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German Pages 402 Year 2020
Hans-Friedrich Bormann, Hans Dickel, Eckart Liebau, Clemens Risi (Hg.) Theater in Erlangen
Ästhetik und Bildung | Band 11
Die Reihe wird herausgegeben vom Interdisziplinären Zentrum Ästhetische Bildung.
Hans-Friedrich Bormann (Dr. phil.) lehrt Theater- und Medienwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Hans Dickel (Prof. Dr.) lehrt Kunstgeschichte der Moderne an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Eckart Liebau (Prof. i.R.) ist Vorsitzender des Rats für Kulturelle Bildung. Er war Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogik II an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für Kulturelle Bildung. Clemens Risi (Prof. Dr.) ist Inhaber des Lehrstuhls für Theaterwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Hans-Friedrich Bormann, Hans Dickel, Eckart Liebau, Clemens Risi (Hg.)
Theater in Erlangen Orte – Geschichte(n) – Perspektiven
Diese Publikation wurde unterstützt von der Forschungsförderung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. LOGO EINFÜGEN
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Randbild aus dem Plan des Erlanger Schloßgartens von Johann Baptist Homann (1721), Privatbesitz. Satz: Dr. Maren Manzl Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4960-4 PDF-ISBN 978-3-8394-4960-8 https://doi.org/10.14361/9783839449608 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload
Inhalt Katja Ott Grußwort
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Hans-Friedrich Bormann / Hans Dickel / Eckart Liebau / Clemens Risi Einleitung
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Auftakt Clemens Risi Elefanten in Erlangen? Zur Eröffnung des »grossen Theatro zu Christian=Erlang« 1719
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Überblicke Michael von Engelhardt Das Theater und sein Publikum Vom Hoftheater zum Theater der Gegenwart
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Anja Hentschel Von Mauern und Mauerweilern Skizzen zur Erlanger Theatergeschichte
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Silvia Buhr 300 Jahre Theaterwerbung in Erlangen – eine kommentierte Zeitreise
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Markgrafentheater Hans Dickel Das Erlanger Markgrafentheater Typologie und Geschichte eines barocken Bauwerks
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Eckhard Roch Weltsicht und Perspektive auf der Opernbühne des 17. bis 19. Jahrhunderts Das Markgrafentheater Erlangen im Kontext seiner Zeit
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Zwischenspiel Projekt 1719: Elefanten in Erlangen – Eine Spurensuche
161
Universität Hans-Friedrich Bormann Studieren, probieren, experimentieren: Das Theater (in) der Universität
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Bettina Brandl-Risi Wissenschaft im Schatten des Nationalsozialismus – Der Fall Schneider/Schwerte und die Anfänge der Erlanger Theaterwissenschaft
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Lea-Sophie Schiel »Macht endlich Schluß!« – Abbrüche und Anfänge der internationalen Theaterwochen der Studentenbühnen von 1949 bis 1968
245
Eckart Liebau Das Schultheater und die Kunst der Schule: Erlanger Initiativen
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Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft Bodo Birk Ausnahmezustand – Vom barocken Festspiel zur Event-Kultur Reflexionen zur Ereignishaftigkeit von Kulturveranstaltungen am Beispiel der Erlanger Festivals
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Dorothea Pachale Stadt – Theater – Archiv (Ver-)Ortungen von Theatergeschichte im Stadtarchiv Erlangen
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Matthias Warstat Theater am Ort Szenographien des Stadttheaters im Wandel
343
André Studt Was bedeutet (in Erlangen und anderswo): »Stadttheater der Zukunft«?
363
Abbildungsverzeichnis Autorinnen und Autoren
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Grußwort Liebe Leser*innen, die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und das Theater Erlangen teilen eine fast 300-jährige gemeinsame Geschichte voller politischer und gesellschaftlicher Veränderungen. Seit jeher nehmen beide Institutionen diese Entwicklungen in den Blick, durch wissenschaftliche Forschung ebenso wie durch Inszenierungen und künstlerische Projekte. Die Ringvorlesung anlässlich des 300-jährigen Jubiläums des Theater Erlangen, deren Ergebnisse in diesem Band vorgelegt werden, hat eine vielfältige Spurenlese der gemeinsamen bewegten Geschichte betrieben und die Bedeutung von Theater für und in Erlangen über mehrere Jahrhunderte hinweg bis in die Zukunft hinein skizziert. Diese Unternehmung haben Menschen aus der Theaterwissenschaft, Pädagogik, Kunstgeschichte, Musikwissenschaft, Soziologie sowie Kunst- und Kulturschaffende begleitet. Dabei wurde auch die enge Verbindung zwischen der Universität und dem Erlanger Theater deutlich. Mit wissenschaftlicher Akribie und Ausdauer wurden historische Entwicklungen der bewegten Erlanger Theatergeschichte in die Gegenwart geholt: Von der ersten Aufführung im Januar 1719 über die Internationalen Theaterwochen der Studentenbühnen, die 1968 von der Wirklichkeit der gesellschaftlichen Umbrüche eingeholt wurden, bis hin zur Frage nach den Perspektiven und Möglichkeiten eines Stadttheaters der Zukunft. Im Blick zurück nach vorn hat die Ringvorlesung immer wieder nach der Möglichkeit eines Miteinanders von Wissenschaft und Kunst gefragt. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine spannende Lektüre und auch in Zukunft die Neugierde und Aufgeschlossenheit, sich durch Theaterbesuche inspirieren zu lassen.
Katja Ott Intendantin Theater Erlangen
Einleitung Hans-Friedrich Bormann / Hans Dickel / Eckart Liebau / Clemens Risi Eines der frühesten Zeugnisse der Erlanger Theatergeschichte ist ein kolorierter Kupferstich von Johann Baptist Homann aus dem Jahr 1721, ein »Accurater Grundris und Prospect des Hoch-Fürstl. Brandenb.Bayreuthisch Residenz-Schloss und Lustgarten in Christian-Erlang«. Homann zeigt, unter anderem, eine Ansicht des Innenraums des im Jahr 1719 eröffneten Hoftheaters, das heute unter dem Namen Markgrafentheater bekannt ist.1 Wir erhalten auf diesem Wege Informationen über die Architektur, die Bühnenpraxis und die Anordnung des Publikums. Zugleich zeigt uns der Stich nicht nur den baulichen, sondern auch den weltanschaulichen Kontext und gibt so Auskunft über das damalige Theaterverständnis: die Einbettung des Theaters in die höfische Festkultur und seine Beziehung zu anderen Formen der barocken Pracht- und Machtentfaltung (Gebäude, Gärten, Brunnen, Denkmäler... ). Manches davon erscheint dem heutigen Publikum fremd und erklärungsbedürftig, viele Details haben sich im Laufe der Jahrhunderte gewandelt oder sind verschwunden, doch ebenso deutlich dürfte der Eindruck einer Kontinuität sein. Die materielle Präsenz der barocken Architektur im heutigen Erlanger Stadtbild wirft die Frage auf, welche Bedeutung und welche Funktion sie für uns hat – und das heißt eben auch: Welche Funktion und welche Bedeutung dem Theater unter den politischen, sozialen, technischen Bedingungen des 21. Jahrhunderts zukommt. Die Ringvorlesung »Theater in Erlangen« des Interdisziplinären Zentrums für Ästhetische Bildung (IZÄB)2 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat sich im Sommersemester 2019 eine Bestandsaufnahme der Vergangenheit, der Gegenwart und der (möglichen) Optionen für die Zukunft des Theaters vorgenommen. Anlass war der 300. Geburtstag des Markgrafen-
1 Vgl. Abb. 1 und 2 im Beitrag von Clemens Risi im vorliegenden Band. 2 D as IZÄB, ein Zusammenschluss von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen, fokussiert die ästhetische Dimension von Bildung als Gegenstand von Forschung und Lehre. Thema sind insbesondere die Prozesse ästhetischer Wahrnehmung und Gestaltung sowie des ästhetischen Urteilens. Ein Schwerpunkt liegt in der Förderung der ästhetischen Bildung in der Praxis.
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theaters, der auch vom (heute: städtischen) Theater mit einer Reihe von Veranstaltungen in der Spielzeit 2018/19 sowie einer Publikation gewürdigt wurde.3 Die in dem vorliegenden Band versammelten Beiträge aus Theaterwissenschaft, Pädagogik, Kunstgeschichte, Musikwissenschaft und Soziologie sowie von Kunst- und Kulturschaffenden eröffnen unterschiedliche Perspektiven, ohne dabei Vollständigkeit und Geschlossenheit anzustreben. Einerseits war es uns viel wichtiger, dem Phänomen Theater im Allgemeinen gerecht zu werden, und das heißt: seine Komplexität und Widersprüchlichkeit sowie die methodischen Herausforderungen kenntlich zu machen, mit denen sich jede wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem schillernden, zugleich faszinierenden und f lüchtigen Gegenstand konfrontiert sieht. Andererseits sollte auch die Spezifik der Erlanger Theatergeschichte deutlich werden, die ihrerseits von Spannungen und Widersprüchen geprägt ist: von Auf- und Abbrüchen und Phasen der Stagnation, aber auch von einer Tradition des bürgerschaftlichen Engagements sowie künstlerischen und kulturpolitischen Entwicklungen, die weit über die Stadtgrenzen hinaus wirksam sind. Drei (sich beständig berührende, zuweilen überlappende) Themenkomplexe haben sich als zentral erwiesen: Erstens das Markgrafentheater als kulturgeschichtliches Zeugnis, aber auch als konkreter Spielort und Schauplatz, in dem sich Gesellschaft und Kunst sowie Tradition und Gegenwart des Theaters berühren. Von Interesse sind also nicht nur seine Architektur und Baugeschichte, sondern auch Problemstellungen der institutionellen Trägerschaft und der Theaterpraxis. Zweitens die enge Beziehung zwischen Theater und Universität, deren Tradition ebenfalls bis in das 18. Jahrhundert zurückreicht und die sich auf verschiedenen Ebenen (zuweilen auch in überraschender Weise) niedergeschlagen hat. Dass das Markgrafentheater über lange Zeit auch (zuweilen sogar in erster Linie) für Studententheater genutzt wurde, wäre hier ebenso anzuführen wie die Begründung eines Experimentiertheaters und das Engagement für das Schultheater. Drittens zeichnet sich das kulturelle Leben in Erlangen durch eine Tradition der Offenheit aus, die nicht nur in den zahlreichen studentischen und städtischen Festivals zum Ausdruck kommt, sondern auch in der Integration von aktuellen Debatten und Impulsen, sei es bezogen auf die Inhalte und Formen universitärer Bildung, die Funktion und Bedeutung des Stadtarchivs oder die Frage, wie ein »Stadttheater der Zukunft« aussehen soll. Ohne dass einer der Beiträge sich explizit darauf beziehen würde, so beschäftigen sich doch alle Aufsätze mehr oder minder mit der grundsätzlichen historiographischen, von Reinhart Koselleck so pointiert und schlagend diskutierten 3 Vgl. Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.): 300 Jahre Theater Erlangen. Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2019.
Einleitung
Abb. 1: Zuschauerraum Markgrafentheater (2018) Frage, »inwieweit Historie erzählt, wann sie beschreibt«.4 Manche Beiträge lassen sich eher als ereignisgeschichtliches Erzählen, manche eher als strukturgeschichtliches Beschreiben lesen. Und wieder andere verbinden beide Darstellungsweisen miteinander. Gerade die Theaterstadt Erlangen hat sich als ein überaus dankbares Beispiel sowohl für eine strukturgeschichtliche als auch ereignisgeschichtliche Fokussierung erwiesen. Darüber hinaus zeigen mehrere der Beiträge modellhaft die Grundbedingungen und Charakteristika theaterhistoriographischen Arbeitens: Wir können Geschichte nicht suchen und auffinden, wie sie gewesen ist, sondern wir müssen damit zurande kommen, dass die Vergangenheit vergangen und nicht wiederholbar ist und sie von den Autorinnen und Autoren immer wieder neu konstruiert werden muss. Den »Auftakt« des Bandes bildet der Beitrag von Clemens Risi (»Elefanten in Erlangen? Zur Eröffnung des ›grossen Theatro zu Christian=Erlang‹ 1719«), der sich dem singulären Ereignis der Eröffnung des neu erbauten »Hoch fürstlichen Opern- und Comoedienhauß« am 10. Januar 1719 widmet. Der Beitrag geht der Frage nach, was wir von diesem außergewöhnlichen Ereignis wissen, welche Quellen zu Rate gezogen werden können, um Spuren dieser ersten Nacht auf4 R einhart Koselleck: »Darstellung, Ereignis und Struktur«, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten [1972], Frankfurt am Main 2015, S. 144–157, hier: S. 144.
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zudecken. Es geht dabei auch darum, das Lückenhafte, Disparate und Widersprüchliche der verschiedenen Quellen (ein Libretto, eine Chronik, ein zeitgenössischer Stich, eine Requisitenliste) produktiv zu machen sowie die Diagnose, dass die Quellen auf eine Leerstelle verweisen – das nicht wiederholbare Ereignis der ›ersten Nacht‹. Den Abschnitt »Überblicke« eröffnet der Aufsatz von Michael von Engelhardt (»Das Theater und sein Publikum. Vom Hoftheater zum Theater der Gegenwart«), der ausgehend von der 300-jährigen Geschichte des Markgrafentheaters das Verhältnis von Theaterpublikum und Theaterästhetik fokussiert. Der Beitrag illustriert die These des Autors, dass im Zeitraum seit dem 18. Jahrhundert das Theaterpublikum einen grundlegenden Transformationsprozess durchläuft, der bis in die Gegenwart anhält. Die wichtigsten Schritte dieses Transformationsprozesses des Publikums im Zusammenhang mit dem Wandel des Theaters werden diskutiert, sowohl in einem übergreifenden Zusammenhang als auch immer wieder bezogen auf die Erlanger Verhältnisse als konkretes Beispiel. Mit dem Beitrag von Anja Hentschel (»Von Mauern und Mauerweilern. Skizzen zur Erlanger Theatergeschichte«) wird der Blick zum einen auf Erlangen fokussiert, zum anderen aber innerhalb der Theaterstadt Erlangen geweitet hin auf alle nachweisbaren Spielorte von Theater von 1700 bis in die Gegenwart. Die topographische Identifizierung der Spielorte und die exemplarische Befragung einzelner Ausschnitte dieses Theater-Stadtplans der Geschichte erlaubt mannigfaltige Einblicke in eine überaus lebendige Theaterkultur, ihre Spielstätten, Spielpläne, Arbeitsbedingungen und ihr Publikum, jenseits von überkommenen Unterscheidungen in »Hoch-« und »Trivial-« Kultur. Der daran anschließende Aufsatz von Silvia Buhr (»Eine kommentierte Zeitreise. 300 Jahre Theaterwerbung in Erlangen«) verfolgt einen ebenso weiten Bogen der Erlanger Theatergeschichte über 300 Jahre, konzentriert sich dabei auf eine ganz besondere Quellenart: den Theaterzettel bzw. das Theaterplakat. Die an zahlreichen Beispielen aufgezeigten Besonderheiten der einzelnen Quellen vermitteln ein sich wandelndes Werk- und Theaterverständnis, spiegeln Zuständigkeiten und Kompetenzen, Zwänge und Verbindlichkeiten des Schauspielerstandes und vermögen das jeweilige Selbstverständnis des betreffenden Theaters zum Ausdruck zu bringen. »Markgrafentheater« ist der folgende Abschnitt überschrieben. Hans Dickel (»Das Erlanger Markgrafentheater. Typologie und Geschichte eines barocken Bauwerks«) widmet sich hier aus kunst- und architekturhistorischer Perspektive dem barocken Bauwerk. Die architektonischen Besonderheiten nach dem von Markgräfin Wilhelmine angeordneten Umbau werden in einer präzisen Nahsicht und Beschreibung in Genealogien und Traditionslinien europäischer Theaterarchitektur gestellt, wobei typologische Fragen im Vergleich zu prominenten Theaterbauten etwa in Venedig und Dresden eine besondere Rolle spielen. Eckhard Roch (»Weltsicht und Perspektive auf der Opernbühne des 17. bis
Einleitung
19. Jahrhunderts. Das Markgrafentheater Erlangen im Kontext seiner Zeit«) beginnt in seinem Beitrag auch mit dem schon eingangs behandelten Eröffnungsabend im Januar 1719 und diskutiert die auf der Bühne des Markgrafentheaters im 18. und 19. Jahrhundert praktizierte Aufführungsgeschichte aus der Perspektive höfischer Zeremonial- und Festkultur. Er zeigt die Beziehung von sozialen Strukturen (etwa Machtstrukturen) und einer vor allem im Bühnenbild und den konkreten Sichtlinien ablesbaren Bühnenästhetik. Unser Buch hat ein »Zwischenspiel«, in dem eine künstlerisch-performative Unternehmung dokumentiert wird, die unter dem Titel »Projekt 1719: Elefanten in Erlangen – Eine Spurensuche« am 30. Mai 2019 auf der Bühne des Markgrafentheaters im Rahmen des 21. internationalen figuren.theater.festivals ihre Premiere feierte. Als Kooperation zwischen dem Kulturamt Erlangen, dem Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität und dem Theater Erlangen wurde das Jubiläum des Markgrafentheaters auf eine besondere Weise begangen. Vier Künstlerinnen aus den Bereichen der Musik (Sandra Leupold), der Objekt-Animation (Eva Meyer-Keller), des Bildertheaters (Lindy Annis), der neuen Medien und der Kulinarik (Isi Kunath) hatten sich gemeinsam mit Lehrenden und Studierenden mit den historischen Quellen beschäftigt und das Publikum zu einer Spurensuche eingeladen, von dem der mehrteilige Beitrag in O-Tönen der Künstlerinnen und von Besucherinnen sowie Fotografien der Premiere Kunde gibt. Der zweite Abschnitt »Universität« beginnt mit dem Aufsatz von HansFriedrich Bormann (»Studieren, probieren, experimentieren: Das Theater (in) der Universität«). Ausgehend von dem Befund, dass trotz ihrer parallelen Entwicklung das Verhältnis zwischen Theater und Universität seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart als ambivalent erscheint, geht der Autor in mehreren exemplarischen Tiefenbohrungen der Geschichte der wechselseitigen (wenngleich auch zuweilen widersprüchlichen und spannungsreichen) Bezüge zwischen Theater und Universität in Erlangen nach und hat dabei drei Modelle herausgearbeitet (Theater und Universität als Gegensätze; Theater als Gegenstand des universitären Wissens; Verklammerung zwischen Wissenschaft und Kunst). Der Beitrag von Bettina Brandl-Risi (»Wissenschaft im Schatten des Nationalsozialismus – Der Fall Schneider/Schwerte und die Anfänge der Erlanger Theaterwissenschaft«) widmet sich einem prekären Fall: der Enttarnung des Hans Schneider alias Schwerte, der seine Identität verleugnet und gewechselt hatte, um Strafverfolgung für seine Beteiligung am NS-Regime zu entgehen und unter neuer Identität unbehelligt seine Karriere im Nachkriegsdeutschland (u. a. in Erlangen) weiter verfolgen zu können. Die Autorin diskutiert dies vor dem Hintergrund von grundsätzlicheren Fragen von Wissenschaft im Schatten des Nationalsozialismus, der Theaterwissenschaft im Nachkriegsdeutschland und den personellen Kontinuitäten. Lea-Sophie Schiel nimmt in ihrem Aufsatz
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(»›Macht endlich Schluß!‹ – Abbrüche und Anfänge der internationalen Theaterwochen der Studentenbühnen«) die Internationale Theaterwoche der Studentenbühnen in den Blick, die von 1949 bis 1968 insgesamt fünfzehn Mal in Erlangen stattfand und eine internationale Strahlkraft entfaltete. Die Autorin geht der Frage nach, wie und warum diese so prägende Institution 1968 ihr Ende fand und findet Gründe im Zusammenspiel von staatlicher Einf lussnahme, dem Wunsch nach einer größeren politischen Konsequenz und Wirksamkeit von Theater und – unter Rekurs auf ein einf lussreiches theaterhistoriographisches Erklärungs- und Analysemodell – einer Verschiebung des »Theatralitätsgefüges«. Der Beitrag von Eckart Liebau (»Das Schultheater und die Kunst der Schule: Erlanger Initiativen«) beleuchtet das bildungstheoretische, -praktische und -politische Potential von Theater für die Schule und stellt die mannigfaltigen Initiativen vor, die sich gerade vom Standort Erlangen aus entwickelt haben. Dabei geht der Autor von der These aus, dass wenige Felder so geeignet sind zur Förderung von Bildung wie das Theater, und diskutiert schulische Initiativen und Praktiken zum und im Schultheater in Erlangen, verschiedene theoretische, auch wissenschaftsgeschichtliche Begründungsmuster für das Schultheater, die schulbezogenen Initiativen des Erlanger Stadttheaters sowie die Initiativen zum Schultheater an der Universität Erlangen-Nürnberg. Der erste Beitrag des dritten Abschnitts »Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft« ist von Bodo Birk (»Ausnahmezustand – Vom barocken Festspiel zur Event-Kultur. Ref lexionen zur Ereignishaftigkeit von Kulturveranstaltungen am Beispiel der Erlanger Festivals«) und beschreitet noch einmal den großen Bogen über die 300 Jahre Erlanger Theatergeschichte, indem er eine ganz besondere theatrale Kultur in den Blick nimmt, nämlich die Fest-, Festival- und Festspielkultur Erlangens, die insbesondere in den letzten Jahrzehnten eine weit über Erlangen hinausreichende Strahlkraft entwickelt hat. Dorothea Pachale zeigt in ihrem Beitrag (»Stadt – Theater – Archiv. (Ver-)Ortungen von Theatergeschichte im Stadtarchiv Erlangen«), dass bereits die Logik und Arbeitsweise des Archivs von bestimmten Annahmen über die Institution Theater geprägt ist und ihrerseits die Geschichtsschreibung beeinf lusst. Darüber hinaus macht sie anhand ausgewählter Archivalien am konkreten Beispiel Erlangens deutlich, dass auch und gerade vermeintlich abwegige und randständige Dokumente (wie etwa Ämterkorrespondenzen und Verwaltungsakten) überraschende Aufschlüsse über die Theaterpraxis einer Epoche zu geben vermögen. Die letzten beiden Beiträge sind aktuellen Entwicklungen des Gegenwartstheaters gewidmet, die in den letzten Jahren auch in Erlangen zu beobachten waren: Matthias Warstat (»Theater am Ort. Szenographien des Stadttheaters im Wandel«) diskutiert die Tendenz zeitgenössischer Inszenierungen, die Trennung zwischen Bühne und Welt zu überwinden – sei es, indem neue Spielorte aufgesucht werden oder das Publikum selbst in Bewegung versetzt wird, sei es, indem die »Wirklichkeit« über Bild- und Ton-
Einleitung
Abb. 2: Zuschauerraum und Bühne Experimentiertheater (2010)
dokumente ins Theater geholt wird. Seine exemplarischen Analysen eines Projekts von Rimini Protokoll sowie zweier Inszenierungen von Christoph Schlingensief und Susanne Kennedy machen deutlich, dass dahinter eine politische Dynamik steht, die eine grundsätzliche Herausforderung für das etablierte Stadttheatersystem darstellt. Dieser Herausforderung widmet sich auch André Studt mit seiner Frage »Was bedeutet (in Erlangen und anderswo): ›Stadttheater der Zukunft‹?«. Er rekurriert damit auf eine seit mehreren Jahren laufende Debatte, in der nicht nur die ästhetischen Mittel des Theaters, sondern auch seine Themen und Arbeitsweisen sowie sein Verhältnis zur Gesellschaft im Zeichen von Globalisierung und Digitalisierung verhandelt werden. Anhand der Jurybegründung zur Verleihung des »Theaterpreises des Bundes« an das Theater Erlangen im Jahr 2019 und dem »Manifest« der Leitung des NTGent unter Milo Rau aus dem Jahr 2018 arbeitet er alternative Lösungsansätze heraus. Weder die Ringvorlesung noch die Publikation der Beiträge im vorliegenden Band hätten ohne institutionelle Förderung und Unterstützung durch einzelne Personen stattfinden können; ihnen gebührt ein herzlicher Dank: Zuallererst sei an dieser Stelle das Engagement des Theater Erlangen – seiner Intendantin Katja Ott sowie, stellvertretend für die beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Susanne Ziegler (Leiterin des Künstlerischen Betriebsbüros) – gewürdigt. Dem Collegium Alexandrinum der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, insbesondere dem Geschäftsführer, Dr. Rudolf Kötter,
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Hans-Friedrich Bormann / Hans Dickel / Eckart Liebau / Clemens Risi
danken wir für die organisatorische Unterstützung. Für die zuverlässige Unterstützung bei der Durchführung der Ringvorlesung danken wir den beteiligten Studierenden, insbesondere Julia Klingel, außerdem dem Team des Experimentiertheaters der FAU und seinem Technischen Leiter Gerd Budschigk. Dass Forschungen zur Lokalgeschichte auf die Kooperation der ansässigen Archive und Expertinnen und Experten angewiesen sind, liegt auf der Hand. Wir danken, auch im Namen vieler Beiträgerinnen und Beiträger, dem Stadtarchiv Erlangen, namentlich seinem Leiter Dr. Andreas Jakob und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, darunter insbesondere Ute Riedel und Renate Wünschmann, für viele inhaltliche Hinweise und eine geduldige und großzügige Unterstützung bei der Suche und Bereitstellung von Archivalien. Entsprechendes gilt für das Universitätsarchiv und seinen Leiter, Dr. Clemens Wachter. Bereits in einer frühen Phase der inhaltlichen Konzeption konnten wir auf die fachliche Expertise einer informellen theaterhistorischen Arbeitsgruppe im Kulturamt Erlangen, Abteilung »Festivals und Programme« zurückgreifen, an der unter anderem Bodo Birk, Annika Gloystein und Nora Planert beteiligt waren. Wir danken herzlich PD Dr. Leopold Klepacki, der als Geschäftsführer des IZÄB für die administrative Betreuung des Bandes zuständig war. Die Redaktion und finale Gestaltung der Publikation lag in den Händen von Dr. Maren Manzl (Institut für Kunstgeschichte der FAU). Ihr gilt unser besonderer Dank für eine überaus sorgfältige und gewissenhafte Zusammenarbeit. Abschließend noch ein redaktioneller Hinweis: Die Herausgeber haben es den Autorinnen und Autoren freigestellt, wie sie mit der Frage gendersensibler Sprache umgehen möchten. Dies führt dazu, dass es keine für den gesamten Band einheitliche Form des Umgangs gibt. Erlangen, im Oktober 2019
Auftakt
Elefanten in Erlangen? Zur Eröffnung des »grossen Theatro zu Christian=Erlang« 1719 Clemens Risi Eine der berühmtesten und auch meistzitierten Abbildungen aus der Frühzeit des Erlanger Theaters ist der Schlossgartenplan von Johann Baptist Homann (1646–1724) mit acht Randbildern von 1721 (Abb. 1). In den Randbildern finden sich einzelne Details des Schlossgartens sowie zwei Innenansichten, die für theaterhistoriographisch Interessierte besonders aufschlussreich sind. Das Randbild links unten ist eine der frühesten Abbildungen eines Theaterinnenraums mit einem Szenenbild und anwesendem Publikum: Die Überschrift lautet »Carnevals Lustbarkeiten im Opern[-] und Comoedien-Hauß« und gibt einen Einblick in das zwei Jahre zuvor eröffnete Erlanger Theater. Glaubt man diesem Kupferstich, so verfügte die neu eröffnete Erlanger Bühne unter anderem über ein spektakuläres Ausstattungs-Detail, das in diesem Szenenbild zu sehen ist: zwei Elefanten, die einen Triumphwagen ziehen (Abb. 2). Ich möchte im Folgenden der Frage nachgehen, was wir von dem außergewöhnlichen Ereignis der Eröffnung des »Opern[-] und Comoedien-Hauß« wissen, welche Quellen zu Rate gezogen werden können, um Spuren zu dieser ersten Nacht zu finden. Erstens soll es dabei darum gehen, das Lückenhafte, Disparate und Widersprüchliche der verschiedenen Quellen (ein Libretto, eine Chronik, ein zeitgenössischer Stich, eine Requisitenliste) produktiv zu machen sowie die Diagnose, dass die Quellen auf eine Leerstelle verweisen – das abwesende und nicht wiederholbare Ereignis der ersten Nacht. Zweitens soll an diesem konkreten Beispiel die Relation der zum Einsatz gekommenen Elefanten als technische Maschinen zu anderen technischen Objekten wie einerseits den Bühnenmaschinen des Barock sowie andererseits den Elefanten als Skulpturen / Automaten außerhalb des Theaters gezeigt werden.1
1 E s handelt sich bei diesem Text um ein Zwischenergebnis eines in Arbeit befindlichen Forschungsprojekts zur barocken Frühgeschichte des Erlanger Theaters. Erste Überlegungen dazu konnten bei den Kongressen der Gesellschaft für Medienwissenschaft 2017 und der Gesellschaft für Theaterwissenschaft 2018 zur Diskussion gestellt werden. Eine frühere Fassung dieses Textes ist erschienen in: Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.): 300 Jahre Theater Erlangen. Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2019, S. 22–28.
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Clemens Risi
Abb. 1: Schlossgartenplan von Johann Baptist Homann (1646–1724) von 1721 Die Suche nach Spuren dieser Eröffnung des Theaters erweist sich sehr schnell als eine mühsame. Es existiert zwar mit dem 1719 in Bayreuth gedruckten Libretto einer Oper namens Argenis und Poliarchus (Abb. 3) eine ausführliche Textquelle,2 doch darüber hinaus ist die Quellenlage eher lückenhaft. Das Libretto trägt den Hinweis auf dem Frontispiz, dass diese Oper »auf gnädigsten Befehl Des Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn / Herrn Georg Wilhelms / Marggrafens zu Brandenburg in Preussen […] An dem Carneval Welcher in dem 1719.ten Jahr zu Christian=Erlang gehalten wurde / In einer Musicalischen Opera Auf dem grossen Theatro daselbst unterthänigst vorgestellet« wurde. Argenis und Poliarchus ist ein Stoff, der durch John Barclays neu-lateinischen Roman von 1621 – insbesondere in der deutschen Übersetzung durch 2 ARGENIS und POLIARCHUS Wurde Auf gnädigsten Befehl Des Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn / Herrn Georg Wilhelms / Marggrafens zu Brandenburg in Preussen […] An dem CARNEVAL Welcher in dem 1719.ten Jahr zu Christian=Erlang gehalten wurde / In einer Musicalischen OPERA Auf dem grossen Theatro daselbst unterthänigst vorgestellet. Bayreuth / gedruckt bei Joh. Lobern. Bayerische Staatsbibliothek München, Signatur: 2 P.o.germ. 58,8.
Elefanten in Erlangen?
Abb. 2: Schlossgartenplan von Johann Baptist Homann (Detail) Martin Opitz 1626 – allgemein oder zumindest in literatur- und theaterinteressierten Kreisen bekannt war. Es geht um eine fiktive sizilianische Prinzessin, die von mindestens drei Verehrern hofiert wird, von denen sich der eine aufgrund seiner Bevorzugung durch Argenis’ Vater im Prinzip die größten Hoffnungen ausrechnen darf, den sie aber nicht liebt und der sich am Schluss als ihr leiblicher Bruder herausstellen wird, ein zweiter sich insbesondere durch Brutalität gegenüber den Feinden von Argenis’ Vater ausgezeichnet hat und sich deswegen große Chancen ausrechnet, und schließlich von einem dritten, Poliarchus, der keine ähnlichen Verdienste vorweisen kann, außer dass er treu und tugendhaft Argenis liebt und ebenso treu und tugendhaft wiedergeliebt wird. Am Schluss gibt es ein Happy End, und Argenis und Poliarchus werden zum Paar erklärt. Was lässt sich an Details zur Aufführung aus dem Libretto entnehmen? Leider nicht so viel, wie man sich wünschen würde. Das Libretto nennt keinen Autor, auch keinen Komponisten, keine beteiligten Künstler. Die Musik zu der Oper gilt als verschollen. Doch wie lässt sich dennoch zumindest ansatzweise herausfinden, wie die erste Nacht geklungen hat, wie sie ausgesehen hat, was zu hören, was zu sehen war? Um doch etwas über diese erste Nacht zu erfahren, müssen weitere
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Clemens Risi
Abb. 3: Anonym: Argenis und Poliarchus (Erlangen 1719), Bayreuth 1719
Elefanten in Erlangen?
Kreise gezogen werden, andere Spuren verfolgt werden, noch andere Quellen zurate gezogen werden. Das Theatergebäude3 in Auftrag gegeben hat der theater- und opernbegeisterte Markgraf Georg Wilhelm von Brandenburg-Bayreuth (1678–1726), der zusammen mit seiner Gattin, der Markgräfin Sophia (1684–1752), mit Hauptsitz in Bayreuth residierte, aber doch regelmäßig auch an den Nebensitz des Hofes nach Erlangen reiste, u. a. um sich mit wichtigen Persönlichkeiten anderer Höfe zu treffen (wie zum Beispiel Lothar Franz von Schönborn, Kurfürst zu Mainz und Fürstbischof von Bamberg, 1655–1729), oder an Veranstaltungen wie den aufwendigen Karnevals-Umzügen durch die Stadt teilzunehmen. Zwei dieser Umzüge, und zwar die in den Jahren 1721 und 1722, waren offenbar so bemerkenswert, dass sie als Kupferstiche dokumentiert wurden.4 In den jeweils darauf befindlichen Legenden wird en detail aufgelistet, wer in welchem Kostüm mit dabei war. Das Programm von 1721 hatte die Darstellung der vier Erdteile »Europa«, »Asia«, »Africa« und »America« zum Thema, mit Pferden und auf Wagen dargestellten Tieren wie Löwen und Drachen, allerdings keine Elefanten (Abb. 4). Mit der Nr. 16 markiert als Romulus zu Pferd »Se. Hochfürstl. Durchl: Herr Margraff als Scheff.«, also Markgraf Georg Wilhelm selbst, sowie mit der Nr. 34 »Sr. Hochfürstl. Durchl: Frau Margräffin«, die auf dem Stich aber abgeschnitten zu sein scheint. Auch der gesamte Hofstaat fuhr in verschiedenen Rollen auf den Wagen und in der Formation mit. Das Programm des Folgejahres war dagegen das »in Sachsen bekannte Motiv verschiedener Nationen in bäuerlicher Spielart«,5 also »Verkehrte Welt«6 (Abb. 5): Markgraf Georg Wilhelm sitzt auf dem Wirtswagen als sizilianischer Kellner (Nr. 10), seine Gattin als sizilianische Bäuerin einen Wagen dahinter (Nr. 3). Es ist diese Markgräfin Sophia, über deren Biographie sich eine weitere vielversprechende Spur zur Eröffnungsvorstellung des Erlanger Theaters finden lässt. Sophia war eine geborene Prinzessin von Sachsen-Weißenfels. Am Hof ihrer Eltern, dem Hofe Sachsen-Weißenfels, wurde eine besondere Praxis der Theater- und Operngeschichte etabliert und praktiziert: die deutsche Barockoper, die ansonsten nur an der Hamburger Oper am Gänsemarkt aufgeführt wurde. Im Gegensatz zum Mainstream der Opernproduktionen dieser Jahre, die fast überall italienischsprachig waren, wurde sie in deutscher Sprache verfasst und gesun3 Zur Architektur des Theaters vgl. den Beitrag von Hans Dickel im vorliegenden Band sowie überhaupt zur Theater- und Operngeschichte Erlangens im Barock darüber hinaus die Beiträge von Eckhard Roch und Michael von Engelhardt im vorliegenden Band. 4 Vgl. Thomas Engelhardt (Hg.): Erlangen im Barock. Glanz und Elend der Markgrafenzeit. Bilder, Dokumente, Objekte, Interpretationen, Erlangen 2010, S. 103–107; zu den Karnevals-Umzügen siehe auch den Beitrag von Eckhard Roch im vorliegenden Band. 5 Anita Gutmann: Hofkultur in Bayreuth zur Markgrafenzeit 1603–1726, Bayreuth 2008, S. 256. 6 Th. Engelhardt (Hg.): Erlangen im Barock, S. 107.
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Clemens Risi
Abb. 4: Karnevalsumzug Erlangen 1721 gen. Die beiden wichtigsten und produktivsten Vertreter dieser Tradition waren Reinhard Keiser (1674–1739) in Hamburg und Johann Philipp Krieger (1649–1725) in Weißenfels. Das Libretto zur Erlanger Eröffnungsvorstellung fügt sich in diese außergewöhnliche Traditionslinie einer deutschen Barockoper ein und zeigt, dass neben den beiden Zentren Hamburg und Sachsen-Weißenfels auch Bayreuth und Erlangen als weitere Hochburgen dieser für die Opern- und Theatergeschichte so bedeutenden Phase angesehen werden dürfen. Neben der deutschen Sprache ist ein Charakteristikum dieser Opern auf thematischer Ebene der Widerstreit zwischen tugendhafter Liebe und lasterhaftem Verhalten, worunter in erster Linie Unehrlichkeit, Verstellung und Verrat verstanden werden. Der Widerstreit von tugendhafter Liebe und Laster wird bereits in der Vorrede als zentrales Thema aufgerufen: »Ein mehrers giebet der Inhalt / folgender Blätter und dabey diese Lehre: Es sey nichts so schätzbar / als Tugend=haffte Liebe / und nichts gewissers als ihre Belohnung!«7 Ganz nach dieser Maxime finden sich gleich in der ersten Arie der Argenis aus dem 1. Akt folgende Zeilen: »Ich liebe die Tugend und hasse die Laster: / Mein Schatz muß keusch und
7 ARGENIS und POLIARCHUS, S. III.
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Abb. 5: Karnevalsumzug Erlangen 1722 tapffer seyn. / Es pf legen alleine die niedrigen Seelen / Das blinde Gelücke zum Leit=Stern zu wehlen: / Ich seh nicht auf den bloßen Schein.«8 Darüber hinaus fällt eine gewisse Selbstverständlichkeit in der Thematisierung von Gewalt und Brutalität auf, die nicht unter das lasterhafte Verhalten gezählt werden, sondern als offenbar gerechte Strafe für lasterhaftes Verhalten angesehen werden. So etwa gleich in der ersten Szene: »Laß das Rebellen Haupt / Gleich auf die Mauren stecken / Um bey den Meinigen / Nun einen Scheu / Vor der Verrätherey / Und Meineyd zu erwecken.«9 Schließlich gilt als Charakteristikum insbesondere der Hamburgischen Barockoper die Existenz komischer Figuren, die als komische Diener oder Marktschreier die ernste Handlung immer wieder unterbrechen. Auch dies finden wir in Argenis und Poliarchus in der Figur des explizit als solchen bezeichneten »lustigen Dieners« Phorbus, der immer wieder auch mit prahlenden, anzüglichen und derben Bemerkungen aus der Reihe fällt, so etwa im Finale des ersten Aktes mit
8 Ebd., S. 4. 9 Ebd., S. 1f.
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folgenden Versen: »Weil ich mich neulich als ein Held / Im Feld / So tapffer rum geschmiessen / Daß ich mir meine Hosen / Darüber voll gesch = =«.10 Wie zu Anfang erwähnt, nennt das Libretto keinen Komponisten; der Name ist auch anderweitig nicht überliefert. Die Musik gilt als verschollen. Wie lässt sich damit umgehen? Welche Möglichkeit gibt es, sich dennoch eine Vorstellung von der Klanglichkeit der ersten Nacht zu machen? In einem Aufsatz über die Musik am Hof Brandenburg-Culmbach-Bayreuth äußert der Autor Rashid-S. Pegah die Vermutung, dass der Falsettist Johann Ernst Michel (1678–1727), der die Leitung der Bayreuther Hof kapelle in den Jahren 1711, 1716 und 1718 innehatte, auch die Musik zu den am Bayreuther Hof aufgeführten Opern geschrieben haben soll.11 Dies würde dann auch auf die Erlanger Oper von 1719 zutreffen, die im Jahr zuvor auch schon in Bayreuth zum Geburtstag der Markgräfin aufgeführt worden war. Zu den am Bayreuther Hof (und damit auch in Erlangen) tätigen Musikerinnen und Musikern gibt ferner ein Aufsatz von Irene Hegen weitere Auskunft.12 Hier ließe sich möglicherweise weiter forschen, nach Material von Johann Ernst Michel und über ihn fahnden. Eine weitere Möglichkeit, sich der Klanggestalt der ersten Nacht anzunähern, würde vielleicht darin bestehen, die musikalische Prägung der Markgräfin Sophia zu fokussieren. Wie ebenfalls bereits erwähnt, hat die Markgräfin in ihrer Jugend als Prinzessin von Sachsen-Weißenfels zu Hause die Blüte der deutschen Barockoper erlebt, wo Johann Philipp Krieger Hof kapellmeister und Komponist war. Von dessen Bruder Johann Krieger (1652–1735), in Nürnberg geboren, gibt es sogar eine Vertonung der Fassung des Argenis-Stoffes von Christian Weise (1642–1708), unter dem Titel Die sicilianische Argenis 1683 in Zittau uraufgeführt. Ob und inwiefern es Beziehungen zwischen den beiden Argenis-Opern aus Zittau und Bayreuth bzw. Erlangen gibt, gälte es noch herauszufinden, ebenso, ob ggf. auf älteres Material aus Zittau oder Weißenfels zurückgegriffen wurde. Noch ein weiterer Name sei genannt, wenn es darum gehen soll, sich zumindest eine Vorstellung davon zu verschaffen, wie Opernmusik an den Höfen von Bayreuth und Erlangen geklungen haben mag. 1718 – im Jahr vor der Erlanger Eröffnung und somit in dem Jahr, an dem die Argenis bereits in Bayreuth aufgeführt worden war – hielt sich in Bayreuth der Komponist Gottfried Heinrich Stölzel
10 Ebd., S. 12. 11 Rashid-S. Pegah: »The Court of Brandenburg-Culmbach-Bayreuth«, in: Samantha Owens / Barbara M. Reul / Janice B. Stockigt (Hg.), Music at German Courts, 1715–1760. Changing Artistic Priorities, Woodbridge 2011, S. 389–412. 12 I rene Hegen: »Die markgräfliche Hofkapelle zu Bayreuth (1661–1769)«, in: Silke Leopold / Bärbel Pelker (Hg.), Süddeutsche Hofkapellen im 18. Jahrhundert. Eine Bestandsaufnahme (= Schriften zur Südwestdeutschen Hofmusik 1), Online-Publikation, Heidelberg 2014/2018, S. 1–54, URL: http://www.oapen.org/search?identifier=1000415 [zuletzt abgerufen am 28. August 2019].
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Abb. 6: Gottfried Heinrich Stölzel: Diomedes (1718) (1690–1749) auf, um für das Bayreuther Theater die Oper Diomedes zu vertonen.13 Von der Musik hierzu ist eine Arie (Bist du bei mir) überliefert, sehr bekannt und vielfach eingespielt, und zwar deswegen, da sie bis vor kurzem noch einem anderen Komponisten zugeschrieben worden war, nämlich Johann Sebastian Bach (1685–1750). Dass sie jedoch nicht von Bach, sondern von Stölzel komponiert wurde, geht aus einem Bach gehörenden Manuskript eindeutig hervor (Abb. 6).14 Die Arie ist 1718 in Bayreuth entstanden, in direktem zeitlichen und womöglich auch stilistischen Umfeld der in Erlangen zur Eröffnung gegebenen Argenis-Oper. Die Frage also, wie sich die Eröffnung des Erlanger Theaters 1719 angehört haben mag, lässt sich nur über Umwege beantworten – etwa über Fährten via Bayreuth und via Weißenfels und via Hamburg. Über diese Umwege ließe sich bei Kombination von Libretto und überlieferten Musiken der genannten anderen Orte zumindest eine Art Klangraum erahnen.15 Und was gab es auf der Bühne zu sehen? Um sich eine Vorstellung von der szenischen Realität vergangener Opernaufführungen zu machen, ziehen Musik- und 13 A. Gutmann: Hofkultur in Bayreuth, S. 250. 14 Gottfried Heinrich Stölzel: Airs divers compos: par Mr. Stöltzel = Diomedes. Auszüge [5 Arien]. Handschrift. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Signatur: SA 808 (7), URL: https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht?PPN=PPN826238602&PHYSID=PHYS_ 0123&DMDID=DMDLOG_0014 [zuletzt abgerufen am 19. August 2019]. 15 Siehe dazu auch das Projekt »und dann...?« der Regisseurin Sandra Leupold und der Musiker*innen Olivia Stahn (Sopran), Mira Lange (Cembalo), Martin Seemann (Violoncello) im Rahmen der Aufführung Projekt 1719: Elefanten in Erlangen und die Dokumentation dieses Projekts im vorliegenden Band.
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Abb. 7: Inventarium über alle, sowohln bey der Hoch Fürstlichen Kirchen, Schloß, Opern, Redouten- und Tracteur Hauß ... befindlichen Meublen und dergleichen … Specification Deßen was sich im Opern-Hauß zu ChristianErlang an hernach folgenden Verwandlungen, auch andern zu Comoedien- und Opern gehörigen Machinen befunden, Erlangen 1719 Theaterhistoriker*innen sehr häufig Bühnenanweisungen aus den Libretti und Dramentexten heran. Im Libretto zur Erlanger Eröffnungsvorstellung finden sich u. a. folgende Dekorationsangaben: »Scen. VIII. Der Prospect wird geöffnet / und stellet einen Garten mit einer Grotte vor.«16 – oder im Finale ganz besonders aufwendig: »Ein völliger Wald an der See / welcher zu Ende mit Pyramiden und Statuen welche Amouretten mit brennenden Fackeln vorstellen / illuminiret ist. In der See praesentiren sich viele Schiffe welche gleichfalls illuminiret sind. An dem Ufer stehet eine gedeckte Tafel […] Soldaten halten zu Wasser ein Lust=Spiel mit Wurff=Pfeilen.« 17 Bei dem Versuch, aus Bühnenanweisungen Rückschlüsse auf eine szenische Wirklichkeit zu ziehen, ist allerdings immer Vorsicht geboten. Denn der genaue Quellenwert von Dramentexten und deren Nebentexten hinsichtlich der Aufführungs16 ARGENIS und POLIARCHUS, S. 7. 17 Ebd., S. 28.
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realitäten und -materialitäten ist fraglich. Welche Art Dokument ist denn ein Libretto? Handelt es sich um Vorschriften, Ideal-Anweisungen eines Autor-Subjekts oder gar um Protokolle tatsächlicher Aufführungsrealitäten? Diese Fragen lassen sich nicht entscheiden, allenfalls lassen sich durch parallele Quellenkombination Übereinstimmungen nachweisen, aber für diese Frühzeit sind solche Übereinstimmungen von unterschiedlichen Quellenarten für ein- und dieselbe Aufführung äußerst rar. In unserem Falle liegen also einige äußerst differenzierte und aufwendige Anweisungen vor, aber es gibt keine direkten Bildquellen von den entsprechenden Szenen. Was wir aber haben, ist ein Inventar des Erlanger Schlosses – »Inventarium über alle, sowohln bey der Hoch Fürstlichen Kirchen, Schloß, Opern, Redouten- und Tracteur Hauß […] befindlichen Meublen und dergleichen, […] den 8. Marti Ao. 1719«18 –, das auch eine Auf listung sämtlicher am neuen Erlanger Theater vorhandener Dekorationen enthält (Abb. 7): »Specification Deßen was sich im Opern-Hauß zu Christian-Erlang an hernach folgenden Verwandlungen, auch andern zu Comoedien- und Opern gehörigen Machinen befunden […]«. Und hier lassen sich dann durchaus Parallelen ziehen: Es gibt laut Inventar zwei Arten von Gärten, den »Brandenburglichen« (Nr. 4) und den »Affricanischen« (Nr. 5) – einer davon hat sich sicher für den Garten der sizilianischen Argenis verwenden lassen. Es gibt zwei Arten von »Waldt« (Nr. 6 u. 7), es gibt den »Seehafen« (Nr. 10), die »Stadt« (Nr. 11), ferner gibt es »Gefängnüße« (Nr. 17), die »Grootte« (Nr. 22) und die »Amouretten« (Nr. 24) – also eine reiche Auswahl an Dekorationswänden für die Kulissen, um den Erfordernissen solcher Szenenanweisungen wie »Garten mit einer Grotte«, »Wald an der See«, »Amouretten« etc.19 zu begegnen, und damit starke Indizien für eine tatsächliche Realisierung der im Libretto verzeichneten Szenographien. Wie genau diese ausgesehen haben, muss dann allerdings immer noch imaginiert werden, haben sich doch leider keine Bildquellen zu diesen Dekorationswänden erhalten. Doch auch in diesem Fall lohnt wieder das Ziehen eines weiteren Kreises. Und dabei kommen endlich auch die Elefanten zum Zuge: Der bereits genannte Homann’sche Plan des Erlanger Schlossgartens von 1721 gibt Einblicke in das Innere des neu erbauten Markgrafentheaters, auf die Architektur des Zuschauerraums, auf das anwesende Publikum und – auf die Bühne, die Dekoration und Darstellung einer Szene. Man könnte sich fragen, ob es sich bei der dargestellten Szene um eine Szene aus der Aufführung von Argenis und Poliarchus zur Eröffnung des Theaters im Jahr 1719 handelt. Im Libretto finden sich zwar keinerlei 18 Staatsarchiv Bamberg, Signatur: 1 C-H Vol. XXVI Nr. 2; vgl. auch Johannes Bischoff: »Das Hochfürstliche Opern- und Commoedienhaus in Christian-Erlang unter Markgraf Georg Wilhelm von Bayreuth. Regesten zur Erlanger Theatergeschichte von 1715 bis 1722«, in: Erlanger Bausteine zur fränkischen Heimatforschung, Band 15 (1968), S. 3–12, hier S. 6f. 19 Siehe ARGENIS und POLIARCHUS, S. 7 und 28.
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Spuren von Elefanten, aber doch in dem eben genannten Inventar des Erlanger Schlosses aus dem Jahr 1719. Dort wird unter der Rubrik »Particularia« explizit der Bestand von zwei Elefanten aufgelistet – gemeint sind Dekorationen, Kostüme bzw. »Machinen« zur Darstellung von Elefanten. Neben den »drei Schiffen« und dem »Triumph-Wagen« – alles erforderlich dem Argenis-Libretto gemäß – auch zwei »Elephanden«! Im Jahr der Eröffnung waren also durchaus zwei »Elephanden« im Bestand des Erlanger Theaters. Auch die allererste Bühnenanweisung deckt sich ungefähr mit dem bei Homann Dargestellten: »Das Theatrum repraesentiret eine Gaße mit zwey Triumph=Pforten«.20 Es ist zwar nur ein Triumphbogen zu sehen, aber wenn wir das Bühnenportal noch hinzunehmen, wäre auch die zweite Triumphpforte da.21 Und schließlich: »Meleander und Radirobanes in einem Triumph=Wagen / der von Sclaven gezogen wird«.22 Der Triumph-Wagen ist da, zwei römisch gekleidete Helden – durchaus denkbar, dass die beiden Darsteller der dramatis personae Meleander, König von Sizilien, und Radirobanes, König von Sardinien, als römische Helden kostümiert waren. Der Triumph-Wagen wird laut Libretto von Sklaven gezogen. Es wäre also die Frage, wieso statt der Sklaven nun Elefanten den Wagen ziehen.23 Der Austausch der Sklaven durch Elefanten könnte etwa dem größeren Schau- und Spektakel-Effekt zuzuschreiben sein. Denn spätestens seit den Geschichten um Hannibals Marsch über die Alpen hat sich der Elefant als Staunen erregendes Motiv des Spektakulären und Wunderbaren in das Bewusstsein Europas eingeschrieben. Durch die spektakulären Elefantengeschenke, die sich in den Jahrhunderten nach den Geschichten um Hannibals Marsch Fürsten gegenseitig machten, wurde diese Traditionslinie immer weiter befördert. Berühmt sind die Elefantengeschenke etwa aus dem Jahr 802 an Karl den Großen oder 1228 an Friedrich II. oder 1514 an Papst Leo X. (von König Manuel von Portugal). Ebenfalls viel berichtet wurde über die ebenso spektakulären Triumphzüge
20 ARGENIS und POLIARCHUS, S. 1. 21 D iesen Hinweis verdanke ich der Künstlerin Lindy Annis, die sich im Rahmen der Aufführung Projekt 1719: Elefanten in Erlangen im Markgrafentheater in künstlerisch-performativer Hinsicht mit dem Homann-Stich auseinandergesetzt hat; vgl. die Dokumentation dieses Projekts im vorliegenden Band. 22 ARGENIS und POLIARCHUS, S. 1. 23 W ollte man dieser Frage nachgehen, so ließen sich einige interessante, vielleicht auch zu weit übers Ziel hinausschießende Spekulationen anschließen, so etwa die Frage danach, ob sich im Austausch der Sklaven durch Elefanten bereits ein aufklärerisches Moment im Denken und Handeln des Markgrafen abzeichnet. Dagegen spricht allerdings, dass zwei Jahre später (1721) bei dem einen der beiden aufwendigen und im Stich dokumentierten Karnevalsumzügen durch Erlangen ohne Weiteres auch eine Gruppe Sklaven zu identifizieren ist.
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Abb. 8: Caspar Horn: Elephas, Das ist: Historischer vnnd Philosophischer Discurs, von dem grossen Wunderthier dem Elephanten, Dessen wunderbarer Natur vnnd Eygenschaf f ten; dergleichen vnlangsten einer in Teutsch-Land vmbgeführet, vnd von vielen Tausend Menschen gesehen worden. Nürnberg [1629] mit Elefanten, wie etwa der Einzug Kaiser Maximilians II. 1552 in Wien, die für staunende Augen der Menge sorgten.24 Auch auf den für Spektakuläres und Wunderbares zuständigen Jahrmärkten hatte der Elefant seine Auftritte. Die erste nachgewiesene, von einem Privatmann organisierte Tournee eines echten Elefanten nahm im Jahr 1629 in Amsterdam ihren Ausgang und brachte das »grosse Wunderthier«, wie der Elefant angekündigt wurde, auch nach Nürnberg und somit in den Einzugsbereich Erlangens, wovon ein zeitgenössischer Holzstich zeugt25 (Abb. 8). Parallel zum Einsatz realer Elefanten entwickelte sich auch die Lust am Schaueffekt künstlicher Elefanten. In seiner Studie Die Schaulust am Elefanten. Eine Elephantographia curiosa (1982) schreibt Stephan Oettermann: »Wo reale Elefanten fehlten, behalf man sich mit Nachbildungen.«26 So ist etwa 1550 bei einem Auftritt eines Elefanten in Rouen von einem »automat« die Rede.27 »Auch der Elefant, der bei [dem seit 1582] alljährlich veranstalteten Umzug in Antwerpen mitmarschierte, lief« – so Oettermann – »nur auf Rollen.«28 Und 1678 wirkten in Wien bei 24 Siehe dazu ausführlich Stephan Oettermann: Die Schaulust am Elefanten: Eine Elephantographia curiosa, Frankfurt am Main 1982. 25 Ebd., S. 121. 26 Ebd., S. 36. 27 Ebd. 28 Ebd.
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der Oper La Monarchia Latina Trionfante von Antonio Draghi und Johann Heinrich Schmelzer fünf Elefanten »aus Pappe oder auf Kulissen gemalt« mit.29 Immer näher kommen wir dem für die Erlanger Aufführung von 1719 relevanten Zeitraum. Aus Berlin wird aus den Jahren 1692 und 1704 gemeldet, dass »ein künstlicher Elephant [in einer Schaubude] am Neuen Markt gesehen worden« ist.30 Und nur wenige Jahre vor der Erlanger Aufführung erblickte eine Abhandlung das Licht der Öffentlichkeit, die sich zum Ziel gesetzt hatte, das gesamte verfügbare Wissen über dieses besondere Tier in einem Buch zu versammeln. 1715 erschien in erster Auf lage die »voluminöse Elephantographia curiosa des D. Georg Christoph Petri ab Hartenfels«,31 der schon 1723 eine zweite erweiterte Auf lage folgte. Petri ab Hartenfels interessierte an den Elefanten etwa die »Beschaffenheit des Leibes«, ihre »göttliche Bestimmung«, ihr »Gebrauch in lebendem und totem Zustand als Haustier«, aber auch als »Kriegswaffe«. Und dies »in einer Zeit, die« – wie Oettermann betont – »den kolossalen Dickhäuter fast nur vom Hörensagen kannte«.32 Besonders aufmerken lässt der Zusatz »curiosa«, den auch Oettermann seiner Studie mitgegeben hatte. Die »curiositas«, die Oettermann – wie er selbst schreibt – »frei, aber durchaus noch im Rahmen der barocken Konnotationen, mit Schaulust übersetz[t]«33 hat, spielt auf den Affekt des Staunens an, der als die übliche, erwünschte und adäquate Reaktion auf die in den Renaissance- und Barock-Bühnenspektakeln eingesetzten Bühnenmaschinen gelten kann. Dabei handelt es sich um die Flug- und Himmelsmaschinen, die etwa von Natascha Adamowsky,34 Bettine Menke35 und Viktoria Tkaczyk36 eindrücklich in den Blick genommen wurden, aber eben auch um Bühnenmaschinen wie die auf dem Homann-Stich zu erkennenden Elefanten-Automaten. Ihren Rang als »Wundertiere« bewiesen die Elefanten auch in ihrer Rolle als Motiv in Kunst und Kunsthandwerk, insbesondere in der Skulptur und im Kunsthandwerk mit einer großen Blüte just im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert. Dies zeigen unter anderem ein von Simon Wickert um 1700 in Augsburg geschaf-
29 Ebd. 30 Ebd., S. 132, 134. 31 Ebd., S. 8. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 9. 34 Natascha Adamowsky: Das Wunder in der Moderne. Eine andere Kulturgeschichte des Fliegens, Paderborn 2010. 35 B ettine Menke: »›Katastrophen‹ der Spektakel – aus den Theater-Maschinen« [2015], URL: https://www.uni-erfurt.de/fileadmin/public-docs/Literaturwissenschaf t/avl/Menke/Bettine_ Menke_Katastrophen_Nov_2016.pdf [zuletzt abgerufen am 19. August 2019]. 36 Viktoria Tkaczyk: Himmels-Falten. Zur Theatralität des Fliegens in der Frühen Neuzeit, München 2011.
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fenes Trinkgefäß oder der vom Dresdner Hofgoldschmied Augusts des Starken, Johann Melchior Dinglinger (1664–1731), im Jahr 1710 geschaffene Brief beschwerer, beide heute in der Sammlung des Schloss Friedenstein in Gotha.37 Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts, also mehr als ein Jahrzehnt nach unseren Erlanger Elefanten von 1719, war der Elefant dann auf den Opernbühnen Europas nicht mehr wegzudenken, insbesondere initiiert durch Pietro Metastasios (1698–1782) Erfolgslibretto Alessandro nell’Indie, das vom Indienfeldzug Alexanders des Großen handelt und in dem laut Bühnenanweisungen mehrere Elefanten vorzusehen waren. Dieses Libretto ist unzählige Male vertont und überall in Europa aufgeführt worden. Zum ersten Mal wurde Alessandro nell’Indie mit Musik von Leonardo Vinci (1690–1730) 1730 in Rom gegeben. Weitere Fassungen sind bekannt etwa als Cleofide 1731, vertont von Johann Adolf Hasse (1699–1783) für Dresden, oder als Poro im selben Jahr 1731 von Georg Friedrich Händel (1685–1759) für London. Als die Preußische Prinzessin Wilhelmine (1709–1758), seit 1731 mit Friedrich III. von Brandenburg-Bayreuth verheiratet, 1735 mit ihrem Gatten und nunmehr Markgraf von Bayreuth ins Fränkische kam, war eine der ersten Opern, die sie in Erlangen hat in Szene setzen lassen, eben dieser Alessandro nell’Indie von Metastasio (von wem die Vertonung stammte, ist bislang unbekannt). Zur Erlanger Aufführung 1741 wurde ein Libretto gedruckt, in dem bei den Szenen-Anweisungen Elefanten explizit genannt werden.38 Es scheint kein Zufall zu sein, dass Wilhelmine bei der Suche nach Stoffen für das Erlanger Theater just auf diese Oper kam, in der (unter anderem) Elefanten gefragt waren. Denn damit konnte das Erlanger Theater ja aufwarten, wie wir vom Homann-Stich und insbesondere aus dem Inventar wissen. Fast scheint es, als habe sich Wilhelmine von diesem ganz besonderen, ganz besonders spektakulären Besitz des Erlanger Theaters auch für ihren Auftakt als Intendantin der Erlanger und Bayreuther Opern animieren lassen.
37 Abbildungen in: Schloss Friedenstein Gotha (Hg.): Elefantastisch. Gotha ganz groß. Katalog zur Ausstellung, Gotha 2011, S. 53, 84. Die Originale befinden sich wohl auch im Museum Schloss Friedenstein Gotha. 38 L’ALESSANDRO NELL’INDIE, DRAMA PER MUSICA, RAPPRESENTATA IN ERLANGH, NEL GIORNO NATALIZIO DI SUA ALTEZZA SERENISSIMA FEDERICO […] PER ORDINE DI SUA ALTEZZA REALE FEDERICA SOFIA GUGLIELMINA, […] L’ANNO 1741. BAYREUDE. – Der ALEXANDER in Indien / Ein musicalisches Schau=Spiel, Welches Bey Dem höchst=erfreulichen Geburts=Tag Des Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, Herrn Friedrichs / Marggrafens zu Brandenburg […] Auf gnädigsten Befehl Sr. Königlichen Hoheit / Frauen […] Friederica Sophia Wilhelmina […] zu Christian=Erlang aufgeführet worden. Im Jahr 1741. Bayreuth / Gedruckt bey seel. Johann Schirmers […] Wittwe, URL: http://digital.bib-bvb.de/webclient/DeliveryManager?custom_att_ 2=simple_viewer&pid=2737021 [zuletzt abgerufen am 19. August 2019].
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Eine wegen ihrer Inszenierung und Ausstattung europaweit viel beachtete39 Aufführung des Stoffes Alessandro nell’Indie gab es im Jahr 1755 am Hof in Lissabon zur Eröffnung des neuen Opernhauses Opera do Tejo. Das Libretto von Metastasio war für diesen Anlass von Giuseppe Bonechy (1715–1795) bearbeitet und in Szene gesetzt und von Davide Perez (1711–1778) vertont worden. Wieviel Wert und Bedeutung der Produktion beigemessen wurde, zeigt sich auch daran, dass von einigen Bühnendekorationen bzw. Szenen Stiche angefertigt wurden, darunter auch die Szene mit den Elefanten.40 Diese Prominenz im Blick, wird die Rolle und Bedeutung der beiden Elefanten, die wir im Erlanger Theater eben schon 1719 annehmen wollen, nur umso deutlicher. 1719 kann von einer Eroberung der Bühne durch die Elefanten noch keine Rede sein. Ganz im Gegenteil: die Erlanger Elefanten können mit Fug und Recht als Vorreiter gelten – im wörtlichen Sinne als Avantgarde. Das Erlanger Theater als Avantgarde der europäischen Theatergeschichte! Aber noch einmal zurück zum Fragezeichen hinter meinem Titel: Elefanten in Erlangen? Waren sie bei der Eröffnung des neuen »grossen Theatro« am 10. Januar 1719 dabei? Gibt uns der Homann-Stich einen Eindruck der Eröffnung des Hauses? Manches spricht dafür, manches dagegen.41 Die Versuchung ist dennoch 39 Siehe Artikel »Perez (David)«, in: Ernst Ludwig Gerber, Neues historisch-biographisches Lexikon der Tonkünstler, Dritter Theil, Leipzig 1813, S. 674. 40 Alessandro nell’ Indie, Dramma per musica: da rappresentarsi nel gran teatro nuovamente eretto alla real corte di Lisbona nella primavera dell’anno MDCCLV. per festeggiare il felicissimo giorno natalizio di Sua Maestà fedelissima D. Maria Anna Vittoria, Regina di Portogallo […] LISBONA, Nella Regia Stamperìa SYLVIANA […] 1755, URL: https://ia800301.us.archive.org/22/items/ alessandronellin00meta/alessandronellin00meta.pdf [zuletzt abgerufen am 19. August 2019]. 41 D ie Kunsthistorikerin A. Gutmann schreibt, dass »die von Homann für die [Erlanger] Bühne erdachte Szene keiner bestimmten Aufführung zuzuordnen« sei: »Das Bühnenbild zeigt eine Straße oder Gasse in der Stadt. In der Mitte der Bühnen sind zwei Elefanten zu sehen, sie ziehen eine Art Streitwagen, auf dem römische Helden fahren. Rechts davor am Bühnenrand steht ein Schäfer, links hinter ihm ist ein Indianer mit einem Schild in der Hand zu sehen. Auf der linken Seite ist ein Sultan mit Turban identifizierbar, die restlichen ebenfalls exotischen Figuren sind schwer zu deuten. […] Die exotischen Figuren, die von römischen Helden beherrscht und vorgeführt werden, gehörten zum Topos der ›vier Erdeteile‹, die nach damals geläufiger Ansicht vom Heiligen Römischen Reich beherrscht und vorgeführt wurden. Im Karneval waren Erdteildarstellungen besonders beliebt, durch die Fülle der möglichen Kostümierungen.« (A. Gutmann: Hofkultur in Bayreuth, S. 242f.). Auch Eckhard Roch verfolgt in seinem in diesem Band abgedruckten Beitrag eine andere Hypothese. Seiner Lesart nach handelt es sich bei der Homann'schen Abbildung um einen »Trionfo (Triumphzug), übertragen von der Straße auf die Bühne, und zwar aus der Seitenansicht in die Vorderansicht. […] Wie wäre es, wenn es sich bei dieser Darstellung gar nicht um eine bestimmte Oper, sondern um einen auf die Bühne versetzten Karnevalsumzug in Vorderansicht handeln würde? […] Im Rahmen eines Karnevals-Umzugs fänden dann auch das inhomogene Personal auf der Bühne (Turbanträger und Schäfer) und die Sensation der Elefanten ihre stimmige Erklärung.« (S. 143f. im vorliegenden Band)
Elefanten in Erlangen?
groß, in dieser Abbildung auch eine Spur der ersten Nacht des neuen Theaters zu sehen. Wieso eigentlich keine Elefanten in Argenis und Poliarchus?42 Aber vielleicht ist es ja auch ganz anders. Vielleicht hat Homann in seinem Stich ein Best of der auf der Erlanger Bühne gezeigten Aufführungen gleichzeitig im Bild festgehalten, so wie ein Theaterraum immer Spuren von vergangenen Aufführungen in sich trägt – und sei es in der Erinnerung einzelner Theaterzuschauer*innen. Also ein Best of dessen, was die Erlanger Bühne an Möglichkeiten bietet. So mag der bei Homann auftretende Schäfer für die beliebte Tradition der Schäferopern stehen, die auch in Erlangen gezeigt wurden; die Figur mit Turban könnte für einen Herrscher aus dem Orient stehen, eine häufig anzutreffende Figur in Opern dieser Zeit.43 Die Fragen lassen sich nicht eindeutig beantworten. Es gibt keine historische Gewissheit. Das ist aber auch kein Problem. Es ist vielmehr ein Befund, wenn man sich mit Theatergeschichte als Ereignisgeschichte beschäftigt, mit Aufführungen der Vergangenheit. Es bleibt immer eine Lücke. Die Lücke ist sogar das Charakteristikum allen theaterhistoriographischen Arbeitens. Die Spuren zur performativen Realität führen auf eine Lücke; es gibt nur Spuren hin zur Lücke bzw. um die Lücke herum. Die Spuren widersprechen sich. Das ist das Ergebnis der Erkenntnis, dass Quellen immer schon Konstruktionen bzw. Zuschreibungen sind. Die Lücke bleibt.44 42 Die Überschrift über dem Randbild »Carnevals Lustbarkeiten im Opern[-] und Comoedien-Hauß« widerspricht nicht der Möglichkeit, dass es sich um eine konkrete Aufführung gehandelt haben kann, denn solche Opernaufführungen wie die von Argenis und Poliarchus wurden ja just zum und für den Karneval komponiert und aufgeführt, zählen also genau auch zu den »Carnevals Lustbarkeiten im Opern[-] und Comoedien-Hauß«. Und auch die von Eckhard Roch vertretene These eines »Trionfo« (siehe Fußnote 41) würde sich mit der These einer Aufführungsszene nicht ausschließen, denn die Anfangsszene aus Argenis und Poliarchus ließe sich durchaus auch als Trionfo – als (musik)theatrale Repräsentation eines Trionfo – lesen. 43 So nennt etwa Johann Christoph Gottsched für das Jahr 1719 noch einen zweiten Titel, der auf der Erlanger Bühne aufgeführt worden sei: Arsaces, wahrscheinlich bereits 1716 in Bayreuth zum ersten Mal aufgeführt. (Johann Christoph Gottsched: Des nöthigen Vorraths zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst Zweyter Theil, oder Nachlese aller deutschen Trauer-, Lust- und Singspiele, die vom 1450sten bis zum 1760sten Jahre im Drucke erschienen, Leipzig 1765.) Laut Libretto ist Arsaces »Cron=Printz« aus dem nicht näher bestimmbaren Arsatien, aber der Ort Byzanz spielt im Laufe der Handlung eine Rolle, orientalische Kopfbedeckungen wären also durchaus denkbar. 44 Um die Lücke herum aber gibt es nachweisbare Fäden, Diskurse, Spuren, die aufzuzeigen vermögen, was sich in der Annäherung an eine Theateraufführung an Einsichten und Zugängen zur Geschichte einer Stadt, eines Hofes etc. herausfinden lässt und welche Handlungsmacht die einzelnen Zugänge zum Ereignis – wie etwa der Homann-Stich – selbst haben. Die Suche nach den Spuren und den Quellen hat ein Mosaik aus Bruchstücken ergeben, bei dem sich zum Teil größere und längere Linien gezeigt haben, die sich im Ereignis bündeln (wie etwa die Tradition des Hauses Weißenfels-Sachsen). Theoretisch lässt sich dies auch mit dem Ansatz des New Historicism verknüpfen, dem es darum zu tun ist, größere Linien und Diskurse (dabei auch das
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Ob die Elefanten am 10. Januar 1719 tatsächlich im Einsatz waren, wissen wir nicht, wenngleich sie als Requisiten bzw. Maschinen schon 1719 im Bestand des Erlanger Schlosses nachweisbar sind. Durch den weit verbreiteten Homann-Stich sind sie aber mit Sicherheit am stärksten ins Bildgedächtnis der Frühgeschichte des Erlanger Markgrafentheaters eingegangen. Elefanten als Zeichen für die Weltläufigkeit der Erlanger Bühnen – auch wenn sie vielleicht nicht zum Einsatz kamen, so zeigt der Stich doch, was man dem Erlanger Theater zutraute, welche Potenz dem Erlanger Theater zugeschrieben wurde. Der Homann-Stich des Erlanger Schlossgartens widmet sich auf einem zweiten Randbild noch einer weiteren barocken Aufführung: einer Karnevals-Veranstaltung im Redoutensaal (überschrieben als: »Carnevals Lustbarkeiten auf dem Redoutensaal«). Die Existenz dieser beiden Randbilder, auf denen Aufführungen zu sehen sind, zeigt, dass das Theater wie der Karneval ganz selbstverständlich und sogar ganz prominent zum öffentlichen und repräsentativen Leben der Stadt Erlangen dazu gehörte. Und im Theater ist nicht nur das relevant, was auf der Bühne gezeigt wird, oder die Darstellungen, Intentionen, politischen Zielsetzungen des höfischen Auftraggebers, sondern auch das Publikum, sowohl das vom Stand her privilegierte in den Logen als auch das auf den Stehplätzen bzw. den bei Homann zu sehenden schlichten Bänken im Parkett. Zur Selbstdefinition und Selbstdarstellung der Stadt zählt an prominenter Stelle das Theater. Dem Theater und dem Karneval wird eine solche Bedeutung beigemessen, regelgerecht ein solcher Platz eingeräumt, dass beides – Theater wie Karneval – auf dem, was die höfische Anlage abbilden soll – nämlich auf dem Plan des Erlanger Schlossgartens – verewigt wird. Damit hat das Theater – und das, was wir an Zugängen zu ihm haben oder aktiv herstellen müssen und dürfen – zentrale Zugänge zur Selbstdefinition der Erlanger Kultur der Markgrafenzeit zu bieten, und es zeigt umgekehrt zugleich, dass auf der großen Landkarte der Theatergeschichte das Erlanger Theater eine prominente Stelle besetzt, nicht zuletzt aufgrund des spektakulären Auftakts vor 300 Jahren: Elefanten in Erlangen!
Literaturverzeichnis Natascha Adamowsky: Das Wunder in der Moderne. Eine andere Kulturgeschichte des Fliegens, Paderborn 2010. Johannes Bischoff: »Das Hochfürstliche Opern- und Commoedienhaus in Christian-Erlang unter Markgraf Georg Wilhelm von Bayreuth. Regesten zur Erlanger Randständige, das Ereignishafte, das sich auch in Anekdoten zeigt) zu bestimmen, die sich an einem bestimmten Punkt treffen und das in Rede stehende Ereignis bestimmen und von diesem bestimmt werden.
Elefanten in Erlangen?
Theatergeschichte von 1715 bis 1722«, in: Erlanger Bausteine zur fränkischen Heimatforschung, Band 15 (1968), S. 3–12. Thomas Engelhardt (Hg.): Erlangen im Barock. Glanz und Elend der Markgrafenzeit. Bilder, Dokumente, Objekte, Interpretationen, Erlangen 2010. Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.): 300 Jahre Theater Erlangen. Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2019. Ernst Ludwig Gerber: Neues historisch-biographisches Lexikon der Tonkünstler, Dritter Theil, Leipzig 1813. Johann Christoph Gottsched: Des nöthigen Vorraths zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst Zweyter Theil, oder Nachlese aller deutschen Trauer-, Lust- und Singspiele, die vom 1450sten bis zum 1760sten Jahre im Drucke erschienen, Leipzig 1765. Anita Gutmann: Hof kultur in Bayreuth zur Markgrafenzeit 1603–1726, Bayreuth 2008. Irene Hegen: »Die markgräf liche Hof kapelle zu Bayreuth (1661–1769)«, in: Silke Leopold / Bärbel Pelker (Hg.), Süddeutsche Hof kapellen im 18. Jahrhundert. Eine Bestandsaufnahme (= Schriften zur Südwestdeutschen Hofmusik 1), Online-Publikation, Heidelberg 2014/2018, S. 1–54, URL: http://www.oapen.org/ search?identifier=1000415 [zuletzt abgerufen am 28. August 2019]. Bettine Menke: »›Katastrophen‹ der Spektakel – aus den Theater-Maschinen« [2015], URL: https://www.uni-erfurt.de/fileadmin/public-docs/Literaturwis senschaft/avl/Menke/Bettine_Menke_Katastrophen_Nov_2016.pdf [zuletzt abgerufen am 19. August 2019]. Stephan Oettermann: Die Schaulust am Elefanten: Eine Elephantographia curiosa, Frankfurt am Main 1982. Rashid-S. Pegah: »The Court of Brandenburg-Culmbach-Bayreuth«, in: Samantha Owens / Barbara M. Reul / Janice B. Stockigt (Hg.), Music at German Courts, 1715–1760. Changing Artistic Priorities, Woodbridge 2011, S. 389–412. Viktoria Tkaczyk: Himmels-Falten. Zur Theatralität des Fliegens in der Frühen Neuzeit, München 2011.
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Überblicke
Das Theater und sein Publikum Vom Hoftheater zum Theater der Gegenwart Michael von Engelhardt
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Einleitung
Die Geschichte des Theaters ist immer auch eine Geschichte des Theaterpublikums. Ohne Publikum gibt es kein Theater. Theatertexte und Theaterinszenierungen sind auf ein Publikum ausgerichtet, Theateraufführungen vollziehen sich als Zusammenspiel zwischen Publikum und Schauspielern und Schauspielerinnen, das Publikum bringt Gesellschaft in das Theater und Theater in die Gesellschaft. Ein wichtiger Abschnitt der Geschichte des Theaters und seines Publikums beginnt im 18. Jahrhundert und reicht bis in die Gegenwart. In diesem Zeitraum durchläuft das Theaterpublikum einen grundlegenden Transformationsprozess, der bis in die Gegenwart anhält. Mit den wichtigsten Schritten dieses Transformationsprozesses des Publikums im Zusammenhang mit dem Wandel des Theaters befasst sich der folgende Beitrag. Dabei werden übergreifende Entwicklungen und Tendenzen herausgearbeitet. In diese allgemeine Darstellung wird die Darstellung der Entwicklung des Theaters in der Stadt Erlangen als ein konkretes Beispiel eingefügt. Die Ausführungen gliedern sich in zwei historische Abschnitte. Der erste umfasst die Zeit vom 18. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, der zweite reicht vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Der Beitrag endet mit einer kurzen Abschlussbemerkung.
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Das Theater und sein Publikum vom 18. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts
2.1 Exklusives Hoftheater und Wirtshaustheater für alle Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts werden an zahlreichen deutschen Höfen Hoftheater gegründet.1 Im Zuge dieser Gründungswelle bekommt auch das kleine Erlangen als Nebenresidenz der Markgrafen von Brandenburg-Bayreuth 1719 ein solches Hoftheater. Dieses »Hoch fürstliche Opern- und Comoedienhauß« wird gut zwei Jahrzehnte später 1744 unter der den Künsten zugeneigten Markgräfin Wilhelmine (1709–1758) im Innenraum im damals modernen Rokoko-Stil aufwendig um- und neugestaltet.2 Mit der Ausbreitung der Hoftheater und der eigens dafür erbauten Theaterhäuser beginnt eine entscheidende Epoche der Entwicklung des Theaters und des Theaterpublikums. Die noch bis ins 18. Jahrhundert verbreiteten Theaterdarbietungen auf öffentlichen Plätzen im Freien vor einer bunt gemischten Bevölkerung, die jederzeit und nach Belieben an den Aufführungen teilnehmen kann, verlieren zunehmend an Bedeutung. Theater wird verstärkt aus dem städtischen und auch ländlichen Alltagsleben der Werk- und Feiertage der Bevölkerung herausgelöst und in eine gesonderte Veranstaltung in geschlossenen Gebäuden überführt. Damit entsteht eine neue Form von Theaterpublikum als eine gegenüber der allgemeinen Bevölkerung ab- und eingegrenzte besondere soziale Gruppierung. Während die Theaterdarbietungen auf öffentlichen Plätzen im Prinzip allgemein zugänglich sind und durch einen unmittelbaren und spontanen Austausch zwischen Darstellenden und Zuschauenden sowie zwischen den Zuschauenden charakterisiert sind, entsteht nun ein soziokulturelles Reglement, das vorgibt, wer unter welchen Bedingungen Zugang zum Theater erhält und wie das Verhältnis zum Publikum und die Beziehungen innerhalb des Publikums zu gestalten sind. Mit dem Betreten des Gebäudes beim Besuch einer Theatervorstellung wird man Teil des je aktuellen Theaterpublikums mit spezifischen Formen des Sozialverhaltens, der Motivation, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Durch mehr oder minder regelmäßige Theaterbesuche wird man Teil eines Theaterpublikums in einem zeitlich und sozial erweiterten Sinne. Die Architektur des Hoftheaters ist Ausdruck der sozialen Architektur der höfischen Gesellschaft und deren Verortung in der vom Adel dominierten Ständegesellschaft. Das Theatergebäude grenzt sich nach außen hin gegenüber den Stadtbewohnern ab und gewährt nur einem extrem exklusiven Publikum den 1 V gl. Ute Daniel: Hoftheater: Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1995. 2 Vgl. auch die Beiträge von Hans Dickel, Clemens Risi und Eckhard Roch im vorliegenden Band.
Das Theater und sein Publikum
Zugang. Das Theaterpublikum besteht aus den vom Fürsten und der Fürstin geladenen Gästen der Hofgesellschaft und des weiteren Adels sowie ausgewählten bürgerlichen Honoratioren. Zum Kreis des geladenen Publikums zu gehören, ist ein besonderes Privileg, an das zugleich die Verpf lichtung geknüpft ist, der fürstlichen Einladung Folge zu leisten und sich dem höfischen Zeremoniell und der vorgegebenen Rangordnung einzufügen. Der Theaterraum weist zwei ornamental hervorgehobene Zentren auf (vgl. die Abbildungen Nr. 1 und 2 im Beitrag von Hans Dickel im vorliegenden Band). Das eine Zentrum bildet die Bühne, die mit einer Rampe und meist auch einem Orchestergraben vom Zuschauerraum abgegrenzt ist. Damit wird im Unterschied zu den Darbietungen auf den öffentlichen Plätzen nun eine deutliche Trennung des Darstellungsraums vom Publikum errichtet, die allerdings weiterhin noch recht durchlässig bleibt. Frontal gegenüber der Bühne befindet sich als zweites Zentrum die Fürstenloge, von der aus sich für das Herrscherpaar die zentrale Perspektive auf das gesamte Bühnengeschehen eröffnet. Dies wird auch als Ausdruck ihrer zentralen Perspektive auf die Welt verstanden. Die prächtig hervorgehobene Fürstenloge repräsentiert für das geladene Publikum die Gegenwart der Herrschaft, und zwar auch dann, wenn diese leiblich nicht anwesend ist. In den Rängen des Zuschauerraums nimmt das Publikum die seiner jeweiligen Stellung in der gesellschaftlichen Hierarchie entsprechende Position ein, die es auch in Kleidung und Verhalten deutlich zu machen gilt. In dem in der Regel kreisförmig, hufeisenförmig oder auch als Ellipse angelegten Zuschauerraum3 hat der Großteil des Rangpublikums nicht die Bühne, sondern das Publikum in den gegenüberliegenden Rängen frontal vor sich – eine ideale Bedingung der wechselseitigen Darstellung und Wahrnehmung. Die geladenen Publikumsgäste können sich auf der einen Seite dem Geschehen auf der Bühne und auf der anderen Seite der Fürstenloge oder auch den anderen Gästen zuwenden. So gibt die architektonische Raumordnung des Theatersaals die Sozialordnung für die Durchführung der Theaterveranstaltung vor, einer gesellschaftlichen Veranstaltung von dem und für den Hof und seine Gäste, in der Repräsentation, Selbstdarstellung, Geselligkeit, Unterhaltung und Kunstgenuss miteinander verbunden sind. Die überwältigende Bevölkerungsmehrheit der Gesellschaft ist von dem Hoftheater ausgeschlossen. Sie geht ihrer Schau- und Hörlust am Feierabend und vor allem an Feiertagen in Wirtshäusern nach, in denen die Wandertheater auftreten. Das Theater ist hier eingebunden in die weitgehend ungezwungenen Formen volkstümlicher Vergnügungen und Geselligkeit mit Speisen und Getränken. Auch in Erlangen werden für die allgemeine Stadtbevölkerung Theatervorstel3 D er Zuschauerraum im Erlanger Hoftheater hat zunächst eine rechteckige Form und wird mit der Neugestaltung durch Giovanni Paoli Gaspari 1744 in eine Hufeisen-Form überführt (vgl. Abb. 1 der Einleitung des vorliegenden Bandes).
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lungen in verschiedenen Wirtshäusern angeboten.4 So findet die Sozialordnung der Ständegesellschaft einen Ausdruck in zwei voneinander getrennten unterschiedlichen Theaterkulturen mit einem je unterschiedlichen sozialen Publikum. Grenzgänger wechseln gelegentlich von dem einen in das andere Publikum, was aber nur in der einen Richtung vom Publikum des Hoftheaters in das des Wirtshaustheaters möglich ist, keineswegs umgekehrt.
2.2 Das Hoftheater öffnet sich für ein zahlendes Publikum Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wird an den Hoftheatern eine grundlegende Neuerung eingeführt, die deren extreme Exklusivität beendet und einen weitreichenden Wandel des Theaters und seines Publikums einleitet.5 Der kostspielige Unterhalt der Theater belastet in zunehmendem Maße die ohnehin klamme Finanzsituation der Höfe. Um dem zu begegnen, wird von Hof beamten der Vorschlag gemacht, die Theater mit dem Verkauf von Eintrittsbillets für ein breites Publikum zu öffnen. Zum Teil wird dieser Vorschlag mit der Hoffnung verbunden, durch die damit erwirtschafteten Einkünfte die Hoffinanzen sanieren zu können, was sich allerdings als trügerisch erweisen wird. Die Fürsten wehren sich zunächst gegen diesen Vorschlag ihrer Hof beamten. Sie wollen ungern auf das Privileg verzichten, einladende Gastgeber im eigenen Haus zu sein, und es erscheint ihnen ein unzumutbares Ansinnen, dass die Theaterkunst, die bisher Teil der höfischen Festkultur war, nun als käuf liche Ware angeboten werden soll. Schließlich lassen sie sich von der Notwendigkeit und auch Sinnhaftigkeit dieser Neuerung überzeugen. Denn eine Öffnung des Theaters schafft über die finanzielle Entlastung hinaus auch die Möglichkeit, deren erzieherische Wirkung allen Bevölkerungsschichten zukommen zu lassen. Und nicht zuletzt bietet diese Neuerung ihnen einen angemessenen öffentlichen Raum, um sich in ihren Logen einem weiteren Kreis ihrer Untertanen zu zeigen und ihnen gegenüber ihren Herrschaftsanspruch zu demonstrieren. Für das Publikum bedeutet diese Neuerung einen wichtigen Schritt der Emanzipation. Es wird nun nicht mehr von dem Theater gänzlich ausgeschlossen oder nur als geladener Gast des Herrschers eingelassen, sondern kann sich durch den Kauf eines Billets selbst das Recht zum Theaterbesuch erwerben. Dadurch fühlt es sich auch berechtigt, Ansprüche gegenüber dem Theater und den Darbietungen der Schauspieler und Schauspielerinnen zu erheben. In Erlangen erfolgt, soweit bekannt, ohne größeren fürstlichen Wider4 S teffen M. Zahlaus: Artikel »Theatergeschichte bis 1900«, in: Christoph Friederich / Bertold Frhr. von Haller / Andreas Jakob (Hg.), Erlanger Stadtlexikon, Erlangen 2002, S. 699f.; vgl. auch den Beitrag von Anja Hentschel im vorliegenden Band. 5 V gl. U. Daniel: Hoftheater sowie Roland Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule. Das Theaterpublikum vor der vierten Wand, Berlin 1993.
Das Theater und sein Publikum
stand das Ende des exklusiven Hoftheaters und dessen Öffnung für ein zahlendes Publikum 1764.6 Damit beginnt eine neue Entwicklung für die kleine Theaterstadt, auf die in einem späteren Abschnitt genauer eingegangen wird.
2.3 Das Publikum der ständischen Klassengesellschaft Mit der Öffnung für ein zahlendes Publikum zieht die sich im ausgehenden 18. Jahrhundert und im 19. Jahrhundert entwickelnde ständische Klassengesellschaft in das Theater ein.7 Das zeigt sich besonders prägnant in den großen Theaterstädten mit einer ausdifferenzierten Bevölkerungsstruktur. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts stellt ein Zeitgenosse treffend fest, dass das Theater neben der Kirche der einzige gesellschaftliche Ort ist, an dem die Mitglieder der sonst getrennten Stände und Klassen zusammenkommen.8 In dem für ein breites Publikum zugänglichen Theater treffen nun die zuvor getrennten Kulturen des aristokratischen Hoftheaters und des volkstümlichen Wirtshaushaustheaters zusammen und verbinden sich mit den neueren Tendenzen einer bürgerlichen Theaterkultur.9 Die Mitglieder der ständischen Klassengesellschaft haben ihren je nach sozialer Zugehörigkeit unterschiedlichen Platz in der sozialen Raumordnung, die durch die Architektur des höfischen Rang- und Logentheaters vorgegeben ist und die auch von den neu gegründeten Stadt- und Staatstheatern übernommen wird. Das Theaterpublikum repräsentiert die Gesellschaft, indem die soziale Zugehörigkeit seiner Mitglieder nicht nur durch Kleidung und Verhalten, sondern auch durch die Verortung im Zuschauerraum klar erkennbar und als sozialer Gesamt6 Vgl. Andreas Jakob / Volkmar Greiselmayer: Artikel »Markgrafentheater«, in: Christoph Friederich / Bertold Frhr. von Haller / Andreas Jakob (Hg.), Erlanger Stadtlexikon, Erlangen 2002, S. 479. 7 F ür das 18. und 19. Jahrhundert können keine Angaben zum Umfang der Besuche der Theaterhäuser gemacht werden. Statistiken zum Theaterbesuch liegen erst ab den 1920er Jahren vor. Vgl. dazu Fußnote 42. 8 V gl. Robert Blum / Karl Herloßsohn / Heinrich Marggraff (Hg.): Allgemeines Theater-Lexikon oder Enzyklopädie alles Wissenswerthen für Bühnenkünstler, Dilettanten und Bühnenfreunde, Neue Ausgabe, 3. Band, Altenburg / Leipzig 1846, S. 138. 9 V gl. zu den folgenden Ausführungen R. Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule; Herrmann Korte / Hans-Joachim Jakob (Hg.): »Das Theater glich einem Irrenhaus«: Das Publikum im Theater des 18. und 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2012; Hermann Korte / Hans-Joachim Jakob / Bastian Dewenter (Hg.): Das böse Tier Theaterpublikum: Zuschauerinnen und Zuschauer in Theater- und Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2014 (darin insbesondere die Dokumente zu »Macht des Parterres«, S. 73–114, und »Das undisziplinierte Publikum«, S. 115–141); Arno Paul: Aggressive Tendenzen des Theaterpublikums. Eine strukturell-funktionale Untersuchung über den sog. Theaterskandal anhand der Sozialverhältnisse der Goethezeit, München 1969; Rudolf Weil: Das Berliner Theaterpublikum unter A. W. Ifflands Direktion (1796 bis 1814). Ein Beitrag zur Methodologie der Theaterwissenschaft, Berlin 1932.
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zusammenhang unmittelbar erfahrbar ist. Durch getrennte Kassen, Zu- und Aufgänge sowie Retiraden (Toiletten) wird ein unerwünschtes Zusammentreffen der gesellschaftlichen Gruppen vermieden. In die Belle Etage der Logen zieht der Adel und das wohlhabende Bürgertum ein. Die Logen, die für die Familien meist länger angemietet werden, sind mit bequemen Sitzgelegenheiten ausgestattet und gegeneinander abgegrenzt. Sie verfügen meist über einen Vorhang, der sich zum Zuschauerraum hin zuziehen lässt, wenn man unter sich sein will. Ähnlich wie in herrschaftlichen Wohnhäusern das Dachgeschoss für das Dienstpersonal vorgesehen ist, befindet sich im Theater unterhalb der Decke des Zuschauerraums die Galerie ohne Sitzplätze, auf der sich die Angehörigen des vierten Standes, Kleinbürger und später auch Arbeiter zusammendrängen. Unten im Parterre, das auch über keine Bestuhlung verfügt, finden sich Offiziere, Studenten, Literaten und weitere Angehörige bildungsbürgerlicher Schichten ein. Oft ist von dem einfachen Parterre das parterre noble abgetrennt und mit einer Bestuhlung für wohlhabende Theaterinteressierte und Theaterkritiker ausgestattet. In dieser sozialen Raumordnung ist die Fürstenloge weiterhin architektonisch herausgehoben, die mit ihrer prächtigen Ausstattung die Allgegenwart des Herrschers auch bei dessen leiblicher Abwesenheit allen Anwesenden deutlich macht. Besucht das Fürstenpaar das Theater, so hat sich das Publikum zu dessen ehrerbietiger Begrüßung zu erheben. Wenn die Herrschaft nach Beginn der Vorstellung eintrifft, was nicht selten vorkommt, ist die Aufführung für die Begrüßung zu unterbrechen. Die ehemalige Macht der Fürsten muss nun allerdings auch Einbußen hinnehmen. Als zum Beispiel das Publikum im Münchner Hoftheater 1778 aufgefordert wird, in Gegenwart des Fürsten nicht zu pfeifen, wird dem entgegen gehalten, dass einem als Theaterbesucher, der sich eine Eintrittskarte erworben hat, keiner etwas zu befehlen habe.10 Das Theater ist ein öffentlicher Ort des gesellschaftlichen Lebens für Repräsentation und Geselligkeit, für Unterhaltung und Vergnügungen in Verbindung mit der Theateraufführung, die für die verschiedenen Gruppen eine unterschiedliche Bedeutung hat. Es ist ein öffentlicher Ort des gesellschaftlichen Lebens, an dem Gastronomen und Prostituierte ihre Dienste anbieten, der von Taschendieben gerne aufgesucht und für politische Proklamationen und politischen Protest genutzt wird. Für die Angehörigen des Adels und des gehobenen Bürgertums sind ihre Logen, in der sie keineswegs bei jeder Aufführung anwesend sind, die sie auch nach Vorstellungsbeginn betreten und vor Vorstellungsende wieder verlassen, wichtige Orte des gehobenen Gesellschaftslebens. Man begrüßt sich über den Zuschauerraum hinweg von einer Loge zur anderen, nimmt mit Interesse wahr, wer mit wem und in welcher Garderobe das Theater besucht, wirft sich vielsagende Bli10 Vgl. U. Daniel: Hoftheater, S. 113.
Das Theater und sein Publikum
cke zu, f lirtet, wird zum Besuch in andere Logen eingeladen, was, wenn es sich um eine höher gestellte Persönlichkeit handelt, eine besondere Ehre ist, schmiedet Intrigen, sichert Karrieren ab und stiftet Ehen. In den Logen wird auch gepf legt gespeist und getrunken. Bei alldem ist die Theateraufführung mal bloßer Hintergrund und unterhaltsame Begleitung, mal zieht sie die kunstinteressierte Aufmerksamkeit auf sich. In seinen Beifalls- und Missfallensäußerungen zeigt das Logenpublikum im Unterschied zum übrigen Publikum eine distinguierte Zurückhaltung. Das Publikum auf der Galerie entfaltet dort eine ausgelassene, meist turbulente Geselligkeit. Es ist an Unterhaltung und Vergnügen interessiert und zeigt einen ›volkstümlichen‹, unverbildeten Theatergeschmack. Es wird getrunken und gegessen, gescherzt und gestritten und um gute Sichtplätze gekämpft. Die Vorgänge auf der Bühne werden für alle Umstehenden gut hörbar kommentiert, über Späße wird lauthals gelacht, die Schauspieler und Schauspielerinnen werden beklatscht, angefeuert, beschimpft und ausgepfiffen, ins Parterre wird laut heruntergerufen. Auch im Publikum des Parterres geht es sehr lebhaft zu. Durch den oft ständigen Wechsel der Standorte entsteht bei vollem Haus ein Geschiebe und Gedränge. Die Darstellungen auf der Bühne werden von heftigen Reaktionen und Diskussionen begleitet. Das äußert sich im Pochen mit Spazierstöcken und Absätzen, in Buhs oder begeistertem Applaus. Die Aufführung wird unterbrochen, Schauspieler und Schauspielerinnen werden auf die Bühne gerufen, um sie zu beschimpfen oder zu loben. Am Ende der Vorstellung wird mit dem Theaterdirektor verhandelt, welche Stücke als nächstes zur Aufführung kommen sollen und mit wem sie zu besetzen sind. Im Parterre werden die Konf likte zwischen Gegnern und Verteidigern der jeweiligen Theateraufführung oft tumultartig ausgetragen. Erst nach einer gewissen Beruhigung der Verhältnisse im Parterre zu Beginn des 19. Jahrhunderts können sich auch Damen dort auf halten. Der Geschmack des Publikums im Parterre gilt als der gehobene Geschmack, der sich von dem ›volkstümlichen‹ Geschmack auf der Galerie absetzt. Die Theatermacher sind im Zwiespalt, auf welchen der beiden Geschmäcker sie die Aufführung ausrichten sollen.
2.4 Die Zähmung und Kultivierung des Publikums »Wir haben kein Theater. Wir haben keine Schauspieler. Wir haben keine Zuhörer.«11 Diese oft zitierte Klage Lessings aus dem Jahr 1760 kennzeichnet den Ausgangspunkt einer bürgerlichen Bewegung zur Reform des Theaters und seines Publikums, die gleichermaßen abzielt auf eine Überwindung des höfischen Thea11 Gotthold Ephraim Lessing: »Briefe, die neueste Literatur betreffend« [1760], in: Ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden, Band 4, Frankfurt am Main 1997, hier S. 700.
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ters des Adels wie auch des volkstümlichen Wirtshaustheaters. Diese Reformbemühungen lösen einen Transformationsprozess des Publikums aus, der als ein Teil des von Norbert Elias beschriebenen allgemeinen Prozesses der Zivilisation zu verstehen ist.12 Ausgehend vom 18. Jahrhundert vollzieht sich diese Transformation während des 19. Jahrhunderts bis an die Schwelle zum 20. Jahrhundert und führt über eine umfassende Umgestaltung der zuvor beschriebenen Theaterverhältnisse zu einer zunehmenden »Zähmung« und Kultivierung des Publikums.13 Im Kern geht es dabei darum, die Theateraufführung zum wesentlichen Hauptzweck des Theaters und zum Zentrum einer konzentrierten kontemplativen Aufmerksamkeit des Publikums zu machen. Das soll erreicht werden, indem soziale Aktivitäten aus dem Zuschauerraum hinaus und emotionale Reaktionen des Publikums in deren psychische Innenwelt hinein verlagert werden und indem zugleich eine strikte Trennung zwischen der Sozialwelt des Zuschauerraums und der Sozialwelt des Bühnenraums errichtet wird. Dieser grundlegende Wandel des Publikums wird herbeigeführt durch weitreichende Veränderungen in der räumlichen und sozialen Gestaltung des Zuschauerraums und der Einführung zahlreicher neuer Verhaltensregeln, für deren Einhaltung das Theaterpersonal und in großen Häusern die Theaterpolizei sorgt.14 Damit werden bisherige »Nebenfunktionen« des Theaters (wie es die auf die Reform ausgerichteten Theaterleute ausdrücken) zurückgedrängt und eine Konzentration auf dessen Hauptzweck – die Aufführung – angestrebt. Gegen zum Teil heftigen Widerstand werden Gastronomen und Prostituierte zunächst aus dem Zuschauerraum und schließlich aus dem ganzen Theater verbannt. Essen und Trinken im Zuschauerraum werden verboten. Der gesamte Zuschauerraum wird bis auf einige wenige Stehplätze mit Sitzen ausgestattet, sodass der Vorführung in ruhiger Haltung im Sitzen gefolgt werden kann oder auch muss. Es werden nur noch so viele Karten verkauft, wie auch Plätze zur Verfügung stehen und 12 Vgl. Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation: Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bände [1939], Frankfurt am Main 1969. 13 V gl. R. Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule; Steffen Höhne: »Das Theaterpublikum: Veränderungen von der Aufklärung bis in die Gegenwart«, in: Sigrid Beckmeier et al. (Hg.), Zukunft Publikum, Jahrbuch für Kulturmanagement, Bielefeld 2012, S. 24–52; Johannes F. Lehmann: Der Blick durch die Wand: Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing, Freiburg im Breisgau 2000. 14 V gl. zu den folgenden Ausführungen R. Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule (insbesondere S. 131–179); H. Korte / H.-J. Jakob / B. Dewenter (Hg.): Das böse Tier Theaterpublikum (darin insbesondere die Dokumente zu »Strategien der Disziplinierung«, S.143–202, und zu »Beifall und Applaus in der zukünftigen ›Periode des guten Geschmacks‹«, S. 203–218); Jan Lazardzig: »Ruhe oder Stille: Anmerkung zu einer Polizey für das Geräusch (1810)«, in: Meike Wagner (Hg.), Agenten der Öffentlichkeit: Theater und Medien im frühen 19. Jahrhundert, Bielefeld 2014, S. 97–116.
Das Theater und sein Publikum
mit einer Platznummerierung versehen, womit eine geordnete Verteilung ohne Gedränge und Streitereien um gute Plätze gesichert ist. Das Betreten der Bühne ist dem Publikum strikt untersagt und die früher durchaus übliche Platzierung herausgehobener Persönlichkeiten auf der Bühne während der Vorstellung wird abgeschafft. Ebenso ist es den Schauspielern und Schauspielerinnen nun nicht mehr gestattet, sich während der Vorstellung, wenn sie gerade keinen Auftritt haben, auf Einladung in die Logen oder auch zum Publikum ins Parterre zu begeben. Ein nun allgemein eingeführter Vorhang ist vor Vorstellungsbeginn geschlossen, sodass die Bühne deutlich vom Zuschauerraum abgegrenzt und den Einblicken des Publikums entzogen ist. Ein Gong oder andere akustische Signale kündigen den Beginn der Vorführung an und fordern zur Einnahme der Plätze im Zuschauerraum auf. Die Türen werden geschlossen und ein Betreten des Zuschauerraums ist nach Vorstellungsbeginn nicht mehr gestattet, ein Verlassen während der Vorstellung gilt als Demonstration des Missfallens und der Kritik. Vor Aufführungsbeginn wird der Zuschauerraum verdunkelt. Dies bedeutet eine weitere einschneidende Neuerung, gegen die sich zunächst auch Widerstand erhebt. War doch bisher der Zuschauerraum auch während der Vorstellung ebenso wie der Bühnenraum erleuchtet, sodass das Publikum sich untereinander mindestens ebenso deutlich wahrnehmen konnte wie die Darstellungen auf der Bühne. Die Verdunkelung des Zuschauerraums ist eine sinnlich wahrnehmbare deutliche Zäsur, die zum Einstellen der Gespräche auffordert und die Aufmerksamkeit von den sozialen Vorgängen im Zuschauerraum auf die theatrale Darstellung lenkt, die, wenn sich der Vorhang als eine weitere entscheidende Zäsur hebt, im hellen Licht der Bühne erscheint. Damit ist der letzte Schritt vollzogen, mit dem das Publikum seit Betreten des Theatergebäudes von Theaterbesuchern und Theaterbesucherinnen, die mit einem breiten Spektrum sozialer Interessen und Aktivitäten befasst sind, zu Theaterzuschauern und Theaterzuschauerinnen werden, deren Interesse und Wahrnehmung nur noch auf die theatrale Darstellung gerichtet ist. Die durch die bisher aufgeführten Maßnahmen bewirkte Beruhigung im Zuschauerraum vor der Vorstellung erfährt während der Vorstellung eine weitere Verstärkung. Die Bühne ist das Zentrum der expressiven Handlungsdramatik, auf den ein beruhigter Zuschauerraum ausgerichtet sein soll. Das Publikum lernt unter dem Einf luss entsprechender Verhaltensregeln, die ehemals heftigen und ausdrucksstarken Reaktionen in eine ruhige, natürlich weiterhin von Emotionen begleitete kontemplative Aufmerksamkeit zu überführen und sich dabei gegenseitig nicht zu stören. Und es lernt im geforderten Respekt vor der Darstellung auf der Bühne, diese nicht durch laute Beifalls- und Missfallensäußerungen und sonstige Interventionen zu stören oder zu unterbrechen und damit zugleich den eigenen Kunstgenuss zu erhöhen. Die Reaktionen auf das Bühnengeschehen sollen in der Regel einen moderaten und zurückhaltenden Charakter annehmen, wo-
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von sich dann gelegentliche Buh-Rufe, lautes Gelächter und deutlich hörbare Zustimmung als besondere Artikulationen merklich abheben. Eine sich allmählich durchsetzende Applaus-Ordnung schreibt vor, dass der Beifall an das Ende der Vorstellung zu verlegen ist, wenn die Schauspieler und Schauspielerinnen vor das Publikum treten und sich vor ihm verneigen, um den Dank und die Einschätzung ihrer Leistung in geordneter Form entgegen zu nehmen. Jetzt kann das Publikum seine Zustimmung und Ablehnung in der Stärke des Applauses und auch durch Buh-Rufe zum Ausdruck bringen. Zwischenapplaus während der Aufführung soll unterbleiben, eine Ausnahme bildet die Oper mit dem dort üblichen Applaus nach den großen Arien. Die mit den Neuerungen eingeführte strikte Trennung zwischen Zuschauerraum und Bühnenraum erhält durch die Anwendung des von Denis Diderot (1713– 1784) erfundenen Konzepts der ›Vierten Wand‹ eine deutliche Verschärfung.15 Nach diesem dramaturgischen Konzept haben die Schauspieler und Schauspielerinnen ihre Darstellung so zu gestalten, als würden sie (in Ergänzung zu den drei realen Wänden des Bühnenraums) vor einer vierten Wand, die sie vom Zuschauerraum trennt, ohne Anwesenheit eines Publikums spielen. Damit soll beim Publikum die Illusion erzeugt werden, in eine sich unbeobachtet wähnende Wirklichkeit zu blicken. Dieses Konzept der ›Vierten Wand‹ wird in den Inszenierungen des 19. Jahrhunderts teilweise, aber keineswegs durchgehend aufgegriffen und wird vor allem in der Theateravantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch alternative Formen des Verhältnisses von Publikum und theatraler Darstellung ersetzt.16 Die vielfältigen gesellschaftlichen Aktivitäten, die bisher die Aufführung im Zuschauerraum begleitet haben, werden nicht abgeschafft, sondern ausgelagert, und zwar zeitlich vor und nach Beginn der Aufführung sowie vor allem auch in die Pausen, die dadurch an sozialer Bedeutung gewinnen, und räumlich in die nun ausgebauten oder auch erst eingeführten Foyers, Eingangshallen und Theatercafés. Zu diesen Zeiten und an diesen Orten entfaltet sich in gewandelter Form der für das Publikum weiterhin bedeutsame gesellschaftliche Charakter des Theaters mit seinen verschiedenen sozialen Funktionen der Geselligkeit, Unterhaltung, Beziehungsstiftung und Repräsentation. Dieser Wandel der Theaterkultur führt auch zu einer veränderten sozialen Zusammensetzung des Publikums, da ein Teil des Publikums die Theaterhäuser verlässt und sich an andere Orte der Unterhaltung, der Geselligkeit und des Vergnügens begibt. Das betrifft vor allem das Galeriepublikum, in abgeschwächter Weise aber auch das Logenpublikum.
15 Vgl. J. F. Lehmann: Der Blick durch die Wand. 16 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Die Entdeckung des Zuschauers: Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts, Tübingen / Basel 1997.
Das Theater und sein Publikum
Die räumlichen Umgestaltungen und sozialen Regelungen erzeugen eine neuartige Theaterpraxis des Publikums als einen weiteren Schritt seiner Transformation. Im weiteren Verlauf wird diese Praxis als ein für selbstverständlich gehaltenes kulturelles Muster so internalisiert, dass es schließlich zum eigenständigen Erwartungs- und Verhaltensregulativ wird, das ohne äußere Unterstützung oder auch Zwang wirksam ist. Damit hat sich ein kulturelles Muster der Theaterpraxis herausgebildet, das für die weitere Geschichte des Publikums von grundlegender Bedeutung sein wird. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verlieren die ständischen Regelungen des Zugangs zum Theaterpublikum und dessen Verteilung in der architektonischen Hierarchie des Zuschauerraums zunehmend an Bedeutung. Das allgemeine Recht des Zugangs zum Theater und der freien Platzwahl im Theater setzt sich immer stärker durch. Im Prinzip kann jeder und jede das Theater besuchen und sich mit dem Kartenkauf seinen Platz auswählen. Das lässt sich als ein allmähliches Überwinden der noch lange nachwirkenden Ständegesellschaft und als eine Durchsetzung allgemeiner Gleichheitsrechte sowie als ein wichtiger Schritt zu einer Demokratisierung der Theaterkultur verstehen. Mit der Abschwächung der ständischen Regulierung tritt allerdings immer deutlicher das ökonomische Regulierungsprinzip der sich durchsetzenden Marktgesellschaft hervor, das auch für die subventionierten öffentlichen Theater gilt. Der Zugang zum Theater und die Verteilung auf die Hierarchie der Zuschauerplätze erfolgt über die Eintrittspreise und deren ausgeprägte Staffelung. Vor dem Hintergrund des allgemeinen formalen Rechts des Theaterzugangs und der freien Platzwahl zeigt sich jetzt um so deutlicher, wie stark der tatsächliche Theaterbesuch und die tatsächliche Platzwahl von der ausgeprägten Ungleichheit der Einkommensverhältnisse in der sich ausbreitenden Klassengesellschaft abhängig sind. Dieser Selektions- und Zuweisungsmechanismus wird ergänzt und verstärkt durch die extreme Ungleichheit der Arbeits- und Lebensverhältnisse und der Bildung, die die Möglichkeit des Zugangs zu der sich im 19. Jahrhundert neu formierenden Kultureinrichtung Theater ganz wesentlich beeinf lussen.
2.5 »Die Kunst dem Volk« In der bisher dargestellten Geschichte des Theaters und seines Publikums spielen zunächst der Adel und dann das Bürgertum eine gewichtige Rolle. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gewinnt nun auch die mittlerweile erstarkte organisierte Arbeiterschaft zunehmend an Bedeutung. Es entsteht eine Bewegung, die sich (unterstützt von sozial engagierten Bürgern) mit der Parole »Die Kunst dem Volk« für den Abbau der offensichtlichen sozialen Zugangsbarrieren einsetzt und das Theater verstärkt für die werktätige Bevölkerung und Personen mit niedrigem Einkommen öffnen möchte. Aus dieser Bewegung geht die 1890 in Berlin gegrün-
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dete Besucherorganisation Freie Volksbühne 17 hervor, die, das Marktprinzip außer Kraft setzend, Theaterveranstaltungen mit einem Einheitspreis von 50 Pfennig organisiert und eine demokratische Platzzuweisung per Losverfahren einführt. Friedrich Engels (1820–1895), der eine solche Veranstaltung besucht hat, berichtet 1893 begeistert davon, wie Arbeiter und Arbeiterinnen die privilegierten Plätze der Orchestersessel und der Logen einnehmen, während Angehörige der Bourgeoisie mit der Galerie Vorlieb nehmen müssen. Zugleich hebt er das disziplinierte und kultivierte Verhalten der anwesenden Arbeiterschaft während der Vorstellung hervor.18 Das kann als ein Beleg dafür verstanden werden, dass die »Zähmung« und Kultivierung des Publikumsverhaltens eine relativ weite Verbreitung gefunden hat. Der Berliner Organisation Freie Volksbühne gelingt nach der Jahrhundertwende ein wegweisender Schritt in der Entwicklung des Theaters und seines Publikums. Sie gründet ein eigenes Theater mit einem 1914 errichteten eigenen Theatergebäude, das die tradierte Architektur des Hoftheaters durch eine zeitgemäße demokratische Gestaltung des Zuschauerraums ohne Logen ersetzt. Damit ist der Abschied von dem exklusiven Hoftheater und dem ihm nachgefolgten Theater der ständischen Klassengesellschaft konsequent eingeleitet. Die in Berlin entstandene Volksbühnenbewegung erfasst bald auch andere Theaterstädte.
2.6 Die Entwicklung in der Theaterstadt Erlangen Nachdem in den vorangegangenen Abschnitten die allgemeinen Entwicklungen von der Zeit der Öffnung des Hoftheaters für ein allgemeines Publikum bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts dargestellt wurden, wird im Folgenden auf die Entwicklung in der Theaterstadt Erlangen innerhalb dieses Zeitraums näher eingegangen.19 Das Erlanger Hoftheater erlebt nach seiner Gründung vor allem unter der Markgräfin Wilhelmine eine durchaus glanzvolle Zeit, die allerdings nicht von Dauer ist. Nach dem Ende des exklusiven Hoftheaters, das 1764 mit der Öffnung des Theaters für ein zahlendes Publikum eingeleitet wird, beginnt die Geschichte 17 Vgl. Gernot Schey: Die Freie Bühne in Berlin: Der Vorläufer der Volksbühnenbewegung: Ein Beitrag zur Bühnengeschichte in Deutschland, Berlin 1967. 18 V gl. einen Brief Friedrich Engels an Paula Lafargue vom 18. September 1893, in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke (MEW), Band 39, Berlin 1968, S. 21. 19 A . Jakob / V. Greiselmayer: Artikel »Markgrafentheater«, S. 479; Otto Hiltl: »250 Jahre Markgrafentheater«, in: Kulturreferat der Stadt Erlangen (Hg.), Markgrafentheater Erlangen 1959–1969, Erlangen 1969, S. 2–8; Susanne Ziegler: »Eine kurze Geschichte des Theater Erlangen« in: Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.): 300 Jahre Theater Erlangen: Vom hochfürstlichen Opernund Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2019, S. 8–15; vgl. auch den Beitrag von Anja Hentschel im vorliegenden Band.
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seines Niedergangs, die erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts aufgehalten werden kann. Erlangen kann als ein anschauliches Beispiel dafür gelten, in welch prekäre Lage ein Hoftheater in einer kleinen Stadt geraten kann, wenn es nicht mehr für den fürstlichen Hof und seine Gäste betrieben wird, sondern einem allgemeinen Publikum geöffnet wird und sich über Eintrittsgelder erhalten soll. Das Erlanger Theater ist im Verhältnis zur Größe der Stadtbevölkerung, für die es ja auch nicht errichtet wurde, völlig überproportioniert. 20 Darüber hinaus bietet die soziale Zusammensetzung der Stadtbevölkerung nicht annähernd ein Reservoir, wie es sich in den großen Theaterstädten herausbildet und aus dem sich dort das beschriebene ausdifferenzierte Publikum der ständischen Klassengesellschaft rekrutiert. So nimmt Erlangen zwar auch teil an dem in den großen Theaterstädten besonders deutlich ausgeprägten Wandel der Theaterkultur und des Theaterpublikums, allerdings nur in abgeschwächter Weise. Nach der Öffnung für ein Eintritt zahlendes Publikum geht auch hier ein Teil jenes Publikums, das zuvor das Wirtshaustheater besucht hat, in das Theater und prägt dessen Kultur. Drei Jahrzehnte nach der Freigabe für ein zahlendes Publikum stellt ein durchreisender Zeitgenosse fest, dass auf der Galerie ein »derber« Theatergeschmack herrscht, der sich vor allem an Obszönitäten und groben Scherzen erfreut und auf den die Theaterdirektoren eingehen müssen, um ein Auskommen zu haben. Aber auch in den Logen und im Parterre geht es nicht besser zu, obwohl man doch, wie der Zeitgenosse meint, von gebildeten Personen etwas anderes erwarten sollte.21 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entzieht sich die feudale Obrigkeit endgültig der Verantwortung für das Theater, das sie der Stadt Erlangen hinterlassen hat. Nachdem Erlangen in das Königreich Bayern übergegangen ist, entledigt sich der Bayerische König, in dessen Zuständigkeit auch das Erlanger Theater gefallen war, des aufwendigen und kostspieligen Unterhalts, indem er das Theater 1818 großzügig der Universität schenkt und ihm den prächtigen Titel »Königliches Universitätsspielhaus« verleiht – einen Titel, den es angesichts seines schlechten Zustands und der ausbleibenden Attraktivität für ein halbwegs ausreichendes Publikum wahrlich nicht verdient.22 Auch unter der Leitung der Universität stellt sich keine Verbesserung ein. Im Gegenteil: Längst notwendige Renovierungen werden nicht 20 Z ur Zeit der Wiedereröffnung des Theaters nach dessen Neugestaltung unter der Markgräfin Wilhelmine 1744 beträgt die Einwohnerzahl etwas über 7.000, zur Zeit der Öffnung für ein zahlendes Publikum 1764 hat sie sich auf ca. 8.000 erhöht. Dieser allmähliche Anstieg der Bevölkerungszahlen setzt sich zunächst weiter fort. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts erfolgt dann ein deutliches Bevölkerungswachstum, sodass die Einwohnerzahl 1900 auf knapp 23.000 angestiegen ist (vgl. Christoph Friederich / Bertold Frhr. von Haller / Andreas Jakob, (Hg.), Erlanger Stadtlexikon, Erlangen 2002, S. 778). 21 Vgl. Andreas Georg Friedrich von Rebmann: Briefe über Erlangen, Frankfurt / Leipzig 1792, S. 88. 22 Der Bayerische König schenkt das Theater zusammen mit dem angrenzenden Redoutenhaus, der Orangerie und dem Schloss 1818 der Universität (vgl. Theodor Kolde: Die Universität Erlan-
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vorgenommen, das Publikum bleibt aus. Schließlich verkauft die Universität 1838 das Theater an die Stadt.23 Damit ist (ähnlich wie in anderen Städten) der Übergang des ursprünglichen Hoftheaters in ein Stadttheater vollzogen. Trotz einiger Verbesserungen, die der Magistrat der Stadt vornehmen lässt, kann die schwierige Situation nicht wesentlich behoben werden. Das Erlanger Theater, das von Anfang an ein reines Gastspieltheater ohne eigenes Ensemble ist (und dies auch noch lange bleiben wird), hat es schwer, sich im Werben um das Publikum gegen die Konkurrenz der Wirtshaustheater durchzusetzen. Die vergleichsweise hohen Pachtgebühren, die die dort gastierenden Theatergesellschaften an die Stadt zu entrichten haben, zwingen dazu, Eintrittspreise zu verlangen, die deutlich höher ausfallen als die Preise der Wirtshaustheater und die sich nur ein kleiner Teil der Erlanger Bevölkerung leisten kann. Das Publikum, das dennoch das Theater besucht, hat sich gewandelt und einen Prozess der Kultivierung durchlaufen. Ein Kenner der allgemeinen Theaterszene bescheinigt ihm um die Mitte des 19. Jahrhunderts einen gehobenen Geschmack und ein gesittetes Betragen, womit es sich (wie er betont) wohltuend absetzt von den vorherrschenden Verhältnissen in den großen Theaterstädten, in denen die »Zähmung« und Kultivierung des Publikums noch aussteht. Diese Kultivierung führt er übrigens auch auf den zivilisierenden Einf luss der Nachfahren der hugenottischen Einwanderer in Erlangen zurück.24 Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts häufen sich die Klagen über die Verwahrlosung des Theaters, die so weit fortgeschritten ist, dass die Logen wie Hühnerställe aussehen.25 Mittlerweile hat die Bevölkerung deutlich zugenommen, damit auch das Besitz- und Bildungsbürgertum, aus dessen Kreisen (ähnlich wie in anderen Städten) ein bürgerschaftliches Engagement zur Förderung der Kultur in der Stadt hervorgeht. So wird 1874 der Gemeinnützige Verein Erlangen gegründet, in den schon bald eine größere Zahl von Mitgliedern eintritt, die den Kern eines interessierten Theaterpublikums bilden. 26 Der Magistrat der Stadt überträgt dem gen unter dem Hause Wittelsbach 1810–1910. Festschrift zur Jahrhundertfeier der Verbindung der Friderico-Alexandrina mit der Krone Bayern, Erlangen / Leipzig 1910, S. 144f.). 23 Vgl. A. Jakob / V. Greiselmayer: Artikel »Markgrafentheater«, S. 479. 24 Vgl. R. Blum / K. Herloßsohn / H. Marggraff (Hg.): Allgemeines Theater-Lexikon, S. 194. 25 I n einem Zeitungsartikel, der die 1892 erfolgte Renovierung des Theaters lobend hervorhebt, wird dessen ehemaliger Zustand in der folgenden Weise knapp charakterisiert: »Was ist jetzt aus dem verliederten Gebäude mit halbfaulen Wänden, klaffenden Türen, lumpichter Decke und Logen, die eher Hühnerställen glichen, was ist aus all dem geworden?« (Fränkische Nachrichten vom 4. November 1892, zitiert nach Ulrike Götz: »Das Erlanger Markgrafentheater – eine Baugeschichte«, in: Von Mauern und Mauerweilern: Festschrift zum Abschluss der Renovierung des barocken Zuschauerraums des Erlanger Markgrafentheaters, Erlangen 1999, S. 35–58, hier S. 50). 26 Vgl. Heinrich Hirschfelder: Erlangen im Kaiserreich: Stadtgeschichte in Geschichten, Bamberg 2007, S. 45–49; Ruprecht Kamlah: »›Das Spiel in Erlangen ist jedes Mal ein Fest‹: Der ›Gemein-
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Verein das Betreiben des Theaters. Damit endet die vorangegangene Geschichte seines Niedergangs. Der neue Betreiber sorgt für eine umfassende Renovierung des Theaters. Dabei erhält die tradierte ständische Raumordnung des Zuschauerraums eine zeitgemäße bürgerliche Umgestaltung, indem die Logen abgeschafft werden und so ein reines Rangtheater entsteht. Es wird ein solides Gastspielprogramm etabliert und es kann eine Ausweitung des Publikums erreicht werden, das nun auch, wie der Vorsitzende des Gemeinnützigen Vereins erfreut feststellt, in angemessener festlicher Garderobe ins Theater kommt.27 Ab 1900 bemühen sich dann auch in Erlangen Vertreter der mittlerweile erstarkten organisierten Arbeiterschaft darum, der werktätigen Bevölkerung unter günstigen Bedingungen Zutritt zum Theater zu ermöglichen. Die von Berlin ausgegangene Volksbühnenbewegung erreicht nach dem Ersten Weltkrieg auch Erlangen und es kommt zur Gründung der Volksbühne Erlangen, die sich erfolgreich für eine soziale Ausweitung des Theaterpublikums einsetzt. 28
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Das Theater und sein Publikum vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart
In seiner langen Geschichte besitzt das Theater ein nahezu uneingeschränktes Monopol als kulturelle Einrichtung, in der das Publikum seiner Schaulust in Verbindung mit je unterschiedlichen Sozial-, Unterhaltungs-, Kultur- und Bildungsinteressen nachgehen kann. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ändert sich das, indem das nun auf kommende Kino zu einem mächtigen Konkurrenten wird.
3.1 Das Kino tritt auf Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts breitet sich das Kino als eine neue, moderne kulturelle Einrichtung der Unterhaltung aus, zuerst – ebenso wie ursprünglich das Wandertheater – in Buden auf Jahrmärkten und dann in Wirtshäusern. Bald werden aber auch für das Kino eigene Gebäude errichtet, die sich zum Teil an der prächtigen Architektur der Theaterhäuser orientieren, wenn nicht sogar die Theaterhäuser selbst übernommen werden.29 In Berlin wird 1907 nützige Theater- und Musikverein – gVe‹ von 1876 bis heute«, in: Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.), 300 Jahre Theater Erlangen: Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2019, S. 41–46; O. Hiltl: 250 Jahre Markgrafentheater. 27 Vgl. H. Hirschfelder: Erlangen im Kaiserreich, S. 47. 28 Vgl. Steffen M. Zahlaus: Artikel »Volksbühne Erlangen«, in: Christoph Friederich / Bertold Frhr. von Haller / Andreas Jakob (Hg.), Erlanger Stadtlexikon, Erlangen 2002, S. 728. 29 Zur frühen Geschichte des Kinos vgl. Thomas Elsaesser / Michael Wedel (Hg.): Kino der Kaiserzeit: Zwischen Tradition und Moderne, München 2001; Wolfgang Jacobsen: »Frühgeschichte des
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das erste »Filmtheater«, wie das Kino bezeichnenderweise zunächst genannt wird, in Deutschland eröffnet. Dem folgt die schnelle Ausbreitung der Kinos in nahezu allen Städten, so auch in Erlangen, dessen Bevölkerung zu seiner großen Freude 1909 das Union-Theater erhält, den Vorläufer der späteren Glocken-Lichtspiele.30 Wenn das Publikum das Kino besucht, begibt es sich in ein geschlossenes Gebäude, zu dem jeder und jede durch den Kauf einer Karte Zutritt hat. Es betritt einen Zuschauerraum, der ebenso wie derjenige moderner Theaterbauten dem Hauptzweck dieser Einrichtung angepasst ist, sodass hier nun alle Plätze direkt auf die Bühne ausgerichtet sind. Es nimmt vor Vorstellungsbeginn seine nummerierten Plätze ein und richtet seine Aufmerksamkeit auf den (noch lange verwendeten) geschlossenen Vorhang hinter einer Rampe, durch die es von der gleich beginnenden Darbietung getrennt ist. Die Türen werden geschlossen, der Zuschauerraum wird abgedunkelt, der Vorhang hebt sich und gibt den Blick frei auf die nun beginnende hell erleuchtete Darstellung. Bis hierher folgen das Kino und sein Publikum dem soziokulturellen Arrangement, das sich in der langen Geschichte des Theaters zusammen mit dem kulturellen Muster der Theaterpraxis seines Publikums allmählich herausgebildet hat. Mit Vorstellungsbeginn wird dann aber der grundlegende Unterschied zum Theater unmittelbar deutlich. Dem leiblich anwesenden Publikum öffnet sich nun nicht ein Bühnenraum mit ebenfalls leiblich anwesenden Darstellern und Darstellerinnen, vielmehr blickt es auf eine Leinwand, auf der die Darsteller und Darstellerinnen und ihre Umgebung abgebildet erscheinen, auf eine medial erzeugte Wirklichkeit, aus der heraus und in die hinein kein unmittelbarer Austausch möglich ist. Noch bis in die 1930er und 1940er Jahre sind während der Filmvorführung laute Gespräche des Publikum, heftige emotionale Äußerungen des Erschreckens und der Begeisterung, Zwischenrufe, Pfiffe und an die Darsteller und Darstellerinnen auf der Leinwand gerichtete Zurufe relativ weit verbreitet.31 Auch das Kinopublikum durchläuft erst noch einen längeren Prozess der »Zähmung« und Kultivierung, ehe es mehrheitlich der Darbietung auf der Leinwand in ruhiger kontemplativer Aufmerksamkeit folgt. Das neue Medium Kino erfreut sich schon bald einer großen Beliebtheit.32 Die vergleichsweise niedrigen Preise und das Fehlen einer kulturell herausgehobenen, deutschen Films«, in: Ders. / Anton Kaes / Hans Helmut Prinzler (Hg.), Geschichte des deutschen Films, Stuttgart u. a. 2004, S. 13–37. 30 Vgl. Gertraud Lehmann: Artikel »Kinos«, in: Christoph Friederich / Bertold Frhr. von Haller / Andreas Jakob, (Hg.), Erlanger Stadtlexikon, Erlangen 2002, S. 415ff. 31 Vgl. z. B. Bernd Kleinhans: Ein Volk, ein Reich, ein Kino: Lichtspiel in der braunen Provinz, Köln 2003, S. 88f.; vgl. auch Rudolph Genenncher: »Die Erziehung des Publikum«, in: Kinema, Band 5, Heft 42 (23. Oktober 1915), S. 5–8. 32 Vgl. Emil Altenloh: Zur Soziologie des Kino: Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher, Leipzig 1914; Thomas Elsaesser: Filmgeschichte und frühes Kino: Archäologie ei-
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abweisenden Aura, durch das es als das herausragende Beispiel des »Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«33 gekennzeichnet ist, machen es zu einer wahrhaft demokratischen Kultureinrichtung für ein breites Publikum aller sozialer Schichten und Altersgruppen. Zwar stößt es zunächst noch auf eine gewisse Zurückhaltung bei konservativen Kreisen des Kulturbürgertums, die sich ja üblicherweise etwas schwer tun in der Aufnahme kultureller Neuerungen.34 So versuchen sie auch in der ersten Zeit, ihre Kinder von einem Besuch abzuhalten, was bei diesen aber oft nur den Reiz eines Besuchs erhöht, zumal es im Kino Dinge zu sehen gibt, die einem bei einem Theaterbesuch mit Eltern, Onkeln und Tanten nicht geboten werden. Doch bald breitet sich eine allgemeine Anerkennung aus, einzelnen Filmen wird der kulturelle Adelstitel Kunst verliehen, die Theater-Avantgarde bezieht das neue Medium in ihre Produktionen mit ein. Das Kino entzieht dem tradierten Theater einen immer größeren Teil des Publikums und erschwert es, das nachwachsende potentielle Publikum für das Theater zu gewinnen. Schon bald hat das Publikum des Kinos dasjenige des Theaters bei weitem überholt.35 Das bedeutet, dass der größere Teil der Personen, die dem Publikum des Theaters zuzurechnen sind, auch dem Publikum des Kinos angehört, während umgekehrt nur ein kleiner Teil dieses Publikums auch das Theater besucht. Der Rückgang der Theaterbesuche führt im Verlauf der 1920er und zu Beginn der 1930er Jahren zu einem großen Sterben der angestammten Theaterhäuser. Auch in Erlangen ist die Existenz des Stadttheaters durch abnehmende Besucherzahlen bedroht. Es kommt allerdings nicht zu einer Schließung, was sicherlich auch darauf zurückzuführen ist, dass hier nicht die Stadt, sondern die Bürgervereinigung des Gemeinnützigen Vereins für das Betreiben des Theaters zuständig ist. nes Medienwandels, München 2002; Anton Kaes: »Film in der Weimarer Republik, in: Wolfgang Jacobsen / Anton Kaes / Hans Helmut Prinzler (Hg.), Geschichte des deutschen Films, Stuttgart u. a. 2004, S. 39–98. 33 Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1936], Frankfurt am Main 1963. 34 Zur zeitgenössischen Auseinandersetzung mit dem Kino, auch mit dessen Verhältnis zum Theater vgl. die von Jörn Schweinitz herausgegebene Textsammlung: Prolog vor dem Film: Nachdenken über ein neues Medium 1909–1914, Leipzig 1992. 35 Daten zum Theaterbesuch liegen erst ab den 1920er Jahren vor, deshalb konnten auch in den vorangegangenen Ausführungen zur historischen Entwicklung keine Aussagen zum Umfang der Theaterbesuche gemacht werden (vgl. Fußnote 43). Ein Vergleich mit dem Kinobesuch ist ab 1927 möglich. Die Besuche des Theaters, die vorher schon zurückgegangen sind, liegen in diesem Jahr bei 12 Millionen, während die Besuche des Kinos schon auf 337 Millionen angestiegen sind. Bis zum Jahr 1936 sind die Theaterbesuche weiter auf knapp 10 Millionen gesunken, gleichzeitig sind die Kinobesuche auf 362 Millionen angewachsen, ein Aufwärtstrend, der in der Folgezeit erst richtig Fahrt aufnimmt (vgl. Thomas Rahlf (Hg.): Deutschland in Zahlen: Zeitreihen zur Historischen Statistik, Bonn 2015, S. 162).
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3.2 Das Publikum der »Volksgemeinschaft« Mit dem Ende der Weimarer Republik und dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft sind einschneidende Veränderungen für das Theater und sein Publikum verbunden. Die Nationalsozialisten weisen der Kultur eine große politische Bedeutung zu und nutzen die Errungenschaften der Moderne, indem sie es zugleich verstehen, die ihnen gefährlich und schädlich erscheinenden Potentiale erfolgreich einzudämmen und auszumerzen. Das gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstärkte Bemühen, ein Theater für alle Bevölkerungskreise zu schaffen, greifen sie auf und überführen es in das Konzept der »Volksgemeinschaft«. Theater und Kino sollen zu kulturellen Einrichtungen für ein Publikum der »Volksgemeinschaft« werden, in denen die sozialen Grenzen der alten Stände- und Klassengesellschaft beseitigt sind. Um dieses Ziel zu erreichen, sind für das Kino, dessen Publikum nach 1933 weiter deutlich anwächst, außer gezielten inhaltlichen Einf lussnahmen keine besonderen Maßnahmen notwendig.36 Anders sieht es bei den Theatern aus.37 Das Theater wird von den Nationalsozialisten kräftig gefördert, Subventionen werden deutlich erhöht, Eintrittspreise werden gesenkt, umfangreiche Freikartenkontingente werden bei Großveranstaltungen vergeben, die Mitglieder der NS-Organisationen werden zum Theaterbesuch animiert oder auch verpf lichtet. Die Bevölkerung wird aufgefordert, sich für die Förderung der deutschen Kultur im Theater einzusetzen, der nationalsozialistischen Besucherorganisation Deutsche Bühne beizutreten und regelmäßig an Theatervorführungen teilzunehmen. Die Parteiprominenz nutzt die Fürstenloge, um sich dem Theaterpublikum als Vertreter der kulturfördernden Staatsmacht präsentieren zu können, Adolf Hitler funktioniert bei seinen Theaterbesuchen die Fürstenloge gekonnt zur »Führerloge« um.38 Das so geförderte Theater soll natürlich auch inhaltlich verändert werden. Nachdem ein kurzer Versuch, ein 36 B is 1939 haben sich die Besucherzahlen schon auf 624 Millionen erhöht und werden in der Folgezeit noch weiter anwachsen (vgl. Th. Rahlf (Hg.): Deutschland in Zahlen, S. 162). Zum Kino im Nationalsozialismus vgl. B. Kleinhans: Ein Volk, ein Reich, ein Kino; Karsten Witte: »Film im Nationalsozialismus«, in: Wolfgang Jacobsen / Anton Kaes / Hans Helmut Prinzler (Hg.), Geschichte des deutschen Films, Stuttgart u. a. 2004, S. 117–166; Joseph Wulf: Theater und Film im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1989. 37 Zum Theater im Nationalsozialismus vgl. Boguslaw Drewniak: Das Theater im NS-Staat: Szenarium deutscher Zeitgeschichte 1933–1945, Düsseldorf 1983; Henning Rischbieter: Theater im »Dritten Reich«: Theaterpolitik, Spielplanstruktur, NS-Dramatik, Seelze 2000; J. Wulf: Theater und Film im Dritten Reich. 38 S o nahm Hitler z. B. regelmäßig in der »Führerloge« an Opernaufführungen im Nürnberger Opernhaus teil (vgl. Tobias Reichard / Anno Mungen / Alexander Schmidt (Hg.): Hitler. Macht. Oper: Propaganda und Musiktheater in Nürnberg. Katalog zur Ausstellung im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände vom 14. Juni 2018 bis 3. Februar 2019, Petersberg 2018).
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neues »völkisches Theater« einzuführen, an der ausbleibenden Resonanz beim Publikum scheitert,39 konzentriert sich die politische Einf lussnahme darauf, das Theater vor allem auf harmlose Unterhaltung und opportun erscheinende Klassiker auszurichten. Durch diese verschiedenen Maßnahmen kann der in der Weimarer Republik eingetretene Rückgang der Theaterbesuche tatsächlich aufgehalten und zum Teil sogar in eine Zunahme überführt werden. Um das Ziel eines Publikums der »Volksgemeinschaft« zu erreichen, werden die geschilderten Maßnahmen der Integration möglichst breiter Bevölkerungskreise ergänzt durch Maßnahmen der Exklusion. Schon 1933 wird gefordert, dass Juden der Besuch von Theatern und Kinos verwehrt werden soll. 1938 wird dann ein entsprechendes Zugangsverbot erlassen, das nach Kriegsbeginn auch auf die ausländischen Zwangsarbeiter ausgeweitet wird. Die historische Errungenschaft des allgemeinen Zugangsrechts zum Theater wird durch diese Maßnahmen auf eine besonders perfide Weise rückgängig gemacht. Der Nationalsozialismus prägt natürlich auch ganz entscheidend das Theaterleben in Erlangen.40 Die Volksbühne wird verboten, der Gemeinnützige Verein geht in die nationalsozialistische Besucherorganisation Deutsche Bühne ein und wird später aufgelöst. Das Theater bekommt eine nationalsozialistische Leitung und die Erlanger Bevölkerung wird schon 1933 aufgerufen, sich für das Theater der deutschen »Volksgemeinschaft« zu engagieren. Im Unterschied zu anderen Theaterstädten gehen aber in Erlangen die Besucherzahlen weiter zurück. 41
39 Das gilt insbesondere auch für das von den Nationalsozialisten propagierte völkische Theater des Thingspiels (vgl. Rainer Stromer: Die inszenierte Volksgemeinschaft: Die Thingbewegung im Dritten Reich, Marburg 1985; H. Rischbieter: Theater im »Dritten Reich«, S. 34–41). 40 Vgl. Andreas Jakob: »›Moralische Sanierung des Volkskörpers‹: Das Erlanger Theater im Nationalsozialismus«, in: Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.), 300 Jahre Theater Erlangen: Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2019, S. 47–50; Walter Kootz: Vom Theaterkränzchen zur faschistischen Bewegung? Erlanger Theaterpolitik im Machtgefüge des Nationalsozialismus. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Erlangen 1996; Stadtmuseum Erlangen (Hg.): Erlangen im Nationalsozialismus. Katalog zur Ausstellung im Stadtmuseum 1984, Erlangen 1983. 41 Das mag auch daran gelegen haben, dass es das kleine Erlanger Theater schwer hatte, mit der von den Nationalsozialisten besonders geförderten Theatermetropole Nürnberg zu konkurrieren. Das Erlanger Theater war auf Gastspiele des Nürnberger Stadttheaters angewiesen. Dabei gab es offensichtlich Schwierigkeiten, ein attraktives Programm sicherzustellen, vor allem im Bereich der damals besonders beliebten Opern- und Operetteninszenierungen (vgl. W. Kootz: Vom Theaterkränzchen zur faschistischen Bewegung, Dokumente 26, 27).
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3.3 Neuanfänge nach dem Zweiten Weltkrieg Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus beginnt in Deutschland bald eine erstaunliche Entwicklung. Die Theaterbesuche nehmen in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften kontinuierlich zu und erreichen in Ostdeutschland in der Mitte der 1950er Jahre und in Westdeutschland in der Mitte der 1960er Jahre einen historisch einmaligen Höhepunkt. So erlebt das Theater in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Ausweitung seines Publikums, die es seit der Zeit, als es von den öffentlichen Plätzen in die geschlossenen Gebäude eingezogen ist, nie erreicht hat. In diesem Sinne können die 1950er und 1960er Jahre als die große Zeit des Theaters und seines Publikums bezeichnet werden.42 Diese Entwicklung hat mehrere Ursachen. Sie lässt sich zurückführen auf ein Anwachsen der Stadtbevölkerung, eine im Vergleich zum 19. und frühen 20. Jahrhundert deutliche Verbesserung der Lebens- und Einkommensverhältnisse, eine Ausweitung der Freizeit und eine Anhebung des Bildungsstands. Sie wird, vor allem in Ostdeutschland, unterstützt durch staatliche Förderungsmaßnahmen und ein allgemein verbreitetes hohes Ansehen des Theaters als einer wichtigen Kultureinrichtung der Gesellschaft. Für große Teile der Generationen, deren Kindheit, Jugend und junges Erwachsenenalter in die Zeit zwischen Kriegsende und Mitte der 1960er Jahre fällt, ist das Theater eine weitgehend unhinterfragte selbstverständliche Kultureinrichtung, auch dann, wenn sie diese nur selten oder gar nicht besuchen. Das führt dazu, dass in diesen Generationen bis in die Gegenwart hinein eine aufgeschlossene Haltung gegenüber dem Theater relativ stark verbreitet ist. Mit dem rasanten Anstieg der Besucherzahlen des Theaters geht ein
42 S tatistiken zu Besucherzahlen existieren zwar erst ab den 1920er Jahren. Der vergleichsweise geringe Umfang des Theaterpublikums im 18. und auch 19. Jahrhundert lässt sich aber gut ableiten aus dem geringen Umfang der damaligen Stadtbevölkerung, aus der es sich ja vor allem rekrutiert hat und die erst im Übergang in das 20. Jahrhundert eine relevante Ausweitung erfährt. Zur Zeit der Reichsgründung 1871 leben noch zwei Drittel der Bevölkerung auf dem Land und nur ca. 5% in den wenigen Großstädten. Bis zum Ersten Weltkrieg kehrt sich dann das Verhältnis von Land- und Stadtbevölkerung um (vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 3. Band: Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges: 1849–1914, München 1995). 1927 liegen die Theaterbesuche im Deutschen Reich bei 12 Millionen, während der Weimarer Republik und zu Beginn des Nationalsozialismus gehen sie zurück, anschließend ergibt sich zum Teil eine gewisse Ausweitung. Nach dem Zweiten Weltkrieg nehmen die Theaterbesuche dann kontinuierlich zu. Der Höhepunkt der Theaterbesuche wird in Ostdeutschland 1956 mit knapp 18 Millionen und in Westdeutschland 1960 und 1965 mit jeweils 20 Millionen erreicht (vgl. Th. Rahlf (Hg.): Deutschland in Zahlen, S. 162).
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ebenso rasanter Anstieg der Besucherzahlen des Kinos einher, freilich auf einem wesentlich höheren Niveau.43 Der Ausweitung der Besucherzahlen des Theaters folgt dann in den ausgehenden 1960er Jahren ein deutlicher Rückgang, begleitet von einem schon früher einsetzenden Rückgang der Besuche des Kinos.44 Was ist passiert? Zu den beiden in der modernen Gesellschaft fest verankerten kulturellen Einrichtungen des Theaters und des Kinos ist das Fernsehen als eine weitere bedeutsame kulturelle Einrichtung hinzugetreten. Das Fernsehen, das ein zunehmend ausgeweitetes Spektrum der Vermittlung von Unterhaltung, Kultur und Information in unterschiedlichen Formaten umfasst, ist ohne kulturelle und nennenswerte finanzielle Barrieren nahezu allen Gesellschaftmitgliedern einfach und bequem zugänglich. Mit der schnellen Ausbreitung dieses neuen Mediums ist das angestammte Theater ein zweites Mal im Verlauf des 20. Jahrhunderts einer starken Konkurrenz ausgesetzt, die sein ursprüngliches Monopol noch weiter einschränkt und sein reales und potentielles Publikum schrumpfen lässt. Doch damit nicht genug. Der nach der Jahrtausendwende beschleunigt vollzogene Übergang in die digitalisierte Moderne eröffnet mit Online- und Streamingsdiensten den Menschen bisher ungeahnte Möglichkeiten, ihren Schau- und Hörbedürfnissen in eigener Regie, zeit- und ortsunabhängig und mobil nachgehen zu können. Das bedeutet einen weiteren Abzug des realen und potentiellen Publikums vom Theater, aber auch vom Kino und vom Fernsehen.
43 Die Kinobesuche nehmen im Deutschen Reich während der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus stetig zu. Nach dem Zweiten Weltkrieg 1949 haben sie sich in Ostdeutschland auf 168 Millionen und in Westdeutschland auf 467 Millionen ausgeweitet. Danach wachsen sie weiter stark an und erreichen ihren Höhepunkt 1956 in Ostdeutschland mit 302 Millionen und in Westdeutschland mit 818 Millionen (vgl. Th. Rahlf (Hg.): Deutschland in Zahlen, S. 162). 44 Die Theaterbesuche gehen bis 1989 vor der Wiedervereinigung in Ostdeutschland auf 9 Millionen und in Westdeutschland auf 15,6 Millionen zurück. Nach der Wiedervereinigung setzt sich dieser Rückgang zunächst weiter fort und wird ab 2010 verlangsamt bzw. aufgehalten (vgl. Th. Rahlf (Hg.): Deutschland in Zahlen, S. 162). Für die Spielzeit 2016/17 wird die Zahl der Theaterbesuche mit 20,5 Millionen angegeben (vgl. Deutscher Bühnenverein (Hg.): Theaterstatistik: Die wichtigsten Wirtschaftsdaten der Theater, Orchester und Festspiele, Köln 2018, S. 255). Die Daten stammen aus verschiedenen Quellen, die auf unterschiedliche Grundlagen zurückgehen, deshalb können sie nur als eine allgemeine Orientierung dienen. Die Kinobesuche sinken bis 1989 in Ostdeutschland auf 65 Millionen und in Westdeutschland auf 102 Millionen. Nach der Wiedervereinigung setzt sich dieser Abwärtstrend (mit einer kleinen Unterbrechung) weiter fort (vgl. Th. Rahlf (Hg.): Deutschland in Zahlen, S. 162). 2018 sind die Kino-Besuche auf etwas über 105 Millionen gesunken (vgl. Statistisches Bundesamt: Kinobesuche 2018, URL: https:// www-genesis.destatis.de/genesis/online/link/tabelleErgebnis/21611-0002 [zuletzt abgerufen am 30. Juli 2019]).
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3.4 Die Entwicklung in der Theaterstadt Erlangen Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus beginnt ein neuer Abschnitt des Erlanger Theaterlebens, der sich deutlich absetzt von der vorangegangenen wechselvollen Geschichte und der schließlich zu der Etablierung des Stadttheaters in seiner jetzigen Form führt.45 Unmittelbar nach Kriegsende bekommt Erlangen mit dem Theaterunternehmen Probst / Doerner 1945 ein Theater mit einem eigenen Ensemble. Aber schon 1948 nach der Währungsreform kann das Unternehmen wirtschaftlich nicht überleben.46 Der Gemeinnützige Verein 47 übernimmt wieder das Theater, das nun die Bezeichnung Markgrafentheater erhält, und setzt dort die kurz unterbrochene Tradition des Gastspieltheaters fort. Die Theaterbesuche nehmen ebenso wie in anderen Städten deutlich zu, was auch mit der rasanten Bevölkerungsentwicklung der Stadt Erlangen zusammenhängt, die 1974 zur Großstadt wird. Der allgemein zu beobachtende spätere Rückgang der Besucherzahlen kann durch diese Entwicklung in Erlangen zunächst kompensiert werden. Nach einer 1959 abgeschlossenen Grundrenovierung und einem gut ausgebauten Gastspielprogramm entwickelt sich das Markgrafentheater zu einer allseits anerkannten kulturellen Einrichtung der Stadt mit einem (sich erweiternden) stabilen Stammpublikum. Die Strukturen des Theaters und die kulturellen Muster der Theaterpraxis des Publikums, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend herausgebildet haben, haben sich nun in einer leicht modernisierten Form voll durchgesetzt. Der Besuch des Theaters ist ein gegenüber dem Alltagsleben herausgehobenes gesellschaftliches Ereignis, das auch zur Einhaltung einer Kleiderordnung, das heißt zu festlicher Garderobe verpf lichtet. Die Teilnahme an der Theateraufführung wird umrahmt von dem ebenfalls wichtigen Zusammentreffen mit den anderen Mitgliedern des Publikums in gepf legter Atmosphäre. 45 V gl. Michael von Engelhardt: »Bürgerschaftliches Engagement für das Theater: Der Förderverein Theater Erlangen«, in: Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.), 300 Jahre Theater Erlangen: Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2019, S. 93–99; O. Hiltl: 250 Jahre Markgrafentheater; Wolfgang von Rimscha: »Das Erlanger Theater 1974–1998«, in: SPD Kreisverband Erlangen-Stadt (Hg.), Materialien zur Sozialdemokratie in Erlangen 1972–1997, Erlangen 2015, S. 174–181; Wolfgang von Rimscha: Artikel »Theater Erlangen« und Andreas Jakob / Volkmar Greiselmayer: Artikel »Markgrafentheater«, in: Christoph Friederich / Bertold Frhr. von Haller / Andreas Jakob (Hg.), Erlanger Stadtlexikon, Erlangen 2002, S. 699 und S. 479; S. Ziegler: »Eine kurze Geschichte des Theater Erlangen«, in: Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.), 300 Jahre Theater Erlangen: Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2019, S. 8–15; vgl. auch den Beitrag von Anja Hentschel im vorliegenden Band. 46 Vgl. auch den Beitrag von Dorothea Pachale im vorliegenden Band. 47 1992 erweitert der Verein seinen Namen zu Gemeinnüziger Theater- und Konzertverein Erlangen.
Das Theater und sein Publikum
Ab Mitte der 1960er Jahre bringt die allgemein einsetzende kulturelle Dynamik in der Gesellschaft Bewegung in die etablierte Theaterkultur der Städte. Dieser allgemeine Trend erfasst Anfang der 1970er Jahre auch Erlangen. An dem Gastspielbetrieb des Markgrafentheaters wird zunehmend Kritik geübt. Die dort vorherrschende Theaterkultur scheint den Kritikern reichlich aus der Zeit gefallen, die soziale Begrenzung des Publikums und der weitgehende Ausschluss jüngerer Jahrgänge werden bemängelt. Es entsteht eine Initiative für ein »anderes« Theater, die 1974 zur Gründung eines kleinen Theater in der Garage direkt neben dem Markgrafentheater führt.48 Um dieses neue Theater zu unterstützen, wird im gleichen Jahr von engagierten Theaterliebhabern der Förderverein Theater Erlangen gegründet. Dem Gemeinnützigen Verein, der aus dem kulturellen bürgerschaftlichen Engagement des 19. Jahrhunderts hervorgegangen ist, steht nun ein neuer, aus dem kulturellen bürgerschaftlichen Engagement des ausgehenden 20. Jahrhunderts hervorgegangener Verein des Theaters in der Garage gegenüber. In dem neugegründeten kleinen Theater entsteht (ähnlich wie in den kleinen Theatern anderer Städte) eine Form von Theaterkultur, in die historisch ältere Theatertraditionen und aktuelle Tendenzen der freien Theaterszene aufgenommen werden. Vieles von dem, was sich in einem längeren Prozess als Kernbestand der etablierten Theaterkultur herausgebildet hat, wird hier nun außer Kraft gesetzt. Das Theater in der Garage besteht aus einem Theaterraum, dessen Sitze alle auf die Bühne ausgerichtet sind, und einem (zunächst nur durch einen Vorhang abgetrennten) Kneipenraum. So werden Kunstgenuss und Geselligkeit eng miteinander verbunden und ein ungezwungenes Zusammentreffen von Theatermachern und Publikum erleichtert. Es entsteht eine lockere Atmosphäre, wodurch die Zugangsbarrieren deutlich gesenkt werden. Der Theaterbesuch verliert seinen herausgehobenen gesellschaftlichen Charakter und erfährt eine Veralltäglichung, was sich auch darin zeigt, dass das oft jüngere Publikum, das vermehrt in das kleine Theater kommt, in legerer Kleidung erscheint. Das Theater öffnet sich einem breiteren Publikum, die Theatermacher suchen den Kontakt zur Bevölkerung, verlegen Aufführungen auf öffentliche Plätze, veranstalten Straßen- und Faschingsfeste und unternehmen mit einem Sonderzug »Theatralische Reisen« in die Fränkische Schweiz. In Erlangen existieren nun nebeneinander in dem großen Markgrafentheater und in dem kleinen Theater in der Garage zwei je unterschiedliche Theaterkulturen mit einem je unterschiedlichen Publikum und zwei Theatervereinen. Während das eher bürgerliche Publikum des Markgrafentheaters die Kultur der 1950er und frühen 1960er Jahre repräsentiert, repräsentiert das jüngere und sozial erweiterte 48 Vgl. Cornelia Julius: Theater anders, Nürnberg 1979; Ute Wolf / Kirsten Harder: Wo Mr. Pilk schlündelgründelt, Erlangen 1985. Das kleine Theater wurde in einer ehemaligen Feuerwehrgarage eingerichtet. Deshalb erhielt es den Namen Theater in der Garage.
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Publikum des Theaters in der Garage die Kultur des kulturellen Auf bruchs der späten 1960er und 1970er Jahre. In den ausgehenden 1970er und den 1980er Jahren entwickelt sich in Erlangen eine heftige politische Auseinandersetzung, die als ein Theaterkulturkampf bezeichnet werden kann. Dabei geht es neben theaterästhetischen Fragen vor allem um die Frage, ob das Erlanger Theater weiterhin nur als Gastspieltheater betrieben oder ein Theater mit einer eigenen künstlerischen Intendanz und einem eigenen Ensemble werden soll. An diesen heftigen Auseinandersetzungen beteiligen sich neben den Kommunalpolitikern in starkem Maße auch Mitglieder der beiden »Fraktionen« des Theaterpublikums und Vertreter der beiden Theatervereine. Schließlich wird 1989 durchgesetzt, dass Erlangen ein Stadttheater mit einer eigenen künstlerischen Intendanz und einem eigenen Ensemble erhält, was allerdings erst an der Wende zum 21. Jahrhundert dauerhaft abgesichert werden kann. Dabei werden das Markgrafentheater und das Theater in der Garage unter einer Leitung zum Theater Erlangen zusammengeführt. Das Theater in der Garage erfährt eine entscheidende Umgestaltung, indem der Theaterraum durch eine eingezogene Wand und einen eigenen Eingang vom Kneipenraum klar abgetrennt wird, der seinerseits zu einem respektablen Theatercafé wird. Die Vereinigung des traditionsreichen Markgrafentheaters und des jungen Theaters in der Garage zum Theater Erlangen führt zu einem verstärkten Austausch der ehemals getrennten Theaterkulturen und schafft die Voraussetzung für ein sich weiterentwickelndes ausdifferenziertes Theaterangebot. Die ehemalige Bindung der unterschiedlichen Publikumskreise an die beiden Theater wird gelockert und es kommt zu einer gewissen wechselseitigen Angleichung. Aus dieser längeren konf liktträchtigen Entwicklung, an der das Publikum stark beteiligt ist, geht das Erlanger Stadttheater in seiner heutigen Form hervor.
3.5 Das Theaterpublikum der Gegenwart Im Unterschied zu dem Publikum seiner medialen Konkurrenten weist das gegenwärtige Theaterpublikum einen ausgeprägten selektiven Charakter auf. Das zeigt sich deutlich an seinem Sozialprofil.49 Das Theaterpublikum ist ein überwiegend städtisches Publikum, der weitaus größere Teil stammt aus gehobenen Bildungs- und Sozialschichten. Personen aus unteren Sozial- und Einkommens49 V gl. Patrick S. Föhl / Damaris Nübel: »Das Publikum öffentlicher Theater: Ergebnisse der empirischen Forschung«, in: Patrick Glogner-Pilz / Patrick S. Föhl (Hg.), Handbuch Kulturpublikum: Forschungsfragen und -befunde, Wiesbaden 2016, S. 207–254; Tibor Kliment: Das Publikum von Theater und Oper: Soziale Zusammensetzung und die Wirksamkeit von Zugangshürden, URL: https://www.kulturmanagement.net/Themen/Das-Publikum-von-Theater-und-Oper-SozialeZusammensetzung-und-die-Wirksamkeit-von-Zugangshuerden,2132 [zuletzt abgerufen am 30. Juli 2019].
Das Theater und sein Publikum
schichten sind wenig vertreten, ebenso Personen mit Behinderungen und Personen in prekären Lebenssituationen. Das gleiche gilt für zugewanderte Menschen aus nicht-westlichen Ländern. Der Frauenanteil liegt weit über dem der Männer. Personen im höheren Lebensalter sind deutlich überrepräsentiert gegenüber Personen im mittleren und jüngeren Lebensalter. Diese Altersstruktur lässt befürchten, dass das Publikum des Theaters schneller altert als die Gesellschaft. Angesichts dieses Sozialprofils entwickeln die Theater seit längerer Zeit eine Vielzahl von Aktivitäten, um eine Rückgewinnung und eine Erweiterung ihres Publikums zu erreichen. Das scheint ihnen, wie sich auch deutlich am Erlanger Stadttheater zeigt, am ehesten bei Menschen jüngeren Alters – vor allem bei Kindern und Jugendlichen – zu gelingen.50 Das Theater ist in den letzten Jahrzehnten deutlich in Bewegung geraten durch den Wandel seiner Ästhetik und Dramaturgie, durch die Anwendung der Mittel seiner medialen Konkurrenten, durch die Entwicklung neuer Formate, durch das Aufsuchen sozialer Orte außerhalb des Theatergebäudes und die Hereinnahme sozialer Wirklichkeit in das Theatergebäude, durch das Experimentieren mit einem veränderten Verhältnis zu seinem Publikum und deren stärkerer Partizipation.51 Dieses Charakteristikum eines Theaters in Bewegung, die dessen jugendliche Lebendigkeit ausmacht, kennzeichnet auch das Stadttheater in Erlangen. Dabei hat das Theater sein Publikum verändert, dessen Erfahrungen und Wahrnehmungen modifiziert und erweitert und auch neue Publikumskreise gewonnen. Es hat aber auch Publikum verloren – eine Entwicklung, die sicherlich noch genauer erforscht werden müsste. Auch die gewandelten gegenwärtigen Theaterformen setzen das kulturelle Muster der Theaterpraxis des Publikums voraus, das sich im 19. Jahrhundert allgemein durchgesetzt und anschließend weitere Modifikation erfahren hat. Weil es als internalisiertes Muster längst von den äußeren architektonischen Gegebenheiten und sozialen Regelungen unabhängig geworden ist, die zu seiner Entstehung geführt haben, ist es zwar immer herausgefordert, wenn das Theater tradierte räumliche Settings verlässt und tradierte dramaturgische Arrangements und Ästhetiken umgestaltet oder aufgibt, kann sich diesen Veränderungen aber immer wieder auch anpassen. Und gerade auch dann, wenn dieses tradierte Muster der Theaterpraxis bewusst provoziert oder destruiert werden soll, kann eine solche Provokation oder Destruktion nur funktionieren und erhält auch nur dadurch einen Sinn, wenn dieses Muster als wirksam vorausgesetzt wird. Ob bei all dem schließlich dann doch eine wesentliche Umgestaltung des kulturellen 50 Zur Bedeutung des Schultheaters in Erlangen vgl. auch den Beitrag von Eckart Liebau im vorliegenden Band. 51 Zu neueren Tendenzen auf dem Theater vgl. auch den Beitrag von Matthias Warstat im vorliegenden Band.
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Musters der Theaterpraxis und damit eine neue Transformation des Publikums ausgelöst wird, ist eine spannende Frage, die genauer zu untersuchen sich lohnen würde.
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Schlussbemerkung
Das Publikum hat in seiner hier behandelten langen Geschichte grundlegende Transformationsprozesse durchlaufen, die in einem Zusammenhang stehen mit der Geschichte des Theaters und neuer Medien auf der einen und der übergreifenden Sozial- und Kulturgeschichte sowie dem damit einhergehenden Wandel der Lebensverhältnisse und Lebensstile der Menschen auf der anderen Seite. Im Rückblick wird deutlich, dass sich das Publikum der Gegenwart in einer historisch einmalig komfortablen Situation befindet. Der Theaterbesuch ist nicht mehr abhängig von der Gunst eines Fürsten, ein expliziter Ausschluss wird nicht mehr praktiziert, ebenso besteht kaum noch eine zwingende soziale Verpf lichtung zum Theaterbesuch und der Theaterbesuch ist weitgehend vom Charakter einer rein konventionellen Veranstaltung befreit. Das Publikum der Gegenwart sieht sich einem relativ breiten Angebot des Theaters gegenüber, innerhalb dessen es im Prinzip frei wählen kann. Es wird umworben, mit Einführungen und Inszenierungsgesprächen versorgt, in verschiedenen Formaten zur verstärkter Partizipation animiert, außerhalb des Theatergebäudes im öffentlichen Raum aufgesucht und durch das Angebot von Theaterspielgruppen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene an die Faszination des Theatermachens herangeführt. Trotz dieser vielfältigen Angebote gehen viele Menschen nicht ins Theater. Das auffallend selektive Sozialprofil des gegenwärtigen Theaterpublikums zeigt, dass viele relevante gesellschaftliche Gruppen vom Theaterbesuch ausgeschlossen sind. Dieser Ausschluss geht vor allem zurück auf finanzielle Barrieren (Höhe der Eintrittspreise), auf sozio-kulturelle Barrieren sowie auf kulturelle Vorlieben.52 Dieser Ausschluss stellt eine große Herausforderung für ein Theater dar, das sich dem Anspruch verpf lichtet fühlt, eine demokratische Kultureinrichtung der Gesellschaft zu sein, einem Anspruch, der schon am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts vehement erhoben wurde. Das Theater ist nun schon seit Längerem einer Konkurrenz ausgesetzt, die in Zukunft mit der Weiterentwicklung der digitalisierten Moderne sicherlich noch zunehmen wird. Doch mit dem Auftauchen und der Verbreitung seiner medialen Konkurrenten im Kulturleben zeigt sich die spezifische Eigenart des Theaters in 52 Bei Personen im mittleren Lebensalter wird der Theaterbesuch sicherlich auch durch den begrenzten zeitlichen Spielraum eingeschränkt, der sich aus der doppelten Einbindung in Beruf und Familie ergibt.
Das Theater und sein Publikum
einer Prägnanz, wie das vorher gar nicht möglich war. Der besondere Charakter des Theaters als einer unmittelbaren lebendigen kulturellen Erfahrung im Zusammenspiel von leiblich anwesendem Publikum und leiblich anwesenden Schauspielern und Schauspielerinnen und seine daraus resultierende unverwechselbare Attraktivität treten erst im Kontrast mit den medialen Konkurrenten in aller Deutlichkeit hervor. Es könnte sein, dass gerade in der weiter fortschreitenden digitalisierten Moderne diese Attraktivität anwächst und so zu einem vielleicht sogar ausgeweiteten Besuch des Theaters motiviert. Dies könnte ein Theater der Zukunft unterstützen, das sich zu einem Theater der Vielfalt weiterentwickelt, indem es sich verstärkt der Vielfalt des realen und potentiellen Publikums öffnet, einem Publikum mit unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen, die sich allzu einfachen oder gar vorschreibenden Definitionen und Kategorisierungen entziehen.
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Von Mauern und Mauerweilern Skizzen zur Erlanger Theatergeschichte Anja Hentschel »In unseren Mauern weilt heute... « ... z. B. die berühmte Sängerin Jenny Lind.1 Mit dieser Formel kündigten Zeitungen im 19. Jahrhundert so häufig Gastspielstars2 und gastierende Bühnen an, dass zeitgenössische Theaterlexika den Begriff Mauerweiler als Synonym für Gastdarsteller in ihre Definitionen aufnahmen. Die Theatergeschichte Erlangens wurde bis weit ins 20. Jahrhundert hinein so stark vom Gastspielwesen bestimmt, dass viele Erlanger besonders das Markgrafentheater bis zum Ende des 20. Jahrhunderts eher als Gastspieltheater denn als Bühne mit einem eigenen Ensemble wahrnahmen. Das Spannungsverhältnis zwischen den mobilen Mauerweilern und den mehr oder weniger immobilen Spielstätten, das Markgrafentheater als Teil der vielschichtigen Vergnügungskultur einer Stadt zwischen Residenz und Provinz, Fragen nach dem Repertoire, den Zuschauern, den juristischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Bedingungen des Theaters in Erlangen wurden 1999 im Rahmen eines theaterwissenschaftlichen Forschungsprojekts in den Fokus genommen.3 Bis dahin lagen nur vereinzelte ältere Publikationen zum Erlanger Theater v. a. des 18. Jahrhunderts und einige neuere Studien z. B. zum Erlanger Theater während des Nationalsozialismus sowie zum Studententheater vor.4 1 1 846 war die sogenannte »schwedische Nachtigall« in Erlangen in der Rolle der Amina in Bellinis Die Nachtwandlerin zu sehen. Vgl. Adolf Pongratz: Musikgeschichte Erlangens im 18. und 19. Jahrhundert (Phil. Diss.), Erlangen 1957, S. 229–232. 2 Der Übersichtlichkeit halber wird von Star, Sänger, Schauspieler etc. gesprochen, die weiblichen Vertreterinnen der Berufsgruppe sind miteingeschlossen. 3 Die Ergebnisse wurden im Rahmen einer Ausstellung in den Räumen des Markgrafentheaters im Jahr 1999 gezeigt, dieser Text wurde erstmals veröffentlicht in: Von Mauern und Mauerweilern. Festschrift zum Abschluss der Restaurierung des barocken Zuschauerraums im Markgrafentheater, Erlangen 1999, S. 19–33. Diese Fassung basiert auf dem Forschungsstand von 1999 und wurde nur behutsam angepasst. Eine umfassende Bearbeitung dieser Fragestellungen steht noch aus. 4 E ine Auswahl: Johannes Bischoff: »Erinnerungen an eine Studentenbühne des 18. Jahrhunderts«, in: Die Erlanger Universität, 1. Jg., Nr. 23 (1. Dezember 1947), S. 360f.; ders.: »Neue Beiträge zur
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Die von Bischoff bereits in den fünfziger Jahren angekündigte Theatergeschichte Erlangens steht bis heute aus. Erste vorläufige Erkenntnisse der laufenden Arbeiten möchte der folgende Aufsatz anhand der Kernfragen Wo (Spielstätten)? Wer (Schauspieler)? Was (Stücke)? vorstellen.
Von den Katakomben ins Paradies, oder: Orte des Theaters Von den Katakomben ins Paradies statt »Vom Himmel durch die Welt zur Hölle«5 – so lässt sich das Spektrum der Erlanger Bühnen von 1700 bis heute umschreiben, denkt man an die ehemalige Studiobühne in den Kellern unter dem Altstädter Kirchplatz oder an die oberste Galerie im Markgrafentheater, gemeinhin als Paradies oder Olymp bezeichnet.
frühen Erlanger Theatergeschichte (1710/20)«, in: Die Erlanger Universität, 2. Jg., Nr. 9 (1. Mai 1948), S. 124–126; ders.: »Das Hochfürstliche Opern- und Comödienhaus in Christian Erlang unter Markgraf Georg Wilhelm von Bayreuth. Regesten zur Erlanger Theatergeschichte von 1715–1722«, in: Erlanger Bausteine zur fränkischen Heimatforschung, Band 15 (1968), S. 3–12; Arno Ertel: »Erlanger Theaterleben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts«, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung, Band 25 (1965), S. 89–113; Otto Hiltl: »Geschichte des Erlanger Theaterlebens«, in: Markgrafentheater Erlangen [Festschrift zur Wiedereröffnung 1959], Erlangen 1959, o. P.; Wilhelm Hilpert: »Die Erlanger Opernbühne, Romantisches Theater«, in: Gemeinnütziger Verein Erlangen (Hg.), Markgrafentheater Erlangen. Die Jahre von 1969 bis 1979, Erlangen 1979, S. 12–21; Hans Lehner: »Das Erlanger Theater in den letzten 25 Jahren (1876–1901), mit einer Tabelle der gegebenen Stücke«, in: Adreßbuch der Stadt Erlangen für das Jahr 1901. V. Abteilung, Erlangen 1901, S. 75–76; Johannes Bischoff: 250 Jahre Erlanger Karneval. Masken, Fasching und Redouten. Katalog zur Ausstellung im Erlanger Stadtmuseum vom 14. Februar bis 30. April 1971, Erlangen 1971; Eleonore Schmidt-Herrling: »Erlanger Faschingszüge in den Jahren 1721 und 1722«, in: Erlanger Heimatblätter, 19. Jg., Nr. 12 (10. Juni 1936), S. 45f.; Walter Kootz: Vom Theaterkränzchen zur faschistischen Bewegung? Erlanger Theaterpolitik im Machtgefüge des Nationalsozialismus. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Erlangen 1996; Hans Joachim Schoeps: »Die Erlanger Studiobühne von 1789« (= Skizzen zur Erlanger Universitätsgeschichte III), in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung, Band 25 (1965), S. 426–428; Marlies Hübner: Studententheater im Beziehungsgeflecht politischer, gesellschaftlicher und kultureller Auseinandersetzung, mit einem Ausblick auf die Theaterszene der sechziger und siebziger Jahre (Phil. Diss.), Erlangen 1987; Barbara Müller: Organisation und Management von Studentischen Theaterfestivals am Beispiel von ARENA – Internationale Woche des Jungen Theaters, Erlangen und DISKURS – Europäisches Treffen der Studierenden des Theaters, Gießen. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Erlangen 1996; Cornelia Julius: Theater anders, Nürnberg 1979. 5 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Historisch-kritische Edition. Hg. von Anne Bohnenkamp, Silke Henkel, Fotis Jannidis, Frankfurt am Main / Weimar / Würzburg 2018, URL: http://www.faust edition.net [zuletzt abgerufen am 11. Oktober 2019] (»Vorspiel auf dem Theater«, Vers 242).
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Die Darstellung auf den nächsten beiden Seiten zeigt eine Auswahl von temporären (einmalig genutzten), semi-permanenten (mehrfach genutzten) und permanenten (dauerhaft genutzten bzw. als Theaterbau konzipierten) Spielstätten.6 Welche Aufschlüsse kann man aus der Auseinandersetzung mit den Orten des Theaters in einer Stadt gewinnen? Durch den Blick auf den historischen Wandel von Spielstätten und Bühnenformen, v. a. aber auf die parallel vorhandenen Spielstätten ergibt sich ein dreidimensionales Bild der Theaterkultur der Zeit, ohne dass veraltete Ideenkonstruktionen von »Hoch-« und »Trivial-« Kultur zum Tragen kommen. Die Form und Ausstattung der Spielstätten lässt Rückschlüsse auf den möglichen Spielplan, die Arbeitsbedingungen des Theaterpersonals und den Publikumskreis zu. Oft entwickeln sich Spezialitäten-Theater, so z. B. das Fif ty-Fif ty, das ein Stammpublikum für sein Kleinkunstprogramm etablieren konnte. Andere Bühnen (wie das Markgrafentheater) bieten durch die Größe des Hauses und die umfangreichen technischen Möglichkeiten fast jeder Form von Theater Raum und etablieren sich im Bewusstsein der Bürger eher als originäre Theaterorte. Der Hoftheaterbetrieb in Erlangen entspricht in seiner Entwicklung dem anderer Städte: Zunächst wurde wohl in einem Saal des Schlosses eine temporäre, später eine dauerhafte Bühne errichtet. Ein genaues Gründungsdatum oder eine zuverlässige Baubeschreibung zu diesem um 1742 renovierten Französischen Comoedien Theatro im Schloß liegt nicht vor. Wahrscheinlich handelte es sich um eine einfache erhöhte hölzerne Saalbühne mit einer Grundausstattung an verschiebbaren Kulissen für hofinterne Aufführungen. Ob das Theater im Schloss auch nach der Eröffnung des Hoch fürstlichen Opern- und Comoedien-Haußes (heute Markgrafentheater) noch benutzt wurde, ist fraglich.7 Hinzu kamen das sogenannte Theaterzelt, für das 1715 eine Bespielung nachzuweisen ist, später das Heckentheater im Schlossgarten. Ob und wann das sogenannte Grüne Theatrum tatsächlich für Aufführungen genutzt wurde, oder ob es nur als standardisierter Teil der formalen Gartenanlage konstruiert wurde, ließ sich bisher nicht endgültig klären. Mit dem 1719 eröffneten und im Laufe der Zeit vielfach umgebauten, umbenannten und restaurierten Markgrafentheater wurde eine dauerhafte Spielstätte geschaffen, deren Bühnenverhältnisse und Dekorationsfundus die Umsetzung
6 V gl. Simone Gojan: Spielstätten der Schweiz. Historisches Handbuch (= Theatrum Helveticum 4), Zürich 1998, S. 12. 7 E ine Ausnahme scheint das Jahr 1742 zu bilden, in dem die erwähnten Renovierungsarbeiten durchgeführt wurden. Das Schlosstheater diente hier wohl als Ausweichspielstätte während der Umbauarbeiten am Markgrafentheater.
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Spielstätten in Erlangen 1700–1999 Eine Auswahl Permanente oder semi-permanente Spielstätten Temporäre Spielstätten 1700–1800 1801–1850 1851–1900 1901–1950 1951–1999
1. 2. 3. 4. 5.
Puppen- (Kasperl-) Theater Gasthof »Welsgarten« Theaterzelt Schwabachanlage Altstädter Rathaus Studiobühne unter dem Altstädter Kirchenplatz 6. Innenhof des Stadtmuseums 7. Fuchsenwiese 8. E-Werk 9. Markgrafentheater 10. Redoutensaal 11. Theater in der Garage 12. Theatersaal im Schloß 13. Theaterzelt auf dem Schloßplatz 14. Theaterzelt im Schloßgarten 15. Heckentheater im Schloßgarten 16. Amphitheater im Schloßgarten 17. Saal des ehem. Bezirkskrankenhauses am Maximiliansplatz 18. Experimentiertheater 19. Freizeitzentrum Frankenhof 20. Saal des Studentenhauses 21. Gasthof »Prater« 22. Fifty-Fifty 23. Gossenhallen 24. Gasthof »Zum goldenen Walfisch« Sommertheater »Gasthof zur Glocke« Kolosseum
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aller zeitgenössischen Theaterformen prinzipiell ermöglichte.8 Ein Inventar aus dem Jahr 1719 verzeichnet einen reichhaltigen Bestand an Kulissensätzen, wie er zum Standardinventar von Hof bühnen der Zeit gehörte, wie z. B.: »Rother Saal«, »Blauer Saal«, »Felsengegend mit Höhle«, »Garten«, »Affricanischer Garten« (für Opern mit exotischem Dekor), »Gefängnüße«, »Dorf« (für Schäferspiele) etc., etc., außerdem Praktikablen, Effektmaschinen und Requisiten wie: »3 Schiffe, 1 Schelch [ein Schiffstyp], 3 Thröne, 2 Elephanden, 1 Löw, 1 Tiger-Thier, 1 Triumph-Wagen, 6 Wasser-Wellen [...]«.9 Auch wenn im Laufe der Zeit durch geänderte Besitzverhältnisse und finanzielle Engpässe der Theaterbau und Ausstattungsfundus erheblich an Umfang und Qualität einbüßte – laut Stein und Müller wurden zwischen 1839 und 1865 überhaupt keine neuen Dekorationen für das Theater gemalt,10 ein zeitgenössisches Theaterlexikon lobt dagegen 1846 die »neuen Decorationen von Wels«,11 tadelt aber die mangelhafte Maschinerie –, so bot die Größe von Bühne und Zuschauerraum (um die 800 Personen fanden um 1840 Platz, später um die 600 bis 650) doch ausreichend Raum für theatrale Produktionen jeder Art. War das heutige Markgrafentheater zunächst als reines Hoftheater den Fürsten, dem Hofstaat und geladenen Gästen zugänglich und wurde nur vereinzelt auch zahlenden Zuschauern aus der Stadt geöffnet, so etablierte es sich ab 1764 als öffentlich gegen Eintrittsgeld zugängliche Spielstätte.12 Zuvor hatten die Einwohner ihr Bedürfnis nach Theatererlebnissen andernorts, z. B. bei den Vorstellungen von Wandertruppen im Altstädter Rathaus, das nach der Vereinigung der Verwaltung von Alt- und Neustadt zeitweise leer stand, befriedigen müssen. Auch nach der Öffnung des Markgrafentheaters fanden regelmäßig Vorstellungen in anderen Lokalitäten statt: Wandertruppen spielten sowohl im Markgrafentheater und Redoutensaal als auch in Gasthofsälen, z. B. im Goldenen Walfisch (1769, 1792), Zur Glocke (1848), im Prater (1848, 1851, 1852) oder im Welsgarten (1844, 1864) am Burgberg, die wesentlich geringere Eintrittspreise forderten und durch die Kombination mit einer Bewirtschaftung während der 8 Vgl. zur Baugeschichte und Theaterpraxis im Markgrafentheater auch die Beiträge von Hans Dickel und Eckhard Roch im vorliegenden Band. 9 S taatsarchiv Bamberg, Signatur: 1 C-H Vol. XXVI Nr. 2; zitiert nach J. Bischoff, Regesten, S. 6. Dazu siehe auch den Beitrag von Clemens Risi im vorliegenden Band sowie die dortige Abb. 7. 10 F riedrich Stein / Ludwig Müller: Die Geschichte von Erlangen in Wort und Bild, Erlangen 1898, S. 299f. 11 Artikel »Erlangen«, in: Robert Blum / Karl Herloßsohn / Heinrich Marggraff (Hg): Allgemeines Theater-Lexikon oder Encyklopädie alles Wissenswerthen für Bühnenkünstler, Dilettanten und Theaterfreunde, Neue Ausgabe, 3. Band, Altenburg / Leipzig 1846, S. 193f. 12 Vgl. aber die in der Rudelschen Chronik übermittelte Nachricht des Einsturzes des Parterres im Jahr 1721, bei dem sich ein Apotheker aus Altdorf ein Bein gebrochen haben soll, woraus ersichtlich wird, dass bereits 1721 Personen, die nicht dem Hof angehörten, Teil des Publikums waren. (Siehe dazu auch den Beitrag von Hans Dickel im vorliegenden Band.)
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Vorstellung eher zwangloses Vergnügen boten. Für die Wandertruppen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts waren Gasthofsäle oder das später gegründete Sommertheater zumeist rentabler zu bespielen als das im Verhältnis zur Einwohnerzahl (um 1740 ca. 6500) überdimensionierte Markgrafentheater, dessen Betriebskosten (für Beleuchtung, Heizung und Pacht) meist schon die Abendeinnahmen schluckten und dessen relativ hohe Preise nur eine kleine Klientel zahlen konnte. Die Situation vom Ende des 19. Jahrhunderts und vom Ende des 20. Jahrhunderts weist einige Parallelen auf: Ein differenziertes Theaterangebot an wechselnden Spielstätten sprach verschiedene – oft klar getrennte – Publikumsgruppen an.13 Neben dem Stadttheater mit den permanenten Spielstätten Markgrafentheater und Theater in der Garage hatten sich andere Theaterbetriebe (wie das Fif ty-Fif ty) und Spielstätten etabliert: im Experimentiertheater der Universität, im Redoutensaal, im Freizeitzentrum Frankenhof, dem E-Werk, den Gossenhallen fanden regelmäßig Aufführungen statt – das Spektrum reichte vom Kinder- und Jugendüber das Improtheater bis zu experimentellen Performances. Außerdem wurden im Rahmen von Festivals wie Arena – Internationale Woche des jungen Theaters, dem Internationalen Figurentheaterfestival oder für spezielle Inszenierungen immer wieder neue Spielorte gefunden: die Straßen der Stadt, der Innenhof des Stadtmuseums, die verlassenen Hallen der FAG Kugelfischer und viele mehr.14 Über die Zuschauer v. a. der historischen Spielstätten weiß man leider bisher wenig, nur zum Markgrafentheater finden sich einige Hinweise. So äußert sich Rebmann, dessen eher polemische Briefe über Erlangen (1792) für einigen Aufruhr bei den Bürgern der Stadt sorgten, negativ: »Aber dem Geschmack des Erlanger Publikums kann ich leider! keine Lobrede halten. Auch auf Parterre und Logen beklatscht man nicht den Schauspieler, nicht die Darstellung, nicht die feinste Nuance, mit der er den Geist des Autors wiedergiebt, sondern – eine Lächerlichkeit, eine Zweydeutigkeit [...]. Hauptsächlich machen versteckte Obscönitäten den größten Eindruck auf das Erlanger Publikum. Bei den Gallerien, nach deren Geschmack sich der Schauspieler zeitweise richten muß, wenn er anders nicht Lust hat, zu verhungern, und ach! daß ich es sagen muß, oft auch dem Theil des Publikums, der gebildeter seyn sollte, machen blos Erschei-
13 Vgl. Manfred Koch: »Nicht alles verlief nach Wunsch. Vor Beginn der neuen Theatersaison zieht Intendant Henne Bilanz seines ersten Erlanger Jahres«, in: Erlanger Nachrichten vom 2./3. Oktober 1999, S. 5. 14 Diese Entwicklung hat sich im 21. Jahrhundert fortgesetzt: Während einige der genannten Spielorte in der Zwischenzeit verschwunden sind (wie die Gossenhallen, FAG Kugelfischer oder das Freizeitzentrum Frankenhof) werden regelmäßig neue Spielstätten etabliert und temporär genutzt, wie z. B. Keller im Burgberg, Parkhäuser etc. beim 21. internationalen-figuren.theater.festival 2019. Vgl. dazu auch den Beitrag von Bodo Birk im vorliegenden Band.
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nungen und schallende Titel ihr Glück. Eine Execution würde das Haus außerordentlich füllen [...].« 15 Eine Exekution bekamen die Erlanger Zuschauer jedoch erst über hundertdreißig Jahre später zu sehen: Um 1928 gastierte das Theaterunternehmen der Familie Schichtl auf der Fuchsenwiese, deren Programmankündigung »Heute Hinrichtung!« auch 2019 das (Oktoberfest-)Publikum noch in das Theaterzelt lockt.16 Um die Mitte des 19. Jahrhunderts erhält das Erlanger Publikum ein wesentlich besseres Zeugnis: »Der Geschmack ist einer Universitätsstadt würdig. Possen und Trivialitäten, sie mögen Wiener oder Berliner Ursprungs sein, finden keine Gnade vor den Augen eines Publicums, das in sittlicher Bildung viele große Städte überragt. Die Gesellschaft bewahrt noch die feine Weise des Umgangs, die man sonst den Ton der guten Gesellschaft nannte, und selten mehr findet. Jene Colonie der hugenottischen Refugiés führte ihn ein und er hat sich unter den Enkeln noch nicht verloren.« 17 Bis ins 20. Jahrhundert hat sich die positive Einschätzung des Erlanger Publikums erhalten, wie diese Äußerung Elisabeth Bergners anlässlich eines Gastspiels verdeutlicht: »Das Spiel in Erlangen ist jedesmal ein Fest, weil man spürt, dass auch diesen Menschen die Begegnung mit der Kunst ein Fest ist.«18
15 Georg Friedrich Rebmann: Briefe über Erlangen, Frankfurt / Leipzig 1792 S. 88f. 16 U nter dem Slogan »Auf geht’s beim Schichtl« wird die »Enthauptung« auf offener Bühne noch heute zelebriert (vgl. URL: https://www.schichtl.by/auf-geht’s/die-guillotine.html [zuletzt abgerufen am 11. Oktober 2019]). 17 Vgl. R. Blum / K. Herloßsohn / H. Marggraff: Allgemeines Theater-Lexikon, S. 194. 18 W ilhelm Hilpert: »Die Erlanger Opernbühne – Romantisches Theater«, in: Gemeinnütziger Verein Erlangen (Hg.), Markgrafentheater Erlangen. Die Jahre von 1969 bis 1979, Erlangen 1979, S. 12–21, hier S. 12.
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Der übelgeplagte Niemand, oder die Auflösung der Frage: Wer hats gethan?19 – Das Theaterpersonal Schlägt man die Veröffentlichungen des Gemeinnützigen Vereins (gVe) zum Markgrafentheater Erlangen 1969 bis 1989 auf,20 so finden sich lange Listen von Stücken, Theatern und Namen von Schauspielern und Regisseuren. Manche sind dem Leser heute noch vertraut, viele gerade den jüngeren Zuschauern unbekannt. Für den gesamten hier besprochenen Zeitraum von 1700 bis 1999 sind einige hundert Namen von Truppen und Darstellern überliefert. Wer die Prinzipale, Direktoren, Schauspieler, Musiker oder Luftspringer waren, welche Biografie sich hinter jedem einzelnen Namen verbirgt, lässt sich hier (und auch sonst) kaum darstellen. Von Interesse ist allerdings die Herkunft der Truppen und Schauspieler: bereits zwischen 1700 und 1850 gastierten in Erlangen Truppen von Altdorf über Frankfurt am Main und Prag bis Wien. Durch den für den Theaterbetrieb der Zeit charakteristischen steten Wechsel der Truppen und des Personals innerhalb der Truppen wurde ein variables Repertoire ebenso sichergestellt wie Abwechslung der Spielstile und Ausstattung. Ab 1850 trat dann eine gewisse Stagnation durch die regelmäßige Bespielung durch das Nürnberger Theater ein: Abwechslung über die Spielplangestaltung und den Personalwechsel des Nürnberger Theaters hinaus boten hin und wieder Einzelgastspiele. Ab der Jahrhundertwende und vor allem ab den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde der rege Austausch mit anderen Städten und Ländern durch Gastspiele sowie internationale Festivals intensiviert, die auch nach Gründung eines eigenen Ensembles gepf legt werden. All das Theaterpersonal, das hinter und zwischen den Kulissen beschäftigt war, ist weitgehend unbekannt, manche Berufsgruppen wie Zettelträger oder Lichtputzer sind heute ausgestorben. Das technische Personal wurde bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Regel aus dem Kreis der örtlichen Handwerker rekrutiert, die sich durch die Arbeit als Zimmerer, Kulissenschieber oder Maschinist ein Zubrot verdienten. Das städtische Musikkorps konnte für Opernaufführungen angemietet werden,21 und es ist nicht auszuschließen, dass die in Erlangen stationierten Garnisonen bei personalaufwendigen Stücken als Statisten herangezogen wurden, wie es in anderen Städten häufig üblich war. Erlanger Garderobieren arbeiteten und arbeiten oft jahrzehntelang im Theater. Auch 19 Theaterzettel einer Vorstellung der Schauspieltruppe von Johann Andreas Weidner 1749 im Redoutensaal. Stadtarchiv Erlangen, XXXVII.2.T.2. Zu den Erlanger Theaterzetteln als historische Quelle siehe auch den Beitrag von Siliva Buhr im vorliegenden Band. 20 Gemeinnütziger Verein Erlangen (Hg.): Markgrafentheater Erlangen. Die Jahre von 1969 bis 1979, Erlangen 1979; Gemeinnütziger Verein Erlangen (Hg.): Markgrafentheater Erlangen. Die Jahre von 1979 bis 1989, Erlangen 1989. 21 Vgl. R. Blum / K. Herloßsohn / H. Marggraff: Allgemeines Theater-Lexikon, S. 194.
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während der langdauernden Periode des Gastspielbetriebes war also immer eine gewisse Anbindung des Theaters an die Stadt und seine Bürger gegeben.
Das Gespräch im Reich der Toten, 22 oder: Das Repertoire Ein Großteil des historischen Repertoires ist für den heutigen Theaterbesucher ähnlich unverständlich, wie es die Hieroglyphen vor Entdeckung des Steins von Rosetta für die Altertumsforscher waren. Die Masse der heute zum großen Teil unbekannten und ungespielten Stücke lässt sich nur als Ausdruck und bestimmendes Element des Theaterbetriebes der jeweiligen Zeit verstehen. In der älteren Literatur, die häufig noch von der für dramatische bzw. theatralische Produktionen inadäquaten Wertungskategorie des »Werks« als künstlerische Einzelleistung mit überzeitlichem Wert ausgeht, wird je nach Autor der von Possen und Lustspielen bestimmte Spielplan des 18. und 19. Jahrhunderts von »vulgär« bis »trivial« eingeschätzt. Neuere Ansätze – v. a. die quantitative Spielplanforschung23 – suchen andere Wege. Welche Bedingungen des Theaterbetriebes spiegeln sich im Spielplan, welche Funktionen erfüllen Aufführungen verschiedenster Art für das Publikum, die Theaterschaffenden und im größeren historischen Kontext? Wie waren die Aufführungen oder Textvorlagen der bisher als trivial kategorisierten Theaterereignisse überhaupt beschaffen? Wie gestaltete sich das Repertoire der verschiedenen Erlanger Bühnen seit 1700? Um diese Fragen zu beantworten, wurde ein Repertoireverzeichnis für den Zeitraum von 1700–1999 erstellt.24 Erfasst werden konnten bisher 3120 Aufführungen.25 Diese für den Zeitraum von fast 300 Jahren relativ geringe Zahl von erfassten Aufführungen kann nur als Basis für die Bildung von Hypothesen zur Einschätzung des Erlanger Theaterbetriebs im theaterhistorischen Kontext verwendet werden. Beispielhaft für den Erlanger Spielplan des 18. Jahrhunderts sei hier ein Stücktitel in voller Länge wiedergegeben: 22 Theaterzettel einer Vorstellung der Ußlerschen Schaubühne im Altstädter Rathaus im Juni 1851, Stadtarchiv Erlangen, XXXVII.4.T.7. 23 Vgl. Andrea Heinz: Quantitative Spielplanforschung. Neue Möglichkeiten der Theatergeschichtsschreibung am Beispiel des Hoftheaters zu Coburg und Gotha (1827–1918), Heidelberg 1999. 24 E ine Ergänzung und Fortsetzung über das Jahr 1999 hinaus ist ein Desiderat für zukünftige Forschungen. 25 E rfasst wurden: Aufführungsdatum, Titel, Autor der Überarbeitung und der Vorlage, Librettist, Komponist, Gattung, Zahl der Akte oder Aufführungsdauer, Produktionsform (Eigenproduktion, Einzel- oder Truppengastspiel), Besonderheiten, Gastdarsteller, Regisseur, Spielstätte (Name, Platzkapazität, Betriebsform, Bühnenform, Leitung), jeweils mit Quellennachweisen.
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»Der dumme Herr und kluge Knecht, oder: Der seinem Wunsch selbsten schädliche Liebhaber da nemlich Hanns-Wurst seinem Herrn den gesuchten Liebes-Vortheil mehr als funfzehenmal in die Hände spielet, so aber allezeit von dem klug-seyn wollenden in der That aber einfältigen Amanten selbst wieder verscherzet wird; bis es endlich durch unermüdeten Fleiß des durchtriebenen Dieners so glücklich gelinget, daß der durch einen verstellten Briefträger hintergangene Docter, freywillig in die Neigung des schwach begeisterten Courtesans einstimmet, und bezeuget: Wer ohne Klugheit carressirt, Gleichte einem Reuter ohne Sporen; Wan fremde Hülf nicht secundirt, So ist oft Hopf und Malz verloren.«26 Der umfangreiche Titel des Stückes bietet zugleich eine Inhaltsangabe, da die an den Haustüren von Zettelträgern verteilten Theaterzettel als Werbeträger für die Aufführungen dienten. Der Titel sollte die Neugier potenzieller Zuschauer wecken und – in diesem Falle – ihre Schritte zum Quartier des Direktors in das Gasthaus Zum Goldenen Apfel lenken, wo der Vorverkauf abgewickelt wurde. Der Schluss des Titels bietet dem potenziellen Zuschauer eine Interpretationshilfe zum Verständnis des Stückes – die Lehre wird mitgeliefert. Die Hauptfiguren: Hanswurst, ein Doktor (Vater der potenziellen Braut), der Verliebte und die Geliebte verweisen auf die Figurentypen der aus Italien nach Deutschland eingeführten Commedia dell’arte bzw. der Stegreif-Komödien in ihrer Tradition. Die genannten Figuren gehörten zum Personalbestand zahlreicher Possen und riefen einen Wiedererkennungseffekt bei den Zuschauern hervor.27 Innerhalb der Wandertruppen, und eine solche führte dieses Stück im Altstädter Rathaus 1750 auf, bildeten sich Spezialisierungen für einzelne Figurentypen heraus – die Rollenfächer, die sich in verschiedenen Varianten bis zur Wende zum 20. Jahrhundert hielten: die lustige Figur, Bonvivants, Heldenmütter und Erste Liebhaber sind Beispiele dieser professionellen Spezialisierungen. Die zunächst gleichbleibenden Grundcharaktere der Figuren ermöglichten den Spielleitern bzw. Autoren die rationelle Erfindung immer neuer dramatischer Konstellationen. Schnelligkeit bei der Produktion neuer Spielvorlagen war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts für Theaterbetriebe und Autoren existentiell: Nur durch kurze Probezeiten und raschen Stückwechsel konnte das Publikumsbedürfnis nach sogenannten »Novitäten« (Neuheiten) auf 26 Vgl. Theaterzettel einer Aufführung der Hoch-Teutschen Comoedianten unter der Prinzipalschaft von Christian Schulz vom September 1750 im Altstädter Rathaus; Stadtarchiv Erlangen, XXXVII 3.T.4. 27 Hingegen setzte sich die Nennung der Darstellernamen auf den Theaterzettel flächendeckend erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts durch, d. h. zu einer Zeit, in der im deutschsprachigen Raum mit ca. 35 Hoftheatern und zahlreichen (semi-)permanenten Spielstätten ein dichteres Netz von Theatern entstanden war, als in den meisten Nachbarländern. Jetzt begannen die Schauspieler, ihren professionellen Status verbunden mit gesellschaftlicher Anerkennung einzufordern – ein Prozess, der bis heute nicht als abgeschlossen gelten kann.
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der Bühne befriedigt werden, eine Funktion, die heute partiell die Filmindustrie übernommen hat. Handlungselemente, wie sie der oben genannte Stücktitel bietet: eine Liebesgeschichte, Verkleidungen und Verwechslungen, gefolgt von einem Happy-End, und wiederkehrende Figurentypen machen noch heute den Reiz vieler (Boulevard-)Komödien aus. Parallel zu den spielplanbeherrschenden Varianten des komischen Genres (Posse, Burleske, komische Pantomime, Lustspiel und Komödie) bevorzugte das Erlanger Publikum musiktheatrale Formen. Neben der v. a. im Hoftheater gepf legten Italienischen und Deutschen Oper standen regelmäßig auch französische Opern, Singspiele und sogenannte »musikalische Schauspiele«28, später auch Vaudevilles, Operetten und Musicals auf dem Spielplan. Beliebt waren Werke mit exotischem Dekor, so z. B. Piccin[n]is Oper in zwei Akten: Die Seefahrer, oder: Die schöne Sclavin (1773).29 Mozarts Die Entführung aus dem Serail (1782) ist ein weiteres, heute noch bekanntes Beispiel. Der relativ große Anteil an musiktheatralen Produktionen charakterisiert den Erlanger Spielplan bis weit ins 20. Jahrhundert und unterscheidet ihn vom Theaterangebot vergleichbarer Städte. Auch wenn häufig eine Polarisierung des Interesses auf Lustspiele einerseits, Opern und Operetten andererseits anzutreffen ist, so erscheint die Dominanz der Genres in Erlangen als Ausdruck einer stark an der Musik orientierten Bürgerkultur, wies doch bereits Pongratz30 auf das breite Netzwerk von Musik- und Gesangsvereinen im 18. und 19. Jahrhundert hin. Die starke Abnahme des Theaterbesuchs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – zu einer Zeit, in der andere Städte geradezu einen Theaterboom erlebten – und die Beherrschung der wenigen Abonnementsvorstellungen durch Opern und Operetten lassen eine Konkurrenzsituation zwischen den Veranstaltungen der musikalischen Dilettantenvereine und dem kommerziellem Theaterbetrieb vermuten. Trauerspiele, Tragödien, oder die andernorts noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts so verbreiteten Haupt- und Staatsaktionen finden sich selten im Erlanger Repertoire. Sie wurden fast ausschließlich bei Dedikations- (Widmungs-)Vorstellungen zu Ehren des städtischen Magistrats (dem Verwaltungsorgan, das über die Vergabe der Spielkonzession entschied) auf den Spielplan gesetzt.31 28 Dabei handelte es sich um durch zahlreiche Arien unterschiedlicher Provenienz angereicherte Dramen, ähnlich den Vaudevilles und Quodlibets des 19. Jahrhunderts. 29 Vgl. A. Ertel: Erlanger Theaterleben, S. 104. 30 A. Pongratz: Musikgeschichte Erlangens, S. 229–232. 31 Während der Auseinandersetzungen um eine Literarisierung des Theaters im Laufe des 18. Jahrhunderts, einer Tendenz, die durch die Behörden in der Regel geschätzt wurde, weil sie die Überwachung der Aufführungen erleichterte, erschien es als kluge Geschäftspraxis, beim Antrag auf Erteilung einer Spielerlaubnis zumindest einige »literarische Dramen« (z. B. Gottscheds Der sterbende Cato) im Repertoire anzugeben, auch wenn die Publikumsresonanz zumeist gering blieb.
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Die Dominanz des komischen Genres und des Musiktheaters im Erlanger Spielplan blieb bis zum Ende des 2. Weltkriegs weitgehend erhalten. Interessanterweise änderte sich die Repertoiregestaltung auch während der Zeit nationalsozialistischer Kulturpolitik 1933 bis 1945 auf den ersten Blick kaum. Wie Kootz in seiner differenzierten Studie nachweisen konnte, wurde eine kontinuierliche Publikumsbindung durch die Beibehaltung etablierter Spielplanstrukturen erreicht.32 Explizit faschistische Dramatik, wie z. B. Hanns Johsts Schlageter (1932) findet sich – statistisch gesehen – relativ selten auf dem Spielplan.33 Dagegen fand eine sog. »Säuberung« des Spielplans von zur faschistischen Ideologie nicht kompatiblen Werken statt, scheinbar zweckfreie Unterhaltung trat an ihre Stelle: »Franz Lehárs Operette Schön ist die Welt, im Oktober 1941 in Erlangen gezeigt, ist symptomatisches Beispiel für die Ablenkungsfunktion eines auf Unterhaltung bauenden Spielplans in Anbetracht der Kriegsapokalypse und der Zeit der ›Endlösung‹.«34 Parallel hierzu wurde das verbleibende Repertoire, insbesondere der Kanon der sogenannten »Klassiker«, der nationalsozialistischen Ideologie angeglichen, die regelmäßigen Gastspiele der Nürnberger Bühne und die Theatertätigkeit der NS-Kulturgemeinde bzw. der »NS-Gemeinschaft« Kraf t durch Freude taten ein Übriges.35 Bereits im Dezember 1945 wurde der durch die Nationalsozialisten aufgelöste Gemeinnützige Verein Erlangen, der seit seiner Gründung 1876 maßgeblich für die Spielplangestaltung des Markgrafentheaters verantwortlich war, erneut gegründet. Er verpachtete das ihm von der Stadt überlassene Theater an Albert Doerner und Elly Probst, die ein eigenes Ensemble gründeten und innerhalb kürzester Zeit den Nachholbedarf des Erlanger Publikums an zeitgenössischer Dramatik zu stillen versuchten.36 Die sogenannten »Klassiker der Moderne« wurden, z. T. in Zusammenarbeit mit der 1946 ins Leben gerufenen Studiobühne der Universität, inszeniert: Anouilh, Beckett, Brecht, Sartre, Borchert seien hier nur stellvertre-
32 Vgl. W. Kootz: Theaterkränzchen, S. 189–191. 33 Allerdings wurde das Stück bereits am 4. Mai 1933, zwei Wochen nach seiner Uraufführung in Berlin, von der Kampfbundbühne Bayern zusammen mit dem Gemeinnützigen Verein auf die Bühne des Markgrafentheaters gebracht. Vgl. W. Kootz: Theaterkränzchen, S. 217–219. 34 Vgl. ebd., S. 189–191. 35 Vgl. ebd., S. 190f. 36 Während der ersten sechzehn Monate ihrer Tätigkeit wurden 272 Aufführungen realisiert. Vgl. O. Hiltl: »Erlanger Theaterleben«.
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tend genannt.37 Früher als in anderen Städten, die zunächst Theatergebäude wiederauf bauen oder neu schaffen mussten und erst gegen Ende der 1940er Jahre ein vergleichbares Repertoire boten, wurden die Erlanger Theaterbesucher mit zeitgenössischer Dramatik und Regie vertraut gemacht. Nach dem Konkurs des Theaterunternehmens Doerner / Probst 1949 war das Publikum wieder auf Gastspiele angewiesen. Die Schwerpunkte des Spielplans änderten sich im Vergleich zum 18. und 19. Jahrhundert: Ergänzend zu und sicherlich auch herausgefordert durch die Konkurrenz der bis 1968 jährlich stattfindenden Internationalen Theaterwoche der Studentenbühnen38 wurden neben sogenannten Klassikern und unterhaltenden Genres verstärkt zeitgenössische Stücke geboten. Weiss, Turrini, Walser, Handke, Dürrenmatt, Bond erscheinen bis in die 1970er Jahre regelmäßig auf dem Spielplan, werden aber gegen Ende der 1970er Jahre wieder stark von z. T. eher traditionell strukturierten Produktionen der zahlreichen Tourneetheater verdrängt. Obwohl bereits seit 1976 ein stehendes Ensemble – zunächst im Theater in der Garage, später unter dem Namen Theater Erlangen – besteht, wurde gerade das Markgrafentheater bis in die 1990er Jahre immer noch hauptsächlich als Gastspielhaus wahrgenommen. Nicht zuletzt aus diesem Grund wurde der städtische Theaterbetrieb durch den Intendanten Hartmut Henne 1999 in ensemble theater erlangen umbenannt. Die Intendantinnen Sabina Dhein (2002–2009) und Katja Ott (seit 2009) schärften das künstlerische Profil des Theaters und etablierten durch theaterpädagogische Angebote und Theaterprojekte mit Bürgerpartizipation eine starke Bindung der Bürger an das Theater. Markgrafentheater und Garage boten und bieten darüber hinaus regelmäßig Platz für Festivals, wie das renommierte Internationale Figurentheaterfestival, die Sechs-Tage-Oper, Arena... der jungen Künste, Podium Freie Szene und zahlreiche Sonderreihen. Sowohl das Markgrafentheater als auch die anderen Erlanger Bühnen und freien Gruppen bieten ein breites Spektrum an Theaterangeboten für verschiedene Zielgruppen, das in seiner Fülle hier nicht dargestellt werden kann. Im Überblick lässt sich ein grundsätzlicher Wandel im Repertoire feststellen: während im 18. Jahrhundert »Komödie« – als beherrschende Gattung – oft synonym für »Theater« gebraucht wurde,39 vollzieht sich im 19. und 20. Jahrhundert ein weitgehender Differenzierungsprozess bis hin zur Auf lösung von Gattungs37 Zur Erlanger Studiobühne siehe auch den Beitrag von Hans-Friedrich Bormann im vorliegenden Band. 38 Zur Internationalen Theaterwoche siehe auch den Beitrag von Lea-Sophie Schiel im vorliegenden Band. 39 E in Beispiel für die Definition unterschiedlichster Schauereignisse durch den Begriff Komödie: »Unter den Komödien begreife ich alle weltliche und geistliche Schauspiele. Dazu gehören Gaukler, Taschenspieler, Seiltänzer, Marionetten, Komödien, Tragödien, Charfreitagsprozessionen, Fronleichnamsprozessionen, Mirakelwirkereien etc. etc. etc.« (Johann Pezzl: Reise durch den Baierschen Kreis, Salzburg 1784, S. 224.)
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grenzen, so dass die Frage: »Was ist Theater?« kaum noch widerspruchslos zu beantworten ist.
Der schriftliche Aufsatz, 40 oder: Die buchstäbliche Auslegung41 Wie der Titel des Aufsatzes schon ankündigte, konnten hier nur einige Skizzen zur Erlanger Theatergeschichte gegeben werden, die hoffentlich die Neugier auf weitere Aspekte des Themas geweckt haben – Vollständigkeit konnte und sollte nicht das Ziel sein. Die Entwicklung einiger vorläufiger Hypothesen zur Erlanger Theatergeschichte sei jedoch erlaubt (von einer buchstäblichen Auslegung bitte ich abzusehen): 1. Der Spielplan bis 1800 entspricht dem Theaterbetrieb der Zeit: der Pf lege der kostspieligen Oper widmete sich vornehmlich das finanzkräftigere Hoftheater, außerdem wurde in Hof- und Geschäftstheatern v. a. die Komödie in vielen Varianten bevorzugt. Daneben wurden andere Unterhaltungsformen, z. B. Stimmenimitationen, Puppenspiele, Karnevalsveranstaltungen u. ä. m. rezipiert. 2. Während in vergleichbaren Städten spätestens um die Mitte des 19. Jahrhunderts – oft durch Bürgervereinigungen oder Aktiengesellschaften – stehende Theater gegründet wurden, garantierte erst die Gründung des Gemeinnützigen Vereins 1876 einen regelmäßigen Spielbetrieb. Das späte Engagement der Bürger für den Theaterbetrieb ist ungewöhnlich. Ob es auf prinzipielle Vorbehalte der protestantisch geprägten Einwohner gegen das Theater, auf die Konkurrenz durch andere Unterhaltungsangebote (Figurentheater, Kuriositätenschauen, Bergkirchweih, Konzertveranstaltungen etc.) innerhalb der Stadt oder in den angrenzenden Städten zurückzuführen ist, muss durch weitere Forschungen geklärt werden. Die geringe Aufführungsfrequenz bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts widerspricht der allgemeinen theaterhistorischen Entwicklung. 3. Die Etablierung eines eigenen Ensembles bzw. städtisch subventionierten Theaters erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich nicht durch mangelndes Zuschauerinteresse erklären, da das Gastspielangebot in Erlangen und das Theaterprogramm der umliegenden Städte Nürnberg, Fürth und 40 Der schriftliche Aufsatz, oder: Jost von Bremen, ein Lustspiel in 2 Akten von Eckart, wurde 1782 von Felix Berners Deutscher Gesellschaft junger Schauspieler in Erlangen gespielt. Vgl. A. Ertel: Erlanger Theaterleben, S. 106. 41 Wie machen sie’s in der Comödie, oder: Die buchstäbliche Auslegung, Lustspiel in einem Akt von Brömel, durch die Medoxx’sche Schauspielergesellschaft 1787 in Erlangen auf die Bühne gebracht. Vgl. A. Ertel: Erlanger Theaterleben, S. 109.
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Bamberg von den zunehmend mobiler gewordenen Zuschauern gut angenommen wurde. Eigenproduktionen wagte man zunächst im Bereich Kinderund Jugendtheater in der Garage. Möglicherweise ist der Ausbau des Ensembles und die zunehmende Bespielung des Markgrafentheaters zu einer Zeit, in der andere Gemeinden bereits den Sparkurs eingeschlagen hatten, durch die besondere Situation der Stadt Erlangen im Großraum Nürnberg – Fürth – Schwabach zu begreifen: durch ein Ensemble konnte die kulturelle Eigenständigkeit der Stadt im dichten Netzwerk wirtschaftlicher, politischer und kultureller Kooperation akzentuiert werden. Obwohl die Entstehung eines stehenden Theaters mit eigenem Ensemble in Erlangen offensichtlich ein langwieriger Prozess war und erst die letzten Jahrzehnte wieder die Entwicklung einer vielschichtigen Theaterkultur mit sich brachten, wie sie schon im 19. Jahrhundert mit dem Stadttheater, dem Sommertheater und verschiedenen Gasthausbühnen existiert hatte, so scheint doch eine Konstante für das hiesige Theaterleben substantiell zu sein: die Unterstützung durch die Bürger der Stadt. Dies belegt schon das Widmungsgedicht zur letzten Vorstellung einer Gastspielreihe aus dem 18. Jahrhundert. In beschwörendem Tonfall appelliert die Prinzipalin an die Großzügigkeit der Erlanger: »Wir nehmen also an die hohen gnaden Zeichen Mit unterthänigem Danck. Die treuen Wünsche steigen Zum weißesten Geschick: das bring Euch wieder ein Was Ihr an uns gewandt; das soll der Abschied seyn. Doch hoffen wir, daß Ihr uns Euer Angedencken Und künftig neuen Schutz, und Beyfall werdet schencken. Wir aber rühmen stets die ganz besondre Gnad. Der Himmel segne Euch, und diese werthe Stadt. Der letzte Wunsch entspringt aus danckbarem Gemüthe Erlangen grün und wachs in stets vollkommner Blüthe.« 42
42 Theaterzettel zu einer Vorstellung von Die römische Lucretia einer ungenannten Wandertruppe mit Prinzipalin und Andreas Weidner als Entrepreneur (Unternehmer) der Spielstätte, wahrscheinlich von 1774. Stadtarchiv Erlangen, XXXVII, 1.T.22.
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Quellenverzeichnis (Stadtarchiv Erlangen, Signatursystem 1999) Theaterzettel einer Vorstellung der Schauspieltruppe von Johann Andreas Weidner 1749 im Redoutensaal: XXXVII.2.T.2. Theaterzettel einer Aufführung der Hoch-Teutschen Comoedianten unter der Prinzipalschaft von Christian Schulz vom September 1750 im Altstädter Rathaus: XXXVII 3.T.4. Theaterzettel zu einer Vorstellung von Die römische Lucretia einer ungenannten Wandertruppe mit Prinzipalin und Andreas Weidner als Entrepreneur (Unternehmer) der Spielstätte, wahrscheinlich von 1774: XXXVII, 1.T.22. Theaterzettel einer Vorstellung der Ußlerschen Schaubühne im Altstädter Rathaus im Juni 1851, XXXVII.4.T.7.
300 Jahre Theaterwerbung in Erlangen – eine kommentierte Zeitreise 1 Silvia Buhr Theater braucht Publikum – und dieses muss über Vorstellungen vorab in Kenntnis gesetzt werden. Theaterwerbung trifft folglich einen Aspekt, der eigentlich ein nicht unwesentlicher Teil der Theaterarbeit sein sollte und dennoch lange mit Skepsis betrachtet wurde. Unter der Devise »Spielt man gut, ergibt sich alles Weitere von selbst«2 wollten sich Theaterschaffende von profaner Marktreklame absetzen und doch blieb es stets erforderlich, über anstehende Veranstaltungen zu informieren. Die Notwendigkeit einer »Einladung zum Besuch«3 ist somit fast so alt wie das Theater selbst, hat sich im Laufe der Zeit aber immer wieder verändert, wobei gesellschaftlicher Wandel und geistig-künstlerische Bewegungen ebenso relevant sind wie technische und wirtschaftliche Bedingungen, politische Gegebenheiten und kulturelle Umbrüche, welche auf die Bildung einer Zuschauerschaft4 zurückwirken. Bedeutsam für die Gestaltung der Theaterwerbung ist außerdem die betriebliche Organisationsform – Hoftheater, Wandertruppen, Gastspielbetrieb oder ein stehendes Ensembletheater fordern einen jeweils anderen Habitus der 1 Der Aufsatz resultiert aus den Arbeiten zur Vorbereitung der Ausstellung Was für ein Theater! 300 Jahre Markgrafentheater in Erlangen im Stadtmuseum Erlangen vom 9. Dezember 2018 bis 14. April 2019 und einem Vortrag zum Thema »300 Jahre Theaterwerbung in Erlangen«, den die Autorin ebd. am 28. Februar 2019 im Rahmenprogramm gehalten hat. 2 Vgl. auch die Ausführungen in einem Vortrag von Claus Helmut Drese: »Theater und Werbung« zur Eröffnung der Internationalen Theaterplakat-Ausstellung anlässlich der Jahreshauptversammlung des Deutschen Bühnenvereins in Stuttgart 1964, in: Die Deutsche Bühne, Heft 7/8 (1964), S. 139–141, hier S. 139. 3 So die Eingangssequenz in der o. g. Ausstellung. In einem ausstellungsergänzenden Bereich »Erlanger Theaterplakate – eine Zeitreise« wurde eine Plakatauswahl von 1946 bis 2018 präsentiert, weshalb auch dies in den Aufsatztitel eingehen sollte. Vgl. Silvia Buhr: »Erlanger Theaterplakate im Wandel der Zeiten«, in: Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.), 300 Jahre Theater Erlangen. Vom hochfürstlichen Opernhaus zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2019, S. 188–195. 4 Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden in diesem Aufsatz die männlichen Stammformen verwendet, weibliche Vertreterinnen und Transgender sind selbstverständlich stets einbezogen.
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Ansprache, der das jeweilige Selbstverständnis des betreffenden Theaters zum Ausdruck bringt. Die daraus entstandenen Zeugnisse wiederum, von denen hier die Theaterzettel und die späteren Theaterplakate im Zentrum stehen sollen, weisen weit über Programme und Spielplanvorlieben hinaus; sie vermitteln ein sich wandelndes Werk- und Theaterverständnis, spiegeln Zuständigkeiten und Kompetenzen, Zwänge und Verbindlichkeiten des Schauspielerstandes. Ziel ist es, diese Entwicklungen nachzuzeichnen und in groben Zügen anhand exemplarischer Beispiele aus der über 300-jährigen Erlanger Theatergeschichte zu erläutern.5
Das »Hoch fürstliche Opern- und Comoedienhauß« – Repräsentanz und Plaisir Zum Karneval 1719 sollte sich der Bayreuther Hof des Markgrafen Georg Wilhelm von Brandenburg-Bayreuth (1678–1726) in Erlangen versammeln, wo am 10. Januar das neue »Opern- und Comoedienhauß« feierlich eröffnet wurde. »Auf gnädigsten Befehl / Des / Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn« – eine Bewilligungsformel, die sich mit unterschiedlicher Referenz noch bis ins 19. Jahrhundert finden sollte – wurde dabei Argenis und Poliarchus »[i]n einer Musicalischen Opera / Auf dem grossen Theatro daselbst« (also »zu Christian-Erlang«) »unterthänigst vorgestellet«6 – eine weitere Formel, die charakteristisch für viele spätere Theaterzettel werden sollte. Eine wirkliche Ankündigungspolitik benötigte das Hoftheater allerdings nicht. Deren Veranstaltungen blieben weitestgehend dem Hofstaat und geladenen Gästen vorbehalten. Ankündigungen in Form von Theaterzetteln sind aus dieser Zeit folglich nicht erhalten. Gedruckt erschienen damals verschiedene Libretti der am Hof aufgeführten Opern. Die Textbücher dieser aufwendig produzierten Barockopern, die oft nur ein- bis zweimal zu besonderen Festtagen aufgeführt wurden, besaßen durchweg repräsentativen Charakter und können als wirkungsvolles Aushängeschild prächtiger Hof haltung gesehen werden. Und sie enthielten durchaus etwas, das unter dem Begriff Theaterwerbung subsumiert werden kann. So trugen die Publikationen ein Frontispiz mit ausführlicher Widmung an die Gastgeber unter Angabe des Anlasses wie auf der schon zitierten Veröffent5 Z wangsläufig bleiben dabei erzwungene Lücken; jede historiografische Recherche kann nur auf das über die Zeitläufe erhaltene Material zurückgreifen. Wie das Theater für den Augenblick der Aufführung lebt, ist die Reklametätigkeit momentbezogen und wurde meist wenig in ihrem dokumentarischen Wert gesehen. 6 Argenis und Poliarchus, Bayreuth 1719; BSB, 2 P.o.germ. 58,8; Digitalisat, URL: http://mdz-nbn-resol ving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10943735-6 [zuletzt abgerufen am 22. Juli 2019].
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lichung zum »Carneval / Welcher in dem 1719.ten Jahr zu Christian-Erlang / gehalten wurde.«7 Dargeboten wurde das huldigende Vorblatt wie die »Musicalische Opera« in deutscher Sprache, so wie es in Bayreuth unter Markgraf Georg Wilhelm und seiner Frau Sophia, geborene von Sachsen-Weißenfels (1684–1752), an deren Hof die deutsche Barockoper gepf legt wurde, üblich war. Auf dem Druck wird die kunstbef lissene Gattin hingegen nicht erwähnt; im Zentrum steht hier allein der Markgraf, der mit sämtlichen Titeln und Ämtern auch eines »bestellten General-Feld-Marschalls / Generals der / Cavallerie und Obristens über drey Regimenter / zu Roß und Fuß«8 gewürdigt wird. Selbst »Carnevals-Lustbarkeiten« waren also keineswegs zweckfreies Plaisir, sondern folgten durchaus strategischen Überlegungen im machtpolitischen Gefüge. Die Allgegenwart politischer Belange sollte Jahre später auch die aus dem preußischen Königshaus stammende Markgräfin Wilhelmine (1709–1758) zu spüren bekommen, die 1731 mit dem zukünftigen Markgrafen Friedrich von Brandenburg-Bayreuth (1711–1763) verheiratet worden war und nun versuchte, dem Bayreuther Hof – standesgemäß und parallel zu der Entwicklung an den großen Höfen Europas – fürstlichen Glanz zu geben. Die weiteren Bayreuther Drucke zeigten sich weltgewandt zweisprachig wie die fortan in italienischer Sprache gesungenen Opern. Noch vor dem großen Theaterumbau wurde 1741 L'Alessandro nell'Indie, »[e]in Musicalisches Schau-Spiel, / Welches / Bey / Dem höchst-erfreulichen Geburts-Tag / Des Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, / Herrn Friedrichs, / Maggrafens zu Brandenburg […] / Auf gnädigsten Befehl / Sr. Königlichen Hoheit […] / Friederica Sophia Wilhelmina […] / zu Christian-Erlang / aufgeführet.«9 Bereits dieser Widmungstext vermag die Stellung anzudeuten, die Wilhelmine im kulturellen Bereich einnahm und spiegelt so auch die Verschiebungen in den Kompetenzbereichen; Organisation und Durchführung der großen musikalischen Feste oblag nicht dem Markgrafen, sondern seiner Frau, der Markgräfin. Ebenso aufschlussreich ist die typografische Form der Ankündigung, welche die Huldigung auf der linken Seite des Doppelblatts in eigenem Duktus ins Italienische überträgt und damit dieselbe Weltläufigkeit signalisiert wie die italienischsprachige Aufführung selbst. So lassen sich soziale, personelle und kulturelle Orientierungen auch an dieser Referenz ablesen. Ähnlich präsentierten sich diese Seiten, als das von Paolo Giovanni Gaspari umgebaute Theater »in dem Carneval des 1744 Jahres« mit dem musicalischen Schauspiel Sirace wiedereröffnet wurde (vgl. Abb. 1), »vorgestellet«, wie es hier 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Der Alexander in Indien, Libretto: Pietro Metastasio, Bayreuth 1741; UBE, H61/RAR.A 17; Digitalisat, URL: http://digital.bib-bvb.de/webclient/DeliveryManager?custom_att_2=simple_viewer&pid= 2737021 [zuletzt abgerufen am 22. Juli 2019].
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hieß, »in Erlang auf dem berühmten neuen Theatro«. Ein Novum war zudem, dass der Text nicht nur den Verfasser der »Poesie«, Andrea Galletti, »Sr. Hochfürstlichen Durchlaucht bestalten Poeten« namentlich benennt, sondern – nach »Argomento«, »Personen« und »Verwandlungen des Schauplatzes« – auch den ausdrücklich Wilhelmine unterstellten Architekten und Bühnenmaler: »Das neue Theatrum, und die obbemeldeten Verwandlungen sind von Herrn Johann Paul Gaßperi aus Venedig, Ihro Königlichen Hoheit theatralischen Mahler und Baumeister, erfunden worden.« (Ebd.) Diese Textdrucke sollten – wie ein Werbeprodukt – weit über die eigentliche Vorstellung hinaus vom kulturellen Niveau am Markgräf lichen Hof zeugen, seinen Glanz und Ruhm spiegeln und in die Welt hinaustragen.
Wandertruppen – Theater unter Reklamezwängen Mehr als die Hof kreise waren wandernde Schauspielgesellschaften auf Werbung angewiesen. Zunächst erfolgte diese durch den Ausrufer. Kam eine Wandertruppe in eine Stadt, zog sie meist mit lautem Spektakel ein. Großsprecherisch wurden Aufführungsort, Spiel und Anfangszeit verkündet, dazu sollte Musik auf die Anwesenden aufmerksam machen, während Arlequin oder Hans Wurst im Vorgeschmack auf die Vorstellungen ihre Späße (Lazzi) trieben. Durchweg turbulente Unterfangen, riefen solche Umzüge bei den Stadtoberen wenig Begeisterung hervor und die Geistlichkeit lehnte das profane, mit Zoten und Zweideutigkeiten durchsetzte Wirken der Wanderkomödianten generell ab. Häufig erhielten Spieltruppen somit nur Spielerlaubnis, wenn sie auf derartige Auftritte verzichteten und nur »anschlügen«. Solche Weisungen förderten die Verbreitung des Theaterzettels als neue Textgattung, die sich trotz mehrfacher Mutation in Gestalt des Besetzungszettels bis heute erhalten hat. Ein seltenes Konvolut noch aus Hofzeiten (1750/1755) ermöglicht einen Blick auf beide Seiten des Erlanger Theaterwesens zur Mitte des 18. Jahrhunderts: die »hohe Bühne« im eigens erbauten »Opern- und Comoedienhauß« und das volkstümliche Theater der Wandertruppen, das auf improvisierten Bühnen im Freien und in Gasthöfen spielte und um 1749–1756, als die Stadtverwaltungen von Altstadt und Neustadt kurzzeitig zusammengelegt waren, auch im Altstädter Rathaus, dem heutigen Stadtmuseum. Diese frühen Theaterzettel, die aus dem Archiv der französisch-reformierten Gemeinde 1925 dem Stadtarchiv übergeben worden sind,10 gestatten Einblicke in Organisationsstrukturen und Geschäftspraktiken um 1750, manifestieren aber auch erste inhaltliche und gestalterische Unterschiede der 10 S tAE, XXXVII.1 ff. Vgl. auch Findbuch Bestand XXXVII.1.T.1 ff. Theaterzettel aus dem 18. Jahrhundert, Vorbemerkung.
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Publikumsansprache, die auf sukzessive Veränderungen im literarischen Zeitgeschmack hindeuten und wechselnden ästhetischen Ansprüchen Ausdruck verleihen. Standen hier Anzeigen im Stil der Hans-Wurst-Spiele, die ihr Vokabular aus dem Stegreifspiel und der Commedia dell'Arte speisten, neben solchen, die den künstlerischen Reformbestrebungen der Zeit zur Hebung der deutschen Literatur nachkamen und meist auch schon sachlich-gediegener annoncierten, so folgten die Wechsel zwischen Spieltraditionen bei den Wanderkomödianten in dieser Epoche der Umbrüche doch nicht nur künstlerischen Vorstellungen, sondern ebenso pragmatischen Marktgesetzen. Gerade die wandernden Schauspielgesellschaften, die ganz auf die Abendeinnahmen angewiesen waren, mussten in jeder Hinsicht Konzessionen machen, die sich in ihrer Werbepolitik zwangsläufig niederschlugen. Charakteristisch für alle Blätter dieses Zeitraums ist, dass sie nicht datiert sind. Der Aufführungstag ist stets »heute«, die Ankündigungen waren tagesaktuell und wurden vor der Vorstellung verteilt, konnten aber auch an belebten Plätzen angeschlagen werden. Solche Aufgaben übernahm der Zettelträger, der ein Tätigkeitsfeld ausfüllte, das im Theaterbetrieb lange Bestand hatte. Noch im 19. Jahrhundert wurden die Anschläge in die Bürgerhäuser gebracht und selbst der Gemeinnützige Verein Erlangen (gVe) musste sich bei der Theaterübernahme 1876 zum Austragen der Theaterzettel verpf lichten.11 Nachträglich datieren lassen sich viele Zettel anhand von Gemeinderechnungen, nachdem jede Wandertruppe beim Magistrat der Stadt um eine (kostenpf lichtige) Spielerlaubnis anhalten musste. Auf den Zetteln spiegelt sich diese Genehmigung in der sogenannten Bewilligungsformel »mit Bewilligung einer hohen Obrigkeit«, »mit gnädigster Erlaubnis« usw. Diese Wendungen sollten sich lange auf den Theaterzetteln finden und haben verschiedene Theatersysteme in ihrer je eigenen Bedeutung und Abhängigkeit überdauert. Die werbende Einladung begann mit einer adäquaten Vorstellung der Truppe, die sich häufig als »Hoch-Teutsche Comödianten« einführte. Einen zusätzlichen Reklamefaktor boten namhafte Spielorte, Herkunft, Gruppenstärke u. Ä. zum Zeichen von Weltläufigkeit, doch vor allem wurden höfische Privilegien als Qualitätsgaranten angesehen. Die eigentliche Attraktion aber lieferten überschwängliche Stückbeschreibungen. Zusehends kristallisierten sich dabei für die Ankündigung Stereotypen heraus, wonach Stücke von einem »bekannten Verfasser« stammten, »alle erdenklichen Vorzüge« besaßen und 11 Zu den Zettelträgern und ihrer sozialen Stellung siehe auch die gedruckten Gedichte der Zettelträger, die diese am Ende einer Spielperiode gegen einen Obulus verteilten. Fünf solcher Drucke des Erlanger »Zettellarius« Leonhard Körzmantel aus den Jahren 1782–1787 haben sich erhalten (UBE, H00/2 HIST 617 aa10[1). Im 19. Jahrhundert kamen die Zettelträger dagegen oft mit den Theatertruppen in die Stadt. Dies belegen auch die in ähnlicher Weise – Information und Werbemittel in einem – von Souffleur/se zum Gastspielende auf eigene Kosten erstellten »Theater-Journale« mit ihren Übersichten über Personal und gespielte Werke (StAE, U.3).
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– wichtig für den Reklameeffekt – stets »neu« und »hier noch nie gesehen« waren. Deutlich spiegelt sich darin auch die Stellung des Theaters innerhalb der Gesellschaft und die Erwartungshaltung dessen, was Besucher auf der Bühne zu sehen wünschten. Damit standen die Theatergesellschaften zwischen den Zwängen von ›Oben‹ (vgl. Spielerlaubnis, Privilegien etc.) und dem Druck des Publikums, denen die Auftritte der von auswärts kommenden Mimen zu diesen Zeiten immer auch einen Blick in die Welt bieten sollten. Dies erforderte von den Prinzipalen ständig neue Innovationen, um die Zuschauer während ihrer Spielzeit wiederholt in die Vorstellungen zu holen. Entsprechend benannten die Zettel Handlungshöhepunkte, spezielle Verwandlungen und Verkleidungen, die »vielfältigen Intriguen« oder »extra guten Lustbarkeiten« und verwiesen selbstverständlich auf das anschließende »Ballett« und die »lustige Nach-Comödie«, mit der das Publikum (»Geehrte Schauer-Zahl!«) positiv gestimmt und wohlgesinnt aus dem Theater entlassen werden sollte. Dieses sogenannte »adoucieren«,12 worauf der Prinzipal gewöhnlich wortreich zur nächsten Vorstellung einlud, war strategisch bedeutsam für künftige Besuche und Empfehlungen. Die persönliche mündliche Ansprache sollte immer einen wirksamen Beitrag zur Theaterreklame liefern. So wurde einerseits hochtrabend in Superlativen gelobt, während der Direktor, der »hierzu gehorsamst invitirte«, seinerseits eine überaus devote Haltung zeigte und dem »hochverehrten Publikum«, deren »geneigten Zuspruch« erhoffend, als »untertänigster Diener« schmeichelte. Mithin dokumentieren die Theaterzettel soziale Hierarchien und den damaligen Status im Verhältnis von Schauspieler und Zuschauer. Nahezu unverzichtbarer Teil dieser Strategien waren die Abschiedsvorstellungen, mit denen die Truppen ihre Spielzeiten vor Ort abschlossen und sich bei Magistrat und Honoratioren für die erwiesene Gunst bedankten. Solche sogenannten »Dedikationsprogramme« waren extrem aufwendig und wurden auch optisch üppig gestaltet. In der Regel großformatig (Doppelfolio) sprechen die Zettel eine deutliche Sprache der Ehrerbietung, wobei in Erlangen die frühe Reverenz speziell an die akademische Bürgerschaft auffällt. »Vivat / Perillustris Academia / Erlangensis! / Dieser freuden-volle Ehren-Ruf / zeiget sich heute / in 12 Vgl. Ludwig Göhring: »Theatervorstellungen im Altstädter Rathaussaal um die Mitte des 18. Jahrh. Ein Beitrag zur Geschichte der Wandertruppen«, in: Erlanger Heimatblätter, Band 11 (1928), Nr. 18, S. 69–71 bis Nr. 23, S. 90, hier Nr. 19, S. 73. In die Theatersprache eingegangen ist aber vor allem das »Annonciren«, mit dem die Stücke des nächsten Tages sowie aktuelle Programmänderungen bekannt geben wurden (vgl. Robert Blum / Karl Herloßsohn / Heinrich Marggraff (Hg.): Allgemeines Theater-Lexikon oder Enzyklopädie alles Wissenswerthen für Bühnenkünstler, Dilettanten und Bühnenfreunde, Neue Ausgabe, Altenburg / Leipzig 1846, S. 482–485; zum »Zettel« ebd., S. 7.928f.). Vgl. auch Ludwig Göhring: »Erlanger Theatervorstellungen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts«, in: Erlanger Heimatblätter, Band 12 (1929), Nr. 35, S. 139f. bis Nr. 38, S. 151f.
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einer Pf licht-schuldigen / Dedications- und Ehren-Comœdie / Dem sämmtlichen respect: Gnädig- und Hohen / Corpori Academico / in Erlangen« (vgl. Abb. 2). Ein »Fest der Dankbarkeit«, zu dem der »Directeur der Gesellschaft« Christian Schultz die genannten Würdenträger im Herbst 1750 auf den »Schau-Platz« im Altstädter Rathaus lud, die nur wenige Jahre nach der markgräf lichen Universitätsgründung in Erlangen 1743 bereits eine herausragende Stellung innerhalb der Gesellschaftsordnung einnahmen.
Das »Hochfürstl. Opernhaus« wird öffentlich Entscheidend änderte sich das Theaterleben in Erlangen, als Markgräfin Sophie Caroline (1737–1817) die Stadt nach dem Tod des Markgrafen Friedrich III. 1764 über 50 Jahre zu ihrer Witwenresidenz machte. In den folgenden Jahren öffnete sie das »Hochfürstl. Opernhaus« zahlendem Publikum und Wandertruppen, die hier jetzt beste Bühnenverhältnisse vorfanden. Für das öffentlich zugängliche Haus wandten sich auch die Theaterzettel an eine partiell andere Klientel und zeugten zugleich vom Wandel der Spielpläne durch die Literarisierung, die mit Dichtern wie Lessing, Goethe, Schiller und dem hierzulande früh adaptierten William Shakespeare neue Wege beschritt. Bereits die erste Truppe, von der Theaterzettel vorliegen, spielte 1780 Minna von Barnhelm und Emilia Galotti »von Herrn Leßing«, Clavigo »von Herrn Göthe« und Hamlet, aus dem Englischen »des berühmten Herrn Sheackespear«,13 sodass das Erlanger Theaterpublikum durchaus auf der Höhe der Zeit war. Insgesamt sachlicher in der Aufmachung folgten der Bewilligungsformel (»mit gnädigster Bewilligung«) nun das genaue Datum und neben Stücktitel und Autor die Personen der Handlung und ihre Darsteller, was letztlich auch dazu beitrug, den Starkult vorzubereiten. Je nach Anliegen der Direktion schloss an diese bald standardisierte Form eine individuell zusammengestellte Einladung an, die reichhaltige Rückschlüsse auf das Theaterwesen der Zeit erlaubt. So wurden Stücke nicht nur inhaltlich vorgestellt und in ihrem Wert gepriesen. Dabei nahmen die heute zur Weltliteratur zählenden Werke stets einen geringen Prozentsatz ein und alle Truppen verfügten über ein breites, je nach Nachfrage gespieltes Repertoire, das vom musikalischen Schauspiel bis zum Lustspiel reichte. Zugleich diente der Theaterzettel als Kommunikationsmittel, auf dem man um »gütige Aufnahme« bat und allgemeine Verhaltensweisen wiederholte. Regelmäßig betont wurde beispielsweise, dass der Zutritt auf das Theater, auch bei Proben, untersagt sei, und keiner, auch »Kinder und Bediente« nicht ohne Bezahlung zugelassen würden. Forthin sind die »Preise der Plätze« klar kategorisiert: Erste (Rang-)Loge, Parterre, Zweiter Rang, Letzter Platz. 13 UBE, H00/2 HIST 617 aa10[1.
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Ferner lieferten die ausführlichen »Nachrichten« zahlreiche Hinweise zur Theaterpraxis, die vom späteren Werkbegriff noch weit entfernt war. Zweifellos einen Höhepunkt in der Geschichte des Erlanger Theaters bedeutete die hiesige Erstaufführung von Friedrich Schillers Die Räuber durch den »Churfürstl. Pfalz-bayrischen Provinzial-Schauspiel-Director« Appelt am 11. Oktober 1783. Im Vorjahr skandalträchtig in Mannheim uraufgeführt, wurde das Stück schnell aufgenommen, auf der Bühne erschien dabei nun »[e]in großes, hier noch nie gesehenes ursprüngliches Trauerspiel […] von Herrn Friedrich Schiller ganz neu bearbeitet«. Der Zettel erläutert: »Da dieses Stück nach der ersten Auflage ohnmöglich für die Bühne brauchbar war, so hat der Herr Verfasser vor gut befunden, dasselbe umzuändern, und brauchbar zu machen. Das Auffallende und Anstössige in dem Charakter des Franzes, und Spiegelbergs ist weggelassen, ohne daß jedoch Herr Schiller diesen beyden Charakters etwas benommen, und sein Stück verlohren hat.« 14 Adeligem und bürgerlichem Publikum, an das die Einladung sich richtete, sollte somit der Weg zum Theaterbesuch frei gemacht werden. Doch nicht nur sozial- und gesellschaftskritische Inhalte wurden seinerzeit für die Bühne bereinigt. Zwei Jahre später spielte die »Hochfürstl. Brandenburg-Anspach-Bayreuthische Hofschauspielergesellschaft« unter der Direktion von Ludwig Schmidt am 11. Juni 178515 »Romeo und Julie« im »Hochfürstl. Opernhaus« (vgl. Abb. 3), nicht in der tragischen Shakespeare-Fassung, sondern als »ein ganz neues, großes, hier niemals gesehenes ernsthaftes Original-Singspiel« von Friedrich Wilhelm Gotter mit »ausserordentlich schöne[r]« Musik von Georg Anton Benda und einem Happy End für die Liebenden, deren »beyde Familien auf immer wieder ausgesöhnet.« Der ausführliche Ankündigungstext verspricht: »Das, was oft ein tief empfindendes Herz bey Vorstellung des Trauerspiels wünschte, – daß nemlich die zwo liebenden Seelen nach der Meynung des Benvoglio sich treffen, leben, froh und glücklich leben möchten – Das hat hier Herr Gotter in seiner vortreflichen Abänderung des Ausgangs, der jedem zarten Gefühle gräßlich und schaudernd war, meisterhaft erfüllt.«
14 Ebd. 15 D er Zettel trägt einen nicht seltenen Druckfehler in der Zeitangabe. Der genannte 10. Juni 1785 war ein Freitag, der angekündigte Sonnabend dagegen der 11. Juni 1785. Direktor Schmidt war am Montag, den 6. Juni 1785 nach Erlangen gekommen und spielte »zum Allerletztenmal« am Mittwoch, den 27. Juli 1785 (nach: Theaterzettelbestand, ebd.).
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Ebenso preisend geht der Direktor auf die Musik ein: »Es ist würklich ein Meisterstück, daß Benda, der Deutsche, hier liefert«, verbunden mit dem werbenden Stolz, »dies herrliche Werk aufführen zu können, das Sie nie gesehen haben und selten sehen werden, weil die Musik zu schwer ist, also daß sie jeder Stümper entweihen kann.« Die Grundelemente der Anpreisung mit lobenden Worten zu Text und Musik und dem Neuigkeitswert des aufgeführten Werkes sind noch die gleichen wie zuvor, nur die Form der Ansprache an das (kenntnisreiche) Publikum hat sich geändert. Aus derselben Zeit stammt der erste erhaltene illustrierte Theaterzettel für das »Hochfürstl. Opernhaus«, der verdeutlicht, dass dieses zunächst keineswegs den Darbietungen der vemeintlich ›höheren‹ Künste vorbehalten war. Neben Schauspielern, Sängern und Tänzern traten damals ebenso Schausteller, Seiltänzer und Akrobaten in den »Tempeln der Kunst« auf. Und diese gehörten zu den Ersten, die sich der Bildsprache zu Werbezwecken bedienten. Das liegt zum einen in der visuellen Tradition der Jahrmarktunterhaltungen begründet, lässt sich zum anderen aber wohl auch mit der plastischeren Darstellbarkeit ihrer Auftritte erklären. Skizziert wurden bevorzugt spektakuläre Attraktionen, die beim Betrachter Interesse wecken sollten. So dokumentiert dieser Kupferstich die Feuerwerksnummer der »Mademoiselle Mariani« auf dem Drahtseil, die im Begleittext nochmals detailliert beschrieben wird (vgl. Abb. 4). Teil der Reklametaktik war zudem die Mehrfachannoncierung letztmaliger Vorstellungen. Verkündete der genannte illustrierte Zettel im Doppelfolio für Samstag den 1. Oktober 1785 ausdrücklich »zum Leztenmahle«, empfahl sich die Gesellschaft bereits am 3. Oktober 1785 in einer schriftlichen Ankündigung – sonntags durfte derzeit durch Kirchenveto noch kein Theater gespielt werden – »auf Begehren« erneut »mit ganz neuen Aequilibrien«; ein wirklich letzter Zettel findet sich dann für den 10. Oktober 1785, als »die von Ihro Kaiserl. Königl. Majestät Joseph dem Zweiten privilegirte Familien-Gesellschaft« noch einmal »auf höchstgnädigstes Verlangen Ihro Hochfürstl. Durchlaucht Sophia Carolina Maria« auftrat, nachdem zuvor schon am 8. Oktober bekannt gegeben worden war: »zum Allerleztenmal«. Entsprechend belegen die vorliegenden Aufführungsdokumente ab 26. September nicht nur das anhaltende Publikumsinteresse, sondern zeigen auch, wie die Spannung dafür auf verbaler Ebene immer weitergetrieben werden sollte.16
16 Vgl. ebd. Die nächsten illustrierten Doppelfoliozettel finden sich in Erlangen erst 60 Jahre später, als das Theater bereits städtisch war. Die Ankündigungsformeln der acrobatischen Künstlergesellschaft Stark unterschieden sich kaum von früheren, auffällig ist jedoch der betonte »Kunst«-Charakter, der mit theaterartigen Szenerien und Vorhang-Zitat gezielt Theaterambiente suggerierte (3 Druckstöcke mit unterschiedlichen Darbietungen, 1844; UBE, H00/2 HIST 617 aa10[2; StAE, XXXVII.101,103,104).
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Theaterwerbung für das »Stadttheater zu Erlangen« 1838 wurde das »Königliche Universitätsschauspielhaus«, das nach dem Tod der Markgräfin Sophie Caroline 1817 zunächst an die Erlanger Universität übergegangen war, an die Stadt verkauft und firmierte fortan über 100 Jahre als »Stadttheater«, wenn auch nicht im heutigen Verständnis eines städtisch geleiteten Betriebs. Gleichwohl änderte sich einiges, als das Theater am 4. Dezember 1838 mit DanielFrançois-Esprit Aubers Oper Die Stumme von Portici wiedereröffnet wurde, und von vielem kündeten – direkt oder indirekt – auch die Theaterzettel (vgl. Abb. 5). Die alten Bewilligungsformeln hatten ausgedient, zentral erschien nunmehr der Theatername »Stadt-Theater in Erlangen« oder auch »Stadt-Theater zu Erlangen«. Dazu rahmte eine in der Folgezeit stetig wiederkehrende Ornamentleiste die Ankündigungen. So wurde ein eindeutig ortsspezifischer Stadtbezug hergestellt, der als erste Form einer lokalen Identitätsstiftung gelten kann. Zudem lassen sich jetzt erstmals Hinweise auf Abonnementsvorstellungen finden, eine konzeptionelle Umstrukturierung der Bespielung, mit der sich auch die Werbepraktiken änderten. In der Regel wurde nicht mehr en suite gespielt, indem das Haus wie zu Zeiten der Markgräfin an eine durchreisende Wandertruppe verpachtet wurde, sondern einmal wöchentlich. Zum Theatertag in Erlangen wurde dabei – wie zahlreiche Zettel belegen – üblicherweise der Dienstag. Direktion und Darsteller reisten meist aus Nürnberg an und sorgten, vielfach unterstützt vom Nürnberger Theater-Orchester, für Kontinuität.17 Auf den Anschlägen trat der Spielplan in dieser Zeit weiter in den Vordergrund. Das explizit anpreisende Moment wich einem steigenden Informationsgehalt, bei näheren Erläuterungen der Direktion zu Gastdarstellern oder besonders hohem Produktionsaufwand häufig verbunden mit einer entschuldigenden Anzeige moderat angehobener Preise für Nichtabonnenten. Ein Anreiz für das Publikum, sich längerfristig an die Bühne zu binden und dieser dadurch letztlich Planungssicherheit zu verschaffen.
Der gVe – Bürgerkultur im Theater »1876. 1901. Stadt-Theater Erlangen.« – »Fest-Vorstellung zur Feier des 25jährigen Bestehens des ›Gemeinnützigen Vereins‹« (vgl. Abb. 6). Der aufwendige Theaterzettel, mit dem der Verein 1901 am Jahrestag der Gründungsversammlung (14. Januar) zu Richard Wagners Die Meistersinger von Nürnberg einlud, spiegelt 17 In das Schema integriert wurden auch Sonderveranstaltungen wie die von der Stadt Erlangen veranstaltete »Säcularfeier der K. Friedrich Alexanders-Universität« am 22. August 1843 mit Festouverture, einem »Allegorischen Festspiel« von E. M. Winterling sowie Gaetano Donizettis Marie, oder die Regimentstochter (Doppelfolio, UBE, ebd.; StAE, XXXVII.98).
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das Selbstverständnis und die Erfolgsgeschichte des Engagements, mit dem sich Bürger 1876 zu einem Erlanger gemeinnützigen Verein (gVe)18 zusammengeschlossen hatten und bereits eineinhalb Monate nach dem »Aufruf an die Bewohner Erlangens« (2. Januar) das sanierungsbedürftige Theater übernehmen konnten. In den nächsten Jahrzehnten ausstattungstechnisch modernisiert, sodass jetzt selbst repräsentative Opern wie Wagners Meistersinger oder Verdis Aida aufführbar waren, scheint die Ankündigung doch weiter zu greifen – ebenso wie die Initiativen des gVe, der das kulturelle Leben der Stadt seither maßgeblich mitbestimmt hat. Zweifarbig in rot und grün mit verspielter Bordüre und Fotografie, wirbt das auch haptisch durch die verstärkte Pappe Exklusivität suggerierende Blatt für eine Veranstaltung, die den Anspruch des Vereins eindrucksvoll demonstriert. Einbezogen wurde hierbei ein »Promenade-Concert« für die Vereinsmitglieder im festlich geschmückten Redoutensaal, wo während einer längeren Pause die Festreden gehalten wurden, Nürnberger Ensemblemitglieder Mozart-Arien vortrugen und die »hiesige vollständige Regiments-Musik« mit Marschmusik aufspielte, bevor das Publikum nach dem eingeschobenen Festakt in fast schon höfisch-barockem Gestus zum Wagner'schen »Festwiesen«-Finale zurück ins Theater zog. Auffällig ist zudem die Wahl des Fotomotivs, das eben nicht das Gebäude zeigt, für dessen Renovierung der Verein so viel geleistet hatte; stattdessen ziert dieses Blatt eine Stadtansicht und hebt auf subtile Weise die gesamtstädtische Ausrichtung des Vereins hervor.19 Zwanzig Jahre später sollte das Theater gefeiert werden, und so luden der »Gemeinnützige Verein und die Intendanz des Stadttheaters Nürnberg«, die der Erlanger Bühne bereits seit Gründung des gVe verbunden war, 1921 mit einem »Festspruch zur Weihe des Tages« von Heinrich Gottfried Gengler und einer Aufführung von Mozarts Così fan tutte zur »Feier des 200jähr. Bestehens unseres Stadttheaters« (21. Februar 1721 bis 21. Februar 1921). Die Ankündigung wirkt auffallend schlicht und im Vergleich zur Gründerzeit geradezu unprätentiös. In jenen wirtschaftlich instabilen Jahren nach Kriegsende weisen auch die Drucke Spuren der ökonomischen Krisen auf und konnten nicht mehr so aufwendig gestaltet werden wie in prosperierenden Zeiten. Doch vor allem fällt der Zeitpunkt der Feierlichkeiten ins Auge. Während 2019 das »300-jährige Jubiläum« Anlass für eine Jubiläumsspielzeit war, zu der diverse Sonderveranstaltungen und nicht 18 Dieser Aufsatz folgt dem heute fest etablierten gVe-Logo von Helmut Lederer, das mittlerweile auch in die allgemeine Schreibweise des Vereins eingegangen ist, nachdem zunächst lange noch GVE verwendet worden war. Anfang der 1990er Jahre erfolgte die Namenserweiterung in Gemeinnütziger Theater- und Konzertverein Erlangen e.V. (gVe). 19 Vgl. hierzu auch den Gründungs-»Aufruf an die Bewohner Erlangens« 1876 (StAE, 32.31.T.1); gVe 100 Jahre. Eine Chronik, Erlangen 1975; Johannes Bischoff: Bürgerinitiative mit Tradition. 100 Jahre kulturelles Wirken des Gemeinnützigen Vereins Erlangen. Bilder und Dokumente. Ausstellungskatalog des Stadtmuseums Erlangen, Erlangen 1976.
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zuletzt die IZÄB-Ringvorlesung Theater in Erlangen projektiert wurden, ging man damals davon aus, dass das markgräf liche Theater während der großen höfischen Feierlichkeiten im Karneval 1721 eröffnet worden sei.20 Aufschlussreich für die Stimmungslage der Zeit ist auch das Programm. Zu Beginn der Weimarer Republik wurde keine patriotische Oper gespielt wie zur Kaiserzeit, sondern das Werk eines Komponisten, dessen Musik schon die frühen Jahre im »Hochfürstl. Opernhaus« mitgeprägt hatte – Wolfgang Amadeus Mozart. Dazu findet sich unten auf dem Theaterzettel »Ein Rückblick!«, der mit Markgraf Georg Wilhelm beginnt und in eine (Selbst-)Darstellung des gVe mündet. »Aber mit der Herrschaft des Markgrafen verging die Blüte des Theaters. […] bis am 14. Januar 1876 weitsichtige Männer […] den gemeinnützigen Verein ins Leben riefen, um das verstaubte und verschimmelte Theater seiner unvergänglichen Aufgabe als einer Stätte geistiger Erhebung und edler Unterhaltung wieder dienstbar zu machen.«21 Zugleich wurde in dieser Dekade für die Ankündigung selbst eine feste Form gefunden. Unmittelbar als Theatereinladung kenntlich machte das alle Theaterzettel in den 1920er Jahren bestimmende schmale Hochformat, im Zeichen städtischer Verortung zudem oben erstmals mit dem Erlanger Stadtwappen. Grafisch wechselte jede Spielzeit der Zierrahmen, was für Abwechslung sorgte und die einzelnen Blätter zeitlich ordnete.22 Direkt werberelevant war der unten angefügte »Anzeiger des gemeinnützigen Vereins« mit der Vorschau auf die nächsten Vorstellungen. Daneben wurde hier auf Interna zur Platzmiete verwiesen, welche die kommunikative Bedeutung aufzeigen, die dem Theaterzettel als Mittler zwischen Theater / gVe und Publikum / Abonnent zukam. Gleichzeitig ref lektierten die Drucke dezidiert wirtschaftliche Belange, nachdem der Erlanger Theaterbetrieb – im Gegensatz zur allgemeinen Entwicklung in Deutschland – mit Ende 20 V gl. auch Ernst Deuerlein: »Zur Geschichte des Erlanger Theaters. 1721 – 21. Februar – 1921«, in: Erlanger Heimatblätter 4 (1921), Nr. 6, S. 26, Nr. 7, S. 33f. Zur historischen Datierung vgl. die Kupferstiche »Accurater Grundriss und Prospect des Hoch-Fürstl. Brandenb. Bayreuthisch. Residenz-Schloss und Lustgarten in Christian-Erlang« von Johann Baptist Homann mit den beiden Randbildern ›Carnevals Lustbarkeiten im Opern und Comoedien-Hauß‹ und ›Carnevals Lustbarkeiten auf dem Redouten-Saal‹ (StAE, VI.J.a.21) und »Carnevals Umzug, welchen der Durchlauchtigste Fürst und Herr, Herr Georg Wilhelm Marggraff zu Brandenb. Bayreuth Ao. MDCCXXI d. 25. Febr. in Christian Erlang gehalten« (StAE, VI.J.a.22). Zu den Jubiläumsfeierlichkeiten 2019 siehe auch K. Felsmann / S. Ziegler (Hg.): 300 Jahre Theater Erlangen; zum gesamten Programm vgl. URL: http://www.theater-erlangen.de/content/bilderpool/programm-300-jahre-te. pdf [zuletzt abgerufen am 22. Juli 2019]. 21 StAE, U.38 (1920/21). 22 Vgl. StAE, U.42 (1924/25)–U.48 (1930/31).
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der Monarchie nicht in städtische Hand gegangen war, sondern, trotz Namensgebung und Stadtwappen, im Verantwortungsbereich des gVe verblieb. Seit der Spielzeit 1927/28 mehrten sich an dieser Stelle Appelle zur Mitgliederwerbung, die nun ebenfalls regelmäßig in die Kopfzeilen eingefügt wurden: »Mahnung an jeden Leser: Werbt Mitglieder für den Gemeinnützigen Verein, der seit 50 Jahren gute Theatervorstellungen und Konzerte großer Künstler zu geringen Preisen vermittelt. Der Anschluss Gleichgesinnter erhöht die Leistungskraft des Vereines.«23
NS-Propaganda im Kulturbetrieb Wenig später zeigt sich auch in der Theaterwerbung, wie die zeitpolitischen Entwicklungen Einf luss auf die Theatergestaltung nahmen. Der gVe, der das Erlanger Theaterleben bislang geprägt hatte, musste seine Kompetenzen noch 1933 an NS-gesteuerte Träger abgeben. Wie vielerorts in Deutschland war auch hier ein »Aufruf zur Rettung des Deutschen Theaters!« erschienen, der sich direkt »An alle Erlanger!« richtete und in unmissverständlichen Worten »völkische[n] Auf bauwille[n]« verkündete.24 Auf den Theaterzetteln lässt sich die sukzessive Vereinnahmung anhand der Kopfzeilen nachzeichnen. Formal blieb während der NS-Zeit die grafische Gestaltung von 1930 bestehen und suggerierte Stetigkeit. Auf jede NS-Symbolik wurde in diesem – vermeintlich unpolitischen – Kunstbereich verzichtet. Die erzwungene Leerstelle findet sich oben auf dem Ankündigungszettel; dort, wo bis Anfang 1933 die »Winterspiele des Gemeinnützigen Vereins Erlangen« ihren Platz hatten, blieb nun ein blankes unbedrucktes Feld, das die Auslöschung des Bürgervereins aus der Theaterplanung geradezu bildhaft sichtbar macht, und dies schon zu einer Zeit, als der Verein noch versuchte, sich mit den politischen Gegebenheiten zu arrangieren.25 Ab Winter 1937/38 übernahm links neben dem 23 StAE, 32.31.T.16. Bezeichnend ist auch, dass der gVe mit seiner »Mahnung« um Mitgliederwerbung angesichts der wirtschaftlichen Notlage noch einmal explizit das Werbemittel anrief, das seit jeher eines der bedeutendsten ist, aber bis heute am wenigsten zu fassen ist, die Mundpropaganda. 24 StAE, 32.31.T.1; vgl. auch Andreas Jakob: »›Moralische Sanierung des Volkskörpers‹. Das Erlanger Theater im Nationalsozialismus«, in: Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.), 300 Jahre Theater Erlangen. Vom hochfürstlichen Opernhaus zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2019, S. 47–50, Abb. S. 48. 25 Vgl. zwei handschriftlich geänderte Exemplare der »Satzungen des Gemeinnützigen Vereins zu Erlangen« mit den Vermerken »abgeändert Juli 1933« bzw. »[a]ußer Kraft gesetzt durch Beschluß der außerordentlichen Mitgliederversammlung am 9. April 1934« (StAE, 32.31.T.1). Neu gedruckt erschienen die »Satzungen des Vereins Deutsche Bühne, Ortsgruppe Erlangen e.V.
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Abb. 1: Sirace, 1744 Stadtwappen der »Kulturring der NS-Gemeinschaft ›Kraft durch Freude‹« die Zuständigkeit.26 Erst in Kriegszeiten sollte die Schriftpraxis durch direkte NS-Propaganda ergänzt werden, die zugleich einige der überhaupt ersten großformatigen Plakate für die Erlanger Bühne hervorbrachte. In Rahmenvordrucken der »NS-Gemeinschaft ›Kraft durch Freude‹, Gau Franken / Kreisdienststelle Erlangen«, wurden jetzt genre- und spielstättenübergreifende Monatsprogramme angeschlagen, in denen sich die Lenkung durch das NS-Regime deutlicher manifestiert als in den herkömmlichen Theatereinladungen. Theater, Konzert, Varieté und vor allem die 1942 eröffnete »Volksbildungsstätte« demonstrieren eine Indoktrinierung aller Bereiche des öffentlichen Lebens. Vortragsreihen, Einzelvorträge und sogenannte »Kulturfilmvorführungen« gewähren heute befremdende Einblicke in den städtischen Alltag während der Kriegsjahre, die im Januar 1943 auch Themen wie »Die Germanen im Osten Europas«, »Das Bild des Todes in der Karikatur des 2. Weltkrieges« oder »Deutsche Heimat im Farbbild« ins Programm brachten.27 Noch demonstrativer in der Überwältigungsstrategie präsentierte sich ein illustrierter Vordruck der »Deutschen Arbeitsfront, Gau Franken«, der mit Maske, Lyra
(Gemeinnütziger Verein)« (ebd.). So war der gVe im Anschluss an die reichsweit einzig zugelassene Besucherorganisation am 5. Juli 1933 zunächst umbenannt worden, am 9. Oktober 1934 folgte die Eingliederung in die »NS-Kulturgemeinde« (formelle Auflösung 17. Juli 1937, als letztere in die »NS-Gemeinschaft« KdF eingegliedert wurde). 26 Vgl. StAE, U.50 (1932/33)–U.61 (1943/44). 27 StAE, 75.A0.210.
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Abb. 2: Das Fest der Dankbarkeit, [1750]
Abb. 3: Romeo und Julie, 1785
und NS-Symbolen (DAF-Zahnrad, KdF-Sonnenrad)28 zum plakatierten Inbegriff der – in offizieller Lesart – ›höchststehenden‹ Kulturnation werden sollte. Der Plakatdruck kam aus Nürnberg und wurde jeweils mit aktuellen Programmdaten versehen. Als Veranstalter zeichnete die »NS-Gemeinschaft ›Kraft durch Freude‹«, die auch das Romantische Ballett von Helge Peters-Pawlinin als »[e]inmaliges Gastspiel« am 26. Februar 1941 im Stadttheater annoncierte (vgl. Abb. 7). Referenz für den Tänzer-Choreografen lieferte der Ankündigungstext. Bezugnehmend auf die dreitägige Propagandaveranstaltung rund um das Prestigeprojekt Haus der Deutschen Kunst (1933, 1937), die bis Kriegsbeginn vor allem mit dem Festzug »2000 Jahre Deutsche Kultur« weit über München hinaus volksnahe Massenpropaganda betrieb, hieß es hier nun »bekannt vom ›Tag der Deutschen Kunst‹ in München«.29 Weiter unterstützt wurde die Anzeige durch das Werbeelement eines Abdrucks kurzer Pressezitate, die durch ihre schriftlich beglaubigte Kompetenz – gezielt weltläufig aus dem In- und Ausland – eine ganz eigene Suggestivkraft entwickelten. So vereint auch dieses Tanzplakat alle visuellen und verbalen Register der Ansprache.
28 Emblem mit dem Zahnrad nebst Hakenkreuz der Deutschen Arbeitsfront (DAF), umgeben vom stilisierten Sonnenrad als Zeichen der »NS-Gemeinschaft« Kraft durch Freude (KdF). 29 Helge Peters-Pawlinin (1903–1981) war künstlerischer Leiter des 1935 in München gegründeten Romantischen Balletts, das bereits zum »Tag der Deutschen Kunst« vom 16. bis 18. Juli 1937 eingeladen war. Zum »Tag der Deutschen Kunst« 1939 choreografierte er mit Berthe Trümpy und Dorothee Günther beim Festspiel »Triumph des Lebens« im Münchner Dante-Stadion. Nachlass im Deutschen Tanzarchiv Köln.
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Abb. 4: Mademoiselle Mariani, 1785
Abb. 6: Die Meistersinger von Nürnberg, 1901
Abb. 5: Die Stumme von Portici, 1838
Abb. 7: Romantisches Ballett, 1941
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Abb. 8: Draußen vor der Tür, 1948
Abb. 10: La Bohème, 1961, Grafik: Helmut Lederer
Abb. 9: vierte internationale theaterwoche der studentenbühnen, 1952, Grafik: Helmut Lederer
Abb. 11: Die Maulwürfe, 1978
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Abb. 12: 12. Bayerische Theatertage, Erlangen 1994, Grafik: Peter Engel
Abb. 14: Salome, 2002, Grafik: GrafikAtelier Tania Engelke
Abb. 13: Märchen, Mythen, Monster, Spielzeit 98/99, Grafik: Dirk Bleicker
Abb. 15: Paradies spielen, 2018, Grafik: Neue Gestaltung GmbH
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Nach 1945 – Theaterplakate erobern den Erlanger Stadtraum Wenig später verblich das große Pathos, von dem diese Blätter durchdrungen sind. Nach dem Zusammenbruch des NS-Reichs folgten schlichtere Töne in einer von geistiger Unsicherheit und Sinnsuche geprägten Zeit, in der dem Theater eine keineswegs unbedeutende Relevanz zukam. Die Zeugnisse des neuerwachten Kulturlebens signalisierten Auf bruchsstimmung. Zum ersten Mal in der Geschichte erhielt das Erlanger Theater, das seither den mittlerweile fest im allgemeinen Bewusstsein verankerten Namen »Markgrafentheater« trägt, ein hauseigenes Ensemble, mit dem ein neues stadtbezogenes Engagement einzog, das sich auch in deutlich erweiterter Werbetätigkeit niederschlug. Seit Gründung des Ensembletheaters unter der Leitung von Albert Doerner und Elly Probst im Herbst 1945 wurde der Spielplan im wöchentlichen »Amtsblatt der Militär-Regierung und des Oberbürgermeisters der Stadt Erlangen« veröffentlicht und damit fest ins städtische Informationssystem integriert. Und wenn der allgegenwärtige Mangel der Nachkriegsjahre, auf der Bühne, im Zuschauerraum (vgl. nur die regelmäßigen Hinweise auf den Theaterplakaten »Das Theater ist geheizt.«) und in der Papierknappheit, aufwendigeren Druckerzeugnissen vorerst Einhalt gebot, sollten die Programme doch schon 1946 kontinuierlich mit großformatigen Wochenspielplänen im Stadtbild angekündigt werden. Spielplanplakate in jährlich wechselnden Vordrucken und bald auch erste Stückplakate, mit denen die Plakatierungspraxis in Erlangen begann, die bis heute andauert und ein Panorama engagierter Theaterarbeit liefert. Hatten diese ersten Plakate für das Markgrafentheater zunächst pragmatisch kommunikative Aufgaben in Zeiten eingeschränkter Infrastruktur, wurden sie schnell zum Erkennungszeichen in der Öffentlichkeit. Mehr als informativ wirkte auch die steigende Zahl der Einzelanschläge, die optisch oft auffallend an die sachlichen, typografischen Experimente der 1920er Jahre erinnerten. In Abgrenzung von der NS-Diktatur implizierte diese Aufmachung einen ausgesprochen modernen Impetus, der Klassiker ebenso zeitaktuell erscheinen ließ wie die in Erlangen früh nachgespielte neue Literatur. In Auseinandersetzung mit der NSZeit wurde dagegen für Wolfgang Borcherts Heimkehrerdrama Draußen vor der Tür, das im Markgrafentheater am 5. März 1948 als Bayerische Erstaufführung auf die Bühne kam (UA 21. November 1947 in den Hamburger Kammerspielen), offenbar bewusst auf die NS-konnotierte Fraktur als Gestaltungsmittel zurückgegriffen (vgl. Abb. 8). Dazu erschienen erstmals kleine Programmhefte, die es der Theaterleitung ermöglichten, den Besuchern mehr über Ziele und Absichten ihrer Arbeit mitzuteilen, wenn auch ressourcenbedingt zunächst in moderatem Umfang. Das Heft zu Borcherts »Spiel aus unseren Tagen« enthielt aufgeklappt den Besetzungszettel, dem auf einem separaten DIN-A6-Blatt der Aufruf des Autors »Sag Nein zum Krieg« beigelegt war, den die Inszenierung von Kurt Bortfeldt
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an das Ende des Stücks gestellt hatte.30 So ließen sich grundsätzliche politische Stellungnahmen ebenso wie Ansätze zu Regiekonzepten vermitteln. Dabei wurde das Spektrum der Werbemittel selbst immer differenzierter, ergänzend zu Zeitungsanzeigen und Straßenanschlägen erschienen praktikable Handzettel mit den Spielplaninformationen, die als Wochenprogramme den regulären Spielbetrieb anzeigten. Die Programmhefte trugen der allgemeinen Entwicklung einer zunehmend inhaltsbezogenen Aufsplittung Rechnung, indem sie weiterführenden inhaltsbezogenen Aussagen Raum boten, während mit personalisierten Postkarten eine individuelle Ansprache begann, die von neuen Kommunikationswegen zeugt. Vor allem aber signalisierten erste gedruckte Spielplanvorschauen mit »Einladungen zur Platzmiete« den Übergang in eine reguläre Bespielung. Bis sich diese in Erlangen aber wirklich dauerhaft mit einem eigenproduzierenden Theaterensemble durchsetzen konnte, sollte es noch Jahrzehnte dauern. Nach der Währungsreform 1948 geriet der Betrieb Doerner / Probst in wirtschaftliche Schwierigkeiten und der 1945 wiedergegründete gVe kehrte letztendlich zum Gastspielbetrieb zurück. Was damit einherging, war das Fehlen eines personenbezogenen Identifikationsfaktors: Mit einem eigenen Ensemble, einer Regiehandschrift oder einzelnen Darstellern konnte man sich in Erlangen nicht identifizieren. Wohl aber mit der Spielstätte, die dem Theatergeschehen seit Jahrhunderten den festlichen Rahmen bot, und so rückte das Gebäude weiter in den Fokus. Nach den Diskussionen um Abriss oder Erhalt infolge der plötzlichen Schließung wegen Baufälligkeit 1956, signalisierte das Rahmenplakat für das Markgrafentheater von Helmut Lederer (1919–1999) mit dem Blick in den restaurierten Zuschauerraum nach der Wiedereröffnung ein eindeutiges Bekenntnis zum Haus (vgl. Abb. 10). Ebenfalls beachtenswert ist der Programmaufdruck auf diesem Blatt, das 1961 Giacomo Puccinis La Bohème ankündigte. Belegen die sechs Platzmieten (plus eine Vorstellung im Freien Verkauf) allein für sich den großen Zuspruch des Theaters in der Gesellschaft, steht die Compagnia d’Opera Italiana di Milano durchaus exemplarisch für die Ansprüche, mit denen »[d]er Gemeinnützige Verein Erlangen e.V.« lange Jahre zahlreiche Stars in die Stadt holte und in neuer Offenheit geistige und künstlerische Weltläufigkeit bekundete. Die ausgesprochene Affinität für das Musiktheater spiegeln viele Theaterzettel und Plakate, dennoch versprach dieses Gastspiel den Besuchern etwas Besonderes, denn originalsprachige Opernaufführungen waren damals in Deutschland keineswegs gängig. Ausdrücklich vermerkte das Plakat auch den italienischen Chor, dazu eine, wohl kostengünstigere, deutsche Orchesterbegleitung. Im Januar 1960 hatte das Mailänder Ensemble schon die erste reguläre Saison im renovierten Markgra-
30 StAE, U.74 (1947/48).
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fentheater eröffnet, bis 1968 folgte fast jede Spielzeit eine weitere Oper aus dem italienischen Repertoire (Verdi, Puccini, Donizetti, Rossini). Der Plakatvordruck wurde noch bis in die 1980er Jahre in wechselnden Farben verwendet. Und auch sonst prägte Helmut Lederer die Grafik des gVe weithin formgebend; für Konzertprogramme gab es ähnliche Standardvordrucke, die zu festen Referenzpunkten wurden, der Schriftzug »Markgrafentheater Erlangen« fand sich lange auf Theateranschlägen und Publikationen, und das bis heute verwendete gVe-Signet war auch Folie von Werbeplakaten zur Abonnementszeichnung für Theater- wie Konzertspielpläne, die damit visuell unter einem Dach vereint wurden.
Das Studententheater – Plakatierungen mit internationalem Echo In die Gesellschaft hineinwirken wollte vor allem eine Bewegung, die aus einer anderen Traditionslinie kam und den zweiten Pol aufzeigt, der die Erlanger Theatergeschichte weit über die Nachkriegszeit hinaus geprägt hat. Und auch hier wurde seit Anbeginn auf das Kommunikationsmedium Plakat gesetzt, das schon bald ein eigenes Profil aufwies. 1946 hatten sich Erlanger Studenten zu einer Studiobühne zusammengeschlossen, deren Strahlkraft schnell über die Region hinausreichte. 1949–1968 fanden die Internationalen Theaterwochen der Studentenbühnen in Erlangen statt, bei denen studentische Theatergruppen aus dem In- und Ausland einen kreativen Austausch anregten, der Sichtweisen verändern und weitreichende Impulse geben sollte. Diese Aufführungen und Diskussionen31 wurden – wie diverse Eigenproduktionen der Studiobühne – von einer ambitionierten Grafik begleitet, die Programm und Anspruch sichtbar werden ließ. Die ab 1950 entstandenen Plakatfolgen verbanden die unterschiedlichen Anforderungen der Informationsübermittlung in einer charakteristischen Doppelung von Festivalankündigung und Programmplakat. Beide Blätter zeigten eine gemeinsame Linie, motivisch lange auf das sinnbildhafte Motiv der Maske zurückgreifend, das geradewegs zum Signet der Theaterwochen werden sollte. Seit 1951 gestaltete der bald so vielfältig für die Stadt tätige Helmut Lederer diesen Auftritt außenwirksam mit Plakaten, Programmen, Faltblättern und dem Layout der Festivalzeitung Spotlight, die auch künstlerisch Maßstäbe setzten. Weiterführende Einblicke in die konzeptionelle Arbeit erlauben diverse Entwürfe zu den gedruckten Plakaten im Nachlass des 31 Auf dem Plakat für die 2. Internationale Theaterwoche der Studiobühnen deutscher Hochschulen 1950 (Grafik: Martha Vogtmann) heißt es: »Aufführungen – Arbeitskurse – Vorträge« (StAE, 75.Pl.11304), entsprechend ist das Programm in »Vorträge«, »Arbeitskreise«, »Vorstellungen« gegliedert (StAE, 75.Pl.11305).
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Künstlers. Dabei umfassten die Bildfindungen zwei Maskentypen, eine antike Theatermaske (en face) und eine modern-abstrahierte Maske (im Profil), die Lederer in der Folgezeit weiter stilisierte. Gab es 1951 mehrere Alternativplanungen zu Komposition und Farbwahl, reduzierte er das Motiv 1952 auf zwei Profillinien, um dem Plakat mit einem Auge ein ›Gesicht‹ zu geben (vgl. Abb. 9).32 Ergänzend entwarf er ein Programmplakat im Querformat, das sämtliche Veranstaltungen einzeln auf listete33 und das Gesichtsmotiv schon ähnlich als Fond hinterlegte wie später in anderer Ästhetik bei den Plakaten für das »Markgrafentheater Erlangen«, als Helmut Lederer das Erscheinungsbild ganz unterschiedlicher Unternehmungen visualisierte (vgl. Abb. 10). So wurde eine grafische Einheitlichkeit generiert, die mit ihrem aufeinander bezogenen Werbekonzept (auch über die kleineren Programmdrucke) für hohen Wiedererkennungswert sorgte. In den folgenden Jahren erschienen die Plakatmotive dann jeweils in zwei Druckfassungen, eine mit integrierten Programmdaten. Diese Praxis der Paralleldrucke bedachte die verschiedenen Werbebedürfnisse und sollte auch beibehalten werden, als in den 1960er Jahren zunehmend andere, junge Gestalter tätig wurden und sich damit die bis dato unverkennbare »Corporate Identity« für das jährliche Treffen der Studententheater in Erlangen änderte.
Theater in der Garage – unkonventionell von der Bühne in die Öffentlichkeit Neue Impulse bekam das Erlanger Theaterleben und mit ihm das Theaterplakat, als Manfred Neu 1974 zum Theaterleiter berufen wurde, um Kinder- und Jugendproduktionen zu betreuen. Für die großen Märchenspiele, die jährlich im Markgrafentheater stattfanden, nutzte das neue Team großformatige, fantasiereich und bunt bebilderte Plakate, die eine neue Farbigkeit in die Stadt brachten. Schon bald sollte Neu aber auch künstlerisch auf der eigenen Bühne Zeichen setzen, die ebenso ideenreich nach außen getragen wurden. Geleitet von einem neuen Selbstverständnis in gesellschaftlich engagierten Zeiten wurde in den 1975 zum Theater in der Garage umgebauten ehemaligen Feuerwehrgaragen in unmittelbarer räumlicher Nähe zum etablierten Markgrafentheater ein experimentierfreudiges zeitbezogenes Theaterprojekt als Alternative zum dortigen bildungsbürgerlichen Tourneebetrieb ins Leben gerufen, dessen kulturpolitische 32 Vgl. hierzu auch ein handgezeichnetes Blatt mit technischen Angaben zur Ausführung (KME L556) und ein Plakatexperiment mit Negativform auf schwarzem Grund und anderer Schriftsetzung (KME L550). 33 vierte internationale theaterwoche der studentenbühnen erlangen, 25. juli bis 2. august 1952; StAE, 75.Pl.14607.
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Zielsetzung sich auch in der Reklame in eigener Sache und an unüblichen Orten widerspiegelte. Bereits für die erste große Eigenproduktion The Family von Lodewijk de Boer (ab 26. Juni 1975) erschien nicht nur ein sehr schmal geschnittenes hochformatiges Plakat (86,8 x 30,3 cm) mit ungewöhnlicher Perspektive und irritierender Motivik,34 öffentlich sichtbar gemacht wurde die neue Spielstätte auch durch auffällige farbige Wandbilder an den Garagentoren. Wandmalereien, die eine unverkennbare Botschaft signalisierten, zumal in Ergänzung zu dem auf einer Seite handschriftlich in Kreide eingefügten aktuellen Spielplan, und ein lange währendes Ausrufezeichen bildeten. Auf der Suche nach innovativen Entwürfen fokussierte Manfred Neu regelmäßig moderne Dramatik noch weitgehend unbekannter Autoren der internationalen Bühne. Am 8. Juni 1978 beispielsweise präsentierte er Traps der englischen Dramatikerin Caryl Churchill (*1938) unter dem Titel Die Maulwürfe in eigener Übersetzung als deutschsprachige Erstaufführung (UA: London 1977) und plakatierte entsprechend im Stil der Zeit (vgl. Abb. 11). Bis heute ist das Stück im Rowohlt Theaterverlag in der Übertragung von Manfred Neu im Programm.35 Kreativ, grell und bunt ging es zu dieser Zeit an vielen Stellen zu, markant bei Woody Allens Gott, dessen Werbeplan mit Stückplakat, Text/Bild-collagiertem Doppelblatt und bedruckter Plastiktüte (»Das Leben ist sinnlos. Wir sind sinnlos. Jetzt hab’ ich plötzlich furchtbare Lust gevögelt zu werden.«) 1981 bis in den Erlanger Stadtrat für Schlagzeilen sorgte, die von der Lokalpresse ausführlich kommentiert wurden.36 Unkonventionelle Ansätze öffneten den Blick und sollten Perspektiven erweitern ebenso wie die Auftritte in- und ausländischer freier Gruppen das Tor zur Welt weiter aufstießen (vgl. auch die als Festival freischaffender Bühnen neu aufgestellten Internationalen Theaterwochen). Gleiches galt bei den sommerlichen Freilichtproduktionen, mit denen das Garagen-Theater alternative Spielstätten erschloss und die Bühne ab 1979 direkt in die Stadt hineintrug; zunächst auf dem Altstädter Kirchenplatz, dann 1981 bei Krach in Chiozza von Carlo Goldoni in der Schiffstraße mit Wasserkanal und Brücke und großf lä34 StAE, 75.Pl.8030. 35 Zur Stückbeschreibung im Verlagsprogramm, die auch Interpretationsansätze für das Erlanger Premierenplakat geben könnte, vgl. Caryl Churchill: Die Maulwürfe (Traps), Deutsch von Manfred Neu; URL: http://www.rowohlt-theaterverlag.de/tvalias/stueck/72481 [zuletzt abgerufen am 22. Juli 2019]. Zur Darstellung der Erlanger Produktion vgl. Cornelia Julius: Theater anders, Nürnberg 1979, S. 229–232 (ebd. auch »Die Maulwürfe«, in: Theater-Zeitung, Nr. 17/18, »Szenen einer Kommune«, Abendzeitung vom 10. Juni 1978). 36 Vgl. auch Ute Wolf / Kirsten Harder: Wo Mr Pilk schlündelgründelt, Erlangen 1985, S. 170–175, hier insb. S. 171f. (»Stadtrat befaßte sich mit ›Sexualproblemen‹«, Erlanger Nachrichten vom 4. Dezember 1981; »Eine Anfrage mit politischer Stoßrichtung«, Erlanger Nachrichten vom 5./6. Dezember 1981; »Ins Schwarze getroffen«, Erlanger Nachrichten vom 11. Dezember 1981). Die Inszenierung von Manfred Neu sollte zum »Kultstück« (ebd.) des Theaters werden.
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chig bemalten Planen zur Abgrenzung der Spielf läche sowie später im angekauften Theater im Zelt an der Palmsanlage. In der Werbung stand dieser Spielort nun neben dem bekannten: »Theater in der Garage zeigt... «. Der Theatername war in vielfacher Hinsicht Programm und verwies zugleich auf den Ort, an dem die Aufführung stattfand. Im Laufe der Jahre hat sich die Werbegestaltung sichtbar professionalisiert. Aus der anfänglichen Spontaneität mit ihren oftmals anarchischen Zügen, die auf der Bühne wie in der Plakatierung zu vielen überraschenden Lösungen führte und immer wieder mit tradierten Sehgewohnheiten brach, wurden am Ende der Ära Neu (1974–1989) zusehends klarer durchstrukturierte Konzepte, etwa mit ersten Formen eines Corporate-Design-Denkens, indem Plakat und Programmheft dieselbe Illustration trugen wie bei Babette oder Pö à Pö von Helmut Ruge, das 1986 eigens zur »300-Jahr-Feier der Hugenottenstadt« geschrieben und inszeniert wurde.37 Eines jener Projekte mit Lokalbezug, wie sie vor allem ein in der Stadt verankertes Theaterensemble entwickeln kann; weitere sollten folgen, als das Erlanger Theater unter den nächsten Intendanzen zum Theater Erlangen wurde.
Theater Erlangen – ein eigenes Theater für die Stadt Zur Spielzeit 1989/90 übernahm Andreas Hänsel das Theater, das seinerzeit noch aus den »in der Garage« wirkenden Künstlern und dem vom gVe tourneebespielten Markgrafentheater bestand, und konnte es in einem mehrfach konf liktbelasteten und von drohender Schließung der eigenproduzierenden Sparte betroffenen Entwicklungsprozess im Jahrzehnt seiner Intendanz (1989–1998) zu einem eigenverantwortlichen Theaterbetrieb zusammenführen und mit ambitionierten künstlerischen Vorhaben zunehmend etablieren. Uraufführungen, deutschsprachige Erstaufführungen, außergewöhnliche Musikprojekte, Tanzreihen und eine gezielte ortsspezifische Auseinandersetzung mit der lokalen Zeitgeschichte sorgten bald in beiden Spielstätten für Profil (vgl. hier nur Schattengeburten zum 250-jährigen Bestehen der Universität (UA: 21. Oktober 1993) oder Unser Julius als »Liturgische Farce« anlässlich des 50. Jahrestags des Kriegsendes (UA: 22. April 1995), beide von Dramaturg Magnus Reitschuster) und wurden im Zuge der Inszenierungsarbeit vielfach von den Bühnenbildnern am Haus künstlerisch plakatiert.38 Dabei verschafften die Plakate dem Theater optisch Präsenz in der Außenwirkung und leisteten ihren Beitrag im laufenden Identifikationsprozess 37 P lakat, StAE, Bestand 621 (Dramatisches Theater, Wladimir, 9. September 1986), Programm, StAE, XIV.11.K.20. 38 D iese und sämtliche weiteren Plakate (bis Ende der Intendanz Dhein 2009) im StAE, Bestand 621 Theater Erlangen (Plakatmappen aus dem Theaterarchiv).
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mit dem ensemblegestützten Theater Erlangen, das einen durchaus disparaten Publikumsstamm von gVe und Studententheater / Garagen-Theater zusammenzubringen hatte. Als identifikatorisch wirksames, verbindendes Element wurde ein Logo eingeführt, das die Intendanz symbolisch begleiten sollte und noch länger durch den Förderverein im Gedächtnis geblieben ist. Jeweils unten mittig machte es die Ankündigungen bei allen stilistischen Unterschieden eindeutig als solche des Theaters kenntlich und verortete das Haus zugleich typografisch in der Stadt, in dem es eine sinnfällige Verbindung mit dem Erlanger Stadtlogo von Walter Tafelmaier einging, das perspektivisch zum Bühnenboden im rahmenden Bühnenportal geworden war. Für sich sprechend auch hinsichtlich der Positionierung als offizielle städtische Einrichtung wird das Theater Erlangen zum Markenzeichen. 1994 erhielt Erlangen erstmals den Zuschlag als Ausrichter der 12. Bayerischen Theatertage, die für überregionale Resonanz sorgten und das Image des Theaters in der Stadt entscheidend aufwerteten (vgl. Abb. 12). Die Werbekampagne entwarf der häufig in Erlangen tätige Bühnenbildner Peter Engel, der auch mehrfach Stückplakate und weitere Drucksachen wie in späteren Jahren die Spielzeithefte gestaltete, mit denen die visuelle Kommunikation eine öfters erkennbare Linie erhielt. Passend wurde das Plakatmotiv auf dem Umschlag des Programmhefts mit Zeichnungen des Grafikers wiederholt und bildete zugleich den Hintergrund für das ergänzende Programmplakat, sodass eine einheitliche Konzeption entstand. Endlich schien das Theater Erlangen als kulturtragende Institution in der Mitte der Gesellschaft angekommen und stand doch kurz darauf als Ensembletheater noch einmal zur Disposition. In diesen Zeiten des viel zitierten »Erlanger Modells« mit Eigenproduktionen, Gastspielen und diversen Kooperationen erhielt das Plakat weitere Aufgaben. Als Mittler zwischen Theater und Öffentlichkeit trug es die künstlerische Selbstdarstellung bildlich über den Theaterraum hinaus und wirkte weit über die eigentliche Programmanzeige hinaus identitätsstiftend.
ensemble theater erlangen – ein Statement für Bühne und Werbung 1998 trat Hartmut Henne als Intendant an, unter dem die Professionalisierung fortgesetzt wurde. Das betraf nicht nur den Theaterbetrieb, auch ausdrucksstarke Plakate sollten in neuer Programmatik Aufmerksamkeit verschaffen. Für die Gestaltung wurde der Berliner Grafiker Dirk Bleicker verpf lichtet, der fortan den gesamten grafischen Auftritt des Theaters verantwortete, der damit künstlerisch erstmals durchgängig in einer Hand lag. Nach den vorangegangenen Schließungsdebatten begann die Saison mit einer »1. Erlanger Theaterermutigung«, 14 Veranstaltungen in 4 Tagen an 6 Orten. Das Theater hatte Henne programmatisch in ensemble theater erlangen umbenannt, und das neue Logo wurde schnell zum Identifikationssymbol. Die Spielzeit selbst
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stand unter dem Motto »Märchen, Mythen, Monster«, und das Spielzeitplakat mit der Ankündigung aller geplanten Projekte korrespondierte in der Anlage unmittelbar mit dem zur Theatereröffnung und signalisierte zeitgleich in derselben unverkennbaren Handschrift den Neuanfang (vgl. Abb. 13). Aufeinander abgestimmte Modelle demonstrierten Stabilität. Die umfangreichen Programmbücher dokumentierten den Anspruch und waren als durchnummerierte Reihe angelegt, während die neuen Stückplakate mit ihren poetischen Lösungen einen einprägsamen optischen Eindruck vom kreativen Potential des »Ensembles« in die Stadt trugen. Mit vielerlei Anspielungen an die Inszenierungen boten diese ebenso sachliche Information wie emotionale Einladung, die in ihrer interpretationsoffenen Unbestimmtheit suggestiven Freiraum für eigene Assoziationen lieferten und auch als Aufforderung an den Betrachter zu verstehen waren. Durch den überraschenden Tod von Hartmut Henne im Herbst 2001 jäh unterbrochen, führte Theaterdramaturg Johannes Blum die Arbeit interimistisch mit dem Team in dessen Sinne weiter. Zwar endete die Kooperation mit Dirk Bleicker, die Plakatwerbung aber wurde in entsprechender Intensität fortgesetzt und schien bald wichtiger als zuvor, um der Kontinuität der Entwicklung visuell Ausdruck zu verleihen. Gerade in schwierigen Zeiten wirkt der öffentliche Auftritt immer auch als Statement. Das galt bei der Etablierung eines eigenständigen Ensembles unter Manfred Neu und Andreas Hänsel wie in den Jahren der Konsolidierung unter Hartmut Henne und Johannes Blum.
das theater erlangen – selbstbewusst im grafischen Profil Noch unter Hartmut Henne war die feststehende Bezeichnung das theater erlangen entstanden, die als Name wie als Logo bis heute selbstbewusst vom eigenproduzierenden Ensembletheater zeugt. Mit verstärktem Fokus nach außen begann die gebürtige Erlangerin Sabina Dhein, dieses Theater während ihrer Intendanz (2002–2009) mit eigenem Profil im Großraum zu positionieren, und annoncierte eine gestalterische Vielfalt, die sich in verschiedenen künstlerischen Handschriften aus unterschiedlichen Blickwinkeln auch im Stadtbild spiegeln sollte. Das Plakat zu Salome von Oscar Wilde aus dem Nürnberger Grafik-Atelier Tania Engelke nahm die Blickmetaphorik des Stücks gleich zu Beginn in suggestiver Weise geradezu sinnbildhaft auf und sicherte dem Team sogleich die öffentliche Aufmerksamkeit (vgl. Abb. 14).39 39 Das Plakat für die Salome-Produktion 2002 bezieht sich auf das vielschichtige Blickmotiv, das in der Dichtung von Oscar Wilde durchgängig thematisiert wird. Vgl. hier nur Jochanaan zu Salome: »ich will euch nicht anschauen. ich werde euch nicht anschauen.« / Herodias zu Herodes: »man soll sie nicht anschauen. ihr schaut sie immer an.« (Zitiert nach Gerhard Rühm: Gesam-
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Dabei wurde nun gezielt das gesamte, stetig erweiterte Spektrum aufeinander bezogener Werbemittel mit jeweils eigener Funktion in eine Werbestrategie eingebunden. Nicht nur Plakate und Programmhefte, die das Bildmotiv aufnahmen und grafisch variierten, auch die Theaterzeitschrift, der Monatsspielplan, Flyer und kleine Leporellos gehörten jetzt wie das jährliche Spielzeitheft und die zunehmend wichtiger werdenden digitalen Medien zum gestalterischen Gesamtkonzept. Die künstlerische Interpretation dagegen änderte sich fortwährend und war nicht auf langjährige Kontinuität angelegt. Fotobasierte Entwürfe, plakativ zeichnerische Übertragungen, Schriftlösungen oder Formatexperimente, die eine ein- wie zweireihige Hängung gleicher oder aufeinander bezogener Darstellungen ermöglichten – die Bandbreite dieser jährlich wechselnden Umsetzungen (Grafik: Frank Drescher, Peter Engel, Heike Schmidt (verh. Hahn), aber auch Nürnberger Kunststudenten waren aufgerufen, ihre Vorstellungen moderner Theaterplakatierung vorzulegen) präsentierte sich vielschichtig wie das Theater, immer auch als Ausschnitt möglicher Gestaltungsfacetten. Kulminationspunkte bildeten die Spielzeiten 2007/08 (Motto »Theaterstadt Erlangen«) und 2008/09 (Motto »Traumfahrer«), die jeweils ein wirklich umfassendes Corporate Design für alle Auftritte visualisierten. Sämtliche Werbemaßnahmen der betreffenden Spielzeit verband ein übergeordnetes Orientierungsprinzip, das Produktionen und Spielstätten unter eine gemeinsame Optik stellte. Weitreichendes Identifikationspotential bot die grafische Interpretation der letzten Spielzeit der Intendanz Dhein, als Ensemblemitglieder in Raumfahrtanzügen wie »Traumfahrer« in verschiedenen, mit dem Stück assoziativ verbundenen öffentlichen Räumen in Erlangen und Umgebung »andockten« (Grafik: Jürgen Kuhn, Sabrina Willim).
Neue Gestaltung – ein umfassendes Design-Konzept Neue Wege im Corporate Design geht das Theater Erlangen unter Intendantin Katja Ott (ab 2009). Seit 2010 entwirft die Berliner Werbeagentur Neue Gestaltung das visuelle Erscheinungsbild, das im medienübergreifenden Gebrauch interagiert und dabei auch verstärkt multimedialen Bedürfnissen Rechnung trägt. Vom Plakat bis zur Webseite zeichnen sich alle Produkte durch einen unverwechselbaren Stil aus, der in klarer Optik und reduzierter Formgebung eine »Handmelte Werke, Band 5: Theaterstücke. Hg. von Michael Fisch / Monika Lichtenfeld, Berlin 2010, S. 400). Gespielt wurde die Nachdichtung von Gerhard Rühm, den reizte, »mit den erfahrungen der ›konkreten poesie‹ die reduktion des wortmaterials noch weiter zu treiben« (Frankfurt am Main 1983, »nachwort: das problem der übertragung«, zitiert nach Programmheft salome von Oscar Wilde, das theater erlangen, spielzeit 2002/03, S. 12; Gestaltung: Grafik-Atelier Engelke, Nürnberg).
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schrift« signalisiert. Zentrales Gestaltungselement auf einer farbigen Hintergrundf läche ist die schwarze Silhouette, die mit dem zu bewerbenden Stück in einem assoziativen Zusammenhang steht und den auf Basisinformationen zu Stück, Autor, Premierentermin minimierten Text homogen in die eigene Kontur integriert (vgl. Abb. 15). Im Zuge kontinuierlicher Verwendung sollte dieser grafische Entwurf zum unübersehbaren Bestandteil der Außendarstellung des Theaters werden, wobei sich die Bildfindungen ausgesprochen vielfältig gestalten: Mal sind die Bezüge eher realistisch, dann geradezu surreal anmutend, poetisch, verspielt, sinnstiftend, aus dem Werk heraus entwickelt oder in Referenz auf das Bühnenbild direkt mit der Inszenierungsarbeit verbunden wie bei der Ankündigung von Paradies spielen von Thomas Köck aus der Spielzeit 2017/2018 (vgl. Abb. 15).40 In Einzelfällen kann die Schrift dazu ebenso kontextbezogen außerhalb der Silhouette positioniert werden. Von ausgesprochen plakativer Wirkung, verbindet das Konzept mit seiner Wiedererkennbarkeit die einzelnen Programme und performativen Formate des Theaters zu einer signifikanten Einheit und zeigt einen Facettenreichtum, der beim Betrachter stets aufs Neue Interesse weckt. In Fachkreisen bekam die Plakatserie dafür inzwischen zahlreiche Auszeichnungen.41 So ist das Theaterplakat in Erlangen über Jahrzehnte zu einem ständigen Begleiter der Theaterarbeit geworden. Die spezifische Konstellation in der Stadt mit einem ausgeprägten Gastspielwesen, das erst spät zu einem stehenden Ensembletheater führte, welches sich dann wieder in seiner Eigenständigkeit verortete und seine Selbstdarstellung in den öffentlichen Raum trug, dürfte dazu beigetragen haben, dass das Theaterplakat hier zu einer festen Größe gelangte. Zudem ließ sich die eigene Positionierung im Zeichen eines künstlerischen und gesellschaftlichen Diskurses immer wieder auch durch die stetige optische Präsenz in der urbanen Lebenswelt untermauern. Dabei begünstigt die städtische Struktur mit ihrem übersichtlichen Stadtkern, in dem sich Plakat / Protagonist und Betrachter / Rezipient gewissermaßen auf Augenhöhe begegnen, zweifellos 40 Paradies spielen (abendland. ein abgesang), der dritte, abschließende Teil der Klimatrilogie (paradies fluten, paradies hungern) von Thomas Köck wurde 2018 mit dem Mühlheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet und als Stück »Aus aktuellem Anlass« (Texte zur Spielzeit 2017/18, Spielzeitheft 2017/18, das theater erlangen, S. 6, 83) ins Programm genommen. Regie führte Katja Ott, das Bühnenbild, dessen botanischen Klimacontainer das Ankündigungsplakat in ganz eigener Form aufnahm, gestaltete Bernhard Siegl. 41 2011: iF Communication Design Award Gold, Red Dot Award, 2012: European Design Award Bronze, 2013: 100 beste Plakate 2012, 2018: German Design Award (zur Jurybegründung siehe URL: https:// www.german-design-award.com/die-gewinner/galerie/detail/16910-theater-erlangen-pre mierenplakate.html [zuletzt abgerufen am 20. Juli 2019]. Vgl. ferner die Auszeichnungen für die Homepage des Theaters (2016: iF Design Award) und das Spielzeitheft 2017/18 (2017: Red Dot Design Award).
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die Wirkung eines jeden Anschlags. Sinnstiftend und über die eigentliche Ankündigung hinaus ist das Theaterplakat dabei immer auch ein zentrales Bekenntnis zum eigenen Haus, das mit dem Markgrafentheater die Kontinuität einer nahezu durchgängigen 300-jährigen Bespielung trägt, und unverkennbar Teil der kulturellen Identität der Stadt. Alleiniges Werbemittel ist das Plakat diesbezüglich seit langem nicht mehr, sondern eingebunden in ein komplexes System einander differenziert ergänzender Kommunikationsmedien. Pressenotizen, Theaterzeitung, Programm- und Spielzeithefte, Monatsspielpläne, Flyer und Infopost wie der Newsletter sprechen Interessierte auf unterschiedlichen Wegen an. Die eigene Webseite und Social-Media-Kanäle wie YouTube und Facebook speisen die Informationsf lüsse der digitalisierten Welt. In welche Richtung die Ankündigungspraxis in Zukunft auch führen mag, festzuhalten bleibt, dass sich die Theatertätigkeit in Erlangen durch eine lange kontinuierliche Plakatgrafik auszeichnet, die auch im gesamtdeutschen Kontext außergewöhnlich ist. Seit Jahrzehnten liegt zu eigentlich jeder Neuproduktion ein Theaterplakat vor, das auf seine Weise von den Ansprüchen seiner Gestalter zeugt. In der Stadt hat sich mittlerweile nicht nur das Theater zu einer Institution für eine breite Besucherklientel entwickelt, auch das Theaterplakat als visuelle Visitenkarte dieses Hauses ist aus dem Stadtbild kaum mehr wegzudenken.
Literaturverzeichnis Johannes Bischoff: 250 Jahre Erlanger Karneval, Masken, Fasching und Redouten. Ausstellungskatalog des Stadtmuseums Erlangen, Erlangen 1971. Johannes Bischoff: Bürgerinitiative mit Tradition. 100 Jahre kulturelles Wirken des Gemeinnützigen Vereins Erlangen. Bilder und Dokumente. Ausstellungskatalog des Stadtmuseums Erlangen, Erlangen 1976. Robert Blum / Karl Herloßsohn / Heinrich Marggraff (Hg.): Allgemeines Theater-Lexikon oder Enzyklopädie alles Wissenswerthen für Bühnenkünstler, Dilettanten und Bühnenfreunde, Neue Ausgabe, Altenburg / Leipzig 1846. Silvia Buhr: »Erlanger Theaterplakate im Wandel der Zeiten«, in: Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.), 300 Jahre Theater Erlangen. Vom hochfürstlichen Opernhaus zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2019, S. 188–195. Ernst Deuerlein: »Zur Geschichte des Erlanger Theaters. 1721 – 21. Februar – 1921«, in: Erlanger Heimatblätter 4 (1921), Nr. 6, S. 26, Nr. 7, S. 33f. Ernst Deuerlein: »Wie Erlangen vor 100 Jahren zu einem ›Stadt-Theater‹ kam«, in: Erlanger Tagblatt vom 3. Dezember 1938. Ernst Deuerlein et al.: »Die ›Räuber‹ wurden in Erlangen nicht vornehm befunden und andere Geschichten vom hundertjährigen Jubiläum unseres Erlanger Mu-
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sentempels als ›Stadttheater‹«, in: Erlanger Neueste Nachrichten, Fränkische Tageszeitung vom 3. Dezember 1938, S. 6f. Claus Helmut Drese: »Theater und Werbung«, in: Die Deutsche Bühne, Heft 7/8 (1964), S. 139–141. Arno Ertel: »Erlanger Theaterleben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Zur Entwicklung des fränkischen Theaterwesens im 18. Jahrhundert«, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung, Band 25 (1965), S. 89–113. Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.): 300 Jahre Theater Erlangen. Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2019. Ludwig Göhring: »Theatervorstellungen im Altstädter Rathaussaal um die Mitte des 18. Jahrh. Ein Beitrag zur Geschichte der Wandertruppen», in: Erlanger Heimatblätter, Band 11 (1928), Nr. 18, S. 69–71, Nr. 19, S. 73–76, Nr. 20, S. 79f., Nr. 21, S. 83, Nr. 22, S. 85f., Nr. 23, S. 90. Ludwig Göhring: »Erlanger Theatervorstellungen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts«, in: Erlanger Heimatblätter, Band 12 (1929), Nr. 35, S. 139f., Nr. 36, S. 141–143, Nr. 37, S. 146–148, Nr. 38, S. 151f. gVe 100 Jahre. Eine Chronik, Der Gemeinnützige Verein Erlangen e.V., Erlangen 1975. Cornelia Julius: Theater anders, Nürnberg 1979. Gerhard Rühm: Gesammelte Werke, Band 5: Theaterstücke. Hg. von Michael Fisch / Monika Lichtenfeld, Berlin 2010. Theater Erlangen (Hg.): Theater Erlangen. 1989–1998, Erlangen 1998. Ute Wolf / Kirsten Harder: Wo Mr Pilk schlündelgründelt, Erlangen 1985.
Quellenverzeichnis Bayerische Staatsbibliothek, München (BSB). Kunstmuseum Erlangen (KME), Nachlass Helmut Lederer. Stadtarchiv Erlangen (StAE), Plakate, Theaterzettel, Dokumente. Theater Erlangen, Archivmaterial. Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg (UBE), Theaterzettel des Erlanger Theaters. Band 1 1779–1786, Sign. H00/2 HIST 617 aa10[1, Band 2 1787–1850, Sign. H00/2 HIST 617 aa10[2.
Markgrafentheater
Das Erlanger Markgrafentheater Typologie und Geschichte eines barocken Bauwerks Hans Dickel 1715–18 hatten Markgraf Georg Wilhelm von Brandenburg-Bayreuth (1678–1726) und Markgräfin Sophia (1684–1752) das erste Erlanger Theater als »Hoch fürstliches Opern- und Comoedienhauß« errichten lassen, am 10. Januar 1719 wurde es eröffnet.1 Der bis heute maßgebliche Umbau erfolgte 1743 unter Markgräfin Wilhelmine (1709–1758) und Markgraf Friedrich III. von Brandenburg-Bayreuth (1711–1763) (Abb. 1, 2; siehe auch die Fotografie des Zuschauerraums in der Einleitung, Abb. 1). Johanna Ziegler hat ihn typologisch und bauhistorisch untersucht, auf ihre Studie wird hier zurückgegriffen, da diese für den Druck nicht zur Verfügung stand.2 Den Auftrag zur Umgestaltung des Innenraumes hatte der Venezianer Giovanni Paolo Gaspari (1712–1775) erhalten, dessen Vater bereits als Architekt auf Theaterbau spezialisiert war. Maßstab für die aus Berlin stammende Markgräfin Wilhelmine war dabei der Bau des Berliner Opernhauses durch Georg Knobelsdorff (1699–1753). Ihr Bruder, der preußische König Friedrich II., der Große (1712– 1786), hatte es 1741–43 als freistehendes Gebäude errichten lassen. 1744 konnte dann auch Wilhelmine das neue Erlanger Theater im Rokokostil mit großem Pomp eröffnen, mit der Oper Sirace, denn sie liebte italienische Opern und trat auch gelegentlich selbst auf der Bühne auf. Die Logenränge und das damals noch etwas tiefer abgesenkte Parkett sind bis heute aus dem Ursprungsbau erhalten, nachdem sich der Erlanger Stadtrat 1959 für die denkmalpf legerische Sicherung dieses zentralen Bauteils des Theaters entschieden hatte.
1 Abbildung des ersten Baus in: Eckehart Nölle: Der Theatermaler Gaspari. Ein Beitrag zur Geschichte des Bühnenbildes und des Theaterbaus im 18. Jahrhundert (Phil. Diss.), München 1966, S. 36. 2 Johanna Ziegler: Das Markgrafentheater in Erlangen. Ein Theaterraum von Giovanni Paolo Gaspari. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Erlangen 2005. Siehe auch Ursula Schädler-Schaub: »Das Markgrafentheater in Erlangen«, in: Deutsche Kunst und Denkmalpflege, Jg. 46, Heft 1 (1988), S. 39–42;
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Abb. 1: Markgrafentheater Erlangen 2018, Blick zur Bühne (Architekt des Umbaus Giovanni Paolo Gaspari) Als Markgräfin Wilhelmine das »Opern- und Comoedienhauß« in ihrer Nebenresidenz Erlangen umgestalten ließ, schaute sie selbstverständlich nicht nur nach Berlin, sondern vor allem auch nach Italien. Wie die Oper und das Theater selbst war auch die Bautradition italienisch geprägt. Zunächst geht der Blick nach Vicenza, zum ältesten europäischen Theaterbau nach der Antike, dem 1585 freistehend und massiv gebauten Teatro Olimpico von Andrea Palladio (1508–1580). Gegenüber den amphitheatralisch angeordneten, steil ansteigenden Zuschauerreihen erhebt sich dort eine fest eingebaute Kulissenarchitektur mit mehreren Portalen, hinter denen perspektivisch gestaffelte Fassaden aufragen, um schmale Gassen darzustellen. Diese steife Bühne ist eigentlich kaum bespielbar. Die beste Charakterisierung der Situation stammt von Goethe, der wie jeder Deutsche nach der Brenner-Überquerung zuerst in Verona und Vicenza ankam und in seiner Italienischen Reise folgende Beobachtung notierte: »Das Olympische Theater ist ein Theater der Alten, im kleinen realisiert und unaussprechlich schön, aber gegen die unsrigen kömmt mir’s vor wie ein vornehmes, reiches wohlgebildetes Kind, gegen einen klugen Weltmenschen, der, weder so vornehm, noch so reich, noch wohlgebildet, besser weiß, was er mit seinen Mitteln bewirken kann.«3
3 Johann Wolfgang von Goethe: Italienische Reise [1816], München (10. Auflage) 1981, S. 53.
Das Erlanger Markgrafentheater
Abb. 2: Markgrafentheater Erlangen 2018, Blick zur Hof loge Der Theaterbau war also um 1600 gleichsam noch in seinen Kinderschuhen, steif und unbeholfen. In den Nischen des Zuschauerraumes stehen dort Statuen der Mitglieder der Olympischen Akademie, Vicentiner Edelleute, und in den rechteckigen Feldern der Relief bühne ihnen gegenüber sieht man Szenen aus dem heldenhaften Leben des Herkules.4 Vor allem in Venedig, aber auch in anderen italienischen Städten, wird dann im Verlauf des 17. Jahrhunderts der Bautyp des sogenannten Logenrangtheaters entwickelt, in dessen langer Tradition auch der Erlanger Bau zu verstehen ist.5 Das Teatro Grimani in Venedig (1678) ist ein frühes Beispiel (Abb. 3): Man sitzt bequemer, kann einzelne Logen abtrennen, mieten oder als reiche Adelsfamilie auch eine ganze Loge kaufen. Und da es im Theater und der Oper nicht nur um das Sehen und Hören, sondern genauso um das Gesehenwerden geht, war dieser Bautypus nicht nur in Venedig besonders beliebt. Im Rahmen einer Loge wird jeder, und damals vor allem jede, zu einem Bild für die anderen. Insbesondere die elegant gekleideten Damen profitierten bei einer Aufführung von der dekorativen 4 Vgl. Andreas Beyer: Andrea Palladio. Teatro Olympico. Triumpharchitektur für eine humanistische Gesellschaft, Frankfurt am Main 1987. 5 V gl. Herbert A. Frenzel: Brandenburgisch Preußische Schlosstheater, Berlin 1959; Harald Zielske: Deutsche Theaterbauten bis zum II. Weltkrieg. Typlogisch-historische Dokumentation, Berlin 1971, S. 89–92; Susanne Schrader: Architektur der barocken Hoftheater in Deutschland, München 1988; Hans Lange: »Schauplatz-Metamorphosen – Theaterarchitektur im 17. und 18. Jahrhundert«, in: Ulf Küster (Hg.), Theatrum mundi. Die Welt als Bühne. Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München, vom 24. Mai bis 21. September 2003, Wolfratshausen 2003, S. 53–57; J. Ziegler: Markgrafentheater, S. 75 ff.; Carsten Jung: Historische Theater in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Berlin / München 2010.
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Abb. 3: Teatro Grimani, Venedig (1654–1715) Gestaltung ihres jeweiligen Rahmens im standesgemäßen Rang. Man bewunderte sich gegenseitig oder spottete, wenn die Garderobe nicht passte. Das farblich und formal fein ausgewogene Schmucksystem mit f loralen Motiven wirkt auch in Erlangen für die dahinter sitzenden Gäste wie ein Bilderrahmen mit Bordüren oder Schleifen. Chinoise Dekorations-Elemente finden sich hier neben solchen im Stil der französischen Régence (1715–1723).6 Woher aber kommt die architektonische Form? Anders als noch das Teatro Olimpico in Vicenza hat das Markgrafentheater zwei Bühnen, eine für die Schauspieler und Schauspielerinnen, Sängerinnen und Sänger, die andere für die Erlanger Hof-Gesellschaft, die sich in den Logenrängen selbst in Szene setzte. Das barocke Opernhaus ist also in der Regel zweigeteilt. Wer einmal eine Oper auf einem großen italienischen Platz gehört hat, der kann sich vorstellen, dass die Form des Logenrangtheaters von einer Platzbebauung abgeleitet wurde, denn dort saßen und sitzen heute noch die Leute in ihren Fenstern oder auf den Balkonen ihrer Wohnungen und betrachten das Spektakel. Das italienische Logenrangtheater, wie es im Teatro Grimani aus Venedig vorgeprägt war, wird nördlich der Alpen schon 1719 im Opernhaus am Dresdner Zwinger zitiert, das August der Starke (1670–1733) anlässlich der Hochzeit seines Sohnes mit der Habsburger Prinzessin Maria Josepha (1699–1757) hatte bauen 6 Vgl. J. Ziegler: Markgrafentheater, S. 14–19, 72f.
Das Erlanger Markgrafentheater
Abb. 4: Opernhaus am Zwinger Dresden 1719, (Architekt Alessandro Mauro), lavierte Federzeichnung von A. M. Werner lassen (Abb. 4). Hier ist das Erlanger Modell vorgeprägt, mit der Hof loge, dem Proszeniumsbogen mit zwei weiteren Logen sowie dem deutlich abgesenkten Parterre. Zur herausgehobenen Hof loge über diesem Parterre des Zuschauerraums und gegenüber der Bühne, also zum besten Sehen, Gesehenwerden und sicheren Sitzen, bemerkt Nicola Sabbattini (1574–1654) in seinem Lehrbuch Pratica di fabricar scene, e machine ne’ teatri (1638): »Si haverà per tanto in considerazione di far’ elettione di luogo piu vicino, che sia possibile al Punto della distanza, e che sia tanto alto dal piano della Sala, che stando à sedere, la vista sia nel medesimo piano del Punto del concorso, che cosi tutte le cose segnate nella Scena appariranno meglio, che in alcuno altro luogo. Si farà dunque à guisa di uno Steccato fermato in terra con buoni legnami & sia assicurato con buone caviglie, e chiodi, acciòche per la calca delle genti, che in quelle occasioni sogliono havere poca discritione; non venisse à partire qualche detrimento, &
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intorno ad esso si potranno porre seditori, quali doveranno servire per li suoi Gentilhuomini, ò soldati della sua guardia; come più ad esso piacerà.« 7 Der Fürstenloge kommt also für das Dispositiv des Zuschauerraumes die maßgebliche Rolle zu. Vorsäle, Treppen, Gänge sind auf sie ausgerichtet und oft schwenken sogar die Logenränge selbst zur Bühne hin etwas ein, so dass sich im Zuschauerraum eine Hufeisenform ergibt: das heißt, die Blicke werden wieder zurückgeführt, wogegen die Bühne proportional kleiner wird. Die Aufmerksamkeit wird somit auf die andere Aufführung, die im Zuschauerraum, gelenkt, auf die Inszenierung der dynastischen Herrschaft und der nachgeordneten Ständegesellschaft. So entstand die Variante der hufeisenförmig einschwingenden Ränge, die sich vor dem Proszeniumsbogen verengen. Sie geht ebenfalls auf italienische Vorbilder zurück, man findet diesen Grundriss etwa im Hoftheater von Turin, erstmals in der lyraförmigen Ausprägung in Mailand8, aber auch in venezianischen Theatern. Dementsprechend ist später auch das Dresdner Opernhaus 1738 zu einem kurvierten Zuschauerraum umgebaut worden. Diese spezifische Form verengt die Bühne etwas und lenkt durch ihre Ausweitung in entgegengesetzter Richtung den Blick zurück auf die Fürstenloge inmitten der stirnseitigen Ränge. Für die Lösung in Erlangen könnte Gaspari bei seinen Planungen zum Umbau freilich auch eine Anregung des Grafen Francesco von Algarotti (1712–1764) erhalten haben, der in Begleitung Friedrichs II. in Bayreuth weilte: Algarotti hatte theaterreformerische Ideen und meinte, der Zuschauerraum müsse wie ein Instrument verhalten nachklingen, eine Resonanz liefern, deshalb solle auch die Dekoration zurückgenommen werden und die hufeisenartige Lyraform bringe dies am besten zum Ausdruck.9 Alessandro Galli-Bibiena (1687–1748) hatte diesen Typus 1742 für Mannheim, Knobelsdorff hatte ihn für das Berliner Opernhaus aufgegriffen, von dessen Planungen Markgräfin Wilhelmine durch die Korrespondenz mit ihrem Bruder Friedrich unterrichtet war. Sicher war sie beeindruckt 7 N icola Sabbattini: Pratica di fabricar scene, e machine ne’ teatri [1638], S. 55, übersetzt und mitsamt dem Urtext herausgegeben von Willi Flemming, Weimar 1926, S. 206: »Man achte hier besonders darauf, den Platz möglichst nahe am Entfernungspunkt zu wählen und so hoch über dem Boden des Saales, daß sich das Auge des Sitzenden in gleicher Höhe mit dem Fluchtpunkt befindet. Denn so werden alle auf der Szene gezeichneten Gegenstände sich besser darstellen, als von irgendeinem anderen Platze aus. Man umgebe ihn ferner mit einer Art Holzgeländer aus guten Hölzern, die auf dem Boden zuverlässig befestigt werden mit guten Zapfen und Nägeln, damit durch das Gedränge der Leute, die bei solcher Gelegenheit wenig Rücksicht zu nehmen pflegen, nicht irgendein Schaden entstehe. Um ihn herum kann man Sitze anbringen für seine Hofkavaliere oder für die Soldaten seiner Leibwache, wie es ihnen belieben wird.« 8 Vgl. Hans Tintelnot: Barocktheater und barocke Kunst. Die Entwicklungsgeschichte der Fest- und Theaterdekoration in ihrem Verhältnis zur barocken Kunst, Berlin 1939, S. 4, 112. 9 Vgl. J. Ziegler: Markgrafentheater, S. 67f.
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und wollte auch in Erlangen etwas Vergleichbares haben. Eine Generation zuvor hatte man sich schon beim Bau der Erlanger Orangerie (1704–06, Architekt Gottfried von Gedeler) am Berliner Vorbild der (heute nicht mehr erhaltenen) Orangerie am Lustgarten (gegenüber dem Berliner Schloss) orientiert.10 Auch die Lage des Theaters abseits des Schlosses in einem eigenen freistehenden Bau ist in Berlin vorgeprägt gewesen, sie spricht ebenso wie die erhaltenen Berichte dafür, dass das Erlanger Theater schon damals für Gäste aus der bürgerlichen Öffentlichkeit geöffnet war, also nicht allein dem höfischen Publikum vorbehalten blieb. Es gibt Quellen, die das belegen, so heißt es in der Erlanger Realzeitung 1743 dass »gnädigst hohe Landesherrschaft befohlen solches fremden adelich und anderen Personen avertieren zu lassen«.11 Die »anderen Personen« standen freilich entweder auf den Stehplätzen im Parterre oder wurden im dritten Rang platziert. Wenn die Logen gefüllt waren, zeigte sich somit genau das Bild der Gesellschaft, das der Hof seinem Publikum mitteilen wollte: die Markgrafenloge im Zentrum, die Randfiguren auf verschiedenen Ebenen, das Fußvolk im Parterre, also das Bild einer fest geordneten Ständegesellschaft, deren Umfang auf bis zu 400 Personen geschätzt werden kann.12 In der Regel wurden nur geladene Gäste zugelassen und das Parterre diente meist für opulente Festlichkeiten, die dem Bühnengeschehen ebenfalls viel Aufmerksamkeit entzogen. Warum war das höfische Zeremoniell noch wichtiger als das Kunsterlebnis gegenüber? Von der am weitesten entfernten Hof loge konnte man nicht unbedingt am besten sehen, weniger zumindest als von den vorderen Plätzen im Parterre, aber eben von allen am besten gesehen werden. Lange Zeit vor den heutigen Fernsehformaten erläutert Bernhard Julius von Rohr in seiner Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaf f t der großen Herren [...] 1733 die Bedeutung solcher Inszenierungen der wichtigen und weniger wichtigen Personen im höfischen Zeremoniell, insbesondere den »gemeinen Mann« sollten sie beeindrucken: »Einige Ceremonien sind gar vernünfftig, und mit gutem Grunde etabliret. Sie sind als Mittel anzusehen, dadurch ein Landes-Herr einen gewissen Endzweck 10 Karl Möseneder: »Die Orangerie und das Orangerieparterre als Orte des Herrscherlobs«, in: Die Erlanger Orangerie. Restaurierung eines barocken Kleinods, Erlangen 2012, S. 50–89, hier S. 52. 11 Erlanger Realzeitung, Nr. 50 (1743), zitiert nach Johannes Bischoff: »Neue Beiträge zur frühen Erlanger Theatergeschichte«, in: Die Erlanger Universität, 2. Jg., Nr. 9 (1. Mai 1948), S. 124–126, Zitat auf S. 126. 12 »Anno 1721 wurde das andere Carneval daher gehalten, den 18. Januar kam die Landesherrschaft mit einem Hofstatt von 380 Personen hierher; in einer Comoedie fiel in Gegenwart sämtlich Fürstlicher Personen, wegen Menge der Menschen das Parterre ein, es verursachte einen großen Schrecken, doch hatte niemand weiter ein Unglück, als ein Apotheker von Altdorff, so ein Bein brach.« Rudelsche Chronik (1790–1795), S. 183, zitiert nach J. Ziegler: Markgrafentheater, S. 44.
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erreicht, (indem etwa) immassen den Unterthanen hierdurch eine besondere Ehrfurcht und Ehrerbietung gegen ihren Landes-Herrn zuwege gebracht wird. Sollen die Unterthanen die Majestät des Königs erkennen, so müssen sie begreiffen, dass bey ihm die höchste Gewalt und Macht sey, und demnach müssen sie ihre Handlungen dergestalt einrichten, damit sie Anlaß nehmen, seine Macht und Gewalt daraus zu erkennen. Der gemeine Mann, welcher bloß an den äußerlichen Sinnen hangt, und die Vernunfft wenig gebrauchet, kan sich nicht allein recht vorstellen, was die Majestät des Königs ist, aber durch die Dinge, so in die Augen fallen, und seine übrigen Sinnen rühren, bekommt er einen klaren Begriff von seiner Majestät, Macht und Gewalt.«13 Die neuen Medien haben diese, herausgehobene Bedeutung suggerierenden Inszenierungen von Personen für das 20. Jahrhundert übernommen, um deren Rang für das Publikum leichter verständlich zu machen. Schon der Markgraf und die Markgräfin saßen immer im Focus; und mehr noch im pompösen Bayreuther Markgräf lichen Opernhaus Giuseppe Galli-Bibienas (1696–1757) war der Moment, indem sie ihre Loge bezogen, der eigentliche Höhepunkt des ganzen Abends: »Im wesentlichen besteht das Schauspiel darin, dass die Zuschauer den Fürsten in seiner Rolle als idealer Betrachter sehen und verfolgen. Die Rolle des Hofes ist es, Zeugen dieser idealen Betrachterrolle zu sein.«14 Das ganze Spektakel im Zuschauerraum war vor allem an jene gerichtet, die es nach Auffassung der Obrigkeit benötigten, um den Gang der Dinge so zu verstehen, wie der Hof es wollte. Die Entourage wurde in den Rängen platziert, je nach Stand und Ansehen, sie war sowohl Objekt der Inszenierung wie Subjekt ihrer Betrachtung. Das Dispositiv dieser Welt als Bühne mit der jenseits des Proszeniums erscheinenden Bühnenwelt hat in Erlangen eine vergleichsweise bescheidene und charmantere Fassung erhalten als in Bayreuth, der Residenzstadt, die höhere Repräsentationspf lichten erfüllen musste. Die vorschwingende Hof loge des Erlanger Theaters erstreckt sich über zwei Ränge und drei Logen, sie wird überspannt von einem zeltartig geschweiften Baldachin und f lankiert von zwei vergoldeten Karyatiden, die die heitere und die tragische Kunst verkörpern. Wahrscheinlich hielten sie einmal einen Vorhang. Der Baldachin ist geschmückt mit Lambrequin, Rocaille, Maskarons, Akanthusmotiven, an der Bordüre erkennt man chinoise Elemente, wie sie ähnlich das Chinesische Haus im Park Potsdam-Sanssouci aufweist. 13 B ernhard Julius von Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der großen Herren [...], 3. Auflage, Berlin 1733, S. 2. 14 R udolf zur Lippe: »Hof und Schloß – Bühne des Absolutismus«, in: Ernst Hinrichs (Hg.), Absolutismus, Frankfurt am Main 1986, S. 138–161, hier S. 150. Zum Bayreuther Opernhaus vgl. Peter O. Krückmann: Markgräfliches Opernhaus Bayreuth, München 2003.
Das Erlanger Markgrafentheater
Nach dem Stadtratsbeschluss von 1959 wurde das Logenrangtheater mit all seinen profilierten Gesimsen, goldenen Halbbalustern, Blattranken und Rosetten, Palmetten, Kartuschen, Voluten, Bandelwerk und Stuckrahmung in der ursprünglichen Fassung Gasparis rekonstruiert. Bei genauerem Hinsehen auf die dekorativen Elemente erkennt man den Wechsel von leichten und schweren Formen, Aufwärts- und Abwärtsbewegungen und auch einen Wechsel zwischen türkis-dunklen bzw. hell-beigen Farben in den Ornamenten. Alles dies ist en detail in der vorzüglichen Magisterarbeit von Johanna Ziegler nachzulesen (siehe Anm. 2). Das Erscheinungsbild des Zuschauerraumes wird bestimmt vom klaren Gegeneinander der vertikalen Rangstützen und der horizontalen Logenbrüstungen. Der unteren Brüstung sind vergoldete Halbbaluster vorgeblendet, während die oberen mit Voluten, Blatt- und Gitterwerk verziert sind. Der von Markgräfin Wilhelmine mit dem Umbau beauftragte Architekt Gaspari kannte die venezianische Tradition. Er behielt den U-förmigen, leicht einschwingenden Grundriss bei, veränderte jedoch die Gestaltung der Logenansicht durch die schlanken Rangstützen und die neu eingebauten, die Horizontale betonenden Logenbrüstungen. Vor allem aber ergänzte Gaspari den Proszeniumsbogen und die Fürstenloge. Das Proszenium wurde seitlich gerahmt durch je zwei ionisierende kannelierte Kolossalpilaster, zwischen die zwei übereinanderliegende Logen eingefügt wurden. Der obere Proszeniumsabschluss ist korbbogig, die Kartuschen der Bogenlaibung zeigen gemalte Musikinstrumente. In der zentralen, zum Zuschauerraum gerichteten Wappenkartusche erkennt man den Brandenburgischen Adler der Bayreuther Markgrafen, in der Mitte der Bogenlaibung eine Kartusche mit den Initialen der Markgräfin. Beide Theaterhälften wurden durch diesen Proszeniumsbogen (mit dem Orchestergraben) getrennt, aber zugleich auch vermittelt. Dieser wirkt wie ein Scharnier zwischen dem Illusionsraum und dem real existierenden Zuschauerraum.15 Der Bogen war seinerzeit in beiden Richtungen durchlässig, bei Lustbarkeiten, Festlichkeiten konnte das Spektakel auf der Bühne in den Zuschauerraum überschwappen, ganz wörtlich etwa beim Ausschenken von Getränken oder bei Tänzen; umgekehrt stiegen Mitglieder der Hofgesellschaft gelegentlich auf die Bühne, um einzelne Rollen zu übernehmen. Man muss sich auch Markgräfin Wilhelmine als Prinzessin oder Heroine verkleidet vorstellen, sie selbst hatte ja auch eine Oper komponiert. Und im Rollenspiel war sie ohnehin geübt, denn das höfische Leben selbst war ja ein permanenter Maskenball, so zitiert zumindest Bernhard Julius von Rohr einen ›gewissen Autor‹:
15 Vgl. zur Aufführungspraxis auch die Beiträge von Bodo Birk, Clemens Risi, Eckhart Roch und Michael von Engelhardt im vorliegenden Band.
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»Niemand schickt sich zu dieser Verrichtung besser als die Hof-Leute, weil ein Hof nichts anders zu nennen ist, als ein stets währender Schau-Platz, auf welchem immer eine Comoedie nach der andern gespielt wird, und allwo immer neue Personen auftreten, welche ihrer Vorfahren Masquen angenommen. Ist ein Schauspiel geendiget, so werden schon neue Masquen, Scénen, Machinen, Decorationen, und andere zur Verstellungs-Kunst benöthigten Dinge ausgearbeitet, um der Welt ein abermahliges Schau=Spiel vorzustellen.« 16 Die später übliche, eindeutige Abtrennung des Bühnenraumes vom Zuschauerraum erfolgte erst im Klassizismus mit der Autonomisierung des theatralen Geschehens auf der Bühne, etwa im Schauspielhaus Karl Friedrich Schinkels (1781– 1841) in Berlin, das zum modernen Theaterraum überleitet. Nach ihrer durch die erzwungene Heirat mit Markgraf Friedrich III. von Brandenburg-Bayreuth erforderlichen Versetzung in die fränkische Provinz hatte Markgräfin Wilhelmine für Erlangen ein standesgemäß verbessertes Theater bestellt und als Gaspari fertig war, am 7. Januar 1744, berichtete die Reinhardsche Chronik: »Das schöne Opernhaus war zu diesen Lustbarkeiten [...] bequemer eingerichtet und alles nach dem Geschmack der Gemahlin des Markgrafen [...].«17 Gleichwohl ist das Markgrafentheater Erlangen schon relativ fortschrittlich für seine Zeit, moderner als das einige Jahre später gebaute Opernhaus in Bayreuth, mit dem sich Markgräfin Wilhelmine und vor allem ihre Tochter Elisabeth Friederike Sophie (1732–1780) anlässlich ihrer Hochzeit mit dem Herzog Carl Eugen von Württemberg (1728–1793) fast schon im Rang einer Königin in Szene setzen wollte. Gegenüber diesem vier Jahre späteren, deutlich pompöseren Hochbarock-Bau in Bayreuth lenkt der Erlanger Bau die Aufmerksamkeit eher auf die Bühne als auf die Hof loge. In Bayreuth ist die Dekoration dagegen ganz auf den Augenblick der Erscheinung des Fürstenpaares in der Hof loge ausgerichtet. Von einem großen Teil der Rangplätze aus kann man die Inszenierung auf der Bühne kaum richtig sehen, denn man sollte vor allem die Inszenierung im Zuschauerraum sehen. Dieser ist wesentlich üppiger geschmückt als in Erlangen, Vorbild war hier eher der wohlhabende Habsburger Hof in Wien als das zu ihrer Zeit vergleichsweise bescheidene Berlin. Das Erscheinen des Herrscherpaares war der wichtigste Moment der ganzen Inszenierung, man erkennt es auch daran, dass das Deckenbild in Bayreuth nicht auf die Betrachtung durch die Markgrafen und Markgräfinnen in der Loge, sondern im Gegensinn auf die Betrachtung durch die Zuschauer*innen ausgerichtet war. 16 B. J. von Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft, S. 806f. 17 R einhardsche Chronik (um 1774–1779), zitiert nach Ulrike Götz: »Das Erlanger Markgrafentheater – eine Baugeschichte«, in: Von Mauern und Mauerweilern. Festschrift zur Renovierung des barocken Zuschauerraums des Erlanger Markgrafentheaters, Erlangen 1999, S. 35–58, hier S. 48.
Das Erlanger Markgrafentheater
Die Chronologie der süddeutschen Opern- und Theaterbauten führt dann weiter nach München, wo es ebenfalls zuvor schon ein Komödienhaus gegeben hatte, das dann ab 1750 als Logentheater mit vier Rängen und Proszenium zum Opernhaus Cuvilliès ausgebaut wurde. Es wurde 1944 durch einen Bombenangriff komplett zerstört, der durch Spenden finanzierte Wiederauf bau konnte die seinerzeit ausgelagerte alte Bestuhlung integrieren. Ein Ausblick auf die Entwicklung des Opern- und Theaterraums im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert muss vor allem Berlin berücksichtigen, denn sowohl Knobelsdorffs Staatsoper Unter den Linden, die älteste höfische, freistehend außerhalb des Schlossareals von Friedrich dem Großen gebaute Bühne, und damals Vorbild für Markgräfin Wilhelmine, wurde 1787 wegweisend umgebaut und auch das nachrevolutionäre Schauspielhaus am Gendarmenmarkt (1818–21) von Karl Friedrich Schinkel waren prägend für die nachfolgende Opern- und Theaterarchitektur mindestens im deutschsprachigen Raum. In der Staatsoper begradigte man die Logenrangbrüstung zur Bühne hin, so dass die Sicht verbessert wurde, und auch für Schinkel war dann der Vorrang des »Sehens und Hörens« des Bühnengeschehens, entkoppelt von den höfischen Festlichkeiten, das entscheidende Argument in seinem Konzept für den König, das er dem Grafen Carl von Brühl (1772–1837), dem Intendanten des Theaters, erläuterte: »Der Saal für die Zuschauer ist so angelegt, daß die Logen größtenteils das Theater fast grade vor sich haben und der schlechteste Platz den vorderen Teil des Theaters ganz und den letzten Hintergrund mehr als zur Hälfte übersehen kann. Vor den Logen ist nach Art vieler französischer Theater eine Gallerie angebracht, welche sehr angenehme Plätze abgibt und für Personen, die einzeln den ersten und zweiten Rang besuchen wollen, höchst bequem ist. Die Logen dahinter können dann zum Teil ganz abgeschlossen werden. Diese äußere Gallerie so wie die eiserne Brüstung der Logen bildet eine Halbkreisform, die dem Sehen und Hören höchst vorteilhaft ist und zugleich eine schöne Einteilung der Plafondverzierung zuläßt. Die Unterstützung der durch die Gallerien veranlaßten weit vorspringenden Logenbauten geschieht durch feine eiserne Säulchen, die im Sehen nicht hindern, wie solches in mehreren englischen Theatern angewendet worden ist. Für die große Königliche Loge im Fond ist ebenfalls ein eigener Aufgang durch das Ballokal, wodurch der Hof ganz von Publikum getrennt wird, und hinter der Loge ist ein Zimmer angebracht. Der Konzertsaal ist mit einer Gallerie und einer Tribüne versehen, die gleich angenehm für Konzerte und Bälle zu benutzen sind.«18
18 Karl Friedrich Schinkel: Lebenswerk. Erster Teil: Berlin. Bauten für die Kunst, Kirchen, Denkmalpflege, bearbeitet von Paul Ortwin Rave, Berlin 1941, S. 94.
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Während die heutigen Innenräume in Berlin als verfälschende Rekonstruktionen der zerstörten Räume eingeschätzt werden müssen, hat Urs Boeck den Erhalt des Erlanger Markgrafentheaters als denkmalpf legerisch vorbildliche Leistung gewürdigt: »Von beispielhafter Konsequenz war die Erneuerung des Markgrafentheaters von Erlangen 1958 auf 1959. Der gesamte Bau wurde um das gesicherte Logenhaus des Giovanni Paolo Gaspari erneuert. Dem Zuschauerraum galt alle Sorgfalt von der Untersuchung bis zur Freilegung und Ergänzung seiner Dekoration, der Rekonstruktion seiner Decke bis zur vorsichtigen Zufügung der Bestuhlung und der zurückhaltenden Einstimmung seiner Vorräume.« 19
Literaturverzeichnis Andreas Beyer: Andrea Palladio. Teatro Olympico. Triumpharchitektur für eine humanistische Gesellschaft, Frankfurt am Main 1987. Johannes Bischoff: »Neue Beiträge zur frühen Erlanger Theatergeschichte«, in: Die Erlanger Universität, 2. Jg., Nr. 9 (1. Mai 1948), S. 124–126. Urs Boeck: »Denkmalpf lege und Theater«, in: Deutsche Kunst und Denkmalpf lege, 46. Jg., Heft 1 (1988), S. 2–14. Herbert A. Frenzel: Brandenburgisch Preußische Schlosstheater, Berlin 1959. Johann Wolfgang von Goethe: Italienische Reise [1816], 10. Auf lage, München 1981. Ulrike Götz: »Das Erlanger Markgrafentheater – eine Baugeschichte«, in: Von Mauern und Mauerweilern. Festschrift zur Renovierung des barocken Zuschauerraums des Erlanger Markgrafentheaters, Erlangen 1999, S. 35–58. Carsten Jung: Historische Theater in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Berlin / München 2010. Peter O. Krückmann: Markgräf liches Opernhaus Bayreuth, München 2003. Ulf Küster (Hg.): Theatrum Mundi – Die Welt als Bühne. Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München, vom 24. Mai bis 21. September 2003, Wolfratshausen 2003. Hans Lange: »Schauplatz-Metamorphosen – Theaterarchitektur im 17. und 18. Jahrhundert«, in: Ulf Küster (Hg.), Theatrum mundi. Die Welt als Bühne. 19 U rs Boeck: »Denkmalpflege und Theater«, in: Deutsche Kunst und Denkmalpflege, 46. Jg., Heft 1 (1988), S. 2–14, hier S. 8. Eine vorherige Umgestaltung des Theaters, das 1818 aufgrund einer Schenkung Königs Maximilian I. Joseph von Bayern in das Eigentum der Universität übergegangen war und von dieser 1838 an die Stadt Erlangen verkauft wurde, erfolgte 1892/93. Damals wurden die Proszeniumslogen und die Decke im Zuschauerraum verändert, der Dekorationsmaler Joh. Matthäus Pfannmüller schuf ein neues Deckengemälde und die gesamte Raumfassung wurde überarbeitet. 1958/59 erfolgte dann die Rekonstruktion der Fassung Gasparis.
Das Erlanger Markgrafentheater
Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München, vom 24. Mai bis 21. September 2003, Wolfratshausen 2003, S. 53–57. Rudolf zur Lippe: »Hof und Schloß – Bühne des Absolutismus«, in: Ernst Hinrichs (Hg.), Absolutismus, Frankfurt am Main 1986, S. 138–161. Karl Möseneder: »Die Orangerie und das Orangerieparterre als Orte des Herrscherlobs«, in: Die Erlanger Orangerie. Restaurierung eines barocken Kleinods, Erlangen 2012. Eckehart Nölle: Der Theatermaler Gaspari. Ein Beitrag zur Geschichte des Bühnenbildes und des Theaterbaus im 18. Jahrhundert (Phil. Diss.), München 1966. Bernhard Julius von Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der großen Herren [...], 3. Auf lage, Berlin 1733. Nicola Sabbattini: Pratica di fabricar scene, e machine ne’ teatri [1638], übersetzt und mitsamt dem Urtext herausgegeben von Willi Flemming, Weimar 1926. Ursula Schädler-Schaub: »Das Markgrafentheater in Erlangen«, in: Deutsche Kunst und Denkmalpf lege, Jg. 46, Heft 1 (1988), S. 39–42. Karl Friedrich Schinkel: Lebenswerk. Erster Teil: Berlin. Bauten für die Kunst, Kirchen, Denkmalpf lege, bearbeitet von Paul Ortwin Rave, Berlin 1941. Susanne Schrader: Architektur der barocken Hoftheater in Deutschland, München 1988. Hans Tintelnot: Barocktheater und barocke Kunst. Die Entwicklungsgeschichte der Fest- und Theaterdekoration in ihrem Verhältnis zur barocken Kunst, Berlin 1939. Johanna Ziegler: Das Markgrafentheater in Erlangen. Ein Theaterraum von Giovanni Paolo Gaspari. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Erlangen 2005. Harald Zielske: Deutsche Theaterbauten bis zum II. Weltkrieg. Typlogisch-historische Dokumentation, Berlin 1971.
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Weltsicht und Perspektive auf der Opernbühne des 17. bis 19. Jahrhunderts Das Markgrafentheater Erlangen im Kontext seiner Zeit Eckhard Roch
Prolog »Vom ›Herbst des Mittelalters‹ bis zum sterbenden Rokoko rauscht ein bacchantischer Festzug durch die Gassen und Gärten, die Schlösser und Kirchen Europas. Hier ziehen Reiter oder Tänzer durch die Straßen, kostbar geschmückt oder seltsam vermummt, kolossale Bilder schwanken im Getümmel, dort bedeckt sich ein Fluß, ein Teich mit Flottillen von bunten Schiffen oder fremdartigen Fabelwesen. Götter steigen hernieder und schlingen einen wunderbaren Reigen, Fontänen sprudeln aus dem Boden und Kaskaden von den Wänden, zwischen Gartenhecken tanzen Schäfer und Nymphen. Die Nacht verwandelt sich in künstlichen Tag, Lichter überall [...]. Überall ziehen Vermummte einher, sie dringen in die Häuser und mischen sich unter die Tänzer, auf erhöhter Bühne gründen sie ihr eigenes Reich. [...] Die Luft ist geschwängert mit Musik: Musik zum Gottesdienst, Musik zur Tafel, Musik zum Tanz und zum Spiel der Masken. Masken, Lichter, Musik – darein scheint alles Leben verwandelt. Die Höfe Europas werden von einem Taumel erfaßt.«1 Mit diesem sprachlichen Feuerwerk beginnt Richard Alewyn sein faszinierendes Buch Das große Welttheater über die Epoche der höfischen Feste in Europa. »Da ist ein kleines Land«, schreibt Alewyn weiter, »ihm wird die ganze Steuerkraft aus den Adern gepumpt, um ein Schloß von Ausmaßen zu errichten, die der Wahnwitz diktiert zu haben scheint, einen Park anzulegen mit Marmorbildern und Wasserkünsten, eine Oper zu unterhalten […] mit Orchester und Ballett, Dekorationen und Maschinen […] und […] Feste zu geben«,
1 R ichard Alewyn: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste [1959], 2., erweiterte Auflage, Berlin 1985, S. 7.
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die Staunen erregen – das geht ein paar Jahre oder auch Jahrzehnte, dann sinkt das Land zurück, erdrückt von der Schuldenlast, die Oper wird geschlossen, die Sänger werden entlassen.2 Das ist das Schicksal der großen und kleineren Höfe Europas in dieser Zeit, auch der Markgrafschaft Bayreuth mit der Nebenresidenz Erlangen. Markgraf Georg Wilhelm (1678–1726) hatte eine ausgeprägte Leidenschaft nicht nur für Theater- und Opernaufführungen, sondern auch für das Militär, vor allem für die Marine. So ließ er schon als brandenburgischer Erbprinz den Brandenburger Weiher, einen großen Karpfenteich im Nordosten der Stadt, zu einem See ausbauen, ließ eine Schanze anlegen und führte Seeschlachten mit vier bis zu 30 Meter langen Schiffen auf. Dabei ging es offenbar nicht ungefährlich zu. So forderte ein als mehrtägiges Manöver gestaltetes Lustspiel, bei dem der junge Prinz 2.000 Soldaten und Bürger befehligte, mehrere Todesopfer.3 Liselotte von der Pfalz urteilte treffend: »Verrücktheit regiert wohl an diesem Hof«.4 Trotz leerer Kassen erhöhte Georg Wilhelm ab 1712 als Markgraf die Militärausgaben und ging einer regen Baulust nach, zu deren Ergebnissen ja auch das Erlanger Markgrafentheater zählt. Seine Begeisterung für das Theater war groß. Nicht weniger als fünfzig Opern in deutscher Sprache wurden an seinem Hof aufgeführt. Bei allem Hang zu Verschwendung, Exzessen und Verrücktheiten war er ein absolutistischer Herrscher, der streng auf die Befolgung seiner Befehle pochte. So ließ er 1724 fünfzehn »Zigeunerinnen«, die sich dem Ausweisungsgebot widersetzt hatten, am Galgen hinrichten.5 Das ist die andere Seite des kunstliebenden Fürsten. Ein milder und liebenswerter Landesvater scheint er jedenfalls nicht gewesen zu sein, auch wenn er sich für Kunst und Kultur seines Landes durchaus Verdienste erworben hat. Es ist bezeichnend für die Theaterbesessenheit, aber auch die Verschwendungssucht der Zeit, dass der Markgraf Georg Wilhelm und seine Gemahlin, Markgräfin Sophia (1684–1752), die ja in Bayreuth schon ein Theater besaßen, auch in der Nebenresidenz Erlangen nicht auf dieses Vergnügen verzichten wollten. Am 10. Januar 1719, also während des Karnevals, wurde das »Hoch fürstliche Opern- und Comoedienhauß«, mit einer Aufführung der Oper Argenis und Poliarchus eröffnet. Was für ein verschwenderischer Aufwand für zwei einzelne Personen und ihren Hofstaat! Die Quellenlage für diese Eröffnungsaufführung wie auch die weitere Geschichte des Theaters im 18. Jahrhundert ist freilich ausgesprochen dürftig. Zwar 2 R. Alewyn: Welttheater, S. 8. 3 V gl. Christoph Rabenstein / Ronald Werner: St. Georgen. Bilder und Geschichten, Bayreuth 1994, S. 19. 4 Zitiert nach Bernd Mayer: Kleine Bayreuther Stadtgeschichte, Regensburg 2010, S. 48. 5 Vgl. B. Mayer: Bayreuther Stadtgeschichte, S. 50.
Weltsicht und Perspektive auf der Opernbühne des 17. bis 19. Jahrhunderts
ist das Libretto der Oper erhalten, aber weder ein Bühnenbild oder Bühnenbildentwurf und auch keine Musik (vgl. Abb. 3 im Beitrag von Clemens Risi im vorliegenden Band). Dieses Titelblatt ist interessant nicht nur bezüglich dessen, was es zeigt, nämlich den Auftraggeber, den Anlass, Ort und Druck der Oper, sondern vor allem bezüglich dessen, was es nicht zeigt – den Librettisten, den Komponisten und die Ausführenden. Ein solcher Mangel ist aus historischer Sicht natürlich bedauerlich, macht aber zugleich eine Aussage über die Auffassung der Oper in der damaligen Zeit. An erster Stelle stand gewöhnlich der Auftraggeber, es folgte der Architekt oder Bühnenbildner, dann der Librettist und erst ganz zuletzt der Komponist, der zumeist auch gar nicht erwähnt wird. Das ist durchaus kein Sonderfall, sondern typisch für die Zeit. Auch wenn wir heute andere Maßstäbe setzen, so müssen wir uns doch mit dieser Auffassung abfinden, wenn wir das 17. und 18. Jahrhundert verstehen wollen. Die Oper ist um diese Zeit – paradoxerweise trotz ihres Namens – kein autonomes Werk, sondern Teil der barocken Festkultur. Sie ist ein »Unternehmen«, das je nach aktuellem Anlass zustandekam. Wiederaufführungen gab es in der Regel nicht. Auch wenn die Stoffe immer die gleichen oder doch ähnlich waren, so wurden sie doch meist neu komponiert und oft auch neu gedichtet. Darüber, wie die Eröffnungsoper in Erlangen 1719 geklungen haben mag, sind aus historischer Sicht daher nur Vermutungen und Hypothesen möglich. Clemens Risi zeigt sie in seinem Beitrag auf.6 Es ist aber noch eine andere, weniger historische, als vielmehr systematische Perspektive möglich. Wenn der Musikhistoriker am konkreten Einzelfall interessiert ist, so muss der Systematiker gerade umgekehrt vom Einzelfall abstrahieren. Denn unter dem hier verfolgten Aspekt von »Weltsicht und Perspektive auf der Opernbühne« geht es um soziale Strukturen, allgemeine Verhaltensregeln und zeittypische Funktionen. Dieses Vorgehen scheint gerade deshalb erfolgversprechend zu sein, weil sich das ganze 17. und 18. Jahrhundert – wie wir noch sehen werden – am Typischen, am Zeremoniell, der Etikette und nicht am Einzelnen, Subjektiven oder Individuellen orientiert. Man kann angesichts der Quellenlage in Erlangen also durchaus auf analoge Verhältnisse an anderen Theatern und Bühnen zurückgreifen, weil die Verhältnisse überall die gleichen oder doch zumindest ähnliche sind. Wenn es gelänge, den Geist der Zeit mit seinem Denken und Fühlen, seinen Funktionen, Strukturen und Institutionen wenigstens umrisshaft zu beschreiben, dann ließen sich Rückschlüsse auch auf eine kleine Nebenresidenz wie Erlangen ziehen und somit die Lücken im Quellenmaterial wenn nicht schließen, so doch weniger schmerzlich erscheinen lassen.
6 Siehe den Beitrag von Clemens Risi im vorliegenden Band.
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Das Theater als Teil der barocken Festkultur
Die Oper als autonome Gattung – von einem berühmten Komponisten komponiert, in einem Opernhaus mit festem Ensemble als Repertoirestück aufgeführt – ist, zumindest in Deutschland, eine bürgerliche Errungenschaft des späten 18. Jahrhunderts. Dagegen ist sie im 17. und frühen 18. Jahrhundert nur ein Ereignis unter vielen anderen im Rahmen der höfischen Festkultur. Das Erstaunliche daran ist, dass sich an dieser Festkultur in Europa seit dem 16. Jahrhundert bis hinein ins 18. Jahrhundert nichts oder nur wenig geändert hat. Ereignisse der Herrscherfamilie und des Hofes wurden durch Feste gefeiert, die immer auch öffentlichen Charakter trugen und politischen Zwecken der Selbstdarstellung dienten. Wie diese Feste abliefen, aus welchem Anlass sie stattfanden, wie lange sie dauerten und welche Unterhaltung den Gästen geboten wurde, ist in vielen Festberichten überliefert.7 Da gab es Paraden, Aufmärsche, Jagden, Bärenhatzen, Kampfspiele wie Ringreiten, Büchsen- oder Armbrustschießen, Turniere und Seeschlachten, Tafeleien (Festmähler) bis hin zu Feuerwerken, Balletten, Maskeraden und Schauspiel- bzw. Opernaufführungen. Die Feste umfassten alles, was fürstlicher Vergnügungssucht und zugleich politischen Repräsenationszwecken dienen konnte. Dabei fällt eine graduelle Abstufung dieser Veranstaltungen im Verhältnis zur Alltagsrealität auf. Wenigstens vier Ebenen des Realitätsbezuges lassen sich innerhalb der Festkultur unterscheiden, wobei die Übergänge z. T. f ließend sein können: • • • •
1.1
Öffentliche Zeremonien: Paraden, Aufmärsche, Jagden, Festumzüge (Trionfo), Fürstliche Spiele: Turniere, spielerische Kämpfe (Seeschlachten usw.), Fürstlicher Tanz: Ballett, Maskeraden, Karneval, Professionelle Spiele: das Theater mit Schauspiel und Oper.
Öffentliche Zeremonien
Der geordnete Einzug der Gäste eines Festes, in den Berichten umständlich beschrieben, war beispielsweise ein Ritual, an dem alle Beteiligten teilnahmen. Vom Dresdner Hof ist die Zusammenkunft der vier Brüder des sächsischen Herrscherhauses – Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen (1613–1680), Herzog August von Sachsen-Weißenfels (1614–1680), Herzog Christian von Sachsen-Merseburg (1615–1691), Herzog Moritz von Sachsen-Zeitz (1619–1681) – im Jahre 1678 in einer umfänglichen Festbeschreibung aus der Feder des Dresdner Bürgermeisters Gabriel Tzschimmer erhalten. Schon das Titelblatt fasst das Anliegen dieses 562
7 Siehe auch den Beitrag von Bodo Birk im vorliegenden Band.
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Druckseiten umfassenden Berichts nebst Register in der damals üblichen Form zusammen: »Die Durchlauchtigste Zusammenkunft Oder: Historische Erzählung, was der Durchlauchtigste Fürst und Herr Johann George der Ander, Herzog zu Sachsen, Jülich [...] An allerhand Aufzügen, Ritterlichen Exercitien, Schau-Spielen, Schießen, Jagden, Operen, Comödien, Balleten, Maskeraden, Feuerwerken und andern Denkwürdiges aufführen und vorstellen lassen [...] Nebenst etlichen hierzu gefügten Erläuterungen, nachdenklichen Geschichten, heilsamen Sitten-Lehren, Politischen Erinnerungen und gefasten Sprüchen; wie nicht weniger Religion-Estats-Kriegs-Jagt- und andern dießfalls dienlichen Sachen. Allen Edlen Gemüthern zu fernerer Aufmunterung Heroischer Tugenden, Anführung kluger Hoheit Fälle [...] herfür gegeben und zum Drucke befördert durch Gabriel Tzschimmern. Nürnberg 1680.« Nach dieser Widmung beschreibt Tzschimmer umständlich alle Einzelheiten, die, obwohl keine eigentlichen Festveranstaltungen, eben doch auch mit zum Fest gehörten. So verschiedene Musterungen wie der Unter-Guardia zu Fuß (Kupferblatt Nr. 1), die Musterung der Bürgerschaft (Kupferblatt Nr. 2, Länge 127 cm!), ferner die Musterung der Trabanten, der Schweizer usw. Sogar »Der Hoch- und Fürstlichen Personen Auf bruch aus dero Residenzen« ist ein Ereignis, welches der genauen Beschreibung wert ist.8 Den Höhepunkt dieser vorfestlichen Ereignisse bildet dann die detallierte Beschreibung des hierarchisch geordneten Einzugs der Gäste in das Kurfürstliche Schloss, dargestellt auf dem Kupferblatt Nr. 3. mit 81 namentlich aufgeführten Positionen (Abb. 1). Man kann sich die Länge eines solchen Einzuges nur ungefähr vorstellen. Der Kupferstecher, dem daran gelegen war, alle 81 Positionen genau darzustellen, ist daher genötigt, den langen Zug in eine Serpentine von nicht weniger als 30 Ebenen zu transformieren. Der Betrachter schaut vom Ende des Zuges her auf das Geschehen, während der Beginn des Zuges nur noch sehr klein in der Ferne zu sehen ist. Eine ganz ähnlich geartete »Ausführliche Beschreibung« gibt es auch vom Bayreuther Hof, die Beschreibung »Des zu Bayreuth im September 1748 vergegangenen HochFürstlichen Beylagers des würtembergischen Herzogs Carl mit Elisabeth Frederica Sophie von Brandenburg-Culmbach«. Der Autor dieses Festberichtes, Wilhelm Friedrich Schönhaar, beschreibt den Einzug des Herzogs in Bayreuth, seinen festlichen Empfang, verschiedene zu Ehren des Brautpaares veranstaltete Lustbarkeiten wie fürstliche Tafeln, Jagd, Feuerwerk, öffentliche Maskerade, Ball, Komödie, Oper und schließlich die festliche Trauung des Paa8 Gabriel Tzschimmer: Die durchlauchtigste Zusammenkunft [...], Nürnberg 1680, S. 26.
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Abb. 1: Festlicher Einzug der Gäste der »Durchlauchtigsten Zusammenkunf t«
res am Donnerstag, 26. September 1748. Zeitgleich feierte man in der Fürstlichen Schlosskapelle zu Stuttgart einen öffentlichen Gottesdienst und »[i]n der Erlangischen Universitäts-Kirche hielte Herr Doctor und öffentlicher Lehrer der Gottesgelehrtheit und Beredsamkeit, Johann Martin Chladenius, in Lateinischer Sprache eine – die trefflichen Vollkommenheiten des Durchleuchtigsten Braut-Paares abschildernde – lesenswürdige Rede«, während in Bayreuth der Lehrer am dortigen Collegium, M. Gräfenhahn, eine Rede in deutscher Sprache hielt.9 Die Gleichzeitigkeit dieser Veranstaltungen sollte wohl die Anteilnahme der beiden Höfe und ihrer Länder nicht nur symbolisch, sondern Raum und Zeit übergreifend, gewissermaßen in ihrer »kosmischen Dimension«, demonstrieren. Der Schwerpunkt dieser aus württembergischer Perspektive verfassten »Ausführlichen Beschreibung« liegt natürlich auf der Heimführung der Braut nach Stuttgart und den folgenden Festlichkeiten, wobei der Einzug in die Residenzstadt wiederum in der typischen Form in Serpentinen auf einem Kupferstich fest9 Wilhelm Friedrich Schönhaar: Ausführliche Beschreibung [...], Stuttgart 1749, S. 27.
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gehalten ist. Hier sind es 25 Ebenen der Serpentine, wobei am oberen Bildrand sehr schön die Silhouette der Stadt Stuttgart zu sehen ist. Derartige Trionfi waren wirkungsvolle Machtdemonstrationen, bei denen sich der Fürst und sein Hofstaat in ihrer politischen Bedeutung darzustellen suchten. Kommen wir zur zweiten Realitätsebene, der Festkultur:
1.2 Fürstliche Spiele Bei Turnieren und Kampfspielen ging es darum, reale kämpferische Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Die sportlichen Wettkämpfe selbst gehörten zwar schon der Sphäre des Spieles, also einer anderen Realitätsebene an, erforderten aber immer noch reale Aktion und körperlichen Einsatz. So werden im Bericht von der »Durchlauchtigsten Zusammenkunft« beispielsweise ganz genau die Regeln für das Ringreiten, das Büchsen oder Armbrustschießen beschrieben, die Beteiligten namentlich genannt und die Preise aufgeführt. Die Detailtreue und Ausführlichkeit dieser Beschreibung zeigt zugleich die Bedeutung dieser Spiele für die Repräsentation und das Selbstverständnis der Fürsten. Auch dabei ließ man sich die Möglichkeit eines festlichen Aufzuges wie beim Ringreiten der »Durchlauchtigsten Zusammenkunft« nicht entgehen.
1.3 Fürstlicher Tanz, Ballett und Maskeraden Die dritte Realitätsebene: Bei den Tänzen und Balletten, an denen auch die Damen des Hofes teilnahmen, waren tänzerische Fähigkeiten gefragt. Aber der Tanz war kein Ritual oder Spiel, sondern eine künstlerisch stilisierte Form der Bewegung. Maskeraden und Karnevalsumzüge dienten der Lust an spielerischer Verkleidung und am Rollenspiel. Der Übergang zum Theater, bei dem Mitglieder des Hofes z. T. mitwirkten, zeigt sich hier f ließend. Von der Erlanger Nebenresidenz ist bekannt, dass zur Karnevalszeit aufwendige Umzüge stattfanden, an denen auch der Markgraf mit seinem Gefolge teilnahm. Schauen wir uns darauf hin noch einmal die bekannte Erlanger Quelle, den Homann’schen Stich, an. Er zeigt das Schloss mit zugehörigem Park und in den Randbildern gleichsam Detailansichten dieser Anlage. Darunter die große Fontäne, das sogenannte Grüne Theater und unten zwei Beispiele für Karnevals-Lustbarkeiten: rechts ein Maskenball im Redoutensaal und links ein Blick ins Theater mit den berühmten Elefanten auf der Bühne. Wir wissen zwar nicht, um welche Oper es sich handelt. Wir können aber genau sagen, welches festliche Zeremoniell zu sehen ist. Es ist ein Trionfo (Triumphzug), übertragen von der Straße auf die Bühne, und zwar aus der Seitenansicht in die Vorderansicht. Ich möchte den überzeugenden Hypothesen von Clemens Risi in seinem Beitrag nicht widersprechen, sondern vielmehr noch eine weitere Vermutung hin-
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zufügen. Wie wäre es, wenn es sich bei dieser Darstellung gar nicht um eine bestimmte Oper, sondern um einen auf die Bühne versetzten Karnevalsumzug in Vorderansicht handeln würde?10 Aus den Jahren 1721 und 1722 sind zwei Kupferstiche von prächtigen Karnevalsumzügen in Erlangen überliefert (vgl. Abb. 4 und Abb. 5 im Beitrag von Clemens Risi im vorliegenden Band). Die Darstellung in Serpentinen finden wir erwartungsgemäß auch hier. So konnte der Umzug freilich nicht auf der Bühne dargestellt werden. Schauen wir aber noch einmal auf das Bühnenbild des Homann’schen Stiches, der ebenfalls aus dem Jahr 1721 stammt, so finden wir die Überschrift »Carnevals Lustbarkeiten im Opern und Comoedienhauß«, ganz so wie im Redoutensaal (rechtes Seitenbild). Im Redoutensaal wird wohl ein Maskenball stattgefunden haben. Warum aber sollte man sich nicht auch auf der Bühne zum lebenden Bild eines Karnevals-Trionfo zusammengefunden haben? Von anderen Opernhäusern wissen wir, dass man sogar auf der Bühne getafelt hat. Im Rahmen eines Karnevals-Umzugs fänden dann auch das inhomogene Personal auf der Bühne (Turbanträger und Schäfer) und die Sensation der Elefanten ihre stimmige Erklärung.
1.4 Professionelle Spiele: Schauspiel und Oper In der Regel wurden Schauspiele und Opern dem Fürsten und seinem Hofstaat von professionellen Schauspielern und Sängern vorgeführt. Im Unterschied zu den ersten drei Ebenen war der Fürst mit seinem Hofstaat hier zumeist auf die Rolle des Zuschauers festgelegt, was einem völlig anderen Realitätsbezug entspricht. Zwar entstammten die Stoffe der antiken Mythologie (17. Jahrhundert) oder später im 18. Jahrhundert der Geschichte von Fürsten oder Heerführern, aber der Fürst agierte hier nicht mehr selbst, sondern erlebte das Geschehen aus der Distanz, d. h. auch der Selbstdistanz, wie in einem Spiegel. Die oben genannten vier Stufen des Realitätsbezuges schreiten also von realer Aktion zur passiven Zuschauerhaltung voran und bewirken damit einen zunehmenden Abbau von realer Interaktion. Oder anders formuliert: Die Festkultur bewegt sich im Spannungsfeld von • • • •
Aktivität und Passivität, Realität und Imagination, Natur und Künstlichkeit (Verkleidung, Spiel) und – was mir besonders wichtig erscheint – im Spannungsfeld von Sein und Schein.
10 Siehe den Beitrag von Clemens Risi im vorliegenden Band.
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Den genannten vier Beispielen fürstlicher Präsentation sind entsprechende Institutionen und Räume zugeordnet. In Erlangen befinden sie sich auf engstem Raum beieinander: Stadt, Schlosspark, Redoutensaal und Theater. Sehr schön zeigt diesen Zusammenhang der Homann’sche Stich. Der Lustgarten ist eine fürstliche Welt im Kleinen. Nach repräsentativen Aufmärschen, Paraden, Gottesdiensten, Kampfspielen und üppigen Gastmählern folgte am Abend meist ein Schauspiel oder eine Oper als Abschluss eines Festtages. Auch das Theater diente jedoch nicht nur der Unterhaltung und Zerstreuung, sondern hatte vor allem repräsentative Funktion. Denn hier konnte mit den Mitteln der Kunst alles auf den Fürsten projiziert werden, was der Stärkung und Erhaltung seiner Macht dienlich schien.
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Das Theater – ein großer Apparat zur Projektion
Theater bedeutet immer Transformation, nicht Abbild der Realität. Die Dinge der Welt werden im Theater auf die Bühne projiziert und dabei verändert. Dabei stellte man die Welt nicht dar, wie sie ist, sondern wie sie sein sollte. Die Projektionen sind suggestive Wunschäußerungen, und die Bühne ist ihr technischer Apparat. Bei einer Tiefe von nur elf Metern (wie im Erlanger Theater) bedurfte es dazu einer besonderen Bühnentechnik. Diese Technik der Projektion ist die Perspektive.
2.1 Zentralperspektive Schauen wir uns darauf hin den Homann'schen Stich, der ja die einzige erhaltene Abbildung des Erlanger Theaters zur Zeit seiner Eröffnung enthält, noch einmal genauer an (vgl. Abb. 2 im Beitrag von Clemens Risi im vorliegenden Band). Das Bühnenbild zeigt – wie schon erwähnt – einen Trionfo, transformiert in die Perspektive der Bühne, genauer gesagt in die vor allem im 17. Jahrhundert dominierende sogenannte Zentralperspektive. Diese Zentralperspektive ist gewissermaßen das Bühnen-Objektiv der barocken Weltsicht bzw. des absolutistischen Zeitalters. Die Dinge der Welt werden symmetrisch angeordnet und auf einen zentralen Punkt bezogen. Auf dieser symmetrischen Achse hängt alles mit allem zusammen. Alles läuft auf den Mittelpunkt hinaus: das fürstliche Palais, eine Fontäne oder die Gestalt des Fürsten selbst im französischen Park, während sich der Blick in eine vorgetäuschte unendliche Weite verliert. Zentralperspektive funktioniert wie ein Objektiv welches das Ganze einzufangen vermag. Sie entspricht damit ideal den mythologischen Stoffen, die auch immer ein zeitloses Ganzes auf die Bühne bringen. Der zentralperspektivisch angelegte Bühnenraum des alten Erlanger Markgrafentheaters setzt sich fort in den Zuschauerraum. Auch die Logen sind rechts und links aufgereiht wie die Kulissen der Bühne. Man konnte sich gegenseitig gut
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sehen, weniger die Handlung auf der Bühne.11 Aber man war Teil einer perspektivischen Konstruktion, die allein auf die zentrale Fürstenloge ausgerichtet war. Ob Städteansichten, Parkanlagen oder Hafenszenen: Alle möglichen Szenerien wurden in das symmetrische Schema der Zentralperspektive, welche den Blick in unendliche Weite freizugeben schien, gepresst. Selbst eine Grotte verliert sich im Unendlichen, wo die konisch verlaufenden Linien sich treffen. Die Konstruktion des alten Erlanger Theaters entspricht somit ganz einem Typus, wie er im 17. Jahrhundert (z. B. dem Teatro Grimani in Venedig, erbaut 1678) üblich war.12 Um 1719 war diese Konstruktion jedoch eigentlich schon veraltet, und sie entsprach auch nicht dem Sujet der Oper Argenis und Poliarchus, das voller Intrigen und unerwarteter Ereignisse war. Vor allem für den dargestellten Trionfo war die zentralperspektivische Bühne denkbar ungeeignet. Denn das zentralperspektivische Theater ist statisch. Die Darsteller stehen oder tanzen im Vordergrund der ja nur scheinbar tiefen Bühne. Ihre Bewegung ist eingeschränkt oder tänzerisch stilisiert, im Grunde auf Auftritt und Abgang reduziert. Wie sollten sich die Darsteller des Trionfo auf dem Homann’schen Bühnenbild bewegen? Sie können also nur gestanden haben!
2.2 Winkelperspektive Die auf dem Homann’schen Stich gezeigte Vorderansicht passte nicht zum repräsentativen Aufzug eines Trimphzuges. Der Trionfo entfaltet seine Wirkung erst in der Bewegung, dem Vorbeiziehen einer langen Kette von Personen und Wagen. Beim Kupferstich des Einzugs der Gäste der »Durchlauchtigsten Zusammenkunft« in Dresden war die Länge des Zuges in Form von Serpentinen auf die Fläche projiziert worden. Die Bühne bedarf zur Darstellung von Bewegung einer anderen Konstruktion, nämlich der sogenannten »Veduta per angolo« oder zu deutsch Winkelperspektive, wie sie Ende des 17. Jahrhunderts von der berühmten Architekten-Familie der Galli Bibiena erfunden worden war und in der Folgezeit auf alle Bühnen Europas übertragen wurde. Giuseppe Galli Bibiena gestaltete 1745–1748 für Markgräfin Wilhelmine (1709–1758) das neu erbaute Opernhaus in Bayreuth. 13 Dieser Bühnenapparat funktioniert anders als die alte zentralperspektivische Bühne und er bringt auch andere Sujets hervor. Plötzlich stehen die Gebäude quer und versperren den Blick. Sujets eines Typus, wie sie vor allem durch die Libretti Pietro Metastasios verkörpert wurden, sind hierfür bestens geeignet: verwickelte Geschichten mit vielen Intrigen und überraschenden Wendungen. Dieser neue 11 Siehe auch die Beiträge von Michael von Engelhardt und Hans Dickel im vorliegenden Band. 12 Siehe auch den Beitrag von Hans Dickel im vorliegenden Band. 13 Siehe den Beitrag von Clemens Risi im vorliegenden Band.
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Typus ist realistischer und spannender als die mythologischen Stücke des 17. Jahrhunderts. Aber die Ganzheit der Welt geht verloren. Der Betrachter sieht nur noch einen Ausschnitt, der große Zusammenhang bleibt ihm verborgen. Auch die Stellung und das Bild des Herrschers verändern sich. Er steht nicht mehr im Zentrum des Geschehens, sondern ist selbst Teil eines komplexer werdenden Gefüges, Akteur und Opfer von Intrigen. Damit ist er verletzbar, aber zugleich auch realistischer, menschlicher geworden. Die Winkelperspektive bringt auch neue, individuellere Möglichkeiten der Darstellung mit sich. Sie dynamisiert die Handlung. Bewegung, die auf der Bühne notwendigerweise immer in der Fläche und nur sehr eingeschränkt in der Tiefe geschieht, wird möglich. Die Darsteller können sich jetzt auf natürliche Weise, d. h. entsprechend der Handlung bewegen. Die Zeit kommt ins Spiel: Bühnenzeit. Dennoch wird dieser neue Typus nicht wirklich erfunden. Es gibt Übergänge von der Zentral- zur Winkelperspektive. So etwa, wenn die Bühne durch eine Säule symmetrisch in zwei Hälften geteilt wird (Abb. 2). Hier tun sich zwei Wege, zwei Alternativen auf. Die Winkelperspektive bringt die Erkenntnis, dass die Dinge auch anders gesehen werden können, unter verschiedenen Blickwinkeln. War das Theater der Zentralperspektive mit seiner einen Dimension die Bestätigung der einen, gottgewollten Ordnung, so ist die dreidimensionale Winkelperspektive das Theater verschiedener, immer wieder überraschender Möglichkeiten. Die Welt wird komplexer, unberechenbar und undurchschaubar. Andererseits wird das Bild näher gerückt, es erscheint realistischer. Und es zeigt seine Grenzen auf. Nicht zufällig gehören dem neuen Typus auch Gefängnisszenarien an. Berühmtheit erlangte vor allem Giovanni Battista Piranesi (1720–1778) mit den sechzehn Platten der Carceri d’Invenzione (Erfundene Kerker) von 1760 bis 1761: die Welt als Gefängnis. Der Typus der Bühnenbilder zeigt die Weltsicht einer Zeit, egal auf welchem Theater und mit welchem Stück. Die neuen Sujets des 18. Jahrhunderts – historische Stücke mit Herrschern und Feldherren, die vielfachen Verwicklungen und Intrigen ausgesetzt sind – erfordern eine neue Bühnentechnik, d. h. den Wechsel von der Zentral- zur Winkelperspektive. Die Notwendigkeit einer solchen Umgestaltung des Theaters in Erlangen erkannte erst die Markgräfin Wilhelmine, Gattin Markgraf Friedrichs III. (1711–1763) und Schwester von Friedrich dem Großen (1712–1786). Sie beauftragte den venezianischen Theatermaler und -architekten Giovanni Paolo Gaspari mit der zeitgemäßen Umgestaltung des Theaterraumes, wie er im wesentlichen bis heute erhalten ist.
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Abb. 2: Veduta per angolo: Filippo Juvarra, Bühnenbild für die Oper Il Ciro im Teatro Ottoboni, Rom 1744 wurde das Theater mit dem Singspiel Sirace neu eröffnet.14 Ein Intrigenstück, nach einem Libretto von Andrea Galletti, dessen vielfältige Verwandlungen eindeutig der Winkelperspektive bedurften.15 Das Theater ist ein großer Apparat zur Projektion: Unbedeutendes wird bedeutend, kleines wird groß und umgekehrt. Die Lobeshymnen des 17. und 18. Jahrhunderts gelten der Überhöhung des Herrschers, der sich im Innersten jedoch seiner menschlichen Schwäche und Einsamkeit längst bewusst ist und daher des Aufwandes an Inszenierung bedarf. Die gesamte Festkultur dient, wie Richard Alewyn formuliert, der Flucht aus dem leeren Raum und aus der leeren Zeit, beides Sinnbilder der Angst vor dem Nichts. Und er zitiert einen kritischen Zeitgenossen, Blaise Pascal, der die Situation so beschreibt: »Man mache den Versuch, man lasse einen König ganz allein [...] mit aller Muße an sich denken und man wird sehen, daß ein König, der sich sieht, ein Elend ist und es fühlt wie ein andrer.«16 Und so fehlten in der Nähe der Fürsten niemals die Menschen in gro14 Vgl. Susanne Ziegler: »Eine kurze Geschichte des Theater Erlangen«, in: Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.), 300 Jahre Theater Erlangen. Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2019, S. 8–15, hier S. 8. 15 Vgl. auch die in der Ausstellung Was für ein Theater! 300 Jahre Markgrafentheater im Stadtmuseum Erlangen vom 9. Dezember 2018 bis 14. April 2019 gezeigten Bühnenbildentwürfe zu Sirace, die eine Winkelperspektive zeigen. 16 Blaise Pascal: Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände. Aus dem Französischen übersetzt von Karl Adolf Blech. Mit einem Vorwort von August Neander, Berlin 1840, S. 153.
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ßer Zahl, die darauf zu achten hatten, dass den politischen Geschäften die Zerstreuungen folgten. Menschen, »die mit einer bewunderungswürdigen Sorgfalt verhüten, daß der König allein sei und im Stande an sich selbst zu denken, denn sie wissen, wenn er daran denkt, wird er unglücklich sein, obschon er König ist.«17 Ein unglücklicher Herrscher aber bringt im absolutistischen System letztlich die soziale Ordnung in Gefahr. Dem Volk – und wird es noch so sehr unterdrückt – muss daher am Wohl und der Stärke seines Herrschers gelegen sein, weshalb es alle positiven Eigenschaften und Wünsche auf ihn projiziert.
2.3 Projektion und Suggestion Das Phänomen derartiger Projektionen hat eine lange Tradition, die sogar in die Zeit des Ursprungs der Oper zurückführt. Die Intermedien zur Komödie La pellegrina, aufgeführt anlässlich der Hochzeit zwischen Ferdinando de’ Medici (1549– 1609) und Christina von Lothringen (1565–1636) in Florenz 1589, hatten sämtlich einen mythologischen Gegenstand, der sich allegorisch auf das reale Ereignis projizieren ließ. So bedeutsam erschien den versammelten Künstlern – und es waren die besten ihrer Zeit – dieses politisch hochbedeutsame Ereignis. Aber sie knüpften ihrerseits auch entsprechende Erwartungen an das neue Herrscherpaar. So stieg im ersten Intermedium die Göttin Harmonia im Rahmen einer spektakulären Wandeldekoration zur Erde herab. Im dritten besiegte Apollon den Drachen der Zwietracht. Im vierten wurde die Macht der Hölle überwunden. Und im sechsten Intermedium vereinigten sich sieben fünfstimmige Chöre, um die Wiederkunft des Goldenen Zeitalters unter der Herrschaft des Fürstenpaares zu verkünden. Hier ein Auszug aus dem ersten Intermedium: PARZEN Euch, königlichem Hochzeitspaar, Euch huldigen die großen Götter des Himmels. SIRENEN Nicht nur mit Blumen Schmückt für sie sich Flora, Mit Perlen und Rubinen ziert sie sich. Drei fünfstimmige Chöre in kunstvollem Wechselspiel lassen die Harmonie der Sphären erklingen. Die Stimmen brillieren in klangmalerischer Figuration, der sogenannten Florificatio. Der Himmel scheint von ihrem Echo widerzuhallen. Kann man ein Hochzeitspaar prächtiger feiern als mit einer solchen Musik? Dabei 17 B. Pascal: Gedanken über die Religion, S. 153f.
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ist die suggestive Tendenz in diesem Hymnus nicht zu überhören. Darin bestand ja die rhetorische Intention solcher Zwischenspiele: dem Fürstenpaar in allegorischer Form zu huldigen, aber zugleich auch handfeste Hoffnungen und Erwartungen zu projizieren. In barocker Übertreibung diente der antike Mythos vom Goldenen Zeitalter als Gegenstand dieser Projektion. Die Funktion der Intermedien, eine Verbindung zwischen dem aktuellen Ereignis, sei es eine Hochzeit oder ein Geburtstag, herzustellen, indem es bestimmte Inhalte auf die Protagonisten projizierte, wurde von der wenig später entstandenen Oper mit ihren mythologischen Sujets nahezu bruchlos übernommen. Und die Fürsten gefielen sich in dieser Rolle. Zum Teil schlüpften sie selbst in die göttliche Maske und das Kostüm und erfüllten so die projizierten Wünsche wenigstens auf der Theaterbühne. Mochte der Fürst noch so tyrannisch und verschwenderisch sein, er wurde doch als tapferer, gerechter und milder Wohltäter seines Volkes gepriesen. Wo der thematische Bezug zum aktuellen Ereignis und eine entsprechende Wunschprojektion nicht ohne weiteres möglich war, übernahmen Prologe, Vorworte und Widmungen diese Aufgabe. Es fällt immer wieder auf, dass die Verherrlichung eines Ereignisses, Herrschers oder Herrscherpaares zugleich auch suggestive Absichten verfolgte. Selbst kleinere Höfe wie Gotha oder Weißenfels, welche für die Tradition der deutschen Oper im 17. Jahrhundert bedeutend waren, folgten dieser Tendenz. Hier ein Beispiel vom Weißenfelser Hof, zu dem der Bayreuth-Erlanger Hof durch die Herzogin Sophia, die ja eine Sachsen-Weißenfelser Prinzessin war, in Beziehung stand: Anläßlich des Geburtstages der Herzogin Johanna Magdalena zu Sachsen-Weißenfels (1656–1686) wurde im Jahr 1682 neben einigen anderen »Ergötzlichkeiten« ein Freudenspiel in fünf Handlungen und einer musikalischen Vorrede aufgeführt: Der witzige Freyer oder der Rosabelle Schäferey.18 Derartige Schäfer-Idyllen waren in dieser Zeit äußerst beliebt, da sich die Fürsten nur zu gern selbst in der Rolle von Schäfer und Schäferin sahen. Als »Freudenspiel« war Der Rosabelle Schäferey zur Auszierung einer Geburtstagsfeier daher zwar bestens geeignet, aber zugleich musste es auch in eine politische Dimension transformiert werden. Diese Funktion erfüllt das Vorspiel: Pales und Pan philosophieren über den Zusammenhang von Frieden und Gedeihen. »Irene geht der Flora vor/ Wie hoch sie auch die Zier der Gärten treibet. Wenn nur der Fried im blühen bleibet!«
18 Forschungsbibliothek Gotha, Smbd. Poes. 40 2164-2165.
Weltsicht und Perspektive auf der Opernbühne des 17. bis 19. Jahrhunderts
Den Vergleichspunkt der Metapher bildet also das Blühen, der Gärten auf der einen und des Staates auf der anderen Seite. Das kann nur im Frieden gedeihen. Die große Vorliebe des 17. und 18. Jahrhunderts für die Allegorie hat in ihrer Vermittlungsfunktion zwischen festlichem Anlass und Schauspiel bzw. Oper wohl ihre Ursache. Alles kann und muss allegorisch gedeutet werden. Die Transformation des Historischen ins Allegorisch-Mythologische dient dem Lobpreis des Fürsten und der Wunschprojektion der Untertanen zugleich. Göttliches wird auf Irdisches projiziert, Privates in eine allgemeine höhere Sphäre gehoben. Die schon erwähnte »Durchlauchtigste Zusammenkunft« (Dresden 1678) ging noch einen Schritt weiter. Sie stellte das gesamte Ereignis unter ein mythologisches Motto: die Zusammenkunft und Wirkung der sieben Planeten. Die Idee, ein fürstliches Ereignis in die kosmische Dimension zu projizieren, war an sich nicht neu, auch das gab es schon bei der Fürstenhochzeit 1589 in Florenz. Neu ist aber, dass nicht nur am 3. Februar 1678 im Komödienhaus ein »Ballett von Zusammenkunft und Wirkung der VII Planeten« aufgeführt wurde, sondern gewissermaßen die gesamte Zusammenkunft und alle Veranstaltungen des Festes, darunter auch ein Ring- und Quintanrennen, im Sinne dieses Mottos gedeutet und entsprechend inszeniert wurden. Das Theater erfasst das ganze, eigentlich politisch motivierte Ereignis. Die Schlussszene des Balletts zeigt eine Himmelsszenerie. In dieser Wolkenhalle erscheinen noch einmal die Planetengottheiten, um eine Lobeshymne auf das wettinische Herrscherhaus anzustimmen. Während Saturn umgeben von einer Lichtaureole aus der Versenkung hervorsteigt, treten die Personif kationen der anderen sechs Planeten von ihren Wolkenpodesten herunter. Nachdem sie zusammen das Hauptballett getanzt haben, verabschieden sie sich mit dem Wunsch, das wettinische Herrscherhaus möge auch weiterhin »gantz Deutschland ... erquicken«.19 Höfe wie Ansbach, Darmstadt oder Bayreuth-Erlangen eiferten den großen wie Dresden, Stuttgart oder München nach, welche derartige gedruckte und bebilderte Darstellungen von ihren Festen veröffentlichten. Von der Eröffnungsveranstaltung des Erlanger Komödienhauses während des Karnevals 1719 ist zwar kein solcher Festbericht überliefert, aber es ist davon auszugehen, dass auch hier neben der Repräsentation des Fürsten die Projektion bestimmter Wunschvorstellungen eine Rolle spielte. Die Oper Argenis und Poliarchus beginnt mit einem Triumph-Zug nach gewonnener Schlacht:
19 Vgl. Uta Deppe: »Die Festlichkeiten am Dresdner Hof anläßlich der ›Durchlauchtigsten Zusammenkunft‹ 1678«, in: Eleonore Sent (Hg.), Die Oper am Weißenfelser Hof, Rudolstadt 1996, S. 95–116, hier S. 109.
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Frohlocke hoch=beglücktes Reich! Dein Feind ist nun gefällt. Poliarchus, einer der Helden des Stückes, kann nun in das Land zurückkehren: Die Laster müssen endlich fallen/ Die Tugend aber steigt empor. Kriegerischer Grausamkeit und vermeintlichem Heldentum wird von den Frauen des Stückes eine umissverständliche Absage erteilt: Wir sind die Helden derer Helden: Diß muß auch selbst der Neid gestehn. Wann wir nicht auf der Erden wären/ So würde derer Tapferkeit Die Welt in einer Kurzen Zeit In eine Wüsteney verkehren. (I,3) Wie mögen solche Verse in den Ohren des tyrannischen und militärbegeisterten Markgrafen wohl geklungen haben? Gerade die deutsche Oper des 18. Jahrhunderts ist reich an derart moralisierenden Sujets, und auch in der Ära der Wilhelmine von Bayreuth bleibt diese belehrende und tugendfördernde Tendenz bestehen. In ihrer Komposition Argenore 1740 überwand Wilhelmine die sonst übliche affirmative Tendenz der Opern. Statt des sonst üblichen lieto fine wählte sie einen tragischen und damit kritischen Schluss. Der Tyrann tötet sich am Ende selbst und nur zwei der sieben Protagonisten überleben.20 Bekanntlich enthält das Werk eine Anspielung auf die schlimmen Erfahrungen Wilhelmines und ihres Bruders, Friedrichs des Großen, mit ihrem grausamen Vater, Friedrich Wilhelm I. von Preußen (1688–1740). In ihrer »Festa teatrale« L’Huomo, uraufgeführt am 19. Juni 1754 im Markgräf lichen Opernhaus Bayreuth anlässlich eines Besuches ihres Bruders, lässt Wilhelmine die weibliche und die männliche Seele als Animia und Anemone über Vernunft und menschliche Laster philosophieren: »Die Unbeständigkeit, der Leichtsinn, der Betrug und die Arglist waren jederzeit Schoßfreunde der Menschen. Die Vernunft überwindet sie am Ende, und Anemon scheinet durch ihren 20 V gl. Susanne Ziegler: »Von Teufelsweibern auf dem Parnaß. Über die Theatermäzenin Wilhelmine von Brandenburg-Bayreuth«, in: Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.), 300 Jahre Theater Erlangen. Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheather der Zukunft, Berlin 2019, S. 35–40, hier S. 38.
Weltsicht und Perspektive auf der Opernbühne des 17. bis 19. Jahrhunderts
Sieg eine Überzeugung zu bekommen.«21 Und dann formuliert Wilhelmine eine erstaunliche Einsicht in die illusionäre Funktion des Theaters: »Billig befürchtet man, daß dieser Triumph niemals anders, als auf der Schaubühne entstehen werde.«22
2.4 Funktion der Musik Und die Musik? Johann Joachim Quantz (1697–1773), der nicht nur der Flötenlehrer Friedrichs II., sondern auch des Bayreuther Markgrafen war, schreibt im XI. Hauptstück seines Versuchs einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen: »Der musikalische Vortrag kann mit dem Vortrage eines Redners verglichen werden. Ein Redner und ein Musikus haben sowohl in Ansehung der Ausarbeitung der vorzutragenden Sachen, als des Vortrages selbst, einerley Absicht zum Grunde, nämlich: sich der Herzen zu bemeistern, die Leidenschaften zu erregen oder zu stillen, und die Zuhörer bald in diesen, bald in jenen Affekt zu versetzen.«23 An erster Stelle steht folglich der Text, die Musik fügt diesem nur die passenden Affekte hinzu. Im Laufe der Geschichte haben sich dementsprechend bestimmte musikalische Stilarten herausgebildet. Beispielsweise der Kirchenstil, der Kammerstil und der Theaterstil. Letzterer brachte verschiedene Ausdrucks- und Formtypen hervor. Das Rezitativ, die wohl schematischste Kompositionsform, und die Arie, welche sich wiederum in verschiedene Charaktertypen unterteilt. Die Romanze, das Klagelied, die Rachearie usw. Hinzu kommen verschiedene Ensembletypen wie Duett, Quintett usw. bis hin zum Chor. Eine besondere Form der Bühnenaktion stellen Märsche und Tänze dar. Alle diese Formen und Ausdrucktypen dienten der Lehre der Zeit gemäß dem Ausdruck bestimmter Affekte. Die Affektenlehre stellte eine Typologie von Ausdrucksmöglichkeiten für ganz bestimmte szenische Anlässe auf. Eine gute Komposition zeichnete sich dadurch aus, dass sie den Normen des jeweiligen Stils und des Affekttypus entsprach, wobei man davon ausging, dass eine Arie oder ein Chorstück immer nur einen Affekt ausdrücken sollte, weil die Affekte sich sonst gegenseitig auf heben würden. So ist beispielsweise die Arie des Ormondo Vado morir per te (»Ich gehe, um für dich zu sterben«) aus Wilhelmines Oper Argenore dem Inhalt nach eine Abschieds- und Klagearie. Originell war eine solche Musik nicht, sie hatte ja vor allem dem erforderlichen Typus zu entspre21 Wilhelmine von Bayreuth: L'huomo, Bayreuth 1754 (Vorwort), zeitgenössische deutsche Nachdichtung von Philipp Cuno Christian von Bassewitz. 22 Wilhelmine von Bayreuth: L‘huomo (Vorwort). 23 Joachim Quantz: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen, Berlin 1752, S. 100.
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chen. Auf diese Weise entstanden keine individuellen Charakterstücke, sondern musikalische Topoi, die ähnlich den Topoi der Wortsprache immer wieder verwendet werden konnten. So erklären sich auch die Phänomene der Kontrafaktur, des Pasticcios und die mehrfache Verwendung bestimmter Melodien in verschiedenen Werken. Man orientierte sich auch dabei an der Rhetorik, welche davon ausging, dass die res (das Material) einer Rede immer schon da seien und nur neu geordnet zu werden brauchten. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts und vollends im 19. Jahrhundert wird dieses starre Prinzip allmählich durchbrochen. Das Pasticcio wird immer seltener, der Komponist tritt gegenüber dem Librettisten in den Vordergrund. Die Abweichung von der Norm wird zur Regel, das sogenannte Originalitätsprinzip entsteht.
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Ausblick
Zum Schluss nur ein kurzer Ausblick – eigentlich »Seitenblick« – auf das 19. Jahrhundert. Die Bühne des 19. Jahrhunderts mit historischer und romantischer Oper entwickelt sich zur sogenannten Guckkastenbühne wie beispielsweise bei Karl Friedrich Schinkels Bühnenbild zu Kühleborns Wasserpalast in E. T. A. Hoffmanns Märchenoper Undine (1814). Die Dreidimensionalität der Winkelperspektive ist hier auf den sogenannten Guckkasten, in dem man mehr oder weniger alles zeigen kann, reduziert. Dieser Typus herrscht im 19. und 20. Jahrhundert und bis in die Gegenwart vor. Versuche, diese Beschränkung zu überwinden, die Bühne und den Apparat des Opernhauses im Sinne der jeweiligen Weltsicht zu verändern oder gar zu revolutionieren, hat es seither immer wieder gegeben. Der prominenteste Versuch dieser Art führt wiederum nach Bayreuth. Bayreuth verfügt neben dem berühmten markgräf lichen Theater ja noch über ein zweites berühmtes Opernhaus: Richard Wagners (1813–1883) mit der Tetralogie vom Ring des Nibelungen 1876 eröffnetes Festspielhaus, nach griechisch-antikem Vorbild ohne Ränge gebaut und zur akustisch besseren Verständlichkeit der Sänger mit der berühmten »Tarnkappe« des Orchestergrabens versehen. Vor dem Hintergrund der Bayreuth-Erlanger Theatergeschichte wird es verständlich, dass Wagner gerade in der kleinen Residenz Bayreuth den Boden für seine Ideen fand. Wagners Interesse an Bayreuth als Ort für sein Festspielhaus war nicht zuletzt durch das Markgräf liche Opernhaus geweckt worden. Reinhard Wiesend hat in einem Aufsatz auf die vielfältigen Parallelen zwischen Markgräfin Wilhelmine und Richard Wagner hingewiesen. Beide schrieben und komponierten ihre Libretti selbst, ref lektierten und organisierten den Opernbetrieb und er-
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richteten zu diesem Zweck ein eigenes Opernhaus. Beide stellten mit ihrer Kunst einen moralischen Anspruch.24 Aufschlussreich sind aber auch die Unterschiede. Wilhelmines Opern waren Teil der Festkultur, Wagners Musikdramen stellten den Anspruch autonomer Werke, wurden jedoch zugleich als »Festspiele« oder gar »Weihfestspiele« proklamiert. Wilhelmines Barocktheater steht an der Straße. Wagners schlichter Zweckbau zentralperspektivisch auf dem grünen Hügel außerhalb der Stadt. Nicht mehr das fürstliche Schloss, sondern das Theater steht bei Wagner im Mittelpunkt der Welt. In den Bühnenbildern Wagners selbst fehlt die zentralperspektivische Konzeption. Wagner hat seine Vision vom Theater im Mittelpunkt der Welt merkwürdigerweise in einem anderen Medium verwirklicht, dem Medium der theoretischen Kunstschrift. Was die Künstler des 17. und 18. Jahrhunderts noch mit Widmungen und allegorischen Zuschreibungen versucht hatten, bedarf jetzt eines enormen kunsttheoretischen Aufwandes. Um die Verhältnisse am Dresdner Hoftheater in seinem Sinne zu verändern, war Wagner 1848 Revolutionär geworden. Nach der gescheiterten Revolution greift er zu einem bewährten Mittel des Theaters, der Projektion. Das Kunstwerk selbst soll der revolutionären Veränderung vorangehen, indem es der Welt zeigt, wie sie sein sollte.25 Diese neue Oper nennt er »Kunstwerk der Zukunft«. Die wesentlichen Gedanken, wie die Geschichte der Oper notwendig in das Wagnersche Kunstwerk mündet, hat Wagner in seiner Schrift Das Kunstwerk der Zukunf t (1849) entwickelt, und zwar nicht nur in erzählerischer, sondern geradezu sprachlich-dramatischer Form. Schon Eduard Devrient bemerkte treffend, das sei ja kein normaler Text, sondern ein »Schachspiel mit Begriffsformeln«.26 Eine Strukturanalyse des Textes zeigt, dass Wagner tatsächlich Begriffe der Ästhetikund Philosophiegeschichte wie die Figuren eines Schachspiels in den Gegensätzen von Soll- und Ist-Wert gegenüberstellt und zwar in loser Folge wie die Requisiten einer zentralperspektivischen Theaterkulisse. Erst in weiter Ferne, der Zukunft, da wo sich die Gegensätze berühren und dialektisch auf heben, entsteht als Vereinigung der Gegensätze das Wagnersche »Kunstwerk der Zukunft«.27
24 Reinhard Wiesend: »Markgräfin Wilhelmine und die Oper«, in: Peter O. Krückmann (Hg.), Galli Bibiena und der Musenhof der Wilhelmine von Bayreuth (= Paradies des Rokoko, Band 2), München / New York 1998, S. 94–97, hier S. 94. 25 R ichard Wagner: »Die Kunst und die Revolution«, in: Ders., Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe, Band 3, Leipzig o. J. [1911], S. 8–41, hier S. 32. 26 Eduard Devrient: Aus seinenTagebüchern. Band I. Hg. von Rolf Kabel, Weimar 1964, S. 519. 27 Vgl. das folgende, stark verkürzte Struktur-Modell. Zur genaueren Analyse des Textes vgl. Eckhard Roch: Psychodrama. Richard Wagner im Symbol, Stuttgart / Weimar 1995, S. 33–123.
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Natur (Soll) Notwendigkeit Erkenntnis wirkliches Leben Erkenntnis der Natur Ende der Wissenschaft Kunstwerk
Mensch (Ist) Willkür Irrtum Wissenschaft (Selbstvernichtung)
Zentralperspektive, verinnerlicht im Medium der Sprache! Auch diese Perspektive funktioniert ganzheitlich, aber sie ist nur noch eine gewaltsame, abstrakte Konstruktion. Wagners Rückgriffe auf barocke Motive und barocke Illusionen samt ihrer Technik sind oft benannt worden. Zur Umsetzung seiner Visionen auf der Bühne fehlte ihm selbst jedoch das malerische Talent und der kongeniale Bühnenbildner. Das Theater als Mittelpunkt der Welt hätte eigentlich einer zentralperspektivischen Umsetzung bedurft, nicht des zeitgenössischen Guckkastens. Und doch ist gerade die Rolle der Musik in Wagners musikdramatischer Konzeption an den Vorgang der Projektion gebunden. In einem Aphorismus zu Oper und Drama aus Wagners Nachlass heißt es: »Oper eben nur ähnlich der Wirkung im Konzertsaal: Depotenzierung der Vernunft. – Umgekehrt nun im vollendeten Drama die vollen Gestalten des erschauten Traumbildes, die andere Welt, wie durch die Laterna magica vor uns hin projiziert, leibhaftig, wie beim Geistersehen die Gestalten aller Zeiten und Räume deutlich vor uns. Musik ist das Licht dieser Laterne.«28 Projektion, Perspektive und Ganzheit, das sind die Funktionen, die Wagner der Musik überträgt. Der Blick ins Unendliche, der die Faszination der barocken Weltsicht ausmachte, stellt sich hier schließlich doch noch ein, und zwar musikalisch im Motivgef lecht der sogenannten »unendlichen Melodie« und den berühmten Schlüssen der Wagnerschen Musikdramen. Schlusstöne, die ins Unendliche fortzuklingen scheinen. Man denke an den Schluss der Götterdämmerung und von Tristan und Isolde. Letzteres ein Stück, das sich eigentlich nicht inszenieren lässt, weil es – ähnlich wie L‘Huomo Wilhelmines – ein Seelendrama von Animus und Anima ist (auch zu Argenore gibt es Ähnlichkeiten). Am Ende kommen beide zusammen, verschmelzen miteinander, in einem ins Unendliche fortklingenden Akkord in H-Dur. Ein Bühnenbild kann das nicht zeigen. Es ist reine Vision der Musik.
28 R. Wagner: Sämtliche Schriften, Band 12, S. 279.
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Literaturverzeichnis Richard Alewyn: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste [1959], 2., erweiterte Auf lage, Berlin 1985. Uta Deppe: »Die Festlichkeiten am Dresdner Hof anläßlich der ›Durchlauchtigsten Zusammenkunft‹ 1678«, in: Eleonore Sent (Hg.), Die Oper am Weißenfelser Hof, Rudolstadt 1996, S. 95–116. Eduard Devrient: Aus seinenTagebüchern. Hg. von Rolf Kabel, Weimar 1964. Bernd Mayer: Kleine Bayreuther Stadtgeschichte, Regensburg 2010. Blaise Pascal: Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände. Aus dem Französischen übersetzt von Karl Adolf Blech. Mit einem Vorwort von August Neander, Berlin 1840. Johann Joachim Quantz: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen, Berlin 1752. Christoph Rabenstein / Ronald Werner: St. Georgen. Druckhaus Bayreuth, Bayreuth 1994. Eckhard Roch: Psychodrama. Richard Wagner im Symbol, Stuttgart / Weimar 1995. Wilhelm Friedrich Schönhaar: Ausführlicher Bericht [...], Stuttgart 1749. Gabriel Tzschimmer: Die Durchlauchtigste Zusammenkunft [...], Nürnberg 1680. Richard Wagner: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Volksausgabe, Leipzig o. J. [1911]. Reinhard Wiesend: »Markgräfin Wilhelmine und die Oper«, in: Peter O. Krückmann (Hg.), Galli Bibiena und der Musenhof der Wilhelmine von Bayreuth (= Paradies des Rokoko, Band 2), München / New York 1998, S. 94–97. Susanne Ziegler: »Eine kurze Geschichte des Theater Erlangen«, in: Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.), 300 Jahre Theater Erlangen. Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheather der Zukunft, Berlin 2019, S. 8–15. Susanne Ziegler: »Von Teufelsweibern auf dem Parnaß. Über die Theatermäzenin Wilhelmine von Brandenburg-Bayreuth«, in: Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.), 300 Jahre Theater Erlangen. Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheather der Zukunft, Berlin 2019, S. 35–40.
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Zwischenspiel
Projekt 1719: Elefanten in Erlangen – Eine Spurensuche Dokumentation eines performativen Beitrags zum 300. Geburtstag des Erlanger Markgrafentheaters, zusammengestellt und aufgezeichnet von Julia Klingel, Carolin Wangemann und Anna Zumbrunnen Das Markgrafentheater in Erlangen – Hauptspielstätte des städtischen Theaters und zugleich Zentrum des internationalen figuren.theater.festivals – feierte 2019 das 300. Jahr seines Bestehens. Mit dem Projekt 1719: Elefanten in Erlangen das in Kooperation zwischen dem Kulturamt Erlangen, dem Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität entwickelt und vom Theater Erlangen unterstützt wurde, wurde das Jubiläum auf eine besondere Weise begangen. Vier renommierte Künstlerinnen aus den Bereichen der Musik, der Objekt-Animation, des Bildertheaters, der neuen Medien und der Kulinarik hatten sich gemeinsam mit Lehrenden und Studierenden mit den historischen Quellen beschäftigt und luden das Publikum zu einer Spurensuche ein: Was geschah am 10. Januar 1719, dem Tag der Eröffnung? Was können wir wissen von dieser Nacht, mit der alles begann? Was gab es damals wohl zu sehen und zu hören? Ausgehend von einer Darstellung des Erlanger Schlossgartens von Johann Baptist Homann aus dem Jahr 1721, die in einem Randbild unter anderem zwei Elefanten auf der Bühne des Markgrafentheaters zeigt, und dem überlieferten Libretto zu einer Oper mit dem Titel Argenis und Poliarchus von 1719 hatte sich über viele Monate ein vielschichtiges Gewebe aus Klang, Text und Bild gesponnen. Das Ziel war dabei nicht die korrekte oder vollständige Rekonstruktion des Eröffnungsabends, die aufgrund der lückenhaften Quellenlage ohnehin unmöglich gewesen wäre. Vielmehr hatten sich die Beteiligten den Lücken und Rätseln mit den Mitteln der Kunst genähert und auf die Produktivität eines künstlerisch-sinnlichen Zugangs zur Geschichte gesetzt. Zum Empfang des Publikums schuf die Künstlerin Isi Kunath eine Situation, die sich auf die barocke Fest- und Esskultur bezog, in der das Zeremoniell alle Aspekte des Theaters bestimmte. Wie hätte es sich wohl angefühlt, wenn wir das erste Mal eine unbekannte exotische Frucht probieren könnten? Auf der Bühne begann der Abend mit einem studentischen Vortrag, der sich mit einer Möglichkeit beschäftigt, den Eröffnungsabend auf technische Weise
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wiedererklingen zu lassen. Womöglich sind die Stimmen der Vergangenheit ja noch heute in den Wänden des Theaters gespeichert? Über die Requisiten, die beim Eröffnungsabend möglicherweise zum Einsatz kamen, gibt ein Inventar des Erlanger Schlosses aus dem Eröffnungsjahr Auskunft. Die Figuren- und Objektkünstlerin Eva Meyer-Keller hatte diese Gegenstände in einem Schattenspiel zwischen Live-Aktion und Video transformiert und so versucht, den Objekten neues Leben einzuhauchen. Vielleicht können wir ja mehr sehen, als wir wissen, wenn erst der Staub der Jahrhunderte weggewischt ist? Die Performancekünstlerin Lindy Annis hatte sich das Randbild des Homann-Stichs zum Vorbild genommen. Die Performance mit Studierenden brachte in der Tradition des Tableau vivant nicht nur die beiden Elefanten, sondern auch die abgebildeten Darsteller und das Publikum auf die Bühne zurück. Lässt sich so jener prachtvolle Moment des Triumphzuges zurückholen und festhalten? Das letzte Projekt des Abends widmete sich der Musik des Eröffnungsabends. Die Regisseurin Sandra Leupold ließ gemeinsam mit den Musiker*innen Olivia Stahn, Mira Lange und Martin Seemann die Klänge der ersten Nacht durch das Markgrafentheater hallen. Vielleicht reicht die Kraft der Musik auch über die Jahrhunderte hinweg aus, um die Saiten des Cembalos erneut zum Schwingen zu bringen? Die Unmöglichkeit von Rekonstruktion war ein Leitfaden des Gesamtprojekts. Aber alle Projekte versuchten es trotzdem, aus dem Verlangen heraus, sich der Vergangenheit anzunähern, sich der Vergangenheit zu vergewissern, die Vergangenheit irgendwie auch näher an die eigene Erfahrung heranzuholen. Dieser Versuch der Annäherung mündete in einem kleinen Moment der großen, großen Nähe – und letztlich dann doch dem Verfehlen.
The Queen of Table – Ein Vorgeschmack Konzept & Regie: Isi Kunath | Performance: Britta Kilian, Thorsten Preisach | Jonglage: Lorenz Deutsch, Michaela Dudek, Stefan Eichbauer, Neele Leske | Sound Design: Thomas Zahn | Maske: Sieglinde Feck, Alexandra Humphreys | Service: Nägel Ideen und Events »Mein erster Gedanke zum Thema ›Theater im Barock‹ war, dass man während der Theateraufführung im Zuschauerraum und in den Logen auch Speisen und Getränke zu sich genommen hat. Berühmt waren auch die opulenten Tischdekorationen an den Höfen und die teilweise für uns heute verstörenden Speisen – zum Beispiel lebende Aale, die aus einer gebratenen Gans kriechen. Ich habe einige Jahre an einem Opernhaus / Theater gearbeitet und bin mit dem Thema ›Publikum‹ sehr
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vertraut. Bei diesem Projekt interessierte mich die Kulinarik zu dieser Zeit. Und so bin ich auf das Thema ›Ananas‹ gestoßen, die zu dieser Zeit, genauer gesagt: im Jahr 1716, auf Schloss Schwöbber erstmalig in Deutschland gezüchtet wurde. Sie kam dann natürlich auch auf die großen üppig gedeckten Tafeln und war etwas sehr Kostbares. Jeder, der etwas auf sich hielt, versuchte eine Ananas zu besitzen, die meistens gar nicht gegessen, sondern nur zur Schau gestellt wurde. Manche exponierten sie zum Beispiel einfach im Fenster. Man konnte sich sogar eine Ananas leihen. Sie war ein Statussymbol. Dass die Züchtung erfolgreich gelungen war, hat sich bis nach Russland herumgesprochen und der damalige Zar ist extra nach Deutschland gekommen, um diese erste Ananas zu begutachten. Heute steht auf dem Schlossgelände im niedersächsischen Aerzen ein Ananas-Denkmal.«
Isi Kunath
Sounds of the Past – Ein Vortrag Von und mit: Florian Hümmer (Vortrag), Milena Graf, Pia Klinkhart, Jana Rosenbauer, Carla Sure (Projektseminar »Medien-Geister«, Leitung: Hans-Friedrich Bormann) | Lichtgestaltung: Martin Stevens Wie Schall funktioniert, weiß eigentlich jeder: Schall ist eine wellenförmige Bewegung der Luft. Trifft sie auf ein Objekt, wird ein Teil des Schalls zurückgeworfen. Zugleich aber wird das Objekt in Schwingung versetzt – das wird besonders deutlich bei Glas, wenn man an den Mythos einer Opernsängerin denkt, die mit ihrer Stimme ein Gefäß zum Vibrieren bringt, bis es zerspringt. Spekulationen darüber, wie sich diese Schwingung auf das Objekt selbst auswirkt, gibt es schon lange. Aber erst in jüngster Zeit ist die Technologie so weit entwickelt, dass man den Einf luss von akustischen Schwingungen auch auf der molekularen Ebene experimentell nachweisen kann. So kam es zur grundlegenden Erkenntnis der Tonretinenztheorie: Die Schwingung innerhalb des Objekts setzt sich fort, noch lange nachdem die Bewegung der Luft aufgehört hat. [...] Aber wie messen wir diese Tonretinenz? Seit Mitte der 90er Jahre wird an so genannten Quantumschwingungsmikrofonen gearbeitet; sie erlauben es, unterschiedliche akustische Ablagerungen innerhalb eines Objekts aufzuzeichnen. Die Daten werden von einem Computerprogramm so auf bereitet, dass einzelne Schichten identifiziert werden können; dies nennen wir ›sonisches Filtern‹. Im Idealfall können wir damit sowohl das ungefähre Alter einer Schicht bestimmen als auch – unter Berücksichtigung von Lücken und Interferenzen – den Klang rekonstruieren.
Aus dem Vortrag »Sounds of the Past. Sonische Forschung im Markgrafentheater«
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Twofold | Zweimalig – Ein Schattenspiel Konzept & Regie: Eva Meyer-Keller | Organisation: Ann-Christin Görtz, Maxi Menja Lehmann | Kamera & Ton: Juliane Jaschnow, Ginan Seidl | Stimmen: Maxi Menja Lehmann, Eva Meyer-Keller, Rico Repotente | Montage & Dramaturgie: Ginan Seidl | Sound Design: Rico Repotente | Schattenspiel: Maxi Menja Lehmann, Eva Meyer-Keller, Bernadette Rauscher, Max Teschemacher, Selina Vollrath | Lichtgestaltung: Martin Stevens | Technischer Support: Carolin Wangemann »Es wurde also ein Schattenspiel, in dem sich Objekte aus dem Theater so transformieren und verwandeln, dass sie eventuell an die Requisiten von 1719 erinnern. Diese Liste ist so assoziativ, dass wir genau das auch zum Thema gemacht haben. Die Aufgabe für die Studierenden war: sucht Dinge aus dem Lager des Theaters aus, die sich durch das Schattenspiel verändern können, die gleichzeitig unterschiedliche Assoziationen hervorrufen. Ich arbeite ja oft mit alltäglichen Sachen und inszeniere Dinge, die schwer begreif lich sind, die nicht zu fassen sind. Da entsteht eine Art Diskrepanz zwischen wohl bekannten Dingen, von denen man zum Beispiel weiß, wieviel sie wiegen oder welche Temperatur sie haben, und dem, was man nicht fassen kann. Die Requisitenliste ist auch unfassbar ebenso wie die Zeit, aus der sie kommt. Das ist also ein Versuch, sich spielerisch anzunähern und sich damit auseinanderzusetzen.«
Eva Meyer-Keller
Auftritt der Elefanten – Ein lebendes Bild Konzept & Regie: Lindy Annis | Wissenschaftliche Begleitung: Bettina Brandl-Risi, Clemens Risi | Performance: Aze Deniz Ata, Josephine Barner, Enora Lise Bär, Lisa Birkenbach, Eva-Maria Christ, Laura Dippel, Vivien Hombach, Julia Klingel, Sarah Kotz, Alica Meiler, Franziska Müller, Ekaterina Ostapovski, Lena Preuß, Aylin Reuleaux | Bühnenbau: Matthias Meier | Kostüme & Ausstattung: Alica Meiler, Michael Jordan, Sarah Kotz | Sound Design: Thomas Zahn | Lichtgestaltung: Martin Stevens | Videobearbeitung: Michael Stehle (Imbissfilm) | Videosupport: Julia Klingel | Sprecher: Johannes Barner | Maske: Sieglinde Feck, Alexandra Humphreys | Technischer Support: Carolin Wangemann »Es ist schön, dass das Randbild auf dem Homann-Stich nicht klar zu erkennen ist, dass man als Betrachter oder Künstler Spielraum hat rumzulaufen, darin zu spazieren und zu überlegen, was mache ich damit. Und obwohl es im Original so
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grob und so winzig klein ist, entdeckt man sehr viel, je näher man kommt, je mehr man es auf bläst. Ich bin vorsichtig mit dem Begriff ›Rekonstruktion‹. Es ist eher eine Beschäftigung mit der Sache. Es ist unmöglich, das zu re-enacten oder wiederzubeleben oder zu rekonstruieren, das schaffen wir nicht. Aber darum geht es, dass man versucht etwas zu machen, was nicht möglich ist. Das ist Sisyphos-Arbeit. Man kommt näher und man verliert es wieder. Unser Stück ist ein Close-Encounter, kein Re-enactment, ein Annäherungsversuch zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Kunstwissenschaft, Studierenden, Performance und Publikum.«
Lindy Annis
»und dann…?« Konzept & Regie: Sandra Leupold | Wissenschaftliche Begleitung: Clemens Risi, Bettina Brandl-Risi | Sopran: Olivia Stahn | Cembalo: Mira Lange | Violoncello: Martin Seemann | Performance: Sandra Leupold | Lichtgestaltung: Martin Stevens | Maske: Sieglinde Feck, Alexandra Humphreys Du bist verachtet, armes Herz Die Nacht, in der ein Opernhaus zum ersten Mal spielt. Die Säulen des Saals eben erst gezimmert, noch ohne Patina das Gold und die Farben gerade trocken, in den Ecken noch kein Dreck, kein Wachsf leck und auch nicht ein Kratzer auf den Brettern dieses ›Theatrums‹. Nach der Ouvertüre zeigt es sich erstmalig dem Publikum, und ›repraesentiret eine Gasse mit zwey Triumph=Pforten, welche mit Lorbeer=Zweigen und allerhand Kriegs-Armaturen ausgezieret sind,‹ – später öffnet sich ein Lustwald-Prospekt vor einem Garten mit Grotte, dann geht ein ›völliger Garten durchs gantze Theatrum / in dessem äussersten Prospect sich eine Schau=Bühne praesentiret‹. Gärten, Grotten, Gassen, Türme. Dann Kabinette, Wälder, ›Ein Königlicher Saal‹, ein See-Hafen, außerdem ›ein völliger Wald mit einigen Klippen, auf welche einige Bären auf und absteigen‹ und – welche Pracht! – ›Ein völliger Wald an der See / welcher Zu Ende mit Pyramiden und Statuen, welche Amouretten mit brennenden Fackeln vorstellen/ illuminiret ist. In der See praesentiren sich viele Schiffe welche gleichfalls illuminiret sind‹. Helden tanzen mit ›Tugenden‹. Und auch Jäger, Harlequins, Scaramouchen sowie im ›Grand Ballet Sicilianische Dames und Cavalliers‹ führen Tänze auf. Sicher hat die Hofgesellschaft gelacht über den lustigen Diener Phorbus, der gleich in seiner Auftrittsarie klarstellt: ›Wer heut bey Hofe leben will, darf kein Gewissen haben‹. Der Ernsthaftigkeit, mit der die Oper Argenis und Poliarchus die
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›Tugend=haffte Liebe‹ feiert, können die Lacher nichts anhaben – zwei Könige, zwei Prinzen und eine Prinzessin nebst Entouragen garantieren die angemessene Höhe des Stils. Mittendrin Hyanisbe, Kusine des Königs Meleander, die sich nach einem ›vermeinten Affricanischen Prinz(en)‹ verzehrt, der ihre Liebe partout nicht erwidern will. Ob ihre verzweifelten Worte ›Du bist verachtet, armes Herz! Und dennoch liebst du noch? Und dennoch liebst du deinen Schmerz und das verdammte Joch?‹ die hohen Herrschaften in den Logen gleichermaßen rührten wie die weniger hohen im Parkett? Ob diese Arie, Nr. 26 von 65, vielleicht ganz innerlich und intim nur mit Basso Continuo besetzt war und das Orchester dazu schwieg? Schließlich ist Hyanisbe allein im Garten und spricht zu niemandem außer zu ihrem unbotmäßigen Herzen… Wir wissen es nicht. Nichts von dieser Musik existiert noch. Und kein Komponistenname erlaubt uns wenigstens zu mutmaßen, wie diese Oper denn vielleicht geklungen haben mag. Im Jahr zuvor hat Gottfried Heinrich Stölzel auf der Bayreuther Bühne der markgräf lichen Hauptresidenz seine Oper Diomedes oder die triumphierende Unschuld uraufgeführt. Ihre Partitur ist wie die zu Argenis und Poliarchus verschollen – und doch kennt jeder eine Arie aus ihr. Bist du bei mir landete in Bachs Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach und galt lange als dessen Musik. Könnten wir uns Hyanisbes Arie vielleicht etwa in dieser Art vorstellen? Ihr Text lässt sich auf die Musik singen. Stölzel kannte ihn sicher, den unbekannten Komponisten unserer Oper, denn diese wurde schon im Jahr vor der Erlanger Eröffnungspremiere in Bayreuth uraufgeführt. War Stölzel am Ende selbst der Komponist von Argenis und Poliarchus? Hier endet unsere Spurensuche nach jener Nacht, in der dieses Haus zum ersten Mal spielte. Was genau geschah, behalten diese Mauern für sich. Ihr Geheimnis kann ihnen niemand entreißen.
Sandra Leupold
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Abb. 1–3: The Queen of Table – Ein Vorgeschmack im Markgrafentheater (oben: Thorsten Preisach, Isi Kunath, Britta Kilian, unten rechts: Stefan Eichbauer)
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Abb. 4: Sounds of the Past – Ein Vortrag im Markgrafentheater (Florian Hümmer)
Abb. 5–7: Sonische Forschung im Markgrafentheater (links: Florian Hümmer, Milena Graf; rechts: Quantumsschwingungsmikrophon mit Redundanzverstärker)
Elefanten in Erlangen – Eine Spurensuche
Abb. 8: Twofold | Zweimalig - Ein Schattenspiel im Markgrafentheater
Abb. 9: Twofold | Zweimalig - Ein Schattenspiel«, Probe im Experimentiertheater (Eva Meyer-Keller, Bernadette Rauscher, Selina Vollrath, Maxi Menja Lehmann)
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Abb. 10, 11: Auf tritt der Elefanten – Ein lebendes Bild im Markgrafentheater (oben: Laura Dippel, Vivien Hombach, Eva-Maria Christ, Aylin Reuleaux, Franziska Müller, Aze Deniz Ata, Julia Klingel, Enora Lise Bär, Ekaterina Ostapovski, Sarah Kotz; unten: Vivien Hombach, Eva-Maria Christ, Alica Meiler, Lena Preuß, Josephine Barner, Laura Dippel, Ekaterina Ostapovski)
Elefanten in Erlangen – Eine Spurensuche
Abb. 12, 13: »und dann…?« im Markgrafentheater (oben: Mira Lange, Olivia Stahn, Martin Seemann, Sandra Leupold; unten: Olivia Stahn, Sandra Leupold)
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Franz Kafka: Das Schweigen der Sirenen, 1917 Beweis dessen, daß auch unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung dienen können: Um sich vor den Sirenen zu bewahren, stopfte sich Odysseus Wachs in die Ohren und ließ sich am Mast festschmieden. Ähnliches hätten natürlich seit jeher alle Reisenden tun können, außer denen, welche die Sirenen schon aus der Ferne verlockten, aber es war in der ganzen Welt bekannt, daß dies unmöglich helfen konnte. Der Sang der Sirenen durchdrang alles, und die Leidenschaft der Verführten hätte mehr als Ketten und Mast gesprengt. Daran aber dachte Odysseus nicht, obwohl er davon vielleicht gehört hatte. Er vertraute vollständig der Handvoll Wachs und dem Gebinde Ketten und in unschuldiger Freude über seine Mittelchen fuhr er den Sirenen entgegen. Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiß nicht. Dem Gefühl, aus eigener Kraft sie besiegt zu haben, der daraus folgenden alles fortreißenden Überhebung kann nichts Irdisches widerstehen. Und tatsächlich sangen, als Odysseus kam, die gewaltigen Sängerinnen nicht, sei es, daß sie glaubten, diesem Gegner könne nur noch das Schweigen beikommen, sei es, daß der Anblick der Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten dachte, sie allen Gesang vergessen ließ. Odysseus aber, um es so auszudrücken, hörte ihr Schweigen nicht, er glaubte, sie sängen, und nur er sei behütet, es zu hören. Flüchtig sah er zuerst die Wendungen ihrer Hälse, das tiefe Atmen, die tränenvollen Augen, den halb geöffneten Mund, glaubte aber, dies gehöre zu den Arien, die ungehört um ihn verklangen. Bald aber glitt alles an seinen in die Ferne gerichteten Blicken ab, die Sirenen verschwanden förmlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen. Sie aber – schöner als jemals – streckten und drehten sich, ließen das schaurige Haar offen im Winde wehen und spannten die Krallen frei auf den Felsen. Sie wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie so lange als möglich erhaschen. Hätten die Sirenen Bewußtsein, sie wären damals vernichtet worden. So aber blieben sie, nur Odysseus ist ihnen entgangen. Es wird übrigens noch ein Anhang hierzu überliefert. Odysseus, sagt man, war so listenreich, war ein solcher Fuchs, daß selbst die Schicksalsgöttin nicht in sein Innerstes dringen konnte. Vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, daß die Sirenen schwiegen, und hat ihnen und den Göttern den obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten.
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Protokoll eines Aufführungsbesuchs, 2019 Die Inszenierung empfängt mich bereits beim Betreten des Foyers. Rechts und links der Eingangstür begrüßen mich eine barockgekleidete Dame und ein barockgekleideter Herr: Mit weitgefächertem Reifrock, enggeschnürtem Mieder und der klischeehaften weißgepuderten Perücke gipfelt das Kostüm in einer hochgesteckten Ananas. Ihr männliches Pendant schreitet in hochhackigen Schnallenschuhen, rotgepuderten Wangen und wehendem Gehrock auf mich zu. Er hängt mir eine Medaille an grünem Band um den Hals – Ananas?! Erst jetzt schweift mein Blick in das üppig dekorierte Foyer und mein Geruchsinn wird gänzlich von betörendem Ananasaroma vereinnahmt. Es wirkt außerdem, als hätte der benachbarte Botanische Garten Einzug ins Theaterfoyer gefunden. Neben Palmen mit Zitrusfrüchten, eingelegten Ananaspräparaten, frisch gereiften Ananas, Pralinen und Getränken entdecke ich zwei Artisten, die kunstvoll mit Ananas jonglieren. Überall wird die Ananas gepriesen. Auch der Gong zum Einlass ist an diesem Abend besonders: Eine Fanfare ertönt aus dem Inneren des Zuschauerraums und lockt alle Besucher*innen – noch betört von den kulinarischen Erlebnissen – in das Herzstück des Theaters. Ich setze mich ins Parkett, habe eine gute Sicht auf die Bühne und kurze Zeit später verdunkelt sich der Saal. Erneut ertönen die Fanfaren und eine Projektion erscheint auf dem Eisernen Vorhang. In historisch anmutenden Lettern bekomme ich Informationen über die Eröffnungsnacht des Markgrafentheaters. Der direkten Adressierung an das Publikum, aufzustehen und sich der Fürstenloge zuzuwenden, um den Markgrafen zu begrüßen, wird amüsiert Folge geleistet. Die Loge erstrahlt in einem sanften Blau, doch man wartet vergebens auf den Ehrengast. Noch bevor ich meine Gedanken dazu richtig ordnen kann, poltern bereits zwei Techniker, gefolgt von einem Vortragenden, durch die rechte Tür. Letzterer stellt sich als Physikstudent vor, der uns in einem ansprechend gestalteten Vortrag die sogenannte ›Sonische Forschung‹ näherbringt. Diese beruft sich auf die Theorie, dass vergangene Geräusche in Materialien, wie beispielsweise Holz, gespeichert und durch eine bestimmte Apparatur wieder hörbar gemacht werden können. Kann das sein? Permanent schwanke ich zwischen Ungläubigkeit und Faszination. Der Eiserne Vorhang fährt hoch und gibt den Blick auf eine Leinwand frei, die das gesamte Portal ausfüllt. Ein Schattenspiel beginnt. Ist es live oder ein Film? Auf wundersame Weise verwandeln sich die Schatten von Alltagsgegenständen – wie Feuerlöscher, Staubsauger, Sackkarren oder Dartpfeile – in unterschiedliche Konstrukte und Gebilde. Drei Stimmen geben Impulse, mit denen ich die gezeigten Bilder assoziativ ergänze: so entsteht aus Feuerlöscher, Lastkarren und f latterndem Papier der Kopf eines Elefanten. Dieses Spiel vermag es, mich in seinen Bann zu ziehen. Ich kann mich durch die gewollte Fokussierung meines Blicks
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vollständig auf das Gezeigte konzentrieren – es entwickelt sich eine Spannungskurve, wobei niemand voraussagen kann, zu was sich die Objekte als nächstes entwickeln. Verstärkend wirken hier die sich teilweise überlagernden Stimmen, die meine Verwirrung über das Gesehene mittragen. Das Schattenspiel hat bis zum Ende eine sowohl beruhigende als auch anregende Wirkung auf mich. Die Leinwand fährt nach oben, gibt Blick auf eine offene Bühne, die auf einer großen Opera im hinteren Bereich den ›Auftritt der Elefanten‹ anhand des bekannten Homann-Stichs ankündigt. Es ertönen sanfte Klänge von Cello und Cembalo, die sich im Verlauf der folgenden Bewegungsperformance permanent weiterentwickeln. Eine Stimme aus dem Off beginnt zu zählen und von links kommen nacheinander Performerinnen auf den abgesenkten, vorderen Bühnenbereich und erstarren in Position auf einer langen schwarzen Bank mit dem Rücken zum Publikum. Fasziniert beobachte ich den Ablauf: Kleine Variationen, wie ein kindliches ›Guck mal‹, Klatschen, sowie bewusste Positionswechsel und Bewegungen zeichnen das Homann’sche Publikum nach. Eine männliche Stimme beginnt außerdem einen mir unbekannten Text zu rezitieren. Insgesamt harmonieren die genannten Bühnenanweisungen gut mit den Projektionsbildern. Ich bin überrascht, als große Elefanten aus Pappmaché an Schnüren herabgelassen werden. Mit den Elefanten wird scheinbar ein neuer Raum eröffnet, denn nun überwinden auch die Performerinnen die Bühnenkante und betreten nach und nach die Hauptbühne. Die Silhouetten der Darstellerinnen verbinden sich mit dem Licht der Projektion und erzeugen beeindruckende Schattenspiele auf der Leinwand. Ab diesem Moment verliere ich aufgrund der individuellen Choreografien allmählich den Überblick. Lediglich anhand der lenkenden weiblichen Off-Stimme kann ich einzelnen Figuren folgen. Musik und parallele Bewegungsabläufe verdichten sich in einem Crescendo. Plötzlich herrscht Stillstand und ich kann sehen, dass der Homann-Stich auf der Bühne verlebendigt wird. Eine Weile genieße ich den Anblick, bis sich die erste Performerin aus dem Tableau löst und damit einen langsamen Abtritt aller Charaktere anstößt. Letztlich stehen nur noch die Elefanten, bis auch diese wieder nach oben gezogen werden. Alles ist dunkel und still. Ich denke schon, es ist vorbei, bis ich leise von irgendwo tief in der Bühne Gesang wahrnehme. Die leisen Töne schwellen zu einer barocken Arie an – begleitet von Cello und Cembalo. Nach wie vor sehe ich nichts, höre aber wieder und wieder dieselbe Arie, worauf sich Unruhe im Publikum ausbreitet. Nach einigen Minuten erhebt sich eine Frau in der ersten Reihe und löst damit Spannung und Stagnation auf. Sie betritt die Bühne und sucht scheinbar nach der Quelle der Musik. Langsam bewegt sie sich auf die Leinwand zu und lässt diese schließlich herabfahren. Dahinter offenbart sich eine barocke Musikgesellschaft: Erleuchtet von Kerzenschein, eingehüllt in den Nebel der Vergangenheit, gekleidet in barocken Gewändern präsentieren sich die Sopranistin und die Musizierenden an ihren Instrumenten. Die Distanz zwischen der Sängerin
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und der Frau aus dem Publikum wird im gegenseitigen Erkennen überwunden. Besonders nachhaltig wirkt der Moment, in dem die Sängerin uns als eigentlich fremdes Publikum wahrnimmt und in ihrer Überraschung verharrt. Die Zuschauerin ist nun bemüht, das Spektakel einzufangen. Hierzu holt sie von der Seitenbühne einen Scheinwerfer, zückt ihr Smartphone und beginnt zu filmen. Das Gefilmte wird auf die wieder in Ausgangsposition gefahrene Leinwand live übertragen, sodass wir als Publikum das Bühnengeschehen hautnah miterleben können. Geschockt von ihrem übergroßen Selbst, f lieht die Sängerin hinter die Opera und ihre Stimme bricht. Die weiterhin euphorisch gestimmte Zuschauerin lässt nun das eben Gefilmte noch einmal auf der Leinwand abspielen und geht zurück auf ihren Sitzplatz. Noch während ich von der Atmosphäre des barocken Gesangs gefesselt bin, fällt die Leinwand. Stille. Leere. Die Hinterbühne offenbart ein Nichts – die Musikgesellschaft ist verschwunden, als wäre sie nie da gewesen. Hinter mir wird erneut die Fürstenloge beleuchtet und das bläuliche Licht wirkt im Zusammenspiel mit dem eingesprochenen Text über schweigende Stimmen seltsam gespenstisch. Langsam verdunkelt sich der Saal. Die Performance ist zu Ende.
Julia Klingel / Carolin Wangemann / Anna Zumbrunnen
Projekt 1719: Elefanten in Erlangen – Eine Spurensuche ist ein Projekt des Kulturamts der Stadt Erlangen in Zusammenarbeit mit dem Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, unterstützt vom Theater Erlangen | Frontispiz-Animation: Michael Stehle (Imbissfilm) | Sprecher: Charles P. Campbell | Produktion: Kulturamt der Stadt Erlangen | Dramaturgische Beratung: André Studt | Technik: Theater Erlangen Premiere im Erlanger Markgrafentheater am 30. Mai 2019
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Universität
Studieren, probieren, experimentieren: Das Theater (in) der Universität Hans-Friedrich Bormann Die Annahme, dass Kunst und Wissenschaft wenig miteinander gemein haben, ist weit verbreitet; zu unterschiedlich erscheinen ihre institutionellen Bedingungen, ihre Funktionen, Organisationsformen und Arbeitsweisen und die daran geknüpften Ansprüche und Erwartungen. In einer historischen Perspektive dagegen wird schnell klar, dass die vertraute kategoriale Trennung zweifelhaft ist. Dies betrifft insbesondere das Theater und die Universität, deren Geschichte von wechselseitigen (wenngleich auch zuweilen widersprüchlichen und spannungsreichen) Bezügen bestimmt ist. Diese Bezüge reichen zurück bis zur etymologischen Wurzel des Begriffs »Theater«, der nicht auf die Künste beschränkt ist, sondern ganz allgemein auf die Schau (gr. théatron: Schaustätte) einer geordneten Welt verweist. In dieser Bedeutung gilt er bis in die frühe Neuzeit, in der das Wissen (analog zum theatrum mundi, als dessen privilegierter Zuschauer Gott gedacht wird) in multiplen theatra präsentiert wird. So werden nicht nur Bühnenräume, sondern auch Hörsäle und Laboratorien, Ausstellungen und Bücher bezeichnet.1 Auch das humanistische Schultheater des späten 15. Jahrhunderts sowie das reformatorische und das Jesuitentheater des 16. und 17. Jahrhunderts wurden im Kontext und in enger weltanschaulicher und institutioneller Nähe zu Universitäten entwickelt.2 Die Gründe dafür, dass trotz ihrer parallelen Entwicklung das Verhältnis zwischen Theater und Universität vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart als ambivalent erscheint, sind vielfältig. Ein Movens dieser Entwicklung dürfte die ideologische und funktionale Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Sphären im Zuge einer zunehmenden Säkularisierung und Rationalisierung sein, ein an1 V gl. Ursula Quecke: »Quod erat demonstrandum – Schauplätze der Wissenschaft des 16.–18. Jahrhunderts«, in: Ulf Küster (Hg.), Theatrum Mundi. Die Welt als Bühne. Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München, vom 24. Mai bis 21. September 2003, Wolfratshausen 2003, S. 17–21; weiterführend Helmar Schramm et al. (Hg.): Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst, Berlin 2003 sowie die ebenfalls von Helmar Schramm herausgegebene Schriftenreihe Theatrum scientarum, insbes. den ersten Band: Helmar Schramm / Ludger Schwarte / Jan Lazardzig (Hg.): Kunstkammer – Laboratorium – Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert. Berlin / New York 2003. 2 Vgl. zur Orientierung Manfred Brauneck: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, Band 1, Stuttgart / Weimar 1993, insbes. S. 513–521, 538–553.
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Hans-Friedrich Bormann deres die Skepsis der Auf klärung gegenüber dem Theater (und anderen populären Formen der Unterhaltung), in der sich – wiederum bis in die Antike zurückreichende – Motive der Theaterfeindlichkeit nachweisen lassen.3 Für Erlangen ist zu konstatieren, dass sowohl die Theatergründung im Jahr 1719 durch den Markgrafen Georg Wilhelm (1678–1726) (maßgeblich befördert durch seine Frau Sophia) als auch die Universitätsgründung im Jahr 1743 durch Friedrich III. (1711–1763) (und dessen erster Frau Wilhelmine) im europäischen Kontext vergleichsweise spät erfolgten. Zudem liegen über zwanzig Jahre und ein Herrscherwechsel dazwischen; von einer direkten Korrelation kann man daher kaum sprechen. Andererseits ist auch und gerade für Erlangen davon auszugehen, dass das Theater wie die Universität integrale Bestandteile der Kultur höfischer Repräsentation waren; ganz allgemein gesprochen, dienten sie dazu, das kulturelle Gefüge zu festigen, politische Ansprüche durchzusetzen und diese weltanschaulich zu legitimieren. Insofern ist es ebenso signifikant wie stimmig, dass die Universitätsgründung zwar nicht mit einer Neubegründung des Theaters, jedoch mit seiner grundlegenden, modernisierenden Umgestaltung durch den Architekten Giovanni Paolo Gaspari (1712/14–1775) einher ging, die im Jahr 1744 abgeschlossen wurde.4 Doch auch Ambivalenzen und Spannungen zwischen den Institutionen lassen sich in Erlangen nachweisen, ebenso wie Versuche ihrer engeren Verschränkung. Es handelt sich um ein Geschehen mit Brüchen, Sprüngen und überraschenden Wendungen. Ausgehend von diesem Befund werde ich in diesem Beitrag keine lineare Entwicklung nachzeichnen, sondern einige exemplarische – prominente wie randständige – Quellen in ihrem jeweiligen Kontext aufsuchen und nach dem in ihnen jeweils artikulierten Verhältnis zwischen Theater und Universität fragen. Die Auswahl ruft historische Konstellationen auf, in denen eine diskursive Neubestimmung des Verhältnisses nötig wurde. Als besonders ergiebig haben sich dabei zum einen das ausgehende 18. Jahrhundert erwiesen, jene Epochenschwelle, in der sich der Übergang von der feudalen Gesellschaft hin zur Bürgergesellschaft vollzog und in der die soziale und politische Funktion der ehemals höfischen Institutionen neu bestimmt werden musste, und zum anderen die Zeit zwischen dem Ende des Zweiten
3 Für eine Geschichte der Theaterfeindlichkeit vgl. grundlegend Jonas A. Barish: The Antitheatrical Prejudice, Berkeley 1981; zu Einzelaspekten die Beiträge in Stefanie Diekmann / Christopher Wild / Gabriele Brandstetter (Hg.): Theaterfeindlichkeit, München 2011. 4 Aufgrund ihrer vielfältigen Interessen liegt es nahe, die Markgräfin Wilhelmine als Impulsgeberin sowohl für die Universitätsgründung als auch für die Umgestaltung des Theaters anzusehen; dies ist allerdings von der Quellenlage nicht gedeckt. Vgl. die Tagung Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth und die Erlanger Universität: Künste und Wissenschaften im Dialog am Institut für Kunstgeschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg vom 11. bis 13. Oktober 2018; Tagungsbericht von Johannes Gebhardt in ArtHist.net [17. Dezember 2018], URL: https://arthist. net/reviews/19804 [zuletzt abgerufen am 4. September 2019]. – Zur barocken Hofkultur und der Entwicklung in Erlangen vgl. die Beiträge von Michael von Engelhardt und Eckhard Roch, zur kunsthistorischen Bedeutung des Markgrafentheaters den Beitrag von Hans Dickel im vorliegenden Band.
Studieren, probieren, experimentieren Weltkriegs und der Eröffnung des Experimentiertheaters im Jahr 1970, in der sich die Theaterwissenschaft an der Erlanger Universität etabliert hat. Bei der Betrachtung der Quellen folge ich der Hypothese, dass sich das Verhältnis zwischen Theater und Universität seit dem Ausgang des Barockzeitalters (soweit überhaupt von einem Verhältnis die Rede sein kann und nicht von wechselseitiger Gleichgültigkeit) strukturell auf dreifache Weise kennzeichnen lässt: Nach dem ersten Modell erscheinen Theater und Universität als Gegensätze, als grundsätzlich widerstreitende Konzepte und Institutionen, die sich jedoch gerade in ihrer Entgegensetzung aufeinander beziehen. Nach dem zweiten Modell erscheint das Theater als Gegenstand des universitären Wissens, wobei auffällt, dass seine Integration in den Fächerkanon – anders als beispielsweise im Falle der Literatur (Germanistik) oder Bildenden Kunst (Kunstgeschichte) – eine anhaltende Herausforderung nicht nur für die etablierten Methoden und Arbeitsweisen, sondern auch für das Selbstverständnis der Universität darstellt. Das dritte Modell erweitert die Perspektive ins Prinzipielle; ihm zufolge lassen sich sowohl die Gegensätzlichkeit als auch die Vergegenständlichung als Epiphänomene einer (jeder institutionellen Ausprägung vorausgehenden) Verklammerung zwischen Wissenschaft (Theorie, Historiographie, Analyse) und Kunst (ästhetische Praxis) ansehen. Ich folge dabei dem Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann, der – unter Rückgriff auf Denkfiguren des Poststrukturalismus – ein Konzept ästhetischer Erfahrung vorgeschlagen hat, das sich weder auf körperliche Affekte noch auf abstrakte Gehalte reduzieren lässt; genauer: das das eine als wesentliches Moment des anderen anerkennt. Lehmann plädiert für einen »Denkzeitraum«, eine Zone des (Un-)Möglichen, des (nicht mehr bzw. noch nicht) Denk- und Wahrnehmbaren.5 Bezieht man dies auf das Verhältnis zwischen Theater und Universität, könnte man sagen: Das Theater denkt, auch und gerade dann, wenn es spielt. Und die Universität spielt, auch und gerade dann, wenn sie denkt. Auch die im Titel aufgerufenen Kategorien – Studium, Probe, Experiment – unterhalten sämtlich eine (wenn auch nicht gleichförmige) Beziehung sowohl zur Wissenschaft bzw. Kunst als auch zur Universität bzw. dem Theater; auch hier vermag eine historische Perspektivierung zuweilen überraschende Akzentsetzungen zu zeigen.6 Möglich wird dies, weil alle drei Kategorien einem diskursiven Feld zugehören, das Prozesse der Aneignung von Fähigkeiten, Wissen und Erfahrung bezeichnet, wobei ihre Abfolge eine Bewegung vom gesicherten Wissen bzw. von etablierten
5 V gl. Hans-Thies Lehmann: »Wissenschaft vom Theater als Denkzeitraum«, in: Milena Cairo et al. (Hg.), Episteme des Theaters. Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit, Bielefeld 2016, S. 29–40. 6 Vgl. Gunhild Berg: »Experimentieren, Probieren, Versuchen. Experimentelle Praktiken in Wissenschaften, Technik und Literatur«, in: Séverine Marguin et al. (Hg.), Experimentieren. Einblicke in Praktiken und Versuchsaufbauten zwischen Wissenschaft und Gestaltung, Bielefeld 2019, S. 81–92, sowie die einschlägigen Einträge in Jens Badura et al. (Hg.): Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich 2015.
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Hans-Friedrich Bormann Verfahren (»Studium«) hin zur zunehmenden Öffnung zum Unbekannten (»Experiment«) aufweist.
Theater und Universität um 1800 Die Zeit zwischen 1750 und 1850 wird – einem Konzept des Historikers Reinhart Koselleck folgend – als »Sattelzeit« bezeichnet, in der sich nicht nur bis heute wirksame politische und soziale Umwälzungen vollziehen, sondern auch jene Begriffe bilden, mit denen diese Umwälzungen beschrieben werden. Stichworte sind der Abschied von der feudalen Ständegesellschaft hin zur modernen Bürgergesellschaft, die beginnende Industrialisierung und zunehmende Literalisierung weiter Bevölkerungsschichten. Davon betroffen sind auch die Universität und das Theater, deren Trägerschaft und Funktion im Sinne einer öffentlichen Angelegenheit neu ausgehandelt werden muss. Für das Fürstentum Brandenburg-Bayreuth kommt hinzu, dass es am Ende des 19. Jahrhunderts seine politische Selbständigkeit verliert: Mit der Abdankung von Markgraf Alexander (1736–1806) – neben dem Gründer Friedrich III. einer der beiden Namenspatrone der Erlanger Universität – fällt das Fürstentum im Jahr 1791 an Preußen, im Zuge der französischen Expansion unter Napoleon wird Erlangen von französischen Truppen besetzt und 1810 von Napoleon an das neugegründete Königreich Bayern verkauft. Spätestens jetzt wurde die Frage nach der Trägerschaft von Theater und Universität virulent, da der Standort nun in unmittelbarer Konkurrenz zu anderen bayerischen Städten stand.7 Die Schenkung der Schlossgebäude (darunter das Theater) an die Erlanger Universität durch den Bayerischen König Maximilian I. Joseph (1756–1825) im Jahr 1818 bringt dessen Bekenntnis zum künftigen Erhalt der Universität zum Ausdruck. Sie erfolgt unmittelbar nach dem Tod der zweiten Frau des Universitätsgründers Friedrich III., Sophie Caroline Marie (1737–1817) (geborene Prinzessin von Braunschweig-Wolfenbüttel, Schwester von Anna Amalia), deren Witwensitz das Erlanger Schloss seit 1763 war. Sie hatte sich in dieser Zeit – in der Tradition der Markgrafen, wenngleich ohne deren politische Macht – als eine Förderin der Wissenschaften und Künste profiliert.8 Auf die Schenkung der Immobilien geht auch die Bezeich7 Vgl. Alfred Wendehorst: Geschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg 1743–1993, München 1993, S. 71–105; Dieter J. Weiss: »Die Existenzkrise beim Übergang an Bayern«, in: Henning Kössler (Hg.), Geschichte und Herausforderung. Leben lernen mit der Geschichte. Ringvorlesung der Friedrich-Alexander-Universität aus Anlaß ihrer 250-Jahr-Feier, Erlangen 1994, S. 39–54. 8 Vgl. Helmut Reichold: »Sophie Caroline Marie von Brandenburg-Bayreuth (1737–1817), die ›Erlanger Markgräfin‹. Eine biographische Studie«, in: Jahrbuch des historischen Vereins für Mittelfranken, Nr. 77 (1957), S. 159–227; Christina Hofmann-Randall (Hg.): Das Erlanger Schloß als Witwensitz, 1712–1817. Katalog zur Ausstellung der Universitätsbibliothek vom 15. November bis 8. Dezember 2002, Erlangen 2002, insbes. die Beiträge von Hans-Otto Keunecke: »Markgräfin
Studieren, probieren, experimentieren nung »Königliches Universitätsschauspielhaus« zurück, in der sich das besondere Verhältnis zwischen Theater und Universität um 1800 zeigt: Während das barocke Weltbild seine weltanschauliche Verbindlichkeit im Zuge der Auf klärung verliert und die höfische Kultur der Oper in den Hintergrund tritt, bleiben Theater und Universität über die weiterhin bestehenden feudalen Strukturen institutionell verklammert. Dies möchte ich anhand von zwei Erlanger Quellen aus dem späten 18. Jahrhundert zeigen. Gemeinsam ist ihnen, dass es sich um biographisch fundierte Publikationen in Buchform handelt; sie sind offenkundig an die sich neu formierende Öffentlichkeit adressiert. Ihre inhaltlichen Differenzen machen meines Erachtens nicht nur die jeweiligen Kontexte und die persönlichen Ansichten der Autoren, sondern eine allgemeine Entwicklung nachvollziehbar. Die erste Quelle sind Johann Adam Wels hinterlassene Schrif ten, veröffentlicht 1786. Wels’ Familie besaß in Erlangen von 1696 bis zum Übergang an Bayern das fürstliche Privileg der Posthalterei; Johann Adam Wels (1748–1785) hatte das Amt des Postmeisters bereits in dritter Generation inne.9 Außerdem war er Hof kammerrat und Schriftführer der Erlanger Realzeitung, einer damals wichtigen (auch im Ausland gelesenen) Zeitung, die mit ihren unabhängigen politischen Kommentaren u. a. den Zorn Friedrichs II. von Preußen (1712–1786) auf sich zog.10 Insofern könnte man sagen, dass sich in seiner Person widerstreitende Impulse der Zeit um 1800 vereinen: Feudale Herrschaftsstrukturen auf der einen, Politik als öffentliche Sache auf der anderen Seite. Im zweiten Band der Hinterlassenen Schrif ten findet sich ein Brief vom 1. Dezember 1773, in dem Wels von einer Aufführung im Theater berichtet, die von Studenten unter seiner Leitung anlässlich des Geburtstags der »Erlanger Markgräfin« Sophie Caroline Marie gegeben wurde. Im Zentrum standen zwei zeitgenössische Komödien – Die Werber (1769) von Johann Gottlieb Stephanie d. J. (1741–1800) und Der dankbare Sohn (1773) von Johann Jakob Engel (1741–1802) –, welche mit einem musikalisch gestalteten Pro- und Epilog zur Huldigung der Markgräfin versehen waren, deren Texte Wels seinem Brief beigefügt hat.11 Neben vielen interessanten Hinweisen zur damaligen Aufführungspraxis findet sich in seiner Schilderung die folgende Passage:
Sophie Caroline von Brandenburg-Bayreuth (1737–1817)«, S. 101–137, und Andreas Jakob: »... die Erfüllung einer ihrer schönsten Hoffnungen ... Der Übergang von Schloß und den höfischen Liegenschaften an die Friedrich-Alexander-Universität«, S. 183–205. 9 Vgl. Bernd Nürmberger / Andreas Jakob: Artikel »Familie Wels«, in: Christoph Friederich / Bertold Frhr. von Haller / Andreas Jakob (Hg.): Erlanger Stadtlexikon, Nürnberg 2002, S. 742. 10 Vgl. Johannes Bischoff: »Grundlage zur Geschichte der Erlanger Real-Zeitung 1741–1829«, in: Alfred Sauerteig (Hg.), Coburger Zeitungsgeschichte, Coburg 1949, S. 175–194. 11 Johann Adam Wels: Hinterlassene Schriften. Zweites Bändchen, Wien 1786, S. 11–27, hier ab S. 17.
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Hans-Friedrich Bormann »Dem ganzen September bis in die Mitte des Octobers war ich beschäftigt, Komödianten zu machen. Die hiesigen Bursche hatten sich’s einfallen lassen, vor der Markgräfin Komödie zu spielen, und mich dazu zum Direkteur zu ernennen. Der erstaunliche Hang, den ich just zur Komödie habe, machte, daß ich mir’s in Abrichtung dieser Leute, denen keiner noch ein Theater gesehen hatte, gewaltig angelegen seyn ließ. Ich exercierte alle Tage drey Stunden morgens bey mir und abends drey Stunden auf dem Theater im Opernhause; und sie geriethen so gut, daß sie bey der sehr pompeusen und zahlreichen Vorstellung alle möglichen Erwartung übertrafen, und mit viel Lob von Jedermann, viel Dank von der Fürstinn verdienten. Wirklich denke ich nicht, daß es fast besser gespielt werden kann. Die gesammte Universität war auch so erfreut, daß Bursche so viel Ehre einlegten, daß Sie mir, den sie als die Ursache davon ansahen, dafür eine solemne Nachtmusik und Vivat brachten.« 12 Der Enthusiasmus, mit dem Wels den durch das Theater vermittelten Einklang zwischen Markgräfin, Universität und Studenten beschreibt und dabei seine eigene Leistung herausstellt, verdeckt nur unzureichend, dass die traditionelle Rollenverteilung mit dem Fürsten als zentraler Instanz, wie sie für die barocke Kultur prägend war, hier nur noch in einer sentimentalen, vielleicht sogar ironisch gebrochenen Form vorkommt. Nicht nur ist festzuhalten, dass Sophie Caroline Marie hier nur als Fürstenwitwe agieren kann; der amtierende Markgraf Alexander residierte offiziell in Ansbach und Triesdorf. Dementsprechend ist die Aufführung kein Bestandteil eines etablierten höfischen Zeremoniells. Allerdings bespielen die Studenten (in den Uniformen der Burschenschaftler) durchaus das Feld der höfischen Theatralität, wie an anderer Stelle deutlich wird, wo Wels erzählt, dass er »zwey akademische Offiziers in Kollers abschickte, um die Fürstinn zu benachrichtigen« und Studenten im Redoutensaal »als eine für die Fürstinn errichtete Noble Garde paradierten«.13 Insgesamt handelt es sich offenkundig um einen – nicht zuletzt für Wels und seine Herausgeber – bemerkenswerten Sonderfall. Dass die Initiative zur Aufführung von den Studenten ausgeht, verstärkt den Eindruck, dass sich die Machtverhältnisse, wenn nicht umgedreht, so doch verändert haben. Dies bedeutet freilich nicht, dass es keine Beziehung zwischen den Akteuren gibt: Wie oben angedeutet, gilt die Markgräfin als Förderin der Wissenschaft und der Künste (und war, anders als Alexander, auch vor Ort); das Engagement der Studenten ist also auch als Anerkennung für ihre Unterstützung anzusehen. In diesem Sinne handelt es sich eben doch um eine politische Veranstaltung: Sie bringt ideelle und ökonomische Abhängigkeiten und Verpf lichtungen zum Ausdruck, verschleiert diese aber zugleich in einer vermeintlich wertfreien Feier der Kunst. Zusammenfassend kann man sagen, dass das Erlanger Theater hier zwischen der Universität und dem Hof steht; es gehört weder der einen noch der anderen Sphäre an und kann eben deswegen eine Mittlerfunktion einnehmen. Die Studenten sind weder Höf linge noch professionelle Darsteller; alle Beteiligten widmen sich 12 Ebd., S. 17f. 13 Ebd., S. 19f.
Studieren, probieren, experimentieren dem Theater in ihrer freien Zeit, wobei der immense Zeitaufwand – immerhin sechs Stunden pro Tag über eineinhalb Monate – auffällt, was die Frage nach der Vereinbarkeit mit dem Studium aufwirft. Überhaupt ist nicht ganz klar, wie die Universität zu dieser Aktivität steht; zwar berichtet Wels davon, dass die »gesammte Universität« erfreut gewesen sei, doch aus dem Kontext lässt sich erschließen, dass sich dies auf das anwesende Publikum – bestehend aus »allem, was Erlang Angesehenes hat«14 – bezieht. Die zweite Quelle, die ich als Kontrast zu Wels’ positiver Darstellung heranziehen möchte, zeichnet ein anders Bild. Es handelt sich um eine Passage aus den im Jahr 1792 anonym erschienenen Briefen über Erlangen von Georg Friedrich Rebmann (1768–1824). Rebmann hatte zwischen 1781 und 1786 in Erlangen Jura studiert und sich später als Publizist betätigt; politisch stand er den Zielen der französischen Revolution nahe.15 In seinen Briefen zeichnet er ein äußerst kritisches, z. T. satirisch überzeichnetes Bild von der Stadt und ihren Einwohnern im Allgemeinen und den Verhältnissen an der Universität im Besonderen.16 Über das Verhältnis von Theater und Universität berichtet er: »Sonst wurden hier auch zuweilen von Studierenden Schauspiele aufgeführt, welches aber nunmehr – und wie ich glaube, aus hinreichenden Gründen – nicht mehr gestattet wird. Ich muß zwar gestehen, daß ich glaube, Liebhaber-Theater auf Universitäten möchten einestheils, hauptsächlich in Rücksicht auf Declamation und Anstand ihren guten Nutzen haben, aber auf der anderen Seite, wie vielen Zeit- und Geldverlust verursachen sie nicht? Nicht zu gedenken, daß dadurch ein Reiz zum Schauspielerleben, das nur der für angenehm halten kann, welcher es nicht kennt, und eine Abneigung für ernsthaftere Beschäftigungen, hauptsächlich bei jüngeren Leuten hervorgebracht wird. Ich glaube, daß wir manche Stümper, die soviele bretterne Tempel Thaliens entweihen, weniger haben würden, wenn die Sucht zu Liebhabertheatern nicht so sehr eingerissen wäre.« 17 In die Zeit zwischen der von Wels geschilderten Aufführung zu Ehren von Sophie Caroline und Rebmanns Briefen fällt nicht nur die französische Revolution, sondern auch der Thronverzicht von Markgraf Alexander 1791, wodurch auch die Erlanger Universität verstärkt unter preußischen Einf luss gerät. Beides dürfte einer allgemeinen Theaterfeindlichkeit Vorschub geleistet haben; bezeichnenderweise wird für das Jahr 1789 die letzte Aufführung einer studentischen Erlanger Theatergruppe im 18. Jahrhundert verzeichnet, während weiterhin Gastspiele von Schauspieltrup14 Ebd., S. 19. 15 Vgl. Alfred Wendehorst: Artikel »Georg Friedrich Rebmann«, in: Christoph Friederich / Bertold Frhr. von Haller / Andreas Jakob (Hg.): Erlanger Stadtlexikon, Nürnberg 2002, S. 575. 16 Eine kritische Lektüre der Briefe bietet Hans-Joachim Schoeps: Das war Christian-Erlang. Berichte zur Geistesgeschichte der Universität Erlangen im ersten Jahrhundert ihres Bestehens, Erlangen 1950, S. 35–45, 83–85. 17 Georg Friedrich Rebmann: Briefe über Erlangen. Frankfurt / Leipzig 1792, S. 90f.
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Hans-Friedrich Bormann pen stattfinden, die von der Universitätsleitung allerdings mit größtem Argwohn betrachtet werden.18 Bei Rebmann bleiben die konkreten politischen Hintergründe unbestimmt, er führt allerdings einige Argumente gegen das Theater ins Feld, die sich in ähnlicher Form unter anderem in Jean-Jacques Rousseaus Brief an Herrn d’Alembert aus dem Jahr 1758 finden lassen.19 Im Gegensatz zu Rousseau geht es Rebmann jedoch nicht um eine Zurückweisung des Theaters insgesamt, sondern um dessen Inkompatibilität mit der Universität als Bildungsinstitution. Schließlich schätzt er das Theater als Kunstform in den Händen ausgebildeter Darsteller durchaus und erwägt sogar die Möglichkeit, dass das Theaterspiel die allgemeine Theatralität im Sinne einer Rhetorik des Auftritts, der öffentlichen Rede usw. schulen könnte. Die rationale Abwägung von Kosten bzw. Risiko und möglichem Nutzen jedoch fällt zuungunsten des »Liebhabertheaters« aus. Allgemein gesprochen, plädiert Rebmann für eine schärfere Trennung von Bildung und Spiel bzw. von Wissenschaft und Kunst. Im direkten Vergleich wird deutlich, dass das Theater damit auch jene kommunikative, vergemeinschaftende Funktion verliert, die ihm – wenngleich bereits in gebrochener, zweifelhafter Form – bei Wels zukam. Die dritte und letzte Quelle stammt aus dem Allgemeinen Theater-Lexikon (1839–42, Neue Ausgabe 1846–48), herausgegeben von Robert Blum, Karl Herloßsohn und Hermann Marggraff. Der Artikel »Erlangen« bietet u. a. eine ausführliche Würdigung der Architektur des Theaters; in unserem Kontext sind besonders die Ausführungen zum »Königlichen Universitätsschauspielhaus« interessant: »Seitdem die Universität das Schloß als Geschenk erhielt, war auch das Theater ihr Eigenthum. Aus Aengstlichkeit wegen Feuergefahr erlaubte das Prorectorat im Winter keine Vorstellungen, weil in dem Nebengebäude die sehr reiche Bibliothek aufgestellt ist. Am Gebäude wurden die nöthigen Reparaturen vernachlässigt, und selbst die schönen innern Räume geriethen gänzlich in Verfall. 1838 wollte die Universität das Ganze auf den Abbruch verkaufen; da erstand es der Magistrat, und ließ es im Innern vollständig und zeitgemäß restaurieren.« Tatsächlich ist nicht ersichtlich, dass der Bezeichnung »Königliches Universitätsschauspielhaus« (über die formale Zuordnung einer Trägerschaft hinaus) ein bil18 Vgl. Hans-Joachim Schoeps: »Die Erlanger Studiobühne von 1789«, in: Die Erlanger Universität, 4. Jg., 7. Beilage (19. Juli 1950), o. P. , sowie Johannes Bischoff: »Erinnerungen an eine Erlanger Studenten-Bühne des 18. Jahrhunderts«, in: Die Erlanger Universität, 1. Jg., Nr. 23 (1. Dezember 1947), S. 360f. Eine andere zeitgenössische Quelle, die auf die Vorbehalte der Universität gegenüber sämtlichen Theateraktivitäten eingeht, ist Johann Georg Friedrich Papst: Gegenwärtiger Zustand der Friedrich Alexanders Universität zu Erlangen, Erlangen 1791, S. 128f. 19 Jean-Jacques Rousseau: »Brief an Herrn d’Alembert über seinen Artikel ›Genf‹ im VII. Band der Enzyklopädie und insbesondere über den Plan, ein Schauspielhaus in dieser Stadt zu errichten« [1758], in: Ders., Schriften I. Hg. von Henning Ritter, Berlin 1981, S. 333–474. Rousseau macht das Theater u. a. für ein »Nachlassen des Fleißes« und eine »Vermehrung der Ausgaben« (S. 397) verantwortlich und verweist auf die Verkommenheit des Schauspielerberufs (S. 410f., 426ff.).
Studieren, probieren, experimentieren dungspolitisches Konzept zugrunde lag; angesichts der Umstände und der schon bei Wels und Rebmann manifesten Trennung zwischen Theater und Universität wäre dies auch überraschend. Gleichwohl kann man in der Bezeichnung selbst ein feudales Erbe sehen: Nicht das Theater profitiert von der Universität – weder ökonomisch (davon, dass die Universität nichts in das Gebäude investieren wollte, ist auch in anderen Quellen die Rede20) noch ideell (studentisches Theater ist unerwünscht, eine Würdigung der Gastspiele von Schauspieltruppen in diesem historischen Kontext unplausibel) –, sondern die Universität profitiert von dem Theater: nicht als ästhetische Praxis, sondern als manifestes Zeichen eines königlichen Gunsterweises. Die Darstellung im Allgemeinen Theater-Lexikon legt es nahe, dass dieser Effekt so lange wirksam war, bis die daran geknüpfte Immobilie ihren Wert eingebüßt hatte.
1946/47: Studiobühne Erlangen Das kulturelle Selbstverständnis der Nachkriegszeit in Deutschland lässt sich ganz allgemein als eine umfassende soziale, politische, ökonomische und nicht zuletzt weltanschauliche Krise kennzeichnen. Für die Generation der Geburtsjahrgänge der 1920er und frühen 1930er Jahre, die »Jugend vor einer Welt in Trümmern«21 hat sich – nach einem wirkmächtigen Titel des Soziologen Helmut Schelsky – das Schlagwort der »skeptischen Generation«22 eingebürgert. Über die materiellen Nöte hinaus erschienen ihr die Institutionen der bürgerlichen Kultur – noch vor einer eingehenden Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und den Verbrechen der Vätergeneration – ideologisch diskreditiert. Die Bedeutung des studentischen Theaters als Ort der Selbstverständigung für diese Jahrgänge, zugleich die erste Generation von Studierenden nach dem Zweiten Weltkrieg, ist dabei kaum zu überschätzen.23 Die Gründe dafür sind vielfältig – psychologische und ästhetische Faktoren spielten ebenso eine Rolle wie die pragmatische Dimension: Studentisches Theater war aufgrund seiner medialen Verfasst20 Ulrike Götz zitiert die Zeitung Nürnberger Lustwandler vom 24. Januar 1837: »Wir haben eine Bühne, wie man in akustischer Hinsicht wenige finden wird. Trotzdem lässt man es lieber in Trümmer gehen, als nur das Geringste darauf zu verwenden. [...] Es ist traurig, daß das Theater der Universität gehört.« (Dies.: »Das Erlanger Markgrafentheater – Eine Baugeschichte«, in: Von Mauern und Mauerweilern. Festschrift zur Renovierung des barocken Zuschauerraums des Erlanger Markgrafentheaters, Erlangen 1999, S. 35–58, hier S. 48.) 21 Vgl. Franz-Werner Kersting (Hg.): Jugend vor einer Welt in Trümmern. Erfahrungen und Verhältnisse der Jugend zwischen Hitler- und Nachkriegsdeutschland, Weinheim / München 1998. 22 Helmut Schelsky: Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf / Köln 1957. 23 Vgl. zum Studententheater mit dem Fokus auf die Erlanger Studiobühne und die Internationale Theaterwoche der Studentenbühnen Marlies Hübner: Internationales Studententheater in Erlangen, 1946–1968, Erlangen 1995; Lea-Sophie Schiel: Theater im politischen Kampf. Motivation und Konsequenz der Auflösung der internationalen Theaterwoche der Studentenbühnen in Erlangen 1968, Berlin 2016, sowie den Beitrag von Lea-Sophie Schiel im vorliegenden Band.
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Hans-Friedrich Bormann heit ohne Rückgriff auf (ohnehin kaum vorhandene) technische und ökonomische Ressourcen möglich, studentisches Theater bot die Möglichkeit, eine selbstständige, kritische Position sowohl außerhalb des universitären Lehrplans als auch außerhalb des Berufstheaters einzunehmen.24 Beide Aspekte fallen in dem Aspekt der Bildung zusammen, hier verstanden als sich selbst ermächtigende Persönlichkeitsentwicklung im Austausch mit der noch vor kurzem verfemten europäischen Kultur25 – eine Zielsetzung, die, kaum zufällig, dem umfassenden ›Reeducation‹-Programm der Alliierten entsprach. Insofern überrascht es nicht, dass die amerikanische Militärregierung den Theateraktivitäten der Erlanger Studierenden wohlwollend gegenüberstand. Eine wichtige Rolle dürfte dabei die institutionelle Rahmung gespielt haben, durch die eine Kontrollinstanz etabliert wurde: Die Gründungssatzung der »Studiobühne der Universität Erlangen« vom 30. Juni 1947 legt fest, dass nur eingeschriebene Studierende Mitglied werden konnten und der Rektor der Universität als Schirmherr fungierte, dem – zumindest in den ersten Jahren – alle Vorhaben anzuzeigen waren.26 Ebenso wichtig für das Selbstverständnis der Studiobühne dürfte gewesen sein, dass die Aufführungen auf reges Interesse seitens der universitären Öffentlichkeit stießen – und zwar sowohl auf Seiten der Studierenden wie auf Seiten der Lehrenden. Dieses Interesse hat sich u. a. in Die Erlanger Universität niedergeschlagen, einem akademischen Semesterblatt, das zwischen 1947 und 1972 erschienen ist und das sich (jedenfalls zu Beginn) als eine »Gemeinschaftsarbeit von Studenten und Professoren« verstand.27 Insbesondere in den ersten Jahren ist eine Fülle an Beiträgen zu den Aktivitäten der Studiobühne zu verzeichnen. Auffallend ist, dass es sich dabei weniger um Theaterkritiken handelt als um grundlegend und interdisziplinär ausgerichtete Debattenbeiträge zur neueren Literatur und zum Theater. Einen Beitrag möchte ich als Zeugnis für das damalige Verhältnis zwischen Theater und Universität herausgreifen. Es handelt sich um einen Bericht über eine Arbeitstagung der Studiobühnen Deutscher Hochschulen mit Vertretern von 19 Universitäten und Hochschulen, die vom 10. bis 18. Mai 1947 in Würzburg stattgefunden hat. Der Autor Franz Richert referiert u. a. einen Beitrag von Hanswalter Gossmann28, dem Gründer und damaligen Leiter der Erlanger Studiobühne. Sein Thema war »Die Studiobühne als Experimentierbühne für Autor, Regisseur, Darsteller und Bühnentechnik«:
24 Vgl. Walter Grosch: »Die Studiobühne«, in: Jürgen Sandweg / Gertraud Lehmann (Hg.): Hinter unzerstörten Fassaden: Erlangen 1945–1955, Erlangen 1996, S. 837–865. 25 Zum Verhältnis von Ich-Bildung und Welt-Bildung siehe Eckart Liebau / Leopold Klepacki: »Was ist und wozu braucht man Theater in der Schule?«, in: Pädagogische Rundschau, Band 69, Heft 5 (2015), S. 521–534, sowie den Beitrag von Eckart Liebau im vorliegenden Band. 26 Vgl. W. Grosch: »Studiobühne«, S. 841f. 27 Vgl. Eduard Brenner: »Zum Geleit«, in: Die Erlanger Universität, 1. Jg., Nr. 1 (1. Januar 1947), S. 1. 28 In der Literatur variiert die Schreibweise seines Namens; ich folge dem Artikel im Erlanger Stadtle ikon.
Studieren, probieren, experimentieren »Er führte aus, daß die Studiobühnen ihre Bedeutung erhielten durch die Brückenstellung zwischen Theater und Universität. Es sei nicht an eine Konkurrenz für die Berufstheater zu denken, sondern an Institutionen, die geeignet seien, den Bühnen junge Regisseure und Dramaturgen auszubilden, die sowohl wissenschaftliche, als praktische Kenntnisse besitzen. Er forderte das Experiment an alten Werken, um sie in neuer Form dem Spielplan wiederzugewinnen, als auch an modernen, deren Aufführungsmöglichkeit und Publikumswirkung die Berufsbühnen selbst nicht erproben können. [...] Das Referat löste eine heftige Diskussion aus. Folgende Fragen vor allem erhitzten die Köpfe: Ob öffentlich gespielt werden solle, oder vor einem ›kleinen Kreis‹, ob der Name ›Studio‹ zu recht besteht, oder ob ›Laienspielschar‹ treffender wäre, ob eine solche Einrichtung an eine Universität gehöre und ob überhaupt ganze Stücke gespielt werden sollen.«29 In unserem Zusammenhang ist besonders die Rede der »Brückenstellung« von Interesse, die das Studententheater zwischen Theater und Universität einnehmen soll. Entscheidend dafür ist die Abgrenzung zum Berufstheater, die allerdings – anders als zum Beispiel bei Rossmann – nicht als Ausweis eines Defizits verstanden wird. Zentral ist dabei der Begriff des »Experiments«. Er macht – noch vor einer genaueren terminologischen Bestimmung – deutlich, dass mit dem Studententheater nicht nur die Funktion des Theaters fraglich wird, sondern auch seine Ästhetik. Die Reaktion auf Gossmanns Beitrag zeigt, dass unter den damals Beteiligten kein Konsens darüber herrscht, was dies bedeutet und welche Konsequenzen es hat. Um im Bild zu bleiben: Gestritten wird nicht nur über die Form der Brücke, sondern auch darüber, wozu genau sie dient, wer sie nutzen soll und auf welchem (historischen und institutionellen) Fundament sie ruht. Meine These lautet, dass solche grundlegenden Diskussionen dem Studententheater (jedenfalls dort, wo es sich programmatisch vom Berufstheater und der Universität abgrenzt) nicht äußerlich sind. Dies wird deutlicher, wenn man (was ich im Folgenden durchgehend tun möchte), zwischen dem »Experiment« und dem »Experimentellen« unterscheidet: Beim »Experiment« werden etablierte und legitimierte Strategien und Ansprüche des Versuchs (z. B. in Form der Probe) in den Bereich der Ästhetik übertragen, beim »Experimentellen« stehen eben solche Strategien, Ansprüche und nicht zuletzt die Legitimation der Unternehmung selbst auf dem Spiel. Die oben zitierte Passage weist beide Aspekte auf: Wenn Gossmann von einer »Experimentierbühne« spricht, scheint es ihm um eine weitläufig akzeptierte Idee von künstlerischer Ausbildung und die (Weiter-) Entwicklung des Berufstheaters zu gehen, während die Diskussion deutlich macht, dass damit nicht nur terminologische, sondern auch legitimatorische Risiken verbunden sind: Im Zeichen des »Experimentellen« wird auch die Logik des »Experiments« fraglich. Anhand einer anderen Quelle aus der gleichen Zeit möchte ich zeigen, dass die Spannung zwischen dem »Experiment« und dem »Experimentellen« auch die Thea29 Fritz Richert: »Die Studiobühnen in Würzburg«, in: Die Erlanger Universität, 1. Jg., Nr. 13 (1. Juli 1947), S. 187f., hier S. 187.
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Hans-Friedrich Bormann terarbeit der Studiobühne betrifft. Es handelt sich um den Theaterzettel zur ersten Produktion (noch unter dem Namen »Studio des Theaterwissenschaftlichen Seminars«) im Dezember 1946, eine Inszenierung von Jean Anouilhs Antigone (1942).30 Das Publikum findet auf dem Theaterzettel nicht nur Angaben zu den Aufführungsdaten und zum Stück (bezeichnenderweise werden die beteiligten Personen und ihre Funktionen nicht genannt31), sondern auch ein künstlerisches Programm, das sich zugleich in und mit diesem Programmzettel verwirklicht (vgl. Abb.1). Seine zentrale Passage lautet: »Jean Anouilhs ›Antigone‹ wurde im Jahr 1943 in Paris uraufgeführt. Weitere Aufführungen in England und Amerika erregten großes Aufsehen, wie sein ganzes dramatisches Werk, das sich überwiegend mit der menschlichen Aktualisierung antiker Mythen beschäftigt. Die heftigen Auseinandersetzungen in Presse und Publikum veranlassen das Studio, gerade dieses problematische Stück als erstes zur Diskussion zu stellen. Das Studio setzt sich folgendes zum Ziel: Es will dramatische Werke aus ihrem Büchergefängnis befreien und auf die Bühne stellen. Es will alle Seiten der Bühnenpraxis erproben und bedarf dazu des Experiments. Dazu bedarf es aber auch der Hilfe des studentischen Zuschauers: seiner Bereitwilligkeit zur Aufnahme und Diskussion der dargebotenen Probleme und schließlich auch des Verständnisses für die Schwierigkeiten, die wir zu überwinden haben, um überhaupt spielen zu können.« In unserem Zusammenhang fällt auf, dass die »Diskussion« hier nicht als Addendum der Aufführung vorkommt, sondern Ausgangspunkt und Zentrum der gesamten Unternehmung ist: Die Dramen Anouilhs sind für die Studiobühne relevant, insofern sie »problematisch« sind.32 Gleichwohl erscheint die Aufforderung zur Diskussion im ersten Absatz noch wie ein Allgemeinplatz; erst im zweiten zeichnet sich ab, dass es tatsächlich um ein konkretes Vorhaben geht: Das Publikum wird als integraler Bestandteil der Aufführung adressiert, es ist – gemeinsam mit den Aufführenden – zugleich Subjekt und Objekt einer umfassenden »Erprobung«. Die Aufführung selbst erscheint unter diesen Voraussetzungen als Mittel zum Zweck einer doppelten Verständigung: zwischen den im Stück entfalteten Problemen und der geteilten Gegenwart auf der einen Seite und zwischen Aufführenden und Zu30 A nders als auf dem Programmzettel angegeben, fand die Uraufführung von Anouilhs Antigone im Februar 1944 statt – im von den deutschen Truppen besetzen Paris (Théâtre de l’Atelier, Regie: André Barsacq). 31 Man kann in dieser auffallenden Lücke ein Bekenntnis zum kollektiven Arbeiten ohne Hierarchien sehen; dass Gossmann bei der Inszenierung eine zentrale Rolle spielte, scheint allerdings unstrittig zu sein. Vgl. W. Grosch: »Studiobühne«, S. 837f., 842f., 865 (Fn. 14). 32 Dies ließe sich mit Blick auf die Form und den Inhalt des ausgewählten Stücks noch vertiefen: Gegenstand des Dramas Antigone ist seit Sophokles (und eben auch bei Anouilh) die Diskussion zwischen Antigone und Kreon über den – prinzipiell nicht lösbaren – Widerstreit zwischen Legitimität und Macht.
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Abb. 1: Theaterzettel der Antigone-Produktion der späteren Studiobühne (1946)
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Hans-Friedrich Bormann schauenden auf der anderen Seite. Und so nahe es liegt, im letzten Satz der Passage einen entschuldigenden Verweis auf die prekären lebenspraktischen Umstände der Theaterarbeit zu sehen – der Kontext erlaubt es, die zu überwindenden »Schwierigkeiten« allgemeiner zu fassen: als Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz und der ästhetischen Legitimation der gesamten Unternehmung. Bislang ist allerdings noch nicht geklärt, wo und wie die angestrebte grundlegende Verständigung stattfinden soll. Die Antwort auf diese Frage findet sich ebenfalls auf dem Theaterzettel, denn im übernächsten Abschnitt wird das Publikum dazu aufgefordert, sich an einer Art Publikumsbefragung zu beteiligen: »Das Studio fragt Sie: Hat Ihnen das Stück gefallen? Oder was haben Sie daran auszusetzen? Bitte schlagen Sie selbst vor, was wir spielen sollen! Bitte werfen Sie Ihre Antwort in den Briefkasten des Deutschen Seminars, Hauptstraße 28 1/2.« Man kann diese Fragen für naiv halten und die Methodik sowie die Produktivität einer solchen Befragung bezweifeln. Dennoch bleibt anzuerkennen, dass damit der Bereich ästhetischer Geschmacksurteile verlassen wird: Der Zuschauer wird nicht als Konsument oder Kritiker der Aufführung, sondern als (Co-)Produzent, als potentieller Gestalter adressiert. Dies ist ein Hinweis darauf, dass es, in unserer Terminologie, der Studiobühne eben nicht nur um das »Experiment« (im Sinne eines künstlerischen Programms, so radikal es auch immer sein mag) geht, sondern um das »Experimentelle« (im Sinne eines alle Bereiche betreffenden und prinzipiell unabschließbaren Prozesses).33 Für das Verhältnis von Theater und Universität lässt sich konstatieren, dass dem Studententheater eine produktive, eigenständige Stellung zugewiesen wird; es ist nicht nur Mittler, sondern selbst Akteur. Zugleich ist es nicht autonom: Vom Berufstheater leiten sich seine künstlerischen Mittel und Funktionen ab, von der Universität der Anspruch auf Erkenntnis, verstanden als grundlegende, ergebnisoffene Überprüfung und Infragestellung einer etablierten Praxis.34 Möglich wird damit 33 Auch in Die Erlanger Universität sind Kontroversen über Antigone anlässlich der Studiobühnen-Inszenierung dokumentiert: In der ersten Ausgabe wird davon berichtet, dass sich im Anschluss an die Aufführung »eine überaus lebhafte Diskussion« entwickelte, an der sowohl Studierende als auch Dozenten teilnahmen (vgl. Eugen Wirth: »Diskussion um ›Antigone‹«, in: Die Erlanger Universität, 1. Jg, Nr. 1 (1. Januar 1947), S. 6f.), in der zweiten findet sich unter der Überschrift »Antigone – Antigone« eine Sammlung von schriftlichen Stellungnahmen aus unterschiedlichen Disziplinen. Die Schriftleitung betont in einer Vorbemerkung, dass sie sich für diese Auswahl »durch Berge von Besprechungen hindurcharbeiten« musste (Karl Lanig / Franzheinrich Neumann / Rudolf Steglich: »Antigone – Antigone«, in: Die Erlanger Universität, 1. Jg., Nr. 2/3 (1. Februar 1947), S. 26–30, hier S. 26). 34 Auch die programmatische Beschränkung auf »studentische Zuschauer« ist unter diesen Voraussetzungen plausibel: Diese stehen offenbar für einen Zugang zum und einen Umgang mit
Studieren, probieren, experimentieren eine kritische Perspektivierung beider Seiten, wie die Rede vom »Büchergefängnis« zeigt, aus dem die dramatischen Texte zu »befreien« wären: Über die mediale Differenz zwischen Drama und Aufführung hinaus kann man darin eine Distanzierung von der etablierten Philologie sehen, ein Plädoyer für einen erfahrungsbezogenen Umgang mit Dramentexten – und damit auch für die Theaterwissenschaft als eine eigenständige, von der Literaturwissenschaft losgelöste Disziplin.
1964–70: Experimentiertheater und Theaterwissenschaft Bereits auf der Würzburger Arbeitstagung der Studiobühnen Deutscher Hochschulen im Jahr 1947 wurde eine allgemeine Bitte an Kultusministerien und Universitäten gerichtet: »durch Einrichtung von Lehrstühlen die Theaterwissenschaft zum selbständigen Fach zu erheben«. Der Autor des Berichts sieht diesen Standort durch die vorbildliche Arbeit der Studiobühne sowie die mögliche Nutzung des Markgrafentheaters dafür prädestiniert; er schließt mit der suggestiven Frage: »Wahrt Erlangen seine Chance?«35 Von heute aus lässt sich diese Frage durchaus mit Ja beantworten – allerdings hat sich die Erlanger Universität dafür sehr viel Zeit gelassen: Es dauert noch über zwanzig Jahre, bis Theaterwissenschaft (im Jahr 1970) zum Prüfungsfach wurde, und über fünfzig Jahre, bis (im Jahr 2000) tatsächlich ein Lehrstuhl besetzt werden kann. Die erste Phase dieser Entwicklung lässt sich als zunehmende inhaltliche und formale Selbstständigkeit theaterwissenschaftlicher Themen und Arbeitsweisen innerhalb des Fachs Germanistik kennzeichnen, die zweite als Versuch, die Theaterwissenschaft innerhalb einer durch »neue Medien« dominierten Kultur zu verorten.36 Für die Frage nach dem Verhältnis zwischen Theater und Universität ist besonders der Zeitraum bis zur Etablierung als Prüfungsfach von Interesse. Der kontinuierliche Aufschub ermöglicht es den Akteuren, sich über das mögliche Profil der Theater, der sich nicht auf die (sei es wohlwollende, sei es kritische) Rezeption von Aufführungen beschränkt, sondern sich auch für grundsätzliche Fragen der Ästhetik sowie die Arbeitsweisen und Produktionsumstände interessiert. 35 F. Richert: »Studiobühnen in Würzburg«, S. 188. 36 Die weitere Entwicklung der Erlanger Theaterwissenschaft seit 1970 ist nicht Gegenstand meiner Betrachtungen. Es sei jedoch vermerkt, dass in Erlangen (wie an anderen Standorten) die Orientierung an der Theaterpra is mit einer programmatischen Erweiterung hin zur Medienpraxis (Film, Fernsehen, Rundfunk) einhergeht (vgl. dazu exemplarisch Karl Prümm: »Lektüre des Audiovisuellen. Film und Fernsehen als Gegenstände einer erweiterten Theaterwissenschaft«, in: Renate Möhrmann (Hg.), Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung, Berlin 1990, S. 217– 229). In Erlangen mündet diese Entwicklung in der Gründung eines Instituts für Theater- und Medienwissenschaft und der Denomination des damaligen Lehrstuhls »für Theater- und Medienwissenschaft«. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die jüngste, gegenläufige Tendenz, die auf eine Entflechtung zwischen der Theaterwissenschaft und der (inzwischen ebenfalls als eigenständige Disziplin etablierten) Medienwissenschaft zielt.
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Hans-Friedrich Bormann neuen Disziplin Gedanken zu machen und Strategien zu seiner Verwirklichung zu entwickeln. In Erlangen mündet dies in die Konzeption eines Universitätstheaters, das im Zuge des Neubaus der Philosophischen Fakultät (1964–68) auf einem ehemaligen Kasernengelände errichtet wurde.37 Im Folgenden möchte ich – wiederum exemplarisch – zwei Wegmarken aufsuchen, die unterschiedliche Phasen dieser Entwicklung dokumentieren: Zum einen der Ankauf einer theaterhistorischen Sammlung im Jahr 1953, zum anderen die Eröffnung des Experimentiertheaters im Jahr 1970. Beide haben ihren Niederschlag in schriftlichen sowie visuellen Zeugnissen gefunden. Als Beginn der Etablierung der Theaterwissenschaft in Erlangen könnte man, wie oben gezeigt, bereits die ersten Aktivitäten der Studiobühne in den Jahren 1946/47 ansehen; einer der nächsten Schritte ist die Institutionalisierung der Internationalen Theaterwoche der Studentenbühnen, die zwischen 1949 und 1968 fünfzehn Mal in Erlangen stattfand und sich bald als international maßgebliches Festival des Studententheaters etablierte.38 Von Seiten der Universität erfuhr dieses Festival (ebenso wie die Studiobühne, die auch hier federführend war) Unterstützung auf allen Ebenen; aus der Fachperspektive war das Interesse des Germanisten Wolfgang Baumgart wichtig, der zwischen 1946 und 1958 in Erlangen tätig war.39 Anlässlich des Ankaufs einer theaterhistorischen Sammlung für die Universität im Jahr 1953 (ein weiterer, wichtiger Schritt auf dem Weg zur Institutionalisierung des Fachs) formuliert Baumgart in einer Ausgabe von Die Erlanger Universität (immerhin auf deren erster Seite) ausführlich den damaligen Stand disziplinärer Selbstref lexion. Dort heißt es unter anderem: »Jede Wissenschaft hat in ihren Anfangsstadien die Stufen der Materialsammlung und -ordnung zu durchlaufen. Die Wissenschaft vom Theater als einem komplexen Gebilde, das außer der künstlerischen auch eine technische, psychologische, juristische und noch manche andere Seite hat, ist eine ebenso komplexe Erscheinung wie ihr Forschungsobjekt: eine Vielzahl von Teilwissenschaften, deren Kern, das Mimisch-Sprachliche, auch noch zwiegesichtig und wie so manche andere Dis37 Die inhaltliche Verantwortung für die Konzeption und Ausgestaltung des Theaters lag in den Händen des Germanisten Hans Schneider alias Schwerte. Er war von 1947 bis 1965 an der FriedrichAlexander-Universität tätig und stand für eine dezidiert theaterwissenschaftlich interessierte Germanistik. Mitte der 1990er Jahre wurde seine nationalsozialistische Vergangenheit als SS-Hauptsturmführer publik, die er mittels Identitätswechsel verschleiert hatte. Vgl. ausführlich zum Fall Schneider/Schwerte den Beitrag von Bettina Brandl-Risi im vorliegenden Band. 38 Vgl. M. Hübner: Studententheater; L.-S. Schiel: Theater im politischen Kampf, sowie den Beitrag von Lea-Sophie Schiel im vorliegenden Band. 39 1958 wurde Baumgart ans Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin berufen; Schneider alias Schwerte übernahm die Leitung der Theaterwissenschaftlichen Abteilung. Vgl. zu Baumgart auch Mechthild Kirsch: »Der unsichtbare Ordinarius: Wolfgang Baumgart«, in: Peter Jammerthal / Jan Lazardzig (Hg.), Front Stadt Institut. Theaterwissenschaft an der Freien Universität 1948–1968, Berlin 2018, S. 123–144, sowie den Beitrag von Bettina Brandl-Risi im vorliegenden Band.
Studieren, probieren, experimentieren ziplin zwischen historischer und aesthetischer Orientierung geteilt, einmal nach der einen, einmal nach der anderen Seite erforscht und gedeutet zu werden verlangt. Die radikale Entscheidung nach der einen Seite führt zur Leugnung einer Theaterwissenschaft und Duldung lediglich einer Theatergeschichte, die andere umgekehrt zu einer antihistorischen, lediglich aesthetischen Lehre vom Theater. Die Frage nach der Selbständigkeit der Theaterwissenschaft als Wissenschaft ist noch nicht endgültig beantwortet.« 40 Die Lösung des Dilemmas zwischen historischer und ästhetischer Orientierung wird bei Baumgart der Zukunft überantwortet; er selbst schlägt sich bezeichnenderweise auf die Seite der »Materialsammlung« – und damit gegen die Integration der Theaterpraxis, wie sie u. a. von der Studiobühne gefordert wurde. Allerdings betont er durchaus die intermediale Verfassung der Archivalien (genannt werden Skizzen, Fotografien, Schallplatten), womit sich andeutet, dass der Zugriff auf das »Mimisch-Sprachliche« (heute würden wir wohl von der Aufführung sprechen) mit einem erweiterten Textbegriff einhergeht. Interessanterweise hat diese Einsicht auch praktische Konsequenzen, wie sich bei der ersten Sammlungspräsentation in eigens dafür hergerichteten Räumen in der Erlanger Orangerie zeigt: Für einen Bericht im Erlanger Tagblatt demonstriert Baumgart sogenannte »Mehrzwecktische«, die anscheinend von ihm selbst entworfen wurden (vgl. Abb. 2). Auch wenn deren Zweck nicht ganz klar wird bzw. allzu pragmatisch erscheint (mutmaßlich geht es darum, eine Vitrine in einen Arbeitstisch, und vice versa, verwandeln zu können), lässt die Fotografie doch eine Erschütterung etablierter Zugangs- und Arbeitsweisen des »Studiums« erkennen. Im Jahr 1970 befindet sich die Erlanger Theaterwissenschaft, jedenfalls auf den ersten Blick, in einer gänzlich anderen Situation: Sie wird zum Prüfungsfach, die Theaterwissenschaftliche Abteilung des Deutschen Seminars wird durch eine Personal- und Mittelaufstockung aufgewertet, und das Experimentiertheater eröffnet mit einer Produktion der Studiobühne. »Erlangen geht neue Wege in der Theaterwissenschaft« heißt es am 4. September 1970 in einem Artikel von Friedrich Bröder in der Bayerischen Staatszeitung. Doch auch diese Darstellung setzt mit einer Klage an, die strukturell dem von Baumgart konstatierten Dilemma zwischen historischer und ästhetischer Orientierung entspricht. »Theaterwissenschaft in Deutschland hat es schwer: zwischen der rein akademischen Traditionsdisziplin Germanistik, von der sie zumeist als Anhängsel behandelt wird, und dem vom Markt und Subventionen abhängigen Theater, das mit wissenschaftlich ausgebildeten Bühnentheoretikern nichts anzufangen weiß, kämpft sie wie eh und je um ihre Existenz. Dieses nicht zuletzt personell bedingten Dilemmas
40 Wolfgang Baumgart: »Die Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität Erlangen«, in: Die Erlanger Universität, 6. Jg., 7. Beilage (29. Juli 1953), S. 1.
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Abb. 2: Wolfgang Baumgart in der Theaterwissenschaf tlichen Sammlung (1953) sind sich vor allem jüngere und auch praktisch erfahrene Theaterwissenschaftler wohl bewußt – und sinnen auf Abhilfe.« 41 Die Entsprechung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier eine bedeutsame Verschiebung stattfindet: Während es bei Baumgart um die Frage des »Studiums« geht, insofern er das Historische wie das Ästhetische fraglos innerhalb der Universität verortet, verläuft die Grenze hier zwischen der Universität auf der einen und der Theaterpraxis auf der anderen Seite, und nicht nur das: Die Theaterpraxis wird der universitären Lehre gleichgestellt, wenn nicht sogar ihr gegenüber privilegiert. Zugleich scheint ausgemacht zu sein, dass das Theater »von Markt und Subventionen abhängig« ist; eine Wechselwirkung zwischen Theater und Universität im Sinne einer anderen ästhetischen Praxis scheint jedenfalls nicht gemeint zu sein; vom »Experiment« (oder einem vergleichbaren Ansatz) ist ebenfalls keine Rede. Ob unter diesen Voraussetzungen die (im Untertitel des Artikels ausgerufene) »Verbindung von Wissenschaft und Praxis« und die »Einbeziehung neuer Medien« geeignet sind, die legitimatorischen Defizite und die inhaltlichen Spannungen innerhalb der Theaterwissenschaft zu lösen, ist zumindest zweifelhaft. Signifikant erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass der seinerzeit neu eingesetzte Leiter der Theaterwis41 F riedrich J. Bröder: »Erlangen geht neue Wege in der Theaterwissenschaft«, in: Bayerische Staatszeitung, 4. September 1970.
Studieren, probieren, experimentieren senschaftlichen Abteilung, Holger Sandig, an gleicher Stelle damit zitiert wird, dass er den »offiziellen Terminus« Theaterwissenschaft gern durch »Medienkunde« ersetzt sähe.42 Die Disziplin verlöre so – ausgerechnet im Moment ihrer Etablierung – beide Namensbestandteile. Mit dem parallel realisierten Experimentiertheater zeichnet sich eine alternative Lösung des Dilemmas ab – jedenfalls dann, wenn man weniger seine konkrete Nutzung in den Blick nimmt als vielmehr sein Potential: Das Experimentiertheater mag ein Raum für (seien es theatrale, seien es mediale) »Experimente« sein, es ist darüber hinaus ein Raum für das »Experimentelle«: insofern es die Möglichkeit eröffnet, kategoriale Grenzen zu befragen – unter anderem die zwischen Theater und Universität. Was dies praktisch bedeuten könnte, möchte ich anhand einiger zeitgenössischer Quellen verdeutlichen, die anlässlich der Eröffnung des Experimentiertheaters erschienen sind. Dass sie auf seinen Namen eingehen, ist wenig überraschend – interessant ist jedoch, mit welchen inhaltlichen Merkmalen sie ihn verknüpfen.43 Häufig wird auch der Umstand gewürdigt, dass es sich um ein Universitätstheater im engeren Sinn handelt – also nicht um einen bereits etablierten Theaterraum, der für Studententheater bzw. bestimmte Lehrveranstaltungen geöffnet ist, sondern, wie Friedrich Bröder in einem weiteren Artikel festhält: »um das erste eigens für ein theaterwissenschaftliches Universitätsinstitut konzipierte und erbaute Theater in der Bundesrepublik«.44 Betont wird auch, dass das Experimentiertheater eine enorme technische und architektonische Flexibilität aufweist, wodurch es als idealtypisches »Werkstatt-Theater« erscheint:
42 Ebd. 43 Wann die Bezeichnung »Experimentiertheater« etabliert wurde, lässt sich nicht präzise rekonstruieren. In der (allerdings unvollständigen) Handakte von Hans Schneider alias Schwerte im Universitätsarchiv (UAE C4/1 Nr. 4475) finden sich zunächst die Bezeichnungen »Versuchsbühne« (Aktenvermerk vom Januar 1964) und »›Theaterlabor‹« (Aktenvermerk vom 2. März 1964), in einem Schreiben von Kurt Kluxen an Schwerte vom 27. Juli 1965 ist bereits fraglos von einer »Experimentierbühne« die Rede. 44 Friedrich Bröder: »Hoppla, wir leben... Eröffnung des Experimentiertheaters der Universität«, in: das neue Erlangen. Zeitschrift für Wissenschaft, Wirtschaft und kulturelles Leben, Heft 18 (April 1970), S. 1403. Die Frage, welcher Bau als erstes Universitätstheater anzusehen ist, lässt sich ohne definitorische Präzision kaum beantworten (leider lässt auch Bröder diese vermissen, insofern es in Erlangen zu diesem Zeitpunkt kein »theaterwissenschaftliches Institut« gab). Als direkter Vorläufer des Experimentiertheaters kommt das Kieler Universitätstheater in Frage, das bereits 1966 eröffnet wurde. Der Bau weist einige architektonische Parallelen auf (u. a. die räumliche Flexibilität), allerdings fehlt ihm die Anbindung an das Fach Theaterwissenschaft. Interessanterweise findet sich ein Pressebericht über das Kieler Projekt in der Handakte von Hans Schneider alias Schwerte: Peter Dannenberg: »Kiels ›kleines Kulturzentrum‹. Am Westring wird das erste deutsche Universitäts-Theater gebaut«, in: Schleswig-Holsteinische Volks-Zeitung vom 20. August 1964.
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Hans-Friedrich Bormann »[I]n dem 15 mal 17 Meter großen Bühnen- und Zuschauerraum können praktisch alle traditionellen und modernen Bühnenformen aufgebaut und erprobt werden, von der historischen Guckkastenbühne über Arena-, Rundum-, Wandsteg- und Gerüstbühne bis zum Boxring oder zur totalen Spielfläche, die leer mitten in die Zuschauerreihen hineingestellt wird und das Publikum ins Spielgeschehen integrieren wie zur bloßen Kulisse umfunktionieren kann.« 45 In dieser Kennzeichnung geht es zunächst um theaterästhetische Fragen im Zeichen des »Experiments«: Der Theaterraum ermöglicht eine Erprobung unterschiedlicher Spielformen mit einem je unterschiedlichen Verhältnis von Bühne und Zuschauerraum. Eben damit aber, und dies kündigt sich am Schluss der zitierten Passage an, werden nicht nur die räumliche Gestaltung, sondern auch die daran geknüpften Funktionen und Rollen fraglich. Dass dies keine ›rein akademischen‹ Überlegungen sind, verdeutlicht die erste Produktion der Studiobühne, die anlässlich der Eröffnung des Experimentiertheaters am 25. Februar 1970 gezeigt wird. Es handelt sich um eine Inszenierung von Ernst Tollers Zeitstück Hoppla, wir leben! (1927) durch Claus Just, der nach Schneider/ Schwertes Weggang die Theaterwissenschaftliche Abteilung kommissarisch geleitet hatte. Schon die Wahl des Dramas ruft einen theaterhistorischen Kontext im Zeichen des »Experiments« auf: Tollers Drama wurde 1927 erstmals von Erwin Piscator inszeniert, dessen multimediale und perspektivische Inszenierungsstrategie etablierte Arbeitsweisen und Wahrnehmungsformen des bürgerlichen Theaters in der Weimarer Republik herausgefordert hatte.46 Und natürlich gehen auch die Probenberichte und Theaterkritiken, die zu diesem Projekt in den Erlanger Tageszeitungen erschienen sind, auf den Aspekt des »Experiments« ein: »Viel Zeit zum Experimentieren... « lautet etwa die Überschrift eines Vorberichts im Erlanger Volksblatt vom 31. Januar 1970.47 Dort finden sich auch zwei Probenfotos, die Claus Just mit dem studentischen Ensemble zeigen (Abb. 3, 4). Diese visuellen Dokumente erscheinen mir besonders signifikant im Vergleich mit dem Bild, das Wolfgang Baumgart anlässlich der Eröffnung der Theatersammlung im Jahr 1953 zeigt (Abb. 2). Sicherlich handelt es sich zuvorderst einfach um unterschiedliche Sujets. In beiden Fällen jedoch handelt es sich um Bilder von Theaterwissenschaf t, die unterschiedliche (Arbeits-)Räume, Haltungen und Zugänge abbilden: Bei Baumgart handelt es sich um ein Archiv, in dem die Arbeit von einer Einzelperson in einem kontemplativen und strikt regulierten Austausch mit den 45 F. Bröder: »Hoppla, wir leben... «. 46 Vgl. Ulrike Haß: »Auge oder Ohr? Piscators ›politisches Theater‹ und Tollers Hoppla, wir leben! in Berlin 1927«, in: Erika Fischer-Lichte / Doris Kolesch / Christel Weiler (Hg.), Berliner Theater im 20. Jahrhundert, Berlin 1998, S. 116–132; für die Beziehung zwischen Piscator und dem Gegenwartstheater siehe auch den Beitrag von Matthias Warstat im vorliegenden Band. 47 [br]: »Viel Zeit zum Experimentieren. Claus Just arbeitet mit der neuen Studiobühne nach dem Modellbuch von Bert Brecht«, in: Erlanger Volksblatt vom 31. Januar 1970.
Studieren, probieren, experimentieren
Abb. 3, 4: Theaterproben zu Hoppla, wir leben! im Experimentiertheater (1970) Dokumenten geleistet wird 48, bei Just handelt es sich um einen Probenraum, in dem die Arbeit in einem Kollektiv stattfindet. Noch wichtiger scheint mir zu sein, dass die Arbeit an einem Arbeitstisch auch außerhalb des Archivs allgemein vertraut sein dürfte (was selbst dann noch abruf bar ist, wenn nur die Handhabung des 48 Vgl. zur theaterwissenschaftlichen Arbeit in einem Archiv den Beitrag von Dorothea Pachale im vorliegenden Band.
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Hans-Friedrich Bormann entsprechenden Möbelstücks gezeigt wird), während sich die Probenarbeit der visuellen Wiedergabe weitgehend entzieht. Was auf den Proben zu Hoppla, wir leben! im Experimentiertheater geschehen ist, lässt sich anhand der Bilder kaum nachvollziehen. So dürfte einen unkundigen Betrachter nur schwer auszumachen sein, wer hier (ob überhaupt jemand) die Position des Regisseurs, des Schauspielers oder des Publikums einnimmt – und falls doch: ob es sich dabei um ein dauerhaftes oder ein temporäres Arrangement, ob es sich um »Ernst« oder »Spiel« handelt. Und da wir uns hier im Kontext eines Universitätstheaters befinden, heißt dies auch, dass das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen Lehrenden und Studierenden sowie die daran geknüpften Arbeitsweisen und Hierarchien fraglich werden: Die Bühne wird zum Seminarraum (und umgekehrt), das Spiel zur Lehre (und umgekehrt), das Theater wandelt sich von einem Gegenstand zu einer Methode.49 Ich möchte diesen Aspekt anhand einer letzten Quelle verdeutlichen, die sich auf die zweite Produktion im Experimentiertheater bezieht, eine Bühnenadaption von Franz Kaf kas Roman Der Prozeß, inszeniert von Holger Sandig (Premiere am 28. Juli 1970). Kaum zufällig, provoziert die Einsicht in den Probenprozess eine Ref lexion des experimentellen Charakters dieses Projekts: »Experimentierendes Theater, was bedeutet das? Im Gegensatz zur herkömmlichen Chefinszenierung gibt es hier ein Regieteam, die an der Aufführung Beteiligten. Jeder kann versuchen, seine Vorstellungen der Darstellung auszuprobieren, man experimentiert an der Form einzelner Szenen, um am Ende eine gemeinsame Konzeption der Aufführung gefunden zu haben. Das Experiment umfaßt ein Austauschen und Abwägen der Konzeptionen und Möglichkeiten nicht nur der Schauspieler, sondern auch der technischen Voraussetzungen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Dr. Holger Sandig und sein Team zwei Drittel des Semesters allein mit Proben verbrachten, um sich auf eine gemeinsame Konzeption der Bühne festlegen zu können.« 50 Es ist womöglich kein Zufall, dass der Autor hier auf die unübliche Verlaufsform des »Experimentierens« zurückgreift und damit wiederum, wenn auch womöglich unbeabsichtigt, eine Differenz markiert, die der zwischen »Experiment« und »Experimentell« entspricht. Denn die entscheidende Erfahrung ist nicht in der künftigen Aufführung enthalten und dort als »Experiment« nachvollziehbar (und wenn man so will: konsumierbar), sondern sie entfaltet ihre Produktivität während der Arbeit, auf dem Weg irgendwohin. Die Infragestellung von etablierten Arbeitsweisen, 49 D iese Interpretation der Fotografien ist zwar vom begleitenden Text gedeckt, doch zu bedenken wäre hier wie dort, dass es sich um eine wohlwollende, mit dem Zeitgeist »um 68« korrespondierende Sicht auf die Probenarbeit handelt. Eine kritischere Lektüre von Bild und Text könnte deren ideologische Dimension sichtbar machen. Es geht mir in unserem Kontext jedoch nicht um den individuellen Fall, sondern um ein Potential, das in der konkreten Realisierung stets uneingelöst bleibt. 50 [wk]: »Konflikte auf Bugbühne. Das Experimentiertheater zeigt Kafkas ›Prozeß‹«, in: Erlanger Volksblatt vom 28. Juli 1970.
Studieren, probieren, experimentieren Rollenbildern und Hierarchien ist dabei zugleich Voraussetzung und Ergebnis, und es ist plausibel, dass ein solcher Prozess, der an und mit seinen eigenen Voraussetzungen arbeitet, »viel Zeit... «, in letzter Konsequenz: unbegrenzte Zeit beansprucht. Das besondere Potential eines »Experimentiertheaters« an einer Universität liegt also nicht darin, Theaterpraxis zu ermöglichen – sei es im Sinne eines »Studiums« (der Vermittlung und Aneignung von Wissen), sei es im Sinne von »Proben« oder «Experimenten« (die ihrerseits extern definierten Ansprüchen und Abläufen folgen), sondern darin, sich dem »Experimentellen« zu widmen, mit dem Wort von Hans-Thies Lehmann: einen »Denkzeitraum« zu ermöglichen. Voraussetzungen dafür sind erstens räumliche Flexibilität und Gestaltbarkeit (wobei nicht entscheidend ist, wie viele Bühnenformen möglich sind oder welche technischen Ressourcen genutzt werden können, sondern ob der Raum und die Technik auf eine Weise zugänglich und nutzbar sind, die einen kontinuierlichen Positionswechsel aller Akteure und eine Neuverteilung ihrer Rollen im buchstäblichen wie übertragenen Sinn möglich macht) und zweitens Zeit – nicht als knappe, sondern als unbegrenzte Ressource verstanden (es ginge also nicht nur darum, das Theater der Verwertungslogik von Stundenplänen zu entziehen, sondern auch darum anzuerkennen, dass es dem universitären Betrieb Zeit hinzufügt – und zwar in einem nicht vorherbestimmbaren Maß). So könnte eine Denk-Arbeit stattfinden, die das, was wir als (sei es als eine theatrale, sei es als eine universitäre) Praxis kennen, buchstäblich aufs Spiel setzt.
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Wissenschaft im Schatten des Nationalsozialismus – Der Fall Schneider/Schwerte und die Anfänge der Erlanger Theaterwissenschaft Bettina Brandl-Risi Der Germanist Hans Schwerte war von 1947 bis 1965 an der Universität Erlangen tätig und dort auch eng mit der Etablierung des Faches Theaterwissenschaft verbunden, bevor er als Lehrstuhlinhaber und später Rektor an die RWTH Aachen ging. 1995 kam er durch eine Selbstanzeige der öffentlichen Enthüllung zuvor, dass er in der NS-Zeit unter seinem eigentlichen Namen Hans Ernst Schneider einer der ranghöchsten Mitarbeiter der SS-Forschungseinrichtung Ahnenerbe und als nationalsozialistischer Wissenschaftsorganisator einer der einf lussreichsten Kulturfunktionäre des Regimes gewesen war. Eine Reihe von Kontexten möchte ich, kreisend um die Auf hellung des Einzelfalls Schneider/Schwerte, mehr oder weniger ausführlich aufschließen: •
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der Fall Schneider/Schwerte und die Situation 1946/47 (Universitäten im NS und in der Nachkriegszeit, besonders Erlangen); das Studium im Schatten des Nationalsozialismus, der Fall Schneider/Schwerte im Kontext der Nachkriegsgesellschaft und das »kommunikative Beschweigen« (Hermann Lübbe 1983), der Fall Schneider/Schwerte und die Germanistik (1933–1995): Germanistik / Germanisten und Theaterwissenschaftler im NS – (personelle) Kontinuitäten in der Nachkriegsgermanistik, der Fall Schneider/Schwerte und die Theaterwissenschaft: Konsequenzen für die noch zu schreibende Geschichte der Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum: die Anfänge der Theaterwissenschaft in Erlangen, der Fall Schneider/Schwerte 1995: der Umgang mit dem Fall Schneider/Schwerte an der FAU Erlangen-Nürnberg (und an der RWTH Aachen) seit 1995.1
1 D ieser Beitrag markiert den Beginn einer größeren Recherche zu den Anfängen der Theaterwissenschaft in Erlangen und zur Fachgeschichte der Nachkriegszeit.
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Erlangen 1946/47
Meine Suchbewegung möchte ich mit einem ganz besonderen Dokument einleiten, dem 1948 in den US-amerikanischen Monatshef ten für Deutschen Unterricht, Deutsche Sprache und Literatur erschienenen »Report on the Present Condition of Germanic Studies in Germany and Austria«.2 In diesem erstaunlichen Zeitdokument wird die Sorge der Germanistik in den USA um die Kollegen und das Fach in den von den Kriegsfolgen gezeichneten deutschen und österreichischen Universitäten offenbar, eine durchweg sympathetische, aufgeschlossene Haltung von Menschen, die ihrerseits in einer ambivalenten Selbstpositionierung zwischen Angehörigen der Befreiungsmacht und professionellen Vertretern der besiegten ›Kultur‹ gestanden haben müssen. Die Vertreter der Neuen deutschen Literatur in der Modern Language Association (MLA) hatten sich 1947 entschlossen, brief lich Erkundigungen über den Zustand der Germanistik und die Arbeitsverhältnisse einzuholen,3 und die Antworten von Fachvertretern (Dozenten und ein Student) aus 17 Standorten – Erlangen ist auch dabei – werden in dem Bericht zusammengestellt. Darunter befinden sich neben aufmerksamen Beobachtungen der seelischen Erschütterungen der an den Universitäten Lehrenden und Studierenden über etwas wohlfeile Urteile zum niedrigen akademischen Niveau der Studierenden immer wieder Äußerungen, die den Verlust der unproblematischen Lebensbedingungen und Lehr- bzw. Studienbedingungen beklagen, inklusive des naturgemäß für einen Germanisten elementaren Verlusts der Bibliotheken, sei es der universitären, sei es der eigenen, sowie auch des Verlusts der eigenen geistigen Arbeit in Gestalt von verlorenen Manuskripten.4 Auffallend sind die unterschiedlichen Wahrnehmungen, vor allem die höchst divergierenden Selbstpositionierungen und Selbstinszenierungen der Befragten. Der Kölner Student Wolfgang Martens diagnostiziert bei sich und seinen Kommiliton*innen eine Arbeitswut, »ein rücksichtsloses Weiterwollen, um Vergangenheit und Gegenwart zu vergessen und nur irgendwo etwas – vermeintlich Positives – zu erreichen«, eine »Ruhelosigkeit« und »Besinnungslosigkeit«, die das tatsächliche Bearbeiten von Problemen verhindere.5 Während viele Dozenten 2 Detlev W. Schumann: »A Report on the Present Condition of Germanic Studies in Germany and Austria«, in: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur, Band 40, Heft 2 (1948), S. 49–62. Der Autor dieses Berichts, Detlev W. Schumann, war nach seiner Promotion in Germanistik in Kiel bereits 1926 in die USA gegangen und hatte dort eine wissenschaftliche Karriere verfolgt. 3 V gl. ebd., S. 49. 4 Vgl. ebd., S. 50. 5 Wolfgang Martens, zitiert nach D. W. Schumann: »Report«, S. 54.
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skeptisch auf ihre Studierenden und deren Fähigkeiten und charakterliche Festigkeit blicken, zeigt der Tübinger Germanist Walter Rehm6 eine bescheidene Haltung: »Die Zusammenarbeit ist schön und fruchtbar, ich persönlich bewundere meine Hörer, … und ich frage mich oft, ob wir Älteren in gleicher Lage es auch so geschafft hätten.«7 Helmut Prang berichtet aus Erlangen, dass die Stadt und die Universität unzerstört, aber völlig überlaufen sei und lobt die Studierenden über alle Maßen.8 Dagegen antwortet der künftige ›Großgermanist‹ Benno von Wiese, der sich 1933 bis 1945 immer wieder bef lissen dem NS-Regime angedient hatte, von Münster, strotzend vor Selbstbewusstsein, dass die Jugend fast schon in Eigenregie sich entnazifiziert habe: »Es wächst eine völlig neue Generation heran, die von Phrasen und Schlagworten nichts mehr hören will… Es mag auch hier noch gelegentlich Elemente geben, die die ihnen eingetrichterte Ideologie der letzten zehn Jahren [sic! Im übrigen eine aufschlußreich vage Zeitrechnung; B. B.-R.] noch nicht ganz überwinden können […]. Aber die Mehrzahl entdeckt zum ersten Male wenigstens dort, wo die, leider spärlichen, richtigen Lehrer für sie da sind, die ungeheure Weite der geistigen Welt und vermag von dieser Erfahrung aus mit vielem fertig zu werden.«9
6 R ehm hat in seinen Publikationen der 1930er und 1940er Jahre eine »staunenswerte Unabhängigkeit von den politischen Zeitumständen« an den Tag gelegt, wie Ernst Osterkamp hervorhebt, und keinerlei ideologische Selbst-Entnazifizierung durchlaufen müssen wie so viele seiner Kollegen, vgl. Ernst Osterkamp: »Klassik-Konzepte. Kontinuität und Diskontinuität bei Walter Rehm und Hans Pyritz«, in: Wilfried Barner / Christoph König (Hg.), Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Frankfurt am Main 1996, S. 150–170, hier S. 152. Rehms Klassik-Konzept, wie er es maßgeblich in seiner Studie Griechentum und Goethezeit 1936 (1952 unverändert in dritter Auflage erschienen) formuliert hat, implizierte nämlich den »Entwurf eines in der griechischen Humanität sich erfüllenden Deutschtums« und einen »kaum verhüllten Angriff auf die nationalsozialistische Staatsidolatrie« (E. Osterkamp: »Klassik-Konzepte«, S. 156). Eben jener Kulturkonservatismus und die Staatsferne seiner Argumentation freilich erlaubten den Leser*innen der Nachkriegszeit, hierin die »Restitution eines positiven Begriffs deutscher Identität« zu sehen, der die Idee des Europäischen, des Abendlandes als Westeinbindung des Deutschen einbegriff (ebd., S. 159). Dass Rehm als ehemaliges NSDAP-Mitglied (seit 1942, nachdem offenbar mehrere Berufungsverfahren an seiner NS-Ferne gescheitert waren) nach dem Krieg erst 1950 voll rehabilitiert wurde, gehört zu den Ambivalenzen, die bleiben. Vgl. Conrad Wiedemann: Artikel »Rehm, Walther«, in: Neue Deutsche Biographie, Band 21, Berlin 2003, S. 283f., URL: https:// www.deutsche-biographie.de/pnd119522357.html [zuletzt abgerufen am 28. August 2019]. 7 Walter Rehm, zitiert nach D. W. Schumann: »Report«, S. 58. 8 Vgl. D. W. Schumann: »Report«, S. 58. 9 Benno von Wiese, zitiert nach D. W. Schumann: »Report«, S. 54.
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Dass von Wiese mit den »leider spärlichen richtigen Lehrern« sich selbst gemeint hat, versteckt sich in dieser Formulierung nur schlecht, und damit ebenjene Person, die während seiner Zeit in Erlangen über NS-Dichter las, öffentliche Vorträge zu NS-affinen literarischen Themen hielt und die – so Ludwig Jägers Vermutung – noch in den letzten Kriegsmonaten im Zuge des »Totalen Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften«, den ein gewisser Hans Ernst Schneider projektiert hatte, nach Erlangen abgeordnet worden war.10 Hier jedoch scheint er sich gleichsam mit einer Erfolgsmeldung als Reeducation Officer den amerikanischen Kollegen anzudienen. Am überraschendsten ist vielleicht jene gleich auf der ersten Seite des Berichts wiedergegebene Klage über das Versagen der Entnazifizierungsmaßnahmen, die ausgerechnet der Marburger Professor Werner Milch abgab, einer der wenigen Germanisten, die aus dem Exil in England nach dem Krieg nach Deutschland zurückgekommen waren, und der ein Klima der existentiellen Verunsicherung beschreibt: »Kein Zweifel, es mußte etwas in dieser Richtung getan werden, aber es zeigt sich, daß die gewählte Form nicht richtig war. Uns scheint es, als ob man die Kleinen hängt, während die wahrhaft Gefährlichen durchschlüpfen können, und zudem ist das Damokles-Schwert täglich möglicher Revisionen früherer Entscheidungen seelisch immer ein sehr schlimmes Faktum. Jeden Tag kann eine Denunziation kommen, die zur Folge hat, daß man, schuldig oder unschuldig, für Monate vom Amt suspendiert wird. Anstatt arbeiten zu können, muß der Betroffene herumlaufen, Zeugenaussagen für sich sammeln, einer Verhandlung nach der anderen beiwohnen, und wenn ihm schließlich nach langen Monaten bestätigt wird, daß er doch kein Nazi gewesen sei, dann kehrt er müde, verärgert und voller Ressentiment gegen den Behördenapparat in sein Amt zurück – vorausgesetzt, daß der Posten nicht unterdessen anders besetzt worden ist.« 11 In dieser Situation nahm der 36 Jahre alte Hans Schwerte im Sommersemester 1946 sein Studium an der Universität Erlangen bei dem schon zitierten langjährigen Erlanger Privatdozenten Helmut Prang auf, nachdem er sich zunächst an der Universität in Hamburg eingeschrieben hatte. Was fand er vor? 5.500 immatrikulierte Studierende in Erlangen, dreimal so viel wie vor dem Krieg – ein Indiz des Massenzulaufs an Universitäten, vor allem in unzerstörten Städten wie Erlangen, auch und gerade in den Geisteswissenschaften,12 darunter viele Kriegsversehrte, 10 Siehe dazu später. 11 Werner Milch, zitiert nach D. W. Schumann: »Report«, S. 50. 12 Zur Situation an deutschen Hochschulen nach dem Kriegsende (auch über Erlangen) vgl. auch Axel Schildt: »Im Kern gesund? Die deutschen Hochschulen 1945«, in: Helmut König / Wolfgang
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viele aus der Region, viele ältere Jahrgänge wie er selbst. Alles muss überfüllt und improvisiert gewesen sein, ungeheizte Räume, kaum Bücher, Papier und Arbeitsmaterial. Die braune Vergangenheit der Universität war da personell und institutionell noch alles andere als vergangen.13 Nach der Kapitulation schloss die Amerikanische Militärregierung die Universität und entließ einige der Hauptakteure (u. a. den ehemaligen Rektor Hermann Wintz). Zahlreiche weitere Entlassungen folgten in den folgenden Jahren, darunter der Germanist Friedrich Stroh, der zahlreiche NS-Mitgliedschaften vorzuweisen hatte, viele Entlassungen wurden allerdings revidiert. Im Lauf des Wintersemesters 1945/46 wurde sukzessive der Lehrbetrieb wieder aufgenommen. Am 5. März 1946 erfolgte die förmliche Wiedereröffnung der Universität,14 deren erster gewählter Rektor Eduard Brenner war, ein politisch Unbelasteter, der als ausgewiesener Amerikanist – vielleicht nicht ganz zufällig in der Amerikanischen Besatzungszone – eine adäquate Besetzung für das Rektoratsamt schien.15 Unter Brenners Leitung wurde 1946 eine sogenannte »Auf bau-Abteilung der Universität Erlangen« eingerichtet: Kuhlmann / Klaus Schwabe (Hg.), Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit der deutschen Hochschulen, München 1997, S. 223–240. 13 So lud der damalige Rektor Hermann Wintz zum 200. Jubiläum der Universität 1943 Adolf Hitler zur Teilnahme an den Feierlichkeiten ein mit der Selbstbeschreibung, dass sich die Universität »mit Stolz die erste nationalsozialistische Hochschule des Reiches nennt«. Zitiert nach Gotthard Jasper: »Die Universität in der Weimarer Republik und im Dritten Reich«, in: Henning Kössler (Hg.), 250 Jahre Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Festschrift (= Erlanger Forschungen, Sonderreihe, Bd. 4), Erlangen 1993, S. 793–838, hier S. 795. Zur Geschichte der Erlanger Universität im NS, der ideologischen Parteinahme auf institutioneller wie personeller Ebene, den schon vor 1933 überwältigenden Wahlsiegen des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes sowie zur Entrechtung und Vertreibung jüdischer Wissenschaftler*innen vgl. auch Alfred Wendehorst: Geschichte der Universität Erlangen-Nürnberg 1743–1993, München 1993; Andreas Raith: Artikel »Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund (NSDStB), 1926–1945« [16. Oktober 2006], in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: https://www. historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Nationalsozialistischer_Deutscher_Studentenbund_ (NSDStB),_1926-1945 [zuletzt abgerufen am 28. August 2019]; Klaus-Dieter Rossade: »Dem Zeitgeist erlegen«. Benno von Wiese und der Nationalsozialismus, Heidelberg 2007; Claus Leggewie: Von Schneider zu Schwerte. Das ungewöhnliche Leben eines Mannes, der aus der Geschichte lernen wollte, München 1998. 14 Vgl. A. Wendehorst: Geschichte der Universität Erlangen-Nürnberg, S. 221. 15 Eduard Brenner, der an der FAU Amerikanische Kulturgeschichte vertrat, ehemaliger SPD-Stadtrat und aus politischen Gründen 1933 aus seiner Position als Direktor der Volkshochschule Nürnberg entlassen worden, war allerdings auch vor 1945 schon an der Universität Erlangen als Lehrstuhlvertreter tätig, wurde 1946 zum ordentlichen Professor berufen und amtierte als Rektor 1946–48, danach als Staatssekretär im Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus. Von prominenten Ausnahmen wie Brenner oder Hans-Joachim Schoeps abgesehen wurden in Erlangen nur wenige Verfolgte und/oder Remigranten nach dem Krieg berufen.
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»Um allen Studenten den Weg zu selbständiger, kritischer und positiver Mitarbeit am Aufbau eines demokratischen Deutschland an der Seite der übrigen Völker zu bahnen, hat der Rektor der Universität mit Zustimmung des Herrn Bayerischen Staatsministers für Unterricht und Kultur die Einrichtung einer Aufbau-Abteilung in den Unterrichtsplan der Universität ab Sommer-Semester 1946 genehmigt.«16 Es sollen ein bis zwei Kurse besucht werden, unter Einschluss fakultätsferner Kurse mit einer Abschlussprüfung, die nachweist, dass der Teilnehmende »sachliche, intensiv kritische Mitarbeit geleistet und die dort behandelten Probleme selbständig durchdacht hat«. Nicht unwesentlicher Hinweis: »Die Auf baukurse sind gratis«17 – im Gegensatz zu den regulären Vorlesungen und Seminaren.18 Am Deutschen Seminar, nunmehr nicht mehr mit der Adresse Adolf-Hitler-Straße 28 ½, sondern Hauptstraße 28 ½, las Wolfgang Baumgart im Sommersemester 1946 über »Wesen und Formen des Theaters«, bei Prang besuchte Schwerte nachweislich »Übungen über Stefan George und Rainer Maria Rilke« und fand dabei offenbar sein Dissertationsthema.19 Baumgarts Beschäftigung mit der »Geschichte der deutschen Faustdichtung« und dessen »Theaterwissenschaftliche Übungen: Hamlet auf der Bühne« (WS 46/47)20 oder »Expressionistisches Theater« (SoSe 49)21 konnte er in den folgenden Semestern belegen. Im WS 47/48 lehrte zum ersten Mal Heinz Otto Burger, der Schwertes langjähriger Vorgesetzter werden sollte, und mit dem ersten namentlichen Auftauchen des »Assistenten Schwerte« im Vorlesungsverzeichnis WS 49/50 findet sich bereits dessen Habilitationsthema
16 Vorlesungs-Verzeichnis der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen für das Sommersemester 1946, S. 16f., Ziffer VI. Unter den zu wählenden Lehrveranstaltungen etwa: »Die geistige Situation des Protestantismus in der Gegenwart« (von Loewenich); »Grundlagen und Regeln des kritischen Denkens« (Wenke); »Vergleichende Kolonialgeschichte des Britischen Weltreichs« (Brenner); »Die Auseinandersetzung zwischen liberalem und sozialistischem Denken in der wirtschaftlichen Zukunft Deutschlands« (Brinkmann). Die Germanistik war vertreten mit »Wesen und Wandel des Humanismus« (Prang). 17 Vorlesungs-Verzeichnis der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen für das Sommersemester 1946, S. 16. 18 Diese Idee eines universitätsinternen Demokratisierungsforums wurde jedoch bereits im WS 48/49 wieder aufgegeben. 19 Vorlesungs-Verzeichnis der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen für das Sommersemester 1946, S. 11. 20 Vorlesungs-Verzeichnis der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen für das Winter-Semester 1946/47, S. 11f. 21 Friedrich-Alexander-Universität Erlangen. Personen- und Vorlesungs-Verzeichnis Sommer-Semester 1949, S. 45.
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ausformuliert: »Burger mit Ass. Schwerte ›Arbeitsgemeinschaft: Das Problem des Faustischen vom Volksbuch bis Thomas Mann‹«.22 Schwerte war im Juni 1947 als wissenschaftliche Hilfskraft und dann als wissenschaftlicher Assistent von Prang (dem Lehrstuhlvertreter bis zum Abschluss des Entnazifizierungsverfahrens von Burger) angestellt worden und reichte im März 1948 bei Prang, dem Religions- und Geistesgeschichtler Hans Joachim Schoeps sowie Burger seine Dissertation mit dem Titel Studien zum Zeitbegrif f bei Rainer Maria Rilke ein, ein 60-seitiger Torso, der im Wesentlichen aus einer einleitenden Darstellung des Forschungsstandes, der Hauptthesen und kurzer exemplarischer Untersuchungen zu einigen Rilke-Dichtungen mit 29 Seiten Fußnoten bestand. Die vollständige bzw. überarbeitete 250-seitige Fassung, die aus dem damals eingereichten Inhaltsverzeichnis zu erahnen ist, stellte vermutlich Schneider/Schwerte selbst erst 1996 der Fakultät zur Verfügung.23 1958 erfolgte die Habilitation in Erlangen mit Faust und das Faustische. Am 1. September 1958 wurde Schwerte vom Bayerischen Staatsministerium zum Diätendozenten bestellt mit der Auf lage »die Theaterwissenschaft zu vertreten«,24 1964 wurde er zum außerplanmäßigen Professor ernannt,25 vertrat ein Semester einen Lehrstuhl in Münster und erhielt 1965 den Ruf nach Aachen auf einen germanistischen Lehrstuhl, mit 55 Jahren. 1971 erhielt er einen Ruf nach Stanford, den er ablehnte,26 1970–73 amtierte er als Rektor der RWTH Aachen, 1974 wurde er zum Beauftragten für 22 Friedrich-Alexander-Universität Erlangen. Personen- und Vorlesungs-Verzeichnis Winter-Semester 1949/50, S. 44. 23 Hier sind die Formulierungen unscharf, siehe Schneider/Schwertes Leserbrief in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28. Oktober 1996: »Die Rilke-Dissertation von 1948 (etwa 250 Seiten) liegt übrigens jetzt, neu lesbar gemacht, in der Universitätsbibliothek Erlangen wieder vor. Meine ›Schuldigkeit‹ war längst eingelöst, bevor Jäger seinen Aufsatz drucken ließ.« Hans Schwerte: »In 50 Lebens- und Arbeitsjahren gewandelt«, zitiert nach Antirassismus-Referat der Studentischen Versammlung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (Hg.): Ungeahntes Erbe. Der Fall Schneider/Schwerte. Persilschein für eine Lebenslüge. Eine Dokumentation, Aschaffenburg 1998, S. 136f., hier S. 136. Vgl. Ulrich Wyss: »Ein Germanist in Erlangen«, in: Ein Germanist und seine Wissenschaft. Der Fall Schneider/Schwerte (= Erlanger Universitätsreden Nr. 53/1996, 3. Folge), S. 82–93, hier S. 84; vgl. C. Leggewie: Von Schneider zu Schwerte, S. 193; vgl. Ludwig Jäger: Seitenwechsel. Der Fall Schneider/Schwerte und die Diskretion der Germanistik, München 1998, S. 14. 24 Zitiert nach C. Leggewie: Von Schneider zu Schwerte, S. 327, Anm. 211. 25 Als solcher erscheint er erstmals im Sommersemester 1965 im Personen- und Vorlesungsverzeichnis. Vgl. Friedrich-Alexander-Universität Erlangen. Personen- und Vorlesungs-Verzeichnis Sommer-Semester 1965, S. 44. 26 Für Ruf und Berufungsverhandlungen gibt es gemäß Ludwig Jäger keine Belege. Vgl. Ludwig Jäger: Artikel »Schneider, Hans«, in: Neue Deutsche Biographie, Band 23, Berlin 2007, S. 296–298, URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd119413574.html [zuletzt abgerufen am 28. August 2019].
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deutsch-niederländische Hochschulbeziehungen des Landes Nordrhein-Westfalen ernannt, die Emeritierung erfolgte 1978, 1983 erhielt er das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse (aberkannt 1995), 1990 wurde er zum Ehrensenator der RWTH Aachen ernannt (später aberkannt). Schwerte galt als linksliberal in Aachen, hatte sich einen gewissen Namen als ideologiekritischer Germanist gemacht, beförderte neue Themen in der Germanistik wie Einsatz von EDV, Trivialliteraturforschung, Lehrveranstaltungen zur Literatur im Nationalsozialismus zu einer Zeit, als das noch ungewöhnlich war.27 Zudem war er aktiver Teilnehmer an den Nürnberger Gesprächen von Hermann Glaser ab 1965. Der Historiker Bernd A. Rusinek konstatiert: »Schwerte kann als Lieblings-›Proff‹ der von 1968 geprägten Studenten und Doktoranden in Aachen angesehen werden. Der Großordinarien-Habitus eines Benno von Wiese lag ihm fern, und wo v. Wiese unbeirrt das Immergleiche erforschte oder erforschen ließ und viele Angehörige seiner Szene von Walter Benjamin allerhöchstens wussten, dass er mit der Habilitation gescheitert und zeitweise Kommunist gewesen war, da ließ Schwerte Arbeiten schreiben, die nicht der neuesten Suhrkamp-Mode folgten, sondern am Beginn der vorwärtsstürmenden Benjamin-Philologie standen. Schwertes Lehrveranstaltungen waren das Gegenteil der von Uwe Timm eindrucksvoll geschilderten Seminare eines v. Wiese, der als Katheder-Heros mit seinen Assistenten vierspännig einzuziehen pflegte. Bei Schwerte hatte eine große Schülerschar habilitiert, promoviert oder Examensarbeiten geschrieben, deren Weg auf universitäre Lehrkanzeln und in den Mittelbau, in Gymnasien und Gesamtschulen führen sollte.«28 1995 wird öffentlich, was hinter vorgehaltener Hand sowohl in Erlangen wie in Aachen schon lange gemunkelt wurde: Hans Schwerte ist nicht der, der er zu sein vorgab. In einer Selbstanzeige gegenüber der RWTH Aachen, um einer öffentlichen Demaskierung durch niederländische Journalisten und Aachener Studierende zuvorzukommen, bekennt Hans Schwerte, dass er unter seinem eigentlichen Namen Hans Ernst Schneider 1909 in Königsberg geboren worden war und nicht in Hildesheim, wie er vorgegeben hatte, und dass er in unterschiedlichen NS-Organisationen, insbesondere der SS-Lehr- und Forschungseinrichtung Ahnenerbe 27 Vgl. Bernd-A. Rusinek: »Von Schneider zu Schwerte. Anatomie einer Wandlung«, in: Wilfried Loth / Bernd-A. Rusinek (Hg.), Verwandlungspolitik. NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, Frankfurt am Main / New York 1998, S. 143–179, hier S. 157f. 28 Bernd-A. Rusinek: »Erst zehn Jahre her. Schneider/Schwerte. Die Geschichte einer ›Aufarbeitung‹ [2012; Langversion des Artikels »Herein, wenn’s kein Schneider ist«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. April 2005], URL: http://www.rusinek.eu/wp-content/uploads/2012/03/ Schneider-Schwerte-zehn-Jahre-danach-FAZ-23.-April-2005-Langfassung-mit-Quellenangaben.pdf, S. 4 [zuletzt abgerufen am 28. August 2019].
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als Abteilungsleiter für den sogenannten ›Germanischen Wissenschaftseinsatz‹ zuständig war und in dieser Funktion in den Niederlanden und in Österreich Beschlagnahmungen und Propagandatätigkeiten verantwortete. Nicht der Studienabbrecher und ehemalige Wehrmachtssoldat, als der er sich in seinem Erlanger Lebenslauf (in der Dissertation) ausgegeben hatte,29 sondern ein Nazi-Täter hatte sich in Erlangen unter falschem Namen eingeschrieben.30
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Wer war dieser Hans Ernst Schneider? Viele Details dieser Karriere sind rekonstruierbar. 1909 geboren in Königsberg, studierte er Deutsche Literaturgeschichte, Kunstgeschichte, Theaterwissenschaft, Philosophie, Volkskunde und Urgeschichte in Königsberg seit Sommersemester 1928, dann 1929/30 zwei Semester in Berlin, angeblich ausgerechnet bei Max Herrmann, dem Begründer des Faches Theaterwissenschaft, der von den Nationalsozialisten in Theresienstadt ermordet wurde, der laut Schwerte sein »eigentlicher Berliner Lehrer« gewesen sei und ihn offenbar beeindruckt habe,31 sowie ein Semester 1932 in Wien. Die Universität Königsberg ist dabei kein unwichtiger Ort als sogenannte Grenzlanduniversität, die sich (nicht erst in der Zeit des NS) in permanenter Verteidigung des oder gar Kolonialisierung durch das »Deutsche« gegen das Slawische und / oder Jüdische wendete32 und damit einen günstigen Nährboden für deutschnationale Vorstellungen bildete. Hinzuweisen ist auf die ungeklärten Umstände der ersten Promotion von Schneider/Schwerte, die er selbst angibt 1935 in Königsberg über »Turgenjev und die deutsche Literatur« abgeschlossen zu haben, das Thema sei von dem Litera29 Vgl. Hans Schwerte: Studien zum Zeitbegriff bei Rainer Maria Rilke. Inaugural-Dissertation der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen, 1948, Anhang; abgedruckt in: Antirassismus-Referat (Hg.): Ungeahntes Erbe, S. 25. 30 Wenn man die Zulassungsvoraussetzungen an der Universität Erlangen, wie sie etwa im Personen- und Vorlesungs-Verzeichnis für das Sommer-Semester 1949 niedergelegt sind (S. 3f.; für das Sommersemester 1946 und folgende Semester gab es nur ein Verzeichnis der Lehrveranstaltungen ohne Angaben zu den Institutionen und Studienbedingungen), in Anschlag bringt, liegt es nahe zu schreiben: die Einschreibung in die Universität erschlichen, die für NSDAP-Mitglieder, nicht zu reden von hochrangigen SS-Mitgliedern, wohl unmöglich gewesen wäre. Hier findet sich der deutliche Ausschluss: »Niemand, der früher Mitglied der NSDAP war, mit Ausnahme derjenigen, die unter die Jugendamnestie vom 5. März 1946 fallen, kann aufgenommen werden.« Zudem ist ein Spruchkammerbescheid vorzulegen. 31 H. Schwerte: »In 50 Lebens- und Arbeitsjahren gewandelt«, S. 137. 32 Vgl. Bernd-A. Rusinek: »Ein Germanist in der SS«, in: Ein Germanist und seine Wissenschaft, S. 23–46, hier S. 30.
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turwissenschaftler Josef Nadler gekommen, dann offenbar von Paul Hankamer betreut worden.33 Die Doktorarbeit ist allerdings unauffindbar und nirgends nachgewiesen. Angeblich habe Schneider sie mit umfangreichen Auf lagen zur Überarbeitung zurückerhalten; zur Drucklegung sei es dann nicht mehr gekommen. Schneider trug den Titel Dr. phil. aber seitdem, wozu er nach Antrag berechtigt gewesen sei.34 Die Tatsache, ob ein damit gescheitertes Promotionsverfahren in Königsberg ein Grund für die Aberkennung des Erlanger Doktorgrades hätte sein müssen, wurde 1995/96 heftig diskutiert; der Erlanger Promotionsausschuss hat anders entschieden. 1933 trat Schneider in die SA ein, 1937 in die SS und in die NSDAP. Eine Tätigkeit an der Universität, die er gerne angestrebt hätte, war nicht in Sicht, also nahm er bereitwillig jene ungeahnten Karrierechancen an, die das NS-Regime für seine Generation des »Akademiker-Proletariats« bereitstellte.35 Er arbeitete zunächst ehrenamtlich für die Organisation Kraf t durch Freude, wurde 1934 dort Referent für Volkstumsarbeit und 1936/37 Gaufachstellenleiter sowie stellvertretender Hauptabteilungsleiter der »Hauptabteilung Volkstum und Heimat der NS-Kulturgemeinde, Gaudienststelle Ostpreußen«. Neben dieser bezahlten Tätigkeit arbeitete er als freier Schriftsteller. Seit 1938 war Dr. Hans Ernst Schneider hauptamtlicher Referent im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS in Berlin und noch im selben Jahr Referent in der Forschungs- und Lehrgemeinschaft Ahnenerbe der SS, Teil des Persönlichen Stabs des Reichsführers SS Heinrich Himmler. Das Ahnenerbe war eine beachtlich große Wissenschaftsorganisation und gewissermaßen Dachstruktur eines außeruniversitären Forschungszentrums mit folgenden Zielen laut der Satzung von 1937 »1. Raum, Geist und Tat des nordischen Indogermanentums zu erforschen, 2. die Forschungsergebnisse lebendig zu gestalten und dem deutschen Volke zu vermitteln, 3. jeden Volksgenossen auf-
33 D as Rigorosum habe er 1935 bei Paul Hankamer, Wilhelm Worringer und Hans Heyse abgelegt. Vgl. C. Leggewie: Von Schneider zu Schwerte, S. 37f. Zu den Umständen der möglichen Königsberger Doktorprüfung vgl. ausführlich L. Jäger: Seitenwechsel, S. 60–90. 34 S o überliefert bei C. Leggewie: Von Schneider zu Schwerte, S. 38; L. Jäger: Seitenwechsel, besonders S. 78–80, ist wesentlich skeptischer, was das angebliche Promotionsverfahren in Königsberg betrifft. 35 Warum tat ein intelligenter Mann wie Schneider so bereitwillig bei der Implementierung und Verbreitung von NS-Ideologie an vorderster administrativer Front mit? B.-A. Rusinek (»Von Schneider zu Schwerte«, S. 158f.) argumentiert, dass eine Ursache die ungeahnten Karrierechancen für eine Akademikergeneration waren, die sich seit den 1920er Jahren im Angesicht eines enormen Missverhältnisses von Absolvent*innen und freien Stellen an Universitäten, Schulen und anderen Institutionen befanden, ausgelöst durch enorme Sparrunden gerade im Bereich der Bildung und Wissenschaft. So sei ein Akademiker-Proletariat entstanden, dem die NS-Bewegung große Hoffnungen und Angebote machte. »Friedrich Meinecke sah 1932 ›einen großen Teil der akademischen Jugend‹ beim Nationalsozialismus.« (Ebd., S. 162)
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zurufen, hierbei mitzuwirken.«36 Dies geschah sowohl mit geisteswissenschaftlichen als auch naturwissenschaftlichen Ansätzen, aber stets unter der Maßgabe der NS-Ideologie, und neben der Erforschung ging es ebenso um die propagandistische Verbreitung der Erkenntnisse. So fand unter dem Dach des Ahnenerbes ein krudes Sammelsurium von Forschungsvorhaben Platz,37 von sprachwissenschaftlichen, rechtsgeschichtlichen, volkskundlichen bis zu urgeschichtlichen Forschungen, Forschungen zum germanischen Bauwesen, den Jahreslauffeiern, Runenkunde, Hausmarken und Sippenzeichen, Volkserzählungen, Höhlenforschung, Ausgrabungen, Forschungen zur Welteislehre, Volksmedizin, aber eben auch seit 1942 die sogenannte »Wehrwissenschaftliche Zweckforschung«, die direkt dem Reichsgeschäftsführer des Ahnenerbes, Wolfram Sievers, unterstand und die unter dem Deckmantel der Wissenschaft als »Abteilung R« (R für Sigmund Rascher) grausame Menschenversuche an KZ-Häftlingen in Dachau mit vielfach tödlichem Ausgang unternahm. 1940 nach der Besatzung der Niederlande wurde Schneider abkommandiert nach Den Haag zur »Bearbeitung der kulturellen und weltanschaulichen Aufgaben der german. Leitstelle Holland« beim Höheren SS- und Polizeiführer, dort war er befasst mit Wissenschafts- und Kulturorganisation, mit Propaganda sowie der Gewinnung von SS-Freiwilligen. Auch ein Einsatz in Salzburg mit der Beschlagnahmung einer Bibliothek ist nachgewiesen, ebenso gibt es Hinweise auf Einsätze in Polen und Riga. Neben all dem lässt sich eine recht rege publizistische Tätigkeit nachzeichnen, er wurde Schriftleiter der Ahnenerbe-Zeitschrift Weltliteratur, verfolgte auch noch lange Pläne für wissenschaftliche Arbeiten v. a. volkskundlicher Art, so beschäftigte er sich mit einem letztlich nicht erfolgreichen Habilitationsprojekt zum Volkstanz in Ostpreußen.38 Zuletzt war Schneider im Rang eines SS-Hauptsturmführers seit 1943. Seit Mitte 1942 fungierte er als Leiter der Abteilung »Germanischer Wissenschaftseinsatz«, zuständig für die »Durchführung sämtlicher wissenschaftlich-forschenden Aufgaben« in den »randgermanischen Ländern«.39 36 Zitiert nach Joachim Lerchenmüller: »Arbeiten am Bau Europas? Zur Wissenschaftspolitik der SS in den ›germanischen Randländern‹«, in: Ein Germanist und seine Wissenschaft. Der Fall Schneider/Schwerte (= Erlanger Universitätsreden Nr. 53/1996, 3. Folge), S. 47–74, hier S. 49. 37 Vgl. dazu das Organigramm des Ahnenerbes 1943/44, abgedruckt u. a. in: Joachim Lerchenmüller / Gerd Simon: Masken-Wechsel. Wie der SS-Hauptsturmführer Schneider zum BRD-Hochschulrektor Schwerte wurde und andere Geschichten über die Wendigkeit deutscher Wissenschaft im 20. Jahrhundert, Tübingen 1999, S. 183. 38 Vgl. hierzu L. Jäger: Seitenwechsel, S. 34, 88f. 39 Zitiert nach L. Jäger: »Schneider, Hans Ernst«. Zum »Germanischen Wissenschaftseinsatz« vgl. ausführlich Malte Gasche: Der »Germanische Wissenschaftseinsatz« des »Ahnenerbes« der SS 1942–1945. Zwischen Vollendung der »völkischen Gemeinschaft« und dem Streben nach »Erlösung«, Bonn 2014.
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Eine der kontroversesten Fragen zu Hans Schneiders Ahnenerbe-Tätigkeit ist die nach dem Grad seines Mitwissertums und damit der Täterschaft bezüglich tödlicher Menschenversuche an KZ-Häftlingen. Auf Veranlassung von Sievers sollte Schneider für Rascher 1943 eine Liste medizinischer Apparaturen in Holland beschaffen, die für Unterkühlungsexperimente in Dachau gedacht waren. Aus der Aktenlage der überlieferten Bestellliste und des Begleitbriefes geht der unmittelbare Zweck der bestellten Apparate nicht hervor. Es wurde vielfach vermutet, dass Schneider als hochrangiger Ahnenerbe-Mitarbeiter von Raschers Tätigkeit in Dachau wusste, wenn ihm auch nicht die konkrete Tötungsabsicht bewusst gewesen sein mag. Ein Strafermittlungsverfahren wegen Beihilfe zum Mord gegen Schneider/Schwerte wurde 1996 eingestellt.40 Schneiders Vorgesetzter Sievers war für seine Organisation der Menschenversuche bei den Nürnberger Prozessen zur Rechenschaft gezogen worden und zum Tode verurteilt worden. Besonders aufschlussreich für Schneiders Selbsteinschätzung ist jenes Arbeitspapier vom 19. Oktober 1944 mit dem Titel »Totaler Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften«:41 Hier entwirft Schneider Pläne zur Etablierung einer – naturgemäß SS- bzw. Ahnenerbe-geführten – Forschungseinrichtung bzw. SS-Kaderschmiede, bezeichnenderweise entweder in Erlangen oder in Göttingen angesiedelt für alle bis dahin gef lüchteten Wissenschaftler.42 In diesem Sinn resümiert Rusinek: »Schneiders Ehrgeiz ging Ende 1944 / Anfang 1945 dahin, oberster Organisator und Koordinator der Geisteswissenschaften im Deutschen Reich zu werden.«43 Auch für die Zeit nach dem Krieg plante er noch im März 1945. Doch die bevorstehende Niederlage verändert alle Pläne: Schneider f loh aus Berlin, meldete sich in Lübeck unter neuem Namen Hans Schwerte (passenderweise dieselben Initialen, so dass noch nicht mal die Monogramme in den Taschentüchern erklärungsbedürftig sind), und gibt sich als sein eigener Cousin aus, um die Ähnlichkeit zu begründen. Das war nicht so schwierig, weil er über den Sicherheitsdienst der SS vermutlich falsche Papiere bekommen hatte und in den Wirren des Kriegsendes ohnehin der Verlust von Identitätsnachweisen an der Tagesordnung war. Teil seines Identitätswechsels war neben der Namensänderung und der neuerfundenen Biographie auch ein ganz handfestes Detail: Wie alle SS-Mitglieder hatte Schneider die Mitgliedsnummer der SS auf dem Oberarm eintätowiert bekommen und war damit leicht identifizierbar als NS-Belasteter. Folgerichtig ließ er sich – wie viele SS-Leute – diese Mitgliedsnummer 1945 von einem Arzt in Lübeck wegoperieren, und um zu tarnen, dass damit die SS-Mit40 Vgl. J. Lerchenmüller / G. Simon: Maskenwechsel, S. 257. 41 V gl. hierzu M. Gasche: Der »Germanische Wissenschaftseinsatz«, S. 168ff., und J. Lerchenmüller / G. Simon: Maskenwechsel, S. 230ff. 42 Vgl. J. Lerchenmüller / G. Simon: Maskenwechsel, S. 230. 43 B.-A. Rusinek: »Ein Germanist in der SS«, S. 36.
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gliedschaft verheimlicht werden sollte, auch noch den anderen Arm, damit es wie eine Kriegsverletzung (ein Arm-Durchschuss) aussah.44 1946 traf er seine Frau und Tochter in Neuendettelsau in Franken wieder, nachdem seine Frau ihn in Lübeck aufgespürt hatte, vermittelt über einen SD-Kontakt.45 Seine Frau ließ Hans Ernst Schneider für tot erklären und heiratete Hans Schwerte 1947 (erneut).
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Der Fall Schneider/Schwerte im Kontext der Nachkriegsgesellschaft
Damit sind wir wieder in Erlangen angelangt, und die Geschichte geht so weiter. Aber kann die Geschichte so weiter gehen, nach einem so ungeheuerlichen Selbstbetrug? Schneider/Schwerte berichtet von Erweckungserlebnissen, einer Konversion, die ihm zeitgleich mit seinem Namenswechsel widerfahren sei angesichts der Bilder von befreiten KZs, die die Alliierten öffentlich angeschlagen hatten.46 Über die Frage nach der Interpretation des Identitätswechsels und die Glaubwürdigkeit seines neuen Lebens vor dem Hintergrund des verschwiegenen alten streiten sich alle, die den Fall aufzuarbeiten versuchten: Claus Leggewie spricht von »holpriger Selbstentnazifizierung«47, Klaus Weimar von einer »Distanzierung von der eigenen Vergangenheit«, wie sie radikaler nicht möglich sei. Die »Panik, die am Kriegsende viele in den Selbstmord oder in das Versteck eines falschen Namens getrieben hat«, resultiere »aus der ideologisch bzw. propagandistisch erzeugten Unmöglichkeit, sich rechtsstaatliche Verfahren und Respektierung des Völkerrechts auch nur vorzustellen und also von den Siegern anderes zu erwarten, als was Nazis als Sieger praktiziert haben oder hätten.«48 Ludwig Jäger dagegen zweifelt nachhaltig an der Konversionsthese: »Die lange Phase der Umorientierung nach 1945 spricht allerdings ebenso wenig dafür, daß die biographische ›Wertkorrektur‹ (H. Rössner) selbstinduziert war, wie im Verbergen des ersten Lebens tatsächlich eine Distanznahme erblickt werden darf.« 49
44 Vgl. C. Leggewie: Von Schneider zu Schwerte, S. 148–150 und 157f. 45 Vgl. hierzu ebd., S. 175–177. 46 Vgl. hierzu ebd., S. 154–156. 47 Ebd., S. 190. 48 Klaus Weimar: »Der Germanist Hans Schwerte«, in: Helmut König / Wolfgang Kuhlmann / Klaus Schwabe (Hg.), Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit der deutschen Hochschulen, München 1997, S. 46–59, hier S. 50f. 49 L. Jäger: »Schneider, Hans Ernst«.
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Immerhin bleibt die Tragweite von Schneiders Verstricktheit, der Grad seiner Täterschaft – ganz überwiegend als Schreibtischtäter50 – bei alledem unbezweifelbar. »Schneider war seit dem Umzug der Ahnenerbe-Geschäftsführung von Berlin nach Franken im Jahre 1943 der höchstrangige in Berlin verbliebene Ahnenerbe-Mitarbeiter, und der war formal eingeweiht in die verschiedenen Geheimprojekte dieser SS-Forschungseinrichtung einschließlich der ›wehrwissenschaftlichen Zweckforschung‹.« 51 D. h., er musste Kenntnis von den sogenannten Forschungsaktivitäten, die Menschenversuche an Häftlingen u. a. des Konzentrationslagers Dachau einschlossen, da seit 1943 der Schriftverkehr dazu über seinen Schreibtisch zur Unterzeichnung ging, gehabt haben. Rusinek vermutet, dass die »Gründe für seinen Identitätswechsel« – es hätte ja andere Optionen gegeben wie sich zu stellen oder den Versuch zu unternehmen, unter Beibehaltung der Identität in einem ganz anderen Lebensbereich Fuß zu fassen – wohl »mit der ›wehrwissenschaftlichen Zweckforschung‹ des Ahnenerbes zusammenhingen, deren Mitwisser Schneider gewesen war.«52 Dass Schneider/Schwerte es vorzog, sich der Verantwortung zu entziehen und unterzutauchen bzw. unter neuer Identität weiterzuleben, war jedoch keineswegs ein Einzelfall. Die Zahl der sogenannten »Braun-Schweiger« oder »U-Boote«, also Menschen, die nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes untergetaucht waren und in neuer Identität weiterlebten, wurde 1954 auf ca. 60.000 geschätzt,53 andere Zahlen gehen bis zu 80.000 oder 100.000. Das war in der Nachkriegszeit ein
50 D as Wort vom Schreibtischtäter trifft auf Schneider/Schwerte außerordentlich genau zu, auch wenn er das eine oder andere Mal im Außeneinsatz (in Salzburg oder andernorts) auch tatkräftig zugelangt haben wird. 51 Z ur Einordnung der Täterschaft vgl. B.-A. Rusinek: »Von Schneider zu Schwerte«, S. 174 sowie L. Jäger: Seitenwechsel, S. 132–150. Die Ahnenerbe-Geschäftsführung war seit 1943 im fränkischen Waischenfeld ansässig. 52 B .-A. Rusinek: »Von Schneider zu Schwerte«, S. 153 sowie S. 174: »Ein Mann, der im Rahmen der SS eine Ebene unter Heinrich Himmler noch im Frühjahr 1945 über die Umgruppierung der Wissenschaftssteuerung im ›Dritten Reich‹ diskutierte und aus dessen Umkreis vier Personen nach 1945 zum Tode verurteilt worden sind, gehörte zweifellos nicht an eine Universität im nachnationalsozialistischen Deutschland.« Heinrich Himmler als sogenannter ›Reichsführer SS‹ war zweifellos eine der mächtigsten Personen im NS-Terrorregime. Rusineks Einschätzung des Rangs von Schneider stimmt allerdings nicht, siehe oben. 53 Vgl. ebd., S. 175.
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durchaus bekanntes Phänomen und ein Thema in der Presse.54 Nicht immer waren diese neuen Identitäten ganz wasserdicht, so ja auch im Fall von Schneider/ Schwerte nicht, der – das haben verschiedene Autoren nachgezeichnet – Mitwisser gehabt haben muss.55 »Eine deutsche Karriere. Oder: Gelegenheit macht Demokraten«56: Karl-Siegbert Rehbergs Aufsatztitel zu Schneider/Schwerte verweist auf das Exemplarische des Lebenslaufs, ähnlich wie jüngst Willi Winklers Buch Das Braune Netz. Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde (Berlin 2019). Der Fall Schneider/Schwerte im Kontext der Nachkriegsgesellschaft zeigt, dass mit und ohne Identitätswechsel die vielbeschworene Stunde Null nicht stattfand, dass mit und neben Entnazifizierung und Reeducation alte Seilschaften weiterlebten – wie die sogenannte ›Stille Hilfe‹ zur Unterstützung untergetauchter Nationalsozialisten, an der Schneider/Schwertes ehemaliger und dann auch neuer Kollege und Mit-Herausgeber Wilhelm Spengler57 maßgeblich beteiligt war. Im übrigen musste man sich gar nicht verstecken, um an prominenten Positionen Karriere zu machen, am bekanntesten wohl der Fall des Juristen Hans Globke, der den Kommentar zu den Nürnberger Rassegesetzen mitverfasst hatte und Chef des Bundeskanzleramts unter Konrad Adenauer wurde. Hermann Lübbes 1983 erstmals vorgetragene These des »kommunikativen Beschweigens« der NS-Vergangenheit in der Nachkriegszeit, die allein integrativ und damit die Demokratie stabilisierend gewirkt habe und in deren Zuge »Verhältnisse nichtsymmetrischer Diskretion« etwa zwischen ehemaligen NS-Tätern und -Opfern entstanden,58 wurde viel diskutiert, blieb aber keinesfalls unum54 Vgl. zu den Zahlen und zur Berichterstattung schon in den Nachkriegsjahren Norbert Frei: »Identitätswechsel. Die ›Illegalen‹ in der Nachkriegszeit«, in: Helmut König / Wolfgang Kuhlmann / Klaus Schwabe (Hg.), Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit der deutschen Hochschulen, München 1997, S. 207–222, hier S. 218, 220, 215f. 55 Vgl. hierzu insbesondere L. Jäger: Seitenwechsel; Gotthard Jasper: »Die Universität Erlangen-Nürnberg und der Fall Schneider/Schwerte«, in: Ein Germanist und seine Wissenschaft. Der Fall Schneider/Schwerte (= Erlanger Universitätsreden Nr. 53/1996, 3. Folge), S. 3–19. 56 Karl-Siegbert Rehberg: »Eine deutsche Karriere. Oder: Gelegenheit macht Demokraten. Überlegungen zum Fall Schwerte/Schneider«, in: Merkur, 50. Jg., Heft 562 (1996), S. 73–80. 57 Zur Zusammenarbeit Schneider/Schwertes mit Wilhelm Spengler siehe unten. 58 H ermann Lübbe: »Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewußtsein«, in: Historische Zeitschrift, Band 236 (1983), S. 579–599. Im Übrigen war Hermann Lübbe als Erlanger Privatdozent Kollege von Schneider/Schwerte gewesen und berichtet in seinem Beitrag zum Band Vertuschte Vergangenheit auch davon, dass er ihn gekannt habe, ohne etwas von seinem Identitätswechsel gewusst zu haben. Vgl. Hermann Lübbe: »Deutschland nach dem Nationalsozialismus 1945–1990. Zum politischen und akademischen Kontext des Falles Schneider alias Schwerte«, in: Helmut König / Wolfgang Kuhlmann / Klaus Schwabe (Hg.), Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit der deutschen Hochschulen, München 1997, S. 182–206, hier S. 200.
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stritten.59 Der Soziologe und Aachener Kollege Schneider/Schwertes Karl-Siegbert Rehberg hat Lübbes These explizit auf den Fall Schneider/Schwerte bezogen. Als Entlastungsargument für die Eliten, die tatsächlich integriert wurden – »Gelegenheit macht eben Demokraten«, sagt Rehberg, – kostete »diese Pazifizierungsstrategie gegenüber den in die Latenz geschobenen Demokratieverächtern einen hohen Preis – und, wie ich im Hinblick auf gesellschaftliche Spitzenstellungen sagen würde, einen zu hohen.«60
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Warum Erlangen? Kontakte, Mitwisser, Seilschaften?
Doch zurück zu Erlangen und zur Germanistik: Hier kommt – nachdem wir das kommunikative und kollektive Beschweigen als Erklärungsmuster ja schon aufgerufen hatten – der Verdacht eines Nazi-Netzwerks, von Erlanger Seilschaften wieder auf.61 Die Quellenlage zur Beantwortung dieser Fragen ist nicht eindeutig genug; die Mitwisserschaft lässt sich vielfach belegen, nicht aber ein dezidiertes Netzwerk. Schneider/Schwerte selbst erklärt die Ortswahl mit privaten Gründen, da seine Frau und Tochter in Neuendettelsau Unterschlupf gefunden hätten und er sie dort wiedergetroffen habe; da hätte Erlangen eben nahe gelegen.62 Richards verweist auf die Nähe von Waischenfeld – dem Ort in Oberfranken, in den die Ahnenerbe-Geschäftsführung 1943 weitgehend evakuiert worden war, bis auf Schneider, der mit nur 30 Leuten in Berlin verblieb – zu Erlangen und Neuendet-
59 Vgl. zur Debatte um den Text Axel Schildt: »Zur Durchsetzung einer Apologie. Hermann Lübbes Vortrag zum 50. Jahrestag des 30. Januar 1933«, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, Band 10, Heft 1 (2013), S. 148–152, URL: https://zeithistori sche-forschungen.de/1-2013/4679 [zuletzt abgerufen am 28. August 2019]. 60 K .-S. Rehberg: »Eine deutsche Karriere«, S. 75. Dass Schneider/Schwerte die Adaption an das neue System und die neue Wertordnung so schnell gelang, sei nach Norbert Frei und Ulrich Herbert auch Schwertes Zugehörigkeit zur »Generation der Sachlichkeit« (Herbert) zuzurechnen, also zu »jenen NS-Funktionären, die sich seit den frühen vierziger Jahren für die Zeit nach dem Endsieg präpariert hätten.« Vgl. K.-S. Rehberg: »Eine deutsche Karriere«, S. 76, der sich hier auf Norbert Frei und Ulrich Herbert bezieht. 61 E arl Jeffrey Richards führt eine seinerseits unbelegte Quelle auf, »aus Sicht der US-Armee im Juli 1946« hätte der Rektor der Universität Erlangen »deliberately made the university a refuge for former Nazis«. Zitiert nach Arthur Allen: »Open Secret. A German Academic Hides His Past«, in: Lingua Franca, März / April 1996, S. 28–41, Zitat S. 33. Vgl. Earl Jeffrey Richards: »Versuch einer vorläufigen Bilanz«, in: Antirassismus-Referat der Studentischen Versammlung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (Hg.), Ungeahntes Erbe. Der Fall Schneider/Schwerte. Persilschein für eine Lebenslüge. Eine Dokumentation, Aschaffenburg 1998, S. 212–233, hier S. 226. 62 Vgl. H. Schwerte: »In 50 Lebens- und Arbeitsjahren gewandelt«, S. 136.
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telsau.63 Aufschlussreich ist weiterhin die schon angeführte prominente Erwähnung Erlangens in Schneiders Entwurf »Wissenschaftspolitik nach der Flucht aus den ›Germanischen Ländern‹« vom 2. Oktober 1944.64 Auch NS-kompromittierte Erlanger Wissenschaftler, die Schneider aus seiner Ahnenerbe-Tätigkeit gekannt haben könnte, lassen sich als Argumente für die Ortswahl benennen. Er könnte Kontakte zu Erlangen während seiner Zeit im Ahnenerbe gehabt haben, z. B. zum Ur- und Frühgeschichtler Lothar Zotz, dem klassischen Philologen Rudolf Till,65 zu Rudolf Paulsen, dem Ur- und Frühgeschichtler, vielleicht zu Fritz Stroh, dem Runenforscher, oder dem Philosophen Eugen Herrigel.66 Zwar ist Schwerte vor Heinz Otto Burger nach Erlangen gekommen, hat aber mit großer Wahrscheinlichkeit gewusst, dass Burger schon 1944 den Ruf nach Erlangen erhalten hatte.67 In den Ausführungen des ehemaligen FAU-Rektors Gotthard Jasper nach der Aufdeckung von Schneider/Schwertes wahrer Identität werden zahlreiche Hinweise auf Mitwisser deutlich.68 Schneider/Schwerte berichtet allerdings, dass er »nur einmal das Gefühl gehabt« habe, durch eine »ehemalige Königsberger Universitätsbibliothekarin« in Erlangen wiedererkannt worden zu sein, die ihn aber nicht direkt angesprochen habe.69 Eine Studentin habe Schwerte 63 E. J. Richards: »Versuch einer vorläufigen Bilanz«, S. 227. 64 Hans Ernst Schneider: »Wissenschaftspolitik nach der Flucht aus den ›Germanischen Ländern‹. Entwurf für Vorlage beim Reichsführer-SS über Weiterführung unserer Arbeit, 2.10.1944«, abgedruckt in: J. Lerchenmüller / G. Simon: Maskenwechsel, S. 431–434, hier S. 432: »Zum Zweck der Durchführung einer solchen gemeinsamen wissenschaftspolitischen Aufgabe ist vorzuschlagen, die Mehrzahl dieser geflüchteten Wissenschaftler gemeinsam unterzubringen. Der RF-SS soll gebeten werden, dem ›Ahnenerbe‹ hierfür eines der durch die Ereignisse des 20. Juli beschlagnahmten Gutshäuser oder dergl. zur Verfügung zu stellen, möglichst in der Nähe einer Universitätsstadt. Als solche Universitätsstadt wird zunächst Erlangen oder Göttingen vorgeschlagen.« 65 Vgl. hierzu L. Jäger: Seitenwechsel, S. 265–280. 66 Vgl. E. J. Richards: »Versuch einer vorläufigen Bilanz«, S. 226–228. 67 Inwiefern die beiden sich vor Kriegsende schon begegnet sein könnten, erörtert L. Jäger: Seitenwechsel, S. 274–276. 68 G. Jasper: »Die Universität Erlangen-Nürnberg und der Fall Schneider/Schwerte«, S. 14.: »In Erlangen blieb die SS-Vergangenheit des Assistenten und Dozenten Schwerte […] ein Gerücht, bestenfalls ein mehr oder weniger genaues Wissen in relativ eng begrenzten, aber sehr heterogenen Kreisen, die aus unterschiedlichen Gründen keinen Gebrauch von ihrem Wissen machten oder den Gerüchten nicht nachgingen. Darin handelten sie wohl sehr typisch für die ersten Nachkriegsjahre und die Folgezeit. Was dieses Sozialklima für den Neuanfang der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen und die Neustrukturierung bzw. Kontinuität der Universität bedeutet hat, wäre einer genaueren Untersuchung wert, die freilich über den Fall Schneider/Schwerte weit hinausführen müßte.« 69 Vgl. ebd., S. 11–19, hier S. 11.
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unter anderem Namen in Berlin in SS-Uniform gesehen. Die Erlanger Schriftstellerin Inge Meidinger-Geise hatte von ihrem Mann, dem Schriftleiter der Erlanger Universitätszeitung, von dem Gerücht der SS-Vergangenheit als Schneider gehört, und dann von ihrem Vorsatz, Schneider/Schwerte zur Rede zu stellen, wieder abgelassen.70 Etwas gewusst haben vom Identitätswechsel musste wohl auch der Königsberger Alfred Voigt, Jurist, wie auch Hans von Rimscha, Professor für osteuropäische Geschichte in Erlangen.71 Wolfgang Buhl, Honorarprofessor für Publizistik an der FAU, Leiter des Studios Nürnberg des Bayerischen Rundfunks und 1951 bei Baumgart in Germanistik promoviert worden, erklärte 1995 öffentlich, »daß er selbstverständlich von einer SS-Vergangenheit Schwertes wußte und er sicher nicht der einzige war.«72 Über Erlangen hinaus gab es eine Reihe weiterer möglicher Mitwisser, von denen hier nur einige wenige genannt seien. Günther Weydt, den Schneider/ Schwerte 1963/64 für ein Semester in Münster vertrat, war seit 1942 in Brüssel und Antwerpen tätig gewesen und kannte Schneider möglicherweise.73 Weydt und von Wiese schrieben wichtige Gutachten für Schwertes Berufung in Aachen.74 Jäger verweist auf Erich Jenisch, Germanist und Theaterwissenschaftler, den Schneider/Schwerte in Königsberg gehört haben könnte und der nach dem Krieg in Würzburg wieder an der Universität war und dort 1947 die 1. Arbeitstagung der Studiobühnen deutscher Hochschulen organisierte, in gewisser Hinsicht eine Vorläufer-Veranstaltung der Internationalen Theaterwoche der Studentenbühnen, die in Erlangen 1949 gegründet wurde.75 Jenisch war Schwiegersohn des berühmten Schauspielers Paul Wegener,76 der noch 1945 an dem NS-Durchhaltefilm Kolberg mitgewirkt hatte und einer der großen Stars der NS-Zeit war, verheiratet mit
70 Vgl. ebd., S. 13. 71 V gl. ebd., S. 18, Anm. 13. Wolfgang von Rimscha, der Sohn des Historikers Hans von Rimscha, der seinerseits Kollege Schwertes gewesen war, bestätigt, »dass in Fakultätskreisen von Schwertes gefälschter Identität gemunkelt wurde«, sein Vater hätte »diese Gerüchte für abwegig gehalten«. So überliefert im Erinnerungsprotokoll an das Gespräch mit Wolfgang und Gisela von Rimscha 2012, abgedruckt in Lea-Sophie Schiel: Theater im politischen Kampf. Motivation und Konsequenz der Auflösung der internationalen Theaterwoche der Studentenbühnen in Erlangen 1968, Berlin 2016, S. 122f. 72 Antirassismus-Referat (Hg.): Ungeahntes Erbe, S. 28. 73 Vgl. hierzu ausführlich L. Jäger: Seitenwechsel, S. 244–256. 74 Zu den Gutachtern im Aachener Verfahren vgl. insbesondere L. Jäger: Seitenwechsel, S. 281–337. 75 Vgl. ebd., S. 276. 76 V gl. [Red.]: Artikel »Jenisch, Erich«, in: Christoph König (Hg.), Internationales Germanistenlexikon 1800–1950, Band 3, Berlin 2002, S. 846.
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Martha Jenisch, geb. Wegener.77 Weitere Personen, insbesondere aus Schneider/ Schwertes Aachener Umfeld, wären ebenfalls zu nennen.78 Aber wie konnte das alles zugehen?
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Wissenschaftsgeschichtliche und wissenschaftspolitische Überlegungen zur Kontinuität in der Geschichte der Germanistik (und in der Theaterwissenschaft)
Der große Bruch 1945 findet auch in der Germanistik nicht statt, es gibt eine große personelle Kontinuität, sehr wenige belastete Germanisten, die nicht mehr tätig sind (Hermann Pongs, Josef Nadler), viele, die große Karriere machen wie Benno von Wiese oder Wilhelm Emrich, wenige Remigranten. Ludwig Jäger stellt seine Untersuchung des Falls Schneider/Schwerte unter den (Unter-)Titel Die Diskretion der Germanistik und arbeitet die Verstricktheit der ganzen Disziplin in den singulären Fall heraus, ein Problem, das weitaus größer ist als ein noch so skandalöses Abtauchen eines einzelnen Täters: »Die Diskretionsbereitschaft vieler Kollegen, die faktisch Schneider/Schwertes neue Identität hütete, entsprang insofern wohl in erster Linie weniger einer NS-Komplizenschaft, als vielmehr dem Wunsch, das nach dem Schock des soge-
77 Vgl. URL: https://grammophon-platten.de/e107_plugins/forum/forum_viewtopic.php?13209 [zuletzt abgerufen am 15. Juli 2019]. Jenischs Haus muss in den 1920er Jahren einer der geistigen Mittelpunkte des kulturellen Lebens in Königsberg gewesen sein; Josef Nadler und Wilhelm Worringer – akademische Lehrer von Schneider/Schwerte – gingen ein und aus. Vgl. Martin A. Borrmann: »Das geistige Königsberg in den zwanziger Jahren«, in: Das Ostpreußenblatt, Jahrgang 6, Folge 22 (28. Mai 1955), S. 3f., hier S. 4, URL: http://archiv.preussische-allgemeine.de/1955/ 1955_05_28_22.pdf [zuletzt abgerufen am 28. August 2019]. 78 Vgl. Personen- und Vorlesungsverzeichnis der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Wintersemester 1963/64, S. 37: »Hugo Dyserinck, Privatdozent 16.1.63, Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft, Groningen (beurlaubt).« Hier handelt es sich um jenen Hugo Dyserinck, der als emeritierter Professor der RWTH Aachen in den 1990er Jahren bei der Aufdeckung von Schneider/Schwertes Doppelidentität keinen kleinen Anteil hatte. Sein Nachfolger Earl Jeffrey Richards hatte im Berlin Document Center bereits 1992 Beweise dafür gefunden und Dyserinck übermittelt, als er – beauftragt von Dyserinck – Nachforschungen zur von Schneider herausgegebenen Zeitschrift Die Weltliteratur anstellte. Vgl. E. J. Richards: »Versuch einer vorläufigen Bilanz«, S. 213. Antirassismus-Referat (Hg.): Ungeahntes Erbe, S. 28, verweist ohne Namensnennung auf »verschiedene Aachener Professoren«. Die Aachener Beziehungen und möglichen Mitwisser diskutieren ausführlich L. Jäger: Seitenwechsel, sowie AutorInnenkollektiv für Nestbeschmutzung: Schweigepflicht. Eine Reportage. Der Fall Schneider und andere Versuche, nationalsozialistische Kontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte aufzudecken, Münster, 2. korr. Auflage 1996.
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nannten ›Zusammenbruchs‹ mühsam wiedererlangte Gleichgewicht, den durch Erinnerungsvermeidung wiederhergestellten moralischen und politischen Seelen-Haushalt, keinen Gefährdungen auszusetzen.« 79 Jäger verweist auf den Erfahrungsbericht Karl Otto Conradys mit der Germanistik der Nachkriegszeit – eines jener Germanisten, die in den 1960er Jahren die Aufarbeitung der Disziplingeschichte initiiert hatten: »Beredtes, auch mildtätiges Schweigen wurde und wird gern gepflegt. Die Gründe dafür dürften unterschiedlicher Art sein und vom allzeit probaten Opportunismus bis zur prinzipiellen Ablehnung einer kritischen Wissenschaftsgeschichte reichen.« 80 Auch wissenschaftsgeschichtlich wurde – etwa von Walter Müller-Seidel – die These der (modifizierten) Kontinuität vertreten: »In der Literaturwissenschaft blieb das Paradigma der Geistesgeschichte in der Tat auch nach dem Zweiten Weltkrieg dominant. Aber innerhalb dieses Paradigmas sind Neuerungen durchaus zu bemerken: die nachhaltige Befassung mit der literarischen Moderne, die Entthronung der Klassik als Norm […]. Auch die schon vor dem Krieg ›eingeführte‹ Werkimmanenz kann in Analogie zum englischen New Criticism als eine Neuerung innerhalb dieses Paradigmas angesehen werden […].« 81 Gemünzt auf den Literaturhistoriker Schwerte beschreibt der Germanist Klaus Weimar dabei als bestimmende Haltung eine zunächst rein negative Operation: eine »Systemstelle im methodologischen Modell« nationalsozialistischer Literaturwissenschaft, nämlich »das Volk«, unbesetzt zu lassen.82 Dies werde weder »explizit gemacht« noch »theoretisch begründet«83: Die zentrale Figur der Negation auf die biographische Situation übertragend, ließe sich das Verhältnis von Schwerte zu Schneider nach Weimar als »diachrone Schizophrenie«84 benennen.
79 L. Jäger: Seitenwechsel, S. 168f. 80 K arl Otto Conrady: »Spuren einer Erinnerung an die Zeit um 1945 und an den Weg in die Germanistik«, in: Wilfried Barner / Christoph König (Hg.), Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Frankfurt am Main 1996, S. 404–410, hier S. 408f. 81 W alter Müller-Seidel: »Zur geistigen Situation der Zeit – um 1945«, in: Wilfried Barner / Christoph König (Hg.), Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Frankfurt am Main 1996, S. 418–425, hier S. 424. 82 K. Weimar: »Der Germanist Hans Schwerte«, S. 57. 83 Ebd. 84 Ebd., S. 59.
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Eine darüber hinausgehende Neu- oder Umorientierung im Wissenschaftsverständnis ließe sich dagegen nicht ausmachen. Eine unverhoffte Geschmeidigkeit in der Neuerfindung Schneider/Schwertes ist vielleicht auch in jener auf den ersten Blick erstaunlichen Parallele im Wissenschaftsverständnis zwischen seiner NS-Tätigkeit und den Publikationen und Aktivitäten seit den 1950er, besonders seit den 1960er Jahren aufzufinden, bei aller Vorsicht in der nötigen Differenzierung der Positionen. Und zwar in einer deutlichen »Praxis- und Politikorientierung der Wissenschaften«, die sich im Falle der NS-Zeit »gegen konservative Ordinarien und weltabgewandte, ›liberalistische‹ Wissenschaft«85 wandte und im Umfeld der Studentenbewegung als politisches und anti-hierarchisches Wissenschaftsverständnis auftrat. Die NS-konforme Ausrichtung am »Volk« bzw. »Völkischen«, an Volkskunde, am Volkstum – Schneider wollte sich ursprünglich in den späten 1930er Jahren über germanische Männer-Volkstänze habilitieren – ließe sich in diesem Sinne als eine anti-elitäre Orientierung von Geisteswissenschaften beschreiben, wie sie unter völlig anderen Vorzeichen und mit anderen Gegenständen in den 1960er und 70er Jahren in der Hinwendung zu Fragen der »Gesellschaft« und einem breiten Kulturverständnis (etwa in der Trivialliteraturforschung) vollzogen wurde.86 Wenn die Germanistik allerdings spätestens seit den 1960er Jahren öffentlich ihre eigene Geschichte aufzuarbeiten beginnt wie beim legendären Münchner Germanistentag 1966 87, so lässt sich eine solche kritische Ref lexivität für die Theaterwissenschaft als sich von der Germanistik langsam emanzipierender Disziplin noch lange nicht feststellen. Die besondere Situation in der Theaterwissenschaft, auf die Mechthild Kirsch hinweist, ist gekennzeichnet durch die gegenüber der Germanistik noch größeren Beharrenskraft personeller und inhaltlicher Ausrichtung über 1945 hinaus, die sich exemplarisch an der Person des Wiener Theaterwissenschaftlers Heinz Kindermann festmachen lässt, aber weit über diesen Einzelfall hinaus reicht. Sie verweist auf den »katastrophalen Zustand des Faches, in dem es bisher kaum eigene methodische ›Schulen‹ oder fruchtbare fachspezifische Theoriedebatten gegeben hatte.« »Durch diese personelle Kontinuität, die sich bei allen theaterwissenschaftlichen Lehrstühlen in Deutschland konstatieren läßt, kommt in der Theaterwissenschaft eine Auseinandersetzung mit der Fachgeschichte noch später in Gang als in der Germanistik. Denn schließlich konnte an den theaterwissenschaftlichen Institu85 B.-A. Rusinek: »Von Schneider zu Schwerte«, S. 150. 86 Vgl. in diesem Sinn auch die leicht polemischen Thesen bei B.-A. Rusinek: »Erst zehn Jahre her«, S. 6f. 87 Vgl. die dazugehörige Publikation: Eberhard Lämmert et al.: Germanistik. Eine deutsche Wissenschaft, Frankfurt am Main 1967.
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ten noch in den sechziger Jahren der jeweilige Lehrstuhlinhaber als einziger Professor alle Lehre und Forschung betreffenden Fragen autoritär entscheiden und tat das auch.« 88 Eine umfassende Geschichte der Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum ist noch nicht geschrieben. Es gibt einige einzelne Studien wie ein Buch über Max Herrmann,89 Ansätze zur Fachgeschichte an einzelnen Universitäten wie Wien90 oder die Freie Universität Berlin91, ein Aufsatz von Andreas Englhart zur Theaterwissenschaft im Nationalsozialismus92 mit Blick auf die großen Standorte Berlin (Max Herrmann, Julius Petersen, Hans Knudsen), Köln (Carl Niessen), München (Artur Kutscher), Wien (Heinz Kindermann), aber keine umfangreicheren Arbeiten. Problematisch ist diese lückenhafte disziplinäre Geschichtsschreibung auch deswegen, weil einiges für Andreas Englharts These spricht, dass erst die kulturpolitischen Bedingungen des Nationalsozialismus den »Aufstieg der Theaterwissenschaft als Universitätsdisziplin« ermöglichten. Dem schwierigen Weg inneruniversitärer Anerkennung der jungen Disziplin stand das Auf blühen des Faches mittels erheblicher Unterstützung durch die NS-Kulturpolitik entgegen, die die Praxisnähe der Disziplin als Chance für ihre propagandistischen Zwecke sah – eine Indienstnahme, der einige Fachvertreter allzu bereitwillig folgten.93 Die Rolle von Erlangen und der dort Lehrenden im Kontext der anderen mit theaterwissenschaftlicher Lehre und Forschung Beschäftigten ist noch nicht erforscht. Die Institutionalisierung des Faches erfolgte über Lehrpersonen mit entsprechender Denomination (häufig als Zusatz zu Deutsche Philologie o. ä.) und Institutsgründungen, angefangen von Berlin 1923, München 1926, Köln 1929, Wien 1943. Dass Erlangen 1953 folgte, kann man bei Christopher Balmes kurzer Fachgeschichte94 lesen, ist in dieser Verknappung aber nicht nachvollziehbar. Ein ausge88 M echthild Kirsch: »Heinz Kindermann – ein Wiener Germanist und Theaterwissenschaftler«, in: Wilfried Barner / Christoph König (Hg.), Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Frankfurt am Main 1996, S. 47–59, hier S. 55. 89 S tefan Corssen: Max Herrmann und die Anfänge der Theaterwissenschaft. Mit teilweise unveröffentlichten Materialien, Tübingen 1998. 90 B irgit Peter / Martina Payr (Hg.): »Wissenschaft nach der Mode«? Die Gründung des Zentralinstituts für Theaterwissenschaft an der Universität Wien 1943, Wien / Berlin 2008. 91 P eter Jammerthal / Jan Lazardzig (Hg.): Front Stadt Institut. Theaterwissenschaft an der Freien Universität 1948–1968, Berlin 2018. 92 A ndreas Englhart: »Theaterwissenschaft«, in: Jürgen Elvert / Jürgen Nielsen-Sikora (Hg.), Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus, Stuttgart 2008, S. 863–898. 93 Ebd., S. 898. 94 V gl. Christopher Balme: Artikel »Theaterwissenschaft«, in: Georg Braungart et al. (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Band 3, Berlin 2007, S. 629–632, hier S. 631.
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gliedertes Institut war da noch lange nicht in Sicht: eine »Theaterwissenschaftliche Sammlung« ist seit 1953 zu belegen, die »Theaterwissenschaftliche Abteilung« des Deutschen Seminars erst seit 1965 und noch bei der Pensionierung Holger Sandigs 1995.95 Erst 1997 wird das »Institut für Theater- und Medienwissenschaft« begründet, in der Interimsphase bis zum Amtsantritt von Henri Schoenmakers im Jahr 2000. Die Kontur der Erlanger Theaterwissenschaft bleibt in diesem Zusammenhang lange unklar. Theaterwissenschaft erscheint mehr als Beiprodukt literaturwissenschaftlicher Lehrveranstaltungen denn als eigenständiger Lehrinhalt, was auch von der starken Abhängigkeit von einzelnen Lehrpersonen und deren Expertise befördert wird – eben keine institutionalisierten Lehrinhalte. Das, was in Erlangen als Theaterwissenschaft innerhalb des Deutschen Seminars kenntlich wird, bindet sich ganz eng an einzelne Personen und deren Expertise. So ist zunächst nur durch Wolfgang Baumgart, später dann durch Hans Schwerte eine von einer literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Drama unterscheidbare theaterwissenschaftliche, d. h. hier in erster Linie theaterhistorische oder praktische Lehrtätigkeit gegeben. War Wolfgang Baumgart mit den schon erwähnten »Theaterwissenschaftlichen Übungen« und Vorlesungen etwa zum »Theater der Gegenwart« (WS 1951/52) oder zur »Allgemeinen Theatergeschichte« (WS 1953/54) bis zu seiner Wegberufung nach Berlin der einzige Dozent in diesem Bereich, so übernahm Hans Schwerte ab 1958 dessen Aufgaben.96 Wolfgang Baumgart, Jahrgang 1910 (Eintritt in die NSDAP 1940), war von 1946–1958 in Erlangen tätig. Nach Jäger betreute Baumgart die Studiobühne und hob mit dem Leiter der Studiobühne, Heinz Knorr, die Internationale Theaterwoche der Studentenbühnen aus der Taufe.97 Die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte, die in den 1960ern an der FU Berlin bei Baumgart studiert hatte, bezeichnet ihn als einen Germanisten, der nur »schön über Theater schwätzte«; Jürgen Hofmann reiht ihn mit Knudsen, Kindermann und weiteren in die Reihe der »alten Garde« der Theaterwissenschaftler, bescheinigt ihnen ein »merkwürdig dürres geistiges Niveau; das lebendige Theater kam darauf nicht vor – nicht historisch und aktuell schon gar nicht.«98
95 Vgl. zu den Anfängen der Theaterwissenschaft in Erlangen auch den Beitrag von Hans-Friedrich Bormann im vorliegenden Band. 96 Nach C. Leggewie (Von Schneider zu Schwerte, S. 239f.) widmete sich Schwerte »auf eigenen Wunsch« als Privatdozent »der verwaisten und heruntergekommenen Theaterwissenschaftlichen Abteilung und brachte sie wieder in Schwung.« 97 Vgl. L. Jäger: Seitenwechsel, S. 277. 98 Beides zitiert nach Mechthild Kirsch: »Der unsichtbare Ordinarius: Wolfgang Baumgart«, in: Peter Jammerthal / Jan Lazardzig (Hg.), Front Stadt Institut. Theaterwissenschaft an der Freien Universität 1948–1968, Berlin 2018, S. 123–144, hier S. 124.
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Schwerte unterrichtete wie Baumgart zuvor ebenfalls »Theaterwissenschaftliche Übungen« (SoSe 1959, SoSe 1960) und eine »Dramaturgische Arbeitsgemeinschaft« (WS 1959/60), hielt eine Vorlesung »Grundriß der deutschen Theatergeschichte« (WS 1959/60) sowie »Faust und das Faustische« (SoSe 1961) und mehrere theater- und dramengeschichtliche Vorlesungen zu verschiedenen Epochen; in seinem letzten Erlanger Semester, SoSe 1965, noch einmal »Theaterwissenschaftliche Übungen: Von den Meiningern zu Stanislawskij«, daneben aber auch immer wieder nicht-theaterbezogene Themen. Er war darüber hinaus im »Planungsausschuss« an der Vorbereitung der Internationalen Theaterwoche der Studentenbühnen beteiligt; die Verbindungen von Germanistik und Studiobühne bzw. Theaterwoche wären ein weiteres zu schreibendes Kapitel der Erlanger Theaterwissenschaft. Nach Marlies Hübner war er auch als Vortragender, zum Beispiel 1962 zu »Kokoschka – Expressionistisches Theater«, bei der Theaterwoche aktiv.99 Der Erlanger Germanist Ulrich Wyss schreibt ihm zu: »Ihm [Schwerte] vor allem ist es zu verdanken, daß in Erlangen [...] Theaterwissenschaft als eine zu studierende Disziplin eingerichtet wurde: der Einfachheit halber gleich am Deutschen Seminar.«100 Nach Schneider/Schwertes Weggang nach Aachen liegt die theaterwissenschaftliche Lehre wieder brach,101 bis 1970 Dr. Holger Sandig die Leitung der Theaterwissenschaftlichen Abteilung des Deutschen Seminars übernimmt, wie der Bereich seit 1965 heißt.102 Jäger weist darauf hin, dass das, was Schneider/Schwerte unter Theaterwissenschaft verstanden haben mag, maßgeblich durch sein Studium bei Julius Petersen (und eventuell auch Max Herrmann, wie Schneider/Schwerte in der FAZ vom 28. Oktober 1996 insistiert) in Berlin, Erich Jenisch in Königsberg und Walther Ziesemer (Volkskunde, besonders Tanz) beeinf lusst gewesen sei: Die Verschränkung von Theaterwissenschaft, dem Thema »Faust« und der Volkskunde (wobei letzteres in der Nachkriegszeit nicht mehr zum Tragen zu kommen scheint).103
99 M arlies Hübner: Studententheater im Beziehungsgeflecht politischer, gesellschaftlicher und kultureller Auseinandersetzung, mit einem Ausblick auf die Theaterszene der sechziger und siebziger Jahre (Phil. Diss.) Erlangen 1987, S. 404. 100 U lrich Wyss: »Erlanger Germanisten-Chronik«, in: Henning Kössler (Hg.), 250 Jahre Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Festschrift (= Erlanger Forschungen. Sonderreihe Bd. 4), Erlangen 1993, S. 589– 627, hier 616. 101 1 965 erhält Schwerte den Ruf an die RWTH Aachen. Die Behauptung, dass er danach einige Jahre die Theaterwissenschaftliche Abteilung kommissarisch weiterleitet, ließ sich bisher nicht stützen. 102 H olger Sandig hat die Leitung der Theaterwissenschaftlichen Abteilung des Deutschen Seminars bis 1995 inne; 1978 erfolgt die Habilitation und 1980 wird Sandig zum Professor ernannt. 103 V gl. Ludwig Jäger: »Germanistik – eine deutsche Wissenschaft. Das Kapitel Hans Ernst Schneider«, in: Helmut König / Wolfgang Kuhlmann / Klaus Schwabe (Hg.), Vertuschte Vergangen-
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In Anbetracht der Verwobenheit der Theaterwissenschaft mit der Germanistik und der persönlichen Verwobenheit der Berufsbiographien der Beteiligten lohnt noch ein Blick auf die Erlanger Germanisten um den Fall Schneider/Schwerte herum:104 Benno von Wiese105 war von WS 1932/33 bis WS 1943 in Erlangen als Professor für Deutsche Literaturgeschichte tätig, sowie als Vertretung für Burger 1944/45 während dessen Kriegsdienstes.106 Von Wiese war nicht mehr in Erlangen, als Schneider/Schwerte dort zu studieren begann, aber einer der Gutachter bei Schwertes Aachener Berufung. Bereits 1933 war von Wiese NSDAP-Mitglied geworden. Er hat nicht so sehr in seinen wissenschaftlichen Publikationen Nähe zum NS unter Beweis gestellt, wohl aber in Schriften wie der Broschüre Dichtung und Volkstum, die beginnt mit einem Zitat des Nazi-Dichters Dietrich Eckart, den von Wiese »Philosoph und Dichter des erwachenden Nationalsozialismus« nennt, und mit dem Satz »Es werde Deutschland!« endet.107 Er hielt zahlreiche öffentliche Vorträge in Erlangen über die »deutschen Dichter der Gegenwart«, womit national-konservative und nationalsozialistische Autoren gemeint waren.108 Die Annahme, dass sich die propagandistische Tätigkeit eigentlich auf Bereiche außerhalb der Universität begrenzt haben soll, wird vor dem Hintergrund der angekündigten Lehrveranstaltungen des noch unter seinem vollen Namen als »Prof. Dr. Benno von Wiese und Kaiserswaldau« in den Personen- und Vor-
heit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit der deutschen Hochschulen, München 1997, S. 31–45, hier S. 33–40. 104 Helmut Prang, der Gutachter der Dissertation von Schwerte, 1937 Dr. phil. in Berlin, war langjähriger Erlanger Privatdozent, zunächst Lehrbeauftragter, dann apl. Professor und Lehrstuhlvertreter. Prang hatte gemäß U. Wyss (Erlanger Germanisten-Chronik, S. 615) keine nationalsozialistischen Verstrickungen vorzuweisen, weshalb er als Dozent und Lehrstuhlvertreter in Frage kam. Wolfdietrich Rasch, der eigentlich an der Universität Würzburg tätig war, war im WS 1944/45 als Vertretung in Erlangen tätig. Zu Raschs NS-Verstrickung und seiner Rolle im Beziehungsgeflecht der in Erlangen und Aachen beteiligten Professoren vgl. L. Jäger: Seitenwechsel, S. 332. 105 Z u Benno von Wiese vgl. L. Jäger: Seitenwechsel, S. 281–337; K. D. Rossade: »Dem Zeitgeist erlegen«; Lauer, Gerhard: »Benno von Wiese (1903–1987)«, in: Christoph König / Hans-Harald Müller / Werner Röcke (Hg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, Berlin / New York 2000, S. 221–227. 106 L. Jäger (Seitenwechsel, S. 331) vertritt die These, dass die Abordnung von Wieses nach Erlangen nach dessen Berufung nach Münster 1944 mit Schneiders Programm des »Totalen Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften« und dessen Sonderstellung der Universitäten Erlangen und Göttingen in Zusammenhang stehen könnte. 107 Benno von Wiese: Dichtung und Volkstum, Frankfurt am Main 1933, S. 28. 108 Zitiert nach U. Wyss: Erlanger Germanisten-Chronik, S. 612f.
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lesungsverzeichnissen Aufgeführten fragwürdig:109 Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür findet sich im SoSe 1939 mit »Uebungen zur deutschen Prosa der Gegenwart (Carossa, Binding, Kolbenheyer, Strauß)«110, die mit Emil Strauß, Erwin Guido Kolbenheyer und Hans Carossa drei der 1944 von Goebbels und Hitler in der sogenannten ›Gottbegnadeten-Liste‹ aufgeführten Schriftsteller gewidmet sind – jener Liste von Künstler*innen, die vom NS-Regime für unverzichtbar und besonders bedeutend gehalten und deswegen vom Kriegsdienst verschont bleiben sollten.111 Schwertes Vorgesetzter Heinz Otto Burger fungierte als Gutachter von Dissertation und Habilitation. Burger war zunächst Assistent in Tübingen, wo er 1936/37 ein Seminar »Versuch einer rassekundlichen Betrachtung der deutschen Dichtung« ankündigte. Von 1934 datiert seine Publikation »Die rassischen Kräfte im deutschen Schrifttum«.112 Seit 1937 war Burger in Danzig tätig, dort wurde er 1939 zum außerordentlichen Professor als Nachfolger von Kindermann ernannt. In Danzig finden sich Lehrveranstaltungen wie »Deutsche Literaturgeschichte unter rassekundlichem Gesichtspunkt« (SoSe 1938) und »Lebensideale der deutschen Dichtung der Gegenwart« (1940).113 Am 7. Juli 1944 nach Erlangen berufen, konnte er wegen Kriegsdienst und Gefangenschaft bis Oktober 1946 sowie einem sich hinziehenden Spruchkammerverfahren seine Professur nicht antreten, so dass er erst seit WS 1947/48 in Erlangen tätig wurde. Als Lehrstuhlinhaber war er seit Sommersemester 1954 zugleich Mitvorstand (WS 1959/60 bis WS 1961/62 Vorstand) der Theaterwissenschaftlichen Sammlung. Von WS 1959/60 bis SoSe 1960 amtierte er als Rektor in Erlangen, wechselte dann 1961 auf einen Lehrstuhl nach
109 S o findet sich im Sommerhalbjahr 1935 ein »Seminar, Oberstufe II: Dichtung und Volkstum, Geschichte einer Idee von Herder bis zur Romantik«, das sowohl den Titel der Broschüre von 1933 wiederholt als auch das Thema seiner akademischen Festrede von 1938 antizipiert. Im WS 1935/36 las er über »Dichtung und Kultur der Gegenwart, für Hörer aller Fakultäten«, wohl kein Thema, hinter dem man sich apolitisch verstecken konnte, und bot ebenfalls für Hörer aller Fakultäten »Übungen über Kulturfragen der Gegenwart« an, gemeinsam mit dem Nationalökonomen Horst Wagenführ, der wegen seiner politischen Überzeugungen 1945 seine Stellung an der Universität verlor. 110 Eine Lehrveranstaltung, die im Anhang zu K. D. Rossade: »Dem Zeitgeist erlegen«, fehlt, vgl. dort S. 200. 111 I n den Semestern danach finden sich zunehmend seltener Themen aus der Gegenwart, dagegen Lehrveranstaltungen zu Goethe, Lessing, Kleist, Grillparzer, Hebbel, Büchner, Aufklärung, Sturm und Drang, Empfindsamkeit, Romantik, Realismus, Roman, Tragödie. 112 In: Zeitschrift für Deutschkunde 48 (1934), S. 462–476. 113 Vgl. L. Jäger: Seitenwechsel, S. 275.
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Frankfurt. Das angestrebte Rektoratsamt dort scheiterte an studentischen Protesten wegen seiner NS-Vergangenheit.114
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Schneider/Schwertes Publikationstätigkeit nach 1945: Kontinuitäten und Diskontinuitäten
Um die Frage nach den Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der wissenschaftlichen Tätigkeit Schneider/Schwertes ein wenig deutlicher in den Blick zu bekommen, möchte ich noch einige Überlegungen zu seinen Publikationen anstellen. Die Nachkriegskarriere Schneider/Schwertes ergibt kein einheitliches Bild, sondern zerfällt in mindestens zwei Phasen: bis Mitte der 1950er Jahre finden sich restaurative, konservative, strukturell vom früheren Denken nicht grundsätzlich unterschiedene Argumentationen, anders als in den späten 1950er und vor allem 1960er Jahren, die zunehmend von einem ideologiekritischen Vorgehen geprägt sind. In seiner Dissertation über Rilke versucht Schwerte sich angestrengt an einer ideologiefernen Haltung, als Weg in die reine Philologie im Sinne einer »Grundwissenschaft vom Wort«115, die in den Analysen der »Herzworte«116 »Zeit«, »Raum«, »Baum« (Wachstum – übrigens auch ein Ahnenerbe-Thema), »Sein« und deren wechselseitige Abhängigkeiten ihre Aufgabe sieht, insbesondere die Möglichkeit der Verwandlung von »Zeit« in »Raum«. Viel mehr als den Befund, dass Rilkes Texte mit der Spannung von messbarer und erlebter Zeit operieren, konnte ich aus der Lektüre des Torsos nicht an Ertrag entnehmen.117Auffällig ist, dass ein Leitthema des Nachkriegs-Germanisten Schwerte hier auch schon prägend für sein wissenschaftliches Denken zu sein scheint, nämlich die Idee der Doppelgesichtigkeit und Uneigentlichkeit118; eine Denkfigur, die von vielen Kommentato114 Als dritte Persönlichkeit sei noch erwähnt Hans-Joachim Schoeps, Gutachter sowohl der Dissertation wie der Habilitation: eine besonders komplizierte Figur. Schoeps war einer der raren jüdischen Remigranten, der jedoch sehr konservativ, deutschnational und monarchistisch war (und dies auch nach 1945 blieb) und sich in den 1930er Jahren als Jude den Nazis andienen hatte wollen, zuletzt sich aber nur durch Emigration der Verfolgung entziehen konnte, während seine Eltern im Konzentrationslager ermordet wurden. Schoeps war 1947 als außerordentlicher Professor für Religions- und Geistesgeschichte an die Universität Erlangen berufen worden und wurde dort 1950 zum ordentlichen Professor ernannt. 115 Hans Schwerte: Studien zum Zeitbegriff bei Rainer Maria Rilke, S. 3. 116 Ebd., S. 5. 117 Vgl. in diesem Sinne auch Walter Müller-Seidel: »Probleme der literarischen Moderne. Am Beispiel des Germanisten Hans Schwerte«, in: Helmut König (Hg.), Der Fall Schwerte im Kontext, Opladen 1998, S. 66–97, hier S. 74–76. 118 Vgl. H. Schwerte: Studien zum Zeitbegriff bei Rainer Maria Rilke, S. 30.
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ren des Falls Schneider/Schwerte vor allem in dessen späteren Publikationen auf seine eigene Identitätspolitik und das Abarbeiten an seiner biographischen Tarnung interpretiert wird.119 Vier Jahre später, 1952, schreibt Schwerte in seinem aus vielen Gründen äußerst problematischen Beitrag »Der Weg ins zwanzigste Jahrhundert. 1889– 1945« in Heinz Otto Burgers Annalen der deutschen Literatur 120 nochmals über Rilke, den »Innerlichkeitsspezialisten«,121 und macht hier – in für unsere Begriffe raunenden Worten – deutlich, dass Rilke als Garant einer künstlerisch zugänglichen, lebensweltlich aber verlorenen Ganzheit und »Bindung« herhalten soll.122 Der spätere Salzburger Kollege Karl Müller konstatiert dazu: »Hans Schneider hatte noch gewusst, was ›Bindung‹ bedeutete, nämlich ein Teil der rassisch reinen Volksgemeinschaft des Reiches zu sein.«123 Burgers Annalen, der Erscheinungsort dieses Textes, gelten als Versuch einer apolitischen, unideologischen Literaturgeschichtsschreibung, die historische Zusammenhänge fast ausspart. Schneider/Schwerte war dabei als Autor eingesprungen, ausgerechnet für den unerwartet verstorbenen jüdischen Remigranten Werner Milch, von dem eingangs eine Klage über die Entnazifizierung angeführt wurde. Was Schwertes Text insbesondere fragwürdig macht, ist sein Versuch der ›Rettung‹ von »Heimatkunst« und deren Bewahrung vor dem NS-Vorwurf. Er zeigt darüber hinaus kaum Kenntnis der verfemten oder Exilliteratur, weist Autoren wie Rudolf Borchardt umstandslos als »Juden« aus, um zum Abschluss seines 120-seitigen Textes Josef Weinheber, den von den Nationalsozialisten gefeierten Lyriker zu preisen mit dem Befund, er stehe für den »Endkampf des abendländischen Ich«124; insgesamt eine Publikation, die schon von der zeitgenössischen Kritik (Walter Jens) als höchst problematisch beurteilt wurde.125 119 Vgl. Karl Müller: »Vier Leben in einem: Hans Schneider/Hans Schwerte. Die Literaturwissenschaft als Selbsterkenntnis- und Zufluchtsraum«, in: Aurora – Magazin für Kultur, Wissen und Gesellschaft (1. April 2007), URL: http://www.aurora-magazin.at/medien_kultur/muel ler_schwert_druck.htm [o.P., zuletzt aufgerufen 28. August 2019]; vgl. auch K.-S. Rehberg: »Eine deutsche Karriere«. 120 H ans Schwerte: »Der Weg ins zwanzigste Jahrhundert. 1889–1945«, in: Heinz Otto Burger (Hg.), Annalen der deutschen Literatur. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 1952, S. 719–840. 121 K. Müller: »Vier Leben in einem«, o. P. 122 Vgl. H. Schwerte: »Der Weg ins zwanzigste Jahrhundert«, S. 756. 123 K. Müller: »Vier Leben in einem«, o. P. 124 H . Schwerte: »Der Weg ins zwanzigste Jahrhundert«, S. 839. Vgl. dazu U. Wyss: »Ein Germanist in Erlangen«, S. 87. 125 Walter Müller-Seidel weist in seiner kritischen Lektüre von Schwertes Annalen-Beitrag luzide die Nachwirkungen und Parallelen zur völkisch-rassistischen Literaturgeschichtsschreibung von Josef Nadler nach. Vgl. W. Müller-Seidel: Probleme der literarischen Moderne, S. 76–90.
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Dazu gesellen sich anders problematische Äußerungen über Thomas Mann in den 1950ern – in einer Zeit, in der weite Teile der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit dem Nobelpreisträger und Exilanten äußerst distanziert gegenüber standen und ihn als Vaterlandsverräter wahrnahmen, der Deutschland im Stich gelassen hatte (und ja auch nur noch besuchsweise zurückkehrte). Insbesondere wird dies deutlich in Schwertes kurzem Aufsatz »Der Vorheizer der Hölle« (1951), in dem er Thomas Mann und die Moderne / Avantgarde als gewissermaßen indirekt schuldig am Nationalsozialismus erklärte, durch die »parodistische Destruktion abendländischen Geistes« und die »allgemeine Glaubens- und Wertzerstörung«, die zuallererst die Deutschen für den Nationalsozialismus empfänglich gemacht hätten.126 Ähnliche Äußerungen gab es freilich von anderen Germanisten und Publizisten auch.127 Antikommunismus und der Europa-Gedanke erweisen sich in dieser Zeit als Brückenthemen zwischen NS-Ideologie und der Neuausrichtung der Nachkriegszeit.128 In diesem Sinn argumentiert der Historiker Eric Hobsbawm, dass »sich die Historiker der Europäischen Gemeinschaft in der Nachkriegszeit nur ungern an die nationalsozialistische Entwicklungsphase der Europa-Idee erinnern würden«.129 Schwertes großes Herausgeberprojekt der Nachkriegszeit gilt nicht zufällig, so Rusinek130, einem Thema mit europäischer Dimension. Und zwar die Buchreihe Denker und Deuter im heutigen Europa131 sowie Forscher und Wissenschaf tler im heutigen Europa132 in der Reihe Gestalter unserer Zeit, von der jeweils 126 Hans Schwerte: »Der Vorheizer der Hölle. Zu Thomas Manns ›archaischem Roman‹«, in: Die Erlanger Universität, 5. Jg., 3. Beilage (13. Juni 1951), S. 1f. 127 Vgl. Hans Rudolf Vaget: »Fünfzig Jahre Leiden an Deutschland: Thomas Manns ›Doktor Faustus‹ im Lichte unserer Erfahrung«, in: Heinrich Detering / Stephan Stachorski (Hg.), Thomas Mann. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2008, S. 177–201. 128 Zu Schneiders Einsatz für die »Idee eines germanozentrischen, vom nationalsozialistischen Deutschland geführten Europa« vgl. B.-A. Rusinek: »Von Schneider zu Schwerte«, S. 147–149. Zum Europa-Gedanken im Kontext des Ahnenerbes ausführlich J. Lerchenmüller / G. Simon: Maskenwechsel, S. 238–246. 129 E ric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, 3. Auflage, München 1997, S. 176, zitiert nach B.-A. Rusinek: »Von Schneider zu Schwerte«, S. 170f. »Betrachten wir das Andocken näher, so bestand es in einem Prozeß des Einkapselns direkt nationalsozialistischer Essentials wie ›Blut‹, ›Rasse‹, ›Jude‹ oder ihrer Überschreibung durch ›Abendland‹ / ›Europa‹ und ›Russe‹ / ›Bolschewismus‹.« (B.-A. Rusinek: »Von Schneider zu Schwerte«, S. 170f.) 130 B.-A. Rusinek: »Von Schneider zu Schwerte«, S. 170. 131 1954 erschienen Denker und Deuter im heutigen Europa Bd. 1: Deutschland, Österreich, Schweiz, Niederlande und Belgien, Skandinavien sowie Denker und Deuter im heutigen Europa, Bd. 2: England, Frankreich, Spanien und Portugal, Italien, Osteuropa. 132 1955 erschienen Forscher und Wissenschaftler im heutigen Europa, Bd. 1: Weltall und Erde: Physiker, Chemiker, Erforscher des Weltalls, Erforscher der Erde, Mathematiker sowie Forscher und Wissenschaftler im heutigen Europa, Bd. 2: Erforscher des Lebens: Mediziner, Biologen, Anthropologen.
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zwei Bände im Oldenburger Gerhard Stalling-Verlag erschienen. Mitherausgeber war Wilhelm Spengler, ein alter Freund, den Schneider/Schwerte noch aus dessen Zeit im Sicherheitsdienst der SS des NS-Regimes kannte; beide waren zumindest für kürzere Zeit 1945 im Amt III C Kultur des Reichssicherheitshauptamtes tätig, dessen Leiter Spengler war. Spengler war nach dem Krieg längere Zeit interniert worden und war dann als Lektor im Stalling-Verlag in Oldenburg beschäftigt, einem nationalkonservativen Verlag, der beste Beziehungen zum NS-Regime unterhalten hatte und davor und danach deutlich als rechter Verlag agierte. Mit an diesem Buchprojekt beteiligt war auch Hans Rößner, ehemaliger Mitarbeiter von Spengler im RSHA, dann nach dreijähriger Internierung Lektor im Stalling-Verlag, späterer Verlagsleiter des Piper-Verlags (wo er unter anderem die Werke von Hannah Arendt betreute). Die Autoren dieser Sammelbände waren im übrigen unterschiedlichster Herkunft, von jüdischen Remigranten bis hin zu bekannten Rassisten und kaum gewendeten Nationalsozialisten. Wenn dort Abhandlungen im Abschnitt über Österreich etwa Franz Kaf ka oder Sigmund Freud gewidmet waren, wird daraus deutlich, dass hier natürlich nicht nur Kontinuitäten zwischen NS und Nachkriegszeit kultiviert wurden, sondern der Kanon um bis gerade eben noch verfemte »Denker und Deuter« erweitert wurde. Dass nun Hans Schwerte in diesem Buchprojekt über Hugo von Hofmannsthal (neben Rilke und anderen) schreibt und zwar über ebenjenen Hugo von Hofmannsthal der späten 1920er Jahre, der Verfechter einer »konservativen Revolution« geworden war, spricht wiederum für unselige Kontinuitäten der Moderne- und Zivilisationskritik.133 Für die ideologiekritische Wendung des Germanisten Schwerte wurde und wird immer insbesondere sein Faust-Buch in Anschlag gebracht. Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie war, 1957 in Erlangen als Habilitationsschrift eingereicht, gründlich überarbeitet 1962 bei Klett erschienen.134 Hierin kulminieren die wortgeschichtlichen und begriffsgeschichtlichen Interessen Schneider/Schwertes in der Nachkriegszeit. Schwerte geht der These nach, dass die Rezeption des Faust-Stoffes spätestens um 1870 aus dem »Ästhetischen« ins »Weltanschauliche« umschlug: »Faust trat aus dem Bereich der Poesie in den eines nationalen Kodex.«135 Als Kristallisationspunkt und Katalysator nationaler Selbstüberhöhung und Selbstüberschätzung identifiziert Schwerte schließlich 133 Hans Schwerte: »Hugo von Hofmannsthal«, in: Ders. / Wilhelm Spengler (Hg.), Denker und Deuter im heutigen Europa. Eingeleitet von Arnold Bergstraesser. Bd. 1: Deutschland, Österreich, Schweiz, Niederlande und Belgien, Skandinavien, Oldenburg / Hamburg 1954, S. 166–169. 134 H ans Schwerte: Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie, Stuttgart 1962. Kritische Lektüren dieses Buches im Kontext des Falls Schneider/Schwerte unternehmen u. a. U. Wyss: »Ein Germanist in Erlangen«, S. 89–92: K. Müller: »Vier Leben in einem«; L. Jäger: Seitenwechsel, S. 25–30. 135 H. Schwerte: Faust und das Faustische, S. 10.
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die »faustische Ideologie«: »diese Verzerrung realen nationalen Verhaltens und realen politischen Handelns durch das Schlagwort und selbst gesetzte, scheinbar poetische Leitbild ›faustisch‹«136, das »ideologisch ebenso vernutzt wie der Begriff ›Schicksal‹« oder ›romantisch‹« sei.137 Er beschreibt sein eigenes Vorgehen als »Bildungs- und Bedeutungsgeschichte«.138 Seine eigene theoretisch-methodische Verortung zur Geschichte und Kritik von Ideologie verhandelt er nur ganz knapp in einer Fußnote, in der er insbesondere mit seinen eigenen Worten »naiv« den Begriff der Ideologie von Adorno übernimmt als »Unwahrheit, falsches Bewußtsein, Lüge.«139 Eine ideologiekritische Untersuchung im Sinne von Lukács oder der kritischen Theorie legt er damit nicht vor.140 Methodisch knüpft er explizit an Werner Milchs Untersuchungen der Wandlungen der Faustdeutung (1951) an, und zwar an dessen Ansatz, der gemäß Schwerte darin bestehe, »die historisch gewordene Schichtung dieses Wortes Schnitt um Schnitt zu untersuchen und in ihm selbst die einzelnen Sinnebenen aufzudecken«.141 Dies unternimmt Schwerte dann in mehreren historischen Schnitten, chronologisch sortiert, wobei er dem 20. Jahrhundert am Ende seines Buches nicht allzu ausführlich Aufmerksamkeit widmet. Einen Endpunkt markiert für ihn nunmehr Thomas Manns Doktor Faustus-Roman, dem er »Spürsinn und Selbsterkenntnis« zuschreibt und der »in liebender Verzweif lung« geschrieben sei: Mit dieser Summe der »gesamten, vielverzweigten Problematik des ›Faustischen‹ im 19. und 20. Jahrhundert« sei »der faustische Deutsche aus Dichtung und Geschichte als ›Leitbild‹ ausgeschieden.«142 Dabei bleibt fast nur den Rändern des Buches überlassen (dem Motto, der Einleitung, dem letzten Kapitel), das Movens und die alles grundierende Frage zu benennen: die Kulmination der »faustischen Ideologie« in der Ideologie des Nationalsozialismus, deren Verlockungen und Verwüstungen gleichermaßen dem Autor und seinen Leser*innen nur allzu deutlich vor Augen standen, der Zivilisationsbruch, dessen Sühne sich Schneider/Schwerte einigermaßen geschickt entzogen hatte und den er mit seinem biographisch / professionellen Versteckspiel doch auf unheimliche Art immer wieder zu bearbeiten scheint. Mir stockt immer noch der Atem, wenn ich das Buch aufschlage und die Motti der Studie lese: Eines
136 Ebd., S. 11. 137 Ebd., S. 12. 138 Ebd. 139 Ebd., S. 279, Anm. 6. 140 Die tatsächliche Ausrichtung des Ideologie-Begriffs und der Schwertes Studie häufig zugeschriebenen ideologiekritischen Vorgehensweise wäre noch weiter zu untersuchen. 141 H. Schwerte: Faust und das Faustische, S. 18. 142 Ebd., S. 238f.
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natürlich aus Goethes Faust143, aber das zweite ausgerechnet von Joseph Goebbels: »… nein, wir Deutsche … interessieren uns nur für das Schicksal.«144 In seiner ausführlichen Diskussion des Faust-Buchs vertritt Ludwig Jäger die These des Palimpsests oder, noch spezifischer, die der Kontrafaktur, also eines poetologischen Verfahrens, das die Überschreibung eines älteren mit einem neueren Text oder die »Wiederaneignung einer älteren Text-Vorlage« unter veränderten Vorzeichen beschreibt. So finden sich in Schwertes Studie eine im Urteil verkehrte Bezugnahme auf ältere Formulierungen, aber auch direkte Übernahmen jenes Sprachduktus, der die Faust-Kritik der Jungdeutschen oder des katholischen Lagers mit ähnlicher Schärfe aburteilt wie man dies in den Publikationen des NS-Schrifttum-Zensors Schneider lesen konnte.145 Resümierend entwirft Schwerte in seinem Faust-Buch ein Programm der »kritischen Philologie«, deren Aufgabe die »Entideologisierung, die Entmythologisierung gewisser angeblicher Grundvorstellungen unseres nationalen Wort- und Bildbestands« sei, das »soziale Wächteramt der Philologie«, die allein die dichterischen Werke vor ihrer ideologischen Deformation zu bewahren vermöge.146 Insofern zeigt sich hinter dem auf klärerischen Duktus des Buches ein disziplinäres Selbstverständnis bei Schwerte, das der werkimmanenten Interpretation Wolfgang Kaysers oder Emil Staigers verwandter war, als es zunächst den Anschein hatte: nämlich der Glaube an die reine Philologie (wie schon in der Dissertation) und die mangelnde Erkenntnis, »wie sehr die reine philologische Intensität selber ein Mythologem darstellt.«147 Zuletzt sei ein Blick auf die Nürnberger Gespräche 1965 geworfen, die veranstaltet wurden von Hermann Glaser, dem legendären Nürnberger Kulturreferenten, Sozialdemokraten, in Erlangen promovierten Germanisten und verdienstvollem Kulturhistoriker. Hier zeigt sich Schwerte als linker, ideologiekritischer Intellektueller, als aufgeklärter Demokrat, der seine Rolle als öffentlicher Intellektueller wahrnimmt (oder gerne eine solche hätte): In seinem Vortragsmanuskript »Ideologische Stereotype und Leitbildmodelle als Integrationsformen der Gesellschaft« (1965) finden sich folgende Ausführungen: »Diskussion, Analyse, Kritik, diese in Deutschland so oft verschrieenen geistigen Verhaltensweisen, sind […] Akte des Einübens in humanen Willen zur Balance der Vernunft, in die freilich – und auch dies ist eine der dringendsten ›Lehren‹ der Ge143 » Doch werden sich Poeten finden, / Der Nachwelt deinen Glanz zu künden, / Durch Torheit Torheit zu entzünden.« (Mephisto, Faust II, 4.) 144 Joseph Goebbels zu Graf Guy de Pourtalès; H. Schwerte: Faust und das Faustische, S. 3. 145 Vgl. L. Jäger: Seitenwechsel, S. 26f. 146 H. Schwerte: Faust und das Faustische, S. 241. 147 U. Wyss: »Ein Germanist in Erlangen«, S. 91.
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schichte – das sogenannte Emotionale, selbst das in der deutschen Geistes- und Gesellschaftsgeschichte so viel bemühte ›Irrationale‹, mit in die denkende Vernunft hineingenommen und ebenso verantwortet werden muß, jedenfalls politisch nicht ›freigestellt‹ werden darf.« 148 Der Germanist und Salzburger Kollege Schneider/Schwertes Karl Müller weist allerdings darauf hin, dass auch in diesem Text ein Anliegen durchscheint, das gewissermaßen den ideologiekritischen Impetus grundiert: So schreibe Schwerte in diesem Vortrag eben auch, dass uns »die nationalistischen, schließlich imperialistischen, schließlich rassisch-völkischen Manipulatoren und Vereinfacher […] die geistigen und sozialen Traditionen der Deutschen ruiniert und mit ihrer nationalen Phraseologie überredet [haben], vom ›Text‹ wegzusehen in einer so erschreckenden und folgenschweren Weise, dass tatsächlich zur Zeit in Deutschland für Lehrer, Publizisten, Politiker nichts dringlicher erscheint, als die eigene Tradition erst wieder zurückzuholen aus allen ideologischen und mythisierenden Vorstellungen.« 149 Was aber ist diese Tradition? Eine Rettung des Nationalen, des Deutschen, die jenseits der Ideologien aufzufinden wünschenswert wäre?
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Der Fall Schneider/Schwerte und die FAU
Ein Wort noch zur Haltung der FAU zum Fall Schneider/Schwerte. Auf die Selbstanzeige Schneider/Schwertes 1995 folgten der Entzug des Beamtenstatus an der FAU und an der RWTH Aachen, damit verbunden die Rückforderung der Emeritus-Bezüge und der Verlust des Beihilfeanspruchs sowie der Verlust des Professorentitels. Es gab eine – umfangreich dokumentierte150 – erbitterte Debatte an der FAU um den Entzug des Doktorgrades, wozu sich der Promotionsausschuss der Philosophischen Fakultät letztlich nicht entschließen konnte, trotz entsprechender Anträge von Professoren der Fakultät, u. a. des Germanisten Theodor Verweyen, und der öffentlichen Aktivitäten der Studierenden. Die überregionale und internationale Medienresonanz artikulierte fast übereinstimmend ihr Unverständnis über diese Entscheidung. Die juristischen Feinheiten der Ar148 Hans Schwerte: »Ideologische Stereotype und Leitbildmodelle als Integrationsformen der Gesellschaft«, in: Hermann Glaser (Hg.), Haltungen und Fehlhaltungen in Deutschland. Ein Tagungsbericht (= Nürnberger Gespräche 1965), Freiburg 1966, S. 37–55, hier S. 41. 149 Ebd., S. 43; vgl. K. Müller: Vier Leben in einem. 150 Vgl. insbesondere Antirassismus-Referat (Hg.): Ungeahntes Erbe.
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gumentation nachzuvollziehen traue ich mir mangels Fachkenntnissen nicht zu, es bleibt aber doch ein schaler Geschmack beim Gedanken an ein Promotionsverfahren, das rechtmäßig gewesen sein soll, obwohl schon die bloße Zulassung zum Studium bei Offenlegung von Schneider/Schwertes Partei- und SS-Mitgliedschaft 1946 unmöglich gewesen wäre. Dass eine biographische Lüge, die Zugang zu einer Universität erschlichen hat, keine Rolle spielen soll bei der Frage nach der Rechtmäßigkeit des Erwerbens akademischer Grade, mag mir nicht recht einleuchten. Doch ohne Zweifel überlagern sich hier ethische Fragen mit verwaltungsrechtlichen, von politischen Implikationen ganz zu schweigen.151 Dass der Fall Schneider/Schwerte nicht nur hier in Erlangen und natürlich in Aachen – worüber noch viel zu sagen wäre – so großes Aufsehen erregte, liegt an mehreren Umständen: Der verstörenden Einsicht, dass auch das Feld der links-liberalen Intellektuellen nicht frei von nationalsozialistischer Verstrickung war, der ›Gegner‹ also nicht klar auf der anderen Seite stand; ein Umstand, den andere Fälle wie die Enthüllung der NS-Verstrickungen von Paul de Man, Hans-Robert Jauss, Walter Jens, Günther Grass, um nur einige zu nennen, seitdem immer mehr bestätigen; der kaum vorstellbaren biographischen Schizophrenie, Tarnung und Wendung; der moralischen Frage nach der Konsequenzhaftigkeit früherer Taten auch jenseits des strafrechtlich Verfolgbaren, auch vor dem Hintergrund der (von 1995 aus betrachtet) erst kürzlich vollzogenen Massenentlassungen an Universitäten der ehemaligen DDR. Was Schneider/Schwerte dann an Erklärungen und Rechtfertigungen vorbrachte, verstörte jedoch mehr, als dass es Klarheit brachte: So spricht er zwar von »Schuld«, jedoch in merkwürdig unpersönlicher Form: »Schuld und Scham sind ausgesprochen worden.« Er leugne nicht seine »Zugehörigkeit zu einer (in Nürnberg) als ›verbrecherisch‹ verurteilten Organisation.«152 Rehberg wirft ihm die »inakzeptablen Selbststilisierungen« vor, etwa dass »die SS-Mitgliedschaft noch heute wie eine (innere) Emigration aus dem pöbelhaften ›braunen‹ System erscheinen soll (so Schwerte in einem Interview der Aachener Volkszeitung vom 28. April 1995).«153 Auch von den Konzentrationslagern habe er nichts gewusst; 151 Aus der Aufarbeitung des Falles Schneider/Schwerte in Erlangen resultierte erfreulicherweise eine intensive Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophischen Fakultäten im NS, insbesondere mit der Entrechtung und dem Ausschluss jüdischer Wissenschaftler*innen aus der Universität. Im Gedenken an das entstandene Unrecht wird zur Erinnerung an die unrechtmäßige Aberkennung von Doktortiteln jüdischer Wissenschaftler*innen im NS seit 1999 ein von Mitgliedern der Fakultät gestifteter Promotionspreis verliehen, der mit Lilli Bechmann-Rahn den Namen einer jungen Fürther Germanistin ins Gedächtnis ruft, die noch 1934 in Erlangen von Benno von Wiese promoviert worden war und 1938 emigrieren musste. 152 H. Schwerte: »In 50 Lebens- und Arbeitsjahren gewandelt«, S. 137. 153 K.-S. Rehberg: »Eine deutsche Karriere«, S. 79.
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die behauptete Ahnungslosigkeit ist nach Rehberg aber eben gerade kein Indiz der Selbstbefragung, und es zeige mangelnde kritische Selbsteinschätzung, dass seine Biographie »Wiedergutmachung« und »Sühne« für das Getane gewesen sei. Dazu, so Rehberg, »hätte es des Risikos der eigenen Existenz, der freigewählten Schande, der Auslieferung an das Urteil der anderen bedurft.«154 Sehr klar stellt Rehberg sich im übrigen auch zu der Frage, ob man Schneider/Schwerte nicht das Recht auf eine »zweite Chance«, ein neues Leben zugestehen müsse, und mit diesem Zitat möchte ich enden: »Mag sein. Aber dann darf, wie die einstige SchwerteStudentin Marie Zimmermann zutreffend bemerkte, nicht vergessen werden, daß dies den Opfern nicht erlaubt war.«155
Literaturverzeichnis Arthur Allen: »Open Secret. A German Academic Hides His Past«, in: Lingua Franca, März / April 1996, S. 28–41. Antirassismus-Referat der Studentischen Versammlung an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg (Hg.): Ungeahntes Erbe. Der Fall Schneider/Schwerte. Persilschein für eine Lebenslüge. Eine Dokumentation, Aschaffenburg 1998. AutorInnenkollektiv für Nestbeschmutzung: Schweigepf licht. Eine Reportage. Der Fall Schneider und andere Versuche, nationalsozialistische Kontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte aufzudecken, 2. korr. Auf lage, Münster 1996. Christopher Balme: Artikel »Theaterwissenschaft«, in: Georg Braungart et al. (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Band 3, Berlin 2007, S. 629–632. Martin A. Borrmann: »Das geistige Königsberg in den zwanziger Jahren«, in: Das Ostpreußenblatt, Jahrgang 6, Folge 22 (28. Mai 1955), S. 3f., URL: http://archiv. preussische-allgemeine.de/1955/1955_05_28_22.pdf [zuletzt abgerufen am 28. August 2019]. Heinz Otto Burger: »Die rassischen Kräfte im deutschen Schrifttum«, in: Zeitschrift für Deutschkunde 48 (1934), S. 462–476. Karl Otto Conrady: »Spuren einer Erinnerung an die Zeit um 1945 und an den Weg in die Germanistik«, in: Wilfried Barner / Christoph König (Hg.), Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Frankfurt am Main 1996, S. 404–410. Stefan Corssen: Max Herrmann und die Anfänge der Theaterwissenschaft. Mit teilweise unveröffentlichten Materialien, Tübingen 1998. 154 Ebd., S. 79. 155 Ebd., S. 80.
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»Macht endlich Schluß!« – Abbrüche und Anfänge der internationalen Theaterwochen der Studentenbühnen von 1949 bis 1968 Lea-Sophie Schiel »Folterkeller / in Athen / Napalm / in Vietnam / Tollwütige / Polizisten / in Paris und Berlin / – und Ihr macht / hier / Kunsthonig / in Erlangen« war auf dem Transparent zu lesen, das Aktivist*innen des Sozialistischen Deutschen Studentenverbundes (SDS) 1968 in den Rängen des Erlanger Markgrafentheaters während der 17. Internationalen Theaterwoche der Studentenbühnen entrollten. Flugblätter f logen ins Parkett. Sybille von Flatow1 betrat die Bühne, griff sich das Mikrofon und forderte eine Diskussion über den Vietnam-Krieg. Damit unterbrach der SDS die Inszenierung der Studiobühne Köln von Megan Terrys 1966 entwickeltem Stück Vietrock.2 »Als der Eiserne Vorhang runterging, wussten wir alle: So, das wars jetzt!« berichtet Gisela von Rimscha im Zeitzeug*inneninterview.3 Und tatsächlich sollte die 17. Internationale Theaterwoche der Studentenbühnen die Letzte sein. Was war geschehen? In diesem Beitrag gehe ich den Fragen nach, wie es zu dem Ende der Theaterwoche 1968 kam und was genau hier eigentlich beendet wurde. Zugleich stelle ich die These auf, dass das Zusammenspiel staatlicher Repressionen, der Wunsch nach einer größeren politischen Konsequenz und Wirksamkeit von Theater sowie eine Verschiebung des Theatralitätsgefüges4 für das Ende der studentischen Thea1 Für den Hinweis auf Sybille von Flatow danke ich Wolfgang von Rimscha. Im Online-Archiv der Zeitschrift PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft findet sich ein von ihr gemeinsam mit Freerk Huisken verfasster Artikel, in dem sie auf Diskussionsrunden in Erlangen Bezug nimmt. Vgl. URL: http://www.prokla.de/index.php/PROKLA/article/view/1803/1737 [zuletzt abgerufen am 29. Juni 2019]. 2 B ernhard Sinogowitz: »Chronik«, in: das neue Erlangen. Zeitschrift für Wissenschaft, Wirtschaft und kulturelles Leben, Heft 12 (1968), S. 893. 3 Vgl. Zeitzeug*inneninterview Gisela und Wolfgang von Rimscha, in: Lea-Sophie Schiel, Theater im politischen Kampf. Motivation und Konsequenz der Auflösung der internationalen Theaterwoche der Studentenbühnen in Erlangen 1968, Berlin 2016, S. 121–123. 4 D er Begriff des Theatralitätsgefüges geht auf Rudolf Münz zurück und wurde von Andreas Kotte weiterentwickelt. Es umschreibt im Wesentlichen das vorherrschende gesellschaftliche Ver-
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terkultur in Erlangen – und aufgrund des repräsentativen Charakters des Festivals auch in der Bundesrepublik Deutschland – verantwortlich sind. Dafür werde ich zunächst die Theaterwoche hinsichtlich ihrer Strahlkraft, der Geschichte ihrer Gründungsphase sowie ihrer charakteristischen Kultur der Kritik portraitieren. Daran anschließend erläutere ich sowohl die Argumente der Theatergegner*innen als auch die der Befürworter*innen, um die Verschiebung des Theatralitätsgefüges zeigen zu können. Abschließend werde ich die Anfänge von Erlanger und bundesweiter Theaterkultur schildern, die aus dem Festival resultieren.
Strahlkraft des Erlanger Festivals und internationale Vernetzung Was wurde hier eigentlich derart vehement und äußerst leidenschaftlich von den Genoss*innen abgebrochen? Welchem Theater genau wurde hier der politische Kampf angesagt? Inwiefern ist die Auf lösung eines heute nahezu vollständig vergessenen studentischen Theaterfestivals in Erlangen von Bedeutung? Was für eine Kultur prägte die internationale Theaterwoche der Studentenbühnen zwischen 1949 und 1968? Die Internationale Theaterwoche der Studentenbühnen, die in unregelmäßigen Abständen von 1949–1968 fünfzehn Mal in Erlangen sowie einmal 1957 in Saarbrücken und einmal 1959 in Bristol stattfand, war für die studentische Theaterszene prägend. Neben seiner internationalen Strahlkraft und seiner Institutionalisierung charakterisierten eine vielfältige Kultur der Kritik sowie staatliche Zensur und Repression das Festival.5 Seine Kultur der Kritik äußerte sich in einer frühen Politisierung der Spielpläne, einer besonders agilen Rolle des Publikums, einer leidenschaftlichen Diskussions- und unkonventionellen Feierkultur, der seit 1953 täglich erscheinenden spöttischen Zeitung Spotlight sowie dem kulturellen Austausch mit sowjetisch beeinf lussten Staaten, was in Zeiten des kalten Krieges immer wieder ein politisch heikles, subversives Unterfangen darstellhältnis von Theaterformen. Vgl. z. B. Andreas Kotte: Theaterwissenschaft. Eine Einführung, Köln 2005, S. 54. 5 U nter Zensur und Repression verstehe ich jede Form staatlicher Eingriffe. Ich lege hierfür ein weites Verständnis des Begriffes Zensur zugrunde, das davon ausgeht, dass Zensur immer, gewissermaßen als zugrundeliegende Bedingung jedwedes Sprechens, stattfindet und dass sie deshalb auch als produktives Moment zu begreifen ist, wie es sich – übertragen auf das Sujet dieses Beitrages – nicht nur in Fördermaßnahmen, beispielsweise der Bewilligung von Mitteln für die Theaterwoche (und eben nicht für ein anderes Festival), sondern auch an der Formulierung bestimmter politischer Bedingungen sowie der Einflussnahme auf künstlerische Entscheidungen zeigt. Für ein weites Verständnis des Zensur-Begriffes vgl. das Kapitel »Implizite Zensur und diskursive Handlungsmacht« in Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt am Main 2006, S. 199–256.
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te. Für viele galt das Erlanger Festival deshalb als »Symbol des politischen und künstlerischen Auf begehrens.«6 Wie stark die Strahlkraft des Festivals war, zeigt sich an einer Liste an Namen, die zwischen 1949 und 1968 Gäste der Theaterwoche waren, unter anderen: Arthur Adamov (Dramatiker), Hans-Joachim Bunge (Dramaturg, Regisseur, Autor und Brecht-Archivar), Tankred Dorst (Autor), Hans Magnus Enzensberger (Autor), Joachim Fiebach (Theaterwissenschaftler und -kritiker), Günter Grass (Autor), Gustaf Gründgens (Schauspieler und Regisseur)7, Wolfgang Hildesheimer (Dramatiker), Peter Iden (Theaterkritiker), Helmuth Karasek (Autor), Heinar Kipphardt (Dramatiker), Günther Penzoldt (Autor), Claus Peymann (Regisseur), Henning Rischbieter (Theaterwissenschaftler, Gründer von Theater heute), Jürgen Schitthelm (Mitbegründer der Berliner Schaubühne), Martin Walser (Autor), Günther Weisenborn (Dramatiker) und Andrzej Wirth (Theaterwissenschaftler) waren vor Ort.8 Früh entstand der Wunsch nach Vernetzung unter den Studiobühnen, die an dem Erlanger Festival teilnahmen, sodass nach der zweiten Theaterwoche 1950 die Arbeitsgemeinschaf t Deutscher Studentenbühnen (ADS) als Unterabteilung des Verbandes Deutscher Studentenschaf ten (VDS) gegründet wurde. Bereits 1953 lief die Gründung der Europäischen Studententheater Union (ESTU) an. Darin waren 28 Studiobühnen aus zwölf verschiedenen Ländern Europas vertreten. Die Integration von Theatergruppen hinter dem sogenannten ›Eisernen Vorgang‹ war ein Anliegen, das »große Kopfschmerzen« bereitete9, fürchtete man doch, bei den Geldgeber*innen im Bonner Innenministerium in Misskredit zu fallen. Als 1955 die Aufnahme der Ost-Berliner Studiobühne dennoch gelang, hatte der Zusammenschluss nicht nur das Ziel der Vernetzung und Unterstützung, sondern auch kulturpolitische Vorteile. Diese Vorteile zeigten sich besonders, als der Präsident der ESTU Horst Statkus 1955 auf die Einladung des dortigen Kultusministeriums durch die DDR reiste, um einen Ersatzort für die Theaterwoche zu finden, die aufgrund der Renovierungsmaßnahmen des Markgrafentheaters vorerst nicht mehr 6 Claus Peymann zitiert nach Peter von Becker / Michael Merschmeier: »Ich glaube an die Unsterblichkeit des Theaters. Interview mit Claus Peymann«, in: Jahrbuch Theater heute (1995), S. 50f. 7 D ie Kritik an der Person Gründgens beginnt erst Ende der 1960er Jahre. Gründgens galt den Studierenden um ’68 aufgrund seiner Tätigkeit als Theatermacher während des NS als Gallionsfigur, eines patriarchal geführten staatlichen Theatersystems, das institutionell dem Nationalsozialismus gedient und sich anschließend weder glaubhaft distanziert noch Aufarbeitung betrieben hatte. Stattdessen bestand im staatlichen Theaterbetrieb, wie auch an den Universitäten eine gewisse personelle Kontinuität. Vgl. hierzu zum Beispiel die Ausführungen Claus Peymanns in P. v. Becker / M. Merschmeyer: »Unsterblichkeit des Theaters«. Peymann wurde ironischerweise später selbst zur Symbolfigur eines patriarchal-hierarchisch geführten Stadttheaterbetriebes. 8 Vgl. L.-S. Schiel: Theater im politischen Kampf, S. 6f. 9 » Sitzung der Deutschen Studentenbühnenleiter am 3. VIII.«, in: Spotlight, Jg. 2, Heft 6 (4. August 1954), S. 6.
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in Erlangen stattfinden konnte. Nach seiner Rückkehr warf man ihm vor, auf Kosten des ADS und damit der BRD, die die Theaterwoche durch Mittel des Bundesinnenministeriums förderte, in die DDR gereist zu sein. Da er jedoch als Präsident der ESTU und mit deren Mitteln gereist war, mussten die Vorwürfe gegen ihn fallen gelassen werden. Die Theaterwoche konnte so – finanziert mit Mitteln aus Bonn – bis in die sechziger Jahre als »einzige Schaltstelle zur DDR bzw. zum Ostblock«10 bestehen bleiben. Der fortschreitenden internationalen Vernetzung wurde man 1964 gerecht, als man beschloss, die ESTU in Internationale Studententheaterunion (ISTU) umzubenennen.11
Die Gründungsphase 1949–1955 Bereits 1946 hatte sich die Erlanger Studiobühne gegründet, also knapp drei Jahre vor der ersten Internationalen Theaterwoche der Studentenbühnen. Nachdem die ersten öffentlichen Vorstellungen von Stücken wie Jean Anouilhs Antigone stattfinden konnten, entwickelte sich unter der Leitung von Heinz Knorr die Idee zu einem internationalen Treffen der studentischen Bühnen, die sich auch in anderen Städten Europas parallel bzw. wenig später gründeten. Die Vielzahl der entstehenden Studiobühnen ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass das Bedürfnis, Theater zu machen, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bei Studierenden in ganz Europa groß war. Radio, Zeitung, Literatur oder Musikinstrumente waren zunächst kaum verfügbar und die Stadttheater hatten größtenteils ihren Betrieb noch nicht wiederaufgenommen. Schreckliche Langeweile und die Sehnsucht nach intellektueller Stimulation müssen, den Berichten der Zeitzeug*innen zu folgern, zu einem regelrechten Theater-Hunger der Studierenden geführt haben. Dieses ›Ausgehungert-Sein‹ mündete vor allem in eine (Wieder-)Entdeckung des geistigen und kulturellen Lebens jenseits der deutschen Grenzen, wie beispielsweise den Dramen der Existentialisten Albert Camus und Jean-Paul Sartre. »Wir waren am Anfang wie ein Schwamm. Alles, was mit Welt zu tun hatte, haben wir gierig aufgesogen. Alles, was von jenseits der Grenzen kam«12, berichtet das ehemalige Studiobühnenmitglied Ruth Seiß.
10 M . Hübner: Studententheater im Beziehungsgeflecht politischer, gesellschaftlicher und kultureller Auseinandersetzung, mit einem Ausblick auf die Theaterszene der sechziger und siebziger Jahre (Phil. Diss.), Erlangen 1987, S. 59. 11 Vgl. L.-S. Schiel: Theater im politischen Kampf, S. 50–52. 12 Zitiert nach M. Hübner: Studententheater, S. 139.
»Macht endlich Schluß!«
Der Gedanke eines internationalen Festivals lag also nicht fern. Zusätzlich fügte er sich ideal in das Programm der ›Reeducation‹ und ›Democratization‹ der US-amerikanischen Besatzungsmacht, welche darauf Wert legte, dass ein Großteil der kulturellen Erneuerung sich selbstständig aus der überlebenden Kriegsgeneration in Deutschland entwickelte. Herman Hahn, der ›Theateroffizier‹ der US-Information Control Division, begeistert sich sofort für die Idee eines internationalen studentischen Festivals. Zur endgültigen Genehmigung lässt er jedoch eine ›Qualitätsprüfung‹ des Schaffens der Studiobühne vornehmen. In Begleitung des Theaterkritikers der Süddeutschen Zeitung, Hanns Braun, des Intendanten der Münchner Kammerspiele, Hans Schweikart, und des Schriftstellers Erich Kästner sah er sich die Inszenierung Von Mäusen und Menschen nach John Steinbeck an. Anscheinend gefiel das Gesehene, sodass Hahn Knorr im Frühjahr 1949 nach München zu sich bittet.13 Bei einer Flasche Kirschwasser und einer Büchse Oliven werden in der Nacht von Gründonnerstag auf Karfreitag – so will es der Gründungsmythos – die Finanzierung gesichert und organisatorische Fragen geklärt. »Gegen Morgen ist die Flasche leer, sind die Oliven gegessen, und die erste Theaterwoche hat ihren Etat. Alles Weitere ist unsere Sorge«, schreibt Heinz Knorr 1965 rückblickend im Programmheft der 15. Internationalen Theaterwoche der Studentenbühnen.14 Die inhaltliche Gestaltung des Festivals liegt demnach ganz in den Händen der Mitglieder der Studiobühne, wenngleich Hahn und die Universitätsleitung über die Spielpläne informiert werden mussten. Was für ein Festival hatte hier gerade seine Geburtsstunde erlebt?
13 Vgl. ebd. S. 54. Leider nennt Hübner weder das Datum des Besuchs der Delegation Braun, Hahn, Kästner, Schweikart noch Originalquellen. Nachdem ein kurzer Verweis auf die Inszenierung (bei der ausschließlich die Hauptrollen von Studierenden und der Rest von Berufsschauspieler*innen gespielt wurde) sich auch bei Walter Grosch findet, ist davon auszugehen, dass Hübner sich implizit auf das Gespräch mit Grosch bezieht, auf das sie im Vorwort ihrer Studie verweist. Vgl. Walter Grosch: »Die Studiobühne«, in: Jürgen Sandweg / Gertraud Lehmann (Hg.), Hinter unzerstörten Fassaden: Erlangen 1945–1955, Erlangen 1996, S. 837–865, hier S. 850. 14 Heinz Knorr: »In memoriam 1949«, in: Programmheft zur XV. internationalen theaterwoche der studentenbühnen 1965, Erlangen 1965, S. 9.
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Kultur der Kritik: Spielplan, Rolle des Publikums und Spotlight Die Kultur der Kritik, die das Festival prägte, zeigte sich auch in einer Politisierung des Spielplanes. Das studentische Theater führte früh bereits Stücke auf, die das Berufstheater noch nicht entdeckt hatte.15 Die ›Brechtpf lege‹16 etwa wurde so lange kultiviert, bis er zu einer Art Säulenheiligem des Festivals avancierte und man in Spotlight 1964 lesen konnte: »In Erlangen sieht man so lange Brecht bis man brecht.«17 Außerdem wurden auf der Theaterwoche in der nationalsozialistischen Herrschaft verschüttete Stücke ausgegraben, wie im Fall des anti-rassistischen Stücks Straßenecke von Hans Henny Jahn. Der Inszenierung aus dem Jahr 1965 unter der Regie von Claus Peymann mit Studierenden der Erlanger Studiobühne wurde Modellcharakter für das studentische Theater zugeschrieben. Wie sehr man über die politische Bedeutung der auf dem Festival gezeigten Stücke stritt, zeigte sich in den über Jahre hinweg leidenschaftlich geführten Debatten, welches Theater denn nun für das Studierendentheater anzustreben sei: das ›théâtre pur‹ oder das ›théâtre engagé‹. Soll ein Theater angestrebt werden, das mit der Realität bricht, weil es sich wegen seines schieren, also puren Theatercharakters (im Sinne einer hohen Konsequenzverminderung18 bis hin zur Konsequenzlosigkeit) aus jener zurückzieht, oder soll ein Theater angestrebt werden, das gerade versucht, in die Realität einzugreifen und sich in der Realität engagiert? Oft wurden die Begriffe des ›théâtre pur‹ und des ›théâtre engagé‹ synonym mit denen des ›absurden‹ und des ›epischen‹ Theaters verwendet. Im Laufe der Festivaljahre spitzte sich dieser Konf likt mehr und mehr zu. Die Tendenz zu einem Theater, das in die politischen Verhältnisse eingreift, also zu einem ›théâtre engagé‹, verstärkte sich deutlich.19 Wie repräsentativ und prägend diese in Erlangen geführte Debatte auch auf bundesdeutscher Ebene war, zeigt sich daran, dass die in Spotlight veröffentlichten Kritiken auch in überregionalen Zeitungen, wie der Süddeutschen Zeitung oder der Frankfurter Allgemeiner Zeitung abgedruckt wurden. 15 Zu nennen sind hier bspw. die Inszenierungen von Albert Camus’ Caligula durch die Studiobühne Heidelberg oder Jean-Paul Sartres Tote ohne Begräbnis durch die Studiobühne Würzburg auf der zweiten internationalen Theaterwoche 21. bis 29. Juli 1950. Für eine Übersicht der bei der Internationalen Theaterwoche der Studentenbühnen gezeigten Stücke vgl. L.-S. Schiel: Theater im politischen Kampf, S. 128–144. 16 D er Begriff der Brechtpflege war ein geflügeltes Wort innerhalb der Festivalkultur. Auch Spotlight II schreibt 1968 etwa von einer »frustrierten brechtpflege«, vgl. »wo ist brecht?«, in: Spotlight II, Jg. 13, Heft 3 (31. Juli 1968), S. 1. 17 »b.b.«, in: Spotlight, Jg. 10, Heft 1 (24. Juli 1964), S. 1. 18 Zur Bedeutung der Konsequenzverminderung für szenische Vorgänge vgl. A. Kotte: Theaterwissenschaft, S. 46. 19 Vgl. L.-S. Schiel, Theater im politischen Kampf, S. 36ff.
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Die Debatten in Erlangen wurden oft hitzig geführt. Diese Diskussionskultur war ebenfalls charakteristisch für das Festival. Sie entstand dadurch, dass alle studentischen Theatergruppen ab dem ersten Tag des Festivals vor Ort waren und jede Gruppe jedes Stück ansah. Am Tag nach der Vorstellung wurde die Aufführung besprochen. Fairness und kritische Härte waren von dieser Struktur nahezu vorgegeben. Dadurch, dass ein Großteil des Publikums selbst Theater machte, spielte es für die Atmosphäre des Festivals stets eine besondere Rolle. In zahlreichen Quellen finden sich immer wieder ausschmückende Beschreibungen über das Verhalten des Publikums: »An manchen Abenden spielt das Publikum besser als das Ensemble. Gleichviel, ob sein Witz literaturwürdig ist oder nicht – es wirkt mit«20, schreibt Wolfgang Drews 1962 in Theater heute. Wie gefürchtet das Erlanger Publikum war, schildert Ernst Wendt 1962 in seinem Erlanger Tagebuch: »Das Volk ist roh: Ein kritischeres Publikum als das der Theaterwoche lässt sich kaum finden. […] Radikal, despektierlich – aber gerecht… «21 Dass es bei der Theaterwoche auch keine Seltenheit war, dass das Publikum eine Vorstellung abbricht oder stört, verdeutlichen auch andere Quellen. Sie berichten über die Tumulte während der Vorstellung des Stücks Jussopuf f oder die Aufpasser von Nader Kranke durch die Studiobühne Köln. »Auf der Galerie bildeten sich Sprechchöre, die mit pointierten Sätzen Ensemble und Autor dazu zu bewegen suchten, doch die Bühne zu verlassen«, beschreibt Wolfgang Vogel in der Frankfurter Rundschau die Szene.22 An anderer Stelle wird in der Frankfurter Abendpost vermerkt: »Zwei Stunden spielte das Publikum mit: mit Texteinwürfen, die zum Stücktext paßten […] mit Pfiffen, Buhrufen und Sprechchören – der Abend wurde zur größten Theaterschlacht, die in Erlangen jemals geschlagen wurde… «23 Neben dieser kritisch-mitwirkenden Haltung zeichnete sich das Publikum aber auch durch die Fähigkeit zur Euphorie aus. Eine halbe Stunde frenetischer Applaus und etliche Vorhänge waren dabei keine Seltenheit. Auch Spotlight verfasste nicht nur Kritiken über die gezeigten Stücke, sondern auch über die geführten Kritikgespräche. Außerdem gab es neben jeder Kritik die Rubrik »Vox populi«. Hier wurden Publikumsmeinungen zu den Stücken abgedruckt. Offenbar verstand sich das Medium als demokratisches Forum und forderte regelmäßig die
20 Wolfgang Drews: »Sind die Studenten müde?«, in: Theater heute, Heft 9 (1962), S. 30, zitiert nach M. Hübner: Studententheater, S. 317. 21 Ernst Wendt: Erlanger Tagebuch, S. 28, zitiert nach M. Hübner: Studententheater, S. 317f. 22 Wolfgang Vogel in der Frankfurter Rundschau vom 30. Juli 1963, zitiert nach M. Hübner: Studententheater, S. 318f. 23 »Der Säulenheilige Brecht rechtfertigt alles«, in: Abendpost vom 7. August 1963, zitiert nach M. Hübner: Studententheater, S. 318.
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Teilnehmenden des Festivals dazu auf, Artikel zu verfassen.24 Auch von der überregionalen Presse wurde Spotlight eine besonders kritische Perspektive attestiert: »[B]esonders [...] im offiziösen ›spotlight‹ wird unnachsichtig Kritik an Beiträgen [hier: Aufführungen – Anm. L.-S. S.] geübt, die sich entweder gedankenlos oder gar absichtlich den Problemen der Welt von heute entziehen.«25 Die kritische bis investigative Perspektive, die sich durch die Geschichte von Spotlight zieht, lässt sich auch an dem retrospektiv betrachtet politisch brisanten Fall Schneider/Schwerte verdeutlichen, der 1995 durch Selbstanzeige einer Enttarnung als NS-Verbrecher entging:26 Bei der Erlanger Theaterwoche engagierte er sich mit Vorträgen und der Teilnahme an Diskussionen.27 Spotlight weist bereits 1963 im ironisch-subversiv verklausulierten Stil auf seine vertuschte NS-Vergangenheit hin.28 Der Fall Schneider/Schwerte steht damit exemplarisch für die Tendenz von Spotlight, im Kontext der journalistischen Auseinandersetzung mit den Erlanger Theaterwochen politische Themen aufzugreifen. Spotlight avancierte schnell zu einem Medium, das nicht nur die Berichterstattung über das Festival betrieb, sondern Zusammenhänge offenlegte, die darüber hinauswiesen.
Staatliche Repression und Zensur Geprägt war das Festival auch immer wieder von staatlichen Eingriffen und repressiven Maßnahmen. 1951 wird Bertolt Brecht nach Erlangen eingeladen, weil er sich für die Arbeit der Studierenden interessiert. Als die Studiobühne der Freien Universität Berlin sich weigert anzureisen, falls Brecht Gast der Theaterwoche ist, knickt der Planungsausschuss ein und lädt ihn wieder aus. Zudem wurde das Festival zwei Mal existentiell von Zensur bedroht: 1961 war es die Aufführung von Brechts Drama Trommeln in der Nacht, die die Einrichtung eines Kuratoriums zur Folge hatte, 1966 die szenische Lesung Ami go home!, deren Absetzung vom Spielplan kurz vor Festivalbeginn durch ebenjenes Kuratorium gefordert wurde – anderenfalls könne die gesamte Theaterwoche nicht stattfinden. 24 Vgl. zum Beispiel: »Spotlight wünscht seinen Lesern viel Vergnügen und sagt unverhohlen, was es will«, in: Spotlight, Jg. 11, Heft 1 (24. Juli 1965), S. 3. 25 Horst Baumann: »Denken Hauptsache«, in: Deutsche Welle vom 3. August 1965, zitiert nach ADS (Hg.): Schlußbericht der 15. Internationalen Theaterwoche der Studentenbühnen, Erlangen 1965, S. 5. 26 Zur ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Fall Schneider/Schwerte vgl. den Beitrag von Bettina Brandl-Risi im vorliegenden Band. 27 W ie zum Beispiel der Vortrag Hans Schwertes zum Thema »Kokoschka – Expressionistisches Theater« im Rahmen der Theaterwoche 1962, vgl. hierzu M. Hübner: Studententheater, S. 404. 28 Für eine ausführliche Darstellung der Berichterstattung seitens Spotlight vgl. L.-S. Schiel: Theater im politischen Kampf, S. 75f.
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Trommeln in der Nacht war eine Produktion der Studiobühne Erlangen. Diese hatte schon im Vorfeld des Festivals, nämlich bei der Premiere im Frühjahr 1961, beim Erlanger Publikum für Empörung gesorgt. Leser*innen des Erlanger Tagblatts beklagten, dass das Stück »dem Adel der Kunst« nicht gerecht würde und lediglich die »Zerrissenheit der Zeit« und die »Niederungen der Erbärmlichkeit des Menschen« entblöße.29 Ungeachtet dieser in Form von Leser*innenbriefen an das Erlanger Tagblatt mehrfach formulierten Kritik wurde die Inszenierung in den Spielplan der Theaterwoche aufgenommen. Ausschnitte der Aufführung wurden – kurz vor dem Bau der Berliner Mauer – sogar vom Bayerischen Rundfunk gesendet. Nach der Erlanger Theaterwoche wird die Studiobühne mit dem Stück zum Internationalen Jugendspieltref fen, das parallel zu den Bayreuther Festspielen (23. Juli bis 25. August 1961) stattfindet, nach Bayreuth eingeladen. Der Auftritt hat eine anonyme Beschwerde beim Kreisjugendring Bayreuth zur Folge. In dem Schreiben vom 10. September 1961 – also knapp einen Monat nach dem Bau der Berliner Mauer – wird nicht nur die Aufführung in Bayreuth, sondern die gesamte Erlanger Theaterwoche denunziert: Als Veranstalterin der Theaterwoche sei die Studiobühne für vier Unzumutbarkeiten verantwortlich: 1. dafür, dass die Theaterwoche 1961 mit einem Stück einer Ost-Berliner Gruppe, also einer »SED-Gruppe« eröffnet habe, dessen Darbietung von Ernst Tollers Der entfesselte Wotan einen »geistigen Tiefpunkt« dargestellt habe, 2. dafür, dass die West-Berliner Studiobühne der Freien Universität Berlin nicht eingeladen gewesen sei, und 3. dafür, dass Rostocker »SED-Studenten« von Brecht Furcht und Elend des Dritten Reiches gespielt hätten und der Film Mutter Courage gezeigt worden sei, sowie 4. dafür, dass in Erlangen und Bayreuth Trommeln in der Nacht aufgeführt worden sei. Die Verfasser*in sah darin die Gefahr, dass die Studierenden im »freien« Westdeutschland »mit der Unfreiheit« spielen würden. Das Zeigen von Stücken Brechts, der »bekanntlich dem Ulbricht-Regime gedient« habe, ließe einen Zug erkennen, der dem SED-Regime nutzen soll. Damit stand für die Verfasser*in fest, dass die Studiobühne »gegen die Interessen des Gesamtvolkes« handle.30 Der Kreisjugendring leitet das anonyme Schreiben umgehend weiter an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus, das die Regierung Mittelfrankens informiert, die wiederum die Leitung der Erlanger Studiobühne (Klaus von Foerster) zur Besprechung mit Vertretern der Universität (Prof. Dr. 29 »Tragische Größe oder Erbärmlichkeit, nochmals Leserbriefe zu Bertolt Brechts Stück ›Trommeln in der Nacht‹«, im Erlanger Tagblatt vom 16. März 1961, zitiert nach M. Hübner: Studententheater, S. 242f. 30 Zitiert nach M. Hübner: Studententheater, S. 244 sowie dem Abdruck des Briefes des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus an die Regierung von Mittelfranken vom 10. September 1961 im Anhang ebd.
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Karl-Heinz Schwab), der Stadt (Dr. Otto Hiltl) und der Regierung Mittelfrankens (Oberregierungsrat Dr. Seidenspinner) bittet. Vor dieser Kommission versucht die Studiobühne, die Vorwürfe u. a. mit dem Verweis auf die politische und künstlerische Unabhängigkeit der ESTU zu entkräften. Dennoch kann die Einrichtung eines Kuratoriums, das formal die Geschäftsführung der Studiobühne und damit auch der Erlanger Theaterwoche übernimmt, nicht verhindert werden.31 Um dem Vorwurf der Zensur auszuweichen, gibt Oberstadtdirektor Otto Hiltl im Erlanger Tagblatt bekannt: »Wir wollen natürlich von den Planungen informiert werden und behalten uns auch ein Vetorecht vor, aber wir wollen gerade hier nicht bevormundend eingreifen. In künstlerischen Fragen wird das Kuratorium größte Zurückhaltung üben.«32 Bis kurz vor Eröffnung der Theaterwoche 1962 blieb deren Stattfinden jedoch ungewiss. Durch »nebelhaftes Taktieren öffentlicher Instanzen«33 hatte der Planungsausschuss vor allem in finanzieller Hinsicht so wenig Planungssicherheit, dass viele Gruppen aus organisatorischen Gründen nicht anreisen konnten. Diese deutliche staatliche Einf lussnahme entmutigt die Studierenden zunehmend, sodass auch von studentischer Seite die Sinnhaftigkeit des Unternehmens in Frage gestellt wurde.34 Auch im Jahr 1966 können die Studierenden sich nicht auf die Konzeption und Diskussion ihres Theaters konzentrieren, sondern müssen ihr Theater gegen die zensurierende Macht des Staates verteidigen.35 Es ist vermutlich der Krieg in Vietnam, der das staatliche Komitee veranlasst, Bedingungen an die finanzielle Förderung zu knüpfen. Ami go home! sollte der Titel der Produktion der Studiobühne Hamburg lauten, die man auf dem Festival 1966 zeigen wollte und die sich kritisch mit der Rolle der USA im Vietnamkrieg 31 V gl. M. Hübner: Studententheater, S. 493 sowie L.-S. Schiel: Theater im politischen Kampf, S. 52–57. Die Namen der Beteiligten sind leider im Original uneinheitlich angegeben. 32 Otto Hiltl zitiert in »Kuratorium berät die Studiobühne«, in: Erlanger Tagblatt vom 17./18. Dezember 1962, zitiert nach M. Hübner: Studententheater, S. 247. 33 Joachim Kaiser: »Probleme Theater spielender Studenten«, in: Süddeutsche Zeitung vom 4./5. August 1962, zitiert nach M. Hübner: Studententheater, S. 248. 34 I m Nachgespräch zu meinem Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung am 5. Juni 2019 in Erlangen schildert Wolfgang von Rimscha, dass diese Repressionen die Studierenden erst ermutigt hätten weiterzumachen. Dennoch ist in den Quellen eine signifikante Zunahme der Formulierung von Zweifeln an der Unternehmung studentisches Theater zu erkennen. Der Wunsch nach einer höheren Wirksamkeit von Theater kann hier auch als Reaktion auf die bestehenden Repressionen verstanden werden. 35 M artin Wiebel: »10 Thesen zum Studententheater«, in: Programmheft zur 16. internationalen theaterwoche der studentenbühnen erlangen, 22. bis 29. Juli 1966, S. 8–10.
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auseinandersetzte. Zusätzlich wollte auch die Theatergruppe der Humboldt-Universität in Berlin (Ost) eine Dokumentation zum Krieg in Vietnam präsentieren. Gemäß der Devise Hiltls, dass das Komitee »äußerste Zurückhaltung« üben wolle, betonte man auch hier wieder, dass man nichts vorschreiben möchte, aber die Finanzierung von den Spielplanänderungen abhängig mache, da beide geplanten Vorstellungen nicht mit Theater vereinbar seien.36 Angeblich ohne Kenntnis dieses Konf likts sagte die Gruppe der Humboldt-Universität Berlin (Ost) ihre Teilnahme »unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Situation in Deutschland« ab.37 Um die Vorstellung der Hamburger Studierenden zu ermöglichen, einigten sich der Planungsausschuss und das Bonner Innenministerium auf die in der Presse belächelte Lösung, das Ausrufezeichen hinter dem Titel in ein Fragezeichen zu verwandeln. Horst-Dieter Ebert schreibt hierzu in der Süddeutschen Zeitung: »Und wie immer, wenn die Behördendenkweise mit sprachlichen Problemen konfrontiert wird, führte die Konzession, die Bonn dem Festivaldirektorium aufzwang, zu einer so rührend-komischen Stilblüte, daß nur die allgemeine Empörung der Festivalteilnehmer über diese Zensurmaßnahme ein schallendes Gelächter verhinderte.« 38 Mit wie viel Unbehagen man von staatlicher Seite die 16. Theaterwoche betrachtete, verdeutlichen folgende Fakten: Neben zwei Agenten des Verfassungsschutzes reist eine Regierungsrätin aus Bonn gegen Ende des Festivals an, um »an Hand der einzelnen Veranstaltungen zu überprüfen, ob der (längst bewilligte) Zuschuß gezahlt werden könne.«39 Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass staatliche und oder politisch konservative Kräfte dem studentischen Theater wesentlich mehr Wirkungskraft zuzusprechen schienen als die Studierenden selbst. Während auf der Seite der linksorientierten Studierenden die Wirkung des Festivals als noch nicht stark genug eingestuft wurde, war man auf der staatlichen Seite darauf bedacht, die politische Sprengkraft des Festivals zu entschärfen und die Theaterwoche deshalb aus »künstlerischen Gründen einige Jahre pausieren« zu lassen.40 Diese »künstlerischen Gründe« wurden schon damals von der Öffentlichkeit als politische wahr36 Vgl. M. Hübner: Studententheater, S. 435. Leider benennt Hübner hier keine Originalquellen. Das Argument und damit die Frage danach, was das Innenministerium hier unter dem Begriff ›Theater‹ versteht, wird ebenfalls nicht erläutert. 37 Ebd. 38 Horst-Dieter Ebert: »Studiobühnen – zu rot?«, in: Süddeutsche Zeitung vom 29. Juli 1966, zitiert nach M. Hübner: Studententheater, ebd. 39 Ebd. 40 Ebd., S. 436.
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genommen: »Ihre Entscheidung [die Entscheidung der Behörden – Anm. L.-S. S.] wird allemal eine politische sein, das ist ihr Ressort; über die künstlerische Seite der Theaterwoche könnten sie nur – positive – Gutachten einholen.«41 Durch die Abhängigkeit vom Wohlwollen Bonns wirkten sich diese zensierenden Eingriffe unmittelbar demotivierend auf die Studierenden aus. Zugleich erhöhte sich der Druck, sich selbst und damit auch das studentische Theater politisch zu positionieren, um nicht in den Verdacht politischer Gefälligkeit zu geraten. 1968 fand zwar wieder eine Theaterwoche in Erlangen statt, aber zahlreiche Gruppen blieben dem Treffen fern.42
Argumente der Theatergegner*innen Die eingangs geschilderte Stürmung des Erlanger Stadttheaters kam den Forderungen der Redaktion der festivalbegleitenden Zeitung Spotlight nach, die seit Beginn der 17. Festivalausgabe das Ende der Theaterwoche gefordert hatte. So erschien bereits die zweite Festivalzeitung mit dem Titel: »Macht endlich Schluß!«. Auf dem Titel der dritten Ausgabe wurde diese Forderung mittels Totenkopfdesign untermauert (siehe Abb. 1). In dieser Ausgabe richtete sich Spotlight gegen jede Form des Theaters – egal ob es nun studentisch war oder nicht oder engagiert war oder nicht – und forderte dessen Ende: »Wir werden für alle Zukunft dem Theater unsere Unterstützung versagen und in Wort und Tat zu seiner Abschaffung beitragen. Wir rufen alle Demokraten auf, sich diesem Aufruf anzuschließen.«43 Für Spotlight stand fest, »dass politisches Studententheater offenbar nur in der Zerstörung von Theater möglich ist.«44 Mit der vierten Ausgabe beschloss die Redaktion, mit gutem Beispiel voranzugehen und ihre eigene Arbeit einzustellen. Wie begründete das Redaktionskollektiv seine vehementen Störungs- und Abbruchsforderungen? Ein zentrales Argument nährte sich aus dem Vorwurf, dass insbesondere studentisches Theater in Zeiten des politischen Umbruchs lediglich »schein-revolutionäre Ersatzbefriedigung«45 sei: 41 B ernt Haller: »Festival ohne Zukunft?«, in: Süddeutsche Zeitung vom 4. August 1966, zitiert nach M. Hübner: Studententheater, ebd. 42 Vgl. L.-S. Schiel: Theater im politischen Kampf, S. 53–57. 43 »Manifest«, in: Spotlight I, Jg. 13, Heft 3 (28. Juli 1968), S. 13. 44 »Offenbarungseid des Festivals«, in: Spotlight I, Jg. 13, Heft 4, (29. Juli 1968), S. 4. 45 » Kastration«, in: Spotlight I, Jg. 13, Heft 4 (29. Juli 1968), S. 8. Während Spotlight I mit »scheinrevolutionärer Ersatzbefriedigung« alle politisch engagierten Aktivitäten auf der Bühne bezeichnet, ist der Begriff der »Taktik der Scheinrevolution« auf einen anderen Kontext zurückzuführen.
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Abb. 1: Die vorletzte Ausgabe von Spotlight I »Die Erlanger Theaterwoche ist und wird weiterhin sein der Brückenkopf eines ästhetischen Verhaltens gegenüber der gesellschaftlichen Praxis; es wird gerade da, wo es sich das engagierte Theater auf die Fahne schreibt – die schein-revolutionäre Ersatzbefriedigung auf der Bühne und im Parkett fördern […]. Das Spiel auf der Bühne provoziert keine Praxis, sondern ästhetische Selbstgenügsamkeit. Das Studententheater und sein Festival werden solange direkte Aktionen mit verhindern, wie wir nicht die Aktion an ihre Stelle setzen.« 46 Besonders das sogenannte politisch engagierte Theater wurde zum Hauptangriffspunkt der Theatergegner*innen: »[D]as Engagement, auf die Bühne ge-
Jürgen Habermas hatte diesen als Kritik an der Haltung des SDS 1968 formuliert und warf der studentischen Bewegung in diesem Zusammenhang vor, Symbol und Wirklichkeit zu verwechseln. »Taktik der Scheinrevolution« bezeichnete in diesem Zusammenhang in erster Linie das falsche Verständnis theatralischer, öffentlicher Protestaktionen. Diese seien als Symbol des Widerstands zu begreifen, nicht aber als Wirklichkeit des Guerillakampfes. Vgl. »Scheinrevolution und Handlungszwang. Professor Jürgen Habermas über Fehldenken und Fehlverhalten der linken Studentenbewegung«, in: Der Spiegel, Jg. 21, Heft 24 (10. Juni 1968), S. 57–59, URL: http:// www.spiegel.de/spiegel/print/d-46020971.html [zuletzt abgerufen am 13. Januar 2012]. 46 »Kastration«, in: Spotlight I, Jg. 13, Heft 4 (29. Juli 1968), S. 8.
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bracht, [büßt] seinen politischen Inhalt durch Darstellung [und] Kunstwirklichkeit [ein].« 47 Für Spotlight hatte also jede Verstellung auf der Bühne keinen Einf luss auf die Realität und wurde deshalb als »Opium«48 im Marx’schen Sinn betrachtet. Allerdings sahen die Redakteure von Spotlight und die Mitglieder des SDS eine Möglichkeit, die politische Wirksamkeit durch eine Verlagerung der (dann nicht mehr als Theater geltenden) Aufführungen in den öffentlichen Raum zu erhöhen. Das einzige Theater, das die Genoss*innen als praktizierbar betrachten, trägt die Verstellung in den öffentlichen Raum und lässt sich mit dem Begriff »Theater der Guerilla«49 beschreiben. Dies seien etwa »Rüpeleien im Gerichtssaal«50, der »Sturm auf die Springer-Hochhäuser« oder der »Barrikadenkampf« in der Tschechischen Republik. »Theater der Guerilla« machten für Spotlight auch Studierende in Hamburg, die als Polizisten verkleidet, Menschen in Cafés nach Notstandsrichtlinien verhafteten oder in KZ-Uniform bei einer Demonstration gegen die Notstandsgesetzgebung mitliefen.51 Eine wichtige Referenz bildete außerdem die Kritische Theorie: Weil das studentische Theater aufgrund seiner »falschen Montagen« nicht fähig gewesen sei, 47 Gemeint ist hier die Vorstellung der Darmstädter Studiobühne, deren Qualität in den Rezensionen negativ beurteilt wurde. Vgl. »Parma ist Opium«, in: Spotlight I, Jg. 13, Heft 3 (28. Juli 1968), S. 3. 48 Ebd., genauer Wortlaut des Zitats: »Parma [gemeint ist das Theater der Parmeser Studiobühne Anm. L.-S. S.] ist Opium.« 49 Im Folgenden bezeichne ich die Forderung von Spotlight I nach politischer Agitation auf der Straße mithilfe von Theater-Mitteln als ›Theater der Guerilla‹. Konkret schreibt die Zeitung aber nur: »Das einzige Theater ist der Kampf der Guerilla. Revolutionäre Kunst entsteht auf der Strasse«. Siehe: »Flugblatt über das Ex-Theatre de France«, in: Spotlight I, Jg. 13, Heft 1 (26. Juli 1968), S. 1. Unter dem Begriff Guerilla-Theater versteht man im Allgemeinen Theaterstücke und Sketche, die dem politischen oder sozialen Protest dienen und im öffentlichen Raum oder anderen Orten außerhalb von Theaterräumen stattfinden. Der Begriff geht auf Theoretiker wie Ronny G. Davis, Richard Schechner und Marc Estrin zurück. Er bezieht sich hauptsächlich auf eine in den USA vom 1965–1970 vollzogene Theater-Praxis, die ab 1967 überwiegend von SDS-Gruppen nachgeahmt wurde. Zum Begriff des Guerilla-Theaters vgl. Martin Maria Kohtes: Guerilla Theater. Theorie und Praxis des politischen Straßentheaters in den USA (1965–1970), Tübingen 1990, bes. S. 13–25; Ronny G. Davis: »Guerilla Theatre«, in: The Tulane Drama Review, Band 10, Nr. 4 (1966), S. 130–136. 50 Gemeint ist hier wahrscheinlich die »Moabiter Seifenoper«, der Prozess gegen die Kommune I. Hier bedienten sich Rainer Langhans und Fritz Teufel performativer Techniken, um den Ablauf des Prozesses zu unterwandern. Zu den performativen Elementen des Prozesses der Kommune I vgl. Joachim Scharloth: »Ritualkritik und Rituale des Protests: Die Entdeckung des Performativen in der Studentenbewegung der 1960er Jahre«, in: Ders. / Martin Klimke (Hg.), 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Bonn 2008, S. 75–89, hier S. 78f. 51 »Fortsetzung folgt«, in: Spotlight I, Jg. 13, Heft 4 (29. Juli 1968), S. 10.
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diese auf die Bühne zu bringen, zitierte Spotlight selbst Textausschnitte der kritischen Theoretiker Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse. Neben der heute bekannten Schrift Dialektik der Auf klärung52, die bis zum damaligen Zeitpunkt nur als illegale Raubkopie in der BRD kursierte, weil die Alliierten die Drucklegung untersagt hatten,53 nahm Spotlight auch auf Adornos Schrift »Anmerkungen zum deutschen Musikleben«54 Bezug. Außerdem wurden Ausschnitte des bis heute andernorts nicht veröffentlichten Texts »Tod der Kunst im Zeitalter der Technologie« von Herbert Marcuse abgedruckt.55 Sowohl Adorno als auch Marcuse zeigen sich in den zitierten Schriften zwar skeptisch gegenüber der damaligen Funktion von Kultur und Kunst, sehen aber gleichwohl in der Kunst die Möglichkeit, Veränderung zu schaffen; zwar nicht durch die unmittelbare Wirkung von Kunst, aber durch das Entwerfen von Kunst als einer Gegenwelt, die mittelbar auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse hinwirkt. Spotlight beförderte mit seinen Publikationen eine in der damaligen Rezeption verbreitete einseitige Lesart der Kritischen Theorie und interpretierte deren Kulturkritik zu einem Darstellungsverbot um. Dies war auch dadurch begünstigt, dass die vollständigen Texte, wie zuvor erwähnt, auf dem legalen Buchmarkt nicht verfügbar waren. 1968 ist jedoch nicht das erste Mal, dass der Erlanger studentischen Theaterkultur nach nur 19 Jahren jäh ein Ende gemacht wurde. 1792, als Erlangen unter Preußische Herrschaft fiel, verbot der akademische Senat den Besuch und die Aufführung von Theatervorstellungen. Sophie Caroline Marie von Braunschweig Wolfenbüttel, die Witwe Friedrich III. von Brandenburg-Bayreuth hatte zuvor Theateraufführungen von Studenten protegiert und gefördert.56 Anders als der akademische Senat befürchtet Spotlight zwar keinen Sittenverlust, aber dennoch so etwas wie einen »Revolutionsverlust«, wenn das studentische Theater fortbesteht. Damit führen die sich sehr progressiv gebenden Agitator*innen letzten Endes ein theaterfeindliches Kernargument aus dem 52 Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1969. 53 Vgl. Ina Fuchshuber: Der oppositionelle Buchmarkt in den 1960er und 1970er Jahren, Norderstedt 2005, S. 2. 54 Theodor W. Adorno: »Anmerkungen zum deutschen Musikleben« [1966], in: Ders., Gesammelte Schriften, Band 17 (= Musikalische Schriften IV), Frankfurt am Main 1997, S. 167–189. 55 Herbert Marcuse: »Tod der Kunst im Zeitalter der Technologie«. Typoskript, abgedruckt in: Spotlight I, Jg. 13, Heft 3 (28. Juli 1968), S. 6f. 56 Vgl. M. Hübner: Studententheater, S. 1. Hübner bezieht sich auf folgende Quellen: Johannes Bischoff: »Erinnerungen an eine Erlanger Studentenbühne des 18. Jahrhunderts.« in: Die Erlanger Universität, Jg. 1, Heft 23 (1947), S. 360f.; Hans-Joachim Schoeps: »Die Erlanger Studiobühne von 1789, ›… Die jungen Leute durch theatralische Gegenstände zerstört‹«, in: Erlanger Rundbrief, Jg. 2, Heft 3/4 (1951), o. P.; vgl. auch den Beitrag von Hans-Friedrich Bormann im vorliegenden Band.
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18. Jahrhundert ins Feld: Das Theater sei eine Verstellung, eine Illusion, eine sinnliche Verführung, die einen von dem Erreichen der eigenen moralischen Ziele abhält. Dieser Vorwurf der täuschenden Verführung gegenüber dem Theater ging seit jeher Hand in Hand mit misogynen Denkfiguren.57 Diese Misogynie auf inhaltlicher Ebene setzte sich auch auf struktureller Ebene fort: Es erscheint daher (leider) kaum verwunderlich, dass keine Frau Teil des Redaktionskollektivs von Spotlight im Jahr 1968 war. Dennoch waren Frauen maßgeblich an den Protesten beteiligt, wie Sybille von Flatows Auftritt zeigt.
Argumente der Befürworter*innen Die verbliebenen Studierenden wollten trotz alledem ihr Theater nicht kampf los opfern – weder der staatlichen Repression noch der Revolution. Bereits am selben Tag, an dem die Redaktion von Spotlight ihren Dienst quittiert, gründet sich eine neue Redaktion, Spotlight II. (Zur besseren Verständlichkeit bezeichne ich im Folgenden die frühere Redaktion mit Spotlight I.) Das erste Heft von Spotlight II erscheint unter dem Titel »Fangt endlich an!« (vgl. Abb. 2). Die Argumente, die die Studierenden für das Fortbestehen des Festivals liefern, sind dabei wesentlich heterogener als die Gegenposition von Spotlight I. Auffällig ist jedoch, dass die Grundannahmen von Spotlight I und Spotlight II im Wesentlichen übereinstimmen: Es bestünde tatsächlich das Problem, dass das »Subventionstheater im Sinne der Herrschenden funktioniert, auch und gerade, wenn es politische Stücke spielt«. In diesem Sinne seien gerade Festivals besondere »Erbauungsorgasmen«, »widersinnig« und »reaktionär«. Daraus wird jedoch nicht die Schlussfolgerung gezogen, das Festival abzubrechen, sondern diese Schwierigkeiten als Anlass für ein Experiment zu nehmen. Man solle prüfen, ob die These, dass alle Möglichkeiten des Theaters bereits ausgeschöpft sind, haltbar ist oder nicht: »Es bleibt die Frage: Kann es [das Festival – Anm. L.-S. S.] wirklich den Weg zu einer neuen Qualität von Theater ziegen [sic!]? Vielleicht nicht. Eben das wäre zu erproben. Und wenn es schiefgeht, dann sollte es auch keine Studentenbühnenwochen mehr geben.« 58
57 V gl. z. B. Doris Kolesch: »Theater als Sündenschule. Für und Wider das Theater im 17. und 18. Jahrhundert« in: Stefanie Diekmann / Christopher Wild / Gabriele Brandstetter (Hg.), Theaterfeindlichkeit, München 2012, S. 19–30. 58 »Kehren im Betrieb«, in: Spotlight II, Jg. 13, Heft 1 (29. Juli 1968), S. 2.
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Abb. 2: Die erste Ausgabe von Spotlight II Entgegen der Meinung der Redakteure von Spotlight I, man könne erst nach der Zerstörung über die Möglichkeit der Veränderung diskutieren, vertritt Spotlight II nicht die Auffassung, dass »Auf hören schon Veränderung bedeutet.«59 Deshalb würde der Abbruch Gefahr laufen, ein »Unrechtssystem« zwar zunächst abzuschaffen, es aber in der Folge schlichtweg durch ein anderes zu ersetzen: »Die Selbstkritik des Studententheaters geht der Kritik nicht weit genug; die verschiedenen Ansätze sozialer Bewegungen – auch der des Theaters – zur Lösung der Lage des ausgebeuteten Proletariats sind der Kritik nicht komprislos [sic!] genug: man muß die Schauspieler aus dem Theater hinasujagen [sic!], wenn auch der Tempel zuletzt ein Mausoleum wird. Es wird dafür neue Tempel geben. Die Kritik macht zwar das gesamte System etablierter Interessen zum Gegenstand ihrer Kritik und ihres politischen Kampfes, beläßt sich aber selbst im Theater.«60 Wenn Spotlight I kritisiert hatte, dass das politische Theater politischer Veränderung letzten Endes im Weg steht, so kritisierte Spotlight II genau diese Kritik. Laut Spotlight II ist es diese Form der Kritik, die das Theater daran hindert, seine politischen Ziele zu erreichen.
59 Ebd. 60 »kritik der kritik kritisch«, in: Spotlight II, Jg. 13, Heft 1 (29. Juli 1968), S. 6.
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»Diejenigen, die Ausdrucksformen zeitgenössischen Theaters suchen, wären den Zielen der extremistischen Linken schon viel näher gekommen, wenn diese sich nicht vorlaut und arrogant dieser Annäherung durch Boykott widersetzt hätte.« 61 Spotlight II betrachtet das ästhetische Moment des Theaters als Möglichkeit, im politischen Konf likt zu vermitteln. Hierfür finden sich in der Zeitung zwei entscheidende Argumente: Erstens besteht die Möglichkeit, eine eigene »Szenen-Wirklichkeit« zu konstituieren, die »in ihren konsequenten Momenten so etwas wie einen modernen Mythos« schafft. Zweitens ist das Theater gerade durch »seine wohlverankerte Position innerhalb der Gesellschaft sehr wohl geeignet«, eine Veränderung zu evozieren, ohne dass eine gesellschaftliche Revolution im Voraus stattgefunden haben muss. Dabei würde schon die Darstellung der Realität per se kritisch wirken, da »Wirklichkeit unterdrückt oder verbirgt, was ihrer Erhaltung nicht dient«.62 Mit dem Ziel, eine »neue Sprache des Theaters« zu entwickeln, schlägt Spotlight II in seiner zweiten und dritten Ausgabe, die unter den Titeln »was nun?« und »wo ist brecht?« stehen, vor, sich auf die Überlegungen Brechts und Artauds zu beziehen. Spotlight II argumentiert ferner, dass deren Theorien längst nicht vollständig ausgereizt und erprobt seien. Daher könne auch nochmals der Versuch unternommen werden, die Wirkmächtigkeit von Theater zu erhöhen. Anhand der zwischen Spotlight I und Spotlight II geführten Debatte, ob man nun noch Theater machen soll oder nicht, wird schließlich deutlich, dass im Kern diskutiert wird, was Theater eigentlich ist, was es ausmacht und welche gesellschaftliche Funktion es innehat oder haben sollte. So titelt Spotlight II auf seiner letzten Ausgabe mit der Parole »Theater gegen Nichttheater«. Ironischerweise versteht Spotlight II hier unter anderem auch das als Theater, was Spotlight I als Nichttheater versteht. Wenn für Spotlight I das »Theater der Guerilla« sich dadurch auszeichnet, kein Theater mehr, sondern politische Aktion zu sein, ist für Spotlight II eben dieses »Theater der Guerilla« der Versuch, dem Theater politische Relevanz zu verleihen. Für Spotlight I war Theater auf der Straße kein Theater und deshalb erstrebenswert. Für Spotlight II war Straßentheater ein Versuch, dem studentischen Theater neue Relevanz zu verleihen beziehungsweise dessen Konsequenz zu erhöhen.
61 »wo ist brecht?«, in: Spotlight II, Jg. 13, Heft 3 (31. Juli 1968), S. 1. 62 »suche nach vergessenen werten«, in: Spotlight II, Jg. 13, Heft 2 (30. Juli 1968), S. 3.
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Verschiebung des Theatralitätsgefüges Die Debatte über das Abbrechen und das Anfangen in Erlangen 1968 zeigt, dass letztlich der (vermeintliche?) Konsens darüber, was man unter Theater verstand, (nun auch offensichtlich) brüchig geworden war. Diese Auseinandersetzung um Theater-Begriffe verdeutlicht, dass sich um 1968 das Theatralitätsgefüge verschoben hatte. Andreas Kotte fasst unter diesem Begriff im Anschluss an Rudolf Münz vier verschiedene Formen von Theater: »Kunsttheater«, was das Theater meint, das in Theaterräumen stattfindet, »Lebenstheater«, das allgemein Formen von öffentlichen Inszenierungen, Versammlungen oder Umzügen beschreibt, das »Theaterspiel«, was Formen von Kunsttheater oder Lebenstheater konterkariert, sowie das »Nichttheater«. Entscheidend ist, dass alle Vorgänge, die (unumkehrbare) Konsequenzen haben, für Kotte nicht mehr als Theater gelten, sondern als »Nichttheater«. Auch die anderen Theater-Formen lassen sich anhand ihrer jeweiligen Konsequenzen und dem Grad ihrer Hervorgehobenheit unterscheiden.63 Mit dem Drängen aus dem Kunsttheater(raum) auf die Straße, zeigte sich die zunehmende Bedeutung anderer Theaterformen, die fortan eben nicht mehr als ›Nichttheater‹ galten. Daraus ergab sich notwendigerweise ein sich neu arrangierendes Verhältnis aller Theaterformen, in dem der Raum dafür, was als ›Nichttheater‹ galt, zunehmend kleiner wurde. Obwohl Spotlight II bis zum Schluss für das Theater und das Festival Argumente sammelte und veröffentlichte, ging die Zeitung in ihrer letzten Ausgabe vom ›Tod‹ des Festivals aus: »Der Todesstoß gegen das Theater traf die Theaterwoche empfindlich, sie erholte sich nicht mehr«. Wenngleich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht feststand, ob es ein weiteres Festival geben würde oder nicht, hatte sich bereits das Ende der Theaterwoche durch ihren weiteren Verlauf seit dem Eklat bei der Vorstellung von Vietrock bemerkbar gemacht: Die Diskussionen wurden laut Spotlight II kaum noch gesucht und die Vorstellungen nur noch »unkritisch« rezipiert. Trotz des engagierten Kampfes von Spotlight II blieb die 17. Theaterwoche der Studentenbühnen die letzte. Zwar gab es Wiederbelebungsversuche, jedoch gab es de facto keine studentische Theaterkultur mehr. Wenngleich die Studierenden mit ihrem Theater vor allem in den 1950er Jahren ihrer Zeit voraus waren, so wurden sie spätestens 1968 von den politischen Ereignissen überrollt
63 Vgl. A. Kotte: Theaterwissenschaft, S. 302ff. sowie ders.: »Theatralität konstituiert Gesellschaft, Gesellschaft Theater«, in: Theater der Zeit, Jg. 56, Heft 6 (2002), S. 2–10; Matthias Warstat: Artikel »Theatralität«, in: Ders. / Erika Fischer-Lichte / Doris Kolesch (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart / Weimar 2014, S. 382–388, hier S. 386.; Rudolf Münz: »Theatralität und Theater. Konzeptionelle Erwägungen zum Forschungsprojekt ›Theatergeschichte‹«, in: Ders., Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen, Berlin 1998, S. 66–82.
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oder wie Zeitzeuge Wolfgang von Rimscha es ausdrückt: »Die Revolution hat ihre Väter gefressen.«64
Anfänge 1989 gelingt den einstigen Festivalmacher*innen jedoch die Organisation eines Revivalfestivals anlässlich des 40. Jahrestages der ersten Studententheaterwoche. Das zuletzt 1968 zu Gast gewesene und nach wie vor bestehende Teatro Due aus Parma präsentiert hier eine Mixtur von Georg Büchners Dantons Tod, Leonce und Lena und Woyzeck. Neben Produktionen, die im Rahmen der Universität Erlangen und im Freien Theater Erlangens entstanden, sind beim »Klassentreffen mit Zukunftschance« eine Gruppe aus Göteborg sowie eine französisch-polnische Koproduktion zu Gast. Zur Eröffnung des Festivals zeigen die ehemaligen Studiobühnenmitglieder eine Wiederaufnahme von Günter Grass’ Noch 10 Minuten bis Buf falo. Ungewollt wird der nostalgische Charakter der Eröffnungsvorstellung kurz vor deren Ende verstärkt: Studierende der Fachschaftsinitiative der Theaterwissenschaft werfen vom dritten Rang des Markgrafentheaters Flugblätter ins Parkett, um »katastrophale Zustände« in ihrem Fachbereich und das »technologiehörige Bildungskonzept« der Friedrich-Alexander-Universität zu beklagen. Im Rahmen dieses Festivals findet sich eine kleine Gruppe von Studierenden, die ein weiteres Festival nach dem früheren Vorbild ins Leben ruft.65 Was können wir heute aus den Ereignissen und Ideen des Erlanger Festivals schließen? Die historische Aufarbeitung des Erlanger Festivals vermag zwar eine repräsentative Lücke in der Entwicklungsgeschichte des deutschen Theaters zu schließen. Viel wichtiger erscheint mir die Aktualität der damals hitzig geführten Debatten über Theaterbegriffe und -konzepte zu sein. Denn letztlich wurden hier Konzepte von Theater verhandelt und um seine politische Dimension gerun64 Vgl. Zeitzeug*inneninterview Gisela und Wolfgang von Rimscha, in: L.-S. Schiel: Theater im politischen Kampf, S. 121–123. Es bleibt zu erforschen, welchen Anteil diese im wahrsten Sinne des Wortes patriarchale Prägung des Festivals sowie die seiner Kritiker an seinem Niedergang hatten. 65 V gl. »Studententheater in Erlangen«, in: Erlanger Nachrichten vom 21. Juni 1989 sowie »Klassentreffen mit Zukunftschance«, in: Erlanger Nachrichten vom 26. Juni 1989. Worin die katastrophalen Zustände im Fachbereich und das technologiehörige Bildungskonzept der Universität bestehen, die die Studierenden beklagen, erläutert der Artikel nicht. Das Nachfolgefestival trägt heute den Namen Arena… der jungen Künste und findet jährlich begleitet von der Festivalzeitung Spots in Erlangen statt. Vgl. URL: http://www.arena-festival.de [zuletzt abgerufen am 25. September 2019]. Inwieweit der Anspruch einer Kultur der Kritik hier fortgesetzt wird oder Forderungen politischer Konsequenz gestellt werden, ist fraglich. Dennoch ist das Festival m. E. ein lokal bedeutsamer Ort studentischer Autonomie und kulturellen Austauschs.
»Macht endlich Schluß!«
gen. Dabei ist der Faktor der Konsequenz von zentraler Bedeutung. Dass eine Theateraufführung (unumkehrbare) nachweisbare politische Konsequenzen hat, also ganz im Sinne eines ›théâtre engagé‹ in die Realität eingreift, wurde in dieser Zeit zum entscheidenden Faktor ihrer Motiviertheit. Obwohl das doch sehr eingeschränkte Theaterverständnis von Spotlight I sich der Idee verweigert hatte, jede Theateraufführung als ein Stück Realität und damit auch politische Realität anzuerkennen, trug die Forderung nach Konsequenz zum Entstehen von Theaterformen bei, deren ästhetischer Anspruch sich gerade darin äußert, Theater als einen Teil der Realität zu begreifen. Es ist kein Zufall, dass ein Theater mit (unumkehrbaren) Konsequenzen vor allen Dingen von Künstler*innen der sogenannten ›freien Theaterszene‹ bis heute angestrebt wird, die parallel zum Niedergang der studentischen Theaterkultur entstand.66 Allerdings besteht diese Theaterszene aus professionellen Gruppen, die anders als das Studierendentheater von damals auf Publikumszahlen angewiesen sind und existentiellen ökonomischen Abhängigkeiten ausgesetzt sind. Diese sogenannte ›freie Theaterszene‹ kann nur dann Projekte realisieren, wenn jedem seiner Anträge auf staatliche Förderung von Projekt zu Projekt stattgegeben wird. Wie also könnte heute ein Theater entstehen, das unabhängig genug ist, um neue Experimente zu wagen? Wie müsste heute, um auf Herbert Marcuses Text »Tod der Kunst« zu verweisen, die »Architektur einer freien Gesellschaft« aussehen, in der Kunstfreiheit real, also auch frei von patriarchalen, politischen und ökonomischen Zwängen, garantiert ist? Welche Räume würden in dieser Architektur dann dem Theater und der Politik zugewiesen werden? Es sind diese utopischen Fragestellungen, die entstehen, wenn Theater sich im politischen Kampf befindet. Es sind ebenso Fragen, denen wir uns dringend stellen müssen, wenn wir ein Theater erschaffen wollen, das in der Lage dazu ist, sich gegen die jüngsten Angriffe von Seiten der ›Neuen Rechten‹ konsequent zu verteidigen.
Literaturverzeichnis Theodor W. Adorno: »Kulturkritik und Gesellschaft« [1951], in: Ders., Gesammelte Schriften, Band 10.1 (= Kulturkritik und Gesellschaft I), Frankfurt am Main 1977, S. 11–30.
66 Vgl. Georg Stenzaly / Annette Waldmann / Wolfgang Beck: Artikel »Freies Theater«, in: Manfred Brauneck / Gérard Schneilin (Hg.), Theaterlexikon 1, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 401–407.
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»Macht endlich Schluß!«
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Das Schultheater und die Kunst der Schule: Erlanger Initiativen Eckart Liebau Wenige Felder sind so geeignet zur Förderung von Bildung wie das Theater. Das gilt in doppelter Hinsicht: Es gilt für das Theater als Gegenstand schulischer Bildung, also für das Theater als Kunstform. Und es gilt für allen schulischen Unterricht, den man mit großem Erkenntnisgewinn und dann auch großem praktischen Gewinn in mancher Hinsicht auch als eine theatrale Praxis verstehen kann, und das nicht nur unter dem Gesichtspunkt der nützlichen Methode des szenischen Lernens. Dieser Beitrag wird den ersten Aspekt in den Mittelpunkt stellen, der zweite muss aus Platzgründen ausgeklammert bleiben. Der Text ist in fünf Abschnitte gegliedert. Es geht um schulische Initiativen und Praktiken zum und im Schultheater in Erlangen (1.), um Begründungsmuster für das Schultheater (2.), um die schulbezogenen Initiativen des Erlanger Stadttheaters (3.), um die Initiativen zum Schultheater an der Universität Erlangen-Nürnberg (4.) und schließlich um die Kontexte, in denen auch die Erlanger Initiativen verortet sind (5.).
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Initiativen der Schulen
Seit wann, wo und wie in Erlangen an Schulen Theater gespielt worden ist und wird, ist nicht erforscht.1 Soviel immerhin lässt sich festhalten: In der Schulpraxis der verschiedenen Schularten spielt das Schultheater eine große Rolle. Es gibt hier heute eine sehr lebendige und vielfältige Szenerie mit zahlreichen engagier1 Es wäre allerdings eine spannende und lohnende Forschungsaufgabe, dieser Frage systematisch nachzugehen und dazu erstens die schriftlichen und medialen Quellen zu sammeln und zu erschließen, zweitens gerade für die jüngere Vergangenheit Zeitzeugen zu befragen, von denen es ja viele gibt, und drittens in allen Schulen zu schauen, was und wie in der Gegenwart gearbeitet und gespielt wird und dazu mit den beteiligten Lehrerinnen und Lehrern, Schülerinnen und Schülern ins Gespräch zu kommen. Ich hatte die Freude und das Vergnügen, Gisela von Rimscha als eine der zentralen Personen der Erlanger Schultheaterlandschaft befragen zu können. Sie hat mir auch eine ganze Reihe von Quellen aus ihrer privaten Sammlung zugänglich gemacht, wofür ich sehr dankbar bin.
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ten Lehrerinnen und Lehrern und noch viel mehr engagierten Schülerinnen und Schülern in den Grundschulen, den Mittelschulen, den Realschulen, den Gymnasien, natürlich auch in der Waldorfschule. Theater wird in und mit Schulklassen gespielt, in kleinen und großen Arbeitsgemeinschaften in der Unter-, Mittel- und Oberstufe, gelegentlich auch mit der ganzen Schule; es wird auch in der gymnasialen Oberstufe als Schulfach und / oder in den Praxis-Kursen unterrichtet; es wird an verschiedensten Orten aufgeführt, in Klassenzimmern, Aulen, Turnhallen, Treppenhäusern, auf Schulhöfen und im öffentlichen Raum, in eigenen, mehr oder weniger professionell ausgestatteten Kellertheatern und auch auf den großen Bühnen der Stadt, im Theater in der Garage oder im Markgrafentheater. Dieses Theater findet sein Publikum immer in den Schulen, aber manchmal auch weit darüber hinaus. Zum festen Raumprogramm von Schulen gehören Theaterräume bisher allerdings nicht. Es ist eben (leider) noch nicht so, dass das Theater als Schulfach schon den gleichen Status hätte wie die Bildende Kunst oder die Musik, auch wenn es in Bayern schon 2001 den Weg in die Lehramtsprüfungsordnung aller allgemeinbildenden Schularten geschafft hat. Auch wenn das Theater in der Schule auch in Erlangen sicher eine lange, aber einstweilen ziemlich unbekannte Vorgeschichte hat, so lassen sich doch seit den 1970er Jahren insgesamt ein wachsendes Interesse und eine wachsende Aufmerksamkeit konstatieren. Gisela von Rimscha hat in der Diskussion über das Ende der Erlanger Studiobühne 1968 im Anschluss an den Vortrag von Lea-Sophie Schiel bereits darauf hingewiesen, dass die Impulse der Studiobühne keineswegs im Orkus verschwunden waren, sondern an anderer Stelle, nämlich in den Schulen und in der freien Szene, nach mehr oder minder kurzer Übergangszeit aufgegriffen und fortgeführt wurden.2 In einer Dokumentation zur Geschichte des Kellertheaters der Realschule am Europakanal von 1970 bis 19993 wird deutlich, dass das Theater z. B. in dieser neu gegründeten Schule von Anfang an intensiv und kontinuierlich gepf legt wurde; und es wird zugleich deutlich, welcher kommunalpolitischer Anstrengungen es seitens der Theaterlehrer und -lehrerinnen bedurfte, diese Theaterarbeit abzusichern und möglich zu machen. Man darf vermuten, dass die Einrichtung des Kellertheaters am Marie-Therese-Gymnasium mit ähnlichen Anstrengungen verbunden war: Schulen mit fest eingerichteten Theaterbühnen sind ja bis heute die absolute Ausnahme. Aber es waren keineswegs nur diese beiden besonders engagierten Schulen, in denen intensiv Theater gespielt wurde. Gespielt wurde in der ganzen Bandbreite der Theaterliteratur, von den großen Klassikern über die Märchenliteratur und modernes, absurdes und politisches 2 D er Vortrag fand am 5. Juni 2019 im Erlanger Experimentiertheater statt. Vgl. auch den Beitrag von Lea-Sophie Schiel im vorliegenden Band. 3 K ellertheater der Realschule am Europakanal 1970–1999, o. O., o. J. [Broschüre, Erlangen 1999].
Das Schultheater und die Kunst der Schule
Theater bis hin zu den verschiedensten Formen von Eigenproduktionen und Stückentwicklungen, mal auf der Basis literarischer Vorlagen, mal auf der Grundlage aktueller Ereignisse, mal auch auf Grund besonderer Vorlieben und Interessen, sei es von Lehrern oder Lehrerinnen, sei es von Schülern oder Schülerinnen. Für große Schulprojekte wurden dann ab den 1990er Jahren auch die Musicals entdeckt, die sich immer wieder als Publikumsrenner erwiesen. Es waren theaterbegeisterte Lehrerinnen und Lehrer, meist ohne spezifische Theaterausbildung, manchmal ein wenig durch Fortbildungen und durch den Austausch mit Kollegen aus anderen Schulen geschult, die diese Arbeit voranbrachten: Der kollegiale Austausch spielte eine zentrale Rolle bei der Qualifizierung. Und für diesen Austausch waren nicht nur die inzwischen in der Landesarbeitsgemeinschaft Theater und Film zusammengeschlossenen Fachverbände der Schularten Gymnasium, Realschule, Grund-, Mittel- und Förderschule, Beruf liche Oberschule mit ihren landesweiten Festivals und die in der Dillinger Akademie angebotenen Fortbildungskurse wesentlich. Wesentlich waren auch die Festivals, insbesondere die mittelfränkischen und die bayerischen Schultheatertage, die schulartspezifisch durchgeführt wurden und werden, die bayerischen in den Gymnasien seit 1957, die bayerischen in den Realschulen seit 1985, die bayerischen für Grund-, Mittel- und Förderschulen seit 2011. Hier fand und findet intensiver Austausch nicht nur zwischen den Lehrern, sondern auch zwischen den Schülern statt. Hier wurden und werden unterschiedliche Auffassungen und Ideen von Schultheater anschaulich, konnten und können kritisiert oder bewundert werden. Wesentlich war aber auch das ziemlich einzigartige lokale und schulartübergreifende Erlanger Festival des Schultheaters in Kooperation mit dem Stadttheater. Inzwischen heißt dieses Festival Erlanger Schultheatertage und es hat im Jahr 2019 zum 37. Mal stattgefunden. Im Lauf der Jahre haben spätestens hier (fast) alle Erlanger Theaterlehrer und -lehrerinnen die Vielfalt der örtlichen Schultheaterszene wahrnehmen können. Das Festival war schon allein durch die Auseinandersetzung mit der professionellen Bühne immer auch eine Art Fortbildungsveranstaltung. Dieses Festival ist seit 1981 die Brücke von den Schulen ins Theater; seit 1989 ist es institutionell abgesichert; diese Verbindung zu den Schulen zu sichern, war ein besonderes Anliegen von Andreas Hänsel, dem damaligen Intendanten des Erlanger Stadttheaters. Für vierzehn Tage im Juli stand das Theater den Schulen zur Verfügung. Und man kann in dieser Öffnung durchaus schon einen Vorläufer des »Stadttheaters der Zukunft« sehen, für dessen in der Intendanz von Katja Ott entwickeltes Programm das Erlanger Theater im Jahr 2019 den Theaterpreis des Bundes bekommen hat. In seinem Grußwort zum Programmheft des 12. Schultheaterfestivals schreibt Andreas Hänsel: »Schultheater kann und muss seinen Beitrag zu einer humanen Bildung beitragen. Dass wir die nötiger denn je
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haben in diesen Zeiten, wird niemand ernsthaft bestreiten können.«4 An diesem 12. Festival nahmen das Albert-Schweitzer-Gymnasium, das ChristianErnst-Gymnasium, das Emil-von-Behring-Gymnasium, die Friedrich-RückertSchule, die Grundschule Büchenbach-Dorf, die Grund- und Teilhauptschule Büchenbach Nord, die Loschgeschule, das Marie-Therese-Gymnasium, das Ohm-Gymnasium, die Realschule am Europakanal und die Volksschule Eltersdorf teil, und es gab erstmals die Möglichkeit zu Publikumsgesprächen, die von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Theaters Erlangen geleitet wurden. Es gab 15 Produktionen und 33 Vorstellungen. Im Jahr 2019 gab es Hamlet, Boys vs. Girls, Irgendwie anders, Lieblos – eine Machtnacht, Alice im Wunderland, Die Physiker, Grimm! Die wirklich wahre Geschichte von Rotkäppchen und ihrem Wolf!, Brummel aus der Mülltonne, Eine Mutter muss her, Nebelkind, Tom Sawyer und Your next Top Refugee! – also 12 Vorstellungen –, und es sind leider nur noch sechs Tage, die zur Verfügung stehen. Aber immerhin gibt es sie, nach wie vor. Die Schultheatertage haben einen festen Platz im Erlanger Schul- und Theaterleben. Und es ist nicht der einzige Dienst, den das Erlanger Theater den Schulen erweist. Das Theater hat seine schulbezogenen Aktivitäten an anderer Stelle erheblich ausgeweitet. Dazu später noch mehr (siehe Abschnitt 3). Aber warum sollen Kinder und Jugendliche überhaupt Theater spielen und Theater sehen?
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Warum alle Kinder und Jugendlichen aktive Erfahrungen mit dem Theater als Kunstform brauchen
Schultheater ist eine sehr besondere, eigene Form der Theaterkunst, die sich nicht nur in Erlangen in Bildung, Kultur und Wissenschaft seit langem intensiver Aufmerksamkeit erfreuen kann. Denn es ist alles andere als eine neue Forderung, dass Kinder und Jugendliche in ihrer Schulzeit aktive, eigene praktische Erfahrungen mit dem Theater machen sollen. Philipp Melanchthon (1497–1560) z. B. hat 1516 eine Schulausgabe der Stücke des römischen Autors Terenz (185– 159 v. Chr.) herausgegeben; Terenz und Plautus (254–184 v. Chr) wurden im 16. Jahrhundert auf den Schulbühnen der Humanistenschulen gespielt, vor allem in der Hoffnung, Beredsamkeit, Auftreten und Moral zu befördern. Auf die protestantische Provokation folgte dann bald die höchst erfolgreiche und eindrucksvolle jesuitische Antwort – das an den Jesuitengymnasien entwickelte Jesuitentheater war bis zur Auf lösung des Ordens im Jahre 1772 eine extrem populäre und wirksame Form der katholisch-reformatorischen Seelsorge, mit den Schülern als 4 A ndreas Hänsel: Grußwort, in: Theater Erlangen (Hg.), 12. Schultheaterfestival. 11. bis 21. Juli 1993, Erlangen 1993, o. P.
Das Schultheater und die Kunst der Schule
zentralen Akteuren. Leopold Klepacki hat 2005 die Geschichte des Schultheaters in den wesentlichen Grundzügen von der Renaissance bis heute skizziert – es ist ein, mit einer gewissen Unterbrechung im frühen und mittleren 19. Jahrhundert, durchgehender Diskurs zu konstatieren, der immer auch auf eine entsprechende Praxis bezogen war.5 Auch die aktuellen Diskurse ruhen auf diesen historischen Grundlagen. Drei Argumentationslinien sind heute besonders bedeutsam und sie lassen sich ziemlich genau historisch verorten. Zu unterscheiden sind qualifikationstheoretische, pädagogisch-anthropologische und ästhetisch-bildungstheoretische Perspektiven.
2.1 Qualifikation und Emanzipation: das Argument der Aufklärung Die qualifikationstheoretische Argumentation ist in Form von Kompetenztheorien politisch sehr beliebt und erfolgreich: So finden sich in einer frühen Version, z. B. im »Theaterkapitel« der bereits 1990 vorgelegten Landeskunstkonzeption des Landes Baden-Württemberg, folgende Ausführungen zur Begründung der Förderung des Schultheaters: »Theaterspiel kann wie keine andere Kunstform viele Bereiche vereinigen. Es dient der ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung des Schülers, indem es gleichermaßen seine rationalen wie emotionalen, intellektuellen wie kreativen, physischen wie musischen, individuellen wie sozialen Fähigkeiten fördert. Schultheater hat auch eine enge Beziehung zur Literatur, trägt zur kulturellen Entwicklung des Schülers bei und bereichert zugleich das kulturelle Angebot der Schule. In einer von raschem technologischem Wandel und von elektronischen Medien geprägten Welt gewinnt das Schultheater zunehmende Bedeutung. Es kann junge Menschen erlebnisfähiger machen, was sich positiv auf die gesamte Schulleistung und das Freizeitverhalten auswirkt. Der Schüler lernt, mit anderen auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten und selbstbewußt vor die Öffentlichkeit zu treten.« 6 Es ist evident, dass in dieser Argumentation nicht das Theater, nicht die Kunst im Mittelpunkt steht. Erwartet werden vielmehr vor allem positive Wirkungen im Sinne der allgemeinen Persönlichkeitsentwicklung. Es geht um die Zukunft, um die allgemeine Qualifikation für das moderne Leben, häufig dann auch und gerade für das beruf liche Leben: Es ist eine Argumentation in der Tradition der 5 Leopold Klepacki: »Die Geschichte des Schultheaters in Deutschland«, in: Eckart Liebau et al. (Hg.), Grundrisse des Schultheaters. Pädagogische und ästhetische Grundlegung des Darstellenden Spiels in der Schule, Weinheim / München 2005, S. 9–30. 6 Staatsministerium Baden-Württemberg: Kunst-Konzeption des Landes Baden-Württemberg, Stuttgart 1990, S. 34.
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Auf klärung, für die Erziehung zur Mündigkeit einerseits, Erziehung zu Nützlichkeit und Brauchbarkeit andererseits im Mittelpunkt stand – es geht nicht so sehr um die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Kunstform Theater und ihren Möglichkeiten und Grenzen, sondern vor allem um die erwünschten Nebenwirkungen des Theaterspielens, also um Kommunikationsfähigkeit, Kooperationsfähigkeit, Selbstbewusstsein, Empathie und Kreativität; es geht um die Befähigung zum Hinarbeiten auf ein gemeinsames Ziel und zum selbstbewussten Auftreten vor der Öffentlichkeit als Verbindung von utilitaristischer Qualifikation und gesellschaftlich-politischer Emanzipation im Blick auf eine offene, herausfordernde Zukunft. Ohne Zweifel braucht man beides; ohne Zweifel kann man das hier gut lernen; aber ohne Zweifel kann man das auch in anderen Zusammenhängen lernen – im Sport, im Handwerk, in sozialen Engagements. Ausschließlich trägt diese Argumentation nicht.
2.2 Leiblichkeit, Gegenwärtigkeit: das romantische Argument 7 Dass die eher auf klärungsorientierte Argumentation nicht hinreicht, ist freilich auch keine neue Erkenntnis. Bekanntlich haben gerade die frühen Romantiker die Auf klärungsansätze mit großem Witz und argumentativer Schärfe kritisiert; und auch wichtige Gründerväter der modernen Pädagogik – Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), Johann H. Pestalozzi (1746–1827), Friedrich D. E. Schleiermacher (1768–1834) – haben anders argumentiert. Pestalozzi hat das Stichwort gegeben: Kopf, Herz und Hand müssen gemeinsam gebildet werden, wenn der Bildungsprozess gelingen soll. Schleiermacher hat begründet, dass in der Erziehung die Gegenwart des Kindes nicht der Zukunft geopfert werden darf. Und Rousseau hat das Prinzip der altersgemäßen Erziehung stark gemacht. Damit waren die Themen Leiblichkeit und Gegenwärtigkeit und Entwicklungsangemessenheit auf dem Tisch. Sie spielen bis heute eine zentrale Rolle. Es ist evident, dass aktives Theaterspiel – neben allem anderen – vom Spieler im Kern Leibesübung und Konzentration auf die Gegenwart erfordert. Es geht also um die Aneignung von leiblichen Fähigkeiten und Dispositionen als entscheidenden Instrumenten des Spiels. Wahrnehmung und Gestaltung geraten hier in ein spannungsreiches Wechselspiel. Der Leib, der ich bin, braucht Übung, Pf lege, Aufmerksamkeit, Entwicklung; das Spiel, das ich allein, vor allem aber auch gemeinsam mit anderen spielen will, braucht Zeit, Raum, Kenntnis, Übung etc.
7 D ie beiden folgenden Abschnitte sind, leicht modifiziert und ergänzt, übernommen aus: Eckart Liebau: »Was Schultheater für die Schüler und die Schule leistet. Dimensionen theatraler Bildung«, in: Volker Jurké / Dieter Linck / Joachim Reiss (Hg.), Zukunft Schultheater. Das Fach Theater in der Bildungsdebatte, Hamburg 2008, S. 19–25.
Das Schultheater und die Kunst der Schule
Darauf lässt sich eine komplexe Begründung des Schultheaters auf bauen, die insbesondere den Prozess und damit den anthropologischen Sinn des Übens betont. Das hat auch etwas damit zu tun, dass eben nicht die Sprache das Medium der leiblichen Tätigkeit und der leiblichen Erfahrung ist, sondern der Leib selbst. Auch beim Theaterspielen ist das Skript, sei es nun vorgegeben oder selbstentwickelt, nur Voraussetzung; lebendig wird es erst durch das Spiel. Die verbale Vermittlung – und sei sie noch so ref lexiv – bleibt in allen leiblichen Bereichen unzureichend; die Tätigkeiten müssen getan, sie müssen bis zu einem befriedigenden Können und dann, bei komplexeren Aktivitäten, zur Erhaltung und Weiterentwicklung dieses Könnens immer wieder geübt werden. Es gibt dabei keine Obergrenze einer objektiven Perfektion, sondern nur subjektive Maße. Selbst scheinbar so einfache Tätigkeiten wie das Gehen auf der Bühne bedürfen der regelmäßigen Übung: die Fähigkeiten und Dispositionen stecken hier eben nicht nur im Kopf, sie stecken in den Beinen und Füßen, im Bewegungsablauf, in der Atmung etc.: Die Sinne, die Muskeln, die Koordination sind gefordert. Dass es dabei große Unterschiede je nach Alter und Entwicklungsstand der Spieler gibt und geben muss, liegt auf der Hand: Kinder können anderes als Jugendliche oder junge Erwachsene. Eine solche anthropologische Argumentation steht in bestimmter Hinsicht insbesondere in romantischer Tradition; es geht um die Entfaltung der Wahrnehmungs- und Gestaltungsfähigkeit der Person. Und das für alle Pädagogik zentrale Verhältnis von Gegenwart und Zukunft wird eher zu Gunsten der Gegenwart entschieden.
2.3 Theater als Kunstform: das bildungstheoretische Argument Aber auch die anthropologische Argumentation bleibt im Blick auf die theatrale Bildung unbefriedigend und unzureichend. Denn sie gilt für alle performativen Künste, sie gilt wiederum auch für die sportlichen Spiele, bietet also kein spezifisches Unterscheidungsmerkmal zur Begründung gerade der theatralen Bildung. Aber was macht deren Besonderheiten aus? Dieser Frage soll nun etwas genauer nachgegangen werden. Nicht zufällig wird dabei eine im engeren Sinne bildungstheoretische Perspektive im Mittelpunkt stehen, die auf die klassische, idealistisch-neuhumanistische Bildungstheorie rekurriert. Ich kann im Folgenden nur auf eine produktionsästhetische Perspektive eingehen – werk- und rezeptionsästhetische Perspektiven müssen hier aus Raumgründen ausgeklammert bleiben.8 Theater ist ein zwischenleibliches Geschehen. Die Spieler nutzen ihren Leib als Werkzeugleib, als Sinnenleib, als Erscheinungsleib, als Sozialleib und als Symbol8 Zum Verhältnis der drei ästhetischen Perspektiven im Schultheater vgl. ausführlicher Leopold Klepacki: Die Ästhetik des Schultheaters. Pädagogische, theatrale und schulische Dimensionen einer eigenständigen Kunstform, Weinheim / München 2007.
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leib, also als Instrument der Handlung, der Wahrnehmung, des Ausdrucks, der Beziehung und der Bezeichnung.9 Sie sind und bleiben dabei sie selbst; und sie sind nicht sie selbst, sondern Schauspieler; und als Schauspieler verkörpern sie nicht sich selbst, sondern etwas anderes – meistens, aber nicht notwendig Charaktere. Im Schultheater sind sie dies alles zugleich als Schüler: Sie tun ja nur so, als ob sie Schauspieler wären. Aber sie spielen wirklich Theater: mit einem Regisseur oder einer Regisseurin, der oder die nicht Regisseur oder Regisseurin, sondern in der Regel Lehrer oder Lehrerin ist; vor einem Publikum, das ein Publikum ist, das kein (normales) Publikum ist; meist in einem Raum, der ein Theater ist, das kein Theater ist; in einer Zeit, die Aufführungszeit ist und doch auch Schulzeit. Es sind also ziemlich viele Fiktionen im Spiel. Und alle sind gleichzeitig und real. Das will geübt sein. Das kann man nur hier üben. Das Spiel mit den Ebenen, das Spiel mit den Fiktionen, das Spiel mit den Möglichkeiten der Handlung, der Wahrnehmung, der Gestaltung, der Beziehung und den Zeichen konstituiert den schultheatralen Schwebezustand »des Spiels und des Scheins«, dieses Zwischenreich im Zwischenraum und der Zwischenzeit, das »dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt, und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen entbindet«, wie Friedrich Schiller (1759–1805) im 27. seiner »Briefe zur Ästhetischen Erziehung« ausgeführt hat.10 Aber dieses Zwischenreich bringt seine eigenen Zwänge, Regeln und Forderungen absolut rücksichtslos und im höchsten Maße anspruchsvoll zur Geltung und erfordert höchst theaterspezifische Fähigkeiten und Dispositionen – um dann seine eigenen Wirkungen auf Spieler und Publikum auf nicht kalkulierbare Weise zu entfalten. Genau hier liegt der Schlüssel zur bildenden Wirkung dieses Theaters. Kunst kommt von Können. Wenn die Inszenierung, die die Selbst-Inszenierung jedes einzelnen einschließt und erfordert, nicht stimmt, wenn die Spieler, jeder einzeln und alle gemeinsam, in der einmaligen Aufführung nicht präsent sind, wenn die Zeichensysteme, also die »Wörter, Stimmbeugung, Gesichtsmimikry, Gesten, Körperbewegungen, Haartracht, Kostüm, Accessoires, Bühnenbild, Beleuchtung, Musik und Geräusche«11 nicht zusammenstimmen, kommt schwaches Theater, 9 Vgl. Günther Bittner: »Erscheinungsleib, Werkzeugleib, Sinnenleib. Zur Ästhetik kindlichen Leiberlebens«, in: Ludwig Duncker / Friedemann Maurer / Gerd E. Schäfer (Hg.), Kindliche Phantasie und ästhetische Erfahrung, Langenau / Ulm 1990, S. 63–78, sowie ergänzend zum Thema Sozialleib und Symbolleib Jürgen Funke-Wienecke: »Sportpädagogik heute: Ansatz, Lehre, Forschung«, in: Knut Dietrich (Hg.), Bewegungskultur als Gegenstand der Sportwissenschaft, Hamburg 1995, S. 89–98. 10 Friedrich von Schiller: »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« [1794], in: Ders., Sämtliche Werke, Band V, München 1968, S. 406. 11 Tadeusz Kowzan: Littérature et spectacle [1975], zitiert nach Umberto Eco: »Semiotik der Theateraufführung«, in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt am Main 2002, S. 262–276, hier S. 264.
Das Schultheater und die Kunst der Schule
kommt schwache Kunst heraus. Theater ist Kunst, und Theater ist Theater, gleich, wo und von wem es gespielt wird. Und jede Form des Theaters hat ihre eigene Perfektibilität, also auch das Theater in der Schule. Dass diese Formen sich nach Alters- und Entwicklungsstufen unterscheiden, ist selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich ist es, dass hier andere Anforderungen gelten als im Profi-Theater: Schultheater ist ja dadurch definiert, dass hier junge Amateure spielen. Genau das eröffnet und begrenzt das Spektrum dieser Kunst. Aber Kunst geht in Können nicht auf: Die Spieler bringen das Spiel hervor, das Spiel bringt die Spieler hervor. Was die Aufführung mit den Spielern macht und was sie aus ihnen macht, können sie in der Probenzeit vor dem Ereignis selbst weder wissen noch gar planen. Genau das bringt sie weiter. Bildung kommt nur – wirklich ausschließlich! – zustande durch das Wechselspiel von Ich und Welt, also durch die Wechselwirkung: Ich gestalte Etwas; dieses Etwas tritt mir als Fremdes gegenüber und wirkt auf mich zurück und fordert neue Gestaltung – und immer so fort, unabschließbar. Ohne verändernden Eingriff in die Welt gibt es keine Bildung des Ich. Das Spiel tritt mir als fremd gegenüber, weil sein performativ und semiotisch erzeugter Sinn-Gehalt meine Intentionen und Imaginationen weit übersteigen. Damit muss ich mich auseinandersetzen. Den Maßstab bildet dabei das immer bessere Gelingen des Spiels. Nicht der Spieler, das Spiel steht im Mittelpunkt; der Spieler ist interessant als Medium des Spiels. Das gilt für alle Beteiligten. Die bildende Wirkung liegt an dieser Stelle. Schultheater bietet also in produktionsästhetischer Hinsicht ein Musterbeispiel für die Tragfähigkeit und den Sinn impliziter Erziehung: Es ist immer auch »moralische Anstalt« für alle Mitwirkenden; und dies ist ein notwendiger Teil seiner Dramaturgie. Theaterspielen ist also nützlich, weil es zu brauchbaren Fähigkeiten führt; es fördert die persönliche Entwicklung, weil es Leib und Sinne und damit die Wahrnehmungs- und Gestaltungsfähigkeit fordert und schult; es ist relevant, weil es in die praktische und ref lexive Auseinandersetzung mit dieser so besonderen Kunstform zwingt. Gründe für das Schultheater gibt und gab es also genug: auch in Erlangen. Aber Kinder und Jugendliche sollen nicht nur in der Schule Theater spielen, sie sollen auch das professionelle, das große Theater kennenlernen und sich mit ihm verbinden und verbünden. Das liegt jedenfalls eindeutig im Interesse des Theaters. Daher hat sich auch in Erlangen über die Schultheatertage hinaus eine vielfältige theaterpädagogische Kooperationslandschaft entwickelt; das Theater hat seinerseits f leißig und mit großem Engagement Brücken zu Kindern und Jugendlichen und in die Schulen gebaut.
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Initiativen des Theaters
In Erlangen haben wir die seltsame Situation, dass es hier ein wunderbares Barock-Theater gibt, das von außen nicht erkennbar ist.12 Es ist nicht wie in Nürnberg oder Fürth ein großer repräsentativer Bau an einem großen repräsentativen Platz, der einfach unübersehbar für jeden zeigt, dass da ein Theater bzw. eine Oper ist. Dieses Theater ist ein »hidden champion« und passt als solcher natürlich bestens in die mittelfränkische Distinktionstradition: Man protzt nicht mit Juwelen, aber man hat sie. Das Theater in Erlangen ist so versteckt, dass eben nicht jedes Kind, nicht jeder Erwachsene (und auch nicht jeder Kommunalpolitiker oder jede Kommunalpolitikerin) ganz von selbst mit der Nase darauf stößt, dass es da ist. Aber auch das Erlanger Theater braucht Publikum, und zwar möglichst schon welches mit Kindesbeinen. Umso besser, wenn dann auch Erzieherinnen und Erzieher (wo es denn solche gibt) oder Lehrerinnen und Lehrer oder Eltern mitkommen! Damit das junge Publikum Theater wahrnimmt oder dann womöglich auch noch mitwirken kann, muss es Theater kennenlernen. Und wenn die Menschen nicht von selber kommen, dann muss man eben zu ihnen hingehen. Aber der Reihe nach:13 Die wichtigste Inszenierung des Jahres ist das Weihnachtsmärchen, das auch mit größtem Aufwand und besonderer Sorgfalt inszeniert wird. 12.000 Besucher sind im letzten Jahr gezählt worden; und davon dürften etwa 70 bis 80% Kinder gewesen sein, die mit ihren Lehrern und Lehrerinnen, Erzieherinnen und Erziehern oder mit ihren Eltern ins Theater gekommen sind. Wie viele davon zum ersten Mal im Theater waren, weiß man natürlich nicht, aber dass es viele waren, ist ziemlich sicher: Das Weihnachtsmärchen ist für sehr viele Kinder das erste Theatererlebnis, das erste Mal – man weiß ja, wie wichtig so etwas sein kann. 2018 gab es Aschenputtel; und es war wieder ein großer Erfolg. Zum Weihnachtsmärchen und zu vielen anderen Kinder- und Jugendstücken muss man ins Theater kommen, zum Weihnachtsmärchen ins Markgrafentheater, zu anderen Stücken in die Garage oder auch ins Foyercafé oder das Obere Foyer – man kann sich afrikanische Geschichten erzählen lassen oder die zauberhafte Geschichte von Frederick, der Maus, die die Farben und die Sommersonne sammelt, Geschichten über die Wunder der Sprache oder über die Geheimnisse, die um die Ecke zu entdecken sind. Für die Jugendlichen und ihre Lehrer gibt es dann auch hochrelevante Klassiker wie Draußen vor der Tür (Wolfgang Borchert) oder Die Leiden des jungen Werther (nach Johann Wolfgang von Goethe). Und es laden, jetzt schon geradezu als neuer Klassiker, die Abenteuer von Tschick (Robert Koall nach 12 Vgl. auch den Beitrag von Hans Dickel im vorliegenden Band. 13 Ein herzlicher Dank geht an Susanne Ziegler, Leiterin des Künstlerischen Betriebsbüros des Theater Erlangen, und Antonia Ruhl, Theaterpädagogin ebenda, die ich zur Vorbereitung dieses Abschnitts ausführlich befragen konnte.
Das Schultheater und die Kunst der Schule
Wolfgang Herrndorf) zur Auseinandersetzung ein. Zu solchen Veranstaltungen muss man ins Theater gehen, genauso wie zu den Aufführungen, die, durchaus gezielt gelegentlich auch zum Schulstoff passend, im ganz normalen Repertoire gespielt werden, in der Saison 2018/19 z. B. Der zerbrochene Krug (Heinrich von Kleist), Farm der Tiere – Alle Tiere sind gleich (Klaus Gehre nach George Orwell / Peter Hall), Der auf haltsame Aufstieg des Arturo Ui (Bertolt Brecht). Das ist Theater im Theater nicht nur, aber auch für die Schule. Dabei gibt es dann zu ausgewählten Kinder- und Jugendstücken und den Inszenierungen im Schüler*innen-Abo14 (denn auch das ist gut eingeführt) auch noch Materialmappen, mit denen in den Schulen weitergearbeitet werden kann. Man kann sich auch durchs Theater führen lassen, um zu entdecken, was da alles dazugehört. Theater für die Schule gibt es seit einiger Zeit aber auch noch in einer zweiten, sehr erfolgreichen Form, nämlich als Theater des Theaters in der Schule, und zwar auf Einladung durch die Lehrer: Da werden die »mobilen Stücke« für die Schüler und Schülerinnen der Sekundarstufe I im Klassenraum aufgeführt. In dem von Karoline Felsmann und Susanne Ziegler herausgegebenen, sehr lesenswerten Buch zum 300-jährigen Jubiläum des Marrkgrafentheaters Erlangen berichtet Camilla Schlie, eine der mittlerweile zwei Theaterpädagoginnen am Theater Erlangen, dazu: »Mit ein bis zwei Schauspieler*innen und einer Koffer- bis zu einer Kofferraum-Ladung Requisiten kommen wir direkt ins Klassenzimmer, spielen vor den Nasenspitzen der Schüler*innen und geben die Möglichkeit zum theaterpädagogisch moderierten Publikumsgespräch.«15 Äußerst erfolgreich war und ist Huck Finn (ab 10) (Max Eipp nach Mark Twain), im Angebot waren auch z. B. Malala – Mädchen mit Buch (ab 12) (Nick Wood), und für die etwas Älteren Klamms Krieg (ab 15) (Kai Hensel nach Martin Walser). Immer steht die Hoffnung dahinter, dass die Schüler und Schülerinnen sich dann auch einmal auf den Weg ins Theater machen werden. Insgesamt waren es um die 5.000 junge Menschen, die in den verschiedenen vom Theater für Kinder und Jugendliche angebotenen Formaten in der Spielzeit 2018/19 erreicht werden konnten. Und wenn die Schüler und Schülerinnen erst mal richtig Feuer gefangen haben, dann können sie sich auch in den verschiedenen Jugendclubs des Theaters engagieren. Was dabei herauskommen kann, ist sogar die Verleihung des Theaterpreises des Förderverein Theater Erlangen, der Sonja Hilpert für die gemeinsam mit den Jugendlichen erarbeitete Aufführung von Hamlet im Jahre 2008 zugesprochen wurde. 14 Hier und im Folgenden ist das Gender-Sternchen ein Zitat. 15 Camilla Schlie: »Lieber die Kultur in der Hand als die Kunst auf dem Dach. Vermittlungsarbeit im Theater«, in: Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.), 300 Jahre Theater Erlangen. Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2019, S. 211f., hier S. 212.
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Vielleicht hatten die Schüler und Schülerinnen aber auch das Glück, schon mit anderen Formaten des Theaters Erfahrungen gemacht zu haben, sich z. B. schon als Patenklasse oder gar Patenjahrgang mit einzelnen Inszenierungen und dem Theater beschäftigt zu haben – oder aber Schüler oder Schülerin in einer der eng kooperierenden Partnerschulen zu sein, der Eichendorff-Schule, dem Marie-Therese-Gymnasium oder der Realschule am Europakanal. Und wenn sie z. B. in der Eichendorff-Schule waren, dann konnten sie auch direkt oder indirekt der Universität begegnen, die da insbesondere in Gestalt von Leopold Klepacki (Institut für Pädagogik der FAU) am Schulentwicklungsprozess kräftig beteiligt war und ist – nicht zufällig einer der führenden deutschen Experten für Schultheater.
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Initiativen an der Universität
Drei Initiativen sind hier zu nennen: die Einrichtung des Erweiterungsstudiengangs Darstellendes Spiel in der Schule, die Gründung der Akademie für Schultheater und Theaterpädagogik, inzwischen umbenannt in Akademie für Schultheater und performative Bildung und die Gründung der Zeitschrift Schultheater.16
4.1 Der Studiengang An der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg wird am Institut für Pädagogik und am Institut für Theater- und Medienwissenschaft seit Ende der 1990er Jahre über Schultheater geforscht und werden Lehrer und Lehrerinnen aller allgemeinbildenden Schularten für das Schultheater aus- und fortgebildet. Dass das so gekommen ist, hat sehr viel mit Dieter Linck zu tun, dem leider 2013 viel zu früh gestorbenen unermüdlichen Streiter für das Schultheater, Mitgründer und langjährigen Vorsitzenden des Landesverbandes Theater am Gymnasium in Bayern und später, bis zu seinem Tod, Vorsitzenden des Bundesverbands Thea16 Zu nennen wären darüber hinaus die umfangreichen Forschungsaktivitäten, die auch zu einigen richtungsweisenden Publikationen zum Thema geführt haben: Eckart Liebau et al. (Hg.): Grundrisse des Schultheaters. Pädagogische und ästhetische Grundlegung des Darstellenden Spiels in der Schule, Weinheim / München 2005; L. Klepacki: Ästhetik des Schultheaters; Vanessa-Isabelle Reinwand: »Ohne Kunst wäre das Leben ärmer«. Zur biografischen Bedeutung aktiver Theater-Erfahrung, München 2008; Eckart Liebau / Leopold Klepacki / Jörg Zirfas: Theatrale Bildung. Theaterpädagogische Grundlagen und kulturpädagogische Perspektiven für die Schule, Weinheim / München 2009; Leopold Klepacki / Jörg Zirfas: Theatrale Didaktik. Ein pädagogischer Grundriss des schulischen Theaterunterrichts, Weinheim / Basel 2013; Katrin Valentin: Die Zusammenarbeit zwischen Schule und Theater. Empirische Ergebnisse für die Fachdebatte und hilfreiche Reflexionen für die Praxis, Münster u. a. 2013; Tanja Klepacki: Bildungsprozesse im Schultheater. Eine ethnographische Studie, Münster / New York 2016.
Das Schultheater und die Kunst der Schule
ter in Schulen. Dieter Linck, Lehrer am Hans-Sachs-Gymnasium in Nürnberg, war seit Ende der 1990er Jahre Lehrbeauftragter für Schultheater am Institut für Pädagogik, in dem es damals schon einen Schwerpunkt Ästhetische Bildung gab. Seine Seminare fanden große Resonanz bei den Lehramtsstudierenden und den Studierenden der Pädagogik und der Theaterwissenschaft. Diese Resonanz führte zu dem Plan, die in den 1980er Jahren in München gescheiterte Idee eines Lehramtsstudiengangs für Darstellendes Spiel erneut aufzugreifen und nun in Erlangen umzusetzen. Henri Schoenmakers, damals Lehrstuhlinhaber der Theater- und Medienwissenschaft, Dieter Linck und ich haben dann Kontakt zum Kultusministerium aufgenommen, fanden bei Michael Weidenhiller, dem damals neuen Referenten für Darstellendes Spiel, ein sehr offenes Ohr und konnten dann auf seine Vermittlung mit dem damaligen Amtschef des Kultusministeriums, dem Ministerialdirigenten Josef Erhard, ein ausführliches, folgenreiches Beratungsgespräch führen – denn auf diese Beratung geht die Entscheidung zurück, keinen grundständigen Studiengang Darstellendes Spiel, sondern einen Erweiterungsstudiengang Darstellendes Spiel zu planen und zu beantragen. Das war und ist kein kleiner, sondern ein großer Unterschied: Auch ein Erweiterungsstudiengang führt zum Staatsexamen, aber er ist kürzer, er hat weniger Semesterwochenstunden, ist offen für alle Schularten und er ist sowohl als Teil eines Lehramtsstudiums als auch berufsbegleitend studierbar. Man muss kein eigenes Referendariat für dieses Fach durchlaufen; der Abschluss wird vielmehr nach Abschluss des Referendariats in den anderen Fächern als Teil der Gesamtqualifikation anerkannt. Als wir dann der damaligen Kultusministerin Monika Hohlmeier im Rahmen einer Nürnberger Veranstaltung diesen Plan vortragen konnten, trafen wir auch bei ihr auf großes Interesse. Sie fand unsere Argumente offenbar einleuchtend, dass unter den bildungspolitischen Forderungen nach zukunftsweisenden Unterrichtskonzepten wie offener Unterricht, Projektunterricht und ähnlichem dem Theater eine zentrale Bedeutung zukomme und dass Theater als ein wichtiger Bestandteil von Schulkultur und pädagogischer Schulentwicklung gesehen werden müsse, weil es für kreative Prozesse einen festen institutionellen Rahmen bereite.17 Im Dezember des Jahres 2000 genehmigte das Kultusministerium grundsätzlich den Plan der Einrichtung des Erweiterungsstudiengangs für das Fach Darstellendes Spiel, der dann auch in der Lehramtsprüfungsordnung I (LPO I), dem heiligen Buch der bayerischen Schule, verankert werden sollte. Eine beim Kultusministerium eingerichtete Fachkommission arbeitete den Plan aus, und 17 Vgl. ausführlicher Dieter Linck: »Erweiterungsstudium ›Darstellendes Spiel‹ an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg«, in: Eckart Liebau et al. (Hg.), Grundrisse des Schultheaters. Pädagogische und ästhetische Grundlegung des Darstellenden Spiels in der Schule, Weinheim / München 2005, S. 181–194.
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2001 war es soweit: Der Studiengang war in der LPO verankert, und Dieter Linck wurde mit halber Stelle an das Institut für Pädagogik für diesen neuen interdisziplinären Studiengang abgeordnet. Es war ein Wunder mit nicht nur bayerischer, sondern bundesweiter Bedeutung und Wirkung geschehen. Seit dem Wintersemester 2001/2002 bieten das Institut für Pädagogik und das Institut für Theater- und Medienwissenschaft ein Erweiterungsstudium Darstellendes Spiel an. Das Studium schließt mit der 1. Lehramtsprüfung ab und steht Lehramtsstudentinnen und -studenten aller Schularten und aller Fächerverbindungen sowie allen Lehrerinnen und Lehrern im Rahmen einer nachträglichen Erweiterung offen. Es umfasst mindestens vier Semester und 44 Semesterwochenstunden. Die Vernetzung von Theorie und Praxis prägt das besondere Profil des Studiengangs, wie auch das Theater als Schulfach. Dieser gemeinsam vom Institut für Pädagogik und dem Institut für Theater- und Medienwissenschaft getragene interdisziplinäre Studiengang ist seither äußerst erfolgreich und immer mit Unterstützung durch das Kultusministerium in Form von Abordnungen realisiert worden: auf Dieter Linck folgte Maximilian Weig; inzwischen ist es Sabine Köstler-Kilian, die sich nun sogar mit voller Stelle für den Studiengang engagieren kann. Sehr erfreulich ist es, dass inzwischen der Erweiterungsstudiengang auch an der Universität Bayreuth als einem zweiten bayerischen Standort angeboten wird. In Bayern ist Darstellendes Spiel / Theater in der Oberstufe im Profilbereich bereits eingeführtes Schulfach. In der gymnasialen Oberstufe wird Theater oft noch zusätzlich als Thema eines Projektseminars zur Studien- und Berufsorientierung oder eines wissenschaftspropädeutischen Seminars angeboten. In der Sekundarstufe I können Theaterklassen eingerichtet werden, für die Theater als zusätzliches verpf lichtendes Unterrichtsfach in der regulären Stundentafel verankert ist. Auch im gebundenen und offenen Ganztag wird Theater als projektorientiertes Unterrichtsfach häufig angeboten. Darüber hinaus finden sich in allen Schularten Arbeitsgemeinschaften und Wahlkurse in hoher Anzahl. Es ist sehr erfreulich, dass in diesen Kontexten immer mehr Lehrer und Lehrerinnen mit einer qualifizierten Ausbildung tätig werden können. Aber es sind eben längst nicht alle im Fach Theater Unterrichtenden, die eine solche universitäre Ausbildung durchlaufen haben: dass nicht nur der Ausbildungs-, sondern auch der Fortbildungsbedarf groß war und ist, war offensichtlich und führte schon bald nach der Einführung des Studiengangs zu der Frage, wie denn wohl darauf geantwortet werden könnte.
Das Schultheater und die Kunst der Schule
4.2 Die Akademie Bei einer Tagung in der Evangelischen Akademie Tutzing im Jahre 2004 wurde die Idee für eine an der Universität neu zu gründende Akademie für Schultheater und Theaterpädagogik (heute: Akademie für Schultheater und performative Bildung) geboren und in die »Tutzinger Thesen zum Schultheater« aufgenommen. Aber es hat dann doch eine ganze Weile, nämlich bis 2009 gedauert, bis aus dieser Idee eine Institution werden konnte. Und wieder war es eine sehr besondere Konstellation, die die Einrichtung dieser Institution möglich machte, die nun gemeinschaftlich von der Friedrich-Alexander-Universität, der Stadt Nürnberg und dem Kultusministerium getragen wird. Organisatorisch ist sie inzwischen am Lehrstuhl für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Kultur und ästhetische Bildung verankert und wird von dem Lehrstuhlinhaber, Benjamin Jörissen, in Abstimmung mit den Vertretern der drei Träger geleitet. Tanja Klepacki ist als wissenschaftliche und operative Leiterin der Geschäftsstelle für die Akademie tätig. Zentrale Tätigkeitsfelder der Akademie für Schultheater und performative Bildung sind Fort- und Weiterbildungen sowie Praxisforschung im Bereich des Schultheaters. Die Besonderheit der Akademie gegenüber anderen theaterpädagogischen Einrichtungen liegt dabei in der engen Verbindung von Theorie und Praxis sowie dem damit verbundenen produktiven Austausch von Pädagogen, Wissenschaftlern und Künstlern, der es erlaubt, laufend neue Erkenntnisse in das jeweils aktuelle Kurs- und Veranstaltungsangebot einf ließen zu lassen. Das Fort- und Weiterbildungsangebot der Akademie richtet sich derzeit insbesondere an (Theater-)Lehrer sämtlicher Schularten, die im Bereich des Schultheaters oder im Bereich des Szenischen Lernens (Theater als Unterrichtsmethode) arbeiten bzw. arbeiten wollen. Die Akademieleitung wird in ihrer Arbeit durch einen Fachbeirat, dem Experten aus Wissenschaft, Schulverwaltung, Kunst und Öffentlichkeit angehören, beraten. Sie residiert heute, nach einer langen Zeit räumlicher Improvisation, mit eigenen Räumen in der 2016 eröffneten Kulturwerkstatt auf AEG. Zentrale Elemente im Fortbildungsprogramm der Akademie sind derzeit Kurse in den Bereichen »Darstellendes Spiel / Theater« und »Szenisches Lernen«. Dabei richten sich die Kurse sowohl an Anfänger und Interessierte als auch an Lehrkräfte, die bereits seit vielen Jahren Theater unterrichten. Im ersten Fall erhalten die Teilnehmer eine umfassende Fortbildung in Bereichen wie Schauspieltheorie und -praxis, Regie und Dramaturgie, Sprache und Sprechen, Didaktik des Schultheaters, Improvisation wie Körperarbeit. Darüber hinaus bietet die Akademie ein zweistufiges Kursangebot für den Bereich des Szenischen Lernens zum Theater als Unterrichtsmethode an. In einem Grundkurs werden die Grundlagen und Zielsetzungen des Szenischen Lernens für die Arbeit in Schule und Unterricht vorgestellt. In verschiedenen Auf baukursen
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werden beispielsweise bestimmte Unterrichtsfächer oder unterschiedliche theatrale Verfahren und Ansätze genauer in den Blick genommen. Mit dem Studiengang und der Akademie lassen sich zwar durchaus viele Theaterlehrerinnen und -lehrer erreichen, vor allem in Bayern – aber doch längst nicht alle. Um möglichst alle Interessierten erreichen zu können und insgesamt die Professionalisierung des Schultheaters voranzubringen, fehlte eine praxisorientierte Fachzeitschrift. Und so wurde dann, gewissermaßen zur Abrundung des Programms, im Jahre 2009 die Idee einer solchen Zeitschrift geboren – und es wurde der Friedrich-Verlag gefunden, der, Fritz Seydel sei Dank, bereit war, eine solche Zeitschrift zu wagen.
4.3 Die Zeitschrift Schultheater – Wahrnehmung, Gestaltung, Spiel In der aktuellen Verlagswerbung, die sich vor allem an Theater unterrichtende Lehrerinnen und Lehrer richtet, wird die Zeitschrift folgendermaßen vorgestellt: »Schultheater ist die erste Praxiszeitschrift, die sich ausschließlich der Theaterarbeit an Schulen widmet. Wir wollen alle Lehrerinnen und Lehrer fachlich, didaktisch-methodisch und pädagogisch in ihrer Arbeit unterstützen, sie mit unserer Begeisterung für das Theater anstecken und ihnen somit Lust und Mut für die Theaterarbeit machen. Schultheater bietet kompakt Praxis und Hintergrundwissen für Ihre Schultheaterarbeit bzw. für die Ihre unterrichtliche Tätigkeit als Theaterlehrer bzw. Theaterlehrerin. [...] Schultheater möchte darüber hinaus das Netzwerk unterstützen, das sich im deutschsprachigen Raum für Theater in Schulen engagiert. Im Magazin-Teil geben wir deshalb Hinweise auf Veranstaltungen und fachpolitische Entwicklungen und rezensieren aktuelle Publikationen. Die Vorstellungen von Projekten, Institutionen und Theatermachern sollen den Blick über den Tellerrand ermöglichen.« 18 Und so geschieht es nun auch – inzwischen (Mai 2019) ist das 37. Heft dieser vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift erschienen.
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Kontexte
Es wäre schön, wenn man sagen könnte, dass Erlangen einfach ein exemplarischer Fall sei und ähnliche Entwicklungen überall in Deutschland zu finden sind. Das ist nicht der Fall. Aber es hat in den letzten zwanzig Jahren eine deutliche 18 Vgl. URL: https://www.friedrich-verlag.de/sekundarstufe/aesthetische-faecher/theater/schul theater [zuletzt abgerufen am 26. Juli 2019].
Das Schultheater und die Kunst der Schule
Stärkung des Schultheaters und der schulbezogenen Theaterpädagogik insgesamt gegeben. Es gibt bundesweit eine sehr lebendige Praxis und auch einen sehr lebhaften Diskurs. Die traditionelle und nach wie vor am stärksten verbreitete Form des Theaterangebots an der Schule war und ist die Arbeitsgemeinschaft: die »Theater-AG«. Aber Theater findet auch in Form von Klassenprojekten oder klassenübergreifenden Projekten statt. Das für Noten und Abschlüsse zählende Schulfach Darstellendes Spiel – als drittes künstlerisches Fach neben Musik und Kunst – ist in nunmehr zehn Bundesländern19 als Wahlfach oder Wahlpf lichtfach eingeführt, darüber hinaus in Baden-Württemberg als Kombinationsfach »Literatur und Theater«. Die Regelungen sind in den Bundesländern sehr unterschiedlich. Für die Professionalisierung ist jedoch nicht nur die politisch zu entscheidende Einrichtung des Fachs an den Schulen von hoher Bedeutung, sondern vor allem die Qualifizierung der Lehrer. Auch hier gibt es Fortschritte im akademischen Ausbildungsangebot, doch ist es ein langwieriger Prozess. Auf der informativen Homepage20 des sehr rührigen und für die Fachentwicklung äußerst verdienstvollen Bundesverbands Theater in Schulen (BVTS) werden neben den bayerischen Erweiterungsstudiengängen in Erlangen und Bayreuth der niedersächsische, von mehreren Hochschulen gemeinsam angebotene »Kooperationsstudiengang Darstellendes Spiel«, der Studiengang »Theater für das Lehramt« in Rostock, der Erweiterungsstudiengang »Spiel- und Theaterpädagogik« an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, der Lehramtsstudiengang für das Fach Theater an der Universität der Künste Berlin, der Erweiterungsstudiengang »Darstellendes Spiel« an der Universität Koblenz-Landau sowie ein grundschulpädagogischer Lernbereich und ein Studienelement »Spiel und Theater« an der Universität Hamburg aufgeführt. Die beteiligten Hochschulen sind ausnahmslos seit vielen Jahren im Bereich des Darstellenden Spiels engagiert. Aber die akademische Etablierung eigenständiger Studiengänge geht noch immer erst langsam voran. Fortbildungszentren für das Schultheater finden sich in Nürnberg, Hamburg, Frankfurt am Main, Berlin / Brandenburg und Heidelberg; darüber hinaus bieten die Landesinstitute für Lehrerfortbildung in allen Bundesländern entsprechende Kurse an. In dem äußerst vielfältigen Bereich der außerschulischen Theaterpädagogik, also der theaterpädagogischen Angebote der Staats- und Stadttheater, aber auch der freien Szene und der unterschiedlichsten Anbieter in kultur-, sozial- und freizeitpädagogischen Feldern, ist die Situation noch einmal erheblich offener. Hier ist, wenn überhaupt, immer nur ein Teil der Aktivitäten auf die Schule und Kinder und Jugendliche in ihrer Schülerrolle bezogen. Auch in der Ausbildung für die außerschulische Theaterpädagogik spielt die Schule in der Regel nur eine unterge19 Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein. 20 Vgl. URL: http://www.bvts.org [zuletzt abgerufen am 30. August 2019].
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ordnete Rolle. Ein gemeinsames Kennzeichen schulischer und außerschulischer Theaterpädagogik liegt indessen in der Überzeugung, dass produktive und rezeptive Theatererfahrungen einen wesentlichen Bestandteil kindlicher und jugendlicher Bildungsprozesse bilden müssen: Theater muss sein.
Literaturverzeichnis Günther Bittner: »Erscheinungsleib, Werkzeugleib, Sinnenleib. Zur Ästhetik kindlichen Leiberlebens«, in: Ludwig Duncker / Friedemann Maurer / Gerd E. Schäfer (Hg.), Kindliche Phantasie und ästhetische Erfahrung, Langenau / Ulm 1990, S. 63–78. Umberto Eco: »Semiotik der Theateraufführung«, in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft. Frankfurt am Main 2002, S. 262–276. Jürgen Funke-Wienecke: »Sportpädagogik heute: Ansatz, Lehre, Forschung«, in: Knut Dietrich (Hg.), Bewegungskultur als Gegenstand der Sportwissenschaft, Hamburg 1995, S. 89–98. Andreas Hänsel: Grußwort, in: Theater Erlangen (Hg.), 12. Schultheaterfestival. 11. bis 21. Juli 1993, Erlangen 1993, o. P. Kellertheater der Realschule am Europakanal 1970–1999, o. O., o. J. [Broschüre, Erlangen 1999]. Leopold Klepacki: »Die Geschichte des Schultheaters in Deutschland«, in: Eckart Liebau et al. (Hg.), Grundrisse des Schultheaters. Pädagogische und ästhetische Grundlegung des Darstellenden Spiels in der Schule, Weinheim / München 2005, S. 9–30. Leopold Klepacki: Die Ästhetik des Schultheaters. Pädagogische, theatrale und schulische Dimensionen einer eigenständigen Kunstform, Weinheim / München 2007. Leopold Klepacki / Jörg Zirfas: Theatrale Didaktik. Ein pädagogischer Grundriss des schulischen Theaterunterrichts, Weinheim / Basel 2013. Tanja Klepacki: Bildungsprozesse im Schultheater. Eine ethnographische Studie, Münster / New York 2016. Eckart Liebau et al. (Hg.): Grundrisse des Schultheaters. Pädagogische und ästhetische Grundlegung des Darstellenden Spiels in der Schule, Weinheim / München 2005. Eckart Liebau: »Was Schultheater für die Schüler und die Schule leistet. Dimensionen theatraler Bildung«, in: Volker Jurké / Dieter Linck / Joachim Reiss (Hg.), Zukunft Schultheater. Das Fach Theater in der Bildungsdebatte, Hamburg 2008, S. 19–25.
Das Schultheater und die Kunst der Schule
Eckart Liebau / Leopold Klepacki / Jörg Zirfas: Theatrale Bildung. Theaterpädagogische Grundlagen und kulturpädagogische Perspektiven für die Schule, Weinheim / München 2009. Dieter Linck: »Erweiterungsstudium ›Darstellendes Spiel‹ an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg«, in: Eckart Liebau et al. (Hg.), Grundrisse des Schultheaters. Pädagogische und ästhetische Grundlegung des Darstellenden Spiels in der Schule, Weinheim / München 2005, S. 181–194. Vanessa-Isabelle Reinwand: »Ohne Kunst wäre das Leben ärmer«. Zur biografischen Bedeutung aktiver Theater-Erfahrung, München 2008. Friedrich von Schiller: »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« [1794], in: Ders., Sämtliche Werke, Band V, München 1968. Camilla Schlie: »Lieber die Kultur in der Hand als die Kunst auf dem Dach. Vermittlungsarbeit im Theater«, in: Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.), 300 Jahre Theater Erlangen. Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2019, S. 211f. Staatsministerium Baden-Württemberg: Kunst-Konzeption des Landes Baden-Württemberg, Stuttgart 1990. Katrin Valentin: Die Zusammenarbeit zwischen Schule und Theater. Empirische Ergebnisse für die Fachdebatte und hilfreiche Ref lexionen für die Praxis, Münster u. a. 2013.
Internet https://www.friedrich-verlag.de/sekundarstufe/aesthetische-faecher/theater/ schultheater [zuletzt abgerufen am 26. Juli 2019]. http://www.bvts.org [zuletzt abgerufen am 30. August 2019].
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Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
Ausnahmezustand – Vom barocken Festspiel zur Event-Kultur Reflexionen zur Ereignishaftigkeit von Kulturveranstaltungen am Beispiel der Erlanger Festivals Bodo Birk
Brückenschlag »Daselbst war eine grosse und herrliche Tafel / auf so ungemeine und sonderbare art aufgerichtet / daß die augen aller anschauenden sich darüber verwundern musten. […] Deren ganze bekleidung war ein Lustgarten von lauter Zucker / womit sie über und über bedecket ware. Selbiger garten schiene in drey gleiche theile unterschieden zu seyn / deren jeder einerley auszierung hatte. Das äußerste / nach der länge der Tafel/ waren vier reihen Lorbeer-Bäume / auf jeder seite zwey reihen neben einander / welche durch die Tafel durch giengen […]. An jedem dieser Lorbeer-Bäume hienge ein Sinnbild / auf länglichtrunde Täfelein gemahlet / und auf Einweihung der Kirche / Geburts=Tag der Herzogin / und beyde Adeliche Verlöbniße zielende. […] Hinter ernandten Lorbeer=Bäumen / sahe man um die ganze Tafel herum ordentlich eingetheilte Beete und garten-felder / mit vielfärbigten condirten und allerhand safft-zuckern angefüllet : die nicht anderst / als eine angenehme Vermischung unterschiedlicher und ohnzahlbarer schöner blumen / die augen ergetzten. Hieran stießen zierlich condirter Mandeln / die gestalt der angenehmsten gras=plätze vorstelleten; die gänge darzwischen waren von lauter kleinem röthlich- und gelblichtem Zucker / welcher rechter natürlicher sand zu seyn schiene / überdecket. In jedem theil dieses künstlichen gartens […] stunde in der Mitten ein grosser brunn von Zucker / aus welchem 5. springende Wasser von klarem candirtem Zucker in die höhe stiegen.«1
1 F riedrich Christian Bressand: Salzthalischer Mäyen-Schluß: oder Beschreibung der auf den höchsterfreulichen Geburts-Tag der Durchlauchtigsten Fürstin und Frauen / Elisabetha Juliana / Herzogin zu Braunschweig und Lüneburg […] in Salzthal angestellter Lustbarkeiten / Im Jahr 1694, Wolfenbüttel 1694, o. P. Online verfügbar unter Festkultur Online, ein Projekt der Herzog August
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Abb. 1–3: Eva Meyer-Keller: Cooking Catastrophes, 19. Figurentheater-Festival 2015, E-Werk Erlangen
Internationales
Ausnahmezustand
So wird das Schau-Essen anlässlich des Geburtstags der Herzogin Elisabetha Juliana von Braunschweig-Lüneburg aus dem Jahr 1694 beschrieben. Dazu habe ich Bilder der Performance Cooking Catastrophes von Eva Meyer-Keller ausgewählt, die während des 19. Internationalen Figurentheater-Festivals 2015 im Erlanger E-Werk aufgenommen wurden (Abb. 1–3). Eva Meyer-Keller wirkte auch an dem performativen Experiment des Kulturamts und des Instituts für Theater- und Medienwissenschaft Projekt 1719: Elefanten in Erlangen – Eine Spurensuche mit, mit dem das 21. internationale figuren.theater.festival 2019 2 den 300. Geburtstag des Markgrafentheaters gewürdigt hat. Aufwendig gestaltete Buffet-Landschaften, bei denen tatsächlich häufig die Optik wichtiger war als der Geschmack – manchmal wurden diese kulinarischen Kunstwerke auch gar nicht gegessen –, waren unverzichtbarer Bestandteil der barocken Festkultur. Die Katastrophen von Eva Meyer-Keller konnte man übrigens schon essen. Sie sollen sogar sehr lecker gewesen sein. Ich habe meinem Beitrag den Titel »Ausnahmezustand – Vom barocken Festspiel zur Event-Kultur. Ref lexionen zur Ereignishaftigkeit von Kulturveranstaltungen am Beispiel der Erlanger Festivals« gegeben. Dabei soll keineswegs der Eindruck erweckt werden, dass sich von den höfischen Festen der Barockzeit zu den modernen Kultur-Festivals von heute eine plausible Entwicklungslinie aufzeigen ließe. Zu viele grundlegende Unterschiede drängen sich auf. Aber es gibt natürlich auch viele wichtige Parallelen, mit denen es sich zu beschäftigen lohnt und die weit über die in Erlangen immer noch weitgehend identischen Schauplätze hinausgehen (Abb. 4–9). Ich werde also versuchen, auf den nächsten Seiten eine Reise durch 300 Jahre zu unternehmen, das barocke Fest dahingehend zu beleuchten, was es für uns heute noch interessant macht, auf die kulturellen Leistungen der Festkultur des 17. und 18. Jahrhunderts eingehen und Unterschiede und Parallelen zu heutigen »Kultur-Events«, wie man so unschön sagt, herauszuarbeiten. Vor dem Hintergrund einer zunehmend kritischen Betrachtung von Events und einer Festivalisierung des kulturellen Lebens, möchte ich im Weiteren gerne eine Lanze für die Festivals brechen und darlegen, welche wichtige Rolle – vor allem auch im Bereich des Theaters – Festivals heute spielen, welche Potenziale sie hinsichtlich der Vermittlung komplexer performativer Praktiken und Inhalte
Bibliothek, URL: http://diglib.hab.de/drucke/textb-362/start.htm [zuletzt abgerufen am 30. September 2019]. 2 Im vorliegenden Beitrag werden verschiedene Schreibweisen für das Internationale Figurentheater-Festival verwendet: Wenn allgemein vom Festival die Rede ist, dann wird die Schreibweise »Internationales Figurentheater-Festival« verwendet. Im Jahr 2017 wurde der Eigenname in »internationales figuren.theater.festival« geändert. Deshalb wird, wenn konkret von den Festivals 2017 und 2019 die Rede ist, diese Schreibweise eingehalten.
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bergen und welche wichtige Rolle sie beim Zugang zu neuen Zielgruppen spielen können. Anschließend werde ich dann ein wenig genauer auf das in Erlangen stattfindende Internationale Figurentheater-Festival, seine Geschichte, Entwicklung und heutige Ausrichtung eingehen, um abschließend die Herausforderungen anzusprechen, vor denen Festivals in einer an Inszenierungen und Ereignissen gesättigten Gesellschaft heute stehen, verbunden mit einigen kurzen Beispielen aus dem Programm des 21. internationalen figuren.theater.festivals 2019.
Fest, Festspiel, Festival Was ist überhaupt ein Fest? Nach dem Metzler Lexikon Theatertheorie sind Feste »besondere, aus dem Alltag herausragende Ereignisse. Ihnen liegt ein Anlass zugrunde, der religiöser, sozialer, politischer, jahreszeitlicher oder lebensgeschichtlicher Natur sein kann«3. Erika Fischer-Lichte und Matthias Warstat definieren Feste in der Einleitung des von ihnen herausgegebenen Buchs Staging Festivity als »cultural performances«, die sich durch eine doppelte Dialektik auszeichnen: als Gegensatz von Zeremonialität und Exzessivität. So unterliegt ein Fest in der Regel einem genauen Reglement, die Quintessenz liegt jedoch darin, Regeln und Beschränkungen des Alltags zu überschreiten, zugunsten einer rauschhaften Verausgabung oder einer intensiven Gemeinschaftserfahrung. Der zweite Gegensatz betrifft die Zeitverhältnisse: Einerseits sind die Feste in die Routinen der Alltagszeit eingebettet, indem sie sich regelmäßig wiederholen, andererseits ermöglichen sie auch in zeitlicher Hinsicht eine Überwindung der Alltagszeit, weil sie eine eigene Zeit zu konstituieren scheinen, die die eingespielte Zeitgestaltung des Alltags unterbricht.4 Matthias Warstat führt im Lexikon Theatertheorie weiter aus, wie eng Theater und Fest über Jahrtausende verbunden waren. Erst in der Neuzeit begann sich das Theater als eigene, unabhängige, institutionalisierte Kunstform zu etablieren. Im 19. Jahrhundert kam es noch einmal zu einer Revitalisierung des Festspielgedankens. Als Beispiel dafür führt Warstat Richard Wagners Festspielmodell an. Im Kern ging es Wagner darum, die seinerzeit – und bis heute – theatertypische Trennung von Agierenden und Zuschauenden in einer homogenen Festgemeinde aufzuheben. Indem das Festspiel aus passiven Zuschauerinnen und Zuschauern eine Gemeinschaft aktiver Aufführungsteilnehmender machte, sollte es die 3 Matthias Warstat: Artikel »Fest«, in: Erika Fischer-Lichte / Doris Kolesch / Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 101–104, hier S. 101. 4 Vgl. Erika Fischer-Lichte / Matthias Warstat: Staging Festivity. Theater und Fest in Europa, Tübingen 2009, S. 9–16.
Ausnahmezustand
Abb. 4–9: Andere Zeiten, die gleichen Schauplätze: Markgrafentheater, Orangerie und Redoutensaal in Randbildern aus dem Plan des Erlanger Schlossgartens von Johan Baptist Homann (1721) und heute: Philippe Quesne: Die Nacht der Maulwürfe im Markgrafentheater, die Erlanger Orangerie beim 37. Erlanger Poetenfest, Auf bausituation im Redoutensaal beim 20. internationales figuren.theater.festival, alle 2017
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Voraussetzung für die Entstehung eines Gesamtkunstwerks schaffen. Die Transformation von Theaterkonsum in Zuschaukunst. Eine Vorstellung, die uns als Festivalmacherinnen und -macher auch heute noch durchaus vorschweben kann. Fischer-Lichte und Warstat konstatieren für die Gegenwart eine Auszehrung des Festbegriffs im Schatten einer wachsenden Vergnügungsindustrie und zunehmender kommerzieller Events. Im Kulturbereich spricht man heute weniger von Festspielen (von Bayreuth und Salzburg einmal abgesehen), geschweige denn von Festen, sondern von Festivals. Fest und Festival dürften aber nicht gleichgesetzt werden. Ein Festival ist, nach Warstat und Fischer-Lichte, zunächst nicht mehr als ein eigens inszenierter, multizentrischer Rahmen, der mehrere Aufführungen integriert und als Zusammenhang (immerhin!) präsentiert. Die festliche Dimension von Theaterfestivals sei für die Gegenwart neu auszuloten.5 Um dies ein wenig versuchen zu können, blicken wir zunächst noch einmal auf die Festkultur des Barock.
Barocke Festkultur Nach Dirk Niefanger bestanden barocke Feste idealtypischerweise aus folgenden Elementen6: In der Regel begann ein Fest mit einem Triumphzug, dem feierlichen Einzug des Herrschers oder des Herrscherpaares. Das waren aufwendig inszenierte Folgen von Wagen und Figuren mit echten und unechten Tieren. Oftmals wurden auch diese Umzüge schon unterbrochen von kulturellen Darbietungen. Die Strecke war geschmückt mit spektakulären Dekorationen, Triumphbögen und Statuen aus Pappmaché und Gips. Die Herrscher waren häufig selbst verkleidet und spielten auch Rollen. Dann folgten häufig Ritterturniere, wobei es auch dabei in der Regel um keine echten Kämpfe ging, sondern um inszenierte Schauspiele. Es fanden Gottesdienste statt, Ansprachen, es wurden Ballette aufgeführt, lebende Bilder – ›Tableaux Vivants‹ – gestellt, Konzerte gegeben, akrobatische Einlagen gezeigt, Theaterstücke und aufwendige Opern gespielt. Wesentlicher Bestandteil solcher Feste waren spektakuläre Essen, mal exzessiv, mal – wie eingangs beschrieben – eher künstlerisch motiviert. Meistens endeten diese mehrtägigen, wenn nicht gar Wochen dauernden Feste mit einem spektakulären Feuer-
5 Vgl. ebd. 6 V gl. Dirk Niefanger: »Das ›andere‹ Fest im 17. Jahrhundert. Wie höfisch waren die höfischen Feste?«, Vortrag am 3. November 2010 im Rahmen der Ringvorlesung Vom Fest zum Event des Interdisziplinären Medienwissenschaftlichen Zentrums der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Online verfügbar im Videoportal der FAU, URL: https://www.video.uni-erlangen. de/clip/id/1453 [zuletzt abgerufen am 30. September 2019], Transkription des Verfassers.
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werk.7 Auch da muss man annehmen, dass diese Feuerwerke künstlerisch weitaus ausgearbeiteter waren, als wir das heute üblicherweise kennen. Es ist davon die Rede, dass mit dem Feuerwerk ganze Geschichten erzählt wurden. Sie wurden deshalb auch »Himmelszeichnungen« oder »Feuerwerkspantomimen« genannt. Die spektakulärsten Feste und somit auch die Blaupausen für zahlreiche höfische Feste der Zeit fanden am Hofe Ludwig XIV. in Versailles in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts statt. Ludwig XIV. (1638–1715) sorgte auch dafür, dass die Pracht und Originalität dieser Feste international kommuniziert wurde. So erschienen ausführliche Dokumentationen mit großformatigen Abbildungen, die über ganz Europa verteilt wurden.8
Die ›Mutter aller Feste‹ – Versailles 1664 Der Reigen der großen Versailler Feste begann 1664 mit dem mehrtägigen Festspiel mit dem Titel Les Plaisirs de l’isle enchantée (Vergnügungen der verzauberten Insel).9 Dafür wurde eine Rahmenhandlung entwickelt, die dem Publikum in einem vorab verteilten Programm dargelegt wurde: Demnach sei es der Zauberin Alcine durch ihre außergewöhnliche Schönheit gelungen, die Ritter in ihren Bann zu ziehen und auf ihrer Insel festzuhalten. Unter dem Eindruck der königlichen Majestäten habe sich Alcine entschlossen, die Gemahlin Ludwigs XIV., Maria Teresa (1638–1683), und die Königinmutter durch ein Ringstechen und andere höfische Vergnügungen zu unterhalten. Die Festlichkeiten begannen am 7. Mai 1664 mit dem Aufzug der adeligen Kavaliere, die an dem folgenden Reiterspiel teilnehmen sollten, an ihrer Spitze König Ludwig XIV. selbst im Kostüm, gefolgt von einer allegorischen Gruppe mit Apollo, dargestellt vom Schauspieler La Grange aus der Theatergruppe Molières, und den vier Weltaltern auf einem fünf Meter hohen Festwagen. Ludwig XIV. ließ sich hier in einer doppelten Rolle feiern: als christlicher Ritter und Tugendheld und als Erneuerer des ›Goldenen Zeitalters‹. Auf den Einzug Ludwigs und seiner Ritter mit dem Sonnenwagen folgte deren Präsentation vor den beiden Königinnen, das Ringstechen, der Auftritt der vier 7 Zur barocken Festkultur siehe auch die Beiträge von Clemens Risi und Eckhard Roch im vorliegenden Band. 8 V gl. Friedrich Polleroß: »Barocke Feste und ihre Bildquellen«, in: Andrea Sommer-Mathis / Daniela Franke / Rudi Risati (Hg), Spettacolo barocco! Triumph des Theaters. Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Theatermuseum Wien, 3. März 2016 bis 30. Januar 2017, Petersberg 2016, S. 99–119. 9 Schilderung des Fests nach Andrea Sommer-Mathis: »Das Wiener Theatralfest ›Angelica vincitrice di Alcina‹ im europäischen Kontext«, in: Andrea Sommer-Mathis / Daniela Franke / Rudi Risati (Hg), Spettacolo barocco! Triumph des Theaters. Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Theatermuseum Wien, 3. März 2016 bis 30. Januar 2017, Petersberg 2016, S. 172–175.
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Abb. 10: Israёl Silvestre: Zauberinsel mit Seeungeheuern am dritten Tag des Festzyklus Les Plaisirs de l’isle enchantée (Versailles 1664) Jahreszeiten und ihres Gefolges und schließlich das nächtliche Festmahl, bei dem die hohen Gäste von den Jahreszeiten, dargestellt durch Schauspieler der königlichen Truppe, bedient wurden. Sie traten in Begleitung von Gärtnern, Winzern, Jägern und Hirten auf, gefolgt von einem als Baum gestalteten Festwagen mit den Gottheiten Pan und Diana. Mit dieser Inszenierung eines friedlichen ländlichen Lebens im Rhythmus der Jahreszeiten wurde das Idealbild eines Königshofes gezeichnet, wie es sich auch in zahlreichen Theaterstücken, Opern und Balletten der Barockzeit wiederfindet. Am zweiten Tag der Festlichkeiten folgte dann die Aufführung eines neuen Stückes von Molière, La Princesse d’Elide (Die Fürstin von Elis), eine Mischung aus Drama, Ballett und Oper, zu der Jean-Baptiste Lully (1632–1687) die Musik komponiert hatte. Die Vorstellung fand auf einem von Carlo Vigarani (1637–1713) entworfenen Freilichttheater im Park von Versailles statt (Vigarani war Bühnendekorateur und bevorzugter Ausstatter der Hoffeste Ludwigs XIV.). Den Höhe- und Schlusspunkt der Festlichkeiten bildete ein Feuerwerksdrama, das dem staunenden Publikum die Befreiung von der Insel der Alcine und die Zerstörung des Palastes der Zauberin vor Augen führte. Vigarani hatte dafür im großen Bassin des Versailler Parks eine Anlage aus drei Felsplateaus geschaffen, wobei sich das mittlere in den Palast Alcines verwandeln ließ. Davor befand sich eine große Bühne für die Ballettszenen. Drei Seeungeheuer aus Holz und bemalter Leinwand trugen Alcine und ihre Begleiterinnen an den Rand des Bassins, wo sie der Königin gewidmete Gedichte rezitierten (Abb. 10). Links und rechts des Bassins waren auf künstlichen Felsen Tapisserie-Wände angebracht, die neben
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Abb. 11: Israёl Silvestre: Feuerwerk mit Brand des Palasts der Alcine am dritten Tag des Festzyklus Les Plaisirs de l’isle enchantée (Versailles 1664) einem dekorativen auch einen praktischen Zweck hatten: Sie sollten die Stimmen der Schauspieler und Sänger sowie die Musikinstrumente akustisch verstärken. Auf dem Kupferstich mit der Darstellung des Schlussfeuerwerks ist der Palast der Alcine bereits hinter Wolken von Rauch verschwunden und gigantische Feuerwerksgarben dominieren das Bild (Abb. 11). Da der Kulissen-Palast die Sicht auf das reale Schloss von Versailles verstellt hatte, tauchte dieses nach dem Abbrennen des Feuerwerks im Hintergrund wieder auf, wodurch symbolisch die Ordnung im Königreich wiederhergestellt wurde.
Kulturelle Bedeutung des barocken Festes Dass die Kosten solcher Feste immens gewesen sein müssen und dass kleinere Höfe, die mit den großen Vorbildern mithalten wollten, oftmals in die Nähe des Ruins gebracht wurden, vor allem aber, dass die Pracht dieser Feste natürlich im krassen Missverhältnis zur Armut der weitgehend abwesenden einfachen Bevölkerung stand, ist ein anderes Thema. Auffällig ist aber, dass die barocken Festlichkeiten heute meistens vor dem Hintergrund der Unterhaltung und der Dekadenz betrachtet werden und in ihnen fast ausschließlich ein Instrument zur Repräsentation der Herrscher und des Machterhalts oder -ausbaus gesehen wird.
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Beides ist natürlich richtig. Aber andererseits sollte man auch nicht außer Acht lassen, welche enormen künstlerischen und kulturellen Leistungen im Rahmen dieser Feste erbracht worden sind. Ohne das Thema an dieser Stelle theaterhistorisch ausführen zu können, verdanken wir den barocken Festen doch große künstlerische Leistungen. So kann man durchaus davon sprechen, dass die Oper, wie wir sie heute kennen, ihren Ursprung in den Festen des Barocks hat. Komponisten wie Christoph Willibald Gluck (1714–1787), Jean-Bapiste Lully oder – noch ein halbes Jahrhundert zuvor im Rahmen früher barocker Feste in Italien – Claudio Monteverdi (1567–1643) feierten ihre Erfolge im Rahmen solcher Feste. Dass die Entstehung des Theaters untrennbar mit dem Fest verbunden ist, ist weithin bekannt. Über die alljährlichen Feiern zu Ehren des Gottes Dionysos war das Theater in der Antike in das religiöse, politische und soziale Leben der Polis integriert. In der Blütezeit des barocken Versailles war beispielsweise Molière (Jean-Baptiste Poquelin, 1622–1673) als Regisseur ganzer Feste, aber auch als Dramatiker eine zentrale Figur. Auch wenn man sich Molières Komödien heute leicht als Bestandteil barocker Festspiele vorstellen kann, muss man festhalten, dass es sich bei seinen Werken damals keineswegs um eine harmlose Belustigung des Hofes handelte. Molières Stücke waren voll beißender, oft auch antiklerikaler Gesellschaftskritik und hielten dem versammelten Hofstaat nicht selten einen Spiegel vor. Tartuf fe, uraufgeführt im Mai 1664 im Rahmen des oben beschriebenen Fests von Versailles, war ein veritabler Theaterskandal und musste auf Drängen der Kirche nach der Uraufführung verboten werden. Erst nach zwei Überarbeitungen wurde die heute bekannte Fassung von Ludwig XIV. wieder freigegeben. Barocke Opern waren seinerzeit – auch wenn es eigentlich selbstverständlich sein mag, sollte man sich das noch einmal bewusst machen – moderne Musik und wahrscheinlich genauso herausfordernd und irritierend für ein breites Publikum, wie zeitgenössische Musik das heute sein kann.
Barockes Fest – Modernes Festival Auch wenn die Feste des Barocks der Machtdemonstration des Hofes gedient haben, haben sie also große Kunst hervorgebracht. Auch heutige Festivals haben, darauf komme ich später noch einmal zurück, durchaus gesellschaftliche Funktionen. Eine Parallele ist sicherlich auch, dass die Einbettung in ein Gesamtereignis die Bereitschaft der Zuschauerinnen und Zuschauer erhöht, sich ästhetischen und künstlerischen Herausforderungen zu stellen, die nicht immer nur das ›reine Vergnügen‹ sind. Es ist die Flüchtigkeit des Festes, die Ereignishaftigkeit und die Unwiederbringlichkeit des Moments, die den Reiz eines Festes ausmacht. Wir sprechen zwar immer davon, dass die Einmaligkeit einer Aufführung grundsätzlich das
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Spezifische des Theaters ausmacht, im Repertoirebetrieb eines Stadttheaters wird die einzelne Vorstellung aber kaum als derart ereignishaft wahrgenommen werden können, wie eingebettet in ein Gesamtprogramm, das es in dieser Kombination womöglich nur ein einziges Mal geben wird. Das ist der besagte Ausnahmezustand vom Alltag. Und die rauschhafte Flüchtigkeit eines Festivaltags, in dem in der Erinnerung die verschiedenen Aufführungen und die Lebenswirklichkeit im besten Fall zu einer Art ›Gesamtkunstwerk‹ verschmelzen, kann eine viel stärkere Wirkung erzielen, als die Summe der einzelnen Aufführungen. »Die Bedeutung von Festivals für das zeitgenössische Theater kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ästhetisch und politisch einflussreiches Theater mit überregionaler Ausstrahlungskraft findet heute in erster Linie auf großen, oft internationalen Theaterfestivals statt. Als Aufführungen von Aufführungen, das heißt als ein eigens inszenierter Rahmen für Theaterereignisse aller Art, scheinen Festivals besondere Möglichkeiten der Zuschaueransprache und der Erschließung neuer Zielgruppen zu eröffnen. Neben der Theateraufführung selbst und um sie herum ist das Festival eine Art Inszenierung zweiter Ordnung, die den Zweck verfolgt oder zumindest verfolgen kann, die Zuschauer in eine spezifische Beziehung zueinander und zum Aufführungsgeschehen zu verwickeln. Wie eine Art Meta-Regie kann die Leitung eines Festivals versuchen, aus dem Zusammenwirken der ausgewählten Präsentationen eine eigene ästhetische Erfahrung und/oder auch politische Effekte zu initiieren, die deutlich über das Wirkungspotenzial der einzelnen Aufführungen hinausgehen kann.« 10 Im Rahmen der Ringvorlesung Vom Fest zum Event im Wintersemester 2010/2011 hielt Matthias Warstat einen Vortrag mit dem Titel »Festivalisierung des Theaters? Bühne und Gesellschaft im Wandel«, der mir nicht nur noch sehr gut in Erinnerung ist, sondern der mich auch beruf lich nachhaltig beeinf lusst hat. Aus diesem Vortrag habe ich gerade zitiert. Warum hat mich der Vortrag so beeindruckt? Er hat noch einmal deutlich gemacht, dass unsere Aufgabe als Festivalmacherinnen und -macher eine weitergehende ist, als nur eine Anzahl guter Gastspiele hintereinanderzuschalten. Bei einem Festival muss es sich verhalten wie bei einer Ausstellung. Auch eine gute Ausstellung ist mehr, als die Zusammenstellung einzelner Bilder. In ihrer zeitlichen und örtlichen Abfolge von Exponaten kann sie neue Zusammenhänge herstellen, Horizonte erweitern und das einzelne 10 Matthias Warstat: »Festivalisierung des Theaters? Bühne und Gesellschaft im Wandel«, Vortrag am 10. November 2010 im Rahmen der Ringvorlesung Vom Fest zum Event des Interdisziplinären Medienwissenschaftlichen Zentrums der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Online verfügbar im Videoportal der FAU, URL: https://www.video.uni-erlangen.de/clip/id/1115 [zuletzt abgerufen am 30. September 2019], Transkription des Verfassers.
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Kunstwerk durch Kontextualisierung verständlicher machen. Das ist die Kunst der Kuratorin, des Kurators. Und nicht umsonst hat man sich im Zusammenhang mit Theater- und Tanzfestivals diese Berufsbezeichnung aus dem Ausstellungsbetrieb längst zu eigen gemacht. Festivals werden heute »kuratiert«. Trotz der von Warstat so treffend formulierten Bedeutung von Festivals für das internationale Theater wird vielfach doch eher genervt von einer Eventisierung der Kultur und einer Festivalisierung des Kulturbetriebs gesprochen. Wir beobachten das noch stärker als im Theaterbereich in der Literatur: Da sind die Literaturhäuser einerseits, mit dem Anspruch, Literatur pur in aller Ernsthaftigkeit zu repräsentieren, und die Literaturfestivals andererseits, die mit inszenierten Literaturshows, Starautoren und Bestseller-Präsentationen Massen bewegen. Wer allerdings das Erlanger Poetenfest etwas näher kennt, weiß, dass an einem Wochenende 10.000 bis 15.000 Menschen kommen, um aktuelle Literatur in ihrer ganzen Komplexität in einfachen Lesungen und Gesprächen zu erleben und Diskussionen über gesellschaftliche und politische Fragestellungen beizuwohnen, die alles andere als »sexy« sind. Kein Starauf lauf, kein Spektakel, keine VIP-Lounges oder Weltrekordversuche. Viel weniger Eventisierung geht eigentlich nicht. Die Ereignishaftigkeit hat also nichts mit dem Glamour einzelner Veranstaltungen zu tun, sondern viel mit dem gemeinschaftlichen Erleben, was wir eigentlich dem Fest zuschreiben würden. Deshalb heißt die Veranstaltung ja auch Erlanger Poetenfest und nicht Poetenfestival…
Festival-Modell versus Stadttheater Vor allem in Deutschland wird aber auch eine »Festivalisierung« des Theaters befürchtet. Kein Wunder, steht hier dem Festival-Modell doch das traditionelle und weltweit einmalige Stadttheatermodell gegenüber. Auch wenn vielfach Stadttheater selbst Festivals organisieren, muss man doch beobachten, dass es sich beim Stadttheater und bei der Festivalkultur eher um Gegenmodelle zu handeln scheint. Statt friedlicher Koexistenz scheint vor allem seitens der Stadttheater der Konkurrenzgedanke im Vordergrund zu stehen. Dabei sitzen die Stadttheater doch am viel längeren Hebel. Auch wenn es einige große und kostspielige Theaterfestivals in Deutschland geben mag, kein Mensch zweifelt das deutsche Stadttheatermodell an; es steht vielmehr kurz davor, in das immaterielle Weltkulturerbe der UNESCO aufgenommen zu werden. Jährlich werden in Deutschland über drei Milliarden Euro für Stadt-, Landes- und Staatstheater ausgegeben, Theaterfestivals erhalten deutschlandweit Zuschüsse von insgesamt gerade einmal 50 Millionen Euro.11 11 Quelle: Deutscher Bühnenverein: Theaterstatistik 2016/2017, Köln 2018.
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Von einer Konkurrenz für die Stadttheater kann also keine Rede sein. Vielmehr ergänzen sich Stadttheater und Theaterfestivals in geradezu idealer Weise. Stadttheater stehen für kontinuierliche Theaterarbeit, die Beschäftigung mit lokalen Themen, die Identifikation mit Künstlerinnen und Künstlern, die man über viele Jahre begleitet. Stadttheater gelten daher als identitätsstiftend für die jeweilige Stadtgesellschaft. Als das Theater Erlangen vor zwanzig Jahren einmal in seiner Existenz infrage gestellt wurde, sagte August Everding, eine Stadt ohne Theater sei keine Stadt. Theaterfestivals hingegen haben die Funktion eines Schaufensters in die Welt. Sie zeigen internationale Entwicklungen und erlauben grenzüberschreitende und interkulturelle Erfahrungen. Sie müssen sich aber auch die Kritik gefallen lassen, so etwas wie einer Globalisierung auf Theaterebene Vorschub zu leisten. Ein international eng vernetzter Festivalzirkus, in dem – zugespitzt formuliert – weltweit die gleichen Gruppen zu sehen sind, die gerade angesagt sind – was die Wiener Festwochen haben, wollen wir auch haben –, droht natürlich beliebig und austauschbar zu werden. Die Realität ist natürlich nicht so schwarz-weiß wie eben dargestellt. So kontinuierlich, wie man meinen könnte, ist der Stadttheaterbetrieb heute längst nicht mehr. Häufige Intendantenwechsel führen zum Austausch der gesamten Teams, von denen alle paar Jahre neue künstlerische Profile erwartet werden. Auch die städtischen Bevölkerungsstrukturen haben sich in den letzten Jahrzehnten bekanntlich rasant verändert. Flexibilität und Mobilität stehen im Gegensatz zu langjähriger Identifikation. So f lüchtig und austauschbar, wie Kritiker behaupten, ist aber auch der Festivalbetrieb nicht. Wer das Internationale Figurentheater-Festival verfolgt, wird beobachten können, wie wichtig auch für uns langfristige Bindung ist. Gruppen wie die Compagnie Mossoux-Bonté (Abb. 12), Nico and the Navigators, Akhe oder die Needcompany, Künstlerinnen und Künstler wie Neville Tranter, Gisèle Vienne oder Renaud Herbin werden über lange Zeiträume begleitet, und ihre Produktionen werden auch eingeladen, wenn sie nicht so gelungen, aber für die Entwicklung der Gruppe wichtig sind, weil sich das Publikum mit diesen Künstlerinnen und Künstlern identifiziert und sich für deren Werdegang interessiert. Festivals haben in den letzten Jahrzehnten vielfach die Selbstverpf lichtung übernommen, ihren Teil zum Entstehen von Produktionen beizutragen, Künstlerinnen und Künstler zu fördern und die künstlerischen wie finanziellen Risiken mitzutragen. Artist-in-Residence-Programme, Koproduktionen, Eigenproduktionen und Kooperationen – vielfach auch mit Bezug zur Region – gehören heute zu jedem ernsthaften Theaterfestival dazu. Das zu Beginn meines Beitrags erwähnte Projekt 1719: Elefanten in Erlangen – Eine Spurensuche im Rahmen des 21. internationalen figuren.theater.festivals 2019 ist ein Paradebeispiel dafür: Anlass war das 300-jährige Jubiläum des Erlanger Markgrafentheaters, Ausgangspunkt waren Forschungen des Instituts für Theater- und Medienwissenschaft der Fried-
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Abb. 12: Nicole Mossoux: Twin Houses, 9. Internationales Figurentheater-Festival 1995
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rich-Alexander-Universität, die von Künstlerinnen und Künstlern, die teilweise dem Institut, teilweise dem Kulturamt seit vielen Jahren verbunden sind, performativ umgesetzt wurden. Dies geschah in Workshops mit Studierenden dieses Instituts, unterstützt von Technikerinnen und Technikern, die für das Kulturamt arbeiten.12
Die Ausnahme von der Ausnahme Heutige Festivals sind natürlich etwas anderes als Feste im engeren Sinn. Festivals sind, wie von Warstat beschrieben, Schaufenster in fremde Ästhetiken, sie werden vielfach als Marktplätze bezeichnet, sie zeigen oftmals ein Best-of der Theaterwelt, die Konsumierung steht eher im Vordergrund. Ein Fest ist dagegen eher ein rituelles Gemeinschaftserlebnis, Partizipation ist ein wichtiges Element. Aber auch da kann man entgegenhalten, dass Festivals, wie wir sie in Erlangen kennen, ebenfalls rituelle Elemente enthalten und dass die Gemeinschaft im Sinne Richard Wagners eine durchaus wichtige Rolle spielt. Das beginnt mit Erscheinen des Programmhefts. Man sieht Erlangerinnen und Erlanger gemeinsam in Cafés sitzen und Programmplanung betreiben. Ich weiß, dass man sich dafür sogar gezielt verabredet. Man spürt sich und ist mit Gleichgesinnten zusammen, wenn man zum Vorverkaufsstart gemeinsam um halb sieben in der Kälte ansteht und darauf wartet, dass die Vorverkaufsstellen ihre Türen öffnen. Trotz Online-Ticketing wollen viele Besucherinnen und Besucher diesen Moment nicht missen. Dabei werden erste Gespräche über das Programm geführt – was einem das letzte Mal besonders gefallen hat und wo man dieses Jahr so hingeht. Nicht selten werden dabei die Wochenprogramme noch einmal umgestellt und zusätzliche, nicht eingeplante Karten gekauft. Die ritualisierten Abläufe werden während des Festivals offensichtlich, wenn man dem dicht gestaffelten Programm folgend gemeinsam von Veranstaltungsort zu Veranstaltungsort eilt. Reicht die Zeit noch für einen Espresso? Ist die oder der Bekannte schon aus dem Experimentiertheater angekommen? Wir warten noch auf… Aber kommen wir zu dem anderen Punkt, der mich an den Ausführungen von Matthias Warstat zur Festivalisierung des Theaters so nachhaltig beeindruckt hat: Feste und Festivals haben eine wichtige Gemeinsamkeit: die Ausnahme, den Ausnahmezustand. Sie schaffen notwendige Unterbrechungen des Alltags. Aber wieviel Unterbrechung oder Ausnahme kann ein Fest oder Festival heute noch sein, wenn im Alltag die Ereignishaftigkeit schon die Regel geworden zu sein scheint? Wenn Einkaufssonntage als Feste inszeniert werden, Kinofilme als ›Event Movies‹ bezeichnet werden, die Präsentation eines neuen Mobiltelefons wie eine 12 Vgl. die Dokumentation des Projekts im vorliegenden Band.
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religiöse Feier zelebriert wird und die Soziologie von einer »Erlebnisgesellschaft«13 spricht? Was muss ein Theaterfestival dem entgegensetzen, um wieder zu einer Unterbrechung des Alltags zu werden? In seinem Aufsatz »Wie politisch ist postdramatisches Theater?« von 2002 fordert der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann eine Politik der Unterbrechung: »Als Praxis der Unterbrechung der Regel klagt Theater ein absolutes Recht für die Ausnahme ein, das Unwiederholbare, das Unverrechenbare. Heiner Müllers Satz, es sei die Aufgabe der Kunst, ›die Wirklichkeit unmöglich zu machen‹, trifft diese Radikalität. […] Heute vollendet sich, was Guy Debord und die Situationisten als eine ›Gesellschaft des Spektakels‹ voraussahen. Zu ihr gehört wesentlich die Definition der Bürger als Zuschauer, für die das gesamte öffentliche, politische Leben zum Schauspiel wird. […] Insofern nimmt nur ein solches Theater eine genuine Beziehung zum Politischen auf, das nicht irgendeine Regel erschüttert, sondern die eigene, nur ein Theater, das das Theater als Schaustellung unterbricht. Indem Theater Situationen herstellt, in denen die trügerische Unschuld des Zuschauens gestört, gebrochen, fraglich gemacht wird.« 14 Gefordert ist also für das Theater und mehr noch für Theaterfestivals, so Matthias Warstat im Rahmen der Ringvorlesung Vom Fest zum Event, die Unterbrechung der Unterbrechung, die Ausnahme von der Ausnahme. Was können wir daraus für das Internationale Figurentheater-Festival ableiten? Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf seine Historie.
Das Internationale Figurentheater-Festival Erlangen, Nürnberg, Fürth, Schwabach – Entstehung und Geschichte »Mit einem Puppentheaterfestival soll nun der Versuch gemacht werden, eine Veranstaltungsreihe einzuführen, die sich an ein breit gefächertes Publikum aller Altersschichten richtet. Dabei wird keineswegs das schlichte und burleske ›Kasperltheater‹ im Mittelpunkt stehen, das sich aus Markttraditionen herleitet, vielmehr soll das Puppentheater als Kunstform in seinen ausgeprägten Stilrichtungen vorgestellt werden.« 13 V gl. Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main 2005. 14 Hans-Thies Lehmann: »Wie politisch ist postdramatisches Theater? Warum das Politische im Theater nur die Unterbrechung des Politischen sein kann«, in: Ders., Das politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, Berlin 2002, S. 11–21.
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Abb. 13: Optical-Figurenbühne Stuttgart: 1. Erlanger Puppen- und FigurentheaterFestival für Kinder und Erwachsene, 1979 So schrieb Wolf Peter Schnetz, damals Kulturreferent der Stadt Erlangen, im Grußwort des Programm-Faltblatts des 1. Erlanger Puppen- und FigurentheaterFestivals für Kinder und Erwachsene, das vom 11. bis 28. Mai 1979 stattfand (Abb. 13). Die Zeilen des Grußworts machen deutlich, dass es – auch wenn der Figurentheater-Begriff damals natürlich noch ein ganz anderer war als heute – von Anfang an darum ging, zeitgenössisches Figurentheater und moderne Interpretationen der Theaterform zu präsentieren. Obwohl das Puppenspiel eine lange Tradition – auch oder vielleicht sogar vor allem – im deutschsprachigen Raum hatte, wie im Grußwort angesprochen: als Theater der kleinen Leute, zu erleben vor allem auf Jahrmärkten, war Figurentheater für Erwachsene zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik beinahe in Vergessenheit geraten. In der DDR war das etwas anders. Bis heute gibt es in den neuen Bundesländern die einzigen feststehenden öffentlichen Figurentheaterensembles, unter anderem in Halle, Magdeburg, Erfurt und Chemnitz. Der Impuls für den Gründer des Festivals, Karl Manfred Fischer, ging aber vielmehr von den zeitgenössischen Entwicklungen in Frankreich aus. In Erlangen gab es damals neben München das einzige französische Kulturinstitut in Süddeutschland, und so konnten schnell Kontakte zur französischen Szene geknüpft werden. Karl Manfred Fischer war übrigens nicht nur der Erfinder des Internationalen Figurentheater-Festivals, sondern auch der Gründer des Internationalen Comic-Salons Erlangen und des Erlanger Poetenfests, die er – zusammen mit Lisa Puyplat – mehrere Jahrzehnte leitete. Alle drei Veranstaltungen sind heute kulturelle Aus-
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hängeschilder Erlangens. Aber Fischer musste sie hart erkämpfen, und auch für mich waren die Zeiten nicht immer einfach. Heute, da diese Festivals kulturpolitisch unumstritten sind, ist das kaum mehr vorstellbar. Das erste Internationale Figurentheater-Festival 1979 war ein großer Erfolg, sodass sich gleich zwei Jahre später die Stadt Nürnberg als zweite Veranstalterin anschloss, 1983 folgte Fürth und 1989 dann die Stadt Schwabach. Bis heute ist die Zusammenarbeit von vier Städten eine der Besonderheiten dieses Festivals: enge organisatorische und programmatische Abstimmung einerseits, größtmögliche programmatische Unabhängigkeit der einzelnen Städte mit jeweils eigenen Profilen andererseits. Zum 30-jährigen Jubiläum schrieb die Theaterwissenschaftlerin Meike Wagner über das Festival: »Seit über 30 Jahren ist das Internationale Figurentheater-Festival in Erlangen (mit den Partnern Nürnberg, Fürth und Schwabach) eine wichtige Größe für die Figurentheater-Szene, führt es doch alle zwei Jahre wie kaum ein anderes Festival das Figurentheater weit an die Grenzen seiner gängigen Genre-Traditionen. Die Zusammenschau von Puppentheater, Tanz- und Medientheater und Performance-Kunst hat in Erlangen schon immer Methode und führt den Zuschauern erhellende Querbezüge von Figur, Material und Medien vor Augen. Dieser Fokus auf innovative Ästhetiken mit großzügigen Seitenblicken auf benachbarte performative Kunstformen hat das Figurentheater immer in einen großen Maßstab gesetzt. […] Erlangen ist nach wie vor das Herz des Festivals und verfolgt am stringentesten den Anspruch einer künstlerischen Begegnung zwischen Genre übergreifenden Figurentheater-Produktionen und figuren-, objekt-, medienorientierter Theaterkunst und Performance. Dabei ist das Erlanger Festival jedoch keineswegs avantgardistisch abgehoben, der jetzige Festivalleiter Bodo Birk, der 2003 das Amt von Karl Manfred Fischer übernommen hat, behält immer die Bedürfnisse seines lokalen und regionalen Publikums im Blick. […] Wer das Festival in Erlangen besucht, der weiß, welche wichtige Rolle das städtische Setting für die FestivalAtmosphäre spielt. Die Veranstaltungsorte sind fußläufig voneinander entfernt und man hat – ähnlich wie beim ›Festival Mondial‹ in Charleville-Mézières – das Gefühl, während der zehn Festivaltage atmet die kleine fränkische Großstadt Erlangen förmlich Figurentheater.« 15 Eine weitere Besonderheit des Internationalen Figurentheater-Festivals ist die Tatsache, dass es von der Stadt selbst, von einem Team fest angestellter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Kulturamts organisiert wird. Natürlich hat das viele 15 M eike Wagner: »Stadt, Land, Welt – Das Erlanger figuren.theater.festival«, Portal des Deutschen Forums für Figurentheater und Puppenspielkunst e.V., URL: www.fidena.de [zuletzt abgerufen am 30. September 2019].
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Vorteile. Die Budgets sind durch den städtischen Haushalt abgesichert, und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können, bei aller Selbstausbeutung, gut von ihrer Arbeit leben. Vor allem aber konnte so eine Kontinuität über 40 Jahre gewährleistet und ein Publikum aufgebaut werden, das uns heute in großem Vertrauen folgt, bis hin zu komplexen performativen Zumutungen. Dass diese kulturpolitische Einbettung aber auch schwierig sein kann, zeigte sich im Jahr 2010, bei der vielleicht wichtigsten Zäsur in der Geschichte des Festivals: Völlig unerwartet strich der Erlanger Stadtrat die Haushaltsmittel des Festivals und kündigte das ›Aus‹ mindestens für die Festivalausgabe 2011 an. Dass es sich dabei um Symbolpolitik handelte, war allen Beteiligten klar: Der kulturelle Anteil am städtischen Haushalt ist schließlich so gering, dass er kaum zur Sanierung der städtischen Finanzen geeignet ist. Uns als städtischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern waren aber die Hände gebunden; ein Stadtratsbeschluss ist für uns natürlich bindend. In dieser Situation wurde nun aber die Bedeutung des Figurentheater-Festivals in Erlangen, Deutschland und auf internationaler Ebene deutlich. Ein Sturm des Protests erreichte die Erlanger Politik. Künstlerinnen und Künstler, Veranstalter, Theaterwissenschaftlerinnen und Theaterwissenschaftler und die überregionale Presse bewiesen dem damaligen Oberbürgermeister Dr. Siegfried Balleis (CSU) die Wichtigkeit des Festivals mit Protestbriefen und großen Artikeln (Abb. 14). Neben einer Unterschriftenaktion, an der sich Tausende beteiligten, kam es sogar zu einer Demonstration mit Kundgebung vor dem Rathaus, bei der Balleis schließlich die Rettung des Festivals durch ein einmaliges Großsponsoring der Firma Siemens verkündete. Wie häufig in vergleichbaren Fällen, ist das Festival im Endeffekt gestärkt aus dieser Krise hervorgegangen.
Die Definition »zeitgenössisches Figurentheater« im Wandel »Wenn man einmal Blut geleckt hat, will man einfach mehr sehen. Wenn der Begriff, ›Innovation‹ mir auf der Bühne überzeugend verkörpert entgegengetreten ist, dann in drei von vier Fällen im Bereich des Figuren- und Objekttheaters. Ich habe den Eindruck: alles das, was im Theater für darstellende Menschen mit unendlich viel theoretisch reflektiertem Aufwand einhergehen muss, damit es sich selber begründet, wird bei den Figurentheatermachern einfach als ein Werkstoff begriffen, der dem Pappmaché an die Seite tritt (– jetzt mal überspitzt). Der Stoff trägt aber keine eigene Bedeutung. Ob nun Multimedia, computergesteuerte Effekte oder ein Tuch, das behauptet ein Protagonist zu sein – es ist eigentlich qualitativ dasselbe Problem: Die Dinge müssen sich beweisen, indem sie im physikalischen Raum Platz greifen. Entweder sie schaffen das, oder sie schaffen es nicht. Ich glaube, es hat auch etwas damit zu tun, dass Figurentheatermacher bei ihren
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Abb. 14: Protestaktion von Künstlerinnen und Künstlern vor der entscheidenden Sitzung des Erlanger Stadtrats, 2010 künstlerisch konzeptionellen Entscheidungen – zum Beispiel aus welchem Material das protagonistische Element ihrer Show sein soll – einfach viel gründlicher und im Voraus viel verzweigter nachdenken müssen. Das spürt man. Das ist eine Form von gründlichem, reflektiertem und auf der anderen Seite unendlich spielerischem Umgang mit der Bühnenrealität.« 16 Das sagte Marie Zimmermann, Dramaturgin, langjährige Leiterin des Festivals Theaterformen und Chefin des Theaterprogramms der Wiener Festwochen in einem Interview auf die Frage, warum das Figuren-, Bilder- und Objekttheater bei ihrer Programmplanung immer eine so wichtige Rolle spielt. »Ich finde es lächerlich, dass in Deutschland immer noch diese Sparteneigensinnigkeiten gegeneinandergesetzt werden. Was interessiert mich denn, ob das ein Fuß ist oder ein Körper, eine Stimme oder ein Gegenstand mit seinem Eigenleben, oder ob das Tücher sind, wenn mir eine überzeugende theatralische Installation 16 Marie Zimmermann / Anke Meyer: »Es ist Theater. Welttheater. Marie Zimmermann, künstlerische Leiterin des Festivals Theaterformen, im Gespräch mit Anke Meyer«, in: Sylvia Brendenal (Hg.), Animation fremder Körper. Über das Puppen-, Figuren- und Objekttheater, Berlin 2000, S. 112–116, hier S. 112.
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vorgeführt wird! Es ist Theater. Und nach guten Erfahrungen mit der Verschiebung des Schwerpunktes weg vom Sprechtheater habe ich mir gedacht, ich werde es mir doch einmal leisten können, den Bereich Figurentheater, Objekttheater, Theater der Dinge, Puppentheater im klassischen Sinn zu integrieren und zu sagen: Kinder, das ist Theater, Theater der Welt!« 17 Marie Zimmermann beschreibt in diesem Zitat sehr schön, was wir heute unter zeitgenössischem Figurentheater verstehen: ein Theater, bei dem nicht oder nicht nur Schauspielerinnen oder Schauspieler eine Rolle spielen, eine Figur darstellen. Das können klassischerweise Puppen sein, Objekte oder Materialien, Videoprojektionen, Technologien in allen Formen – Maschinen, Roboter usw. –, aber auch ein Lichtstrahl oder ein Ton können in diesem Verständnis eine Figur sein. Und der menschliche Körper natürlich auch – im Maskentheater beispielsweise oder bei bestimmten Formen des zeitgenössischen Tanzes. Diese sehr weitgehende Erlanger Interpretation von Figurentheater stieß nicht von Anfang an überall auf Akzeptanz. Die traditionelle Puppentheaterszene und deren Verbände begegneten dem Erlanger Festival zunächst durchaus auch mit Skepsis und befürchteten eine Unterwanderung ›ihres‹ Genres durch ›fremde‹ Künstlerinnen und Künstler. Und auch Publikum und Presse haben bis in die 2000er-Jahre hinein immer wieder die Frage gestellt: Was hat das bitte mit Figurentheater zu tun? Man darf sich aber auch nichts vormachen – außerhalb Erlangens ist die Vorstellung davon, was alles modernes Figurentheater sein kann, bis heute selbst einer theaterinteressierten Öffentlichkeit sicherlich kaum bewusst. In der zeitgenössischen Figurentheaterszene ist ein maximal offenes und genreübergreifendes Verständnis von Figurentheater heute allerdings unumstritten. Die anderen beiden großen Festivals, die Fidena in Bochum und die Imaginale in Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe und Heilbronn, die beiden zentralen Spielstätten in Deutschland, das FITZ! in Stuttgart und die Schaubude in Berlin, haben sich die weite Auslegung des Genres ebenso zu eigen gemacht wie die beiden in Deutschland existierenden Studiengänge für Figurentheater an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin und an der Akademie für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart. Man darf aber bei aller Bescheidenheit sagen, dass Erlangen daran einen erheblichen Anteil hat. Oder, wie es manchmal augenzwinkernd in der Szene formuliert wird: Figurentheater ist, was Erlangen sagt, dass es Figurentheater ist. Folgerichtig wundern sich auch heute kaum mehr Künstlerinnen und Künstler aus anderen Bereichen, wenn wir sie zu einem Figurentheater-Festival einladen. Klaus Obermaier (Abb. 15), Eva Meyer-Keller, die Compagnie Mossoux-Bonté, Nico and the Navigators oder Gisèle Vienne sind ein paar wenige Beispiele für zahlreiche Künstlerinnen und Künstler, die in Erlangen 17 Ebd., S. 113.
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– zumindest in Deutschland – erstmals bei einem Figurentheater-Festival aufgetreten, jetzt aber europaweit immer wieder auch auf Figurentheater-Festivals anzutreffen sind.
Programmatische Weiterentwicklung 2019 Kommen wir zurück zu Hans-Thies Lehmann, Matthias Warstat und der Ausnahme von der Ausnahme und zum 21. internationalen figuren.theater.festival 2019. Wer sich das Programm des Festivals genauer ansieht, wird feststellen, dass wir – ohne es ständig an die große Glocke zu hängen – das Profil ein wenig verändert und weiterentwickelt haben. Ausgangspunkt dafür war nicht zuletzt der Internationale Comic-Salon im vergangenen Jahr: Weil das Kongresszentrum Heinrich-Lades-Halle saniert wurde, mussten wir mit der Veranstaltung auf Messezelte ausweichen, die wir auf dem Erlanger Schlossplatz, dem Hugenottenplatz und im Schlossgarten errichten ließen. Und, wie man es ja auch häufig erlebt, wenn Stadttheater temporär Ausweichquartiere bespielen, hat das den Salon so stark verändert, hat das eine so weitreichende und nachhaltige Identifikation der Stadt, der Bürgerinnen und Bürger genauso wie der Politikerinnen und Politiker, mit dem Festival ausgelöst, dass nun angedacht ist, den Comic-Salon trotz hoher Mehrkosten auch künftig in Zelten in der Innenstadt durchzuführen. Erlangen plant also die Fortsetzung der Ausnahme von der Ausnahme. Offenbar wird Kultur, jenseits so trivialer Argumente wie »weicher Standortfaktor« oder – noch schlimmer – »Umwegrentabilität«, heute mehr denn je als identitätsstiftender Faktor gesehen. Und das ist, denke ich, alles andere als verwerf lich in einer immer mehr von Partikularinteressen zerrissenen Gesellschaft. Der Erlanger Stadtrat hat uns, noch unter dem Eindruck des zurückliegenden Comic-Salons, mit einer erheblichen Budgeterhöhung ausgestattet, mit dem Auftrag, auch das Figurentheater-Festival noch stärker in die Stadt, in den öffentlichen Raum und in das Bewusstsein der Erlangerinnen und Erlanger zu führen. Im Team hat uns die Frage sehr beschäftigt, inwieweit und in welcher Weise wir solche Erwartungshaltungen erfüllen sollen und dürfen, ohne die Kunst zu instrumentalisieren. Schnell war uns klar, dass es nicht darum gehen kann, mit gefälligem Spektakel, Stelzenläufern und Jongleuren die Stadt zu bespaßen. Wir haben uns vielmehr auf die Suche nach Produktionen gemacht, die den Anspruch des Festivals, das Publikum herauszufordern und zu irritieren, auch im öffentlichen Raum fortsetzen. Vor allem aber haben wir einen Schwerpunkt auf Theater und Performances gelegt, die im Sinne von Lehmann nicht irgendeine Regel erschüttern, sondern die eigene, die das Theater als Schaustellung unterbrechen, indem sie Situationen herstellen, in denen die Unschuld des Zuschauens gestört,
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Abb. 15: Klaus Obermaier: Dancing House, 19. Internationales FigurentheaterFestival 2015
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gebrochen, fraglich gemacht wird. Fünf Beispiele aus unserem letzten Festivalprogramm 2019 darf ich Ihnen zum Abschluss meines Beitrags kurz vorstellen.
Fünf Ausnahmen von der Ausnahme Bubble Jam von Rimini Protokoll Wer befindet sich am anderen Ende des Internets? Wie funktioniert ein Algorithmus? Wer oder was erteilt uns Anweisungen? Und wer oder was ist hier »fake«? Bubble Jam, das erste Stück von Rimini Protokoll für Jugendliche, ist eine Spielplattform, mit dessen Server sich 60 Mitspielerinnen und Mitspieler über Smartphones verbinden. Sie folgen auf ihrem Gerät dem Chat der sich andernorts befindenden Entwicklerinnen und Entwickler und folgen ihren Anweisungen bzw. beantworten ihre Fragen: Worum soll es gehen? Um Alpträume? Freunde, die man nie gesehen hat? Fotos, die plötzlich auftauchen? Darum, was für ein Typ man ist? Oder darum, wie das Leben weitergeht? Bubble Jam sammelt die Reaktionen und ermittelt daraus, wer mit wem was zu besprechen hat. Aus Abstimmungsergebnissen werden Fragen abgeleitet, um die es nun gehen soll. Allen voran: Wer spielt und mit wem wird gespielt? (Abb. 16)18
Guilty Landscapes von Dries Verhoeven Durch Kriege und Naturkatastrophen zerstörte Landschaften, von Krankheit und Hunger gezeichnete Kinder, Menschen geprägt von Trauer, Ausbeutung und Armut … Nachrichten, jederzeit verfügbar über Smartphone, Laptop oder Fernsehbildschirm, machen uns zu ständigen Zeugen einer zusehends aus den Fugen geratenden Welt. Doch welche Rolle spielen wir als Betrachter? Können wir uns den Mechanismen der medialen Inszenierung entziehen? Mit seiner Videoinstallation für jeweils eine einzelne Person lässt Dries Verhoeven die vermeintlich klar definierten Grenzen zwischen sehendem Subjekt und dargestelltem Objekt verschwimmen und ref lektiert die Möglichkeit einer unmittelbaren Verbindung von Betrachter und Betrachtetem. Was passiert, wenn sich die Achsen verschieben und die in weiter Distanz geglaubten Menschen aus den Nachrichtenbildern uns, die Zuschauerinnen und Zuschauer, in den Blick nehmen? (Abb. 17)
18 Vgl. zur Arbeit von Rimini Protokoll auch den Beitrag von Matthias Warstat im vorliegenden Band.
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Abb. 16: Rimini Protokoll: Bubble Jam, 21. internationales figuren.theater.festival 2019
Abb. 17: Dries Verhoeven: Guilty Landscapes, 21. internationales figuren.theater. festival 2019
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SOL von Kurt Hentschläger SOL thematisiert die eigene Wahrnehmung, indem die Besucherinnen und Besucher in ein radikales Nichts entführt werden. In der absoluten Dunkelheit in den Tiefen des Erlanger Burgbergs werden die Zuschauerinnen und Zuschauer wechselnden Lichteruptionen ausgesetzt, die intensive Nachbilder auf der Netzhaut auslösen und zu einer individuellen, sinnlichen Bild- und Körpererfahrung führen. Im Wechsel der Stimulationen durch Licht- und Klangimpulse konfrontiert die Installation die Besucherinnen und Besucher mit ihrem individuellen Körperempfinden und überraschenden Wahrnehmungsverschiebungen. In der Auf lösung von Zeit und Raum wird der Betrachter ganz und gar auf sich selbst zurückgeworfen (Abb. 18).
The Automated Sniper von Julian Hetzel In The Automated Sniper untersucht der Performance-Künstler, Musiker und bildende Künstler Julian Hetzel in einer radikalen Versuchsanordnung die »Gamification« von Gewalt: Zwei Performer werden auf der Bühne von dem Operator einer ferngesteuerten Waffe beschossen. Der Schütze befindet sich an einem sicheren Ort und feuert mittels Joystick auf die Bühne. Das Publikum wird zum Mittäter, zum Akteur ohne Absicht. Die Brutalität findet virtuell statt und ist gleichzeitig ganz unmittelbar… Wie weit werden wir gehen? (Abb. 19)
Cardiophone von Moran Duvshani In der Performance der israelischen Künstlerin Moran Duvshani begeben sich die Teilnehmenden auf eine Reise in ihr Inneres. Drei Stationen durchlaufen sie, um am Ende der Melodie ihres Herzens lauschen zu können. Zu Beginn des Parcours werden die Herztöne jeder Person aufgezeichnet und auf einem Papierstreifen ausgedruckt. In einer zweiten Station wird dieser Streifen mit kleinen Löchern versehen, um am Ende die Melodie mit einer Spieluhr hörbar zu machen. Dabei ist Cardiophone nicht nur eine Reise zu sich selbst, sondern auch eine Entdeckungstour durch den jeweiligen Ort der Performance, der mit seinen speziellen Eigenschaften einen Einf luss auf das Erlebnis eines jeden Teilnehmenden hat (ohne Abb.).
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Abb. 18: Kurt Hentschläger: SOL, 21. internationales figuren.theater.festival 2019
Abb. 19: Julian Hetzel: The Automated Sniper, 21. internationales figuren.theater. festival 2019
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Tolle Tänze durch die Zeit In dem Buch zum 300. Geburtstag des Markgrafentheaters hat Herbert Heinzelmann, Journalist und lange Jahre Dozent am Institut für Theater- und Medienwissenschaft, einen Text beigesteuert, der sich mit dem gleichen Thema wie mein vorliegender Beitrag befasst. Mit einem Zitat daraus möchte ich abschließen: »Wer den 18. Internationalen Comic Salon im Jahr 2018 mit seinen Zelten auf dem Schlossplatz und im Schlossgarten durchstreift hat, wer zwischen zeichnenden oder picknickenden Menschengruppen an Micky-Maus-Wänden, ähnlich barocker Scheinarchitektur, entlanggeschritten ist oder Diskussionen in der Orangerie lauschte, dem können durchaus Erinnerungen an barocke Feste aus dem Gattungsgedächtnis gestiegen sein. Bunt. Fröhlich. Irgendwo ist Musik. Zum Cosplay verkleidete Menschen inszenieren sich selbst als Comic-Identitäten. Es tanzt bloß kein König mit prächtigem Pomp. Nur der Oberbürgermeister schlürft unauffällig einen Kaffee. […] Die Feste des Barock als einer Epoche zwischen dem verheerenden Dreißigjährigen Krieg und der bevorstehenden Französischen Revolution waren von besonderem Glanz. In Erlangen haben sich Orte erhalten, die nicht nur alte Geschichten von diesem Glanz erzählen, sondern mit aktuellen Festivals an diesen Orten in jedem Jahr neue spannende Geschichten dazu finden. Hätten die Markgräfinnen und Markgrafen nur in die Zukunft schauen können, während sie in ihrem Theater saßen …«19
Literaturverzeichnis Friedrich Christian Bressand: Salzthalischer Mäyen-Schluß: oder Beschreibung der auf den höchsterfreulichen Geburts-Tag der Durchlauchtigsten Fürstin und Frauen / Elisabetha Juliana / Herzogin zu Braunschweig und Lüneburg […] in Salzthal angestellter Lustbarkeiten / Im Jahr 1694, Wolfenbüttel 1694, o. P. Online verfügbar unter: Festkultur Online, ein Projekt der Herzog August Bibliothek, URL: http://diglib.hab.de/drucke/textb-362/start.htm [zuletzt abgerufen am 30. September 2019]. Deutscher Bühnenverein: Theaterstatistik 2016/2017, Köln 2018. Herbert Heinzelmann: »Tolle Tänze durch die Zeit. Vom Barockfest zu den Erlanger Kultur-Festivals«, in: Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.), 300 19 Herbert Heinzelmann: »Tolle Tänze durch die Zeit. Vom Barockfest zu den Erlanger KulturFestivals«, in: Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.), 300 Jahre Theater Erlangen. Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2019, S. 104–106, hier S. 106.
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Jahre Theater Erlangen. Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2019, S. 104–106. Erika Fischer-Lichte / Matthias Warstat: Staging Festivity. Theater und Fest in Europa, Tübingen 2009. Hans-Thies Lehmann: »Wie politisch ist postdramatisches Theater? Warum das Politische im Theater nur die Unterbrechung des Politischen sein kann«, in: Ders., Das politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, Berlin 2002, S. 11–21. Friedrich Polleroß: »Barocke Feste und ihre Bildquellen«, in: Andrea Sommer-Mathis / Daniela Franke / Rudi Risati (Hg), Spettacolo barocco! Triumph des Theaters. Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Theatermuseum Wien, 3. März 2016 bis 30. Januar 2017, Petersberg 2016, S. 99–119. Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main 2005. Andrea Sommer-Mathis: »Das Wiener Theatralfest ›Angelica vincitrice di Alcina‹ im europäischen Kontext«, in: Andrea Sommer-Mathis / Daniela Franke / Rudi Risati (Hg), Spettacolo barocco! Triumph des Theaters. Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Theatermuseum Wien, 3. März 2016 bis 30. Januar 2017, Petersberg 2016, S. 172–175. Meike Wagner: »Stadt, Land, Welt – Das Erlanger figuren.theater.festival«, Portal des Deutschen Forums für Figurentheater und Puppenspielkunst e.V., URL: www.fidena.de [zuletzt abgerufen am 30. September 2019]. Matthias Warstat: Artikel »Fest«, in: Erika Fischer-Lichte / Doris Kolesch / Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 101–104. Marie Zimmermann / Anke Meyer: »Es ist Theater. Welttheater. Marie Zimmermann, künstlerische Leiterin des Festivals Theaterformen, im Gespräch mit Anke Meyer«, in: Sylvia Brendenal (Hg.), Animation fremder Körper. Über das Puppen-, Figuren- und Objekttheater, Berlin 2000, S. 112–116.
Online-Ressourcen (alle zuletzt abgerufen am 30. September 2019) Dirk Niefanger: »Das ›andere‹ Fest im 17. Jahrhundert. Wie höfisch waren die höfischen Feste?«, Vortrag am 3. November 2010 im Rahmen der Ringvorlesung Vom Fest zum Event des Interdisziplinären Medienwissenschaftlichen Zentrums der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Online verfügbar im Videoportal der FAU, URL: https://www.video.uni-erlangen.de/ clip/id/1453. Matthias Warstat: »Festivalisierung des Theaters? Bühne und Gesellschaft im Wandel«, Vortrag am 10. November 2010 im Rahmen der Ringvorlesung Vom Fest zum Event des Interdisziplinären Medienwissenschaftlichen Zentrums der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Online verfügbar im Videoportal der FAU, URL: https://www.video.uni-erlangen.de/clip/id/1115.
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Stadt – Theater – Archiv (Ver-)Ortungen von Theatergeschichte im Stadtarchiv Erlangen Dorothea Pachale »Entschuldigen Sie bitte Herr Rechtsrat eine Frage, ist es tatsächlich wahr, das was mir gestern im Theater mitgeteilt wurde, daß ich in Zukunft keinen Einlass mehr in das Theater hätte.«1 Mit diesen Worten beginnt ein Brief von Grete Lang vom 4. Oktober 1949 an Dr. Otto Hiltl, Leiter des Rechtsreferats der Stadt und Vorstandsmitglied des Gemeinnützigen Vereins Erlangen e.V.2 Frau Lang ist die Ehefrau des Hausmeisters Georg Lang, der für Redoutensaal und Markgrafentheater zuständig ist. Der Gemeinnützige Verein hatte zu diesem Zeitpunkt das Erlanger Theater von der Stadt gepachtet und kümmerte sich um die Organisation von Gastspielen. In dem auf zwei linierten Seiten in akkurater Handschrift ausgeführten Brief erklärt Frau Lang, dass sie bislang eine Art Dauer-Freikarte für das Theater hatte und nun fürchtet, diese zu verlieren. In ihrem Brief schildert sie nicht nur die unbezahlte Arbeit, die sie als Ehefrau des Hausmeisters für das Erlanger Theater geleistet hat, sondern sie berichtet auch ausführlich von ihrer zerrütteten Ehe und ihrem Ehemann, der sie »bereits als geschiedene Frau betrachte [...].«3 So schreibt sie: 1 S tadtarchiv Erlangen, Städtisches Theater Sammelakt F413/5. An dieser Stelle möchte ich dem Stadtarchiv Erlangen für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der Abbildungen der Archivalien sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Archivs für ihre freundliche und kompetente Unterstützung bei der Recherche danken. 2 Der Gemeinnützige Verein Erlangen e.V. war 1876 gegründet worden, verlor in der Zeit des Nationalsozialismus seine Selbständigkeit und wurde am 2. Dezember 1945 wiedergegründet. Seit 1992 heißt er Gemeinnütziger Theater- und Konzertverein Erlangen (gVe). Der Gemeinnützige Verein gestaltete über viele Jahrzehnte den Spielplan im Markgrafentheater, während der Zeit des Theaterunternehmens Dörner / Probst fungierte er als Mittlerinstanz zwischen Stadtverwaltung und Theatermachern. Vgl. Silke Zieten / Gertraud Lehmann: Artikel »gVe – Gemeinnütziger Theater- und Konzertverein Erlangen«, in: Christoph Friederich / Berthold Frhr. von Haller / Andreas Jakob (Hg.), Erlanger Stadtlexikon, Nürnberg 2002, S. 333f. 3 S tadtarchiv Erlangen, Städtisches Theater Sammelakt F413/5. Die folgenden Zitate stammen aus dem Vorgang ebd.
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»[A]ber wenn er dann ab und zu Lust bekommt, ein paar Tage seinem Leben freien Lauf zu lassen, dann bin ich scheinbar doch recht, das ganze Haus [damit sind Theater und Redoutensaal gemeint; Anm. D. P.] zu hüten, ohne nur zu wissen, wo mein Mann sich herumtreibt [...].« Das Theater erfüllt für sie eine ganz konkrete Funktion, die sie auch benennt: »Es sind die einzigen Stunden, die mich etwas zerstreuen in meinen z. Z. unerträglichen Verhältnissen.« Es mag zunächst überraschen, dass sich ein Brief, der solcherart private Ausführungen enthält, in den Archivalien zum Theater im Stadtarchiv Erlangen findet. Wie kommt dieser Brief ins Stadtarchiv? Und auch wenn einen die Zeilen der Hausmeistersfrau beim Lesen zweifellos sofort berühren: inwiefern ist diese Quelle aus theaterwissenschaftlicher Sicht interessant? Die erste Frage ist bei genauerem Hinsehen leicht zu beantworten: Frau Lang richtet sich mit ihrem Schreiben an Dr. Hiltl, der zugleich Vorstandsmitglied des Gemeinnützigen Vereins und Referatsleiter der Stadtverwaltung ist, in der er sich zunehmend um die Belange des Theaters kümmerte.4 Auch wenn der Gemeinnützige Verein für die Bespielung des Theaters zuständig war, betrifft die Angelegenheit zugleich die Stadtverwaltung, da die Stadt Eigentümerin des Theaters und der Hausmeister städtischer Angestellter ist. Das Stadtarchiv wiederum ist die Behörde der Stadt, die den archivwürdigen Aktenbestand der Stadt auf bewahrt. Zwar findet sich unter den archivierten Unterlagen nicht das Antwortschreiben an Frau Lang, aber folgende städtische Aktennotiz. Dort heißt es mit Datum vom 12. Oktober 1949: »Die auf Vorladung erschienene Hausmeistersehefrau Grete Lang wurde heute davon verständigt, daß ihr keine Freikarte für das Stadttheater ausgestellt werden kann. Gegen die schon früher und bisher geübte Handhabung, daß der Hausmeister des Theaters auch seine Ehefrau in die jeweilige Theatervorstellung mitnimmt, besteht – bis auf weiteres – keine Einwendung. Die Belegung nummerierter Plätze ist selbstverständlich nicht angängig.« Und darunter der Vermerk: »Referat III zur gef l. Kenntnisnahme. Frau Lang ist mit der vorstehenden Regelung durchaus einverstanden.«5 Der Begriff »Vorladung« deutet an, dass es bei der Angelegenheit um einen Verwaltungsvorgang ging, dem man etwas mehr Bedeutung zumaß und den man nicht zwischen ›Tür 4 D as im Zuge der Neuorganisation der Stadtverwaltung 1960 eingerichtete Kulturamt ist bis 1972 dem von Dr. Hiltl geleiteten Referat III (Rechtsreferat) unterstellt, doch auch davor kümmerte sich Hiltl bereits um die Belange des Theaters. 5 R eferat III ist das von Dr. Hiltl geleitete Rechtsreferat. Siehe vorherige Fußnote.
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und Angel‹ regeln wollte; und so wurde der damit verbundene Schriftverkehr Teil der städtischen Aktenablage, die nach entsprechender Frist ins städtische Archiv übernommen wurde. Auf solche Prozesse der Archivierung komme ich noch ausführlicher zu sprechen. Die zweite Frage, inwiefern diese Quelle theaterwissenschaftlich interessant ist, ist nicht ganz so schnell und auch nicht so endgültig zu beantworten. Offensichtlich handelt es sich hier nicht um einen sensationellen Fund, der unser Bild der Theatergeschichte revolutioniert. Aus theaterhistoriografischer Sicht scheint es sich um eine Randfrage zu handeln, ob Frau Lang weiter ins Theater gehen konnte oder nicht. Aber dennoch lassen sich an dieser kurzen Quelle durchaus interessante Aspekte aufzeigen: So kommt in dem Brief zur Sprache, welche Funktion das Theater für Frau Lang hatte – nämlich die der Zerstreuung. Zudem gibt Frau Lang in ihrem Schreiben einen Hinweis darauf, dass es in ihrem sozialen Umfeld ein gewisses Privileg ist, ins Theater gehen zu können, indem sie erwähnt, dass sich die Verwandtschaft ihres Mannes keinen Theaterbesuch leisten will oder kann. Die Frage, die Theaterverantwortliche heute verstärkt umtreibt, nämlich danach, wer ins Theater geht und warum, wird in dieser historischen Quelle zumindest kurz thematisiert. Auch dass Frau Lang für die Aufrechterhaltung des Theaterbetriebs unbezahlte Arbeit leistete, wäre wohl ohne dieses Dokument vergessen worden, da diese Arbeit in keinem formalen Arbeitsverhältnis geregelt war. Wer macht Theater zu unterschiedlichen Zeiten und unter welchen Arbeitsbedingungen? Auch das ist eine theaterhistoriographisch relevante Frage, für die diese Quelle von Interesse ist. Die Quelle zeigt aber nicht nur inhaltlich interessante Aspekte, sondern wirft auch strukturelle Fragen der Archivierung und der Lesbarkeit von Archivmaterial auf. So anschaulich der Brief formuliert ist und sosehr er die Leserin oder den Leser spontan Sympathie für Frau Lang empfinden lässt, so macht er uns zugleich bewusst, wie wenig wir eigentlich über den ganzen Vorgang und die beteiligten Personen erfahren. Indem Brief und Aktenvermerk etwas dokumentieren, verweisen sie zugleich auf die Lücken an Information, auf das, was wir durch sie eben nicht mitgeteilt bekommen. So besteht beispielsweise eine gewisse Spannung zwischen den Schilderungen von Frau Lang in ihrem Brief und dem Aktenvermerk, dass sie mit dem Vorschlag, das Theater nur zusammen mit ihrem Mann besuchen zu können, einverstanden sei. Auch erzählen uns die Unterlagen nichts darüber, wie Frau Lang die Theateraufführungen erlebt und welche ästhetische Erfahrung sie – über die Zerstreuung hinaus – im Erlanger Theater gemacht hat. So nah uns Frau Lang durch ihren Brief zu kommen scheint, so müssen wir uns doch eingestehen, dass wir sie uns über den Brief auch nur konstruieren und imaginieren. Auch wenn der Brief als Ausdruck eines subjektiven Empfindens verstanden werden kann, ist er auch und vor allem Teil eines Verwaltungsvorgangs
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und eingebunden in formalisierte Kommunikationsstrukturen. Das Archiv hat Akten aus einem behördlichen Verwaltungsvorgang auf bewahrt, in den sich in diesem Fall eher zufällig ein sehr persönliches Schicksal mit eingeschrieben hat. Mit diesem einführenden Beispiel habe ich bereits einige der Themen umrissen, die in der Untersuchung der Beziehung von Theater und Archiv, insbesondere der von Stadttheater und Stadtarchiv, für mich von Interesse sind. Wie der Titel bereits verrät, geht es mir um Ortungen und Verortungen von Theatergeschichte im Stadtarchiv Erlangen. Damit möchte ich eine doppelte Bewegung ansprechen: Orten bedeutet so viel, wie die »Position« oder »Lage von etw[as zu] ermitteln«, etwas zu »erkennen« oder »auszumachen«.6 Es wird vor allem im militärischen Kontext, im Flug- und Seewesen verwendet. Der Duden nennt als Beispiele: einen Heringsschwarm oder eine Rakete orten.7 Orten beschreibt also einen Suchvorgang unter dem Aspekt von Räumlichkeit. Verorten ist der nächste, festlegende Schritt und bedeutet, etwas »einen festen Platz in einem bestimmten Bezugssystem zu[zu]weisen«.8 Nach der Suchbewegung also die Einordnung, Festlegung, Systematisierung. Dieser doppelten Bewegung möchte ich mit Blick auf die Theatergeschichte Erlangens folgen. Es geht mir dabei um die Suche an einem ganz konkreten Ort, nämlich im Stadtarchiv Erlangen. Mein Ausgangspunkt ist also keine thematisch-inhaltliche Ausrichtung – etwa die Suche zu einem fest abgesteckten Themengebiet oder einer konkreten Fragestellung an verschiedenen Orten –, sondern es interessiert mich gerade die Institution des Stadtarchivs und die Frage, was ich dort zum Thema »Theater« finde: Was versteht ein städtisches Archiv unter Theater, unter welchen Prämissen bewahrt es Unterlagen und Materialien zum Theater auf? Wie systematisiert es diese Unterlagen? Und was bewahrt das Archiv nicht auf (denn wie ich noch ausführen werde, gehört gerade auch das Selektieren und Auswählen zu den Aufgaben des Archivs)? Interessant am Stadtarchiv als Ort theaterwissenschaftlicher Recherche ist die Tatsache, dass ein Stadtarchiv kein allein auf Theater und Theatergeschichte spezialisiertes Archiv ist – wie es sie ja auch gibt. Salopp formuliert könnte man sagen, das Stadtarchiv hat genug anderes zu tun, als sich auch noch um Theatergeschichte zu kümmern. Es tut es aber doch. Und gerade das motiviert die grundsätzliche Frage danach, wie es das tut und wie sich das im Laufe der Zeit in den archivierten Materialien ausdrückt.
6 D uden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. In zehn Bänden. 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Hg. vom wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion, Band 6: Lei-Peko, Mannheim u. a. 1999, S. 2821. 7 Vgl. ebd. 8 Duden, Band 9: Tach-Viad, S. 4256.
Stadt – Theater – Archiv
Eine gewisse Eingrenzung nehme ich bei meinem Vorgehen des Ortens dennoch vor, da ich mich insbesondere auf die Frage konzentriere, welche Unterlagen das Stadtarchiv zum Stadttheater Erlangen archiviert hat. Seit das Markgrafentheater 1838 an die Stadt überging, ist das Theater in wechselnden institutionellen Konstellationen Teil der Stadtverwaltung und darüber auch institutionell mit dem Archiv verbunden. Lange Zeit kümmerte sich die Stadt vor allem um den Unterhalt des Gebäudes, während der Gemeinnützige Verein die Organisation des Gastspielbetriebs übernahm. Mit der Einrichtung und Bespielung des Theaters in der Garage unter Manfred Neu in den 1970er Jahren begann dann die anhaltende Entwicklung eines eigenen städtischen Ensembletheaters. Mittlerweile ist das Theater Erlangen ein eigenes Amt innerhalb der Stadtverwaltung.9 In einem zweiten Schritt geht es mir dann um die Verortung, also um die Frage, wie sich die Funde und Befunde in größere Fragezusammenhänge sowohl inhaltlich-thematischer Art als auch systematischer Art einordnen lassen. Dafür gehe ich im Folgenden zunächst genauer auf das Stadtarchiv als Ort und Institution und auf seine Beziehung zum Stadttheater ein. Anschließend möchte ich Sie mitnehmen auf meine bisherige Spurensuche im Archiv, um anhand einiger Beispiele die genannten Fragen zu erläutern.
Das Stadtarchiv Das Stadtarchiv als Ort und Institution Das Stadtarchiv Erlangen findet sich seit dem 21. Oktober 2011 in der Luitpoldstraße 47 in Erlangen. Nachdem die Bestände über viele Jahre in über die Stadt verstreuten Magazinen gelagert wurden, hat es dort einen für seine Bedürfnisse hergerichteten, auch repräsentativen Ort in den ehemaligen Industriegebäuden der Medizintechnik-Firma Reiniger, Gebbert & Schall gefunden.10 Seit 2015 ist das Archiv ein eigenständiges Amt der Stadt Erlangen.11 Das Bayerische Archivgesetz sowie die Satzung der Stadt Erlangen für das Stadtarchiv regeln die juristischen Rahmenbedingungen und die Aufgaben des Stadtarchivs. So ist das Archiv als »Querschnittsamt« der Stadtverwaltung hauptsächlich für die Archivierung er-
9 Vgl. dazu Dieter Rossmeissl: »Ein Theater auf dem Weg zu sich selbst. Im Jahr 2001 wurde das Theater Erlangen selbständig«, in: Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.), 300 Jahre Theater Erlangen. Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2019, S. 137f. 10 Vgl. Andreas Jakob: Das Stadtarchiv Erlangen. 2011–2016, Erlangen 2016, S. 15, 32. 11 Vgl. ebd., S. 17.
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haltenswerter Akten aus der Stadtverwaltung zuständig.12 Dabei sind die anderen Ämter und Verwaltungseinheiten der Stadt verpf lichtet, ihre Unterlagen dem Stadtarchiv anzubieten, damit dieses prüfen kann, ob sie archivwürdig sind.13 Über die städtischen Verwaltungsunterlagen hinaus kann – laut Archivsatzung – »auch nichtstädtisches Archivgut« aufgenommen werden, »soweit daran ein öffentliches Interesse besteht«.14 Andreas Jakob – derzeitiger Leiter des Stadtarchivs – schreibt 2016 dazu: »In der Praxis gibt die Satzung dem Stadtarchiv also eine sehr breite Grundlage, weit über die städtischen Unterlagen hinausgehend eigentlich alles, was mit der Geschichte der Stadt zu tun hat, in seine Bestände zu übernehmen.«15 Zwischen dem Stadtarchiv und dem Stadttheater gibt es also, wie bereits erwähnt, eine institutionalisierte Beziehung, da die Stadt Eigentümerin bzw. Trägerin des Theaters ist und die damit einhergehenden Verwaltungsaufgaben ausübt (auch in Zeiten, in denen sie die inhaltlich-künstlerische Gestaltung dem Gemeinnützigen Verein überließ). Entsprechend wurden die anfallenden Verwaltungsakten ins Archiv überführt. Darüber hinaus haben auch andere Unterlagen zum Theater Erlangen (u. a. die vom Gemeinnützigen Verein gesammelten Dokumente) ihren Weg ins Archiv gefunden. Ich hatte bereits angesprochen, dass es jedoch nicht nur um die Frage geht, was das Archiv behält, sondern auch um die Frage, was es nicht auf bewahrt. Archive gelten ja gemeinhin als Orte des Bewahrens und Hütens. So formuliert es auch das Bayerische Archivgesetz: »Archivierung umfaßt die Aufgabe, das Archivgut zu erfassen, zu übernehmen, auf Dauer zu verwahren und zu sichern, zu erhalten, zu erschließen, nutzbar zu machen und auszuwerten.«16 Allerdings ist diesem Prozess die Aufgabe vorgeschaltet, die »Archivwürdigkeit« der Unterlagen und des Materials zu prüfen. Laut Gesetz gelten als archivwürdig jene »Unterlagen, die für die wissenschaftliche Forschung, zur Sicherung berechtigter Belange Betroffener oder Dritter oder für Zwecke der Gesetzgebung, Rechtsprechung oder Verwaltung von bleibendem Wert sind.«17 Entsprechend schreibt Andreas Jakob: »Die große Kunst der Archivare ist also nicht das Anhäufen immer größerer Papier-, Bild- und Datenmengen, sondern das Wegwerfen« – das sogenannte »Kassieren«.18
12 Vgl. Satzung der Stadt Erlangen für das Stadtarchiv. Erlangen (Archivsatzung), §3(1). 13 Vgl. A. Jakob: Das Stadtarchiv Erlangen, S. 79. 14 Satzung der Stadt Erlangen für das Stadtarchiv, §3(2). 15 A. Jakob: Das Stadtarchiv Erlangen. S. 83. 16 Bayerisches Archivgesetz, Art 2(3). 17 Ebd., Art 2(2). 18 A. Jakob: Das Stadtarchiv Erlangen, S. 83f.
Stadt – Theater – Archiv
Es ist also durchaus berechtigt, danach zu fragen, was ein Archiv nicht bewahrt und welche Konsequenzen das für – in unserem Fall – die theaterwissenschaftliche Arbeit mit sich bringt. Darüber hinaus gehört zu den Aufgaben des Archivs auch das Zur-Verfügung-Stellen des Materials an interessierte und berechtigte Nutzergruppen. Unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben (z. B. des Datenschutzes) bemühen sich Archive seit den 1990er Jahren um Bürgernähe und eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit19, was mich zum nächsten Aspekt führt: die Zugänglichkeit und Nutzung des Archivs.20
Zugänglichkeit und Nutzung des Archivs Sicher sind die meisten Menschen schon einmal an einem städtischen oder einem anderen Archiv vorbeikommen, ohne es aber besonders wahrzunehmen oder auf die Idee zu kommen, einfach einmal hineinzuschauen. Eine spontane Stippvisite im Archiv würde wohl auch kaum sehr lange dauern. Die am Empfang diensthabende Archiv-Mitarbeiterin würde den Besucher freundlich fragen, wonach er im Archiv sucht und erklären, dass es eines Anliegens bzw. einer Anfrage bedarf, um Unterlagen aus dem Archiv einzusehen. In Archiven kann man nicht herumstöbern wie in Flohmarktkisten oder auf den Dachböden alter Häuser, um sich davon überraschen zu lassen, was einem so in die Hände fällt. Die Nutzung des Archivs und der Zugang zu ihm sind nicht voraussetzungsfrei. Dem ungeübten Benutzer mag das Archiv dadurch zunächst als ein Haus mit vielen verschlossenen Türen erscheinen. So muss man in der Tat an der Tür des Stadtarchivs Erlangen klingeln, um Einlass zu erhalten. Durch den Empfangs19 Vgl. dazu Dorit-Maria Krenn, die in ihrem Beitrag zum Sammelband »Kommunalarchive« beschreibt, wie sich die »aktive Öffentlichkeitsarbeit […] zu den klassischen Pflichten eines Archivs und Archivars […] gesellt« hat (Dorit-Maria Krenn: »›Erlebnisort‹ und ›Bildungshort‹: Öffentlichkeitsarbeit in Kommunalarchiven«, in: Dorit-Maria Krenn / Michael Stephan / Ulrich Wagner (Hg.), Kommunalarchive – Häuser der Geschichte. Quellenvielfalt und Aufgabenspektrum, Würzburg 2015, S. 577–606, hier S. 577f.). In Erlangen öffnen sich beispielsweise beim Tag des Archivs, der im März stattfindet, die sonst verschlossenen Türen zu den Magazinen und Kellerräumen, so dass man bei einer Führung das Gebäude und seine Bestände kennen lernen kann. 20 Durch diesen veränderten Auftrag der Archive werden die Grenzen zu anderen Institutionen, wie z. B. der des Museums, fließender. Auch Archive erarbeiten mittlerweile Ausstellungen oder werden zum Ort künstlerischer Interventionen (vgl. bspw. Isi Kunath: ARCHIV_reloaded and remixed. Das Stadtarchiv Erlangen als Kunstobjekt. Katalog zur Ausstellung vom 26. Januar bis 8. März 2013. Hg. von Andreas Jakob / Isi Kunath, Erlangen 2013). Die Archivpädagogik bemüht sich um eine anschauliche Vermittlungsarbeit, u. a. auch mit theatralen Mitteln (vgl. Sigrid Dauks: »Aus den Akten auf die Bühne«. Inszenierungen in der archivischen Bildungsarbeit (= Historische Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit 2), Berlin 2010). Der Unterschied zur Institution der Bibliothek besteht darin, dass sich im Archiv überwiegend Unikate finden, die bei Verlust nicht ersetzbar sind.
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raum gelangt man dann bis in den Lesesaal. Die weiterführenden Flure zu Magazinen und Büros bleiben verschlossen. Man holt sich seine Archivalien auch nicht selbst aus dem Regal, sondern sie werden von den Archivmitarbeitern ›ausgehoben‹ und dem Benutzer überreicht, Sichten und lesen kann man sie nur im Lesesaal nach vorgegebenen Regeln (keine Fotos), wobei die Glaswand hin zum Empfangstresen daran erinnert, dass man hier durchaus unter Beobachtung steht. Das alles ist keine Schikane von Seiten des Archivs, sondern dient dem Archiv dazu, seinen Pf lichten und Aufgaben nachzukommen. Schließlich muss sichergestellt werden, dass die größtenteils nur als Unikate existierenden Archivalien auch zukünftigen Nutzern unverändert und unbeschädigt zur Verfügung stehen werden. Grundsätzlich ist jedoch festzustellen, dass Archive in Deutschland – insbesondere Stadtarchive – ihrem Grundverständnis nach spätestens seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert21 öffentliche und damit prinzipiell zugängliche Einrichtungen in einer auf Informationsrecht und Teilhabe basierenden Demokratie sind. So regelt die städtische Archivsatzung Erlangens das Benutzungsrecht folgendermaßen: »Das im Stadtarchiv verwahrte Archivgut kann nach Maßgabe dieser Satzung benutzt werden, soweit ein berechtigtes Interesse glaubhaft gemacht wird und nicht Schutzfristen oder schutzwürdige Interessen Dritter entgegenstehen. Ein berechtigtes Interesse ist insbesondere gegeben, wenn die Benutzung zu amtlichen, wissenschaftlichen, heimatkundlichen, familiengeschichtlichen, rechtlichen, unterrichtlichen oder publizistischen Zwecken oder zur Wahrnehmung von berechtigten persönlichen Belangen erfolgt.«22 Wer also ein derartig berechtigtes Interesse nachweist, kann eine entsprechende Anfrage ans Archiv stellen und setzt damit einen kommunikativen Prozess in Gang, der den auf schnelle Verfügbarkeit im Zeichen des Digitalen gestützten Gewohnheiten unserer Gesellschaft entgegengesetzt ist. Auf die Anfrage ans Archiv erhält man eine Antwort eines Archivmitarbeiters und meistens beginnt dann ein gemeinsamer Klärungsprozess, was genau man sucht und in welchen Archivmappen man eventuell fündig werden kann. Man hat es hier also mit hoch kompetenten Gesprächspartnern und ›Ortskundigen‹ zu tun, die einem mit ihrem Wissen um den Bestand des Archivs und ihren Recherchen bei der eigenen, anfänglich vielleicht noch vagen Suche zur Seite stehen. Das Archiv ist also nicht nur ein Ort, ein Gebäude mit einer Unmenge an Material und Unterlagen, in dem man mit Hilfe technischer Mittel wie den Findbüchern und Katalogen den Ortungsprozess 21 Vgl. D.-M. Krenn: »Erlebnisort« und »Bildungshort«, S. 577f. 22 Satzung der Stadt Erlangen für das Stadtarchiv, §6(1).
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beginnt. Es ist auch eine Einrichtung, die vom Engagement und der Kenntnis ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lebt.
Theatergeschichte im Stadtarchiv Die Zuständigkeit des Stadtarchivs für das Theater Erlangen beginnt zu dem Zeitpunkt, als das Markgrafentheater von der Stadt übernommen wurde – nämlich als diese das Theater 1838 von der Universität abkaufte, die sich nur mit mäßigem Engagement um das ihr überlassene Theatergebäude gekümmert hatte.23 Wer also nach Theaterarchivalien von vor dieser Zeit sucht, wird an andere Archive – etwa das Staatsarchiv in Bamberg – verwiesen. Dennoch finden sich im Stadtarchiv Erlangen auch Theaterarchivalien aus früherer Zeit, insbesondere eine Sammlung von Theaterzetteln des 18. Jahrhunderts, die auf die damals noch verbreitete Theaterform der Wandertheatergruppen verweist und damit die Perspektive von der lokalen Theatergeschichte bis weit über die Grenzen Erlangens hinaus erweitert.24 Der Archivalienbestand zum Theater Erlangen spiegelt dabei die unterschiedlichen in Erlangen am Stadttheater beteiligten Gruppen und Institutionen. Neben der Stadt als Eigentümerin des Theaters ist das der Gemeinnützige Verein, der viele Jahrzehnte die Spielplangestaltung übernahm. In der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs kommt das Theaterunternehmen von Albert Dörner und Elly Probst hinzu, das für wenige Jahre mit eigenem Ensemble das Markgrafentheater bespielte. Und schließlich der im Zuge der Einrichtung des Theaters in der Garage zunächst unter dem Namen Verein der Freunde und Förderer des Theaters in der Garage e.V. gegründete heutige Förderverein Theater Erlangen e.V. Darüber hinaus sammelt das Stadtarchiv Erlangen keineswegs nur Archivalien zum Stadttheater. Seinem gesamtkulturellen Geschichtsauftrag folgend, finden sich im Stadtarchiv beispielsweise auch Archivalien zur Studiobühne oder zum Figurentheaterfestival, also auch zu anderen Organisationsformen als der des Stadttheaters.25 Zudem hängt die Suche nach Theatergeschichte im Archiv natürlich auch mit der in der Theaterwissenschaft viel diskutierten Frage zusammen, was denn überhaupt unter Theater zu verstehen sei. Setzt man den für die historische Vielfalt von Schauereignissen offeneren Begriff der ›Theatralität‹26 an, so geraten 23 Vgl. hierzu den Beitrag von Hans-Friedrich Bormann im vorliegenden Band. 24 Vgl. hierzu den Beitrag von Silvia Buhr im vorliegenden Band. 25 Vgl. hierzu den Beitrag von Bodo Birk im vorliegenden Band. 26 Vgl. zum Begriff der ›Theatralität‹ bspw. Erika Fischer-Lichte: »Theatralität als kulturelles Modell«, in: Dies. et al. (Hg.), Theatralität als kulturelles Modell in den Kulturwissenschaften, Tübingen 2004, S. 7–26; Matthias Warstat: Artikel »Theatralität«, in: Erika Fischer-Lichte / Doris Kolesch / Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, 2. akt. und erw. Aufl., Stuttgart / Weimar 2014, S. 382–388.
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auch andere Darbietungsformen wie etwa Zirkusvorführungen oder öffentliche Hinrichtungen ins Blickfeld des eigenen Ortungsverfahrens. Hier wird also noch einmal deutlich, dass sich die allgemeine Frage, was sich im Stadtarchiv zur Theatergeschichte finden lässt, pauschal nicht beantworten lässt. Je nach Untersuchungsansatz wird man eventuell nicht in den Archivmappen fündig, die unter dem Begriff »Theater« verschlagwortet sind, sondern muss anderen Spuren folgen, die zu den jeweils gesuchten Phänomenen führen könnten (bspw. Gerichtsakten im Falle von Hinrichtungen). Wie bereits angedeutet, werde ich mich zunächst auf die Beziehung des Stadtarchivs Erlangen zum Stadttheater Erlangen konzentrieren. Auch hier stellt sich die Frage, was das Archiv am Theater seiner Stadt interessiert. Was von dem, was ein Theater an Unterlagen und Material produziert, wird für archivierungswürdig angesehen? Verändert sich das im Laufe der Zeit? Womöglich gibt es ja auch Diskrepanzen zwischen den Erwartungen der Theaterwissenschaftlerin und dem Blick des Archivars, der ja gewissermaßen gezwungen ist, künftige Forschungsinteressen zu antizipieren. Um einen diachronen Überblick zu gewinnen, habe ich mich für diesen Beitrag nicht auf einen Zeitpunkt der Erlanger Theatergeschichte konzentriert, sondern Stichproben aus unterschiedlichen Jahrzehnten gesammelt, wobei nur der Zeitraum zwischen den 1830ern und den 1950er Jahren berücksichtigt wurde. Die Auswahl folgte dabei bewusst einem gewissen Zufallsprinzip, um den Blick offen zu halten und mich von dem überraschen zu lassen, was das Archiv zur Geschichte des Erlanger Theaters bereithält. Im Folgenden möchte ich die Ergebnisse dieser Spurensuche im Stadtarchiv Erlangen vorstellen, wobei ich die Beispiele um Themen und Motive gruppiert habe, die zugleich auch Bezüge zwischen den einzelnen Quellenfunden und übergeordneten Fragen theaterwissenschaftlicher Forschung ermöglichen.
Das Stadttheater im Stadtarchiv – Ortungen und Verortungen Die Materialität des Archivs Die Arbeit im Archiv ist überwiegend noch eine haptische Erfahrung. Die Möglichkeit, Archivunterlagen zu scannen, wird zwar zukünftig dazu führen, dass man zunehmend weniger die Originalquelle in die Hand nimmt (auch um diese zu schonen), sondern ein digitales Abbild am Bildschirm betrachtet; in der Gegenwart erhält man jedoch in den meisten Fällen noch eine Akte mit Papierdokumenten überreicht. Damit verbunden ist durchaus eine spezifische, sinnliche Erfahrungsdimension bei der Quellenarbeit, die verloren geht, wenn man nur die digitalisierten Abbilder betrachtet. Beispielsweise unterscheiden sich die Akten
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Abb. 1: Bericht von Wachtmeister Heinrich Ott, 11. August 1946 aus den Jahrzehnten verschiedener Jahrhunderte schon durch die Haptik des verwendeten Papiers: Steife, feste Papierbögen aus den Anfängen des 19. Jahrhunderts liegen schwer in der Hand, während man beim teilweise hauchdünnen Durchschlagpapier für Schreibmaschinen, das ab den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Verwendung fand, in Sorge ist, es beim Umblättern nicht zu beschädigen. Der Großteil der Akten, die ich bestellt habe, sind schriftliche Dokumente: amtlicher Schriftverkehr zum Theater aus unterschiedlichen Zeiträumen, Register, Rechnungen, Briefe, Werbebroschüren. Bevor ich daran gehe, mich mit dem Inhalt auseinanderzusetzen, sticht mir das jeweils unterschiedliche Schriftbild ins Auge, das jedem Dokument einen eigenen graphischen Charakter verleiht. Ein mit spitzer Feder feinsäuberlich aufgelistetes »Inventarium der zum Theater gehörigen Dekorationen und Gerätschaften«27 von 1843. Eine maschinengeschriebene Meldung des Schutzpolizisten Heinrich Ott zu Vorfällen im Theater von 1946, die teilweise handschriftlich ausgebessert wurde und auf die sich die schwarzen und blauen Schriftzüge eines anderen Dokuments abgefärbt haben (vgl. Abb. 1).28 Der – bereits zitierte – in akkurater Schönschrift auf zwei linierten Schreibbögen verfasste Brief der Theaterhausmeistersehefrau Grete Lang von 1949 (vgl. Abb. 2).29 27 Stadtarchiv Erlangen, F413/4a. 28 Stadtarchiv Erlangen, F413/67. 29 Stadtarchiv Erlangen, F413/5.
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Abb. 2: Auszug aus dem Brief der Hausmeistersehefrau Grete Lang, 4. Oktober 1949
Bühnenausstattung Neben der Vielzahl an schriftlichen Dokumenten stoße ich in einer Sammelmappe, die hauptsächlich Korrespondenz zwischen Theaterlieferanten und dem Stadtmagistrat aus den 1880er Jahren enthält30, auf ein Dokument, das sich in seiner Materialität von den papierenen Bögen absetzt und dadurch überrascht: Es handelt sich um einen Bogen, auf den kleine Stücke von Stoffproben geklebt sind. Die Farben sind gedeckt, die Stoffe f loral gemustert. Handschriftlich ist vermerkt, dass die Stoffe für Stühle und Kissen vorgesehen sind. Während die Unterlagen aus Papier von vorneherein eher der Welt der Verwaltung und der des Archivs zugehören, verweisen die Stoffstücke – wenn auch nur fragmentarisch – auf die Materialien, die auf der Theaterbühne selbst zum Einsatz kamen oder kommen sollten (vgl. Abb. 3). Anders als die Stoffproben finden die dreidimensionalen Gegenstände der Bühnenausstattung oder gar ganze Bühnenbilder in der Regel keinen Platz im Archiv. Da die Bühnenausstattung zu groß und sperrig ist, bleibt kaum die Möglichkeit, sie langfristig aufzubewahren. Finden sich in spezialisierten Theaterarchiven und -museen zumindest häufig die Zeichnungen von Bühnenbildentwürfen oder kleine Modelle und mit dem Auf kommen der Fotografie auch zunehmend 30 Stadtarchiv Erlangen, F413/26.
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Abb. 3: Stof fproben, ca. 1880
Abb. 4: Stuhlskizzen, ca. 1880
Abbildungen der tatsächlich eingesetzten Bühnenausstattung, so findet sich in den bislang von mir gesichteten Archivalien des Stadtarchivs keine bildliche Dokumentation von Bühnendekoration. Einzige – und wie bei den Stoffproben sehr fragmentarische – Ausnahme ist ein mit »Flüchtigen Skizzen« überschriebener Bogen der gleichen Sammelmappe, auf der eine von Hand gezeichnete Tabelle zu sehen ist, in die links Zeichnungen von Stühlen aufgeklebt wurden, während rechts eine Preisliste aufgeführt wird. Teilweise sind die Zeichnungen koloriert.31 Hier ist also zumindest der bildliche Entwurf einer möglichen Theaterausstattung dokumentiert (vgl. Abb. 4). Daneben gibt für das 19. Jahrhundert der Briefverkehr mit Lieferanten von Bühnenausstattungselementen Hinweise auf die bestehenden oder möglichen Ausstattungselemente. In diesen Dokumenten spiegelt sich auch die Theaterpraxis des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die Bühnenausstattung nicht in theatereigenen Ateliers für jede Inszenierung individuell anzufertigen, sondern bei darauf
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spezialisierten Firmen immer wieder verwendbare, stereotype Ausstattungselemente einzukaufen.32 In den Akten der Erlanger Stadtverwaltung aus den 1880er Jahren findet sich hierzu der Briefverkehr mit dem Atelier für Theatermalerei und Bühnenbau von F. Lütkemeyer aus Coburg.33 Der Schriftwechsel lässt ansatzweise erahnen, was auf der Bühne des Erlanger Theaters damals zu sehen war und verweist auf die damalige Ausstattungsästhetik. So geht es in einem Schreiben von Lütkemeyer vom 10. Juni 1887 an den »wohllöblichen Magistrat« der Stadt Erlangen darum, dass Lütkemeyer die versprochenen Vorhangskizzen leider noch nicht schicken kann, da er sie verborgt und noch nicht zurückerhalten habe; es handelte sich also nicht um exklusive Entwürfe für das Erlanger Theater. Zudem macht Lütkemeyer einen Kostenvoranschlag und rät, »[a]uf den schon vorhandenen Vorhang […] einen Wald malen zu lassen.«34 Mit dem Verweis auf den Vorhang wird wiederum die Materialität des Theaters angesprochen – der schwere rote Samtvorhang ist für uns ja geradezu zu einem ikonografischen Zeichen für Theater geworden –, ohne dass sich diese Materialität jedoch im Archiv wiederfindet. Wir erfahren durch die Quelle nur, dass das gemalte Abbild eines Waldes auf der Bühne zu sehen sein sollte. In einem Dokument aus späterer Zeit werden wir auf echte Bäume als Ausstattungselemente stoßen – ich komme also auf das Thema Bühnendekoration noch einmal zurück. Neben diesem Brief zur Vorhanglieferung finden sich verschiedene Kostenvoranschläge und Rechnungen für die Bühnenausstattung in der Akte. Ein Kostenvoranschlag enthält die Posten »ein Kamin mit Spiegel, eine Kirche und einen ›Hintersetzer‹ für dieselbe, ein Haus, Büsche, eine Höhle für die Mitte, eine Rückwand für dieselbe, ein Ziehbrunnen, eine Schmiedeesse.«35 Ein weiteres Dokument listet folgende Ausstattungselemente auf: »[E]in Bauernbogen und Felsen sowie eine Gebirgslandschaft (1 Prospekt), ein Luftprospekt, eine Tropische Landschaft (1 Prospekt), eine Romantische Halle, die auch als Kirche zu verwenden ist (bestehend aus 1 Prospekt, 1 Bogen hierzu, Coulissen, Soffiten und Versatzstücken (Altar oder Heiligenschrein)).«36
32 Vgl. zu industriellen Produktionsformen der Theaterausstattung Stefanie Watzka: »Baruch, Sliwinski und Co. Serielle Theaterproduktion an der Wende zum 20. Jahrhundert«, in: Friedemann Kreuder / Stefan Hulfeld / Andreas Kotte (Hg.), Theaterhistoriographie. Kontinuitäten und Brüche in Diskurs und Praxis (= Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 36), Tübingen 2007, S. 151–178. 33 Vgl. Stadtarchiv Erlangen, F413/26. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Ebd.
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Von letzterer Aufzählung wurden dem angefügten Plenarbeschluss zufolge allerdings nur die Gebirgslandschaft und das Luftprospekt bestellt. Es handelt sich also um eine Auswahl an vorgefertigten Bühnenelementen, bei denen die verschiedenen Orte und Räume, an denen die Handlung eines Theaterstücks spielen soll, auf Kulissenelemente gemalt wurden. Diese Ausstattungselemente gehören, wie bereits erwähnt, zu einer stereotypen Ausstattungspraxis, die unserem gegenwärtigen Verständnis von Theaterinszenierungen fremd ist. Gleichwohl werfen solche Auf listungen die Frage auf, welche Stücke wohl damit ausgestattet wurden. Hier wäre der nächste Schritt die Recherche nach den Spielplänen aus jener Zeit. Zudem öffnet die teilweise industriell betriebene Herstellung von Theaterausstattung aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert auch die Perspektive über die lokale Bühnenästhetik der einzelnen Theater hinaus auf die gesamte Theaterlandschaft: Welche Theater haben noch bei der Firma Lütkemeyer bestellt, in welchen Theatern war also die genannte Gebirgslandschaft noch zu sehen? Und gab es doch individuelle Wünsche und Anforderungen der Kunden oder war gerade das Standardisierte das, wonach man suchte?
Feuerschutz oder Konflikte 1 Eine weitere, umfangreiche Archivmappe, die den Zeitraum von 1900 bis 1933 umfasst, gibt beredt Auskunft über ein Thema, das die Theater jahrhundertelang beschäftigt hat: die Angst vor Theaterbränden. Durch die Einführung der Gasbeleuchtung im 19. Jahrhundert und die dadurch ausgelösten Brandkatastrophen37 wurde der Feuerschutz eines der zentralen Anliegen der für die Theater zuständigen Behörden. Das spiegelt sich auch in den Archivalien zum Erlanger Theater: Es finden sich dicke Aktenstapel mit Dienstanweisungen für die Feuerwehr, Angebote von Firmen für Feuerlöscher und amtlicher Schriftverkehr zu notwendigen Brandschutzmaßnahmen. In einem der Dokumente rückt auch das Theaterpublikum als Gefahrenquelle für Brände in den Blick: Eine Akte des Stadtrats vom 20. Oktober 1921 dokumentiert den Bericht des Feuerwehrkommandanten Brückner, dass Zuschauer das Theater verbotenerweise mit brennenden Zigaretten oder Zigarren beträten und den Weisungen der Feuerwehrleute, diese zu löschen, häufig nicht Folge leisten würden. Laut Stadtratsbeschluss soll die Schutzmannschaft am Eingang des Theaters die Einhaltung des Rauchverbots sicherstellen: »Zuwiderhandelnde sind höflich aber bestimmt auf diese Verbote aufmerksam zu machen und es ist auf den sofortigen Vollzug […] bestimmt zu dringen. Perso37 Vgl. Ute Daniel: Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1995, S. 323–328.
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nen, die sich der Anordnung trotz Verwarnung nicht fügen, sind aus dem Theater wegzuweisen.« 38 Ein Vermerk aus dem Jahre 1926 führt an, dass auch bei Proben, die im Übrigen der Stadt vorher anzuzeigen sind, zwei Feuerwehrleute anwesend sein müssen. Lange bevor das Rauchen aus öffentlichen Räumen aus gesundheitlichen Gründen verbannt wurde, wird das Theatergebäude zum Konf liktfeld zwischen behördlichen Interessen der öffentlichen Sicherheit und den Verhaltensgewohnheiten des Publikums, mit der Konsequenz, dass das Publikum – wenn es sich nicht anpasst – aus dem Theater verwiesen wird. Aus Sicht des Brandschutzes ist das Theater also ein ständiger Ort der Gefahr und darf nur benutzt werden, wenn die erforderlichen Abwehrmaßnahmen getroffen werden. Ausgehend von dem umfangreichen Aktenmaterial zu diesem Thema ließe sich weiter danach fragen, welche Konsequenzen die Maßnahmen zum Brandschutz für die künstlerische Arbeit hatten und haben und wie sich das Konf liktfeld von behördlichen Interessen einerseits und Verhaltensweisen von Theatermachern und Publikum andererseits auf die Theaterarbeit ausgewirkt hat.
Das Theater als Wohnort oder Konflikte 2 Das Thema Feuerschutz und die Frage nach den besonderen Bedingungen von Theaterarbeit begegnen uns noch einmal in den Akten zum Erlangern Theater aus den Nachkriegsjahren des Zweiten Weltkriegs. Bereits 1945 hatte das von Albert Dörner und Elly Probst geleitete Theaterunternehmen die Bespielung des unzerstörten Markgrafentheaters begonnen. Zahlreiches Aktenmaterial dokumentiert das ambitionierte Theaterunternehmen, das – wie es der Intendant Dörner in einem Zeitungsinterview ausdrückte – nach Ende des Krieges »den Menschen durch heilende, helfende und klärende Kräfte dienen« möchte.39 Im Zuge der Währungsreform gerät das Unternehmen jedoch in finanzielle Schwierigkeiten und scheitert schließlich. Das finanzielle Debakel, das die Theatermacher mit hohen Schulden zurücklässt, hat ebenfalls reichlich Aktenmaterial erzeugt. Insbesondere dokumentieren die Akten ausführlich die aus dem Bankrott resultierende ablehnende Haltung der Stadt gegenüber einem Theater mit eigenem Ensemble. In den Folgejahren organisierte dann der 1945 wiedergegründete Gemeinnützige Verein erneut Gastspiele im Theater, zunächst vorrangig aus Nürnberg und nach dem Umbau von 1959 dann Produktionen aus ganz Deutschland und dem Ausland.
38 Stadtarchiv Erlangen, F413/4. 39 S tadtarchiv Erlangen, F413/67. Vgl. zum Theaterverständnis der Nachkriegszeit auch die Beiträge von Lea-Sophie Schiel und Hans-Friedrich Bormann im vorliegenden Band.
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Auch unter der Intendanz von Dörner und Probst ist Feuerschutz ein Thema, das sich hier mit der von Theatermachern und Stadtverwaltung unterschiedlich bewerteten Frage, wie man ein Theater nutzen soll, verbindet. In einem umfangreichen Schriftverkehr zwischen Stadt und Theaterleuten geht es nämlich darum, dass die Garderobenräume des Theaters von Mitgliedern des Theaterensembles bewohnt werden, was unter anderem den Brandschutzverordnungen zuwider läuft. So heißt es in einem Schreiben der Theaterleute vom 25. März 1948 an das Stadtbauamt: »Sehr geehrter Herr Amtmann! Bezugnehmend auf Ihr Schreiben vom 3.11.47, in dem Sie uns nahelegten, die von uns als Schlafräume für Mitglieder und vor allem für Gäste benützten Nebenräume des Theaters frei zu machen, müssen wir Ihnen heute zu unserem größten Bedauern mitteilen, dass es uns bis jetzt trotz all unserer Bemühungen nicht möglich war, andere Unterkünfte für die in diesen Räumen untergebrachten Mitglieder zu beschaffen. Das Wohnungsamt Erlangen ist leider nicht in der Lage, uns Zimmer zur Verfügung zu stellen. Ebenso unmöglich ist es für Gäste, deren Aufenthaltsdauer sich von 14 Tagen bis 4 Wochen erstreckt, für diese Zeit ein Hotelzimmer zu erhalten […], sodass uns tatsächlich kein anderer Ausweg bleibt als die Garderobenräume für diese Leute als Übernachtungsmöglichkeit hinzuzuziehen.«40 Albert Dörner, der den Brief unterzeichnet hat, bittet noch darum, dass auf das Wohnungsamt eingewirkt werde, Zimmer zur Verfügung zu stellen und dass die Theaterleute »selbstverständlich weiterhin bemüht sein werden, um den gewünschten Zustand möglichst herzustellen.« Am 19. August 1948 unterzeichnen die Theaterleute eine Erklärung, dass sie »darüber belehrt worden« seien, »dass wir verpf lichtet sind, die feuerpolizeilichen Vorschriften des Stadtrates Erlangen bezüglich des Theatergebäudes auf das gewissenhafteste zu beachten.« Daraufhin geht am 20. August ein Schreiben an Albert Dörner und Elly Probst, in dem sie darauf hingewiesen werden, dass das Bewohnen der Garderobenräume diesen feuerpolizeilichen Anordnungen widerspricht und dass »das Theatergebäude bis spätestens 31. August 1948 von derartigen Bewohnern zu räumen« ist. Aus den weiteren Unterlagen wird zudem deutlich, dass es anscheinend immer mehr Personen sind, die im Theater Wohnung genommen haben – was die Absichtserklärungen der Theatermacher doch etwas fragwürdig erscheinen lässt. War am Anfang zunächst nur von zwei alleinstehenden Herren und den genannten Gästen die Rede, so wird im September 1948 festgestellt, dass auch Elly Dörner mit Kind im Theater wohnt und ein Schreiben vom 1. Oktober spricht von insgesamt zehn 40 Stadtarchiv Erlangen, F413/5. Die folgenden Zitate stammen aus dem Vorgang ebd.
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bis elf Personen, die dauerhaft im Theater wohnen. Das Bemühen der Theaterleute, dem Ansinnen der Stadtverwaltung nachzukommen, scheint also nicht sehr ausgeprägt gewesen zu sein. In einem Schreiben des Wohnungsamtes an das Baureferat (Referat V) kommen auch die Argumente der Theaterleute zur Sprache: So lehnte Herr Meng mitsamt Frau und Kind einen Umzug in den ihm zugewiesenen Wohnraum ab »mit dem Bemerken, er wäre im Winter zu schwer heizbar zu machen.« Auch dem Intendanten Dörner mit Familie waren zwei Räume mit insgesamt 22 m2 Wohnraumf läche in der Hindenburgstraße 24 zugewiesen worden, die er ebenfalls ablehnte: »Herr Doerner, nebst Frau sind den ganzen Tag im Theater beschäftigt. Da er zur Zeit die Operette ›Schwarzwaldmädel‹ in Bearbeitung hat, kommt er erst nachts heim, so daß die Nachtstunden dann für ihn zum Familienleben werden. Aus diesem Grund hat er von der Zuweisung der beiden Räume Abstand genommen und gleichzeitig die Bitte formuliert, daß man ihm den Raum, welcher über der Portierloge liegt, nach Auszug des Herrn Dr. Prasch zuweist. Er vertrete die Ansicht, daß 1. einmal die Garderobenräume freiwerden und 2. eine Feuergefahr wohl nicht mehr gegeben sei!« Hier zeigen sich neben den prekären Wohnverhältnissen der Nachkriegsjahre, die von Platzmangel und geringem Wohnkomfort geprägt sind, auch die Besonderheiten der Theaterarbeit, die meist ungewöhnliche Arbeitszeiten mit sich bringt und in der sich Arbeit und Familienleben nur schwer in der üblichen Form verbinden lassen. In der Verknüpfung von Wohn- und Arbeitsstätte und der Integration der Familien an den Arbeitsplatz erinnern diese Verhältnisse eher an vormoderne Arbeitsorganisationsformen. Auch zeigt sich trotz allem gef lissentlichen Entgegenkommen im Schriftverkehr eine gewisse Renitenz der Theatermacher gegen die behördlichen Sorgen um den Feuerschutz. Erst auf einem Dokument vom 21. Dezember 1948 findet sich der handschriftliche Vermerk: »Die als Wohnungen benützten Räume im Markgrafentheater sind restlos geräumt.«
Die Theatermacher und ihr Publikum Neben den Konf likten, die es zwischen den Behörden einerseits und den das Theater behausenden Theaterleuten sowie dem rauchenden Publikum andererseits gab, ist auch das Verhältnis zwischen Theatermachern und Publikum nicht ganz frei von Konf likten. Gleichzeitig versuchten die Theatermacher in den schwierigen Nachkriegsjahren mit für die heutige Zeit zunächst ungewöhnlich erscheinenden Argumenten, Zuschauer ins Theater zu locken. Da es noch keine Tageszeitung gab, wurden Bekanntmachungen des Theaters im Amtsblatt veröffentlicht.
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Am 29. November 1945 übermitteln die Theatermacher der Stadtspitze ihren Wochen-Spielplan, mit der Bitte diesen bekannt zu geben und dazu zu schreiben, dass das Theater geheizt sei.41 Dieser zweiten Bitte kommt die Stadt jedoch nicht nach – vielleicht erschien das Argument des geheizten Theaterraums den Stadtoberen als zu profan und wenig geeignet, den in den Programmheften proklamierten hohen Kunstanspruch des Theaters glaubhaft zu machen.42 Dabei ist auch die Heizbarkeit des Theaters ein Thema, das einem in der deutschen Theatergeschichte immer wieder begegnet. Das Problem verweist auf die oft übersehenen, aber ganz grundlegenden Bedingungen, unter denen man als Zuschauer oder Darsteller überhaupt an einer Theateraufführung teilhat und ist ganz sicher auch nicht unerheblich für die ästhetischen Erfahrungen, die man bei einem Theaterbesuch macht. In einem anderen Dokument aus dieser Archivmappe steht hingegen ein Konf likt zwischen Theatermachern und Publikum im Zentrum, der mit der Frage verbunden ist, wie man sich im Theater zu verhalten habe. So kommt es zwischen dem Intendanten und einigen Zuschauern zum Streit, da diese während einer Aufführung den Theatersaal verlassen hatten, um auf die Toilette zu gehen, der Intendant sie im Anschluss aber nicht wieder hineinlassen wollte. Dokumentiert ist dieser Zwischenfall in einem Schreiben des Polizeiamts, verfasst von Wachtmeister Heinrich Ott am 11. August 1946.43 Im Duktus des Polizeiberichts heißt es wörtlich: »Nach dem 1. Akt entfernten sich einige Personen aus dem Saal zum Austreten. Als diese Personen wieder in den Saal wollten, weigerte sich der Intendant (Herr Doerner) die betreffenden Leute wieder in die Vorstellung zu lassen, mit der Begründung, dass sie während der Vorstellung den Saal nicht zu verlassen hätten. Diese Personen waren darüber sehr erbost, mit der Entschuldigung, sie wußten das nicht. Nach längerer Auseinandersetzung wurden sie wieder in die Vorstellung gelassen. Es wäre daher angebracht, entweder an der Tür ein Schild an zu bringen, mit den [sic!] Hinweis, während der Vorstellung ist es verboten den Saal zu verlassen, oder das Aufsichtspersonal ist anzuweisen, dass sie niemanden heraus lassen, oder diesen Leuten gleich sagen, dass sie dann keinen Zutritt mehr haben.«44 Der Intendant erwartete von seinem Publikum anscheinend eine bestimmte Haltung und auch ein gewisses Durchhaltevermögen und sah die Theateraufführung 41 Vgl. Stadtarchiv Erlangen, F413/67. 42 Auf einem Plakat von 1948 findet sich dann allerdings doch der Hinweis »Das Theater ist geheizt!«. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Silvia Buhr im vorliegenden Band. 43 Stadtarchiv Erlangen, F413/67. 44 Ebd.
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als etwas an, das nicht durch Bewegung im Zuschauerraum gestört werden durfte. Die Zuschauer teilten diese Erwartungshaltung offensichtlich nicht und waren von der Maßregelung überrascht und verärgert. Der Zwischenfall verweist noch einmal darauf, dass Theater ein von Konventionen geprägter Ort ist; Konventionen, die jedoch auch teilweise erst ausgehandelt werden müssen und zu unterschiedlichen Zeiten ganz unterschiedlich ausfallen können.
Eine Aufführung, die nicht stattgefunden hat Nachdem es bislang um die Materialien und die Materialität von Theater und Archiv, die Frage nach den Spuren der Bühnenausstattung im Archiv sowie um die Konf likte und Beziehungen zwischen städtischer Verwaltung, Theatermachern und Publikum ging, möchte ich zum Schluss noch einmal den Blick auf die Aufführung lenken. Hierzu möchte ich noch eine letzte Archivalie aus meiner bisherigen Recherche vorstellen; sie stammt aus der Zeit, nachdem das Theaterunternehmen Dörner / Probst den Theaterbetrieb aufgeben musste und der Gemeinnützige Verein wieder Gastspiele im Markgrafentheater organisierte. So findet sich in den Archivalien ein Schreiben vom 30. April 1953. Der Betreff lautet »Kindermärchenspiel am 29. Mai 1953; hier: Lieferung von 5 Birkenbäumen«. Im folgenden, maschinengeschriebenen Text heißt es: »I. Herr Hesse als Theaterleiter des Markgrafentheaters Erlangen hat darum gebeten, dass er für das Kindermärchenspiel am 29. Mai 1953 5 Birkenbäume zur Aufstellung auf der Bühne zur Verfügung gestellt bekommt. Die Bäume sollen ca. 5 m hoch sein. II. Abteilung 11 mit der Bitte um Einschlag von 5 Birkenbäumen und Antransport an das Markgrafentheater Erlangen am 27.5.53. Diese 5 Bäume sollen dem Hausmeister Lang vom städt. Redoutensaal übergeben werden.« 45 Darunter findet sich ein Vermerk vom 2. Juni 1953: »I. Das Märchenspiel ist ausgefallen. Ob der Theaterleiter auf die Birkenbäume noch Wert legt, ist ungewiss. Obfw. [Oberforstwart; Anm. D. P.] Hofmann ist auf Antrag bereit, einige Birkenbäumchen zu den üblichen Bedingungen abzugeben. II. Bis auf weiteren Anlasse zum Akt. Ref. V. [das Baureferat; Anm. D. P.].« 46 Hier haben wir es also noch einmal mit dem Thema Bühnendekoration zu tun: diesmal nicht in Form eines aufgemalten Waldes, sondern in Form von fünf echten Birkenbäumen, die zur Bühnenausstattung eines Kindermärchenspiels die45 Stadtarchiv Erlangen, F413/5. 46 Ebd.
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nen sollten. Bemerkenswert ist nun, dass die Theatervorstellung gar nicht stattgefunden hat, aber dennoch ihre Spuren im Archiv hinterlassen hat. Die geplante Bühnenästhetik machte einen Verwaltungsakt notwendig, nämlich die Bestellung der Birken beim Oberforstwart Hofmann und die Regelung der Anlieferung (hier begegnet uns übrigens einmal der Ehemann von Frau Lang), und dieser Vorgang schlägt sich in den archivierten Akten nieder. Die Ungewissheit darüber, ob die Birken nach Absage der Vorstellung noch gebraucht werden, verweist darauf, dass auch zu diesem Zeitpunkt die Kommunikation zwischen Stadtverwaltung und Theater nicht ganz reibungslos verlief, bzw. zeigt vielleicht auch wieder die Diskrepanz zwischen behördlichen und künstlerischen Kommunikationslogiken. Für die Stadtverwaltung wäre eine Abbestellung der Birken vermutlich der korrekte Weg, während für die Theaterleute vermutlich die Absage der Aufführung ausreichend belegt, dass keine Birken mehr gebraucht werden. Wie ich bereits beim Brief der Hausmeistersehefrau erläutert hatte, verweist auch diese Quelle auf die Lücken, die sie lässt, und die Fragen, die durch sie erst aufgeworfen werden: Was außer den fünf Birken – seien es nun fünf Meter hohe Bäume oder doch eher »einige Bäumchen« – wäre bei dieser Theateraufführung noch auf der Bühne zu sehen und zu hören gewesen? Welches Märchen wäre gespielt worden? Wie hätten sich der oder die Akteure auf der Bühne bewegt und wie hätten sie mit den Kindern interagiert? Welche ästhetischen Erfahrungen hätten die Zuschauer während dieser Aufführung gemacht? Meine bisherigen Recherchen im Stadtarchiv zeigen, dass sich in dem von mir untersuchten Zeitraum bis in die 1950er Jahre zum eigentlichen Aufführungsgeschehen relativ wenig detaillierte Unterlagen finden.47 Ist es durch den f lüchtigen Charakter der Aufführung an sich schon schwierig, sich dieser über historische Quellen zu nähern, so wird diese Problematik noch dadurch verstärkt, dass das städtische Archiv seinem Auftrag folgend zunächst vorrangig den amtlichen Schriftverkehr der Stadtverwaltung auf bewahrte. Dadurch können durchaus Spannungen zwischen den Erwartungen der theaterwissenschaftlichen Forschungsarbeit und deren Interesse am Aufführungsgeschehen einerseits und den formalen Logiken des Archivs andererseits entstehen. Wie die vorgestellten Beispiele jedoch auch zeigen, heißt das nicht, dass diese Quellen nicht von theaterwissenschaftlichem Interesse sind: An den Archivalien der Institution des Stadttheaters werden die divergierenden Interessen und Anliegen der an Theater beteiligten Personengruppen und Einrichtungen sichtbar. Gerade dann, wenn es zu Konf likten kommt, treten die unterschiedlichen Erwartungshaltungen deut-
47 Hier ist darauf hinzuweisen, dass vor allem für die jüngere Zeit von Seiten des Theaters Unterlagen ins Archiv gegeben wurden, die stärker die künstlerische Arbeit und die Aufführungen dokumentieren.
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lich hervor, wird greif bar, was Theater in unterschiedlichen historischen Kontexten für die Beteiligten bedeutete.
Literaturverzeichnis Ute Daniel: Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1995. Sigrid Dauks: »Aus den Akten auf die Bühne«. Inszenierungen in der archivischen Bildungsarbeit (= Historische Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit 2), Berlin 2010. Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. In zehn Bänden. 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auf lage. Hg. vom wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion, Mannheim u. a. 1999. Erika Fischer-Lichte: »Theatralität als kulturelles Modell«, in: Dies. et al. (Hg.), Theatralität als kulturelles Modell in den Kulturwissenschaften, Tübingen 2004, S. 7–26. Andreas Jakob: Das Stadtarchiv Erlangen. 2011–2016, Erlangen 2016. Isi Kunath: ARCHIV_reloaded and remixed. Das Stadtarchiv Erlangen als Kunstobjekt. Katalog zur Ausstellung vom 26. Januar bis 8. März 2013. Hg. von Andreas Jakob / Isi Kunath, Erlangen 2013. Dorit-Maria Krenn: »›Erlebnisort‹ und ›Bildungshort‹: Öffentlichkeitsarbeit in Kommunalarchiven«, in: Dorit-Maria Krenn / Michael Stephan / Ulrich Wagner (Hg.), Kommunalarchive – Häuser der Geschichte. Quellenvielfalt und Aufgabenspektrum, Würzburg 2015, S. 577–606. Dieter Rossmeissl: »Ein Theater auf dem Weg zu sich selbst. Im Jahr 2001 wurde das Theater Erlangen selbständig«, in: Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.), 300 Jahre Theater Erlangen. Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2019, S. 137f. Matthias Warstat: Artikel »Theatralität«, in: Erika Fischer-Lichte / Doris Kolesch / Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, 2. akt. und erw. Auf l., Stuttgart / Weimar 2014, S. 382–388. Stefanie Watzka: »Baruch, Sliwinski und Co. Serielle Theaterproduktion an der Wende zum 20. Jahrhundert«, in: Friedemann Kreuder / Stefan Hulfeld / Andreas Kotte (Hg.), Theaterhistoriographie. Kontinuitäten und Brüche in Diskurs und Praxis (= Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 36), Tübingen 2007, S. 151–178. Silke Zieten / Gertraud Lehmann: Artikel »gVe – Gemeinnütziger Theater- und Konzertverein Erlangen«, in: Christoph Friederich / Berthold Frhr. von Haller / Andreas Jakob (Hg.), Erlanger Stadtlexikon, Nürnberg 2002, S. 333f.
Theater am Ort Szenographien des Stadttheaters im Wandel Matthias Warstat Das Markgrafentheater steht im Zentrum von Erlangen, und das nun schon seit 300 Jahren. Noch nicht ganz so lange, aber doch immerhin seit 1838 gehört es der Stadt Erlangen – und bildet heute die größte Spielstätte des Theaters Erlangen. Als ehemaliges Hoftheater ist es baulich ein besonders prachtvolles Stadttheater: Vor allem der erhaltene barocke Theatersaal hebt es von den meisten anderen Theaterbauten in Deutschland ab, von denen viele nach dem Zweiten Weltkrieg neu gebaut wurden. In anderer Hinsicht aber, was seine örtliche Lage in der Topographie der Stadt anbelangt, ist es ein typisches deutsches Stadttheater: Es liegt in der Altstadt gleich neben dem Schlosspark und bei der Hauptstraße, zentraler eigentlich als das Rathaus, das Anfang der 1970er Jahre an den südlichen Rand der Innenstadt verlagert wurde. Auf den folgenden Seiten soll es um den Ort des Stadttheaters gehen, um seinen Ort im Stadtraum, aber von da aus auch um seinen sozialen Ort, denn im Ort des Theaters kreuzen sich stadträumliche, soziale und szenographische Perspektiven. Der Begriff Szenographie ersetzt im Sprechen und Schreiben über Theater mehr und mehr die traditionelle Bezeichnung ›Bühnenbild‹. Die Präferenz für ›Szenographie‹ resultiert aus der Befürchtung, der Ausdruck ›Bühnenbild‹ klinge zu statisch für die hochf lexiblen räumlichen bzw. raumzeitlichen Anordnungen, mit denen man es im Theater heute zu tun hat. Der eigentliche Unterschied zwischen Bühnenbild und Szenographie liegt aber meines Erachtens woanders. Eine szenographische Analyse, die sich für die räumliche Dimension szenischer Vorgänge und mithin für ein prozessuales Geschehen interessiert, fokussiert sich nicht allein auf die Bühne, sondern beschreibt das Miteinander, Ineinander und Gegeneinander von verschiedenen Raumdimensionen des Theaters, darunter Spielraum und Zuschauerraum, Aufführungsraum und Theatergebäude, physischer Raum und Fiktionsraum, insbesondere aber die Simultaneität und Sukzession der verschiedenen szenischen Räume, die sich während einer Aufführung öffnen und wieder schließen, sei es in verschiedenen Bereichen der Bühne, nicht
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selten aber auch im Zuschauerraum, im Foyer, auf dem Vorplatz oder gar auf dem Dach des Theaters.1 Wenn der Ort des Theaters aus einer szenographischen Perspektive befragt werden soll, dann geht es darum, wie das Theater seinen angestammten Ort in der Stadt in einzelnen Inszenierungen und Aufführungen überschreiten kann. Das Theater kann sich selbst mobilisieren, in einem konkreten, räumlichen Sinne. In den letzten Jahrzehnten richtet sich an die Stadttheater häufig der Anspruch, beweglicher zu werden, ein neues Publikum zu gewinnen und dieses Publikum dort aufzusuchen, wo es sich befindet: in Wohngebieten, in Trabantenstädten, in den Vororten, an den Rändern.2 Um dorthin zu gelangen, muss das Theater sein eigentliches Haus verlassen und mit seinen Inszenierungen zu den Menschen kommen, die sich – so die Vermutung – an anderen Orten befinden. Aber welches ist eigentlich der angestammte Ort des Theaters, wo kommt es her, und wo steht sein Haus?
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Der Ort des Stadttheaters
Stadttheater befinden sich meist in den Zentren der Städte, dort wo eingekauft und ausgegangen wird, und oft nicht weit entfernt von den Orten der politischen Repräsentation. Die zentrale Lage der Theaterhäuser ist mit ihrer Geschichte erklärbar. Einige Aspekte dieser Geschichte sollen an vier historischen Theaterbezeichnungen angedeutet werden, die in Deutschland eng miteinander verbunden sind: Stadttheater, Hoftheater, Staatstheater und Nationaltheater. Die Stadttheater in Deutschland haben unterschiedliche Wurzeln. Manche von ihnen sind ehemalige Hoftheater. Bis 1918 bestand das Deutsche Reich, wenn man die freien Reichs- und Hansestädte ausklammert, aus Königreichen, Herzogtümern und Fürstentümern, und bei den Residenzen der Monarchen dieser Territorien gab es Hoftheater, man denke etwa an traditionsreiche Residenz1 Z u Begriff und Praxis der Szenographie siehe besonders Birgit Wiens: »Szenographie als ästhetischer Diskurs über Räume«, in: Dies., Intermediale Szenographie. Raum-Ästhetiken des Theaters am Beginn des 21. Jahrhunderts, München 2014, S. 63–124. Einen Überblick über die englischsprachige Forschung bieten Joslin McKinney / Philip Butterworth (Hg.): The Cambridge Introduction into Scenography, Cambridge 2009, S. 151–170. Zur Vorgehensweise einer auf die Szenographie ausgerichteten Aufführungsanalyse siehe Christel Weiler / Jens Roselt: »Raum«, in: Dies., Aufführungsanalyse. Eine Einführung, Tübingen 2017, S. 131–169. 2 V iel beachtet wurden die programmatischen Forderungen zur Zukunft des Stadttheaters in dem Band von Josef Mackert / Heiner Goebbels / Barbara Mundel (Hg.): HEART OF THE CITY. Recherchen zum Stadttheater der Zukunft (= Arbeitsbuch Theater der Zeit), Berlin 2011. Als ein Hauptanliegen nennen diverse Beiträge in dem Band eine Erweiterung des Publikums bzw. eine gezielte Hinwendung zu scheinbar ›theaterfernen‹ urbanen Milieus.
Theater am Ort
und Theaterstädte wie Dresden, Stuttgart, Weimar, Meiningen, Braunschweig, Darmstadt, Gotha, Coburg, Schwerin oder Oldenburg. Seit dem 18. Jahrhundert begannen die Monarchen, an ihren Hoftheatern feste Schauspiel- und Opernensembles zu installieren, die unter der Leitung eines Intendanten ein vielfältiges Repertoire von gehobenen Dramen, Opern und Unterhaltungsstücken anboten. Im 19. Jahrhundert öffneten sich viele dieser Hoftheater für ein breiteres Publikum, so dass sie den heutigen Stadttheatern vom sozialen Profil her schon ähnlicher waren. Nach der Revolution von 1918/19 und dem Ende der Monarchie in Deutschland gerieten die ehemaligen Hoftheater in städtische Trägerschaft oder unter die Obhut von einem der Länder oder Gliedstaaten, wobei sie entweder in Stadttheater oder in Staatstheater umgewandelt wurden.3 Es gibt andererseits auch Stadttheater, die sich von Anfang an in bürgerlicher oder städtischer Trägerschaft befanden. Neben der höfischen Wurzel haben die Stadttheater im deutschsprachigen Raum auch eine bürgerlich-städtische Gründungsgeschichte. Wohlhabende Bürger gründeten im 19. Jahrhundert in den mittleren und größeren Städten zahlreiche Privattheater, teils als Einzelpersonen, teils als Vereine oder Aktiengesellschaften.4 Manche dieser bürgerlich initiierten Theater wurden später von den Städten übernommen und als Stadttheater weitergeführt. In anderen Fällen waren es, wie in Gießen, Bremerhaven oder Freiburg, von vornherein die Städte und Stadträte, die die Stadttheater gründeten und dafür repräsentative Gebäude errichten ließen. Der Begriff Nationaltheater verweist weniger auf eine Rechtsform als auf die ideelle Seite dieser theatergeschichtlichen Entwicklungen. Was war der kulturelle und politische Anspruch der fest institutionalisierten Theater im deutschsprachigen Raum, die im 18. und 19. Jahrhundert entstanden? Diese Frage ist nicht einheitlich zu beantworten, denn es waren unterschiedliche Ziele und Orientierungen, die in wechselnden Gewichtungen eine Rolle spielten. Wenn einzelne Theater sich als Nationaltheater titulierten, was an vielen kleineren und größeren Orten der Fall war, wurde damit vor allem signalisiert, dass das Theater die deutsche Sprache und ein deutschsprachiges Repertoire von Stücken pf legen sollte. Oft wurde dieses Programm als Emanzipation von den in Mitteleuropa traditionell starken französischen, italienischen und englischen Theatertraditionen verstanden. Der Nationaltheaterbegriff zeigt aber auch an, dass die Stadttheater im
3 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Michael von Engelhardt im vorliegenden Band. 4 I n Erlangen übernahm der von Erlanger Honoratioren im Jahr 1876 gegründete Gemeinnützige Verein (gVe), die Gestaltung des Spielplans für das Markgrafentheater; er prägt das Erlanger Kulturleben bis heute. Vgl. Ruprecht Kamlah: »›Das Spiel in Erlangen ist jedes Mal ein Fest‹. Der ›Gemeinnützige Theater- und Konzertverein Erlangen – gVe‹ von 1876 bis heute«, in: Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.), 300 Jahre Theater Erlangen. Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2019, S. 41–46.
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19. Jahrhundert nicht zuletzt über ihr Repertoire Anteil hatten an den nationalen und liberalen Reformbewegungen in Deutschland.5 Die Stadttheater folgten aber auch anderen Leitgedanken, und nicht alle bezogen sich in erster Linie auf die Nationaltheateridee. Seit dem 18. Jahrhundert gehörte das Theater zu den Orten, an denen sich Formen einer bürgerlichen Öffentlichkeit herausbildeten, wo sich also Bürger, wie auch immer man diese Gruppe im Einzelnen definierte, über öffentliche Angelegenheiten verständigten und mit politischen wie auch historischen Themen konfrontierten. Insbesondere das Bildungsbürgertum, die Lehrer und Pfarrer, Professoren und Bibliothekare, Richter und Rechtsanwälte, Mediziner und Apotheker, Männer und Frauen aus diesem im Publikum besonders stark vertretenen Milieu, interpretierten das Theater als eine Bildungseinrichtung und verstanden den Besuch im Theater, die Teilnahme an Aufführungen literarischer Werke als Teil ihrer Bemühung, sich zu bilden und persönlich weiterzuentwickeln. Und als ein Ort der Diskussion öffentlicher Angelegenheiten, aber eben auch, neben der Schule, dem Museum und der Bibliothek, als ein Ort der Bildung und Selbstref lexion gehörte das Theater wie selbstverständlich ins Zentrum der Stadt.6 Es erscheint heute wichtig und sogar ermutigend, an dieses historische Selbstverständnis zu erinnern, aber unproblematisch ist die Stadttheater-Tradition nicht, denn obwohl sie gut erreichbar im Zentrum der Städte standen, waren die Stadttheater von Beginn an nicht für alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen zugänglich. So ist die Geschichte der Stadttheater auch eine Geschichte der sozialen Barrieren und Exklusionen. Aufgrund der relativ hohen Eintrittspreise, aber auch aufgrund von Aufführungszeiten, die mit den üblichen Arbeitszeiten von 12 bis 16 Stunden täglich nicht vereinbar waren, blieben die Theater des 19. Jahrhunderts weiten Teilen der arbeitenden Bevölkerung, den Lohnarbeitern, aber auch den Handwerksgesellen und Lehrlingen, den Dienstmädchen und Heimarbeiterinnen sowie den klein- und unterbäuerlichen Schichten auf dem Lande nahezu unzugänglich. Noch heute wird über die sozialen Barrieren des Stadttheaters diskutiert. Das Thema der Ein- und Ausschlüsse hat das Stadttheater während seiner langen Geschichte nie losgelassen. Gerade weil das Stadttheater im Zentrum der Stadt situiert ist, und weil es traditionell als ein Ort bürgerlicher Öffentlichkeit interpretiert wurde, wird von ihm erwartet, sich erstens den wichtigen gesellschaftli5 E ine vergleichende Perspektive auf Nationaltheater-Konzepte in Europa seit dem 18. Jahrhundert bietet Stephen Elliot Wilmer (Hg.): National Theatres in a Changing Europe, Basingstoke / New York 2008. 6 V gl. zum Verhältnis von Bürgertum und Theater im 19. Jahrhundert: Frank Möller: »Zwischen Kunst und Kommerz. Bürgertheater im 19. Jahrhundert«, in: Dieter Hein / Andreas Schulz (Hg.), Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt, München 1996, S. 19–33.
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chen Themen der Gegenwart zuzuwenden und sich zweitens für möglichst breite Bevölkerungsschichten zu öffnen. Mit solchen Erwartungen verbinden sich die öffentlichen Subventionen für die Stadt- und Staatstheater, und in eine ähnliche Richtung weist auch der kommunale Kulturauftrag, der die städtische Theaterpolitik konturiert.7 Aber obwohl der topographische Ort des Theaters derselbe geblieben ist, obwohl die Stadttheater weiterhin mitten in der Stadt stehen, hat sich das Umfeld, die Umgebung des Theatermachens in den letzten Jahrzehnten doch stark verändert. Viele, die mit dem Theater beruf lich zu tun haben, seien es Regisseur*innen oder Schauspieler*innen, Theaterwissenschaftler*innen oder Kritiker*innen, empfinden das so. Stadttheater operieren heute unter anderen sozialen, kulturellen und medialen Bedingungen als noch vor zwanzig oder dreißig Jahren. Eine besonders wichtige Differenz ergibt sich aus der Entwicklung allgegenwärtiger medialer Dispositive, die dem öffentlichen Austausch andere und auf den ersten Blick wirksamere Instrumentarien zur Verfügung stellen als das Theater. Wenn jemand heute zum Beispiel politische Forderungen verbreiten, Anhängerschaften mobilisieren oder öffentliche Diskussionen anstoßen möchte, eignen sich die internetbasierten sozialen Medien dafür vermutlich besser als eine Theateraufführung. Wer heute Bürgerinnen und Bürger für ein kulturelles Anliegen gewinnen will, versichert sich der Aufmerksamkeit von Instagram, Twitter und Co. und denkt sicher nicht in erster Linie an die darstellenden Künste. Unter solchen Umständen muss das Stadttheater seinen Standort neu bedenken.8 Theater kann in einer digitalisierten Mediengesellschaft nicht mehr darauf setzen, das erstrangige und gleichsam ›natürliche‹ Forum bürgerlicher Öffentlichkeit im Zentrum der Stadt zu sein. Es kann sich aber auch nicht auf die Behauptung zurückziehen, mit jeder einzelnen Aufführung eine eigene, theaterspezifische Öffentlichkeit – als Begegnung von Akteuren und Publikum – herzustellen, die sogleich und wie von selbst politische Bedeutung gewinnt. Vielleicht muss das Theater das Zentrum der Stadt tatsächlich erst verlassen, um politische Relevanz gewinnen zu können. Dies behauptet Hans-Thies Lehmann in einer prominenten Passage seines Essays »Wie politisch ist postdramatisches Theater?« aus dem Jahr 2002: »Geht es nicht darum, dass Theater sich selbst verändert, indem es das Politische aufnimmt? Oder besser: sich ›ver-rändert‹?« Und Lehmann fragt weiter, ob wir nicht »mehr über die Bewegung ›zu den Rändern hin‹ als über die
7 Z ur Programmatik des kommunalen Kulturauftrags: Deutscher Städtetag (Hg.): Kultur in Deutschland aus Sicht der Städte. Positionsbestimmung zum Bericht der Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« des Deutschen Bundestages. Beschluss des Hauptausschusses des Deutschen Städtetags in der 196. Sitzung am 5. November 2009 in Berlin, bes. S. 5f. 8 Vgl. dazu den Beitrag von André Studt im vorliegenden Band.
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›von den Rändern her‹ sprechen sollten.«9 Demnach müsste das Theater seinen angestammten topografischen, institutionellen und gesellschaftlichen Platz aufgeben, um die politischen Konf likte und Bewegungen adressieren zu können, die sich eben gerade an den Rändern der Gesellschaft abspielen. Das Theater müsste sich vom Zentrum an die Peripherie begeben. In den nachfolgenden Abschnitten möchte ich zeigen, dass eine solche Selbstmobilisierung, die sich auf die Ränder hin richtet, im Gegenwartstheater tatsächlich zu beobachten ist, und zwar oftmals ganz konkret in Gestalt sich bewegender, mobiler oder sich nach außen öffnender Theaterräume.10
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Der mobile Theaterraum als vormodernes Modell
Bevor diese Bewegung nachgezeichnet wird, gilt es in Erinnerung zu rufen, dass mobile Theaterräume in Mitteleuropa bis ins 18. Jahrhundert der Normalfall waren. Auch im deutschsprachigen Raum ging den fest installierten Hof- und Stadttheatern die ambulante Theaterpraxis der so genannten Wandertruppen voraus, die in Spätmittelalter und früher Neuzeit mit ihren beachtlichen Reisewegen und ihrem f lexiblen, improvisatorisch dargebotenen Repertoire das Bühnenleben dominierten. Wandertruppen wie die berühmten Unternehmen von Prinzipalen und Prinzipalinnen wie Johann Friedrich Schönemann, Emanuel Schikaneder, Abel Seyler, Catharina Velten oder Friederike Caroline Neuber spielten an Höfen, in Rathaussälen oder Gasthäusern, häufig aber auch in den vielbeschworenen ›Bretterbuden‹, die sie auf Marktplätzen oder Festwiesen in Städten und an den großen Handelsrouten aufschlugen. Bis ins 18. Jahrhundert besaßen die Schauspielerinnen und Schauspieler dieser Truppen zumeist kein Bürgerrecht in einer einzelnen Stadt, sondern zählten zum fahrenden Volk, zu den unterbürgerlichen und unterbäuerlichen Schichten, die ohne festes Hab und Gut, aber eben auch ohne verbriefte Rechte und Sicherheiten reisen und wirtschaften mussten. Die Theaterhistoriographie hat die Lebens- und Arbeitsweise der Wandertruppen insbesondere des 16. bis 18. Jahrhunderts in den letzten Dekaden gründlich erforscht.11 Die mobilen Bühnen kamen ohne komplizierte Auf bauten und Deko9 Hans-Thies Lehmann: »Wie politisch ist postdramatisches Theater?«, in: Ders., Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, Berlin 2002, S. 11–21, hier S. 14. 10 S iehe zu diesen offenen Raumstrukturen im Gegenwartstheater auch: Birgit Wiens: Intermediale Szenographien. Raum-Ästhetiken am Beginn des 21. Jahrhunderts, München 2014, bes. S. 191–270. 11 Siehe besonders Gerda Baumbach: Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs. Band 2: Historien, Leipzig 2018. Vgl. auch Dies. (Hg.): Theaterkunst und Heilkunst. Studien zu Theater und Anthropologie, Köln / Weimar / Wien 2002; Andreas Kotte: »Hanswurst und Wandertheater«, in: Ders., Theatergeschichte, Köln / Weimar / Wien 2013, S. 281–290. Vgl. für die
Theater am Ort
rationen aus. Die fiktiven Welten, die dieses vormoderne Theater erschuf, wurden zu erheblichen Teilen sprachlich und gestisch, von den menschlichen Akteuren evoziert. Die Schauspielerinnen und Schauspieler, die mit Strukturfiguren wie Harlekin, Hanswurst oder Pickelhering komplexe, mehrschichtige Repräsentationen entstehen ließen, dabei mühelos zwischen Ebenen, Rollen und gegensätzlichen Polen changieren konnten, beanspruchten die schmucklosen Bühnen fast vollständig für sich.12 Ich erwähne dieses frühneuzeitliche Wandertheater deshalb, weil sich die Frage stellt, inwieweit man die gegenwärtige Tendenz zu einer Mobilisierung von Theaterräumen, die gleich an Beispielen skizziert werden soll, auch als eine Art Wiederkehr vormoderner Theaterideale interpretieren kann. Die großen Theaterinstitutionen inmitten der Städte geben ihre stabile, zentrale Position auf und machen sich wieder auf den Weg in die urbane Peripherie und in die Fläche. An die Stelle der traditionsreichen, aber eben auch statischen Theatergebäude mit täglichem Programm und fest angestellten Ensembles treten unter anderem die Festivals, kulturelle Marktplätze des 21. Jahrhunderts, wo frei f lottierende, immer auf Tour befindliche Gruppen ihre neuesten Kreationen vorstellen. Es gibt in der Theater-Strukturdebatte der Gegenwart tatsächlich Tendenzen, die modernen Reformbewegungen des 18. Jahrhunderts – Institutionalisierung, Literarisierung und Professionalisierung – rückgängig machen zu wollen: freie Gruppen statt feste Theater, Performancetheater statt Literaturtheater, Arbeit mit Laien und so genannten ›Experten des Alltags‹13 statt mit professionell ausgebildeten Schauspielern. Wenn heute eine Mobilisierung von Theaterräumen beschrieben werden kann, dann scheint es geboten, diese Entwicklung nicht einfach als eine Fortschrittsgeschichte, als einen Auf bruch zu immer neuen technischen, architektonischen und ästhetischen Möglichkeiten aufzufassen. Es könnte sich auch, quasi in umgekehrter historischer Richtung, um eine Wiederbelebung älterer Arbeitsweisen und Szenographien des Theaters handeln.
Theaterzettel aus der Zeit der Wandertruppen in Erlangen den Beitrag von Silvia Buhr im vorliegenden Band. 12 Siehe dazu – neben G. Baumbach: Schauspieler – auch (am Beispiel des Schauspielers Joseph Felix von Kurz) Friedemann Kreuder: Spielräume der Identität in Theaterformen des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2010, bes. S. 23–38. 13 Zu diesem Akteurstyp des Gegenwartstheaters: Florian Malzacher / Miriam Dreysse (Hg.): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin 2007; Jens Roselt: »Bürger als Experten auf der Bühne. De-/Professionalisierungen im zeitgenössischen Theater«, in: Ders. / Stefan Krankenhagen (Hg.), De-/Professionalisierung in den Künsten und Medien. Formen, Figuren und Verfahren einer Kultur des Selbermachens, Berlin 2018, S. 91–106.
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Soziale Selbstmobilisierung
Hans-Thies Lehmanns Postulat der »Ver-ränderung« war und ist eine wichtige Facette der anhaltenden Debatte um die Zukunft des Stadttheaters. Dahinter steht die Idee, dass das Theater wichtige Themen und ganze Bevölkerungsgruppen weiterhin ausgrenzen wird, wenn es ihm nicht gelingt, seinen angestammten Ort im Zentrum der Stadt und hinter den Schutzmauern einer alten Institution zu verlassen, um sich zu den sozialen Brennpunkten und gesellschaftlichen Randzonen auch ganz buchstäblich – örtlich, physisch, räumlich – hinzubewegen. Einem solchen Konzept folgt die Inszenierung Cargo Sofia-X von Rimini Protokoll, die 2006 erstmalig am Theater Basel zu sehen war, seither aber auch in vielen anderen Städten im deutschsprachigen Raum gezeigt wurde. So genannte ›Audio-Walks‹, bei denen sich die Zuschauerinnen und Zuschauer selbst mit Kopf hörern auf einer gelenkten Tour durch den Stadtraum bewegen müssen, sind inzwischen schon zu einem festen Genre dokumentarischen Theaters geworden. Bei Cargo Sofia-X sind die Zuschauerinnen und Zuschauer aber nicht individuell unterwegs, sondern sitzen gemeinsam auf einer Theatertribüne in einem LKW, mit dem sie durch Industriegebiete und städtische Randzonen gefahren werden. Eine Seitenfront des Laderaumes des LKWs ist durch eine Glaswand ersetzt, so dass das Publikum nach draußen in den Stadtraum schauen kann (vgl. Abb. 1). Wird eine Jalousie über die Glaswand gezogen, blicken die ca. 50 Zuschauerinnen und Zuschauer im Laderaum des LKWs auf eine Leinwand, auf die Fahrtszenen von Sofia bis Belgrad sowie Live-Schaltungen aus der Fahrerkabine projiziert werden. Cargo Sofia-X ist ein Dokumentartheater-Stück, das vom Leben der Fernfahrer erzählt, die tagtäglich auf langen Touren Europa durchqueren und sich dabei vor allem auf Industriegeländen, in Gewerbegebieten, an Raststätten und Imbissbuden und immer wieder in den langen Warteschlangen vor den Grenzübergängen der Europäischen Union bewegen. Die Inszenierung evoziert die Illusion einer weiten Reise, wenngleich der Lastwagen mit den Zuschauern tatsächlich nur einige Orte in den Randzonen der jeweiligen Stadt anfährt, wo es zu Konfrontationen des Publikums mit ›Experten des Alltags‹ kommt: Berufstätige, die mehr oder weniger mit dem Transportgewerbe zu tun haben, erzählen von ihrer Arbeit – Spediteure, Logistiker, Kranfahrer und Grossisten.14 Dazu gehören auch die zwei als bulgarische Busfahrer Ventzislav und Svetoslav eingeführten Hauptdarsteller, die als Erzähler und Moderatoren fungieren. In Rezensionen werden 14 Es sind eben diese »Experten«, die der Produktion mit Berichten aus ihrer Lebens- und Arbeitswelt dokumentarischen Charakter geben. Man könnte im Falle der Äußerungen von »Experten des Alltags« von mündlichen Dokumenten im Sinne von Oral History sprechen. Dies erlaubt es dann, Produktionen wie Cargo Sofia-X in der Tradition des Dokumentartheaters zu situieren, die im deutschsprachigen Raum bis in die 1920er Jahre zurückgeht.
Theater am Ort
Abb. 1: Cargo Sofia-X von Stefan Kaegi (Rimini Protokoll) sehr verschiedene Bezeichnungen für diese mobile Theateraufführung gefunden: »alternative Stadtrundfahrt«, »soziale Plastik«, »rollende Roadshow«. Ein Rezensent der Kölner Aufführung aus dem Januar 2008 schreibt: »Am Ende der Fahrt wissen wir, wie man Zöllner mit Zigaretten abfertigt und wie viel Liter Diesel man im Iran für einen eingeschmuggelten ›Playboy‹ erhält. Wir haben Industriehäfen und Gewerbeabfallsortierungsanlagen gesehen, Bagger mit Überdruckkabinen auf dampfenden Müllbergen, erleuchtete Container, die zu Zweipersonenwohnungen umfunktioniert wurden. Wir sind von der Autobahnpolizei aus dem Verkehr gezogen worden, haben uns auf verborgenen Wegen durch die Heimatstadt bewegt, die uns auf einmal schrecklich, verzaubert und unvertraut erscheint. In der Mitte des Kreisverkehrs auf der Neusser Landstraße steht eine Sängerin am Mikrofon, ihr Gesang ist, lange bevor wir sie entdecken, in unseren Lkw übertragen worden, eine wehmütige Geisterstimme in der nächtlichen Umschlagzone, am Rande der bekannten Welt.« 15 Deutlich wird, wie die Bewegung an andere städtische Orte, in scheinbar reale Umgebungen außerhalb des Theaters, die freilich für das Publikum sorgsam inszenatorisch hergerichtet werden, einen exklusiven Zugang zu sonst wenig einsehbaren Bereichen der sozialen Wirklichkeit verheißt. In Genre-Begriffe gefasst 15 Christian Bos: »Drei Tonnen Bildungsbürgertum«, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 16. Januar 2008.
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Abb. 2: Jeanne d’Arc – Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna von Walter Braunfels. Inszenierung: Christoph Schlingensief könnte man sagen, dass das Theater sich durch eine solche mobile Anordnung mehr oder minder dem Format der Site-Specific Performance annähert.16 In welchem Verhältnis hier der Anspruch des Dokumentarischen und Realistischen zu den illusionistischen Inszenierungspraktiken rund um den (sich letztlich im Kreis bewegenden) LKW steht, ist anhand von Produktionen wie Cargo Sofia-X immer wieder kontrovers diskutiert worden.17 Die Art der Öffentlichkeit, die ein Theater wie Rimini Protokoll erzeugen kann, unterscheidet sich von den vertrauten Öf16 Z u dieser Form: Nick Kaye: Site-Specific Art: Performance, Place and Documentation, London / New York 2008; Mike Pearson: Site-Specific Performance, Basingstoke 2010. Unter Site-Specific Performances werden hier Arbeiten aus der Tradition der Performance-Kunst verstanden, die mit festem Bezug auf einen bestimmten Aufführungsort – in der Regel außerhalb eines Theaters oder Museums – konzipiert wurden und die deshalb nur an diesem speziellen Aufführungsort denkbar sind. 17 Nicht zuletzt auch selbstkritisch von den einschlägigen Theatermacher*innen selbst, so etwa auf der kontroversen Podiumsdiskussion »Versuche über die unbekannte Gegenwart« am 4. Dezember 2013 im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Schwindel der Wirklichkeit« der Berliner Akademie der Künste unter der Beteiligung von Helgard Haug (Rimini Protokoll), Hans-Werner Kroesinger, Milo Rau und Rolf Hochhuth. Siehe auch die Positionen in dem Band von Boris Nikitin / Carena Schlewitt / Tobias Brenk (Hg.): Dokument, Fälschung, Wirklichkeit. Materialband zum zeitgenössischen Dokumentarischen Theater, Berlin 2014.
Theater am Ort
fentlichkeiten des Stadt- und Staatstheaters nicht wesentlich, und doch ist es keine unbedeutende Geste, wenn Aufführungsteilnehmer die gewohnte Umgebung des institutionalisierten Theaters verlassen und sich auf Begegnungen einlassen, die sich von der geübten Konfrontation mit Schauspielern – und zugleich auch von der Alltagskommunikation – signifikant abheben. Eine gewisse innere Mobilisierung ist damit wohl für jede Zuschauerin und jeden Zuschauer verbunden, wenngleich diese ästhetisch gerahmt bleibt und schon deshalb nicht vorbehaltlos mit sozialer Praxis gleichgesetzt werden kann.
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Mediale Selbstmobilisierung
Schaut man auf die Verfahren, mit denen Theaterräume in den letzten Jahrzehnten mobilisiert, d. h. in Bewegung versetzt werden konnten, dann kommen auch Film und Video als Medien des Theaters in den Blick. In ihrem Buch Die Wiederkehr der Illusion von 2016 hat die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch diese an audiovisuelle Medien gebundene Form einer Delokalisierung des Theaters präzise beschrieben. Koch unterscheidet eine Vielzahl von Verschränkungen filmischer Räume mit Theaterräumen. Recht klassisch versteht sie Theater als ein »Spiel im Vollzug der Realzeit« und den Theaterraum als einen Fall von »Realpräsenz«. Der so beschaffene Raum könne nun durch die vom Film »apparativ erzeugte Illusion« erweitert und transformiert werden.18 Als Beispiel für eine massive Transformation des Theaterraums durch Film führt sie Christoph Schlingensiefs letzte Inszenierung Jeanne d’Arc – Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna an der Deutschen Oper Berlin aus dem Jahr 2008 an. Die Inszenierung dieser modernen, von Walter Braunfels (1882–1954) zwischen 1939 und 1943 komponierten Oper war geprägt von einem riesigen, nahezu die gesamte Breite und Höhe der Bühne einnehmenden Filmbild (vgl. Abb. 2). Teils auf transparente Stoff bahnen, teils auf die Körper der Sängerinnen und Sänger projizierte Schlingensief Ausschnitte aus einem in Indien gedrehten Dokumentarfilm über Feuerbestattung. Koch beschreibt, wie der Film die Aufmerksamkeit des Publikums ganz auf sich zieht, zumal die Blicke der Gefilmten direkt ins Publikum gehen: »Die Großaufnahmen der Gesichter, die zum Teil frontal in die Kamera schauen, erweitern auf fast gespenstische Weise Bühne- und Zuschauerraum ins Heterotopische. Ich bin in der Oper, ich nehme Teil an einem Bühnengeschehen und schaue direkt in eine Welt, die außerhalb liegt, die ich als die eines Dokumentarfilms über indische Feuerbestattungen erkenne und die doch gerade weil sie im Fiktionsge18 Siehe Gertrud Koch: Die Wiederkehr der Illusion. Der Film und die Kunst der Gegenwart, Berlin 2016, S. 230f.
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schehen der Bühne real wirkt, gespenstisch wird. Es ist ein anderes Blickregime, nicht der auf die vierte Wand gerichtete Blick des Schauspielers, der dadurch sowohl an- wie abwesend wirkt, sondern ein direkter Blick, der mich trifft, ohne mich je gemeint zu haben, der Blick eines Anderen, der erscheint, ohne präsent zu sein.« 19 Was der Film in dieser Inszenierung nach Kochs Auffassung also leistet, ist eine Erweiterung, eine Entgrenzung des Aufführungsraumes, die beileibe nicht nur daraus resultiert, dass das Publikum qua Projektion in eine andere Welt hineinschaut. Wirkungsvoller scheint vielmehr das, was aus dieser anderen Welt zurückschaut: Von dort trifft die Zuschauerinnen und Zuschauer ein lebendiger, bewegter Blick, der einen unvermittelt erfasst und auf diese Weise, die vierte Wand des Illusionstheaters mühelos überwindend, direkten Kontakt herstellt zu einer anderen, ganz und gar entfernten Welt. Diese räumliche Erweiterung ist klar zu unterscheiden von den noch verbreiteteren Live-Übertragungen mit der Videokamera, durch die vor allem die Grenze zwischen Vorder- und Hinterbühne aufgehoben wird, die ansonsten aber doch im Aufführungsraum verbleiben (so etwa in vielen Inszenierungen von Frank Castorf oder René Pollesch). Während die Bewegung, die Mobilisierung, das Migrieren in Schlingensiefs Jeanne D’Arc von dem bewegten Blick in der Großaufnahme auf der Leinwand ausgeht, gelingt es Susanne Kennedy in ihrer Inszenierung Die Selbstmord-Schwestern (Münchner Kammerspiele 2017 / Berliner Volksbühne 2018), die Zuschauerinnen und Zuschauer selbst mit filmischen Mitteln in eine rasante Bewegung zu versetzen. Die Inszenierung ist lose an Jeffrey Eugenides’ Roman The Virgin Suicides angelehnt; sie verfolgt die Geschichte von fünf australischen Mädchen, die sich in kurzem Abstand nacheinander das Leben nehmen. Susanne Kennedy findet dafür eine Ästhetik, die zugleich von fernöstlichen religiösen Ritualen und von populären Manga-Comics inspiriert scheint. Die fünf Schwestern erscheinen als groteske Mädchen-Puppen (vgl. Abb. 3). Sie werden von Ganzkörper-Masken gespielt, die sich während des insgesamt recht statisch angelegten Abends nur wenig bewegen und in denen – wie sich aber erst beim Schlussapplaus zeigt – fünf männliche Darsteller stecken, deren Stimmen klangelektronisch zu geschlechtslosen Sprechmaschinen verzerrt werden. Der Bühnenraum stellt sich als eine Mischung aus Jahrmarktsbude und Shinto-Schrein dar. Es handelt sich um einen sich im Zentrum verjüngenden Guckkasten, der aber auch die Anmutung einer Ikonostase hat und der aus vielen einzelnen, viereckigen Segmenten besteht. Teilweise sind diese in leuchtenden Farben gehaltenen Segmente mit Bildern von Körperteilen bemalt, teilweise sind sie mit Monitoren bestückt, teilweise enthalten sie auch Glasvitrinen, hinter de19 Ebd., S. 234.
Theater am Ort
Abb. 3: Die Selbstmord-Schwestern / The Virgin Suicides nach dem Roman von Jef frey Eugenides. Inszenierung: Susanne Kennedy nen verschlungene Gebilde aus Grünpf lanzen und Neonröhren sichtbar werden. Dieser im ganzen eng wirkende Bühnenauf bau ist nah an die Rampe gebracht, so dass zum Publikum hin nur eine relativ schmale Spielf läche bleibt, die durch das Stellungsspiel von den meist statisch platzierten Akteuren nicht einmal ganz ausgenutzt wird. In einem markanten Moment des letzten Drittels der Inszenierung allerdings öffnet sich diese enge Szenerie, und man wird als Zuschauerin oder Zuschauer in eine rasante, einzigartige Bewegung versetzt. Ein Filmbild überlagert nun den gesamten Guckkasten, indem es in mehreren der rechteckigen Kompartimente des Bühnenauf baus zugleich sichtbar wird. Dieses bewegte Bild zeigt eine schnelle Kamerafahrt durch einen hohen, frühlingshaften, vom Wind durchwehten Laubwald. Hat sich das Auge erst einmal an das neue Szenario gewöhnt, dann gerät man in einen Bewegungssog wie in einem Rundum-Kino. Man glaubt, sich in schneller, serpentinenhaft-kurviger Fahrt durch den Wald zu bewegen, oder eher noch: gefahren zu werden oder zu schweben, und dabei wirkt der weiterhin durchaus sichtbare Bühnenauf bau plötzlich wie die segmentierte Windschutzscheibe eines Hubschraubercockpits. Nicht nur der Bühnenraum hat sich also verändert, der gesamte Aufführungsraum scheint in Bewegung geraten, als säße man mit dem gesamten Publikum in einem Flugkörper, der abhebt, sich in das Naturbild, den scheinbar grenzenlosen Außenraum hineinsenkt und im schnellen Flug durch den von Lichtstrahlen durchwirkten Laubwald schwebt.
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Auch diese, vielleicht fünf- oder zehnminütige Sequenz aus Susanne Kennedys Selbstmord-Schwestern ist ein Beispiel dafür, wie das bewegte Filmbild Theaterräume in Bewegung versetzen kann. Dominiert hier, wie in anderer Weise auch bei Schlingensief, die Bewegungsanmutung selbst, so gibt es andere filmische bzw. audiovisuelle Darstellungsformen auf der Bühne, die eher die Selbstüberschreitung des Theaterraumes in Szene setzen. Ein Beispiel dafür sind die mit Live-Kamera in den Theaterraum übertragenen nächtlichen Szenen auf dem Dach der Berliner Volksbühne, die Frank Castorf gleich in mehrere seiner späten Volksbühnen-Inszenierungen eingebaut hat. In Die Brüder Karamasow, einer Dostojewski-Inszenierung aus dem Jahr 2015, ist es der Schauspieler Alexander Scheer, der als Iwan Karamasow im zweiten Teil des siebenstündigen Abends einen surrealen und zugleich exzessiven Auftritt auf dem nächtlichen Volksbühnen-Dach hat. Die Szenografie für diese Castorf-Produktion war die letzte Arbeit des 2015 verstorbenen Bühnenbildners Bert Neumann, der wohl wie kein anderer zu einer Mobilisierung und Erweiterung des Raumes im deutschsprachigen Theater der letzten Jahrzehnte beigetragen hat. Vor der nächtlichen Silhouette Berlins und dem blau leuchtenden Schriftzug OST auf dem Dach der Volksbühne deklamiert Scheer in fahriger Bewegung die Erzählung vom Großinquisitor, die dem Roman eingeschrieben ist: »Christus kommt zurück und stört die Mächtigen, er soll ein weiteres Mal zum Tode verurteilt werden.«20 Während Alexander Scheer das Gleichnis vom sich entfaltenden Totalitarismus in den Berliner Nachthimmel schreit, sieht man auf der Großleinwand unten im Saal seine Gestalt über dem Meer der Dächer von Berlin, man sieht den blauen Nachthimmel, die Rosa-Luxemburg-Straße und das benachbarte KarlLiebknecht-Haus, den Fernsehturm und den Alexanderplatz, so wie sich dies alles vom Dach der Volksbühne aus darstellt. Immer wieder fällt der Blick aber auch zurück auf den Baukörper des Theaters selbst, auf den berühmten Neon-Schriftzug OST, und dies alles gilt es in Beziehung zu setzen zu der Großaufnahme des Gesichts von Alexander Scheer als Iwan Karamasow. Besonders markant scheint mir bei einer Dachszene wie dieser, dass das Theater im Aufführungsraum seinerseits plötzlich von außen sichtbar wird. Man sieht die Fassade, die Außenseite des Theaters und zugleich auch, wie sich das Theater als ganzes, als Baukörper und mithin in gewisser Weise auch als Einrichtung in Beziehung setzt zu seiner städtischen Umgebung und anderen buchstäblich herausragenden Fixpunkten in der Topographie Berlins. Das Theater als Ganzes und von außen betrachtet wird damit zu einem Körper, den der Schauspieler mit seinem Monolog direkt adressieren, angreifen und beklagen kann. Und eben diese szenische Beziehung zwischen Schauspieler, Theater und Stadt kann das Publikum unten im Saal auf der Großleinwand beobachten. 20 Rüdiger Schaper: »Der Gott der Hysterie«, in: Der Tagesspiegel (Berlin) vom 7. November 2015.
Theater am Ort
Die mit den vorigen drei Beispielen angedeuteten filmischen Mittel einer Mobilisierung des Theaters sind schon nahezu klassisch zu nennen. Insbesondere die filmische Öffnung und Erweiterung des Theaterraums wurde schon in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts verschiedentlich erprobt und seither weiterentwickelt und ausdifferenziert.21 Neuere Ansätze setzen fast durchweg auf digitale Live-Techniken wie derzeit etwa Kay Voges in seiner synchronen, ortsübergreifenden Inszenierung von Die Parallelwelt am Berliner Ensemble und am Schauspiel Dortmund (2018): Hier finden die Aufführungsabende jeweils gleichzeitig an beiden Theatern statt, in digital miteinander verf lochtenen Theaterräumen. Das Hier und Jetzt als originärer Ort des Theaters bzw. der Aufführung wird von solchen medialen Erweiterungen in Frage gestellt, spielerisch konterkariert, aber nicht ernsthaft überwunden. Formen der zeiträumlichen Kopräsenz bleiben selbst für eine hochgradig technisierte Inszenierung wie Voges’ Parallelwelt weiterhin unverzichtbar. Unbestreitbar ist allerdings auch, dass die Integration von Bild-, Video- und Filmprojektionen eine Aufführung zeitlich wie räumlich zu öffnen vermag. Sogar die theatertypische Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Saal und Straße, kann durch den Einsatz von audiovisuellen Medien überwunden oder zumindest geschwächt werden.
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Stadttheater in Bewegung
Die in den Beispielen angedeuteten Mobilisierungsstrategien lassen sich auf zwei verschiedenartige Gesten zuspitzen: Die mediale Erweiterung des Bühnenraums kann in der Regel als ein Sich-Öf fnen für andere Orte beschrieben werden. Andere Lebenswelten werden in den Theaterraum eingelassen, zum Beispiel per Video-Übertragung. Die Aufführungsteilnehmer verlassen den Theaterraum nicht, können aber aus diesem Raum mit Hilfe von technischen Medien einen Blick nach draußen werfen. Die sozial-topografische Erweiterung des Bühnenraums meint dagegen ein tatsächliches Sich-Verlagern an andere Orte. Mitsamt Akteuren und Publikum verlässt das Theater sein angestammtes Gebäude und begibt sich in ein anderes Stadtviertel und damit möglicherweise auch in ein anderes soziales Milieu, das dem Theater ferner steht als jenes Milieu, aus dem die Mehrheit des Publikums kommt.
21 Von entscheidendem Einfluss waren Erwin Piscators vielfältige Versuche, Filmprojektionen in Theaterinszenierungen zu integrieren, so etwa in seinen Berliner Inszenierungen Trotz alledem! (1925), Hoppla, wir leben! (1927) und Der Kaufmann von Berlin (1929). Vgl. zu Piscators intermedialer Theaterästhetik besonders Ulrike Haß: »Auge oder Ohr? Piscators ›politisches Theater‹ und Tollers Hoppla, wir leben! in Berlin 1927«, in: Erika Fischer-Lichte / Doris Kolesch / Christel Weiler (Hg.), Berliner Theater im 20. Jahrhundert, Berlin 1998, S. 116–132.
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Beide Erweiterungen des Theaterraums sind mit Risiken verbunden. Im Falle des rein medialen Sich-Öffnens droht ein Abgleiten in den Voyeurismus. In den Theaterraum ›eingespielt‹ werden die sozialen Probleme und Konf likte von ›echten‹ Menschen, um dem Publikum interessante Einblicke zu gewähren, ohne dieses allerdings in einen tatsächlichen Kontakt mit der gezeigten Konf liktlage zu bringen. Man schaut von außen auf die Probleme anderer Milieus, bekundet Interesse, greift aber nicht ein. Im Falle des räumlichen Sich-Hineinbewegens in andere Gegenden besteht dagegen die Gefahr des Paternalismus: Das Theater begibt sich zu Menschen, die vielleicht gar nicht um Theater gebeten haben, und macht diesen nun ›Spielangebote‹, gibt Hinweise, gewährt Einblicke oder erteilt Ratschläge. Man kann sich vorstellen, dass ein solches Theater, das von außen kommt und von niemandem bestellt wurde, als aufdringlich, anmaßend oder bevormundend empfunden werden kann. Paternalismus und Voyeurismus sind dem entsprechend die häufigsten Vorwürfe, mit denen die sich mobilisierenden Stadttheater heute konfrontiert werden. Es sind aber zugleich Fallstricke, derer sich Theaterleute zumeist selbst sehr bewusst sind, so dass sie der Kritik vorzubeugen versuchen. Dabei kommt es entscheidend darauf an, dass die äußere, topographische Bewegung an andere Orte und in die Randbezirke der Städte auch von einer inneren Öffnung des Stadttheaters als Institution begleitet wird. Entscheidend wichtig ist und bleibt, wer an der Praxis und an den Angeboten eines Stadttheaters teilnehmen kann, wer auf der Bühne oder im Zuschauerraum zu sehen ist – und wem diese öffentliche Sichtbarkeit verwehrt bleibt. Teilhabe wird eingefordert für Gruppen, die im Stadttheater trotz aller Bemühungen um eine Erweiterung und Verjüngung des Publikums weiterhin unterrepräsentiert sind: dazu zählen nach wie vor Menschen mit Migrationshintergrund, aber auch Erwerbslose und Geringverdienende, außerdem Menschen mit Behinderungen und krankheitsbedingten Einschränkungen, und leider in nicht wenigen Stadttheatern die mittleren Generationen der Dreißig-, Vierzig-, Fünfzigjährigen. Es geht hier freilich nicht immer um soziale Ausschlussmechanismen, sondern häufig – etwa im Falle akademischer Milieus aus dem Bereich der technischen und kaufmännischen Berufe – schlicht um veränderte Freizeitgewohnheiten, in denen das Theater nicht mehr vorkommt. Der Weg nach außen, in die Stadtviertel hinein, muss nicht unbedingt der Königsweg zu den als theaterfern wahrgenommenen Milieus sein. Denn auf diesem Weg sind viele Projektionen im Spiel. Häufig arbeitet die Mobilisierung von Theaterräumen auf eine Authentifizierung des Gezeigten hin: Das Verlassen des angestammten Gebäudes verspricht einen direkteren Zugang zur sozialen Wirklichkeit. Die Verkapselung des Theaters in einem exklusiven und homogenen Theatermilieu scheint überwindbar, wenn man die fernbleibenden Bevölkerungsgruppen in ihrem jeweiligen sozialen Nahraum aufsucht und Aufführungsräume dorthin verlegt. Die demonstrative Annäherung, die Überwindung der räumli-
Theater am Ort
chen Distanz muss aber nicht heißen, dass sich das Theater von den vorgefundenen anderen Umgebungen und Akteuren tatsächlich auch transformieren (und in diesem Sinne ›ver-rändern‹) lässt. Wie so oft kann sich hier der von Heiner Müller Brecht zugeschriebene Satz bewahrheiten: »Das Theater theatert alles ein«.22 Die wirklichen Modalitäten der Aneignung lassen sich nicht allein an der räumlichen Geste ablesen. An allen Orten, an denen Rimini Protokoll mit seinem Tross von Dramaturgen, Technikern, Schauspielern und Statisten aufschlägt, wird nach den Regeln von Rimini Protokoll gespielt, ganz gleich wie nah oder wie weit vom Theater entfernt sich diese Orte befinden. Wo auch immer Theater sich hinbegibt, bringt es Relationen von Akteuren und Zuschauern hervor – kann es also eigene Formen von Öffentlichkeit herstellen. Auch außerhalb des eigenen Gebäudes wird es eine Öffentlichkeit generieren. Allerdings wird diese Öffentlichkeit, ganz gleich ob sie im Markgrafentheater oder in Büchenbach-Nord entsteht, immer eine selbst hervorgebrachte und mithin eine theatrale bleiben. Daraus ergibt sich das Risiko, dass an den viel beschworenen ›anderen‹ Orten doch wieder ›nur‹ eine altbekannte Theateröffentlichkeit entsteht – in etwa dieselbe Konstellation von Akteuren und Zuschauern, die man auch im heimischen Theatersaal vorfinden würde, den man gerade verlassen zu haben glaubt. Für die Frage nach der politischen Wirksamkeit von Theater, die Hans-Thies Lehmann in dem eingangs zitierten Essay mit dem Postulat der Unterbrechung beantwortet hat, ist insgesamt weniger die Mobilisierung selbst von Bedeutung als die Frage, ob und wie sich durch solche Verlagerungen oder Öffnungen des Aufführungsraums das Verhältnis zwischen den verschiedenen Teilnehmenden mit ihren jeweiligen Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten verändert. Welche Arten von Unterbrechungen sind im Theater tatsächlich erreichbar? Ist es möglich, die sich medial reproduzierenden Diskurse für einen Moment stillzustellen und eigenen Fragen auf neue Weise nachzugehen? Können wir uns vorstellen, dass ein solches Theatererlebnis unsere Art, die Stadt und die Gesellschaft wahrzunehmen, grundlegend verändert? Das Stadttheater ist nur eine von vielen möglichen Organisationsformen von Theater. Es ist eine Form, in der das Theater einen festen Ort mitten in der Stadt erhält und sich als eine Institution dieser Stadt versteht. Städtische Institutionen gibt es in gewissem Sinne schon seit es Städte gibt, aber das Stadttheater ist eine moderne Institution, die im 18. und 19. Jahrhundert entstanden ist, als große Veränderungsprozesse wie Urbanisierung, Industrialisierung und Bürokratisierung es nahelegten, dem Theater einen stabilen Ort in einem modernisierten Ensem22 Vgl. Klaus Welzel / Heiner Müller: »›Wir brauchen ein neues Geschichtskonzept‹, Gespräch mit Heiner Müller am 12.12.1992 in Berlin«, in: Klaus Welzel (Hg.), Utopieverlust. Die deutsche Einheit im Spiegel ostdeutscher Autoren, Würzburg 1998, S. 200–229, hier S. 212.
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ble städtischer und staatlicher Institutionen zuzuweisen. Wie andere moderne Institutionen steht das Stadttheater heute in der Kritik und muss sich die Frage gefallen lassen, ob es noch in eine Zeit passt, in der Öffentlichkeiten sich ins Internet verlagern, Einkaufszentren die städtischen Marktplätze ersetzen und der Rhythmus von Arbeit und Freizeit – und damit auch die Zeit, die man für eigene Interessen und Bedürfnisse zur Verfügung hat – radikal individualisiert scheint. Es ist nicht verwunderlich, dass sich die Theater in dieser Zeit selbst mobilisieren und einmal mehr in eine Suchbewegung übergehen, die sie an andere Orte führt und die diese anderen Orte aber auch in den Theaterraum hineinholt. Dass auf diese Weise eine nomadischere Theaterpraxis in Teilen zurückkehrt, eröffnet ästhetische Perspektiven und wird dem Theater am Ende hoffentlich dabei helfen, bei seiner Stadt und in seiner Stadt zu bleiben.
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Was bedeutet (in Erlangen und anderswo): »Stadttheater der Zukunft«? André Studt Im Frühjahr 2019 wurde das Theater Erlangen mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichnet, der »herausragende Leistungen kleiner und mittlerer Theater sowohl im künstlerischen Programm als auch im künstlerischen Gesamtangebot der Theater und Spielstätten«1 würdigt. Die Gründe für diese positive Einschätzung lauten in den Ausführungen der Jury wie folgt: »Das Theater Erlangen positioniert sich unter der Intendanz von Katja Ott in der Metropolregion Nürnberg als Stadttheater der Zukunft. Zu diesem Thema hat es im Januar dieses Jahres seines 300. Jubiläums ein Forum mit Theaterschaffenden, Vertreter*innen aus Politik und dem ensemble-netzwerk organisiert, außerdem für sich selbst einen hausinternen Leitbildprozess mit allen Mitarbeitenden durchgeführt. Als größte Kulturinstitution der 110.000 Einwohner-Stadt vernetzt es sich in Erlangen mit anderen Institutionen wie der die Stadt prägenden Universität, mit Schulen und Vereinen, der Stadtbibliothek. Mit einer Bürgersprechstunde der Dramaturgie öffnet es sich der Mitgestaltung durchs Publikum. In seinem Programm setzt es mit zeitgenössischen Stücken auf der großen Bühne und Zusammenarbeit mit renommierten Größen der freien Szene wie Hans-Werner Kroesinger und Turbo Pascal Akzente. Mit 14 Regisseurinnen bei 25 Produktionen leistet Erlangen einen wichtigen Beitrag zur Geschlechtergerechtigkeit im deutschen Theaterbetrieb, und im Regienachwuchswettbewerb werden neue Talente entdeckt und gefördert.«2 Diese Erläuterungen suggerieren, dass in Erlangen gegenwärtig bereits mindestens eine Zukunft stattgefunden hat3 – und die Antwort auf die titelgebende Frage wäre erbracht: Wenn man wissen möchte, was die Bezeichnung »Stadttheater 1 Theater Erlangen (Hg.): Spielzeitheft 2019/20, Erlangen 2019, S. 7. 2 Ebd. 3 Vgl. dazu auch Karoline Felsmann: »Wer ans Theater geht, sollte Visionen haben. Aspekte für ein Theater von morgen«, in: Dies. / Susanne Ziegler (Hg.), 300 Jahre Theater Erlangen.
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der Zukunft« bedeutet, muss man sich nur die erwähnten Aktivitäten dieser Kulturinstitution ansehen – und deren Wirksamkeiten goutieren. So weit, so einfach – und dieser Text wäre bereits am Ende. Allerdings scheint mir ein weiterer Blick auf das, was sich »Stadttheater der Zukunft« nennt bzw. so genannt wird, lohnend, zumal sich diese Benennung beileibe nicht auf die aktuelle (und mit Blick auf die erfolgte Ehrung wirkungsvolle) Positionierung des Theater Erlangens, die auch in einer vom Theater selbst konzipierten und herausgegebenen Festschrift4 proklamiert wird, beschränkt. Diese Sentenz und die damit in Verbindung stehenden Anstrengungen ziehen sich seit etwa 15 Jahren quer durch die bundesdeutsche Theaterlandschaft. So wird es in diesem Beitrag zunächst darum gehen, in einer grobkörnigen Skizze eine Rekonstruktion der Debatten zu diesem Thema zu versuchen, um anschließend durch eine Re-Lektüre der eingangs zitierten Laudatio diese auf die breit und divers diskutierten Aspekte einer künftigen Neuformatierung des Stadttheaters beziehen zu können. Abschließend wird kurz das nun seit einer Spielzeit laufende Modell am Niederländischen Theater (NT) Gent, welches aktuell wohl am prominentesten eine Profilierung als »Het stadstheater van de toekomst«5 (»Das Stadttheater der Zukunft«) betreibt, vergleichend herangezogen, um inhaltliche Schnittmengen bzw. Abweichungen zu untersuchen und für eine künftige Theaterprogrammatik und -praxis (vielleicht auch für ein Theater in Erlangen) produktiv zu machen.
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Die Debatten um / über ein »Stadttheater der Zukunft« »Wenn man sich eines Tages fragen wird, wann genau um die Wende zum 21. Jahrhundert die systematische Suche nach einer Neubestimmung des Stadttheaters in Deutschland begonnen hat, wird man neben vielen anregenden Impulsen vor allem zwei sehr unterschiedliche Initiale nennen müssen: Das ›Bunnyhill‹-Pro-
Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2019, S. 208–210. 4 Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.): 300 Jahre Theater Erlangen. Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2019. 5 V gl. dazu das gleichlautende Logo auf der Website des Theaters; das »Genter Manifest« (datiert auf den 1. Mai 2018) findet man unter der URL: https://www.ntgent.be/nl/manifest [zuletzt abgerufen am 10. September 2019]; die deutschsprachige Fassung wurde am 18. Mai 2018 bei nachtkritik.de veröffentlicht: Milo Rau et al.: »Stadttheater der Zukunft«, URL: https://www.nachtkritik. de/index.php?option=com_content&view=article&id=15410:das-genter-manifest-das-neue-leitungsteam-des-ntgent-um-milo-rau-gibt-sich-zehn-radikale-regeln [zuletzt abgerufen am 10. September 2019].
»Stadttheater der Zukunft«?
jekt der Münchner Kammerspiele und die Auflage des Heimspiel-Fonds der Bundeskulturstiftung.« 6 Mit dieser These beziehen sich Barbara Mundel und Josef Mackert, die sich im weiteren Verlauf ihrer Argumentation auf die Überlegungen des Publizisten und Migrationsforschers Mark Terkessidis zur »Interkultur«7 stützen, der dem institutionellen Theater eine Blindheit für die multiethnischen und kulturellen Sphären der Stadtgesellschaft attestiert, auf einen thematischen Horizont, vor dem die Debatten zum »Stadttheater der Zukunft« stattgefunden haben bzw. aktuell immer noch stattfinden. Das Bunnyhill-Projekt der Münchner Kammerspiele wurde 2004 und 2006 als Umkehrung des Verhältnisses von städtischer Peripherie und (hochkulturellem) Zentrum, als Bewegung des Theaters in die diversifizierten Lebenswirklichkeiten der Stadt München hinein konzipiert und dient bis heute als Blaupause einer Öffnung und Mobilisierung der Institution aus seinen angestammten Spielstätten bzw. der damit in Verbindung stehenden, neuen bzw. anderen Produktionsweisen8. Der Fonds Heimspiel, ein Programm der Kulturstiftung des Bundes zwischen 2005 bis 2013, versuchte, die urbanen Welten mit künstlerischen Mitteln zu verarbeiten und die »Ergebnisse […] im ›Großen Haus‹ auf der ›Großen Bühne‹« zu zeigen, um so »ein neues Publikum für Theater
6 B arbara Mundel / Josef Mackert: »Das Prinzip für die ganze Gesellschaft«, in: Theater heute, Heft 8/9 (2010), S. 38. 7 V gl. Mark Terkessidis: Interkultur, Berlin 2010. Dort heißt es: Die »hoch subventionierten städtischen Theater sind immer noch Orte, wo sich bestimmte Leute wie zuhause und andere deplatziert vorkommen. [...] Für viele Personen mit Migrationshintergrund ist das Theater weiterhin ein Raum, der auf ihrer cognitive map der Stadt gar nicht auftaucht. Es scheint per se den ›Deutschen‹ zu gehören« (S. 184f.). Dieser Befund beschränkt sich beileibe nicht nur auf den angesprochenen Personenkreis mit migrantischer Vita; angesichts der Absenz vieler ›deutscher‹ Bevölkerungsgruppen müsste man präzisieren, dass es per se ›bestimmten Deutschen‹ zu gehören scheint. Dieser Befund artikulierte sich noch vor der im Jahr 2015 erfolgten Aufnahme von Flüchtlingen, was seither eine nachhaltige gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Migration verursacht und im Ergebnis u. a. zu einer politischen Polarisierung geführt hat. Die Dimensionen dieser Geschehnisse wirken auf die Debatten zu einem Stadttheater der Zukunft ein und können hier nur angedeutet werden. Vgl. dazu: Wolfgang Schneider (Hg.): Theater und Migration. Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis, Bielefeld 2011. Oder Günther Heeg / Lutz Hillmann (Hg.): Willkommen Anderswo – sich spielend begegnen. Theaterarbeiten mit Einheimischen und Geflüchteten, Berlin 2017. Eine systematische Nachzeichnung der unzähligen Projekte der öffentlichen Theater zum Thema Migration seit 2015 wäre die Aufgabe eines anderen Textes. 8 V gl. dazu Björn Bicker: »BUNNYHILL an den Münchner Kammerspielen als Modell für neue Formen am Stadttheater«, in: Theater heute, Heft 6 (2006), S. 20. Oder Silvia Stammen: »An den Rand gefahren. Die Münchner Kammerspiele entdecken Münchens wilden Norden«, in: Theater heute, Heft 1 (2005), S. 77. Zur Tendenz der Theater, ihre angestammten Spielorte zu verlassen, vgl. auch den Beitrag von Matthias Warstat im vorliegenden Band.
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zu interessieren und eine Auseinandersetzung mit der Rolle des (Stadt-)Theaters in Deutschland anzuregen.«9 Im Kern behandeln diese Strategien, die sowohl konträr als auch komplementär aufgefasst werden können, also einerseits das Verlassen des angestammten Terrains durch Bewegungen in den Stadtraum hinein und andererseits ein formierend-formatierendes Hereinholen von urbanen Wirklichkeiten in die Räume des Theaters, mithin die Frage nach dem Verhältnis von Theater und Stadt, von Institution und Mensch, der sich von dieser Institution angesprochen, genauer: repräsentiert sehen soll. Beiden Unternehmungen kann attestiert werden, dass durch sie notwendigerweise eine Öffnung der Produktionslogiken und -praktiken stattgefunden hat, die sich nicht allein durch ihre eigentliche Kernkompetenz realisieren lässt, nämlich ein im Grunde bildungsbürgerlich grundierter Mechanismus zur Repräsentation der Welt durch (dramatischen) Text und damit in engem Zusammenhang stehende szenische Praktiken durch ein festes Ensemble zu sein. Exemplarisch bzw. als Referenzrahmen für die in diesem Kontext aufscheinenden Überlegungen seien hier die in zwei Arbeitsbüchern der Fachzeitschrift Theater der Zeit publizierten Recherchen zum Stadttheater der Zukunf t10 erwähnt, die das Theater Freiburg unter der Intendanz von Barbara Mundel (2006–2017) in Kooperation mit der Hessischen Theaterakademie und dem Institut für angewandte Theaterwissenschaft in Gießen unternommen hat. Ebenfalls aus akademischem Umfeld stammen die »Hildesheimer Thesen«11, die im Rahmen einer universitä9 U RL: https://www.kulturstiftung-des-bundes.de/de/projekte/buehne_und_bewegung/detail/ heimspiel.html [zuletzt abgerufen am 10. September 2019]. 10 V gl. dazu Josef Mackert / Heiner Goebbels / Barbara Mundel (Hg.): HEART OF THE CITY. Recherchen zum Stadttheater der Zukunft (= Arbeitsbuch Theater der Zeit), Berlin 2011. Die Frage nach der Zukunft des Stadttheaters war Leitlinie der Freiburger Intendanz Barbara Mundels (2006– 2017). Während das erste Buch, dessen »Anlass [...] der 100. Geburtstag des Stadttheaters in Freiburg« (ebd., S. 6) war, als eine Kopplung aus praktischer Innen- und akademischer Außenperspektive verstanden werden kann, wobei »die ›Gießener Seite‹ primär die Arbeitssituation der als frei zu denkenden Künstler in den Blick nimmt, untersucht die ›Freiburger Seite‹ vor allem die Veränderungen in der künstlerischen Arbeit der Institutionen, die sich in einer stark veränderten Gesellschaft neu verorten (müssen)« (ebd., S. 7), ist das zum Ende der Intendanz Mundels erschienene zweite Arbeitsbuch eine Art (Zwischen-)Bilanz und Reflexion der an dieser Frage ausgerichteten Arbeitspraxis. Vgl. Dorte Lena Eilers / Jutta Wangemann (Hg.): HEART OF THE CITY II. Recherchen zum Stadttheater der Zukunft (= Arbeitsbuch Theater der Zeit), Berlin 2017. Informationen zum Programm der Ringvorlesung der Hessischen Theaterakademie und dem Institut für angewandte Theaterwissenschaft der Universität Gießen unter URL: https://www. inst.uni-giessen.de/theater/de/studium/vv/259 [zuletzt abgerufen am 10. September 2019]. 11 Einen Überblick der Vorlesungen, die im WS 2012/13 an der Universität Hildesheim unter dem Titel Theater. Entwickeln. Planen. Kulturpolitische Konzeptionen zur Reform der Darstellenden Künste abgehalten wurde, findet man unter URL: https://www.nachtkritik.de/index.php?opti
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ren Ringvorlegung im Wintersemester 2012/13 formuliert wurden und theoretische Überlegungen zu einer Strukturreform der Darstellenden Kunst bündeln. Ein Dossier aus den diesbezüglichen feuilletonistischen Debatten seit 2007, das auch als Substrat der generellen publizistischen Begleitung dieser Thematik verstanden werden kann, findet man bei nachtkritik.de.12 Und nicht zuletzt sei auf Akteure verwiesen, die als subalterne Bühnenangehörige aus der Institution heraus zur »Rettung des Stadttheaters« beitragen wollen, wie es in der Erklärung zur Gründung einer Arbeitsgruppe in der Dramaturgischen Gesellschaf t (dg) heißt,13 die – neben dem Auf kommen des ensemble-netzwerk14 – die jüngsten in diesem Feld sind. Damit wird deutlich, dass die Bezeichnung »Stadttheater der Zukunft« bereits eine eigene diskursive Historizität und eine mit der relativen Uneindeutigkeit des Begriffs »Stadttheater«15 in enger Verbindung stehende Diversität aufweist. on=com_seoglossary&view=glossary&catid=78&id=460&Itemid=67 [zuletzt abgerufen am 10. September 2019]. 12 URL: https://www.nachtkritik.de/index.php?view=article&id=9735:dossier-zur-stadttheaterde batte&option=com_content&Itemid=84 [zuletzt abgerufen am 10. September 2019]. 13 »Die dg muss und will sich nicht nur punktuell, sondern dauerhaft und regelmäßig mit der immer präsenteren und dringlicheren Theaterreform-Debatte und -Bewegung befassen. [...] Die AG versteht sich in diesem Kontext als Think Tank innerhalb der dg und Schnittstelle zu anderen Playern. Initiiert wurde sie aus dem Umfeld der konferenz konkret zur Rettung des Stadttheaters, gegründet auf der Jahreskonferenz der dg in Hannover am 28. Januar 2017.« (URL: https:// dg.websyntax.de/aktivitaeten/arbeitsgruppen/ag-stadttheater-der-zukunft/ [zuletzt abgerufen am 10. September 2019]). 14 Das ensemble-netzwerk entstand aus der Initiative der damaligen Ensemblesprecherinnen am Oldenburgischen Staatstheater, Lisa Jopt und Johanna Lücke, die sich im Februar 2015 in einem Brief an alle Künstlerischen Betriebsbüros aller Theater in Deutschland wandten und, mit einem erfahrungsbezogenen Verweis auf die prekären und z. T. unzumutbaren Arbeitsbedingungen an den Theatern, zu einer Vernetzung innerhalb der Theaterlandschaft aufriefen. Die große Resonanz führte zur Gründung der Konferenz Konkret und der Etablierung dieser Initiative als Verein (Gründung 2016); als Ziele dieser Interessenvertretung von Bühnenangehörigen, die u. a. als eine Reaktion auf eine Repräsentationslücke verstanden werden kann, die bestehende (gewerkschaftliche) Vertretungen gelassen haben, werden v. a. die finanzielle und auf interne Hierarchien bezogene Verbesserung der Arbeitsbedingungen an den Theatern genannt, vgl. URL: https://www.ensemble-netzwerk.de/about/was-geschah.html [zuletzt abgerufen am 10. September 2019]. 15 So findet man weder auf der Homepage des Deutschen Bühnenvereins eine verbindliche Definition des Begriffs »Stadttheater«, noch lässt sich eine dezidierte Beschäftigung mit dem Theater als besonderem Ort der Stadtkultur in der einschlägigen Literatur finden; beispielhaft hierfür die Nicht-Erwähnung des Theaters im interdisziplinären und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Handbuch Stadt, vgl. Harald A. Mieg / Christoph Heyl: Stadt – ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart / Weimar 2013. Im Nachdenken über ein Stadttheater (der Zukunft) ist es notwendig, die »Stadt« und ihr »Theater« als Beziehungsgeflecht durch die jeweils gegebenen sozio-demographischen Bedingungen eigens zu reflektieren; so realisiert das Theater Erlangen
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Als grob systematische Zusammenfassung der in diesem Zusammenhang bzw. in den hier angeführten Publikationen aufgerufenen und dann z. T. kontrovers diskutierten Themen lassen sich aus meiner Sicht folgende, eng aufeinander bezogene Bereiche identifizieren: (a) Institutionelle Perspektive: In ihr geht es primär um ein Selbstverständnis des Stadttheaters als Ort der politisch legitimierten und durch öffentliche Gelder subventionierten, offiziellen Repräsentation von Stadtgesellschaft. Angesichts einer immer offensichtlicher und selbstverständlicher zu Tage tretenden ethnischen Pluralisierung und zunehmenden sozialen Segregation der Gesellschaft gelingt es dem Theater immer weniger, ein Abbild der Umgebung zu sein, in der es sich befindet: »Das (Stadt-)Theater hat ein Repräsentationsproblem, seit Längerem, und es ist gravierend. Es zu erkennen genügt ein Blick ins Parkett. Von wenigen Ausnahmen abgesehen bildet das Publikum auch keinen annähernd treuen Ausschnitt der respektiven Stadtgesellschaften. Dasselbe auf den Brettern, die die Welt bedeuten (wollen): ›Das deutsche Theater ist zu weiß‹ überschrieb die Berliner Zeitung in ihrer Ausgabe vom 17. Februar 2011 ein Gespräch mit Nurkan Erpulat und Jens Hilje. Beide entwickelten das Projekt ›Verrücktes Blut‹, die erste postmigrantische Produktion (aus dem Off), die zum Theatertreffen eingeladen wurde; ein später Weckruf an die Stadttheatermacher. Mehr noch als an ›Farbe‹ fehlt es dem etablierten deutschen Sprechtheater an Kontrast. Die Mittelschicht, speziell die neue Mitte beherrscht (oben wie unten im Saal) selbst dann die Szene, wenn Menschen ferner Länder, anderer Kontinente sich hinzugesellen. In Bezug auf Bildung und Habitus entsprechen die Hinzukommenden in aller Regel den je schon Anwesenden. Der kulturelle Zugewinn kann den sozialen Verlust nicht kompensieren, der infolge des hartnäckigen Fernbleibens von Arbeitern, kleinen Angestellten, Arbeitslosen schon fast naturgemäß erscheint. ›Wir‹ sind auf beklemmende Weise ›unter uns‹.16
seinen diesbezüglichen Anspruch vor gänzlich anderen Rahmenbedingungen als die Theater der Nachbarstädte Fürth oder Nürnberg. 16 Wolfgang Engler: »Kontrastarm, selbstverliebt, unverzichtbar. Vier Fragen an das Stadttheater der Zukunft«, in: Josef Mackert / Heiner Goebbels / Barbara Mundel (Hg.), HEART OF THE CITY. Recherchen zum Stadttheater der Zukunft (= Arbeitsbuch Theater der Zeit), Berlin 2011, S. 93. Mittlerweile ist die angesprochene Off-Position nobilitiert; durch die Übernahme der Intendanz am Berliner Maxim Gorki Theater durch Shermin Langhoff bekommt ihr Ansatz des postmigrantischen Theaters eine größere Bühne und Reichweite. Zur Ausgangssituation vgl. Azadeh Sharifi: »Postmigrantisches Theater. Eine neue Agenda für die deutschen Bühnen«, in: Wolfgang Schneider (Hg.), Theater und Migration. Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis, Bielefeld 2011, S. 35–45.
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Diesem Dilemma sind Theater sehr unterschiedlich begegnet; am wirksamsten (weil publizistisch am besten verarbeitet) dürften die Bemühungen der Münchner Kammerspiele sein: Johan Simons machte zwischen 2010–2015 ein Theater, das »Mitten in der Stadt. Mitten in Europa. Mitten in der Welt«17 angesiedelt war und damit einen wesentlichen Beitrag bzw. nachhaltige Impulse für eine national präformierte Grenzen überschreitende Theaterarbeit an einem Stadttheater lieferte. (b) (Kultur-)Politische Perspektive: Eng damit verbunden sind Fragen nach dem politischen Auftrag bzw. dessen programmatischer Legitimation. Stadttheater stehen vor der immensen Herausforderung, einen Spagat zwischen klassischen Repertoire- und Ensemblestrukturen, der Orientierung am traditionellen Kanon und den konventionalisierten Erwartungshaltungen des (bildungsbürgerlichen) Stammpublikums18 einerseits und der ästhetischen (also eben keiner primär therapeutischen oder sozialpädagogischen) Verarbeitung von Gegenwart und ihren Wirklichkeiten andererseits leisten zu müssen bzw. aus ihrem künstlerischen Selbstverständnis heraus zu wollen; mit Blick auf die Auslastungszahlen (d. h. der konkreten Nachfrage auf das gemachte Angebot) wird damit dann auch schnell die Frage der Finanzierung des Theaters als öffentlicher Einrichtung aufgeworfen: »Die Krise des Kulturstaats ist die Krise der Kulturfinanzierung in den Kommunen ist die Krise der Kulturpolitik! Kommunale Kulturförderung hat es versäumt, eine Verständigung darüber herzustellen, welche Rolle Theater zukünftig in der Gesellschaft spielen soll, welche Strukturen hierfür nachhaltig Wirkung erzielen und welche Maßnahmen zu ergreifen wären, um eine breite Beteiligung der Bevölkerung zu ermöglichen.« 19
17 Münchner Kammerspiele (Hg.): Mitten in der Welt, München 2014, S. 10. Die Aktivitäten Johan Simons, dem attestiert wurde, dass er die Grenzen zwischen den Genres produktiv verwischte, können gewissermaßen als eine Vorbereitung der Institution auf den derzeit noch amtierenden Intendanten Matthias Lilienthal verstanden werden, der die Linie einer »ästhetischen Erweiterung« konsequent fortsetzte. Vgl. URL: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muen chen-kammerspiele-intendanten-1.4184459 [zuletzt abgerufen am 10. September 2019]. 18 Wie stark das deutsche Bildungsbürgertum spezifische Kultur- und Kunstideen bzw. normative Zuschreibungen an Kunst und Kultur dazu genutzt hat, ebendiese als gesellschaftliche Leitvorstellung zur kulturellen Identitätsbildung durchzusetzen, zeigt Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt am Main / Leipzig 1994. Das »Theater als moralische Anstalt« bildet dazu einen Spezialfall; vgl. dazu Manfred Brauneck: Die Deutschen und ihr Theater. Kleine Geschichte der »moralischen Anstalt« – oder: Ist das Theater überfordert?, Bielefeld 2018. 19 Wolfgang Schneider: »Under Construction. Reformbedarf auf der Baustelle Theater«, URL: https://nachtkritik.de/index.php?view=article&id=7389%3Areformbedarf-auf-der-baustel le-theater [zuletzt abgerufen am 10. September 2019].
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Eine Reduktion dieser eingeforderten Verständigung allein auf Dimensionen der finanziellen Machbarkeit, die »Kulturinstitutionen als Subventionsempfänger diskreditiert«20 und dafür sorgt, dass die Theater im öffentlichen Diskurs als lästiger Bittsteller wahrgenommen werden, der nur auf die Sicherung der eigenen Pfründe aus ist, ist ambivalent, da so meist nur Kürzungs- statt Entwicklungspotentiale diskutiert werden. (c) Interaktionistisch-relationale Perspektive: Damit ist zunächst die Beziehung von Stadttheater zu anderen Akteuren der Theaterlandschaft, vor allem den Vertretern der (immer noch so genannten) ›freien Szene‹ gemeint, wobei alte institutionskritische Ref lexe und Abgrenzungslogiken längst nicht mehr greifen, da »beide Systeme in Bewegung geraten, wobei Begegnungen, Zusammenstöße und Kollaborationen von Freiem Theater und Stadttheater möglich werden.«21 Das »Gefangensein in der Institution«, die sich nicht für die »Zukunft des Theaters, sondern nur für die Zukunft des Stadttheaters, also das Überleben der Institution«22 interessiert, lässt sich überwinden, wenn man als Stadttheater »von den Armen (freie Szene) und von den anderen (internationales Theater)«23 zu lernen imstande ist. In diesem Zusammenhang wäre dann auch die Entwicklung von innovativen Strategien zur Gewinnung neuer Publikumsschichten zu fassen, wel-
20 Christopher Balme: »Dritter Weg statt McTheatre«, URL: https://nachtkritik.de/index.php?op tion=com_content&view=article&id=7613:hildesheimer-thesen-x-theater-als-kulturindu strie-globale-perspektiven-in-einer-reflexiven-moderne [zuletzt abgerufen am 10. September 2019]. Es steht zu vermuten, dass die Hildesheimer Veranstaltungsreihe, die Fragen der Finanzierung stärker als andere in den Blick genommen hat, als Abgrenzung zu damals aktuellen radikalen Einspar- und Rückbauphantasien fungiert hat, vgl. dazu: Dieter Hasselbach et al.: Der Kulturinfarkt. Von allem zu viel und überall das Gleiche, München 2012. 21 Jens Roselt: »Nachahmung im Theater ist kein Frevel. Was die unfreiwillige Gemeinsamkeit zwischen Stadttheater und Freier Szene bringen kann«, URL: https://nachtkritik.de/index.php?view =article&id=7426%3Ahildesheimer-thesen-iii [zuletzt abgerufen am 10. September 2019]. Die Lockerung dieses Verhältnisses kommt auch im bis 2021 laufenden Programm Doppelpass der Bundeskulturstiftung zum Ausdruck, wo Kooperationen von freien Gruppen und festen Tanz- und Theaterhäusern gefördert werden, URL: https://www.kulturstiftung-des-bundes.de/de/ projekte/buehne_und_bewegung/detail/doppelpass_fonds_fuer_kooperationen_im_thea ter.html [zuletzt abgerufen am 10. September 2019]. 22 M atthias von Hartz: »Kunst oder Kerngeschäft? Warum sich das System Stadttheater von innen heraus erneuern muss und dafür dringend Impulse von außen braucht«, in: Josef Mackert / Heiner Goebbels / Barbara Mundel (Hg.), HEART OF THE CITY. Recherchen zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2011, S. 30–35, hier S. 30. 23 Ebd., S. 34.
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che unter den Stichworten »Partizipation«24 und »Audience Development«25 figurieren. Die Institution kann sich schon längst nicht mehr darauf verlassen, dass sich das Publikum von selbst einfindet bzw. im Sinne einer »Kultur für alle«26 das Theater für sich in Anspruch nimmt. Neben den bereits angesprochenen Fragen einer prekären Repräsentation durch die Institution selbst werden die durch die Digitalisierung angestoßenen kulturellen Transformationsvorgänge der Gesellschaft27 wirksam, in deren Gefolge sich die gegebenen kulturellen Praxismuster und damit Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster von Menschen genauso verändern, wie sich Vorstellungen von Raum und Zeit, von Gemeinschaft und Identität, Öffentlichkeit und Privatheit – und nicht zuletzt diese Vorgänge verarbeitende ästhetische Praktiken wandeln (müssen).28 (d) Binnenstrukturelle Perspektive: Unter diesem Blickwinkel werden die konkret gegebenen Rahmenbedingungen der Arbeit an der Institution diskutiert. Hier artikulieren sich die mitunter problematischen Arbeits- und Produktionsbedingungen in den Theatern, wo es deren Struktur zulässt, »dass der Chef des
24 Vgl. dazu aktuell: Johannes Kup: Das Theater der Teilhabe. Zum Diskurs um Partizipation in der zeitgenössischen Theaterpädagogik, Berlin u. a. 2019. 25 Vgl. dazu Birgit Mandel: »Audience Development, Kulturelle Bildung, Kulturentwicklungsplanung. Community Building. Konzepte zur Reduzierung der sozialen Selektivität des öffentlich geförderten Kulturangebots«, in: Kulturelle Bildung Online, URL: https://www.kubi-online. de/artikel/audience-development-kulturelle-bildung-kulturentwicklungsplanung-communi ty-building [zuletzt abgerufen am 10. September 2019]. 26 Hilmar Hoffmann: Kultur für alle. Perspektiven und Modelle, Frankfurt am Main 1979. Der egalitäre Anspruch einer höheren Zugänglichkeit von Kultureinrichtungen, wie sie auch im »Bürgerrecht Kultur« (vgl. Hermann Glaser / Karl-Heinz Stahl: Die Wiedergewinnung des Ästhetischen, München 1974) zum Ausdruck kommt, ist historisch und angesichts des Singulars von Kultur auch problematisch. 27 Vgl. dazu Felix Stalder: Kultur der Digitalität, Berlin 2016. Für die Auswirkungen auf das Theater: Ulf Otto: Internetauftritte. Eine Theatergeschichte der neuen Medien, Bielefeld 2013. 28 Ob es dem Theater wie bislang gelingt, neue (nun digitale) Strategien der Darstellung der Welt in sein eigenes Portfolio zu integrieren, ist für diesen Zusammenhang zweitrangig; hierzu gibt es bereits viele Versuche, z. B. die eher technisch ausgerichtete Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund, URL: https://theater.digital [zuletzt abgerufen am 10. September 2019] oder die theoretisch ausgerichtete Konferenz Theater und Netz (URL: http://theaterundnetz. de [zuletzt abgerufen am 10. September 2019]. Wie das Theater in der digitalen Welt kommunikativ stattfinden kann, wenn sich die Aufführung als Ereignis nur bedingt mediatisieren lässt, sich die potentiellen Adressaten aber erst einfinden müssen, scheint viel unsicherer. Eine adäquate Präsenz in den digitalen Kanälen und gängigen Plattformen stellt die Grundbedingung für die Wahrnehmung dar – und diese ist, mit Blick auf Experimente zur Zusammenstellung von Spielplänen durch Online-Votings, sowie die Webauftritte der Kultureinrichtungen sicher ausbaubar.
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Betriebs sagt, der Betrieb bin ich.«29 Damit sind vor allem Fragen nach der Verteilung von Macht und des konkreten Umgangs mit ihr angesprochen, wobei wiederum vor allem die Rolle der Vorgesetzten wie Theaterleitung / Intendanz und Regie problematisiert und im Hinblick auf fehlende Mitbestimmungsrechte, Machtmissbrauch und Willkür von mehr als einem Drittel im Kontext einer Studie30 befragten Künstler*innen kritisiert wird. In diesem Zusammenhang wird dann auch die Frage der Geschlechtergerechtigkeit virulent, da die »Ordnung des Theaters«31 mehr noch als in anderen Gesellschaftsbereichen männlich dominiert ist.32 (e) Künstlerische Perspektive: Nicht zuletzt richten sich viele, vor allem feuilletonistische Beiträge dieser Debatte an das Stadttheater als öffentlichen Ort der Produktion von Kunst. Was genau darunter verstanden wird, ist jeweils abhängig von den angelegten Maßstäben, an denen sich die prozessual Beteiligten messen lassen müssen. Hierzu werden die Fragen nach dem zeitgenössischen Schreiben, d. h. einer Dramatik der Gegenwart, genauso verhandelt wie dessen szenische Umsetzung durch Strategien im zeitgenössischem Regietheater bzw. der suk-
29 Vgl. das Gespräch von Malte Jelden et. al. zur »Corporate Citizenship«, in: Dorte Lena Eilers / Jutta Wangemann (Hg.), HEART OF THE CITY II. Recherchen zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2017, S. 68. Die zitierte Aussage stammt von Björn Bicker, der weiter sagt: »Das ist gestrig, patriarchal und hoffentlich ohne Zukunft, aber nach wie vor die Realität« (Ebd.). 30 Maximilian Norz: »Faire Arbeitsbedingungen in den Darstellenden Künsten und der Musik?! Eine Untersuchung zu Arbeitsbedingungen, Missständen sowie Vorschlägen, die zu besseren Arbeitsbedingungen beitragen können.« Hg. von der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf 2016, URL: https://artbutfair.org/wp-content/uploads/2016/05/p_study_hbs_319.pdf [zuletzt abgerufen am 10. September 2019]. Dieses Thema wird seit 2013 von unterschiedlichen Gruppierungen konstruktiv im Sinne einer Verbesserung verarbeitet; neben den schon erwähnten Akteuren wie dem ensemble-netzwerk und der konferenz konkret wäre hier noch die internationale Bewegung art but fair (URL: https://artbutfair.org/wer-wir-sind [zuletzt abgerufen am 10. September 2019]) zu nennen, auf deren Initiative hin die hier erwähnte Studie konzipiert wurde. Dass sich dieses Problem durch alle Gewerke der Kultureinrichtungen zieht, zeigt auch ein Interview mit dem Geschäftsführer der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft, Hubert Eckart: »Hier werden alle ausgequetscht wie die Zitronen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. Mai 2019. 31 Vgl. dazu: Daniel Hänzi: Die Ordnung des Theaters. Eine Soziologie der Regie. Bielefeld 2013. 32 Hierzu gibt eine Vielzahl von Gegenbewegungen, die z. T. umstritten sind (z. B. die Frage nach einer Quotierung); vgl. dazu das Dossier »Geschlechtergerechtigkeit und Frauen im Theater« unter URL: https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=16774:dos sier-frauen-und-geschlechtergerechtigkeit-im-theater [zuletzt abgerufen am 10. September 2019]. Oder: Anne Peter: »›Von allein ändert sich nichts.‹ Interview mit der Regisseurin Anna Bergmann, seit Sommer 2018 Schauspieldirektorin am Staatstheater Karlsruhe«, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Moralische Anstalt 2.0. Über Theater und politische Bildung, Berlin 2019, S. 24f.
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zessiven Ablösung des Schauspiels durch performative Praktiken.33 Zudem wird dabei immer wieder die Frage nach dem zu er- bzw. vermittelnden Verhältnis von Kunst und Kultur bzw. dessen, was unter ›kultureller Bildung‹ verstanden werden soll, kontrovers diskutiert. Für die einen ist letzteres »zentrale Aufgabe und zentrale Handlungsweise für Kulturpolitik«34 – für die anderen stellt eine Überbetonung der kulturellen Bildung einen »Verrat an der Kunst«35 durch deren Indienstnahme dar, was entweder zu einer anachronistischen Revitalisierung des Vorstellung des Theaters als Bildungsstätte (im Sinne der moralischen Anstalt)36 führt oder das subversive Potential der Kunst auf eine auf neoliberal geprägte Individual-Kompetenzen zielende Dienstleistung reduziert.37 Auch wenn diese Zusammenstellung die seit mehreren Jahren laufenden, vielstimmigen Debatten zu einem »Stadttheater der Zukunft« nur in Ansätzen aufscheinen lässt, wird erahnbar, dass die diesen Beitrag inspirierende Laudatio zur diesbezüglichen Würdigung der Aktivitäten des Theater Erlangens einige Kennzeichen dieser Diskussionen aufweist, die dann als Argument für die Verleihung des Theaterpreises des Bundes verwendet wurden. Der Nachweis hierzu soll im nächsten Schritt erfolgen.
33 Z. B. Bernd Stegemann: Kritik des Theaters, Berlin 2013. Oder: Thomas Ostermeier: »Die Zukunft des Theaters«, URL: https://www.schaubuehne.de/de/uploads/Ostermeier_Die-Zukunftdes-Theaters_2013.pdf [zuletzt abgerufen am 10. September 2019]. 34 Wolfgang Schneider / Oliver Scheytt: »Kulturelle Grundversorgung als Paradigma? Gespräch über Theorie und Praxis von Kulturpolitik«, in: Stephan Porombka / Wolfgang Schneider / Volker Wortmann (Hg.), Jahrbuch für Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis 2008 – Theorie und Praxis der Künste, Tübingen 2008, S. 211–219, hier S. 219. 35 Vgl. dazu das Gespräch mit Hortensia Völckers in: Josef Mackert / Heiner Goebbels / Barbara Mundel (Hg.), HEART OF THE CITY. Recherchen zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2011, S. 82–86, hier S. 86. Völckers spricht davon, dass »kulturelle Bildung erst mal die Voraussetzungen schaffen muss, dass das Theater als Ort anspruchsvoller künstlerischer Produktion wieder anschlussfähig wird« (Ebd.). 36 »Das Theater kann einer Gesellschaft auch nicht prinzipiell zur Stabilisierung ihrer moralischen Überzeugungen dienen, denn Theaterleute haben zum Glück eine besondere Faszination für das Paradox, das Uneindeutige, den inneren Widerspruch und das Böse, d. h. für das Drama – alles Kategorien, die weder die aktivistische Sehnsucht nach eindeutigen Botschaften mit klaren Feindzuweisungen befriedigen, noch irgendetwas zur schulischen Vermittlung dieses oder jenes Wissens beitragen könnten.« (Alexander Kerlin: »Beim Blick in den Abgrund«, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Moralische Anstalt 2.0. Über Theater und politische Bildung, Berlin 2019, S. 28–31). 37 Helle Becker: »Kulturelle Bildung nach Plan, oder: Die dunkle Seite des Hypes« [2013/14], in: Kulturelle Bildung Online, URL: https://www.kubi-online.de/artikel/kulturelle-bildung-nach -plan-oder-dunkle-seite-des-hypes [zuletzt abgerufen am 10. September 2019].
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Relektüre der Laudatio – eine Analyse des Jury-Textes
Die Laudatio ist eine eigentümliche Textsorte; sie verarbeitet durch eine formelle Beschränkung sprachlich eine speziell soziale, d. h. an Menschen und ihre Handlungen gebundene Situation der Würdigung und Belobigung. In überschaubarem Rahmen, d. h. mit begrenzter Zeichenzahl, zeigt sie sich als spezifisch ritualisierte Kommunikationsform, die eine konkrete Absicht verfolgt und dabei argumentativ Auskunft über ihren Gegenstand, als Ursache ihrer Existenz, gibt.38 Anders als die als Rede vorgetragene Laudatio, die performativ (und damit explizit) meist an den/die Verfasser*in als den Vortragenden geknüpft ist und dem verfassten Text damit eine weitere Dimension beimengt, offenbart die nur schriftlich vorliegende Form ihre/n Autor*in nicht unbedingt, was auch für den hier zu analysierenden Text zutrifft: Erst nach einer Recherche und mehreren Klicks auf die Homepage des Deutschen Zentrums des Internationalen Theaterinstituts (ITI), das für den Theaterpreis des Bundes als institutioneller Rahmen fungiert, lässt sich herausfinden, wie die Jury 2019 personell zusammengesetzt war; da sich für den vorliegenden Text keine einzelne Person als Autor*in identifizieren lässt, muss man davon ausgehen, dass die im Text gefundene Argumentation eine gemeinschaftliche Position wiedergibt.39 Im ersten Satz wird die auszuzeichnende Institution »in der Metropolregion Nürnberg« verortet und erhält durch die namentliche Nennung der Intendantin, »Katja Ott«, eine Form der Personalisierung. Zudem wird die vom Theater ins Feld geführte Bezeichnung als »Stadttheater der Zukunft« als Positionierung (also nicht als Programmatik und / oder Profilierung) bestimmt. Das ist insofern auffällig, da dieser Begriff, bezieht man ihn auf den räumlichen Kontext, der in diesem Satz angesprochen wird, semantisch dem Vokabular der Aufmerksamkeitsökonomie, genauer des Marketings angenähert wird; so besehen wird »Stadttheater der Zukunft« zu einem Label, welches dem Theater Erlangen dabei helfen kann, sich von den Mitbewerbern in unmittelbarer räumlicher Nachbarschaft zu unterscheiden. Diese Unterscheidbarkeit zeigt sich zunächst weniger durch die konkreten Programminhalte und künstlerischen Formate, sondern in der hier argumentativ an diese Bezeichnung gekoppelten internen Prozesse einer Selbstverständigung. Neben einer auf den Topos »Stadttheater der Zukunft« be-
38 Vgl. Alexandra Zimmermann: Von der Kunst des Lobens. Eine Analyse der Textsorte Laudatio, München 1993. 39 U RL: https://www.iti-germany.de/foerderung-preise/theaterpreis-des-bundes-2019 [zuletzt abgerufen am 10. September 2019].
»Stadttheater der Zukunft«?
zogenen Tagung im Jubiläumsjahr40, deren Teilnehmende aus »Theaterschaffenden«, Akteuren aus der Politik und dem ensemble-netzwerk bestand, wird auf die inklusive Erarbeitung eines »hausinternen Leitbildes« verwiesen, das dem Theater Erlangen ein unternehmensethisches Profil gegeben hat.41 Das so entstandene Bild einer kommunikativen Vernetzung wird rhetorisch beibehalten: Das Theater und die Kommune bekommen quantitative Dimensionen und werden zueinander in ein spezifisches Verhältnis gesetzt: So wird das Theater »als größte Kulturinstitution der Stadt« bezeichnet. Trotz (oder wegen?) dieser Größe strebt das Theater nach weiteren Kooperationen vor Ort, die vor allem mit Bildungseinrichtungen (»Universität, Schulen, Stadtbibliothek«) realisiert werden. Auch die Einbeziehung der Stadtgesellschaft – genauer: der Bürger – bei der eigenen Spielplangestaltung durch »eine Bürgersprechstunde der Dramaturgie« wird gewürdigt. Erst dann, im letzten Drittel des Textes werden (implizite) Angaben zu den Inhalten des Spielplans und den künstlerischen Praktiken gemacht: Dass »zeitgenössische« Texte die »große Bühne« bekommen und mit »renommierten Größen der freien Szene« (es werden exemplarisch zwei Namen – »Hans-Werner Kroesinger« und »Turbo Pascal« – genannt) zusammengearbeitet wird, scheint ebenso relevant, wie der Umstand, dass mehr als die Hälfte der Eigenproduktionen durch Regie führende Frauen verantwortet wird. Letzteres wird dann wieder zu einem kulturpolitischen Argument, weil dies als wichtiger »Beitrag zur Geschlechtergerechtigkeit im deutschen Theaterbetrieb« bezeichnet wird. Konkret (wenn auch implizit) wird das eingangs gesetzte Thema Zukunft im letzten Satz der Laudatio angesprochen, wenn gesagt wird, dass der »Regienachwuchswettbewerb […] neue Talente entdeckt« und jenen die Möglichkeit zur Arbeit ermöglicht; in gewisser Weise wird durch den Bezug zu diesen Akteuren und ihren künftigen Aktivitäten rhetorisch ein Kreis geschlossen. Somit erscheinen die Veränderungen bzw. programmatischen Erneuerungen für eine Ertüchtigung des Stadttheaters in erster Linie auf dessen gegebene Strukturen (und weniger auf dessen Praktiken) bezogen; allein dadurch werden die in der Laudatio genannten Aspekte zur Würdigung der Erlanger Aktivitäten für Vieles, was in diesem Zusammenhang in unterschiedlichen Formaten, aus 40 Im Jury-Text wird suggeriert, dass das Theater Erlangen 300 Jahre alt sei; baulich mag das für bestimmte Gebäudeteile vielleicht noch stimmen, institutionspolitisch ist diese Angabe jedoch irreführend. 41 Vgl. dazu Daniel Ris: »Zur Entstehung des Leitbildes am Theater Erlangen«, in: Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg.), 300 Jahre Theater Erlangen. Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft, Berlin 2019, S. 219–221. Für eine längere Antwort auf die Frage, »[w]arum wir eine Unternehmensethik für das Theater brauchen«, siehe Daniel Ris: »Vorne hui, hinten pfui«, URL: https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_con tent&view=article&id=8274:warum-wir-eine-unternehmensethik-fur-das-theater-brauchen [zuletzt abgerufen am 10. September 2019].
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verschiedenen Perspektiven, an diversen Orten bereits erörtert wurde, repräsentativ: Dominant sind die Bemühungen um eine nachhaltige Verankerung des Theaters in seiner Umgebung durch Vernetzung, die man als analoge Reaktion der Kulturinstitution auf die Herausforderungen einer digitalen Netzwerkgesellschaft42 und der Strategie eines Audience Developments im Sinne der Kulturellen Bildung verstehen könnte, weil so die Akteure einer kommunalen Bildungslandschaft (und deren dann ggf. weiter unter sich bleibende Nutzer) angesprochen und zusammengefasst werden. Hierunter fällt auch der erwähnte Ausbau der partizipativen Angebote, wobei die genannte Strategie einer »Bürgersprechstunde« ambivalent ist, da in dieser Offerte strukturell ein Machtverhältnis zwischen Anbieter und Nachfrage – in Hinblick auf Wissensbestände und Verbindlichkeit der dort besprochenen Handlungen – bestehen bleibt. Die Nennung der erfolgten Beschäftigung von Akteuren der ›freien Szene‹ hat ebenfalls eine leicht hierarchische Ausrichtung; immerhin sind es »renommierte Größen«, die hier an den Start gingen – wobei das Kollektiv Turbo Pascal sich auch in der in diesem Zusammenhang bereits erwähnten Selbstbespiegelung des Theaters Freiburg durch ein »Mitarbeiter*innenprojekt« einen Namen gemacht hat.43 Somit ist die erfolgte Beschäftigung mit den bestehenden Arbeitsverhältnissen und der Beitrag zur Geschlechtergerechtigkeit ggf. dem gestiegenen Reformbedarf geschuldet, der u. a. durch den konstruktiven Druck des ensemble-netzwerks44 eine kulturpolitische Tagesaktualität bekommen hat. Diese eher strukturelle (d. h. meist arbeitsrechtlich) und allgemein kulturpolitisch motivierte Argumentation des Textes, in der, im Gegensatz zu der ebenfalls bereits zitierten Agenda des Preises gehörenden Würdigung von »künstlerischem Programm« und »künstlerischem Gesamtangebot«, eine konkrete künstlerische Praxis unterrepräsentiert scheint, lässt sich unter Umständen auf den Kontext des Auslobenden beziehen: Der Theaterpreis des Bundes ist ein von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Monika Grütters, im Jahr 2015 initiierter »Ermutigungspreis«, der »die Theater in ihrer Rolle als Orte der ästhetischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen würdigen und
42 V gl. dazu Martin Malirsch: Digitale Netzwerkgesellschaft. Realutopische Szenarien zur Zukunftsfähigkeit, Remscheid 2015. 43 Vgl. dazu die Beiträge in D. L. Eilers / J. Wangemann: HEART OF THE CITY II. 44 I nteressant ist, dass das Theater Erlangen 2016 durch die Nichtverlängerung eines Engagements einer Schauspielerin direkt nach deren Elternzeit in die Schlagzeilen geriet und damit einen Beitrag zur intrinsischen Motivation der Vernetzung von Bühnenangehörigen leistete (vgl. dazu Christiane Lutz: »Wie Schauspieler sich gegen ihre Arbeitsbedingungen wehren«, URL: https://www.sueddeutsche.de/bayern/kulturpolitik-aus-in-der-verlaengerung-1.3375046 [zuletzt abgerufen am 10. September 2019]).
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stärken«45 soll. Da im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland die Kulturhoheit der Länder (vgl. GG Art. 30) als wesentlicher Bestandteil der staatlichen Verfasstheit verstanden wird 46, wären direkte Aussagen zu konkreten Aktivitäten von Kultureinrichtungen eine unbotmäßige Einmischung des Bundes. So werden ästhetische Dimensionen, die noch stärker durch die in Art 5, Abs. 3 im Grundgesetz hinterlegten Kunstfreiheit geschützt sind, zwar als Referenz benannt, aber eben nicht weiter ausgeführt. Jedoch fügt sich der Umstand, dass in den Erörterungen mit Blick auf das Stadttheater und seiner Zukunft generell von »Kunst [...] eher selten die Rede«47 zu sein scheint, als relative Leerstelle in das Gesamtbild ein – dieser Lücke widmet sich nun abschließend der folgende Abschnitt.
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Ein Füllen der Lücke? – das »Genter Manifest«
Im Zuge der Übernahme der künstlerischen Leitung des NTGent durch den Schweizer Theaterregisseur, Autor, Filmemacher und Soziologen Milo Rau, der als einer der relevantesten Theatermacher der Gegenwart angesehen wird, veröffentlichte dieser 2018 gemeinsam mit seinen Kollegen der Künstlerischen Leitung, Stefan Bläske, Steven Heene und Nathalie De Boelpaep, ein Manifest, in dessen Vorrede die strukturellen Dimensionen der hier angesprochenen Debatten zu einem »Stadttheater der Zukunft« als »ideologisch« bezeichnet werden und in der man sich demgegenüber dezidiert auf produktionsästhetische Aspekte bezieht, damit die »impliziten Grenzen des Systems ›Stadttheater‹«48 aufgezeigt und überwunden werden können. Auch wenn sich dieses Vorhaben durch seine Ansiedelung in einer anderen Theaterkultur, der auch in den hier eher auf den deutschsprachigen Mentalraum bezogenen Debatten manch sehnsuchtsvoller Blick galt, 45 URL: https://www.iti-germany.de/archiv/theaterpreis-des-bundes/theaterpreis-des-bundes2015/ [zuletzt abgerufen am 10. September 2019]. Der Begriff »Ermutigungspreis« zieht sich von Beginn an durch die Statements der Bundesbeauftragten und ist als defensive rhetorische Figur im Kontext des Spannungsverhältnisses in der Aufgabenverteilung von Bund, Ländern und Kommunen zu lesen. 46 Artikel »Kulturhoheit«, in: Duden Recht A–Z. Fachlexikon für Studium, Ausbildung und Beruf, 3. Aufl., Berlin 2015, URL: http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/recht-a-z/22499/kulturho heit [zuletzt abgerufen am 10. September 2019]. 47 So die Reaktion von Nikolaus Merck auf das erste Arbeitsbuch HEART OF THE CITY (siehe Fußnote 10) – dort heißt es weiter: »Vielleicht ist Ihre Rede von Kunst oder der künstlerischen Motivation auch eher ein Feigenblatt um eine ganz andere Blöße zu verdecken?« (Nikolaus Merck: »Tendenzieller Fall der Legitimitätsräte«, URL: https://www.nachtkritik.de/index.php?view =article&id=6107%3Adebatte-um-die-zukunf t-des-stadttheaters-v--ein-brief-zum-arbeits buch-qheart-of-the-city-recherchen-zum-stadttheater-der-zukunftq [zuletzt abgerufen am 10. September 2019]). 48 Hier wird aus der Vorbemerkung zum »Genter Manifest« zitiert; vgl. Fußnote 5.
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nur bedingt als Vergleich heranziehen lässt, ist die Ausgangslage für die neobzw. postavantgardistische Rhetorik des »Genter Manifests« doch eine Setzung, die sich auf das deutsche System der Stadttheater bezieht und sich sozusagen ex negativo an diesem abarbeitet: »Der erste Schritt zum ›Stadttheater der Zukunft‹ ist es deshalb, aus impliziten explizite Regeln zu machen – und aus ideologischen Debatten konkrete Entscheidungen. Wie sieht ein Stadttheater der Zukunft wirklich aus? Wer arbeitet in ihm, wie probt man in ihm, wie produziert und tourt es? Wie bringt man den Wunsch nach freien Produktionsweisen, nach kollektiver und zeitgenössischer Autorschaft, nach einem Ensembletheater, das eine globalisierte Welt nicht nur bespricht, sondern sie spiegelt und auf sie einwirkt, in ein Set von Regeln? Wie zwingt man gewissermassen [sic] eine alt gewordene Institution, sich zu befreien und wieder zu den Brettern zu werden, die ›die Welt bedeuten‹?«49 Der programmatische Kern artikuliert sich in der ersten der zehn selbstauferlegten Regeln, die von den Verfassern selbst mit dem »›Reinheitsgebot‹ des DOGMA95«50 verglichen werden – und damit einen vorangegangenen Impuls des Dortmunder Schauspielhauses51 für eigene Zwecke modifiziert; in dieser geht es um die Ausrichtung der szenischen Praktiken, die nicht mehr allein auf die Darstellung, sondern auf die Veränderung der Welt gerichtet sind: »Nicht die Darstellung des Realen ist das Ziel, sondern dass die Darstellung selbst real wird.«52 Damit wird die Frage nach einer gelingenden Repräsentation der Welt durch die Verabschiedung eines allein auf (klassische Dramen-)Texte bezogenen Theaters53 zugunsten einer Verschiebung zur Berücksichtigung einer durch Globalisierung
49 Ebd. 50 E bd.; »DOGMA 95« ist ein von u. a. Lars von Trier und Thomas Vinterberg im März 1995 unterzeichnetes Manifest zur Produktion ihrer Filme, das sich gegen die damals konstatierte Wirklichkeitsentfremdung des Kinos richtete. Vgl. dazu Jana Hallberg / Alexander Wewerka: Dogma95. Zwischen Kontrolle und Chaos, Berlin 2001. 51 I m Zuge einer kritischen Auseinandersetzung mit der historischen »DOGMA 95«-Bewegung wurde zur Theater-Inszenierung von Thomas Vinterbergs Das Fest im Januar 2013 unter Federführung des Dramaturgen Alexander Kerlin ein Manifest erstellt, das u. a. den Film für tot erklärte und dem Theater bei der »Auferstehung des Filmes« eine zentrale Rolle zuwies. Vgl. »DOGMA 20_13. Das Dortmunder Manifest«, URL: https://www.theaterdo.de/uploads/events/ downloads/DOGMA_20_13.pdf [zuletzt abgerufen am 10. September 2019]. 52 »Genter Manifest« (vgl. Fußnote 5), Erste Regel. 53 Vgl. dazu die vierte Regel: »Die wörtliche Adaption von Klassikern auf der Bühne ist verboten. Wenn zu Probenbeginn ein Text – ob Buch, Film oder Theaterstück – vorliegt, darf dieser maximal 20 Prozent der Vorstellungsdauer ausmachen« (Ebd.).
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geprägten Lebenswelt und ihren Realitäten54 hin beantwortet. Die Produktion (und nicht das Produkt) steht im Zentrum; alles, was mit ihr in Zusammenhang steht, muss »öffentlich zugänglich sein«55 – die an ihr Beteiligten bekommen gleichermaßen, »was immer ihre Funktion sein mag«, die »Autorschaft«56 übertragen. Damit das Ganze technisch handhabbar und mobil ist, wird das Bühnenbild in seinem »Gesamtvolumen« auf die Größe eines »Lieferwagens, der mit einem normalen Führerschein gefahren werden kann«57, beschränkt. Die Verfasser des vordringlich auf die Produktion und Distribution von Theateraufführungen aus dem NTGent bezogenen Regelwerks räumen ein, dass dieses eine »Zumutung – für das Theater, vor allem aber für uns, die darin arbeiten«, darstellt – und dass es »wie bei DOGMA95 [...] am Ende vielleicht keine einzige Produktion des NTGent geben (wird), die allen zehn Regeln Genüge tut«58, jedoch lassen sich meines Erachtens aus dem, was derart szenisch angebahnt werden soll, Lehren für eine Theaterpraxis an anderen Orten als Gent ziehen: Natürlich wird sich in dessen Gefolge das, was institutionell unter einem Stadttheater verstanden wird, wandeln müssen, wenn dieses sich als politischer Akteur zur Verarbeitung von Wirklichkeiten versteht, die wir (als potentielle Besucher) nur aus den Nachrichten kennen. Vielleicht werden sich die distinktiven Haltungen, die ein eher kulinarisches Verhältnis zur Institution und ihren künstlerischen Praxen pf legten, verändern – und damit die Dringlichkeit eines »Theater muss sein«59 unter Beweis stellen – auch angesichts der vielen medialen Konkurrenzen bzw. der virtuell möglichen Abschweifungen durch streitbare Thesen, die sich live szenisch 54 Damit sind Veränderungen im Probenprozess (»Mindestens ein Viertel der Probenzeit muss außerhalb eines Theaterraums stattfinden« – fünfte Regel, ebd.), die Anerkennung von Diversität (»In jeder Produktion müssen auf der Bühne mindestens zwei verschiedene Sprachen gesprochen werden« – sechste Regel, ebd.), die Abkehr vom ausschließlichen Prinzip der Expertise (»Mindestens zwei der Darsteller [...] dürfen keine professionellen Schauspieler sein« – siebente Regel, ebd.) und die Hinwendung der eigenen Produktion zu »Krisen- oder Kriegsgebieten ohne kulturelle Infrastruktur« – neunte Regel, ebd.) bzw. dem Prinzip des Tourens (zehnte Regel, ebd.) gemeint. 55 Ebd., zweite Regel. 56 Ebd., dritte Regel. 57 Ebd., achte Regel. 58 Ebd., aus der Vorrede zu den Regeln. 59 Die Kampagne Theater muss sein des Deutschen Bühnenvereins reagierte seit Mitte der 1990er Jahre auf den v. a. finanziell geprägten Strukturwandel der deutschen Theaterlandschaft, die mit der Wiedervereinigung verbunden war und mit der Schließung des Berliner Schillertheaters 1993 ein Initial hatte. Die Begleitung dieser selbst erschaffenen Strukturdebatte erfolgte auch durch den Deutschen Bühnenverein selbst, so auch in der Umkehrung des Slogans in Muss Theater sein? (dokumentiert in Deutscher Bühnenverein (Hg.): Muss Theater sein? Fragen, Antworten, Anstöße, Köln 2003); ebenfalls in diesem Kontext: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.): Jahrbuch für Kulturpolitik. Band 4: Theaterdebatte, Essen 2004.
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ereignen, ohne dass damit nur die finanzielle Sicherstellung von exklusiven Mechanismen einer Kunst von Wenigen für Wenige gemeint ist. Vergleicht man die eher attestierenden Aussagen zum Vorgehen in Erlangen mit den proklamierten Vorhaben in Gent, die beide unter der Überschrift eines Stadttheaters der Zukunft figurieren, so ist beiden gemein, dass sie das verarbeiten, was in diesem Kontext an vielschichtiger Ref lexion geleistet wurde. Dabei reagiert die Diagnose einer (kulturpolitisch orientierten) Jury mehr auf das, was aktuell diskursiv Konjunktur zu haben scheint, während die in Gent erfolgte programmatische Setzung für beabsichtigte künstlerische Praxen als eine Synthese von dem bezeichnet werden kann, was für eigene Verwertungslogik opportun erscheint: Bei der Lektüre des »Genter Manifests« (und auch dessen Publikationsformen60) bekommt man den Eindruck, dass dieses als eine Art Melange aus Diskursanalyse, Adaption von als tauglich befundenen Initiativen anderer Theater in Abgleich mit dem eigenen Kunstprogramm61 und den lokalen Bedürfnissen in Gent62 generiert wurde. Das muss kein Fehler sein, im Gegenteil: Man weiß, im gewissen Gegensatz zu Erlangen, nicht, ob die eigenen Phantasien für die Zukunftsfähigkeit der Institution ausreichen – es ist, als wäre Heiner Müller Pate für dieses Programm: »Interessant ist Theater nur, wenn man macht, was man nicht kann. Nur daraus entsteht was Neues. Dagegen spricht aber das ganze System. Das System zwingt Leute, bei dem zu bleiben, was sie können, und das zu machen, was sie können; das heißt, sie können es immer weniger, und es wird immer schwächer. Die einzige Chance ist, dass man sich selbst Situationen schafft.«63 Ob man in Erlangen den gewonnenen Preis als Chance versteht, sich eben solche Situationen zu schaffen, anstelle lediglich einen Status Quo zu affirmieren, werden die zukünftigen Aktivitäten dieser Institution zeigen. Ein erster Blick in das eben erschienene Programmbuch zur neuen Spielzeit macht dazu einige Versprechungen; die nahe Zukunft dieses Stadttheaters ist jedenfalls konkret geplant. 60 So ist auf der Homepage des NTGent auch ein Videostatement der zehn Regeln zu sehen, in dem zwei junge Mädchen unterschiedlicher Hautfarbe, die vor dem berühmten Bild des Genter Altars sitzen, den Text vortragen (Tradition! Zukunft! Gender! Diversität!). 61 Hier vor allem das Unst-Manifest von Milo Rau, vgl. Milo Rau: Das geschichtliche Gefühl. Wege zu einem globalen Realismus, Berlin 2019, v. a. S. 23–36. 62 Vgl. dazu das Mission Statement des NTGent, das als Rahmen für die Besetzung der Intendanz fungierte, URL: https://drive.google.com/file/d/0Bw1oCiVghfR6c2ZxUTVmS1ZVamM/view [zuletzt abgerufen am 10. September 2019]. 63 H einer Müller: »Theater ist Krise. Heiner Müller im Gespräch mit Ute Scharfenberg, 16. Oktober 1995«, in: Joachim Fiebach (Hg.), Manifeste des europäischen Theaters. Von Grotowski bis Schleef, Berlin 2003, S. 330–342, hier S. 339.
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Abbildungsverzeichnis H.-F. Bormann, H. Dickel, E. Liebau, C. Risi: Einleitung Abb. 1: Fotografie: Jochen Quast Abb. 2: Fotografie: Florian Meister C. Risi: Elefanten in Erlangen? Abb. 1, 2: Privatbesitz des Autors Abb. 3: Bayerische Staatsbibliothek München, 2 P.o.germ. 58,8, URL: http:// mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10943735-6 Abb. 4: Graphische Sammlung der Universität Erlangen-Nürnberg, Slg. Luthardt, anonym, LII, B 4, in: Erlangen im Barock. Glanz und Elend der Markgrafenzeit. Hg. von Thomas Engelhardt, Erlangen 2010, S. 104 Abb. 5: Graphische Sammlung der Universität Erlangen-Nürnberg, Slg. Luthardt, anonym, LII, B 5, Erlangen im Barock. Glanz und Elend der Markgrafenzeit. Hg. von Thomas Engelhardt, Erlangen 2010, S. 106 Abb. 6: Staatsbibliothek zu Berlin, SA 808 (7), URL: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB00019D7700070000 Abb. 7: Staatsarchiv Bamberg, Geheimes Archiv Bayreuth, Nr. 794 Abb. 8: Bayerische Staatsbibliothek München, Res/Slg.Faust 155, URL: http:// mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10928089-7 A. Hentschel: Von Mauern und Mauerweilern Abb. 1: mapz.com; Bearbeitung: Maren Manzl S. Buhr: 300 Jahre Theaterwerbung in Erlangen Abb. 1: Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, H61/RAR.A 17; Digitalisat: URL: http://digital.bib-bvb.de/webclient/DeliveryManager?custom_att_ 2=simple_viewer&pid=2725278 Abb. 2: Stadtarchiv Erlangen, XXXVII.46 Abb. 3, 4: Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, H00/2 HIST 617 aa10[1 Abb. 5: Stadtarchiv Erlangen, XXXVII.80 Abb. 6: Stadtarchiv Erlangen, 32.31.T.1 Abb. 7: Stadtarchiv Erlangen, 75.Pl.11200 Abb. 8: Stadtarchiv Erlangen, 75.Pl.10154 Abb. 9: Kunstmuseum Erlangen, Pl.10, Inv.-Nr. 3834 Abb. 10: Stadtarchiv Erlangen, 75.Pl.14671
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Theater in Erlangen. Orte – Geschichte(n) – Perspektiven Abb. 11: Stadtarchiv Erlangen, XIV.11.K.20 Abb. 12–14: Stadtarchiv Erlangen, Bestand 621 Abb. 15: Theater Erlangen H. Dickel: Das Erlanger Markgrafentheater Abb. 1: Fotografie: Jochen Quast Abb. 2: Fotografie: Jochen Quast; Bearbeitung: Maren Manzl Abb. 3, 4: Aus: Ulf Küster (Hg.): Theatrum Mundi – Die Welt als Bühne. Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München, vom 24. Mai bis 21. September 2003, Wolfratshausen 2003, S. 71 bzw. 55 E. Roch: Weltsicht und Perspektive auf der Opernbühne Abb. 1: Kupferstich-Kabinett Dresden, A 132307 Abb. 2: Kupferstich-Kabinett Dresden, A 112039r Projekt 1719: Elefanten in Erlangen Abb. 1–4, 8, 10–13: Fotografien: Erich Malter Abb. 5–7: Projektgruppe »Medien-Geister« Abb. 9: Projektgruppe Twofold | Zweimalig H.-F. Bormann: Studieren, probieren, experimentieren Abb. 1: Theaterzettel der Antigone-Produktion der späteren Studiobühne vom 13. Dezember 1946. Stadtarchiv Erlangen, XIV 42.B.1 Abb. 2: Detail aus dem Artikel [vgt]: »Wissenschaft auf den Spuren des Welttheaters«, in: Erlanger Tagblatt vom 11. September 1953. Fotografie: Otto Paul. Stadtarchiv Erlangen, XIV 42.B.1 Abb. 3, 4: Details aus dem Artikel [br]: »Viel Zeit zum Experimentieren... «, in: Erlanger Volksblatt vom 31. Januar 1970. Fotografie: Otto Paul. Stadtarchiv Erlangen, XIV 42.B.1 L.-S. Schiel: »Macht endlich Schluß!« Abb. 1, 2: Privatbesitz der Autorin B. Birk: Ausnahmezustand Abb. 1–3, 5, 7, 12, 15, 17–19: Fotografien: Erich Malter Abb. 4, 6, 8: Stadtarchiv Erlangen Abb. 9, 14: Fotografien: Kulturamt Erlangen Abb. 10, 11: Aus: Andrea Sommer-Mathis / Daniela Franke / Rudi Risati (Hg): Spettacolo barocco! Triumph des Theaters. Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Theatermuseum Wien, 3. März 2016 bis 30. Januar 2017, Petersberg 2016 Abb. 13: Fotografie: Bernd Böhner Abb. 16: Fotografie: Georg Pöhlein
Abbildungsverzeichnis D. Pachale: Stadt – Theater – Archiv Abb. 1: Stadtarchiv Erlangen, F413/67 Abb. 2: Stadtarchiv Erlangen, F413/5 Abb. 3, 4: Stadtarchiv Erlangen, F413/26 M. Warstat: Theater am Ort Abb. 1, 3: Fotografie: David Baltzer / bildbuehne.de Abb. 2: Fotografie: Thomas Aurin
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Autorinnen und Autoren Lindy Annis ist eine amerikanische Performance-Künstlerin, Dramaturgin, Theater-Autorin und Bildende Künstlerin. In Newton, Massachusetts geboren, studierte sie zunächst Theater an der New York University (Experimental Theater Wing), bis es sie 1985 nach Berlin zog. Dort konzipiert sie vor allem Performances im privaten und öffentlichen Raum, schreibt Stücke für ein junges Publikum, arbeitet dramaturgisch für Performances und Tanz und gibt regelmäßig Seminare an verschiedenen Universitäten. Ihre Arbeiten verbinden Tanz, Theater, Performance und Visual Art. Bodo Birk leitet die Abteilung »Festivals und Programme« im Kulturamt der Stadt Erlangen und ist stellvertretender Amtsleiter. Mit seinem Team ist er unter anderem für das internationale figuren.theater.festival in Erlangen, den Internationalen Comic-Salon Erlangen und das Erlanger Poetenfest verantwortlich. Nach seinem Besuch der Rudolf-Steiner-Schule Nürnberg studierte er von 1998 bis 1997 Theater- und Medienwissenschaft, Germanistik und Politikwissenschaft in Erlangen und Wien. Er war Mitbegründer des Studententheater-Festivals ARENA und verantwortete nach dem Studium einige Jahre die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Theater Erlangen, bevor er in das Kulturamt wechselte. Von 2014 bis 2017 war Bodo Birk Mitglied des Kuratoriums des Fonds Darstellende Künste, aktuell gehört er der Jury des Sonderprogramms »Konfiguration« des Fonds an. Seit 2004 ist er außerdem Jurymitglied des Max und Moritz-Preises. Hans-Friedrich Bormann lehrt als Akademischer Oberrat am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Nach dem Studium der Angewandten Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen von 1990 bis 1995 promovierte er dort im Fach Theaterwissenschaft mit einer Arbeit über John Cage. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter in Forschungsprojekten im DFG-Schwerpunktprogramm »Theatralität« und im Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen«. Von 2003 bis 2009 war er wissenschaftlicher Assistent am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Außerdem war er zwischen 1994 und 2010 künstlerischer Mitarbeiter der Performance-Formation LOSE COMBO (www.losecombo.de). Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Geschichte der Avantgarden, die Prakti-
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Theater in Erlangen. Orte – Geschichte(n) – Perspektiven ken der performativen Künste sowie Aufführungsanalyse. Ausgewählte Publikationen: Verschwiegene Stille. John Cages performative Ästhetik, München 2005; Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren. Kunst – Medien – Praxis (hg. zus. mit G. Brandstetter und A. Matzke), Bielefeld 2010. Bettina Brandl-Risi ist seit 2015 als Professorin für Theaterwissenschaft mit Schwerpunkt Performance und Gegenwartstheater und war zuvor von 2011 bis 2015 als Juniorprofessorin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg tätig. Sie studierte Neuere deutsche Literatur, Germanistische Mediävistik und Theaterwissenschaft in München, Mainz und Basel, wo sie 2007 in Neuerer deutscher Literaturwissenschaft promoviert wurde. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin war sie am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Mainz und am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin sowie am dortigen Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen« beschäftigt. Gastaufenthalte führten sie an die Yale School of Drama und die University of Chicago sowie 2010 als Gastprofessorin an die Brown University. Arbeitsschwerpunkte sind u.a. Geschichte, Theorie und Ästhetik des Theaters und der Literatur seit dem 18. Jahrhundert, Publikum und Partizipation, Theater und die anderen Künste und Medien, Verhältnisse von Theorie und Praxis/Wissenschaft und Kunst. Aktuelle Publikationen: Szenen des Virtuosen (mit G. Brandstetter und K. van Eikels), Bielefeld 2017; Das Gastmahl. Medien. Dispositive. Strukturen. Sechs Modellstudien (hg. zus. mit D. Niefanger), Hannover 2019. Silvia Buhr arbeitet derzeit an der Herausgabe einer erweiterten Fassung ihrer Doktorarbeit Theaterplakate der 1920er und 1930er Jahre (LIT-Verlag, Münster 2020). Sie absolvierte ein Studium der Theaterwissenschaft, Neueren deutschen Literaturgeschichte und Kunstgeschichte in Erlangen, das sie mit einer Magisterarbeit über »Das frühe Theaterplakat. Entstehung und Entwicklung bis zum 1. Weltkrieg« 1992 abschloss. Studium und Recherchen für die Dissertation ergänzten Auslandsaufenthalte in England, Frankreich und Italien. 2015 erfolgte die Promotion im Fach Theaterwissenschaft an der FAU Erlangen-Nürnberg mit einer umfangreichen Arbeit über »Theaterplakate der 1920er und 1930er Jahre. Ein theaterhistorischer Querschnitt im Fokus genrespezifischer Aspekte«. 2018/2019 wissenschaftliche Mitarbeit an der Sonderausstellung Was für ein Theater! 300 Jahre Markgrafentheater in Erlangen im Stadtmuseum Erlangen mit den Schwerpunkten Theaterzettel und Theaterplakate. Hans Dickel ist seit 2002 Professor für Neuere Kunstgeschichte an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er studierte Kunstgeschichte und Geschichte an den Universitäten Tübingen und Hamburg (Habilitation 1996), war wiss. Assistent an der UDK Berlin (1988–1993) und Vertre-
Autorinnen und Autoren tungsprofessor für Kunstgeschichte an der FU Berlin (1997–2002). Nach Gastdozenturen in Harvard und Prag nahm er Forschungsaufenthalte an der Columbia University New York (2010) und am INHA Paris (2015/2016, 2018) wahr. In Forschung und Lehre beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit moderner und zeitgenössischer Kunst, neuere Publikationen gelten den Kunstformen im Anthropozän (Natur in der zeitgenössischen Kunst, München 2016), medienspezifischen Kunstformen (Künstlerbücher mit Photographie seit 1960, Hamburg 2008) sowie bildwissenschaftlichen Fragen (Die Bildgeschichte der Botanik, Petersberg 2019). Michael von Engelhardt ist Professor i. R. am Institut für Soziologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, wo er weiterhin in Lehre und Forschung aktiv ist. Er studierte Soziologie, Politische Wissenschaft, Philosophie und Pädagogik an den Universitäten Tübingen und Göttingen, Promotion und Habilitation an der Universität Göttingen. Seit 1984 war er Professor für Soziologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, seit 2008 ist er Professor i. R. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Gebieten der Soziologischen Theorie, der Wissenschafts-, Bildungs- und Kultursoziologie sowie der Biographie-, Identitäts- und Migrationsforschung. Ausgewählte Publikationen: Wissenschaf tlich-technische Intelligenz im Forschungsgroßbetrieb, Frankfurt am Main / Köln 1974 (zus. mit Rainer W. Hoffmann); Entfremdete Wissenschaf t, Frankfurt am Main 1979 (hg. zusammen mit Gernot Böhme); Die pädagogische Arbeit des Lehrers, Paderborn u. a. 1982; Humanisierung im Krankenhaus, Weinheim / München 1999 (zusammen mit Christa Herrmann); Lebensgeschichte und Gesellschaf tsgeschichte, München 2001; zahlreiche Aufsatzveröffentlichungen zu Ästhetik, Identität und Biographie. Er ist Gründungsmitglied des Interdisziplinären Zentrums für Ästhetische Bildung der Universität Erlangen-Nürnberg und Vorsitzender des Fördervereins Theater Erlangen e.V. Anja Hentschel ist als Kulturmanagerin selbstständig und arbeitet in einem berufskundlichen Verlag. Seit 15 Jahren organisiert sie die Kinder- und Jugendlesungen des Erlanger Poetenfests für das Kulturamt der Stadt. Nach dem Studium der Theaterwissenschaft, Neueren deutschen Literatur, Mediävistik und Kunstgeschichte in Erlangen und Wien 1987 bis 1994 war sie bis 2004 zunächst Lehrbeauftragte, dann wissenschaftliche Assistentin am Institut für Theater- und Medienwissenschaft Erlangen. Sie arbeitete beim Studententheaterfestival ARENA mit, unterrichtete an Schauspielschulen, gestaltet Ausstellungen, Events und Kostüme und konzipiert kulturpädagogische Angebote für Kinder. Neben der theaterhistorischen Sozialforschung und Kostümkunde gilt ihr Interesse der Geschichte der Vergnügungskultur und der Visualisierung historischer Themen.
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Theater in Erlangen. Orte – Geschichte(n) – Perspektiven Julia Klingel studiert seit 2017 Theater- und Medienwissenschaft mit Schwerpunkt »Theatralität / Performative Kulturen« an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und hat einen B. A. in Medien- und Kommunikationswissenschaft von der Universität Mannheim mit Auslandsaufenthalt an der Portland State University. In ihrer anstehenden Masterthesis beschäftigt sie sich mit Produktions- und Rezeptionsästhetik der Live-Übertragungen von Musiktheater in Kino und Fernsehen. Sie ist Studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Theaterwissenschaft der FAU Erlangen-Nürnberg und am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa EZIRE. Die Arbeit am EZIRE führte sie in das Autoren-Team eines Policy Papers für die Bayerische Staatsregierung (Islam in Bayern, 2018) und des Deutschland-Kapitels im Yearbook of Muslim in Europe 2018 (Leiden, im Erscheinen). Isi (Isolde) Kunath studierte an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg in der Klasse »Textil« bei Professor Hanns Herpich und bei Professor Johannes Peter Hölzinger »Kunst und öffentlicher Raum«. Sie war mehrfach Stipendiatin und erhielt zahlreiche Preise (u. a. den Debütantenpreis des Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst und den Kulturpreis der Stadt Erlangen) und arbeitete zwei Mal als »Artist in Residence« in der Münchner Villa Waldberta. Sie hatte zahlreiche Einzelausstellungen im In- und Ausland und nahm an nationalen und internationalen Kunstprojekten teil. Isi Kunath betreibt derzeit das »JOHAN« in Nürnberg, eine Speisekammer mit Garten, in der sie Kulinarik und Gastgeberschaft zur Kunstform erhoben hat. Sandra Leupold studierte Theater- und Musikwissenschaft u. a. bei Carl Dahlhaus sowie Opernregie bei Ruth Berghaus und Peter Konwitschny und war nach dem Studium persönliche Regiemitarbeiterin von Hans Neuenfels, George Tabori und Jürgen Rose. Vom Fachmagazin Opernwelt wurde sie als »Nachwuchskünstlerin«, »Regisseurin« oder als »Produktion des Jahres« u. a. für Don Giovanni am Theater Heidelberg, Così fan tutte in Montepulciano und am Theater Lübeck, Pelléas et Mélisande, Parsifal und La Gerusalemme liberata am Staatstheater Mainz, Carmen am Staatstheater Darmstadt, Der Freischütz am Theater Heidelberg und Werther am Theater Lübeck nominiert. Als erste Regisseurin überhaupt wurde sie 2014 für Don Carlo am Theater Lübeck mit dem Deutschen Theaterpreis DER FAUST für die beste Regie Musiktheater ausgezeichnet. Zu ihren Arbeiten zählen außerdem u. a. Lucia di Lammermoor an der Hamburgischen Staatsoper, Tannhäuser am Staatstheater Mainz, Ariane et Barbe-Bleue und L’Oracolo/Le Villi an der Oper Frankfurt, Pique Dame an der Oper Kiel, Erwartung an der Oper Leipzig und zuletzt Luci mie traditrici und Werther am Theater Lübeck.
Autorinnen und Autoren Eckart Liebau ist seit 2012 Vorsitzender des Rats für Kulturelle Bildung und seit 2019 wieder Mitglied des Vorstands des Interdisziplinären Zentrums Ästhetische Bildung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (Sprecher von 2005–2014). Er war Inhaber des Lehrstuhls »Pädagogik II« am Institut für Pädagogik (1992–2014) und des UNESCO-Lehrstuhls für Kulturelle Bildung (2010–2019) sowie Sprecher der Akademie für Schultheater und Theaterpädagogik (2008–2017). Eva Meyer-Keller studierte zuerst Fotografie und Bildende Kunst in Berlin (Hochschule der Künste) und London (Central Saint Martins, Kings College), um dann später ein vierjähriges Studium in Amsterdam für Tanz und Choreographie an der School for New Dance Development (SNDO) abzuschließen. Eva Meyer-Keller konzipiert zahlreiche Performances und Installationen und unterrichtet seit 2010 europaweit an verschiedenen Universitäten, unter anderem an der Universität in Hildesheim, dem Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz (HZT / UdK) in Berlin, am DOCH (Dans och Cirkushögskolan) in Stockholm sowie an der Zürcher Hochschule der Künste. Katja Ott ist seit der Spielzeit 2009/10 Intendantin des Theaters Erlangen. Sie studierte Germanistik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften in Frankfurt am Main. Nach ihrer Zeit als Regieassistentin inszenierte sie unter anderem an den Kammerspielen München, den Vereinigten Bühnen Krefeld Mönchengladbach und am Staatstheater Braunschweig. Dort war sie von 2004 bis 2009 persönliche Referentin des Generalintendanten und zunächst Leiterin des Jungen Staatstheaters und von 2007–2009 Schauspieldirektorin. Dorothea Pachale ist seit 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Sie studierte Theater- und Medienwissenschaft und Neuere Deutsche Literaturwissenschaft in Erlangen und Parma sowie den interdisziplinären Masterstudiengang Ethik der Textkulturen im Elitenetzwerk Bayern. 2017 wurde sie in Erlangen im Fach Theaterwissenschaft mit einer Arbeit zur Sprechstimmbildung promoviert. 2013 war sie als Gastdozentin an der Concordia University in Montréal. In ihrer Forschung befasst sie sich neben den Diskursen und Praktiken zu Stimme und Sprechen u. a. mit der Beziehung von Archiv und Theater. Aktuelle Publikationen: Stimme und Sprechen am Theater formen. Diskurse und Praktiken einer Sprechstimmbildung ›für alle‹ vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bielefeld 2018; »Das Theater im Archiv. Fragen nach seiner historiografischen Zugänglichkeit«, in: Karoline Felsmann / Susanne Ziegler (Hg), 300 Jahre Theater Erlangen. Vom hochfürstlichen Opern- und Komödienhaus zum Stadttheater der Zukunft. Berlin 2019, S. 29–34.
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Theater in Erlangen. Orte – Geschichte(n) – Perspektiven Clemens Risi ist seit 2014 Inhaber des Lehrstuhls für Theaterwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und war zuvor 2007– 2013 Juniorprofessor für Musiktheater an der Freien Universität Berlin sowie Leiter von Forschungsprojekten im Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen« und im Exzellenzcluster »Languages of Emotion« der Freien Universität Berlin. Gastprofessuren führten ihn an die Brown University und die University of Chicago. Seine Forschungsschwerpunkte sind Aufführungsanalyse, Musiktheater vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Affekte und Emotionen in Musik und Theater, Rhythmus und Zeiterfahrungen im Theater. Ausgewählte Publikationen: Auf dem Weg zu einem italienischen Musikdrama. Konzeption, Inszenierung und Rezeption des melodramma vor 1850 bei Saverio Mercadante und Giovanni Pacini, Tutzing 2004; Kunst der Auf führung – Auf führung der Kunst (hg. zus. mit E. Fischer-Lichte u. J. Roselt), Berlin 2004; Koordinaten der Leidenschaf t. Kulturelle Auf führungen von Gefühlen (hg. zus. mit J. Roselt), Berlin 2009; Oper in performance. Analysen zur Auf führungsdimension von Operninszenierungen, Berlin 2017. Eckhard Roch lehrt seit 2007 als Professor für Systematische Musikwissenschaft am Institut für Musikforschung der Universität Würzburg mit den Schwerpunkten Musiksoziologie, Musiktheorie der Antike, Musiktheorie und Ästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts und Musikgeschichte des 19. bis 20. Jahrhunderts. Er studierte 1976–83 Musikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und 1985–92 Katholische Theologie am Philosophisch-Theologischen Studium Erfurt. Nach verschiedenen Professur- und Lehrstuhlvertretungen, u. a. in Frankfurt am Main, Leipzig und Halle, war er von 2004 bis 2007 Professor für historische Musikwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Veröffentlichungen zur Musikgeschichte (insbesondere Richard Wagner und Gustav Mahler), Musikästhetik, Musikphilosophie, Musiktheorie und Musiksoziologie der griechischen Antike und des 17. bis 20. Jahrhunderts. Lea-Sophie Schiel studierte Theater- und Medienwissenschaft und Philosophie an der FAU Erlangen-Nürnberg sowie an der Universität Bern. Parallel zu ihrem Studium sammelte sie zahlreiche Erfahrungen im Rahmen von Praktika (schauspielfrankfurt und Staatstheater Nürnberg), der Organisation von Theaterfestivals (Arena… der jungen Künste), Jury-Tätigkeiten und eines Austauschs mit der Concordia University in Montréal. Von 2012–2014 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Theater- und Medienwissenschaft wie dem Büro für Gender und Diversity an der FAU tätig. Zudem ist sie Mitglied des mehrfach ausgezeichneten queer-feministischen Performance-Kollektivs Hysterisches Globusgefühl. Ihre Monografie Theater im politischen Kampf wurde mit dem Förderpreis der Gesellschaft für Theatergeschichte 2012 ausgezeichnet. Sie promovierte als Stipendiatin
Autorinnen und Autoren der Rosa-Luxemburg-Stiftung an der FU Berlin zu dem Thema »Das Theater des Obszönen. Über Sex-Performances«. Neben Lehraufträgen an der FU, FAU sowie der HFBK Dresden, ist sie Mitglied der AG-Gender der Gesellschaft für Theaterwissenschaft, des wissenschaftlichen Ausschusses der Gesellschaft für Theatergeschichte sowie des künstlerischen Beirats des Performing Arts Festivals Berlin. André Studt arbeitet seit 2003 als wissenschaftlicher Mitarbeiter mit der Ausrichtung »pragmatische Theaterwissenschaft« am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er hat von 1992–1998 in Kiel und Erlangen Theaterwissenschaft, Politologie, Neuere und Neueste Geschichte, Philosophie studiert. Er war in der Sozialarbeit, Psychiatrie, Ayslbewerberbetreuung und in diversen Kunst- und Kulturfeldern aktiv, u. a. arbeitete er als Theaterpädagoge, Schauspieler, Dramaturg und Regisseur sowie in den Bereichen Festivalorganisation und Kulturmanagement. Seine aktuellen Arbeitsschwerpunkte liegen in den Feldern Inszenierungsprozesse, Regie-Theater, Theaterpädagogik und Lehrer*innenbildung. Er ist (Mit-)Herausgeber der Zeitschrift Schultheater und Redakteur bei double - das Magazin für Puppen-, Figurenund Objekttheater. Ausgewählte Publikationen: SchattenOrt. Theater auf dem Reichsparteitagsgelände. Ein Monument des NS-Größenwahns als Lernort und Bildungsmedium (hg. zus. mit C. Schweneker), Bielefeld 2013; Leben im OFF – ein Bilder-Lese-Buch (hg. zus. mit C. Malmedy und D. Konz, Bamberg 2015). Carolin Wangemann ist Master-Studentin der Theater- und Medienwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Aus persönlichem Interesse hat sie die Schwerpunkte innerhalb ihres Studiums auf das Musiktheater gelegt. Zusätzlich zu ihrem Studium arbeitete Carolin Wangemann am universitären Experimentiertheater im Bereich der Bühnentechnik. Seit der Spielzeit 2019/20 ist sie Referentin für Marketing und Kommunikation am Landestheater Coburg. Matthias Warstat ist seit 2012 Professor für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Nach einem Studium der Theaterwissenschaft und Neueren Geschichte in Berlin forschte er im DFG-Schwerpunktprogramm »Theatralität«, wo er 2002 seine Dissertation zur Arbeiterfestkultur im frühen 20. Jahrhundert abschloss (Theatrale Gemeinschaf ten, Tübingen 2005). In seiner 2008 abgeschlossenen Habilitationsschrift (Krise und Heilung. Wirkungsästhetiken des Theaters, München 2011) analysierte er das Spannungsverhältnis von Therapie und Destruktion in Ästhetik und Theater der Avantgarde. Zwischen 2008 und 2012 hatte er den Lehrstuhl für Theater- und Medienwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg inne. 2012 erhielt er einen ERC-Advanced-Grant für ein Projekt über Ästhetiken angewandten Theaters. Matthias Warstat ist Mitherausgeber
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Theater in Erlangen. Orte – Geschichte(n) – Perspektiven der Zeitschriften Forum Modernes Theater und Paragrana, Internationale Zeitschrif t für Historische Anthropologie. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Ästhetik des Gegenwartstheaters, Theatergeschichte der Moderne (19./20. Jahrhundert), Theatralität der Gesellschaft. Aktuelle Publikation: Soziale Theatralität. Die Inszenierung der Gesellschaf t, Paderborn 2018. Anna Zumbrunnen studiert an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg im Master Theater- und Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt »Theatralität und performative Kulturen«. Zuvor absolvierte sie ihren Zweifach-Bachelor in Pädagogik und Theater- und Medienwissenschaft. Neben ihrem Studium arbeitet Anna Zumbrunnen seit 2018 im Kulturamt der Stadt Erlangen in der Abteilung Festivals und Programme.
Theater- und Tanzwissenschaft Gabriele Klein (Hg.)
Choreografischer Baukasten. Das Buch (2. Aufl.) Februar 2019, 280 S., kart., Klebebindung 29,99 € (DE), 978-3-8376-4677-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4677-5
Manfred Brauneck
Die Deutschen und ihr Theater Kleine Geschichte der »moralischen Anstalt« – oder: Ist das Theater überfordert? 2018, 182 S., kart., Klebebindung 24,99 € (DE), 978-3-8376-3854-7 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3854-1 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3854-7
Wolfgang Schneider, Anna Eitzeroth (Hg.)
Partizipation als Programm Wege ins Theater für Kinder und Jugendliche 2017, 270 S., kart., Klebebindung 29,99 € (DE), 978-3-8376-3940-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3940-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Theater- und Tanzwissenschaft Adam Czirak, Sophie Nikoleit, Friederike Oberkrome, Verena Straub, Robert Walter-Jochum, Michael Wetzels (Hg.)
Performance zwischen den Zeiten Reenactments und Preenactments in Kunst und Wissenschaft Februar 2019, 296 S., kart., Klebebindung, 31 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4602-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4602-7
Ingrid Hentschel (Hg.)
Die Kunst der Gabe Theater zwischen Autonomie und sozialer Praxis Januar 2019, 310 S., kart., Klebebindung, 6 Farbabbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4021-2 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4021-6
Olivia Ebert, Eva Holling, Nikolaus Müller-Schöll, Philipp Schulte, Bernhard Siebert, Gerald Siegmund (Hg.)
Theater als Kritik Theorie, Geschichte und Praktiken der Ent-Unterwerfung 2018, 578 S., kart., Klebebindung, 11 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4452-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4452-8
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