlichen Konsistenz von Entscheidungen. Ihering hat beide Probleme zusammen abgehandelt. Das dogmatisch Neue muß an das schon Vorhandene anschließbar sein. Entscheidungen können nur durch Entscheidungen ersetzt werden „und nicht einfach, zum Beispiel, durch gute Zwecke." 110 Diesen doppelten Aspekt bringt Ihering mit seinem Gesetz der Sparsamkeit und der juristischen Ökonomie zum Ausdruck. In der Dogmatik muß mit „möglichst wenig möglichst viel auszurichten" sein. In dieser Sparsamkeit erblickte Ihering eins „der Lebensgesetze aller Jurisprudenz". Eine Jurisprudenz, die es nicht versteht, „mit dem Material zu ökonomisieren, wird von der anschwellenden Masse des Stoffs zu Boden gedrückt, erliegt ihrem eigenen Reichtum". 111 Dies ist ein Fundamentalgesetz der juristischen Technik, „gleichmäßig geltend für alle Epochen der Jurisprudenz". Was sich mit der Bildungsstufe der Jurisprudenz ändert, sind „die Art und die Formen", in denen es angewandt wird. Das Fundamentalgesetz formuliert Ihering wie folgt: „was die Jurisprudenz mit den gegebenen Mitteln und Begriffen zuwege bringen kann, dafür soll sie keine neuen schaffen." 112 Die Folgenkontrolle von juristischen Entscheidungen besteht in diesem Fall darin, ob etwas dogmatisch „Überflüssiges" postuliert wird. Es soll danach gefragt werden, ob die Entscheidung, „unter dem Gesichtspunkt der Kunst sich in geschickter Weise mit dem Vorhandenen zu behelfen", vertretbar ist. Dieses Postulat wirkt sich auch in sachlicher Hinsicht auf den normativen Stoff aus. Die Jurisprudenz ist „wie an das Gesetz, so auch an sich selbst gebunden, sie darf bei ihren Construktionen nicht mit sich selbst, mit den Begriffen, Lehrsätzen, die sie anderwärts aufgestellt hat, in Widerspruch treten". 113 Sie soll die jeweiligen Bedingungen des juristisch Möglichen bestimmen. Der Begriff der juristischen Möglichkeit und Unmöglichkeit ist ein relativer. Was heutzutage als juristisch möglich gilt, „z. B. Forderungen, die dem jedesmaligen Inhaber eines Papiers zustehen, Indossamente in bianco, offene Hypotheken an eigener Sache usw." wäre für die älteren Juristen ein Verstoß gegen „jede juristische Logik". 1 1 4 Auf jeden Fall hängt die juristische Möglichkeit von den jeweils vorhandenen, in den dogmatischen Begriffen verdichteten Entscheidungsmöglichkeiten ab. Internalisierte Folgenkontrolle von Rechtsentscheidungen wird letztlich im Hinblick auf „Natürlichkeit, Durchsichtigkeit, Einfachheit, Anschaulichkeit" der Fallkonstruktion ausgeübt. Die in concreto benutzte Konstruktionsweise wird an dem gediegenen, juristischen, argumentativen „Kunststyl" 1 1 5 gemessen (Gesetz der juristischen Schönheit). Zusammenfassend kann man sagen, daß die Internalisierung des Folgenproblems entschei110 111 112 113 114 115
Luhmann, Die Funktion des Rechts, (§ 8 FN 109), S. 87. Geist II 2, S. 330. Geist III, S. 242f. Geist II 2, S. 374. Geist II 2, S. 376ff. Geist II 2, S. 380.
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dungstechnisch die Folgenberücksichtigung im Rechtssystem selbst erheblich erleichtert. Es wird möglich, daß „Punkt-für-Punkt-Beziehungen" 116 zwischen der Fallkonstruktion und ihren Folgen vorgestellt werden. Jede Konstruktion hat ihre eigenen rechtsimmanenten Folgen, die nach Ihering mit Hilfe der erwähnten Konstruktionsgesetze ermittelt und beurteilt werden können. Die auf diese Weise gesteuerte Folgenabwägung und „Teleologie" rechtfertigt die Wahl einer der juristisch möglichen Konstruktionen. 117 d) Die Orientierung an internalisierten Folgen besteht in einem Vergleich von Entscheidungsmöglichkeiten, die sich als Ergebnisse gewisser Normauslegungen für verschiedene Fälle ergeben. Insofern integriert die Dogmatik das Rechtssystem nur auf der Ebene von Entscheidungsprämissen. Diese klassifiziert sie an der Inputgrenze und fixiert sie damit für künftige Fälle. Sie leistet demnach keine Folgenintegration in der Realität ihrer sozialen Umwelt. Ihering ist derjenige gewesen, der in seiner späten wissenschaftlichen Phase das Problem der rechtsdogmatischen Integration der Realfolgen von juristischen Entscheidungen thematisierte. Er war sich zunächst einmal darüber im klaren, daß Gesetzgebung auf Zweckerwägungen beruht. Er war aber zudem noch der Auffassung, daß die gesetzlichen Zwecke und die Realfolgen von gesetzlichen Rechtsentscheidungen höchst verwickelt und unklar sind. Zweckorientierung setzt Zweckfestlegung voraus. Es fragt sich, an welchen (externen) Zwecken juristische Entscheidungen sich zu orientieren haben. Nach seiner Auffassung orientieren sich dogmatische und gerichtliche Entscheidungen primär an den eigenen und sekundär an den gesetzlichen Zweckerwägungen und Realfolgen. Rechtssätze und Rechtsinstitute können sozialen Zwecken dienen, die der Gesetzgeber gar nicht vorausgesehen hat oder hätte voraussehen können. Auf diese Zweckkontingenz können die juristischen Einzelentscheidungen flexibel reagieren, indem sie sich an ihren konkreten Realfolgen orientieren. Externe Folgenorientierung hat für eine vornehmlich klassifikatorische Dogmatik zur Folge, daß die Festlegung von allgemeinen, typisierten Entscheidungsprämissen durch die Konkretheit der fallweise geleisteten Folgenkontrolle erschwert wird. Externe Folgenorientierung zersetzt die herkömmlichen dogmatischen Klassifikationsinstrumente und führt begriffliche BedeutungsVerschiebungen herbei. Sie zwingt die Rechtsdogmatik dadurch zu neuen Begriffsbildungen. Rechtssätze und Rechtsinstitute werden nicht nur einem einzigen, vom Gesetzgeber 116
Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, (§ 8 F N 79), S. 41. Ihering, Geist I I 2, S. 373 f. geht von einer funktionalen Äquivalenz der juristischen Konstruktionen eines Falles aus. Es gibt keine notwendigen Konstruktionen: „Die Jurisprudenz ist also hinsichtlich der künstlerischen Gestaltung des Stoffs vollkommen frei, insofern ihm nur in der Form, die sie ihm verleiht, dieselbe praktische Kraft verbleibt, wie in seiner bisherigen. Es stehen ihr dabei möglicherweise ganz verschiedene Formen zu Gebote." Als Beispiel führt er die funktional äquivalenten Konstruktionen der Rechtsverhältnisse im Falle des Verbauens von Baumaterial in einem fremden Haus an: „Beide (Konstruktionen) führten praktisch ganz zu denselben Resultaten". Die internalisierte Folgenkontrolle ist für die Wahl der Konstruktion ausschlaggebend. 117
II. Wissenschaft im Rechtssystem
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vorgesehenen Zweck dienstbar gemacht. Sie leisten auch Dienste, die „über ihr natürliches Leistungsvermögen, ihren eigentlichen Sinn und Zweck hinausgehen, wo ihnen also zu dem Behuf Gewalt angetan werden muß". Nach Ihering können Rechtssätze durchaus Zwecken dienstbar gemacht werden, für die sie „ihrer Intention nach nicht bestimmt sind". 1 1 8 Rechtssätze und Rechtsinstitute sind nicht nur mit seitens des Gesetzgebers intendierten Zwecken und erwünschten Realfolgen verbunden. Die laufende juristische Entscheidungstätigkeit verbindet die vorhandenen Rechtssätze und rechtsdogmatischen Begriffe mit ständig neuen Themen und macht sie neuen, unvorhergesehenen Zwecken dienstbar. Die Geltung von Rechtssätzen wird durch die juristische Entscheidungspraxis auf neue Themen, Bedürfnisse und Zwecke bezogen. Letztere brauchen nicht immer rechtmäßig und erlaubt zu sein. „Dieselbe Kunst, die, . . . bemüht war, das Recht zu stützen, zu fördern und zu vervollkommnen, diente im Leben auch dazu, seinen Bestimmungen auszuweichen, sie zu umgehen und zu vereiteln. Den Umwegen, welche die Wissenschaft einschlug, um erlaubte Zwecke zu erreichen, korrespondieren die Schleichwege, deren das Leben sich bediente, um unerlaubte Zwecke zu verfolgen." 119
In diesem Zusammenhang wird das Verhältnis des Gesetzesrechtes zu sozialer Wirklichkeit thematisiert. Der Sinn der Rechtssätze enthüllt sich hinreichend, wenn auch ihre möglichen unerwünschten Realfolgen in Betracht gezogen werden. Der Versuch des Gesetzgebers, sein Gesetz vor Umgehungen sicherzustellen, alle Kunst, „die er aufbietet, es zu schützen, ist derjenigen, die das Leben anwendet, es zu durchlöchern, zu untergraben, zu stürzen, kaum gewachsen". 120 Um den gewünschten Erfolg zu erreichen, genügt das bloße Gebot oder Verbot nach Ihering ebensowenig wie die bloße „Schärfe des Schwertes". Die Schlauheit und unerschöpfliche List des Lebens (der sozialen Umwelt des Rechtssystems), die auf Vereitelung von Gesetzeszwecken gerichtet ist, nötigt der juristischen Kunst neue Begriffsbildungen und Entscheidungen ab. Manche Rechtssätze seien „nur" aus diesem Gesichtspunkt zu erklären. 121 Manche von den „Schleichwegen des Lebens" werden im Laufe der Zeit vom Recht und von der Jurisprudenz sogar adoptiert. So erklärt Ihering beispielsweise die Entstehung der Scheingeschäfte als besonderer juristischer Geschäftsformen. 122 Im römischen Recht gab es kein Verhältnis, das nicht einer „fraudulösen Benutzung ausgesetzt gewesen wäre". 1 2 3 Rechtssätze und Rechtsinstitute werden auch 118
Geist III, S. 246. Geist III, S. 262. 120 Hier und zum folgenden s. Geist III, S. 264. 121 Geist III, S. 263. 122 Geist III, S. 262. 123 An Beispielen mangelt es nicht: Emanzipationen, Arrogationen, Adoptionen und Ehen wurden vor allem sehr oft zur Umgehung von gesetzlich erwünschten Realfolgen benutzt. „Scheinadoptionen und Scheinverkäufe der Kinder ins Manzipium dienten im sechsten Jahrhundert den Mitgliedern der latinischen Gemeinden als allbetretener Weg, 119
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§ 8 Rechtsnorm und Institution bei Ihering
heutzutage zur Erreichung von Zwecken verwendet, die ihnen, gesetzlich gesehen, vollkommen fremd sind. Dies hat für die rechtsdogmatischen Einzelentscheidungen zur Folge, daß sie sich an ihren eigenen möglichen Realfolgen orientieren müssen. Die einzelne Entscheidung kann durchaus von dem legislativ-politischen, meistens unklaren Zweck des Gesetzgebers abweichen. Jede juristische Einzelentscheidung beruht auf eigenen Zweckerwägungen und hat eigene, erstrebte und unerwünschte, Realfolgen. Die legislativ-politischen externen Folgenerwartungen spielen in der Teleologie Iherings nicht die primäre Rolle. Die Entscheidungspraxis muß die vorhandenen Rechtssätze und Rechtsinstitute neuen Zwecken und Bedürfnissen dienstbar machen, welche der historische, „vielköpfige" Gesetzgeber nicht erwarten und erstreben konnte. Unter diesen Voraussetzungen könnte man hier den Begriff der Strategie einführen, welcher sich dem Programmbegriff zuordnen läßt. Programme lassen sich insofern als Strategien bezeichnen, als sie im Laufe des Vollzugs aus gegebenem Anlaß geändert werden können. Problematisch ist es, daß die Rechtssätze als Konditionalprogramme keine nähere Festlegung der Informationen beinhalten, die Anlaß geben könnten, das jeweilige Konditionalprogramm in bestimmten Hinsichten zu ändern. Trotzdem werden Rechtssätze in der juristischen Praxis als Strategien behandelt. Im Laufe des Vollzugs wird sowohl der im voraus „gegebene" Änderungsanlaß fixiert als auch die Programmänderung durchgeführt. Das programmatische und das strategische Moment ergänzen einander. Der Vorteil der Vorwegselektion wird mit der Möglichkeit des Ergreifens von strategischen Initiativen verbunden. So verstanden führt die Strategie zum Begriff des institutionalisierten Spiels. 124 Die Rechtsdogmatik stellt eins der im Rechtssystem möglichen Spiele. Die Dogmatik Iherings versucht nicht die Folgen von Rechtsentscheidungen mit Hilfe einer differenzierten Begrifflichkeit in der sozialen Umwelt des Rechtssystems zu integrieren. Seine Teleologie versteht sich andererseits auch nicht als eine Polemik gegen dogmatische Begriffsbildung, gegen Abstraktion und gegen Dogmatik. Mit seinem Prinzip der juristischen Ökonomie versuchte er, sowohl der inneren Entscheidungskonsistenz als auch der externen Folgenkontrolle von Entscheidungen Rechnung zu tragen. Er nimmt allerdings die um das römische Bürgerrecht zu erlangen." Auch die Eingehung simulierter Ehen wurde zur Herbeiführung von vermögensrechtlichen und erbrechtlichen Folgen benutzt. Geist III, S. 267 ff. 124 Hierzu: Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), S. 432 (Anmerkung). Ausführlicher: Edgar Morin , La méthode, Bd. 2. La Vie de la Vie, Paris 1980, S. 224 ff. „Programme et stratégie s'entre-appellent l'un l'autre. . . . Tout processus vivant constitue en fait un mixte variable de stratégie et de programme. .. .Qui dit stratégie dit jeu. Le jeu est une activité obéissant à des règles et subissant des aléas, comportant donc risques et chances, et qui vise à obtenir un résultat par lui-même incertain". Hier könnte eine Spieltheorie des Rechts ansetzen. Vgl.: F. Ost IM. van de Kerchove, Le jeu de l'interprétation en droit. Contribution à l'étude de la cloture du langage juridique, in: Archives de philosophie du droit, 27 (1982), S. 395-409; F. Ost, Entre ordre et désordre: le jeu du droit. Discussion du paradigme autopoiétique appliqué au droit, in: ebd. 31 (1986), S. 133-162.
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möglichen Widersprüche, die die Orientierung an konkreten Folgen mit sich bringt, in Kauf. Die „neue Gedanken... die neuen Zwecke und Bedürfnisse, die der Fortschritt der Bildung und die Entwicklung des Verkehrs mit sich bringen", sind nach dem genannten Prinzip „möglichst mit den gegebenen Mitteln zu bestreiten". 125 Die vorhandenen Rechtssätze und Begriffe bezeichnet Ihering als ein Rechtsalphabet. 126 In derselben Weise, wie neue Wörter mit den vorhandenen Buchstaben wiedergegeben werden, so sind auch „neue Rechtsverhältnisse oder eigenthümliche Complicationen derselben" mit Hilfe von Kombination oder Modifikation der vorhandenen Rechtssätze und Grundbegriffe rechtlich zu regeln. 127 Neue Zwecke und Bedürfnisse stellen mit ihrem Novitätsgehalt eine Gefahr dar, die „den Bestand der bisherigen Ordnung in Frage stellt". Trotzdem werden neue Gedanken in alten Rechtssätzen und Kombinationen 128 derselben untergebracht. Dies führt zur Entwicklung von juristischen, „künstlichen Mitteln", wie die „Konstruktionshandlungen, die Scheingeschäfte und die Fiktionen" für das ältere römische Recht. 129 Die juristische Ökonomie steuert nach Ihering insofern die externe Folgenorientierung, als sie Entscheidungen, die mit bestimmten Realfolgenerwartungen verbunden sind, als juristisch mehr oder minder schwer konstruierbar erscheinen läßt. e) Mit dem Begriff der „Gesellschaftsadäquität" von dogmatischen Figuren und Erfindungen wird ein systemtheoretischer Tatbestand bezeichnet. Es handelt sich um die begriffliche Problemtransformation von sozialen Strukturen in normative, entscheidbare, juristische Formen. 130 Gesellschaftsadäquate Begriffe formulieren ein Verhältnis zwischen Rechtssystem und Gesellschaftssystem, welches nicht „durch konkret angebbare Wechselwirkungen vermittelt wird", sondern nur auf „Verschiebungen in langfristigen Trends der Strukturänderung" reagiert. Eine solche Problemtransformation ins Rechtssystem gelang z.B. im Falle der Einführung der dogmatischen Figur des Vertrages als Leistungsbeziehungen zwischen unübersehbaren Partnern. Im Rahmen seiner über die Entstehung der dogmatischen Figuren des römischen Rechts angestellten Untersuchungen suchte Ihering seine Erklärungen nicht in den Rechtssätzen des Corpus Iuris, sondern in strukturellen Analysen der altrömischen Gesellschaft. Andererseits ist er bestrebt gewesen, auf die neuen Verkehrsbedürfnisse seiner Zeit mit adäquaten rechtsdogmatischen Konstruktionen zu antworten. So gehen seine Ausführungen über das „alte Privatrecht" von einer Analyse der 125
Geist III, S. 244. Geist I I 2, S. 334ff. 127 Geist I I 2, S. 335. 128 Die Jurisprudenz ist gezwungen, einen neuen Gedanken zuzulassen. Sie schlägt jedoch ihm, „wenn ich so sagen darf, kein besonderes Bett auf, wo er sich frei strecken, ausdehnen, rühren kann, sondern sie bringt ihn unter, wo es eben geht, sie bettet ihn bei einem andern bereits rezipierten Begriff, dem er sich fügen, anschmiegen und unterordnen muß." In: Geist III, S. 244. 126
129 130
Geist III, S. 277 ff. Hier und zum folgenden: ebd., S. 50 f.
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„Verfassung des römischen Hauses" aus. 131 Die Kategorie der Stellvertretung wird in einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsphase benötigt. Das „Bedürfnis, sich bei rechtlichen Handlungen durch andere vertreten zu lassen", sei von einem einigermaßen entwickelten Verkehr gar nicht zu trennen. 132 Ihering erklärt die verhältnismäßig späte Entstehung der Figur der Stellvertretung im römischen Recht dadurch, daß sich diese bereits von altersher im Besitz zweier Formen befinde, die sich „auch noch im neuern Recht erhalten haben." Es geht um die Benutzung der hausuntertänigen Personen und der Sklaven für den angegebenen Zweck. Alles, was diese Personen erwerben, fällt ihrem Gewaltinhaber zu. Die zweite Form bestand darin, daß der „Beauftragte das Geschäft in eignem Namen abschloß und hinterher die Wirkungen desselben auf den Mandanten übertrug". Mit der Ausdehnung des römischen Reiches und der Trennung von Familie und Wirtschaft erhielten diese Formen die Funktion der Stellvertretung und wurden zu diesem Zwecke „in ausgedehntester Weise" benutzt. 133 Ihering ist, was das Verständnis des römischen Rechts angeht, stets bemüht gewesen, die Funktion der dogmatischen Begriffe in der jeweiligen Entwicklungsphase der altrömischen Gesellschaft zu ermitteln. Er beschränkt sich nicht auf Darlegung der Rechtsnormen, „ohne das reale Leben in (seinen) Gesichtskreis zu ziehen". 134 Auch seine rechtsdogmatischen Erfindungen werden dadurch gekennzeichnet, daß sie neuen Verkehrsbedürfnissen dienstbar gemacht werden. Die Begründung der „culpa bei Gelegenheit eines intendirten Contractsverhältnisses" oder der Kategorie des subjektiven Rechts braucht die gesellschaftsstrukturelle Adäquität nicht formuliert zu beinhalten. Die Adäquität und die Darstellung können auseinanderfallen. 135 Es kommt darauf an, daß Ihering sich um eine Begrifflichkeit bemüht, die mit wichtigen Strukturen der Gesellschaft kompatibel sein sollte. 136 Sie soll daher historisch, änderbar und positiv sein. 137 Die dogmatischen Kategorien sind andererseits imstande, kleinere Stöße, konkretere soziale Verschiebungen zu absorbieren. Sie reagieren eher auf langfristige soziale Strukturänderungen. Wie sehr aber dennoch ein einzelnes Rchtsalphabet bei all seiner Positivität den Einflüssen von Zeit und Ort zu trotzen vermöge, dafür gebe uns das römische einen schlagenden Beweis. 138 131
Ihering, Entwicklungsgeschichte (§ 2 F N 18), S. 50ff. Geist III, S. 252 f. 133 Geist III, S. 253. 134 Ihering, Entwicklungsgeschichte, S.9f. 135 Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatk, (§ 8 F N 79), S. 55. 136 Ihering, Culpa in contrahendo (1860), in: Gesammelte Aufsätze, (§8 FN 92), S. 327-425, 363ff. Der Verkehr könne die culpa in contrahendo gar nicht entbehren. 137 Geist I I 2, S. 348: „Unser praktisches Rechtsalphabet ist daher etwas Positives, Historisches, und die Geschichte eines jeden Rechts bestätigt dies. Es ändern sich nicht bloß die Rechtssätze, sondern mit ihnen auch die Begriffe und Institute, und es ändert sich nicht bloß die Beschaffenheit und Bedeutung unserer vorhandenen Rechts-Buchstaben, sondern die Zeit bringt uns völlig neue und streicht die alten aus." 138 Hier und zum folgenden: Geist I I 2, ebd. 132
III. Sozialer Wandel durch Recht
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Der soziale Wandel bringt ζ. B. eine neue „praktische Gestaltung des Eigenthums, der Servitut, Obligation usw." mit sich, und fordert mithin auch neue Möglichkeiten des Juridifizierens, der begrifflichen Konstruktion des Stoffes. f) Der soeben geschilderten Rechtsdogmatik Iherings liegt ein besonderes Normverständnis zugrunde. Das geschriebene Recht, der Rechtssatz, gewährt keinen hinreichenden Anhaltspunkt für das Erfassen der Rechtsnorm. Ihering vergleicht das geschriebene Recht mit der Schrift. Letztere gewährt nur eine sehr rohe Reproduktion der Sprache „genügend für denjenigen, der die Aussprache kennt, für denjenigen aber, der danach allein letztere glaubt erlernen zu können, durchaus unzureichend." 139 Rechtssätze stellen einen allzu ungenauen Anhaltspunkt für das „Sprechen des Rechts" dar. Die Dogmatik bezieht sich auf sie als positiv geltendes Recht. Ihre Bedeutung, ihr Umfang in der Sachdimension steht aber für sie nicht fest. Die laufende juristische Entscheidungstätigkeit legt jedes Mal den Themenkreis, auf den sich der Rechtssatz bezieht, erneut fest. Der legislativ-politische Zweck erleidet nicht nur lautlose Schwerpunktverlagerungen, er wird sogar juristisch umgangen, damit der Rechtssatz neuen Bedürfnissen und Zwecken dienstbar gemacht werden kann. Der normative Sinn, an dem sich die juristischen Einzelentscheidungen orientieren, liegt nicht im Rechtssatz verborgen. Er ergibt sich aus der im Gange bleibenden Entscheidungstätigkeit. In diesem Sinne kann man auch sagen, daß der Rechtssatz nicht die Rechtsnorm ist. Letztere befindet sich stets im Wandel. Ihr Geltungsumfang verschiebt sich mit jeder neuen Entscheidung. Der legislative Zweck des Rechtssatzes, der sich möglicherweise aus einer Motivforschung ergeben könnte, ist kein unentbehrliches Strukturmerkmal der Rechtsnorm. 140 Letztere bezieht sich auf Themen, die sich zu ihr nach und nach aufgrund neuer Einzelentscheidungen hinzufügen. III. Sozialer Wandel durch Recht Bislang ist der Versuch unternommen worden, die staatliche Organisation und Entscheidungsbürokratie einerseits sowie die Rechtswissenschaft andererseits in ihrem arbeitsteiligen Zusammenwirken zu untersuchen. Organisation und Wissenschaft haben sich als „Generatoren der Festlegung von rechtlichen Verhaltensprämissen" erwiesen. 141 Es hat sich dabei herausgestellt, daß Rechtsnormen durchaus nicht mit den symbolischen, sprachlich fixierten Gesetzestexten identisch sind. Sie entstehen vielmehr „permanent und kontinuierlich erst in den Entscheidungssituationen, die sie strukturieren sollen". 142 M i t der Zweck139
Hier und zum folgenden: Geist I I 2, S. 346. Dies gilt nach Ihering auch für Normen im allgemeinen, nicht nur für Rechtsnormen. DieNormen gelten weiterhin, obwohl ihre anfängliche soziale Funktion gewandelt ist. Vgl. Zweck II, S. 135, 653 f. 141 Krawietz, Reine Rechtslehre oder Systemtheorie, (§ 2 FN 14), S. 115. 142 Ders., Rechtssystem und Rationalität in der juristischen Dogmatik, (§ 6 F N 43), S. 77. 140
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§ 8 Rechtsnorm und Institution bei Ihering
Orientierung des rechtlichen Entscheidens ist nicht gemeint, daß die Gesetzgebung als kausales Bewirken von bezweckten Wirkungen aufgefaßt werden soll. Der Zweckbegriff greift diejenigen Wirkungen aus dem Gesamtkomplexe von Wirkungen heraus, die das Handeln und das Entscheiden rechtfertigen sollen. Jede juristische Einzelentscheidung orientiert sich an ihren eigenen Folgenerwartungen oder bezweckten Wirkungen. Die externen Folgeninterdependenzen des Rechtssystems lassen sich nicht von einer einzigen zentralen Stelle aus nachvollziehen, bewerten oder gar bezwecken.143 Diese, in ihrer Modernität überraschenden Thesen Iherings werfen ferner die Frage auf, wie sich menschliches Erleben und Handeln außerhalb der staatlichen Organisation und der Wissenschaft zu den Rechtsnormen verhält. Diese Frage ist schon von Schelsky in seinen Ausführungen über „Das Modell des sozialen Wandels" durch Recht bei Ihering teilweise beantwortet worden. 144 A n die Überlegungen und Ergebnisse Schelskys wird hier angeknüpft. 1. Rechtswirklichkeit
und Rechtsgefühl
Gegenüber der faktischen Rechtswirklichkeit der jeweils historisch vorhandenen Institutionen, d.h. gegenüber der Rechtsverwirklichung und der Rechtsanwendung, die die formulierten Rechtssätze und die Entscheidungsorganisation voraussetzen, stellt das Rechtsgefühl nach Ihering ein Sekundärphänomen dar. Rechtsbewußtsein und Rechtsideen entspringen aus der Verallgemeinerung und „Ideierung" der konkreten Erfahrung mit der rechtlichen Regulierung sozialer Macht- und Interessenkonstellationen. 145 Rechtsgefühl und Recht stehen auf verschiedenen Stufen der Rechtsentwicklung in verschiedenem Verhältnis zueinander: Vorsprung des Rechts vor dem Rechtsgefühl oder das Rechtsgefühl unter dem Banne des Rechts der Zeit, Kongruenz beider, Vorsprung des Rechtsgefühls vor dem Recht. Auf der dritten Stufe können Rechtsideen und bloßes „vorausgreifendes Rechtsbewußtsein" jedoch keineswegs zu einer „historisch-sozialen Rechtssetzungssituation" führen, wenn sie sich nicht mit einem praktischen sozialen Druck zur Rechtsveränderung verbinden. Erst die „soziale Not schafft neues Recht, ohne diese sind neue Rechtsprinzipien intellektueller ,Unfug'". 1 4 6 Andererseits bleiben „gesellschaftliche Antriebe", d.h. fordernde Erwartungen und Ansprüche insofern ohne soziale Einwirkung, als sie nicht juridisch gefaßt werden. Deswegen richtet Ihering an jeden Einzelnen eine „politische Handlungsanweisung", die ihn auffordert, das „bloß rezeptive Verhalten dem Gesetze gegenüber" durch die Herstellung eines gegenseitigen Verhältnisses zu ersetzen. Der Einzelne solle einerseits seine Rechte aktiv 143 Werner Krawietz, Juristische Methodik und ihre rechtstheoretischen Implikationen, in: ders., Recht als Regelsystem, (§ 2 F N 14), S. 16-49, 46; ders., Reine Rechtslehre oder Systemtheorie, (§ 2 F N 14), S. 118. 144 Schelsky, SWR, (§ 6 F N 104), S. 59 ff. 145 Ebd., S. 60f., mit zahlreichen Ihering-Zitaten. 146 Ebd., S. 63.
III. Sozialer Wandel durch Recht
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durchsetzen und andererseits versuchen, noch nicht statuierten Wunschvorstellungen und Normprojektionen rechtlichen Charakter zukommen zu lassen. 147 Die politische Handlungsanweisung Iherings scheint eine Inklusionsformel, einen geforderten aktiven Zugang zum rechtlichen Funktionskreis darzustellen. 145 Im „Kampf ums Recht" wird das Interaktionsfeld des täglichen Lebens im Hinblick auf seine Bezugnahme auf das Recht hin untersucht. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder werden Konflikte dadurch juridifiziert, daß gesetzte Rechtsnormen zitierwahrscheinlich oder zitiert werden. Eine andere Möglichkeit besteht darin, enttäuschungsfeste Erwartungen (Normprojektionen) dadurch in die Zone rechtlicher Negierfahigkeit zu bringen, daß sie zu Rechtsnormen erhoben werden. Im ersten Fall werden die Interaktionsthemen in die Form von Recht oder Unrecht gezwungen, während im zweiten lediglich der Anspruch auf die Behandlung nach diesem binären Schematismus erhoben wird. In beiden Fällen bedarf es des Mutes, um die „zunächst unterstellbare schöne Einmütigkeit des gemeinsamen Lebens" durch die Einführung der unangenehmen Alternative des Im-Recht- oder Im-Unrecht-Seins zu brechen. 149 Soziale Ideale, Anliegen und verschiedenartige Forderungen stellen, selbst wenn sie sich das Gewand kontrafaktischer Erwartungen umlegen, noch keine Rechtsnormen dar. Sie können jedoch durch Kommunikation mit Bezugnahme auf die schon statuierten Rechtssätze und die kontinuierlich in der laufenden juristischen Entscheidungstätigkeit entstehenden Rechtsnormen in das Rechtssystem eingesteuert werden. Hinter dem rechtlichen Handlungsappell Iherings steckt mehr als nur die Wahrung subjektiver Rechte. 150 Es wird gefordert, daß Selektionsofferten als aus dem sozialen Geschehensfluß herausgegriffene Verhaltensmöglichkeiten derartig bekundet werden, daß sie sich für Annahme bzw. Ablehnung vom Standpunkt des Rechts her öffnen. 151 Es wird eine doppelte Selbstbeobachtung 147
Ebd., S. 64, 69, 71, mit zahlreichen Ihering-Zitaten. Den sozialen Wandel durch Recht beschreibt Ihering in der Einleitung seines posthum veröffentlichten Buches, Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts, S. 22 ff. 148 Der Inklusionsbegriff wird im Sinne von Luhmann benutzt. Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1980, S. 31, 141 und Bd. 2, (§ 7 F N 65), S. 98; ders., Rechtszwang und politische Gewalt, in: Ausdifferenzierung des Rechts, (§ 2 F N 8), S. 157; ders., Evolution und Geschichte, in: Soziologische Aufklärung Bd. 2, (§ 2 F N 5), S. 160. 149 Luhmann, Evolution des Rechts, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, (§ 2 F N 8), S. 50; ders., Kommunikation über Recht in Interaktionssystemen, in: ders., ebd., S. 53-72, 54, 58; ders., Konflikt und Recht, in: ebd., S. 92-112, 96. In anderen Rechtskulturen ist es bekanntlich mit Konflikt und Recht anders bestellt: Zentaro Kitagawa, Rezeption und Fortbildung des europäischen Zivilrechts in Japan, Frankfurt a.M.—Berlin 1970, S. 154ff.; Wilhelm G. Grewe, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft im heutigen Japan, Tübingen 1978, S. 13ff., 20ff., 22ff.; José Llopmart, Rechtsbewußtsein und Verantwortungsgefühl im Japan der Gegenwart, in: Rechtstheorie 14 (1983), S. 285303. 150 151
SWR, (§ 6 FN 104), S. 80. Luhmann, Soziale Systeme, (§ 2 F N 14), S. 204.
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§ 8 Rechtsnorm und Institution bei Ihering
gefordert. Im Weiterführen von Leben, Bewußtsein und sozialer Kommunikation sollen Individuen und Gruppierungen Selektionsleistungen, die mit Anfang, Ende und Einheit behaftet sind, irreversibel mitteilen, d.h. sich selbst als handelnd beschreiben. Dabei sollen sich „Abstützpunkte für Anschlußhandlungen" des Rechtssystems, das als Teil der gesellschaftlichen Realität verstanden wird, ergeben. Andererseits soll das Rechtssystem seine Differenz zur sozialen Umwelt und seine Art von Informationsgewinnung und Informationsbearbeitung durchhalten und zugleich sich selbst als kognitiv offenes, lernbereites, sich den praktischen Anforderungen anpassendes System beschreiben. Gleichwohl bleibt es ein normativ geschlossenes System, denn nur seine eigentümliche Verknüpfungsweise konstituiert Rechtsnormen. Es ist jedoch zu bemerken, daß in der neueren Diskussion die normative Geschlossenheit des Rechtssystems in Zweifel gezogen wird. 1 5 2 Schlichter politischer Wille, wirtschaftliche Nützlichkeitserwägungen, verschiedenartige Sachgesetzlichkeiten auf den arbeitsteilig differenzierten Funktionssystemen können jedenfalls nur insofern als rechtlich qualifiziert werden, als sie in die Alternative Recht / Unrecht hineingezwungen werden. Der Handlungsappell bedeutet daher für die Umwelt des Rechtssystems eine Aufforderung zur Selbstbeschreibung als Verrichter von rechtlich anschlußfähigen Handlungen. Für das Rechtssystem bedeutet er eine Aufforderung zur Selbstbeschreibung einerseits als kognitives Orientieren an den gelieferten Umweltinformationen und andererseits als ein „Denken modo futuri exacti" 1 5 3 , d.h. als Vorstellen des schon Entworfenseins seiner Umweltwirkungen. Es ist mithin nicht die juristisch-dogmatische Unterscheidung zwischen subjektiven Rechtsansprüchen und objektiver Rechtsordnung, die den sozialen Wandel 152 Es wird hier auf Ausführungen von Luhmann Bezug genommen: Luhmann, Soziale Systeme, S. 228, 229, 235, 239 f.; ders., Die Einheit des Rechtssystems, in: Rechtstheorie Bd. 14 (1983), S. 139; ders., The Self-Reproduction of Law and its Limits, in: Gunther Teubner (Hrsg.), Dilemmas of Law in the Welfare State, Berlin—New York 1986, S. 111127. Vgl. die daran anschließende Diskussion: Gunther Teubner, Hyperzyklus in Recht und Organisation. Zum Verhältnis von Selbstbeobachtung, Selbstkonstitution und Autopoiese, in: Hans Haferkamp /Michael Schmid (Hrsg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung. Beiträge zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt am Main 1987, S. 89-128; ders., Introduction to Autopoietic Law, in: ders. (Hrsg.), Autopoietic Law: A New Approach to Law and Society, Berlin—New York 1988, S. 1 -11 ; ders., Evolution of Autopoietic Law, in: ebd., S. 217-241; François Ewald, The Law of Law, in: ebd., S. 36-50; Jean-Pierre Dupuy, On the Supposed Closure of Normative Systems, in: ebd., S. 51-69; Hans-Georg Deggau, The Communicative Autonomy of the Legal System, in: ebd., S. 128-151; Richard Lempert, The Autonomy of Law: Two Visions Compared, in: ebd., S. 152-190; Karl-Heinz Ladeur, Perspectives on a Post-Modern Theory of Law: A Critique of Niklas Luhmann, „The Unity of the Legal System", in: ebd. 242-282; Niklas Luhmann, Closure and Openess: On Reality in the World of Law, in: ebd., S. 335-348. Franceois Ost, Between Order and Disorder: The Game of Law, in: ebd., S. 70-96; vgl. ferner zu derselben Problematik: Nikolaos G. Intzessiloglou, Essai d'Identification de la Totalité du Phénomène Juridique en tant que Système, in: Rechtstheorie Beiheft 10 (1986), S. 271 - 279; ders., Essai d'élaboration d'un programme de recherche scientifique interdisciplinaire pour l'étude du phénomène juridique, in: Revue interdisciplinaire d'études juridiques 19 (1987), S. 43-82. 153
Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, (§ 7 F N 28), S. 60, 66.
III. Sozialer Wandel durch Recht
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durch Recht vorantreibt. Diese Aufgabe fällt vielmehr der rechtspolitischen Unterscheidung zwischen Gerechtigkeitsansprüchen, also zwischen dem vorgreifenden Rechtsgefühl einerseits und der faktischen Rechtswirklichkeit andererseits, zu. 1 5 4 Der „Kampf ums Recht" geht über die Wahrung subjektiver Rechte hinaus. In ihm ist vor allem auch der „Kampf um neues konkretes Recht unter den Gesichtspunkten der Gerechtigkeit gemeint." Für die Problemstellung der Theorie des sozialen Wandels ist der Gegensatz objektives und subjektives Recht bedeutungslos. Die Beispiele der Bauern oder Industriearbeiter, die vom Gesetzgeber „neues Recht und Rechtswandel" fordern, wären sonst völlig sinnlos. Der Zusammenhang Recht und Gerechtigkeit wird durch den Handlungsappell vor die Kombination Recht und Ordnung gestellt. Den auf der Ideierung des geltenden Rechts beruhenden Gerechtigkeitsansprüchen wird vor der bestehenden Rechtsordnung Vorrang gewährt. Das „subjektive Rechtswollen unter den Vorstellungen der Gerechtigkeit hat einen Wirkungsvorrang gegenüber den Stabilitätsbedürfnissen der objektiven Rechtsordnung". Das Recht ist das Realitätsprinzip, das Prinzip der sozialen Verlangsamung, das den subjektiven Gerechtigkeitsansprüchen „eine Objektivierung abverlangt, die dann der Freiheit der Subjektivität als Gegenständlich-Äußeres zwar widersteht". Eben damit, d.h. durch das „Dazwischentreten eines Verlangsamungsrhythmus" verleiht das Recht den subjektiven Zielen und dem Gerechtigkeitswollen „Dauer und Stabilität". Diese „Umformung und Bewältigung der sozialen Wirklichkeit" meint Ihering auch, wenn er von „Kampf um Recht" und „Arbeit" spricht. Der Handlungsappell setzt bei Ihering ein besonderes Verständnis des Rechts voraus. Das Recht wird als institutionalisierender Mechanismus verstanden, der einen „stabilen sozialen Wandel" herbeiführen kann. 1 5 5 Diesem Tatbestand liegt eine Unterscheidung zugrunde, die von Ihering nicht angesprochen wird, welche aber in der Institutionentheorie Schelskys impliziert ist. Es handelt sich um die Differenz zwischen normierenden und institutionalisierenden Mechanismen (Luhmann). 156 Wenn man nun die sanktionstheoretischen Überlegungen Iherings und seine Aussage über den Staat als Quelle allen Rechts dahin interpretiert, daß der staatlichen Rechtsordnung angehörende, normative Sinngebilde gesamtgesellschaftliche Relevanz genießen sollen, dann müßte man den Staatsbezug als Prozedur der Herstellung allgemein unterstellbaren Konsenses verstehen. Die normierenden Mechanismen der Kirche oder einer Räuberbande können außerhalb ihrer Systemgrenzen nicht mit fiktiven Konsensbereitschaften rechnen. Die durch sie kontrafaktisch stabilisierten Verhaltenserwartungen lassen sich durch systemimmanente, institutionalisierende Mechanismen ihrer sozialen Territorialität und Provinzialität nicht entheben. Das Recht stellt gesellschaftsweit fiktiven, erfolgreich über154
Hier und zum folgenden: SWR, (§ 6 F N 104), S. 80f. Ebd., S. 83. Schelsky hebt die institutionalisierende Wirkung des Rechts mit Hilfe der von ihm dargelegten Ähnlichkeit zwischen Ihering und den Positionen von Hauriou hervor: S. 81-83. 156 Luhmann, Rechtssoziologie, (§ 2 F N 4), S. 67, 77. 155
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schätzten Konsens her. Gerade dieser institutionelle Aspekt des Rechts ist der Grund, warum der „Kampf ums Recht" eine so große Wirkung auf Sorel und den juridischen Sozialismus ausgeübt hat. Dieser Aspekt von Iherings Erbe hat Schelsky im Buch von Michael Freund über „Georges Sorel. Der revolutionäre Konservatismus" aufgedeckt. 157 2. Subjektives Recht Nun ist es nötig, feststellen zu können, mit welchen Erwartungen man gesamtgesellschaftlich im Recht ist. Dies ist nur dann möglich, wenn die Bewertungen des objektiven Rechts, der bestehenden Rechtsordnung in Betracht gezogen werden. Dies wiederum bedeutet nichts anderes, als daß eine Bezugnahme auf Gesetzestexte und rechtsdogmatische Wissenschaft sowie auf die Verhaltensmuster und die Sinnkonstitution in der Rechtspflege Entscheidungsbedingungen und Entscheidungswahrscheinlichkeiten zum Vorschein treten lassen soll. Die externe Beobachtung ist nicht imstande, aus der Mannifaltigkeit von Normprojektionen, Gerechtigkeitsansprüchen und Regularitäten das rechtlich Relevante und Begriffs wesentliche herauszulesen. Die Wechselbeziehung zwischen rechtsnormativem Sinngebilde und faktischem rechtlichem Geschehen sowie das Problem der Erkenntnisbedingungen rechtlicher Regelhaftigkeiten sind von Ihering im Rahmen seiner Theorie des subjektiven Rechts und des sozialen Wandels durch Recht in drei Stufen dargelegt worden. Die bekannte Formel Iherings, das subjektive Recht sei ein rechtlich geschütztes Interesse, kann nur verstanden werden, wenn Forderungen an das Rechtssystem und Forderungen aus dem Rechtssystem klar voneinander getrennt werden. 158 Interessen und Subjektivität lassen sich unterschiedlich definieren, je nachdem, ob sie vom Rechtssystem aus oder von der sozialen 157
Frankfurt 1931. Es ist ein politikwissenschaftliches Buch. Freund schreibt Bericht und Zitat aus Sorel mischend: „Solange das Proletariat seine Ideale nicht juridisch fassen kann, verlieren sich die Forderungen des Proletariats in einer nebelhaften revolutionären Ideologie und bleiben ohne Einwirkung auf die Welt. Nur durch Institutionen, die auf das Recht gegründet sind, hat das Proletariat ein Dasein als Klasse. Im Recht bildet sich die ungestalte treibende Bewegung des sozialen Lebens zur Form: bildet sich Masse zur Klasse." Zitiert nach Schelsky in: SWR, (§6 F N 104), S. 71, der anschließend die rhetorische Frage stellt: „Ihering und seine Auswirkungen nicht aktuell, nur antiquarisch?" iss w e r diese Unterscheidung nicht beachtet und das Rechtssystem nicht als geschlossen-selbstreferentiellen Kommunikationszusammenhang auffaßt (s. hierzu im folgenden im Text), fällt den drei Antinomien von A l f Ross anheim: Alf Ross, Towards a realistic Jurisprudence. A criticism of the dualism of law, Copenhagen 1946, S. 171 ff.: „1. Thesis: The existence of subjective law is determined relatively to the actual function of the compulsory system. Antithesis: The actual function of the compulsory system is determined relatively to the existence of subjective law. 2. Thesis: The duty-creating character of the consequences of compulsion is conditioned by their character as sanctions'. Antithesis: The character as ,sanctions'-attaching to compulsion is conditioned by its following upon the contravention of a duty. 3. The element of will in the concept of subjective law can neither be retained nor abandoned."
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Umwelt desselben aus betrachtet werden. Im ersten Fall werden mit „Interessen" Lebensverhältnisse, soziale Sinnverweisungen gemeint, die als Einflußmöglichkeiten gesellschaftlicher Kräfte Druck auf das Rechtssystem ausüben. Die Subjektivität ist ebenfalls als eine sozial konstituierte Einheit zu verstehen. Im zweiten Fall hingegen ist das Interesse als ein rechtlich bedingter Möglichkeitsbereich, als Schutzwürdigkeit und öffentlicher Wert aufzufassen. Das Subjekt wird rechtlich als Zurechnungseinheit rechtlicher Selektionsleistungen konstruiert. Es ist nicht mit der physischen Person identisch, es hat relative Rechtsfähigkeit und zerfällt in verschiedene Rollensegmente. Das Recht regelt nicht die Lebensverhältnisse einer Person, sondern diejenigen des Eigentümers, Besitzdieners, Vermieters oder Erben. 159 Der Eingriff eines Rechtsaktes, d. i. des Verhaltens einer mit Hoheitsbefugnissen ausgestatteten Person, die innerhalb des Rechtssystems handelt, d.h. Richter, Anwälte, Gesetzgeber und Beamte aller Art, stellt Bedingungen und Folgen oder Zurechnungszusammenhänge her. Er statuiert für das betreffende Rechtsobjekt „BestimmungsVerhältnisse" zugunsten der Rechtssubjekte.160 Aus dem normativen Gefüge in der sozialen Umwelt des Rechtssystems werden Anknüpfungspunkte hervorgehoben und juristisch qualifiziert, indem rechtliche Folgen damit verbunden werden. Die Schutzwürdigkeit ist keine sich aus den Anknüpfungspunkten ergebende Notwendigkeit. Sie nimmt vielmehr in der die Rechtsfolgen begründenden Rechtsnorm ihren Ursprung. In der Besitzlehre Iherings wird beispielsweise die Grenze zwischen Besitz und Detention durch die Rechtsnorm, durch die Satzung gezogen.161 An die Stelle des „tatbestandlich ungewissen und schwer beweisbaren Besitzwillens" wird die normative Entscheidung als „offenkundig besitzbegründender Faktor" gesetzt. 162 Beliebige gegebene Umstände können 159 Ulrich K. Preuss, Die Internalisierung des Subjekts. Zur Kritik der Funktionsweise des subjektiven Rechts., Frankfurt am Main 1979, S. 79f., 81 f. 160 Ausschlaggebend für die Operationsweise des Rechtssystems, so wie sie Ihering verstand, sind folgende zwei Abhandlungen: Rudolph von Ihering, Die Reflexwirkungen oder die Rückwirkung rechtlicher Thatsachen auf dritte Personen (1866), in: ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, Neudruck Aalen 1981, S. 79-177; ders., Passive Wirkungen der Rechte. Ein Beitrag zur Theorie der Rechte (1866), in: ebd., S. 178-351, 185. 161 Zu Savignys Willenslehre und zum Einfluß Kants auf die Entwicklung der Besitzlehre: Paul Sokolowski, Der Besitz im klassischen Recht und dem deutschen bürgerlichen Gesetz, Unveränderter Neudruck der Ausgabe Halle 1907, Aalen 1959, S. 208 ff. 162 Elemér Pólay, Beiträge zu Iherings Besitztheorie, in: WieackerI Wollschläger, (Hrsg.), Iherings Erbe, (§4 F N 18), S. 192-205, 197. Vgl. ferner: Neil MacCormick, Persons as Institutional Facts, in: Ota Weinberger/Werner Krawietz (Hrsg.), Reine Rechtslehre im Spiegel ihrer Fortsetzer und Kritiker, S. 371 - 393, 371 : „Zurechnung is the crux of the matter."; Hans Kelsen, Kausalität und Zurechnung, in: Hans Klecatsky u. a. (Hrsg.), Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, Wien 1968, S. 663-692. Der Rechtswissenschaft geht es des öfteren um die rechtsdogmatische Rechtfertigung von juristischen Zurechnungsakten. Vgl. z.B. schon: Heinz Rhode, Die beiderseitige Voraussetzung als Vertragsinhalt, in: Archiv für die civilistische Praxis 124 (1925), S. 257-332, 178f., 181: Die Frage sei, welche Beziehungen
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zu rechtlich relevanten Sinnzusammenhängen erhoben u n d m i t Rechtsfolgen verbunden werden. Bindende K r a f t k a n n dem bloßen Versprechen (pactum nudum) sowie auch einem vollzogenen A k t (Realgeschäft) oder einem Verfahren (Mancipatio) verliehen w e r d e n . 1 6 3 Diese Beliebigkeit darf aber nicht als freie W i l l k ü r , sondern als Ergebnis einer unter rechtsimmanentem Anschlußzwang und umweltlichem D r u c k wertenden Überlegung angesehen w e r d e n . 1 6 4 M a n tut Ihering Unrecht, wenn m a n seine Theorie des subjektiven Rechts ausschließlich aufgrund seiner Ausführungen i m letzten Teil des Geist I I I zu rekonstruieren versucht. Bausteine seiner Theorie befinden sich vielmehr zwischen zwei Ereignissen lege die Rechtsordnung, legten die Gesetze, zu Grund, wenn sie behufs Eintritt einer bestimmten Rechtswirkung verlangen, daß das eine Ereignis das andere verursache. Es komme nicht darauf an, ob die betreffende Relation im philosophischen oder lebensweltlichen Sprachgebrauch als „Causalzusammenhang" bezeichnet werde. Die dem Rechtssystem eigentümliche Operationsweise konstituiert Wirklichkeit, selbst wenn ihre Begriffsbildung nach der jeweils herrschenden philosophischen Richtung als contra naturam scientiae zu erklären wäre. Demnach widerfahrt dem Juristen notwendigerweise das Geschick des Dichters Stazio in Dantes Purgatorio, canto X X I , 136: „trattando l'ombre come cosa salda". 163 Zweck I, S. 270ff. Ihering nahm mit diesen Ausführungen Gedankengut vorweg, das später für die skandinavischen Realisten grundlegend wurde. Ihering hat die Willenstheorien in der Weise bekämpft, daß er das Willensdogma der römischen Juristen überhaupt leugnete. Daran nahmen seine Zeitgenossen Anstoß, vgl. exemplarisch zu dieser Willensbekämpfung Iherings: Hugo Kress , Besitz und Recht. Eine civilrechtliche Abhandlung, Nürnberg u. Leipzig 1909, S. 112 -116. Im Gegensatz dazu haben Jörgensen und Hägerström später, Ihering folgend, gegen das Willensdogma im Recht argumentiert: Axel Hägerström, Der römische Obligationsbegriff im Lichte der Allgemeinen römischen Rechtsanschauung, Bd. 1 und 2, Uppsala 1927-1941, S. 37ff., 64ff.; ders., Inquires into the nature of law and morals, Uppsala 1953, S. 41, 43f., 54, 62f., 64, 66, 213f. (Kritik an Iherings Begriff der zweiseitig bindenden Rechtsnorm: Zweck I, S. 329); ders., Recht, Pflicht und bindende Kraft des Vertrages nach römischer und naturrechtlicher Anschauung, herausgegeben von Karl Olivecrona, Uppsala 1965, S. 35,41; Stig Jörgensen, Vertrag und Recht. Privatrechtliche Abhandlungen, Copenhagen 1968, S. 40. 164 Zum Verhältnis zwischen Rechtssystem und Umwelt — mindestens was die kognitiven Operationen im Rechtssystem angeht — vgl. die systemtheoretischen Ausführungen von Heinz von Foerster über System und Umwelt im allgemeinen: Thoughts and Notes on Cognition, in: ders., Observing Systems, 2. Aufl., Seaside California 1984, S. 232 - 255, 250, 252 ff.; ders., Notes on an epistemology for living things, in: ebd., S. 258 271, 260f., 263, 266ff.; ders., Objects: Tokens for (Eigen-) Behaviors, in: ebd., S. 274-285, 274, 280; ders., On Constructing a Reality, in: ebd., S. 288-309, 294, 296, 306ff. Foerster unterscheidet zunächst einmal zwischen „environment, internal representation of environment" und „description of environment". Die Umwelt ist „conceptualization of descriptions of (the internal representation of) the evironment, that is descriptions of descriptions of descriptions' or, equivalently,,representations of representations of representations... ' Cognitive processes create descriptions of, that is information, about the environment. The environment contains no information. The environment is as it is". Die Information, die ein Ereignis „beinhaltet", ist nichts anderes als die Ausbildung von Operationen im System, die die systeminterne Representation dieses Ereignisses reagieren. Vgl. ferner: Francisco J. Varela, (§2 F N 17), S. 170ff.; Edgar Morin, La Méthode, Bd. 3. La Connaissance de la Conaissance /1, Anthropologie de la Connaissance, Paris 1986, S. 48f.: „Connaître, c'est primairement computer".
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sowohl i m Geist I I I als auch i n den zwei zitierten Abhandlungen i n den Jahrbüchern, i n der Monographie „ D e r Besitzwille" und i m Zweck I. Sie müssen alle berücksichtigt w e r d e n . 1 6 5 I m Geist wendet sich Ihering gegen eine lange T r a d i t i o n 1 6 6 , die auf Ockham 167 zurückzuführen ist. Er polemisiert gegen die Auffassung, die Berechtigung sei ein „ W o l l e n d ü r f e n " , eine „Willensherrschaft", eine Eigenschaft des Subjekts. Er verwirft die subjektbezogene Interpretation der Rechtsordnung u n d behauptet, daß auch der römischen Rechtsanschauung ein Subjektbezug i m pandektistischen Sinne fremd gewesen sei. 1 6 8 Die Idee der Begründung der Berechtigung auf Subjektivität war Ihering unverständlich. Die späteren „ K o m b i n a t i o n s t h e o r i e n " , die zwischen dem Willensdogma, zwischen Savigny u n d Windscheid einerseits u n d Ihering andererseits eine Brücke schlagen sollen, opfern den Ansatz Iherings v ö l l i g . 1 6 9 Die Subjektlosigkeit der Berechtigung bei Ihering ist nicht verstanden w o r d e n . 1 7 0 Sie wurde immer einesteils 165 Dies hat Michel Villey, Le droit subjectif chez Ihering, in: Iherings Erbe, (§ 4 F N 18), S. 217-227, geleistet. Daran wird im vorliegenden Zusammenhang geknüpft. Im Zweck I I entwickelt Ihering den für das subjektive Recht wichtigen Begriff des „Zwecksubjekts". Alle Rechte des Privatrechts, wenn sie auch zunächst nur das Individuum zum Zweck haben, sind beeinflußt und gebunden durch die Berücksichtigung gesellschaftlicher Interessen: S. 135 ff., 177ff. s. Zitate und Nachweise bei Villey, Le droit subjectif chez Ihering, ebd., S.223f. 166 Eine sehr gute historische Übersicht bei Franz Kasper, Das subjektive Recht: Begriffsbildung und Bedeutungsmehrheit, Karlsruhe 1967; vgl. ferner: Christoph Bergfeld, Franciscus Connanus (1508-1551). Ein Systematiker des römischen Rechts, Köln u. Graz 1968; Helmut Coing , Zur Geschichte des Begriffs „subjectives Recht", in: ders., Zur Geschichte des Privatrechtssystems, Frankfurt 1962, S. 29-65; Michel Villey (Hrsg.), Le droit subjectif en question, in: Archives de Philosophie du droit, No 9, Paris 1964; Ludwig Raiser , Der Stand der Lehre vom subjektiven Recht im Deutschen Zivilrecht, in: Juristenzeitung 1961, S. 465-473; ders., Vertragsfunktion und Vertragsfreiheit, in: Hundert Jahre Deutsches Rechtsleben, Festschrift Dt. Juristentag 1860-1960, II Karlsruhe 1960, S. 101-134. 167 Vgl. hierzu: Michel Villey, Leçons d'histoire de la Philosophie du droit, Paris 1957, S. 249-283; ders., La génèse du droit subjectif chez Guillaume d'Occam, in: Archives de Philosophie du droit 9 (1964), S. 97-127; ders., Seize Essais de philosophie du droit, Paris 1969, S. 140ff. 168 Dies wird auch von Romanisten betont: Max Käser, Das altrömische ius: Studien zur Rechtsvorstellung und Rechtsgeschichte der Römer, Göttingen 1949, S. 96 ff.; ders., Der römische Eigentumsbegriff, in: Hans Kölle (Hrsg.), Deutsche Landesreferate zum VI Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung in Hamburg 1962, (Sonderveröffentlichung von Rabeis Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht), Berlin— Tübingen 1962, S. 19-38; ders., Das römische Privatrecht Bd. 1, 2. Aufl. München 1971, S. 24ff.; ferner s. Michel Villey, Le droit subjectif chez Ihering, (§ 8 F N 165), S. 220 f. 169 Diese Linie des milden Kompromisses geht auf Ferdinand Regelsberger, Pandektenrecht, Leipzig 1893, § 14, S. 76 zurück: „Ein subjektives Recht liegt nur dann vor, wenn die Rechtsordnung die Verwirklichung des anerkannten Zwecks dem Beteiligten überläßt und ihm zu diesem Behuf eine rechtliche Macht zuerkennt." Über das Verhältnis von Recht, Anspruch und Actio s. § 52, S. 212ff. 170 Ihering hat selber Schwierigkeiten mit diesem Ansatz gehabt. In seiner ersten Abhandlung: Dissertatio de hereditatis possidente (1842), in: ders., Vermischte Schriften juristischen Inhalts, Neudruck der Ausgabe Leipzig 1879, Aalen 1968, S. 1-46 und in der
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durch die Tatsache verdeckt, daß Ihering erfolglos 171 die Berechtigung gegen „Reflexwirkungen" und „passive Wirkungen" der Rechte abzuheben versuchte. Zum anderen neigte man dazu, den Interessenbegriff in einem psychologischen Sinne zu verstehen. Im Anschluß an die Interpretation von Villey wird hier die These aufgestellt, daß Ihering drei verschiedene Begriffe benutzt hat, um einen und denselben Sachverhalt wiederzugeben. Es handelt sich, modern ausgedrückt, um die Thematisierung der Rechtsordnung als „geschlossen-selbstreferentiellen Kommunikationszusammenhang". 172 Subjekte und Interessen werden unter dem bestimmten Gesichtspunkt der rechtlichen Relevanz von dem Rechtssystem selbst konstituiert. Bei Ihering kann die Selbstreferenz des Systems nicht externalisiert werden, indem sie auf Subjekte bezogen wird. Sie sichert nicht, was den Subjekten von sich aus zusteht. Spricht man diese Zielbestimmung der Rechtsordnung ab, so „fällt man zurück auf die im Rechtssystem selbst begründete Selbstreferenz". 173 Es wird dann unmöglich, zwischen klagefähigen Rechtspositionen, rechtlich geschützten, aber klageunfähigen Interessen 174 und schließlich lediglich faktischen Interessen von der Seite des Subjekts aus zu unterscheiden. Diese Unterscheidung kann nur von der Rechtsordnung selbst völlig unabhängig von irgendeinem Subjekt getroffen werden. Ihering hat gesehen, daß der herkömmliche Begriff des subjektiven Rechts die Selbstreferenz des Rechtssystems adäquat nicht wiedergeben konnte. Er hat dafür einen späteren Abhandlung: Die Lehre von der hereditas jacens, in: ders., Abhandlungen aus dem römischen Recht, 2. Neudruck der Ausgabe Leipzig 1844, Aalen 1981, S. 147-262, konnte er die gangbare Vorstellung der Personifikation der hereditas jacens nicht aufgeben. Er hielt die Existenz eines jus ohne berechtigtes Subjekt für undenkbar: Vgl. den Brief an Windscheid (Gießen, 21. 12. 1853), (§ 8 FN 50), S. 35-38, 36f.: „1. Auffassung: Recht ist eine Eigenschaft, Qualität der Person, also als accidens abhängig von letzterer, 2. Auffassung: Recht ist ein Objekt (das augenblicklich jemand hat oder nicht hat), also selbstständiger Existenz fähig." Erst im Aufsatz über die passiven Wirkungen des Rechts hat Ihering ausdrücklich die Möglichkeit der subjektlosen Existenz von jus behauptet. 171 Hierzu: Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, Unveränderter Neudruck der 2. um eine Vorrede vermehrten Aufl. Tübingen 1923, Aalen 1960, S. 567-584, 578 f. (Anmerkung); Alf Ross, Towards a realistic Jurisprudence (§ 8 F N 158), S. 166 ff. 172 Niklas Luhmann, Subjektive Rechte. Zum Umbau des Rechtsbewußtseins für die moderne Gesellschaft, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zu wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1981, S. 45-104, 102f. Vgl. auch: Philipp Heck, Interessenjurisprudenz. Gastvorlesung an der Universtität Frankfurt a. M. gehalten am 15. Dezember 1932, Tübingen 1933, S. 34 (Anm. 3): „Natürlich hebt die Rechtswissenschaft aus der Fülle des Lebens nur diejenigen Merkmale heraus, die für ihren Zweck erheblich sind. Diese Merkmale werden zu Interessen zusammengefaßt." 173
Luhmann, ebd. Bernhard Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts vom Standpunkt des heutigen Rechts, Düsseldorf 1856, Neudruck Aalen 1984, S. 3 ff., 221 ff. hat die Trennung der actio des römischen und gemeinen Rechts in einen zivilrechtlichen Anspruch und einen prozessualen Rechtsbehelf eingeführt; ferner: Julius Binder, Prozeß und Recht, Neudruck der Ausgabe Leipzig 1927, Aalen 1969, S. Iff., 113ff. 174
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neuen Begriff des subjektiven Rechts sowie die Begriffe der Passiv- und Reflexwirkungen der Rechte vorgeschlagen. Diese erfassen die operationelle Selbstreferenz des Rechtssystems i m H i n b l i c k auf Subjekte erheblich angemessener: „ D e r Mangel der Person w i r d durch die Eigenschaft der Sache ersetzt, der Rechtszustand der Sache dient als Surrogat des noch nicht vorhandenen R e c h t s . " 1 7 5 Aber die Abgrenzung dieser Begriffe gegeneinander ist daran gescheitert, daß Ihering das unterscheidende M e r k m a l für das subjektive Recht gegenüber der Reflexwirkung in der M ö g l i c h k e i t der Konstatierung einer individuellen Rechtsverletzung sah. Dies würde jedoch bedeuten, daß die Selbstreferenz des Rechtssystems erneut externalisiert, auf etwas Individuelles bezogen werden sollte. Wenn man von diesem Unterscheidungsversuch absieht, stellen Iherings drei angegebene Begriffe eine adäquate Erfassung der operationeilen Selbstreferenz des Rechtssystems i m H i n b l i c k auf Subjekte dar. Der Interessenbegriff sollte ein objektives M o m e n t zum Ausdruck bringen. Die Entscheidungstätigkeit der Rechtsordnung wertet und verleiht den verschiedenartigsten Inhalten juristische Relevanz. Ihering hat deswegen die Willenstheorien von Savigny u n d Windscheid kritisiert, weil er meinte, sie gewährten dem individuellen Willen institutionalisierende K r a f t . 1 7 6 A n dem W i l l e n hat er
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Ihering, Passive Wirkungen der Rechte, (§ 8 F N 160), S. 186. Dies hat die Rechtsdogmatik schon immer beschäftigt. Zum Themenumfang der Konsensunterstellung im Vertrag vgl. ζ. B. die Kontroverse zwischen Ferdinand Regelsberger, Ueber die Verträge zu gunsten Dritter und über die Schuldübernahme, in: Archiv für die civilistische Praxis (AcP) 67 (1884), S. 1 - 40,9 (Für den Vertragsinhalt entscheidet nicht schlechthin das individuelle Meinen und Wollen) und Otto Bähr, Ueber die Verträge zu gunsten Dritter und über die Schuldübernahme, in: AcP 67 (1884), S. 157-191; ferner: G. Hartmann, Werk und Wille bei dem sogenannten stillschweigenden Konsens, in: AcP 72 N.F. 22 (1888), S. 160-256, 220ff.: Die Rechtsordnung knüpfe an die, „durch die gesammte Situation unter Begleitung zurechenbaren Schweigens, in dem Anderen erweckten Erwartungen die nämlichen Rechtswirkungen" wie an das „durch ausdrückliches Wort in ihm erweckte Vertrauen"; Otto Lenel, Die Lehre von der Voraussetzung (im Hinblick auf den Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches), in: AcP 74 N.F. 24 (1889), S. 213-239, 230; Bernhard Windscheid, Die Voraussetzung, in: AcP 78 N.F. 28 (1892), S. 161 -202; Otto Lenel, Nochmals die Lehre von der Voraussetzung, in: AcP 79 N. F. 29 (1892), S. 49-107. Die Interessenjurisprudenz ist zu Anknüpfungspunkten übergegangen, die von der Person des Einzelnen völlig unabhängig sind: Rudolf Müller-Erzbach, Die Grundsätze der mittelbaren Stellvertretung aus der Interessenlage entwickelt, Berlin 1905; ders., Gefährdungshaftung und Gefahrtragung, in: AcP 106 (1910), S. 309-476 und AcP 109 (1912), S. 1-143; ders., Das private Recht der Mitgliedschaft als Prüfstein eines kausalen Rechtsdenkens, Weimar 1949; Max von Rümelin, Das Selbstkontrahieren des Stellvertreters nach gemeinem Recht, Freiburg i. B. 1888, S. 16ff., 22ff.: „Der Parteiwille hat im Rechtsdenken nur insofern Kraft als er von der Rechtsordnung sanktioniert wird." ders., Der Zufall im Recht, Freiburg i.B. und Leipzig 1896; ders., Die Gründe der Schadenszurechnung und die Stellung des deutschen bürgerlichen Gesetzbuches zur objektiven Schadensersatzpflicht, Freiburg i.B. und Leipzig 1896; ders., Zur Lehre vom Schuldversprechen und Schuldanerkenntnis, in: AcP 97 (1905), S. 211-360 und AcP 98 (1906), S. 169 - 346; ders., Die Geisteskranken im Rechtsgeschäftsverkehr. Rede, Tübingen 1912; Philipp Heck, Die Ausdehnung des § 817 S. 2 auf alle Bereicherungsansprüche, in: AcP 124 (1925), S. 1-68. 176
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jedoch insofern festgehalten, als derselbe von der Rechtsordnung als objektiver juristischer Anknüpfungspunkt statuiert ist. Das bedeutet, insoweit die juristisch zu bewertenden Tatsachen durch das Ergreifen einer Initiative seitens der in Rollensegmente zerlegten Rechtssubjekte tatbestandsmäßig geliefert werden sollen, war der Wille objektiver Anknüpfungspunkt. Hierhin gehört die Normsetzungsbefugnis Buchers. Der Berechtigte kann zwar zu normierender Tätigkeit befugt werden und dadurch den Anwendungsbereich der Rechtsnorm kasuistisch erweitern. Das institutionalisierende Moment liegt jedoch weiterhin in der Befugnis. 177 Rechts Wirkungen, Anknüpfungspunkte, Subjektivität werden objektiv rechtlich statuiert und miteinander in Verbindung gebracht. Den Zurechnungseinheiten von Rechtswirkungen werden Rechtszwecke unterstellt. Die rechtlich geschützten Interessen brauchen überhaupt nicht von irgendwelchen Subjekten als individuell empfundene Bedürfnisse oder Wünsche aufgefaßt zu werden. Das subjektive Recht ist bei Ihering stets objektives Recht. Die „subjektiven" Rechtsansprüche können nur im Rahmen der „objektiven" Rechtsordnung definiert werden. 178 3. Konsequenzen für die Theorie der Rechtsnormen Aus diesem Modell des sozialen Wandels durch Recht lassen sich konkrete Konsequenzen für die Rechtsnormentheorie Iherings ziehen. a) Man kann die Funktion und die Struktur von Rechtsnormen nicht hinreichend erfassen, wenn man sich auf die Beobachtung der Tätigkeit der staatlichen, bürokratischen Erttscheidungsorganisation und der Rechtswissenschaft beschränkt. Ihering hat im Recht das „Mittel schlechthin der ,Sozialisation' des Menschen, d.h. seiner Vergesellschaftung 4" erblickt. Erst durch soziale Kräfte und Situationen werden „Rechtsgedanken rechtsfähig und als Recht wirklich". 1 7 9 Das rechtliche Geschehen braucht nicht von der staatlichen Organisation abhängig zu sein. Das Recht macht Gesellschaft im Sinne „des koordinierten Handelns mehrerer auf Dauer allererst möglich". 1 8 0 Diese 177 Eugen Bucher, Das subjektive Recht als Normsetzungsbefugnis, Tübingen 1965; vgl. hierzu: Werner Krawietz, Recht als Regelsystem, (§ 2 F N 14), S. 83 f. (Anm. 8): „Das staatlich organisierte Rechtssystem der Neuzeit institutionalisiert nicht nur den privatautonom geschlossenen Vertrag als Rechtsquelle, sondern zieht der Rechtsmacht der in den Grenzen des Rechts autonomen Individuen . . . auch Schranken, beispielsweise durch zwingende Vorschriften des geltenden Gesetzesrechts und das Verbot sittenwidriger Verträge."; s. hierzu die Rezension von Ulrich Huber, in: Rechtstheorie 2 (1971), S. 246253 und ferner: Nikitas Aliprandis, Subjektives Recht und Unterwerfung. Eine Untersuchung im Rahmen der normlogischen Lehre, in: Rechtstheorie 2 (1971), S. 129-145,130 ff. 178
So auch Schelsky, SWR, (§6 FN 104), S. 80f.; Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, (§ 7 F N 79), S. 56 f. hat die Gesellschaftsadäquität der Konstruktion des „rechtlich geschützten Interesses" herausgearbeitet und sie in der juristischen Ermöglichung von Asymmetrien erblickt. 179 SWR, S. 64, 74. 180 Hier und zum folgenden s. ebd., S. 74ff., wo Schelsky den Beitrag Iherings zur Sozialisation durch Recht darstellt und kommentiert.
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Koordination der Handlung mehrerer muß erst recht bei Abwesenheit staatlichorganisatorischer Unterstützung rechtlich ermöglicht werden. Ihering schildert das Problem mit folgender Fragestellung. Wie Recht — das für ihn „im Ursprung immer zweckbewußt-politisch ,gesetzt' wird — überhaupt auf den einzelnen, der es nicht mit schafft, übertragen" werden kann. Die Antwort darauf hat seine Theorie der Sozialisation durch Recht erteilt. Es ist Schelskys Ansicht, daß der Beitrag Iherings zum Thema der Sozialisation durch Recht nur wissenschaftsgeschichtlich interessiert. Er habe es vernachlässigt, sich mit dem Phänomen der „Entstehung des intersubjektiven normativen Vergleichs als Urteilsform", die zu Gerechtigkeitsurteilen und -gefühlen führt, zu beschäftigen. Für eine normentheoretische Untersuchung genügt es vielmehr, daß Ihering die Tatsächlichkeit der Strukturierung von Kommunikation durch den sozial etablierten normativen Sinn thematisierte. Die Sozialisation von „Erwachsenen durch Recht betrifft nicht nur Delinquenten". Die faktischen Rechtsverhältnisse, die tatsächliche Handlungskoordination im sozialen Zusammenhang prägen das Bewußtsein und Gefühl für Recht. Es findet eine frühkindliche normative Prägung durch Umwelteinflüsse, „unbewußte geistige Inhalation" von normativem Sinn statt. Die „mit positiven oder negativen Akzenten... belegten Einstellungen zu oft wiederholten Handlungsabläufen" brauchen nicht mit einem bewußten normativen Urteil verbunden zu sein. Die Maximenbildung braucht nicht auf Bewußtheit zu beruhen. Das Kriterium für faktisches Rechtshandeln liegt ebenfalls nicht im subjektiven Einzelbewußtsein. Es ist nicht das Einzelbewußtsein, das die soziale Kommunikation strukturiert, sondern der angewöhnte, eingespielte, etablierte normative Sinn. Sozialisation ist nicht mit Konformität identisch, sondern sie schließt Abweichung in sich ein. Die Option für Anpassung oder Abweichung kann nach sachlich differenzierten Erwartungsmustern, nach Sachgebieten des Erwartens verfeinert und unterschieden werden. Man braucht auch nicht die Erwartungsmuster, die die Gesellschaft produziert und an das Einzelbewußtsein heranführt, innerlich zu akzeptieren. Man kann den Erwartungen folgen und sie verachten, und umgekehrt das Abweichen gegen die Erwartung durchsetzen und sie doch beachten, wenn es „brenzlig" wird oder umdisponierte Handlungsanschlüsse gesucht werden müssen. 181 Faktisches Rechtshandeln ist zum größten Teil auch nicht auf staatlich organisierte Sanktionen angewiesen. b) Alles konkrete, bestehende Recht wird immer wieder durch die Prozesse der Verallgemeinerung und Ideierung in neuen Rechtsgrundsätzen und Rechtsvorstellungen aufgehoben. Diese können wiederum zu neuem konkretem Recht 181 Hierzu: Niklas Luhmann, Die Autopoiesis des Bewußtseins, in: Alois Hahn/Volker Kapp (Hrsg.), Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt am Main 1987, S. 25-94, 61 f.; vgl. hierzu: Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, (§ 5 F N 100). Agathe paßt sich an, ohne viel damit über sich selbst zu bestimmen. „Liebe, Kinder, schöne Tage, fröhliche Gesellschaft, Reisen und ein bißchen Kunst—: das gute Leben ist ja so einfach . . . " Sie trug trotz ihrer Konformität die „ganze Verachtung des zum Aufruhr geborenen Menschen gegen diese schlichte Einfachheit" in sich. S. 859.
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werden. Dies ist der Tatbestand der „Kritik des Rechts durch sich selber" oder der „Selbstbewegung des Rechts". 182 Die neuen Rechtsvorstellungen sind Normprojektionen, die in der Gesellschaft unabhängig von der bürokratischen Staats- und Entscheidungsorganisation entstehen. Sie können entweder durch konkrete politisch-soziale Kräfte und Konstellationen im Gesetzgebungsverfahren gesetzlich niedergelegt werden, oder aber auch durch eine andere (gerichtliche, verwaltungsrechtliche oder rechtsdogmatische) juristische Einzelentscheidung in das Rechtssystem aufgenommen werden. Der rechtliche Sinn wird demgemäß stets sozial konstituiert und ist am normativ gesteuerten Sozialverhalten abzulesen, solange er eine normativ wirksame Struktur in der sozialen Kommunikation darstellt. Der Gesetzgeber schafft nicht die Normen. Die Verbindung einer sozialen Normprojektion mit einer juristischen Entscheidung der staatlichen Bürokratie bringt sie nur gesellschaftsweit zum Tragen. Der Gesetzgeber findet immer bereits eine geordnete gesellschaftliche Realität vor.
182
SWR, S. 60, 65, mit zahlreichen Ihering-Zitaten.
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Sachregister
Alternativwirkungs-Chance 122 ff., 125 Analogie (Rechtsanwendung) 20, 118 f., 140, 262, 288 Analogien Bürokratie/Maschine 31 Mensch / Wirklichkeit 164 Recht/Organismus 53 Recht/Sprache 271 Rechtsregel/Spielregel 43, 46 f., 55 Anwendung Anwendungsbereich der Norm 110, 310 Anwendungspraxis 282 Bedingungen 277 f. von Begriffen 132 (Anm. 21) von Billigkeit und Zweckmäßigkeit 25 von Normen 28, 35, 52, 119ff., 255 f., 263 mechanische Normanwendung 262 Form von Sprachanwendung 126 von Spielregeln 70 der subsistenten Norm 109 Asymmetrisierung 74 Begriffsjurisprudenz 13, 16, 19, 22, 24, 63, 71 (Anm. 38), 74, 131, 132 (Anm. 20, 21), 135f., 137f. (Anm. 33), 139, 269, 272, 279 (Anm. 51) Begriffsystem 18 f., 21 ff., 28, 38, 56, 58 f., 62, 68 f., 72 f., 124, 132ff. Beobachtung 42ff., 46ff., 55 ff., 64ff., 70, 77, 89, 102, 103 (Anm. 78), 107, 109 f., 113, 154, 178, 184, 186 (Anm. 148), 190, 193ff., 195 (Anm. 179), 196 (Anm. 183), 229, 236, 240, 244, 247f., 256ff., 282, 304, 310
Beobachtungsdifferenz (-schema) 75, 90, 194ff., 248 Fremdbeobachtung 126, 196 Selbstbeobachtung 66, 75, 109, 126, 195 f., 301, 302 (Anm. 152) deklaratives Normativitätsbewußtsein 79 deklarative Norminhalte 130 deklarative Richternorm 121 deklarative Statuierung subsistenter Normen 145 Differenzierung, strukturelle 93, 238 Dogmatik 56f., 59, 64, 67f., 70f., 75, 131, 135, 139f., 144, 206, 221, 235, 285 (Anm. 80), 286ff., 290ff., 302, 304, 305 (Anm. 162), 309 (Anm. 176), 312 successive - 75 Entscheidung 15 f., 19ff., 23, 25 f., 28 ff., 35, 37, 58, 63 f., 70, 72, 78, 82, 86, 119f., 123, 129, 142, 198, 212ff., 219, 222ff., 227 f., 238, 261, 266ff., 273, 276ff., 279 ff., 283, 288 ff., 291 ff., 295 ff., 299, 301, 304f., 309 f. Entscheidungsalternativen 292 Entscheidungsbürokratie 299, 310 Entscheidungserfahrung 58, 64 Entscheidungsfahigkeit 213, 287 Enscheidungsfreiheit 274, 277 Entscheidungsmonopol 232 Entscheidungsnormen 37 Entscheidungsorganisation 212, 268, 275, 277, 300, 310, 312 Entscheidungsprämissen 58, 86, 294 Entscheidungspraxis 279 f., 286, 295 f. Entscheidungsregel 276 Entscheidungssituation 86, 299
Sachregister Fälle als Entscheidungsprobleme 285 gesetzgeberische Entscheidungen 273 ff., 277 f. Überbewertung des Tatbestandes der Entscheidung 212 Erwartungen 20, 23, 27, 47 ff., 76f., 78 (Anm. 69), 92, 98 ff., 102ff., 104 (Anm. 80)ff., 106f., 108ff., 114ff., 117 f., 126, 152 (Anm. 57), 148 f., 171, 173, 177 (Anm. 111), 185 ff., 188, 189 (Anm. 155), 190f., 192f., 196ff., 222, 224f., 225 (Anm. 108), 230, 233, 237 f., 242ff., 247, 251, 254, 259f., 276, 282, 290, 292 (Anm. 109), 296f., 300f., 303 f., 309 (Anm. 176), 311 Externalisierung von Selbstreferenz 74f., 308 f. Fakultäten, juristische 74, 272 (Anm. 27), 278 (Anm. 50) Ausbildungsmonopol derselben 209, 286 Familienrecht / Familienleben 146 Folgen 76, 139, 179, 233 (Anm. 135), 292, 295 (Anm. 123), 305 —, Begründung durch 290 —, externe 296, 300 —, faktische 46 — der Entscheidungstätigkeit 119, 289, 291, 296 — des Erlebens 263 — des Formfehlers 84 —, konkrete 297 —, rechtliche 72 (Nm. 41), 72, 85 (Anm. 110), 305 — von Rechtssätzen 139 — der Reziprozität 215 —, Selektion von 290 — der Regelanwendung 289 - - rechtsdogmatischer Argumentation 288, 292 — von Folgen 290 — des Unrechts 76 Folgenerwartungen 290, 296, 300 Nebenfolgen 290 Realfolgen 294 Folgenintegration 294
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Folgeninterdependenzen 300 Folgeninternalisierung 290 ff. Folgenorientierung 286ff., 287 (Anm. 88), 290, 294, 297 Folgenvoraussicht 290 Freirechtslehre 13f., 16, 18, 24, 29, 146 (Anm. 75) Geltung 57, 71, 116f., 122 (Anm. 145), 122f., 125, 128, 141 f., 144, 149, 200 (Anm. 4), 224, 279, 295 faktische 123 (Anm. 146) formelle 122 f. ideelle (ideale) 57, 59, 123 (Anm. 146), 141 f., 144 juristische 122 f. verfassungsmäßige 123 (Anm. 146) Zukunftsgeltung 112f. Geltungschance 49 Geltungsfrage 122 f., 142 Geltungsquelle 117 ff., 122, 128, 132, 140, 141 ff. Geltungssubstanz 121 f., 130, 141 Geltungsumfang 20, 119, 122, 126, 299 Gesamtverursachung, strukturelle 118, 123, 126 f., 145 Gesetzgeber 16, 22, 29, 36, 70, 77, 87, 117, 119, 126, 128 ff., 138 (Anm. 41), 139f., 144, 148, 206, 213 f., 222, 225, 228 f., 234f., 267ff., 272ff., 277 ff., 281 ff., 294ff., 300, 303, 305, 312 Idealtypus 14, 22f., 43, 45 (Anm. 121), 49, 56, 164 Ideologie 177 (Anm. 111), 178, 205, 228, 304 (Anm. 157) Begriff 121 (Anm. 141) berufsfachliche 121 Hintergrundideologie 178,211 Ideologiekritik 124 (Anm. 155) Institution 53, 81, 85 (Anm. 112), 99 ff., 103 (Anm. 73), 104f., 110, 115, 120, 124, 134, 143, 152, 157, 158 (Anm. 13), 161, 163, 165, 173 f., 176 (Anm. 107), 180, 182ff., 185 ff., 193ff., 196ff., 200, 212f., 216, 219, 223 (Anm. 104), 226ff., 234, 237ff., 247, 249 f., 252ff., 256f., 263, 265 f.,
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Sachregister
270 f., 273, 283 f., 285, 300, 303, 304 (Anm. 157) Institution/Rechtsinstitut 72 (Anm. 44), 146 (Anm. 75) Institutionalisierung 46 (Anm. 122), 53 (Anm. 152), 98ff., 105, 114ff., 117f., 123, 126, 142, 144, 154, 167 (Anm. 66), 175 (Anm. 102), 187 (Anm. 152), 190 (Anm. 160), 192 (Anm. 170), 203, 210ff., 212ff., 215f., 220f., 237 f., 241 f., 254, 265, 271 Interesse 27, 29 (Anm. 65), 33, 36, 47, 54, 56, 76, 78, 79 (Anm. 76), 87 (Anm. 117), 123 (Anm. 146, 147), 131, 137 (Anm. 33), 150, 152, 192 (Anm. 170), 202, 208, 215, 219, 221 f., 228, 235, 236, 238 ff., 250f., 272, 300, 304f., 307 (Anm. 165), 308 ff. Interessenjurisprudenz 13, 139 (Anm. 46), 222, 272, 274 (Anm. 33), 308 (Anm. 172), 309 (Anm. 176) Interpretation der Gesetze 83, 86 ff. extensive 138 grammatische 86 f. logische 86 f. restriktive 138 teleologische 138, 229 tendenziöse 83, 87 Wortinterpretation 88 Interpretation vom Sachverhalt 222 Interpretationsmöglichkeiten 81 Kalkül 34, 57, 124 Durchsetzungskalkül 124 ff. Verbindlichkeitskalkül 124 ff. Wahrscheinlichkeitskalkül 57 zweckrationales 48 Law in action 219 in books 219 Legitimität 153, 211 — von Normänderungen 275 Legitimitätsglaube 153 Liebe 34, 172f., 175 (Anm. 102), 240, 244, 258 (Anm. 103), 311 (Anm.
Überschätzung des logischen Elements im Recht 132, 269 Macht 62, 79, 85 (Anm. 112), 98 ff., 101, 105 f., 109, 110 (Anm. 103), 114ff., 150ff., 154, 183 (Anm. 135), 201 f., 211 f., 214, 226 (Anm. 111), 227ff., 231, 240, 267, 271 (Anm. 22), 279, 300, 307 (Anm. 169) Maxime 42 (Anm. 114), 44ff., 53, 55, 57, 59ff., 260ff., 264, 311 Bewußtheit von — 262 — als Bestimmungsgrund / Erkenntnisgrund 45 (Anm. 121), 4 261 ff. doppelte Funktion von — 261 empirische 42 f. Entscheidungsmaxime 20 f. Erwartungsmaxime 59 Handlungsmaxime 43 f. Normmaxime 43 f., 59, 60 politische 15, 24 Verhaltensmaxime 44, 57 Zweckmaxime 60 f. Moral 45 (Anm. 121), 82, 92, 94, 102 (Anm. 71), 104, 142, 144, 149, 153, 155 f., 166f., 174, 177 (Anm. 111), 181, 209, 220, 248 ff., 252 (Anm. 86), 258, 274 Verantwortungsmoralen 203 Moraltheorie 156 Multifunktionalität 31, 36f., 227 Norm Aktionsnorm 125 Reaktionsnorm 125 subsistente Norm 106ff., 119f., 123, 126, 128, 130, 145, 148f. Normsatz 106f., 110, 117, 119ff., 123, 128 f., 140 f. deklarativer — 107, 110, 114, 116, 118 ff., 281 proklamativer — 107, 110, 114, 119 ff., 123, 128 ff., 145, 281
181) Logik, juristische 13, 15 f., 18, 38, 72, 87 (Anm. 117), 133, 293
Ordnungsgewißheit 143, 148 f.
106 (Anm. 86), 124,
Sachregister Positivität 32, 68 (Anm. 28), 86, 224, 266, 269 ff., 272 (Anm. 25), 273, 275, 298 Praktikabilität des Rechtssatzes 129, 142 Programm 31 (Anm. 69), 131, 167, 173 f., 207, 223, 228 f., 247, 270, 296 Programm / Strategie 296 Programmatische Kundgebung 107, 121 f. — Intention 107, 121 f. Programmierung begrifflich-argumentative 219 f., 222 f., 226, 281 begrifflich-dogmatische 222 doppelte 223 gesetzgeberisch-dogmatische 222 institutionell-regelhafte 219f., 281 konditionale 223, 275 ff., 281, 286, 290f., 296 von Begründungen 219, 222 von Entscheidungen 213 f., 221 ff., 224, 275 ff., 286, 290f. von Sachverhaltsformulierungen 223 von Sinn 168 von Subsumtion 223 von Urteilsbegründung 223 von Verhalten 226 Programmierungsebenen 281 Programmierungsfunktion politische 173, 178 Endziel-Programmfunktion 173 Programmschriften 69 (Anm. 33), 131, 272 (Anm. 27), 302 (Anm. 152) Rationalität 13 ff., 17 (Anm. 14), 18, 20, 23f., 28f., 54, 127f., 169, 192, 200ff, 202f., 21 Off., 213f., 216ff., 220f., 231 f., 266, 271 Rollen- und Ämterrationalität 209 sekundäre Rationalisation 217 Realisierbarkeit des Rechts materielle / formelle 129 Rechtsanwendung 37f., 83, 86f., 120ff., 124, 129 f., 136, 139 ff. Rechtsnorm 16, 21 f., 24, 28, 36f., 40 (Anm. 109), 41, 56f., 58f., 61, 64, 71, 76ff., 83, 85ff., 108, 113ff., 128,
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130 ff., 134 ff., 139 ff., 143ff., 148 ff., 152ff., 202, 223 ff, 234, 266, 269, 271, 273 ff, 278, 280, 287, 298 f., 299 (Anm. 140), 300f., 302, 304f., 306 (Anm. 163), 31 Off. Rechtspositivismus 17 (Anm. 13), 18 f., 67, 68 (Anm. 28), 136 (Anm. 31, 32), 267 Wissenschaftspositivismus 136 Rechtsquellen Inhaltsquelle der Rechtsnorm 118 f., 122, 128 ff., 132, 139f. s. Geltungsquelle Rechtsregel 43, 46, 55, 57, 70, 92, 116, 130, 147, 202f., 219ff., 226, 286, 288 Doppelsinnigkeit der — 46 Rechtsordnung 13f., 16f., 77, 79, 114, 132 (Anm. 19), 133, 147 (Anm. 77), 151, 196, 200 (Anm. 4), 224, 226, 230, 232f., 258, 279, 302ff, 306 (Anm. 162), 307 ff Rechtssatz 16, 56 ff., 60, 108, 113 ff, 119 ff., 125 f., 130f., 134 (Anm. 25), 137ff., 140, 142, 144f., 202, 221 ff, 231, 255 (Anm. 96), 278, 299, 308 (Anm. 171) Rechtssätze als Spitze des Eisberges 128 Gewinnung von Rechtssätzen 21, 23, 132 Rechtssicherheit Orientierungssicherheit 106 (Anm. 86), 106, 110, 116f., 125, 143, 149 Realisierungssicherheit 106 (Anm. 86), 106, 110, 116f., 125, 143, 149 Rechtssystem 13, 62f., 65 ff, 75, 80, 82f., 84 (Anm. 108), 85ff., 107, 123, 126 f., 145, 148, 196, 208 f., 224, 230, 232f., 265, 286ff., 290f., 294ff, 297, 300ff., 304f., 305 (Anm.160, 162), 306 (Anm. 164), 308f., 310 (Anm. 177), 312 Rechtswissenschaft 14, 18, 19 (Anm. 20), 22, 24 (Anm. 37), 42 (Anm. 11), 57, 63f., 64 (Anm. 13), 65, 68 (Anm. 28), 69 (Anm. 33), 71
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Sachregister
(Anm. 33), 71 (Anm. 39), 73 (Anm.49), 73ff., 87, 117ff., 123f., 126, 131 (Anm. 13), 131, 133f., 134 (Anm. 25), 138, 140, 146 (Anm. 75), 200, 205 f., 209, 217, 221, 226, 234, 266, 268 f., 272 (Anm. 25, 27), 286 f., 290 (Anm. 97), 299, 305 (Anm. 162), 308 (Anm. 172), 310 rechtswissenschaftliche Kontingenz 75 Reflexion 65 (Anm. 14), 66f., 73 (Anm. 45), 74 (Anm. 74), 81, 145, 163, 188 f., 190 (Anm. 160), 200, 237, 243, 257 f. Dauerreflexion 183, 189f., 190 (Anm. 160) Deuten von Reflexionsprozessen 188 Selbstreflexion im Recht 65 Reflexion des Einzelbewußtseins 163, 210 Reflexion der Subjektivität 184 Reflexionsebenen im Rechtssystem 65 ff., 75 Reflexionsimmanenz 233 Reflexionstheorie 62ff., 65 Reflexionsüberschuß des analytischen Bewußtseins 177f., 182, 243, 248, 255 ff. Regel 15 f., 20f., 24, 31 ff., 34f., 37ff., 49, 53, 55 ff., 59ff., 65 (Anm. 14), 70, 79 (Anm. 19), 97, 99, 101, 102 (Anm. 71), 112f., 116ff., 120, 123, 127, 129 f., 131 (Anm. 13), 133, 135, 138 (Anm. 41), 141, 143, 144f., 147 f., 151 ff., 154, 193, 196, 202f., 209ff., 212, 214, 217, 218ff., 225f., 231 f., 234, 238f., 245ff., 252 (Anm. 86), 255 ff., 260, 262f., 265 f., 268, 270 f., 276ff., 281 ff., 286, 288 f., 291, 304 Reziprozität 62, 95, 215f., 216 (Anm. 83), 231 Richter 13 f., 16, 18 (Anm. 17), 20f., 22f., 25, 26ff., 30ff., 34f., 36ff., 46f., 57ff., 61, 73, 77, 82 (Anm. 91, 94, 96), 83, 84 (Anm. 106), 86f., 87 (Anm. 117), 88, 117ff., 121 ff., 123 (Anm. 148), 124 (Anm. 155), 126,
129 f., 134 (Anm. 25), 136 (Anm. 32), 138 (Anm. 41), 140, 144, 198, 202ff., 206, 209 (Anm. 52), 213 f., 218, 220 (Anm. 95), 221 ff., 278 ff., 278 (Anm. 50), 281, 283 ff., 287 (Anm. 88), 305 Richternorm 119 Rolle des Dritten 216 der Geschlechter 167 (Anm. 66) der Gewalt 150 psychiatrischer Definitionsmacht 169 der Rechtsdogmatik 131 der Sanktionsbereitschaft 144 der Selbsthilfe 143 des Staates 154 Rollen Ausdifferenzierung von — 82f., 88, 173, 183, 186, 203 ff., 211 f., 217 ff., 221 ff., 276f. Beobachtungsrolle 109, 126 Gesinnungsgruppenrollen 177 (Anm. 111) Handlungsrolle 109 Ich-Rolle 95 f., 174, 176, 305 informale 233 Intermutation von — 98, 104 Mitgliedschaftsrolle 32, 103, 250 Richterrolle 37 Selbstbeobachtungsrolle 109 Schiedsrichterrolle 82 Statusrollen 177 (Anm. 111) themenspezifische — 186 Rollenauffassungen 246 f. Rollenhaftigkeit 173 f., 190, 209 Rollenkombination 174 Rollenkomplementarität 219, 223 Rollenkonflikt 175, 204, 209 f., 212, 217, 219, 232, 281 Rollenrationalität 209 Rollensegmente 305, 310 Rollenspiel, juridisches 127, 202ff., 208, 209 (Anm. 46), 210, 217ff., 225f., 281 ff. Rollenstruktur 202 Rollenverhalten 174 f., 186 rollenübergreifende Selbstdarstellung 176
Sachregister Selbständigkeit von Reflexionsebenen im Rechtssystem 65 von Rechtskörpern (Begriffen) 135 von subjektivem Recht 308 (Anm. 170) der Gewalt 150 Selbständigkeitstrieb des Rechts 80f., 85 Sinn 48 f., 52 (Anm. 152), 53 ff., 56ff., 60 f., 86, 90, 94, 96, 130, 138, 146, 148, 153, 155 (Anm. 2), 161, 164, 166, 168 f., 174, 176 (Anm. 110), 177 (Anm. 111), 178, 184 f., 187, 189, 193, 197, 199, 203, 205ff., 210ff., 218f., 221, 225, 227, 238 f., 240ff., 244ff., 249ff., 252ff., 255, 257, 259ff., 262ff., 268, 271, 273 f., 281, 283, 286, 295, 299, 303 f., 306, 311 f. juridische Sinnsysteme 212 f. Normalitätssinn 175 Sinnausblendung 180 Sinnbegrenzung 169 Sinnbürgschaft 169 sinneinheitliches Rechtsverständnis 200 Sinn-Existenz 193 Sinnkritik 155 (Anm. 2) Sinnprogrammierung 168 Sinnstruktur 184 Sinnüberbietung 181 Sinn Vermittlung 169, 181 Wahnsinn 175 zeitlicher Richtungssinn 276 Spielregel 43 ff., 47, 53, 55, 58, 70, 218 ff., 225 f. Staat 19 (Anm. 21), 29 (Anm. 65), 30, 36, 40 (Anm. 109), 72, 77, 79, 80 (Anm. 82), 81, 114, 117, 125 (Anm. 157), 142 f., 149 ff., 152 (Anm. 99), 163, 200 (Anm. 4), 201 (Anm. 10), 202, 209 (Anm. 46), 211 f., 216, 239, 280, 286, 301 (Anm. 149), 303, 308 (Anm. 171) Entzauberung des Staates 154 Geschlechterstaat 81 Interdependenz der Staaten 117 List des Staates 154
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Polizeistaat 277 Rechtsstaat 220 (Anm. 95), 232, 277 staatliche Aufgaben 154 staatliche Bürokratie 30f., 115, 226, 275, 312 staatliche Imperative 275 staatliches integrales Machtverhältnis 154 staatlich organisierter Rechtsmechanismus 142 f. staatlich organisiertes Rechtssystem 65, 113, 310 (Anm. 177) staatlich politischer Herrschaftsstab 201 f., 212 staatliche Sanktionsbereitschaft 115, 117, 126, 143f., 149, 258f., 311 f. staatlicher Verwaltungsstab 36 f. nichtstaatliches Recht 114, 230 vorstaatliches Recht 114, 230 f. Staat/Gesellschaft 226, 229 Staatsanwalt 202, 222 f. Staatsapparat 99, 125 Staatsbezug 72, 114f., 116, 126, 142 f., 144, 154, 202f., 211, 258, 303 Staatsbildung 62, 76, 80 f. Staatsführung, Elastizität der 227 Staatsfunktionen 227 Staatsgewalt (-zwang) 81, 116, 123 (Anm. 148), 142, 149ff., 153, 258, 275 ff. Staatsorganisation 35, 114, 116f., 142, 199, 266, 299 f., 310 Staatsraison 30, 38 Staatsrecht in Rom 282 staatsrechtliches Prekarium 153 Staatsverband 32, 34, 36, 201 f. Staatsverfassung 280 Staatswesen in Rom 286 Struktur 17 (Anm. 14), 58, 60, 64, 74, 92, 95, 114, 123, 126, 161, 170, 173, 177, 183ff., 189, 191, 195f., 198, 202, 205, 207, 216, 218 f. (Anm. 92), 234, 244, 249 f., 275, 288, 299 Alternativstruktur 159 Autoritätsstrukturen 231 bürokratische 31 f. Drei-Ämter-Struktur 202, 215 f., 232
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Sachregister
Gesellschaftssystem, Struktur des von Lebensbereichen 186 von Organisationen 202 63, 77, 113, 298 des Schulsystems 208 (Anm. 40) Kommunikationsstrukturierung 70, von binnenfachlichem Sprachschatz 109 f., 126, 182 ff., 191 (Anm. 210 163), 192f., 196, 267, 282, 286, 311 f. Machtstruktur 98, 115 Verwirklichung Motivationsstruktur 33 f., 44, 54, fallweise — 144 Gemeinschafts- 95 102, 150, 231, 265 der Arbeitsteilung 80, 84 Rechtsnorm, Struktur der 41, 64, der Norm 42,129 76ff., 85, 125, 266, 278 f., 299, 310 des Rechts 76ff., 79f., 82f., 86, 128, Rechtsregeln als Struktur 203 130, 141 f., 144f., 151, 267 ff., 278 Rechtsstruktur 15, 23, 25 f., 39, 40 Rechtsverwirklichungsapparat 81, (Anm. 109), 114, 134, 201, 215, 226, 231, 284, 286 267, 278 Rechtssystem, Struktur des 145 Verwirklichungsaussichten des Rollenstruktur 202 Rechtssatzes 142 soziale Strukturen 67, 161, 169 Verwirklichungsnotwendigkeit 268 (Anm. 77), 297 des subjektiven Rechts 307 (Anm. Verhaltensstruktur 199, 209 169) (Anm. 46), 232 Zeitstrukturen 170 f., 224 Wahrheit 70 (Anm. 36), 71, 121 (Anm. Strukturanalyse als Analyse der 141), 152 (Anm. 98), 259 juristischen Konstruktion 133 ff., —, allgemeine 65 247, 297 — bei Ihering 240 ff. Struktur/Ereignis 184 f. — als Kommunikationsmedium 240 Strukturtheorie 133, 216 —, rechtswissenschaftliche 134 Strukturwert 184ff., 197, 233 (Anm. 25) Sitte 39, 40 (Anm. 109), 41, 81, 92, 113, —, natürliche und positive 133 130, 144, 146ff., 162, 248 ff., 252, 255, (Anm. 22) 258 (Anm. 103), 259ff., 265, 274, — partielle 180 282f., 286, 310 (Anm. 177) — der Höflichkeitsformen 254 feine Sitte 246, 248 — der grammatischen Interpretation Sitte als Institution 249 87 Theorie der Sitte 245, 270 — des Rechts 128, 137, 141, 148, Sittenpolizei 79 (Anm. 75) 269 sittenrichterliche Gewalt 79 — der Rechtsbegriffe 74 System — der Rechtserkenntnis 137 äußeres/inneres 132 f. (Anm. 33) rational diskutabler Gründe 30, 38 Wahrhçitssuche, philosophische 219 von Behörden 35 Werte 39, 49, 71, 81 (Anm. 87), 84 (Anm. 106), 85 (Anm. 110), 87, 92, Transcendentaljurisprudenz 137 96f., 247, 252 (Anm. 86), 253, 257, (Anm. 33) 274, 276, 288 (Anm. 90), 306 analytischer Wert von Theorien 158 Aufwertung der Verfahrensregeln Verhandlungssysteme 154 220 Verselbständigung von Handlungsformierungen 179, Letztwerte 168, 173 204 Letztwertüberzeugungen 213
Sachregister Ordnungswert von Relationen 91 Präjudizwert 198 Schutzwert von Interessen 272, 305 wertblinde Rechtsgewinnung 132 Werthaftigkeit von Rechtsnormen 71 Wert, normativer 237, 265 — von Normsätzen 128 — der Systematisierung 23 — der Transcendentaljurisprudenz 137 (Anm. 33) — der Interessenjurisprudenz 139 (Anm. 46) Wertorientierung 49, 92 Wertstandard (-prinzip, -maßstab) 43 f., 46, 56f., 58 f. Norm als — 42 Wertungen des Einzelfalles 15, 28, 30, 37 — des Skatspiels 44, 59 — des objektiven Rechts 304 — von Folgen 290, 292, 300 — der Gesetzesinterpretation 86 —Juristische 310 — eines Paragraphen des BGB 46, 60 f. Wertnihilismus bei Geiger 104 (Anm. 81) Werturteil 28, 121 (Anm. 141) Wille 73, 76 f., 84, 92, 97, 99 (Anm. 53), 102, 125 (Anm. 157), 146 (Anm. 73), 147, 150f., 166 (Anm. 57), 169, 174, 178, 213 f., 249, 255, 266ff., 271 (Anm. 22), 280, 302, 305 (Anm. 161), 306 (Anm. 163), 307, 309 f. Wortnorm (Verbalnorm) 106 ff., 109 f., 117, 120, 130, 138, 147 f., 199 Wortnormengefüge 147 f. Zeit 42, 67f., 76, 83, 86 f., 92, 94ff., 103, 105, 108, 118 f., 120 (Anm. 135), 122, 130, 134 (Anm. 25), 143, 148, 150, 158, 163, 169ff., 181 f., 184 f., 185 (Anm. 145), 189, 192, 198, 216, 221, 223 f., 223 (Anm. 104), 228, 230, 232, 250ff., 256, 273 f., 276ff., 281, 284ff., 288, 293, 295, 297f., 298 (Anm. 137), 300, 310 (Anm. 177)
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Mehrfachmodalisierung der Zeit 170ff., 224 Zurechnung 46 (Anm. 122), 51, 206, 252 (Anm. 86), 305, 309 (Anm. 176), 310 Zwang 16, 39, 40 (Anm. 109), 51, 102, 103 (Anm. 73), 125, 142ff., 149ff., 214, 217, 244, 258, 275, 301 (Anm. 148) Anschlußzwang 290, 292, 306 Denkzwang 155 Entscheidungszwang 287 f. Handlungszwang 30, 256, 263 Sachzwang 204 Sinnzwang 208 Führungszwang, institutioneller 217 gesellschaftlicher — 258 Selektionszwang 173, 208, 244 Zersetzungszwang im altrömischen Prozeß 284 Zwangsgarantie 38 ff. Zwangsgewalt 34, 152 f., 275 Zwangskriterium 40 Zwangsmittel 46 Zwangsmonopol des Staates (Staatszwang) 142, 149 ff., 153 Zwangsstab 39 Zwangstheorie 40, 125, 150 Zweck 16, 19, 30ff, 30 (Anm. 69), 33, 35 f., 38, 40, 56, 58, 61, 67, 70, 80 (Anm. 81), 83 (Anm. 99), 128, 131, 137 (Anm. 33), 137f., 141, 143, 148, 150, 153, 159 (Anm. 17), 163, 172, 180, 183 (Anm. 135), 192ff., 197, 224, 227, 231, 235f., 238 f., 240, 246ff., 251, 253, 256f., 263 f., 265 ff., 268, 271 (Anm. 22), 272 (Anm. 25), 273, 275 ff, 278 f., 287, 289, 291, 293 ff, 296 ff., 307 f., (Anm. 172), 311 Befestigungszweck 80 f. Endzweck, praktischer 75 erlaubte/unerlaubte Zwecke 295 Gesetzeszweck 280, 295 Gattungszweck 236 Handlungszwecke 248, 252 legislativ-politische Zwecke 299 Rechtszweck 17, 24, 310 Zweckargumente 19
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Sachregister
Zweckbegriffe 18 f., 235, 247ff., 300 Zweckbewußtheit 237, 247, 265ff., 268, 270 f., 272 f., 274, 290 (Anm. 97) Zweckbezogenheit des positiven Rechts 234 Zweckdienlichkeit 215 Zweckerwägungen 19, 21, 44, 138, 264, 269, 280, 290 f., 294 f. Zweckfreiheit 181, 265 Zweckgedanke 138 f., 278 (Anm. 50) Zweckgesetzgebung 148 Zweckhandeln 192,221,231,233, 265 f., 268 Zweckjurisprudenz 132, 140 Zweckkontingenz 294
Zweckkontrakt 25 Zweckmäßigkeit 15, 24, 27, 36, 44f., 100, 107, 145, 229, 247, 268 f., 271, 273 Zweckmaxime 60 f. Zweckmoment 87, 264, 266, 268 f., 288 Zweckprogramme 275 ff. Zweckrationalität 27, 48 f., 51, 54, 235, 271 Zweckrevision 275 Zwecksetzung 182, 231, 238, 248 f., 266, 274 Zwecksubjekt 307 (Anm. 165) Zweckvorstellungen 194f., 238, 268 Zweckuntersuchung 140