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German Pages 290 Year 2016
Christer Petersen Terror und Propaganda
Edition Medienwissenschaft
Christer Petersen (Dr. phil.) ist Professor für Medienwissenschaft an der Brandenburgischen Technischen Universität. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Semiotik und der Theorie politischer, technischer und künstlerischer Diskurse.
Christer Petersen
Terror und Propaganda Prolegomena zu einer Analytischen Medienwissenschaft
Eine Publikation des Brandenburgischen Zentrums für Medienwissenschaften (ZeM), unterstützt mit Mitteln des ZeM:
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Inhalt
Einführung | 9 1
Methodische Einführung: Klassische und nicht-klassische Kalküle der Logik | 14
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Thematische Einführung: Eine kurze Mediengeschichte des ›War on Terror‹ | 20
Kapitel 1: Realität massenmedialer Ereignisse | 27 1
Ereignis oder Medienereignis | 28 Massenmediale Ereignisstrukturen 1 | 30
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Korrespondenztheorie | 38 Massenmediale Ereignisstrukturen 2 | 42 Kausalität | 49
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Immanenztheorie | 53 Massenmediale Ereignisstrukturen 3 | 59 Esse est percipi | 62 Fiktion oder Realität | 68 Eine Tautologie ist eine Tautologie | 71
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Interdependenztheorie | 72 Realistischer Konstruktivismus | 75 Ereignis und Medienereignis | 79 Massenmediale Ereignisstrukturen 4 | 82 Reale Fiktion und fi ktionale Realität | 85
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Wahrheit und Entscheidung | 88
Kapitel 2: Logik des Terrors | 93 1
Terrorist oder Freiheitskämpfer | 93 Taxonomie erster Ebene: Entscheidungen über politisch motivierte Gewalt | 98 Möglichkeiten und Grenzen der Taxonomie erster Ebene | 109 ›War on Terror‹ – Plädoyer für eine Begriffsschärfung | 115
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Propaganda | 118 Fallbeispiel: Propaganda im Tibetkonflikt 2008 | 119 Taxonomie zweiter Ebene: Propaganda über politisch motivierte Gewalt | 133 Die innere Struktur nicht-urteilsfähiger Propaganda | 142 Möglichkeiten und Grenzen der Taxonomie zweiter Ebene | 153 Grenzen der Propaganda: Plädoyer für eine erweiterte Konsistenz | 157
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Ideologeme | 164 Taxonomie dritter Ebene: Entscheidungen über Entscheider | 167 Transzendentale Konsistenz: Spezifizierung der Taxonomie dritter Ebene | 170 Mao oder Das Irrationale der Diktatur | 174 Expertendiskurse oder Die Diktatur der Elite | 181 Habermas oder Das Irrationale der Demokratie | 185 Zwischenfazit: Möglichkeiten und Grenzen der Taxonomie | 194
Kapitel 3: Ökonomie der Massenmedien | 197 1
Medientechnik | 197 Kommunikation und Technik | 202 Technik, Ökonomie und Kommunikation | 210
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Medienwerttheorie | 214 Preispolitik oder Der Wert der Information | 222 Konkurrenz und Gewinn | 225 Nachrichtenfaktoren | 228 Marktlogik und Nachrichtenwert | 231 Faktoren kommerzieller Nachrichten | 241
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Implikationen | 245 Subjunktionen | 245 Plädoyer für ein System öffentlich-rechtlicher Medien | 249
Fazit | 253 Anhang | 257 Literatur und Quellen | 261
Einführung
Nunmehr 15 Jahre nach dem 11. September 2001 ist die Anzahl der Publikationen, die sich mit dem Themenfeld Terror/Terrorismus befassen, kaum mehr zu überblicken. Neben Verschwörungstheoretikern wie dem emeritierten Religionsprofessor David Ray Griffin (2004),1 selbst ernannten Experten und Journalisten à la Richard A. Clark (2004) oder Dan Briody (2004) sowie in Deutschland Stefan Aust (2004) und Peter Scholl-Latour (2002)2 haben sich Human-, Sozial- und Geisteswissenschaftler aller Disziplinen dem Untersuchungsbereich in seiner ganzen Breite zugewandt. Untersucht wurden unter anderem die politischen und sozialen Implikationen des zeitgenössischen Terrors, dessen inner- und interkulturelle Rezeptionen, Traditionen und Dispositive von Terror und Terrorismus sowie die individuellen und kollektiven Dispositionen terroristischen Handelns. So konnte man in einer psychologischen Fachzeitschrift bereits 2007 lesen: 1 | Der Titel von Griffins The New Pearl Harbor. Disturbing Questions about the Bush Administration and 9/11 spricht bereits für sich. Als deutsches Pendant zu Griffin (2004) wäre der Sachbuchautor und Dokumentarfilmer Gerhard Wisnewski mit seinen Publikationen Operation 9/11. Angriff auf den Globus (2003) und Mythos 9/11. Der Wahrheit auf der Spur (2004) zu nennen. 2 | Die Grenzen sind hier fließend: Während Aust und sein Mitherausgeber Cordt Schnibben in ihrer Anthologie über den Irakkrieg dessen Verlauf journalistisch präzise nachzeichnen, legt der im Klappentext von The Halliburton Agenda als Bestsellerautor und War-on-Terror-Experte titulierte Journalist Briody (2004) eine lupenreine Verschwörungstheorie vor. Clarke (2004) dagegen hat nach dem Ende seiner fünfjährigen Karriere als National Coordinator for Security, Infrastructure Protection and Counter-terrorism unter Bill Clinton und George W. Bush die ebenfalls deutlich ins Verschwörungstheoretische spielende Abrechnung eines ›Insiders‹ mit der US-amerikanischen Sicherheitspolitik publiziert. Scholl-Latour wiederum fühlte sich nach dem 11. September 2001 als ehemaliger Vietnamkorrespondent dazu berufen, nun als Mahner vor einem brutalen islamischen Fundamentalismus mit seinem Buch durch deutsche Talkshows zu reisen.
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Terror und Propaganda Offenbar hat fast jeder Seelenexperte, der etwas über die Wurzeln des Terrors zu wissen meint, in den letzten Jahren ein Buch veröffentlicht – oder einen Artikel in einem Fachjournal. Laut PsychInfo, der größten psychologischen Literaturdatenbank, erschienen seit 2001 mehr Beiträge zu diesem Thema als in den 120 Jahren zuvor. (Schäfer 2007: 37)
Zu entsprechenden Ergebnissen führt auch eine kursorische Recherche im Feld der Politologie, der Soziologie und der Kulturwissenschaften. So hat sich der Terror des 11. Septembers in den Publikationslisten praktisch aller führenden westlichen Intellektuellen von Jean Baudrillard (2002) und Judith Butler (2004) über Jacques Derrida (2006) und Jürgen Habermas (2006) bis hin zu Paul Virilio (2002) und Slavoj Žižek (2002)3 niedergeschlagen. Daher zielt die Untersuchung auch nicht auf eine abermalige Analyse des Terrorismus seit dem 11. September 2001. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung geht es vielmehr um eine grundsätzliche und systematische Aufarbeitung der massenmedialen Strukturen politisch motivierter Gewaltakte – und genau in diesem Sinne um Terror und Propaganda, namentlich den Terror politisch motivierter Gewalt und die damit verbundene Propaganda ihrer massenmedialen Verbreitung. Die Gewaltakte des 11. Septembers und des ›War on Terror‹ stellen dabei nur einen exemplarischen Ausgangspunkt der Analyse dar. An diesen und anderen Diskursen über politisch motivierte Gewalt und ihre Täter soll überprüft werden, auf der Basis welcher Axiome4 solche Diskurse widerspr uchsfrei möglich sind, um daran schließlich kritisch bestimmen und begründen zu können, an welchen Stellen faktische Diskurse über politisch motivierte Gewalt inkonsistent, weil widersprüchlich sind. Dabei wird sich die Un3 | Damit seien nur einige der Beiträge genannt, auf die ich mich im Verlauf der Untersuchung noch beziehen werde. International müsste hier beispielsweise noch Noam Chomsky (2002, 2004) oder William J. T. Mitchell (2011) genannt werden und national etwa die von Dirk Baecker, Peter Krieg und Fritz B. Simon (2002) herausgegebene Aufsatzsammlung Terror im System. 4 | Unter Axiomen verstehe ich ohne weitere Gründe und Rechtfertigungen vorausgesetzte Bestimmungen oder Definitionen. Damit liegt der Begriff des Axioms recht nah am Foucault’schen Begriff des Dispositivs, allerdings mit der entscheidenden Differenz, dass Axiome bewusste/absichtliche Setzungen meinen, während Dispositive eher die Voraussetzungen dafür darstellen, dass Setzungen im Rahmen bestimmter kultureller Diskurse nicht oder nicht mehr hinterfragt bzw. als Setzungen wahrgenommen werden. Siehe ausführlich zum Begriff des Dispositivs sowie des Diskurses etwa Bührmann/ Schneider (2008: 23ff.).
Einleitung
tersuchung in Form einer formal-diskursiven Analyse oder formalen Diskursanalyse dem Phänomen politisch motivierter Gewaltdiskurse jenseits gängiger medien- und kulturwissenschaftlicher Praktiken mit den Mitteln einer klassischen zweiwertigen Formallogik 5 nähern. Obwohl man die Entstehung der Formallogik bis zu den Ursprüngen der westlichen Philosophie in der Antike zurückverfolgen kann und formallogische Methoden seitdem im philosophischen Diskurs stets gegenwärtig waren, schlagen sich diese im 20. und 21. Jahrhundert vor allem noch in der Analytischen Philosophie, der Sprachphilosophie und Linguistik sowie der Wissenschaftstheorie nieder, jedoch kaum in anderen geistes- oder sozialwissenschaftlichen Disziplinen.6 So richten sich die quantitativ-empirisch orientierte Soziologie, Politologie, Publizistik- und Kommunikationswissenschaft am mathematischen Kalkül7 der Statistik aus, poststrukturalistische und diskursanalytische Ansätze lehnen Formalisierungen von vornherein ab und die systemtheoretisch ausgerichtete Soziologie und Kulturwissenschaft berufen sich lieber auf eine an George Spencer Brown orientierte Distinktionslogik oder favorisieren eine mehrwertige Reflexionslogik, wie sie Gotthard Günther in den 1950er und 1960er Jahren skizziert hat.8 Das scheint insofern verwunderlich, als sich die Anfänge fast aller geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen auf ursprüngliche Teilbereiche der Philosophie zurückführen lassen und daher deutlich Formallogik-affiner ausfallen müssten. Zudem gab es vonseiten der klassischen Formallogik immer wieder Bestrebungen, im Rahmen einer angewandten Logik deren Objektbereich zu erweitern. Zum einen seien hier Joseph M. Bocheńskis formale Analysen zur Religion (1964) und zur Autorität (1974) genannt, die er neben seinen bekannteren wissenschaftstheoretischen Schriften9 in den 1960er und 1970er Jahren publiziert hat. Andererseits gab es in den 1970er und 1980er 5 | Der Begriff der klassischen zweiwertigen Formallogik ist insofern redundant, als jede Logik, der mehr als die zwei Wahrheitswerte wahr/falsch zugrunde liegen, keine klassische Logik, zumindest aber eine Erweiterung der klassischen Formallogik darstellt. 6 | Umso größer ist dafür die Rolle, die die formale Logik etwa in der Informatik spielt. 7 | Unter einem Kalkül verstehe ich einen – mathematisch oder anders symbolisch – formalisierten Aussagenapparat, der die Ableitung weiterer Aussagen ermöglicht. 8 | Exemplarisch für das Letztere Nina Orts (2007) Reflexionslogische Semiotik mit dem vielsagenden Untertitel Zu einer nicht-klassischen und reflexionslogisch erweiterten Semiotik im Ausgang von Gotthard Günther und Charles S. Peirce. 9 | Hier vor allem Bochen´skis Die zeitgenössischen Denkmethoden aus dem Jahre 1954 (1993).
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Terror und Propaganda
Jahren etwa im Rahmen einer »Analytischen Literaturwissenschaft« intensive »Bestrebungen der Verwissenschaftlichung« der Literaturwissenschaften (Köppe/Winko 2010: 133), im Zuge welcher man sich der formalen Logik als bevorzugtes »Mittel der Analyse« bediente (Freundlieb 1997: 80).10 Dass die Verfahren der klassischen Formallogik derzeit aber beinahe ausschließlich bei Mathematikern, theoretischen Informatikern, Analytischen Philosophen sowie einigen Linguisten Anwendung finden, scheint vor allem durch einen Formalisierungsgrad logischer Aussagen verursacht, welcher sich dem formallogischen Laien nur schwer erschließt. So wurde nicht nur das Werk Gottlob Freges, des Begründers der modernen Formallogik, wegen dessen diffiziler Notation von den Zeitgenossen anfänglich kaum rezipiert,11 auch liest man heute etwa bei Tilman Köppe, dem Mitbegründer einer neuen Analytischen Literaturwissenschaft, dass man »nicht erwarten« könne, »dass sich Literaturwissenschaftler mit den Subtilitäten philosophischer Semantik, Modallogik oder Ontologie« und damit eben auch nicht mit dem komplexen symbolischen Inventar der formalen Logik »auseinandersetzen« (2014: 47f.). Ein Lösungsansatz, der leider von den Analytischen Literaturwissenschaftlern erster wie zweiter Generation ignoriert wurde, lässt sich jedoch in einer »angewandten Logik«, wie Bocheński sie verstand, finden. Im Rahmen eines solchen Verfahrens gilt es zwar die »Subtilitäten« logischer Formalisierung zugrunde zu legen, sonst würde es sich nicht um eine angewandte Logik handeln, das Formale oder Symbolische jedoch stets auch normal- oder metasprachlich12 zugänglich zu machen. So heißt es im Vorwort zu Bocheńskis Logik der Autorität auch: 10 | Als ein Beispiel hierfür sei Karl N. Renners (1983) Versuch genannt, Juri M. Lotmans Anfang der 1970er Jahre entwickelte Strukturale Erzähltheorie in ein formallogisches System zu überführen. Ausführlich hierzu Klimczak (2013) sowie Klimczak/ Petersen (2015). 11 | Erst Bertrand Russell liefert in seinen Principles of Mathematics (1996 [1903]) kurz vor Freges Tod eine fundierte Kritik an dessen formallogischem System, das dieser in den Grundgesetzen der Arithmetik (1962 [1893]) entwickelt hatte. Wobei es Russell auch gleich gelingt, Freges Arithmetik anhand der sogenannten Russell’schen Antinomie grundlegend infrage zu stellen. 12 | Wenn ich die Begriffe ›normalsprachlich‹ und ›metasprachlich‹ im Folgenden synonym verwende, dann entspricht das zugegebenermaßen nicht der gängigen Unterscheidung zwischen einer Objektsprache als Sprache erster Stufe und einer Metasprache als Sprache zweiter Stufe, die über die Objektsprache spricht. Die spezifische Verwendung des Begriffs legitimiert sich jedoch aus der hier demonstrierten Methode, formallogi-
Einleitung Nun soll man sich nicht vorstellen, daß, weil es sich hier um eine logische Analyse handelt, das Buch voll von komplizierten mathematisch-logischen Formeln ist. Das ist nicht der Fall: man findet hier keine einzigen symbolisch ausgedrückten Sätze dieser Art. […] Das bedeutet freilich aber nicht, daß man hier von gewissen elementaren Lehren der formalen Logik absehen könnte. Im Gegenteil: angewandte Logik besteht ja in der Anwendung der Logik, muß sie also voraussetzen. Aber der logische Apparat, der gebraucht wird, ist immer erklärt, so daß der Leser überhaupt keine logische Schulung brauchen sollte, um den Text zu verstehen. (1974: 13f.)
Für das Verständnis der vorliegenden Analyse soll das Analoge gelten, zumindest weitestgehend: Ihr methodischer Ansatz beschreibt sich in der Anwendung formallogischer Verfahren jenseits überspitzter Formalisierungen. Allerdings wird die Analyse nicht vollständig auf Formalisierungen verzichten. Diese werden jedoch stets metasprachlich erklärt und – das ist zumindest das Ziel – so auch für den nicht formallogisch geschulten Leser zugänglich bleiben. Mit den Mitteln einer derart verstandenen angewandten Logik werden schließlich präzise Defi nitionen der Begriffsfelder der politischen und (im Zeitalter der Massenmedien immer auch) massenmedialen Propaganda ermöglicht, sodass der Raum politischer Gewaltdiskurse systematisch abgeschritten werden kann – beginnend mit einer Epistemologie massenmedialer Ereignisse im ersten, über die Struktur von Gewaltdiskursen im zweiten hin zu einer Ökonomie massenmedialer Ereignisse im dritten und letzten Kapitel. Der Gliederung in genau diese drei Kapitel liegt wiederum die These zugrunde, dass sich massenmediale Diskurse über politisch motivierte Gewalt nur in der Interdependenz von Ereigniskorrespondenzen, Diskursformationen und Medienökonomien etablieren und somit auch nur in der Rekonstruktion dieser drei Konstituenten verstehen lassen. Zugleich wird mit der Analyse selbst der Versuch unternommen, aufbauend auf ein Verfahren der angewandten Logik eine formale Diskursanalyse wenn nicht als neue Methode der Medienwissenschaft zu etablieren, so doch als eine solche zu skizzieren und in ihren Möglichkeiten und Grenzen reflexiv zu beleuchten. Im Zuge dessen soll einerseits ein neuer Weg in der medienwissenschaftlichen Forschung hin zu einer Analytischen Medienwissenschaft eingeschlagen werden, ohne, wie zu zeigen sein wird, andererseits mit dekonstruktivistischen, systemtheoretischen sche Symbole und Formeln normal- und damit metasprachlich zu explizieren und somit über diese formale Sprache normal- und metasprachlich zu sprechen.
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und diskursanalytischen Verfahren die derzeit nachhaltigsten methodischen Impulse für eine Medienwissenschaft kulturwissenschaftlicher Prägung von vornherein auszuschließen. Die Methode versteht sich vielmehr als eine integrative; so auch, wenn neben vielen anderen etwa die Überlegungen des poststrukturalistischen Medientheoretikers Jean Baudrillard immer wieder zum Ausgangspunkt eigener formallogisch fundierter Analysen genommen werden.
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ME THODISCHE EINFÜHRUNG : KL ASSISCHE UND NICHT - KL ASSISCHE K ALKÜLE DER LOGIK
In einer Einführung in Gotthard Günthers mehrwertige Reflexionslogik findet man die folgende Passage: Die zweiwertige Logik […] muß prinzipiell hinsichtlich komplexer Strukturen versagen: Ein Mensch ist entweder ein Mann oder eine Frau, ein drittes Geschlecht gibt es nicht. Doch werden Menschen geboren, die sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsorgane besitzen, die Hermaphroditen. Die Natur schert sich nicht um den Satz vom ausgeschlossenen Dritten, sie bringt einfach Zwitter hervor. (Sütterlin 2009: 30)
Wäre das wahr, wäre die vorliegende Untersuchung an dieser Stelle bereits wieder beendet, schließlich sollen hier komplexe Strukturen beschrieben werden. Allerdings ist die klassische zweiwertige Logik doch nicht ganz so schlicht konzipiert. Das weiß auch die Autorin, Petra Sütterlin, wenn sie zuvor »den Satz vom ausgeschlossenen Dritten« durchaus treffend beschreibt. »A ¬A, tertium non datur […]: für jede Aussage A gilt: A oder ¬A [nicht-A], aber kein Drittes. Von zwei Aussagen, von denen eine das genaue Gegenteil der anderen aussagt, muß eine richtig sein« (2009: 24). Betrachtet man das Beispiel vor diesem Hintergrund, zeigt sich schnell, dass die klassische Formallogik tatsächlich niemanden dazu zwingt, Menschen auf zwei Geschlechter zu reduzieren. Zwar lässt sich mittels der Opposition Mann versus Nicht-Mann ein, wie es formallogisch heißt, kontradiktorischer Gegensatz konstruieren, der den Objektbereich in nur zwei Teile gliedert. Aber das zwingt nicht dazu, den Begriff des Hermaphroditen aufzugeben. ›Hermaphrodit‹ fiele nur, genau wie ›Frau‹, in den Bereich der ›Nicht-Männer‹. Die fehlerhafte Zuspitzung in Sütterlins Beispiel besteht letztlich darin, dass die Begriffe ›Mann‹ und ›Frau‹ im Gegensatz zu ›Mann‹ und ›Nicht-Mann‹ eben nicht in einem kontradiktorischen Verhält-
Einleitung
nis stehen, es sein denn, man wolle Frauen und alle anderen als und nur als Nicht-Männer definieren. Und grundlegender noch: Unter Verwendung der formalen Operatoren (alle), (und) und ¬ (nicht) sowie der Definitionen der Prädikate GM als ›männliche Geschlechtsmerkmale‹, GW als ›weibliche Geschlechtsmerkmale‹, M als ›Mann-Sein‹, F als ›Frau-Sein‹ und H als ›Hermaphrodit-Sein‹ wird es nicht nur möglich, bezogen auf die Grundmenge der (erwachsenen) Menschen x die folgenden drei Aussagen zu formulieren: (x) M(x) GM(x) ¬GW(x) Männer haben männliche und keine weiblichen Geschlechtsmerkmale.13 (x) F(x) GW(x) ¬GM(x) Frauen haben weibliche und keine männlichen Geschlechtsmerkmale. (x) H(x) GM(x) GW(x) Hermaphroditen haben männliche und weibliche Geschlechtsmerkmale. Es ergibt sich darüber hinaus sogar noch eine vierte Aussage über ein nicht definiertes X:14 (x) X(x) ¬GM(x) ¬GW(x) X haben keine männlichen und keine weiblichen Geschlechtsmerkmale. Damit können also nicht nur Männer, Frauen und Hermaphroditen formal beschrieben werden, sondern zusätzlich noch etwas, das nicht existiert bzw. wofür es keinen Namen gibt:15 ein (erwachsener) Mensch ohne 13 | Der Allquantor steckt hier in ›Männer‹ als ›alle Männer‹; dementsprechend lautet auch die formal standardisierte Ausformulierung der Aussage, die ich (jeweils) nur als Kurzform angebe: »Für alle (erwachsenen) Menschen (x) gilt, dass sie genau dann, wenn sie männliche Geschlechtsmerkmale haben und keine weiblichen Geschlechtsmerkmale haben, Männer sind.« Vgl. zur formalen Schreibweise etwa Zoglauer (2008: 71ff., 78ff.). 14 | Um formal korrekt zu bleiben, wäre X zusätzlich als ›X-Sein‹ wiederum bezogen auf den Grundbereich der (erwachsenen) Menschen zu definieren. 15 | Biologen oder Mediziner mögen mich an dieser Stelle korrigieren.
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männliche und ohne weibliche Geschlechtsmerkmale. Die klassische zweiwertige Logik ist also in dem, was sie strukturell entwickeln kann, nicht unterkomplex, sie fußt bloß auf einem binären Code. Der Vergleich mit einem Computer ist hier schon deswegen gestattet, weil der Computer prinzipiell auf einer Turing-Maschine, einem Gedankenexperiment des britischen Mathematikers und Logikers Alan Turing basiert,16 also auf dem zweiwertigen Code der klassischen Logik. Trotzdem wird heute niemand Computertechnik für unterkomplex halten. Wenn, um das Beispiel nochmals zu bemühen, Judith Butler in Gender Trouble (199o) aus einem poststrukturalistischen Zugang heraus das tradierte kulturelle Dispositiv17 Entweder-Mann-oder-Frau dekonstruiert, hätte sie das – zumindest dem Ansatz nach 18 – auch auf der Basis einer klassischen Formallogik tun können. Dass sie dies nicht tut, wertet weder die Formallogik noch Butlers Methode ab. Beide haben ihre Berechtigung sowie ihre Stärken und Schwächen. Während, wie sich im Verlauf der Untersuchung zeigen soll, die Stärke einer angewandten Formallogik in einer begrifflichen Disziplinierung liegt – sie zwingt zur Präzision –, liegt ihre Schwäche darin, selbstreferenzielle Beziehungen zu beschreiben. Selbstreferenz – glaubt insbesondere die Systemtheorie zu wissen – treibe formallogische Überlegungen mit schöner Regelmäßigkeit in Paradoxien, in unlösbare oder nur schwer lösbare Selbstwidersprüche. Dabei ist allerdings nicht jeder Widerspruch schon eine Paradoxie. Die Aussage »Männer haben männliche und keine männlichen Geschlechtsmerkmale«, (x) M(x) GM(x) ¬GM(x), ist zwar widersprüchlich, aber nicht selbstreferenziell. Zudem führt nicht jede selbstreferenzielle Aussage in eine Paradoxie, so auch nicht die selbstbezügliche Aussage »Dieser Satz ist wahr«, dagegen aber der zugleich widersprüchliche Satz »Dieser Satz ist falsch«. 16 | Das ist etwas verkürzt dargestellt: Turing antizipierte die Funktionsweisen eines Computers mit der Turing-Maschine modellhaft, bevor er selbst an der Entwicklung von Rechenmaschinen und in der Computerindustrie arbeitete. Theoretisch entwickelte er außerdem den ebenfalls nach ihm benannten Turing-Test, mit dem bestimmt werden sollte, ob eine Maschine ›denken‹ kann. 17 | Zum Begriff des Dispositivs ausführlich Bührmann/Schneider (2008: 23ff.). Eine Protodefinition des Begriffs findet sich zudem oben, Anm. 4, im Rahmen der Bestimmung von ›Axiom‹. 18 | Tatsächlich nur dem Ansatz oder Ausgangspunkt ihrer Überlegungen nach, da es Butler letztendlich um mehr geht, nämlich darum, die Begriffe ›Mann‹ und ›Frau‹, ›männlich‹ und ›weiblich‹ als solche zu dekonstruieren und damit als epistemische Kategorien abzuschaffen.
Einleitung
Thomas Zoglauer etwa schreibt in seiner Einführung in die formale Logik zu diesem Satz: »Ist der Satz wahr, dann ist er falsch. Nehmen wir aber an, daß er tatsächlich falsch ist, dann kann es nicht stimmen, daß das, was er behauptet (nämlich daß er falsch ist) richtig ist. Also stimmt es nicht, daß er falsch ist. Daher muß er wahr sein usw.« (2008: 14). Zugleich schlägt Zoglauer eine Lösung vor, wie man die Paradoxie auflösen kann, aus formallogischer Perspektive sogar auflösen muss: Worin liegt der Widerspruch? Der Grund für die Paradoxie liegt offensichtlich in der selbstbezüglichen Form des Satzes. Der Satz enthält eine Aussage über sich selbst. Das Wort ›falsch‹ ist ein metasprachlicher Ausdruck und referiert in diesem Fall auf den ganzen Satz als Objekt. Der Satz stellt sich damit selbst in Frage. Durch diese Selbstreferentialität wird jeder objektsprachliche Bezug unterbunden, es liegt eine Vermischung von Objekt- und Metasprache vor. […] Paradoxien sollten uns eine Warnung sein und uns stets gemahnen, zwischen Objekt- und Metasprache eine klare Trennungslinie zu ziehen. (2008: 14ff.)
George Spencer Browns Anweisung dagegen wäre nicht »Zieh eine Trennungslinie«, sondern »Draw a distinction« (1969: 3), »Triff eine Unterscheidung«. Und so heißt es dann bei Niklas Luhmann, wenn dieser sein Theoriegebäude auf eben diesen Spencer Brown’schen Kalkül zurückführt, auch: Ich selbst verstehe den Kalkül so, […] dass die Unterscheidung in der Unterscheidung immer schon vorhanden war. Erst wird eine Einheit in Operation gesetzt, die im Moment des Beginns noch nicht analysiert werden kann. Erst später, wenn man Beobachtungsmöglichkeiten in den Kalkül einführt […], wird klar, dass schon am Anfang ein verborgenes Paradox vorhanden war, nämlich eine Unterscheidung in der Unterscheidung. (2006: 74)
Bevor unterschieden wurde, wurde bereits unterschieden – ein Widerspruch also, den Luhmann als Paradoxie, als selbstreferenziellen Widerspruch oder widersprüchliche Selbstreferenz offenlegt: Die Unterscheidung enthält sich selbst […]. Entsprechend wird man den reentry [Wiedereintritt] der Form in die Form oder der Unterscheidung in die Unterscheidung oder der Differenz von System und Umwelt in das System […] so sehen müssen, dass von sich selbst die Rede ist. Die Unterscheidung tritt in das durch sie Unterschiedene wieder ein. […] Ist sie nun dasselbe, was sie vorher war? Ist das, was vorher war, noch da? Oder verschwindet die erste Unterscheidung
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Terror und Propaganda und wird zur zweiten? Die Antwort ist, dass man hier eine Paradoxie vermuten darf, dass also die Unterscheidung, die in sich selber wiedereintritt, dieselbe und zugleich nicht dieselbe ist und dass dies der ganze Trick der Theorie ist […]. (2006: 87f.)
Wenn das der »Trick« sowohl des Spencer Brown’schen Kalküls als auch der Luhmann’schen Systemtheorie ist, dann ist die systemtheoretische Pointe folgende: Im Rahmen der Theorie kann die Paradoxie nicht nur – im Gegensatz zur klassischen Logik – gleichsam ertragen werden, sondern die Theorie macht die Paradoxie darüber hinaus nutzbar, indem sie sie inklusive ihrer Auflösung ausformuliert und die »ganze Genealogie« sichtbar macht: »den Formbegriff, den reentry, die Paradoxie des reentry« und letztlich auch »die Auflösung der Paradoxie durch die Unterscheidung von Beobachtern« (2006: 89). Das alles geschieht jedoch metasprachlich und nicht formalisiert und damit zwar in einer Fachterminologie, aber eben nicht im Rahmen einer formalen Logik. Das weiß auch Luhmann, wenn er ausdrücklich darauf hinweist, dass es sich bei Spencer Browns Laws of Form (1969) nicht um die Ausarbeitung einer formallogischen Axiomatik handelt: »Der Text ist eine Darstellung eines Kalküls. Spencer Brown sagt ausdrücklich, dass es sich nicht um eine Logik handelt […]. Es ist ein operativer Kalkül, also ein Kalkül, der in der Transformation der Zeichen […] Zeit voraussetzt« (Luhmann 2006: 70f.): Mach eine Unterscheidung und auf der Basis dieser Unterscheidung wieder eine Unterscheidung, sodass sich ein System stabilisiert, fortschreibt und aus der Beobachterperspektive strukturell offenbart! Im Gegensatz zum Spencer Brown’schen Kalkül, welcher gerade kein formales Axiomensystem darstellt, wie es hier insbesondere mit der klassischen Aussagen- und Prädikatenlogik zur Anwendung kommen soll,19 handelt es sich bei Gotthard Günthers Reflexionslogik um eine auf das Axiomensystem der Aussagenlogik aufbauende Formallogik. Günthers mehrwertige Logik ersetzt die klassische Logik nicht, sie erweitert sie gleichsam aus ihrem Kern heraus um die Möglichkeit 20 der Mehrwertig19 | Allerdings wird der Kalkül von Spencer Brown im Rahmen einer selbst entwickelten Notation durchaus auch symbolisch ausgearbeitet, was sich in der systemtheoretischen Rezeption aber nur bedingt niederschlägt, bei Luhmann praktisch gar nicht. Siehe zur ausführlichen Diskussion der Bedeutung des Spencer Brown’schen Kalküls für die Systemtheorie die von Baecker (1993, 1993a) herausgegebenen Anthologien. 20 | Der Begriff der Möglichkeit wie auch der Begriff der Notwendigkeit wird im Folgenden, wenn nicht anders expliziert, metasprachlich und nicht etwa im Sinne der Modallogik verwendet.
Einleitung
keit.21 Der Gewinn dabei ist, dass Günther selbstreferenzielle Reflexionsprozesse scheinbar formalisierbar macht, sodass man nun »sinnvolle Analysen und Deutungen noch dort durchführen« kann, »wo zweiwertige Theorien nur Widersprüche oder Paradoxien erkennen lassen« (Ort 2007a: 11). Der Preis ist jedoch, dass drei- und mehrwertige Logiken schlicht nicht zu konsistenten Axiomensystemen ausformuliert sind und damit auch keine konsistente Formalisierung, zumindest keine des hier zu untersuchenden Objektbereichs, ermöglichen.22 Daher fällt die methodische Entscheidung der vorliegenden Untersuchung auch dergestalt aus, dass Formalisierungen nur auf der Basis einer zweiwertigen Logik und ihrer Axiomatiken vorgenommen und im Rahmen einer angewandten Logik stets metasprachlich expliziert werden. Während also einerseits nicht einfach nur über Formallogik (metasprachlich) referiert werden soll, ohne dass diese auch ›der Form nach‹ betrieben wird, soll der ›reflexiven Schwäche‹ der klassischen Logik andererseits damit begegnet werden, dass Reflexionen, insbesondere über die Möglichkeiten und Grenzen des angewandten formalen Systems, auch unter Einbezug systemtheoretischer und poststrukturalistischer Ansätze, metasprachlich ausformuliert werden. Wie gesagt, methodisches Ziel der Untersuchung ist Transparenz des eigenen Ansatzes und Offenheit gegenüber anderen methodischen Ansätzen.23 Terrordiskurse, vor allem der im Folgenden kurz umrissene ›War on Terror‹-Diskurs, bilden im Zuge des21 | Hierzu einführend Sütterlin (2009: 47ff.) sowie Günther (1976, 1979). 22 | Eine Einführung in verschiedene »mehrwertige Aussagenkalküle« bietet etwa Borkowski (1977: 346ff.). Dass er von Kalkülen und nicht von Axiomatiken spricht, hat wiederum damit zu tun, dass diese formalen Ansätze in der Regel nicht ausformuliert werden, zumindest nicht zu konsistenten Axiomatiken wie denen der klassischen Aussagen- und Prädikatenlogik (Zoglauer 2008: 114f.), welche im Folgenden Anwendung finden sollen. Der Grund für die Problematik dreiwertiger Kalküle liegt in den weitreichenden Konsequenzen der Dreiwertigkeit. So würde bei einer dreiwertigen Aussagenlogik, der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, ¬(p ¬p): »Es kann nicht zugleich p und nicht p der Fall sein«, weiterhin vorausgesetzt, neben dem Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten, p ¬p: »Es ist p der Fall oder nicht p der Fall«, auch die doppelte Negation, ¬¬ p p: »Wenn nicht der Fall ist, dass p nicht der Fall ist, dann ist p der Fall« (Tetens 2004: 298), wegfallen. Damit wären deutlich weniger Folgerungen möglich als in der klassischen Logik. Ansätze einer entsprechenden dreiwertigen Logik finden sich bereits Anfang des 20. Jahrhunderts bei Luitzen Brouwer in dessen intuitionalistischer Logik und in deren Ausformulierung durch Arend Heyting (1930), haben sich aber – wohl aufgrund dessen – nicht durchsetzen können. 23 | Dass zwar vieles, aber selbstverständlich nicht alles miteinander kombinierbar ist, wird sich im Verlauf der Untersuchung ebenfalls zeigen.
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sen den inhaltlichen Ausgangspunkt, da Terrordiskurse mitten ins Thema führen und gleichsam aus dieser Mitte heraus das Feld von Diskursen über politisch motivierte Gewalt und ihre Täter – wie sich zeigen soll – systematisch analysierbar und modellierbar machen.
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THEMATISCHE EINFÜHRUNG : EINE KUR ZE MEDIENGESCHICHTE DES › WAR ON TERROR ‹
Seit der Jahrtausendwende heißt über Terror und Terrorismus zu sprechen fast zwangsläufig auch, über die Anschläge der al-Qaida am 11. September 2001 und deren unmittelbare Folge, den ›War on Terror‹, zu sprechen. Vom 11. September und seinen Folgen zu sprechen, heißt wiederum nicht, über Ereignisse an sich, sondern über Medienereignisse zu sprechen: »Was wir über die Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. Das gilt nicht nur für unsere Kenntnis von der Gesellschaft und der Geschichte«, es gilt – so möchte man Luhmann (2004: 9) fortschreiben – in ganz besonderem Maße auch für die Ereignisse während und nach dem 11. September. Sowohl die Anschläge als auch die Kriege in Afghanistan und im Irak wurden von Anfang an in den Medien inszeniert und auch die damit verbundenen Legitimations- und Delegitimationsdiskurse von Anfang an in den Massenmedien öffentlich propagiert. Die Geschichte des ›War on Terror‹ sowie seiner Ideologie ist somit eine Mediengeschichte, die sich, wenn auch anders,24 so doch auch folgendermaßen erzählen lässt:25 Am 3. November 2001 veröffentlichte die französische Tageszeitung Le Monde einen Artikel von Jean Baudrillard. Dieser Artikel sollte in den nächsten Wochen eine Welle der Entrüstung in der internationalen Presse auslösen. Dabei machte Baudrillard zunächst einmal nichts anderes, als
24 | Beispielsweise als eine diskursive Ideologiegeschichte, wie sie Eva Kenny und Rory Rowan (2008) skizzieren, als »Hollywood Film and Disney Television Republican Propaganda«, wie sie Douglas Kellner (2008) polemisierend zeichnet, oder auch als eine interkulturelle, abendländische wie morgenländische, Geschichte in der Literatur manifester anthropologischer Dispositive der Selbstzerstörung, wie sie Arata Takeda (2010) ausführlich entwickelt. Die Liste scheint, wie bereits eingangs angemerkt, schier endlos. 25 | Siehe als Vorstudie zur folgenden Mediengeschichte des ›War on Terror‹ Petersen (2007) und weiterführend Petersen (2008).
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auf das Offensichtliche hinzuweisen, indem er den Symbolwert der Anschläge vom 11. September herausstellte: Let us be clear about this: the two towers are both a physical, architectural object and a symbolic object (symbolic of financial power and global economic liberalism). The architectural object was destroyed, but it was the symbolic object which was targeted and which it was intended to demolish. (2002: 47f.)
Der Symbolwert der Anschläge ergibt sich mit Baudrillard aus dem Symbolwert seiner Ziele. Die Anschläge galten – weniger real als symbolisch und medial – den Vereinigten Staaten in ihren zentralen Institutionen. Und genau so wurde der Terrorakt in den westlichen Medien kolportiert, als ein Angriff auf die militärischen, demokratischen und wirtschaftlichen Grundfesten der letzten Supermacht und mit ihr der gesamten westlichen Welt. Die Wirkung, die Reichweite und die intendierte symbolische Eskalation eines Anschlages mit äußerst begrenzten Mitteln resultierten aus dem synekdochischen Wert seiner Ziele: Ein Teil wurde für das Ganze attackiert, das Pentagon für die militärische Führung, die USA für den Westen und das World Trade Center für einen globalisierten Kapitalismus. Dabei zielten die Anschläge, das wusste auch Baudrillard, nicht nur auf Gebäude oder deren Symbolwert, schließlich wurden knapp 3.000 Todesopfer gezählt. Das Entscheidende für die Medienwirkung der Anschläge war allerdings nicht ausschließlich die hohe Zahl der Toten, sondern dass es sich einerseits vorrangig um Zivilisten und andererseits um zufällige Opfer handelte. Indem sich die Anschläge nicht etwa auf Soldaten oder die Mitglieder der US-Regierung beschränkten, wurde der Kreis der potenziellen Opfer totalisiert, verkündeten die Anschläge eine Eskalation der terroristischen Gewalt weit über die Anschläge selbst und ihre konkreten Opfer hinaus; eine Eskalation der Gewalt, die bereitwillig von den Massenmedien kolportiert und potenziert wurde. In den Massenmedien erst konnte sich die terroristische Botschaft gänzlich entfalten und allen potenziellen Opfern ihre Verwundbarkeit vor Augen führen. Wie reagierte nun die US-Führung? Von Anfang an ging es ihr auch darum, den Terror dort zu bekämpfen, wo er sich entfaltet hatte, nämlich in den Medien. Es war Krieg, und Kriege werden, wie der damalige USAußenminister Colin Powell bereits nach dem Golfkrieg 1991 öffentlich zu verkünden wusste, nicht mehr auf den Schlachtfeldern, sondern in den Medien gewonnen: »Wenn alle Truppen in Bewegung sind und die Kommandeure an alles gedacht haben, richte deine Aufmerksamkeit auf das Fernsehen, denn du kannst die Schlacht gewinnen und den Krieg verlie-
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ren, wenn du mit der Story nicht richtig umgehst« (zit. n. Frohloff 2003). So trat der ›War on Terror‹ in seinen Medialisierungsstrategien buchstäblich mit der Strategie der Anschläge in Konkurrenz: Auf die Verbreitung der terroristischen Bedrohung wurde mit Versuchen der Einengung – etwa des Täterkreises – reagiert. Dem Polymorphen des Terrors wurden eindeutige Interpretationsschemata entgegengestellt, die Anschläge wurden entkontextualisiert, kurz: der medialen Eskalation des Terrors wurde mit einer Strategie der medialen Deeskalation begegnet. Die reale Gewalt der zwei Kriege in Afghanistan und im Irak, mit denen die USA auf die Anschläge reagierten, eskalierte allerdings weit über das Maß der Anschläge hinaus. Daher musste die US-Regierung im Zuge des ›War on Terror‹ nicht nur die terroristische Bedrohung medial deeskalieren, sondern auch die eigene militärische Gewalt. Die damit einhergehende ideologische Einengung wurde zwar bereits kurz nach den Anschlägen von Linksintellektuellen wie Judith Butler und Noam Chomsky kritisiert, diese blieben jedoch in den USA lange ungehört. Judith Butler beklagte etwa, dass die Ereignisse des 11. Septembers im massenmedialen Diskurs stets auf eine US-amerikanische Opferperspektive verkürzt würden. Man isoliere sich, so Butler weiter, als singuläres Opfer von der Weltgemeinschaft, indem man die Anschläge vom 11. September 2001 ihrer Vorgeschichte beraube. Auf diese Weise entzögen sich die USA jeder Verantwortung, ja sogar jeder Rolle bei der Entstehung von terroristischen und antiamerikanischen Tendenzen. Und so ziele die von George W. Bush öffentlich formulierte Frage »Why do they hate us so much?« auch nicht auf eine Antwort (zit. n. Butler 2004: 3). Bushs Frage solle vielmehr rhetorisch bleiben und demonstrativ Unverständnis signalisieren. Allerdings scheute sich Noam Chomsky nicht, die Frage zu beantworten: George W. Bush hat es auf den Punkt gebracht: »Warum hassen sie uns?« Diese Frage ist nicht neu, und Antworten darauf sind nicht schwer zu finden. Vor 45 Jahren erörterte Präsident Eisenhower mit seinem Stab die »gegen uns gerichtete Haßkampagne« in der arabischen Welt, die »nicht von den Regierungen, sondern von der Bevölkerung« betrieben wurde. Der Grund dafür liege, so der Nationale Sicherheitsrat, in der US-amerikanischen Unterstützung korrupter und brutaler Regierungen, die Demokratie und soziale Entwicklung verhinderten. Damit wollen die USA vor allem ihren »Einfluß auf die Ölquellen des Nahen Ostens sichern«. (2002: 9f.)
Zudem verweist Chomsky auf die Unterstützung der afghanischen Taliban und Saddam Husseins durch die US-Regierung in den 1980er Jahren
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(2002: 22, 2004: 96). Jedoch blieben auch Chomskys Antworten in den Massenmedien weitgehend ungehört, da niemand ernsthaft nach ihnen fragte. Könnten doch – so die mediale Selbstinszenierung der US-Führung – die USA als Opfer nicht für die Ereignisse mitverantwortlich gemacht werden. Dementsprechend wurde durch George W. Bush und die Sprecher seiner Regierung auch die öffentliche Auseinandersetzung mit den Anschlägen festgeschrieben. Es wurde ein klares Verursacherprinzip propagiert, mit dem die Anschläge einerseits einem überschaubaren Täterkreis zugeschrieben werden konnten, andererseits wählte Bush in seinen Ansprachen seit dem 11. September 2001 eine Rhetorik klarer Täter-Opfer-, Gut-Böseund Freund-Feind-Dichotomien. So verkündeten es etwa Bushs vielfach kolportierte Slogans »We are in a conflict between good and evil« oder »Either you’re with us or you’re with the terrorists« (zit. n. Jackson 2005: 67, Butler 2004: 12). Wer hier gut und wer hier böse, wer hier Freund und wer hier Feind sein sollte, stand dabei von Anfang an außer Frage. Vonseiten der US-Regierung wurden also Interpretationen der Anschläge propagiert, die dem Terrorakt insofern entgegenwirken sollten, als sie in ihrer dichotomen Rollen- und Schuldzuschreibung die Welt anhand eindeutiger und überschaubarer, vor allem aber vertrauter Muster neu ordneten. Gerade das Paradigma ›demokratischer Westen‹ versus ›totalitärer Islamismus‹ scheint direkt dem Kalten Krieg entliehen. Daneben dienten die reduktionistischen Schemata dazu, die Vergeltungsschläge des ›War on Terror‹ zu legitimieren. Nach dem 11. September konnte nicht nur fast jede militärische Intervention unter dem immer selben Label subsumiert werden, sondern der von den Medien weitgehend unkritisch kolportierte Begriff des ›War on Terror‹ propagierte auch die hegemoniale Ideologie derer, die den Begriff in die Welt gesetzt hatten: Terror ist das, was die anderen produzieren. Man selbst führt reaktive oder im Rahmen der Bush-Doktrin sogar präventive Kriege gegen den Terror,26 und zwar Kriege, denen selbst ausdrücklich kein Element des Terrors anhaften soll.27 Dabei basierte die propagierte Ideologie des ›War on Terror‹ zunächst, das heißt schon vor den Kriegen in Afghanistan und im Irak, auf einer Strategie der Personifizierung des Terrors in Gestalt Osama bin Ladens. 26 | Siehe zur Geschichte der US-amerikanischen Rhetorik des ›Präventivkrieges‹ Chom sky (2002: 11ff.). 27 | Judith Butler merkt dazu ironisch an: »Like ›terrorist,‹ ›slaughter‹ is a word that, within the hegemonic grammar, should be reserved for unjustified acts of violence against First World nations, if I understand the grammar correctly« (2004: 13).
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Nach kürzester Zeit zirkulierte das Bild bin Ladens in allen Medien,28 sodass selbst die direkt am Anschlag beteiligten Attentäter um Mohammed Atta dahinter regelrecht verschwanden. Der Terror bekam mit Bin Laden einen Namen und vor allem ein Bild, das nicht zuletzt auch dazu geeignet war, die Schreckensbilder der kollabierenden Twin Towers – im eigentlichen wie im übertragenen Sinne – zu verdrängen. Die operationale Funktion der omnipräsenten Bilder Bin Ladens ist offensichtlich. Es ging darum, die Anschläge einem singulären Verursacher zuzuschreiben, um den Terror dann mit einem konventionellen Krieg gegen Afghanistan beantworten zu können. Damit wurde der Terror in die vertrauten Bahnen erprobter und konventionalisierter militärischer Gewalt überführt, womit schließlich auch der Verunsicherungsstrategie der Anschläge entgegengewirkt werden konnte. Am Beispiel der Personifizierung des Gegners im ›War on Terror‹ zeigte sich aber auch, wie die damalige US-Führung die ihr in den westlichen Medien eingeräumte Definitionshoheit wieder verspielte: Wenn man die Kriegsgegner gleichsam auf ein Idol des Terrors einschränkt und der Krieg damit legitimiert werden soll, dann macht ein ständiger Wechsel der ›Galionsfigur‹ des Terrors ebenso wie der ständige Wechsel der Motive für den jeweiligen Militäreinsatz die eigene Propaganda letztlich unglaubwürdig. So wechselten die Gegner im ›War on Terror‹ von Osama bin Laden über Saddam Hussein hin zum iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad, der sich 2006 mit antisemitischen Äußerungen und im Konflikt um das dortige Atomprogramm als neue Galionsfigur eines islamischen Fundamentalismus anbot, um nicht zu sagen aufdrängte. Mit den Kriegsgründen verhielt es sich ähnlich. Schon während des Afghanistankrieges wurden immer wieder neue Gründe angeführt. Erst ging es um bin Laden, dann gegen das Taliban-Regime und schließlich wurde der Krieg von Bush gar als ein humanitärer Einsatz zur Befreiung der unterdrückten arabischen Frau propagiert – ganz zu schweigen von der Legitimation des Irakeinsatzes anhand vermeintlicher irakischer Massenvernichtungswaffen. Dass die Strategie der Personifizierung des Terrors trotz der dadurch produzierten Inkonsistenzen innerhalb der Bush-Propaganda so hartnäckig reproduziert wurde, hat neben der damit verbundenen Möglichkeit einer (massen)medientauglichen Simplifizierung eigentlich komplexer Sachverhalte29 noch eine andere Ursache – nämlich die, dass die Feindper28 | Siehe hierzu Bleicher (2003: 66), die das Auftauchen der Bin-Laden-Fotos bereits während der ersten Stunde der Liveberichterstattung der Anschläge beobachtet. 29 | Was hier bloß eine Behauptung ist, wird im dritten Kapitel der Untersuchung ausführlich begründet.
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sonifizierung untrennbar mit der hegemonialen Ideologie verbunden war, auf der die Selbstdarstellung der US-Regierung beruhte. Indem man den vermeintlich singulären Kriegsgegner öffentlich als Terroristen und Verbrecher ausweist, stellt man sich selbst auf die Seite des Gesetzes. Ja, man ist das Gesetz, gegen das im ›War on Terror‹ jede Form des Widerstands verstößt. Im Rahmen dieses hegemonialen Diskurses gestanden die westlichen Medien der US-Regierung eine Definitionshoheit zu, die selbst noch im Falle von Kriegsverbrechen der USA griff. Wenn nämlich die Folterungen von Abu Graib oder das Massaker im irakischen Haditha am 19. November 2005 als Kriegsverbrechen verhandelt wurden, legitimierte das, trotz aller medialen Kritik am konkreten Vergehen, den Krieg selbst als gesetzeskonform: Das Kriegsverbrechen bestätigt implizit die Rechtmäßigkeit eines Krieges, der im Falle des Irakeinsatzes gegen geltendes UN-Recht verstieß. Und so war es nur konsequent, wenn George W. Bush in einer ersten Reaktion auf das Massaker von Haditha bloß lapidar äußerte: »Sollten sich die Anschuldigungen als richtig erweisen, werden die verantwortlichen Soldaten bestraft.«30 Einzelne ›Kriegsverbrecher‹ sollten bestraft werden, das militärisch-politische System selbst blieb über jeden Zweifel erhaben. Bushs Reaktion zeigt nicht zuletzt, dass investigative Kriegsberichte, dass die Nachrichten über zusehends sinnlos erscheinende Kriegseinsätze in Afghanistan und über die Folterungen in Abu Graib und Guantanamo allein kaum zu einem Umdenken geführt hätten. Vielmehr scheint es, als ob die Bush-Administration die Definitionshoheit darüber, was Terror ist und was nicht, wer als Täter, Verbrecher und Terrorist und wer als dessen unschuldiges Opfer verhandelt wird, mittels einer inkonsistenten Propaganda immer wieder neuer Kriegsgegner und -gründe verspielt hat. Und auch der Begriff ›War on Terror‹ mit all seinen Implikationen trat zusehends mit Begriffen wie ›Terror War‹ in Konkurrenz:31 Der einstige Krieg gegen den Terror wurde im massenmedialen Diskurs nach und nach zu einem Krieg, dem nun nicht nur selbst Aspekte des Terrors anhafteten, sondern der zusehends auch als Staatsterror der USA begriffen wurde. So blieb Bushs Amtsnachfolger Barack Obama vor dem Hintergrund einer nun fast gänzlich ins Gegenteil umgeschlagenen öffentlichen Meinung auch nichts anderes übrig, als einen »friedlichen Neuanfang« anzukündigen.32 Die Kriege in Afghanistan und im Irak dauern jedoch bis heute an, das Ge30 | So zitierte die Tagesschau am 31. Mai 2006 George W. Bush. 31 | Exemplarisch hierfür Kellners Monografie From 9/11 to Terror War (2003). 32 | So unter anderem in seiner (hier zitierten) Rede an der Universität von Kairo am 4. September 2009, die Obama unter dem Applaus der 3.000 Zuhörer symbolträchtig
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fangenenlager in Guantanamo Bay wurde entgegen den Wahlversprechen Obamas bis heute nicht vollständig geräumt. Daran ändert weder der Umstand etwas, dass Barack Obama am 10. Dezember 2009 in Oslo der Friedensnobelpreis verliehen wurde, noch dass Osama bin Laden am 2. Mai 2011 vor laufenden Kameras in einem Versteck in Pakistan aufgespürt und erschossen wurde. Denn das sind buchstäblich andere Geschichten, die im Folgenden im Rahmen einer rekurrenten Bezugnahme auf den massenmedialen ›War on Terror‹-Diskurs, wenn auch nicht in Gänze, so doch zum Teil noch rekonstruiert werden sollen. Was hier zunächst von Interesse ist, ist vielmehr folgender Umstand: Dass sich zwischen 2001 und 2009 die massenmediale Definitionshoheit im Terrordiskurs weitgehend losgelöst von konkreten Opferzahlen und Kriegsverläufen verschoben hat, liegt, so hat es den Anschein, weniger im Verlauf der Ereignisse als im Wesen der Massenmedien selbst begründet. ›Realität‹, auch die eines Krieges, ist offensichtlich etwas, das sich in den Massenmedien erst diskursiv als Medienereignis konstruiert. So scheint es nicht primär darum zu gehen, welche ›Kriegsverbrechen‹, Schäden und Opfer ein Krieg tatsächlich verursacht, sondern wie diese in den Medien als Medienereignis verhandelt werden; das heißt vor allem, wie die zentralen Akteure und ihre Gewaltanwendung im massenmedialen Diskurs definiert werden. Es geht also letztlich um die Frage nach der Definitionshoheit: Wer ist unter welchen Umständen im Besitz der Definitionshoheit? Ist der Rahmen dieser Definitionsmacht unbegrenzt? Kann also jeder Begriff im Terrordiskurs beliebig besetzt werden? Bevor im zweiten Kapitel genau diese Fragen ausgehend von den Begriffen ›Terrorist‹ und ›Freiheitskämpfer‹ systematisch beantwortet werden sollen, stellt sich zunächst die grundlegendere Frage nach der Realität von massenmedialen Ereignissen. Es bedarf erst einer Theorie des Medienereignisses, einer Antwort auf die Frage, inwieweit massenmediale Ereignisse der Gewalt – Berichte über Terror, Staatsterror, Krieg etc. – in ihrer diskursiven Struktur und reproduktiven Ökonomie an extramedialen Ereignissen ausgerichtet sind, um dann entscheiden zu können, wie massenmedialen Diskursen über politisch motivierte Gewalt in ihren jeweiligen Formierungen analytisch beizukommen ist.
mit der »arabische[n] Begrüßungsformel as-Salamu alaikum (Friede sei mit Euch)« einleitete (FAZ.NET 2009/06/04).
Kapitel 1 Realität massenmedialer Ereignisse
Bereits in den einführenden Überlegungen zur Mediengeschichte des ›War on Terror‹ findet sich eine Reihe von impliziten Annahmen bezüglich der Relationen zwischen medialen und extramedialen Ereignissen. Diese Relationen sollen im Folgenden systematisch, das heißt im Zuge einer formallogischen Beschreibung, expliziert und analysiert werden. Dabei fordert die Analyse im Falle massenmedialer Ereignisse erstens eine dahingehend hinreichende Beschreibung der Kategorien Ereignis und Medienereignis, dass Ereignis und Medienereignis (klar) voneinander differenziert werden, um zweitens deren Relationen zueinander beschreiben zu können. Anhand der Ausformulierung der formalen Relationen33 zwischen Ereignissen und Medienereignissen können dann die im Rahmen verschiedener medienepistemologischer Ansätze als sinnvoll zu erachtenden Aussagen bezüglich der Struktur massenmedialer Ereignisse von den im Rahmen der jeweiligen Diskurse unsinnigen, weil im Diskurs oder zu den Axiomen des jeweiligen Diskurses widersprüchlichen Aussagen unterschieden werden. Damit wird es zunächst möglich, verschiedene medienepistemologische Ansätze vergleichbar zu machen, um dann schließlich über deren Plausibilität für die weitere Anwendung auf massenmediale Diskurse über politisch motivierte Gewaltakte und ihre Täter zu entscheiden.34 33 | Unter dem Primat der Wahl des einfachsten, aber hinreichenden Kalküls genügt ein aussagenlogischer Apparat, um diesen Sachverhalt hinreichend präzise zu beschreiben. Einen prädikatenlogischen Apparat werde ich in diesem Kapitel nur ergänzend und gleichsam die Argumentation verfeinernd in den Fußnoten mitführen. 34 | Dass es darüber hinaus aus wissenschaftstheoretischer Perspektive und insbesondere aus medienepistemologischer Perspektive einen Wert an sich darstellt, unterschiedliche epistemologische Ansätze mittels eines konsistenten formalen Rasters vergleichbar zu machen, scheint mir evident.
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EREIGNIS ODER MEDIENEREIGNIS
Im April 1997 hielt Jacques Derrida im Rahmen eines Seminars an der Universität Montréal einen Vortrag. Das Seminar, zu dem ihn der Philosoph Gad Soussana und der Linguist Alexis Nouss eingeladen hatten, trug den Titel »Ist es möglich, vom Ereignis zu sprechen?«. Der Titel von Derridas Vortrag und damit die Antwort auf die an ihn herangetragene Frage lautete: »Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen« (Derrida 2003). Die rhetorische Zuspitzung zum immanenten Widerspruch einer »unmögliche[n] Möglichkeit« ergibt sich aus dem spezifischen Ereignisbegriff, der Derridas Überlegungen zugrunde liegt. Derrida meint mit ›Ereignis‹ etwas, das »absolut« ist, etwa im Sinne einer »Gabe«, die den Gebenden wie den Empfangenden in die Lage versetzt, »den ökonomischen Zirkel des Tausches zu durchbrechen« (2003: 27), die also weder auf eine Gegengabe spekuliert noch aus Dankbarkeit geschieht. Es würde Derrida zufolge sogar genügen, »dass die Gabe dem anderen oder mir selbst als solche erscheint, dass sie sich dem Beschenkten oder dem Schenkenden als Gabe präsentiert, um sie auf der Stelle zunichte zu machen« (2003: 28). Analog der Gabe und der Erfindung, einem weiteren »Beispiel« Derridas, soll es sich mit dem Ereignis verhalten: Die Erfindung ist ein Ereignis, das sagen schon die Worte selbst. Es handelt sich darum zu finden, eintreten und sich ereignen zu lassen, was nicht da war. Wenn die Erfindung möglich ist, ist sie keine Erfindung. […] Wenn ich das, was ich erfinde, erfinden kann, wenn ich die Fähigkeit dazu habe, dann heißt das, dass die Erfindung in gewisser Weise einer Potenzialität entspricht, einer Potenz, die ich bereits in mir habe, sodass die Erfindung nichts Neues bringt. Das ist kein Ereignis. (2003: 31)
Das Ereignis dagegen, welches Derrida unter Berufung auf eine von ihm nicht ausdrücklich benannte philosophische Tradition rekonstruiert,35 soll als »absolute Überraschung« eine Unmöglichkeit darstellen, die, so Derrida weiter, »nicht nur das Gegenteil des Möglichen ist, sondern gleicher35 | Ein Bezugspunkt für Derrida scheint ganz offensichtlich Martin Heidegger, der Derridas Überlegungen zumindest im Ansatz vorwegnimmt, wenn es bei Heidegger über das Ereignis etwa heißt: »Ein Ereignis […] ent-setzt eine gesetzte Ordnung, es interveniert in einer bestimmten historischen Situation, ohne dabei aus den Elementen dieser Situation abgeleitet werden zu können« (1989: 7).
Kapitel 1: Realität massenmedialer Ereignisse
maßen die Bedingung oder Chance des Möglichen« und damit ein »UnMögliche[s], das die Erfahrung des Möglichen selbst ist« (2003: 40). Aus diesem »Un-Möglichen« leitet Derrida schließlich nicht weniger als eine »Transformation des Denkens, der Erfahrung und des Sprechens von der Erfahrung des Möglichen und des Unmöglichen« ab und fordert ein neues Denken, das »nicht einfach nur Aufgabe für Berufsphilosophen« sei, sondern zu einer »politischen Kritik der Information« führen soll (2003: 41f.). Gerade der letzte Punkt wird im Rahmen der vorliegenden Untersuchung noch eine Rolle spielen.36 Aber während Derrida mittels seines Ereignisbegriffs eine Dekonstruktion logozentristischen Denkens versucht,37 im Kern eine Dekonstruktion nicht nur der zweiwertigen Logik – hier soll scheinbar entgegen dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch auch p ¬p gelten –,38 wird im Folgenden der Weg einer formallogischen Differenzierung der Begriffe beschritten. Um also nicht schon bei der Bestimmung dessen, was ein Ereignis ist, in eine, metaphorisch gesprochen, sich selbst verzehrende Dialektik zu geraten, sei ein Ereignis zunächst einmal nur das, was von Betrachtern wahrgenommen werden kann, ohne dass es massenmedial vermittelt wird. Ganz im Gegenteil zu Derrida soll darüber hinaus nichts Besonderes am Ereignis sein, es ist nicht neu im Sinne einer »absoluten Überraschung«, es braucht sich nicht einmal anzukündigen, da es dann da ist oder existiert, wenn es den Betrachtern zugänglich wird.39 Ein Medienereignis unterscheidet sich demzufolge in einer, allerdings einer entscheidenden Eigenschaft vom Ereignis. Es findet medial statt, das heißt, es ist den Betrachtern nur in einem Massenmedium zugänglich. Darüber hinaus sollen dem Medienereignis keine besonderen Eigenschaf36 | Siehe Kapitel 3, wo ich auch nochmals ausführlich auf Derridas Konzept der Gabe eingehe. 37 | Siehe hierzu vor allem Derridas Hauptwerk Grammatologie aus dem Jahre 1967, wo er in der dem ersten Kapitel vorangestellten »Devise« ein Programm der Ablösung einer abendländischen Metaphysik und damit eines »Logozentrismus« ausgehend von der Dekonstruktion des Saussure’schen Signifikats entwirft (1998: 11ff.); weiterführend Petersen (2010: 204ff.). 38 | Der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch besagt genau das Gegenteil, nämlich ¬(p ¬p), in Worten: »Es ist nicht zugleich p und nicht-p der Fall«. Etwas kann also nicht zusammen mit seinem Gegenteil wahr sein (Tetens 2004: 298). Dieser Satz gilt im Gegensatz zum Satz vom ausgeschlossen Dritten auch in mehrwertigen Kalkülen (Sütterlin 2009: 24). Vgl. hierzu auch Anm. 22. 39 | Auch die epistemologische Frage, ob ein Ereignis unabhängig von seiner Wahrnehmung existiert, muss hier nicht gestellt werden.
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ten zugeschrieben werden. Somit unterscheidet sich der hier verwendete Begriff grundsätzlich auch von dem der Media-Event-Theorien in der Nachfolge von Daniel Dayan und Elihu Katz. Diese verstehen unter einem Medienereignis, einem »media event«, ein besonderes oder außergewöhnliches massenmediales Ereignis: In spite of the differences among them, events such as the Olympic Games, Anwar el-Sadat’s journey to Jerusalem, and the Funeral of John F. Kennedy […], these are events that hang a halo over the television set and transform the viewing experience. We call them collectively ›media events‹ […]. Audiences recognize them as an invitation – even a command – to stop their daily routines and join in a holiday experience. If festive viewing is to ordinary viewing what holidays are to the everyday, these events are high holidays of mass communication. (1994: 1)
Hier soll es – der Metaphorik der Autoren folgend – jedoch nicht nur um Feiertage, um die Ferien vom Alltag, sondern gerade um den Alltag der Massenmedien gehen. Wenn also im Folgenden von massenmedialen Ereignisstrukturen die Rede ist, dann zunächst im Allgemeinen, um erst später (namentlich in Kapitel 2) wieder auf die Spezifi k von politisch motivierten Gewalttaten als ›besonderen‹ Medienereignissen einzugehen.
Massenmediale Ereignisstrukturen 1 Um die Ereignisstrukturen zu beschreiben, müssen neben den Ereignissen und Medienereignissen auch die möglichen Relationen zwischen beiden bestimmt werden. Das kann mit den Mitteln der Aussagenlogik40 geschehen. Idealerweise würde man das komplexere Kalkül der Prädikatenlogik anwenden, da erst dieses es ermöglicht, Aussagen zu quantifi zieren und auf diese Weise explizit zu verallgemeinern.41 Die aussagenlogische Variante
40 | Einführend hierzu etwa Detel (2007: 68ff.), Zoglauer (2008: 35ff.) und Strobach (2005: 42ff.). 41 | Wenn ich im Folgenden also im Allgemeinen über Ereignisse respektive Medienereignisse im Rahmen der Aussagenlogik spreche, dann nur implizit, sprich: nicht auch formal expliziert. Deshalb, namentlich der formalen Adäquatheit wegen, werden bereits prädikatenlogische Formalisierungen in den Fußnoten mitgeführt. Siehe einführend zur Prädikatenlogik wiederum Detel (2007: 68ff.), Zoglauer (2008: 71ff.) und Strobach (2005: 75ff.).
Kapitel 1: Realität massenmedialer Ereignisse
wird jedoch verwendet, da sie nicht nur eine akzeptable, weil hinreichende formale Beschreibung des Sachverhalts ermöglicht, sondern zunächst einmal metasprachlich zugänglicher ist und so den späteren Einstieg in die Prädikatenlogik (in Kapitel 2) ermöglichen soll.42 Ereignisse und Medienereignisse werden grundsätzlich hinsichtlich ihrer Medialität unterschieden. Ein Ereignis hat die Eigenschaft, nicht medial zu sein. Es kann von Beobachtern nur außerhalb von Massenmedien wahrgenommen werden. Ein Medienereignis hat dagegen gerade die Eigenschaft, medial zu sein. Es kann von Beobachtern nur innerhalb eines Massenmediums wahrgenommen werden. Wendet man dies vom Epistemologischen zum Semantischen, könnte man auch sagen: Über ein Medienereignis kann im Gegensatz zu einem Ereignis nur sinnvoll gesprochen werden, wenn man dem ersten im Gegensatz zum zweiten in jedem Fall auch das Merkmal der Medialität zuschreibt. Dabei ist epistemologisch wie semantisch von Bedeutung, dass die Existenz eines Ereignisses wie eines Medienereignisses epistemisch durch Beobachter und diskursiv durch Sprecher verbürgt ist – und zwar jeweils ausdrücklich im Plural. Der späte Wittgenstein etwa merkt in diesem Zusammenhang an: »Es ist nämlich nicht so, dass man aus der Äußerung des Anderen ›Ich weiß, dass es so ist‹ den Satz ›Es ist so‹ schließen könnte.« Auch die »Versicherung ›Ich weiß es‹ genügt nicht. Denn sie ist doch nur die Versicherung, daß ich mich (da) nicht irren kann, und daß ich mich darin nicht irre, muß objektiv feststellbar sein« (1994: 122). Es kann mit Wittgenstein also nicht von der Evidenz der eigenen oder fremden (seiner oder meiner) subjektiven Wahrnehmung auf eine objektive Existenz geschlossen werden. Vielmehr etabliert oder konstruiert sich das, was man meint, wenn man von Existenz spricht, erst im intersubjektiven Diskurs der Beobachter. Somit ist ein Ereignis wie ein Medienereignis das, was viele dafür halten, das heißt als Ereignis oder Medienereignis wahrnehmen und als grundsätzlich für jeden wahrnehmbar verhandeln. Die sich aus der Differenzierung von Ereignis und Medienereignis ergebenden metasprachlichen Aussagen lassen sich unter Verwendung des Negationszeichens (¬) mittels der folgenden vier einfachen Aussagen wiedergeben:
42 | So baut die Prädikatenlogik auch historisch-genetisch auf die Aussagenlogik auf. Siehe hierzu etwa Strobach (2005: 80ff.).
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E = df 43
Es existiert ein Ereignis.
¬E = df
Es existiert kein Ereignis.
ME =df
Es existiert ein Medienereignis.
¬ME =df
Es existiert kein Medienereignis.
Unter Anwendung des Subjunktors44 ( ) gelangt man zu 16 Möglichkeiten, die Aussagen über die Nicht-/Existenz von Ereignissen und Medienereignissen zu komplexen Aussagen zu kombinieren. Das sind zunächst die folgenden acht zusammengesetzten Aussagen:45 1
E ME Wenn ein Ereignis existiert, dann existiert ein Medienereignis.
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E ¬ME Wenn ein Ereignis existiert, dann existiert kein Medienereignis.
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¬E ME Wenn kein Ereignis existiert, dann existiert ein Medienereignis.
43 | Sprich: ›E ist definiert als‹. 44 | Ich benutze hier nach Mittelstraß (1984a: 19) die Bezeichnung ›Subjunktor‹ und nicht die üblichere Bezeichnung ›Implikator‹ bzw. ›Implikation‹, um logische Implikationen begrifflich nicht mit semantischen Implikationen zu vermengen. Als semantische Implikation gilt im Gegensatz zur formal genau beschriebenen logischen Implikation (Bucher 1998: 57, 69ff.) eine Aussage, die aus einer anderen irgendwie sinnvoll und damit nicht unbedingt formallogisch folgt. Vgl. hierzu auch Löbner (2003: 91f.), der eine entsprechende Unterscheidung macht. 45 | In der prädikatenlogischen Variante wäre spätestens an dieser Stelle eine Quantifizierung vorzunehmen, hier mittels des Allquantors ( ). Es ist, wie gesagt, das Ziel, allgemeingültige Aussagen über das Verhältnis von Medienereignissen und Ereignissen zu treffen. Während eine Allgemeingültigkeit der Aussagen in der aussagenlogischen Formalisierung zwar implizit enthalten, nicht aber formal expliziert ist, geschieht dies prädikatenlogisch mittels des Allquantors: (1) (x) E(x) ME(x), (2) (x) E(x) ¬ME(x), (3) (x) ¬E(x) ME(x), (4) (x) ¬E(x) ¬ME(x), (5) (x) ME(x) E(x), (6) (x) ME(x) ¬E(x), (7) (x) ¬ME(x) E(x), (8) (x) ¬ME(x) ¬E(x). Die zweite Formel (2) liest sich dann beispielsweise: »Für alle x gilt, wenn x die Eigenschaft hat, ein Ereignis zu sein, dann hat x nicht die Eigenschaft ein Medienereignis zu sein«, und kurz: »Für alle x gilt, wenn x ein Ereignis ist, dann ist x kein Medienereignis«.
Kapitel 1: Realität massenmedialer Ereignisse
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¬E ¬ME Wenn kein Ereignis existiert, dann existiert kein Medienereignis.
5
ME E Wenn ein Medienereignis existiert, dann existiert ein Ereignis.
6
ME ¬E Wenn ein Medienereignis existiert, dann existiert kein Ereignis.
7
¬ME E Wenn kein Medienereignis existiert, dann existiert ein Ereignis.
8
¬ME ¬E Wenn kein Medienereignis existiert, dann existiert kein Ereignis.
Vier weitere Aussagen, die sich kombinatorisch ergeben, stellen die Tautologien dar:46 9
E E Wenn ein Ereignis existiert, dann existiert ein Ereignis.
10
¬E ¬E Wenn kein Ereignis existiert, dann existiert kein Ereignis.
11
ME ME Wenn ein Medienereignis existiert, dann existiert ein Medienereignis.
12
¬ME ¬ME Wenn kein Medienereignis existiert, dann existiert kein Medienereignis.
Mittels der Ersetzungsregel der Transposition lassen sich die Tautologien zunächst von vier auf zwei reduzieren, da, wie beispielsweise Copi (1998: 156) konstatiert, »logisch äquivalente Ausdrücke […] einander ersetzen« können. Wie formal etwa die intuitiv evidente Ersetzungsregel der doppelten Negation p ¬¬p (p ist äquivalent zu nicht-nicht-p) gilt, so gilt auch 46 | In der prädikatenlogischen Variante entsprechend: (9) (x) E(x) (x) ¬E(x) ¬E(x), (11) (x) ME(x) ME(x), (12) (x) ¬ME(x) ¬ME(x).
E(x), (10)
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die Transposition (p q) (¬q ¬p), sprich: p impliziert formal q ist äquivalent zu nicht-q impliziert formal nicht-p. Dies mag sich nicht mehr intuitiv erschließen, wird aber nachvollziehbar, wenn man die Struktur der Subjunktion, sprich: der formalen oder materiellen Implikation47 etwa mit Löbner (2003: 90f.) genauer betrachtet: »Für die Implikation gilt immer eine Art Umkehrschluss: wenn A B impliziert, dann gilt: wenn B falsch ist, ist auch A falsch. Mit anderen Worten: ›A impliziert B‹ ist gleichbedeutend mit ›nicht-B impliziert nicht-A‹«. So ist beispielsweise der Satz »Wenn etwas ein Frosch ist, dann ist es auch ein Tier« nicht gleichbedeutend mit dem Satz »Wenn etwas ein Tier ist, dann ist es auch ein Frosch«. »A impliziert B« ist eben nicht äquivalent zu »B impliziert A«. Die Implikation ist nur einseitig. So kann ein Tier etwa auch eine Schlange, ein Pinguin oder ein Elefant sein. Dagegen gilt »nicht-B impliziert nicht-A«, also die Transposition: »Wenn etwas kein Tier ist, dann ist es auch kein Frosch«. Auf die Subjunktionen 9 bis 12 angewandt bedeutet das für Subjunktion 9, dass diese äquivalent zu 10 ist, und für Subjunktion 11, dass sie äquivalent zu 12 ist. Wendet man beispielsweise auf Subjunktion 9 die Ersetzungsregel der Transposition an, stellt sich das wie folgt dar: (E E) (¬E ¬E). Vordersatz und Nachsatz (hier jeweils E) werden vertauscht und jeweils negiert, sodass mittels der Transposition aus der Subjunktion 9 die Subjunktion 10 entsteht.48 Das Analoge gilt für die Subjunktionen 11 und 12. Das Besondere an den Tautologien ist allerdings, dass Vordersatz und Nachsatz identisch sind, während bei den vier Kontradiktionen 13 bis 16, die sich außerdem kombinatorisch ergeben, Vordersatz und Nachsatz einander jeweils ausschließen:49 13
E ¬E Wenn ein Ereignis existiert, dann existiert kein Ereignis.
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¬E E Wenn kein Ereignis existiert, dann existiert ein Ereignis.
47 | Die Begriffe variieren in den Standardlogiken. Der übliche ist wie gesagt der der ›Implikation‹ oder ›materiellen Implikation‹, wobei der Letztere in der Regel zur Differenzierung der materiellen von einem anderen Implikationstyp, der ›strikten‹ oder ›notwendigen Implikation‹ (Bucher 1998: 324f.), dient, die hier aber keine Rolle spielt. 48 | Man könnte per Umkehrung der Transpositionsregel – diese gilt, wie alle Ersetzungsregeln, da es sich um Äquivalenzregeln handelt, in beide Richtungen (ausführlich Copi 1998: 156ff.) – natürlich auch Subjunktion 10 zu Subjunktion 9 umformen. 49 | In der prädikatenlogischen Variante entsprechend: (13) (x) E(x) ¬E(x), (14) (x) ¬E(x) E(x), (15) (x) ME(x) ¬ME(x), (16) (x) ¬ME(x) ME(x).
Kapitel 1: Realität massenmedialer Ereignisse
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ME ¬ME Wenn ein Medienereignis existiert, dann existiert kein Medienereignis.
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¬ME ME Wenn kein Medienereignis existiert, dann existiert ein Medienereignis.
Da die Kontradiktionen im Gegensatz zu den Tautologien nicht untereinander logisch äquivalent sind, können sie zwar nicht zusammengefasst werden; sie können jedoch zusammen mit den Tautologien von vornherein aus den sinnvollen Aussagen über das Verhältnis von Ereignis und Medienereignis ›herausgekürzt‹ werden. Es erscheint nämlich schon rein intuitiv selbstverständlich, dass man sich nicht lang mit tautologischen Aussagen dergestalt, dass dann ein Ereignis existiert, wenn ein Ereignis existiert, und kontradiktorischen Aussagen dergestalt, dass dann kein Medienereignis existiert, wenn ein Medienereignis existiert (und vice versa), aufhält.50 Die Kontradiktionen erscheinen widersinnig, weil sie sich selbst verneinen, also von vornherein widersprüchlich sind, die Tautologien erscheinen trivial, weil sie immer wahr sind. 50 | Dass sowohl Tautologien als auch Kontradiktionen im Rahmen der Luhmann’schen Systemtheorie eine Reihe von Funktionen sowohl als Mechanismen der (kommunikativen) Selbststabilisierung von sozialen Systemen als auch im Rahmen der (soziologischen) Selbstbeobachtung im Rahmen sozialer Systeme haben und Luhmann sich mit tautologischen und kontradiktorischen Aussagen daher ausführlich beschäftigt, sei hier nur angemerkt (Luhmann 1987: 112f., 118f., 493ff.). Im Folgenden argumentiere ich allerdings nicht aus systemtheoretischer Perspektive, sondern aus der der »klassischen Erkenntnistheorie«, die, wie es bei Luhmann (1987: 31) polemisch heißt, »durch die Absicht charakterisiert« ist, »Selbstreferenzen als bloße Tautologien und als Öffnung für schlechthin Beliebiges zu vermeiden«. Während das Letztere, wie sich im Rahmen der Analyse ausdrücklich zeigen wird, durchaus zutrifft, ist das Erstere aufgrund seiner Generalisierung unzutreffend. So gilt formal gesprochen gerade nicht (x) S(x) T(x): »Alle Aussagen (x) sind dann und nur dann, wenn sie selbstreferenziell (S) sind, auch tautologisch (T)«. Die Aussage »Dieser Satz ist wahr« ist selbstreferenziell, aber nicht tautologisch, die Aussage »Es regnet oder es regnet nicht« ist immer wahr und somit tautologisch, aber nicht selbstreferenziell. Nicht jede Selbstreferenz wird somit im Rahmen der Erkenntnistheorie als Tautologie betrachtet und nicht jede Tautologie als Selbstreferenz, genauso wie (siehe die methodische Einführung) eben nicht jeder logische Widerspruch zugleich auch eine Selbstreferenz darstellt und damit zu einer Paradoxie – im Sinne Luhmanns – wird.
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Formallogisch wie epistemologisch sind diese Sätze aber alles andere als trivial. So handelt es sich bei tautologischen wie kontradiktorischen Sätzen um analytische Aussagen, also um Aussagen, »deren Wahrheit allein mit Hilfe der Logik ermittelt werden kann« (Salmon 1983: 265). Es gehört beispielsweise die tautologische Aussage »Junggesellen sind unverheiratet« genauso wie die kontradiktorische Aussage »Es existiert ein Junggeselle, der verheiratet ist« zur Klasse der analytischen Aussagen, weil im Falle der Tautologie »deren Wahrheit« und im Falle von Kontradiktionen »deren Falschheit« bereits aus den »Definitionen der in ihnen vorkommenden (logischen und nichtlogischen) Wörter folgt« (Salmon 1983: 265f.).51 Ein Junggeselle ist eben als unverheirateter Mann und nicht anders definiert. Analytische Aussagen kann man also beurteilen, ohne noch etwas anderes zu kennen als die sprachliche Verwendung ihrer Elemente. Man weiß, dass der Satz »Wenn ein Medienereignis existiert, dann existiert ein Medienereignis« wahr ist, wenn man die Verwendung des Subjunktors kennt. Und im Unterschied zum Junggesellenbeispiel, bei dem man die Definition des Begriffs ›Junggeselle‹ kennen muss, kann man die Wahrheit des Satzes sogar feststellen, ohne überhaupt zu wissen, was ein Medienereignis ist, sprich: wie es definiert ist. Im Gegensatz dazu müssen synthetische Aussagen, »deren Wahrheit oder Falschheit nicht allein schon von den Bedeutungen der in ihnen enthaltenen Wörter bestimmt wird« (Salmon 1983: 266), hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts erst an »Tatsachen« überprüft werden: Ein Aussagesatz ist mit seinem Wahrheitsanspruch wesentlich auf die Welt bezogen. Mit ›der Welt‹ ist dabei ungefähr das gemeint, was Kant mit »der Erfahrung« meint und Leibniz mit den Tatsachen, wenn er von »Tatsachenwahrscheinlichkeit« spricht. Je nachdem, ob die Welt sich wirklich so verhält, ist der Satz wahr oder falsch. (Tugendhat/Wolf 1993: 41)
Einmal abgesehen davon, was ›Tatsachen‹ und ›Welt‹ aus epistemologischer Perspektive genau bezeichnen, liegt die Stärke der analytischen Sätze bezüglich des Verhältnisses von Medienereignissen und Ereignissen darin, dass sie gerade ohne eine Bezugnahme auf Welt oder Tatsachen auskommen. Man ist sich in jedem Fall darüber einig, dass ein Ereignis bzw. ein Medienereignis existiert, wenn ein Ereignis bzw. ein Medienereignis existiert, und dass beide nicht existieren, wenn diese nicht existieren. Diese Aussagen kann man mit Gewissheit, das heißt mit logischer Gewissheit treffen. 51 | Siehe beispielsweise auch Tetens (2004: 29).
Kapitel 1: Realität massenmedialer Ereignisse
Allerdings hat diese Gewissheit einen Preis, nämlich den, dass die Aussagen nichts ›wirklich‹ aussagen, sondern bloß beschreiben, in welchen Strukturen man im Rahmen einer zweiwertigen Logik denkt, und im speziellen Fall, was man meint, wenn man den Subjunktor richtig, das heißt im Rahmen der Konvention verwendet. Die Aussagen sind also bei aller Stärke gleichzeitig so schwach, weil sie »in gewisser Weise nichts, d.h. nichts über die Welt« sagen (Tugendhat/Wolf 1993: 42). Sie sagen nicht einmal etwas über das Verhältnis zwischen Ereignissen und Medienereignissen aus, sondern nur etwas über die Verhältnisse von Ereignissen und Medienereignissen zu sich selbst. Die analytischen Aussagen 9 bis 16 bleiben also generell sowie speziell bezogen auf die Frage nach dem Verhältnis von Ereignissen und Medienereignissen uninformativ. Sie sind – im Sinne Kants – bereits a priori, das heißt ›vor‹ bzw. unabhängig von der Erfahrung entschieden und helfen gerade nicht, das zu entscheiden, was es hier zu entscheiden gilt. Im Gegensatz dazu stehen die Aussagen 1 bis 8 erst noch zur Diskussion. Sie sind insofern synthetische Aussagen a posteriori, als sie erst ›nach‹ bzw. aufgrund von Erfahrung, also bezogen auf ihr Verhältnis zu ›Tatsachen‹, noch entschieden werden müssen. Genau das soll im Folgenden anhand der acht Aussagen geschehen. Zunächst können und sollen die Aussagen jedoch zusammengefasst und vereinfacht werden. Die Anwendung der Transpositionsregel (sowie teilweise der Regel der doppelten Negation) auf die Subjunktionen 1 bis 4 zeigt, dass die übrigen Subjunktionen 5 bis 8 zu den ersten vier Subjunktionen äquivalent sind. So gilt, ohne das im Einzelnen vorzuführen:52 Subjunktion 8 ist die Transposition von Subjunktion 1, 6 von 2, 7 von 3 und 5 von 4. Damit bleiben als ein reduziertes Raster für die weitere Untersuchung verschiedener medientheoretischer Ansätze zur Beschreibung massenmedialer Ereignisstrukturen die folgenden vier Subjunktionen inklusive ihrer jeweiligen Transpositionen: 1
E ME Wenn ein Ereignis existiert, dann existiert ein Medienereignis. äquivalent: ¬ME ¬E Wenn kein Medienereignis existiert, dann existiert kein Ereignis.
52 | Beispielsweise gilt für die Subjunktion 2 unter Anwendung der Transposition [1] und der doppelten Negation [2], dass Subjunktion 2 sich wie folgt schrittweise in die Subjunktion 6 umformen lässt: (E ¬ME) [1] (¬¬ME ¬E) [2] (ME ¬E).
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E ¬ME Wenn ein Ereignis existiert, dann existiert kein Medienereignis. äquivalent: ME ¬E Wenn ein Medienereignis existiert, dann existiert kein Ereignis.
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¬E ME Wenn kein Ereignis existiert, dann existiert ein Medienereignis. äquivalent: ¬ME E Wenn kein Medienereignis existiert, dann existiert ein Ereignis.
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¬E ¬ME Wenn kein Ereignis existiert, dann existiert kein Medienereignis. äquivalent: ME E Wenn ein Medienereignis existiert, dann existiert ein Ereignis.
KORRESPONDENZ THEORIE
Heinz von Foerster weist in einem nach ihm benannten Theorem hinsichtlich der Entscheidbarkeit verschiedener Klassen von Fragen auf Folgendes hin: »Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können von uns entschieden werden« (1989: 30). Den scheinbaren Widerspruch, den der Satz produziert, löst von Foerster ganz im Sinne der Differenz von analytischen und synthetischen Aussagen auf: Warum? Ganz einfach: die entscheidbaren Fragen sind ja schon entschieden, und zwar durch die Spielregeln, in denen Fragen und die Regeln der Beantwortung bestimmt sind. Es kann manchmal schnell gehen, manchmal sehr lang dauern, bis sich das »Ja« oder das »Nein« der Antwort unweigerlich – oder wie es so schön heißt »mit zwingender Logik« ergibt […]. Bei prinzipiell unentscheidbaren Fragen haben wir [dagegen] jeden Zwang […] abgeschüttelt und haben mit der gewonnenen Freiheit auch die Verantwortung der Entscheidung übernommen. (1989: 30)
Wenn man sich also dem Bereich der synthetischen Aussagen zuwendet, so hat man im Sinne Heinz von Foersters nicht nur die »Freiheit«, sondern auch die »Verantwortung« und zugleich auch die Last der Entscheidung. Und bei der Frage, wie sich die Beziehung von Medienereignis und Ereignis darstellt, wird es praktisch (nicht prinzipiell) unmöglich, sich nicht zu entscheiden. Jeder, der Massenmedien benutzt, und das sind in unserer
Kapitel 1: Realität massenmedialer Ereignisse
Kultur fast alle, hat irgendeine Vorstellung davon, wie sich Massenmedien hinsichtlich außermedialer Ereignisse verhalten. Diese Vorstellungen müssen weder besonders differenziert noch im Einzelnen expliziert sein, sondern nur vorhanden – aus dem Grund, weil Massenmedien als das, was sie ihrem Anspruch nach sind, nämlich schon dem Begriff nach Mittel oder Vermittler, stets auch einen impliziten, gelegentlich auch expliziten Selbstlegitimationsdiskurs führen. Einen solchen Nulldiskurs53 als Selbstlegitimation adressiert Luhmann, wenn er in Die Realität der Massenmedien feststellt: »Massenmedien […] können […] einfach nicht sich selber für die Wahrheit halten. Sie müssen folglich Realität konstruieren, und zwar im Unterschied zur eigenen Realität noch eine andere« (2004: 15f.). Das bedeutet nichts anderes, als dass Massenmedien per se eine Referenzrealität behaupten, über die sie als Medium dem Publikum berichten. Ein Medienereignis ist, so der stets implizit oder explizit mitlaufende massenmediale Nulldiskurs, prinzipiell an ein ihm vorausgehendes, in der Liveberichterstattung scheinbar sogar gleichzeitig stattfindendes Medienereignis gebunden. Auch der Verweis auf fi ktionale Genres, etwa des Spielfilms, impliziert den Realismus von Medienereignissen: Wenn sich medienimmanent zwischen Realistischem und Fiktionalem unterscheiden lässt, dann muss sich analog auch medientranszendent zwischen realen und medialen Ereignissen differenzieren lassen. Und selbst dann, wenn im Medium das eigene Nichtfunktionieren thematisiert wird, werden Nulldiskurse einer impliziten Selbstlegitimation produziert – so auch im Zuge des ›War on Terror‹-Diskurses: Man hörte dort nach einer ersten Phase hysterischer Liveberichterstattung allerlei Selbstkritisches von den Medienmachern.54 Dass es sich dabei nicht um Selbstkritik im Sinne einer ergebnisoffenen 53 | Der Diskurstyp des Nulldiskurses wird als gleichermaßen (selbst)reflexiver wie (inhalts)leerer Diskurs in Abgrenzung zu den verschiedenen massenmedialen Propagandadiskursen in Kapitel 2 noch ausführlicher beschrieben. 54 | Beispielsweise entgegnete RTL-Anchorman Peter Kloeppel während einer Podiumsdiskussion auf die Frage nach der Funktionalisierung der Massenmedien durch die Attentäter des 11. Septembers: »Ich habe in dem Moment [der Übernahme der Livebilder] nicht darüber nachgedacht, das gebe ich ganz ehrlich zu. […] Es wäre natürlich schön […], wenn man die Ruhe hätte […] zu fragen: ›Moment mal, was passiert da eigentlich? Anschläge in New York, alle Kameras sind drauf? Was haben die [Attentäter] sich dabei gedacht?‹ Und dann denkt man zehn Minuten nach und in der Zeit ist eigentlich das, was man leisten muss in der Situation, schon vorbei« (2003: 176f.). Ich komme auf Kloeppels Äußerung in Kapitel 3 nochmals ausführlich zu sprechen.
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Überprüfung der eigenen Berichterstattung, sondern lediglich um ein wiederkehrendes Ritual massenmedialer Selbstgeißelung zum Zwecke der eigenen Rehabilitierung handelte, wurde daran deutlich, dass die Selbstkritik gerade nicht zu Konsequenzen führte, sondern vielmehr systemstabilisierend wirkte. Man kannte das bereits vom Golfkrieg 1991: Erst sendete das US-Fernsehen, und allen voran CNN, gänzlich ungebrochen und unhinterfragt das Material, das das eigene Militär zur Verfügung stellte, distribuierte und forcierte damit eine einseitige Darstellung des Golfkrieges als eines ›chirurgischen Eingriffs‹ praktisch ohne Kollateralschäden und Opfer, dann deckten dieselben Medien die eigene Täuschung durch das Militär vermeintlich investigativ auf, sodass die Welt journalistischer Wahrheitsfindung wieder in Ordnung schien. Ein Modell für derartige Argumentationsmuster liefert Baudrillard. In seinem Essay Die Präzession der Simulakra aus dem Jahre 1978 beschreibt er den medialen Mechanismus der »Dissuasion«, der eng mit den zentralen Kategorien im Denken Baudrillards verbunden ist, denen der »Simulation« und der »Dissimulation« (1978: 9f.). Während die Dissimulation, das Vertuschen von als real geltenden Ereignissen, ein Realitätsprinzip gerade implizit voraussetzt, soll mittels der Simulation ein Medienereignis unabhängig von einem realen Referenzereignis produziert und derart das Realitätsprinzip infrage gestellt werden.55 In der Dissuasion nun wird die Absenz ursprünglicher Realität jenseits simulierter Medienereignisse selbst vertuscht oder dissimuliert, sodass eine scheinbare, bloß noch simulierte Ret tung des Realitätsprinzips stattfindet. Baudrillard führt das an einem Beispiel vor: Im Jahre 1971 beschloss die Regierung der Philippinen, die Eingeborenen der Tasaday, die man gerade entdeckt hatte, »in ihrer Natürlichkeit zu belassen und sie nicht dem Zugriff der Kolonisten, Touristen und Ethnologen auszusetzen.56 Damit folgte man einer Initiative von Anthropologen, die ahnten, daß die Tasaday unter ihren Blicken (wie eine Mumie in frischer Luft) förmlich zerfallen würden«, denn, so Baudrillard weiter, »[d]as Leben der Ethnologie impliziert den Tod ihres Objekts, dessen Rache darin besteht, vor seiner ›Entdeckung‹ zu sterben« (1978: 19). Der Ethnologe zerstört durch sein Eindringen in die natürliche Welt der ›Wilden‹ gerade deren Unberührtheit, deren Natürlichkeit. Wenn die Ethnologie nun die Natürlichkeit des Stammes der Tasaday 55 | Von der Dissimulation, vor allem aber der Simulation, wird im Rahmen einer Darstellung von Baudrillards Simulationstheorie im Folgenden noch ausführlich die Rede sein. 56 | Baudrillard bezieht sich auf die damals populäre ethnologische Studie The Gentle Tasadays von John Nance (1975).
Kapitel 1: Realität massenmedialer Ereignisse
vor sich selbst schützt, indem sie sich die Erforschung derselben versagt, hat das laut Baudrillard aber nichts mit einem tatsächlichen »Opfer zu tun (die Wissenschaft ist stets mörderisch, sie opfert nie): es ist ein simuliertes Opfer ihres Objekts zur Rettung ihres Realitätsprinzips. Die in ihrer natürlichen Wesenhaftigkeit eingefrorenen Tasaday sind ein perfektes Alibi, eine ewige Bürgschaft«. Die Ethnologie schaff t mit der Rettung der Tasaday vor sich selbst nur das Simulakrum einer scheinbar ›nackten Realität‹, das nun als »Simulationsmodell für alle möglichen Indianer, die es vor der Ethnologie gegeben« haben soll, dient (1978: 17). Und die Konservierung der Tasaday ist umgekehrt eine Dissuasion, also ein Vertuschen oder Abwiegeln, der Tatsache, dass die Ethnologie längst ihr natürliches oder reales Relat verloren hat, es sogar per definitionem immer wieder selbst abschaffen und zerstören muss.57 Analoges gilt für die Massenmedien: Nicht so sehr der Verweis auf die wahre, tatsächliche oder reale Quelle einer Nachricht, sondern vor allem und deutlich subtiler jedes medial kommunizierte Scheitern der Berichterstattung, jede Richtigstellung nach einer Falschmeldung ist immer auch eine mediale Dissuasion, die fingierte Rettung des eigenen Realitätsprinzips: Immer dann, wenn man behauptet, man sei der Wahrheit diesmal leider nicht habhaft geworden, man sei von seinen Informanten getäuscht und belogen worden, setzt man stillschweigend, aber überzeugend voraus, dass so etwas wie die Wahrheit existiert und sich ein Medienereignis – ganz im Sinne synthetischer Aussagen a posteriori58 – an Tatsachen, hier an (s)einem korrespondierenden Ereignis, überprüfen lässt. Wie etwa die synthetische Aussage »Einige Junggesellen sind kahlköpfig« relativ einfach verifizierbar scheint – man vergleicht sie mit ›der Welt‹ und kann feststellen, ob es tatsächlich eine Tatsache (namentlich einen kahlköpfigen Junggesellen) gibt, der die Aussage bewahrheitet –, so soll auch die Wahrheit eines Medienereignisses an einem korrespondierenden Ereignis verifizierbar sein. Bezogen auf synthetische Aussagen heißt das allgemein: »Der Satz p ist genau dann wahr, wenn p mit den entsprechenden Fakten übereinstimmt« (Detel 2007: 34). Bezogen auf das Verhältnis von Ereignissen zu Medienereignissen bedeutet dies, dass ein Medienereignis wahr ist, sofern es mit einem ihm zuordenbaren Korrespondenzereignis übereinstimmt.59 Eine Korrespondenztheorie der Massenmedien scheint somit strukturäquivalent mit einer logischen Korrespondenzthe57 | Siehe hierzu auch Petersen (2010: 211ff.). 58 | Dazu im Folgenden noch ausführlich. 59 | Zum Problem der Zuordenbarkeit mehr im Rahmen der Diskussion von immanenztheoretischen Medientheorien in Kapitel 3.
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orie, die die Wahrheit oder Falschheit von synthetischen Aussagen an »Tatsachen in der Welt« (2007: 35) überprüfbar machen will. Und vor dem Hintergrund des von Foerster’schen Theorems gilt der Satz: »Wenn wir logische Wahrheit und massenmediale Wahrheit derart begründen, haben wir uns entschieden, unserer Begründung eine Korrespondenztheorie zu unterlegen.« Der in dem Satz enthaltene Begriff der Entscheidung impliziert wiederum, dass es mindestens eine andere Theorie geben muss, die man hätte wählen können.
Massenmediale Ereignisstrukturen 2 Zugleich hat die Entscheidung selbst weitreichende Konsequenzen dahingehend, was man im Rahmen des gewählten korrespondenztheoretischen Diskurses noch sinnvoll, das heißt, ohne Widersprüche zu den Axiomen desselben zu erzeugen, über mediale Ereignisstrukturen aussagen kann. Wenn man also einen korrespondenztheoretischen Diskurs gewählt hat, kann man die Ereignisstruktur, metaphorisch gesprochen, nur noch im Rahmen der durch dieses Sprachspiel vorgegebenen Grammatik widerspruchsfrei verhandeln. Die zuvor implizit dargestellten Axiome eines korrespondenztheoretischen Diskurses lassen sich nun folgendermaßen explizieren: Medienereignisse sind erstens im Rahmen einer Korrespondenztheorie der Massenmedien an reale Ereignisse als Referenzereignisse gebunden. Ereignisse sind somit, natürlich nicht per se, jedoch im korrespondenztheoretischen Diskurs, als Referenzereignisse von Medienereignissen zu verstehen – und nicht anders. Medienereignisse gelten zweitens als wahr, wenn sie ihrem Referenzereignis ähneln.60 Wenn sie ihm nicht ähnlich sind, gelten sie als falsch. Erstens und zweitens gelten nur für das, was man im Rahmen des korrespondenztheoretischen Diskurses als nicht-fi ktionale Medienereignisse (Nachrichten, Berichte, Dokumentationen etc.) versteht. Fiktionale Medienereignisse zeichnen sich drittens gerade dadurch aus, dass sie nicht an ein reales Referenzereignis gebunden sein müssen, das heißt nicht in jedem Fall an ein Referenzereignis gebunden sind. Letzteres wird im Folgenden noch weiter zu explizieren sein. 60 | Darauf, wie problematisch solche ein Konzept der Ähnlichkeit nicht nur korrespondenztheoretisch ist, komme ich noch zu sprechen; trotzdem scheint es mir an dieser Stelle nicht zu viel unterstellt, wenn ich behaupte, dass Korrespondenztheorien grundsätzlich nicht nur auf Ähnlichkeitskonzepten beruhen, sondern ihrem Wesen nach beruhen müssen.
Kapitel 1: Realität massenmedialer Ereignisse
Lässt man Fiktionalität aber noch außer Acht und bewegt sich nur im nicht-fiktionalen Diskurs von ›Nachrichten‹, dann können zunächst die Subjunktionen 2 und 3 ausgeschlossen werden. Sie entziehen sich einem sinnvollen Sprechen über nicht-fi ktionale Medienereignisse und ihre Referenzereignisse: Wenn man einerseits behauptet »Wenn ein Referenzereignis existiert, dann existiert kein Medienereignis« (2) und andererseits »Wenn kein Medienereignis existiert, dann existiert ein Referenzereignis« (Trans. von 3), dann wären beide Aussagen im Rahmen einer Korrespondenztheorie der Medien falsch. Subjunktion 2 würde nämlich den Fall, dass ein Referenzereignis und ein Medienereignis existieren, ausschließen.61 Referenzereignis und Medienereignis sollen aber per definitionem gerade zusammen existieren, indem sie miteinander korrespondieren. Subjunktion 3 schließt dagegen den Fall aus, dass kein Referenzereignis und kein Medienereignis existieren.62 Das mag zunächst nicht relevant, weil nicht widersprüchlich zu den Axiomen einer Korrespondenztheorie nicht-fiktionaler Medienereignisse, erscheinen. Allerdings kann man Subjunktion 3 (samt Transposition) nicht sinnvoll zusammen mit Subjunktion 1 behaupten. Letztere muss aber – wie sich zeigen wird – im Rahmen einer Korrespondenztheorie gerade angenommen werden, sodass man eben nicht gleichzeitig auch Subjunktion 3 behaupten kann: Nähme man nun trotzdem Subjunktion 1 zusammen mit 3 an, wäre die Gültigkeit von ¬ME, sprich: »Es existiert kein Medienereignis«, von vorherein ausgeschlossen. Die gemeinsame Annahme der Subjunktionen 1, formal E ME, und 3, formal ¬E ME, würde nämlich dazu führen, dass in jedem Fall (also sowohl im Fall von E als auch von ¬E) ME vorliegen würde, umgekehrt also niemals ¬ME vorliegen könnte. Da61 | Wichtig für die weiteren Ausführungen zur ergänzenden prädikatenlogischen Formalisierung – aber auch für die im Fließtext folgenden Ausführungen, welche metasprachlich implizit bereits auch prädikatenlogisch argumentieren – ist der Umstand, dass die allquantifizierten Subjunktionen jeweils in logischer Äquivalenz zur Negation von entsprechenden existenzquantifizierten Konjunktionen stehen. In diesem Fall gilt: (x) E(x) ¬ME(x) ¬ (x) E(x) ME(x), sprich: »Für alle x gilt, wenn x ein Ereignis ist, dann ist x kein Medienereignis«, ist logisch äquivalent zu »Für kein x gilt, x ist ein Ereignis und ein Medienereignis«. Die Konjunktion ( ) spiegelt dabei das metasprachliche ›und‹ wider, während der Existenzquantor ( ) metasprachlich als ›mindestens einer‹ und die Negation als ›kein einziger‹/›keiner‹ ausformuliert wird. 62 | In prädikatenlogischer Form: (x) ¬E(x) ME(x) ¬ (x) ¬E(x) ¬ME(x), sprich: »Für alle x gilt, wenn x kein Ereignis ist, dann ist x ein Medienereignis« ist logisch äquivalent zu »Für kein x gilt, x ist kein Ereignis und kein Medienereignis«.
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mit wäre aber die Transposition von Subjunktion 1, formal ¬ME ¬E, insofern unbrauchbar oder sinnlos, als es gerade kein ¬ME gäbe, von dem man auf ¬E schließen könnte. Entsprechendes würde auch für die Subjunktion 1 selbst gelten, E ME, da einzig auf etwas geschlossen werden könnte, was bereits bekannt wäre, weil es ja in jedem Fall gelten müsste, namentlich ME: »Es existiert ein Medienereignis«. Dagegen stellen die Subjunktionen 1 und 4 inklusive ihrer Transpositionen sinnvolle Aussagen dar, um das Verhältnis von Ereignissen und Medienereignissen im Rahmen einer Korrespondenztheorie der Medien zu beschreiben. Unter der axiomatischen Annahme, dass Ereignisse als korrespondierende Ereignisse aufgefasst werden, gilt Subjunktion 1: »Wenn ein Referenzereignis existiert, dann existiert auch ein Medienereignis«. Das heißt, wenn ein Korrespondenzereignis existiert, der Vordersatz also wahr ist, muss auch ein Medienereignis existieren, der Nachsatz also ebenfalls wahr sein; was korrespondenztheoretisch evident ist, da ja Ereignisse gerade als Referenz- oder Korrespondenzereignisse von Medienereignissen verstanden werden: Der Fall, dass ein Referenz- oder Korrespondenzereignis und kein dazugehöriges Medienereignis existiert, bleibt dagegen für nicht-fiktionale Medienereignisse im Rahmen einer korrespondenztheoretischen Axiomatik ausgeschlossen.63 Möglich wäre der Fall, dass ein Ereignis und kein Medienereignis existiert, nur dann, wenn man anstatt eines Referenzereignisses ein Ereignis adressieren würde. Ein Ereignis kann tatsächlich existieren, wenn kein Medienereignis existiert, allerdings nur im Rahmen epistemologischer Aussagen und damit zwar im Rahmen einer korrespondenztheoretischen Epistemologie, nicht aber im Rahmen einer korrespondenztheoretischen Medienepistemologie. Diese spricht über das Verhältnis der Existenz von Medienereignissen zur Existenz von referenziellen Ereignissen, vielleicht sogar über die Existenz von autonomen, weil referenzlosen Medienereignissen, nicht aber über das Existieren von Ereignissen an sich. Wenn nun also im Rahmen einer korrespondenztheoretischen Medienepistemologie mittels der Subjunktion 1 sinnvoll das Verhältnis des Ereignisses zum Medienereignis beschrieben wird, dann auch mittels der formal äquivalenten Transposition, wie deren Ausformulierung zeigt: »Wenn kein Medienereignis existiert, dann existiert auch kein Referenzereignis« (Trans. 1). Ebenso erscheinen die Subjunktion 4 und deren Transposition 63 | Der Fall ist ausgeschlossen oder – wenn man so will – existiert nicht (¬ ), weil prä di katenlogisch gilt: ¬ (x) E(x) ¬ME(x). Diese Aussage ist nun logisch äquivalent zu (x) E(x) ME(x), also zur Subjunktion 1, womit wiederum die Gültigkeit von Subjunktion 1 bestätigt wäre.
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in ihren Ausformulierungen als sinnvolle korrespondenztheoretische Aussagen: »Wenn kein Referenzereignis existiert, dann existiert auch kein Medienereignis« (4) und umgekehrt »Wenn ein Medienereignis existiert, dann existiert auch ein Referenzereignis« (Trans. 4). Wiederum ist qua Definition also der Fall ausgeschlossen, dass ein Medienereignis und kein dazugehöriges Referenzereignis existiert:64 Nachrichten als Medienereignisse gibt es korrespondenztheoretisch nur mit Referenzereignissen, wenn es sie denn gibt. Anders liegt der Sachverhalt, wenn man im Rahmen einer korrespondenztheoretischen Medienepistemologie von Fiktionen spricht: Ein Spielfilm, eine Fernsehserie oder ein Computerspiel kann sich abbildend auf (reale) Ereignisse beziehen, muss es aber nicht. Wenn beispielsweise das Computerspiel Conflict Desert Storm (SCi Games 2001) genauso wie der Spielfilm Jarhead (R: Sam Mendes, USA 2005) auf den Golfkrieg im Jahre 1991 referieren, in beiden Fällen auf die Kampfhandlungen der US-amerikanischen Bodentruppen, kann man zwar die mediale Darstellung für realistisch oder unrealistisch halten, aber dass sich ein Spiel oder ein Spielfilm überhaupt (wie realistisch auch immer) auf ein historisches Ereignis bezieht, ist etwas, das man nicht von vornherein oder notwendig von beiden erwartet. Ebenso wenig erwartet man das beispielsweise von Stanley Kubricks Dr. Strangelove (UK/USA 1964), von einem Film also, der von einen dritten Weltkrieg in Form eines globalen Atomkriegs handelt. Spricht man jedoch von der Berichterstattung, von Nachrichten über einen Krieg, dann setzt man einen Realitätsbezug gerade voraus und fühlt sich getäuscht, wenn die Nachrichten, wie es während des Golfkriegs offensichtlich der Fall war, unrealistisch oder falsch sind. Somit kann es im Rahmen von Fiktionen neben dem (bekannten) Fall, dass ein Medienereignis über ein entsprechendes Referenzereignis verfügt,65 auch den Fall geben, dass ein Medienereignis über kein Referenzereignis verfügt.66 Letzteres schließt jedoch die Wahrheit der Subjunktion 4 und damit auch ihrer Transposition aus:67 Würde man nämlich den Satz »Wenn ein Medienereignis existiert,
64 | Prädikatenlogisch: ¬ (x) ME(x) ¬E(x) (x) ¬E(x) ¬ME(x), wobei (x) ¬E(x) ¬ME(x) die Subjunktion 4 prädikatenlogisch abbildet (vgl. auch Anm. 63). 65 | (x) ME(x) E(x), sprich: »Für mindestens ein x gilt, x ist ein Medienereignis und ein Ereignis«. 66 | (x) ME(x) ¬E(x), sprich: »Für mindestens ein x gilt, x ist Medienereignis und kein Ereignis«. 67 | (x) ME(x) ¬E(x) ¬[ (x) ¬E(x) ¬ME(x)], wobei (x) ¬E(x) ¬ME(x) die Subjunktion 4 prädikatenlogisch abbildet.
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dann existiert ein Referenzereignis« (Trans. 4) im Rahmen einer Korrespondenztheorie ernsthaft behaupten wollen, müsste beispielsweise im Fall von Kubricks Dr. Strangelove gelten, dass aus dem Existieren des globalen Atomkriegs im Film, dessen Existieren als ein – zumindest ähnliches – Referenzereignis auch über den Film hinaus tatsächlich, real oder historisch folgt.68 Die Gültigkeit von Subjunktion 1 bleibt davon hingegen unberührt. Man müsste Subjunktion 1 nur dann aufgeben, wenn der Fall möglich wäre, dass ein Referenzereignis existiert, genauer: ein Ereignis und kein dazugehöriges Medienereignis.69 Damit wäre jedoch der Rahmen einer Korrespondenztheorie der Medien gesprengt, da, wie gesehen, Aussagen über Ereignisse an sich und unabhängig von korrespondierenden Medienereignissen vielleicht in den Bereich der Erkenntnistheorie, definitiv aber nicht in den Bereich einer Medientheorie und damit auch nicht einer Korrespondenztheorie der Medien fallen. Für die formale Beschreibung eines Fiktionalitätskonzepts im Rahmen einer korrespondenztheoretischen Medientheorie würde dies wiederum bedeuten, dass nur noch die Subjunktion 1 (samt ihrer Transposition) gilt. Damit wäre jedoch letztlich nichts mehr ausgesagt. Das liegt daran, dass dann, ausgehend vom Vorliegen eines konkreten Medienereignisses, keine Schlüsse mehr möglich sind: Es kann lediglich noch vom Vorliegen eines Referenzereignisses auf das Vorliegen eines Medienereignisses geschlossen werden (Subj. 1) oder von der Nichtexistenz eines Medienereignisses auf die Nichtexistenz eines Referenzereignisses (Trans. 1). Da ja nun weder ME ¬E (Trans. 2) noch ME E (Trans. 4) gelten sollen, also beim Vorliegen eines Medienereignisses weder auf die Existenz noch die Nichtexistenz eines Referenzereignisses geschlossen werden kann, gilt formal schließlich ME E ¬E: »Wenn ein Medienereignis existiert, dann existiert ein Referenzereignis oder kein Referenzereignis«.70 ME E ¬E stellt allerdings eine Tautologie dar. Die Aussage ist immer wahr, was nachvollziehbar wird, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Subjunktionen nur dann 68 | Das bedeutet allgemein formuliert: Wenn der Vordersatz (hier: »Ein Medienereignis existiert«) wahr ist, dann darf der Nachsatz (hier: »Ein Referenzereignis existiert«) nicht falsch sein. Der Nachsatz muss wahr sein, während aus einem falschen Vordersatz Beliebiges, ein wahrer oder falscher Nachsatz, folgt. Im Folgenden dazu noch ausführ licher. 69 | (x) E(x) ¬ME(x) ¬[ (x) E(x) ME(x)], wobei (x) E(x) ME(x) die Subjunktion 1 prädikatenlogisch abbildet. 70 | Das metasprachliche ›oder‹, genauer: ›und/oder‹, formuliert die Disjunktion ( ) aus. Vgl. auch Anm. 71.
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falsch sind, wenn der Vordersatz wahr und der Nachsatz falsch ist. Der Nachsatz kann aber niemals falsch werden, da nun etwas oder das genaue Gegenteil davon gelten soll. Ergänzend zu dem, was einleitend zu Tautologien als synthetischen Aussagen angemerkt wurde, lässt sich die Struktur von derartigen Aussagen trefflich auch an einer ›Bauernregel‹ verdeutlichen, welche ihre Pointe aus ihrer tautologischen Struktur zieht: Wenn der Hahn kräht auf dem Mist (p), dann ändert sich das Wetter (q) oder es bleibt, wie es ist (¬q), formal p q ¬q. Die Bauernregel ist immer wahr, die Vorhersage immer richtig, weil sie gerade nichts, das heißt alle Möglichkeiten, vorhersagt. Der Satz ist immer und unbestreitbar wahr; ob er auch komisch ist, dar über darf dagegen gestritten werden. Angewandt auf Fiktionen im Rahmen von Korrespondenztheorien hieße das jedoch, dass sie, weil tautologisch, alles und damit nichts Bestimmtes sind. Man könnte allerdings auch davon ausgehen, dass Fiktionen sich korrespondenztheoretisch dahingehend von Nicht-Fiktionen unterscheiden, dass die Ersteren sich dem bisherigen Beschreibungsraster entziehen, und etwa Folgendes meinen: Für Fiktionen gilt korrespondenztheoretisch ME ¬ME, »Es existiert entweder ein Medienereignis oder es existiert kein Medienereignis«,71 und zwar unabhängig von Referenzereignissen. Allerdings scheint das zum einen kaum mehr der Beschreibung dessen, was man mit Fiktionen korrespondenztheoretisch adressiert, zu entsprechen. Zum anderen lässt diese Beschreibung von fi ktionalen Medienereignissen eine Korrespondenztheorie der Medien nicht mehr homogen erscheinen. Die strukturellen Beschreibungen von fiktionalen und nicht-fiktionalen Medienereignissen gingen so komplett auseinander: Medienereignisse wären einmal strikt in Abhängigkeit von und einmal gänzlich unabhängig von Korrespondenzereignissen definiert. Während man die Wahrheit eines Medienereignisses – im Normalfall einer Nachricht – an einem korrespondierenden Ereignis abgleicht, das Medienereignis also wahr ist, wenn es dem Korrespondenzereignis ähnlich ist, und falsch, wenn es ihm unähnlich ist, soll nun zugleich oder daneben überhaupt kein Referenzereignis mehr existieren, auf das sich das Medienereignis beziehen lässt. In diesem Fall wäre das Medienereignis eine reine mediale Inszenierung ohne 71 | Der Kontravalenzoperator ( ) schließt hier im Gegensatz zur Disjunktion ( ) den Fall, in dem beides zugleich wahr ist, aus. Der Kontravalenzoperator reduziert, wenn man so will, das einschließende ›und/oder‹ um das ›und‹ zu einem ausschließenden ›entweder-oder‹. Zu Problemen, die sich aus der Aussage selbst ergeben, im Folgenden noch ausführlich.
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ein außermediales Referenzereignis. Für Fiktionen ist das zwar nicht nur denkbar, sondern um den Preis einer heterogenen Theorie scheinbar die einzige sinnvolle Beschreibung. Auf Nachrichten ist das – gleichsam im Zuge einer Rehomogenisierung – jedoch nicht anwendbar. Für Nachrichten und jede Art von Format mit realistischem Anspruch würde die Absenz eines Referenzereignisses nicht nur eine Falschaussage oder Lüge, sondern gleichsam den Worst Case der Lüge darstellen, nämlich den Fall einer Lüge, die nicht nur ihr Referenzereignis falsch darstellt, sondern den Realismus von realistischen Formaten (Nachrichten, Dokumentationen etc.) selbst infrage stellt. Ob man diesen Fall noch adressiert, wenn man im Rahmen eines korrespondenztheoretischen Diskurses von einer Lüge spricht, ist mehr als zweifelhaft. Vielmehr würde sich hier eine Anomalie im korrespondenztheoretischen Mediendiskurs offenbaren: Die Grenzen des Sprachspiels wären erreicht; der korrespondenztheoretische Diskurs könnte genau diesen Fall, den Fall einer Nachricht ohne außermedialen Referenten nicht mehr sinnvoll darstellen. Es müsste demzufolge entweder eine nicht-fiktionale Nachricht als Fiktion, non-fiction as fiction, beschrieben werden, was jedoch nur um den Preis des Widerspruchs möglich wäre, oder man vermeidet diesen Widerspruch: Dann bleibt eine Korrespondenztheorie der Medien jedoch heterogen, weil in ihrer Beschreibung von fiktionalen und nicht-fiktionalen Ereignisstrukturen wenn nicht widersprüchlich, so doch zumindest ebenso inkonsequent wie ›unregelmäßig‹. Die referenzlose Nachricht, die sich im korrespondenztheoretischen Diskurs noch als Anomalie darstellt, soll schließlich in den Mittelpunkt immanenztheoretischer Ansätze rücken. Baudrillard etwa wird, was sich bereits in dessen Konzept der Dissuasion andeutet, genau von einem solchen referenzlosen Medienereignis ausgehen. Somit lässt sich – bereits vorausdeutend – in Anlehnung an Thomas Kuhn und bezogen auf die Etablierung eines immanenztheoretischen Ansatzes postulieren: »Das Bewußtsein der Anomalie eröffnet eine Periode, in der Begriffskategorien umgemodelt werden, bis das anfänglich Anomale zum Erwarteten geworden ist« (1996: 76). Das kann jedoch nicht geschehen, ohne im Zuge der Modellierung einer neuen Theorie wiederum neue Anomalien72 und, wie sich zeigen wird, darüber hinaus unauflösbare Aporien73 zu erzeugen. 72 | Auf der letzten These beruht letztlich die autopoietische und per definitionem infinite Dynamik des Kuhn’schen Paradigmenwechsels. 73 | Als ›Aporien‹ bezeichne ich grob, aber weitgehend konsistent etwa zur Definition von Ritter et al. (1971–2007, Bd. 1, 1971: 448f.) »Selbstwidersprüche«, die Widersprüche im formalen Sinn sein können, es aber nicht sein müssen.
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Zunächst stellt sich aber die Frage, inwieweit ein korrespondenztheoretischer Ansatz mittels Modifi kation in eine konsistentere Struktur zu überführen ist, indem anhand eines zusätzlichen kausalistischen Axioms eine massenmediale Korrespondenztheorie gleichsam an ihrem erkenntnistheoretischen Vorbild geschult wird.
Kausalität Eines der Hauptwerke, wenn nicht das Hauptwerk der abendländischen Erkenntnistheorie, die Kritik der reinen Vernunft (1781/87)74, leitet Immanuel Kant mit der Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori ein und wird schließlich den Satz von der Kausalität, im Einzelnen das »Kausalgesetz«, nach dem nichts ohne Ursache geschieht, und das »Kausalprinzip«, nach dem gleiche Ursachen gleiche Wirkungen hervorrufen (Mittelstraß 1984: 372f.), aus ebensolchen Urteilen ableiten: Die eigentliche Aufgabe der reinen Vernunft ist nun in der Frage enthalten: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Daß die Metaphysik bisher in einem so schwankenden Zustande der Ungewißheit und Widersprüche geblieben ist, ist lediglich der Ursache zuzuschreiben, daß man sich diese Aufgabe und vielleicht sogar den Unterschied der analytischen und synthetischen Urteile nicht früher in Gedanken kommen ließ. (Kant 1995: 58f.)
Kant kritisiert gleich im Anschluss David Hume, »der dieser Aufgabe unter allen Philosophen noch am nächsten« gekommen sei, jedoch »bloß bei dem synthetischen Satz der Verknüpfung der Wirkung mit ihren Ursachen (principium causalitates) stehen blieb« und, so Kant weiter, glaubte, »daß ein solcher Satz a priori gänzlich unmöglich« sei (1995: 95). Kant macht nun genau das möglich, indem er sowohl den Begriff ›a priori‹ als auch den Begriff ›synthetisch‹ erkenntnistheoretisch auslegt: So sieht er synthetische Urteile a priori als eine Kategorie von Aussagen an, »die nicht falsch sein können, obwohl ihre Bedeutung das offen lässt« (Tugendhat/Wolf 1993: 43). Diese Aussagen sind in der Bestimmung Kants synthetisch, weil ihre Wahrheit oder Falschheit insofern offenbleibt, als sie sich nicht allein aus der Bedeutung der Begriffe selbst ergibt. Zugleich
74 | So die Veröffentlichungsjahre der ersten und der zweiten, von Kant überarbeiteten und erweiterten, Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft. Ich zitiere die Kritik im Folgenden ohne die üblichen Verweise auf die jeweilige Ausgabe nach Kant (1995).
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sollen diese Aussagen a priori und somit unabhängig von der sinnlichen Wahrnehmung wahr sein, indem sie als ›notwendig‹ 75 gelten: Alles, was geschieht, hat eine Ursache. In dem Begriff von etwas, das geschieht, denke ich zwar ein Dasein, vor welchem eine Zeit vorhergeht etc., und daraus lassen sich analytische Urteile ziehen. Aber der Begriff einer Ursache liegt ganz außer jedem Begriffe, und zeigt etwas von dem, was geschieht, Verschiedenes an, ist also in dieser letzteren Vorstellung gar nicht mit enthalten. Wie komme ich denn dazu, von dem, was überhaupt geschieht, etwas davon ganz Verschiedenes zu sagen, und den Begriff der Ursache, ob zwar in jenem nicht enthalten, dennoch, als dazu und sogar notwendig gehörig, zu erkennen. Was ist hier die Unbekannte X, worauf sich der Verstand stützt […]? Erfahrung kann es nicht sein, weil der angeführte Grundsatz nicht allein mit großer Allgemeinheit, sondern mit dem Ausdruck der Notwendigkeit, mithin gänzlich a priori und aus bloßen Begriffen, diese zweite Vorstellung zu der ersteren hinzufügt. (Kant 1995: 54)
Synthetische Urteile können also a priori sein, indem sie notwendig sind: »Findet sich […] ein Satz, der zugleich mit seiner Notwendigkeit gedacht wird, so ist er ein Urteil a priori« (1995: 46). Und notwendige synthetische Urteile sind gerade solche, die als a priori gelten können. Formal hat man es hier mit einem Äquivalenzverhältnis zu tun. Die Aussage A »Ein synthetisches Urteil ist notwendig« ist äquivalent zur Aussage B »Ein synthetisches Urteil ist a priori«, was dann problematisch ist, wenn »Notwendigkeit« darüber hinaus nicht bestimmt ist. In diesem Fall stellt »die Notwendigkeit einer Aussage kein unabhängiges Kriterium dafür da, dass sie apriorisch ist« (Tetens 2006: 39). Notwendigkeit wäre als apriorisch, und zwar nur als apriorisch, definiert, womit die Aussage letztlich auf die Tautologie »Wenn ein synthetisches Urteil apriorisch ist, ist es apriorisch« hinausliefe. Eine zusätzliche Bestimmung von Notwendigkeit, die bei Kant eher implizit vorhanden ist, steckt in der Allgemeinheit notwendiger Aussagen.76 Das meint in etwa, dass apriorische Aussagen allgemein und deshalb not75 | Ich weise an dieser Stelle ausdrücklich darauf hin, dass der Begriff genauso wie der Begriff ›unmöglich‹ nur dann, wenn dies explizit so ausgewiesen ist, im Sinne der Modallogik benutzt wird. Zu Kants Zeiten etwa war eine solche noch nicht ansatzweise formuliert. 76 | Holm Tetens kritisiert auch das Zusatzkriterium der Allgemeinheit, indem er es anders, buchstäblich strenger, interpretiert: »›Strenge Allgemeinheit‹ entpuppt sich als eine andere Bezeichnung dafür, dass die Aussagen nicht empirisch, sondern apriorisch
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wendig sind, weil wir »uns nicht denken« können, »dass es sich anders verhalten könnte. […] Wir Menschen können« uns nach Kant z.B. »nicht denken, dass […] etwas geschehen kann, was keine Ursache hat« (Tugendhat/Wolf 1993: 43). Einer zirkulären Argumentation der wechselseitigen Bestimmung von Notwendigkeit und Apriorismus wirkt Kant zudem dadurch entgegen, dass er das Konzept der »Bedingung a priori der Möglichkeit der Erfahrung« einführt (1995: 132). Dieses beschreibt die – zunächst einmal unabhängig von ihrem Apriorismus – notwendige Voraussetzung dafür, dass Erfahrungen, so wie wir (als Menschen) sie machen, überhaupt erst zustande kommen können. Insofern sind diese Bedingungen von Erfahrung für die »Möglichkeit der Erfahrung« einerseits notwendig, andererseits sind sie als transzendentale Voraussetzungen von der sinnlichen Erfahrung selbst insofern unabhängig, als sie die Bedingung sinnlicher Wahrnehmung a priori und eben nicht deren Folge a posteriori, nicht Teil der Wahrnehmung, sondern deren Voraussetzung sind. Zu solchen transzendentalen, also im Rahmen der Bedingung der Möglichkeit beschreibbaren, Entitäten zählen für Kant nicht nur die Kategorien Raum und Zeit sowie die Kausalität als einer der »Grundsätze des reinen Verstandes« (1995: 196), sondern auch das ›Ding an sich‹: Dieses ist selbst zwar außerhalb der Erfahrung oder Wahrnehmung, muss aber als Ursache von Erfahrungen – im Sinne eines synthetischen Urteils a priori – notwendig gedacht werden: Kant möchte offenbar betonen, dass wir die Dinge an sich überhaupt nur denken und nicht erkennen können. Indem dieses Denken (ohne Anschauung!) das Transzendente zwar nicht erkennt, aber immerhin denkt, ist es als bloßes Denken die Erfahrung transzendierend, also im Sinne der Terminologie Kants ›transzendental‹. […] Aus dem Grund nennt Kant offensichtlich dasjenige, wovon wir nur Erscheinungen erkennen, […] nicht ein ›transzendentes‹ Ding an sich, sondern einen ›transzendentalen‹ Gegenstand. (Gölz 2008: 115)
Somit erscheint bei Kant das Ereignis vor der Wahrnehmung zwar nur noch als eine Vorstellung; es ist als Ursache der Erfahrung nur gedacht, aber es wird zugleich auch als notwendige Ursache gedacht: Die Vorstellung einer Erfahrung ohne einen Auslöser als dessen transzendentale Ursache ist – ganz im Sinne des Kausalgesetzes – unmöglich, das heißt, sie kann nicht (sinnvoll) gedacht werden. sind. Strenge Allgemeinheit ist daher ebenso wenig wie Notwendigkeit ein von Kant unabhängig expliziertes Kriterium, dass eine Aussage a priori wahr ist« (2006: 39).
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Damit führt Kant das, was mit einer ›Welt der Tatsachen‹ im Rahmen logischer Korrespondenztheorie als Relat einer Aussage gesetzt wird, erkenntnistheoretisch gleichsam an seine äußerste Grenze: Das Relat eines wahrgenommenen Ereignisses existiert als ›Ereignis an sich‹ nur noch als transzendentale Vorstellung. Vor allem verweist Kants Argumentation aber darauf, wie zwangsläufig Korrespondenztheorien in ihrer Ausformulierung die Kategorie der Kausalität oder genauer ein Kausalgesetz implizieren, nach dem nichts ohne Ursache, im Fall einer Korrespondenztheorie der Medien kein Medienereignis ohne ursächliches Korrespondenzereignis, gedacht werden kann. Nicht-fiktionale Medienereignisse fordern somit zwingend verursachende Korrespondenzereignisse einer extramedialen Realität 77, fiktionale Medienereignisse jedoch nicht, sodass im Rahmen von korrespondenztheoretischen Mediendiskursen wiederum all das gilt, was bereits ohne die kausalistische Zusatzannahme galt. Kausalität als Zusatzannahme stärkt somit zwar einerseits eine Korrespondenztheorie, die Nachrichten als wahre oder falsche Entsprechungen von realen Ereignissen auffasst; andererseits löst sie aber nicht das Problem der Inkohärenz der theoretischen Beschreibung von Fiktionalem gegenüber Nicht-Fiktionalem. Betrachtet man unter diesen Voraussetzungen nochmals die Subjunktionen 1 und 4, dann gelten nun ebenfalls die Sätze »Wenn ein Referenzereignis als Ursache existiert, dann existiert auch ein Medienereignis als dessen Wirkung« und »Wenn kein Referenzereignis als Ursache existiert, dann existiert auch kein Medienereignis als dessen Wirkung«. Ebenso gilt die Transposition von Subjunktion 4 »Wenn ein Medienereignis als Wirkung existiert, dann existiert auch ein Referenzereignis als dessen Ursache« sowie die Transposition von Subjunktion 1 »Wenn kein Medienereignis als Wirkung existiert, dann existiert auch kein Referenzereignis als dessen Ursache«. Formal ist das möglich, weil Subjunktionen, entgegen der Implikation des metasprachlichen Wenn-dann, gerade keine Vorzeitigkeit des Vordersatzes zum Nachsatz ausdrücken und damit per se keine Kausalverhältnisse implizieren. So stellt etwa der Satz »Wenn es regnet, dann wird es nass« ebenso wie der Satz »Wenn etwas ein Frosch ist, dann ist es ein Tier« eine Subjunktion dar, obwohl der erste Satz metasprachlich so etwas wie Kausalität impliziert und der zweite nicht. Man würde 77 | Der (epistemologischen) Vorsicht wegen sei hier einmal angemerkt, dass der Begriff der Realität nicht so etwas wie ›die Realität‹, sondern stets Realitätskonzepte im Rahmen der jeweils diskutierten oder angewandten Theorie, hier einer Korrespondenztheorie, adressiert.
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wohl kaum argumentieren wollen, dass das Tiersein ursächlich durch ein Froschsein bedingt ist. Vielmehr steht das Froschsein, ebenso wie das Regnen zur Nässe, in einer hinreichenden Beziehung zum Tiersein und umgekehrt das Tiersein, ebenso wie die Nässe zum Regnen, in einer notwendigen Beziehung zum Froschsein (das Hinreichende steht im Vordersatz, das Notwendige im Nachsatz). Ob ›Beziehung‹ dabei wie bei der Relation der begrifflichen Unterordnung ›Frosch-zu-Tier‹ oder dem Kausalverhältnis ›Regen-zu-Nässe‹ im ersten Fall als begriffslogische Bedingung und im zweiten Fall als kausallogische Folge interpretiert wird, ist abhängig von der jeweiligen Bedeutung der Begriffe des Vorder- und Nachsatzes, nicht aber vom Subjunktor selbst (und eben nicht allein davon, ob etwas im Vordersatz oder im Nachsatz steht).78 Entsprechend nicht-fiktionalen Nachrichten gilt unter dem Primat der Kausalität für Fiktionen wiederum, dass sie entweder mit ursächlichen Korrespondenzereignissen und allen daraus resultierenden Widersprüchen und Tautologien oder aber gänzlich unabhängig von nun kausalen Korrespondenzereignissen existieren sollen – und damit weiterhin um den Preis einer heterogenen und eigentlich den Namen nicht mehr verdienenden Korrespondenztheorie der Massenmedien. Damit stellt sich schließlich die Frage nach einer anderen, homogeneren Theorie zur Beschreibung massenmedialer Ereignisstrukturen.
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IMMANENZ THEORIE
Schenkt man abermals dem Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn Glauben, dann wurde »wiederholt demonstriert, dass auf eine gegebene Sammlung von Daten immer mehr als eine theoretische Konstruktion passt« (1996: 89). Für die theoretische Beschreibung von massenmedialen Ereignisstrukturen hieße dies, dass tatsächlich eine Wahl besteht, da mindestens eine Alternative zur Korrespondenztheorie der Massenmedien existiert. Eine solche Alternative bieten, wie sich bereits angedeutet hat, immanenztheoretische Medienkonzeptionen. Derartige Theorieansätze hatten gerade im Rahmen postmoderner respektive poststrukturalistischer Theoriebildung der 1970er und 1980er Jahre Konjunktur.79 Als einer der pro-
78 | Siehe hierzu auch Zoglauer (2008: 41) 79 | Siehe hierzu ausführlich Petersen (2010), wo ich die Immanenz als ein grundlegendes Konzept postmoderner Theorie und Textpraxis herausarbeite.
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minentesten Vertreter dieses Diskurses kann Jean Baudrillard mit seiner Simulationstheorie gelten. Massenmedien dissimulieren einerseits und simulieren andererseits Ereignisse einer extramedialen Realität, so die These Baudrillards. Das liest sich in dem bereits zitierten Essay Die Präzession der Simulakra von 1978 folgendermaßen: »Dissimulieren heißt fingieren, etwas, das man hat, nicht zu haben. Simulieren heißt fingieren, etwas zu haben, was man nicht hat. Das eine verweist auf Präsenz, das andere auf Absenz«. Über die Dissimulation heißt es dann genauer: »Beim Fingieren oder Dissimulieren wird also das Realitätsprinzip nicht angetastet: die Differenz ist stets klar, sie erhält lediglich eine Maske« (1978: 10). Realität wird also nicht oder verändert abgebildet – maskiert, verschwiegen und vertuscht. Erinnert man sich beispielsweise an die Darstellung des Irakkrieges 2003 auf CNN oder Fox während der ersten Kriegswochen, wird deutlich, was Baudrillard mit Dissimulation meint. Von den US-amerikanischen Fernsehsendern wurde damals ein hoch technisierter, sauberer und – in der ästhetisierenden Darstellung der eigenen überlegenen Kriegstechnik – sogar schöner Krieg inszeniert. Bilder ästhetisierter Technik und militärischer Erhabenheit wurden mit Darstellungen von Sachschäden kontrastiert: Man sah von Bomben und Marschflugkörpern zerstörte Häuser, die in der Regel menschenleer waren. So konnte der Irakkrieg in der fort währenden (Re-)Produktion der von Toten und Verletzten ›befreiten‹ Aufnahmen sowie einer Bildästhetik der technisch-militärischen Überlegenheit auf den Fernsehschirmen als ein Krieg ohne Opfer erscheinen.80 Heute weiß man oder glaubt man zu wissen, dass damit die Realität eines durchaus blutigen Militäreinsatzes der USA und ihrer Alliierten medial vertuscht und verschwiegen, sprich: dissimuliert wurde. Interessanterweise weiß man dies, wenn nicht sogar aus denselben, so doch wiederum aus den Medien. Aber selbst durch derartige Dissimulationsstrategien wird laut Baudrillard das Realitätsprinzip nicht infrage gestellt. Grundsätzlich kann man noch immer davon ausgehen, dass die Massenmedien sich abbildend auf reale Ereignisse beziehen. Auch wenn sie die Ereignisse falsch oder gerade nicht abbilden, eine Überprüfbarkeit des Wahrheitsanspruchs von Nachrichten scheint immer noch gegeben, da man ganz im Sinne korrespon denztheoretischer Ereignisstrukturen glaubt, die Nachricht grundsätzlich an der Realität eines extramedialen Ereignisses abgleichen zu können: 80 | Ich führe das in Petersen (2004) in einer Stichprobenanalyse des Bildmaterials der zweiten Kriegswoche des Irakkrieges in einem Vergleich der CNN Headline News mit deutschen Nachrichtenformaten vor.
Kapitel 1: Realität massenmedialer Ereignisse Beim Fingieren oder Dissimulieren wird also das Realitätsprinzip nicht angetastet: die Differenz ist stets klar, sie erhält lediglich eine Maske. Dagegen stellt die Simulation die Differenz zwischen ›Wahrem‹ und ›Falschem‹, ›Realem‹ und ›Imaginärem‹ immer wieder in Frage. (Baudrillard 1978: 10)
Das soll geschehen, indem das Ereignis bloß noch medial simuliert, das heißt medial ein Medienereignis produziert wird, und zwar völlig unabhängig davon, ob ein reales Korrespondenzereignis existiert oder nicht. Und genau diese Simulationsstrategie beschreibt Baudrillard als den basalen Mechanismus der Massenmedien wie der Medien überhaupt: Massenmedien beziehen sich zunehmend und ausschließlich nur noch auf sich selbst, indem sie losgelöst von einer abzubildenden Realität fortwährend mediale Ereignisse produzieren, die nicht mehr auf ihre Wahrheit an der Realität korrespondierender Ereignisse überprüfbar sind. Für den Beobachter bedeutet diese Totalität der Medien, dass nun jeder Standpunkt, jeder Versuch einer Beobachtung und Beurteilung von Medieninhalten an die Medien selbst gebunden ist und das kritische Subjekt kein Vergleichsraster der Beurteilung außerhalb der Medien mehr hat. So kann es, der Terminologie Baudrillards folgend, in der Gegenwart einer medialen Hyperrealität – »jenseits von wahr und falsch« – keine Medienkritik und damit auch keine Medientheorie mehr geben (1978: 37, 1978a: 83). Baudrillard scheut sich nicht, diese These auch auf seine eigenen (postwissenschaftlichen) Reflexionen anzuwenden: [A]uch die folgenden Ausführungen sind nichts anderes als eine Simulationsübung. Ich bin nicht mehr in der Lage, etwas zu ›reflektieren‹, ich kann lediglich Hypothesen bis an ihre Grenzen vorantreiben, d.h. sie der Zone entreißen, in der man sich kritisch auf sie beziehen kann, und sie an den Punkt kommen lassen, nach dem es kein Zurück mehr gibt; ich lasse auch die Theorie in den Hyperraum der Simulation eintreten – sie verliert darin jede objektive Gültigkeit, gewinnt aber vielleicht an Zusammenhang, d.h. sie gleicht sich dem System an, das sie umgibt. (1990: 10)
»Ja, vielleicht«, möchte man Baudrillard antworten und zunächst einmal die Konsequenz seiner Überlegungen anerkennen. Neben dem forcierten Widerspruch des in die postmoderne Tradition wohl eingebetteten Topos einer unwissenschaftlichen Wissenschaft 81 werfen Baudrillards Ausfüh81 | Ich könnte hier auch analog der oben beschriebenen »unmöglichen Möglichkeit« von einem logischen Widerspruch sprechen, den es an dieser Stelle allerdings nicht zu
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rungen aber vor allem eine Frage auf, nämlich die nach dem »›Etwas‹, das der Vermittlung durch Medien exterior bleibt, das unangetastet in einem Außen verweilt« (Pias 2003: 283), die Frage also nach der Existenz der verlorenen Realität des extramedialen Ereignisses, das in der Abwesenheit seines Verlusts gleichsam durch das Baudrillard’sche Œuvre geistert. Baudrillard entwickelt die Geschichte des Verlusts einer extramedialen Realität in seinem Hauptwerk Der symbolische Tausch und der Tod aus dem Jahre 1976 anhand eines Dreistufenmodells.82 Dort entwirft er – in einem in seinen späteren Schriften kaum mehr anzutreffenden Bemühen um Systematik – eine dreistufige »Ordnung der Simulakr[a] 83« (1991: 77). Auf einer ersten Stufe, deren Beginn Baudrillard in die Renaissance zurückdatiert, soll der Mechanismus der Imitation dominieren, beispielsweise in der Nachahmung des menschlichen Körpers durch den Automaten oder von beliebigen Dingen durch das architektonische Imitat des Stucks: In den Kirchen und Palästen nimmt der Stuck alle Formen auf, imitiert alle Materialien, die Samtvorhänge, die Holzgesimse, die fleischigen Rundungen der Körper. Der Stuck zaubert aus dem unwahrscheinlichsten Durcheinander von Materien eine einzige neue Substanz, eine Art von allgemeinem Äquivalent für alle Materien, für alle theatralischen Gaukeleien geeignet, weil sie selbst eine Substanz der Repräsentation, Spiegel aller anderen ist. (1991: 82)
Dabei verweist das Imitat aber stets auf sein Vorbild. So wie der Stuck Gegenstände repräsentiert, hat der »Automat […] nur die Bestimmung, immer wieder mit dem Menschen verglichen zu werden« (1991: 84). Das soll jedoch nicht mehr für den Roboter gelten, den Baudrillard auf der zweiten Simulationsstufe, der Stufe der Produktion oder Reproduktion, ansiedelt. Der Roboter »ist nicht mehr auf eine Ähnlichkeit mit dem Menschen ausgerichtet« (1991: 85). Der Roboter vergleicht sich nicht mehr mit dem Menschen, sondern er ersetzt ihn, indem er seine Arbeit übernimmt. So wird bei Baudrillard der Roboter zum Symbol oder genauer: kritisieren oder gar aufzulösen gilt, sondern der analog Derridas Terminologie als eine für die postmoderne Diskussion typische Polemik gegen eine binäre Logik distinkter Begriffe bloß konstatiert werden soll (weiterführend Petersen 2010: 199ff.). Zu kritisieren sind im Folgenden allerdings die Konsequenzen einer derartigen Konzeption. 82 | Siehe zum Folgenden Petersen (2010: 213ff.), wo ich Baudrillards Thesen – allerdings mit einem anders gelagerten Schwerpunkt – bereits expliziere. 83 | In der zitierten deutschen Textfassung entgegen der üblichen Terminologie mit »Simulakren« übersetzt.
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zur partikularisierenden Synekdoche der Phase der Produktion als eine Strategie, die Realität in der unbegrenzten Reproduktion von künstlichen Dingen und Zeichen aufzulösen und die ursprüngliche Referenz mittels der seriellen Produktion identischer Artefakte zu überdecken. Die Simulation der dritten Stufe der Ordnung der Simulakra soll sich schließlich vollständig von einem realen Relat entkoppeln, indem sie sich nicht einmal mehr negativ auf das Reale bezieht, das es auf der zweiten Stufe noch reproduktiv zu verdecken galt. Die Simulation referiert nur mehr auf sich selbst, wenn sie ihre eigenen Modelle einer simulierten Realität in einer Hyperrealität ohne realen Ursprung und ohne Ursache generiert: Es handelt sich dabei um eine Verkettung von Ursache und Wirkung, denn alle Formen ändern sich von dem Moment an, wo sie nicht mehr mechanisch reproduziert, sondern im Hinblick auf ihre Reproduzierbarkeit selber konzipiert werden, wo sie nur noch unterschiedliche Reflexe eines erzeugenden Kerns, des Modells, sind. Es gibt keine Imitation des Originals mehr wie in der ersten Ordnung, aber auch keine Serie mehr wie in der zweiten Ordnung: es gibt Modelle, aus denen alle Formen durch leichte Modulation von Differenzen hervorgehen. Nur die Zugehörigkeit zum Modell ergibt einen Sinn, nichts geht mehr einem Ziel entsprechend vor, alles geht aus dem Modell hervor […]. (1991: 88f.) 84
In Die Präzession der Simulakra präzisiert Baudrillard das Stadium der Simulation, in dem wir uns befinden sollen, nochmals an seinem Konzept der Hyperrealität. Dabei generiert gerade das Spezifische der Simulation eine Hyperrealität: Wie Norbert Bolz es treffend formuliert, »unterscheidet sich die Simulation [von der Fiktion] dadurch, daß sie zwar auch die Realität unterläuft und hintergeht, dabei aber doch eine Wirklichkeit schaff t«, nämlich eine Hyperrealität, »die sich der Antizipationskraft und Zirkularität von Modellen verdankt« (1994: 100). »Zirkularität« meint in diesem Zusammenhang den von einem realen Referenten losgelösten Aspekt der autopoietischen Generierung von Zeichen, also von Medieninhalten, die sich im Rahmen ihrer eigenen Grammatik unabhängig von einer extramedialen Realität (immanent) fortschreiben. »Antizipationskraft« meint die Auflösung von Ursache und Wirkung, der Ursache eines prämedialen Ereignisses und dessen Wirkung auf die Medien. Stattdessen formen die Medien die Ereignisse bereits vor, sodass die Kausalität des Abbildungsprozesses ebenfalls durch Zirkularität ersetzt wird. 84 | Ich erlaube mir – auch im Folgenden – Kursivsetzungen im Zitat zu unterschlagen, wenn diese nicht zum besseren Verständnis des Zitats beitragen.
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Plausibel werden Baudrillards Überlegungen, wenn man sich mit Bolz eines vor Augen führt: »Heute geschehen alle Ereignisse schon im Blick auf die Medien, die sie aufzeichnen und ausstrahlen. Was geschieht, wird von seinem Spiegelbild auf dem Bildschirm geformt. Welt ereignet sich im Spiegelbild der Massenmedien« (1994: 98). Ein Paradebeispiel für dieses Phänomen sind die Anschläge des 11. Septembers. Gilt es inzwischen doch als ein Allgemeinplatz, dass die Anschläge von vornherein auf ihre mediale Vervielfältigung hin angelegt waren, oder besser gesagt: angelegt sein mussten. Schließlich konnte sich erst in den Massenmedien die terroristische Botschaft in ihrem ganzen Ausmaß und in ihrer vollen Reichweite entfalten. Aufgrund der ausgesprochen guten Medienversorgung New Yorks und bei solch einem grausamen Spektakel, wie es der Angriff auf die Twin Towers bot, konnten sich die Attentäter ganz auf die (unfreiwillige) Unterstützung der Massenmedien verlassen: Vor der weltweiten Medienvermittlung stand die ›Produktion‹ des Terroranschlags als Sendeangebot. Die zeitliche Verzögerung von 18 Minuten zwischen beiden Angriffen ermöglichte es den Journalisten, ihre Bildtechnik zu installieren und so die Live-Aufnahmen weltweit zu verbreiten. Auch die Wahl des Schauplatzes und die visuelle Inszenierung der Handlungsabfolge erwiesen sich als medienwirksam. (Bleicher 2003: 68)
Man unterstellt den Attentätern also nicht zu viel, indem man behauptet, dass die Anschläge bereits auf ihre Medienwirksamkeit hin konzipiert und durchgeführt wurden und die Massenmedien die Anschläge somit in ihrer Form überhaupt erst ermöglicht haben: Medien und Terrorismus potenzieren und bedingen sich gegenseitig, das eine wird zur Triebfeder des anderen, das Verhältnis mit Bolz zirkular. Indem Baudrillard die hyperrealen Effekte an immer wieder neuen Beispielen durchdekliniert, geht es ihm in Die Präzession der Simulakra wie in seinem gesamten Œuvre schließlich darum, herauszustellen, wie im Hyperrealen »die Differenz zwischen ›Wahrem‹ und ›Falschem‹, zwischen ›Realem‹ und ›Imaginärem‹ immer wieder in Frage« (1978: 10) gestellt und aufgelöst wird, sodass es zuletzt keinen Sinn mehr machen soll, nach dem Wahren und Realen selbst wie nach deren Verhältnis zum Falschen, zum Schein und zum Imaginären zu fragen. Will man sich aber nicht bloß in der Attitüde einer fatalistischen Indifferenz gefallen, bleibt der Status der von Baudrillard in ihrer Abwesenheit immer wieder beschworenen Realität äußerst problematisch, da diese in ihrer Negation als ›das Andere‹ der Simulation und als das vom Imaginären
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nicht mehr Unterscheidbare zugleich gesetzt und geleugnet wird, sodass das Reale bei Baudrillard stets seltsam undefiniert – weil ebenso undifferenziert wie undifferenzierbar – bleibt. Allerdings bietet Baudrillards Simulationstheorie aufgrund ihrer begrifflichen wie argumentativen Offenheit mindestens zwei Lesarten.85 Dabei handelt es sich um eine immanenztheoretische, die hier expliziert wurde, und eine interdependenztheoretische Lesart, auf die im folgenden Abschnitt zur Interdependenztheorie eingegangen werden soll. Hier jedoch zunächst zu den Implikationen eines immanenztheoretischen Diskurses.
Massenmediale Ereignisstrukturen 3 Um nun systematisch nach der Struktur massenmedialer Ereignisse im Rahmen eines immanenztheoretischen Diskurses zu fragen, sollen im Folgenden Baudrillards Thesen wiederum an den Subjunktionen 1 bis 4 über prüft werden, und zwar auf der Basis folgender Prämissen: Ein strikter immanenztheoretischer Mediendiskurs setzt, Bolz’ Interpretation von Baudrillards Simulationstheorie folgend, axiomatisch voraus, dass keine Kausalbeziehungen eines verursachenden Ereignisses und eines dadurch verursachten Medienereignisses mehr unterstellt werden können. Derartige Kausalitätsbeziehungen haben in dem Moment als Erklärung ausgedient, in dem Medienereignisse unabhängig von Referenzereignissen existieren sollen. Zugleich gilt diese Referenzlosigkeit von Medienereignissen nicht mehr ausschließlich, wie im Fall einer Korrespondenztheorie, für fi ktionale, sondern ausdrücklich auch für nicht-fiktionale Ereignisse wie 85 | Eine dritte Lesart eröffnet beispielsweise Lorenz Engell, wenn er über den Baudrillard’schen Symbolbegriff schreibt: »Natürlich ist hier einmal auf die Sonderbarkeit des Baudrillardschen Symbolbegriffs hinzuweisen. Anders als für andere Autoren [Lacan, Foucault, Pierce etc.] ist für ihn eine symbolische Ordnung nicht nur eine Frage von Organisation und Anordnung oder Disposition, sondern sie ist immer referentieller Natur, nämlich eingelassen in die sie begründende Praxis des symbolischen Tausches. Das dingliche Objekt tritt im Tausch als Konkretisierungsform der Praxis auf; zugleich mit jenem wird es liquidiert. Die Befreiung von Aussage und Funktion, die Ersetzbarkeit eines Dings durch ein anderes, die freie Kombinierbarkeit und Multifunktionalität betreiben also eine Vernichtung der Objekte als materielle Dinge. Sie sind bloß noch Systemeffekte« (2006: 191). Das materielle oder reale Objekt und mit ihm das Ereignis als Konstellation solcher Objekte erscheint hier (wenn ich Engell respektive dessen Baudrillard-Exegese richtig verstehe) insbesondere im Kontext des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch als ein seltsam Anwesend-Abwesendes, das im Moment seines Auftauchens als Symbol als Objekt verschwindet.
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Nachrichten. So werden Nachrichten ohne reale Referenzereignisse, wie bereits vorausdeutend angemerkt, mit dem Paradigmenwechsel vom korrespondenz- zum immanenztheoretischen Paradigma von der Anomalie nicht nur zum Normalfall, sondern zum eigentlichen und einzigen Fall immanenztheoretischer Modellbildung. Letzteres soll im Folgenden noch weiter expliziert werden. Zunächst aber erscheinen unter diesen Voraussetzungen sämtliche Aussagen, die eine Relation zwischen Medienereignissen und nicht-medialen Referenzereignissen annehmen, nicht mehr als sinnvoll. Das betriff t die Subjunktionen 1 und 4 sowie deren Transpositionen. Die Aussage »Wenn ein Referenzereignis existiert, dann existiert auch ein Medienereignis« (1) wird genauso obsolet wie »Wenn kein Referenzereignis existiert, dann existiert auch kein Medienereignis« (4). Diese Aussagen widersprechen ganz offensichtlich der Unabhängigkeit von Medienereignissen gegenüber Korrespondenzereignissen. Aber auch die anderen beiden Subjunktionen 2 und 3 (und deren Tanspositionen) lassen sich nicht widerspruchsfrei behaupten. Sowohl die Aussage »Wenn ein Referenzereignis existiert, dann existiert kein Medienereignis« (2) als auch die Aussage »Wenn kein Referenzereignis existiert, dann existiert ein Medienereignis« (3) behaupten mit einer Relation zwischen Ereignis und Medienereignis ganz augenscheinlich referenzielle Abhängigkeiten, die ein unabhängiges Medienereignis immanenztheoretisch gerade nicht aufweisen soll. Von Ereignissen an sich und unabhängig von Medienereignissen zu sprechen, verbietet sich wiederum im Rahmen einer Medienepistemologie von vornherein. Damit kann keine der vier Subjunktionen (samt Transpositionen) sinnvoll behauptet werden. Im Rahmen einer Immanenztheorie der Massenmedien gilt stattdessen: ME ¬ME, also im Sinne der formalen Beziehung der Kontravalenz ( ) und metasprachlich im Sinne eines ausschließenden ›oder‹ respektive eines ›entweder-oder‹: »Es existiert entweder ein Medienereignis oder es existiert kein Medienereignis«. Das heißt zugleich auch, dass kein ›sowohl-als-auch‹ und kein ›weder-noch‹ des Nicht-/Existierens von Medienereignissen gilt. Die gleichzeitige Existenz und Nichtexistenz eines Medienereignisses, formal: ME ¬ME, zu behaupten, würde gegen den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch verstoßen. Die Behauptung eines ›weder-noch‹ der Existenz oder Nichtexistenz von Medienereignissen, formal: ¬(ME ¬ME), würde gegen den Satz vom ausgeschlossenen Dritten verstoßen.86 86 | Beide Sätze, der vom ausgeschlossenen Widerspruch, ¬(p ¬p), und der vom ausgeschlossenen Dritten, p ¬p, sind (in einer zweiwertigen Logik) äquivalent.
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Unabhängige wie immanente Medienereignisse sind demnach in ihrer Existenz oder Nichtexistenz nicht mehr auf extramediale Ereignisse bezogen, schon gar nicht kausal; womit schließlich auch der Wahrheitsanspruch eines Medienereignisses, wenn es denn existiert, nicht mehr an einem extramedialen Referenzereignis überprüfbar ist. Das meint Baudrillard unter anderem,87 wenn er davon spricht, dass »[d]ie Simulation«, oder genauer: ein hyperreales Medienereignis, »die Differenz zwischen ›Wahrem‹ und ›Falschem‹« ebenso wie »zwischen ›Realem‹ und ›Imaginärem‹ immer wieder in Frage« stellt. Es wird laut Baudrillard ein »Realitätsprinzip« unterlaufen (1978: 10), das die Wahrheit oder Falschheit von Medienereignissen an realen Referenzereignissen überprüfbar machen könnte; eine solche Überprüfbarkeit wird immanenztheoretisch gerade obsolet. Dass eine derartige Annahme, entgegen dem sich in der Formalisierung bereits abzeichnenden Problem,88 zunächst nicht unplausibel erscheint, macht Baudrillard an einer Vielzahl von Beispielen deutlich; so etwa in einer Serie von drei Artikeln, die er kurz vor, während und nach dem Golfkrieg 1991 in der französischen Tageszeitung Libération publiziert hat. In den Artikeln mit den programmatischen Titeln »The Gulf War will not take place«, »The Gulf War: is it really taking place?« und – gleichsam als Fazit – »The Gulf War did not take place« feiert Baudrillard den Golfkrieg als ein hyperreales Medienereignis jenseits eines realen Korrespondenzereignisses.89 Dabei geht es ihm aber nicht etwa darum, die Ereignishaftigkeit der Golfkrise und der resultierenden militärischen Auseinandersetzung der alliierten mit den irakischen Truppen an sich infrage zu stellen. Baudrillard fragt in den drei Artikeln vielmehr danach, ob das, was – medial sichtbar – militärisch stattfinden wird, stattfindet und stattgefunden hat, überhaupt als Krieg bezeichnet werden kann. Sein Kernargument ist, dass das, was wir, und damit meint er die westlichen Beobachter eines Fernsehkrieges, geboten bekommen, nichts mehr mit dem zu tun hat, was wir als Krieg im ursprünglichen Sinne verstehen, nämlich eine gewalttätige Auseinandersetzung zwischen den Kämpfenden 87 | Auf weitere Implikationen der Aussage in ihrem Kontext komme ich – wie gesagt – noch zu sprechen. 88 | Der formallogisch versierte Leser wird ME ¬ME längst als Tautologie erkannt haben. Dazu aber erst im Folgenden. 89 | Ich beziehe mich auch im Folgenden mit Baudrillard (1995) auf die von Paul Patton übersetzten und einleitend kommentierten englischsprachigen Fassungen der Zeitungsartikel. Diese sind ursprünglich zwischen dem 4. Januar und dem 29. März 1991 erschienen.
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zweier Lager: »The war is both a non-event, an empty war in the sense that there is a lack of real engagement between the combatants, and an excessive, superabundant war in terms of quantity of personnel and material involved« (Patton 1995: 11). Der Golfkrieg oder genauer das, was man davon sieht, ist mit Baudrillard vor allem insofern kein Krieg, als man eine ›reale‹ Auseinandersetzung vermeidet,90 die überhaupt erst einen Gewinner zulassen würde: Durch den Einsatz elaborierter Kriegstechnik aufseiten der USA distanziert sich der eigene Soldat bis zur gänzlichen Kontaktlosigkeit von seinem Gegner. Durch das unverhältnismäßige Übergewicht der USA und ihrer Alliierten ist der Krieg schon vor seinem Beginn entschieden. Und durch die oder besser in der Medialisierung des Krieges wird der Krieg zu einem hyperrealen Spektakel. Es wird unklar, worauf sich die medialen Ereignisse der ›Kriegsdarstellung‹ noch beziehen lassen, woran ihr Wahrheitsanspruch überprüfbar sein soll. Insofern fand der Golfkrieg als ein Medienereignis losgelöst von einem, und das heißt letztlich: ohne ein Korrespondenzereignis statt: »The Gulf War did not take place« – nicht für den westlichen Fernsehzuschauer, nicht für die militärischen Strategen der alliierten Truppen und nicht einmal für die Piloten in den Kampfjets, denen sich der Gegner ebenso wie den Fernsehzuschauern in der Heimat nur als eben noch ansichtiges, dann schon verschwundenes Angriffsziel auf dem Bildschirm präsentierte. Die Existenz eines extramedialen Krieges an sich bleibt von Baudrillard allerdings unbestritten, er hält ihn bloß für massenmedial unzugänglich und in der Wirklichkeit seiner Ereignisse nicht mehr auf die Medienereignisse beziehbar.
Esse est percipi Ein erkenntnistheoretisches Analogon zu Baudrillards medientheoretischer Position bietet das von George Berkeley, dem späteren Bischof von Cloyne, in seiner Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis 171091 vorgelegte Esse-est-percipi-Argument. Berkeley entwickelt es, indem 90 | Noam Chomsky etwa sagt dazu an anderer Stelle: »As I understand the concept ›war‹, it involves two sides in combat, say shooting at each other. That did not happen in the Gulf« (zit. n. Patton 1995: 18). 91 | Ich beziehe mich im Folgenden auf die von Alfred Klemmt neu herausgegebene Übersetzung Friedrich Überwegs von 1979. Im Original existiert neben der ersten Fassung von 1710 noch eine von Berkeley überarbeitete zweite Fassung von 1734, die in der zitierten Übersetzung mit berücksichtigt wurde.
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er darauf hinweist, dass es nicht nur eine allgemein akzeptierte, sondern unwiderlegbare Annahme sei, dass man die Existenz nicht nur von Gedanken und Gefühlen im Bewusstsein ansiedelt, sondern dass die verschiedenen Sinneswahrnehmungen oder »Perzeptionen«, wie er sie nennt, im Bewusstsein existieren (1979: 26). Daraus schließt Berkeley, dass, welche Objekte auch immer aus der Perzeption gebildet werden, diese ebenfalls im Bewusstsein existieren: Daß weder unsere Gedanken noch unsere Gefühle noch unsere Einbildungsvorstellungen außerhalb des Geistes existieren, wird ein jeder zugeben. Es scheint aber nicht weniger evident zu sein, daß die verschiedenen Sinnesempfindungen oder den Sinnen eingeprägten Ideen, wie sie auch immer mit einander vermischt sein mögen (d.h. was für Objekte sie auch immer bilden mögen), nicht anders existieren können als in einem Geist, der sie perzipiert. (1979: 26)
Hieraus folgert er wiederum, dass die Existenz eines sinnlichen Objekts identisch mit seinem Perzipiertwerden durch das Bewusstsein sein muss, da alles, was dem Bewusstsein von einem sinnlich wahrnehmbaren Objekt zugänglich ist, die sinnliche Wahrnehmung des Objekts selbst ist; womit die Existenz des Objekts als sinnlich Wahrgenommenes nicht über das Bewusstsein hinausreicht. Demzufolge ist es laut Berkeley auch unsinnig, über ein materielles, das heißt ein bewusstseinstranszendentes, Sein der Dinge zu spekulieren: Denn was von einer absoluten Existenz nichtdenkender Dinge ohne irgendeine Beziehung auf ihr Perzipiertwerden gesagt zu werden pflegt, scheint durchaus unverständlich zu sein. Das Sein (esse) solcher Dinge ist ihr Perzipiertwerden (percipi). Es ist nicht möglich, daß sie irgendeine Existenz außerhalb der Geister oder denkenden Wesen haben, von denen sie perzipiert werden. (1979: 26f.)
Kant wird knapp 70 Jahre später das »Sein (esse) solcher Dinge« im erkenntnistheoretischen Diskurs nicht mehr als dem Bewusstsein transzendent, sondern ihm ursächlich als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung transzendental voraussetzen und damit auf neue Weise im Bewusstsein verankern. Berkeley bleibt jedoch nicht nur gegenüber einem sinnvollen Sprechen über ›Dinge an sich‹ skeptisch, sondern lehnt einen derartigen Diskurs schlichtweg ab. Das geschieht unter anderem mittels eines Ökonomiearguments:
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Terror und Propaganda Hiernach leuchtet ein, dass die Produktion von Ideen oder Sinneswahrnehmungen in unserem Geist kein Grund sein kann, Materie oder körperliche Substanzen vorauszusetzen, da anerkannt wird, dass die Produktion mit dieser Voraussetzung und ohne sie gleich unerklärlich bleibt (1979: 35).
Tatsächlich ist es ein wissenschaftstheoretisch sinnvolles Argument, eine Theorie gegenüber einer anderen zu bevorzugen, weil sie mit weniger Annahmen – in diesem Fall ohne die Annahme eines ›Dings an sich‹ – auskommt. Allerdings schleicht sich bereits an dieser Stelle eine zusätzliche Instanz ein, die Berkeleys Überlegungen schließlich in unauflösbare Aporien treiben wird. Unmittelbar anschließend liest man nämlich: »[S]elbst dann, wenn es möglich wäre, dass Körper außerhalb des Geistes existieren, müsste es doch eine sehr unsichere Meinung sein, da dies voraussetzen hieße, Gott habe unzählige Dinge geschaffen, die durchaus nutzlos sind und in keiner Art zu irgend welchem Zwecke dienen« (1979: 35). Hier noch scheinbar unproblematisch wird »Gott« in Bischof Berkeleys Ausarbeitung seines Esse-est-percipi-Arguments zu einer immaterialistischen Erkenntnistheorie schließlich all die Stellen besetzen, die im Rahmen einer materialistischen Erkenntnistheorie – und genau diese will Berkeley durch die eigene Theorie ersetzen – noch die Welt der Dinge besetzte. Damit konterkariert Berkeley nicht nur das eigene Ökonomieargument, sondern wird am Ende der Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis genau das, was er zuvor abgeschaff t hat, bloß unter einem neuen Label und um den Preis der fortgesetzten Aporie wieder einführen. So heißt es am Ende der Abhandlung über die Gottesinstanz beispielsweise: »Dieses reine und helle Licht aber, welches jedem leuchtet, ist selbst nicht sichtbar« (1979: 110). Womit Gott also nicht unmittelbar perzipierbar ist, sondern nur mittelbar durch die »beständige Regelmäßigkeit, Ordnung und Verkettung der Naturobjekte« (1979: 109). Wenn Gott jedoch nur mittelbar durch die Perzeption einer Naturordnung erfahrbar ist, scheint es mehr als fragwürdig, mit Gott auf einen hinter der Perzeption einer Regelhaftigkeit selbst nicht wahrnehmbaren Auslöser für die Regelhaftigkeit zu verweisen, hat Berkeley diesen zuvor doch mittels des Esse-est-percipiArguments für eine bewusstseinsunabhängige Objektwelt abgelehnt. Allerdings – und damit wird der immanente Widerspruch, wenn auch nicht auflösbar, so doch erklärbar – benötigt Berkeley Gott bzw. ein göttliches Bewusstsein laut Gabriel (1998: 107), um eine »Außenwelt« zu begründen, »die sich in ihrer Beschaffenheit als unabhängig von meinem Willen« erweist, da gerade die »beständige Regelhaftigkeit« der Naturgesetze ganz offensichtlich »als unabhängig von meinem Willen« erfahren
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wird. Ich kann etwa Schwerelosigkeit (literarisch, filmisch oder wie auch immer) imaginieren, sie vielleicht sogar eines Tages mittels eines hohen technischen Aufwands ermöglichen, sie aber nicht einfach per Imagination produzieren. Darum kann, und dies unterscheidet Berkeleys immaterialistische Position von einer solipsistischen, die »Ursache für die Beständigkeit« bestimmter Objekte der Wahrnehmung »nicht in mir selbst liegen«. Sie muss vielmehr »außerhalb meines Geistes, aber innerhalb eines anderen Geistes«, nämlich innerhalb des Geistes Gottes, »in dem sinnliche Gegenstände ständig existieren«, lokalisiert werden (Gabriel 1998: 110). Genau in dieser Hinsicht ersetzt Gott bei Berkeley eine wahrnehmungsunabhängige Materie, widersprüchlicherweise, indem Gott nun gerade das Merkmal zukommt, das der Materie so vehement abgesprochen wurde, namentlich ein ›esse sine percipi‹.92 Von einer weitergehenden Kritik an den Eigenarten von Berkeleys theozentristischem Immaterialismus einmal abgesehen, bietet das Esse-estpercipi-Argument ein Argumentationsmuster, das als solches (noch) unwiderlegt ist und zugleich deutliche Strukturäquivalenzen zu Baudrillards immanenztheoretischem Ansatz aufweist: Substituiert man das Objekt einer wahrnehmungsunabhängigen Welt durch das Ereignis und die aus Perzeptionen gebildete Vorstellung eines Objekts durch das Medienereignis, so sieht man, wie sehr sich beide Ansätze strukturell gleichen. Beide verkürzen zunächst ihre Perspektive auf eine Position gleichsam hinter das wahrgenommene bzw. medialisierte93 Objekt. Aus dieser Perspektive formulieren Berkeley und Baudrillard dann eine grundsätzliche Skepsis gegenüber absoluten, unabhängigen oder realen Entitäten, die ›vor‹ der Wahrnehmung bzw. der Wahrnehmung in den Medien existiert haben sollen. Im Gegensatz zu einer materialistischen und korrespondenztheoretischen Position, die scheinbar eine Außenperspektive einnimmt und so gleichsam zu einer Aufsicht auf das Ereignis wie auf das Ereignis der perzeptiven und medialen Vermittlung gelangt, soll im skeptizistischen Diskurs Berkeleys wie Baudrillards das, was nicht schon wahrgenommen oder medialisiert ist, unbekannt bleiben und sich einem Diskurs entziehen, der nicht darüber spekulieren will, was sich der unmittelbaren Wahrnehmung und damit der Kenntnis entzieht.
92 | Man sehe mir die grammatikalische Unvollständigkeit im Lateinischen (hier fehlt ein Subjekt) um des Wortspiels willen nach. 93 | ›Medialisiert‹ heißt nach der Eingangsdefinition eines Medienereignisses nichts anderes als ›in den Medien wahrgenommen‹.
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Das mag erkenntnistheoretisch zunächst plausibler klingen als medientheoretisch, da man eben nicht hinter seine Wahrnehmung schauen kann. Das ist es auch, was das Esse-est-percipi-Argument so stark macht. Dagegen können Ereignisse prinzipiell auch vor und unabhängig von ihrer Medialisierung beobachtet werden. Allerdings ist das nicht der Normalfall. Das meint Luhmann mit der Sentenz: »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. Das gilt nicht nur für unsere Kenntnis der Gesellschaft und der Geschichte, sondern auch für unsere Kenntnis der Natur« (2004: 9). Zwar machen wir (immer noch) eine signifi kante Menge von Beobachtungen unvermittelt, sprich: mit eigenen Augen, aber unsere Beobachtungen von Ereignissen, die mit Medienereignissen korrespondieren, gehen formal gesprochen gegen null. In der Regel haben wir keinen Zugang zum ursprünglichen Ereignis hinter der Berichterstattung, das gilt nicht nur für den Golfkrieg 1991, sondern für praktisch alle massenmedialen Ereignisse.94 Neben diesem pragmatischen oder lebensweltlichen Argument lässt sich aber auch grundlegend argumentieren: Korrespondenztheoretische Medientheorien beruhen notwendig auf der Ähnlichkeit von Ereignis und Medienereignis, etwa in dem Sinne, dass »zwei Gegenstände ähnlich heißen, wenn es eine Abbildung des einen auf den anderen gibt, die wesentliche Eigenschaften erhält« (Kwiatkowski 1985: 17).95 Ohne ein Konzept der Identität von »wesentlichen Eigenschaften« von Ereignis und Medienereignis als dessen »Abbildung« wäre Korrespondenz also nicht möglich, wären die Relationen zwischen Ereignis und korrespondierendem Medienereignis aufgehoben und beide nicht mehr sinnvoll aufeinander beziehbar. Und genau 94 | Außer ich bin selbst Medienmacher oder eine öffentliche Person bzw. eine Person in einer öffentlichen Situation, sodass mein Leben Objekt des öffentlichen Interesses ist, als ein solches medial vermittelt wird und ich als öffentliche Person oder als Reporter zumindest einen Teil der massenmedialen Ereignisse an meinem subjektiven Erleben abgleichen kann. Allerdings wird auch das stets nur einen geringen Teil der insgesamt kommunizierten/perzipierten Medienereignisse umfassen. 95 | Ich zitiere hier entgegen wissenschaftlicher Praxis aus einem Schulbuch, nämlich aus dem Schüler-Duden: Die Philosophie, um an eine einfache, aber trotzdem philosophisch korrekte Definition von Ähnlichkeit anzuschließen. Zudem sieht man gerade an dieser Definition nochmals sehr schön, wie eng das Konzept der Ähnlichkeit mit einer Korrespondenz- als Abbildtheorie verwoben ist. Definitorisch Entsprechendes findet sich zudem im Historischen Wörterbuch der Philosophie (Ritter et al. 1971–2007, Bd. 1, 1971: 114f.).
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hier setzt die immanenztheoretische Skepsis an: Was sind im Gegensatz zu den unwesentlichen Eigenschaften die wesentlichen Eigenschaften, die ein bestimmtes Medienereignis an ein bestimmtes Ereignis binden? Sind die wesentlichen Eigenschaften eines Medienereignisses nicht gerade solche, die es vom Ereignis unterscheiden und damit zum Medienereignis machen? Und ist die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Ereignis und Medienereignis nicht etwas, das man im Nachhinein der Interpretation und damit unter Abwesenheit eines immer schon vergangenen Ereignisses erst konstruiert? Baudrillard würde so argumentieren, und er tut das unter anderem am Beispiel des Golfkriegs: So wird der Golfkrieg als ›Medienkrieg‹ von Baudrillard gerade auf seine Unähnlichkeit mit den Ereignissen eines Krieges hin interpretiert. Wie sich zeigt, kann im Rahmen eines immanenztheoretischen Mediendiskurses also nicht mehr wie noch im korrespondenztheoretischen sinnvoll von einer Relation zwischen primären Ereignissen als Ursachen einer Nachricht und sekundären Medienereignissen, also Nachrichten, als deren mediale Folgen oder Wirkungen gesprochen werden. Vielmehr ist nicht nur jede kausale, sondern jede Beziehung zwischen Ereignis und Medienereignis in dem Moment ad acta gelegt, in dem nicht mehr über prämediale Korrespondenzereignisse spekuliert werden soll: Ereignisse mögen existieren, immanenztheoretisch aber nicht als Relate von Medienereignissen. Diese werden vielmehr immanent, indem sie unabhängig von Korrespondenzereignissen stattfinden, sprich: beobachtet werden. Die skeptizistische Perspektivverkürzung des immanenztheoretischen Ansatzes produziert jedoch ein anderes Problem; ein Problem, das sich bereits in Berkeleys Ausarbeitung des esse est percipi zu einer immaterialistischen Epistemologie gezeigt hat: dort nämlich, wo Berkeley das Imaginäre oder Fiktive im Bewusstsein eines Subjekts von dem unterscheiden musste, was deshalb als nicht-fiktiv und damit als real gelten sollte, weil es sich in seiner Beständigkeit als Objektives, Trans- oder Intersubjektives dem Willen des Subjekts entzog. Auf eine Immanenztheorie der Medien übertragen bedeutet dies: Wenn das reale Ereignis nicht mehr wie im Rahmen der Korrespondenztheorie über die Realität oder Fiktionalität eines Medienereignisses zu entscheiden hilft, wenn sich das Medienereignis nun mit Baudrillard »jenseits von wahr und falsch«, jenseits der Differenz von »Realem und Imaginärem« etabliert (1978: 37, 10), dann wird die Unterscheidung von realistischer Nachricht und realitätsnaher Dokumentation auf der einen Seite und Fiktion auf der anderen Seite hinfällig. Die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion ist jedoch aus dem massenmedialen Sprachspiel kaum wegzudenken, außer man wollte im
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Rahmen des immanenztheoretischen Diskurses alle Medienereignisse, auch solche, die sich als Nachrichten und Dokumentationen ausweisen und die wir als Nachrichten und Dokumentationen von und über etwas zu rezipieren gewohnt sind, nun als fiktive Konstruktionen ohne einen Realitätsbezug auffassen.
Fiktion oder Realität Eine mögliche Lösung bietet hier ein konstruktivistischer Ansatz, wie ihn Angela Keppler an Beispielen aus Film und Fernsehen entwickelt.96 Anhand einer vergleichenden Analyse einer Tagesschau-extra-Sendung vom 11. September 2001 mit den Spielfilmen The Siege (R: Edward Zwick, USA 1998) und Independence Day (R: Roland Emmerich, USA 1996) erarbeitet sie eine offene Liste von Realitäts- und Fiktionalitätsindikatoren. Sie geht dabei von der folgenden nicht nur plausiblen, sondern auch mit einem immanenztheoretischen Ansatz vereinbaren These aus: Alle filmischen Formate […], ob es sich um Spielfilme, Dokumentarfilme oder die Aufzeichnung von Talkshows und Sportereignissen handelt, stellen filmische Inszenierungen dar. Nicht-inszenierte Filme sind ein Grenzfall, an dem der inszenatorische Charakter der allermeisten Filme deutlich wird. (2006: 159)
Daraus folgert Keppler, »dass die realistische oder dokumentarische Qualität von Filmen immer in der Differenz von Inszenierungsweisen und damit einer stilistischen Differenz begründet liegt« (2006: 160). Über stilistische Indikatoren kommuniziert das jeweilige Format demnach seinen Realitätsstatus, was nach Keppler letztlich nicht nur für Film und Fernsehen, sondern für alle Formate der Massenmedien wie Radio, Zeitungen, Internet etc. gelten soll (2006: 181). Die Indikatoren mögen sich ändern, das Prinzip bleibt dasselbe. Damit existiere für den Unterschied zwischen realistischem und fi ktivem Format zwar kein »übergreifendes Kriterium« mehr, wie es noch eine abbildrealistische Korrespondenztheorie verspricht, jedoch könne man den Unterschied zwischen fiction und non-fiction jeweils am einzelnen filmischen bzw. medialen Artefakt ablesen:
96 | Angela Keppler (2006: 10) spricht im Anschluss an Martin Seel (2002: 133) von ihrem Ansatz als einem »realistischen Konstruktivismus«; zu diesem im Folgenden noch Näheres.
Kapitel 1: Realität massenmedialer Ereignisse Es gibt ihn [den Unterschied], weil er in Filmen immer wieder hergestellt wird und an Filmen wahrgenommen wird. Es gibt ihn in Form eines jeweiligen Bündels von Indikatoren, die ihren Stellenwert wesentlich aus der Abwesenheit der entsprechenden Gegenindikatoren erhalten. An solchen Konstellationen von Indikatoren der Authentizität oder der Fiktion unterscheidet sich eine realistische Fiktion von einer fantastischen und ebenso eine fiktionale von einer dokumentarischen Inszenierung. (2006: 180)
Mittels dieses »Bündels von Indikatoren« weisen sich Medienereignisse demnach als Dokumentationen oder Fiktionen, als realistische oder fi ktionale Konstruktionen aus. Und einen »dokumentarischen Anspruch erheben« dann beispielsweise »Filme, die hinreichend viele und eindeutige Indikatoren der Referenz auf außerbildliche Zustände und Ereignisse zeigen« (2006: 180). Keppler verlagert damit die Entscheidung hinsichtlich der Fiktionalität in den kommunikativen Prozess zwischen dem Produzenten und dem Rezipienten. Der erste codiert den Text im Rahmen eines für den Rezipienten entschlüsselbaren, weil konventionalisierten Codes, der zweite decodiert den Text auf der Basis der dem Produzenten wie dem Rezipienten bekannten Konvention: Man weiß etwa, dass es sich um ein (realistisches) Nachrichtenformat handeln soll, weil viele Indikatoren für Realismus und wenige oder keine erkennbaren Indikatoren für Fiktionalität an diesem beobachtbar sind. So ist es, um einige der von Keppler erarbeiteten Indikatoren aufzugreifen, eher unwahrscheinlich, dass man in einem Nachrichtenbeitrag so etwas wie »einen schnellen und dramaturgisch genau getrimmten Wechsel von Kamerapositionen«, eine »nuancierte Licht- und Farbregie«, einen »dramaturgischen Großrhythmus« oder »Schauspieler[], die bestimmte Charaktere verkörpern« antriff t (2006: 179). Zudem erwartet man beispielsweise den Schauspieler Will Smith in dem HollywoodFeature Independence Day, nicht aber in einem Beitrag der Tagesschau, außer es geht dort um Will Smith als (Schauspieler-)Person – etwa in einem Bericht über die Premierenfeier von Independence Day. Wahrscheinlich ist es dagegen, in einem Nachrichtenbeitrag Realismusindikatoren wie das »Vorhandensein von Sequenzen, in denen Sprecher, Zeugen oder Reporter in die Kamera sprechen«, das »Vorhandensein eines durchgehenden Kommentars« oder »einer neutralen oder distanzierten Perspektive, aus der etwas berichtet wird«, vorzufinden (2006: 179f.). Allerdings ist es eben nur wahrscheinlich, Realismusindikatoren in einem Nachrichtenbetrag mehrheitlich anzutreffen: Zwar schließen die einzelnen Indikatoren ihre Gegegenindikatoren von vornherein aus. Ein
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durchgehender Kommentar etwa kann (zu einem bestimmten Zeitpunkt) entweder vorhanden sein oder nicht. Jedoch sind die Indikatoren als Zeichen oder Codes für Realismus versus Fiktionalität arbiträr. Die Codes sind arbiträr, insofern sie in keiner natürlichen Verbindung mit dem stehen, was sie codieren. Und da sie arbiträr sind, müssen die Codes konventionell sein. Indem die Codes konventionell respektive konventionsgeleitet sind, unterliegen sie jedoch permanent der Möglichkeit einer Umcodierung. Es gibt keinen natürlichen oder absoluten Grund, warum man beispielsweise das »Vorhandensein eines durchgehenden Kommentars« nicht morgen schon als Indikator von Fiktionalität lesen sollte, außer der Konvention selbst.97 Fiktionalität und Realismus werden somit, genauso wie die Grammatik der Realismus- und Fiktionalitätszuschreibung, im Diskurs zwischen Rezipienten und Produzenten konstruiert, indem sie kommuniziert und in der Kommunikation tradiert und eingeübt werden – ohne darüber hinaus reflektiert werden zu müssen.98 Damit wird umgekehrt das, was man für real hält, erst sekundär in der diskursiven Normierung und normgeleiteten Differenzierung produziert: Die Wahrheit oder Realität von Medienereignissen ergibt sich nicht mehr aus ihrer Korrespondenz zu prä- und extramedialen Ereignissen, sondern im Diskurs über Medienereignisse, die als realistisch oder unrealistisch geltend gemacht werden. Auf diese Weise kommt das Ereignis – nun in kausal ›verkehrter‹ Richtung – implizit wieder ins Spiel, namentlich als Folge oder Wirkung einer diskursiven 97 | Gerade am Vorhandensein eines durchgehenden Kommentars zeigt sich, dass dieser genauso gut als Indikator für Fiktionalität gelten kann. Siehe hierzu Petersen (2004), wo ich dies an der Berichterstattung in der Frühphase des Irakkrieges aufzeige. 98 | Das Erkennen der Realitäts- bzw. Fiktionalitätsindikatoren gründet sich auf ein rein praktisches Wissen. Die Indikatoren müssen von den Diskursteilnehmern weder theoretisch erfasst werden, noch muss im Sinne propositionalen Wissens begründet werden können, ob und warum die Indikatoren in ihrer Mehrheit sinnvoll über den Realitätswert von Medienereignissen entscheiden. Es genügt vielmehr, dass die am Diskurs teilnehmenden Personen im Rahmen der Grammatik der Realitäts-/Fiktionalitätsindikation kommunizieren können. Allgemein formuliert bedeutet das, eine »Person S hat das praktische Wissen, x zu tun, wenn das Tun von x darin besteht, einer Regel R angemessen zu folgen, [und] wenn das angemessene Befolgen von R regulär zu einem Effekt E führt« (Detel 2007a: 79f.). Konkret bezogen auf die Identifikation von realistischen versus fiktionalen Formaten bedeutet dies, dass ein Diskursteilnehmer die Indikatoren im Rahmen der Konvention, Regel oder Grammatik codieren, zumindest aber decodieren kann, was zur Kategorisierung des jeweiligen Formats hinsichtlich seines Realitätsanspruchs führt.
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Realitätskonstruktion, die ursächlich an der Differenzierung von fiction versus non-fiction ihren Ausgang nimmt. Und genau hier setzt auch eine zweite Lesart von Baudrillards Medientheorie an, eine interdependenztheoretische Lesart, wie sie sich in Norbert Bolz’ Baudrillard-Exegese bereits angedeutet hat.
Eine Tautologie ist eine Tautologie Dass Baudrillards Simulationstheorie über eine immanenztheoretische Auslegung hinaus (mindestens) noch eine weitere Lesart zulässt und Kepplers Fiktionalitätskonzept mit der ›Rekonstruktion‹ eines Referenzereignisses ebenfalls bereits den Rahmen einer Immanenztheorie zu sprengen beginnt, liegt in der prekären Struktur von Immanenztheorien, epistemologischen wie medienepistemologischen, begründet. Betrachtet man zudem als klassische Kritik an Berkeleys Esse-est-percipi-Argument George E. Moores Aufsatz The Refutation of Idealism aus dem Jahre 1903, so begreift man die Crux immanenztheoretischer Argumentationen. Moore weist darauf hin, dass mit einer konsequenten Anwendung des esse est percipi nicht nur eine wahrnehmungstranszendente Objektwelt, sondern letztlich auch das wahrnehmende Bewusstsein selbst abgeschaff t wird, da dieses (diesmal nicht als wahrgenommenes Objekt, sondern als Subjekt der Wahrnehmung) nicht an sich wahrnehmbar ist, seine Existenz also nicht im percipi findet (1903: 440ff.). Alles, was bliebe, wären Perzeptionen als Ereignisse der Wahrnehmung, die – hier wird der immanente Widerspruch augenscheinlich – nicht, das heißt von keinem Subjekt der Wahrnehmung, wahrgenommen werden. Dass sich die Probleme einer immanenztheoretischen Epistemologie in ihrem medienepistemologischen Analogon fortschreiben, wird schließlich an dessen Formalisierung explizit. Die Kontravalenz »Es existiert entweder ein Medienereignis oder es existiert kein Medienereignis«, formal ME ¬ME, auf die sich eine Immanenztheorie der Massenmedien reduziert, produziert zwar keinen Widerspruch, jedoch handelt es sich dabei um eine Tautologie. Führt man sich nochmals vor Augen, dass im Rahmen einer zweiwertigen Logik eine einfache Aussage nur entweder wahr oder falsch sein kann, dann wird deutlich, dass ME ¬ME immer wahr ist: Genau dann nämlich, wenn ME wahr ist, ist ¬ME falsch, und dann, wenn ¬ME wahr ist, ist ME falsch. Letztlich handelt es sich strukturell wieder darum, was bereits beispielhaft an der scherzhaften Bauernregel vorgeführt wurde: Wenn in einem Satz entweder etwas oder dessen kontradiktorisches Gegenteil (im Beispiel: Wetteränderung oder keine Wetteränderung) gelten
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soll, dann ist der Satz immer wahr, sprich: tautologisch. Formal kann man das anhand des Gesetzes der Kontravalenz99 [1] und der bereits bekannten Ersetzungsregel der doppelten Negation [2] wie folgt zeigen: (ME ¬ME) (ME ¬¬ME) (ME ME). So besagt der Satz »Es existiert entwe[1] [2] der ein Medienereignis oder es existiert kein Medienereignis« nicht mehr als: Es existiert ein Medienereignis dann und nur dann, wenn es nicht nicht existiert, also nur dann, wenn ein Medienereignis existiert. Damit reduziert sich die Aussage letztlich auf ein sich wiederholendes »Es existiert ein Medienereignis«. In literarischer Anlehnung an Gertrude Steins »a rose is a rose is a rose« lautet der Satz schließlich: »Ein Medienereignis ist ein Medienereignis ist ein Medienereignis …«, sodass für die Immanenztheorie der Massenmedien selbst letztlich gilt: »eine Tautologie ist eine Tautologie ist eine Tautologie …« (Ulrichs 1975: 53). Von dieser ›semantischen Implosion‹ bleibt auch eine Fiktionalitätskonzeption im Rahmen einer Korrespondenztheorie der Massenmedien nicht verschont, indem nun noch offensichtlicher wird, dass sich korrespondenztheoretisch keine und schon gar keine konsistente Theorie der Massenmedien entwickeln lässt. Dort wären korrespondenztheoretische Fiktionen ebenfalls wieder nur rein selbstreferenzielle Objekte, für die – ganz im Gegensatz zu Nachrichten – wieder gilt: ME ME, »Es existiert ein (fiktionales) Medienereignis, dann und nur dann, wenn ein (fi ktionales) Medienereignis existiert« – gänzlich ohne Bezug zu Referenzereignissen, weil immer bloß auf sich selbst bezogen. Und darum, weil korrespondenztheoretische wie immanenztheoretische Beschreibungen letztlich nicht geeignet sind, massenmediale Ereignisstrukturen plausibel zu beschreiben, stellt sich die Frage nach einer anderen, einer dritten Theorie der Massenmedien.
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Wie gesehen, versucht Norbert Bolz Baudrillards Konzept der Hyperrealität plausibel zu machen, indem er darauf hinweist, dass heute, das heißt in einer derart durch die Massenmedien geprägten Welt wie der gegenwärtigen und wohl auch zukünftigen, »alle Ereignisse schon im Blick auf die Medien« (1994: 98) konzipiert sind; was zumindest für Großereignisse, Media Events in Sinne von Dayan und Katz, kaum zu leugnen ist und sich unter anderem an den Anschlägen von 9/11 trefflich nachvollziehen lässt. 99 | Siehe hierzu beispielsweise Bochen´ski (1973: 42).
Kapitel 1: Realität massenmedialer Ereignisse
Im Rahmen der von Baudrillard kritisierten Inszenierung des Golfkrieges 1991 wurde dieser Sachverhalt insbesondere an den Bildern der mit sogenannten nose-cameras ausgestatteten Raketen deutlich:100 Die Zerstörung und ihre Aufzeichnung, der Krieg und seine mediale Inszenierung fielen hier scheinbar zusammen. Das Ereignis der Zerstörung erschien selbst schon als Medienereignis der aufgezeichneten Zerstörung und vice versa. Und auch die durch CNN forcierte Liveberichterstattung während des Golfkrieges verwies auf eine Untrennbarkeit von Ereignis und Medienereignis. Der ›Kurzschluss‹ beider wurde gerade in solchen Momenten überdeutlich, »when the CNN cameras crossed live to a group of reporters assembled somewhere in the Gulf, only to have them confess that they were also sitting around watching CNN in order to find out what was happening« (Patton 1995: 2). Dieser Rückkopplungseffekt der massenmedialen Selbstrepräsentation unter Ausschluss eines unabhängigen Kriegsereignisses war zwar ein Extremfall, aber trotzdem kein Sonderfall. Ein derartiger Effekt war praktisch jeder Form der Liveberichterstattung des Golfkrieges immanent: Die Livereportage inszenierte das Ereignis, das sie zu berichten meinte, immer schon mit, und umgekehrt waren die Ereignisse durch beide Seiten stets schon propagandistisch auf ihre massenmediale Ereignishaftigkeit hin vorgeprägt. Man denke etwa an die Bilder von ölverschmierten Seevögeln oder die vermeintlichen Augenzeugenberichte darüber, dass irakische Soldaten kuwaitische Babys aus ihren Brutkästen gerissen hätten.101 Es schien im Golfkrieg also von Anfang an nicht nur darum zu gehen, diesen real zu gewinnen, sondern ihn auch oder vor allem medial für sich zu entscheiden102 – nämlich in der Inszenierung eines zivilisierten, weil technisch wie moralisch sauberen Kriegseinsatzes der US-Streitkräfte ge100 | Patton (1995: 3) beschreibt das folgendermaßen: »[W]hat we saw was for the most part a ›clean‹ war, with lots of pictures of weaponry, including the amazing footage from the nose-cameras of ›smart bombs,‹ and relatively few images of human casualties, none from the Allied forces.« 101 | Die wichtigste Augenzeugin für diese ›Taten‹ stellte sich später übrigens als die Tochter des US-amerikanischen Botschafters in Kuwait heraus. Siehe hierzu ausführlich Douglas Kellner (1992: 67f.), der in seinem Buch The Persian Gulf TV War den Versuch macht, im Nachhinein der Berichterstattung die Ereignisse des Golfkrieges zu rekonstruieren, und dabei zu dem relativistischen Ergebnis gelangt – und nach dem bisher Gesagten auch gelangen muss –, dass seine Rekonstruktion der Ereignisse zwar eine mögliche ist, jedoch gilt: »other accounts are also possible« (1992: 7). 102 | An dieser Stelle sei nochmals an die eingangs zitierte Äußerung Colin Powells er innert.
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gen erschreckend brutal wütende und die Umwelt verpestende Barbaren unter der Führung Saddam Husseins. Und dass sich diese Inszenierung letztlich nicht als stabil erwies, resultierte laut Luhmann dann auch weniger aus einem Realitätsdruck der Ereignisse als aus der Art und Weise der Inszenierung selbst, mit Keppler aus ihrer zur Konvention inkonsistenten Codierung der Kriegsberichte: Da der Krieg von vornherein als Medienereignis mitinszeniert war und die Parallelaktion des Filmens oder Interpretierens von Daten zugleich militärischen und nachrichtenmäßigen Zwecken diente, wäre eine Entkopplung ohnehin mit fast totalem Informationsverlust verbunden gewesen. Für eine Zensur war daher nicht viel mehr erforderlich, als: dem chronischen Informationsbedarf der Medien Rechnung zu tragen und sie für den nötigen Fortgang der Sendungen mit Neuigkeiten zu versorgen. So wurde vor allem die Militärmaschinerie im Einsatz gezeigt. Daß damit die Opfer-Seite des Krieges fast völlig ausgeblendet wurde, hat beträchtliche Kritik ausgelöst; aber doch wohl nur, weil dies der durch die Medien selbst aufgebauten Vorstellung, wie ein Krieg auszusehen hat, vollständig widersprach. (Luhmann 2004: 23)
Luhmann erklärt hier nicht nur die Ökonomie der westlichen Propaganda, sondern nochmals die Untrennbarkeit von militärischem und journalistischem Ereignis und damit auch die Hyperrealität von Medienereignissen, meint »Hyperrealität« bei Baudrillard laut Bolz doch eine »Wirklichkeit, die sich der Antizipationskraft und Zirkularität […] verdankt und sich nicht mehr sinnvoll von einem Imaginären unterscheiden läßt« (Bolz 1994: 100). Dabei bezeichnet »Antizipationskraft«, wie gesehen, eine Auflösung von Ursache und Wirkung, namentlich der Ursache eines prämedialen Ereignisses und dessen Wirkung auf die Medien. Stattdessen sollen die Ereignisse ihre Medialisierung antizipieren, sodass diese bereits medial vorgeformt sind. Damit wird die Kausalität des Abbildungsprozesses in Bolz’ Lesart der Baudrillard’schen Theorie durch Zirkularität ersetzt: Das Medienereignis wirkt nun genauso auf ein Ereignis, wie das Ereignis auf das durch es und mit ihm produzierte Medienereignis. Dieses zirkuläre Verhältnis von Ereignis und Medienereignis, diese, wie es bei Baudrillard heißt, »Verkettung von Ursache und Wirkung« (1991: 88) ist somit nicht mehr einfach im Rahmen der Kausallogik 103 einer Korrespondenztheorie beschreibbar –
103 | Mit ›Kausallogik‹ bezeichne ich selbstverständlich keines der unter dem Begriff subsumierten formallogischen Kalküle.
Kapitel 1: Realität massenmedialer Ereignisse
sind kausale Aussagen doch stets einseitig bedingt,104 in Form eines Ereignisses, welches ein bestimmtes Medienereignis ursächlich bedingt und nicht selbst wieder durch dieses ursächlich bedingt wird.105 Zugleich erweitert die Zirkularität von Ereignissen und Medienereignissen als Relation einer wechselseitigen Abhängigkeit auch die immanenztheoretischen Prämissen um das entscheidende und sinnstiftende Andere des Medienereignisses. Das zeigen nicht nur die angeführten Beispiele des 11. Septembers und des Golfkrieges. Darauf verweist bereits auch Keppler im Rahmen ihres »realistischen Konstruktivismus« (2006: 26), wenn sie die ursprüngliche korrespondenztheoretische Kausalität zwischen primärem Ereignis und sekundärem Medienereignis umkehrt und dabei zugleich das immanenztheoretisch bereits verabschiedete Referenzereignis wieder auf den Plan ruft, nun als sekundären Effekt eines ihm vorgeordneten Medienereignisses.
Realistischer Konstruktivismus Erkenntnistheoretisch wird Kepplers Ansatz durch Martin Seel fundiert. Seel plädiert ebenfalls für einen moderaten oder realistischen Konstruktivismus, der eine gemäßigte oder moderate Position zwischen einem radikalen Konstruktivismus und einem extremen Realismus darstellt. Seel will – philosophiegeschichtlich nicht zum ersten Mal – die klassische Dichotomie von Idealismus und Realismus überwinden (Abel 1999: 17). Mit Referenz vor allem auf die neuere angloamerikanische Erkenntnistheorie in Gestalt von Peter F. Strawson (1975), Donald Davidson (1990) und Hilary Putnam (1996)106 gelangt er schließlich zu einer eigenen Position. Zwar rekurriert Seel zunächst auf die von John R. Searle in The Construction of 104 | Siehe unten sowie die Logiken von Bühler (2000: 129ff.) und wiederum Detel (2007: 45ff.). 105 | Ich gehe hier wie auch zuvor von einem konventionellen Kausalitätskonzept aus. Dass andere Konzepte von Kausalität existieren, die dem hier elaborierten Konzept der Interdependenz nicht unähnlich sind, belegt eindrucksvoll Bunge (1987: 99ff.). 106 | Dass es sich hier um nicht mehr als ein Namedropping handelt, gebe ich gerne zu, ebenso wie den Umstand, dass ich mich im Folgenden vor allem auf Martin Seel und seine Rezeption der genannten Philosophen beschränke. Allerdings kann es im Rahmen der vorliegenden Untersuchung kaum darum gehen, eine Philosophiegeschichte der neueren Erkenntnistheorie zu schreiben (siehe hierfür etwa Schneider 2006 oder Welsch 1998), sondern nur darum, die von Seel (2002, 2003) herausgearbeitete erkenntnistheoretische Position im Anschluss an Keppler (2006) und über diese hinaus medientheoretisch nutzbar zu machen.
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Reality (1995) vertretene These, dass ein sozialer Konstruktivismus mit einem philosophischen Realismus problemlos zu verbinden sei: Man unterscheide mit Searle einfach eine soziale Wirklichkeit, welche als eine Konstruktion kollektiver Praktiken beschreibbar ist, epistemologisch von einer etwa in den Naturwissenschaften thematisierten Wirklichkeit, auf welcher die soziale Wirklichkeit beruht und welche letztlich unabhängig von kulturellen Konstruktionen inklusive Wahrnehmungskonstruktionen existieren soll (Seel 2002: 102). Seel geht im Folgenden aber weit über Searle hinaus, indem er eine Epistemologie des konsequenten »Sowohl-als-auch« fordert: Dieses Sowohl-als-auch begnügt sich nicht mit dem halbherzigen Vorschlag Searls, je nachdem, ob es um soziale oder ›rohe‹ Tatsachen gehe, solle man entweder Konstruktivist oder Realist sein. Es macht vielmehr eine Grundposition des Erkennens deutlich, die – für alle seine Gelegenheiten und Vollzüge – jenseits dieser Alternative steht. Man kann nicht nur […] sowohl sozialer Konstruktivist als auch theoretischer Realist sein. Man kann darüber hinaus als theoretischer Konstruktivist zugleich Realist sein. Und man sollte es sein. Denn ein plausibler Konstruktivismus schließt einen plausiblen Realismus mit ein – und vice versa. (2002: 118)
Die Plausibilität seiner Position leitet Seel dann in Abgrenzung zu radikal konstruktivistischen einerseits und radikal realistischen Ansätzen andererseits ab: Während ein radikaler Konstruktivismus zwar die Konstruktivität des Erkenntnisprozesses richtig beschreibe, folgere er daraus, ganz in der Tradition Berkeleys, jedoch vorschnell, eine Reduktion der Welt auf das Erkennbare. Seel expliziert dies an dem Umstand, dass Wahrnehmung, was nicht zuletzt auch schon Kant wusste, stets an einen spezifischen Modus gebunden ist und »aus einer bestimmten und damit beschränkten Perspektive« geschieht: Es gibt »keinen plausiblen Begriff von Erkenntnis, der nicht zugleich ein Begriff dieser Beschränkung wäre«. Wenn wir, so Seel weiter, also plausiblerweise annehmen, »dass wir nur Aspekte der Welt erkennen können, spricht das in keiner Weise dagegen, dass es Aspekte der Welt sind, die wir so erkennen« (2002: 116). Ganz im Gegenteil, damit wird Realität gerade als das, was diese Aspekte stiftet, vorausgesetzt: Denn Aspekt bedeutet ja eben dies: [nur] eine Seite, einen Zug von etwas, aber doch zugleich: eine Seite und einen Zug von etwas, das uns so und so gegeben ist. Andere erkennende Wesen mögen andere Züge erkennen (und werden das fragliche Etwas auch anders individuieren), aber auch sie werden es aspekthaft erkennen. (2002: 116)
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Das heißt umgekehrt aber nicht, und dieses Argument richtet Seel an die Adresse der Realisten, dass Realität unabhängig von ihren Realisationen im Erkenntnisprozess stattfindet. Der Begriff eines gänzlich erkenntnisunabhängigen ›Dings an sich‹, das sich letztlich der Erkenntnis entzieht,107 sei vielmehr ebenso wie der einer umfassenden Erkenntnis ein »leerer Begriff« (2002: 122). Mit Referenz auf Kants Kritik der reinen Vernunft verweist Seel darauf,108 dass genauso wie, formal gesprochen, dem Prädikat ›Aspekt sein‹ nur als eine zweistellige Relation R(x,y) in der Form »x ist Aspekt von y« eine Bedeutung zukommt, auch »der Begriff der Realität von demjenigen ihres Zugänglichseins als Realität nicht zu trennen« sei (2002: 129): Schließlich ist es eine der weitreichenden Einsichten der Kritik der reinen Vernunft, dass zwar die Realität unabhängig von ihrer Erkenntnis, nicht aber der Begriff der Realität unabhängig von einem Begriff ihres Begreifens als Realität gedacht werden kann. […] Die Gegenstände der empirischen Welt […] haben ihr Sein unabhängig davon, ob und wie wir diese erkennen. Aber was es heißt, dass Gegenstände diese oder jene Verfassung haben, diese Frage lässt sich nur zusammen mit der Frage nach der Möglichkeit ihrer Erkennbarkeit erörtern. Der Begriff der Realität verweist auf den Begriff ihrer Erkennbarkeit als Realität. (2002: 106)
Dementsprechend sollte auch die grundsätzliche Aspekthaftigkeit unseres Erkennens nach Seel nicht als »Schwundstufe eines umfassenden Erkennens« missverstanden werden, da ›umfassende Erkenntnis‹ wiederum nur ein leerer Begriff wäre (2002: 122), namentlich die Hypostase einer Erkenntnis, die in ihrem Allanspruch keine bestimmte, zumindest aber keine menschliche mehr (höchstens noch eine göttliche) wäre.
107 | Hier richtet sich Seel nicht etwa gegen Kant, sondern gegen John Searle (1995) und Gerhard Roth (1994), wenn diese von völlig entgegengesetzten Standpunkten aus Positionen eines »extremen Realismus« vertreten, der »eine tiefere Realität annimmt, zu deren Erkenntnis man freilich nicht allein schwer, sondern überhaupt nicht gelangen« soll (2002: 111). Seel argumentiert dagegen, dass sich »die Bestimmtheit von etwas […] nicht ohne die Möglichkeit der Bestimmung dieses Bestimmten denken« lässt (2002: 105) und demzufolge auch eine Wirklichkeit, die sich per definitionem vollständig der Erkenntnis entzieht, nicht nachvollziehbar behauptet werden kann. 108 | Seel bezieht sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf Kant (1995: 278). Inwieweit er Kant hier im Kanon oder eher gegen den Strich liest, sei einmal dahingestellt. Seel selbst stellt seine Kant-Exegese wie gesagt in eine neuere angloamerikanische Tradition.
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Seels epistemologischer Ansatz lässt sich also folgendermaßen zusammenfassen: Erkennen ist in seiner Aspekthaftigkeit auf etwas bezogen, das wir Wirklichkeit nennen.109 Dieses etwas ist uns, da wir – auch in unserer Erkenntnis – begrenzte Wesen sind, nicht in Gänze zugänglich. Es kann aber auch nicht sinnvoll als von unserer Erkenntnis gänzlich unabhängig gedacht werden, sondern eben nur als teilweise oder aspekthaft unabhängig von unserer Erkenntnis. Selbst wenn Seel hier den Akzent innerhalb der Kant’schen Epistemologie deutlich verschiebt, steht Seels Erkenntnismodell nicht in einem Widerspruch zu Kants transzendentalem ›Ding an sich‹, welches als Bedingung und ausschließlich als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis denkbar ist. Allerdings wird für Seel gerade die Interdependenz von Bestimmbarkeit und Unbestimmbarkeit der ›Dinge‹ zur Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis.110 So heißt es dann auch, wenn sich Seel im Fortlauf seiner Untersuchung dem Verhältnis von Realität und Medien zuwendet: [Es] kann nicht nur das als Realität zählen, was auf die eine oder andere Weise medial erschlossen ist. Realität ist keine Funktion, sie ist vielmehr der notwendige Widerpart dieser Erschließung. […] Dass Medialität die Zugänglichkeit von Realität bedeutet und der Begriff der Realität den der Aktualisierbarkeit von Medien impliziert, bedeutet also nicht, dass sich das Wirkliche in seinem jeweiligen medialen Zustand erschöpft. […] Realität ist […] unabhängig davon, welche ihrer Aspekte uns jeweils zugänglich sind. Ihr Begriff schließt freilich ein, dass jeder ihrer Aspekte zugänglich werden kann, wenngleich wegen der konstitutiven Aspekthaftigkeit und Relevanzgebundenheit allen Erkennens niemals alle zugänglich sein können. (2002: 130f.)
Entgegen dem Medienbegriff, den Seel hier zugrunde legt – für ihn sind primär Mittel der Wahrnehmung und Erkenntnis (Sehen, Hören, Sprechen etc.) Medien –, lassen sich seine Überlegungen auch für Massenmedien im Sinne eines interdependenztheoretischen Ansatzes plausibel machen und 109 | Siehe hierzu Wolfgang Welsch, der eine Reihe von Vorschlägen für unterschiedliche Verwendungs- und »Bedeutungsvarianten von ›wirklich‹ und ›Wirklichkeit‹« macht, die »sogar zueinander konträr sein« können (1998: 184). Solange man allerdings bei einer substantivischen – im Gegensatz zu einer adverbialen und adjektivischen – Verwendung bleibt, stehen diese Begriffsvarianten nicht im Widerspruch zu der Verwendung, wie sie Seels Ansatz impliziert. 110 | Seel selbst grenzt sein Modell allerdings dahingehend von »Kants Rede vom ›Ding an sich‹« ab, als er diese als »reines Gedankenexperiment« ansieht, »das klären soll, was ›empirische Realität‹ vernünftigerweise heißen kann« (2002: 111).
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zugleich mit dem verbinden, was aus einer moderaten, man könnte jetzt auch sagen: einer realistisch-konstruktivistischen Lesart von Baudrillards Hyperrealitätskonzeption folgt – auch wenn Baudrillard in seinem Gestus der Provokation und polemischen Zuspitzung gerade keine moderate Lesart seiner Texte nahelegt.111
Ereignis und Medienereignis Im Konzept der Zirkularität findet sich die bei Seel beschriebene Untrennbarkeit von Medialität und Realität bereits strukturell vorweggenommen: Das eine bedingt das andere, ohne dass das eine das andere einfach abbilden oder gänzlich determinieren würde. Das Ereignis ist ohne Medienereignis nicht zugänglich und damit ganz von ihm abhängig, allerdings ohne ganz im Medienereignis aufzugehen. Umgekehrt existiert auch das Medienereignis nicht unabhängig von einem Ereignis, dessen Aspekte es medial zugänglich macht, ohne dabei jedoch das Ereignis in Gänze zu produzieren. Selbst wenn bei Seel Erkenntnistheorie und Medientheorie in eins fallen, indem Medialität dort jede Art von Vermitteltsein beschreibt, bleiben seine Überlegungen auch auf der Basis eines begrenzteren Medienbegriffs plausibel. So kann und soll auch weiterhin zwischen Ereignis und Medienereignis dahingehend unterschieden werden, ob diese für den Beobachter abhängig oder unabhängig von der Vermittlung durch Massenmedien wahrnehmbar sind. Genau das macht den Unterschied zwischen Erkenntnistheorie und Medientheorie aus: Ereignisse bleiben medientheoretisch grundsätzlich – und natürlich mit allen epistemologischen Zweifeln versehen – unabhängig von Massenmedien zugänglich. Nicht jede Erfahrung ist, wie es immanenztheoretische Ansätze suggerieren, eine massenmediale, selbst wenn die Mehrzahl dessen, was wir erfahren, erfahren haben und woraufhin wir unsere Erfahrungsmodi ausgerichtet haben,112 zunehmend 111 | In seiner Baudrillard-Einführung schreibt Falko Blask das immanente Provokationspotenzial von Baudrillards Schriften und Schreibweise ganz richtig erfassend: »Bau drillard muss mit der Gefahr leben, dass seine pluralistische, narrativ-paradoxe Metho de der Radikalisierung aller Hypothesen als Scheinradikalität angegriffen und als leeres Geschwätz betrachtet wird. Das ist das Los dessen, der terrorisierenden Theoriegebäuden eine Absage erteilt, der den Dissens zum Bestandteil seiner Arbeit gemacht hat« (2005: 138). 112 | Ein Indiz für den Einfluss von Massenmedien auf unsere Wahrnehmungsweise – ein Phänomen, das Walter Benjamin bereits in den 1930er Jahren in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit theoretisch zu fassen versucht – wäre bei-
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massenmedial vermittelt ist. Ereignis und Medienereignis sind epistemisch unterschieden, obwohl man es in den Massenmedien stets nur mit Ereignissen in Gestalt von Medienereignissen zu tun hat. Es bleibt der Ausnahmefall, dass das primäre Ereignis hinter bzw. vor einem Medienereignis beobachtbar ist, in der Regel (re)konstruiert man das Ereignis allein sekundär anhand von Medienereignissen. Analog Seels erkenntnistheoretischem Ansatz lassen sich somit im Rahmen einer Interdependenztheorie der Massenmedien folgende axiomatische Aussagen formulieren: I.
Aus der Perspektive eines nicht privilegierten Medienbeobachters kann nur als Realität gelten, was auf die eine oder andere Weise medial erschlossen ist.
II.
Ereignisse und Medienereignisse sind nicht identisch.113 Ereignisse erschöpfen sich nicht in ihren jeweiligen medialen Darbietungsformen. Umgekehrt gilt ein Medienereignis nicht bloß als das Ereignis, welches es vermittelt.
III. Dann und nur dann, wenn man von einem Medienereignis spricht, kann man auch von einem korrespondierenden Ereignis sprechen (und umgekehrt), da Ereignis und Medienereignis stets in komplexen relationalen Verhältnissen miteinander verbunden sind. Außerdem muss man hinzufügen, auch wenn es sich dabei um eine wissenschaftstheoretische Trivialität handelt, die für jede Theorie gilt, nicht nur für eine Interdependenztheorie der Massenmedien: Ihre theoretischen Prämissen müssen zueinander widerspruchsfrei sein. Und tatsächlich scheint ein Widerspruch zwischen der ersten und dritten Prämisse zu bestehen. Wenn nämlich aus der Perspektive eines nicht privilegierten Beobachters, eines Beobachters, dem das Ereignis einer extspielsweise der Umstand, dass Kriegsheimkehrer oder Zeugen von Katastrophen, nicht zuletzt auch die Zeugen des 11. Septembers, ihre Erlebnisse immer wieder mit Horror- oder Katastrophenfilmen vergleichen. Siehe hierzu Scheffer (2004), Metz/Seeßlen (2002) sowie Benjamin (1979). 113 | Anschließend an Buchers Definition von Identität könnte man auch sagen: Ereignis und Medienereignis bezeichnen nicht einen einzigen »Gegenstand […], der – aus welchen Gründen auch immer – mit […] verschiedenen Namen […] bezeichnet wird« (1998: 274).
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ramedialen Realität nicht zugänglich ist, nur das als Realität zählen kann, was als Medienereignis erschlossen ist, dann fallen Ereignis und Medienereignis empirisch zusammen. Es würde damit im Widerspruch zu II gelten: Ereignis und Medienereignis sind identisch. Allerdings ergibt sich diese Identität von Ereignis und Medienereignis allein aus einer perspektivischen Verkürzung, wie sie immanenztheoretische Ansätze vornehmen. Immanenztheorien von Berkeley bis Baudrillard funktionieren gerade so, dass sie Erkenntnis auf Wahrnehmung und Wissen auf Beobachtung reduzieren; was, wie gesehen, spätestens an dem Punkt problematisch wird, an dem sich das die Beobachtung fundierende Subjekt der Beobachtung selbst entzieht. So wie das beobachtende Subjekt erst reflexiv zum Objekt der eigenen Beobachtung werden kann, so verhält es sich auch mit dem Ereignis. Ereignisse erschöpfen sich, wie es unter II heißt, nicht in ihren Darbietungsformen, sie werden immer als das Andere, als das über das Medienereignis Hinausweisende gedacht, transzendental im Sinne eines Ursprungs, transzendent im Sinne von über das jeweilige Medienereignis hinausreichenden Eigenschaften oder Aspekten: Denn selbst wenn ein Ereignis scheinbar in all seinen Eigenschaften in seiner Darstellungsform repräsentiert ist, ist es das doch nicht in seinen Eigenschaften als Ereignis, namentlich als Ereignis einer extramedialen Realität. Und umgekehrt kann das Medienereignis nicht im Ereignis aufgehen, welches es vermittelt, gerade weil es dieses vermittelt und als Vermittelndes nicht identisch mit dem Vermittelten sein kann. Während Letzteres offensichtlich ist, sei Ersteres nochmals am Beispiel einer populären Verschwörungstheorie verdeutlicht: Eine Reihe von Autoren behauptet,114 dass die Mondlandung, die in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 1969 eine halbe Milliarde Menschen an den Fernsehschirmen beobachten konnte, niemals stattgefunden habe, sondern, so eine der Varianten, von keinem geringeren als Stanley Kubrick, dem Regisseur von 2001: A Space Odyssey (UK/USA 1968) in einem Studio in der Wüste von Nevada inszeniert worden sei. Selbst wenn man das glauben wollte, von Wissen kann hier wohl kaum die Rede sein, setzt man damit immer noch ein reales Referenzereignis voraus, nämlich das der Studioinszenierung der Mondlandung, welche, ob nun unter der Regie Kubricks oder eines anderen, eben nicht in dem aufgeht, was man im Fernsehen in der Nacht des 114 | Die Reihe reicht von Publikationen wie We Have Never Went to the Moon von 1974 und Moongate von 1982 bis hin zu der breit rezipierten Fox-Dokumentation Conspiracy Theory: Did We Land on the Moon? aus dem Jahre 2001. Siehe hierzu ausführlich und inklusive der Nachweise der Publikationen und Dokumentationen Michal (2003).
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20. Juli 1969 sehen konnte. Und selbst so ein extremes Beispiel wie die erwähnten Bilder der mit nose-cameras ausgestatteten Raketen im Golfkrieg 1991, mittels derer das Ereignis der Zerstörung und das Medienereignis der Aufzeichnung der Zerstörung scheinbar zur Deckung gebracht wurden, macht deutlich, dass dann, wenn man die Perspektive nicht auf die des westlichen Fernsehzuschauers verkürzt, auch hier eine deutliche Differenz von Ereignis und Medienereignis rekonstruierbar bleibt – nämlich dahingehend, dass eine fundamentale Differenz hinsichtlich der Realität der Gewalt und der Realität des dadurch verursachten Leids für den westlichen Fernsehzuschauer einerseits und das menschliche Ziel der Rakete andererseits nicht nur angenommen werden kann, sondern angenommen werden muss. Im Rahmen eines interdependenztheoretischen Ansatzes wird daher im Gegensatz zu einem immanenztheoretischen das Epistemologische nicht auf das Empirische reduziert. Damit geht zugleich die ›Wiederauferstehung‹ einer Korrespondenz zwischen Ereignis und Medienereignis einher, allerdings einer über die einseitige Kausalität von korrespondenztheoretischen Ansätzen hinausgehenden wechselseitigen Korrespondenz als Interdependenz von Ereignis und Medienereignis. Das soll im Folgenden wiederum anhand der Subjunktionen 1 bis 4 ausformuliert werden.
Massenmediale Ereignisstrukturen 4 Nach dem bisher Gesagten können im Rahmen einer Interdependenztheorie der Medien die Subjunktionen 1 und 4 gelten, die Subjunktionen 2 und 3 dagegen nicht. Da wiederum nicht von Ereignissen an sich, sondern von Referenzereignissen die Rede ist, kann im Rahmen der diskursiven Grammatik sinnvoll behauptet werden: »Wenn ein Referenzereignis existiert, dann existiert ein Medienereignis« (1), genauso wie: »Wenn ein Medienereignis existiert, dann existiert ein Referenzereignis« (Trans. 4). Gleichzeitig gilt auch »Wenn kein Medienereignis existiert, dann existiert kein Referenzereignis« (Trans. 1) und »Wenn kein Referenzereignis existiert, dann existiert kein Medienereignis« (4). Interdependenztheoretisch sollen Medienereignisse sich stets in komplexen Beziehungen zu Referenzereignissen befinden, sodass die einen existieren, wenn die anderen existieren, oder beide nicht existieren, das eine also nicht ohne das andere existiert. Letzterem widersprechen aber die Subjunktionen 2 und 3:115 »Wenn ein 115 | Prädikatenlogisch betrachtet würde beispielsweise die Subjunktion 2 den Fall negieren, dass sowohl ein Ereignis als auch ein Medienereignis auftritt, da, wie oben
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Ereignis existiert, dann existiert kein Medienereignis« und »Wenn kein Ereignis existiert, dann existiert ein Medienereignis«, sodass diese gerade nicht als sinnvolle Aussagen angesehen werden können. Der Umstand, dass im Rahmen einer Interdependenztheorie die Subjunktionen 1 und 4 gelten und somit auch ihre Transpositionen gelten müssen, ermöglicht nun eine Reihe von formalen Ableitungen: Aus der gemeinsamen Gültigkeit der Subjunktion 1 und der Transposition von Subjunktion 4 folgt unter Anwendung der Ersetzungsregel der materiellen Äquivalenz116 [(E ME) (ME E)] [ME E] und aus der Gültigkeit von Subjunktion 4 und Transposition 1 entsprechend [(¬E ¬ME) (¬ME ¬E)] [¬ME ¬E]. Mittels der Ersetzungsregel können die Subjunktionsverhältnisse also zu Äquivalenzverhältnissen umgeformt und zusammengefasst werden.117 Die Äquivalenz selbst lässt sich dabei als ein Sonderfall der Subjunktion beschreiben, woraus sich auch die Äquivalenzregel selbst erklärt: Während beispielsweise für den Satz »Wenn etwas ein Frosch ist, dann ist es auch ein Tier« (allgemein: p q) zwar die Transposition »Wenn etwas kein Tier ist, dann es auch kein Frosch« (¬q ¬p) gilt, kann, wie gesehen, dessen Umkehrung »Wenn etwas ein Tier ist, dann ist es auch ein Frosch« nicht gelten. Es handelt sich hier mit Löbner (2003: 90) bloß um eine »einseitige Implikation« oder Subjunktion. Dagegen stellt etwa die Aussage »Wenn heute Montag ist, dann ist morgen Dienstag« (p q) den Sonderfall einer Implikation/Subjunktion dar, indem nun auch gilt »Wenn morgen Dienstag ist, dann ist heute Montag« (q p). In diesem Fall ist also aus p folgt q und aus q folgt p wahr, formal: (p q) (q p). Dieser Sonderfall einer »wechselseitigen Implikation« oder Bisubjunktion wird »als Äquivalenz bereits aufgeführt, (x) E(x) ¬ME(x), sprich: »Für alle x gilt, wenn x ein Ereignis ist, dann ist x kein Medienereignis«, logisch äquivalent zu ¬ (x) E(x) ME(x) ist, sprich: »Für kein x gilt, x ist ein Ereignis und ein Medienereignis«. Subjunktion 3 negiert dagegen den Fall, dass weder ein Ereignis noch ein Medienereignis existiert. Wie ebenfalls bereits oben aufgeführt, ist (x) ¬E(x) ME(x), sprich: »Für alle x gilt, wenn x kein Ereignis ist, dann ist x ein Medienereignis«, logisch äquivalent zu ¬ (x) ¬E(x) ¬ME(x), sprich: »Für kein x gilt, x ist kein Ereignis und kein Medienereignis«. Beides widerspricht ganz offensichtlich den Axiomen einer Interdependenztheorie. 116 | Diese findet sich, wenn auch mit zum Teil abweichenden Benennungen, in praktisch allen Standardlogiken, so etwa bei Bochen´ski (1973: 42), Bucher (1998: 118) und Copi (1998: 156). 117 | Prädikatenlogischen gilt aufgrund derselben Schlussregel entsprechend: {[ (x) E(x) ME(x)] [ (x) ME(x) E(x)]} [ (x) ME(x) E(x)] sowie {[ (x) ¬E(x) ¬ME(x)] [ (x) ¬ME(x) ¬E(x)]} [ (x) ¬ME(x) ¬E(x)].
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definiert« (Löbner 2003: 90), formal als p q. Genau damit ist schließlich auch die allgemeine Form der Ersetzungsregel der materiellen Äquivalenz beschrieben, namentlich mit [(p q) (q p)] (p q).118 Für eine Interdependenztheorie der Medien bedeutet dies, dass sie sich zunächst auf zwei Äquivalenzverhältnisse reduzieren, genauer: zu diesen zusammenfassen lässt, nämlich erstens zu der Aussage »Dann und nur dann, wenn ein Referenzereignis existiert, existiert ein Medienereignis«, formal: E ME, und zweitens zu der Aussage »Dann und nur dann, wenn kein Referenzereignis existiert, existiert kein Medienereignis«, formal ¬E ¬ME; oder nochmals in Anlehnung an Bocheński (1973: 35) ausformuliert: Es kann »nicht eins allein«, also ein Medienereignis ohne Referenzereignis und vice versa, sondern nur »beides oder keins« existieren. Dasselbe hätte sich bereits für nicht-fiktionale Medienereignisse im Rahmen einer Korrespondenztheorie sagen lassen, da auch für diese bezogen auf ihre Referenzereignisse die Subjunktionen 1 und 4 gelten; allerdings, wie gesehen, nur für den Bereich des Nicht-Fiktionalen und mit einer zusätzlichen Kausalitätsannahme, welche gerade nicht für eine Interdependenztheorie gelten kann. Zwar widerspricht eine Kausalannahme formal nicht der Satzform der Äquivalenz. Äquivalenzen beschreiben zunächst nur das notwendige gemeinsame Vorhandensein oder Nichtvorhandensein beliebiger Terme p und q. Jedoch ist die Vorstellung, dass ein Medienereignis ursächlich durch ein Referenzereignis bedingt ist, welches es selbst ursächlich bedingt, dass also E einerseits ME verursacht und ME andererseits E verursacht, kaum mehr mit dem zu verbinden, was konventionell unter Kausalität respektive einer einseitig bedingten Kausalrelation verstanden wird. Man muss also insbesondere im Rahmen einer Interdependenztheorie der Medien entweder von einer neuen Vorstellung von Kausalität in Form einer wechselseitigen oder, mit Bolz, zirkulären Kausalität ausgehen oder aber die Kategorie der Kausalität sinnvollerweise für die Beschreibung der Relationen zwischen Ereignissen und Medienereignissen aufgeben. An der Differenz zwischen Korrespondenz- und Interdependenztheorie einerseits und Interdependenztheorie und Immanenztheorie andererseits
118 | Die Konjunktion ›und‹ bindet stärker als die Äquivalenz, daher kann hier (und hätte auch zuvor) auf Klammern um die Konjunktion verzichtet werden (können). Auch setze ich insgesamt Klammern nicht ökonomisch, also nicht nur dann, wenn sie notwendig sind, sondern explikatorisch, also zum Teil auch dort, wo sie zwar nicht notwendig sind, aber die Formeln nachvollziehbarer und übersichtlicher machen.
Kapitel 1: Realität massenmedialer Ereignisse
zeigt sich nun deutlich, dass eine Interdependenztheorie der Medien jeweils das konsistentere Erklärungsraster zu bieten scheint, um massenmediale Ereignisstrukturen zu beschreiben – allerdings nur dann, wenn sich das für die Interdependenztheorie Gesagte auf fi ktionale und nichtfiktionale Ereignisse gleichermaßen anwenden lässt.
Reale Fiktion und fiktionale Realität Ein konsequenter und homogener interdependenztheoretischer Ansatz legt also nahe, dass eine wechselseitige Abhängigkeit von Ereignis und Medienereignis sowohl für den Bereich des Realistischen als auch für den Bereich des Fiktionalen Gültigkeit beanspruchen kann. In diesem Zusammenhang lässt sich eine Überlegung der Soziologin Elena Esposito nutzbar machen. Diese setzt an Luhmanns (2000: 59) These an, dass »für den Beobachter […] erst dann Realität [entsteht], wenn es in der Welt etwas gibt, wovon sie unterschieden werden kann«. Das, wovon Realität in der kulturellen Praxis unterschieden wird, ist laut Esposito (2007: 120) einerseits die »ausdrückliche Fiktion« der Literatur oder Kunst, welche sich in der Neuzeit erst »in einem langwierigen Prozeß aus dem semantischen Umfeld von Lüge und Halluzination emanzipieren musste«; andererseits soll es sich dabei um die »Realitätsfiktionen der Wahrscheinlichkeitstheorie« handeln. Während Erstere eindeutig von dem, was wir als Wirklichkeit ansehen, getrennt ist, sollen Letztere Prognosen über eine zukünftige Wirklichkeit liefern, womit sie als realitätsnäher als bloße Fiktionen gelten. In ihrem Essay Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität zeigt Esposito jedoch auf, wie beide, Wahrscheinlichkeitstheorien und Fiktionen, einander strukturell entsprechen, indem sie jeweils mit ›Wirklichkeit‹ in einem Verhältnis der Zirkularität oder Interdependenz stehen. Prognosen, die auf der Basis von Wahrscheinlichkeitstheorien Aussagen über die Zukunft machen, sind laut Esposito zwar insofern an Realität gebunden, als sie Prognosen zukünftiger Wirklichkeit auf der Basis von Daten vergangener Wirklichkeit machen. Allerdings stellen diese Prognosen nur Fiktionen dar. Sie sind Fiktionen, insofern die wahrscheinlichkeitstheoretischen Verfahren auf Hypersimplifikationen beruhen. Das fängt schon damit an, dass Wahrscheinlichkeitsmodelle eine abzählbare Zahl von Möglichkeiten und eine Gleichverteilung der Wahrscheinlichkeiten und damit die Zufälligkeit von Ereignissen voraussetzen. All das fordert das Modell laut Esposito aber eher von der Realität, als dass es an ihr zu beobachten wäre:
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Terror und Propaganda Die Konstruktion des Wahrscheinlichen stützt sich auf den Zufall, der als eine Art Residualkategorie gebraucht wird, sobald man zugeben muß, daß man die Welt nicht kennt: In der ›realen‹ Realität gibt es bekanntlich keinen Zufall. Daß man sich überhaupt auf ihn einlässt und er (in Form der gleichen Wahrscheinlichkeiten der möglichen Fälle, etwa bei Würfeln) sogar eine unverzichtbare Voraussetzung der Wahrscheinlichkeitsrechnung darstellt, bezeugt […], daß es sich dabei um eine Fiktion handelt. (2007: 47)
Außerdem basieren die Wahrscheinlichkeitsrechnungen selbst »auf der Annahme, daß die Ereignisse unabhängig voneinander sind und sie sich nicht gegenseitig beeinflussen« (2007: 48). Aber gerade dieses Axiom wahrscheinlichkeitstheoretischer Prognosen ist laut Esposito äußerst problematisch. Im sozialen System einer (modernen) Gesellschaft treffen Personen Entscheidungen auf der Basis der Beobachtung des Verhaltens anderer Personen, die selbst Entscheidungen auf der Basis der Beobachtung des Verhaltens, inklusive der Entscheidungen, anderer Personen treffen. Das macht – argumentativ an Esposito anknüpfend – die soziale Realität nicht nur komplexer als ihre wahrscheinlichkeitstheoretische Modellierung, sondern Prognosen sind von vornherein fiktiv, weil sie Aussagen über eine zukünftige Realität machen wollen, ohne die Konsequenzen absehen zu können, die die Prognosen für die Entscheidungen anderer und damit auch für die prognostizierte Realität haben. Und selbst die Beobachtungen vergangener Realität, anhand derer die Prognosen heute gemacht werden, wären in der Zukunft ihres Eintreffens andere, da der zukünftige Beobachter unter anderen Voraussetzungen andere Beobachtungen machen würde. Während es Esposito überzeugend gelingt, die Fiktionalität von wahrscheinlichkeitstheoretischen Prognosen zu belegen (2007: 27ff.), leugnet sie doch niemals den Realitätsbezug dieser Fiktionen. Vielmehr beziehen sich diese, wenn auch gerade nicht im Sinne einer präzisen Abbildung, einerseits auf vergangene Realität und wirken andererseits auf zukünftige Realität: Wenn man sich unter den Bedingungen einer grundsätzlich unbekannten Zukunft in der Gegenwart auf diese beziehen muss, dann ist der einzige Ausweg eine Fiktion, die an ihre Stelle tritt; keine willkürliche Fiktion allerdings, sondern eine, die anhand nachvollziehbarer Regeln entwickelt wird, über die unter den Beteiligten Einigkeit besteht. Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie stellen so eine irreale, aber realistische Realität dar, gerade weil sie diese vereinfachen und auf eine Weise durchschaubar machen, die die reale Welt nie zulassen würde. (2007: 57)
Kapitel 1: Realität massenmedialer Ereignisse
Und genau das haben wahrscheinlichkeitstheoretische und künstlerische Fiktionen gemein. Prognosen beziehen sich ebenso wie ausgewiesene Fiktionen auf eine ›reale Realität‹, indem sie unterkomplexe Welten auf der Grundlage imaginärer Prämissen liefern, anhand derer man seine Handlungsoptionen kommunikativ schulen und ausrichten kann. Dasselbe gilt für künstlerische Fiktionen, auch diese liefern derartige Welten. Der Unterschied liegt allein darin, dass künstlerische Fiktionen eine ›fiktive Realität‹ explizit kommunizieren, während Prognosen genauso wie Dokumentationen oder Nachrichten behaupten, von der ›realen Realität‹ der Zukunft bzw. der Gegenwart und Vergangenheit zu berichten. Das ist allerdings nicht möglich. Auch sie berichten nur von realer Realität, insofern sie unterkomplexe fi ktive Realitäten stiften: Nachrichten wie Fiktionen sind nach Esposito nur darum »realistisch«, weil sie nicht real sind.119 Aber trotzdem oder gerade deshalb sind sie auf vergangene Realitäten bezogen und lassen sich auf zukünftige Realitäten beziehen – sei dies nun im Sinne eines Modells oder Gegenmodells zu dem, was diskursiv gerade für real gehalten wird oder zukünftig gehalten werden soll. Genau an dieser Stelle zeigt sich aber auch, dass sich Fiktionen, obwohl sie sich wie Nachrichten auf Realitäten beziehen, von diesen auch weiterhin hinsichtlich ihres spezifischen Realitätsbezugs unterscheiden und – im Sinne Kepplers – unterschiedlich codieren lassen. Für eine Interdependenztheorie der Massenmedien folgt daraus, dass die Subjunktionen 1 und 4 und die daraus abgeleiteten Äquivalenzen nun uneingeschränkt Geltung beanspruchen können, also sowohl im Falle dessen, was als realistisch, als auch dessen, was als fi ktional verhandelt wird: Es existiert – nach der Grammatik eines interdependenztheoretischen Sprachspiels – einerseits dann und nur dann, wenn ein Korrespondenzereignis existiert, auch ein Medienereignis und andererseits dann und nur dann, wenn kein Korrespondenzereignis existiert, auch kein Medienereignis. Formal zeigt sich zudem, dass die beiden Aussagen ME E und ¬ME ¬E wiederum zueinander äquivalent sind. So gilt unter Anwendung der Umformungsregel der Inversion der Äquivalenz120 (ME E) 119 | Siehe hierzu Esposito (2007: 17f.) und ausführlich Esposito (1998: 271ff.). 120 | Diese formuliert, soweit ich es überblicke, ausschließlich Bochen´ski (1973: 42) in allgemeiner Form als (p q) (¬p ¬q). Die Äquivalenz zwischen beiden Aussagen und damit auch die Inversion der Äquivalenz lässt sich aber auch mittels der bereits bekannten Umformungsregeln herleiten. Unter Anwendung der materiellen Äquivalenz [1], der (doppelten) Anwendung der Transposition [2] und der abermaligen Anwendung der materiellen Äquivalenz [3] erhält man: [ME E] [1] [(ME E) (E ME)] [2] [(¬E ¬ME) (¬ME ¬E)] [3] [¬ME ¬E].
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(¬ME ¬E),121 sprich: »Genau dann, wenn ein Medienereignis existiert, existiert auch ein Ereignis, gilt genau dann, wenn auch gilt: Genau dann, wenn kein Medienereignis existiert, existiert auch kein Ereignis.« Was aufgrund seiner standardisierten metasprachlichen Form ebenso schwer ausdrückbar wie nachvollziehbar ist, erweist sich in seiner Umformulierung letztlich als einsichtig: Ein Medienereignis kann interdependenztheoretisch eben nur dann existieren, wenn ein Referenzereignis existiert, und folglich nur dann nicht existieren, wenn kein Referenzereignis existiert. So ist mit ME E alles, das heißt in der Ausformulierung der in ME E enthaltenen formalen und metasprachlichen Implikationsverhältnisse alles über die Struktur einer interdependenztheoretischen Medientheorie, gesagt – im Vergleich mit einer Korrespondenztheorie schließlich auch, dass es sich bei einer Interdependenztheorie der Massenmedien um eine nach formalen Gesichtspunkten konsistente Theorie zur Beschreibung von fiktionalen und nicht-fiktionalen Ereignisstrukturen handelt, die axiomatische Widersprüche ebenso wie Inkonsistenzen zu vermeiden weiß. Im Vergleich der Interdependenztheorie mit einer Immanenztheorie der Medien zeigt sich zudem, dass es sich bei der ersten im Gegensatz zur zweiten überhaupt erst um eine Theorie zur Beschreibung von massenmedialen Ereignisstrukturen und nicht bloß um eine Tautologie handelt.
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WAHRHEIT UND ENT SCHEIDUNG
Selbst wenn im Verlauf des medientheoretischen Diskurses bereits eine Entscheidung für eine Interdependenztheorie der Massenmedien gefallen ist, heißt das nicht, dass damit die Frage nach der Realität massenmedialer Ereignisse beantwortet wäre. Es wurde nicht mehr, allerdings auch nicht weniger als eine Entscheidung für eine Theorie zur Beschreibung derselben getroffen. Und nach Heinz von Foerster konnte diese Entscheidung nur darum getroffen werden, weil die Frage nach der Realität massenmedialer Ereignisse »prinzipiell unentscheidbar« ist (1989: 30) und als eine solche nicht nur entschieden werden kann, sondern entschieden werden muss. Mit von Foerster gilt auch für Medientheorien: »Wir unterliegen keinem Zwang, auch nicht dem der Logik, wenn wir über prinzipiell unentscheidbare Fragen Entscheidungen treffen« (1993: 352). Demzufolge entscheidet auch nicht zwangsläufig und gleichsam automatisch das logische 121 | Prädikatenlogisch gilt ebenfalls entsprechend: [ (x) ME(x) ¬ME(x) ¬E(x)].
E(x)]
[ (x)
Kapitel 1: Realität massenmedialer Ereignisse
Raster, das hier angelegt wurde, um die drei Theorieansätze systematisch miteinander zu vergleichen. Medientheoretische Diskurse bewegen sich im Feld des Synthetischen. Sie sollen damit zwar in ihrer inneren Struktur logischer Notwendigkeit folgen, das heißt immanente Widersprüche und tautologische Aussagen vermeiden, sie selbst müssen aber nicht aus logischer Notwendigkeit heraus gewählt werden. Trotzdem oder gerade deshalb muss man sich entscheiden: Fast jeder nimmt am massenmedialen Diskurs teil und hat irgendeine, wenn auch nur implizite, Vorstellung davon, wie sich Massenmedien auf Realität beziehen. So kann man entweder dem massenmedialen Diskurs glauben, wenn er immer wieder explizit oder implizit seinen Abbildrealismus und damit eine Korrespondenztheorie der Massenmedien (als Nulldiskurs) propagiert. Man kann auch einer Immanenztheorie folgend die Perspektive auf den Beobachter verkürzen und damit auf das Medium selbst, das nun in geradezu göttlicher Omnipräsenz von jeder Realität Besitz ergreift und eine extramediale Realität bis zur Auflösung desavouiert. Oder man kann vernünftigerweise auch weiterhin von der Existenz extramedialer Realitäten ausgehen und einem interdependenztheoretischen Ansatz folgend eine komplexe Abhängigkeitsbeziehung zwischen Medienereignissen und korrespondierenden Referenzereignissen unterstellen. Darin, wofür man sich entscheidet, ist man, wie von Foerster weiß, frei. Trotzdem ist die Entscheidung nicht beliebig, sondern geschieht auf der Basis von Plausibilitätskriterien, zumindest dann, wenn man sich für eine Entscheidung entscheidet, statt für sich entscheiden zu lassen und nur glaubt, was Medien über sich als Medien behaupten, oder aber bloß um des Zweifelns willen bezweifelt, was Medien über sich selbst behaupten. Genau hierin liegt auch das Argument für eine Interdependenztheorie der Massenmedien, sie scheint schlicht plausibler als eine Korrespondenztheorie oder eine Immanenztheorie: So produzieren korrespondenztheoretische Ansätze, wenn sie Fiktionen von nicht-fiktionalen Nachrichten strukturell unterscheidbar machen wollen, entweder axiomatische Widersprüche oder tautologische und damit ›leere‹ Aussagen oder sie weisen über sich selbst als Medientheorien hinaus, indem sie über ein primäres und unabhängiges Ereignis der Realität spekulieren. Auch der Versuch, Fiktionen als das medienimmanente Andere von nicht-fi ktionalen Ereignissen zu beschreiben, sprengt nicht nur den Rahmen einer Korrespondenztheorie, sondern schreibt dieser zudem die Aporien einer Immanenztheorie ein. Zwar erscheinen Immanenztheorien in ihrer Reduktion auf das bloße Existieren von Medienereignissen unabhängig von Korrespondenzereignissen zunächst durchaus homogen, jedoch handeln sie sich in ihrer
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skeptizistischen Perspektivverkürzung die Prämissen einer immaterialistischen Erkenntnistheorie und mit diesen unauflösbare Aporien ein. Indem Immanenztheorien – als Medien- und als Erkenntnistheorien – nicht über das sprechen wollen, was über die unmittelbare Wahrnehmung hinausgeht, können sie letztlich nicht einmal über das notwendige Subjekt der Wahrnehmung sprechen. Immanenztheorien der Medien dekonstruieren so in ihrer letzten Konsequenz das Subjekt der Wahrnehmung, das ebenso wie das reale Ereignis hinter der Omnipräsenz der Medienereignisse verschwindet. Und Immanenztheorien sind gerade deshalb als Medientheorien so wenig plausibel, weil sie in ihrer Verabsolutierung des Medienereignisses jeden Diskurs über relationale extramediale Realitäten ad acta legen. Darüber muss jedoch auch weiterhin gesprochen werden, gerade wenn es um politisch motivierte Gewalt geht – außer man möchte sich als Zuschauer in einer Blasiertheit gegenüber der subjektiven Realität der Gewalterfahrung ergehen und sich in die Rolle eines soziopathischen Medienbeobachters begeben, um sich mit dem Leid der anderen schließlich auch selbst abzuschaffen. Dagegen weist eine Interdependenztheorie der Medien weder über sich selbst als Medientheorie hinaus, noch leugnet sie einen Zusammenhang zwischen medialer und extramedialer Realität. Im Rahmen eines interdependenztheoretischen Modells lassen sich Medienereignisse auch weiterhin auf Ereignisse außerhalb der Massenmedien beziehen und bleiben Gewalterfahrungen bewertbar, ohne dass Medienereignisse einseitig durch reale Ereignisse determiniert würden. Genau das macht eine Immanenztheorie der Massenmedien letztlich plausibler als korrespondenztheoretische Ansätze einerseits und immanenztheoretische Ansätze andererseits. Allerdings schließt all das nicht aus, dass sich eine andere und neue Medientheorie abermals als plausibler als eine Interdependenztheorie der Massenmedien erweisen könnte. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wurde jedoch aus gutem Grund eine Entscheidung für eine Interdependenztheorie getroffen, auf deren Basis im Folgenden eine – auch epistemologisch reflektierte und reflektierende – Rekonstruktion konsistenter Strukturen massenmedialer Diskurse über politisch motivierte Gewalt und ihre Täter möglich wird. Dabei unterscheiden sich konsistente Diskurse zwar nicht zwangsläufig, aber faktisch, formal gesprochen: nicht notwendig, aber wirklich,122 von tatsächlich geführten Diskursen über po122 | Bei Zoglauer (2008: 123f.) heißt es axiomatisch: »Was notwendig ist, ist auch wirklich«. Somit gilt zwar die Transposition »Was nicht wirklich ist, ist auch nicht notwendig«, aber nicht die Umkehrung »Was wirklich ist, ist auch notwendig«. Man kann von der
Kapitel 1: Realität massenmedialer Ereignisse
litisch motivierte Gewalt und ihre Täter, was im Einzelnen noch zu zeigen sein wird. Im Zentrum der Diskussion massenmedialer Gewaltdiskurse wird zudem stets auch die Frage nach der Glaubwürdigkeit von massenmedialen Äußerungen stehen. Dem liegt die Prämisse zugrunde, dass im Rahmen massenmedialer Diskurse in der Regel nicht sinnvoll nach der Wahrheit einer massenmedialen Äußerung gefragt werden kann. Zwar bleibt es im Rahmen eines interdependenztheoretischen Ansatzes grundsätzlich möglich, Äußerungen auf ein reales Referenzereignis zu beziehen, welches das Medienereignis bewahrheitet. Allerdings entspricht das – noch unabhängig davon, was dieses Bewahrheiten bezogen auf politisch motivierte Gewalt überhaupt bedeuten kann123 – nicht einer normalen massenmedialen Kommunikationssituation. Beinahe alle Medienereignisse werden vom Beob achter eben nicht zusammen mit ihren realen Referenzereignissen erfahren, sodass die Medienereignisse an ihren Referenzereignissen überprüfbar wären. Medienereignisse sind fast ausnahmslos nicht an prämedialen Realitäten validierbar, sondern einzig an der Glaubwürdigkeit medial behaupteter Realitäten: Realität und damit Wahrheit rekonstruiert sich massenmedial in der Regel erst als glaubwürdige Behauptung einer Realität, die dem Medienereignis sekundär als reales Referenzereignis unterlegt wird, sodass sich die Wahrheit eines medialen Ereignisses auf die relative Gewissheit glaubwürdiger Realitätskonstruktionen reduziert: In unserem praktischen Leben hängen wir von der Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit, Wahrhaftigkeit unserer Mitmenschen bei weitem mehr ab als von der Wahrheit der wenigen Aussagen, die wir selbst nachprüfen können. […] Das gilt insbesondere […] für wissenschaftliche Äußerungen, die wir ja in der Regel zunächst in Büchern lesen, von Kathedern hören, oder von der Unmasse der Informationen, mit denen wir täglich durch Zeitungen und andere Nachrichtenmittel überhäuft werden. (Kamlah/Lorenzen 1996: 126f.)
Im Gegensatz zu der von Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen in ihrer Logischen Propädeutik aus dem Jahre 1972 adressierten Glaubwürdigkeit von wissenschaftlichen Äußerungen geht es hier um die Glaubwürdigkeit von massenmedialen Äußerungen über politisch motivierte Gewalt. Und trotzdem muss auch für diese das in Anspruch genommen werden, was Notwendigkeit auf das Sein schließen, nicht aber vom Sein auf dessen Notwendigkeit. Zur formallogischen Notwendigkeit im Folgenden aber noch ausführlich. 123 | Dazu in Kapitel 3 ausführlich.
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Kamlah und Lorenzen jedem »vernünftigen Reden« abverlangen, dass sich dieses Reden nämlich »nicht bloß durch Emotionen und nicht durch bloße Traditionen oder Moden bestimmen lässt« (1996: 128), sondern vor allem durch eines: Widerspruchsfreiheit. Selbst wenn sich diese Forderung im faktischen Diskurs über politisch motivierte Gewalt kaum einlösen lassen wird, hat sie – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – gerade als Forderung an einen glaubwürdigen massenmedialen Diskurs über politisch motivierte Gewalt und deren Täter ihre Berechtigung.
Kapitel 2 Logik des Terrors
Auf der Basis einer Interdependenztheorie der Massenmedien wird nun anhand der Begriffe ›Terrorist‹ und ›Freiheitskämpfer‹, genauer: ihrer Semantik, schrittweise eine Taxonomie von Diskursen über politisch motivierte Gewalt und ihre Täter entwickelt. Im Zuge dessen sollen die eingangs am Beispiel des ›War on Terror‹ formulierte Frage nach der Diskurshoheit im Diskurs über politisch motivierte Gewalt ebenso wie die in Kapitel 1 formulierte Frage nach der Glaubwürdigkeit, wenn nicht von medialen Äußerungen an sich, so doch von Diskursen über politisch motivierte Gewalt und ihre Täter, beantwortet werden. Die Taxonomie etabliert hierfür ein formallogisch informiertes Raster zur Beurteilung ebensolcher Diskurse – auf der ersten Ebene der Taxonomie hinsichtlich allgemeiner Definitionen, auf der zweiten Ebene hinsichtlich der aus den Definitionen resultierenden Möglichkeiten von Propaganda und auf der dritten Ebene bezogen auf Ideologeme, welche einerseits den Definitionen politisch motivierter Gewalttaten und -täter und andererseits der Propaganda über diese zugrunde liegen. Die Ausarbeitung der drei Ebenen der Taxonomie nutzt dabei das Instrumentarium der Prädikatenlogik und ergänzt dieses um Elemente der Relations- und der Modallogik.124
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TERRORIS T ODER FREIHEIT SK ÄMPFER
Seit dem 11. September 2001 ist der Begriff des Terroristen medial nicht nur belastet, er wird auch nach Belieben von jedermann auf beinahe jeden an124 | Siehe zum formalen Apparat der Modallogik etwa Zoglauer (2008: 116ff.), zu dem der Relationslogik etwa Borkowski (1977: 225ff.). Insbesondere Letztere wird aber nur sehr reduziert angewendet.
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gewendet, solange dieser gewaltsam politisch aktiv wird. Dabei scheint es – wie eingangs dargestellt – insbesondere im Rahmen hegemonialer Diskurse, wie sie seit dem 11. September immer wieder geführt werden, auszureichen, sich einer Diskurshoheit zu bemächtigen, um jemanden als Terroristen zu bestimmen. Begründungen erscheinen irrelevant, Definitionen obsolet: Ein Terrorist ist ein Terrorist, bloß weil man ihn als einen solchen bezeichnet. Will man sich jedoch nicht nur auf der Ebene von tautologischen Aussagen bewegen und einen Terroristen einzig dadurch definieren, dass er ein Terrorist ist, also in der Form T(x) T(x), dann muss der Terrorist durch eine Eigenschaft definiert sein, die gerade nicht die des Terrorist-Seins ist. Einen Ansatz bietet hier der Begriff selbst: Betrachtet man ›Terrorist‹ hinsichtlich seines etymologischen Ursprungs, so leitet sich der Begriff vom lateinischen ›terrere‹ (erschrecken) ab.125 Dies wird zum Anlass genommen, ›Terrorist‹ als ›Erschrecker‹ zu definieren, in einem (grammatikalisch) transitiven Sinne als Erschrecker von jemandem. Dadurch wird es möglich, den Begriff relational zu machen und als zweistelliges Prädikat zu bestimmen, formal T(x) E(y,x): »x ist genau dann ein Terrorist, wenn y sich durch x erschreckt fühlt«.126 In der relationalen Erfassung von »y fühlt sich durch x eschreckt« bzw. »y wird durch x erschreckt«,127 E(y,x), drückt x also die Menge der Erschrecker und y die Menge der Erschreckten aus, Letztere bezogen auf die Welt oder eine regionale Bevölkerung. Analog kann ein Freiheitskämpfer als Befreier von jemandem bestimmt und entsprechend als F(x) B(y,x) definiert werden: x ist also genau dann ein Freiheitskämpfer, wenn y sich durch x befreit fühlt, sodass in der relationalen Erfassung von »y wird durch x befreit«,128 B(y,x), x nun die Menge der Befreier und y die Menge der Befreiten ausdrückt, Letztere wiederum bezogen auf die Welt oder eine regionale Bevölkerung.
125 | Siehe zur Etymologie des Begriffs beispielsweise Hau (1986: 1035f.) und Köbler (1995: 405) 126 | Vorüberlegungen zum gesamten ersten Teil des Kapitels (Taxonomie erster Ebene) finden sich in Harz/Petersen (2008). Diese weichen jedoch – insbesondere in ihren zum Teil defizitären Formalisierungen – deutlich vom Folgenden ab, sodass hier letztlich auch so etwas wie eine Revision des Artikels aus dem Jahre 2008 stattfindet. 127 | Beides, ›erschreckt fühlen‹ und ›erschreckt sein‹, wird im Folgenden synonym gesetzt, sodass in diesem und nur in diesem Kontext esse est percipi, sprich: »Sein ist wahrgenommen werden«, gilt, weil »Sein ist gefühlt werden« gilt. 128 | Hier gilt das Analoge zu ›erschreckt sein‹.
Kapitel 2: Logik des Terrors
Aber auch das genügt nicht, um ›Terrorist‹ und ›Freiheitskämpfer‹ hinreichend zu bestimmen. Beides, Erschrecken und Befreien, ist im Rahmen eines Diskurses über Terroristen oder Freiheitskämpfer an Gewaltakte (z) gebunden, genauer an Akte politisch motivierter Gewalt. Daher ist auch die Gewaltanwendung formal zu berücksichtigen,129 indem beide Prädikate als dreistellige Prädikate ausgezeichnet werden. Somit gilt für die Erschreckerrelation »y wird von x und z erschreckt« und entsprechend für die Befreierrelation »y wird von x und z befreit«. Daraus ergeben sich wiederum folgende Aussageformen: für den Terroristen T(x,z) E(y,x,z), sprich: »x ist ein Terrorist und z ist ein Anschlag genau dann, wenn y sich von x mittels z erschreckt fühlt«, und für den Freiheitskämpfer F(x,z) B(y,x,z), sprich: »x ist ein Freiheitskämpfer und z ein Befreiungsschlag130 genau dann, wenn y sich von x mittels z befreit fühlt«. Wendet man diese Definitionen auf konkrete Fälle an, so erhält man Aussagen, deren Wahrheitsgehalt überprüfbar wird. Ein Beispiel: Das Bombenattentat von Claus Schenk Graf von Stauffenberg auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 bestimmt die Variablen x und z dahingehend, dass Stauffenberg der Gewalttäter und das Bombenattentat der Gewaltakt ist. Ob Stauffenberg ein Terrorist oder ein Freiheitskämpfer ist, ist damit jedoch noch nicht bestimmt. Zu einem Terroristen oder Freiheitskämpfer wird Stauffenberg erst dann, wenn auch das y bestimmt ist. Fühlt sich das y erschreckt, ist Stauffenberg ein Terrorist, fühlt es sich durch seine Tat befreit, so ist Stauffenberg ein Freiheitskämpfer. Wer oder was aber ist dieses y? Offensichtlich kein einzelnes Individuum, sonst wäre wiederum, je nachdem, wen man fragt, Stauffenberg mal ein Terrorist, mal ein Freiheitskämpfer. Es ist also nur sinnvoll, nicht einzelne Individuen oder einzelne Gruppen von Individuen zu fragen, sondern alle Individuen, zumindest alle betroffenen Individuen.131 Zwar scheint es zunächst einem intuitiven Rechts- oder Moralempfi nden zu widersprechen, wenn man behauptet, dass nicht die Gewalttäter 129 | Gewalt muss allerdings nicht formal berücksichtigt werden, da die Definitionen des Freiheitskämpfers und des Terroristen ausdrücklich im Kontext politisch motivierter Gewalt verortet sind, welche, wenn man so will, das Universum der Rede bildet, in dem sich die Begriffe bewegen. 130 | Auch wenn der Begriff des Befreiungsschlags ursprünglich aus dem Sport kommt (Duden 2006: 235), benutze ich ihn als eine inzwischen gängige (euphemistische) Bezeichnung für den Befreiungskampf eines politisch motivierten Gewalttäters. 131 | Ein, wenn es um eine exakte Bestimmung der Referenzgruppe geht, nicht unproblematisches Kriterium, auf das ich aber noch ausführlich zu sprechen komme.
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und die Gewaltakte terroristisch sind, sondern dass sie erst dazu werden, indem man beide im Rahmen einer Erschrecker- oder einer Befreierrelation versteht. Allerdings wird das plausibel, wenn man den Umstand nochmals am Widerstand während des Zweiten Weltkrieges konkretisiert: Das Bombenattentat von Claus Schenk Graf von Stauffenberg auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 gilt heute natürlich nicht als Terrorakt. Ob es aber auch 1944 als ein Befreiungsschlag gegolten hätte, steht allerdings infrage, schließlich ist die Referenzgruppe der Entscheider heute ein ganz andere als 1944. Entscheidend ist also die Bewertung von Tat und Täter, nicht etwa die Tat selbst. Auch wenn die Bombe Stauffenbergs eine größere Sprengkraft gehabt und Adolf Hitler nicht nur leicht verletzt, sondern wie geplant getötet hätte, würden wir den Gewaltakt heute selbstverständlich immer noch als Befreiungsschlag und Stauffenberg als Befreier, sprich: Freiheitskämpfer, verstehen. Ob das 1944 ebenso gewesen wäre, steht wiederum infrage. Betrachtet man nun die Referenzgruppen als solche, so bestehen diese nur aus denen, die sich entweder als Erschreckte oder als Befreite auffassen, deuten oder fühlen: Es kann zwar auch der Zustand eintreten, dass jemand keines von beiden oder sogar beides zugleich für sich in Anspruch nimmt. In diesen Fällen bleibt er jedoch unentschieden. Diese Fälle des Nicht-entscheiden-Wollens oder -Könnens werden im Folgenden im Zuge der Betrachtung von Gründen für eine Entscheidung gegen eine Entscheidung nochmals diskutiert. Den unmittelbar folgenden Überlegungen sollen dagegen ausschließlich Entscheidungen zugrunde gelegt werden. Das Verhältnis von Sich-erschreckt-Fühlen und Sich-befreit-Fühlen wird damit kontradiktorisch, was zur Folge hat, dass die Prädikate ›befreit fühlen‹ und ›nicht erschreckt fühlen‹ bzw. ›nicht befreit fühlen‹ und ›erschreckt fühlen‹ als formal äquivalent behandelt werden können.132 132 | Obwohl ich mich hier aus gutem Grund für eine kontradiktorische Modellierung entscheide, müssen die Unentschiedenen, die sich weder erschreckt noch befreit fühlen, aber nicht in jedem Fall, nicht notwendig vernachlässigt werden, selbst die nicht, die sich von einem Gewaltakt zugleich erschreckt und befreit fühlen. Die Möglichkeiten und Grenzen derart konträrer und kontingenter Modellierungen von ›erschrecken‹ und ›befreien‹ spiele ich am Beispiel von Anders Behring Breiviks Amoklauf im Jahre 2011 in Klimczak/Petersen (2015a) im Einzelnen durch. Die Grenze bzw. das Maximum einer kontingenten Modellierung, die ›erschrecken‹ und ›befreien‹ zugleich zulässt, liegt dabei ausdrücklich auf der Ebene der Einzelentscheidung, die noch keinen Begriff eines Terroristen oder Freiheitskämpfers bildet, wie er im Folgenden definiert wird; dazu ausführlich aber Klimczak/Petersen (2015a).
Kapitel 2: Logik des Terrors
Dabei geschieht die Vernachlässigung der Gruppe der Unentschiedenen nicht etwa nur aus heuristischen Gründen, sondern isomorph einer Wahlentscheidung. Auch bei einer Wahl habe ich die Möglichkeit, mich nicht zu entscheiden, sprich: zu enthalten, allerdings hier wie dort mit der Konsequenz, dass ich nicht am Diskurs teilnehme, solange ich mich nicht entscheide. Damit entscheiden schließlich die anderen für mich mit, und das Ergebnis der Wahl wird ausschließlich durch die Entscheider bestimmt. Umgekehrt zieht es weitreichende Konsequenzen nach sich, wenn man sich entscheidet. Jemanden etwa als Terroristen und nicht als Freiheitskämpfer zu bezeichnen, bedeutet, dass man sich nun im Rahmen der begrifflichen Struktur der Erschreckerrelation und nur im Rahmen dieser bewegt. Insofern stimmt der Satz »Was des einen Terroristen, ist des anderen Freiheitskämpfer«133 nur unter der Bedingung, dass man sich entscheidet: Ein und dieselbe Person kann man nicht sinnvollerweise gleichzeitig als Terroristen und als Freiheitskämpfer bezeichnen. Man könnte, wie gesehen, höchstens unentschieden bleiben; eine Position, die jedoch spätestens dann unmöglich wird, wenn man sich wie im Fall des ›War on Terror‹ gleichzeitig für einen Krieg entscheidet, welcher eine Entscheidung hinsichtlich des Status des Kriegsgegners – zumindest in einem rationalen Diskurs – voraussetzt. Zudem kann nun bestimmt werden, wem die Entscheidung darüber zukommt, ob im Einzelfall der eine mit seiner Entscheidung für den Terroristenbegriff oder der andere mit seiner Entscheidung für den Freiheitskämpferbegriff im Recht ist: Es ist die Mehrheit der am Diskurs beteiligten Entscheider. Im-Recht-Sein heißt damit nicht mehr, aber auch nicht weniger als auf der Seite der Mehrheit zu stehen. Der ›Rechtsbegriff‹ wird damit ein relativer und der Entscheidungsprozess ein demokratischer. Hiermit gelangt man – und das bleibt als ein erstes Ergebnis festzuhalten – von der Definitionshoheit Einzelner zum Definitionsentscheid einer (demokratischen) Mehrheit.
133 | Ein in der Spätphase des ›War on Terror‹ immer wieder kolportierter Ausspruch, dessen Urheber mir nicht bekannt ist. Allerdings heißt es bereits am 13. Mai 1986 in Ronald Reagans Radio Address to the Nation on Terrorism: »One man’s terrorist is another man’s freedom fighter«, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=37376, Abruf am 20. August 2015.
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Taxonomie erster Ebene: Entscheidungen über politisch motivierte Gewalt Aus den relationslogischen Überlegungen lassen sich aber noch weitere Folgerungen ziehen: Indem die durch den Freiheitskämpfer Befreiten zugleich Nicht-Erschreckte hinsichtlich des Befreiers und seiner Gewaltanwendungen sind, bilden sie eine Komplementärmenge134 zu den durch den Terroristen Erschreckten. Es gilt also B(y,x,z) ¬E(y,x,z), sprich: »y fühlt sich durch x und z genau dann befreit, wenn y sich durch x und z nicht erschreckt fühlt«. Somit wird über die obige Definition des Freiheitskämpfers hinaus eine genetische Definition möglich. Genetische Definitionen geben an, wie etwas entsteht, im vorliegenden Fall, wie aus dem Begriff des Terroristen der des Freiheitskämpfers entsteht. Aus dem kontradiktorischen Verhältnis von ›befreien‹ zu ›erschrecken‹ folgt: »x ist ein Freiheitskämpfer und z ein Befreiungsschlag genau dann, wenn y durch x und z nicht erschreckt wird«.135 Daraus ergeben sich die folgenden Formalisierungen, indem nun die Erschreckten und Nicht-Erschreckten aus der Referenzgruppe hinsichtlich der Majorität quantifiziert werden: 1
F(x,z) W(y) E(y,x,z)136/137 Jemand verübt als Freiheitskämpfer einen Befreiungsschlag = df Die Mehrheit fühlt sich durch den Gewalttäter/die Gewalttat nicht erschreckt.
134 | Evidenterweise deswegen, weil ›erschrecken‹ und ›befreien‹ als kontradiktorisch bestimmt wurden und eine beliebige Komplementärmenge S aus den und nur aus den Elementen besteht, die nicht zu ihrer Komplementärmenge S' zählen. Die Komplementärmenge aller Verheirateten bilden beispielsweise die Unverheirateten, die Komplementärmenge aller Erschreckten dementsprechend die Nicht-Erschreckten. Eine ausführliche mengenlogische Deutung der Komplementärmenge findet sich bei Bucher (1998: 24ff., 32ff.). 135 | Man könnte dies selbstverständlich auch umgekehrt definieren, wie also aus dem Begriff ›Freiheitskämpfer‹ der Begriff ›Terrorist‹ entsteht. 136 | F(x,z) = df (sprich: ist definiert als) »x ist ein Freiheitskämpfer und z ist ein Befreiungsschlag«; E(y,x,z) = df »y fühlt sich durch x und z erschreckt«. 137 | W(y) quantifiziert die Menge aller Entscheider hinsichtlich der Mehrheit (polnisch: Wi kszo ). Die Mehrheit wird dabei verstanden als 50% plus ein Individuum bis alle. Aus der Negation des W-Quantors folgt, dass die Minderheit als der Bereich zwischen 0 und 50% minus ein Individuum bestimmt ist. Mehrheit und Minderheit stehen damit in einem kontradiktorischen Verhältnis. Damit kann man die Minderheit allein
Kapitel 2: Logik des Terrors
Dies galt beispielsweise am 8. Januar 1959 als, wie es in einem Schulbuch der Deutschen Demokratischen Republik heißt, »die Bevölkerung [Havannas] ihre Befreier mit unbeschreiblicher Begeisterung« empfing (KramerKaske 1980: 36). Tatsächlich können Fidel Castro und die ca. 1.500 Rebellen, mit denen er die kubanische Hauptstadt erreichte, an diesem Tag und bezogen auf die kubanische Bevölkerung als Freiheitskämpfer und ihre Gewalttaten als Befreiungsschläge gelten. Dass Castro und seine Revolution von einer anderen Referenzgruppe oder zu einem anderen Zeitpunkt zweifellos anders beurteilt werden, ändert nichts an diesem Umstand. 2 T(x,z) W(y) E(y,x,z) Jemand verübt als Terrorist einen Anschlag = df Die Mehrheit fühlt sich durch den Gewalttäter/die Gewalttat erschreckt. So hatte z.B. Helmut Schmidt in seiner am 8. September 1977 an die Rote Armee Fraktion gerichteten Rede Recht: »Wir werden uns von Ihrem Wahnsinn nicht anstecken lassen. Sie halten sich für eine ausgewählte kleine Elite, welche ausersehen sei, so schreiben Sie, die Massen zu befreien. Sie irren sich. Die Massen stehen gegen Sie«.138 Wenn man »wir« als die Mehrheit der Bevölkerung der BRD versteht, war die (Schmidts Rede zugrunde liegende) Einschätzung der Gewalttaten der RAF als Anschläge und ihrer Täter als Terroristen vollkommen richtig, auch wenn sich die RAF-Mitglieder selbst gerne als Freiheitskämpfer gesehen hätten. Sicher mittels des W-Operators abbilden, eben als ¬W(y). Für das Verhältnis von Erschreckten und Nicht-Erschreckten gilt damit W(y) E(y,x,z) ¬W(y) ¬E(y,x,z), sprich: Genau dann, wenn die Mehrheit erschreckt ist, ist die Minderheit respektive Nicht-Mehrheit nicht erschreckt. Der Nachteil einer solchen kontradiktorischen Relation von Mehrheit und Minderheit ist der, dass Pattsituationen – wenn also weder eine Mehrheit erschreckt noch eine Mehrheit nicht erschreckt ist – nicht abgebildet werden können. Da der Fall einer Pattsituation aber nur dann eintritt, wenn die Menge der Erschreckten genau der Menge der Nicht-Erschreckten entspricht (50% Erschreckte und 50% Nicht-Erschreckte), kann dieser Fall bei einer hinreichend großen Entscheiderzahl, die im vorliegenden Kontext gerade vorausgesetzt wird, als zu vernachlässigender Sonderfall angesehen werden: Mit steigender Zahl der Entscheider sinkt die Wahrscheinlichkeit der Pattsituation zunehmend. Für eine konträre Relation von Mehrheit und Minderheit, die auch Pattsituationen abbilden kann, siehe jedoch ausdrücklich Klimczak/Petersen (2015a) sowie weiterführend Klimczak/Petersen (2016). 138 | Zitiert nach der Dokumentation Die RAF, Teil 1: Der Krieg der Bürgerkinder, Erstsendung am 9. Oktober 2007 auf ARD.
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sprach Schmidt damit auch für die Mehrheit der westlichen Welt; zu Zeiten des Kalten Krieges allerdings nicht zweifelsfrei für die Mehrheit im ›Ostblock‹. Vor dem Hintergrund, dass die Mehrheit auch ›alle‹ als Sonderfall einschließt – formal gilt (y) W(y), sodass die Mehrheit zwar ›alle‹ nicht formal impliziert, aber eben auch nicht ausschließt139 –, gewinnt man zusätzlich die Definition eines Helden und eines Amokläufers: 3
H(x,z) (y) ¬E(y,x,z)140 Jemand verübt als Held eine Heldentat = df Fast alle fühlen sich durch den Gewalttäter/die Gewalttat nicht erschreckt.
4 A(x,z) (y) E(y,x,z)141 Jemand verübt als Amokläufer einen Amoklauf = df Fast alle fühlen sich durch den Gewalttäter/die Gewalttat erschreckt. Während die Menge der Erschreckten im Falle des Helden gegen null geht und sich fast alle als Befreite deuten, geht beim Amokläufer die Menge der Nicht-Erschreckten gegen null. Es ist also nahezu die Gesamtheit der Beurteiler vom Amoklauf erschreckt.142 Ein Amoklauf unterscheidet sich von einer Heldentat bei genauerer Betrachtung aber auch darin, dass er ein ›instantiv mögliches Ereignis‹ darstellt, also sofort faktisch eintreten kann. So ist es möglich, sich zu einem Konsens fast aller darüber zu verständigen, was man unmittelbar und sofort ablehnen will, weil man sich dadurch erschreckt fühlt. Das liegt darin begründet, dass Amokläufe im Gegensatz zu Heldentaten gerade nicht die Welt verändern, sondern, indem Amokläufe gegen bestehende Normen verstoßen, die Normen im provozierten Akt der gemeinsamen Ablehnung 139 | Genau dieser Umstand macht ›alle‹ zum Sonderfall der Mehrheit. Das Analoge gilt für die Relation zwischen ›alle‹ und ›einige‹, Ersteres ist ein Sonderfall von Letzterem. Insbesondere das Verhältnis von ›einige zu ›alle‹ wird im Verlauf dieses Kapitels noch ausführlich diskutiert. 140 | H(x,z) = df »x ist ein Held und z ist eine Heldentat«. 141 | A(x,z) = df »x ist ein Amokläufer und z ist ein Amoklauf«. 142 | Dass das ›fast‹ formal mittels des Allquantors jeweils nicht mit abgebildet ist, fällt insofern nicht ins Gewicht, als dies keinen Einfluss auf den metasprachlich beschriebenen Objektbereich hat, so aber eine Modellierung mit den Mitteln der Prädikatenlogik ermöglicht wird.
Kapitel 2: Logik des Terrors
noch bestärken. Norbert Bolz etwa merkt analog und auf »die Mediengesellschaft« insgesamt bezogen an: »Gemeinsame Werte lassen sich nur noch in einem Negativbericht anschreiben. So reproduziert sich die Wertegemeinschaft der Massenmedien alltäglich im Medium der schlechten Nachrichten. Mit anderen Worten: Der Negativismus der Weltnachrichten schaff t [sofortige] Einigkeit darüber, was wir alle alles nicht wollen« (2007a: 3) – nämlich bestimmt keine Amokläufer sein. Im Falle des Helden liegt die Sache dagegen anders. Wenn die Menge der durch die Tat Erschreckten gegen null und der durch sie Befreiten gegen alle geht, dann scheinen sich damit auch alle weiteren Gewaltanwendungen zu erübrigen. Es bedarf im Gegensatz zum Amoklauf keiner negativen Sanktionierung der Gewaltanwendung im Nachhinein, da es ja praktisch niemanden (mehr) gibt, der den konkreten Gewaltakt als Verstoß gegen eine gesellschaftliche Norm empfindet. Auch erübrigen sich weitere Gewaltanwendungen durch den Helden selbst, da die Gewaltanwendung, die ihn zum Helden macht, ein revolutionäres Ereignis darstellt: Gerade weil die Menge der durch seine Tat Befreiten gegen alle geht, bedarf nun es keiner weiteren gewaltsamen Akte der Befreiung mehr. Erzähltheoretisch im Sinne der strukturalen Textanalyse von Jurij Lotman (1972) und ihrer Ausformulierung durch Karl Renner (1983) hat man es bei einer Heldentat daher mit einem »revolutionären Ereignis« im weiteren Sinne und einem »Metaereignis« im engeren Sinne zu tun.143 Das bedeutet, dass sich im Zuge des durch den Helden ausgelösten Metaereignisses die in einem Text dargestellte Welt umstrukturiert – »Grenzen werden verschoben, konstituieren sich neu, neue andere Ordnungen werden installiert« (Krah 2006: 310). Genau das ist es jedoch, was den Heldenbegriff als kontrafaktisch auszeichnet und in den Bereich des Fiktionalen verbannt: So häufig es in fi ktionalen Texten auftritt, so unwahrscheinlich ist das Metaereignis einer Heldentat in der Realität seiner Zeit: Gewalttaten verändern die Welt in der Regel nicht von einem Augenblick zum anderen hin zu einem Konsens aller. Ein Konsens muss erst narrativ produziert und historisch ermöglicht werden: ›Heldengeschichte‹ wird erst im Nachhinein geschrieben, und Helden existieren, gerade weil ihre Geschichten eine Korrespondenz zu einem beinahe unmöglichen Ereignis behaupten, fast niemals faktisch, sondern primär in fiktionalen Texten der Propaganda und der politischen
143 | Siehe ausführlich und unter formallogischer Prämisse hierzu Klimczak/Petersen (2015) sowie vor allem Klimczak (2013).
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Utopie. Sollen Heldentaten dagegen faktisch existieren, muss diesen eine ganz besondere Struktur von Welt und Gesellschaft vorausgehen, eine Struktur, die es ermöglicht, dass (fast) alle die Gewalttat des Helden sofort befürworten können. Das können sie wiederum nur, wenn die politischen Opfer der Gewalttat bereits auf eine allgemeine Ablehnung stoßen, was nicht nur, aber in besonderem Maße mit einem (politischen) Amokläufer gegeben wäre. Will man also eine politisch motivierte Heldentat und einen ebensolchen Amoklauf an einem historischen Beispiel festmachen, dann findet sich dieses vielleicht noch in der Hinrichtung des neostalinistischen Diktators Rumäniens, Nicolae Ceaușescu, der als einst umjubelter Führer des Landes zum Zeitpunkt seines Todes vermutlich fast allen Rumänen bereits als politischer Amokläufer galt: Als Ceaușescu am 25. Dezember 1989 zusammen mit seiner Frau Elena von einem Militärgericht im Schnellverfahren zum Tode verurteilt und standrechtlich erschossen wurde,144 hatte sich das Staatsgebilde der Sozialistischen Republik Rumänien, das der selbst ernannte Conducător (Führer) spätestens ab 1974 kontrollierte, bereits weitgehend aufgelöst und befand sich in einem Bürgerkrieg: Während Einheiten der rumänischen Armee und der Staatspolizei Aufstände und Demonstrationen niederschlugen, indem sie auf die Bevölkerung schossen, hatten sich Teile der Armee bereits auf die Seite der aufgebrachten Bevölkerung geschlagen. In den Tagen nach dem Tod Ceaușescus traten dann schließlich auch die regulären Truppen auf die Seite des Volkes über, sodass kurz darauf das Regime wechselte.145 Und trotzdem bleibt auch in diesem Beispiel zweifelhaft, ob tatsächlich (fast) alle Betroffenen, sprich: (fast) alle Rumänen, die standrechtliche Erschießung Ceaușescus und seiner Frau als Akt der politischen Befreiung empfanden. So stellten die Teile der Armee und insbesondere der Staatspolizei, die bis zuletzt auf die Bevölkerung schossen, zwar ihre Gewalttaten mit dem Übertritt der Armee sofort ein, ob sie aber auch ihre Einstellung gegenüber Ceaușescu geändert hatten, bleibt letztlich ebenso ungewiss wie Ceaușescus Status als politischer Amokläufer. Es zeigt sich also, dass Beispiele, die auf einem Konsens fast aller beruhen, zwar durchaus möglich sind, aber insbesondere im Fall von Helden politisch motivierter Gewalt – andere Helden mag es zuhauf geben – auf144 | Siehe zur Darstellung der Hinrichtung durch Ionel Boeru, den Scharfrichter der Ceau escus, Stern.de (2005/10/20) sowie diese kommentierend Klimczak/Petersen (2015a). 145 | Ausführlich hierzu etwa Gräf (2011).
Kapitel 2: Logik des Terrors
grund der dafür notwendigen Bedingungen äußerst unwahrscheinlich sind und somit tendenziell immer schon in den Bereich der Fiktion und der Propaganda fallen. Das gilt in gewisser Weise aber auch für politische Amokläufer. Amokläufer können im Gegensatz zu Helden zwar tatsächlich einen sofortigen und einstimmigen (Negativ-)Konsens, eine Ablehnung fast aller produzieren. Ein faktisches Beispiel hierfür wäre das politisch motivierte Attentat Anders Behring Breiviks am 22. Juli 2011 auf der Insel Utøya nahe Oslo: Dass Breivik zunächst vor dem Büro des norwegischen Staatsministers eine Autobombe zündete, um dann auf der nahe gelegenen Insel Utøya über eine Stunde lang auf die Teilnehmer eines Sommercamps der regierenden sozialdemokratischen Partei zu schießen, wurde nicht nur in Norwegen, sondern in der gesamten westlichen Welt sofort einstimmig verurteilt und Breiviks Mord an 77 Menschen unmittelbar nach der Tat im Konsens (fast) aller als erschreckend beurteilt.146 Trotzdem erfahren Amokläufer ebenso wie Helden immer wieder mediale Fiktionalisierungen und Propagierungen, indem Terroristen (ebenso wie Freiheitskämpfer zu Helden) erst in der medialen Zuspitzung zu Amokläufern gemacht werden. Wäre es so, wie Der Spiegel bezüglich des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad am 29. Mai 2009 titelte: »Der Mann, vor dem sich die Welt fürchtet«, dann hätte man mit Ahmadinedschad tatsächlich einen Kandidaten, der unter den Begriff eines global verstandenen politischen Amokläufers fiele. Allerdings sagt die Schlagzeile letztlich mehr darüber aus, wie die Presse und Massenmedien im Allgemeinen funktionieren, als über den tatsächlichen Status von Ahmadinedschad. So stellen journalistische Medien eben nicht nur einfach Ereignisse möglichst exakt dar, was sich in Kapitel 1 ohnehin als ein bloßes korrespondenztheoretisches Konstrukt einer Abbildtheorie erwiesen hat; vielmehr konstruieren Medien Medienereignisse unter anderem bild- und textrhetorisch. Hier hat man es mit einer uneigentlichen Ausdrucksweise zu tun, die auf dem Tropus einer generalisierenden Synekdoche bzw. einer Hyperbel beruht. Es fürchtete sich eben nicht »die Welt«, also die Summe aller Menschen, sondern, wenn überhaupt, die Mehrheit der Menschen: Im Text wird rhetorisch generalisiert und übertrieben. Erst wenn Ahmadinedschad, wie befürchtet, die Atombombe einsetzen würde, hätte man es wohl mit einem Amoklauf im hier definierten Sinne zu tun. Darüber hinaus und vor allem anderen gelangt man mit der Neudefinition des Amokläufers aber zu einem ganz neuen Begriff desselben: Man 146 | Zum Tathergang sowie zur öffentlichen und juristischen Verurteilung des Attentats Klimczak/Petersen (2015a).
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kann Amokläufer nun entgegen üblichen Diskursen ganz unabhängig von ihren Motiven, ihren Veranlassungen und Veranlagungen bestimmen. Einem Amokläufer muss, um ihn als solchen zu identifizieren, kein Wahnsinn mehr diagnostiziert werden, auch sind keine Vorgeschichte und Disposition nötig, die ihn haben wahnsinnig werden und handeln lassen. Alle professionellen und populistisch-medialen (Fern-)Diagnosen können idealiter zwar die Funktion der Ursachenforschung zum Zwecke einer zukünftigen Vermeidung von Amokläufen haben, Ursachenforschung wird jedoch irrelevant für die Identifikation des Amokläufers als solchen: Die Gewalt des Amokläufers ist vielmehr deswegen ›verrückt‹, weil sie (fast) alle erschreckt. Das gilt für den Amokläufer generell wie für den politisch motivierten Amokläufer, von dem hier die Rede ist. Gewöhnlich wird hingegen davon ausgegangen – wenn nicht explizit, so doch implizit –, dass Amokläufer-Sein und Terrorist-Sein einander ausschließen, das Verhältnis also mindestens konträr ist: Amokläufern unterstellt man keine politische Motivation, da sie verrückt seien, wohingegen dem Terroristen eine politische Motivation unterstellt wird und damit implizit kein Wahnsinn. Genau darum ging es ausdrücklich auch in Breiviks Prozess. Es existierten unterschiedliche Gutachten über Breiviks Geisteszustand, die ihm entweder Zurechnungsfähigkeit oder Unzurechnungsfähigkeit ergo Wahnsinn diagnostiziert haben (Spiegel Online 2012/04/16). Letzteres hätte zur Folge gehabt, dass man ihn – gerade auch in einem juristischen Sinne – nicht für einen Terrorakt und damit für eine politisch motivierte Gewalttat hätte anklagen und verurteilen können. Und nicht zuletzt macht das auch erklärbar, warum Breivik selbst darauf insistierte, dass man ihn – wie es dann auch geschah – als zurechnungsfähig einstufe: Er musste als zurechnungsfähig gelten, um als der politische Attentäter gelten zu können, als der er sich auch selbst sah (Focus Online 2012/04/17). Nach der neuen quantitativen Bestimmung eines Amokläufers als eines alle erschreckenden Terroristen wird genau das aber irrelevant. Indem ›alle‹ die Mehrheit einschließt, schließt Amokläufer-Sein nun TerroristSein ein, sodass Breivik beides sein kann, Terrorist und Amokläufer, sprich: als Amokläufer zugleich auch ein Terrorist, der darum verrückt ist, weil er durch seine politisch motivierte Gewalttat fast alle erschreckt. Dagegen musste die Staatsanwaltschaft (im Rahmen der konventionellen Definition) bis zuletzt auf Breiviks Unzurechnungsfähigkeit plädieren, um seinen Gewalttaten den politischen Status abzusprechen (Focus Online 2012/04/17). Man wollte diese Tat nicht für eine politische halten und musste sie deshalb für wahnsinnig halten oder für etwas anderes, also weder für wahnsinnig noch für politisch, was man offensichtlich auch nicht
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wollte. Man konnte Breiviks Tat aber nicht als politisch und wahnsinnig zugleich ansehen. Das wird, wie gesagt, erst mit der neuen Definition des Amokläufers als eines fast grenzenlosen Erschreckers möglich: Breivik bleibt auch als Amokläufer ein politischer Gewalttäter und ist deswegen ein Wahnsinniger, weil seine politische Gewalttat fast alle erschreckt. Neben den jeweils gegensätzlichen Begriffen ›Terrorist‹ versus ›Freheitskämpfer‹ sowie als deren Extreme ›Amokläufer‹ versus ›Held‹ lassen sich zudem noch weitere Begriffsbeziehungen bestimmen, indem die Kernbegriffe ›Terrorist‹ und ›Freiheitskämpfer‹ um die Prädikate ›ist Machthaber‹ und ›agiert innerhalb seines Landes‹ erweitert werden. Dies ist überblicksartig in Tabelle 1 dargestellt,147 formal und metasprachlich ausformuliert ergeben sich: 5
Ist(x,z) W(y) E(y,x,z) M(x) L(x)148 Jemand verübt als Staatsterrorist inneren Staatsterror = df Die Mehrheit fühlt sich durch den Gewalttäter/die Gewalttat erschreckt. Der Gewalttäter agiert als Machthaber innerhalb seines Landes.
6 Ast(x,z) W(y) E(y,x,z) M(x) ¬L(x)149 Jemand verübt als Staatsterrorist äußeren Staatsterror = df Die Mehrheit fühlt sich durch den Gewalttäter/die Gewalttat erschreckt. Der Gewalttäter agiert als Machthaber außerhalb seines Landes. Das faschistische Deutschland und sein Machthaber stehen aus heutiger und durchaus globaler Perspektive für beide Begriffsdefinitionen – für inneren Staatsterror bezogen auf die ethnischen und politischen Verfolgungen und Ermordungen innerhalb der Landesgrenzen, für äußeren Staatsterror bezogen auf die brutale militärische Expansion des Zweiten Weltkrieges.
147 | Kombinatorisch hätte man statt acht auch 16 Begriffe ausformulieren können. Siehe hierzu die Tabelle 1.1 im Anhang. Ich führe aber nicht alle Begriffe respektive Begriffskombinationen mit, da ›Held‹ und ›Amokläufer‹ – aufgrund ihres besonderen Status – als solche bereits hinlänglich produktiv für die folgende Beschreibung von Propaganda über politisch motivierte Gewalt (Taxonomie zweiter Ebene) sind. 148 | Ist(x,z) = df »x ist ein Staatsterrorist von innen und z ist innerer Staatsterror«; M(x) = df »x ist Machthaber«; L(x) = df »x agiert innerhalb seines Landes«. 149 | A st(x,z) = df »x ist ein Staatsterrorist von außen und z ist äußerer Staatsterror«.
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Beurteiler
Gewalttat z Gewalttäter x Heldentat Held
[3]
Befreiungsschlag Freiheitskämpfer
[1]
innerer Befreiungskrieg Befreiungskrieger
[7]
äußerer Befreiungskrieg [8] Befreiungskrieger
innerer Staatsterror Staatsterrorist
[5]
äußerer Staatsterror Staatsterrorist
[6]
Anschlag Terrorist
[2]
Amoklauf Amokläufer
[4]
Tabelle 1: Taxonomie erster Ebene
Fast alle fühlen sich durch die Gewalttat/ den Gewalttäter nicht erschreckt
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Die Mehrheit fühlt sich durch die Gewalttat/ den Gewalttäter nicht erschreckt
Die Mehrheit fühlt sich durch die Gewalttat des Machthabers innerhalb seines Landes nicht erschreckt
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Die Mehrheit fühlt sich durch die Gewalttat des Machthabers außerhalb seines Landes nicht erschreckt
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Die Mehrheit fühlt sich durch die Gewalttat des Machthabers innerhalb seines Landes erschreckt
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Die Mehrheit fühlt sich durch die Gewalttat des Machthabers außerhalb seines Landes erschreckt
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Die Mehrheit fühlt sich durch die Gewalt tat/ den Gewalttäter erschreckt
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Fast alle fühlen sich durch die Gewalttat/ den Gewalttäter erschreckt
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7 Ibk(x,z) W(y) ¬E(y,x,z) M(x) L(x)150 Jemand führt als Befreiungskrieger einen inneren Befreiungs krieg = df Die Mehrheit fühlt sich durch den Gewalttäter/die Gewalttat nicht erschreckt. Der Gewalttäter agiert als Machthaber innerhalb seines Landes. Ein Beispiel hierfür liefert der Befreiungskrieg der Roten Armee unter der Führung Josef Stalins.151 So heißt es in einer Weltgeschichte des Bibliographischen Instituts der DDR durchaus noch treffend: »Im Juni 1944 begann die Rote Armee ihren Sommer-Herbst-Feldzug, in dessen Verlauf sie in mehreren gewaltigen Operationen die [deutschen] Okkupanten endgültig aus dem Sowjetland vertrieb« (Markov et al. 1981: 547). Entsprechendes kann man allerdings kaum über die »Landreform« behaupten, die der »XV. Parteitag der KPdSU im Dezember 1927« beschloss, woraufhin die »Sowjetmacht« unter Stalin, wie es dort euphemistisch heißt, »eine Offensive gegen das Kulakentum« eröff nete (1981: 383). Als Kulaken wurden russische Großbauern bezeichnet, welche man im Rahmen der Kollektivierung der russischen Landwirtschaft ›beseitigte‹ – nicht bloß begrifflich, sondern durchaus auch physisch: »Das stalinistische Regime setzte Hunger als Waffe im Klassenkampf ein. Es lieferte die Bauern, z.B. die Kulaken, die sich der Zwangskollektivierung widersetzten, gezielt der Hungersnot aus. Insgesamt vier Millionen Bauern starben allein in der Ukraine.«152 In diesem Zusammenhang noch von einem inneren Befreiungskrieg zu sprechen oder, wie es in der zuvor zitieren Weltgeschichte der DDR von 1981 geschieht, 150 | Ibk(x,z) = df »x ist ein Befreiungskrieger von innen und z ist ein innerer Befrei ungskrieg«. 151 | ›Befreiungskrieg‹ meint hier eine Folge von Befreiungsschlägen. Demnach könnte ein Befreiungskrieg des Machthabers auch generell als eine Folge mehrerer Befreiungsschläge desselben bestimmt werden. Entsprechend wäre ›Staatsterror‹ als eine Folge von staatsterroristischen Akten zu bestimmen, was zwar im Folgenden mitgedacht wird, jedoch definitorisch nicht weiter ausdifferenziert werden muss, da nicht die Anzahl von Gewaltakten entscheidend für deren Definition ist, sondern deren Bewertung durch die Gruppe der Beurteiler sowie deren Zuordnung zu einem Machthaber, welcher selbst natürlich auch durch eine Gruppe von Machthabern repräsentiert sein kann. 152 | Zitiert nach http://www.rbb-online.de/_/kontraste/beitrag_drucken_ jsp/key= rbb_beitrag_1301998.html, Abruf am 1. Oktober 2007. Siehe hierzu etwa auch Hil dermeier (2007: 38f.).
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einige Aspekte der Stalin-Ära zu bejubeln, während man andere gefl issentlich verschweigt, heißt letztlich nichts anderes, als einen Akt des inneren Staatsterrors propagandistisch zu verklären. 8 Abk(x,z) W(y) ¬E(y,x,z) M(x) ¬L(x)153 Jemand führt als Befreiungskrieger einen äußeren Befreiungskrieg = df Die Mehrheit fühlt sich durch den Gewalttäter/die Gewalttat nicht erschreckt. Der Gewalttäter agiert als Machthaber außerhalb seines Landes. Beispielhaft dafür ist die Rolle der Siegermächte der USA unter Harry S. Truman, der Sowjetunion unter Josef Stalin und Großbritanniens unter Winston Churchill im Zweiten Weltkrieg. Schließlich versteht die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung – durchaus im Einklang mit der Mehrheit der Weltbevölkerung – heute den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung vom deutschen Faschismus. Ob das die Mehrheit der deutschen Bevölkerung bereits am 8. Mai 1945 so sah, sei einmal dahingestellt und als Frage an die Geschichtsforschung weitergegeben.
Möglichkeiten und Grenzen der Taxonomie erster Ebene In einem Vortrag vor der American Mathematical Society im Jahre 1931 prägte der Ingenieur und Linguist Alfred Korzybski den viel zitierten Ausspruch »The map is not the territory.« Korzybski adressierte damit im Rahmen seiner »Allgemeinen Semantik« den Umstand,154 dass sprachlich-symbolische Modelle nicht in der Lage seien, ihren Objektbereich vollständig, das heißt in all seinen spezifischen Elementen und Relationen abzubilden. Dasselbe gilt für die hier aufgestellte Taxonomie politisch motivierter Gewaltakte: Die faktische Diskursebene und das ideale Modell eines Diskurses fallen auseinander; die Taxonomie bildet den faktischen Diskurs niemals vollständig ab. Das hat zwei Gründe: Erstens erscheint der massenmediale Diskurs von einem formalen Standpunkt aus gesehen defizitär, da Begriffe dort nicht trennscharf voneinander abgegrenzt sind, insofern als deren Relati153 | Abk(x,z) = df »x ist ein Befreiungskrieger von außen und z ist ein äußerer Befreiungskrieg«. 154 | Ich zitiere Korzybski nach Majukt (2009: 88).
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onen zueinander eindeutig bestimmt wären. Wie die einleitenden Überlegungen zur Mediengeschichte des ›War on Terror‹ exemplarisch belegen, sind politisch-mediale Diskurse nicht unbedingt um begriffliche Klarheit und Differenziertheit bemüht, sondern vielmehr darum, Begriffe strategisch zu besetzen. Es geht im politisch-medialen Diskurs um Defi nitionshoheiten, nicht um definitorische Differenz und Konsistenz. Der zweite Grund, warum Taxonomie und Diskursrealität auseinanderfallen, liegt in einer elementaren Diskrepanz zwischen natürlicher Sprache, das heißt der impliziten oder expliziten Bedeutung ihrer Begriffe, und der formalen Modellierung eines Systems von Bedeutungen. So weist Wesley C. Salmon, während er verschiedene Typen von Definitionen zu bestimmen versucht, auf eine »gewohnheitsmäßige« Konventionalität von natürlicher Sprache im Gegensatz zu formallogischen Definitionen hin: Die Bedeutung eines Wortes ist keine natürliche Eigenschaft, die der Mensch entdecken kann; eine Bedeutung wird mit einem Wort von Menschen verbunden, die übereinstimmend der Meinung sind, daß es diese Bedeutung haben soll. […] Ein Wort hat eine Bedeutung, wenn es eine Konvention gibt, die ihm seine Bedeutung verleiht. Definitionen bringen diese Konventionen in der Metasprache zum Ausdruck. Die Konvention kann mittels einer Definition formell vereinbart worden sein oder sich durch gewohnheitsmäßige Verwendung zwanglos entwickelt haben. (Salmon 1983: 247f.)
Hierin liegt auch der Unterschied zwischen taxonomischem Modell und Sprachpraxis, metaphorisch gesprochen zwischen Karte und Territorium: Bedeutungen haben sich diskursiv eingeschliffen; sie müssen in ihrer impliziten und in ihrer expliziten (Wörterbuch-)Definition theoretisch nicht exakt von Begriffen desselben semantischen Feldes differenziert sein und sie erfüllen diese Bedingung auch faktisch nicht. Dagegen zeichnen sich formal modellierte Begriffssysteme gerade durch kriterial konsistente und trennscharfe Definitionen aus. Die formale Logik ermöglicht es, in sich konsistente taxonomische Begriffssysteme zu produzieren, und macht so Definitionen metasprachlicher Form sowie Strukturen von Begriffssystemen auf deren Konsistenz hin überprüfbar. Damit ergibt sich das kritische Potenzial der Taxonomie also gerade aus der durch sie gewonnenen Differenz zu faktischen Diskursen. Dies zeigt sich am deutlichsten am Begriff oder genauer: an den Begriffen des Amokläufers. Zwar kann man mittels eines Blicks in ein Wörterbuch mit dem weitverbreiteten Missverständnis aufräumen, ein Amokläufer sei über den taxonomischen Begriff hinaus stets auch ein Selbstmörder.
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Das widerlegt nicht bloß der Fall Anders Behring Breivik,155 auch im DudenFremdwörterbuch sind ›Amok‹ als ein »Zustand heftiger Gemütsregung mit Angriffsstimmung und aggressiver Angriffs- und Mordlust« und ›Amok laufen‹ als »in einem Zustand krankhafter Verwirrung (mit einer Waffe) umherlaufen und blindwütig töten« bestimmt (2000: 89). So wenig wie ein Terrorist zugleich ein Selbstmordattentäter sein muss, muss ein Amokläufer also zugleich ein Selbstmörder sein. Beide können Selbstmörder sein und sind es oftmals auch faktisch, jedoch sind sie es nicht per defi nitionem. Darüber hinaus zeigt die Duden-Definition, dass der Begriff des Amokläufers nicht nur keinen Selbstmörder bezeichnet, sondern auch keinen politisch motivierten Gewalttäter. Zwar könnte man argumentieren, dass Amokläufe immer im öffentlichen Raum stattfinden und somit stets zur öffentlichen Angelegenheit, buchstäblich zu einer res publica werden. Aber selbst wenn jeder öffentliche Gewaltakt zu einem Politikum wird, bedeutet das nicht, dass jeder öffentliche Gewaltakt auch ein politisch motivierter Akt ist, das heißt – nach der Logik der hier entwickelten Taxonomie – als ein politisch motivierter Gewaltakt aufgefasst und beurteilt wird. Man versteht unter einem Amoklauf heute vielmehr einen irgendwie idiosynkratischen, egozentrischen und unpolitischen, weil eben in einem »Zustand geistiger Verwirrung« praktizierten Gewaltakt. Dies belegt nicht nur der mediale und juristische Diskurs um Anders Breivik, sondern exemplarisch auch ein kursorischer Blick auf die beiden Amokläufe des zweiten Halbjahres 2009,156 die damals nicht nur in den deutschen Medien breit verhandelt wurden. Nachdem George Sodini am 4. August 2009 in einem Fitnesscenter bei Pittsburgh im US-Bundesstaat Pennsylvania drei Frauen erschossen, neun weitere verwundet und sich dann selbst erschossen hatte, wurde bereits am folgenden Tag in der deutschen und amerikanischen Presse spekuliert, ob er dies aufgrund von Zurückweisungen durch das andere Geschlecht getan habe. Die lokale Pittsburgh Post-Gazette berichtete: »All of the victims were women, although it was unknown whether the gunman was specifically targeting only women«.157 Auf Zeit Online (2009/08/05) hieß es ebenfalls 155 | Breivik wurde und wird in den Medien immer wieder explizit als Amokläufer bezeichnet, so etwa auch in Focus Online (2012/04/17). 156 | Für den Amoklauf von Winnenden am 11. März 2009 ließe sich dasselbe feststellen. Siehe hierzu ausführlich Ahrens (2011). 157 | Zitiert nach post-gazette.com vom 5. August 2009 unter http://www.post-gazette. com/pg/09217/988669-55.stm, Abruf am 7. August 2009.
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noch vorsichtig, wenn auch äußerst suggestiv: »Ob der Amokläufer es nur auf weibliche Personen abgesehen hatte, ist nicht bekannt«, während auf sueddeutsche.de bereits als ein »Grund« für die Tat angegeben wurde, »dass sich keine Frauen für ihn interessierten«.158 Bereits einen Tag später, nachdem man das Internet-Tagebuch Sodinis durchforstet hatte, legte sich vor allen anderen die Bild-Zeitung endgültig auf ein Motiv fest: »Hass auf alle Frauen!«,159 um dies dann anhand der Tagebuchauszüge Sodinis zu ›belegen‹: BILD bringt Auszüge aus dem bizarren Tagebuch von Finanzberater George Sodini – einem Einzelgänger, der seit 25 Jahren keine Freundin mehr hatte und deshalb [!] zum Killer wurde. […] 24. Dezember 2008: »Schon wieder Weihnachten. Keine Freundin seit 1984, das letzte Weihnachten mit Pam (seiner Ex-Freundin, Anm. d. Red.) war 1983. Warum? Ich bin doch nicht hässlich oder seltsam. Auch kein Sex seit Juli 1990 (da war ich 29). Unglaublich! Ich habe es in meinem Leben vielleicht 50- bis 70-mal gemacht.«160
Auch bei dem darauf folgenden Amoklauf am 17. September 2009 in einem bayerischen Gymnasium wurde immer wieder drauf hingewiesen, dass der »Amokläufer von Ansbach« sich in »psychotherapeutischer Behandlung befand« (Zeit Online 2009/09/18). Der Täter brachte sich übrigens nicht selbst um, sondern wurde von einem Polizisten mit mehreren Schüssen schwer verletzt. Es zeigt sich also, dass Amokläufe entsprechend der Duden-Definition derzeit auch in den Massenmedien als irgendwie persönlich und damit nicht politisch motivierte Gewaltakte eines psychisch gestörten Täters (re)konstruiert und kolportiert werden. Damit fallen der zuvor definierte und der im faktischen Diskurs etablierte Amokläuferbegriff deutlich auseinander. Das heißt aber nicht, dass der neu definierte Amokläuferbegriff seinen reflexiven Mehrwert hinsichtlich des konventionellen Begriffs verliert, und schon gar nicht, dass er bedeutungslos oder sogar falsch ist. So zeigt beispielsweise Joseph Vogl in einer Diskursanalyse der »Frühgeschichte des 158 | Zitiert nach sueddeutsche.de vom 5. August 2009 unter http://newsticker.sued deutsche.de/list/id/685722, Abruf am 7. August 2009. 159 | Zitiert nach Bild vom 6. August 2009. 160 | Zitiert nach www.bild.de am 7. August 2009 unter http://www.bild.de/news/2009/ erschoss-drei-sportlerinnen-im-fitness-studio-sein-bizarres-tagebuch-9291056.bild. html, Abruf am 18. August 2015.
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Amok« eine Bedeutungsverschiebung des ursprünglichen zum heutigen Begriff auf: »Anfang des 16. Jahrhunderts erzählt man […] von malaiischen Kriegern, die rasend und in einer Art Blutrausch gegen portugiesische Festungen anrennen; man erzählt von selbstmörderischen Aktionen und Gemetzeln, die in hoffnungslosen Lagen eine Wendung des Kriegsglücks herbeiführen sollen« (2005: 190f.). Dem Amokläuferbegriff war das Kriegerische und somit das Moment politisch motivierter Gewalt, das ihm heute abgesprochen wird, demnach ursprünglich immanent. Und grundsätzlicher noch merkt Wesley C. Salmon an, dass eine »Definition als Formulierung einer Konvention« gar nicht falsch sein kann. »Eine Definition von etwas zu geben« sei vielmehr »dasselbe, wie einen Vorschlag zu machen. Man kann ihn annehmen oder zurückweisen, der Vorschlag selbst [aber] ist weder wahr noch falsch« (1983: 248). Der im Rahmen der Taxonomie definierte Begriff des politisch motivierten Amokläufers ist somit ebenfalls nicht falsch, sondern nur nicht mit der derzeitigen Konvention kompatibel.161 Insofern müsste man ihn zwar als Vorschlag aus der Perspektive der heutigen Diskurspraxis ablehnen,162 aber eben nur aus der Perspektive der heutigen Diskurspraxis und nicht generell. Das macht nochmals deutlich, dass es hier nicht etwa darum gehen kann, eine Ontologie politisch motivierter Gewalttaten formal zu entwickeln, mittels derer man das Sein oder Wesen dessen, was einen Täter oder Akt politisch motivierter Gewalt ausmacht, ein für alle Mal bestimmen könnte. Vielmehr geht es darum, konkurrierende Begriffssysteme zur Definition politisch motivierter Gewalttaten inklusive der handlungsformierenden Implikationen dieser Begriffssysteme auf der Basis einer formallogisch informierten Taxonomie kritisch gegeneinander abzuwägen. Dass die formalen Begriffe insgesamt mal mehr und mal weniger, jedoch stets von den Konventionen des massenmedialen Diskurses abwei161 | Dass der im Rahmen der Taxonomie definierte Amokläuferbegriff mit der damaligen Diskurspraxis weitgehend inkompatibel ist, heißt zudem nicht, dass er den oben beschriebenen diskursiven Vorteil verliert, einen Amokläufer und insbesondere einen per Taxonomie adressierten politischen Amokläufer unabhängig vom Psychologismus einer Rekonstruktion subjektiver Motive bestimmen zu können. Man kann auf der Basis der Taxonomie einen Amokläufer nun, wie gesehen, einfach über das allgemeine Erschrecken definieren, welches seine Taten hervorrufen. 162 | Und so heißt es bei Salmon auch weiter: »Es kann […] gute Gründe geben, einen Vorschlag abzulehnen, der dahin geht, ein bestimmtes Wort in bestimmter Weise zu verwenden […]; Falschheit gehört aber nicht dazu. Noch ist Wahrheit ein Grund, einen solchen Vorschlag anzunehmen« (1983: 248f.).
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chen,163 hat wiederum zwei Gründe, einen strukturellen und einen daraus resultierenden operationalen: Die formallogisch fundierten synthetischen Begriffe klammern in ihrer definitorischen Trennschärfe und systematischen Konsistenz einerseits das Strategische aus, das Begriffsbesetzungen gerade im politisch-medialen Diskurs inhärent ist.164 Andererseits werden die taxonomischen Begriffe gleichsam von den Resten ihrer semantischen Gegenwart und Vergangenheit befreit oder, wie Joseph Vogl es eher um- als beschreibt: »Die Bestimmtheit von Namen wird stets von der Weitläufi gkeit der Bedeutung heimgesucht, sie wird umspielt von einer Wolke aus Sinn, die sich hier und dort, in dieser oder jener Wendung zu Bildern und Erzählungen verdichtet« (2005: 179). Diese ›Heimsuchung durch unterschiedlichste Bedeutungen‹ resultiert letztlich aus einer Ungleichzeitigkeit diskursiv gewachsener Begriffe. Die Begriffe tragen immer auch etymologische Rudimente in sich. Zugleich verweisen sie in ihren Bedeutungen zu jeder Zeit immer schon über sich hinaus auf das, was sie selbst noch nicht und schon nicht mehr bedeuten; konstituiert sich doch, worauf Derrida in seinen Frühschriften ausdrücklich hinweist, die Bedeutung eines Begriffs erst in einer unendlichen »Kette von differenzierenden Substitutionen« (1988: 55), indem jeder Begriff »seinem Gesetz nach in […] ein System eingeschrieben [ist], worin er durch das systematische Spiel von Differenzen auf den anderen, auf die anderen Begriffe verweist« (1988: 37).165 In der Ausblendung dieser ›Sinn-Zusammenhänge‹ besteht somit nicht notwendig eine Schwäche der hier entwickelten formal-synthetischen Begriffe, sondern vielmehr deren operationale Stärke als Ausgangspunkt ei-
163 | Dass der deduktiv gewonnene Amokläuferbegriff so stark von einem aus der Sprachpraxis induktiv gewonnenen Begriff abweicht, heißt nicht, dass dasselbe für die anderen Begriffe der Taxonomie gilt. Beispielsweise entspricht der formale Heldenbegriff, zumindest partiell einem konventionellen Heldenbegriff. Mit Helden sind im gängigen Diskurs auch Akteure politisch motivierter Gewaltakte gemeint, obwohl der konventionelle Heldenbegriff vermutlich sehr viel häufiger die Akteure gewaltloser Heldentaten adressiert, beispielsweise die Helden der friedlichen Revolution von 1989 oder der indischen Unabhängigkeitsbewegung um Mahatma Gandhi, ›Helden der Arbeit‹ im Sozialismus oder auch Sportler, die während Olympiaden und Weltmeisterschaften zu Helden stilisiert werden. 164 | Es sei denn, man betrachtet die formale Konstruktion von axiomatischen Begriffssystemen selbst als eine Strategie, was sie in bestimmter Hinsicht ja auch ist. Aber selbst wenn sie eine solche ist, dann dennoch eine um eine exakte wissenschaftliche Methode bemühte Strategie und keine politische. 165 | Siehe weiterführend Petersen (2010: 204ff.).
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nes kritischen Diskurses über faktische Diskurse. In ihrer axiomatischen Begrenztheit und ihrer dadurch erst ermöglichten defi nitorischen und systemischen Konsistenz stellen die taxonomischen Begriffe zwar idealisierte, jedoch plausible, weil trennscharfe und definitorisch eindeutige Alternativen gegenüber den Begriffen eines konkreten Diskurses dar, sodass anhand der formal informierten Begriffe faktische mediale Diskurse über politisch motivierte Gewalt und ihre Täter kritisierbar werden.
›War on Terror‹ – Plädoyer für eine Begriffsschärfung Auf der Basis der taxonomischen Begriffe können daher nun formal begründete Unterscheidungen hinsichtlich der beteiligten Akteure und ihrer Gewalttaten im Rahmen politisch motivierter Gewalt getroffen werden, so auch im Fall das ›War on Terror‹: Es lässt sich zunächst festhalten, dass es sich bei dem Gewaltakt des 11. Septembers 2001 global gesehen um einen Anschlag im hier definierten Sinne und bei den Attentätern eindeutig um Terroristen handelt. Dass es sich bei den reaktiven Operationen ›Enduring Freedom‹ und ›Iraqi Freedom‹ tatsächlich um äußere Befreiungskriege handelt, wie die Begriffe implizieren sollen, ist dagegen zweifelhaft. Allein das Kriterium ›äußere‹ ist unbestreitbar. Die USA agierten gewaltsam außerhalb ihrer Staatsgrenzen.166 Allerdings wurde das im Zuge des ›War on Terror‹-Diskurses nicht immer auch so verhandelt, wenn sich die USA etwa als eine Art Weltpolizei darstellten, und das ohne ein Mandat der UN. Die UN wären aber die einzige Instanz gewesen, die überhaupt für die Weltbevölkerung hätte sprechen und die USA legitimieren können, weltweit militärisch zu agieren. Dazu seien nochmals die öffentlichen Gründe, die die US-Regierung unter George W. Bush für ihre Militäreinsätze anführte, näher betrachtet. Nicht-öffentliche Gründe, etwa in Form von Insiderwissen, sind in diesem Zusammenhang nicht relevant, da es, wie eingangs bestimmt, um den medienpolitischen Diskurs über (politisch motivierte) Gewaltakte und damit ausschließlich um den öffentlichen Diskurs über dieselben geht. Auch 166 | Was die Verbündeten der USA im ›War on Terror‹ angeht, so stellt sich die Frage, inwieweit sie sich von den Anschlägen des 11. Septembers betroffen fühlen konnten oder andere Gründe für ihre Militäreinsätze in Anspruch nehmen müssen. Allerdings wurde, wie in der Mediengeschichte des ›War on Terror‹ einführend dargestellt, 9/11 als Anschlag auf die gesamte westliche Welt verhandelt. Nimmt man das ernst, gilt bezüglich des Innen und Außen für die westlichen Alliierten dasselbe wie für die USA.
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sind nicht-öffentliche Informationen nicht allein schon deswegen wertvoller oder ›wahrer‹, wie es Verschwörungstheorien so gerne unterstellen, weil sie nicht von einer großen Gruppe von Mitwissern geteilt werden. Man könnte vielmehr umgekehrt sagen: Öffentlich diskutierte Informationen sind gerade darum wertvoller als nicht-öffentliche, weil sie öffentlich diskutiert werden können. Das gilt letztlich auch für Verschwörungstheorien, müssen sie doch erst öffentlich gemacht werden, um irgendeine diskursive Bedeutung zu erlangen. Laut der öffentlichen Begründungen also ging es im Afghanistankrieg anfangs nicht etwa darum, die unterdrückte afghanische Bevölkerung zu befreien. Man führte zunächst keinen Befreiungskrieg, auch wenn das später von der Bush-Administration so propagiert wurde. Vielmehr wollte man Osama bin Ladens habhaft werden, was allerdings erst zehn Jahre später unter der Regierung Barack Obamas gelang, als man bin Laden 2011 in einem Versteck in Pakistan aufspürte. Auch der Umstand, dass die US-Truppen während des Krieges die oppositionelle Nordallianz gegen das Taliban-Regime unterstützte, macht den Afghanistaneinsatz nicht etwa zu einem inneren Befreiungskrieg: Das äußere Eindringen der US-Truppen bleibt davon unberührt. Darüber hinaus wurde im Rahmen der ›Operation Enduring Freedom‹ weder ernsthaft zu klären versucht, ob die afghanische Bevölkerung überhaupt mehrheitlich durch Nordallianz, USA und deren Alliierte vom Taliban-Regime befreit werden wollte, noch ob sie mehrheitlich vom Regime – im Sinne eines völkerrechtlichen Mandats167 – befreit werden sollte, etwa da die afghanische Bevölkerung einem inneren Staatsterror ausgesetzt war. Auch wenn die Beurteiler eines politisch motivierten Gewaltakts weder per se noch ausschließlich die davon staatlich Betroffenen sein müssen,168 so scheint es doch in diesem Fall mehr als problematisch, ein Volk unter der Fahne der Demokratie befreien zu wollen, ohne dieses je danach zu befragen; und wenn man das Volk nicht hat befragen können, sollte man doch zumindest (fast) alle, also die UN, statt nur sich selbst, namentlich die USA und ihre Alliierten, befragen. Ähnlich problematisch verhält es sich mit den Gründen für den Irakkrieg. Einerseits wollte man Saddam Hussein, indem man ihm den Besitz von atomaren Massenvernichtungswaffen unterstellte, in den Bereich ei167 | Im Gegensatz zur ISAF (International Security Assistance Force), an der sich unter anderem auch die Bundeswehr beteiligt, hatte die OEF (Operation Enduring Freedom) kein UN-Mandat. Grundlage für den Kriegseinsatz waren stattdessen zwei durchaus ›interpretationsoffene‹ Resolutionen des UN-Sicherheitsrats. 168 | Dazu noch im Folgenden.
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nes globalen Amokläufers rücken. Zu einem solchen konnte Hussein aber in Ermangelung der Mittel gar nicht werden. Andererseits interessierte der – unbestreitbare – innere Staatsterror der Ermordung von ca. 100.000 irakischen Kurden in den 1980er Jahren die USA nicht, als sie noch mit dem Irak verbündet waren, sondern erst, als man offensichtlich einen neuen Gegner im ›War on Terror‹ finden und propagieren musste. So erscheint schließlich der ›War on Terror‹ selbst – mit seinen ständig und je nach Propagandalage wechselnden Zuschreibungen – als ein Portmanteau-Begriff, der, indem er alles bezeichnen soll, am Ende nichts bezeichnen kann. Wollte man als westliche Welt jedoch einen Kampf gegen den Terrorismus begründet führen, müsste man sich zunächst, das heißt bevor inkonsistente Begriffe propagiert und auf deren Basis Kriege geführt werden, des eigenen Begriffssystems vergewissern. So wäre es auch nach der Ära Bush, auch am Ende der zweiten Amtsperiode Barack Obamas weiterhin ratsam, die Begriffe nicht einfach nur zu wechseln und statt von Krieg nun von Frieden und Versöhnung zu sprechen, sondern sich eines konsistenten Begriffssystems für den Diskurs über politisch motivierte Gewaltakte und deren Täter zu bedienen. Hieße das doch vor allem, den massenmedial geführten Diskurs über politisch motivierte Gewaltakte – nicht nur im Rahmen eines ›War on Terror‹ – zu disziplinieren, indem man den Diskurs anhand von klar definierten Begriffen rationalisiert – dies auch, um wenigstens zukünftig zu vermeiden, was nach dem 11. September geschah, als anhand affektiv besetzter Freund-Feind-Schemata der Diskurs derart emotionalisiert wurde, dass hinter der Oberfläche massenmedial verbreiteter Scheinbegründungen ein Rachefeldzug geführt werden konnte. Rache mag ihre Berechtigung im Gefühlsleben von Individuen, etwa der Angehörigen der Opfer das 11. Septembers, haben. Rache hat aber nichts in überindividuellen Institutionen des Rechtes, des Staates und eben auch nichts in seriöser Berichterstattung zu suchen. Und Rache sollte schon gar nicht als Motivation rechtsstaatlicher Außenpolitik dienen.169 Darüber hinaus zeichnet sich aber noch eine andere und damit die entscheidende Perspektive des hier entwickelten Begriffssystems ab. Diese liegt nicht etwa darin, tatsächlich Abstimmungen hinsichtlich des Status 169 | So entlarvt Noam Chomsky schon früh die US-amerikanische Rhetorik des ›War on Terror‹, die in ihrer fluiden Begrifflichkeit ganz offensichtlich darauf angelegt war, das eigentliche Motiv eines staatlichen Rachefeldzugs zu vertuschen: »Zunächst war von einem ›Kreuzzug‹ die Rede, aber die USA begriffen bald, daß sie einen anderen Terminus verwenden mußten, wenn sie in der islamischen Welt Verbündete gewinnen wollten. Also führten sie den Begriff ›Krieg‹ ein« (2002: 19).
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von politischen Gewalttätern durchzuführen. Zwar ist dies nicht nur möglich, es kann durchaus pragmatisch sinnvoll sein. Ein Beispiel wäre die Wahl des kolumbianischen Staatspräsidenten Álvaro Uribe im Jahre 2006. Uribe ging damals mit einem Programm zur Niederschlagung der linksgerichteten FARC-Rebellen in den Wahlkampf. Diese von den Uribe-Anhängern als »Drogenterroristen« deklarierte, weil vorrangig mittels Kokainverkaufs finanzierte Guerilla im eigenen Land sollte militärisch bekämpft werden.170 Uribe gewann die Wahl mit einer absoluten Mehrheit von mehr als 60% der Stimmen, womit die FARC-Kämpfer zugleich (mehrheitlich) als Terroristen definiert waren, obwohl diese und ihre Anhänger sich selbst ausdrücklich als Freiheitskämpfer verstanden.171 Trotz dieses Beispiels aber soll sich das eigentliche Potenzial der hier angewendeten Methode der formalen Begriffsbestimmung weder im Abfragen gegenwärtiger noch in der Rekonstruktion historischer Mehrheitskonstellationen zeigen, sondern vielmehr und vor allem in der Analyse von behaupteten Mehrheiten – also im Übergang vom Feld der Politik zu dem der Medienpolitik und Propaganda.
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Entgegen dem heute üblichen Gebrauch von ›Propaganda‹ als einer negativ bewerteten, weil lügenhaften oder zumindest parteilichen »politische Agitation«, oder auch der kurzzeitigen Verwendung des Begriffs um 1900 als Synonym für »Wirtschaftswerbung« und »Reklamewesen« (Paul 1992: 667) geht dessen Prägung ursprünglich »auf die sacra congregatio de propaganda fide, eine Gründung des Papstes Gregor XV.« im Jahre 1622, zurück. »Diese Akademie des Vatikans hatte die Aufgabe, sich im Zuge der Gegenreformation systematisch damit zu beschäftigen, wie die römisch-katholische Kirche ihre Missionstätigkeit professionalisieren« und erfolgreich 170 | Ich beziehe mich hier auf die Reportage Kolumbien: Im Feindesland der Farc, Frankreich 2008, gesendet auf Arte am 25. April 2008. 171 | Dass sich das System Uribe während dessen Amtszeit zu einem inneren Staatsterror entwickelt zu haben scheint, da Uribe Kopfgelder auf FARC-Kämpfer aussetzte, was wiederum zu massenhaften Ermordungen von Zivilisten durch Söldner führte, sei ebenfalls nicht verschwiegen. Entsprechendes berichtete das Auslandsjournal des ZDF am 10. Februar 2010. Auch befindet sich Kolumbien bis heute unter den Ländern, an die deutsche Firmen keine Waffen liefern dürfen, und gilt hierzulande nicht nur in dieser Hinsicht als Krisengebiet.
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ausweiten könne (Bussemer 2007: 1). Entsprechend leitet sich ›Propaganda‹ etymologisch vom lateinischen ›propagatio‹ (Fortpflanzung, Erweiterung, Verlängerung von etwas) her. In diesem Sinne wird der Begriff im Folgenden verwendet. Propaganda wäre somit der öffentliche und damit notwendig auch massenmedial vermittelte Versuch, einen Diskurs zu verlängern, zu erweitern und fortzusetzen, welchen – setzt man ein begrenztes Aufmerksamkeitsreservoir der Adressaten voraus – eine Gegenpropaganda durch ihre eigene Ausbreitung verdrängen, überdauern und letztlich beenden will. Propaganda befindet sich also immer in einer Konkurrenz mit anderen ›Propaganden‹,172 auf deren Kosten sie sich auszubreiten versucht. Dabei geht es entsprechend der begriffsgeschichtlichen Missionierungsidee zunächst einmal gar nicht darum, welche Propaganda nun ›wahr‹ oder ›falsch‹ ist, sondern darum, welche sich erfolgreich behauptet, sprich: vom Publikum geglaubt wird und sich deshalb ausbreiten kann.
Fallbeispiel: Propaganda im Tibetkonflikt 2008 Wie antagonistisch Propaganda und Gegenpropaganda auch sein mögen, aus formallogischer Sicht ist die Relation zwischen Propaganda und Gegenpropaganda keine kontradiktorische (genau eines von beiden muss wahr sein), sondern eine konträre (nur eines von beiden kann wahr sein, aber es kann auch beides falsch sein). Dies wird daran deutlich, dass es immer mindestens einen dritten Diskurs gibt oder geben kann, der jenseits der Propaganda und Gegenpropaganda liegt, und sich bezogen auf ein politisches Ereignis grundsätzlich eine Vielzahl potenzieller Propagandadiskurse führen lässt (eben mehr als zwei). Bevor man sich der daraus resultierenden Frage nähern kann, warum sich eine bestimmte Propaganda auf Kosten anderer Propaganden ausbreitet, müssen zunächst die Strukturen eindeutig voneinander abgrenzbarer Propagandadiskurse aufbauend auf die im ersten Abschnitt entwickelte Taxonomie politisch motivierter Gewalttaten beschrieben werden. Das soll ausgehend vom konkreten Beispiel des tibetischen Widerstandes gegen die chinesischen Machthaber im Vorfeld der Olympischen Spiele 2008 geschehen. Im Zuge dessen werden die Relation ›Anschlag des Terroristen‹, T(x,z), die Relation ›innerer Befreiungskrieg des Befreiungskriegers‹, 172 | Eine Konsequenz der Terminologie ist, dass ich ›Propaganda‹ einen Plural bzw. eine explizite Pluralform hinzufüge, obwohl etwa der Duden eine solche im Deutschen nicht vorsieht.
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Ibk(x,z), die Relation ›innerer Staatsterror des Staatsterroristen‹, Ist(x,z), und die Relation ›Befreiungsschlag des Freiheitskämpfers‹, F(x,z), auf das konkrete Beispiel angewendet, indem man die Variablen x und z durch die Konstanten a, b, c und d bestimmt. Damit werden die allgemeinen Aussagenformen zu Aussagen, die nun am konkreten Fall des Tibetkonflikts auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfbar sind. Bezogen auf den tibetischen Widerstand Anfang 2008 und seine Akteure steht a für die chinesischen Machthaber der Parteifunktionäre um Hu Jintao, den damaligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Staatspräsidenten und Vorsitzenden der Zentralen Militärkommission der Volksrepublik China. Die Gruppe kann im Rahmen des Fallbeispiels nur sinnvoll im Kontext eines inneren Befreiungskrieges oder eines inneren Staatsterrors verhandelt werden: Aus den Definitionen 1 bis 8 ergibt sich, dass ein Freiheitskämpfer, der zugleich ein Machthaber ist, als Befreiungskrieger bestimmt ist und ein Terrorist, der zugleich ein Machthaber ist, als ein Staatsterrorist.173 Worum von beiden es sich letztlich handeln soll, bestimmt die Spezifik der Propaganda, insofern sie Behauptungen über die Mehrheiten bezüglich der aus y von den konkreten Gewalttätern (a) und ihren Gewalttaten (im Folgenden b) Erschreckten aufstellt. Dass im Beispieldiskurs von einem inneren Befreiungskrieg oder Staatsterror der chinesischen Machthaber die Rede ist, liegt ausschließlich daran, dass Tibet staatsrechtlich zu China zählt. Allerdings ist es im Tibetkonf likt eben nur dann möglich, von einem inneren Befreiungskrieg oder Staatsterror der chinesischen Machthaber zu sprechen, wenn man Tibet zum Staatsgebiet Chinas zählt: Zwar hat bisher kein anderer Staat Tibet als selbstständiges Staatsgebilde oder autonome Teilrepublik anerkannt. Die ausnahmslose Mehrheit der Tibeter wird jedoch genau dies kritisieren und Tibet als autonomen Staat sehen, der von China in Form äußeren Staatsterrors 1958 annektiert wurde.174 173 | Aufgrund des formalen Implikationsverhältnisses von ›Terrorist‹ und ›Amokläufer‹ bzw. ›Freiheitskämpfer‹ und ›Held‹ werden Staatsterroristen als potenzielle Amokläufer (siehe 9 und 11 in Tabelle 1.1 im Anhang) und Befreiungskrieger als potenzielle Helden (siehe 1 und 3) zumindest implizit mitverhandelt. 174 | Dabei ist der Fall noch diffiziler. Es ist nämlich zu bezweifeln, dass die Tibeter noch lange eine Mehrheit innerhalb der in den Grenzen Tibets lebenden Bevölkerung stellen werden, betreibt die chinesische Regierung doch seit Jahrzehnten eine augenscheinlich politisch motivierte Besiedlungspolitik, sodass »die Tibeter«, mit den Worten des Dalai Lama (2008a: 71), zusehends »zur unbedeutenden und entrechteten Minderheit im eigenen Land werden«.
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Auch wenn der Dalai Lama als religiöser Führer der Tibeter im konkreten politischen Konflikt eine moderate, auf Versöhnung der Gegenpositionen angelegte Haltung einnimmt,175 indem er die staatliche Zugehörigkeit Tibets zur Volksrepublik China ausdrücklich nicht infrage stellt, sondern allein eine »religiöse und kulturelle Autonomie« Tibets fordert, so zeigt das Beispiel doch grundsätzlich, dass das Prädikat ›agiert innerhalb seines eigenen Landes‹ kein gänzlich unabhängiges ist, sondern durch die Beurteilergruppe bedingt werden kann. Das gilt nicht nur im Tibetkonflikt, sondern generell im Diskurs um autonome und teilautonome Gebiete, die, wie etwa das Baskenland oder Nordirland, auf ihre eigene ›Terrorgeschichte‹ zurückblicken. Grundsätzlich gilt es daher, und in solchen Fällen noch ausdrücklicher, nach der Plausibilität der zugrunde gelegten Referenzgruppe y der vom politisch motivierten Gewaltakt betroffenen Beurteiler zu fragen: Diese sind, wie die Beispiele für Freiheitskämpfer, Terroristen etc. gezeigt haben, im Rahmen der Taxonomie nicht bestimmt, sondern grundsätzlich variabel angelegt. Im konkreten Fall des tibetischen Widerstands 2008 steht b nun relational zu a für die Gewaltakte der auf Tibeter einprügelnden und schießenden chinesischen Polizisten/Soldaten. Dies wird wieder im Rahmen eines inneren Befreiungskrieges oder eines inneren Staatsterrors der Machthaber verhandelt. Es gilt also: Ibk(a,b) W(y) ¬E(y,a,b) M(a) L(a) oder Ist(a,b) W(y) E(y,a,b) M(a) L(a). Ob die Gewaltakte als das eine oder das andere, als Befreiungsschläge oder Akte des Staatsterrors verhandelt werden, bestimmt wiederum die Propaganda. Des Weiteren steht c für die Gruppe der TPUM-Anhänger176 als Terroristen oder Freiheitskämpfer; d
175 | So beispielsweise in einem Interview in den Tagesthemen am 18. Mai 2008, das im Zusammenhang mit den damaligen Protesten im Rahmen der von China ausgerichteten Olympischen Spiele gesendet wurde. Diesem entstammt auch das folgende Zitat. 176 | TPUM ist das Akronym für Tibetan People’s Uprising Movement. Dabei handelt es sich um eine im Vorfeld der Olympischen Spiele von fünf tibetischen Organisationen, namentlich vom Tibetan Youth Congress, von der Tibetan Woman’s Association, der National Democratic Party of Tibet und den Students for Free Tibet, ins Leben gerufene Widerstandsbewegung. In der Gründungserklärung des TPUM heißt es beispielsweise: »[W]ir rufen alle Tibeter in Tibet auf, sich weiterhin gegen die chinesische Herrschaft zur Wehr zu setzen, und wir geloben unsere unverbrüchliche Unterstützung für ihren […] Widerstand« (IGFM 2008/01/12). Dementsprechend werden die tibetischen Widerständler im Folgenden synekdochisch als TPUM-Anhänger bezeichnet, auch wenn sie nicht unbedingt Mitglieder einer der fünf Gründungsorganisationen sind.
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steht relational zu c für Angriffe auf Chinesen177 im Rahmen von terroristischen Anschlägen oder Befreiungsschlägen. Es gilt also: T(c,d) W(y) E(y,c,d) oder F(c,d) W(y) ¬E(y,c,d). Auch hier bestimmt die Spezifik der Propaganda bzw. deren immanente Mehrheitsbehauptung, ob von Anschlägen oder von Befreiungsschlägen und somit von Terroristen oder Freiheitskämpfern die Rede ist. Auf der Basis dieser Ersetzungen der Variablen durch Konstanten im Rahmen der medialen Darstellung des Tibetkonflikts lassen sich zunächst zwei konträre Propaganden bestimmen: Propaganda der chinesischen Variante: Ibk(a,b) T(c,d) Innerhalb dieses Diskurses gelten die chinesischen Machthaber als Befreiungskrieger und die Gewalttaten ihrer Polizisten/Soldaten als innerer Befreiungskrieg. Die tibetischen TPUM-Anhänger werden als Terroristen und die Angriffe auf Chinesen als ihre Anschläge verhandelt. Propaganda der tibetischen Variante: Ist(a,b) F(c,d) Innerhalb dieses Diskurses gelten die chinesischen Machthaber als Staatsterroristen und die Gewaltakte ihrer Polizisten/Soldaten als innerer Staatsterror. Die tibetischen TPUM-Anhänger werden als Freiheitskämpfer und die Angriffe auf Chinesen als ihre Befreiungsschläge verhandelt. Das beschreibt nicht nur hinreichend, sondern umfassend die beiden (Gegen-)Positionen, wie sie in den westlichen Medien im Vorfeld der Olympischen Spiele 2008 verhandelt wurden: Auslöser der ›Propagandaschlacht‹ zwischen dem tibetischen Widerstand und der chinesischen Regierung waren, wie gesagt, die anstehenden 24. Olympischen Sommerspiele, die im August 2008 in der Volksrepublik China ausgetragen wurden. Beide Parteien versuchten, die weltweite mediale Öffentlichkeit im Vorfeld der Spiele für die Verbreitung ihrer politischen Positionen zu nutzen. Die chinesische Führung wollte sich als Ausrichter der Spiele – entgegen den seit 177 | Nach Presseberichten kam es nach zunächst friedlichen Protesten zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen chinesische Zivilisten und Behörden (Soldaten, Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungssanitäter). Im Zuge dessen wurden auch öffentliche Gebäude, Geschäfte und Fahrzeuge von Chinesen geplündert und in Brand gesetzt (siehe hierzu Spiegel Online 2008/03/14, Welt Online 2008/03/14, NNZ Online 2008/03/15 und Zeit Online 2008/04/01). ›Angriffe auf Chinesen‹ soll dies synekdochisch be zeich nen.
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der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung im Jahre 1989178 in den westlichen Medien immer wieder angeprangerten Menschenrechtsverletzungen – als legitime und souveräne Regierung ihrer Nation darstellen. Dabei sollte die Symbolkraft der Olympischen Spiele als Friedensspiele medial und propagandistisch genutzt werden. So hat man etwa im Rahmen des olympischen Fackellaufs das olympische Feuer geteilt und eine Fackel auf die Spitze des Mount Everest gesetzt: Nicht nur die Tibeter sahen »darin die Manifestation des chinesischen Machtanspruchs über das größte Hochland der Erde« (dpa 2008/04/29). Genau gegen diese weltweite mediale Zurschaustellung des chinesischen Machtanspruchs über Tibet wollte sich der tibetische Widerstand positionieren. Man nutzte dabei seit »dem Ausbruch von Unruhen am 14. März in Lhasa« ebenfalls die Bühne der vorolympischen Weltöffentlichkeit. Die chinesische Regierung versuchte der Ausbreitung der tibetischen Gegenpropaganda schließlich mittels einer »Behinderung der Berichterstattung« der internationalen Presse einerseits und einer staatskonformen Propaganda der eigenen Medien andererseits entgegenzuwirken (dpa 2008/04/29). Die tibetischen Widerständler konnten wiederum darauf hoffen, dass die Weltöffentlichkeit die Einschränkung der Pressefreiheit als Beleg für ein diktatorisches Regime und damit für die eigene Position auffasste – und so weiter. Der westliche Zuschauer bekam im Rahmen des vorolympischen Tibetkonflikts somit aufs Trefflichste den Antagonismus von Propaganda und Gegenpropaganda vorgeführt. Was er aber nicht vorgeführt bekam, war eine ›Realität‹, die hinter den massenmedial verbreiteten Propaganden lag und ihn befähigt hätte, eine definitive Entscheidung darüber zu treffen, welche Propaganda wahr und welche falsch war. Er konnte zwar eine plausible, das heißt eine für andere westliche Beobachter nachvollziehbare Beurteilung der Ereignisse auf der Basis einer informierten Einschätzung der historisch gewachsenen, komplexen Situation in Tibet treffen. Dies ist jedoch keine Einschätzung, die gleichsam am Widerstand extramedialer Ereignisse verifiziert worden wäre, sondern eine Einschätzung, die auf dem Glauben an den Realismus der eigenen westlichen Berichterstattung beruht. Hier zeigen sich auch die Grenzen der Gewissheit auf, die unter 178 | Am 4. Juni 1989 berichteten die westlichen Medien ausführlich über das sogenann te Tian’anmen-Massaker, bei dem mehrere Tausend Zivilisten vom Militär getötet wurden. Dies gilt noch heute als blutiger Endpunkt monatelanger Proteste der chinesischen Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tian’anmenPlatz) in Beijing.
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anderem die Grenzen eines ethnozentrischen oder besser mediozentrischen Diskurses sind. Und selbst wenn man den Gewaltakt eines politisch motivierten Gewalttäters unmittelbar beobachtet, ist die Einschätzung des Gewalttäters als Befreier oder Erschrecker einerseits und als Terrorist oder Freiheitskämpfer, Staatsterrorist oder Befreiungskrieger, Amokläufer oder Held andererseits unabhängig von der Beobachtung der Gewalttat durchaus interpretationsoffen und nicht etwa bereits durch die Beobachtung des extramedialen Gewaltaktes selbst determiniert: Auch durch den privilegierten Beobachter werden weder Entscheidungen noch Mehrheitsentscheidungen über Akte politisch motivierter Gewalt und ihre Täter beobachtet, sondern bloß die Akte und Täter der politisch motivierten Gewalt selbst. Es lässt sich also festhalten, dass man für die Beschreibung der massenmedialen Struktur politisch motivierter Gewalt den privilegierten Beobachter weitestgehend vernachlässigen kann. Der privilegierte Beobachter politisch motivierter Gewalt erscheint nur noch insofern privilegiert, als er einen unmittelbaren empirischen Zugang zum Gewaltakt selbst vorweisen kann: Er kann zwar über das Existieren eines korrespondierenden Ereignisses zum Medienereignis eines politisch motivierten Gewaltakts und damit privilegiert darüber entscheiden, ob ein Medienereignis im Sinne einer Korrespondenz für wahr gehalten werden kann, nicht aber darüber, wie es beurteilt werden muss. Die Drittdiskurse jenseits von Propaganda und Gegenpropaganda erhält man nun, indem verschiedene Relationen aus Propaganda und Gegenpropaganda sinnvoll kombiniert und andere isoliert werden. Als nicht sinnvolle Kombinationen werden von vornherein solche ausgeschlossen, die ›Unmöglichkeiten‹ darstellen, indem sie widersprüchlich sind. So z.B. T(c,b), was bedeuten würde, dass die TPUM-Anhänger als Terroristen und die Gewalttaten der chinesischen Polizisten/Soldaten zugleich als Anschläge der TPUM-Anhänger gelten. Da Anschläge der TPUM-Anhänger aber gerade keine Gewalttaten der chinesischen Polizisten/Soldaten sind, kann es auch keinen einzigen Entscheider y geben, der erschreckt oder nicht erschreckt ist: ¬ (y) E(y,c,b) ¬E(y,c,b). Das allein schon ist im Rahmen eines (binären) Systems, das auf Entscheidungen zwischen ›erschrecken‹ und ›nicht erschrecken‹ fußt, widersinnig. Vor dem Hintergrund, dass ¬ (y) E(y,c,b) ¬E(y,c,b) äquivalent zu (y) E(y,c,b) ¬E(y,c,b) ist, wird der Widerspruch jedoch eklatant, besagt (y) E(y,c,b) ¬E(y,c,b) doch, dass alle y zugleich erschreckt und nicht erschreckt sind. Entsprechendes würde etwa auch für Ist(a,d) gelten. Das hieße nämlich: Die chinesischen Machthaber gelten als Staatsterroristen und die Gewalttaten der Angriffe auf Chinesen
Kapitel 2: Logik des Terrors
als Staatsterror der chinesischen Machthaber. Im Rahmen des Tibetkonflikts gibt es aber keine Person, die die Gewalttat, Chinesen in Tibet anzugreifen, begeht und zugleich chinesischer Machthaber ist. Wiederum müsste gelten, dass es keinen einzigen Entscheider y gibt, der erschreckt oder nicht erschreckt ist, ¬ (y) E(y,a,d) ¬E(y,a,d), bzw. dass alle zugleich erschreckt und nicht erschreckt sind: (y) E(y,a,d) ¬E(y,a,d). Dies gilt allerdings nur, solange man sich im Rahmen ›normaler‹, das heißt kennzeichnender Propaganden bewegt und nicht im Rahmen von Verschwörungsdiskursen. Im Rahmen dieser wäre es (auch diskursiv) möglich, dass Akteure nicht das sind, als was sie erscheinen. Es könnte so etwas wie Undercoveragenten geben, die politisch motivierte Gewaltakte begehen, welche sonst nur den Anhängern der Gegenseite zugeschrieben würden. Die chinesischen Machthaber könnten beispielsweise die TPUMAnhänger unterwandern (lassen) und Gewaltakte gegen die eigene Bevölkerung begehen, um dann die TPUM-Anhänger als Terroristen zu stigmatisieren und sich selbst vor der Weltöffentlichkeit als Opfer eben dieser Terroristen zu präsentieren. Ein historisches Beispiel hierfür ist der Überfall auf den Sender Gleiwitz am 31. August 1939. Im Rahmen der fingierten Aktion wurde – wie man heute weiß – dem SS-Sturmbannführer Alfred Naujocks befohlen,179 einen Anschlag auf die Radiostation bei Gleiwitz in der Nähe der polnischen Grenze vorzutäuschen und es so erscheinen zu lassen, als seien Polen die Angreifer gewesen. Dabei diente der Überfall ›unter falschem Namen‹ der NS-Führung als ein propagandistischer Vorwand für den Polenfeldzug. Im Falle des Tibetkonflikts würde es sich dagegen um eine heimlich forcierte Bestätigung einer bereits vorhandenen Kampagne der chinesischen Führung gegen den tibetischen Widerstand handeln. So stigmatisierte die chinesische Staatspresse etwa den Tibetan Youth Club, eine der Gründungsorganisationen des TPUM, im Mai 2008 explizit als »Terrororganisation« (Spiegel 2008/20a: 122). Derartige Verschwörungsdiskurse können und sollen aber von vornherein aus dem Gegenstandsbereich ausgeschlossen werden, nicht weil sie als Diskurse nicht existieren, sondern weil diesen immer eine Reihe von Zusatzannahmen unterlegt werden muss; Zusatzannahmen, welche in der Regel nicht überprüfbar sind. Denn das ist, wenn man so will, die Pointe funktionierender Verschwörungsdiskurse: dass sie von vornherein auf Nichtfalsifizierbarkeit hin angelegt sind. Widerspruchsfreie Verschwörungsdiskurse ohne derartige Zusatzannahmen bleiben dagegen diskursiv unmöglich. In dem Fall aber, in dem Zusatzannahmen einen Verschwö179 | Ausführlich hierzu etwa Altenhöner (2010).
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rungsdiskurs massenmedial ermöglichen, wird dieser schon bald kein Verschwörungsdiskurs mehr sein, da mit den Zusatzannahmen, wie heute im Falle des Überfalls auf den Sender Gleiwitz, auch massenmedial bekannt wäre, welcher Akteur welche Rolle ›tatsächlich‹ spielt: Wenn in den westlichen Medien etwa bekannt wäre, dass die chinesischen Machthaber gegen ihre eigenen Leute vorgehen, würden die chinesischen Machthaber nicht nur als skrupellose Propagandisten, sondern auch als alleinige Gewalttäter gelten, während die TPUM-Mitglieder als Nicht-Gewalttäter ›aus dem Diskurs‹ wären. Man hätte es dann schlicht mit einem anders strukturierten Propagandadiskurs zu tun und nicht mit dem, der 2008 in den westlichen Massenmedien geführt wurde. Neben den zuvor definierten Propaganden der tibetischen und der chinesischen Variante ergeben sich nun als mögliche (kennzeichnende) Propagandadiskurse im Rahmen des Tibetkonflikts die folgenden vier Propaganden. Diese lassen sich grundsätzlich hinsichtlich ihrer Urteilsfähigkeit differenzieren. Urteilsfähige Propaganda zeichnet sich durch eine immanente Offenheit der Beurteilung der politischen Gewalttäter aus, woraus wiederum die Möglichkeit einer weiteren Beurteilung der Taten und Täter durch eine relevante Gruppe von Beurteilern resultiert. Nicht-urteilsfähige Propaganden zeichnen sich dagegen dadurch aus, dass die Beurteilung der politischen Gewalt bereits mit der Propaganda selbst vorgenommen wurde: Pazifistisches Propagandabeispiel: T(c,d) Ist(a,b) Dieser Diskurs verhandelt die tibetischen TPUM-Anhänger als Terroristen und die Angriffe auf Chinesen werden als ihre Anschläge bezeichnet. Die chinesischen Machthaber gelten als Staatsterroristen und die Gewaltakte ihrer Polizisten/Soldaten als innerer Staatsterror. Militaristisches Propagandabeispiel: Ibk(a,b) F(c,d) Innerhalb dieses Diskurses gelten die chinesischen Machthaber als Befreiungskrieger und die Gewalttaten ihrer Polizisten/Soldaten als innerer Befreiungskrieg. Die tibetischen TPUM-Anhänger sind Freiheitskämpfer und die Angriffe auf Chinesen werden als ihre Befreiungsschläge anerkannt. Im ersten Fall wird jeglicher Befreiungsschlag oder Befreiungskrieg aus der Diskussion ausgeblendet, indem man alle Akteure allein aufgrund ihrer Gewaltanwendungen verurteilt: Es werden – pazifistisch – alle Gewaltakte als erschreckend angesehen. Im zweiten Fall militaristischer Propaganda gilt im Gegensatz dazu, dass kein Gewaltakt als erschreckend verurteilt, also alle Gewaltakte als befreiend befürwortet werden. Zugleich
Kapitel 2: Logik des Terrors
bilden diese beiden Propaganden zusammen mit der chinesischen und tibetischen Variante alle möglichen nicht-urteilsfähigen Propaganden ab. Als urteilsfähige Propaganden im Tibetkonflikt ergeben sich dann die folgenden: Urteilsfähiges Propagandabeispiel 1: T(c,d) F(c,d)180 In diesem Diskurs werden die TPUM-Anhänger entweder als Terroristen und ihre Gewalttaten als Anschläge beurteilt oder die TPUM-Anhänger werden als Freiheitskämpfer und ihre Gewalttaten als Befreiungsschläge beurteilt. Urteilsfähiges Propagandabeispiel 2: Ist(a,b) Ibk(a,b) In diesem Diskurs werden die chinesischen Machthaber entweder als Staatsterroristen und ihre Gewaltakte als innerer Staatsterror beurteilt oder die chinesischen Machthaber werden als Befreiungskrieger und ihre Gewaltakte als innerer Befreiungskrieg beurteilt. Hier wird jeweils nicht schon eine Zuweisung zu T(c,d) oder F(c,d) respektive zu Ibk(a,b) oder Ist(a,b) im Rahmen der Propaganda selbst vorgenommen. Die Entscheidung darüber wird einer Mehrheits-/Minderheitsdiskussion überlassen. Erst die Beurteilergruppe entscheidet, ob sie die chinesischen Machthaber als Befreiungskrieger oder Staatsterroristen und ob sie die TPUM-Anhänger als Terroristen oder als Freiheitskämpfer ansehen will (entsprechend jeweils auch die relationalen Gewaltakte). Für ein entscheidungsoffenes Urteil über alle Gewalttäter (und Gewalttaten) im Tibetkonflikt ergibt sich somit [T(c,d) F(c,d)] [Ist(a,b) Ibk(a,b)] und äquivalent dazu [W(y) E(y,c,d) W(y) ¬E(y,c,d)] [W(y) ¬E(y,a,b) M(a) L(a) W(y) ¬E(y,a,b) M(a) L(a)]: »Die Mehrheit der Beurteiler wird durch die Gewaltakte der TPUM-Anhänger entweder erschreckt oder nicht erschreckt und die Mehrheit der Beurteiler wird durch die Gewaltakte der chinesischen Machthaber im eigenen Land entweder erschreckt oder nicht erschreckt.« Dass sich bezogen auf einen Akt politisch motivierter Gewalt stets mehr als eine Propaganda konstruieren lässt, also die gleichen Akteure und deren Gewaltakte unterschiedlich beurteilt werden können, verweist nun zunächst darauf, dass die Ausbreitung oder Viabilität eines Propagan180 | Anstatt des Kontravalenzoperators hätte ich im Folgenden auch ein einfaches ›oder‹, also ein ›und/oder‹ ( ), verwenden können: Da beides zugleich nicht möglich ist, ist der Fall des ›und‹ automatisch ausgeschlossen. Das ›entweder-oder‹ des Kontravalenzoperators expliziert dies nur, indem dieser den Fall des ›und‹ abermals ausschließt.
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dadiskurses nicht primär davon abhängt, ob dieser mit dem extramedialen Ereignis einer gegenwärtigen oder vergangenen Realität korrespondiert, sondern ob dieser von den ›Medienbeobachtern‹ – in erster Instanz den Journalisten etc. als Medienproduzenten, in zweiter Instanz vom Publikum als Beobachter journalistischer Medienprodukte – als glaubwürdig und damit als ›wahr‹ verhandelt wird.181 Dass das Verhältnis von Propaganda und Gegenpropaganda im Rahmen eines Diskurses zudem konträr und nicht kontradiktorisch ist (was bedeuten würde, dass ein Diskurs von beiden wahr sein muss), bedeutet zudem nicht, dass man sich, wenn man eine Propaganda aus welchem Grund auch immer als unglaubwürdig ablehnt, notwendig für die andere, die Gegenpropaganda, entscheiden muss. Es bleibt aufgrund der Existenz von Drittdiskursen immer auch die Möglichkeit, sich gegen Propaganda und Gegenpropaganda zu entscheiden. All diejenigen jedoch, die sich auf einen der nicht-urteilsfähigen Propagandadiskurse festlegen, postulieren explizit oder implizit das Gegenteil: Nichturteilsfähige Propaganden tragen immer schon einen Wahrheitsanspruch in sich, indem sie sich nicht nur nicht als Propaganda – im gegenwärtig üblichen Sprachgebrauch – ausweisen, sondern stets auch ›die Wahrheit‹ einer eindeutigen und notwendigen Beurteilung extramedialer Ereignisse politisch motivierter Gewalt behaupten und so gerade keinen Interpretationsspielraum mehr lassen. Nicht umsonst war das zentrale Propagandaorgan der KPdSU, für eine effektive Propaganda wohl aber etwas zu offensichtlich, mit Prawda (Wahrheit), betitelt. Nochmals auf den konkreten Fall des tibetischen Widerstands bezogen findet sich in der bereits zitierten Meldung der Deutschen Presse-Agentur unter anderem die Zeile: »Die Mehrheit der 1,3 Milliarden Chinesen schweigt« (dpa 2008/04/29). Und tatsächlich wurden von beiden Seiten, auch von der tibetischen, keine urteilsfähigen Diskurse angeboten. Man sollte zustimmen oder schweigen, nicht urteilen. So wurde auf der massenmedialen Weltbühne ein »Streit« geführt, der konträre Positionen als kontradiktorische postulierte, oder, wie es in der Pressemeldung metaphorisch hieß: »Der Streit verdeutlicht die Polarisierung auf beiden Seiten, die nur Schwarz-Weiß-Bilder zulässt« (dpa 2008/04/29). Trotzdem war 181 | Allerdings nicht in dieser strikten Reihenfolge: Gerade das Medium des Internets lässt es auch zu, dass nicht professionalisierte Beobachter als Medienproduzenten auftreten. Und umgekehrt können Journalisten ihre Medienprodukte bereits aus Medienprodukten rekonstruieren. Man denke neben Nachrichten, die auf Meldungen von Agenturen wie Reuters oder der dpa basieren, an solche, die auf Videos etc. aus dem Internet rekurrieren.
Kapitel 2: Logik des Terrors
die Position der westlichen Medien gegenüber den antagonistischen Gegenpropaganden chinesischer und tibetischer Provenienz eindeutig: Einer Tradition der Anklage von Menschenrechtsverletzungen der chinesischen Regierung folgend, dominierte die nicht-urteilsfähige Propaganda der tibetischen Variante den Diskurs. So wurde immer wieder auf die autoritäre Staatsführung, den Mangel an Pressefreiheit und das rigide Rechtssystem der Volksrepublik verwiesen.182 Im Zuge dessen erschienen die Machthaber Chinas explizit oder implizit als Staatsterroristen und der tibetische Widerstand als Freiheitskampf. Dass aber in der Beurteilung der chinesischen Führung und damit implizit auch des Tibetkonflikts ein urteilsfähiger Diskurs nicht nur als theoretische Möglichkeit existierte, sondern auch faktisch vorhanden war, zeigte sich, als Singapurs ehemaliger UN-Botschafter Kishore Mahbubani in einem Spiegel-Interview den autoritären Staatsapparat Chinas unter wirtschaftlich-pragmatischen Gesichtspunkten verteidigte: Zwar räumte Mahbubani zunächst ein, dass es »natürlich noch schlimme Verbrechen des Staates in China« gebe, genauso wie es sie nach dem 11. September im Namen des ›War on Terror‹ gegeben habe; »der Trend« in China sei aber »sehr positiv«, konnten dort doch »in den vergangenen Jahren 400 Millionen Menschen der Armut entkommen« (Spiegel 2008/21: 65); letztlich, so Mahbubani weiter, gehe es aber nicht primär um die Frage »demokratisch oder autoritär«, sondern darum, ob eine Regierung funktioniere, und zwar derart, dass sie die Lebensbedingungen ihrer Bevölkerung insgesamt verbessert:183 Uns geht es um eine verantwortungsbewusste Regierungsführung. Alle Staaten müssen verantwortungsbewusst geführt werden, Entwicklungsländer aber ganz besonders. Ob man das autoritär oder demokratisch macht, ist erstmal nicht so wichtig. Die Form muss zu der Gesellschaft passen. China zum Beispiel wird nicht demokratisch regiert, aber verantwortungsbewusst. […] Es wäre eine Katastrophe für China, wenn es sich über Nacht für die Demokratie entscheiden [!] würde. Hundert Millionen Menschen würden unter den Folgen leiden. (Spiegel 2008/21: 61) 182 | Siehe beispielsweise den Spiegel (2008/19: 40ff.). 183 | Das nur am Rande, aber genau dies ist auch das Generalargument vom Mustapha Mond, wenn er in seiner Funktion als »Weltbereichscontroller Westeuropa« in Aldous Huxleys Brave New World die »schöne neue Welt« bzw. deren Gesellschaftsordnung gegen den Anspruch des Individuums auf eine Freiheit der (eigenen) Entscheidung verteidigt (2013: 42, 248ff.).
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Wen Mahbubani hier mit »China« als Entscheider meint, die Führung oder im demokratischen Sinne das Volk, sei zunächst einmal dahingestellt.184 Worauf es hier ankommt, ist, nochmals die faktische Existenz eines Alternativdiskurses zum damaligen westlich-tibetischen Propagandadiskurs aufzuzeigen: Mit Mahbubani werden die chinesischen Machthaber nicht mehr per se als Staatsterroristen eingestuft; einerseits weil sie alles gleichzeitig und damit gar nichts sind,185 andererseits indem er Diktaturen und ihre Taten nicht per se verurteilt. Dass man Mahbubani im Rahmen einer Spiegel-Serie zur »Zukunft der Demokratie« zu Wort kommen ließ, hieß aber nicht, dass der in den westlichen Massenmedien vorherrschende Propagandadiskurs tibetischer Variante damit abgelöst oder gar verdrängt worden wäre. Die Ausnahme bestätigte hier buchstäblich die Regel, und Kritik an einer nicht-urteilsfähigen Propaganda tibetischer Variante vollzog sich innerhalb der westlichen Massenmedien, wenn überhaupt, ausschließlich auf einer selbstreferenziellen Ebene – als ein Nulldiskurs. In dem Artikel der Deutschen Presse-Agentur wurde beispielsweise die Rolle der Massenmedien als Vehikel nicht-urteilsfähiger Gegenpropaganden kritisiert: Implizit und gewissermaßen unbewusst wurde, wie gesehen, auf die selbst kolportierten »Schwarz-Weiß-Bilder« hingewiesen. Die explizite Kritik galt jedoch einzig der chinesischen Position, indem die »veralteten Propagandamethoden« Chinas ›entlarvt‹ wurden, welche »nur einmal mehr« verdeutlichten, »dass sich in China politisch eben doch wenig« seit »der Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989« verändert habe (dpa 2008/04/29). Indem man sich aber immer bloß die Propaganda der anderen ins Bewusstsein ruft, verdrängt man, dass man selbst ebenfalls (nicht-urteilsfähige) Propagandadiskurse massenmedial produziert. Und wichtiger noch: Selbst wenn man als Medium das eigene Nichtfunktionieren als Ausnahme oder Abweichung thematisiert, werden damit inhaltlich nicht nur Nulldiskurse produziert, sondern immer auch implizite Selbstlegitimationsdiskurse. Wie in Kapitel 1 an Baudrillards Tasaday-Beispiel expliziert, dient der Nulldiskurs als Ritual massenmedialer Selbstgeißelung gerade dem Zweck der eigenen Rehabilitierung: grundsätzlich hinsichtlich der Rettung eines journalistischen Re184 | Ich werde darauf, explizit auch auf Mahbubanis Interviewäußerungen, im Folgenden noch ausführlich eingehen. 185 | Formal folgt aus einem Widerspruch die Wahrheit jedes beliebigen Satzes. Hier folgt daraus, dass er die Gewalttaten der chinesischen Machthaber zugleich verurteilt (»schlimme Verbrechen«) und nicht verurteilt (»der Trend ist positiv«), dass die Gewalttaten verurteilt oder nicht verurteilt werden können.
Kapitel 2: Logik des Terrors
alitätsprinzips, hier indem man im nicht-urteilsfähigen Diskurs als journalistisches Medium implizit eine Interpretationshoheit auf der Basis einer vermeintlich eindeutigen Relation von politisch motivierten Gewaltakten und deren Bewertung behauptet und eine solche Bewertung mittels des Nulldiskurses zugleich implizit verteidigt. Wie gesehen, ist es aber im Feld der Propaganda über politisch motivierte Gewalt genauso wenig plausibel, von einer Determinierung des Medienereignisses durch ein ihm kausal vorgeordnetes Korrespondenzereignis wie von einer eindeutigen Relation zwischen massenmedialen Beurteilungen und extramedialen Ereignissen politisch motivierter Gewalt auszugehen. Auch wird die Beurteilung der Tat und des Täters nicht durch den mittelbaren oder unmittelbaren Modus der Beobachtung des Gewaltaktes bestimmt: Es existiert in diesem Kontext, wie gesehen, kein privilegierter Beobachter. Dies gilt bereits für die Einschätzung, ob es sich überhaupt um einen politisch motivierten Akt der Gewalt handelt. Man denke etwa an die problematische Einordnung von Amokläufern als politisch motivierte Gewalttäter. Die Beurteilung von politisch motivierten Gewaltakten hängt also vielmehr von Voraussetzungen ab, die sich, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, in den Propaganden selbst finden bzw. in den strukturimmanenten Möglichkeiten der Propaganden sowie in über die Propaganden hinausgehenden ideologischen Prämissen.186 Diese Faktoren, nicht die Ereignisse selbst oder deren privilegierte Beobachtung, entscheiden darüber, ob und warum ein Beurteiler einen Propagandadiskurs – aus rationalen Erwägungen heraus187 – für glaubhaft halten kann oder nicht. Das galt auch für den westlichen Diskurs über den Tibetkonflikt. Hier konnten die (westlichen) Beobachter Korrespondenzereignisse, die über den Realismus von Propaganden entscheiden, überhaupt erst im Nachhinein der bereits medial vollzogenen Propaganda rekonstruieren. Auch in dieser Hinsicht geschah die Zustimmung respektive Ablehnung der Propagandadiskurse unabhängig von der Beobachtung extramedialer Ereignisse, und die Entscheidungen für oder gegen die Glaubwürdigkeit der Propaganda resultierten gerade nicht aus einer Korrespondenz mit prämedialen Realitäten. Dabei standen die Propaganden über den tibetischen Widerstand aber stets noch in einem Verhältnis der Interdependenz mit korrespondie186 | Dazu ausführlich im dritten mit »Ideologeme« betitelten Abschnitt dieses Kapi tels. 187 | Was ein Beurteiler letztlich aus nicht-rationalen oder irrationalen Gründen glaubt, ist eine andere Frage, der zumindest indirekt in Kapitel 3 nachgegangen wird, die aber ausdrücklich nicht im Zentrum der vorliegenden Untersuchung liegt.
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renden Ereignissen politisch motivierter Gewalt, indem Korrespondenzereignisse zum einen im Nachhinein der Berichterstattung rekonstruiert und im intersubjektiven Diskurs als Wahrheiten im Sinne relativer Gewissheiten konsolidiert wurden; zum anderen, indem die Gewaltakte des vorolympischen Tibetkonflikts zumindest vonseiten der TPUM-Anhänger bereits mit Blick auf die mediale Weltöffentlichkeit konzipiert waren. Ihr politischer Widerstand suchte, strukturell analog den 9/11-Anschlägen, von vornherein die Öffentlichkeit der westlichen Massenmedien.188 Und nicht zuletzt wirkte die Propaganda auch wieder auf die Realität des Konflikts zurück. So war etwa zu erwarten (und das hat sich zwischenzeitlich bestätigt), dass der Umgang der chinesischen Regierung mit den tibetischen Widerständlern, solange diese derart im Fokus der westlichen Medien standen, nicht in Ereignisse wie die am Platz des Himmlischen Friedens im Jahre 1989 münden würde. Bei einem derartig brutalen Vorgehen hätte die chinesische Führung nicht nur eine Verurteilung durch die westlichen Medien befürchten müssen, sondern auch eine deutliche Verschlechterung der internationalen Beziehungen sowie einen Verlust von Absatzmärkten in den westlichen Industrienationen, gerade weil ein solches Ereignis (zumindest im Rahmen des damaligen Diskurses) sich zu sehr gegen eine propagandistische Ausdeutung etwa als innerer Befreiungsschlag gesperrt hätte. Ein deutliches Indiz dafür bot beispielsweise die Reaktion der westlichen Medien auf die Feier des 50. Jahrestages der Auflösung der tibetischen Regierung am 28. März 1959. Dass dieses Datum als »Tag der Befreiung von der Leibeigenschaft« begangen wurde, welcher laut des damaligen Parteichefs der Kommunistischen Partei Tibets, Zhang Qinglis, einen »Meilenstein in der Abschaff ung der Sklaverei und ein Zeichen für den Fortschritt bei den Menschenrechten« bedeutet, wurde in den westlichen Medien durch die Bank als »Propaganda-Trick« verurteilt, der von den »katastrophalen Auswirkungen der chinesischen Herrschaft in Tibet ablenken und die [seit 2008 nochmals] verschärfte Unterdrückung vertuschen« solle (Focus Online 2009/03/28). Bereits hier gelang es der chinesischen Führung nicht, die von den westlichen Medien in der Regel als äußerer Staatsterror verhandelte Besetzung Tibets im Jahre 1959 als einen inneren Befreiungsschlag gegen eine feudalherrschaftliche Theokratie unter der Führung des Dalai Lama zu propagieren. 188 | Die Strukturäquivalenz besteht unabhängig davon, dass der Widerstandsdiskurs der al-Qaida ein Erschrecken, der tibetische Widerstandsdiskurs dagegen eine Befreiung beim westlichen Publikum adressierte.
Kapitel 2: Logik des Terrors
Taxonomie zweiter Ebene: Propaganda über politisch motivierte Gewalt Über das Fallbeispiel des Tibetkonflikts hinaus können die Ergebnisse nun verallgemeinert werden, sodass man zu einer Taxonomie von klar zu unterscheidenden Propagandadiskursen gelangt, wie sie in Tabelle 2 schematisch dargestellt sind. Statt die Taxonomie zweiter Ebene auf die kontradiktorischen Terme ›verurteilen‹ und ›nicht verurteilen‹ aufzubauen, hätte man mit ›verurteilen‹ und ›befürworten‹ auch konträre Terme wählen können. Das geschieht aber aufgrund der Konsistenz zur ersten Ebene der Taxonomie, die auf eine Kontradiktion von ›erschrecken‹ und ›nicht erschrecken‹ aufbaut, gerade nicht.189 ›Befürworten‹ wird also im Folgenden immer synonym mit ›nicht verurteilen‹ verwendet bzw. ›nicht befürworten‹ synonym mit ›verurteilen‹. Für die taxonomisch gewonnen fünf Propagandatypen gilt dann: Die nicht-urteilsfähigen Propagandadiskurse – im Folgenden alle außer dem ›Skeptizismus‹ (5) – sind dadurch gekennzeichnet, dass die Diskursführer (u) ihren Diskurs so führen, als wüssten sie um ›die Wahrheit‹ oder würden mit ihren begrifflichen Festlegungen einen Mehrheitsentscheid vertreten.190 Das bedeutet umgekehrt aber nicht, dass sich eine Propaganda nicht
189 | Wie im Folgenden in der formalen Ausformulierung der Propaganden zu sehen ist, wird zudem von einer logischen Äquivalenz zwischen ›verurteilen‹ und ›erschrecken‹ ausgegangen, sodass es damit auch nicht mehr möglich ist, zugleich eine kontradiktorische Relation zwischen ›erschrecken‹ und ›befreien‹ auf der ersten Ebene und eine konträre Relation zwischen ›verurteilen‹ und ›befürworten‹ auf der zweiten Ebene zugrunde zu legen. 190 | Das heißt, dass im Rahmen der hier entwickelten Semantik immer ein Mehrheitsentscheid behauptet oder vorweggenommen wird und dieser in der Regel, aber nicht unbedingt, auf einer Realismus- bzw. Eindeutigkeitsbehauptung fußt: Wenn ein Diskursführer im Rahmen seiner Propaganda von einem Akteur beispielsweise als Terroristen spricht, behauptet er damit, dass sich die Mehrheit durch den politisch motivierten Gewaltakt dieses Akteurs erschreckt fühlen muss, weil sich dessen Gewaltakt nicht anders beurteilen lässt. Der – nicht unbedingt diskursiv reflektierte – Grund dafür kann eine Eindeutigkeitsbehauptung sein, ist es meist auch, muss es aber wie gesagt nicht sein. So kann ein Diskursführer neben einem vermeintlichen Realismus und einem aus diesem resultierenden interpretatorischen Determinismus etwa auch an ideologische Voraussetzungen oder an emotionale Befindlichkeiten appellieren, die scheinbar nur eine bestimmte Beurteilung eines politisch motivierten Gewaltakts zulassen. Zu den ideologischen Voraussetzungen im dritten Abschnitt dieses Kapitels.
133
[3]
[5]
[4]
[1]
abgeschwächter Militarismus
Skeptizismus
abgeschwächter Pazifismus
radikaler Pazifismus
·
Tabelle 2: Taxonomie zweiter Ebene
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radikaler Militarismus
Propaganda
nicht verurteilt 191
Diskurs- Alle Gewaltakte und führer ihre Täter werden
193
·
Einige Gewaltakte und ihre Täter werden nicht verurteilt
·
Alle Gewaltakte und ihre Täter werden verurteilt oder nicht verurteilt 192
·
Einige Gewaltakte und ihre Täter werden verurteilt
·
Alle Gewaltakte und ihre Täter werden verurteilt
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Kapitel 2: Logik des Terrors
trotzdem mit ›der Wahrheit‹ respektive Beurteilerrealität eines Mehrheitsentscheids decken kann. Sie kann es durchaus. Trotzdem besteht die massenmediale Funktion von Propaganda, wie sie hier und auch konventionell verstanden wird, nicht vorrangig darin, Mehrheiten ein Forum zu geben, sondern Mehrheiten durch Mehrheitsbehauptungen erst zu produzieren. Jeder in der Tabelle so benannte Diskursführer ist als Propagandist ein Beurteiler politisch motivierter Gewaltakte und deren Täter. Aber nicht jeder Beurteiler, der sich zum Thema äußert, ist ein Diskursführer, da es nicht zwingend so ist, dass jede Äußerung auch verbreitet wird. Die große Mehrheit der Beurteiler wird nicht zu ›Medienschaffenden‹. Sie sind im klassischen Sinne Rezipienten und nicht Produzenten von massenmedialen Diskursen.194 Und auch Täter politisch motivierter Gewaltakte werden nicht per se zu Diskursführern. Zwar sind politisch motivierte Gewalttaten in der Regel auf Öffentlichkeit und damit auf Propaganda hin angelegt, jedoch gibt – wie gesehen – ein Ereignis respektive der Akt politisch motivierter Gewalt nicht schon eine Beurteilung desselben vor, sodass die Tat selbst und deren Beurteilung einschließlich ihrer massenmedialen Veröffentlichung auch im Fall des Täters auseinanderfallen. So weit die Prämissen, im Zuge allgemeiner Definitionen voneinander unterscheidbarer Propagandatypen ergibt sich in der definitorischen Ausformulierung dann: 191192193
1
Radikaler Pazifismus: Rpd(u) (x,z) [V(x,z)
T(x,z)
A(x,z)
Ist(x,z)
Ast(x,z)]195
191 | Man kann hier ergänzen: »und jeweils entsprechend der in der Taxonomie erster Ebene definierten Kategorien für Gewalttäter und ihre Gewaltakte beurteilt«. 192 | Man kann hier ergänzen: »und der Verurteilung oder Nichtverurteilung durch die Referenzgruppe entsprechend der Taxonomie erster Ebene überlassen«. Allerdings handelt es sich hier ausdrücklich nur um eine Protodefinition des Skeptizismus, den ich im Folgenden erst modallogisch ausformuliere. 193 | Zum besonderen Verhältnis der beiden abgeschwächten Propaganden ebenfalls im Folgenden noch ausführlich. 194 | Daran ändert auch das Massenmedium Internet wenig, selbst wenn es die kommunikationstechnischen Möglichkeiten einer (gerade in der Frühphase des Internets über die Maßen gefeierte) Personalunion von Rezipient und Produzent bietet. 195 | Rpd(u) = df »u führt einen radikal pazifistischen Diskurs«; V(x,z) = df »x und z werden verurteilt«. Und weiterhin gilt: T(x,z) = df »x ist ein Terrorist und z ist ein Anschlag«; A(x,z) = df »x ist ein Amokläufer und z ist ein Amoklauf«; Ist(x,z) = df »x ist ein Staatsterrorist von innen und z ist innerer Staatsterror«; Ast(x,z) = df »x ist ein Staatsterrorist von außen und z ist äußerer Staatsterror«.
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Der Diskursführer führt einen radikal pazifistischen Diskurs = df Alle Gewalttäter/Gewalttaten werden verurteilt, womit196 sie als Terroristen/Anschläge, Amokläufer/Amokläufe oder Staatsterroristen/ Staatsterror197 bezeichnet werden. 198 So berichtete beispielsweise die Deutsche Welle am 2. März 2008 im Zuge des damals wieder einmal eskalierenden Israel-Palästina-Konflikts, dass UN-Generalsekretär Ban Ki-moon »den unverhältnismäßigen und übertriebenen Einsatz von Gewalt« zwischen Israelis und Palästinensern aufs Schärfste verurteile, indem er »Israelis und Palästinenser dazu auf[fordere], alle Gewaltakte zu beenden«. Er erklärte nach einer fünfstündigen Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates in New York: Ich rufe alle Seiten dazu auf, weitere tödliche Zusammenstöße zu vermeiden. […] Wir verurteilen die palästinensischen Raketenangriffe und verlangen die unverzügliche Einstellung dieser terroristischen Handlungen, die keinen Zweck haben, außer israelische Zivilisten in Gefahr zu bringen und das palästinensische Volk ins Unglück zu stürzen.199
»[A]lle Gewaltakte« bleibt hier zwar beschränkt auf solche, die sich zwischen Palästinensern und Israelis ereignen. Gemäß der Definition des radikalen Pazifismus kann man jedoch im Rahmen dieses spezifischen Diskurses von palästinensischen Terroristen und israelischen Staatsterroristen sprechen. Zwar wird dies im Diskursbeispiel nicht explizit gesagt, jedoch ist die Rede vom »unverhältnismäßigen und übertriebenen Einsatz von 196 | Das ›womit‹ entspricht zwar nicht der metasprachlichen Standardformulierung der Bisubjunktion, aber es bildet diese in diesem Kontext dennoch adäquat ab. 197 | ›Staatsterroristen‹ und ›Staatsterror‹ sind Sammelbegriffe für die bzw. den – im Gegensatz zur Formalisierung – metasprachlich nicht ausdifferenzierten inneren oder äußeren Staatsterroristen bzw. inneren oder äußeren Staatsterror. 198 | Das Agens der Verurteilung und konkreten Bezeichnung respektive Beurteilung als Terrorist/Anschlag etc. ist jeweils der Diskursführer, was durch die Passivform zwar nicht ausdrücklich und eindeutig bezeichnet ist, aber auch im Folgenden (der Nicht-Verurteilung) durch diese bezeichnet sein soll. Dass das Sein als Terrorist/Anschlag oder Freiheitskämpfer/Befreiungsschlag etc. der formalen Definitionen auch im Folgenden metasprachlich als Bezeichnetwerden ausformuliert wird, begründet sich darin, dass ein Terrorist/Anschlag etc. ein solcher ja gerade im Diskurs und damit in der Beurteilung und Bezeichnung (des Diskursführers) ist. 199 | Zitiert nach http://www.dw-world.com/dw/article/0,2144,3161693,00.html, Ab ruf am 11. Juni 2008.
Kapitel 2: Logik des Terrors
Gewalt« auf »alle [beteiligten] Seiten« bezogen, sodass hier die politisch motivierten Gewaltakte aller Akteure im Sinne eines radikalen Pazifismus als erschreckend bewertet werden. 2 Radikaler Militarismus: Rmd(u) (x,z) [¬V(x,z) F(x,z) H(x,z) Ibk(x,z) Abk(x,z)]200 Der Diskursführer führt einen radikal militaristischen Diskurs = df Alle Gewalttäter/Gewalttaten werden nicht verurteilt, womit sie als Freiheitskämpfer/Befreiungsschläge, Helden/Heldentaten oder Befreiungskrieger/Befreiungskriege201 bezeichnet werden. In einem Lehrbuch zur Zivilverteidigung der Deutschen Demokratischen Republik der Klasse neun aus dem Jahre 1978 liest man beispielsweise: Heldentaten vollbringen Soldaten oder militärische Einheiten sozialistischer Armeen, wenn sie durch ihre Tat zum Sieg über den Gegner und damit letztlich zum Sieg des Sozialismus beitragen, unter äußerst schwierigen Bedingungen ungewöhnlich hohe Anforderungen erfüllen, dabei alle Kräfte aufbieten, und – falls notwendig – bewusst ihr Leben einsetzen. (Zivilverteidigung 1978: 21)
Hier ist Heldentum allein auf sozialistische Gewalttäter und ihre Taten beschränkt, dabei werden die Taten im Sinne der Definition eines radikalen Militarismus uneingeschränkt als Akte der Befreiung propagiert. Auf der nächsten Seite des Schulbuchs findet man eine Aufzählung von Personen, die als Helden bezeichnet werden, wobei einige wie Thomas Müntzer, Anführer »der Bauernheere im großen Deutschen Bauernkrieg«, oder Theodor Körner, Anführer in den »Befreiungskriegen von 1813/14 gegen die Napoleonische Fremdherrschaft«, nicht als Sozialisten klassifizierbar sind, aber dennoch als Vorbilder für »sozialistische Heldentaten« herangezogen werden (1978: 22). Das klingt zunächst widersprüchlich, scheint im Rahmen einer spezifischen Weltsicht aber kein Problem: Müntzer und Körner 200 | Rmd(u) = df »u führt einen radikal militaristischen Diskurs«. Und weiterhin gilt: F(x,z) = df »x ist ein Freiheitskämpfer und z ist ein Befreiungsschlag«; H(x,z) = df »x ist ein Held und z ist eine Heldentat«; Ibk(x,z) = df »x ist ein Befreiungskrieger von innen und z ist ein innerer Befreiungskrieg«; Abk(x,z) = df »x ist ein Befreiungskrieger von außen und z ist ein äußerer Befreiungskrieg«. 201 | ›Befreiungskrieger‹ und ›Befreiungskrieg‹ sind Sammelbegriffe für die bzw. den – im Gegensatz zur Formalisierung – metasprachlich nicht ausdifferenzierten inneren oder äußeren Befreiungskrieger bzw. inneren oder äußeren Befreiungskrieg.
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werden einfach als Vorläufer einer sich immer schon historisch anbahnenden sozialistischen Weltrevolution in die Gruppe sozialistischer Helden eingegliedert. Das Beispiel ist jedoch insofern problematisch, als es (wie gleich zu zeigen sein wird) in dem Moment, indem das Lehrbuch ›nichtsozialistische Gewaltakte‹ anspricht, in einen abgeschwächten Pazifismus übergeht und die Gewalt der anderen ausdrücklich verurteilt. Die hier vorgenommene Eingrenzung des Objektbereichs ist also letztlich nicht so angelegt, dass es als geeignetes Beispiel einer faktischen Propaganda über politisch motivierte Gewalt taugt. Ein weiteres Beispiel, das jedoch wiederum ein gleichermaßen unechtes wie ungewolltes Exempel für einen radikalen Militarismus bietet, findet sich in Thomas Hobbes’ Leviathan aus dem Jahre 1651. Dort heißt es über einen archaischen Naturzustand: »[I]t is manifest, that during the time men live without a common Power to keep them all in awe, they are in that Condition which is called Warre; and such warre, as is of every man against every man« (1909: 96). Der Krieg aller gegen alle, den Hobbes hier beschwört, beschriebe genau dann einen globalen radikalen Militarismus, wenn er nicht verurteilt wird, weil er, wie Hobbes weiter ausführt, aus dem natürlichen Recht der Selbstverteidigung des einen gegen den anderen resultiert. Allerdings propagiert Hobbes diesen Zustand gerade nicht. Er konstruiert ihn vielmehr als ein scheinbar kontradiktorisches Gegenmodell zu einer geordneten Gesellschaft unter dem Diktat eines allmächtigen Herrschers, sodass er, wenn überhaupt, Letzteren propagiert. Hobbes verurteilt zwar nicht den einzelnen Gewalttäter, aber den Naturzustand der omnipräsenten Gewalt als solchen, wenn es weiter heißt: In such a condition there is no place for Industry; because the fruit thereof is uncertain: and consequently no Culture of the Earth; no Navigation, nor use of the commodities that may be important by Sea; no commodious Building; no Instruments of moving, and removing such things as require much force; no Knowledge of the face of the Earth; no account of Time; no Arts; no Letters; no Society; and which is worst of all, continuall feare and danger of violent death; And the life of man, solitary, poore, nasty, brutish, and short. (1909: 96f.)
Dass Hobbes ebenso wie das Schulbuch der DDR hier trotzdem angeführt wird, resultiert aus dem Umstand, dass sich praktisch keine echten Beispiele für eine radikal militaristische Propaganda finden lassen (man beweise das Gegenteil!). Zu den Gründen dafür im Folgenden ausführlich, zunächst aber zu den Beispielen für abgeschwächte Propaganden:
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Abgeschwächter Militarismus: Amd(u) (x,z) [¬V(x,z) F(x,z) H(x,z) Ibk(x,z) Abk(x,z)]202 Der Diskursführer führt einen abgeschwächt militaristischen Diskurs = df Einige Gewalttäter/Gewalttaten werden nicht verurteilt, womit diese als Freiheitskämpfer/Befreiungsschläge, Helden/Heldentaten oder Befreiungskrieger/Befreiungskriege bezeichnet werden.
Selten war man sich in der Bundesrepublik Deutschland so einig wie im März 2011, als öffentlich diskutiert wurde, den libyschen Diktator Muammar Gaddafi mit militärischer Gewalt zu entmachten, was am 20. Oktober des Jahres schließlich zum Niedergang seinen Regimes und zum Tod Gaddafis führte. Vor dem Hintergrund eines UN-Mandats für einen Militäreinsatz der NATO, in dessen Rahmen sich die Bundesregierung zunächst der Stimme enthalten hatte, votierten Kirchenvertreter, Intellektuelle und Bürger in Deutschland gleichermaßen für ein Bombardement von Gaddafis ursprünglich »50.000 Soldaten« starkem »Heer«, worum Widerstandsgruppen im Osten des Landes »das Ausland […] gebeten« hatten (Focus Online 2011/03/23): Der »Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch,« ließ öffentlich verkünden, dass er »die Gründe derer nachvollziehen« könne, »die sich für des militärische Eingreifen entschieden haben« (Merkur Online 2011/03/26), »Wolf Biermann, Peter Schneider, Richard Herzinger« und andere unterzeichneten eine »Resolution, die der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy […] an Nicolas Sarkozy richtete: Mit allen militärischen Konsequenzen solle das Staatsoberhaupt Frankreichs gegen Gaddafi vorgehen« (Focus Online 2011/03/27); und laut einer Umfrage, »die das Meinungsforschungsinstitut Emnid für Bild am Sonntag durchgeführt« hatte, fanden »62 Prozent der Befragten […] militärische Gewalt gegen den libyschen Diktator richtig«.203 Als ein – wie es damals hieß – unumgänglicher »Tyrannenmord« (Focus Online 2011/03/27) wurden so einige politisch motivierte Gewalttaten, namentlich die Gewaltakte der eigenen Verbündeten gegen Gaddafi, im Rahmen eines abgeschwächten Militarismus als ein äußerer Befreiungskrieg breit befürwortet.
202 | Amd(u) = df »u führt einen abgeschwächt militaristischen Diskurs«. 203 | http://www.bild.de/politik/2011/libyen-krise/aber-mehrheit-lehnt-beteiligungab-16933388.bild.html, Abruf am 20. Oktober 2014.
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4 Abgeschwächter Pazifismus: Apd(u) (x,z) [V(x,z) T(x,z) A(x,z) Ist(x,z) Ast(x,z)]204 Der Diskursführer führt einen abgeschwächt pazifistischen Diskurs = df Einige Gewalttäter/Gewalttaten werden verurteilt, womit sie als Terroristen/Anschläge, Amokläufer/Amokläufe oder Staatsterroristen/Staatsterror bezeichnet werden. Betrachtet man nun nochmals das Beispiel aus dem DDR-Schulbuch, so findet sich dort ein abgeschwächt pazifistischer Diskurs hinsichtlich der Gewalttaten der ›imperialistischen Gegenseite‹. Zwar ist nicht explizit von Terroristen, Staatsterroristen etc. die Rede, doch die Aussage »Die Aggression, der heimtückische Überfall gehören […] zu den typischen Methoden der Imperialisten, Kampfhandlungen gegen andere Länder zu eröffnen« (Zivilverteidigung 1978: 16) lässt im Rahmen der Semantik die Deutung zu, dass hier einige – und das sind gerade ›die anderen‹ – als Gewalttäter und ihre Taten als erschreckend verurteilt werden. Im Text wird versucht, das im Folgenden anhand von drei Beispielen zu belegen: am »Überfall Japans auf die amerikanische Pazifi kflotte in Pearl Harbor am 7. Dezember 1941«, am »Überfall der US-Luftstreitkräfte auf die Demokratische Republik Vietnam am 4./5. August 1964« sowie am »Überfall Israels auf die arabischen Länder am 15. Juni 1967« (1978: 18). 5
Skeptizismus: Skd(u) (x,z) {M[V(x,z)] M[¬V(x,z)] M[T(x,z) A(x,z) Ist(x,z) Ast(x,z)] M[F(x,z) H(x,z) Ibk(x,z) Abk(x,z)]}205
204 | Apd(u) = df »u führt einen abgeschwächt pazifistischen Diskurs«. 205 | Skd(u) = df »u führt einen skeptizistischen Diskurs«. Siehe außerdem zur Semantik des hier eingeführten Modaloperators (M) sowie zur ontischen Modallogik im Allgemeinen Zoglauer (2008: 116ff.). Hier soll der Modaloperator gerade das Noch-unentschieden-Sein bezüglich der Beurteilung bezeichnen, welche den Skeptizismus als urteilsfähige Propaganda von allen anderen Propaganden unterscheidet. Formal wird die ontisch-modale Modellierung dadurch ermöglicht, dass zwar M(p q) M(p) M(q) gilt, aber nicht umgekehrt auch M(p) M(q) M(p q), sodass man nicht etwa aus der Teilaussage (x,z) {M[V(x,z)] M[¬V(x,z)]} die Teilaussage (x,z) M[V(x,z) ¬V(x,z)] folgern könnte. Das ist insofern entscheidend, als es (widerspruchsfrei) eben nicht möglich ist, dass man alle x und z zugleich verurteilt und nicht verurteilt. Dasselbe gilt für die anderen Teilaussagen bezüglich der konkreten Beurteilung von x und z als Freiheitskämpfer/Befreiungsschlag, Terrorist/Anschlag etc.
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Der Diskursführer führt einen skeptizistischen Diskurs = df Für alle Gewalttäter/Gewalttaten gilt, dass es sowohl möglich ist, dass sie verurteilt werden, als auch, dass sie nicht verurteilt werden, womit es sowohl möglich ist, dass sie als Terroristen/Anschläge, Amokläufer/Amokläufe oder Staatsterroristen/Staatsterror bezeichnet werden, als auch, dass sie als Freiheitskämpfer/Befreiungsschläge, Helden/Heldentaten oder Befreiungskrieger/Befreiungskriege bezeichnet werden.206 Der Skeptizismus stellt als einzige Form urteilsfähiger Propaganda die Bewertung der Gewalttäter ergebnisoffen zur Wahl, indem er die potenziellen Beurteilungen als Möglichkeiten offenlässt und eben nicht wie die nichturteilsfähigen Propaganden als vermeintliche Realitäten festschreibt. So liest man beispielsweise bei Lenin 1919 zum »Kampf gegen die Konterrevolution im Hinterland«: Unsere Sache ist es, die Frage offen zu stellen: Was ist besser? Hunderte von Verrätern unter den Kadetten, Parteilosen, Menschewiki, Sozialrevolutionären, die (der eine mit der Waffe in der Hand, der andere auf dem Wege der Verschwörung oder durch Agitation gegen die Mobilmachung, wie die menschewistischen Drucker oder Eisenbahner usw.) gegen die Sowjetmacht, das heißt für Denikin ›auftreten‹, einzufangen und ins Gefängnis zu stecken, manchmal sogar zu erschießen? Oder es dahin kommen zu lassen, daß es Koltschak und Denikin 207 gestattet wird, Zehntausende von Arbeitern und Bauern zu erschlagen, zu erschießen, zu Tode zu prügeln? (1979: 284f.)
206 | Mit dem Übergang von den nicht-urteilsfähigen Propaganden zum Skeptizismus wechselt ob der ›offenen‹ passivischen Form auch das Agens. Das Agens der Beurteilung ist nun kein bestimmter Beurteiler mehr, es wird vielmehr die Möglichkeit der Beurteilung durch eine Referenzgruppe eröffnet und die Beurteilung nicht mehr nur und stellvertretend durch den Diskursführer vorgenommen. Als Versuch, das Agens der Beurteilung sowie den Akt der Beurteilung im Rahmen von Propagandadiskursen auch formal präziser abzubilden und, wenn man so will, das u weniger semantisch zu überdehnen, siehe Klimczak/Petersen (2016). 207 | Alexander Wassiljewitsch Koltschak leitete als selbst ernannter Oberster Regent Russlands bis Anfang 1920 den Widerstand gegen die Rote Armee in Sibirien, Anton Iwanowitsch Denikin als Kommandeur der sogenannten Freiwilligenarmee (Dobrowoltscheskaja Armija) bis Ende 1919 in Südrussland.
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Bis hierhin wird der Diskurs durchaus skeptizistisch propagiert, das heißt, die eigenen Gewalttaten und die der anderen werden benannt und hinsichtlich der Beurteilung noch unbestimmt verhandelt. Im Rahmen der hier entwickelten Semantik lässt Lenin – ungeachtet des Untertons – noch offen, ob die eigenen Gewalttaten als Staatsterror oder Befreiungskrieg zu bewerten sind, ob die anderen Freiheitskämpfer oder Terroristen sind. Alle Beurteilungen bleiben offen und damit möglich. Jedoch verlässt Lenin im Weiteren den urteilsfähigen skeptizistischen Diskursrahmen, indem er selbst die Entscheidung trifft, sodass gleichsam durchschlägt, was sich in seinem polemischen Ton bereits andeutet: Die Wahl ist nicht schwer. So und nur so ist die Frage gestellt. Wer bislang noch nicht verstanden hat, wer imstande ist, über die ›Ungerechtigkeit‹ eines solchen Beschlusses zu flennen, auf den muß man verzichten, den muß man der Lächerlichkeit und der öffentlichen Schande preisgeben. (1979: 285)
An dieser Stelle verlässt Lenin und mit ihm der Diskurs den Raum des Möglichen und wird konkret, indem er sich festlegt. So trägt der unmittelbar folgende Textabschnitt die Überschrift: »Restlose Mobilisierung der Bevölkerung für den Krieg« (1979: 285). Man selbst führt demnach einen Befreiungskrieg, und die anderen sind die Terroristen. Dementsprechend schreibt Lenin knapp zwei Monate später anlässlich seines Sieges über Koltschak in der Prawda: »Genossen! Die roten Truppen haben den ganzen Ural von Koltschak befreit [!] und mit der Befreiung [!] Sibiriens begonnen« (1979a: 307).
Die innere Struktur nicht-urteilsfähiger Propaganda Mithilfe des logischen Quadrats208 kann man nun die formalen Relationen zwischen den verschiedenen Propagandatypen ausformulieren (Abb. 1). Der skeptizistische Diskurs fällt dabei heraus, da er in seiner entscheidungsfähigen Struktur das Urteil noch offenlässt. Ist der Diskurs entschieden, geht er in einen der restlichen vier Diskurstypen über. Das logische Verhältnis zwischen einem radikal pazifistischen Diskurs (radikaler Pazifismus) und einem abgeschwächten militaristischen Diskurs (abgeschwächter Militarismus) über Gewalttäter und ihre Gewalttaten ist kontradiktorisch bzw. das der Kontradiktion. Das bedeutet: Beides kann 208 | Siehe einführend hierzu Bochen´ski (1973: 34f.), Bucher (1998: 174ff.) oder Strobach (2005: 61f., 92f.).
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Radikaler Pazifismus alle werden verurteilt
konträr
Radikaler Militarismus keiner wird verurteilt
subaltern
kontradiktorisch
subaltern
Abgeschwächter Pazifismus einige werden verurteilt
subkonträr
Abgeschwächter Militarismus einige werden nicht verurteilt
Abbildung 1: Logisches Quadrat nicht-urteilsfähiger Propaganda
nicht zugleich wahr sein, aber eines von beiden muss wahr sein. Konkret gilt dann für das Verhältnis von radikalem Pazifismus und abgeschwächtem Militarismus: Wenn alle verurteilt werden, können nicht einige nicht verurteilt werden, und umgekehrt: Wenn einige nicht verurteilt werden, können nicht alle verurteilt werden. Es wurde bereits deutlich, dass sich eine rational geführte Propaganda nicht in offensichtliche Widersprüche verwickeln darf. Täte sie dies, würde sie ihre Glaubwürdigkeit und damit ihre Ausbreitungsfähigkeit sabotieren. Darum muss, und das lässt sich durchaus als ein Algorithmus209 erfolgreicher (rationaler) Propagandaführung lesen, von den Diskursführern beider Diskurse, denen eines abgeschwächten Militarismus und denen eines radikalen Pazifismus, die Vereinbarkeit der Diskurse verhindert werden, damit die Diskurshomogenität innerhalb des jeweiligen Diskurses aufrechterhalten wird: Man könnte beide kontradiktorischen Diskurse gemeinsam nur um den Preis des Widerspruchs und damit der Unglaubwürdigkeit führen. Modallogisch betrachtet sind die Diskurse unmöglich miteinander vereinbar: In keiner möglichen Welt können beide Diskurse zugleich vom selben Diskursführer geführt werden, außer man verlässt die Welt der Wi209 | Im Sinne eines Verfahrens, mit dessen Hilfe in endlich vielen Schritten ein angestrebtes Ziel erreicht werden kann.
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derspruchfreiheit und begibt sich in eine Welt der Irrationalität jenseits rational geführter Diskurse.210 Ein Beispiel für einen Verstoß gegen die Diskurshomogenität im Rahmen des Tibetkonflikts wäre der kolportierte Fall um tibetische ShugdenMönche, die sich vom Dalai Lama »aufs brutalste unterdrückt fühlen« und gegen diesen eine »Klage wegen Menschenrechtsverletzungen am höchsten Gericht seines Gastlandes Indien« eingereicht haben sollen. Davon berichten Herbert und Maria Röttgen in einer inzwischen vergriffenen Publikation sowie auf ihrer privaten Webseite.211 Wenn der Dalai Lama als Oberhaupt des tibetischen Buddhismus von tibetischen Mönchen öffentlich als Gewalttäter angeklagt wird, tritt der von ihm propagierte radikale Pazifismus, der gegenüber dem politischen Gegner sowie gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften praktiziert wird, in einen augenscheinlichen Widerspruch mit der Anwendung von Gewalt gegen die eigenen Landsleute und Glaubensgenossen. Eine solche Gewaltanwendung wäre, da hier einige vom Dalai Lama nicht verurteilt werden – namentlich der Dalai Lama selbst –, bloß im Rahmen eines abgeschwächten Militarismus vertretbar, den der Dalai Lama als radikaler Pazifist aber gerade nicht vertritt. Das machte er auch explizit, als er während der öffentlichen Proteste in Lhasa 2008 unter der Androhung, sein religiöses Amt niederzulegen,212 zur Gewaltfreiheit auf chinesischer und tibetischer Seite aufrief: Der Dalai Lama […] zeigte sich in einer ersten Reaktion aus dem Exil »tief besorgt« über die Lage in seiner Heimat. Er rief China auf, keine Gewalt mehr einzusetzen und sich im Dialog mit dem tibetischen Volk mit dessen Verbitterung auseinanderzusetzen. Die Proteste seien Ausdruck einer tief verwurzelten Ablehnung der Tibeter gegenüber der chinesischen Besatzung. Zugleich appellierte der Dalai Lama in seiner Erklärung auch an seine Landsleute, ihrerseits bei den Demonstrationen auf Gewalt zu verzichten. (Spiegel Online 2008/03/14) 213 210 | Zur Modallogik im Allgemeinen und zur Theorie der möglichen Welten Zoglauer (2008: 116ff.). 211 | Siehe Victor und Victoria Trimondi (1999). Diesen sowie andere Texte zum Thema hat das Autorenehepaar Röttgen unter ebendiesem Pseudonym veröffentlicht. Siehe außerdem deren hier zitierte Webseite http://www.iivs.de/~iivvs01311/Lamaismus/ shugden.htm, Abruf am 12. April 2008. 212 | In einem Interview mit dem Spiegel (2008/20a: 124) wird der Dalai Lama mit der Aussage zitiert: »Wenn die Dinge ganz außer Kontrolle geraten, dann bleibt mir nur der Rücktritt«. 213 | Entsprechend äußerte sich der Dalai Lama in einer öffentlichen »Botschaft an alle Tibeter« am 6. April 2008, wenn er dort nach einer strikten Verurteilung der von
Kapitel 2: Logik des Terrors
Dabei lehnte der Dalai Lama selbst die Hungerstreiks tibetischer Mönche als untaugliches politisches Mittel und als inakzeptable Form des Widerstands ab: »Übrigens halte ich auch einen Hungerstreik, der bis zum Tode durchgeführt wird, für eine unzulässige Gewalttat«, und distanzierte sich damit sogar noch von seinem »Vorbild Mahatma Gandhi« (Spiegel 2008/ 20a: 124). Was der Dalai Lama hiermit zum Ausdruck bringt, ist nochmals eine Radikalisierung eines radikalen Pazifismus. Zwar ist ein radikaler Pazifismus formal gesehen immer schon reflexiv, da mit der Verurteilung der Gewalt aller auch die eigene Gewalt zu verurteilen ist. Zur Gewalt zählt jedoch für den Dalai Lama sogar noch Autoaggression, also ein Gewaltakt von x gegen x. Schenkte man der Anklage der Shugden-Mönche Glauben, dann wäre der Widerspruch offensichtlich: Im Rahmen des massenmedialen Tibetdiskurses tritt der Dalai Lama als »religiöser Führer« und »Staatsoberhaupt Tibets« auf,214 er vertritt einen radikalen Pazifismus und praktiziert im Widerspruch dazu einen abgeschwächten Militarismus hinsichtlich seines Umgangs mit seinen Glaubensgenossen. Im Rahmen der Definitionen politisch motivierter Gewaltakte folgt daraus: Entweder müsste der Dalai Lama die Gewaltakte gegen die Shugden-Mönche als Befreiungsschläge befürworten und damit einen abgeschwächten Militarismus statt eines radikalen Pazifismus vertreten, in dem einige – in diesem Fall die eigenen – Gewalttaten nicht verurteilt werden, oder er müsste sich im Rahmen eines radikalen Pazifismus selbst als Terroristen verurteilen. Der Widerspruch in der Position des Dalai Lama wäre eklatant. Dabei würde die bloße massenmediale Behauptung und Ausbreitung der Behauptung genügen, um den radikalen Pazifismus des Dalai Lama in den Widerspruch und damit in die Unglaubwürdigkeit zu treiben. Ob die Nachricht geglaubt wird, hängt aber wiederum nicht davon ab, ob sie wahr ist, sondern die glaubwürdige Behauptung, dass sie wahr sei, entscheidet zunächst, ob sie sich ausbreitet und damit von vielen geglaubt werden kann: Es geht also nicht vorrangig um die Überprüfung der Wahrheit medialer Äußerungen an Ereignissen, sondern um Glaubwürdigkeit, hier der des Dalai Lama wie seiner Ankläger. Chinesen gegen Tibeter angewandten Gewalt mit den Worten schließt: »Zum Schluss möchte ich noch ein weiteres Mal alle Tibeter dazu aufrufen, Gewaltlosigkeit zu üben und auf keinen Fall von diesem Weg abzuweichen, wie ernst die Lage auch sein möge« (Dalai Lama 2008: 15). 214 | In einem dem oben bereits zitierten Tagesthemen-Interview am 18. Mai 2008 vorangestellten Bericht wird der Dalai Lama so betitelt.
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Und tatsächlich spielen die Anklagen der Shugden-Mönche gegen den Dalai Lama im Rahmen der Berichterstattung über den Tibetkonfl ikt praktisch keine Rolle, da sie in den westlichen Medien215 nicht wahrgenommen werden. Sie existieren nur in einigen Weblogs, wo die Behauptung des Ehepaares Röttgen kolportiert und kommentiert wird.216 Dass die Behauptungen nicht von den westlichen Medien aufgegriffen werden, scheint wiederum darin begründet, dass der Dalai Lama selbst in den Medien glaubwürdig, das heißt einerseits konsistent radikal pazifistisch und andererseits Demokratie bejahend auftritt; so auch, was seinen Machtanspruch als Führer Tibets angeht: »Wenn der Tag meiner Rückkehr kommt, wenn ein gewisses Maß an Pluralismus, Meinungsfreiheit und Herrschaft des Gesetzes in Tibet eingezogen ist, werde ich all meine Autorität der lokalen Regierung übergeben« (Spiegel 2008/20a: 125). Im Zuge dessen distanziert er sich auch von den feudalen Regierungsformen, wie sie in Tibet in vorkommunistischer Zeit herrschten: »Es gab himmelschreiendes Unrecht, die tiefe Ergebenheit in den Buddhismus hatte auch Schattenseiten, es ging den Äbten oft nur um Prunk und Einfluss« (Spiegel 2008/20: 115). Genau diese Position lässt den Dalai Lama im Westen glaubwürdig erscheinen. Dagegen korreliert die Behauptung der Shugden-Mönche mit der – für die westlichen Medien – von vornherein unglaubwürdigen Staatspropaganda Chinas. Diese versucht seit Langem, den Dalai Lama als Wolf im Schafspelz, laut Tibets damaligem Parteichef Zhang Qingli wörtlich als »Wolf in einer Mönchskutte«, zu diskreditieren (FAZ 2008/72: 10), der zwar Demokratie und Pazifismus predige, jedoch buchstäblich mit aller Gewalt das alte Feudalregime seiner Vorgänger wiederherzustellen suche. Auch ging die Behauptung der Shugden-Mönche mit einer im Westen angeprangerten aggressiven Propaganda der chinesischen Regierung insofern konform, als 2008 berichtet wurde, dass die chinesischen Machthaber tibetische »Mönche und Nonnen« dazu gezwungen hätten, »mit einer schriftlichen Erklärung dem Dalai Lama abzuschwören«, und der tibetischen Bevölkerung mittels »Videos und Vorträgen ›die Verbrechen der Dalai-Clique‹ eingehämmert« würden (Spiegel 2008/20: 116). Insgesamt erschien die Anklage der Shugden-Mönche also nicht nur deswegen 215 | Ich beziehe mich hier pars pro toto auf deutsch- und englischsprachige In ternet-Einträge. 216 | Das ergab eine oberflächliche Internet-Recherche am 29. August 2008. Dabei ist die Oberflächlichkeit aber gerade Prinzip. Geht es doch darum, das zu finden, was in den Massenmedien präsent ist, und nicht das, was sich aufgrund von ausgiebigen Recherchen finden ließe. Letzteres hat sich, gerade weil man lange danach suchen muss, massenmedial eben nicht oder noch nicht durchgesetzt.
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unglaubwürdig, weil sie nicht mit dem Bild des Dalai Lama in den westlichen Massenmedien korrespondierte, sondern auch darum, weil sie die im Westen als ebenso aggressiv wie unglaubwürdig geltende Propaganda der chinesischen Staatsführung fortschrieb. Dass die Anklage der Shugden-Mönche keine Konsequenzen für den Dalai Lama und seine Glaubwürdigkeit als Pazifist hatte, lag also daran, dass man sie massenmedial ignorierte und bis heute ignoriert, da man die Anklage der Mönche offensichtlich als unglaubwürdig einstuft. Dabei ist in diesem Diskurs jedoch – im Gegensatz zur Beurteilung der Gewalttaten vonseiten der TPUM-Anhänger und der chinesischen Polizisten – gerade relevant, ob das Medienereignis der Anklage der Shugden-Mönche mit prämedialen Referenzereignissen korreliert werden kann. Genau das würde das Medienereignis glaubwürdig machen: In diesem Fall geht es nämlich nicht darum, wie vermeintliche Gewalttaten des Dalai Lama beurteilt würden, sondern schon das glaubwürdig gemachte Vorhandensein von Gewalttaten eines sich öffentlich zum radikalen Pazifismus bekennenden Diskursführers würde genügen, um seinen Diskurs widersprüchlich und damit unglaubwürdig zu machen: Die Behauptung privilegierter Beobachter, dass die primäre Behauptung der Mönche wahr sei, würde somit also zur Glaubwürdigkeit und damit zur Ausbreitung der primären Behauptung beitragen. Die sekundäre Behauptung müsste sich allerdings genauso wie die primäre erst massenmedial verbreiten, das heißt, sie müsste sich – vor dem Hintergrund der Glaubwürdigkeit ihrer Urheber – als viabel erweisen. Solange aber fast ausschließlich im Rahmen chinesischer Staatspropaganda Gewalttaten des Dalai Lama bezeugt werden, können diese in den westlichen Medien nicht als glaubhaft respektive glaubwürdig gelten und sich massenmedial durchsetzen. Die Anklage der Shugden-Mönche kann in den westlichen Medien also höchstens noch als Verschwörungsdiskurs geführt werden und damit als ein Diskurs, der unglaubwürdig und damit nicht propagandafähig ist: Es ist schlicht plausibel, solange die Annahme nicht (glaubhaft) falsifiziert wurde, davon auszugehen, dass der Dalai Lama genau das ist, als was er sich ausgibt, nämlich ein radikaler Pazifist. Die Annahme gilt, solange sie nicht widerlegt wurde. Dagegen ist es wenig plausibel, dem religiösen Führer Tibets Gewalttaten zu unterstellen, ohne dass diese verifizierbar, sprich: glaubhaft belegbar sind. Der Charme solcher verschwörungstheoretischer Unterstellungen scheint vielmehr darin begründet, dass diejenigen, die wie das Ehepaar Röttgen solche Behauptungen kolportieren, sich selbst ein besonderes, esoterisches Wissen zuschreiben, das den Träger dieses Wissens sowie dessen mediale Äußerungen, nicht zuletzt auch am Markt der Medien, zu etwas Besonderem machen soll.
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Das logische Verhältnis zwischen radikalem Militarismus und abgeschwächtem Pazifismus ist ebenfalls kontradiktorisch. So kann wiederum nicht beides zugleich wahr sein, weil nicht keiner und zugleich einige verurteilt werden können. Damit gilt analog einer pazifistischen Propaganda: Die logischen Gegensätze zwischen den beiden Propaganden müssen diskursimmanent aufrechterhalten werden, um eine rationale Propaganda führen zu können. Allerdings liegen – wie sich im folgenden Abschnitt zeigen wird – die Probleme, eine radikal militaristische Position praktisch einzunehmen und zu halten, deutlich anders als im Fall einer radikal pazifistischen Propaganda. Das logische Verhältnis zwischen einem radikalen Pazifismus und einem radikalen Militarismus ist das der Kontrarietät. Formal bedeutet dies: Beides kann (im Gegensatz zu einem Verhältnis der Kontradiktion) zugleich falsch sein, aber es kann (entsprechend einem kontradiktorischen Verhältnis) nicht beides zugleich wahr sein. Daraus folgt wiederum, dass die Vereinbarkeit beider Diskurse von den Diskursführern einer radikal pazifistischen und einer radikal militaristischen Propaganda verhindert werden muss, um die jeweilige Diskurshomogenität aufrechtzuerhalten. Zwar kann hier, analog einer konträren Gegensätzlichkeit von Propaganda und Gegenpropaganda, ein neutraler Beurteiler auch beide Diskurse für falsch halten, indem er eine dritte Position einnimmt, in die abgeschwächten Diskurse wechselt und damit einige verurteilt oder einige nicht verurteilt, ein Diskursführer einer der beiden radikalen Propaganden muss jedoch den eigenen Propagandadiskurs gegen den konträren wie gegen den kontradiktorischen verteidigen. Die Beschreibung der dritten Position führt nun nochmals tiefer in die formale Struktur des logischen Quadrats nicht-urteilsfähiger Propaganda und damit zugleich auch zu einem Problem – allerdings zu einem lösbaren: Da sich Allaussagen der Prädikatenlogik grundsätzlich durch negierte Existenzaussagen ausdrücken lassen und Existenzaussagen durch negierte Allaussagen, können alle vier Propaganden in Form logisch äquivalenter Ausdrücke wiedergegeben werden:217 Was für den radikalen Militarismus evident ist, nämlich dass der Ausdruck ¬ (x,z) V(x,z), sprich: »keiner wird verurteilt«,218 äquivalent ist zu (x,z) ¬V(x,z), sprich: »alle werden nicht verurteilt«, lässt sich entsprechend auch auf die anderen drei Aussagen
217 | Allgemein hierzu etwa Zoglauer (2008: 79ff.). 218 | Gewalttaten z und Gewalttäter x werden auch im Folgenden nicht mehr explizit genannt, sind aber in dem ›einige‹ und ›alle‹ mitgedacht.
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anwenden.219 Betrachtet man auf dieser Basis nun exemplarisch das im logischen Quadrat als subaltern bezeichnete Verhältnis zwischen dem abgeschwächten Pazifismus (x,z) V(x,z) und dem radikalen Pazifismus (x,z) V(x,z), so schließt das Wahr-Sein von (x,z) V(x,z), »einige werden verurteilt«, nicht aus, dass alle verurteilt werden, (x,z) V(x,z).220 Abgeschwächter Pazifismus, (x,z) V(x,z), und radikaler Pazifismus, (x,z) V(x,z), stehen weder in einer konträren noch in einer kontradiktorischen Relation zueinander. Im Gegenteil, für das Verhältnis von radikalem Pazifismus zu abgeschwächtem Pazifismus gilt: Wenn »alle werden verurteilt« wahr ist, ist immer auch »einige werden verurteilt« wahr.221 Dasselbe gilt auch für das Verhältnis des radikalen Militarismus zum abgeschwächten Militarismus: Wenn keiner verurteilt respektive alle nicht verurteilt werden, dann werden stets auch einige nicht verurteilt.222 Und umgekehrt schließt das Nicht-Verurteilen einiger durch den abgeschwächten Militarismus das Nicht-Verurteilen aller durch den radikalen Pazifismus nicht aus. 219 | Für den radikalen Pazifismus gilt dementsprechend (x,z) V(x,z), sprich: »alle werden verurteilt«, ist äquivalent zu ¬ (x,z) ¬V(x,z), sprich: »keiner wird nicht verurteilt«; für den abgeschwächten Pazifismus gilt: (x,z) V(x,z), sprich: »einige werden verurteilt«, ist äquivalent zu ¬ (x,z) ¬V(x,z), sprich: »nicht alle werden nicht verurteilt«; für den abgeschwächten Militarismus gilt: (x,z) ¬V(x,z), sprich: »einige werden nicht verurteilt«, ist äquivalent zu ¬ (x,z) V(x,z), sprich: »nicht alle werden verurteilt«. 220 | Was bedingt wird durch die (im logischen Quadrat so bestimmte) subkonträre Relation des abgeschwächten Pazifismus (x,z) V(x,z) zum abgeschwächten Militarismus (x,z) ¬V(x,z). Beide abgeschwächten Propaganden können zugleich wahr sein, müssen es aber nicht. Es dürfen einzig nicht beide falsch sein. Ist demnach (x,z) V(x,z) wahr, so kann (x,z) ¬V(x,z) falsch sein. Wenn (x,z) ¬V(x,z) aber falsch ist, dann ist dessen Negation wahr, womit als gegeben gilt: ¬ (x,z) ¬V(x,z). Dieses ¬ (x,z) ¬V(x,z) ist aber (vor dem Hintergrund des Quantorentausches) logisch äquivalent zum radikalen Pazifismus (x,z) V(x,z), woran zu sehen ist, dass das Wahr-Sein von (x,z) V(x,z) das Wahr-Sein von (x,z) V(x,z) nicht ausschließt. Letztlich erklärt sich dieser Umstand aber bereits aus einer präzisieren metasprachlichen Ausformulierung des Existenzquantors ( ) als ›mindestens einer‹: Wenn etwas für mindestens einen gilt, dann kann es im Sonder- oder Extremfall auch für alle gelten. Dazu im Folgenden aber noch ausführlicher. 221 | So gilt im Rahmen der Prädikatenlogik axiomatisch (x) F(x) (x) F(x), in Worten: »Wenn F auf alle x zutrifft, dann triff es auch auf mindestens eines zu«, was evident ist. Hierzu etwa Tetens (2004: 299) und Strobach (2005: 101). 222 | Wenn, wie gesehen, allgemein (x) F(x) (x) F(x) gilt, dann gilt für den vorliegenden Fall gleichermaßen (x,z) V(x,z) (x,z) V(x,z) wie (x,z) ¬V(x,z) (x,z) ¬V(x,z). Ein radikaler Pazifismus impliziert einen abgeschwächten Militarismus ebenso, wie ein radikaler Militarismus einen abgeschwächten Pazifismus impliziert.
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Widersprüche, wie sie zuvor für die konträren und kontradiktorischen Diskurse beschrieben wurden, sind also schon rein formal nicht möglich. Vielmehr muss man das andere, das formal impliziert wird, immer schon ›mitmeinen‹: Wenn ich als ein Diskursführer etwa einen radikalen Pazifismus vertrete, vertrete ich zugleich auch einen abgeschwächten Pazifismus. Und genau hier liegt das Problem, zugleich aber auch dessen Lösung: Da nicht zwischen allen vier Propaganden eine eindeutige Abgrenzung existiert, bedarf es anstatt eines logischen Quadrats der scheinbaren eines ›logischen Dreiecks der tatsächlichen Widersprüche‹. Wenn man sich nämlich entscheidet, als Zusatzbedingung statt eines subkonträren Verhältnisses zwischen den beiden abgeschwächten Propaganden, also statt der Disjunktion ›und/oder‹ (mindestens eines von beiden muss wahr sein), die Konjunktion ›und‹ (beides muss wahr sein) einzusetzen, dann wird jede der beiden radikalen Propaganden formal konträr zu einer zusammengeführten abgeschwächten Propaganda, die nun lautet: (x,z) V(x,z) (x,z) ¬V(x,z), »einige werden verurteilt und einige werden nicht verurteilt«. Mit den nun drei Propagandatypen bleibt selbstverständlich auch das konträre Verhältnis zwischen den beiden radikalen Propaganden bestehen. Man muss sich plausiblerweise auch weiterhin zwischen einem radikalen Pazifismus und einem radikalen Militarismus entscheiden, will man sich nicht in Widersprüche verwickeln. Oder man kann sich nun gegen beide radikalen Propaganden und sich stattdessen für die zusammengeführte abgeschwächte Propaganda entscheiden. Dass diese tatsächlich jeweils konträr zu beiden radikalen Propaganden ist, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass im Rahmen einer Konjunktion beide Konjunkte wahr sein müssen, zugleich aber das eine Konjunkt, (x,z) V(x,z), logisch äquivalent mit der Negation des radikalen Militarismus ist: (x,z) V(x,z) ¬ (x,z) ¬V(x,z), und das andere Konjunkt, (x,z) ¬V(x,z), logisch äquivalent mit der Negation des radikalen Pazifismus ist: (x,z) ¬V(x,z) ¬ (x,z) V(x,z).223 223 | Nicht konträr, sondern kontradiktorisch ist die abgeschwächte Propaganda nur zu beiden radikalen Propaganden gemeinsam. Das zeigt sich an der formalen Negation der abgeschwächten Propaganda. So gilt ¬[ (x,z) V(x,z) (x,z) ¬V(x,z)] (x,z) ¬V(x,z) (x,z) V(x,z), was wiederum äquivalent zu [ (x,z) V(x,z) (x,z) ¬V(x,z)] (x,z) ¬V(x,z) (x,z) V(x,z) ist: Wenn ich mich nicht für, also gegen die abgeschwächte Propaganda entscheide, dann habe ich mich für eine der beiden radikalen Propaganden entschieden. Und wenn ich mich nicht für die eine oder die andere radikale Propaganda entscheide, also für keine von beiden, dann habe ich mich für die abgeschwächte Propaganda entschieden. Zu einer der beiden radikalen Propaganden ist die abgeschwächte Propaganda dagegen nur konträr und nicht kontradiktorisch: Wenn ich mich nicht für
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Man muss sich nun also entscheiden und kann nur noch um den Preis des Widerspruchs sowohl eine als auch eine andere der drei Propaganden vertreten. Dass die Modifikation der Definitionen, also die formale Zusammenführung der abgeschwächten Propaganden zu einer einzigen, nicht bloß aus systemischen Gründen geboten ist, zeigt zunächst exemplarisch ein Blick zurück auf das Diskursbeispiel zum Palästinakonflikt. Während UNGeneralsekretär Ban Ki-moon bezüglich des Konflikts im März 2008 einen radikalen Pazifismus propagiert, lässt das Weiße Haus verkünden: »Die Vereinigten Staaten bedauern den Verlust des Lebens israelischer und palästinensischer Zivilisten«, sagte der für nationale Sicherheit zuständige Sprecher des Weißen Hauses, Gordon Johndroe, im texanischen Crawford. Jedoch habe Israel das Recht, sich zu verteidigen. »Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen terroristischen Raketenangriffen, die auf Zivilisten zielen und Aktivitäten zur Selbstverteidigung«, sagte Johndroe weiter. 224
Mit dem Wechsel der Sprecher und der durch sie vertretenen Gruppen, UN versus USA, werden nun nicht mehr alle Gewalttäter im Palästinakonflikt verurteilt, sondern einige Gewalttaten vom Diskursführer Gordon Johndroe ausdrücklich nicht verurteilt, indem Johndroe diese als »Aktivitäten zur Selbstverteidigung« bezeichnet. Was Israel militärisch unternimmt, sollte also im Gegensatz zu dem, was die Palästinenser ebenfalls als politisch motivierte Gewaltakte unternehmen, nicht erschreckend und somit nicht verurteilenswert sein.225 Damit propagiert Johndroe im Rahmen eines abgeschwächten Militarismus einen Befreiungskrieg der Israelis. Zugleich enthält Johndroes Statement aber auch eine explizite Verurteilung die abgeschwächte Propaganda entscheide, habe ich mich nämlich noch nicht für eine bestimmte der beiden radikalen Propaganden entschieden, sondern lediglich für die Wahl zwischen den beiden radikalen Propaganden. Das gilt analog für das Verhältnis aller drei Propaganden. 224 | Wie oben zitiert nach http://www.dw-world.com/dw/article/0,2144,3161693,00. html, Abruf am 11. Juni 2008. 225 | Obwohl im logischen Quadrat nicht nochmals ausformuliert, gilt immer noch die Äquivalenz zwischen einem Verurteilt-Werden und einem als mehrheitlicher Erschrecker/ Nicht-Befreier (Terrorist, Amokläufer, Staatsterrorist) Bestimmt-Werden bzw. einem Nicht-verurteilt-Werden und als mehrheitlicher Nicht-Erschrecker/Befreier (Freiheitskämpfer, Held, Befreiungskrieger) Bestimmt-Werden. Was für die Gewalttäter gilt, gilt selbstverständlich auch für deren Gewaltakte.
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der palästinensischen Gewalttaten als »terroristisch[]« und damit einen abgeschwächten Pazifismus, sodass im Rahmen des Konflikts insgesamt eine abgeschwächte Propaganda vertreten wird,226 wie sie hier neu definiert wurde: 3' Abgeschwächte Propaganda: Ad(u) (x,z) [¬V(x,z) F(x,z) H(x,z) Ibk(x,z) Abk(x,z)] (x,z) [V(x,z) T(x,z) A(x,z) Ist(x,z) Ast(x,z)]227 Der Diskursführer führt einen abgeschwächten Diskurs = df Einige Gewalttäter/Gewalttaten werden nicht verurteilt, womit sie als Freiheitskämpfer/Befreiungsschläge, Helden/Heldentaten oder Befreiungskrieger/Befreiungskriege bezeichnet werden, und einige Gewalttäter/Gewalttaten werden verurteilt, womit sie als Terroristen/ Anschläge, Amokläufer/Amokläufe oder Staatsterroristen/Staatsterror bezeichnet werden. Es zeigt sich also, dass beide abgeschwächten Positionen auch in faktischen Diskursen miteinander verbunden werden. In der Regel bleibt eine Propaganda nämlich nicht an dem Punkt stehen, dass in einem Konflikt nur einige verurteilt oder nur einige nicht verurteilt werden. Der Diskurs bleibt vielmehr unvollständig, wenn in einem Diskurs zweier Parteien nur über die Gewalt einer Seite gesprochen wird. Das gilt letztlich auch für das obige Beispiel eines abgeschwächten Militarismus: Während der NATO-Einsatz gegen Gaddafi im März 2011 breit befürwortet wird, wird Gaddafi selbst nicht nur immer wieder als Diktator und Tyrann, sondern auch als innerer Staatsterrorist dem libyschen Volk gegenüber verhandelt, an welchem seine Truppen im Begriff sind, »ein Blutbad anzurichten« (Merkur Online 2011/03/26). Vor diesem Hintergrund stellt die modifizierte Taxonomie tatsächlich ein adäquates Beschreibungsraster politischer Propaganden dar. Zugleich kann im Rekurs auf eine der beiden abgeschwächten Propaganden ein faktisch unvollständiger Diskurs, der nur auf eine Partei eines gewaltsamen politischen Konflikts Bezug nimmt, mit all den spezifischen formalen Folgen und Folgerungen expliziert werden.
226 | Dass das dieser Propaganda zugrunde liegende und von Johndroe ins Feld geführte Selbstverteidigungsargument, welches die Bewertung der einen Gewaltakte von der der anderen unterscheidet, allerdings kaum haltbar ist, wird schon daran deutlich, dass es ohne weitere Begründung exklusiv für die Israelis gelten soll. 227 | Ad(u) = df »u führt einen abgeschwächten Diskurs«.
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Möglichkeiten und Grenzen der Taxonomie zweiter Ebene Anhand des gewonnenen Systems von Propaganden, im Einzelnen der Definitionen des Skeptizismus sowie der drei bzw. vier nicht-urteilsfähigen Propaganden, wird es nun möglich, Akte politisch motivierter Gewalt in der Gegenwart oder im historischen Zeitverlauf zu beschreiben. Wie die konkreten Diskursbeispiele (Tibetkonflikt, Lenin-Propaganda etc.) gezeigt haben, lassen sich unterschiedliche Diskurse über politisch motivierte Gewaltakte damit nicht nur klassifizieren und auf der Basis der Klassifi kationen miteinander vergleichen,228 sondern insbesondere auch Einzeldiskurse hinsichtlich ihrer Konsistenz, sprich: Widerspruchsfreiheit, beurteilen. Widerspruchsfreiheit ist dabei die formale Bedingung der Ausbreitungsfähigkeit rational geführter Propaganda, wobei Rationalität wiederum als ein einzuforderndes und in dieser Hinsicht normatives Kriterium der Beurteilung von politischer Propaganda zu verstehen ist: Propaganda, die politisch sein soll, aber nicht rational geführt wird, muss als defi zitär erscheinen. Das gilt insbesondere für Diskurse über politisch motivierte Gewalt. Denn selbst wenn Gewalt als solche und die unmittelbare Reaktion auf diese Gewalt, etwa als Beurteilungen auf der Basis von Angst oder Rache, nicht rational sein mögen, so sollte man doch gerade von einem öffentlichen Diskurs über die Beurteilung politisch motivierter Gewalt und ihrer Akteure Rationalität verlangen können. Dem liegt wiederum die Forderung zugrunde, dass im politischen Diskurs das Argument gelten soll und nicht die öffentlich geschürte Emotion. Selbstverständlich löst sich die Forderung nach einem solchen idealen rationalen Diskurs faktisch nicht unbedingt ein: Aus Sollen folgt kein Sein (auch formallogisch nicht).229 Das hat unter anderem der 9/11-Diskurs gezeigt. Jedoch bietet der ideale rationale Diskurs ein Raster, das es ermöglicht, daran faktische Diskurse über politisch motivierte Gewalt kritisch zu beurteilen und mit logisch-rationalen Mitteln in ihrer ›Irrationalität‹ offenzulegen. Auf der Basis dieser Prämisse erscheinen widersprüchliche Propaganden im rationalen Diskurs nicht als glaubwürdig und können sich somit auch nicht – rational – ausbreiten. Aber genau das, nämlich Ausbreitung mit dem Ziel der Mehrheitsfähigkeit, ist es, wodurch Propaganda definiert ist: Propaganda ist in ihrem etymologischen Kern als propagatio gerade 228 | Das Potenzial, das die Taxonomie gerade hier bietet, wird im Rahmen der Untersuchung nicht annähernd ausgeschöpft. 229 | Aus Sollen Sein zu folgern, wäre ein sogenannter naturalistischer Fehlschluss, vgl. Zoglauer (1998: 45ff.).
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das, was sich fortpflanzen, erweitern und verlängern soll. Das kann Propaganda aber nur, wenn sie glaubwürdig auftritt. Nur dann kann eine nichturteilsfähige Propaganda in ihrer performativen Macht genau das glaubhaft machen, von dem sie behauptet, dass es bereits geglaubt wird. Indem etwa in den US-amerikanischen und entsprechend auch in den deutschen Medien230 in der Frühphase des ›War on Terror‹ behauptet wurde, dass die USA 2001 in Afghanistan einen äußeren Befreiungskrieg führten, wurde schon vorausgesetzt, dass man den militärische Einsatz – weltweit, in den USA oder in Afghanistan – mehrheitlich als Befreiung beurteilen würde. Das mag bezogen auf die US-Bevölkerung sogar der (mehrheitlich) vorherrschenden Meinung entsprochen haben, die UN als einzige faktische Repräsentanz der Weltbevölkerung wurde daraufhin jedoch nie befragt,231 während die afghanische Bevölkerung von vornherein nicht befragt werden konnte, aber wohl auch nicht gefragt werden sollte. Nicht-urteilsfähige Propaganda verschließt sich, auch wenn sie eine Beurteilerrealität gleichsam ungewollt treffen kann, also von vornherein gegen Realität, nicht gegen die Realität des Ob oder Ob-nicht eines politisch motivierten Gewaltakts und seiner Akteure, sondern gegen die Realität einer offenen diskursiven Beurteilung durch die Beobachter: Mehrheiten sollen durch nicht-urteilsfähige Propaganda immer auch geschaffen, niemals nur publiziert werden. Daran wird letztlich auch deutlich, dass einzig eine skeptizistische Propaganda als legitime journalistische Position gelten kann. Wenn journalistische Medien die Funktion haben sollen, zu informieren und politische Sachverhalte zur Diskussion und damit für alle zur Entscheidung zu stellen, dann kann im Diskurs über politisch motivierte Gewalt nur eine urteilsfähige Propaganda tatsächlich die Entscheidung darüber, wer entweder als politischer Amokläufer, Terrorist und Staatsterrorist oder als Held, Freiheitskämpfer und Befreiungskrieger beurteilt wird, offenlassen und – in einem demokratischen Sinne – der mehrheitlichen Entscheidung aller am Diskurs Beteiligten überlassen. Alle anderen Propaganden, radikale wie abgeschwächte, sind im Gegensatz dazu schon deshalb kritisch zu betrachten, weil sie Entscheidungen vorwegnehmen und Mehrheiten nur behaupten. 230 | Die Herausbildung einer eigenen Position gegenüber der US-amerikanischen hat erst am Ende der ersten Legislaturperiode der Regierung Schröder im Vorfeld des Irakkrieges 2002 mit der Ablehnung einer militärischen Beteiligung an demselben stattgefunden. 231 | Die USA und ihre Alliierten begannen den Krieg, wie gesagt, ohne UN-Mandat.
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Vor dem Hintergrund der Widerspruchsfreiheit lassen sich unter den nicht-urteilsfähigen Propaganden zudem ›starke‹ von ›schwachen‹ unterscheiden. Dabei stellen sich gerade die radikalen Propaganden als schwach heraus, während sich die abgeschwächte Propaganda als stark darstellt. So existiert ein radikaler Pazifismus, wie das Beispiel um den Dalai Lama gezeigt hat, zwar nicht nur als mögliche, sondern auch als faktische Position: Deren Widerspruchsfreiheit kann im Zuge einer konsequent geführten Propaganda aufrechterhalten werden, die im Fall des Dalai Lama letztlich auch eine Verurteilung der Gewalt der eigenen Landsleute im Rahmen des Tibetkonflikts fordert. Jede andere Position gegenüber politisch motivierter Gewalt bleibt aber mit dem Diskurs unvereinbar.232 Strukturell gilt das Analoge für einen radikal militaristischen Diskurs.233 Allerdings unterscheidet sich dieser von einem radikal pazifistischen Diskurs darin, dass er zwar ebenfalls möglich ist, aber faktisch nicht stattfindet. Eine solche Position scheint offensichtlich nicht öffentlich vermittelbar, wie ein Blick auf die Geschichte zeigt. Selbst totalitäre Regime, die sich im Rahmen ihrer Ideologie in die Lage versetzt sehen, Massen- oder Völkermorde propagandistisch zu legitimieren, verzichten nicht darauf, innerhalb ihrer legitimatorischen Diskurse die Gewalt des Gegners zu verurteilen. So liest man etwa in einem Ausstellungskatalog zur Kunst und Propaganda zwischen 1930 und 1945: Ein fester Bestandteil der Propaganda der ›Achsenmächte‹ war die vorgebliche Verteidigung der europäischen Zivilisation gegen den so genannten ›Bolschewismus‹ in der Sowjetunion. Die vorgebliche bolschewistische Bedrohung wurde im faschistischen Italien auf unterschiedliche Weise [ikonografisch] dargestellt: durch Karikaturen von Stalin, anti-jüdische Bilder oder Darstellungen von Soldaten der Roten Armee als verwahrloste Mörder. (Czech/Doll 2007: 128)
Während man im Zuge eines radikalen Militarismus keine politisch motivierte Gewalttat verurteilen könnte, Gewaltanwendung also konsequenterweise allen politischen Akteuren zugestehen müsste, verurteilte man in Deutschland und Italien bis zum Sturz Mussolinis 1943 und der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands 1945 einseitig die Gewalt des poli232 | Dies gilt ausdrücklich nur in einem ›logischen Dreieck der Widersprüche‹, ansonsten wäre ein abgeschwächter Pazifismus durchaus vereinbar mit einem radikalen Pazifismus. Das zeigt nochmals die deskriptiven Schwächen eines Systems isolierter abgeschwächter Propaganden. 233 | Auch was die Einschränkung auf das logische Dreieck angeht.
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tisch-ideologischen Gegners, um so die eigene Gewalt gegen diesen zu legitimieren: Die anderen sind »verwahrloste Mörder«. Man selbst stellt sich in den Dienst einer »Verteidigung der europäischen Zivilisation«, auch ungeachtet dessen, dass deutsche und italienische Truppen 1941 die UdSSR ohne Kriegserklärung und entgegen bestehenden Abkommen überfallen hatten. Sozialdarwinistische Positionen, wie sie sich in der jüngeren europäischen Ideengeschichte etwa bei Joseph de Maistre im 18./19. Jahrhundert oder bei Ernst Jünger und Carl Schmitt im 20. Jahrhundert andeuteten, welche einen Kampf aller gegen alle als Naturrecht und eine Bewährung des Stärkeren in der Schlacht als Legitimation für die Omnipräsenz konkurrierender Gewalt postulierten (Groß 2008: 10), blieben selbst dem europäischen Faschismus fremd, zumindest was seine Propaganda anging. Lieber sprach man dem Gegner öffentlich genau das Recht auf Gewaltanwendung ab, das man für sich selbst im Übermaß in Anspruch nahm, begab sich auf die Ebene einer abgeschwächten Propaganda und unterschied zwischen einer ›schlechten Gewalt‹ des Gegners und einer ›guten Gewalt‹ seiner selbst. So kann ein Diskursführer im Rahmen einer abgeschwächten Propaganda von Fall zu Fall also einige Gewalttaten (als erschreckend) verurteilen und einige (als befreiend) befürworten. Solange er nicht in einen der radikalen Diskurse wechselt, bleibt seine Propaganda konsistent. Genau das macht die abgeschwächte Propaganda diskursiv so viel stärker als die radikalen Propaganden, und genau darum ist die abgeschwächte Propaganda die verbreitetere234 – schlicht weil sie leichter zu führen ist. Dabei ermöglicht sie aber vor allem eine immer wiederkehrende Argumentationsfigur. Diese unterscheidet die – in der Regel – eigenen Gewalttaten in der Tradition des bellum iustum235 als gute, weil aus gerechtem Grund (iusta causa), in aufrichtiger Absicht (intentio recta), als letztes Mittel (ultima ratio) und unter dem Primat der Verhältnismäßigkeit (debitus modus) eingesetzte Gewalt von einer brutalen, weil unverhältnismäßigen, unrechtmäßigen und um ihrer selbst willen ohne hinreichenden Grund ausgeübten Gewalt der anderen. Die ›gute Gewalt‹ soll dabei als »Selbstverteidigung« dem eigenen Schutz oder als »Intervention« dem Schutz anderer gegen eine ursprüngliche, brutale und eigentlich gewalttätige Gewalt dienen (Bordat 2008: 43). 234 | Das ist so natürlich nicht mehr als eine Behauptung. Man müsste und könnte diese mittels quantitativer Methoden (erst) noch belegen. Zu einer möglichen quantitativen Herangehensweise siehe Früh (2007). 235 | Siehe zur Tradition des bellum iustum, des gerechten bzw. rechtmäßigen Krieges, ausführlich Bordat (2008: 44ff.) und Zoglauer (2007: 212ff.).
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Verglichen mit einer skeptizistischen Propaganda erweist sich die abgeschwächte Propaganda zunächst ebenfalls als die stärkere Propaganda. Ein urteilsfähiger Skeptizismus erscheint deswegen vergleichsweise schwach, weil er keine Meinungen vorgeben kann, und ist letztlich doch insofern stärker, als er eine öffentliche Meinungsbildung über politisch motivierte Gewalt überhaupt erst ermöglicht. So wird man sich, was die Beurteilung politischer Gewalt angeht, mit Heinz von Foerster im Rahmen einer prinzipiell unentscheidbaren Frage entscheiden müssen. Wenn man sich allerdings bereits für einen demokratischen Entscheidungsprozess entschieden hat, wie es ja die westlichen Demokratien per definitionem behaupten, folgt daraus eine Entscheidung, die keine mehr ist, nämlich die für den in seiner Urteilsfähigkeit alternativlosen Skeptizismus als einzigen Diskurs, der eine Entscheidung aller ermöglicht.
Grenzen der Propaganda: Plädoyer für eine er weiterte Konsistenz Vor dem Hintergrund einer Bellum-iustum-Tradition kann man im Rahmen der Taxonomie erster und zweiter Ebene nun folgende Aussagen formulieren: Wenn sich eine Gruppe im Diskurs der mehrheitlichen Entscheidung (Taxonomie erster Ebene) oder der Diskursführer einer nichturteilsfähigen Propaganda (Taxonomie zweiter Ebene) entscheidet, den Akteur eines politisch motivierten Gewaltakts als Terroristen, Staatsterroristen oder politischen Amokläufer zu verurteilen, wird deren Gewaltanwendung damit die Rechtmäßigkeit abgesprochen. Wenn dieselben Entscheider einen politisch motivierten Gewalttäter als Freiheitskämpfer, Befreiungskrieger oder Helden beurteilen, dann unterstellen sie damit die Rechtmäßigkeit des Gewaltakts. Im Rahmen des hier definierten Begriffssystems gilt damit die Äquivalenzaussage: »Dann und nur dann, wenn jemand 236 einen Akt der Gewalt für gerechtfertigt hält, beurteilt er die Täter des Gewaltakts als Freiheitskämpfer, Befreiungskrieger oder Helden.« Diese Aussage ist wiederum äquivalent zu ihrer (beidseitigen) Verneinung: »Dann und nur dann, wenn jemand einen Akt der Gewalt für nicht gerechtfertigt hält, beurteilt er dessen Täter als Terroristen, Staatsterroristen oder politische Amokläufer.« So leitet sich die Beurteilung politisch motivierter Gewalt aus ihrer Rechtfertigbarkeit her: Indem man einen politisch motivierten Gewaltakt als gerechtfertigt postuliert, postuliert man ihn zugleich auch als befreiend (im hier definierten Sinn). Zugleich folgt 236 | ›Jemand‹ bezeichnet hier eine mehrheitliche Beurteilergruppe oder einen propagandistischen Diskursführer.
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die negative Bewertung aus einer Nicht-Rechtfertigbarkeit der Gewalt und vice versa: Indem man einen politisch motivierten Gewaltakt als erschreckend postuliert, postuliert man ihn zugleich auch als ungerechtfertigt. Selbstverständlich können faktische Diskurse diesen Aussagen und damit sich selbst widersprechen und in diesem Sinne irrational geführt werden. Wenn man aber Rationalität fordert, dann gelten diese Aussagen uneingeschränkt. Das heißt beispielsweise für einen radikal pazifistischen Diskursführer, dass er Gewalt in jedem Fall und jedes Akteurs eines konkreten Konflikts – im argumentativen und rationalen Diskurs über diesen – als nicht gerechtfertigt begründen237 muss und nicht bloß ungerechtfertigt als erschreckend verurteilen kann. Genau das macht einen rationalen und konsequenten Pazifismus aus.238 Ein konsequenter Militarismus dagegen muss die Gewalt aller Akteure für gerechtfertigt und deshalb für befreiend halten. Für die abgeschwächte Propaganda gilt hingegen, dass man die Gewaltakte 237 | Hierbei (analog auch im Folgenden) handelt es sich nur noch um eine Implikation der obigen Aussagen: Aus der Äquivalenz von ›für erschreckend halten‹, ›verurteilen‹ und ›für ungerechtfertigt halten‹ folgt eben nur, dass man das, was man verurteilt und für erschreckend hält, auch für ungerechtfertigt hält, nicht aber schon, dass man es auch als ungerechtfertigt begründet. Äquivalenzverhältnisse beschreiben, wie bereits in Kapitel 1 gesehen, keine Ursachen oder Begründungen. Die Begründungsstruktur resultiert hier einzig aus dem Begriff der Rechtfertigung, der so etwas wie eine Begründung impliziert. 238 | Bei näherer Betrachtung der radikalen Propaganden zeigt sich, dass man zwischen einer radikal pazifistischen Position bezogen auf einen konkreten Konflikt à la Ban Ki-moon im Palästinakonflikt 2008 und einer (generellen) radikal pazifistischen Einstellung oder Haltung, wie sie der Dalai Lama vertritt, unterscheiden muss. In dem hier diskutieren Zusammenhang gilt für Ersteren, dass er alle Gewalttaten in einem konkreten Konflikt als ungerechtfertigt begründen muss, was durchaus möglich ist. Letzterer müsste hingegen alle möglichen Gewaltakte als ungerechtfertigt begründen, was allerdings unmöglich ist, zumindest für endliche Wesen. Die einzige Möglichkeit einer Begründung seiner radikal pazifistischen Haltung bestünde darin, zu begründen, warum Gewaltakte an sich nicht zu rechtfertigen sind. Ein dritte Möglichkeit (letztlich die, entsprechend der der Dalai Lama in den westlichen Medien auftritt) wäre die, dass ich mich gerade auf meine menschliche Endlichkeit berufe und nur genau in den Konflikten, die an mich herangetragen werden, immer wieder alle Gewalttäter und -taten des jeweils konkreten Konflikts verurteile. Das wäre eine konsequente, weil konsistente radikal pazifistische Haltung, allerdings eine, die theoretische Diskussionen um die Generalisierung und Generalisierbarkeit des eigenen Pazifismus gleichsam ausspart.
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der ›Befreier‹ (Helden, Freiheitskämpfer, Befreiungskrieger) als gerechtfertigt und die Gewalt der ›Erschrecker‹ (Amokläufer, Terroristen, Staatsterroristen) als ungerechtfertigt begründen muss: Widersprüchlich im Rahmen der Begründungsstruktur begründete Diskurse müssen zwingend als unglaubwürdig angesehen werden, nicht begründete Diskurse dagegen als unvollständig und damit als potenziell oder tendenziell unglaubwürdig. Allerdings macht Thomas Zoglauer (2007: 107ff.) im Zusammenhang mit der Begründ- und Rechtfertigbarkeit von ethischen Diskursen, und um solche handelt es sich bei Diskursen über politisch motivierte Gewalt, auf ein grundlegendes Problem aufmerksam. Er führt unter Bezugnahme auf John Rawls’ 1971 publiziertes Hauptwerk A Theory of Justice aus, dass ethische Diskurse keine Letztbegründungen kennen und damit nicht in einem absoluten Sinn zu rechtfertigen sind. Vielmehr gehe »jedes Argument und jede rationale Begründung […] von unhinterfragten Prämissen aus«. Und da »normative Geltungsansprüche nicht durch Tatsachenbehauptungen begründet werden« könnten, könne »jede ethische Begründung selbst wieder nur von ethischen Überzeugungen und Intuitionen ausgehen« (Zoglauer 2007: 21). Im Grunde spiegelt sich das bereits in von Foersters Theorem wider. So fallen ethische Entscheidungen über politisch motivierte Gewalt und ihre Täter ins Feld der entscheidbaren, weil unentscheidbaren, sprich: nicht ein für alle Mal entscheidbaren, Fragen. Mit dem jeweiligen moralischen Bezugssystem differieren auch die Entscheidungen, oder ein Beispiel Zoglauers aufgreifend: »Ob jemand den palästinensischen Terrorismus für gerecht« und damit für einen inneren Befreiungskrieg oder doch für Terrorismus im hier definierten Sinne hält, »hängt unter anderem davon ab, ob man Palästinenser oder Israeli, Muslim oder Jude, Utilitarist oder Kantianischer Pflichtethiker ist. Einstellungen […] beeinflussen die moralische Wahrnehmung« (2007: 290) – genauso wie die Entscheidung über politisch motivierte Gewalt und ihre Täter. Daraus ließe sich zunächst ein moralischer Relativismus dergestalt ableiten, dass man sich als Entscheider einzig von seiner Intuition leiten lässt, da es ja letztlich keine allgemeingültigen rationalen Regeln gibt, aus denen man seine Entscheidungen ableiten könnte. Und tatsächlich wurde von Entscheidungen im Gegensatz zu Diskursen über politisch motivierte Gewalt und ihre Täter bisher weder behauptet, dass sie rational sind, noch gefordert, dass sie rational sein sollen. Primäre Entscheidungen (wie sie der Taxonomie erster Ebene zugrunde liegen) können durchaus unreflektierten Intuitionen folgen. Wenn sie jedoch in den öffentlichen Diskurs eingehen, dann müssen sie vertreten werden. Das heißt, sie müssen so weit
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reflektiert und rationalisiert sein, dass sie in ihrem argumentativen Zusammenhang konsistent, also widerspruchsfrei sind.239 Dabei schützt Konsistenz allein intuitionsbegründete Diskurse aber weder vor einer grundsätzlichen Fehlbarkeit noch davor, dass bloß intuitive ›Vor-Urteile‹ argumentativ konsistent vertreten werden. Einzig Intuitionen zur Grundlage seiner Entscheidung zu machen, ist aber auch schon deswegen problematisch, weil diese sich nicht nur leicht »manipulieren und beeinflussen lassen« (Zoglauer 2007: 290), sondern stets schon beeinflusst sind. So evident Intuitionen auch scheinen mögen, sie sind immer schon vorurteils-, das heißt kultur- und interessengeleitet. Das müssen nicht einmal die eigenen Interessen sein, sondern es sind in der Regel die Interessen und Urteile anderer, welche man sich – etwa in Folge nichturteilsfähiger Propaganda – bereits angeeignet hat. So etwas wie eine reine moralische Intuition existiert nicht, und schon gar keine reine Intuition hinsichtlich politisch motivierter Gewalt. Wie gesagt, ob man beispielsweise einen Anschlag der PLO als Terrorakt einschätzt oder nicht, hängt von vielerlei Interessen und Vor-Urteilen ab. John Rawls zufolge sind daher moralische Entscheidungen über ihre Widerspruchsfreiheit, also ihre Konsistenz im Argumentationszusammenhang, hinaus auch bezüglich ihrer Kohärenz zu beurteilen. Vereinfacht bezeichnet Rawls mit ›Kohärenz‹ eine Harmonisierung von moralischen Urteilen und Grundsätzen innerhalb eines intersubjektiven Diskurs- und Meinungszusammenhangs hin zu einem »Überlegungsgleichgewicht« (reflective equilibrium). Rawls spricht von einem »Gleichgewicht, weil« im Rahmen dessen »schließlich unsere Grundsätze und Urteile« übereinstimmen. Dabei ist es »ein Gleichgewicht der Überlegung [!], weil wir wissen, welchen Grundsätzen unsere Urteile entsprechen und aus welchen Voraussetzungen diese abgeleitet sind« (1979: 38). Im Rahmen seiner Theory of Justice entwickelt Rawls daher ein prozessuales Kohärenzmodell zur Herstellung eben dieses Überlegungsgleichgewichts, zwischen moralischen Einzelurteilen und Prinzipien einerseits und zwischen unterschiedlichen moralischen Prinzipien oder Grundsätzen andererseits. Beide sollen jeweils aneinander abgeglichen und im Diskurs solange modifiziert werden, bis sie miteinander verträglich sind und sich zu einem homogenen moralischen System zusammenfügen.240
239 | Wie gesagt, aus Sollen folgt nicht Sein. 240 | Siehe zu Rawls Konzept des Überlegungsgleichgewichts Hoerster (1977: 58ff.), Birnbacher (2003: 92ff.) und vor allem Kersting (2001: 126ff.).
Kapitel 2: Logik des Terrors
Im Zuge dessen werden intuitive moralische Einzelurteile und Grundsätze, etwa: »Du sollst nicht töten!«, für Rawls insofern begründet, als sie zwar einem Common sense entspringen, sich im Rahmen der Herstellung eines Überlegungsgleichgewichts aber erst in ihrer Konsistenzfähigkeit erweisen müssen: Rawls’ dynamisiertes Kohärenzmodell [beschreibt] einen Lernprozeß, in dem Common sense und philosophische Ethik sich in ihrer wechselseitigen Verwiesenheit aufeinander aneinander abarbeiten, bis ein Zustand erreicht ist, gleichsam ein Waffenstillstand, in dem die normative Theorie vom moralischen Common sense als Explikation seiner Grundanschauungen akzeptiert wird und der moralische Common sense durch die Explikationsprinzipien geordnet und zu einer disziplinierten Urteilsfähigkeit veranlasst wird. […] Er [Rawls] zieht daraus die Gewissheit, eine Konzeption entwickelt zu haben, die sowohl eine Normenrechtfertigung liefert als auch eine Explikation unserer intuitiven Gerechtigkeitsanschauungen bietet. (Kersting 2001: 129f.)
Unter dem Primat der Kohärenz wohlüberlegter Gerechtigkeitsurteile versöhnt Rawls so die intuitive mit der rationalen sowie die empirische mit der normativen Seite moralischer Urteile und Grundsätze. Die bisher für Entscheidungen und Diskurse über politisch motivierte Gewalt präskriptiv in Anspruch genommene Widerspruchsfreiheit stellt demnach ein notwendiges, aber noch kein hinreichendes Kriterium für Kohärenz im Sinne Rawls’ dar. So ist Kohärenz »mehr als Widerspruchfreiheit. Kohärenz beschreibt, wie gut Überzeugungen zusammenpassen, harmonisieren und sich gegenseitig ergänzen, um zusammengenommen ein in sich stimmiges System zu bilden« (Zoglauer 2007: 284).241 Allerdings geht es im Rahmen der Entscheidung über politisch motivierte Gewalt nicht darum, ein homogenes System von Entscheidungsprinzipien zu gewinnen, sondern darum, faktische Diskurse und Propaganden anhand einer Taxonomie konsistent definierter Diskurse kritisierbar zu machen. Man kann also Dieter Birnbacher folgen, wenn dieser bezogen auf Urteile und Überzeugungen, die ein kohärenztheoretisches Verfahren im Rahmen von diskursiven Entscheidungsprozessen durchlaufen, Folgendes anmerkt:
241 | Siehe auch BonJour (1985: 95), auf den Zoglauer sich hier explizit paraphrasierend bezieht.
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Terror und Propaganda [D]a Kohärenz mehr ist als Konsistenz, müssen die Urteile […] zweimal ›gefiltert‹ werden – einmal durch den Konsistenz-Filter, der von je zwei unvereinbaren Überzeugungen höchstens eine durchlässt, dann durch den Kohärenzfilter, der von den verschiedenen Möglichkeiten, die Basismenge der Urteile in eine konsistente Menge zu überführen, nur diejenigen durchlässt, die auch dem zweiten Kriterium, dem der systemischen Geschlossenheit und Einheitlichkeit, genügen. (2003: 94)
Birnbachers Metaphorik aufgreifend fällt aber gerade dieser zweite »Kohärenzfilter« für Diskurse über politisch motivierte Gewalt weg, womit eine Widerspruchsfreiheit, allerdings eine erweiterte, auch weiterhin als hinreichendes Kriterium der Beurteilung von Gewaltdiskursen gelten kann: Bezogen auf Diskurse über politisch motivierte Gewalt genügt eine diskursive Konsistenz, eine erweiterte Konsistenz also, die Widerspruchsfreiheit auch für Urteile in ihrem Argumentations- und Begründungszusammenhang anstrebt, indem sie konsistent an andere für den Diskurs relevante Grundsätze und Urteile der Gruppe der Beurteiler anschließt. So darf eine Entscheidung über politisch motivierte Gewalt beispielsweise nicht den Grundsätzen der Entscheidungsverteilung selbst widersprechen: Auf der Basis demokratischer Prämissen kann man zwar denselben Gewaltakt als erschreckend oder befreiend beurteilen, man kann aber nicht anhand von nicht-entscheidungsfähigen Propaganden mehrheitliche Entscheidungen als bereits entschieden vorwegnehmen, ohne sich in einen Widerspruch zu verwickeln. Während es hier eher um eine Konsistenz des Entscheidungsverfahrens zu seinen impliziten Prämissen geht, können aber auch Einzelurteile über politisch motivierte Gewalt auf ihre Konsistenz mit anderen, ursprünglich nicht zum Diskurs über politisch motivierte Gewalt zählenden Urteilen und Grundsätzen befragt werden. Beispielsweise wird jedem westlichen Beurteiler klar sein, dass die Beurteilungen der Anschläge des 11. Septembers oder etwa auch die der RAF in den 1970er und 1980er Jahren als Befreiungsschläge nicht (erweitert) konsistent mit einer rechtsstaatlichen Grundauffassung sind, welche unter anderem ein staatliches Gewaltmonopol einschließt. Vor dem Hintergrund dieser rechtlichen Grundsätze stellten die Anschläge Verbrechen dar, welche nur in deren Kategorisierung als Terrorakte oder politisch motivierte Amokläufe noch konsistent beurteilt werden können. Wenn man die Anschläge dagegen als Befreiungsschläge oder gar als Heldentaten beurteilen will, dann muss man sich auch von einer rechtsstaatlichen Grundauffassung verabschieden.
Kapitel 2: Logik des Terrors
Letzteres ist nicht nur möglich, sondern auch grundsätzlich im Rahmen von Rawls’ Modell vorgesehen, da es »nach der Methodologie des Überlegungsgleichgewichts ebenso legitim ist, wenn die Einzelurteile im Konfliktfall aufrechterhalten werden und der widerstreitende Grundsatz modifiziert wird. Denn Prinzipienebene und Urteilsebene sind [bei Rawls] beweglich gegeneinander und haben einander logisch nichts voraus« (Kersting 2001: 132). So kann man vor dem Hintergrund generalisierter rechtsstaatlicher Prinzipien242 beispielsweise den von den USA und ihren Verbündeten geführten ›War on Terror‹ schwerlich noch, wie anfangs propagiert, als äußeren Befreiungskrieg beurteilen, wenn etwa der Angriff auf den Irak unter völkerrechtlich fragwürdigen Voraussetzungen, ohne UN-Mandat und als Präventivkrieg gegen eine vermeintliche Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen begonnen wurde und der ›War on Terror‹ in seinem Verlauf (in Guantanamo buchstäblich) rechtsfreie Räume für staatlich legitimierte Folter produziert hat. Auf der Basis konsistenter Entscheidungen und Grundsätze hätte man entweder die Beurteilung des Irakkrieges hin zu einem äußeren Staatsterror korrigieren oder rechtsstaatliche und völkerrechtliche Grundsätze – zumindest temporär im Rahmen eines Kriegsrechts – aufgeben müssen. Ob man das mit all seinen Konsequenzen will, entscheidet sich im Diskurs. Allein, wer das diskursiv entscheiden darf, ist vor dem Hintergrund demokratischer Prämissen bereits entschieden. Anschließend an Rawls’ Überlegungen soll eine erweiterte Konsistenz somit nicht mehr nur als Kriterium für öffentliche Diskurse über politisch motivierte Gewalt gelten, sondern nun auch für primäre Entscheidungen über politische Akteure und deren Gewalt. So stellt sich nach dem bisher Gesagten auch nicht mehr die Frage, ob primäre Entscheidungen losgelöst von einem öffentlichen Diskurs bloß Intuitionen folgen, die aus einem wie auch immer gearteten Rechtsempfinden resultieren; Intuitionen sind immer schon an einen Common sense gebunden, der aus den Urteilen und Grundsätzen vieler resultiert. Die Frage ist vielmehr, wie aus Urteilen »wohlüberlegte Urteile« werden (Rawls 1979: 67). Die Antwort lautet anschließend an Rawls: Auf der Basis einer Interdependenz von öffentlichem Diskurs und individueller Entscheidung können sich beide aneinander ausrichten und korrigieren, indem sich die individuelle Entscheidung am 242 | Namentlich über die Grenzen des Staates hinaus generalisierte rechtsstaatliche Prinzipien, wie sie in der Bewertung der Anschläge des 11. Septembers, auf die der ›War on Terror‹ ja reagierte, implizit zur Anwendung gekommen sind.
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öffentlichen Diskurs genauso schärft wie der öffentliche Diskurs an den Entscheidungen vieler Einzelner, vorausgesetzt, der Diskurs wird rational, das heißt in sich und über sich hinaus konsistent geführt.243
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2002 – alliierte Truppen unter US-amerikanischer Führung hatten in Afghanistan gerade das Taliban-Regime gestürzt und Truppenverlegungen in den Golf bereiteten schon den nächsten Krieg im Irak vor. An der USamerikanischen Heimatfront hatte man sich derweil einer publizistischen Selbstzensur unterworfen, die bis hinein in die regierungskritischen Blätter reichte. Trotzdem veröffentlichte im selben Jahr der New Yorker VersoVerlag in einer kleinen Reihe kritischer Schriften eine Essaysammlung Slavoj Žižeks, die damals genauso wenig dem Zeitgeist entsprechen wollte wie ein in derselben Reihe von Baudrillard unter dem Titel The Spirit of Terrorism veröffentlichter Artikel.244 In der Einleitung zu seiner Essaysammlung konstruiert Žižek eine auf den ersten Blick nicht unbedingt zwingende Analogie zwischen einer Screwball-Komödie, einem religiösen Disput und den Entscheidungsprozessen westlicher Demokratien: In the classic line from a Hollywood screwball comedy, the girl asks her boyfriend: »Do you want to marry me?« »No« »Stop dodging the issue! Give me a straight answer!« In a way, the underlying logic is correct: the only acceptable straight answer for the girl is »Yes!«, so anything else, including a straight »No!«, counts as evasion. The underlying logic, of course, is […] that of the forced choice. Would not a priest relay on the same paradox in a dispute with a sceptical layman? »Do you believe in God?« »No.« »Stop dodging the issue! Give me a straight answer!« Again, in the opinion of the priest, the only straight answer is to assert one’s belief in God […]. And is it not the same today with the choice ›democracy or fundamentalism‹? Is it not that, within the terms of this choice, it is simply not possible to choose ›fundamentalism‹ but, rather, democracy itself: 243 | Selbstverständlich sind damit wiederum nur Soll- und keine Istzustände, keine faktischen, sondern ideale Zustände beschrieben. 244 | Der schmale, mit Welcome to the Desert of the Real! betitelte Band erschien in einer Reihe aktueller Beiträge europäischer Autoren zum 11. September zeitgleich mit dem Essay Ground Zero von Paul Virilio (2002) und einer Fassung des eingangs zitierten Artikels The Spirit of Terrorism von Jean Baudrillard (2002).
Kapitel 2: Logik des Terrors as if the only alternative to ›fundamentalism‹ is the political system of liberal parliamentary democracy. (2002: 3)
Žižek hinterfragt damit zunächst die damalige Bush-Rhetorik eines »Either you’re with us or you’re with the terrorists« und stellt sie, wie damals etwa auch Judith Butler (2004),245 in ihrer forcierten binären Struktur bloß, welche von vornherein eine Affirmation vom Entscheider fordert: Die Alternative bleibt stets unwählbar. Man ist entweder ein zukünftiger Ehemann oder ein Betrüger, Christ oder Gottesleugner, Demokrat oder Fundamentalist, sodass man letztlich vor die widersinnige Wahl gestellt wird, entweder Ehemann oder Ehemann, Christ oder Christ, Demokrat oder Demokrat sein zu müssen. Eine dritte Position, die des Agnostikers, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne, bleibt von vornherein ausgeschlossen. Der Diskurs forciert nicht nur die Entscheidung und schließt sie damit aus, sondern er lässt auch keinen Raum für Zweifel, Unentschiedenheit und Skepsis, weder hinsichtlich des Sakraments der Ehe oder der Existenz Gottes noch hinsichtlich der eigenen Regierungsform – der Demokratie. Demokratie erscheint nicht nur während der Hochphase des ›War on Terror‹ als das Basisaxiom des westlichen Selbstverständnisses, sie erscheint als die Ideologie unserer Kultur, die es – in Abgrenzung zum Anderen des Totalitarismus und Faschismus, der Tyrannei und Diktatur – mit aller diskursiven und performativen Macht aufrechtzuerhalten und zu verbreiten gilt. Als der französische Philosoph Antoine-Louis-Claude Destutt de Tracy den Begriff ›Ideologie‹ in einem Vortrag im Jahre 1796 zum ersten Mal verwendet, geschieht dies in dem Bewusstsein, einen Neologismus geschaffen zu haben, einen Namen für die von ihm und seinen Mitstreitern am Institut National begründete »neue Wissenschaft der Ideen« (Ritter et al. 1971–2007, Bd. 3, 1974: 158). Gewann diese neue Wissenschaft während der Französischen Revolution zunächst einigen Einfluss und war selbst Napoleon anfänglich Anhänger dieser philosophischen Schule, so erfahren die Ideologen und mit ihnen der Begriff der Ideologie schließlich durch Napoleon, weniger aus philosophischen denn aus politischen Gründen,246 245 | Ich zitiere Bush ebenfalls nach Butler (2004: 2). Die Texte von Butlers Essaysammlung, die 2004 ebenfalls im Verso-Verlag erschien, stammen aus den Jahren 2001 bis 2003. 246 | Als Napoleon 1799 zum Ersten Konsul ernannt worden war, wandten sich einige der Ideologen gegen seine Ernennung und Napoleon sich im Gegenzug umso vehementer gegen die Schule der Ideologien.
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eine grundlegende Diffamierung als »von der Wirklichkeit losgelöste, bloße Theorie« realitätsfremder Metaphysiker, Fantasten und Fanatiker (1971– 2007, Bd. 3, 1974: 159f.). Dergestalt geht der Begriff auch ins Deutsche ein und begründet, entkoppelt vom ursprünglichen Adressaten (der Schule der französischen Ideologen) bis zum heutigen Tag einen diskriminierenden Diskurs. ›Ideologie‹ wird zum Synonym einer unreflektierten, in der Regel falschen politischen Anschauung, während diejenigen, die etwas als ideologisch entlarven, für sich in Anspruch nehmen, die Praxis von einer – bestenfalls bloß – realitätsfremden politischen Theorie frei zu halten. »In diesem Sinne ist Ideologie«, wie Terry Eagleton es polemisch, aber treffend fasst, »wie Mundgeruch immer das, was die anderen haben« (1993: 8), also gerade auch das, was man an sich selbst am wenigsten wahrnimmt. Daneben gab es aber auch immer wieder Versuche, den Begriff der Ideologie zu rehabilitieren, etwa wenn Goethe in den 1820er Jahren anmerkt: Eine jede Idee tritt als ein fremder Gast in Erscheinung, und wie sie sich zu realisieren beginnt, ist sie kaum von Phantasie und Phantasterei zu unterscheiden. Dies ist, was man Ideologie im guten und im bösen Sinne genannt hat, und warum Ideologie dem lebhaft wirkenden praktischen Tagesmenschen so zu wider war. (1999: 439)
Im Übergang zum 20. Jahrhundert erweitern Karl Marx und in der Folge Georg Lukács den Begriff dahingehend, dass dieser eine Klassenzugehörigkeit »als klassenmäßig bestimmte Unbewußtheit über die eigene gesellschaftlich-geschichtliche ökonomische Lage« bezeichnen soll (Lukács 1977: 62); Anfang der 1950er Jahre definiert der amerikanische Soziologe Talcott Parsons Ideologie schließlich »as a system of beliefs, held in common by members of a collectivity, i.e., a society, or a sub-collective of one society« (1951: 349). Parsons schaff t damit eine zum diskriminierenden Ideologiediskurs alternative Definition von Ideologie, wie sie zwischenzeitlich annähernd so auch in die deutschen Wörterbücher eingegangen ist.247 Eben diesen Ideologiebegriff aufgreifend und fortschreibend seien im Folgenden Ideologeme im weiteren Sinne als solche weltanschaulichen Vorstellungen, Ideen oder Konzepte einer Gesellschaft verstanden, die Teil einer übergeordneten Ideologie, also eines (ließe man es auf den Versuch einer umfassenden Beschreibung ankommen) offenen Systems von Welt247 | Im Fremdwörterduden findet sich unter »Ideologie« etwa der Eintrag: »an eine soziale Gruppe, eine Kultur o.Ä. gebundenes System von Weltanschauungen, in der Ideen der Errichtung politischer u. wirtschaftlicher Ziele dienen« (Duden 2000: 590).
Kapitel 2: Logik des Terrors
anschauungen sind.248 Bezogen auf Diskurse über politisch motivier te Gewalt bezeichnen Ideologeme – im engeren Sinne – die einer bestimmten Gesellschaft als Dispositive oder Axiome zugrunde liegenden Entscheidungen über Entscheider; also Entscheidungen darüber, wer grundsätzlich Entscheidungen über politische Gewalt und ihre Täter treffen soll, und damit auch, wer sie von vornherein nicht treffen darf. Dabei ist ein demokratisches Ideologem der potenziellen Entscheidung aller, wie Žižek es in seiner Kritik an einer Logik forcierter Entscheidungen deutlich werden lässt, zwar das unsere, das der westlichen Kultur, aber nicht das einzig mögliche. Auch Entscheidungen über Entscheidungsträger können grundsätzlich gegeneinander abgewogen werden, auch hier bleibt Raum für Zweifel, Skepsis und Kritik.
Taxonomie dritter Ebene: Entscheidungen über Entscheider Aufbauend auf der Taxonomie erster und zweiter Ebene können nun auf der Basis einer Bestimmung derer, die sich innerhalb der Erschreckerrelation »y wird von x und z erschreckt« bzw. der Befreierrelation »y wird von x und z befreit« als Befreite bzw. Erschreckte ansehen, drei Fälle unterschieden werden. Damit gelangt man zu klar unterscheidbaren Kategorien hinsichtlich der Entscheidung über politisch motivierte Gewalt und ihre Täter (Taxonomie erster Ebene) und so mittelbar auch hinsichtlich der Entscheidungs- oder Deutungshoheit in Propagandadiskursen über politisch motivierte Gewalt und ihre Täter (Taxonomie zweiter Ebene): Entweder hat eine Person die Deutungshoheit oder es sind nur einige oder aber alle am Entscheidungsprozess beteiligt. In den letzten beiden Fällen kann man noch sinnvoll von Mehrheit und Minderheit hinsichtlich der Erschreckten versus der Befreiten sprechen, da sich Mehrheit/Minderheit bei ›allen‹ und ›einigen‹ auf konkrete Personengruppen und ihre Entscheidungen beziehen lässt. Entscheidet wie im ersten Fall nur eine Person, so wird die Mehrheit/Minderheit auf die Selbstbestimmung der Person als Erschreckter oder Befreiter beschränkt. Die in Tabelle 3 schematisch dargestellten Ideologeme sind hinsichtlich der Deutungshoheit im Entscheidungsprozess (e) als Entscheidung (D) von y über x und z definiert als:
248 | Dabei müssen diese Weltanschauungen sowie ihre Relationen untereinander gerade nicht in Gänze beschrieben werden, um einzelne Ideologeme zu identifizieren.
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Deutungs- Genau einer hoheit entscheidet über den Gewalttäter/ die Gewalttat
Ideologem diktatorisch
[2]
elitär
[3]
·
Einige entscheiden über den Gewalttäter/die Gewalttat
Alle entscheiden über den Gewalttäter/die Gewalttat
·
demokratisch [1]
·
Tabelle 3: Taxonomie dritter Ebene
1
Demokratisches Ideologem: Dem(e) (y) D(y,x,z)249 Der Entscheidungsprozess ist demokratisch =df Alle entscheiden über den Gewalttäter/die Gewalttat.
2 Diktatorisches Ideologem: Dik(e) !(y) D(y,x,z)250 Der Entscheidungsprozess ist diktatorisch =df Genau einer entscheidet über den Gewalttäter/die Gewalttat. 3
Elitäres Ideologem: Eli(e) (y) D(y,x,z) ¬ !(y) D(y,x,z) ¬W(y) D(y,x,z)251 Der Entscheidungsprozess ist elitär = df ›Einige‹ entscheiden über den Gewalttäter/die Gewalttat.
Dabei stellt sich noch einmal grundsätzlich die Frage nach der adäquaten formalen Bestimmung der Ideologeme hinsichtlich der Quantifizierung der Entscheider(gruppe). In den beiden ersten Fällen des demokratischen 249 | Dem(e) = df »Der Entscheidungsprozess e ist demokratisch«; D(y,x,z) = df »y entscheidet über x und z«. 250 | Dik(e) = df »Der Entscheidungsprozess e ist diktatorisch«. 251 | Eli(e) = df »Der Entscheidungsprozess e ist elitär«.
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und des diktatorischen Ideologems können die Entscheider folgendermaßen prädikatenlogisch exakt definiert werden: Wenn die Individuenvariable y die Entscheider bezeichnet und diesen als Prädikat D = df ›entscheidet über den Gewalttäter/die Gewalttat‹ zugeordnet wird, dann ist y im Rahmen des demokratischen Ideologems mittels des Allquantors ( ) folgendermaßen spezifizierbar: (y) D(y,x,z), in Worten: »Für alle y gilt, dass sie über den Gewalttäter x und die Gewalttat z entscheiden«252, kurz also: »Alle entscheiden über den Gewalttäter/die Gewalttat«. Entsprechend lässt sich des diktatorische Ideologem unter Anwendung der Einzigkeitsbestimmung ( !) formalisieren als: !(y) D(y,x,z), in Worten: »Es existiert genau ein y, für das gilt, dass es über den Gewalttäter x und die Gewalttat z entscheidet«, kurz also: »Genau einer entscheidet über den Gewalttäter/die Gewalttat«. Dagegen wäre das elitäre Ideologem etwa mit dem Existenzquantor ( ) nicht hinreichend präzise definiert. Führt man sich die Semantik des Existenzquantors nochmals genauer vor Augen, dann bezeichnet (x) nach Bucher (1998: 209) ›es existiert ein x‹ bzw. nach Strobach (2005: 93) ›für einige x gilt‹ – beides allerdings im Sinne von ›für mindestens ein x gilt‹ . Dieses ›einige‹, verstanden als ›mindestens einer‹, schließt weder den durch die Einzigkeitsbestimmung noch den durch den Allquantor spezifizierten Bereich aus. Darum müssen ›genau einer‹ und ›alle‹ zusätzlich qua Negation ausgeschlossen werden, indem man das elitäre Ideologem als (y) D(y,x,z) ¬ !(y) D(y,x,z) ¬ (y) D(y,x,z) definiert, sprich: »Einige und nicht genau einer und nicht alle entscheiden über den Gewalttäter/die Gewalttat«. Jedoch ist damit noch nicht der Bereich zwischen (nicht einer, aber) ›wenige‹ und (nicht alle, aber) ›viele‹ spezifiziert; genau das leistet aber das metasprachliche ›einige‹: Wenn ich ›einige‹ sage, dann meine ich zugleich weder ›einen‹ noch ›alle‹ noch ›viele‹. Das ›viele‹ kann nun zumindest annähernd ausgeschlossen werden, indem man anstatt des Allquantors den bereits eingeführten Mehrheitsoperator negiert: (y) D(y,x,z) ¬ !(y) D(y,x,z) ¬W(y) D(y,x,z). Damit hat man sowohl ›genau einen‹ als auch den Bereich von 50% (plus einen) bis alle ausgeschlossen – und letztlich auch das metasprachliche ›einige‹ formal adäquat abgebildet. Zwar meint das metasprachliche ›einige‹ so etwas wie ›einige wenige‹ und damit einen unscharfen Bereich – wollte man diesen quantifizieren und damit vermeintlich schärfen – wohl um die 5 bis 10%.253 252 | Ich folge hier den Ausformulierungen der Semantik der Quantoren wie Strobach (2005: 92ff.) sie, trotz Abweichungen im Detail, mit allen anderen Standardlogiken übereinstimmend vornimmt. 253 | Und das selbstverständlich nur bei großen Zahlen.
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Weil aber der metasprachliche Begriff als solcher unscharf oder fuzzy ist, können, wenn auch mit geringerer Wahrscheinlichkeit, die Bereiche ebenfalls gemeint sein, die kleiner oder weit größer als 5 bis 10% sind. Niemals ist mit ›einige‹ aber – und genau das schließt die Formalisierung qua Negation aus – nur ein Einziger oder die Mehrheit gemeint.
Transzendentale Konsistenz: Spezifizierung der Taxonomie dritter Ebene Bestimmt man nun die Ideologeme hinsichtlich der Propaganden über po litisch motivierte Gewaltakte, die konsistent zum jeweiligen Ideologem geführt werden können oder genauer: geführt werden sollten, ergibt sich zunächst für das demokratische Ideologem: Vor dessen Hintergrund ist einzig ein entscheidungsfähiger Diskurs und damit einzig eine skeptizistische Propaganda widerspruchsfrei zu führen. An sich kann natürlich jeder beliebige Diskurs geführt werden, und so geschieht es faktisch auch. Aber nicht jeder der Diskurse wird konsistent zum demokratischen Ideologem geführt. Allein der Skeptizismus ermöglicht (damit als notwendige und nicht als hinreichende Bedingung)254 eine demokratische Entscheidung aller, sodass man die Definition des demokratischen Ideologems unter der Zusatzbedingung transzendentaler Konsistenz wie folgt spezifizieren muss: 1.1
Dem(e) (u) Skd(u) Wenn der Entscheidungsprozess ein demokratischer ist, dann führen alle Diskursführer einen skeptizistischen Diskurs.
Mit transzendentaler Konsistenz ist somit eine erweiterte Konsistenz von Propaganden (und, wie später zu sehen sein wird, auch von Entscheidungen) über politisch motivierte Gewalt hinsichtlich ihrer durch die Ideologeme bestimmten Voraussetzungen bezeichnet. In dieser Hinsicht beschreibt transzendentale Konsistenz – daher auch der Name – die Bedingung einer zum jeweiligen Ideologem widerspruchsfreien Möglichkeit der Propaganda. Und vor diesem Hintergrund bestätigt sich dann das, was sich bereits auf der zweiten Ebene der Taxonomie gezeigt hat, auch auf deren dritter Ebene: dass nämlich alle nicht-urteilsfähigen Propagandadiskurse in einem transzendentalen Widerspruch zu demokratischen Prämissen stehen. Nur entscheidungsfähige Diskurse ermöglichen die Entscheidungen aller. 254 | Darum ist in der folgenden Formel die Implikationsrelation nur eine einseitige und keine wechselseitige; vgl. Zoglauer (2008: 41).
Kapitel 2: Logik des Terrors
Allerdings sind nicht-urteilsfähige Propaganden in einem Fall zu einem demokratischen Ideologem konsistent, in dem Fall nämlich, in dem die Propaganda tatsächlich die Ergebnisse einer Mehrheitsentscheidung kolportiert. Das geschieht im Rahmen nicht-urteilsfähiger Propaganden aber in der Regel nicht, sondern ihre eigentliche Funktion besteht gerade darin, dort mehrheitliche Entscheidungen zu behaupten, wo sie (noch) nicht überprüft wurden. Für das diktatorische Ideologem ergibt sich dann unter der Prämisse transzendental konsistenter Diskursführung: Vor dem Hintergrund eines diktatorischen Ideologems können sowohl die nicht-entscheidungsfähigen Propaganden als auch eine skeptizistische Propaganda geführt werden, sodass man die Definition des diktatorischen Ideologems wie folgt spezifizieren kann: 2.1
Dik(e) (u) [Rpd(u) Rmd(u) Ad(u) Skd(u)] Wenn der Entscheidungsprozess ein diktatorischer ist, dann führen alle Diskursführer einen radikal pazifistischen oder einen radikal militaristischen oder einen abgeschwächt propagandistischen oder einen skeptizistischen Diskurs.
Es zeigt sich also, dass sich selbst im Rahmen transzendentaler Konsistenz keine Zusatzbedingungen für die Widerspruchsfreiheit des diktatorischen Ideologems ergeben, da keine der möglichen Diskursarten von vornherein ausgeschlossen bleibt. Nicht etwa nur deshalb, weil Diskursführer und Diktator nicht identisch sein müssen, können neben den nicht-urteilsfähigen auch urteilsfähige Propaganden geführt werden, vielmehr kann auch der Diktator selbst als Diskursführer und alleiniger Entscheidungsträger einen skeptizistischen und urteilsfähigen Diskurs widerspruchfrei führen, und zwar genau so lange, wie er selbst nicht entschieden ist: Selbst wenn Lenin im Jahre 1919 in dem mit Alle zum Kampf gegen Denikin! betitelten Brief – wie gesehen – plötzlich und ganz ohne Umschweife zu einer Entscheidung gelangt 255 und damit letztlich allen vor Augen führt, dass nur er allein dazu bemächtigt ist, über Denikin zu entscheiden, hätte er als Diskursführer trotzdem in einem skeptizistischen Diskurs bleiben können, wie er ihn in der Eingangsformel »Unsere Sache ist es, die Frage offen zu stellen« ankündigt. Allerdings wirkt die skeptizistische Position Lenins genau darum so fadenscheinig, weil seine Entscheidung offensichtlich schon von vornherein, ja bereits im Titel des Briefes, feststeht. Und indem Lenin einen 255 | Siehe nochmals oben, wo ich ausführlich aus Lenin (1979) zitiere.
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Skeptizismus behauptet, den er augenscheinlich nicht vertritt und nie vertreten hat, wird seine offene Lüge schließlich zu einem Widerspruch. Betrachtet man die Möglichkeiten transzendental konsistenter diktatorischer Propagandaführung nochmals genauer, zeigt sich zudem: Im Rahmen diktatorischer Propagandadiskurse müssen bereits die Binnendifferenzierungen auf der ersten Ebene der Taxonomie wegfallen, nämlich jeweils die quantitativen Differenzierungen zwischen Helden und Freiheitskämpfern auf der einen Seite, deren Gewaltakte von (fast) allen bzw. von einer Mehrheit der Entscheider als befreiend befürwortet werden, und zwischen politischen Amokläufern und Terroristen auf der anderen Seite, deren Gewaltakte von (fast) allen bzw. einer Mehrheit von Entscheidern als erschreckend abgelehnt werden. Es bleiben einzig die Beurteilungen von Gewalttätern als Nicht-/Machthaber und von inneren/äußeren Gewaltakten, die unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen der Entscheidungen bestimmt werden. Das resultiert daraus, dass quantitative Differenzierungen im Rahmen eines diktatorischen Ideologems an sich nicht mehr möglich sind, da man, wie gesagt, bei der Diskurshoheit nur einer Person nicht mehr sinnvoll von Mehrheiten und Minderheiten der Entscheidung sprechen kann.256 Für einen radikalen Pazifismus als eine diktatorische Propaganda würde daraus beispielsweise folgen: 2.1.1 Dik(e) Rpd(u) (x,z) [V(x,z) A(x,z)] Wenn der Entscheidungsprozess ein diktatorischer und der Diskurs ein radikal pazifistischer ist, dann werden alle Gewalttäter/ Gewalt taten verurteilt und als Amokläufer/Amoklauf bezeichnet. Aufgrund der ursprünglichen Definition von Amokläufern sind diese zugleich auch Terroristen, weil ›alle‹ eben auch eine Mehrheit darstellt. Umgekehrt sind nicht alle Terroristen zugleich Amokläufer, weil die Mehrheit nicht immer auch ›alle‹ einschließt. Da bei nur einem einzigen Entscheidungsträger, namentlich dem Diktator, Mehrheit und ›alle‹ nun aber zusammenfallen, sind Terroristen im diktatorischen Diskurs stets auch Amokläufer; Amokläufer, die vom Diktator nur noch widerspruchsfrei hinsichtlich ihrer Staatszugehörigkeit und Machthaberschaft klassifiziert werden
256 | Stattdessen entscheidet eine Person als Diktator (etymologisch vom lateinischen ›dictare‹), indem diese buchstäblich allen alles »sagen«, »vorsagen« und »diktieren« kann (Duden 2000: 334), eben auch, wie ein politischer Gewaltakt zu beurteilen ist.
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können.257 Analog würde für einen radikalen Militarismus und eine abgeschwächte Propaganda im Rahmen eines diktatorischen Diskurses gelten: 2.1.2 Dik(e) Rmd(u) (x,z) [¬V(x,z) H(x,z)] Wenn der Entscheidungsprozess ein diktatorischer und der Diskurs ein radikal militaristischer ist, dann werden alle Gewalttäter/ Gewalttaten nicht verurteilt und als Helden/Heldentaten bezeichnet. 2.1.3 Dik(e) Ad(u) (x,z) [¬V(x,z) H(x,z)] (x,z) [V(x,z) A(x,z)] Wenn der Entscheidungsprozess ein diktatorischer und der Diskurs ein abgeschwächt propagandistischer ist, dann werden einige Gewalttäter/Gewalttaten nicht verurteilt und als Helden/ Heldentaten bezeichnet und einige Gewalttäter/Gewalttaten verurteilt und als Amokläufer/Amokläufe bezeichnet. Es zeigt sich hier zweierlei: Einerseits ›zwingt‹258 die Taxonomie einen diktatorischen Entscheidungsprozess gleichsam ins Extrem der Beurteilung des Gewalttäters als einen alle, weil den ›entscheidenden Einen‹ erschreckenden Amokläufer oder nicht-erschreckenden Helden – und das schon auf der ersten Ebene der Taxonomie, die noch jenseits einer bloß behauptenden Propaganda der zweiten Ebene liegt. Anderseits zeigt sich, dass eine bereits auf ihrer ersten Ebene auf Mehrheitsentscheidungen aufbauende Taxonomie insofern gegen einen diktatorischen Beurteilungsprozess ›arbeitet‹, als sie diesen zwar nicht unmöglich macht, aber in eben solche extremen Aussagen treibt, die im Diskurs aller wenn nicht als faktisch unmöglich, so doch als äußerst unwahrscheinlich gelten: Immer gelten im diktatorischen Diskurs politisch motivierte Gewalttäter schon als Helden oder Amokläufer, niemals bloß als Freiheitskämpfer oder Terroristen. Entsprechend gilt für das elitäre Ideologem, weil es sich um ein gemischtes Ideologem handelt, hinsichtlich der Propaganden über politisch motivierte Gewaltakte, die konsistent zu ihm geführt werden können, 257 | Vgl. zur Ausdifferenzierung des Amokläufers und im Folgenden auch des Helden hinsichtlich dieser Kriterien Tabelle 1.1 im Anhang. 258 | Selbstverständlich nicht faktisch oder in jedem Fall, sondern nur im Rahmen der konsequent angewendeten Taxonomie: Lügen kann der Diktator, wie er will, man kann auch über ihn lügen, wie man will, aber letztlich ist der diktatorische Entscheidungsprozess immer (nur) der eines Individuums, namentlich des Diktators, mit den entsprechenden Konsequenzen.
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genau das, was für diktatorische und für demokratische Ideologeme gilt, und zwar hinsichtlich der Gruppen der Entscheider (einige) und der NichtEntscheider (die Übrigen). So kann innerhalb der Gruppe der Entscheider einzig eine skeptizistische Propaganda geführt werden. Nur dieser Diskurs ermöglicht eine demokratische Entscheidung der Entscheidergruppe. Bezogen auf die Gruppe der Übrigen, die Nicht-Entscheider, ergibt sich das, was sich für diese bereits im Rahmen eines diktatorischen Diskurses ergeben hat, nämlich dass sie nichts zu entscheiden haben: Ein elitärer Diskurs – so wie er hier verstanden wird – ist demokratisch nach innen und diktatorisch nach außen.
Mao oder Das Irrationale der Diktatur Am 16. Juni 1966 schwamm der Große Vorsitzende Mao Zedong vor den Augen von Tausenden von Zuschauern, darunter Hunderte von Fotografen, bei Wuhan im Jangtse-Fluss: In einer Stunde und fünf Minuten soll Mao 15 Kilometer in der Strömung geschwommen sein. Die Botschaft war eindeutig. Der zweiundsiebzig jährige ›Steuer mann‹, der den Fotographen in einem weißen Bademantel zuwinkte, war noch bei bester Gesundheit, um die Revolution zu führen. Zu diesem Zeitpunkt entbrannte in Beijing Maos umstrittenste Massenbewegung: die ›Große Proletarische Kulturrevolution‹. Von den heutigen Machthabern in Beijing wird die Epoche als ›Zehn Jahre Chaos‹ bezeichnet. (Wemheuer 2009: 109f.)
Nach dem Scheitern des ›Großen Sprungs‹, von Maos Versuch, China binnen eines Jahrzehnts von einer Agrar- zu einer Industrienation nach kommunistischem Ideal zu formen, was zu geschätzten 15 bis 45 Millionen Todesopfern einer landesweiten Hungersnot führte,259 hatte Mao sich in die zweite Reihe der Parteiführung der Kommunistischen Partei Chinas zurückgezogen und neben Deng Xiaoping Liu Shaoqi die Regierungsgeschäfte überlassen. Nachdem Mao einige Jahre als Mitglied des Zentralkomitees der KPCh im Hintergrund gewirkt und vor allem gegen Liu Shaoqis Machtanspruch gearbeitet hatte,260 sollte es ihm 1966 im Rahmen der Kulturrevolution gelingen, seinen Einfluss wieder zu festigen und Liu Shaoqi 259 | Siehe zu den geschätzten Zahlen Wemheuer (2004: 26ff.). Genaue Zahlen existieren schon deshalb nicht, weil laut Wemheuer (2009: 98, 2004: 26) während der Hungersnot der statistische Volkszählungsapparat in China zeitweise zusammenbrach. 260 | Hierzu ausführlich Dabringhaus (2008: 88ff.).
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ebenso wie Deng Xiaoping abzusetzen. Das Bad im Jangtse diente dabei der medialen Inszenierung von Maos neuem Machtanspruch im Rahmen einer Kulturrevolution, welche Mao nicht nur die Gelegenheit bot, »den rechten Parteiflügel« um Liu Shaoqi »auszuschalten« (Wemheuer 2009: 110), sondern dem Großen Vorsitzenden auch einen flüchtigen Moment der absoluten, der diktatorischen Macht über das chinesische Volk sicherte: Was mit »Wandzeitungen in der Beijing-Universität [begann], auf denen […] alle Studenten und Lehrkräfte zum Kampf gegen konterrevolutionäre Revisionisten aufgerufen wurden« (Dabringhaus 2008: 90), weitete sich zu einer Massenbewegung aus, die schließlich das ganze Land unter der Führung Maos in Bewegung setzte. So schreibt etwa der italienische Romancier Alberto Moravia in einem Reisebericht über die politischen Zustände im China des Jahres 1966: Vor allem zeigt die Kulturrevolution […] zwei Elemente: das Oberhaupt und die Massen. Sie ignoriert, überspringt, vermeidet die bürokratischen, parteimäßigen und intellektuellen Zwischenstationen; sie versucht vielmehr durch Radio, Wandzeitungen und Kundgebungen eine direkte und unmittelbare Beziehung zwischen Mao […] und dem Volk herzustellen. Zweitens – das ist eine noch wichtigere Feststellung – besteht dieses Volk vorwiegend aus jungen Leuten unter dreißig Jahren. Das bedeutet, daß Mao, um die Kulturrevolution auszulösen, sich an den unerfahrensten, unkritischsten, gewalttätigsten Teil der chinesischen Bevölkerung gewandt hat: an die, die leichter verneinen und schneller zerstören können und zu großem Enthusiasmus fähig sind. Schließlich muss man eine andere Tatsache erwähnen: die Beziehung zwischen Mao und der chinesischen Jugend gründet sich nicht einfach nur auf der Bewunderung und Ergebenheit der Getreuen für ihren Anführer, sondern auf das Buch der Mao-Zitate, das heißt, auf die Gedanken Maos. Man kommt wohl der Wahrheit nahe, wenn man behauptet, daß die Kulturrevolution, unter anderem, eine Art politische Schule ist […]; die Rotgardisten sind darin die Schüler und der Lehrer ist Mao. (1968: 40f.)
Glaubt man Moravias Einschätzung,261 dann ist Maos Einfluss in den frühen Jahren der Kulturrevolution so universell, dass er faktisch als Diktator im hier definierten Sinne auftritt. Er diktiert, nicht zuletzt über das 261 | Dafür sprechen auch die historiografischen Texte. So liest man etwa bei Dabringhaus (2008: 93): »Der Mao-Kult erreichte [Ende 1966] seinen Höhepunkt. Mit den Roten Garden verfügte Mao über eine fanatische Gefolgschaft von hoher Emotionalität. Unter dem Einfluss des charismatischen Führers Mao erlebten die Jugendlichen eine Ge sin-
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Medium der ›Mao-Bibel‹, das »Buch der Mao-Zitate«, den Rotgardisten, die wiederum die Kontrolle über das Land übernommen haben, was wie zu entscheiden ist; wer – im Jargon der Rotgardisten – als Revisionist zu verurteilen und gewaltsam zu verfolgen ist, und wer als Revolutionär das Recht zur Gewalt gegen die konterrevolutionären Revisionisten hat. Allerdings sollte sich Maos diktatorische Allmacht nicht als stabil erweisen. Als die Dynamik der Kulturrevolution selbst die Armee zu destabilisieren drohte und damit Maos Macht nach außen, beendete er im April 1969 auf dem 9. Parteitag der KPCh die Kulturrevolution. Er verkündete deren Sieg, zelebrierte den Sturz Liu Shaoqis und setzte einen Teil der vormals gestürzten Parteikader wieder ein. Unter anderem erklärte er dort auch Verteidigungsminister Lin Biao zu seinem Nachfolger. Damit verlor Mao nicht nur den unmittelbaren diktatorischen Zugang zum Volk, Maos Macht begann sich auch wieder auf das ZK der KPCh zu verteilen, sodass sich schließlich, Tragik oder Logik der Machtpolitik, sein designierter Nachfolger Lin Biao 1971 in einem Putsch gegen ihn zu wenden versuchte – ausgerechnet der Mann, der 1961 »die Zusammenstellung von Zitaten vorschlug, aus der 1964 […] die Mao-Bibel entstand, mit deren Hilfe der Mao-Kult während der Kulturrevolution seinen Höhepunkt erreichte« (Dabringhaus 2008: 87). Über das historische Beispiel hinaus scheint Macht generell etwas zu sein, das sich nicht oder nur in Ausnahmezuständen so sehr auf eine Person konzentriert, dass diese als Diktator agieren kann. So konstatiert etwa Byung-Chul Han: Das hierarchische Machtmodell, wonach die Macht einfach von oben nach unten ausstrahlt, ist undialektisch. Je mehr Macht ein Machthaber hat, desto mehr ist er etwa auf die Beratung und Mitarbeit der Untergebenen angewiesen. Er kann zwar viel befehlen. Aber aufgrund der wachsenden Komplexität geht die faktische Macht auf seine Berater über, die ihm sagen, was er befehlen soll. Die vielfachen Abhängigkeiten des Machthabers werden für die Untergebenen zu Machtquellen. Sie führen zur strukturellen Streuung der Macht. (2005: 13f.)
Zwar kann »undialektisch« nicht per se als Ausschlusskriterium für ein hierarchisches Modell der Beschreibung von Macht gelten, aber tatsächlich muss man Han beipflichten, dass (auch) Macht wohl adäquater mittels eines Interdependenzmodells beschrieben ist. Für die Möglichkeit von nungsrevolution, in der die überkommene Normwelt und der bisher verbindliche Wertekontext aufgehoben und durch Maßgaben des ›Großen Vorsitzenden‹ ersetzt wur den.«
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Diktaturen hieße das wiederum, dass in der Regel nicht einer, sondern eine Gruppe die Diskurshoheit gegenüber einer schweigenden Mehrheit innehat; eine Gruppe allerdings mit ungleichen Machtniveaus und Entscheidungsgewalten, deren Mitglieder auf eine Führerfi gur hin ausgerichtet sind. Eine derart modifizierte Beschreibung von Diktaturen formuliert einerseits das diktatorische Ideologem weiter aus, indem ›genau einer‹ nun als ›einer innerhalb einer Gruppe (von ihm) wechselseitig Abhängiger‹ beschreibbar wird, der mit diesen und durch diese erst diktatorisch agieren kann.262 Andererseits wird damit auch das elitäre Ideologem gegenüber dem diktatorischen nochmals differenziert; ist doch das elitäre Ideologem im Gegensatz zum diktatorischen gerade als eine Demokratie nach innen definiert, als ein Zustand also der Gleichverteilung der Entscheidungsgewalt innerhalb einer elitären Gruppe. Zunächst sei aber nochmals das diktatorische Ideologem über seine Implikationen für die Taxonomie erster und zweiter Ebene hinaus nach den ihm selbst vorausgehenden Prämissen befragt. Einen ideengeschichtlichen Ausgangspunkt bietet hier Joseph de Maistre (1753–1821), der in seinen Schriften in einer von jakobinischem Terror und Napoleonischen Kriegen geprägten Zeit einen vorrevolutionären Absolutismus totalitärer Prägung propagiert. Im Zuge dessen entwirft de Maistre eine Anthropologie in der Tradition des Hobbes’schen Diktums vom ›lupus est homo homini‹,263 im Rahmen derer der Mensch als ein von Natur aus ebenso irrationales wie brutales Wesen erscheint: »Er weiß nicht, was er will; er will das, was er nicht will; er will nicht, was er will« (zit. n. Berlin 1992: 162).264 Ebenso deutlich lässt de Maistre sich auch über den Drang des Menschen zur Vernichtung, nicht zuletzt auch seiner selbst, aus:
262 | Dass damit auch absolutistische Monarchien, wie etwa die unter Ludwig XIV., als Diktaturen beschrieben sind, bestätigt letztlich die Definition der Diktatur und umgekehrt den Absolutismus als eine Form der Diktatur, wie auch die folgenden, an de Maistre anschließenden Überlegungen zeigen werden. 263 | Die von Thomas Hobbes in der Widmung von De Cive (1642) nur zitierte Sentenz führt auf den römischen Komödiendichter Plautus (um 200 v. Chr.) zurück. 264 | Ich erlaube mir auch im Folgenden, verschiedene Texte de Maistres nach Isaiah Berlins Das krumme Holz der Humanität. Kapitel der Ideengeschichte zu zitieren, da sich dort nicht nur die Nachweise der – gerade in einer deutschen oder englischen Übersetzung zum Teil schwer zugänglichen – Texte de Maistres finden, sondern weil die Textauszüge dort jeweils auch im französischen Original zitiert werden.
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Terror und Propaganda Eine verborgene und zugleich offenkundige Kraft oder Macht […] hat in jeder Klasse eine bestimmte Anzahl von Tieren dazu bestimmt, die anderen zu verschlingen: so gibt es räuberische Insekten und räuberische Reptilien, Raubvögel, Raubfische und vierbeinige Raubtiere. Kein Augenblick vergeht, in dem nicht ein Lebewesen von einem anderen verschlungen würde. Über alle diese zahlreichen Tierrassen ist der Mensch gesetzt, und seine zerstörerische Hand verschont nichts von dem, was lebt. Er tötet, um sich zu nähren, er tötet, um sich zu kleiden, er tötet, um sich zu schmücken, er tötet, um anzugreifen, und er tötet, um sich zu verteidigen, er tötet, um sich zu belehren, er tötet, um sich zu unterhalten, er tötet, um zu töten. […] Und welches Wesen löscht ihn aus, der alle anderen auslöscht? Er selbst. (1992: 146f.)
Statt daraus aber einen radikalen Militarismus zu folgern, in dem kein Gewalttäter zu verurteilen und die Gewalt eines jeden als natürlich oder gottgegeben legitimiert ist, werden alle Gewalttäter verurteilt – bis auf einen. De Maistre inthronisiert einen Tyrannen, einen Leviathan von Gottes Gnaden.265 Dieser soll, um eine Anomie, einen Kampf aller gegen alle, zu verhindern, alle anderen mit der Macht des Diktators und der erbarmungslosen Gewalt eines Henkers unterwerfen. So muss »alle Größe, alle Macht, alle Unterordnung dem Scharfrichter« zufallen, de Maistres Allegorie des Herrschers. Dieser allein »ist der Schrecken und zugleich das Band aller menschlichen Zusammenschlüsse. Nehmt diesen unbegreiflichen Bediensteten fort aus der Welt, und schon tritt an die Stelle der Ordnung das Chaos, die Throne versinken, und die Gesellschaft verschwindet« (1992: 153). Allerdings geht es de Maistre nicht etwa darum, die Diktatur eines Tyrannen zu begründen. Tyrannei muss für de Maistre weder begründet noch legitimiert werden, sondern ist immer schon durch göttliche Macht legitimiert. In diesem Sinne ist der Diktator von Gottes Gnaden selbst ein Gott und Gott selbst ein Diktator: Es geht nicht darum, rational zu verstehen, was er ist und warum er ist, was er ist, sondern es gilt, an den Diktator wie an Gott zu glauben, sich ihm und seiner Macht ganz und unhinterfragt zu unterwerfen:
265 | Im Gegensatz zu Hobbes’ Leviathan, dessen Allmacht als Allmacht des Staates aus einem Gesellschaftsvertrag aller Staatsbürger resultiert. Diese übertragen qua Vertrag ihr Selbstbestimmungsrecht unwiderruflich auf die übergeordnete Instanz des absolutistischen Herrschers, damit dieser die Sicherheit und den Schutz aller ge währ leistet.
Kapitel 2: Logik des Terrors Die Regierung ist eine wahre Religion; sie hat ihre Dogmen, ihre Mysterien, ihre Diener; sie der Erörterung jedes Einzelnen auszusetzen und sie zu vernichten sind ein und dasselbe; sie lebt nur […] aus einem politischen Glauben, für den sie Symbol ist. Vor allem tut es dem Menschen not, daß seine wachsende Vernunft unter das Doppeljoch [von Kirche und Staat] gezwängt wird, daß sie sich vernichtet, daß sie sich in der Vernunft der Nation verliert, damit sie ihr individuelles Dasein gegen ein anderes, gemeinschaftliches Dasein vertauscht, so wie ein Fluß, der sich in den Ozean ergießt, in den Wassermassen immer noch existiert, aber ohne Namen und ohne gesonderte Realität. (1992: 163)
Wie hier Verstehen und Entscheiden durch einen »politischen Glauben« und das aufgeklärte Subjekt durch die schweigende Mehrheit der Masse ersetzt werden sollen, so scheint es sich auch in den totalitären Diktaturen zu verhalten: Blinde Unterwerfung ist das Ziel, Menschen sind Material, formbare Masse in der Hand des autoritären Souveräns, der mit göttlicher Macht ausgestattet ist. […] [Auch] die Diktatoren des 20. Jahrhunderts suchen durchaus die Nähe zum Göttlichen: Stalin kommt aus einem Priesterseminar in Tiflis und weiß sehr wohl um die Macht des Religiös-Mythischen. Hitler sucht sich als Quasi-Gottheit zu inszenieren, die blinden Gehorsam und blinden Glauben […] verlangen kann und muss – den ›Glauben an den Führer‹. (Groß 2008: 11)
Damit antizipiert de Maistre im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert etwas, das sich als rekurrentes Merkmal moderner Diktaturen des 20. Jahrhunderts zeigt. Dies gelingt ihm offenbar deshalb, weil er, indem er es postuliert, ein Merkmal von Diktaturen an sich identifiziert: dass deren Anführer nämlich stets dazu neigen, Entscheidungen durch Dogmen, Rationalität durch Mysterien und Wissen durch eine religiöse oder pseudoreligiöse Form des Glaubens zu ersetzen. So muss es aus einer aufgeklärten Position, aus der Perspektive der Demokratie, gegen die sich de Maistre so entschieden wendet, erscheinen, und so spiegelt es sich letztlich auch in der westlichen Sicht auf die Kulturrevolution Maos wider: Die Roten Garden erlebten eine emotionale Vergemeinschaftung in der Gefolgschaft Mao Zedongs. Zur dramatischen Eskalation der Ereignisse, die aus der Kulturrevolution die ›zehn schlimmen Jahre‹ machte, kam es durch die Verbindung der Masseneuphorie mit Terror. Denn die fanatischen Jugendlichen waren bereit […] für den Vorsitzenden alles zu tun – auch zu foltern und zu morden. […] [S]o engten sich die Kulturrevolutionäre der 1960er Jahre ganz auf die maois-
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Terror und Propaganda tische Orthodoxie ein. Der Mao-Kult glich einem religiösen Ritual: Zu Arbeitsbeginn verbeugten sich die Menschen vor einem Bild des Großen Vorsitzenden und fragten nach seinen Anweisungen für den Tag; am Abend wiederholte sich das Ritual, und sie berichteten über ihre Leistungen. Maos Sprüche wurden auswendig gelernt. Selbst Geschäftsbriefe begannen mit Mao-Zitaten. Der MaoBibel wurden heilige Kräfte zugeschrieben und es kursierten bizarre Wundergeschichten. (Dabringhaus 2008: 93f.)
Totalitäre Diktaturen, das zeigt sich an Maos Kulturrevolution praktisch und an de Maistres Postulaten theoretisch, setzen explizit oder implizit stets ein Menschenbild voraus, dass den Menschen im Gegensatz zum demokratischen Ideologem, genauer: im Gegensatz zu dessen transzendentalen Prämissen, als Homo sapiens verkennt. Die Unvereinbarkeit von demokratischem und diktatorischem Ideologem liegt gerade darin begründet, dass das eine Ideologem auf der axiomatischen Vorstellung des Menschen als denkenden und damit denken wollenden und sollenden Wesens fußt, während das andere einen ›Homo non sapiens‹ präsupponiert. Beide Vorstellungen sind damit nicht nur widersprüchlich zueinander und somit unvereinbar miteinander, sondern explizieren auch, was es heißt, ein erweitert konsistentes diktatorisches Ideologem zu vertreten. Es heißt, die Vorstellung von fast allen als vernunftbegabten Entscheidern fahren zu lassen. Darin besteht letztlich das gleichermaßen Anmaßende wie Irrationale der Diktatur, in der impliziten oder expliziten Setzung einer irrationalen und damit entscheidungsunfähigen Allgemeinheit, für und über die es als Diktator zu entscheiden gilt. Dabei handelt es sich zugleich um einen Sachverhalt, der – wenig überraschend – kaum mehr sinnvoll im Rahmen einer Taxonomie von Mehrheitsentscheidungen über politisch motivierte Gewalt abgebildet werden kann.266
266 | Vor dem Hintergrund eines einzigen Entscheiders fallen, wie gesehen, Mehrheit und ›alle‹, aber auch ›einige‹ und ›einer‹ zusammen. Indem sich die Quantoren damit ent differenzieren, bedarf es zur adäquaten Abbildung letztlich keiner prädikatenlogischen Modellierung mehr. Man fällt damit auf die Stufe der Aussagenlogik zurück. Das vereinfacht zwar das formale System der Beschreibung, jedoch wird dieses bis zu dem Punkt vereinfacht, an dem man nun – im Rahmen eines formalen Modells diktatorischer Entscheidungen über politisch motivierte Gewalt – keine demokratischen Entscheidungsprozesse, im Grunde keine Entscheidungen mehr formal abbilden kann.
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E xpertendiskurse oder Die Diktatur der Elite Wenn ein elitäres Ideologem per definitionem eine demokratische Entscheidung einiger und damit eine diktatorische Entscheidung über die Übrigen beschreibt, dann kann damit nicht so etwas gemeint sein wie etwa das fehlende Wahlrecht einiger weniger. Eine ›allgemeine Demokratie‹ ist auch dann noch gegeben, wenn beispielsweise in der BRD nur volljährige Staatsbürger wählen dürfen, also buchstäblich fast alle; auch wenn die Festlegung der Altersgrenze keine unwesentliche Frage ist, die ganz zu Recht immer wieder politisch diskutiert wurde. Eine Demokratie ist auch dann noch gegeben, wenn volljährigen Staatsbürgern zudem – in besonderen Ausnahmefällen – das Wahlrecht versagt wird. Nach geltendem Recht kann Straftätern, die zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt wurden, ihr aktives Wahlrecht unter bestimmten Voraussetzungen gerichtlich entzogen werden, etwa bei bestimmten Straftaten wie Wahlfälschung, der Verbreitung von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen oder dem Hochverrat gegen Bund und Länder – und damit nur im Fall einiger, nicht aller politischen Straftaten. Ein Kapitalverbrechen wie ein (nicht politisch motivierter) Mord kann laut StGB dagegen nicht zur Aberkennung des aktiven Wahlrechts führen.267 Das ausschließliche Wahlrecht volljähriger männlicher Staatsbürger, wie es in den meisten Staaten Mitteleuropas bis zum Ende des Ersten Weltkriegs galt, erscheint dagegen knapp hundert Jahre später zweifellos als undemokratisch, wäre aber mit einem elitären Ideologem bereits adressiert. Ein rein männliches Wahlrecht stimmt mit der Definition des elitären Ideologems in allen Punkten überein: Der Anteil der Entscheider liegt unter 50% und zugleich gibt es mehrere Entscheider, die als Elite, hier als Elite der volljährigen Männer, innerhalb der Gruppe der Entscheider demokratisch entscheiden. Selbstverständlich können wir aber (aus der Perspektive der Demokratie) eine solche Regierungsform und Entscheidungsstruktur nicht für demokratisch halten, gerade weil diese zugleich eine Diktatur der Elite über die Übrigen, in diesem Fall über die Frauen und Minderjährigen darstellt: Eine Demokratie ist augenscheinlich nur gewährleistet, wenn sie die Entscheidung (fast) aller ermöglicht, sodass ein elitäres Ideologem aus demokratischer Sicht bereits als ein diktatorisches erscheinen muss. Aus 267 | Siehe hierzu im Einzelnen § 45 StGB (Strafgesetzbuch der BRD) und ergänzend §§ 92, 101, 102, 108 und 109. Online unter http://www.gesetze-im-internet.de/stgb/, Abruf am 29. August 2010. Das passive Wahlrecht, von dem hier nicht die Rede ist, ist mit einer Freiheitsstrafe per se ausgesetzt.
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der Perspektive der Diktatur gilt schließlich das Umgekehrte: Sie bzw. der Diktator muss sich an der ›Demokratie nach innen‹ stoßen. Was für ein reines Männerwahlrecht gilt, gilt beispielsweise auch für die derzeitige Führungselite Chinas. Dabei ist diese durch das elitäre Ideologem in besonderem Maße adressiert, da man es hier mit einer kleinen politischen Führungsschicht aus einigen wenigen zu tun hat, die in der Volksrepublik China über die große Mehrheit entscheidet. Betrachtet man daher nochmals das Plädoyer des Politologen und ehemaligen UN-Botschafters Kishore Mahbubani für das chinesische Modell, erscheint insbesondere ein Aspekt seiner Argumentation problematisch: Zwar hat zum einen Mahbubanis Feststellung ihre Berechtigung, dass die USA mit dem Gefangenenlager in Guantanamo ihren Anspruch infrage stellen, in anderen Nationen Demokratie und Menschenrechte durchzusetzen. Der implizite Vorwurf der Inkonsistenz hinsichtlich der Maßstäbe, die man auf sich selbst und auf andere anwendet, triff t durchaus den Punkt. Zum anderen überzeugt, dass Mahbubani darauf verweist: »Es sollten immer die betroffenen Menschen darüber entscheiden, ob sie Demokratie haben wollen oder nicht. Aber auf keinen Fall andere Staaten«.268 Und auch sein Bekenntnis, »dass auf lange Sicht alle Gesellschaften demokratische Gesellschaften werden sollten« (Spiegel 2008/21: 61), scheint aus demokratischer Perspektive mehr als akzeptabel. Allerdings wird es dann problematisch, wenn nach Mahbubani eben doch nicht alle »betroffenen Menschen«, sondern einzig die Mitglieder der Führungselite die Entscheidung treffen dürfen, wann ihr Land dazu reif sei, ihre elitäre Entscheidungsgewalt mit allen zu teilen. Spätestens hier entpuppt sich Mahbubanis auf unbestimmte Zeit aufgeschobene Demokratie, seine vermeintliche elitäre Protodemokratie als elitäre Diktatur, in der eine politische Führungsschicht nach Belieben Entscheidungen treffen darf, inklusive der Entscheidung darüber, wem wann welche Entscheidungsgewalt zukommt. Dergestalt kann sich schließlich ein elitäres Ideologem wie Mahbubani es zu legitimieren versucht nicht von der Immanenz des Diktatorischen befreien und bleibt aus demokratischer Perspektive buchstäblich unwählbar. Das elitäre Modell, das Mahbubani vorschwebt, unterscheidet sich somit nicht nur von basisdemokratischen Gesellschaftsmodellen, die eine unmittelbare Entscheidung aller (auch über politisch motivierte Gewalt und ihre Täter) faktisch erst ermöglichen würden, sondern ebenfalls von einer repräsentativen Demokratie, in der von (fast) allen gewählte Entschei268 | Wie widersinnig es jedoch ist, sich für eine Diktatur und damit gegen die eigene Entscheidungsmöglichkeit zu entscheiden, zeigen die obigen Überlegungen zum Irrationalen der Diktatur.
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der als Repräsentanten konkrete politische Entscheidungen treffen. Auch dann noch, wenn sich durch die Übertragung der Entscheidungsgewalt immer wieder Diskrepanzen zwischen den potenziellen Entscheidungen aller und den faktischen Entscheidungen der alle repräsentierenden politischen Elite ergeben müssen, bleibt die Entscheidungsgewalt aller doch zumindest als Korrektiv an der politischen Elite bestehen. Eine öffentliche und transparente Politik von Politikern muss sich immer wieder auch an der öffentlichen Meinung ausrichten, wie sich diese umgekehrt an der faktischen Politik ausrichtet. So die Theorie, die strukturell an John Rawls prozessuales Kohärenzmodell anknüpft. Allerdings zeigt der abermalige Blick in die Schriften Rawls’, dass auch dieser, so sehr er der selbstregulierenden Kraft seines Kohärenzmodells vertraut, nicht unbedingt auch auf die uneingeschränkte Entscheidungsfähigkeit aller Entscheider baut. In seiner Outline of a Decision Procedure for Ethics aus dem Jahre 1951 bestimmt er vielmehr eine Reihe von Kriterien, »to define a class of competent moral judges« (1999: 2). Diese Vorauswahl einer Gruppe von Entscheidungsträgern als kompetenten Beurteilern von moralischen und damit auch von Entscheidungen über politisch motivierte Gewalt und ihre Täter269 kann und muss ebenfalls als ein elitärer Ansatz gelesen werden, gerade dann, wenn die vier von Rawls definierten Auswahlkriterien die Gruppe der kompetenten Beuteiler zusehends verkleinern. So fordert Rawls zunächst noch recht moderat, dass »a competent moral judge need not to be more than normally intelligent« (1999: 2), was, so liest man, durch Intelligenztests bestimmt werden soll. Es geht Rawls hier also gerade nicht darum, eine überdurchschnittlich intelligente Elite aus hochbegabten Entscheidern zu bilden, sondern es soll sich vorrangig um normal intelligente Beurteiler handeln,270 die ihr moralisches Verständnis, ihre Einsichten und Intuitionen in den Entscheidungsprozess einbringen: »The degree […] [of intelligence] required should not be set too high, on the 269 | Ich verstehe Entscheidungen über politisch motivierte Gewalt sowohl als Teilmenge von politischen Entscheidungen als auch von moralischen Urteilen. 270 | Auch wenn dieses Kriterium auf der sehr angelsächsischen Idee eines Common sense fußt und gerade deshalb so antielitär daherkommt, muss hier doch bereits die Frage erlaubt sein, ob und wie gut die durchschnittlich begaben Entscheider unter- und überdurchschnittlich Begabte repräsentieren. Vielleicht wäre es hier ja sinnvoller, von einer Teilmengenrelation dergestalt auszugehen, dass die jeweils ›begabtere‹ Gruppe die weniger begabte in ihrer Urteilsfähigkeit repräsentativ inkludiert, oder eben von einem statistisch repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung hinsichtlich der Begabung oder Intelligenz.
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assumption that what we call ›moral insight‹ is the position of the normally intelligent man as well as of the more brilliant« (1999: 2). Auch das zweite Kriterium, das vom Entscheider Informiertheit über die Welt (»things concerning the world about him«) sowie über die empirischen Daten bezüglich der Fälle, über die es zu entscheiden gilt, fordert, ist – wie sich im Folgenden noch zeigen soll – zwar fundamental notwendig für den Entscheidungsprozess, aber wiederum noch nicht notwendig Eliten im hier definierten Sinne bildend. Tatsächlich hätte man es im Falle der Anwendung der ersten beiden Kriterien mit den durchschnittlich Begabten und Informierten mit so etwas wie einer ›Mehrheitselite‹ von über 50% der Entscheidungsträger zu tun. Erst die folgenden beiden komplexen Kriterien engen die Gruppe der Entscheidungsträger dramatisch ein und zeigen, dass es Rawls tatsächlich um eine kleine Elite aus repräsentativen Entscheidern geht. Nach Rawls ist »a competent judge« zunächst noch ganz unverdächtig »required to be a reasonable man« (1999: 2). Das soll jedoch heißen, dass der ›vernünftige‹ Entscheider, und nur ein solcher darf für Rawls überhaupt erst zum Entscheider werden, in der Lage sein muss, nicht nur stets die Begründbarkeit seiner Ansichten zu gewährleisten, indem er die Bereitschaft mitbringt »to use the criteria of inductive logic in order to determine what is proper for him to believe« (1999: 3), sondern dies soll wiederum auf der Basis von Vorurteilslosigkeit und der Fähigkeit geschehen, die eigene Meinung stets »in the light of further evidence and reason« zu überprüfen. Damit ist nicht gerade wenig verlangt, jedoch immer noch nicht genug. Zusätzlich fordert Rawls vom Entscheider »a sympathetic knowledge of […] human interests« (1999: 3). Dieses mitfühlende oder teilnehmende Wissen umfasst nicht weniger als die Fähigkeit, sich in die Interessenlagen aller an einem Konflikt beteiligten Akteure hineinzuversetzen. Dabei soll der Entscheider zudem über so viel Selbstdistanz verfügen, dass er sich nicht nur in die Interessenlagen, sondern auch in Werthaltungen anderer hineinversetzen und so Sachverhalte aus deren Wertperspektive beurteilen kann. Rawls bestimmt damit Merkmale einer idealen Entscheidergruppe, die, alle vier Kriterien zusammengenommen, die Gruppe im faktischen Diskurs wenn nicht gegen null, so doch zu einer kleinen Elite von ebenso wohlinformierten wie hochgradig reflektierten Entscheidern zusammenschrumpfen lässt. Abgesehen von der Frage, ob es gerade im Fall von interkulturellen Konflikten, und im Rahmen solcher geschehen Entscheidungen über politisch motivierte Gewalt in einer Vielzahl der Fälle, überhaupt möglich ist, die Wertperspektive eines kulturell stark differierenden Akteurs vorurteilsfrei innerhalb der eigenen Überlegungen zu repräsentieren, erscheint ein elitärer Diskurs, wie ihn Rawls vorsieht, als einziger elitärer
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Diskurs rational, und zwar darum, weil er im Gegensatz zu einer elitären Diktatur der Männer oder der (ebenfalls männlichen) Diktatur einer chinesischen Führungselite nicht bloß durch tradierte Macht, sondern durch vernünftige und konsensfähige Kriterien begründet ist. Der Diskurs gewährt zwar nicht die Entscheidung aller, aber eine rationale und damit eine Entscheidung an sich, die auch in ihrer Selektion einer Elite der Entscheidungsträger für alle rational nachvollziehbar bleibt – dies allerdings nur unter einer entscheidenden Zusatzbedingung, die Rawls wohl aus den Augen verliert, da es ihm um ethische Entscheidungen geht und nicht um genuin politische Entscheidungen: Die Kriterien zur Auswahl der Entscheidergruppe müssen, gerade weil sie rational nachvollziehbar sein sollen, der Entscheidung aller periodisch unterworfen werden. Anderenfalls unterschiede sich Rawls’ repräsentative, weil alle repräsentierende politische Elite kaum mehr von der ›auf unbestimmte Zeit aufgeschobenen Demokratie‹ einer elitären Diktatur, wie Mahbubani sie vergeblich für China zu begründen sucht. Das heißt, der einzige Unterschied bestünde darin, dass nun nicht Mahbubani im Nachhinein, sondern Rawls von vornherein die Kriterien, die eine elitäre Diktatur begründen sollen, ein für alle Mal diktatorisch festlegen würde. Selbst um das Zusatzkriterium der periodischen Wahl der Auswahlkriterien ergänzt kann man Rawls’ Modell zwar immer noch ablehnen, etwa aufgrund der Unwahrscheinlichkeit einer sicheren Selektion einer Expertengruppe derart idealer Entscheidungsträger; allerdings muss man sich dann auch den Einwand gefallen lassen, wieso in einer repräsentativen Demokratie die Politik von Politikern gemacht werden soll und damit soziale Fragen von sozialen Laien, ökonomische Fragen von ökonomischen Laien, ethische Fragen von ethischen Laien entschieden werden sollen, die als Experten für alles gerade keine Experten sein können. Diese Frage stellt sich insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich nicht nur die Auswahlkriterien für die Experten, sondern auch die Experten und ihre Entscheidungen dem Korrektiv periodischer Evaluationen in Form von (Aus-)Wahlprozessen aller unterziehen ließen.
Habermas oder Das Irrationale der Demokratie Die Möglichkeit eines herrschaftsfreien und in diesem Sinne basisdemokratischen Diskurses formuliert dagegen Jürgen Habermas im Rahmen seiner Diskursethik. Fern jedes Anspruchs, Habermas’ Theoriegebäude, das dieser über die letzten 50 Jahre stetig reformuliert und modifiziert hat, in seinen Feinheiten nachzuvollziehen, ist die Grundkonzeption der Haber-
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mas’schen Diskursethik jedoch an den vorliegenden Diskurs anschließbar, gerade indem sie eine Alternative zu Rawls’ repräsentativem Elitarismus bietet. Während Rawls, wie gesehen, die Rationalität des Diskurses und seiner Ergebnisse primär anhand einer Vorauswahl der Entscheider sichern will, reglementiert Habermas den Diskurs selbst, mit dem Ziel der Gewährleistung eines Diskurses aller; oder, wie es in Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln aus dem Jahre 1983 heißt: [J]ede gültige Norm [muß] der Bedingung genügen, daß die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen (voraussichtlich) ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert (und den Auswirkungen der bekannten alternativen Regelungsmöglichkeiten vorgezogen) werden können. […] Der Diskursethik zufolge kann eine Norm nur dann Geltung beanspruchen, wenn alle von ihr möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses Einverständnis darüber erzielen (bzw. erzielen würden), dass diese Norm gilt. (1983: 75f.)
Normen ergeben sich demnach nur in einem Konsens aller (möglicherweise) Betroffenen. So wird Kants kategorischer Imperativ »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne« (1995a: 310) gleichsam intersubjektiviert. Es ist nicht mehr das einzelne Subjekt mit einer Pflicht zur Verallgemeinerungsfähigkeit seiner Entscheidungen und Handlungen belegt, auch muss sich nicht, wie bei Rawls, die Elite der competent judges in die Interessenlagen aller an einem Konflikt beteiligten Akteure hineinversetzen, sondern handlungsformierende Normen resultieren nun aus einem allgemeinen Diskurs – aller Entscheider als Betroffener und aller Betroffenen als Entscheider. Dabei soll der Konsens als Entscheidung aller, der damit immer auch im Einverständnis aller stattfinden muss, wiederum im Rahmen einer »idealen Sprechsituation« ermöglicht werden (1983: 98). Für diese expliziert Habermas im Anschluss an Robert Alexy die folgenden Regeln:271 (1.1) Kein Sprecher darf sich widersprechen. (1.2) Jeder Sprecher, der das Prädikat F auf einen Gegenstand a anwendet, muß bereit sein, F auf jeden anderen Gegenstand, der a in allen relevanten Hinsichten gleicht, anzuwenden. 271 | Habermas greift mit den Diskursregeln 1.1 bis 2.2 einen – wie es heißt – »Katalog von Argumentationsvoraussetzungen« auf, »den R. Alexy aufgestellt hat« (Habermas 1983: 97). Siehe hierzu auch Alexy (1978).
Kapitel 2: Logik des Terrors (1.3) Verschiedene Sprecher dürfen den gleichen Ausdruck nicht mit verschiedenen Bedeutungen benutzen. (Habermas 1983: 97)
Mit den Regeln 1.1 bis 1.3 soll auf einer logisch-semantischen Ebene neben der grundsätzlichen Möglichkeit der Verständigung (Regel 1.3) die Konsistenz des Diskurses gewährleistet werden – durchaus in dem Sinne, wie sie im Zuge der hier erarbeiteten Taxonomie mit dem Kriterium der Widerspruchsfreiheit bestimmt wurde. Auf einer von Habermas so bezeichneten prozeduralen Ebene272 gelten dann die Regeln 2.1 und 2.2: (2.1) Jeder Sprecher darf nur das behaupten, was er selbst glaubt. (2.2) Wer eine Aussage oder Norm, die nicht Gegenstand der Diskussion ist, angreift, muß hierfür einen Grund angeben. (Habermas 1983: 98)
Während mit der Regel 2.1 so etwas wie ein lügenhafter Diskurs ausgeschlossen werden soll – der Diskurs muss nicht nur rational im Sinne widerspruchsfreier Argumentation, sondern auch aufrichtig geführt werden –, scheint Regel 2.2 zu gewährleisten, dass im Rahmen eines Diskurses nicht willkürlich bereits erzielte argumentative Übereinkünfte und Normen immer wieder ungerechtfertigt hintergangen werden, indem man sie grundlos infrage stellt. Neben diesen logisch-semantischen und prozeduralen Aspekten einer idealen Sprechsituation legt Habermas seinen Schwerpunkt aber auf drei Diskursregeln, die für ihn den Kern seiner Diskursethik ausmachen: (3.1) Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darf an Diskursen teilnehmen. (3.2) a. Jeder darf jede Behauptung problematisieren. b. Jeder darf jede Behauptung in den Diskurs einführen. c. Jeder darf seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äußern. (3.3) Kein Sprecher darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang daran gehindert werden, seine in (3.1) und (3.2) festgelegten Rechte wahrzunehmen. (Habermas 1983: 98f.)
Mittels Regel 3.1 kann laut Habermas eine »unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft« der dazu intellektuell Befähigten gewährleistet, mittels der Regeln 3.2 ein »herrschaftsfreier Diskurs« garantiert werden: »Regel (3.2) 272 | Tatsächlich spricht Habermas hier von »prozeduralen Gesichtspunkten« (1983: 97).
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sichert allen Teilnehmern gleiche Chancen, Beiträge zur Argumentation zu leisten und eigene Argumente zur Geltung zu bringen«. Regel 3.3 schließlich soll, wie es heißt, auch »noch so verschleierte Repressionen« verhindern und so »das Recht auf universellen Zugang zum, wie das Recht auf chancengleiche Teilnahme am Diskurs« fördern (1983: 99). Regel 3.2a ist wiederum durch Regel 2.2 eingeschränkt, indem jeder alles kritisieren darf, aber eben nur begründet. So weit, so gut. Jedoch offenbart sich bei Habermas ein Problem, das aufgrund seines Theoriedesigns letztlich ungelöst bleiben muss: Kaum sind die Regeln einer idealen Sprechsituation eingeführt, versucht Habermas zu begründen, »daß es sich bei den Diskursregeln nicht einfach um Konventionen handelt, sondern um unausweichliche Präsuppositionen« (1983: 99f.). Faktische Diskurse sollen dem kontrafaktischen Diskurs einer idealen Sprechsituation angenähert werden, indem sich die von Habermas gesetzten und insofern kontingenten Diskursregeln in faktischen Diskursen als – irgendwie notwendige273 – Argumentationsvoraussetzungen erweisen. Warum aber sollte das so sein? Betrachtet man etwa Diskursregel 2.1 (»Ein Sprecher darf nur das behaupten, was er selbst glaubt«), stellt sich zwar nicht die Frage, warum er im Rahmen der Konventionen eines idealen Diskurses nicht lügen darf. Die Konventionen schreiben dies vor. Lügen wäre also ein Konventionsbruch. Es stellt sich aber sehr wohl die Frage, warum ein Sprecher im faktischen Diskurs nicht trotzdem die Konvention brechen und lügen sollte: Aus Sollen folgt wie gesagt kein Sein. Habermas argumentiert hier im Anschluss an Karl-Otto Apels Figur des »performativen Widerspruchs«274, eines Widerspruchs also »zwischen dem Inhalt einer Aussage und dem Äußerungsakt« (Reese-Schäfer 2001: 79f.). So kann laut Habermas ein Diskursteilnehmer zwar – gegen Diskursregel 2.1 verstoßend – einen anderen Diskursteilnehmer (H) »mit Hilfe einer Lüge überreden, zu glauben, daß p« der Fall ist. Allerdings kann er den Satz »ich habe H durch eine Lüge davon überzeugt, dass p« der Fall ist (Habermas 1983: 100), nicht behaupten, ohne sich in einen performativen Widerspruch zu verwickeln. Der Grund dafür soll wiederum darin liegen, dass das Prädikat ›überzeugen‹ im Gegensatz zu ›überreden‹ diskursive Aufrichtigkeit impliziert: Wenn jemand sich auf einen Diskurs einlässt, so tut er das laut Habermas gerade unter der Bedingung, überzeugen zu wollen. Das heißt, er tut es im Gegensatz dazu, jemanden bloß überreden zu
273 | Über das Wie der Notwendigkeit wird im Folgenden zu sprechen sein. 274 | Habermas bezieht sich explizit auf Apel (1973) und (1976), hier auf Apel (1976: 55).
Kapitel 2: Logik des Terrors
wollen, eben auch unter der Bedingung, dass er selbst von dem überzeugt ist, was er als wahr behauptet; oder, mit Habermas: Daß die Proposition [2.1] nicht nur hier und da, sondern unvermeidlicherweise für jede Argumentation zutrifft, kann des weiteren dadurch gezeigt werden, daß man den Proponenten, der sich anheischig macht, die Wahrheit von (1)* [Ich habe H schließlich mit Hilfe einer Lüge davon überzeugt, dass p der Fall ist] zu verteidigen, vor Augen führt, wie er sich dabei in einen performativen Widerspruch verstrickt. Indem der Proponent irgendeinen Grund für die Wahrheit von (1)* anführt und damit in eine Argumentation eintritt, hat er u.a. die Voraussetzung akzeptiert, daß er einen Opponenten mit Hilfe einer Lüge niemals von etwas überzeugen, sondern allenfalls überreden könnte, etwas für wahr zu halten. Dann widerspricht aber der Gehalt der zu begründenden Behauptung einer der Voraussetzungen, unter denen die Äußerung des Proponenten allein als eine Begründung zählen darf. (1983: 100f.)
So diffizil Habermas’ Argumentation ist, so problematisch ist sie auch. Letztlich beruht sie auf einer definitorischen Differenzierung zwischen ›überzeugen‹ und ›überreden‹. Definitionen sind aber, wie Wesley C. Salmon weiß,275 selbst nichts anderes als Konventionen, also ausgesprochene oder unausgesprochene Übereinkünfte zwischen den Teilnehmern an einem Diskurs und somit weder etwas, das dem Diskurs notwendig vorausgesetzt ist, noch etwas, das in faktischen Diskursen nicht verletzt oder gebrochen werden könnte. Genauso wenig ist es, unmittelbar an die Argumentation Habermas’ anknüpfend, auch notwendig, dass sich der Lügner auf einen seine Lüge argumentativ begründenden Rechtfertigungsdiskurs einlässt; er könnte jederzeit einfach aus dem Diskurs aussteigen und den Diskursethiker so gleichsam mit seinen Diskursregeln im Regen stehen lassen. Hat doch gerade die Diskussion des diktatorischen Ideologems gezeigt, dass ein Diktator sich nicht von Vernunftregeln überzeugen lassen muss, sondern höchstens, dass es aus Vernunftgründen nicht plausibel erscheint, sich dem Irrationalen der Diktatur und des Diktators freiwillig zu unter werfen. Und so räumt Habermas noch auf derselben Seite ein: »Freilich legt die Regelform […] das Mißverständnis nahe, als würden alle real durchgeführ ten Diskurse diesen Regeln genügen müssen. Das ist in vielen Fällen ersichtlich nicht der Fall, und in allen Fällen müssen wir uns mit Annäherungen zufrieden geben« (1983: 101); und weiter heißt es:
275 | Siehe oben.
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Terror und Propaganda Da nun Diskurse den Beschränkungen von Raum und Zeit unterliegen und in gesellschaftlichen Kontexten stattfinden; da Diskussionsteilnehmer keine intelligiblen Charaktere sind und auch von anderen Motiven als dem einzig zulässigen der kooperativen Wahrheitssuche bewegt sind; da Themen und Beiträge geordnet, Anfang, Ende und Wiederaufnahmen von Diskussionen geregelt werden müssen; bedarf es institutioneller Vorkehrungen […], daß die von den Argumentationsteilnehmern immer schon vorausgesetzten idealisierten Bedingungen wenigstens in hinreichender Annäherung erfüllt werden können. (1983: 102)
Dass Habermas aufgrund dessen nun nicht schlicht eine Angleichung von realen Sprechsituationen an die ideale Sprechsituation mittels »institutioneller Vorkehrungen« fordert, überrascht. Stattdessen betreibt er einen erheblichen argumentativen Aufwand, seine ideale Sprechsituation in Form von präsupponierten Diskursregeln an faktische Sprechsituationen anzubinden (1983: 139ff.), was aber nichts an der Unvereinbarkeit von Realem als Faktischem und Idealem als Kontrafaktischem ändert sowie an dem konzeptionellen Widerspruch, der sich aus Habermas’ primärer Differenzierung und sekundärer Vereinigung idealer und faktischer Diskurse bzw. deren Regeln ergibt. Das wird auch deutlich, wenn man sich einmal kursorisch die logische Struktur von ontischen Modalaussagen vor Augen führt.276 So kann aus kontingenten Regeln keine Notwendigkeit derselben gefolgert werden. Kontingenz ist zwar nicht, wie in einigen Logiken verkürzt dargestellt, »das kontradiktorische Gegenteil« zur Notwendigkeit, indem man ›kontingent‹ einfach mit ›nicht notwendig‹ gleichsetzt (Bucher 1998: 333). Trotzdem bleiben Kontingenz und Notwendigkeit unvereinbar. So heißt es etwa bei Zoglauer (2008: 123) axiomatisch: »Aussagen [p], die möglich [M], aber nicht notwendig [N] sind, nennt man kontingent [K] oder zufällig«. Damit gilt: Kp Mp ¬Np. Aus dieser Aussage lässt sich schließlich die Aussage Kp ¬Np deduzieren,277 womit gilt: »Wenn eine Aussage kontingent ist, dann 276 | Siehe zur ontischen Modallogik ausführlich Bucher (1998: 318ff.) sowie etwa Stro bach (2005: 108ff.) und Zoglauer (2008: 119ff.). 277 | Im Einzelnen gilt unter Anwendung der materiellen Äquivalenz [1] und der Simplifikationsregel [2]: [Kp Mp ¬Np] [1] [(Kp Mp ¬Np) (Mp ¬Np Kp)] Mp ¬Np]. Da nun eine Konjunktion genau dann wahr ist, wenn beide Kon[2] [Kp junkte wahr sind, folgt aus dem Wahr-Sein der Konjunktion Mp ¬Np das Wahr-Sein der Konjunkte Mp und ¬Np. Und da zugleich das Wahr-Sein von Kp das Wahr-Sein der Konjunktion zur Folge hat, geht mit der Gültigkeit von Kp Mp ¬Np die Gültigkeit von Kp Mp und Kp ¬Np einher.
Kapitel 2: Logik des Terrors
ist sie nicht notwendig«. Habermas’ Diskursregeln sind aber gerade deshalb kontingent oder zufällig, weil sie konventionelle Setzungen darstellen. Sie werden so, wie sie sind, (von Habermas) aufgestellt und könnten somit auch anders aufgestellt werden. Genau das bezweifelt Habermas jedoch. So bestimmt Habermas – anders ist seine Behauptung der Notwendigkeit oder ›Unvermeidbarkeit‹ der Diskursregeln eines idealen Diskurses für faktische Diskurse nicht zu verstehen – einerseits die Diskursregeln (DR) als notwendige Bedingungen für einen idealen Diskurs (ID), als, wie es heißt, »unausweichliche Präsuppositionen« (1983: 100) im Rahmen idealer ethischer Diskurse. Das ist tatsächlich plausibel, insofern man ideale Diskurse wohl im Common sense mit der breiten Mehrheit der Diskursführer unseres Kulturkreises so bestimmen wird. Andererseits nimmt Habermas einen idealen Diskurs (ID), der durch eben diese Diskursregeln (DR) bedingt ist, wiederum sicher im Konsens mit den Diskursführern als geboten (O) an. Formal würde dann aus der Konjunktion der beiden Prämissen folgen: [N(ID DR) O(ID)] O(DR).278 Wenn also beides wahr ist, dass die Diskursregeln die notwendige Bedingung eines idealen Diskurses sind und dass ein idealer Diskurs geboten ist, dann sind auch die Diskursregeln geboten – man soll sich also an sie halten. Allerdings hilft auch das nicht sehr viel weiter. Zwar hätte Habermas damit begründet, wie man auf der Basis eines Konsenses bezüglich der Prämissen N(ID DR) und O(ID) Diskurse zu führen hat, namentlich unter dem Gebot der Diskusregeln O(DR). Jedoch folgt aus dem nun begründeten Gebot O(DR), einem Sollen also, auch weiterhin kein Sein. Das wäre nicht einmal so problematisch, da man nun wenigstens die aus einem idealen ethischen Diskurs gewonnenen Regeln für ethische Diskurse als solche begründet fordern kann und zugleich die faktische Verletzung der Regeln (formallogisch) nicht der Forderung nach diesen widerspricht. Wie aus dem Sollen kein Sein folgt, gilt auch die Transposition, dass aus dem Nicht-Sein kein Nicht-Sollen folgt.279 Das Problem besteht letztlich aber in den Prämissen selbst. Diese – und damit auch die Konklusion O(DR) – sind eben nicht an sich notwendig, sprich: unter allen Umständen wahr, son278 | Siehe zum Gebotsoperator (O) der deontischen Modallogik Zoglauer (2008: 135ff.), zum »praktischen Syllogismus«, um den es sich bei dieser Formel handelt, Zoglauer (1998: 60) sowie zu notwendigen Bedingungen respektive »Folgerungsrelationen« Klimczak (2013: 217ff.). 279 | Formal: ¬(Op p) ¬(¬p ¬Op). Beide Terme sind wiederum äquivalent zu ¬p Op, was nichts anderes besagt, als dass etwas gleichzeitig geboten und nicht der Fall ist.
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dern wiederum nur unter der Bedingung eines Konsenses aller. Nur dann könnte Habermas beispielsweise so etwas wie eine transzendentale Notwendigkeit der Prämissen N(ID DR) und O(ID) behaupten.280 Erinnert man sich an die in Kapitel 1 angesprochenen Überlegungen Kants zur Möglichkeit synthetischer Urteile a priori, dann erscheint eine transzendentale Notwendigkeit im Sinne Kants als etwas, von dem man sich nicht denken kann, dass es anders sei. Dieses ›man‹ wären letztlich alle denkenden Wesen, die etwas ausnahmslos und damit notwendig so denken müssen, weil sie es sich eben nicht anders denken können. So kann laut Kant (1995: 54) beispielsweise nichts wahrgenommen werden, ohne dass die Kategorien Raum und Zeit als Bedingungen der Möglichkeit von Wahrnehmung der Wahrnehmung schon transzendental notwendig vorausgesetzt werden. Eine transzendentale Notwendigkeit ließe sich im Falle der Diskursethik also nur über eine Allgemeinheit aller möglichen Diskutanten herstellen. Solange es aber jemanden gibt, gegeben hat oder geben wird, der die Prämissen N(ID DR) und O(ID) infrage stellt oder – entgegen Diskursregel 1.3 – gar nicht erst versteht, kann diese Allgemeinheit im Sinne eines Kant’schen Nicht-anders-denken-Könnens nicht sinnvoll behauptet werden. Was hier von Habermas als transzendental notwendige Bedingung des Diskurses bestimmt werden soll, kann, wenn überhaupt, letztlich erst als Ergebnis eines genau unter diesen Bedingungen stattfindenden Diskurses entstehen, nämlich Allgemeinheit als Zustimmung aller hinsichtlich eines idealen Diskurses. Damit ergeht es den Regeln eines ethischen Diskurses wie allen ethischen Prinzipien und Normen. Sie sind nicht letztbegründbar, und schon gar nicht qua Notwendigkeit: Dass beispielsweise Frauen früher nicht wählen durften, muss uns heute nicht nur als undemokratisch, sondern auch als unmoralisch erscheinen. Dass wir dies heute und vielleicht auch in der Zukunft für unmoralisch halten, aber eben nicht immer schon für unmoralisch hielten, widerlegt bereits die Notwendigkeit dieser ethischen Vorstellung oder Norm, da Notwendigkeit – durchaus auch formal281 – so etwas wie Überzeitlichkeit impliziert. Man könnte zwar behaupten, dass wir heute richtigliegen und damals falschlagen, dass also das, was zu allen Zeiten eine notwendige ethische Regel darstellt, damals verletzt wurde und 280 | Formal würde dann gelten: N[N(I D D R) O(I D)] N[O(D R)]. 281 | Siehe zur standardmäßigen temporalen Interpretation formaler Notwendigkeit in der Folge Saul Kripkes (1993: 26) beispielsweise Zoglauer (2008: 116ff.) sowie Klimczak/Petersen (2015).
Kapitel 2: Logik des Terrors
heute endlich eingelöst wird. Aber wie wollen wir begründen, dass nicht genau das Umgekehrte gilt, wenn wir als ›zeitliche Wesen‹ doch keine überzeitliche Perspektive einnehmen können? Was für das Wahlrecht von Frauen gilt,282 gilt analog auch für die Prinzipien von Allgemeinheit und Gleichheit in Entscheidungsprozessen sowie für ethische Prinzipien überhaupt: Sie können nicht als notwendig angesehen werden. Es zeigt sich also, dass mit der Behauptung transzendentaler Notwendigkeit auch die allgemeine Verbindlichkeit, die von Habermas adressierte ›Unhintergehbarkeit‹ und ›Unvermeidbarbarkeit‹ der Diskursregeln hinfällig werden. Dennoch bringt er mit den Diskursregeln etwas ins Spiel, das eine Verbindlichkeit besitzt, wenn auch eine bedingte: Die Diskursregeln erscheinen als Metagaregeln, wie man einen Diskurs zu führen hat, wenn Allgemeinheit und Gleichheit im Rahmen eines demokratischen und in diesem Sinne ethischen Diskurses gewährleistet werden sollen. Habermas expliziert mit den Diskursregeln nicht mehr, aber auch nicht weniger als Konventionen, die in einer demokratischen Gesellschaft als wünschenswert für einen ideal funktionierenden demokratischen Diskurs, eben einen gleichberechtigten Diskurs aller Betroffenen gelten. Die Differenz aber zwischen (faktischer) Realität und (kontrafaktischem) Ideal bleibt genauso bestehen wie die Lücke zwischen voluntativer Konventionalität und notwendigkeitsstiftender Allgemeingültigkeit. Wenn Habermas mit seinen Diskursregeln also auf der Basis der Prämissen eines demokratischen Ideologems argumentiert und auf ebendessen Basis einen gleichberechtigten Diskurs aller als alternativlos postuliert und in dieser Hinsicht als notwendig fordert, so ist das nicht nur nachvollziehbar, sondern durchaus auch rational. Die Irrationalität der Argumentation beginnt erst dort, wo das Ideologem selbst als alternativlos unterstellt und eine Notwendigkeit konstruiert wird, die nicht notwendig, sondern unmöglich ist: Das Irrationale der Demokratie manifestiert sich gerade an dem Punkt, an dem der demokratische Diskurs nicht nur für ein erstrebenswertes Ideal, sondern für die notwendige und einzige Form der Auseinandersetzung und Vergesellschaftung gehalten wird. Genau das soll im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht geschehen: Eine Entscheidung für das demokratische Ideologem bleibt – im reflexiven Diskurs – immer eine Entscheidung, genauso wie die für eine Widerspruchsfreiheit; also etwas, das von Diskursen über politisch motivierte Gewalt auf der Basis einer aufgeklärten und humanistischen Tradi282 | Man könnte dasselbe mit denselben Ergebnissen natürlich auch an einem ausschließlichen Wahlrecht für Frauen durchspielen.
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tion gefordert werden muss, aber nicht notwendigerweise gefordert werden muss. So wie weder ethische Argumente noch die Entscheidung für einen rationalen und ethischen Diskurs selbst letztbegründet werden können, so ist auch die Entscheidung für ein demokratisches Ideologem nicht letztbegründbar. Das heißt aber nicht, dass man einen rationalen und demokratischen Diskurs in Abwägung gegenüber alternativen Ideologemen nicht trotzdem begründet fordern könnte – und nach dem, was hier gesagt wurde, nicht auch fordern sollte.
Zwischenfazit: Möglichkeiten und Grenzen der Taxonomie In der Abgrenzung zu, aber auch im Anschluss an Habermas’ Diskursethik soll abschließend nochmals nach den Kriterien der Rationalität und der Allgemeinheit gefragt werden, da sich diese im Rahmen der Ausarbeitung der Taxonomie als zentral erwiesen haben. So wurde von vornherein deutlich gemacht, dass es sich sowohl bei Rationalität im Sinne diskursiver Widerspruchsfreiheit als auch bei Allgemeinheit als demokratischer Entscheidung aller durch die Entscheidung Betroffenen allein um präskriptive Aussagen einerseits und axiomatische Voraussetzungen anderseits handelt. Weder die Widerspruchsfreiheit von Diskursen über politisch motivierte Gewalt noch die Beteiligung aller an diesen lassen sich etwa aus der Taxonomie selbst ableiten. Auch stellen Widerspruchsfreiheit und Allgemeinheit keine irgendwie notwendigen Merkmale von beobachtbaren Diskursen dar. Vielmehr stehen ideale widerspruchsfreie und allgemeine Diskurse schon konzeptionell in einer Differenz zu faktischen Diskursen über politisch motivierte Gewalt. Oder, mit Habermas und über diesen hinaus: Aus der Existenz von idealen Regeln folgt nicht schon die faktische Einhaltung derselben. Es bleibt stets eine Lücke oder Differenz zwischen idealen und faktischen Diskursen. Und selbst diese Differenz ist nicht in jedem Fall, sprich: notwendig, gegeben. Beobachtbare Diskurse können die Kriterien der Rationalität und Allgemeinheit in Einzelfällen durchaus ideal einlösen. Dort aber, wo sie es nicht tun, und genau darin liegt die eigentliche Funktion der Taxonomie, können faktische Diskurse anhand der Differenz zu den im Rahmen der Taxonomie entwickelten idealen Diskursen kritisiert werden. Mag die Schwäche der hier entwickelten Taxonomie darin bestehen, dass sie sich gar nicht erst bemüht, Letztbegründungen dafür, warum ein Diskurs über politisch motivierte Gewalt rational und demokratisch sein sollte, anzustreben, so liegt ihre Stärke doch darin, faktische Diskurse überhaupt erst daraufhin überprüfbar zu machen, inwieweit sie ebendiese Kriterien (nicht) erfüllen.
Kapitel 2: Logik des Terrors
Dabei liegt das Rationale der Taxonomie zum einen in der definitorischen Trennschärfe der Begriffe, die – wie sich gezeigt hat – es gerade auf der ersten Ebene der Taxonomie ermöglichen, faktische Diskurse über politisch motivierte Gewalt und ihre Täter in ihrer ungewollten oder strategisch motivierten Unschärfe und Widersprüchlichkeit zu kritisieren. Auf der zweiten Ebene der Taxonomie wurden zum anderen Propaganden als Behauptungen über mehrheitliche Entscheidungen klassifizierbar gemacht, um faktische Diskurse und Propaganden über politisch motivierte Gewalt und ihre Täter hinsichtlich ihrer individuellen und systemischen Widerspruchsfreiheit zu evaluieren. Mediale Diskursweisen und etablierte Diskurshoheiten können so infrage gestellt werden. Diskurshoheiten, wie sie sich etwa zu Beginn des ›War on Terror‹ etabliert haben, kann so rational, sprich: argumentativ konsistent, begegnet werden. Widerspruchsfreiheit gilt dabei als das Kriterium der Entscheidung über und der Beurteilung von Diskursen über politisch motivierte Gewaltakte, indem sie als Basisaxiom der Taxonomie einerseits und der formalen Methode andererseits zugrunde liegt. Damit ist das Merkmal der Widerspruchsfreiheit im Rahmen der angewandten Methode zwar notwendig, aber eben nicht allgemeingültig und damit nicht an sich notwendig. Letztlich ist auch die Wahl formallogischer Methoden eine Wahl und als solche kontingent. Trotzdem kann und soll Widerspruchsfreiheit als Kriterium für Diskurse über politisch motivierte Gewalt sinnvoll gefordert werden, schlicht weil die Alternative eines widersprüchlichen und irrationalen Diskurses zwar denkbar und beobachtbar ist, aber den Prämissen einer aufgeklärten Gesellschaft, als welche sich die westliche Kultur zumindest mehrheitlich versteht, widerspricht. Ein solches Argument bietet zwar keine Letztbegründung, ist aber trotzdem hinreichend, einen rationalen Diskurs im Sinne deskriptiver und argumentativer Widerspruchsfreiheit und Konsistenz, als erweiterte Widerspruchsfreiheit, nicht nur zu fordern, sondern auch der hier entwickelten Taxonomie zugrunde zu legen. Analog kann auch die Entscheidung für eine Allgemeinheit im Sinne eines demokratischen Diskurses begründet werden: Aus den Überlegungen zur Taxonomie dritter Ebene resultiert zwar nicht, dass ein demokratischer Diskurs formal oder transzendental notwendig wäre, jedoch beschreibt Demokratie als Ideologem das basale Selbstverständnis und damit, wenn man so will, zusammen mit einer Marktwirtschaft und einem rechtsstaatlichen System das Basisaxiom der westlichen Gesellschaft. Zugleich hat die Ausarbeitung der Taxonomie insgesamt gezeigt, wie sehr Rationalität und Demokratie einander stützen oder, vorsichtiger ausgedrückt, dass sie insofern konsistent zueinander sind, als sie auch vor dem Hintergrund erweiterter
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Widerspruchsfreiheit vereinbar bleiben. Somit bleibt es dann auch anderen überlassen, eine ›Logik der Diktatur‹ zu entwerfen, die nicht bloß irrational und dogmatisch ist. Die vorliegende Untersuchung tut dies nicht und bietet auch keine Perspektive, wie dies erfolgreich geschehen soll. Wirft man abschließend nochmals einen Blick auf Rawls’ Outline of a Decision Procedure, erweist sich ein weiteres Merkmal als fundamental für den Entscheidungsprozess, nämlich das der Informiertheit. So verlangt Rawls von einem kompetenten Entscheider neben einem grundsätzlichen Wissen um die Dinge in der Welt ganz zu Recht auch eine spezifische Kenntnis der Sachverhalte, über die es zu entscheiden gilt: »Further, a competent judge is expected to know, in all cases whereupon he is called to express his opinion, the peculiar facts of those cases« (1999: 2). Diese Kenntnis der besonderen Eigenschaften eines Sachverhalts speist sich in einer Mediengesellschaft in der Regel nicht aus einer privilegierten Position der Beobachtung der Ereignisse selbst, sondern aus der Beobachtung von Medienereignissen. Wenn in demokratischen Gesellschaften nun potenziell alle Mitglieder der Gesellschaft Entscheidungen treffen sollen, folgt daraus wiederum für die Medien dieser Gesellschaft, dass sie nicht weniger leisten müssen, als entscheidungsfähige Diskurse über politisch motivierte Gewalt zu publizieren. Medien und insbesondere Massenmedien müssen informieren,283 wenn sie die Entscheidung aller ermöglichen sollen; gerade insofern, als man dahingehend argumentieren kann, dass Informiertheit notwendig für eine Entscheidung ist: Ein Akt der Entscheidung setzt – im Rahmen rationaler Diskurse – Informiertheit voraus, da nicht rational über etwas entschieden werden kann, worüber man nicht informiert ist.284 Genau daraufhin müssen im Folgenden die westlichen Massenmedien befragt werden: ob sie und inwieweit sie strukturell in der Lage sind, Information als Voraussetzung der Informiertheit aller am Diskurs Beteiligten zu gewährleisten.
283 | Zumindest dann, wenn man Massenmedien wie hier als Medien versteht, die Mas sen, also potenziell alle, ›bedienen‹. 284 | Affektive Entscheidungen sind zwar möglich und finden auch nicht selten statt, können aber vor dem Hintergrund des bisher Gesagten nicht als rational gelten.
Kapitel 3 Ökonomie der Massenmedien
Wenn Entscheidungsprozesse in einer Mediengesellschaft wie der unseren nicht einfach durch beliebig freie demokratische Abstimmungsverhältnisse bestimmt werden, sondern durch die Struktur der Massenmedien vorgeformt, wenn nicht sogar weitgehend determiniert sind, muss im Folgenden nach der Struktur dieser Medien gefragt werden. Das soll geschehen, indem die Logik eines freien Marktes in ihren zentralen Mechanismen nachvollzogen und daraufhin untersucht wird, inwiefern sie die Information aller als Bedingung der Möglichkeit demokratischer Entscheidungsprozesse begünstigt oder behindert. Dabei ist diese Marktlogik nicht in einem formalen Sinne zu verstehen. Sie beschreibt vielmehr die Mechanismen, die sich aus den marktrationalen Prämissen eines freien, sich ausschließlich selbst regulierenden Marktes ergeben; aus einem Markt also, wie ihn eine liberale und neoliberale Ökonomie seit Adam Smiths Wealth of Nations (1776) propagiert. Dass etwa mit öffentlich-rechtlichen Medien theoretische Gegenmodelle und faktische Alternativen zu einer solchen Theorie und Praxis eines ›freien Marktes der Medien‹ existieren, soll abschließend auf der Basis der – dann auch aussagenlogisch formalisierten – Implikationen einer (neo)liberalen Medienökonomie für die Informiertheit aller diskutiert werden.
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MEDIENTECHNIK
Als der Physiker und Romancier Charles Percy Snow seine drei Jahre zuvor in einem Artikel im New Statesman publizierte These von den ›Two Cultures‹ 1959 an der University of Cambridge vortrug, fand er nicht nur sofort ein breites Publikum – bereits am Tag nach dem Vortrag wurde dieser von der dortigen University Press publiziert (Stichweh 2006: 7) –, Snow löste
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auch einen in den folgenden Jahrzehnten immer wieder aufflammenden Disput über die Unvereinbarkeit der Natur- und Technikwissenschaften auf der einen mit den Geistes- und Kulturwissenschaften auf der anderen Seite aus:285 Während man innerhalb seiner jeweiligen Wissenschafts- und Wissenskultur »Common attitudes, common standards and patterns of behavior, common approaches and assumptions« teile (Snow 1965: 9), sei der Austausch, die Kommunikation zwischen beiden Kulturen, schier unmöglich, da man über keine gemeinsame Sprache verfüge. Zwar wurde Snows These zwischenzeitlich hart kritisiert, beginnend mit der Zahl der präsupponierten Kulturen (Stichweh 2006: 9). Auch scheint Snow allein schon durch die Existenz von Disziplinen wie Wissenschaftstheorie, Technikphilosophie und -soziologie und Forschungsobjekten wie der Technikfolgenabschätzung widerlegt. Allerdings ist die Beobachtung fundamentaler Differenzen zwischen verschiedenen Disziplinen und deren Wissenskulturen selbst kaum zu leugnen; eine Beobachtung, auf der auch Snows eher polemisierende als analysierende These fußt. Man mag von den Kultur- und Geisteswissenschaften halten, was man will, und ihnen gegenüber den Technik- und Ingenieurswissenschaften zu Recht oder Unrecht einen verschwindend geringen Fortschritt vorwerfen.286 Jedoch leisten Erstere etwas, was Letzteren grundsätzlich fremd ist: 285 | Und zwar in ganz unterschiedlichen Gewändern, so etwa im Methoden- bzw. Positivismusstreit in der Soziologie zwischen Theodor W. Adorno und Karl Popper in den 1960er Jahren oder seit den 1990ern in der Wissenschaftsgeschichte, eingeleitet unter anderem durch Bruno Latour, der eine historisch-genetische Trennung zwischen Naturwissenschaft und Kultur- und Sozialwissenschaften rekonstruiert: Die erste unterscheide sich grundlegend von den zweiten, indem sie sich unter Ausschluss aller den Menschen angehenden Fragen der Gesellschaft, Politik, Geschichte und selbst der eigenen Wissenschaftsgeschichte einzig den Objekten der Natur zugewandt habe: »Die Vergangenheit war ein Durcheinander von Dingen und Menschen; Zukunft ist, was sie nicht mehr durcheinanderbringen wird. Modernisierung heißt, immer wieder aus einem die gesellschaftlichen Bedürfnisse mit der wissenschaftlichen Wahrheit vermengenden dunklen Zeitalter hinauszugelangen, um einzutreten in ein neues Zeitalter, das endlich klar unterscheidet zwischen dem, was zur zeitlosen Natur gehört, und dem, was von den Menschen kommt; zwischen dem, was von den Dingen abhängt, und dem, was zum Zeichen gehört« (Latour 1998: 97). 286 | Man könnte allerdings gerade argumentieren, dass Fortschritt in einem technischen Sinne gar nicht das Ziel von Geisteswissenschaften ist, oder, mit Thomas Kuhn (1996), dass auch Naturwissenschaften zwar technischen Fortschritt ermöglichen, trotzdem aber keinen kumulativen Wissensfortschritt generieren, sondern genauso wie die Geistes- und Kulturwissenschaften Paradigmenwechseln unterliegen.
Kapitel 3: Ökonomie der Massenmedien
Während die einen in einem schier atemraubenden Tempo neue Techniken produzieren, reflektieren die anderen (nicht nur, aber auch) über das, was diese Techniken produzieren. Während Physiker,287 Ingenieure und Informatiker unter einem Primat der Machbarkeit Probleme technisch lösen, die ihnen die Natur, die Gesellschaft, der Markt und inzwischen immer mehr auch die Technik selbst stellen, sind sie nicht in der Lage, über das zu reflektieren, was sie in einer Kultur bewirken, bewirken sollen und dürfen. Daran ändern auch einzelne Naturwissenschaftlerpersönlichkeiten nichts, die, wie etwa Robert Oppenheimer nach der Entwicklung der Atombombe,288 öffentlich über die moralischen Folgen ihrer Erfindung sinnieren. Sie tun dies nicht im Rahmen ihrer Disziplin und ihrer Methoden. Umgekehrt fällt es Kultur- und Geisteswissenschaftlern traditionellerweise schwer, nicht immer schon nach der Wirkung und im Fall von Massenmedien nach ›Botschaften‹ zu fragen, die durch diese vermittelt werden, sondern nach der Form und Funktionsweise der Medien selbst. Genau aus diesem Umstand erklärt sich die beispiellose Karriere eines der bekanntesten Slogans der Medientheorie: »Das Medium ist die Botschaft« (McLuhan 1992: 17). Der kanadische Literaturwissenschaftler und Medientheoretiker Marshall McLuhan beleuchtet damit Mitte der 1960er Jahre, in einer Zeit, in der die Allgegenwart von Presse, Rundfunk und Fernsehen kaum mehr zu leugnen war, einen neuen, seiner Meinung nach den Aspekt der Massenmedien. Entgegen der ursprünglichen, korrespondenztheoretisch fundierten Vorstellung, dass Medien bloß über etwas berichten, also – wie es der Begriff des Mediums impliziert – als Vermittler irgendeiner Botschaft, einer Information oder eines Inhalts zwischen einem Sender und einem Empfänger auftreten, soll nun dem Medium selbst eine Funktion innewohnen. Laut McLuhan ist das Medium die Botschaft, indem es unmittelbar auf die Lebenswelt einwirkt: »Denn die Botschaft jedes Mediums, jeder Technik ist die Veränderung des Maßstabs, Tempos, Schemas, die es der Situation des Menschen bringt« (1997: 113). Medien verändern die sozialen Zusammenhänge, und neue Medien schaffen immer wieder neue Lebensbedingungen. Ein historisches Beispiel hierfür bietet etwa die Reformation, die ohne die Erfindung der Druckerpresse durch Gu287 | Genauer: Vertreter einer praktischen oder angewandten Physik, im Gegensatz zur theoretischen Physik. 288 | Robert Oppenheimer war der wissenschaftliche Leiter des Manhattan-Projekts und gilt als ›Vater der Atombombe‹. Nach deren Einsatz in Hiroshima und Nagasaki 1945 setzte er sich schließlich gegen das nukleare Wettrüsten und für eine internationale Kontrolle der Kernenergie ein.
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tenberg nicht denkbar gewesen wäre.289 Erst durch den Druck wurde eine literale Kultur eingeleitet und eine weiträumige Verbreitung der Thesen Luthers, also letztlich die Reformation selbst, ermöglicht. Die gesellschaftliche Wirkung von (neuen) Medien scheint auch unter dem Eindruck der Zeit, in der McLuhan seine These entwickelte, unbestreitbar: So war der Vietnamkrieg in den USA der erste große Fernsehkrieg und erscheint heute als ›Urszene‹ des Golfkriegs 1991 und des ›War on Terror‹: Neben den knapp drei Millionen amerikanischen Soldaten (Frey 2000: 222), die in Vietnam zum Einsatz kamen und mit dem Krieg als Ereignis konfrontiert waren, blieb der Vietnamkrieg für den größten Teil der amerikanischen Bevölkerung ein durch die Medien vermitteltes und in seiner medialen Realität erst generiertes Ereignis; ein Medienereignis also, das als solches kaum zu überschätzen war und nicht nur in den USA das kollektive Trauma des ersten verlorenen Krieges, sondern eine ganze Gegenkultur in Nordamerika und Europa auslöste (Petersen 2004a: 1995). Allerdings scheint hier bereits das Problem von McLuhans Slogan vom Medium als Botschaft auf. Zwar gelingt es McLuhan, erstmals in aller Deutlichkeit das Augenmerk vom Inhalt des Mediums auf seine Funktion zu lenken und damit kurzfristig »den Inhalt als medienwissenschaftliches Problem zum Verschwinden zu bringen« (Leschke 2003: 246), jedoch gelingt es McLuhan nicht, seine These vom Medium als Botschaft darüber hinaus plausibel zu machen. Gerade das angeführte Beispiel zeigt, dass die gesellschaftliche Funktion eines Mediums nicht losgelöst von seinen distribuierten Inhalten zu verstehen ist. Also keine Reformation ohne Drucktechnik, aber auch keine Reformation ohne die Thesen Luthers. Zwar beschreibt McLuhan in Understanding Media aus dem Jahre 1964 das elektrische Licht oder die Eisenbahn beispielhaft als Medien ohne spezifischen Inhalt und damit als Vehikel beliebig austauschbaren Inhalts, die qua bloßer Existenz wirkungsmächtig werden:
289 | Das Beispiel ist nicht beliebig, sondern knüpft an McLuhan an, der in Die Gutenberg-Galaxis aus dem Jahre 1962 ein historisches Dreistufenmodell entwickelt, das sich anhand des Medienwechsels von einer vor allem auf mündlicher Kommunikation beruhenden Kultur hin zu einer durch die Erfindung der Druckerpresse bedingten Schriftkultur und hin zu einer durch das Fernsehen dominierten elektronischen Kultur vollzieht. Siehe hierzu McLuhan (1995) und zur ausführlichen Kritik an McLuhans Geschichtsmodell Leschke (2003: 247ff.).
Kapitel 3: Ökonomie der Massenmedien Elektrisches Licht ist reine Information. Es ist gewissermaßen ein Medium ohne Botschaft, wenn es nicht gerade dazu verwendet wird, einen Werbetext Buchstabe um Buchstabe auszustrahlen […]. Die Eisenbahn hat der menschlichen Gesellschaft nicht Bewegung, Transport oder das Rad oder die Straße gebracht, sondern das Ausmaß früherer menschlicher Funktionen vergrößert und beschleunigt und damit vollkommen neue Arten von Städten und neue Arten der Arbeit und Freizeit geschaffen. (1997: 113)
Eine Welt mit künstlichem Licht und mechanischen Fortbewegungsmitteln ist tatsächlich eine andere als eine Welt ohne diese technischen Errungenschaften, und das auch zunächst einmal unabhängig davon, was diese beleuchten oder transportieren. Allerdings ist McLuhan mit seinen Beispielen bei einem derart universellen Medienbegriff angelangt, dass dieser buchstäblich auf jedes kulturelle Artefakt anwendbar ist und damit nicht nur beliebig, sondern auch inhaltsleer wird. Die Aussage, dass jede technische Innovation, sobald sie kulturell wirksam wird, auf die Kultur einwirkt, ist letztlich tautologisch. Entschärft man jedoch McLuhans Polemik, indem man die These vom Medium als Botschaft auf Massenmedien im hier verwendeten Sinne einschränkt, bleibt sie insofern wirksam, als sie gerade die doppelte Funktion oder Bedeutung dieser Medien herausstellt: »Das Medium ist [zwar auch selbst, aber nicht nur selbst] die Botschaft«. Massenmedien werden, indem sie eine technisch vermittelte Kommunikation zwischen einer Vielzahl von Beteiligten ermöglichen, nicht nur durch ihre Inhalte, sondern auch durch ihre Form wirkungsmächtig, da Massenmedien Kommunikations- und Verhaltensweisen, Wahrnehmungsmuster und Erkenntnisformen prägen. Das ist eine Beobachtung, die Walter Benjamin schon 1936 in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit macht, wenn er vor dem Hintergrund eines frühmodernen Medienwandels – vom Gemälde zum Foto, von der Kunst zum Kino – Medien nicht mehr bloß als neutrale Vehikel der Informationsübertragung betrachtet, sondern als etwas, das auch die Wahrnehmungsweise seiner Nutzer zumindest langfristig beeinflusst: »Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise der Sinneswahrnehmung« (1979: 14). Gut 80 Jahre nach Benjamin und 50 Jahre nach McLuhan stellt sich die Frage jedoch wieder neu und anders. So bemerkt Hartmut Winkler in seiner Diskursökonomie aus dem Jahre 2004:
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Terror und Propaganda Innerhalb der Medienwissenschaften sind die Fragen der Distribution deutlich unterbelichtet. Medien werden als Technologien begriffen, die die Macht haben, den Akten und Inhalten der Kommunikation eine Form aufzuerlegen. Man hat sie als technisch-symbolische Dispositive analysiert, um dieser Prägekraft nachzuforschen […]. Sehr viel schwieriger aber scheint es, den tatsächlichen Verkehr einzubeziehen, der auf den medialen Netzen läuft. […] Meine Hypothese ist, dass die Akte der Kommunikation selbst strukturbildende Kraft haben, […] parallel zum Warenverkehr und zur Ökonomie, wo der einzelne Tauschakt das Atom bildet, aus dem alles, was an Strukturen vorzufinden ist, sich aufbaut. (2004: 7)
Mit Winkler und über diesen hinaus290 beschreiben sich massenmediale Kommunikationsprozesse also in einem reziproken Dreieck von A, massenmedialen Inhalten zeichenhafter oder symbolischer Natur (Kommunikation), B, Massenmedialität bedingenden Strukturen für symbolische Kommunikation (Technik), und C, Prozessen des Warentauschs (Ökonomie), wiederum als Bedingung massenmedialer Kommunikation sowie der technischen Strukturen der Kommunikationsermöglichung. Versteht man die Reziprozität als eine wechselseitige Wirkungsweise, und genau das folgt aus den Überlegungen zu McLuhans Diktum, dann ergeben sich zwischen A, B und C (unter Ausklammerung von Selbstbezügen) sechs mögliche Relationen, A wirkt auf B wie B auf A, B wirkt auf C wie C auf B usw., die es im Einzelnen zu beschreiben und hinsichtlich ihrer Relevanz für das Untersuchungsobjekt – namentlich Entscheidungen über politisch motivierte Gewalt – zu bewerten gilt.
Kommunikation und Technik Betrachtet man zunächst den Einfluss oder die Wirkung, die eine symbolische Kommunikation auf die Kommunikationstechnik, A auf B, und umgekehrt B auf A hat, dann bezeichnet Letzteres genau das, was McLuhan und vor ihm auch schon Benjamin beschreibt, und wird gerade dann plausibel, wenn man McLuhan gleichsam vom Kopf auf die Füße stellt: Massenmedien determinieren zwar nicht die Inhalte der Kommunikation, auch lassen sie diese nicht einfach verschwinden, jedoch produzieren sie
290 | Wenn ich mich auch im folgenden Abschnitt immer wieder auf Winkler (2004) beziehe, so folge ich doch nicht unbedingt seiner spezifischen Fragestellung und Begrifflichkeit.
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ein Dispositiv, das neue Kommunikationsformen generiert und die Kommunikationspraxis neu formiert. Das beschreibt eindrücklich etwa Bernhard Siegert am Beispiel der Post. Ausgehend von der Beobachtung, dass die Post mit ihrer ›Demokratisierung‹ Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland, vor allem aufgrund der drastischen Verminderung des Portos, zu einem Massenmedium avanciert, zeigt Siegert, wie das Postsystem eine neue gesellschaftliche Infrastruktur generiert, die die (Hand-)Schrift als Sozialtechnik mit dem Aufbau eines Transportsystems verschränkt (1993: 110ff.).291 Dabei wird nicht nur ein erst nationales, dann internationales Netz der Kommunikation geschaffen, sondern dieses definiert auch die Position der miteinander kommunizierenden Subjekte. Es fi xiert diese einhergehend mit einem polizeilichen Meldewesen qua Adresse an einem ›bestimmten‹ Ort, »an dem allein die durch ihre Funktion im Diskurs bezeichneten Subjekte existierten« (Siegert 1993: 97): Wollte man nicht von einer Partizipation am gesellschaftlichen Prozess ausgeschlossen bleiben, musste man erreichbar werden und eine Adresse haben. Dennoch ist es nicht plausibel, von einer Allmacht der technischen und institutionellen Dispositive auszugehen und sich wie Siegert im Fahrwasser des frühen Foucault ausschließlich auf die Seite einer medien- und sozialtechnischen Disziplinierung des Individuums zu schlagen.292 Selbstverständlich produzieren Kommunikationsprozesse zwischen Individuen nicht gleichsam von Geisterhand technische Medien der Kommunikation. Genauso wenig wie Telefongespräche Kupferkabel hervorbringen, werden per Chat Glasfaserkabel gelegt oder PCs gebaut. Vielmehr scheinen sich Mediensysteme insofern zunächst »ihren Nutzern gegenüber abzuschotten« (Winkler 2004: 132), als Medientechnik von Spezialisten produziert wird, sodass die technische Neuerung stets einer Kommunikationspraxis durch die Masse der Nutzer vorausgeht.293 Allerdings produziert Kommunikation, wie Winkler anmerkt, zumindest mittelbar neue Techniken, indem Diskurspraktiken implizit Bedürfnisse nach neuen Kommunikationstechniken ›artikulieren‹, die neue und andere Praktiken des Diskurses ermöglichen: 291 | Siehe hierzu neben Siegert auch Winthorp-Young (2002: 143ff.). 292 | Siehe hierzu etwa Foucault (2005: 148ff.) zur »Gouvernementalität« oder Foucault (1997: 461f.) zum »Verschwinden des Menschen« als Individuum. 293 | Dabei nimmt der »Abstand der Medientechnik zu den Äußerungspraktiken« – wie Winkler herausstellt – »historisch« immer mehr »zu, weil es zunehmend Techniken sind, die jeweils neue Techniken hervorbringen« (2004: 134).
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Terror und Propaganda Wenn Medienentwicklung sich auf Bedürfnisse stützt und diese vom jeweiligen Stand der Geschichte/Mediengeschichte mitbestimmt werden, dann scheint der Diskurs, bevor er die nächste Stufe der Medientechnik hervorbringt, zunächst etwas anderes zu produzieren: Ein Negatives, eine Unzufriedenheit, eine Art Defizit, eine Systemspannung, jenes ›Bedürfnis‹ eben, das Voraussetzung für den nächsten Schritt der Medienentwicklung ist. Dieses Negative scheint ungewollt, d.h. im Rücken des Diskurses zu entstehen; wenn es der Motor der Entwicklung ist, wäre es weniger wichtig, was der Diskurs produziert, als was er nicht produziert, was […] unter den gegebenen Umständen unsagbar bleibt. (2004: 142)
Allerdings interessiert vor dem Hintergrund der Entscheidungen über politisch motivierte Gewalt und ihre Täter nicht so sehr die Frage nach dem Einfluss von symbolischer Kommunikation auf medientechnische Entwick lungen (A zu B) wie umgekehrt der Einfluss von Medientechniken und der durch diese produzierten Infrastruktur auf symbolische Kommunikation (B zu A). Sicherlich wäre es interessant, in einer historischen Analyse einmal systematisch danach zu fragen, inwiefern unterschiedliche politische Diskurse unterschiedliche und neue Medien fordern und so mittelbar hervorbringen.294 Auch könnte man beispielsweise darüber spekulieren, ob der Gang zur Wahlurne noch die (medientechnisch) adäquate Form des demokratischen Referendums darstellt. Trotzdem erscheint aber die Frage nach dem Einfluss von massenmedialen Infrastrukturen auf symbolische Kommunikationspraktiken für politische Entscheidungsprozesse als die eigentlich relevante. Einen Ansatzpunkt bietet hier abermals Baudrillard. Baudrillard argumentiert in einer inzwischen in den Kanon der Medientheorie eingegangenen Replik (1972)295 auf Hans Magnus Enzensbergers Baukasten einer The-
294 | Beispielsweise ist zu Pionierzeiten des neuen Mediums viel darüber spekuliert worden, dass erst das Internet das Versprechen der Demokratie als selbst demokratisches Medium vollends einlöst; zusammenfassend dazu Weber (2005: 105). Inzwischen ist hier eher Skepsis angebracht, da das Internet wie alle Massenmedien ausdrücklich auch ökonomischen Zwängen unterliegt. 295 | Baudrillards im Deutschen unter dem Titel »Requiem für die Medien« in Baudrillard (1978a: 83ff.) veröffentlichter Text erschien ursprünglich 1972 als Kapitel der Monografie Pour une critique de l’économie politique du signe. Siehe zur Kanonisierung etwa Leschke (2003: 176ff., 257ff.) oder Helmes/Köster (2002: 254ff., 275ff.), die in ihren Überblickswerken jeweils beide Artikel aufgreifen.
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orie der Medien (1970) mit der strukturellen Monologizität von Massenmedien. Enzensberger dagegen schließt sich in seiner Kritik an der »Kulturindustrie«296 als einer »Bewußtseinsindustrie«, in der sich »der Kapitalismus der Monopole […] rascher und weitgehender« als in allen anderen »Sektoren der Produktion« entfalte (1970: 159), zunächst der Skepsis der Kritischen Theorie gegenüber den Massenmedien an. Er versagt sich dann aber deren Determinismusthese: Massenmedien, die zwar per se manipulativ seien, müssten eben nur von den Richtigen manipuliert werden, um revolutionär und damit gegen die Kulturindustrie und wieder aufklärerisch wirken zu können: Manipulation, zu deutsch Hand- oder Kunstgriff, heißt soviel wie zielbewußtes technisches Eingreifen in ein gegebenes Material. Wenn es sich um ein gesellschaftlich unmittelbar relevantes Eingreifen handelt, ist Manipulation ein politischer Akt. Das ist in der Bewußtseinsindustrie prinzipiell der Fall. Jeder Gebrauch von Medien setzt also Manipulation voraus. […] Ein revolutionärer Entwurf muß nicht die Manipulateure zum Verschwinden bringen; er hat im Gegenteil einen jeden zum Manipulator zu machen. (1970: 166)
Die Massenmedien – Fernsehen, Radio, Zeitungen, etc. und noch nicht das Internet – sollen also buchstäblich wieder zu Medien der Massen werden, indem alle aktiv an ihnen partizipieren: Zum ersten Mal in der Geschichte machen die Medien die massenhafte Teilnahme an einem gesellschaftlichen und vergesellschafteten produktiven Prozeß möglich, dessen praktische Mittel sich in der Hand der Massen selbst befinden. Ein solcher Gebrauch brächte die Kommunikationsmedien, die diesen Namen bisher zu Unrecht tragen, zu sich selbst. In ihrer heutigen Gestalt dienen Apparate wie das Fernsehen oder der Film nämlich nicht der Kommunikation, sondern ihrer Verhinderung. Sie lassen keine Wechselwirkung zwischen Sender und Empfänger zu: technisch gesprochen, reduzieren sie den feedback auf das […] mögliche Minimum. Dieser Sachverhalt läßt sich aber nicht technisch begründen. (1970: 160)
296 | Siehe nicht nur zum Begriff, sondern auch zu der damit verbundenen neomarxistischen Kapitalismuskritik in Gestalt der Kritischen Theorie bekanntermaßen das gleichnamige Kapitel in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung aus dem Jahre 1944 (2004: 12ff.).
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Genau an diesem Punkt widerspricht Baudrillard; er hält eine Wechselwirkung, eine Reziprozität, zwischen Sender und Empfänger im massenmedialen Diskurs für unmöglich und begründet dies gerade »technisch«. Baudrillard geht es dabei, wie Enzensberger, um die Möglichkeit, die Massenmedien als Träger und Vermittler subversiver Botschaften einzusetzen, und damit wiederum um eine Subversion der vor dem Hintergrund der 68er-Bewegung als erdrückend empfundenen Dominanz des kapitalistischen Systems. Sowohl Baudrillard als auch Enzensberger wenden sich in Zuge dessen gegen eine affirmative Medienkritik des »texanischen Kanadiers […] McLuhan« (Baudrillard 1978a: 83), wenn dieser etwa die ›Erweiterung des Individuums‹297 durch die Medien feiert. Gleichwohl argumentiert Baudrillard analog McLuhan und gegen Enzensberger mit der medientechnischen Struktur, welche den Diskurs präfiguriere und Subversion unmöglich mache: »Überschreitung und Subversion […] gehen nicht über den Äther, ohne als solche subtil negiert zu werden« (1978a: 96). [Vielmehr] wird der subversive Akt nurmehr im Dienst der Reproduzierbarkeit hervorgebracht. Er stellt keine Erfindung mehr dar, sondern wird von vornherein als Modell, als Geste produziert. Das Symbolische hat sich aus der Ordnung der Produktion des (politischen und anderen) Sinns in die Ordnung der Reproduktion verlagert, die immer die Ordnung der Macht ist. Das Symbolische wird schlicht und einfach zum symbolischen Koeffizienten, die Überschreitung zum Tauschwert. Das ganze kritisch-rationalistische Denken (Benjamin, Brecht, Enzensberger) sieht darin einen entscheidenden Fortschritt. Die Medien aktualisieren und potenzieren lediglich »den Demonstrationscharakter jeder politischen Handlung« (Enzensberger). Dies stimmt offenbar zusammen mit einer didaktischen Konzeption der Revolution und weiter mit der Dialektik der ›Bewußtwerdung‹ usw. […] In seiner pädagogischen Illusion befangen, vergißt dieses Denken, daß – wenn politisches Handeln sich entschlossen auf die Medien richtet und von ihnen seine Macht erhofft – auch die Medien auf jenes entschlossen sich richten, um es zu entpolitisieren. (1978a: 97f.)
Indem Baudrillard sich hier mit aller Vehemenz gegen die Vorstellung wendet, die Massenmedien könnten als Vehikel der Aufklärung (im doppelten Sinne) verwendet werden, gelingt es ihm, im Anschluss an McLuhan, auch das entscheidende Moment der medialen Entpolitisierung zu identifizieren: »Das genau ist Massenmediatisierung, nämlich kein Ensemble von 297 | Siehe McLuhan (1992), wo bereits im Titel Understanding Media. The Extensions of Man von »Erweiterungen« des Individuums bzw. des Menschen die Rede ist.
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Techniken zur Verbreitung von Botschaften, sondern das Aufzwingen von Modellen« (1978a: 99), vor allen anderen eines Modells der Monologizität. Wenn für Marcel Mauss und ebenso für Jean Baudrillard Gesellschaften auf einem Prinzip des Tausches basieren298 und das Defizit nicht auf der Seite dessen liegt, der etwas gegeben hat, sondern auf der Seite dessen, der eine Gabe erhält, ohne diese erwidern zu können, dann generiert sich für Baudrillard genau daraus die technisch-strukturelle Macht der Massenmedien und umgekehrt die strukturelle Ohnmacht der Massen: Die Massenmedien sind dadurch charakterisiert, daß sie anti-mediatorisch sind, intransitiv, dadurch, daß sie Nicht-Kommunikation fabrizieren – vorausgesetzt man findet sich bereit, Kommunikation als Austausch zu definieren, als reziproken Raum von Rede und Antwort (parole et réponse), als Raum einer Verantwortung (responsabilité) […]. Die Medien sind dasjenige, welches die Antwort für immer untersagt, das, was jeden Tauschprozeß verunmöglicht […]. Darin liegt ihre wirkliche Abstraktheit. Und in dieser Abstraktheit gründet das System der sozialen Kontrolle und der Macht. (1978a: 91) 299
Deshalb besteht für Baudrillard die einzige Option des Widerstands gegen das System – ganz im Gegensatz zu Enzensbergers Strategie der allgemeinen Aneignung der massenmedialen Infrastrukturen – im Aufbrechen und Zerstören einer massenmedialen Rede ohne Gegenrede: »[D]ie einzig mögliche Revolution in diesem Bereich – aber auch in allen anderen Bereichen, die Revolution überhaupt – [liegt] in der Wiederherstellung dieser Möglichkeit der Antwort. Diese einfache Möglichkeit setzt die Umwälzung der gesamten gegenwärtigen Medienstruktur voraus« (1978a: 92). 298 | Siehe hierzu Mauss (1990), auf den sich Baudrillard augenscheinlich bezieht, sowie weiterführend hierzu Petersen (2013: 347f.). 299 | Mit noch deutlicherer, wenn auch wiederum nicht nachgewiesener Referenz auf Mauss (1990) heißt es dann: »Um den Terminus der Antwort richtig zu begreifen, muss man ihn in einem starken Sinne verstehen und dazu sich auf das beziehen, was in den ›primitiven‹ Gesellschaften sein Äquivalent ist: die Macht gehört demjenigen, der zu geben vermag und dem nicht zurückgegeben werden kann. Geben, und zwar in der Weise, dass einem nicht zurückgegeben werden kann, das heißt den Tausch zum eigenen Vorteil zu durchbrechen und ein Monopol aufzurichten: der gesellschaftliche Prozeß ist auf diese Weise aus dem Gleichgewicht gebracht. Zurückgeben dagegen bedeutet, diese Machtbeziehungen zu zerbrechen und auf der Basis einer antagonistischen Reziprozität den Kreislauf des symbolischen Austausches herzustellen (oder wiederherzustellen)« (1978a: 91f.).
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So ehrgeizig das revolutionäre Projekt, so unmöglich gestaltet es sich schließlich: Jeder Versuch, die Inhalte zu demokratisieren, sie zu unterwandern, […] den Informationsprozess zu kontrollieren […] oder die Macht über die Medien zu erobern, ist hoffnungslos, – wenn nicht das Monopol der Rede gebrochen wird, und zwar nicht, um jedem Einzelnen das Wort zu erteilen, sondern damit die Rede ausgetauscht, gegeben und zurückgegeben werden kann, wie manchmal der Blick oder ein Lächeln, und ohne daß sie je angehalten, zum Gerinnen gebracht, gespeichert und an irgendeiner Stelle des gesellschaftlichen Prozesses neu verteilt werden kann. (1978a: 92)
Was Baudrillard bei aller zunächst berechtigten Kritik an Enzensbergers Ansatz vorschwebt, erscheint letztlich wenig plausibel. Genauer: Was vielleicht noch als radikaler Bruch im Rahmen der von Baudrillard und Enzensberger angestrebten Umwälzung der gesamten Gesellschaft seine Plausibilität besitzen mag, verliert diese gänzlich als mögliche Medienpraxis einer modernen und komplexen Gesellschaft. So stellt Baudrillard der Monologizität der Massenkommunikation ein Hier und Jetzt des Austauschs einer möglichst unvermittelten und polysemen Individualkommunikation entgegen. Wie aber soll das möglich sein, wenn in einer modernen Gesellschaft viele miteinander nicht nur kommunizieren wollen, sondern müssen? Zudem übersieht Baudrillard zweierlei: Massenmedien sind erstens nicht per se unidirektional. Man denke etwa an das Telefonnetz und – 50 Jahre nach Baudrillards und Enzensbergers Kritik – an digitale Kommunikation per Blog, Chat, SMS und Mail. Und noch schwerer wiegend ist zweitens, dass Baudrillard bei aller Kapitalismuskritik und aller Rede vom Tausch der ökonomische Einfluss auf die symbolische Kommunikation (welcher technischen Infrastruktur auch immer) aus dem Blick gerät. Während es Enzensberger, noch ganz der marxistischen Theorie verhaftet, um die Eroberung der Massenmedien als Produktionsmittel geht, spielt der Zusammenhang von Ökonomie und symbolischer Kommunikation in Baudrillards Kritik nur noch mittelbar im Rahmen eines generalisierten und polysemen Tauschbegriffs eine Rolle. Erst der Blick aber auf den Einfluss der Ökonomie auf Massenmedien, weniger hinsichtlich ihrer technischen Verfasstheit als hinsichtlich ihrer kommunikativen Praxis, stellt sicher, dass die Kritik das Thema nicht verfehlt: Baudrillard wie Enzensberger setzen in ihren Analysen immer schon voraus, dass Massenmedien im Kapitalismus durch diesen korrumpiert sind, ohne den Einfluss der Ökonomie auf
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die Kommunikationspraxis überhaupt zu beschreiben. Stattdessen fordern beide umso vehementer eine Absage an, eine Revolution gegen das System der Medien wie der Ökonomie. Dagegen stellt sich im Rahmen einer Analyse von Diskursen über politisch motivierte Gewalt zunächst einmal die Frage nach der – vor allem auch ökonomisch bedingten – Möglichkeit der Information (fast) aller und weder nach einer Revolution noch nach einer reziproken Kommunikation aller. Im Zuge dessen zeigt sich, dass Massenmedien in einer modernen Gesellschaft schlicht alternativlos sind. Nur sie können viele zeitnah informieren, unabhängig davon, ob sie qua technischer Struktur monologisch oder dialogisch ausgerichtet sind: Information selbst braucht keine Antwort, erst die Mitteilung der Entscheidung aller am Diskurs Beteiligten bedarf der Möglichkeit der Antwort. Und tatsächlich wäre es heute technisch machbar, permanent Abstimmungen durchzuführen und das repräsentative Moment der westlichen Demokratien zu umgehen, allerdings verstellt das wiederum nur den Blick auf das ursprünglichere Problem. So geht es im Rahmen der Analyse nicht darum, die sozialtechnischen Möglichkeiten von Abstimmungsweisen zu modellieren, sondern darum, den Status quo westlicher Demokratien kritisch daraufhin zu befragen, ob diese im Sinne einer transzendentalen Konsistenz die Bedingungen der Möglichkeit dessen schaffen, was sie zu sein behaupten. Kurz: Wenn Demokratien das sein wollen, als was sie sich ausgeben, müssen sie zumindest zu gewährleisten versuchen, dass sich alle informieren können. Nur so können alle rationale Entscheidungen treffen, nicht nur, aber auch solche über politisch motivierte Gewalt und ihre Täter. Die Fragen, die es also zu stellen gilt, lauten: Ist Information in ihrer zuvor bestimmten Form als urteilsfähige Propaganda in unserem Mediensystem möglich? Wenn ja, wird sie durch einen Markt der Medien begünstigt oder behindert? Wie sich gezeigt hat, verhindert die Monologizität der ›alten‹ Massenmedien wie Fernsehen, Radio, Zeitungen nicht per technischer Struktur eine Informiertheit aller, vielmehr schaffen diese Medien als Massenmedien erst die Möglichkeit derselben. Damit wird auch nicht etwa das Internet oder der Mobilfunk samt SMS gleichsam zur Wunderwaffe der Demokratisierung, selbst wenn beide gerade in jüngster Zeit im Widerstand gegen diktatorische Systeme eine wichtige Rolle gespielt und es etwa der Demokratiebewegung in Ägypten 2011 ermöglicht haben, sich gegen ein Monopol der (alten) staatlichen Medien – Fernsehen, Radio, Zeitungen – zu richten (FAZ.NET 2011/10/01). Stellt man jedoch die Frage nach Information, nicht nach einer Revolution, die dort stattfindet, wo die Information bereits staatlich monopolisiert wurde, dann gilt es die Wechselwirkung von
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Technik, Ökonomie und Kommunikation Während Rita Seidel, die Heldin in Christa Wolfs 1963 veröffentlichter Erzählung Der geteilte Himmel, dem Bremstest eines neu entwickelten Eisenbahnwaggons beiwohnt, sieht sie sich von einem jungen Gleisarbeiter mit einer außergewöhnlichen, einer die Welt verändernden Nachricht konfrontiert: Er, ein Unbekannter, den keiner von uns wiedersehen wird, überbrachte uns die Nachricht. Er stand auf dem Schotter des Nebengleises und sah zu uns herauf. »Wißt ihr’s schon?« sagte er, gar nicht besonders laut. »Seit einer Stunde haben die Russen einen Mann im Kosmos.« Ich sah die Wolken und ihren leichten Schatten auf der fernen lieben Erde. Für ei nen Moment erwachte in mir der Bauernsohn. Der vollkommen schwarze Himmel sah wie ein frischgepflügtes Feld aus, und die Sterne waren die Saatkörner. Wann hörte die Stille auf, die dröhnend den Worten des Jungen folgte? (1994: 170)
Es ist von Juri Gagarin die Rede, davon, dass dieser als erster »Mann im Kosmos« am 12. April 1961 die Erde in 380 Kilometern Höhe umkreiste. Gagarin, der »Bauernsohn«, welcher sich im Zitat unmittelbar in die Szene einschreibt, und seine Pioniertat werden in der Erzählung schließlich als 300 | Exemplarisch hierfür der bereits diskutierte Ansatz von Siegert (1993) oder der von Kittler (1985, 1986). 301 | Exemplarisch hierfür Horkheimer und Adorno (2004) oder Debord (1996), von denen im Folgenden noch die Rede sein wird.
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ein Katalysator fungieren, welcher die Heldin in ihrem Zukunftsglauben an die Realisierung eines nicht nur technischen wie sozialtechnischen, sondern auch moralisch überlegenen Systems von ihrem Geliebten, Manfred Herrfurth, trennt. Während Rita am Aufbau der jungen DDR partizipiert, flieht Manfred resigniert von der DDR in die BRD, vom Sozialismus in den Kapitalismus. In historischer Perspektive erscheint der 12. April 1961 gleichermaßen als ein Höhe- und Endpunkt: An diesem Tag kann die UdSSR und mit ihr deren politisch-wirtschaftliches System ein letztes Mal ihre Überlegenheit gegenüber dem westlichen Kapitalismus demonstrieren. Danach wird sich die sozialistische Planwirtschaft nie wieder in einer technischen Vormacht gegenüber der Marktwirtschaft exponieren können. Von nun an, spätestens aber mit der Mondlandung am 20. Juli 1969, entscheidet der westliche Kapitalismus in seiner nicht mehr einholbaren Fähigkeit, immer wieder neue Technologien hervorzubringen, den Wettlauf der Systeme für sich. Noch fern einer Erklärung ist die Beobachtung frappierend, dass die Markt wirtschaft westlicher Provenienz wie kein anderes (existierendes) ökonomisches System technische Entwicklungen begünstigt.302 In Deutschland zeigte sich das, als nach der Wiedervereinigung 1990 praktisch alle DDR-Betriebe aus dem Technologiesektor abgewickelt werden mussten,303 da sie am Markt nicht konkurrenzfähig gewesen wären; oder in den USA mit der Entwicklung des ARPANET: Man entschloss sich Ende der 1950er Jahre, mit Gründung der Advanced Research Projects Agency die vor allem an Universitäten vorhandenen Großrechner mittels Telekommunikation zusammenzuschließen, um dem damals auch als militärische Bedrohung empfundenen raumfahrttechnischen Vorsprung der UdSSR entgegenzutreten.304 Der Gründung der ARPA folgte 1958 nicht nur die Gründung der NASA (National Astronautics and Space Administration), der elf Jahre später schließlich die Mondlandung gelang; aus dem ARPANET entwickelte sich mit dem Internet auch die kommunikationstechnische Innovation des ausgehenden 20. Jahrhunderts (Weber 2005: 35, 49f.) und mit ihr ein, wenn nicht der Motor eines globalisierten Marktes. Bei aller Vereinfachung eines solchen historischen Abrisses und der Gefahr, in der Verkürzung komplexe Relationen auf monokausale Zusam302 | Zumindest war es bis dato so. Ob ich damit China als einen dritten Weg zwischen Plan- und Marktwirtschaft unterschätze, wird die Zukunft zeigen. 303 | Siehe hierzu ausführlich Kaven (2007). 304 | Dieser begann bereits vor Gagarins Erdumrundung mit dem erfolgreichen Start des künstlichen Satelliten Sputnik 1 im Jahre 1957.
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menhänge zu reduzieren, zeigt sich hier exemplarisch, wie der Markt, wenn auch im Fall der ARPA staatlich initiiert und politisch reguliert, technische Entwicklungen auslöst und begünstigt. Umgekehrt meinen zumindest neoklassische Wirtschaftstheoretiker305 im Rahmen sogenannter Steady-StateTheorien, die grundlegende Bedeutung für ein stabiles Wirtschaftswachstum in der technischen Entwicklung lokalisieren zu können. So meint etwa der Nationalökonom Robert Merton Solow 1956, anhand des nach ihm benannten Solow-Modells mathematisch fundiert nachweisen zu können, dass dauerhaftes Wachstum einzig durch technischen Fortschritt gewährleistet wird. Hatten die klassischen Nationalökonomien des 18. und 19. Jahrhunderts in der Regel einen stationären Zustand noch als Endzustand vorausgesetzt, auf den Volkswirtschaften unausweichlich zustreben, deutet John Stuart Mill einen steady state schon nicht mehr wie seine Vorgänger als »Ende der wirtschaftlichen Prosperität« (Aßländer/Nutzinger 2008: 190), sondern als einen durchaus erstrebenswerten Zustand: Ich kann […] einen stationären Zustand des Kapitals und des Vermögens nicht mit der ausgesprochenen Abneigung betrachten, die die Nationalökonomen der alten Schule ihm allgemein entgegengebracht haben. Ich möchte vielmehr glauben, daß er, im Ganzen betrachtet, eine beträchtliche Verbesserung im Vergleich zu unserer gegenwärtigen Lage bedeuten würde. (Mill 1921: 390f.)
Jedoch bleibt auch bei Mill der stationäre Zustand stets als ein Ziel vorausgesetzt, auf das Volkswirtschaften letztlich zulaufen müssen. Erst Solow (1968: 68ff.) gelingt es schließlich, buchstäblich eine Formel dafür zu finden, wie Stabilität und kontinuierliches Wachstum, wenn man so will: Sicherheit und Fortschritt, miteinander vereinbar werden, indem er herausstellt, dass der eigentliche Anteil des jährlichen Wachstums nicht auf Arbeits- oder Kapitalfaktoren, sondern auf technologischen Fortschritt zurückzuführen ist. Bei aller Kritik am Solow-Modell,306 das allein schon deshalb problematisch ist, weil es einerseits technischen Fortschritt, den es zum Antrieb des 305 | Im Gegensatz etwa zu marxistischen Theorien, für die der Markt stets auf eine Krise zuläuft. Siehe hierzu Stäheli (2011: 54). 306 | Beispielsweise Mankiw et al. (1992), die das Solow-Modell dahingehend überarbeiten, dass sie den Faktor Humankapital/Bildung mit in die Berechnung des Wachstums einbeziehen. Siehe hierzu auch Jones (2002: 22ff., 43ff.), der die mathematische Seite des Solow-Modells und deren Modifikationen erklärt.
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Wachstums erklärt, selbst nicht erklären kann und andererseits Volkswirtschaften nur auf der Basis endogener Faktoren und somit nicht in ihrem Bezug zu anderen Volkswirtschaften erklärt, lässt sich hieran zumindest exemplarisch zeigen, dass der Einfluss von Technik auf Ökonomie ebenso wenig von der Hand zu weisen ist wie der Einfluss des ökonomischen Systems auf die Technik. Marktwirtschaft scheint technischen Fortschritt zu befeuern und technischer Fortschritt Marktwirtschaft, das eine die Expansion, den Fortschritt und das Wachstum des anderen zu begünstigen.307 Die Information aller muss jedoch nicht wachsen, sondern muss – durchaus auch ökonomisch und technisch – für alle ermöglicht werden. Neue Techniken können hier förderlich sein, jedoch produzieren sie Information nicht, noch zerstören sie diese qua ihrer eigenen Infrastruktur. Ob das Entsprechende auch für den Einfluss der Ökonomie auf massenmediale Information (für C auf A) gilt, inwieweit also Marktwirtschaft Kommunikation als Information fördert oder behindert, führt nun zum eigentlichen Untersuchungsobjekt. Zunächst sei aber der umgekehrte Einfluss von Kommunikation auf Ökonomie (A auf C) zumindest angesprochen. Dass Ökonomie Kommunikation bedarf, ohne diese also nicht stattfi nden kann, ist augenscheinlich und wird umso deutlicher, wenn man sich bewusst macht, dass Arbeitsteilung, die Basis moderner Ökonomie, den kommunikativen Aufwand nicht nur addiert, sondern bereits potenziert, ganz zu schweigen von einem globalisierten Aktien- und Wertpapierhandel, wie man ihn heute vorfindet. Arbeitsteilung selbst spielt zwar nicht zuerst, aber prominent bei Adam Smith, dem Begründer der klassischen Nationalökonomie, die entscheidende Rolle für volkswirtschaftliches Wachstum. Für Smith ist »Fortschritt Produktivitätsfortschritt durch Einsatz neuen Kapitals und verbesserte Arbeitsteilung« (Sturn 2008: 76; Smith 1999: 92ff.). Dabei wird Arbeitsteilung für Smith nur um den Preis eines drastisch ansteigenden Kommunikationsaufwands vorstellbar: Mit der Spezialisierung einzelner Produktionsabläufe wird die wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Produzenten einzelner (Teil-)Güter existenziell und muss kommunikativ reguliert werden.308
307 | Ohne das hier im Einzelnen belegen zu können, was meines Wissens aber auch der Wirtschaftstheorie bisher nicht befriedigend gelungen ist. 308 | Siehe hierzu ausführlich Winkler (2004: 71ff.), der sich in seiner Darstellung des bereits seit dem frühen 17. Jahrhundert theoretisch reflektierten Zusammenhangs von Arbeitsteilung, Handel und Kommunikation insbesondere auf eine Studie von Armand Mattelart (1996) bezieht, sowie Smith (2005: 92ff., 1996: 179ff.).
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Wenn damit die eine Seite der Reziprozität von Ökonomie und Kommunikation in ihrem historischen Zusammenhang skizziert ist, stellt sich nun schließlich die Frage nach dem Ist-Zustand massenmedialer Kommunikation, insbesondere solcher über politisch motivierte Gewalt und ihre Täter, unter den Bedingungen einer kapitalistischen Marktwirtschaft. Unter genau diesen ökonomischen Bedingungen finden westliche Demokratien sowie deren Mediensysteme heute statt. Genau diese Bedingungen müssen daher betrachtet werden, will man eine Ökonomie der Massenmedien und ihren Einfluss auf Entscheidungen über politisch motivierte Gewalt verstehen. Um im Zuge dessen aber nicht wie Enzensberger und Baudrillard auf der Basis des axiomatischen ›Wissens‹ darum zu argumentieren, dass Kapitalismus und Marktwirtschaft die Information per se korrumpieren, soll im Folgenden das kapitalistische System des Marktes nicht mehr als ebenso amorphes wie polysemes Ganzes betrachtet werden. Vielmehr muss ›der Markt‹ in seinen spezifischen Mechanismen der Informationsermöglichung untersucht werden, um ihn nicht mehr in der Aufsicht aufs Ganze, sondern in seinen einzelnen Teilen und Routinen und damit tatsächlich erst analytisch zu betrachten.
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MEDIENWERT THEORIE
Wie es sich bereits im Rahmen der Überlegungen Baudrillards gezeigt hat, stellt die zentrale Kategorie wirtschaftlicher Praxis und der Beschreibung derselben der Tausch dar.309 Hartmut Winkler spricht dementsprechend auch vom »Tauschakt« als »Atom […], aus dem alles, was an Strukturen vorzufinden ist, sich aufbaut« (2004: 7). Darüber hinaus hat der Rekurs auf Adam Smith, den Begründer der klassischen Ökonomie, gezeigt, dass Arbeitsteilung als ein weiterer zentraler Mechanismus ökonomischen Handelns ohne Tausch, materiellen und damit ökonomischen einerseits, symbolischen und damit kommunikativen andererseits,310 nicht praktizierbar und spätestens seit dem frühen 17. Jahrhundert nicht mehr denkbar ist. Winkler verweist in diesem Kontext auf Antoine de Montchrestien: »Die Vorstellung einer ökonomischen Zirkulation […] ist eng verbunden mit dem Modell der Arbeitsteilung. Montchrestien, der 1615 den Begriff der 309 | Ausführlich hierzu auch Petersen (2013). 310 | Dass eine solche Differenzierung spätestens mit dem Wertpapier- und Aktienhandel kaum mehr haltbar ist, zeigt sich am immateriellen respektive zeichenhaften Charakter von Wertpapieren und Aktien. Vgl. hierzu etwa Vogl (2010).
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Politischen Ökonomie prägt, visiert [bereits] eine ›intra-national diversion of labor‹ an« (2004: 72). Und Adam Smith spricht hundert Jahre später über die Grenzen nationaler Ökonomie hinaus von Arbeitsteilung als dem Prinzip menschlichen Handelns: Die Arbeitsteilung, der so viele Vorteile zu verdanken sind, ist ursprünglich nicht das Werk menschlicher Weisheit, die jenen allgemeinen Wohlstand, zu dem sie führt, vorgesehen und bezweckt hätte. Sie ist die notwendige, wenn auch sehr langsame und allmähliche Folge einer bestimmten Neigung der menschlichen Natur, der kein so weitreichender Nutzen vorschwebt: der Neigung, zueinander in Beziehung zu treten, zu handeln und tauschen. (2005: 97)
Wenn Arbeitsteilung wie Tausch auch nicht aus dem Wissen um deren Vorteile entstehen soll, schlicht weil sie eine notwendige Folge der menschlichen Natur sei, so steht der Segen der Arbeitsteilung für Smith doch außer Frage: Eben die große Vervielfachung der Produkte aller verschiedenen Handwerkszweige infolge der Arbeitsteilung lässt in einer gut regierten Gesellschaft jenen allgemeinen Wohlstand entstehen, der sich bis in die untersten Schichten erstreckt. Jeder Arbeiter verfügt über seinen eigenen Bedarf hinaus über eine große Menge eigener Arbeitsprodukte; und da jeder andere Arbeiter in genau der gleichen Lage ist, wird es ihm möglich, eine große Menge seiner eigenen Güter für eine große Menge, oder, was auf dasselbe hinausläuft, für einen Preis einer großen Menge der [Güter] der anderen einzutauschen. Er versorgt sie vollauf mit dem, was sie brauchen, und sie beliefern ihn ebenso reichlich mit dem, was er braucht; und allgemeine Güterfülle verbreitet sich durch all die verschiedenen Gesellschaftsschichten. (2005: 95)
Marx wird das bekanntermaßen, wiederum hundert Jahre später, angesichts der Folgen einer industriellen Revolution, die die Arbeitsteilung bereits ins Extrem getrieben hat, deutlich skeptischer einschätzen.311 Und trotzdem gibt es Gemeinsamkeiten zwischen beiden: Wenn Smith hier von 311 | Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang auf Marx’ ›Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate‹ verwiesen (Marx 1962, Bd. 25: 220ff.). Dieses besagt in seiner Konsequenz, dass der im kapitalistischen Produktionsprozess, um Lohnkosten zu reduzieren, notwendige und zunehmende Einsatz von Maschinen letztlich dem Arbeiter seine Existenzgrundlage entziehen und zur Verarmung des Proletariats führen muss. Im Detail hierzu Gehrke (2008: 232ff.) und Dobb (1977: 174ff.).
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einem in Währung bemessenen »Preis« spricht, dann resultiert dieser für Smith wie auch für Marx noch aus einem Wert, den man den Waren oder Gütern als Arbeitsprodukten zuschreiben kann, den diese Arbeitsprodukte letztlich besitzen sollen. Während der Begriff des Werts heute aus dem ökonomischen Diskurs fast gänzlich verschwunden ist,312 bestimmt Smith den Wert eines Gutes, genauer seinen Tauschwert, im Gegensatz zu seinem Gebrauchswert, noch aus den »für seine Herstellung notwendigen Kosten«, im Einzelnen »Arbeits-, Kapital- und Bodennutzungskosten« und damit in seiner historisch ursprünglichsten Form, namentlich in einem »Urzustand ohne Kapitaleigentum und Grundbesitz« (Riese 1977: 549f.), als Arbeitswert: Sie [die Güter] enthalten den Wert einer bestimmten Menge Arbeit, die wir gegen etwas tauschen, das unserer Meinung nach zu gegebener Zeit den Wert einer gleichen Menge Arbeit enthält. Arbeit war der erste Preis, das ursprüngliche Kaufgeld, das für alles bezahlt wurde. Nicht mit Gold oder Silber, sondern mit Arbeit wurde aller Reichtum der Welt ursprünglich erkauft […]. (Smith 2005: 111)
Noch expliziter und nun auf seine Gegenwart bezogen, schreibt Smith dann: Der reale Wert all der verschiedenen Preisbestandteile wird […] durch die Arbeitsmenge gemessen, die für jeden von ihnen gekauft oder verfügbar gemacht werden kann. Die Arbeit mißt den Wert nicht nur jedes Teiles des Preises, der zu Arbeitslohn wird, sondern auch jedes Teiles, der zu Rente, und jedes, der zu Gewinn wird. (2005: 128)
Trotz komplett unterschiedlicher ideologischer Voraussetzungen313 unterscheidet sich Marx’ Wertbegriff nur graduell von dem Adam Smiths. Auch 312 | Während der Begriff etwa in der Ethik noch immer floriert und eine solche ohne den Begriff des Werts kaum denkbar wäre. Und dort, wo der Begriff des Werts seit dem späten 20. Jahrhundert im ökonomischen Diskurs wieder auftaucht, geschieht dies dann auch in Gestalt der moralischen Kategorie der ›Wirtschaftsethik‹; vgl. Riese (1977: 552). 313 | Smith plädiert im Kern für einen sich selbst regulierenden freien Markt. Marx argumentiert gegen einen die Ausbeutung des Arbeiters gewährleistenden Markt. Smiths sprichwörtliche ›unsichtbare ordnende Hand‹ des Marktes wird bei Marx knapp 100 Jahre später so gleichsam zum Würgegriff monopolistischer Kapitalverdichtung.
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für Marx hat ein Gut letztlich nur aus einem Grund einen Wert, genauer einen Tauschwert. Der Gebrauchswert spielt im Rahmen kapitalistischer, also Kapital bildender Produktion zunächst einmal keine Rolle. »Ein Gut hat deshalb einen Wert, weil abstrakt menschliche Arbeit in ihm materialisiert ist, die […] als gesellschaftlich notwendige Arbeit definiert wird« (Riese 1977: 548); wobei sich für Marx, im Gegensatz zur klassischen Werttheorie – von Adam Smith über David Ricardo bis John Stuart Mill –, der Wert der Arbeit nicht am Beitrag der Arbeit zum Produkt, sondern an den Reproduktionskosten der Arbeitskraft des Arbeiters bemisst, nach »dem Wert seiner gewohnheitsmäßigen Lebensmittel«314 (Marx 1962, Bd. 23: 563). Wird der Wertbegriff damit bei Marx zunehmend fluide, indem er sich von der Arbeit als Residualkategorie hin zu deren Reproduktion verschiebt und spätestens im dritten Band des Kapitals nicht mehr konsistent zu der aus einem Konkurrenzmechanismus entwickelten Preistheorie erscheint (Gehrke 2005: 299), so löst sich der Wertbegriff Ende des 19. Jahrhunderts schließlich vollständig auf: Die subjektive oder neoklassische Werttheorie, die Anfang der [18]70er Jahre […] fast zeitgleich von Menger, Jevons und Walras begründet wurde, ist als Reaktion gegen den eklektischen Charakter der klassischen Wertlehre und ihr Versagen, auf befriedigende Weise Kosten auf Arbeit […] zurückzuführen, zu verstehen. Zudem forderte die politische Brisanz der marxistischen Arbeitswertlehre zu einer Gegenposition heraus. (Riese 1977: 550)
Diese Gegenreaktion, die das bis heute vorherrschende ökonomische Paradigma etablierte, bestand nun darin, dass man sich von einem unabhängigen, objektivierbaren und in der Arbeit bzw. deren Erhaltung materialisierten »realen Wert« (Smith 2005: 128) abwendet und den Preis einer Ware allein am Markt bestimmt.315 Der ›Wert‹ als Preis eines Gutes, auch des Gutes der Arbeitsleistung, ergibt sich nun (nur noch) daraus, was die Akteure am Markt bereit sind dafür zu zahlen. Entsprechend liest man heute in einem beliebigen ökonomischen Lehrbuch: Es ist charakteristisch für die moderne (neoklassisch geprägte) Mikroökonomie und darin unterscheidet sich dieser Theoriezweig sehr deutlich von seinen Vor314 | »Lebensmittel« meint hier nicht bloß Nahrungsmittel, sondern alle zum Lebenserhalt notwendigen Mittel, wie Wohnung, Kleidung, Gesundheitsversorgung etc. 315 | Zum Folgenden in historischer Perspektive und bezogen auf William Stanley Jevons siehe Dobb (1977: 185ff.).
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Terror und Propaganda läufern, insbesondere der klassischen Wirtschaftstheorie –, Preise allein aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage heraus zu erklären. (Oberender/Fleischmann 2005: 89)
Dieses »allein« der Erklärung wird allerdings nur im Rahmen eines zum Ideal bereinigten Modells möglich: »Betrachten wir einen einzelnen Markt (Partialanalyse) für ein homogenes Gut; auf diesem Markt herrschen vollkommene Transparenz, unendliche Reaktionsgeschwindigkeit und atomistische Marktstruktur«. Unterstellt man zudem eine »vollkommene Konkurrenz« (2005: 89f.), so ergibt sich vor dem Hintergrund »dieser rigorosen Vereinfachung« ein Preisgleichgewicht bzw. ein »Gleichgewichtspreis […] als Schnittpunkt von Angebots- und Nachfragefunktion« (2005: 91); und dies wiederum allein motiviert durch das rationale Eigeninteresse der »Gewinnmaximierung« aufseiten aller beteiligten Akteure (Abromeit 1977a: 553). Dass Güter nicht homogen, Märkte weder gänzlich transparent noch unabhängig sind, die Reaktionsgeschwindigkeit nicht unendlich schnell und Konkurrenz nicht vollkommen ist, darum weiß auch der neoklassische Ökonomiediskurs und reagiert mit einer Ausdifferenzierung und Verfeinerung des Modells. Faktoren werden ergänzt, Untersuchungsbereiche auf Partial- und Mikrostrukturen begrenzt und das Grundmodell wird immer wieder aufs Neue modifiziert, ohne dabei das Modell jedoch ums Ganze zu verschieben. Den Kern der Preisbildung bilden Angebot und Nachfrage auf der Basis subjektiver Wertzuschreibungen; eines Werts, der sich in Währung, in Geld bemisst. Der »Geldwert« selbst, genauer müsste man nun sagen: der Geldpreis, bestimmt sich dann daran, wie viel von etwas man für Geld kaufen kann, genauer: »welche Menge an Gütern und Dienstleistungen oder des Volkseinkommens mit einer Geldeinheit erworben werden kann« (Borchert 2001: 25). So liest man beispielsweise in Wilhelm Röpkes 1937 verfasster und bis 1994 in zwölf überarbeiteten Neuausgaben erschienener Lehre von der Wirtschaft: Schon der Begriff der Kaufkraft des Geldes – auch ›Geldwert‹ genannt – ist problematisch. Im Gegensatz zu den Waren hat ja das Geld als Gut, in dem die Warenpreise ausgedrückt werden, selbst keinen Preis, wenigstens nicht innerhalb des Gebietes, in dem es als Geld zirkuliert. […] Der Devisenkurs kann uns also nicht helfen, ebensowenig wie die Feststellung, daß der Franken für hundert Rappen, eine Mark für hundert Pfennige erworben werden kann. Helfen kann uns nur der Gedanke, daß die Kaufkraft des Geldes in der größeren oder geringeren Höhe zum Ausdruck kommt, mit anderen Worten das Verhältnis wi-
Kapitel 3: Ökonomie der Massenmedien derspiegelt, zu dem durchschnittlich Geld und Güter gegeneinander getauscht werden. Steigen die Preise, so sinkt die Kaufkraft; sinken die Preise, so steigt sie. […] Die Kaufkraft des Geldes kann also nur durch [ein] Bündel von Gütern und Leistungen gemessen werden, die man durchschnittlich für eine Einheit des Geldes kaufen kann. (1994: 145f.)
Die Skepsis, die durch Röpkes Zeilen hindurchscheint und in die Aussage mündet, dass man letztlich »wenig […] mit einer solchen Definition anfangen« könne (1994: 146), resultiert aus dem Umstand, dass der ursprüngliche Text gut zehn Jahre nach der Aufhebung der Goldkernwährung verfasst wurde,316 bei welcher Banknoten »durch einen Goldschatz bei der Zentralbank gedeckt« und zumindest theoretisch »jederzeit in Gold einlösbar« waren (Borchert 2001: 2).317 Während für Röpke im Rahmen einer Golddeckung der Banknoten (mit Referenz auf Schiller) gilt: »Alle Warenwerte mögen sich ändern – der Goldpreis bleibt unverrückbar derselbe, er ist der ›ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht‹« (Röpke 1994: 157), verliert das Geld, indem es nicht mehr durch Gold gedeckt ist, seinen dem Tauschprozess entzogenen Referenten, der dessen Wert exogen 316 | Die Erfahrung der Inflation 1918 bis 1923 leistete da ein Übriges. So spricht sich Röpke explizit gegen die Abschaffung der Goldkernwährung aus und warnt vor der damit verbundenen Gefahr einer neuerlichen Inflation (Röpke 1994: 134, 136ff., 157). 317 | Die Goldkernwährung wurde in Deutschland bereits vor dem Zweiten Weltkrieg im Jahre 1924 aufgehoben. Joseph Vogl rekonstruiert das kurze internationale Nachleben der Goldkernwährung im Abkommen von Bretton Woods der Jahre 1944 bis 1973, an dem ursprünglich 44 Länder beteiligt waren, die unter der Führung der USA mittels eines gemischten Systems aus »Anker-« und »Goldkernwährung« (Borchert 2001: 2) eine Neuordnung der Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg anvisierten: »Mit Blick auf die Stabilisierung des internationalen Zahlungsverkehrs, die uneingeschränkte Konvertierbarkeit von Währungen und eine ungehinderte Zirkulation von Waren und Kapital wurde die Herstellung verlässlicher Wechselkurse […] an einen finanzökonomischen Automatismus und mit ihm an die Einrichtung eines Goldstandards gebunden. Alle Währungen wurden auf ein fixes bzw. abgestuft flexibles Verhältnis zur Leitwährung des US-Dollars verpflichtet, dieser aber auf eine feste Umtauschrelation zum Gold. Was von nun an nominell als goldbasiert, real als Gold-Dollar-System gelten sollte, [beruhte] auf dem korrigierenden Austausch von Geld und Gold […]. 1961 verpflichteten sich die Industriestaaten [jedoch] vom Umtausch ihrer US-Dollars in Gold abzusehen; […] 1971 [wurde schließlich] auf Veranlassung von Präsident Nixon das so genannte ›Goldfenster‹ symbolisch geschlossen. Die Konvertierbarkeit des Dollars wurde eingestellt, der Goldstandard obsolet und das Ende von Bretton Woods […] im Jahr 1973 auch formell besiegelt« (Vogl 2010: 84ff.).
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bestimmen und garantieren könnte. Nun muss die Geldmenge im Rahmen einer Geldpolitik reguliert und der Geldwert respektive Geldpreis am Markt bestimmt werden.318 Dabei geht die Verunsicherung, die eine solche »ungebundene Währung« mit sich bringt (Borchert 2001: 3), allerdings noch tiefer als die Probleme, die Röpke (1994: 146f.) im Verlauf seiner Untersuchung mit den Schwierigkeiten »historischer« und »räumliche[r] Geldwertvergleiche« oder der »ungeheure[n] Problematik« der »Durchschnittsberechnung« zur Ermittlung der Kaufkraft benennt. In dem Moment, in dem sich auch der Preis des Geldes nicht mehr durch den materialisierten Gegenwert des Goldes bestimmt, welches buchstäblich als Goldschatz eingelagert in einer Bank dem Tauschmechanismus entzogen bleibt, in diesem Moment verliert das System mit Röpke seinen ›ruhenden Pol‹, in diesem Moment wird das Preissystem gleichermaßen relativ wie immanent, und zwar erstens, weil sich der Gegenwert eines Gutes, und nun eben auch der des Geldes, immer nur an anderen Gütern festmachen lässt, deren Gegenwert sich ebenfalls wieder nur an anderen Gütern festmachen lässt. Nichts hat selbst mehr einen unabhängigen Wert, noch einen unabhängigen Preis. Zweitens bestimmt sich nun auch der Preis des Geldes und der Güter allein relativ aus dem Prinzip von Angebot und Nachfrage. Und das Prinzip von Angebot und Nachfrage wird damit selbst absolut. Die Beobachtung, dass Geld, Preis und Wert in der ›Geschichte der Ökonomie‹319 einen zusehends und zusehends ausschließlichen zeichenhaften Charakter annehmen, dass also Tauschprozess und Bezeichnungsakt als Formen ein und desselben Zirkulationsprozesses aufgefasst werden können, ist jedoch keine wirklich neue. Hartmut Winkler setzt das, wie gesehen, seinen Überlegungen schon voraus.320 Was die neoklassische und 318 | Ersteres, indem etwa die Emission von Banknoten von einer (dem Kreditgeschäft weitgehend oder gänzlich entzogenen) Zentralnotenbank unter staatlicher Kontrolle reguliert wird; Letzteres, indem die Kaufkraft des Geldes etwa an einem ›Warenkorb‹ re le vanter Güter und Dienstleistungen statistisch errechnet wird. 319 | Sowohl in der materiellen Geschichte als auch in der ideellen Theoriegeschichte der Ökonomie. Röpke spricht in diesem Zusammenhang bildhaft von einer zunehmenden »Anämie des Geldes« (1994: 123): »Wir können die Entwicklung des Geldes von den Uranfängen bis heute […] studieren, indem wir von der interessanten Tatsache ausgehen, daß das Geld im Durchschnitt immer abstrakter, immer anämischer geworden ist« (1994: 122). 320 | Michel Foucault demonstriert dies bereits 1966 in Die Ordnung der Dinge. So konfiguriert sich für Foucault etwa der Diskurs des 17. und 18. Jahrhunderts, »die Gesamt-
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damit moderne Vorstellung von einem auf einen fluiden Preis reduzierten Wert darüber hinaus aber vor Augen führt, ist deren Entsprechung zu einer nicht nur modernen, sondern postmodernen respektive poststrukturalistischen Zeichentheorie, wie sie Derrida in den 1960er Jahren entwickelt. In der Grammatologie (1967) verwirft er Ferdinand de Saussures strukturalistische Zeichentheorie, indem er das Konzept eines Signifikats (Bezeichneten) zurückweist, dem eine Bedeutung oder Vorstellung außerhalb des Systems der Signifikanten immanent sein soll. Vielmehr ergibt sich die Bedeutungsfunktion des Signifikanten oder Zeichens für Derrida allein aus seiner Relation zu den anderen Zeichen des Systems: »Es gibt kein Signifikant, das dem Spiel aufeinander weisender Signifi kanten entkäme, welches die Sprache konstituiert« (Derrida 1998: 17). Der Sinn oder die Bedeutung bestimmt sich bloß noch als ein Effekt der Differenzierung von Signifikanten und entzieht sich einem »Punkt der Präsenz« (1976: 422), einem Zentrum der Bedeutung, das außerhalb des Spiels von Differenzen, der »Kette von differenzierenden Substitutionen« liegt (1988: 55): Durch die[] Abfolge von Supplementen hindurch wird die Notwendigkeit einer unendlichen Verknüpfung sichtbar, die unaufhaltsam die supplementären Vermittlungen vervielfältigt, die gerade den Sinn dessen stiften, was sie verschieben: Die Vorspiegelung der Sache selbst, der unmittelbaren Präsenz […]. Die Unmittelbarkeit ist abgeleitet. Alles beginnt durch das Vermittelte, also durch das, was der Vernunft unbegreiflich ist. (Derrida 1998: 272)
Man ersetze ›unmittelbare Präsenz‹ und ›Unmittelbarkeit‹ durch ›Wert‹ und wird sehen, dass sich der Wert als Preis im Paradigma neoklassischer Ökonomie analog bestimmt: Es existiert kein wie auch immer gearteter Wert außerhalb einer endlosen Tauschbewegung als Ersetzungsbewegung, und der Preis einer Ware ist stets nur in Relation zum Preis einer anderen, den anderen Waren bestimmbar. Was als Residualgröße bleibt, ist einzig der Mechanismus von Angebot und Nachfrage, der in seinem prozessualen Charakter immer schon in Bewegung und damit nie bei sich selbst ist. Vor diesem Hintergrund wird es nun möglich, sich dem Wert (als Preis) von Nachrichten zu nähern und eine Nachrichtenwerttheorie auf der Basis ökonomischer Prämissen wenn auch nicht in Gänze zu reformulieren, so doch in ihren Grundzügen neu zu skizzieren und schließlich auf Diskurse heit der klassischen episteme« (1997: 258), nach einem Prinzip der Repräsentation, das sich gleichermaßen an den historischen Vorstellungen von Sprache/Grammatik, Wissenschaft/Klassifikation und Ökonomie/Tausch rekonstruieren lässt.
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über politisch motivierte Gewalt zu beziehen. Als zentral wird sich hier, nun begründetermaßen und nicht bloß als Topos eines pseudoökonomischen Diskurses, der Mechanismus von Angebot und Nachfrage erweisen – inklusive seines auch im ökonomischen Diskurs unterbestimmten Rests.
Preispolitik oder Der Wert der Information Was ist nun der Wert von Nachrichten, auch von solchen über Akte politisch motivierter Gewalt und ihre Täter? Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten muss die Antwort lauten: Nachrichten haben im ökonomischen Sinne an sich keinen Wert. Auch haben sie nicht schon allein deswegen einen Wert, weil sie informieren, wenn sie das denn tun. Der Preis als Marktwert von Nachrichten bestimmt sich vielmehr als das, was sich im Rahmen eines Systems von Angebot und Nachfrage von Produzenten und Rezipienten, inklusive aller Verteiler, man könnte nun auch sagen: aller Zwischenhändler von Nachrichten,321 am Markt entwickelt. Der Informationswert von Nachrichten ist dagegen ebenso grundlegend wie fragwürdig: grundlegend, weil Nachrichten an sich als massenmediales Format der Informationsvermittlung verstanden werden; fragwürdig, weil das Funktionieren dieser Informationsvermittlung durch Nachrichten immer schon infrage steht. So liest man beispielsweise in der International Encyclopedia of Communication: News is a genre of mass media content resulting from journalists’ information gathering and editors’ decisions and following practices and norms […]. News content is information that seeks to meet social needs by observing the natural and human universe […]. News is the product of mass media, which began with the printing press and later developed into radio, television, and the Internet.
Und gleich im Anschluss heißt es dann: »The main critical question regarding news is whether there is a consensus on how news is defined and who creates and controls news production and news content« (Nossek 2008: 3219). Infrage steht also, wer oder was den Nachrichteninhalt und damit die Information eigentlich auf welche Art und Weise ›macht‹. Fern einer allgemeinen Definition von Information322 ergibt sich der hier verwendete Informationsbegriff aus den Überlegungen in Kapitel 2. 321 | Unter anderem Nachrichten- und Bildagenturen wie die dpa oder Reuters. 322 | Eine solche bietet etwa Spinner (1998: 16ff.), wenn er Information als Ausschluss von Alternativen aus einem Möglichkeitsraum bestimmt und so den statistischen Infor-
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Informationen über politisch motivierte Gewalt und ihre Täter, so wie sie konsistent zu einem demokratischen Ideologem beschaffen sein müssen, stellen sich folgendermaßen dar: Informationen müssen im Sinne einer urteilsfähigen Propaganda als Bedingung der Möglichkeit der Entscheidung aller möglichst umfassend bezogen auf das Ereignis, dessen Akteure und dessen Kontexte sein. Demzufolge müssen Informationen auch möglichst vielfältig hinsichtlich der Gruppen aller Betroffenen, im Einzelnen der Akteure, Entscheider und der von den Entscheidungen Betroffenen perspektiviert sein. Erinnert man sich daran, was John Rawls von seinem kompetenten Entscheider fordert, so war dort die Rede davon, dass dem Entscheider die besonderen oder spezifischen (»peculiar«) und relevanten (»relevant«) »facts of those cases […] whereupon he is called to express his opinion« (1999: 2) bekannt sein sollen. Zugleich soll der Entscheider mit einer Vorstellung aller konfligierenden Interessenlagen, »an imagination [of] all the interests in conflict«, ausgestattet sein: »He is required to determine what he would think to be just and unjust if each of the interests were as thoroughly his own as they are in fact those of other persons« (1999: 3). Verlangt man dagegen keine ins Esoterische spielenden elitären Fähigkeiten vom kompetenten Entscheider, braucht dieser nicht mehr über eine fast übermenschliche Empathie zu verfügen: Der Entscheider soll nun nicht mehr, aber eben auch nicht weniger als umfassend und (perspektivisch) vielfältig informiert sein. Dabei muss eine umfassende und vielfältige Information aufseiten der Berichterstattung/Produzenten und Informiertheit aufseiten der Entscheider/Rezipienten von einer gänzlichen und allumfassenden Information und Informiertheit unterschieden bleiben. Information soll zwar idealiter und analog einer idealen Sprechsituation vollkommen sein, kann dies als faktische Information aber niemals sein. Man bedenke etwa, dass man nicht von vornherein und in Gänze wissen kann, wen ein Akt politischer Gewalt in seinen (mittelbaren) Auswirkungen zukünftig noch betreffen wird. Die Auswirkungen sind genauso wenig wie die (kontextuellen) Ursachen und Motive in Gänze zu überblicken und damit eben auch nicht allumfassend zu berichten. Auf der Basis einer radikal skeptizistischen Position ließe sich daraus nun ableiten, dass Entscheidungen über politisch motivierte Gewalt selbst mationsbegriff von Shannon/Weaver (1949) ins Semantische umdeutet. Siehe hierzu Weber (2005: 39ff.), der einen ausgezeichneten Überblick über fachspezifisch konkurrierende Informationsbegriffe gibt, oder auch Flusser (2003: 244ff.), der seine Zeichentheorie ebenfalls auf einem statistischen Informationsbegriff aufbaut.
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auf der Basis einer entscheidungsfähigen Propaganda nicht getroffen werden können. Selbst wenn die Propaganda urteilsfähig ist, weil sie nicht bloß Vorentscheidungen kolportiert, bleibt sie trotzdem zu jedem beliebigen Zeitpunkt defizitär. Schließlich könnte nach noch intensiverer Recherche die Information, gerade weil diese niemals allumfassend sein kann, umfassender und vielfältiger sein als zuvor. Die Entscheidung eines radikalen oder konsequenten Skeptikers wäre damit eine Entscheidung gegen die Entscheidung selbst, womit dieser vollständig konsistent zu einem Basisaxiom rationaler Entscheidungsfindung wäre. Dieses ließe sich im Sinne einer formalen Äquivalenz etwa formulieren als »Dann und nur dann, wenn eine Entscheidung über einen Sachverhalt auf Informiertheit beruht, ist die Entscheidung rational«, womit – wie gesehen – auch deren beidseitige Negation als Inversion der Äquivalenz323 gilt, also: »Genau dann, wenn eine Entscheidung über einen Sachverhalt nicht auf Informiertheit beruht, ist die Entscheidung nicht rational.« Es erscheint somit plausibler, sich nicht maximal informiert nicht zu entscheiden, als sich zu entscheiden. Allerdings hängt in dieser Argumentation alles am Begriff einer maximalen Informiertheit,324 den man letztlich genauso wie den der allumfassenden Informiertheit unter pragmatischen Prämissen aufgeben muss; hat sich doch bereits gezeigt, dass die Konsequenz einer Entscheidung gegen eine Entscheidung lautet, dass sich entweder keiner entscheidet oder, solange sich nur der Einzelne nicht entscheidet, die anderen für ihn mitentscheiden. Die einzige Position, die dem Entscheidungsverweigerer im jeweiligen Diskurs bliebe, wäre gleichsam die einer verlängerten skeptizistischen Propaganda. Diese muss immer wieder insistieren, dass eine Entscheidung noch nicht getroffen werden kann, da die Information noch nicht hinreichend ist. Dies wäre bei genauerer Betrachtung insofern different zur Position eines radikalen Skeptikers, als dieser insistieren müsste, dass man nicht nur bezüglich dieses Sachverhalts noch nicht, sondern eben an sich nicht und niemals hinreichend informiert ist. Trotzdem wäre es, gleichsam als gemäßigter Skeptiker, ebenfalls nicht möglich, zu einer Entscheidung zu kommen, da man sich eben auch im jeweils konkreten Fall nicht maximal informiert fühlen würde. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kann die Forderung an den durch die Massenmedien ermöglichten Informationsprozess also nur 323 | Allgemein formuliert lautet diese: (p q) (¬p ¬q). Siehe hierzu wiederum Kapitel 1, wo ich das logische Gesetz der Inversion der Äquivalenz bereits expliziere. 324 | Im Rahmen der formalen Aussage wird nicht quantifiziert, man ist entweder informiert oder nicht informiert.
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lauten, dass dieser zwar keine maximale Informiertheit der Rezipienten ermöglichen muss – was nicht möglich ist, ist nicht geboten; maximale wie allumfassende Informationen gehören in den Bereich einer idealen und damit per se kontrafaktischen Informationssituation –, jedoch formuliert sich damit umso vehementer die Forderung nach einer relativ maximalen Informiertheit, mit anderen Worten nach einer möglichst umfassenden Informiertheit als Bedingung der Möglichkeit rationaler Entscheidungen jedes einzelnen Entscheiders. Ob marktwirtschaftlich orientierte Massenmedien dies gewährleisten können, ist wie gesagt die Frage, die sich vor dem Hintergrund eines in den westlichen Demokratien dominierenden marktökonomischen Mediensystems stellt.
Konkurrenz und Gewinn Es hat sich gezeigt, dass die neoklassisch geprägte Ökonomie den Marktwert und damit den Preis von Gütern, der Letztere beziffert den Ersteren, aus dem »Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage« erklärt und dies wiederum um den Preis der »rigorosen Vereinfachung« eines idealisierten Marktes (Oberender/Fleischmann 2005: 89, 91). Allerdings bleibt die Ökonomie als eigentümliche Disziplin, welche in die Praxis dessen, was sie beschreibt, stets schon eingreift,325 an dieser Stelle nicht stehen. Joseph Vogl etwa merkt dazu an: Sosehr sich nämlich eine ökonomische Weltsicht seit geraumer Zeit die Verhältnisse zwischen Menschen und Dingen auf besondere Weise zurechtlegt, sosehr sieht sich eine ökonomische Wissenschaft wiederum aufgerufen, die dadurch erzeugten Verwicklungen begreiflich zu machen. Man stößt dabei auf den – auch hermeneutisch – schwierigen Umstand, dass das ökonomische Wissen der letzten dreihundert Jahre die wirtschaftlichen Tatsachen geschaffen hat, mit deren Entzifferung es sich selbst konfrontiert. (2010: 8)
Um im Zuge dessen den Vereinfachungen des eigenen Modells entgegenzuwirken, differenziert sich der Markt im ökonomischen Diskurs zunächst hinsichtlich der »Elastizität von Angebot und Nachfrage« weiter aus (Röpke 1994: 197). Röpke verdeutlicht dies beispielhaft am Getreidemarkt einerseits und am Arbeitsmarkt andererseits. Der Markt für Getreide besitzt 325 | Aufgrund dieser Eigenschaft des ökonomischen Diskurses unterscheide ich mit Bedacht begrifflich nicht zwischen ›Ökonomie‹ als wirtschaftlicher Praxis und ›Ökonomik‹ als Theorie der Ökonomie.
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nach Röpke vor allem auf der Seite der Nachfrage eine niedrige Elastizität, weil auf Getreide als Grundnahrungsmittel nur bedingt verzichtet werden kann, zugleich aber der Bedarf ab einer bestimmten Menge fast vollständig befriedigt ist: »Bei zu großem Angebot bedarf es einer starken Preissenkung, um die Nachfrage genügend anzureizen, und bei zu geringem Angebot einer sehr starken Preissteigerung, um die Nachfrage genügend zu drosseln« (1994: 199). Auf dem Arbeitsmarkt wiederum ist laut Röpke die Elastizität des Angebots zumindest bei qualifizierten Berufen »recht gering, da die menschliche Arbeit bei mangelnden Vermögensreserven nicht lange ›gelagert‹ werden kann, aber auch auf kürzere Fristen wegen der längeren Ausbildungszeit und der starken Unbeweglichkeit nur in geringen Grenzen vermehrt werden kann« (1994: 200). Innerhalb dieser nur bedingt flexiblen Märkte bewirkt Adam Smiths sprichwörtlich gewordene »unsichtbare[] Hand« also nicht (2005: 467), dass sie sich auf der bloßen Basis der Konkurrenz der Bedürfnisse aufseiten der Konsumenten und der Konkurrenz der Gewinnmaximierungsstrategien aufseiten der Anbieter gleichsam automatisch einpendeln. Um Krisen, die weiten Bevölkerungsteilen die Einkommens- oder Versorgungsgrundlage entziehen, zu vermeiden, müssen daher marktregulierende Eingriffe (Steuern, Subventionen, Preisbindungen, Wohlfahrtsleistungen etc.)326 von staatlich-institutioneller Seite angestrengt werden. Diese exogenen Eingriffe in einen freien Markt machen diesen nicht nur gleichsam unfrei, sondern die institutionellen Eingriffe haben paradoxerweise die Funktion, eine Nachfragesituation aufrechtzuerhalten, welche (aufseiten der Konsumenten) die Voraussetzung für einen ›freien Markt‹ darstellt. Aufseiten der Anbieter sind dagegen Eingriffe in die Konkurrenzsituation notwendig, um Kartell- und Monopolbildungen zu verhindern. Diese führen dazu, was insbesondere Marx beobachtete, aber auch Smith bereits antizipierte, dass »Macht- und Ausbeutungsverhältnisse entstehen«, im Rahmen derer der »Anbieter, der sich einer starken Nachfrage gegenüber findet, […] den Preis diktieren« kann (Abromeit 1977a: 555). Wenn, wie man in Foldvarys Lexikon der freien Marktwirtschaft liest, »der Kunde […] der König« ist und sich darum »in der besseren Verhandlungsposition« befindet, weil »er Geld besitzt, das allgemein akzeptiert wird«, während »der Verkäufer […] seine Waren an den Mann bringen muss« (2000: 206), dann resultiert daraus fast zwangsläufig, dass die Unternehmer mittels Wettbewerbsbeschränkungen (Monopolen, Kartellen, Preisabsprachen) versuchen, »den Preisdruck und 326 | Zu den staatlichen Instrumenten der Marktregulierung ausführlich Oberender/ Fleischmann (2005: 243ff.).
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die Risiken der Konkurrenz auszuschalten und ›Monopolgewinne‹ zu garantieren« (Abromeit 1977a: 555), um so den Kunden wiederum mittels eines Diktats des Preises zu kontrollieren.327 Der faktisch offenbar nicht ganz so freie Markt von Angebot und Nachfrage lässt sich demnach also aus einem Primat der Gewinnmaximierung, unter dem das Handeln aller Akteure steht, und einer daraus resultierenden Wettbewerbs- oder Konkurrenzsituation zwischen all diesen Akteuren weiter erklären: Ich muss meine Ware, auch die meiner Arbeitskraft, gewinnbringend, sprich: möglichst teuer im Verhältnis zu ihren Re-/Produktionskosten, verkaufen, Waren und Dienstleistungen umgekehrt möglichst billig einkaufen. Dabei stellen sich alle anderen als potenzielle Handelspartner und zugleich als Konkurrenten dar, die es zu meinen eigenen Gunsten zu übervorteilen gilt – so die Mechanismen eines freien Marktes, mit seiner je nach Standpunkt instrumentellen Vernunft oder ethischen Unvernunft, eines freien Marktes, der faktisch nicht existiert und dessen Krisen und Verwerfungen sich aus Defiziten der Elastizität von Angebot und Nachfrage erklären lassen, die in der Praxis exogene Regulierungsmaßnahmen vonseiten des Staates oder anderer kooperativer Institutionen (z.B. Gewerkschaften) fordern. Zwar ist sich die makro- und mikroökonomische Theoriebildung darüber im Klaren, dass Marktmodelle, auch das vorherrschende neoliberale, die »Komplexität der Realität, die sich in ihrer Gesamtheit nicht abbilden lässt«, idealisieren, indem sie stets »Aspekte der Realität vernachlässigen« (Oberender/Fleischmann 2005: 4). Trotzdem entfaltet gerade der Mechanismus von Gewinnmaximierung und Konkurrenz eine kaum zu unterschätzende Wirkungsmacht, indem diese Vorstellungen auf das Handeln der am Markt beteiligten Akteure wirken: Zwar mag nicht jeder Konsument im marktökonomischen Sinne zweckrational handeln, von Unternehmen und Unternehmern kann man das jedoch erwarten, werden Verkäufer – vom Lehrling im Einzelhandel bis hin zum Manager eines multinationalen Konzerns – doch dahingehend ausgebildet, dass ihre Geschäfte bloß auf der Basis einer steten Gewinnmaximierung in Konkurrenz zu den anderen, die am Markt teilnehmen, erfolgreich sind. Auf der Basis genau dieser Prämissen können und sollen daher nun die Auswirkungen der markt327 | Das ist zugleich etwas, was die Gewerkschaften bezogen auf die Ware Arbeit als Gegenmaßnahmen gegen die machtstrategischen Maßnahmen der Unternehmen ganz öffentlich betreiben. Gegen Preisabsprachen und Monopolbildung wiederum geht in der BRD seit 1976 mit dem Bundeskartellamt eine staatliche Institution mehr oder weniger erfolgreich vor.
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ökonomischen Rahmenbedingungen auf die Massenmedien beschrieben werden.
Nachrichtenfaktoren Analog der Ökonomie als eines hybriden Diskurses zwischen Theorie und Praxis, Wissenschaft und Anwendung verhält es sich auch mit der an Kommunikationswissenschaft und Publizistik orientierten Medienwerttheorie. Während Nachrichtenfaktoren, welche den Nachrichtenwert von Nachrichtenmaterial, »the newsworthiness of news stories« (Kepplinger 2008a: 3282) bestimmen sollen, einerseits seit den 1960er Jahren quantitativ erforscht und empirisch validiert werden, zählen Nachrichtenfaktoren seit den 1930er Jahren in den USA 328 und spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Westeuropa zu den Standards journalistischer Ausbildung. Angehende Journalisten lernen, nach welchen Merkmalen Nachrichten selektiert werden sollen, um eine möglichst hohe Aufmerksamkeit beim Publikum zu erfahren: News factors are regarded as – among other things – causes which make news newsworthy: the more news factors a news story carries, the more newsworthy is it. For example, a news story about a well-known actor killed in a car accident (two news factors: ›prominent person‹ and ›damage‹) is more newsworthy than a news story about an unknown person killed (one news factor ›damage‹). Besides the number of news factors, their intensity has an influence on the newsworthiness of news stories. A news story on three people killed is more newsworthy than a story on one person killed. (Kepplinger 2008: 3245)
Zudem hebt Kepplinger das analytische Potenzial hervor, das Nachrichtenfaktoren im Vergleich zu Medienereignissen, »e.g. the attacks on the US of September 11, 2001«, und Themen, hier: Terrorismus, beanspruchen können (2008: 3245): Nachrichtenfaktoren leisten mehr, als bloß die Popularität von bestimmten Nachrichtenthemen zu beschreiben. Nachrichtenfaktoren machen deutlich, warum eine Meldung eine Nachricht in den Massenmedien wird und warum nicht. Vor diesem Hintergrund haben Publizistik und Kommunikationswissenschaft Kataloge mit bis zu zwei Dutzend Nachrichtenfaktoren erstellt 328 | Als exemplarische Belege hierfür sei auf Warren (1959) verwiesen, dessen journalistisches Lehrbuch ursprünglich 1934 erschien, sowie weiterführend auf Kepplinger (2008: 3246) und Eilders (1997: 20).
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(2008: 3246), die exakt gemessen, via vielfältiger Indikatoren empirisch belegt oder bloß anhand vager Indikatoren als mögliche Nachrichtenfaktoren eingestuft wurden. Dabei variieren die Faktoren mit dem jeweiligen Untersuchungsobjekt, -zeitraum und -zeitpunkt sowie mit dem angewandten empirischen Instrumentarium. Trotzdem hat sich eine Reihe rekurrenter Kategorien herausgebildet, die heute »zum Standardkanon der Nachrichtenfaktoren« zählen (Fretwurst 2008: 182). Dazu gehören – als Kanon oder kleinster gemeinsamer Nenner der neueren Nachrichtenwerttheorie – insbesondere folgende Faktoren: Einfluss und Prominenz der Akteure sowie die Personalisierung von Nachrichten, die Reichweite bezüglich der Anzahl der von den berichteten Fakten tatsächlich oder möglicherweise betroffenen Personen,329 politische, kulturelle und geografische Nähe und zuletzt Negativismus hinsichtlich der berichteten Sachverhalte sowie Emotionalität der Sachverhalte und ihrer Darstellungsweise.330 Trotz einer kontinuierlichen empirischen Reformulierung und Revalidierung der Faktoren331 bleiben doch Zweifel; nicht etwa daran, dass sich diese sieben Faktoren empirisch belegen lassen, sondern daran, was die Empirie mit den Faktoren eigentlich erfasst: auf jeden Fall nicht zweifelsfrei ursächliche Kriterien für journalistische Selektionsentscheidungen. So merkt etwa Kepplinger an, dass die Studien in der Regel keinen klaren Beweis dafür bieten, »that news items selected for publication display more news factors than those that are disregarded« (2008: 3247). Man misst empirisch ausschließlich, wie häufig die Nachrichtenfaktoren wann und wo in publizierten Nachrichten auftauchen, hat aber keinen Zugang zur Gesamtheit der nicht vorselektierten Sachverhalte und damit auch nicht zur Referenzmenge der nicht publizierten Nachrichten. Aufseiten des Publikums liegt der Fall etwas anders, aber nicht weniger problematisch: Man 329 | Ich paraphrasiere hier Ruhrmann et al. (2003: 57). Wie problematisch eine solche Definition spätestens dann wird, wenn man die Grenzen der Reichweite bestimmen will, ist offensichtlich. 330 | Dabei benennen die einzelnen Autoren die oftmals nicht trennscharf konstruierten Faktoren zum Teil unterschiedlich. Wolf-Klostermann (2003: 204) etwa spricht von »Negativismus«, während sich Negativismus bei Fretwurst (2008: 178f.) nur implizit, gleich sam als Summe der Faktoren »Aggression/Gewalt«, »Kriminalität«, »Schaden/ Miss erfolg« und »Tragik« formiert, und Schulz (1976: 34) dagegen Negativismus explizit in die Faktoren »Konflikt«, »Kriminalität« und »Schaden« ausdifferenziert. 331 | Namentlich in den letzten gut 40 Jahren der Medienwirkungsforschung. Als bis heute zitierte Initialstudien können die 1965 im Journal of Peace Research publizierten Untersuchungen von Östgaard (1965) und Galtung/Ruge (1965) gelten.
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kennt zwar potenziell alle Nachrichten, aus denen der Rezipient wählen kann, man weiß aber nicht, wie er wählen würde, wenn er frei wählen könnte, also nicht immer schon mit journalistisch vorselektierten Nachrichten konfrontiert wäre, an die er sich zu gewöhnen gelernt hat.332 Beide Probleme, insbesondere das erste, das im Folgenden im Zentrum der Betrachtung stehen soll, können letztlich nur mittels einer über die Empirie hinausgehenden Theoriebildung gelöst werden. Was Kepplinger als Problem beschreibt, nämlich dass die verschiedenen Autoren ihre Annahmen zwar mit plausiblen Argumenten, aber nicht mit empirischen Beweisen belegen können (2008: 3247), genau das stellt letztlich die Lösung des Problems dar: Es bedarf gerade solcher zu theoretischen Modellen verdichteten Argumente, die über den rein empirischen Beleg hinaus begründen können, warum Nachrichten selektiert werden und warum sie nach bestimmten Merkmalen selektiert werden; damit sich der Erkenntnisgewinn nicht bloß darauf beschränkt, dass bestimmte Nachrichten bestimmte Faktoren zu bestimmten Zeiten aufweisen und in bestimmten korrelativen Zusammenhängen zueinander stehen. Die Erklärungsansätze sind hier vielfältig, allerdings nicht immer auch befriedigend. Eilders (1997) beispielsweise schlägt im Anschluss an Galtung/Ruge (1965: 65) eine kognitionspsychologische Erklärung vor: Die Welt ist komplex, ihr potenzieller Informationsgehalt muss reduziert werden. Das tun Journalisten, und zwar nicht nach ihrem eigenen Gusto, sondern auf der Basis transindividueller Faktoren, womit die Nachrichtenfaktoren als »allgemein-menschliche Selektionskriterien«, als letztlich kognitive oder anthropologische Konstanten erscheinen: Die Nachrichtenfaktoren der Ereignisse bzw. der Medienberichterstattung sind in diesem Konzept Stimulusmerkmale, die allgemein-menschlichen Selektionskriterien entsprechen. Als Ursachen beeinflussen sie die Nachrichten bzw. in einem zweiten Schritt die aus der Rezeption resultierenden Rezipientenvorstellungen. (Eilders 1997: 74f.)
Obwohl Eilders ihr Modell hinsichtlich eines individualisierten Verhaltens aufseiten der Produzenten und Rezipienten anhand von Einflussgrößen wie situativen Rahmenbedingungen und (erworbenen und dispositiven) kognitiven Fähigkeiten noch weiter ausdifferenziert (1997: 75ff.), bleibt es letztlich doch zu wenig konkret. Es ermöglicht zwar zu erklären, warum 332 | Die Formulierung wurde insofern mit Bedacht gewählt, als hier tatsächlich beides adressiert ist, Lernen und Gewöhnen.
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es Selektionskriterien geben muss, auch warum diese individuell, situativ und zeitlich variieren, aber nicht, warum die Selektionskriterien/Nachrichtenfaktoren gerade die sind, die Eilders schließlich im Rahmen derselben Studie empirisch nachweist (1997: 181ff.).333 Genau hier setzen die Vorüberlegungen zur Marktlogik ein. Sie ermöglichen es, im Rückgriff auf die ökonomischen Bedingungen der Produktion und Distribution von Nachrichten zu erklären, warum sich bestimmte Nachrichtenfaktoren – aufseiten der Medienproduzenten – herausbilden. Damit ist zwar nicht der komplette Selektionsprozess, nicht einmal der komplette journalistisch-redaktionelle Selektionsprozess erklärt; jedoch kann so der Einfluss des Marktes auf Nachrichten modelliert und (bis hin zur an den Rezipienten als Angebot herangetragenen Nachricht) in seinen ökonomischen Mechanismen beschrieben und begründet werden.
Marktlogik und Nachrichtenwert Wenn Joseph Vogl auf den ersten Seiten seines kulturwissenschaftlichen Beitrags zu einer seit der Finanzkrise 2008 anhaltenden Diskussion um die Gefahren eines globalen Finanzmarktes das Folgende konstatiert, wird man ihm spontan Recht geben: Obwohl man Finanzmärkte als Veranstaltungen begreifen kann, in denen sich ein Gutteil menschlicher Wohlfahrt entscheidet, bleibt undurchsichtig […], nach welchen Regeln und mit welcher Logik sich hier Ereignisse mit Ereignissen verknüpfen. Gerade die so genannten Krisen der letzten Jahrzehnte haben die Frage veranlasst, ob sich auf den Schauplätzen der internationalen Finanzwirt333 | Entsprechendes gilt beispielsweise auch für Luhmann (2004: 58ff.), der mit den von ihm sogenannten »Selektoren« fünf Nachrichtenfaktoren (Neuheit, Konflikte, Quantitäten, lokaler Bezug und Normverstöße) bestimmt. Luhmann elaboriert zwar auf der Basis der »Leitdifferenz« Information versus Nicht-Information (2004: 36) das komplette System der Massenmedien und im Rahmen dessen auch die genannten Nachrichtenfaktoren. Jedoch bleibt er eine Erklärung dafür schuldig, warum nun gerade die fünf genannten Selektoren den Nachrichtenwert bzw. den Informationswert von Nachrichten bestimmen sollen: »Nachrichten und Berichte, Werbung und Unterhaltung. Jeder dieser Bereiche benutzt den Code Information/Nichtinformation, wenngleich in sehr unterschiedlichen Ausführungen; aber sie unterscheiden sich auf Grund der Kriterien, die der Auswahl von Informationen zugrunde gelegt werden« (2004: 51). Die Antwort darauf, warum aber bestimmte Kriterien für die Auswahl von Nachrichten zugrunde gelegt werden, bleibt Luhmann letztlich schuldig, das heißt, er verlässt sich hier auf (nicht empirisch evaluierte) Beobachtungen.
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Terror und Propaganda schaft ein effektives Zusammenspiel vernünftiger Akteure oder ein Spektakel reiner Unvernunft vollzieht. Es ist jedenfalls nicht ausgemacht, ob der darin beschworene kapitalistische ›Geist‹ verlässlich und rational oder schlicht verrückt operiert. (2010: 7)
Allerdings resultieren die Dramatik und die Unübersichtlichkeit des hier exponierten Problems wiederum aus dem altbekannten Versuch einer hermeneutischen Sicht aufs Ganze. Wechselt man dagegen die Perspektive von einer makroökonomischen zu einer mikroökonomischen, von einer volkswirtschaftlichen zu einer betriebswirtschaftlichen, dann wandelt sich das essayistisch beschworene »Spektakel reiner Unvernunft« zu einem sehr begrenzten Arsenal marktstrategischer ›Spielregeln‹ – zumindest was die Produzenten am Markt der Massenmedien angeht. Aus der Perspektive der neoliberalen Ökonomie, die sich im betriebswirtschaftlichen Handeln praktisch niederschlägt, gelten am Markt die Regeln von Konkurrenz und Gewinnmaximierung. Erstere will vom Produzenten aufseiten der Anbieter umgangen werden, da sie die Rezipienten als Kunden bevorteilt. Letztere gilt als elementare Maxime wirtschaftlich rationalen Handelns, an der der Unternehmer die Produktion, Distribution und Promotion seiner Ware auszurichten hat. Es gilt, die Produktionskosten (inklusive Distributions- und Promotionskosten) relativ zum Umsatz möglichst klein, den Umsatz durch den Verkauf von hohen und teuren Stückzahlen (respektive Vertriebsmengen) möglichst groß zu halten. Aufseiten der Produktionskosten nun zeichnen sich Massenmedien durch relativ hohe Fixkosten – zu diesen »zählen die Infrastruktur, Studios, Abschreibungen auf Druckmaschinen etc.« – bei relativ geringen variablen Kosten aus, darunter etwa »der Papierverbrauch bei Zeitungen«: Aufgrund des »Unikatcharakters der Medien sind« zudem »die First-CopyCosts [relativ] hoch, während die Herstellung weiterer Exemplare […] sehr geringe zusätzliche Kosten verursacht« (Meier et al: 2010: 257). Das führt dazu, dass ein Monopolist am rentabelsten produziert, da er sich in die Lage versetzt sieht, neben einem zunehmenden Einfluss auf das Kaufverhalten des Kunden334 im Rahmen des spezifischen Marktes auch maximale Vertriebsmengen abzusetzen. Der so durch Monopolisierung und Medienkonzentration geschaffene Größenvorteil produziert zugleich eine Fixkostendegression, da bei steter Erhöhung des Absatzes die Fixkosten zusehends weniger ins Gewicht fallen und so die Gewinne steigen. 334 | Die Erhöhungen von Werbeetats, die durch diesen Effekt möglich werden, verstärken den Effekt nochmals, worauf ich im folgenden Abschnitt noch eingehe.
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Zudem können Medienunternehmen sich durch Medienkonzentrationen noch weitere Marktvorteile verschaffen (2010: 261f.). Eine vertikale Medienkonzentration zielt dabei auf eine geschlossene Wertschöpfungskette von der Produktion und Distribution bis hin zur Kundenakquise und Anzeigenbetreuung und somit zu synergetischen Einsparungen von Kosten. Eine multimediale Konzentration ermöglicht eine Mehrfachverwertung von Medieninhalten und damit wiederum eine mit der Umsatzerhöhung verbundene Fixkostendegression. Eine diagonale Konzentration über die Grenzen des Medienmarkts hinaus stärkt Unternehmen, indem diese Marktrisiken in einzelnen Geschäftsbereichen ausgleichen können. Dabei können multimediale und vertikale Konzentrationen ebenso wie eine diagonale Medienkonzentration ab einer bestimmten Größe der Unternehmen auch transnational angelegt sein und führen so potenziell zu einer massenmedialen Globalisierung. Beispielhaft hierfür steht der Medienkonzern des Australiers Rupert Murdoch, der unter anderem in Europa, Nordamerika und Australien aktiv ist. Dementsprechend beobachtet etwa Heinrich (2001: 244) für den globalen Zeitungsmarkt »eine wettbewerbspolitisch bedenkliche Tendenz zur Monopolisierung«, bedenklich aus zwei Gründen: Zum einen sind Kartellbildung und Monopolisierung für einen freien Markt per se problematisch, da diese ihm das Regulativ eines sich an sich selbst austarierenden Angebot-und-Nachfrage-Mechanismus entziehen und damit letztlich die Bedingung der Möglichkeit. Zum anderen ergeben sich im Fall eines Markts der Massenmedien aus einer Monopolisierung noch spezifischere Konsequenzen; Konsequenzen, die bis auf die Inhalte von Nachrichten wirken und sich zu Nachrichtenfaktoren verfestigen: Prozesse der Monopolisierung und Medienkonzentration reduzieren potenziell die inter- und intramediale335 Informationsvielfalt für den Rezipienten. Wenn es nur noch eine Zeitung gibt oder nur noch ein Medienkonglomerat, aus dem der Rezipient seine Nachrichten beziehen kann, muss er sich darauf verlassen, dass diese eine Binnenvielfalt gewährleisten. Allerdings arbeiten Monopol und Medienkonzentration konzernimmanent gerade gegen eine Diversifizierung des Angebots und damit auch des Informationsangebots. Siegert et al. konstatieren etwa, dass mangelnder Wettbewerb aufseiten der/des Produzenten zu Effekten wie »risikoarme[n] Imitationsstrategien« – was sich bereits bewährt hat, wird reproduziert –, Mehrfachverwertung und »gemeinsamer Content-Produktion« führt (2010: 528), Letztere nach dem
335 | Bezogen auf eine Mediengattung und auf das gesamte Mediensystem.
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Prinzip der Verwertung ein und derselben Nachricht in verschiedenen Variationen für verschiedene Formate. Zudem bleibt festzuhalten, dass Monopol und Medienkonzentration es zwar nicht per se ausschließen, dass Unternehmen ihre Angebotsvielfalt ausweiten. Aufgrund der Marktvorteile und der begünstigten Gewinnsituation kann sich eine Produktdiversifikation hinsichtlich spezifischer Zielgruppen für ein Unternehmen durchaus als lohnenswerte Investition erweisen. Allerdings geht eine »strukturelle Angebotsvielfalt nicht unbedingt auch mit einer größeren inhaltlichen Vielfalt einher[]« (2010: 530). So merkt etwa Knoche (1997: 143) an, dass inhaltliche Vielfalt letztlich davon abhängt, »inwieweit es Medienunternehmen im Rahmen ihrer von den Marktvoraussetzungen und Marktstrukturen beeinflussten Konkurrenzstrategien für notwendig erachten«, mit einer Produktdifferenzierung »auch ein gewisses Maß an publizistischer Vielfalt als Mittel zur Gewinnverbesserung einzusetzen«. Die Effekte der Monopolisierung scheinen hierfür aber, wie gesehen, nicht gerade geeignete Voraussetzungen zu schaffen. Vielmehr zeigt sich, dass Monopolisierung, Medienkonzentration und mediale Globalisierung einer Marktlogik folgen, die gegen die Vielfalt und Diversität von Nachrichten als Informationen arbeitet. Über die Monopolisierungstendenzen hinaus steht das marktrationale Handeln des einzelnen Unternehmens zudem unter dem Primat der Gewinnmaximierung. Diese schlägt sich auf der Investitions- bzw. Produktionsseite in Tendenzen der Kostenoptimierung und auf der Seite des Umsatzes bzw. der Einnahmen in einer Verwertungsorientierung nieder, welche ihrerseits Formen der Standardisierung und Formatisierung produzieren. Wenn Kiefer (1998: 99f.) feststellt, dass der »Zwang zur Mehrfachverwertung« – ein Produkt, das sich verkauft, muss so oft wie möglich verkauft werden – zu einer Serialisierung erfolgreicher kultureller Formate führt, dann gilt dies letztlich auch für Nachrichten und deren Inhalte.336 Diese aus einer Verwertungsorientierung resultierende Tendenz zur Entdiversifizierung bestätigt nicht nur die Effekte einer Monopolisierung; vor allem resultieren die beschriebenen Entdiversifizierungseffekte nun nicht mehr aus Spekulationen über eine Medienindustrie, sondern aus einer Beurteilung von Marktmechanismen auf der Basis eines Modells marktökonomischer Regeln in ihrer faktischen Anwendung: Man könnte hier auch modallogisch mit der Subjunktion »Wenn etwas notwendig ist, ist es auch 336 | In gewisser Wiese arbeitet die Novität von Nachrichten/News zwar gegen eine Serialisierung der Nachrichtenhalte, aber eben nicht grundsätzlich. Zur Novität im Folgenden noch ausführlich.
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wirklich«, Np p, argumentieren (Zoglauer 2008: 199). Denn tatsächlich ist es für den einzelnen (Medien-)Unternehmer um des wirtschaftlichen Erfolgs willen notwendig, sich an die wohlbekannten Regeln der Konkurrenzvermeidung und Gewinnmaximierung zu halten und diese zu verwirklichen.337 Die andere Seite der Gewinnmaximierung betriff t die Kostenoptimierung. Die Kosten der Nachrichtenproduktion müssen möglichst klein gehalten werden, damit die Gewinnspanne hoch ausfällt – und das wiederum mit weitreichenden Folgen für die Nachrichteninhalte: Kostenoptimierung äußert sich […] darin, dass Vertriebsstrukturen mehrerer Medienunternehmen zusammengelegt, […] ganze Produktionsbereiche ausgelagert werden (Outsourcing) oder die Zahl freier (und billigerer) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Medienunternehmen steigt. Zugleich wird verstärkt auf externe Quellen zurückgegriffen, was in den meisten Fällen bedeutet, dass PR-Materialien mehr oder weniger bearbeitet verwendet werden. Eigene umfangreiche Recherchen und kostenintensiver investigativer Journalismus ohne Garantie auf Publikumserfolg gehen […] zurück. 338 (Siegert et al. 2010: 522f.)
Dass all das wiederum zu einer Entdiversifizierung der Nachrichteninhalte führt, ist offensichtlich. Gleichzeitig produzieren diese ökonomischen Effekte der Kostenoptimierung eine Trivialisierung der Nachrichteninhalte. Die Qualität der Nachrichten sinkt: zum einen, indem der ökonomische Druck auf die journalistischen/redaktionellen Mitarbeiter steigt (diese sind 337 | Das wiederum nur unter der Bedingung, dass wirtschaftlicher Erfolg selbst notwendig ist. Notwendig im formalen Sinn ist, wie gesehen, jedoch nur das, was in allen möglichen Zuständen der Welt der Fall ist. Dementsprechend wäre wirtschaftlicher Erfolg nicht in einem formalen Sinne notwendig. Es sind ja auch Zustände der Welt vorstellbar und in schöner Regelmäßigkeit beobachtbar, in denen ein Unternehmer keinen wirtschaftlichen Erfolg hat. Reduziert man ›die Welt‹ – und das ist gleichsam die Pointe der Argumentation – aber auf eine ›Welt der Wirtschaft‹, die nur nach den Regeln des wirtschaftlichen Funktionierens ausgelegt ist, dann ist wirtschaftlicher Erfolg insofern auch formal notwendig, als er den Akteur gleichsam in dieser Welt hält, ihn in ihr funktionieren lässt. Formal könnte man dann wie folgt argumentieren: N(E R) N(E) N(R) R, sprich: Daraus, dass die Einhaltung der Regeln (R) eine notwendige Bedingung des Erfolgs (E) ist und der Erfolg selbst notwendig ist, folgt die Notwendigkeit der Einhaltung der Regeln, woraus wiederum (aus Notwendigkeit folgt Sein) die Einhaltung der Regeln folgt. 338 | Letzteres gilt bereits auf der institutionell vorgelagerten Ebene der Nachrichtenagenturen, wie Croteau/Hoynes (2001: 163ff.) herausarbeiten.
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weniger geneigt, sich von einem journalistischen Ethos als von der eigenen finanziellen Absicherung leiten zu lassen), zum anderen werden die Praktiken eines aufwendig recherchierten investigativen Journalismus zusehends durch die Übernahme von nur noch oberflächlich oder gar nicht mehr überprüften Materialien ersetzt. Zwar ist das Konstrukt ›journalistische Qualität‹ nicht nur in seiner empirischen Messung, sondern auch in seiner theoretischen Konzeption äußerst problematisch, wie unter anderem Ruß-Mohl (1992: 85, 1994: 23) und Wyss (2011: 31) betonen,339 doch erscheint journalistische Qualität – bei einer heuristischen Bestimmung dieser als Unabhängigkeit der Berichterstatter und Berichterstattung und damit als Bedingung einer möglichst vielseitigen, vielfältigen und multiperspektivischen Berichterstattung – hier eindeutig unterminiert. Als weitere entscheidende Effekte der marktwirtschaftlichen Ausrichtung der Medienunternehmen lassen sich die Mechanismen der Ökonomisierung und Kommerzialisierung in ihrer Wirkung auf Nachrichten bestimmen. Während der Begriff der Ökonomisierung in Publizistik- und Kommunikationswissenschaft allgemein auf eine Tendenz der Massenmedien zur Orientierung an ökonomischen Grundsätzen zielt, adressiert der Begriff der Kommerzialisierung spezieller den ökonomischen Einfluss der »Werbewirtschaft auf die Medienproduktion« (Siegert et al. 2010: 520).340 Dabei ist die Existenz einer Werbewirtschaft aus ökonomischer Sicht schon an sich problematisch, da im Einsatz von Werbung eine makroökonomische Rationalität mit einer mikroökonomischen Rationalität kollidiert. Mikroökonomisch respektive betriebswirtschaftlich ist es nicht nur rational, sondern in dem Moment, in dem die Konkurrenten dies tun, sogar notwendig, Werbung zu betreiben. Ein Unternehmen muss mittels Werbung nicht nur über seine Produkte informieren, sondern kann und muss im Wettbewerb mit anderen Unternehmen wiederum den (eigentlich) privilegierten Status des Kunden zu seinen eigenen Gunsten unterlaufen: Da erfolgreiche Werbung Meinungsmonopole schafft, gewinnt das werbetreibende Unternehmen eine preispolitische Handlungsfreiheit, die das Bestreben, im Kostenoptimum zu produzieren, abschwächt. Der erfolgreich Werbende zwingt zudem seine Konkurrenten, in gleichem Maße zu werben; dies führt, zu339 | Zusammenfassend hierzu auch Siegert et al. (2010: 522f.). 340 | Dass die Begriffe gerade vor dem Hintergrund des englischen oder genauer amerikanischen Begriffs ›Commercialization‹, der Kommerzialisierung und Ökonomisierung gleichermaßen bezeichnet, nicht ganz so eindeutig bestimmbar sind, wissen auch Siegert et al. (2010: 519f.), die auf eine Reihe unterschiedlicher Definitionsansätze ver weisen.
Kapitel 3: Ökonomie der Massenmedien sammen mit der Tatsache, daß Werbung erst von einem bestimmten Umfang an effizient zu werden verspricht, zu einer Begünstigung der Unternehmenskonzentration. Der Wettbewerb zwischen den verbleibenden Großanbietern schließlich führt nicht mehr notwendig zur Ausschaltung des ineffizient Produzierenden, sondern eher zur Ausschaltung des ineffizient Werbenden. Das ›Produktionsmittel Psychologie‹ wird so zum wichtigsten unternehmerischen Aktionsparameter. (Abromeit 1977: 546)
Neben einer Verstärkung von Monopolisierungstendenzen unterläuft Werbung also die Nachfrageseite, die sich nicht mehr allein an der qualitätsbedingten Nachfrage nach dem Produkt selbst, sondern nun an durch die Werbung produzierten, mit dem Produkt assoziierten ›artifiziellen‹ Bedürfnissen orientiert. Damit wird aus makroökonomischer Perspektive das zentrale Regulativ von Angebot und Nachfrage umgangen: Wenn auch der Markt damit noch nicht außer Kraft gesetzt ist, so wird er doch von einer Preisrationalität hin zur ökonomischen Irrationalität eines virtuellen oder psychologischen Mehrwerts des mit dem Besitz einer Ware verbundenen Prestiges, Status, Images etc. verschoben. Über die Eigenwerbung hinaus spielt Werbung für die Medienindustrie jedoch eine ganz besondere Rolle: Werbung stellt die primäre Einnahmequelle der Medienindustrie dar. Während der kleinere Teil der Einnahmen bei den Printmedien, im Fernsehen, im Radio und im Internet über direkte Bezahlung durch den Konsumenten geschieht (z.B. Pay-TV), wird der größte Teil der Einnahmen durch eine »Querfinanzierung der publizistischen Medienleistung durch Werbeträgerleistungen« (z.B. Anzeigen, Werbeblöcke) eingespielt (Siegert et al. 2010: 522). Die Massenmedien verkaufen also in der Regel nicht dem Rezipienten Unterhaltung und Nachrichten, sondern der Werbewirtschaft Kontakte zu bestimmten, für die Industrie als potenzielle Käufer ökonomisch relevanten Rezipientengruppen. »Die werbetreibende Wirtschaft« und die diese beauftragenden Unternehmen werden so zu den eigentlichen »Nachfrager[n], an dessen Bedürfnissen sich die Medien« zu orientieren haben: »Reichweite, […] Zielgruppenaffinität und Werbefreundlichkeit der redaktionellen Umfelder« avancieren zu den »wichtigsten Kriterien für die Schaltung von Werbebotschaften« und werden zugleich »die bestimmende Orientierungsgröße für redaktionelle Konzepte und Programmplanung« (Siegert et al. 2010: 522). Neben relativ offensichtlichen Verquickungen zwischen Werbung und redaktionellem Teil in Form von Product-Placement und redaktionellen Verweisen auf Produkte und Dienstleistungen kann es so langfristig zu Formen der redaktionellen und journalistischen Selbstzensur in Hinsicht auf die Interessen der Werbekunden kommen.
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Dass dies die Nachrichten und deren Inhalte letztlich wiederum entdiversifizieren muss, ist offensichtlich; auch wenn der Einfluss von Werbeträgern auf den Journalismus nur schwer zu erfassen ist. Einen möglichen empirischen Zugang bieten hier Befragungen von Redakteuren und Journalisten, die jedoch starken Effekten der sozialen Erwünschtheit unterliegen (Marr et al. 2001: 146ff.). Ein Journalist wird sich seinem Selbstverständnis nach nur sehr ungern als PR-Agent der Werbewirtschaft darstellen, auch dann nicht, wenn er von außen betrachtet nicht mehr von einem solchen zu unterscheiden ist. Im Zuge einer Ökonomisierung der Medien lassen sich analoge Effekte aufzeigen. Neben den bereits beschriebenen Strategien der Gewinnmaximierung in Form einer Kostenoptimierung einerseits und einer Verwertungsorientierung andererseits gehen Ökonomisierungsstrategien mit einer starken Orientierung am Bedarf eines Massenpublikums einher. Um viele Kunden zu erreichen und einen umfangreichen Verkauf von potenzieller Aufmerksamkeit an die Werbeindustrie zu gewährleisten,341 werden Massenmedien aus ökonomischer Sicht erst zu dem, was sie sind: Medien für die Massen, in diesem Fall allerdings nicht die Masse der Entscheider oder Bürger, sondern die Masse der Kunden und Konsumenten (McQuail 1997: 9). Während im Rahmen eines demokratischen Diskurses möglichst jeder Bürger erreicht werden soll, müssen marktlogisch nur die werberelevanten Zielgruppen möglichst vollständig erreicht werden (Ettema/Whitney 1994: 5). Teile der Öffentlichkeit bleiben so, auch was die Informationsauswahl von Nachrichten angeht, im Sinne einer Entdiversifizierung ausgeschlossen. Schwerer noch als dieses zusätzliche Entdiversifizierungsmoment wiegt der Umstand, dass, wie etwa Croteau und Hoynes (2001: 157ff.) konstatieren, mit einer ökonomischen Ausrichtung der Medienprodukte am Geschmack eines Massenpublikums eine ›Boulevardisierung‹ und ›Entertainisierung‹ von Nachrichteninhalten einhergeht. Dabei fußen diese Aspekte der Ökonomisierung auf zwei Mechanismen, die das Publikum als ein Regulativ ausschließen; ein Regulativ, welches am Markt eine Nachfrage nach einem differenzierten, umfassenden und ausgewogenen Qualitätsjournalismus formulieren könnte. Der Rezipient hat erstens aufgrund der schlichten Tatsache, dass er nur die Medienereignisse kennt, die ihm als Nachrichten zugänglich gemacht werden, keinen ›echten‹ Qualitätsmaßstab (Siegert et al. 341 | Dass Aufmerksamkeit bzw. die Fähigkeit zur Erzeugung derselben im ›Zeitalter der Informationsflut‹ ein wertvolles und damit gut verkäufliches Gut darstellt, hat Manfred Franck in seiner Ökonomie der Aufmerksamkeit (2007: 62ff.) eindringlich beschrieben.
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2010: 531). In der Abwesenheit anderer, qualitativ hochwertiger Nachrichten über dieselben Sachverhalte fehlt ihm letztlich der Vergleich. Maximal formuliert sich ein Unbehagen über den Status quo. Zweitens spielt es in der Marktforschung, bei aller Elaboriertheit der inzwischen zur Verfügung stehenden Mittel der Datenerhebung,342 praktisch keine Rolle, wie der Mediennutzer idealiter informiert werden will, geschweige denn, wie er als Staatsbürger informiert werden sollte. Was letztlich solitär im Zentrum der Marktforschung steht, ist die Frage, was man welchen Kunden als Medienprodukte verkaufen kann.343 Die aus diesen Voraussetzungen insgesamt resultierenden Effekte fassen Siegert et al. schließlich folgendermaßen zusammen: Mit dem Ziel, die Reichweite der Medien zu erhöhen, gehen […] Boulevardisierung und Entertainisierung der Inhalte einher. Diese Entwicklung […] wird durch die eingeschränkte Qualitätsbeurteilung der Rezipienten verstärkt. Themen werden unter der Maßgabe des Unterhaltungswerts selektiert, und in der Aufarbeitung der Inhalte dominiert der Unterhaltungs- den Informationsaspekt. (2010: 531f.)
Beobachtbare Muster, die im Zuge dessen greifen, sind die Inszenierungen von Sachverhalten als Skandale, Spektakel und Sensationen.344 Formen, die dem am ehesten entsprechen, sind die des Infotainments, der Emotionalisierung und Entertainisierung. Wenn also Guy Debord in seiner Gesellschaft des Spektakels bereits im Jahre 1967 konstatiert: »Das Spektakel ist die ununterbrochene Rede, die die gegenwärtige Ordnung über sich selbst hält, ihr lobpreisender Monolog« (1996: 21), so behält er bis heute recht – allerdings nur dann, wenn man »die gegenwärtige Ordnung« als eine marktökonomische Ordnung versteht, die ihrerseits eine Ökonomisierung der Massenmedien produziert, und wenn man zugleich das Spektakuläre der 342 | Wie weit hier die empirischen Methoden fortgeschritten sind, zeigt sich beispielhaft in Sander 2004: 142ff.), Meffert et al. (2008: 91ff.) oder Homburg/Krohmer (2009: 25ff.) sowie daran, dass sich das Marketing heute zu einer eigenständigen Teildisziplin der Mikroökonomie entwickelt hat. 343 | Es ist auch außerhalb der empirischen Marktforschung kein Geheimnis, dass die Ergebnisse einer Befragung, Beobachtung oder eines Experiments davon abhängen, wonach man fragt, was man beobachten und herausfinden will. Zu den »Formen der Informationsgewinnung« von Kundeninformationen siehe überblicksartig Sander (2004: 143). 344 | Weiterführend hierzu Bulkow/Petersen (2011, 2011a).
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Massenmedien an den konkreten Formen der Emotionalisierung, Entertainisierung und Boulevardisierung und damit letztlich der Trivialisierung und Simplifizierung der Information festmacht. Nobert Bolz etwa fasst dies 50 Jahre nach Debord in einer eher polemischen als analytischen Beschreibung zusammen. So liest man bei Bolz über das Verhältnis der Massenmedien zur ›Welt‹: Die Welt ist komplex – und deshalb eigentlich gar nicht medientauglich. Man muss sie erst präparieren, indem man das jeweilige Problem personalisiert und Menschen für das, was geschieht, verantwortlich macht. Massenmedien moralisieren die Probleme, indem sie sie auf Entscheider und Betroffene, auf Täter und Opfer reduzieren. Man braucht Schuldige, um die Komplexität der Welt handhabbar zu machen. […] Personifizierung vereinfacht die Welt bis zum Bild auf dem Titelblatt der Nachrichten-Magazine […]: Massenmedien beeinflussen uns nicht, indem sie Partei ergreifen, sondern indem sie Ereignisse verdichten und dann auf Menschen zurechnen. (2007: 52)
Tatsächlich ist Bolz’ Beschreibung aber einerseits zu scharf,345 da sie den Massenmedien generell Mechanismen unterstellt, die zunächst einmal nur im Rahmen einer Ökonomisierung der Medienproduktion begründet angenommen werden können. Andererseits ist seine Beschreibung insofern problematisch, als sie nicht auf Beobachtungen, schon gar nicht auf systematischen Beobachtungen, sondern auf einer (nicht im Einzelnen nachgewiesenen) Luhmann-Rezeption basiert. In Die Realität der Massenmedien aus dem Jahre 1996 identifizierte Luhmann nicht nur bereits den Mechanismus der »Zurechnung auf […] Handelnde« (2004: 65) sowie eine Tendenz von Nachrichten zu moralischen Bewertungen, sondern er beschreibt auch Komplexitätsreduktion und Simplifikation als die zentralen Mechanismen des Systems der Massenmedien, ohne dabei jedoch wie Bolz die Komplexität des Systems gegenüber seiner Umwelt, die »externe und interne Komplexität«, zu unterschätzen (2004: 56f.). Trotzdem behält Bolz mit seiner Polemik dann Recht, wenn man sie auf die Effekte der Ökonomisierung von Nachrichten begrenzt. Mögen also die massenmedialen Selektionsmechanismen in Gänze beschrieben auch äußerst komplex sein und »hohe Freiheitsgrade« bescheren (Luhmann 2004: 57), so wird die Selektionsfreiheit doch gerade durch die ökonomischen Mechanismen
345 | So die Duden-Definition von »Polemik« als »unsachlicher Angriff, scharfe Kritik« (Duden 2000: 1057).
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reduziert – im Fall der kommerziellen und massenhaften Nachrichtenproduktion dahingehend, dass Komplexität reduziert wird, da, wie Luhmann ebenfalls bemerkt, im Rahmen von massenmedialen Nachrichten »auf leichte Verständlichkeit der Information für möglichst breite Empfängerkreise geachtet werden muss« (2004: 58). So wie dieser, wenn man so will, Journalismus des kleinsten gemeinsamen Nenners also einer Simplifi kation und Entdiversifizierung der Nachrichten und ihrer Inhalte Vorschub leistet, so leistet die ökonomische ›Bewertung‹ der Ware Nachricht – wie sich gezeigt hat – zugleich einer Simplifi kation und Trivialisierung der Information Vorschub.
Faktoren kommerzieller Nachrichten Als Zwischenergebnis lässt sich demnach festhalten, dass aus den Bedingungen marktökonomischer Medienproduktion eine Reihe von Nachrichtenfaktoren abgeleitet werden kann. Mit diesen neuen Faktoren ist im Gegensatz zu denen einer empirisch ausgerichteten Nachrichtenwerttheorie nun tatsächlich ein Wert der Nachrichtenfaktoren beschrieben – dahingehend nämlich, dass sich die Faktoren jetzt ausdrücklich in ihrem operationalen Wert als Selektionsmechanismen zur Ermöglichung eines maximalen Marktpreises für Nachrichten rein auf der Basis ökonomischer Prämissen bestimmen lassen: Nach der vorherrschenden neoliberalen Logik eines freien Marktes sollen Entdiversifizierung, Simplifikation und Trivialisierung es ermöglichen, Nachrichten möglichst gewinnbringend zu verkaufen. Daher kann man nun begründet annehmen, ohne es im Einzelnen empirisch belegen zu müssen, dass nach diesen Faktoren Nachrichten am Markt ausgewählt, inszeniert und narrativiert werden. Dass die Liste von Nachrichtenfaktoren mit den dreien nicht abgeschlossen ist, wird daran deutlich, dass neben den ökonomischen auch andere Faktoren eine Rolle spielen können, etwa bestimmte kulturelle oder gruppenspezifische Dispositive der Selektion, Inszenierung oder Narrativierung von Nachrichten. Als ein solcher Faktor kann etwa die Novität von Nachrichten gelten. Wenn Luhmann beispielsweise als primären Nachrichtenfaktor ›Neuheit‹ bestimmt – »Die Information muss neu sein. Sie muss mit bestehenden Erwartungen brechen« (2004: 58) –, ist das schon deswegen wenig überraschend, weil Luhmann damit letztlich nur die beiden definitorischen Komponenten dessen ausformuliert, was im Allgemeinen unter einer Nachricht bzw. deren Inhalt verstanden wird. Nachrichten präsentieren, wie es der englische Begriff ›news‹ expliziert, nicht nur Informationen, sondern Informationen als Neuigkeiten; so die Selbstbeschrei-
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bung von Nachrichten und dementsprechend auch die vom Publikum an die Nachrichten herangetragene Erwartung. Der Nachrichtenfaktor Novität findet somit zunächst einmal unabhängig vom ökonomischen Diskurs statt. Das wird unter anderem auch daran deutlich, dass Luhmann Neuheit als ein generelles Phänomen nicht nur der Massenmedien, sondern einer modernen Gesellschaft beschreibt, die, wenn man so will, auf permanente Produktion von Innovationen und Überraschungen gestellt ist. Selbst das, was als das Andere des Neuen veraltet ist, muss im Modus des Neo oder Retro wieder als Neues in den Diskurs eingeführt werden, bevor es bereits wieder veraltet ist: Die (für uns) alte Gesellschaft der Vormoderne hatte […] gute Gründe, der ›Neugier‹ (curiositas) zu mißtrauen und sich diese Selbstentwertung der Institutionen nicht gefallen zu lassen. Wir dagegen helfen uns mit der hochselektiven Aufwertung bestimmter Arten von Altsein zu Oldtimern, Klassikern, Antiquitäten, zu denen wir dann wieder neue Informationen, Preise, Interpretationen erzeugen können. Auch wir kennen also Formen, mit denen wir dem alt=neu Paradox begegnen können. (2004: 46)
Für die Novität von massenmedialen Inhalten, genauer: deren Funktion, folgert Luhmann schließlich (und er bietet damit implizit auch einen Begründungsansatz für den zwar nicht bei ihm, aber in der empirischen Medienwerttheorie immer wieder angeführten Faktor Negativismus): Massenmedien halten, könnte man deshalb auch sagen, die Gesellschaft wach. Sie erzeugen eine ständig erneuerte Bereitschaft, mit Überraschungen, ja mit Störungen zu rechnen. Insofern ›passen‹ die Massenmedien zu der beschleunigten Eigendynamik anderer Funktionssysteme wie Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, die die Gesellschaft ständig mit neuen Problemen konfrontieren. (2004: 47)
Massenmedien trainieren also »den Umgang mit Irritationen«, sie steigern »die Irritationsbereitschaft des Publikums« gerade in Bezug auf Negatives (Bolz 2007: 53) und passen das Publikum damit den beschleunigten Eigendynamiken der modernen Subsysteme, auch dem der Wirtschaft, an. Das ist aber nicht der einzige Punkt, an dem Novität und Ökonomie eine Allianz eingehen. Die Neuheit oder Aktualität einer Nachricht ist auch ein, wenn nicht das Verkaufsargument. Wenn Nachrichten Aktualität versprechen und das Publikum eine Einlösung des Versprechens erwartet, werden Medienunternehmen, um ihren Absatz sicherzustellen, genau die-
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ses Kundenbedürfnis erfüllen. Mehr noch: Jedes einzelne Unternehmen wird im Wettbewerb mit den anderen die anderen hinsichtlich der Aktualität seiner Nachrichten zu überbieten und sich mittels beschleunigter Aktualität einen Marktvorteil zu verschaffen suchen. Vom Publikum erwartet man dabei als Unternehmer – im Sinne einer Erwartungserwartung346 – ein ständig wachsendes Bedürfnis, eine ständig zunehmende Erwartung nach immer ›frischeren News‹. Vor dem Hintergrund der vier Nachrichtenfaktoren und insbesondere der damit verbundenen Inszenierungsformen erschließen sich nun auch die bereits angesprochenen Dynamiken der Anschläge des 11. Septembers als Medienspektakel und spektakuläres Live-Event, welches die Marktlogik der Massenmedien gezielt ausbeutete: Obwohl bei der Zerstörung des World Trade Centers knapp 3.000 Zivilisten ums Leben kamen, war hier nicht allein die hohe Zahl der Opfer entscheidend, sondern dass es sich um Zivilisten einerseits und um zufällige oder beliebige Opfer andererseits handelte. Indem sich die Anschläge gerade nicht auf einen bestimmten Personenkreis konzentrierten, wie etwa Soldaten oder die Mitglieder der Regierung, wurde der Kreis der potenziellen Opfer totalisiert: Es konnte letztlich jeden treffen, zu jeder Zeit und an jedem Ort. Der Terrorakt des 11. Septembers verkündete so eine Totalisierung der Bedrohung, eine Eskalation der terroristischen Gewalt weit über den tatsächlichen Anschlag und seine konkreten Opfer hinaus.347 Dass diese Totalisierung der terroristischen Bedrohung einer medialen Verbreitung bedurfte, ist offensichtlich. Erst in den Massenmedien konnte sich die terroristische Botschaft gänzlich entfalten und all ihre potenziellen Opfer erreichen.348 Bei solch einem 346 | Hierzu Luhmann, wenn es beispielsweise in Soziale Systeme heißt: »Soziale Relevanz und damit Eignung als Struktur sozialer Systeme gewinnen Erwartungen aber nur, wenn sie ihrerseits erwartet werden können. […] Das Erwarten muss reflexiv werden, es muß sich auf sich selbst beziehen können, und dies nicht nur im Sinne eines diffus begleitenden Bewußtseins, sondern so, daß es sich selbst als erwartend erwartet weiß. Nur so kann Erwarten ein soziales Feld mit mehr als einem Teilnehmer ordnen. Ego muss erwarten können, was Alter von ihm erwartet, um sein eigenes Erwarten und Verhalten mit den Erwartungen des anderen abstimmen zu können« (1987: 411f.). 347 | Ich greife hier Ausführungen aus der Einführung auf, da diese für die weitere Argumentation unverzichtbar sind. 348 | Bezeichnenderweise – und das nur als zusätzliches Indiz für die Validität der These – spielen drei der Beiträge von 11’09’’01 September 11. A Film by 11 Directors (F 2002) mit dem Motiv des uninformierten Zeitzeugen, der in seinem Unwissen um die Anschläge von 9/11 als von der Norm abweichender Sonderfall markiert wird. Dabei handelt es sich mit Kindern, Alten und Behinderten nämlich gerade um solche Figuren, die am
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grausamen Spektakel, wie es der Angriff auf die Twin Towers bot, konnte man sich ganz auf die unfreiwillige Unterstützung durch die Massenmedien verlassen, nicht zuletzt wegen der ausgesprochen ›guten Medienversorgung‹ New Yorks und der gesamten USA. Die Attentäter des 11. Septembers pflanzten den Terror damit direkt in die bestehende Medienlandschaft und beuteten gezielt deren beschleunigte Jagd nach Sensationen aus. So wurden schließlich, noch während der erste Turm kollabierte, die Bilder der Zerstörung live in die Fernsehnetze aller Nationen gespeist und bis ins scheinbar Unendliche vervielfältigt. Wie sehr sich die mediale Verbreitung dabei der individuellen Einflussnahme der einzelnen Medienmacher entzog und den Mechanismen der Marktlogik folgte, zeigt exemplarisch eine Äußerung von RTL-Anchorman Peter Kloeppel, der 2002 während einer Podiumsdiskussion auf die Frage nach der Funktionalisierung der Medien durch die Attentäter des 11. Septembers entgegnete: Ich habe in dem Moment [der Übernahme der Livebilder] nicht darüber nachgedacht, das gebe ich ganz ehrlich zu. Ich habe aber registriert, dass wir als Medium alles das bekommen, was man sich als Fernsehmedium ›wünscht‹ bei einer solchen Sache. Dass wir Bilder von den Örtlichkeiten bekommen, an denen etwas passiert, wo die Medienversorgung insgesamt sehr gut ist. Und für mich steht dann als Fernsehmacher in erster Linie die Frage im Vordergrund, was bekomme ich von wo? Die Diskussion darüber, was wir wie angestellt haben, was mit uns angestellt wurde, ist bei uns eigentlich erst am Tag danach richtig aufgekocht. (Kloeppel et al. 2003: 176f.)
Schließlich ginge es – so Kloeppel weiter und ganz nebenbei auch die Verantwortung vom »Fernsehmacher« auf das Publikum verschiebend – vor allem darum, die scheinbar grenzenlose Nachfrage der Zuschauer nach immer wieder frischen Nachrichten zu befriedigen: Die Leute wollen in dem Moment Informationen haben, und lechzen nach allem, was ihnen an der Nase vorbei geschoben wird. Es wäre natürlich schön […], Rande der Gesellschaft stehen und an denen die massenmediale Verbreitung der Terrorbotschaft vorbeilaufen konnte. Dabei sollen die ›Randfiguren‹ der einzelnen Kurzfilme offensichtlich einen ›anderen Blick‹ ermöglichen. Dieser beschränkt sich jedoch im amerikanischen und im französischen Beitrag von Sean Penn bzw. Claude Lelouch auf ein bloßes Nichtwissen der Protagonisten als filmische Pointe und im besten Fall des iranischen Beitrags von Samira Makhmalbaf auf ein grundsätzliches Unverständnis gegenüber den Attentaten bei iranischen Schulkindern.
Kapitel 3: Ökonomie der Massenmedien wenn man die Ruhe hätte, sich mit vielen Leuten zusammenzusetzen und zu fragen: ›Moment mal, was passiert da eigentlich? Anschläge in New York, alle Kameras sind drauf? Was haben die sich dabei gedacht?‹ Und dann denkt man zehn Minuten nach und in der Zeit ist eigentlich das, was man leisten muss in der Situation, schon vorbei. (2003: 177)
Vor diesem Hintergrund scheint es dann auch keine allzu kühne Metapher mehr, mit Paul Virilio (2002: 22) im Kontext der Anschläge von »Informationsbomben« zu sprechen;349 Informationsbomben, die von den Terroristen scharf gemacht und von den Medien im Rahmen der Mechanismen ihrer eigenen Marktlogik blind in die Menge geworfen wurden.
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IMPLIK ATIONEN
Aus der Anwendung der Überlegungen zur Marktökonomie der Massenmedien auf Diskurse über politisch motivierte Gewalt und ihre Täter resultiert nun eine Reihe von Implikationen, aus denen sich wiederum weiterführende Folgerungen und Schlüsse ableiten lassen – sowohl in einem metasprachlichen als auch in einem formallogischen Sinne.
Subjunktionen Zunächst seien daher die vier erarbeiteten Nachrichtenfaktoren Entdiversifizierung, Simplifikation, Trivialisierung und Novität – ungeachtet der Tatsache, dass sich voraussichtlich noch weitere Nachrichtenfaktoren bestimmen lassen350 – im Rahmen eines aussagenlogischen Kalküls dahingehend formalisiert, dass gilt: E S T N
= df = df = df = df
Informationen werden entdiversifiziert. Informationen werden simplifiziert. Informationen werden trivialisiert. Informationen werden auf Novität hin ausgerichtet.
Außerdem sei die bereits eingeführte Definition einer möglichst umfassenden Informiertheit, welche als Bedingung rationaler Entscheidungen über 349 | Siehe auch Virilios The Information Bomb aus dem Jahre 2005, wo er die Metapher nochmals aufgreift, sowie weiterführend Petersen (2007). 350 | Dieser Umstand spielt, wie sich zeigen wird, für die aus den Formalisierungen resultierenden – formalen und nicht-formalen – Folgerungen keine entscheidende Rolle.
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politisch motivierte Gewalt im Rahmen von demokratischen Diskursen identifiziert wurde, folgendermaßen definiert: Imu = df
Es resultiert eine möglichst umfassende Informiertheit der Rezipienten.
Zuletzt sei das Primat marktlogischer Produktion von Nachrichten definiert als: Mmö = df
Nachrichten werden vorrangig nach marktökonomischen Maßgaben produziert.
Auf der Basis dieser Definitionen lässt sich zunächst die folgende Subjunktion formulieren: 1
Mmö E S T N Wenn Nachrichten vorrangig nach marktökonomischen Maßgaben produziert werden, dann werden (die im Rahmen dieser Nachrichten produzierten) Informationen entdiversifiziert und/oder simplifiziert und/oder trivialisiert und/oder auf Novität hin ausgerichtet.
Genau das haben die Überlegungen zur ›Marktlogik‹ gezeigt. Zwar konnte (und sollte) das nicht im Rahmen einer qualitativen Untersuchung systematisch empirisch belegt werden – dies bleibt das Projekt einer quantitativ ausgerichteten Kommunikationswissenschaft –, doch können die Faktoren unter dem Primat einer unternehmerisch notwendigen Anwendung marktlogischer Prämissen vorausgesetzt werden: Wenn ich als Medienunternehmer marktlogisch handle, und eben das ist von einem Medienunternehmer als Unternehmer in einer Marktwirtschaft zwingend zu erwarten, dann bewirkt dieses Handeln die beschriebenen Faktoren, und zwar im Rahmen aller oder mehrerer der Faktoren, mindestens aber eines der Faktoren.351 Zusätzlich zur Subjunktion 1 kann auch die folgende Subjunktion begründet angenommen werden: 351 | Dabei kann davon ausgegangen werden, dass sich nach dem bisher zur Marktlogik Gesagten in der Regel alle, zumindest aber die meisten der Faktoren im faktischen Wettbewerb der Unternehmen herausbilden und darüber hinaus auch noch weitere. Formal gesehen ist der Nachsatz der Subjunktion bereits wahr, wenn einer der Faktoren, E, S, T oder N, wahr ist bzw. zutrifft. Genau das besagt das ›und / oder‹ ( ).
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2 E S T N ¬ Imu Wenn Informationen entdiversifiziert und/oder simplifiziert und/oder trivialisiert und/oder auf Novität hin ausgerichtet sind, dann resultiert keine möglichst umfassende Informiertheit der Rezipienten. Hierzu sei nochmals vor Augen geführt, was als möglichst umfassende Informiertheit respektive Information im Rahmen eines demokratischen Diskurses über politisch motivierte Gewalt bestimmt wurde: Informationen sollten bezogen auf die zu berichtenden Sachverhalte und die davon als Akteure und Beurteiler Betroffenen so umfassend, vielfältig und multiperspektivisch wie möglich sein. Vor diesem Hintergrund wird überdeutlich, dass entdifferenzierende, simplifizierende und trivialisierende Formen der Informationsbereitung, wie sie im Einzelnen beschrieben wurden, dem Anspruch einer möglichst umfassenden Informiertheit nicht gerecht werden können. Dasselbe gilt für den Faktor Novität, wenn auch nicht auf den ersten Blick. So scheint Neuheit oder Aktualität zunächst einmal neutral, beispielsweise gegenüber einer multiperspektivischen Information. Jedoch ist dort, wo eine beschleunigte Aktualität im Rahmen einer Wettbewerbsspirale aufseiten der Produzenten und einer Spirale sich verkürzender Aufmerksamkeit aufseiten der Rezipienten wirksam wird, buchstäblich immer weniger Zeit für eine möglichst umfassende, vielfältige und multiperspektivische Information. Somit gelten also Mmö (E S T N) und (E S T N) ¬ Imu. Beide Subjunktionen sind in dem Sinne ›wahr‹, als sie begründet angenommen werden können; womit wiederum die Prämissen eines hypothetischen Syllogismus erfüllt sind. In seiner allgemeinen Form lautet dieser (p q) (q r) (p r): »Wenn die Aussage p die Aussage q impliziert und die Aussage q die Aussage r impliziert, dann impliziert die Aussage p auch die Aussage r.«352 Angewandt auf die Subjunktionen 1 und 2 ergibt sich daraus die folgende formale Deduktion: 1 Mmö E S T N 2 E S T N ¬ Imu 3 Mmö ¬ Imu 1,2, HS
352 | Der formale Beweis dafür, dass es sich beim hypothetischen Syllogismus um einen allgemeingültigen Ausdruck/ein logisches Gesetz handelt, findet sich bei Zoglauer (2008: 49).
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Aus den Prämissen in den Zeilen 1 und 2 lässt sich Zeile 3 deduzieren, indem unter Verwendung des hypothetischen Syllogismus (HS) Zeile 3 aus den Prämissen der Zeilen 1 und 2 geschlossen wurde. Weit interessanter als die Formalisierung ist jedoch der Erkenntniswert der neu gewonnenen Subjunktion, formuliert man diese aus: 3
Mmö ¬ Imu Wenn Nachrichten vorrangig nach marktökonomischen Maßgaben produziert werden, dann resultiert keine möglichst umfassende Informiertheit der Rezipienten.
Marktökonomie und umfassende Informiertheit gehen also nicht zusammen. Damit ergibt sich auf der Basis von Subjunktion 3, die darum begründet angenommen werden kann, weil – wie im Einzelnen dargestellt – die Subjunktionen 1 und 2 ihrerseits begründet vorausgesetzt werden können, eine Reihe weiterführender Folgerungen bezogen auf demokratische Entscheidungen über politisch motivierte Gewalt. Die wichtigste Folgerung betriff t die Bedingung demokratischer Entscheidungen. So liest man beispielsweise bei Siegert et al. über den Anspruch »der Zivilgesellschaft« an die Massenmedien und hört dabei wiederum Habermas anklingen: Nach der Logik der Zivilgesellschaft steht als zentrale Norm die umfassende Information der Bürgerinnen und Bürger im Vordergrund, die durch die Medien instand gesetzt werden soll, um am gesellschaftlichen Diskurs auf kompetente und verantwortliche Art und Weise teilnehmen zu können. Journalistische Qualität wird zum Maßstab für die aufgeklärte Debatte, der Erfolg wird am Stand der ›Informiertheit‹ der Bevölkerung gemessen. (2010: 535)
Marktwirtschaftlich ausgerichtete Massenmedien messen jedoch nach einem anderen Maß, dem der Gewinnmaximierung und Konkurrenzvermeidung. Im Rahmen einer an marktökonomischen Maßgaben ausgerichteten operationalen Logik ist kein Raum für darüber hinausgehende gesamtgesellschaftliche Aufgaben und Funktionen. Und auch die von Adam Smith (2005: 467, 618f.) beschworene ›unsichtbare Hand des Marktes‹, die, gerade weil sie dem individuellen Interesse der einzelnen Akteure am Markt folgt, das Gemeinwohl aller Akteure fördern soll, muss hier versagen, selbst dann, wenn sie sich ökonomisch als wirksam erweisen sollte.353 353 | Zweifel sind hier mehr als angebracht, da ein sich im Interesse aller Akteure selbst regulierender Markt, wie gesehen, eine Illusion darstellt. Man denke nochmals
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Was für die Informiertheit der Zivilgesellschaft im Allgemeinen gilt, gilt insbesondere auch für demokratische Entscheidungen über politisch motivierte Gewalt. Die formale Folgerung »Wenn Nachrichten vorrangig nach marktökonomischen Maßgaben produziert werden, dann resultiert daraus keine möglichst umfassende Informiertheit der Rezipienten« führt wiederum zu der Folgerung, dass im Rahmen von demokratischen Entscheidungen über politisch motivierte Gewalt rein nach marktlogischen Prinzipien ausgerichtete Massenmedien versagen müssen. Sie mögen zahlungskräftigen und werberelevanten Zielgruppen jeden Wunsch qua Marktforschung von den Augen ablesen. Sie können (und wollen) jedoch keine möglichst umfassende Informiertheit aller Bürger als Entscheider gewährleisten, welche jedoch die Bedingung der Möglichkeit aller rationalen Entscheidungen und damit auch solcher über p0litisch motivierte Gewalt in einer ›Mediendemokratie‹ darstellt.354
Plädoyer für ein System öffentlich-rechtlicher Medien Aus den genannten Gründen kann aus den Überlegungen zur Ökonomie der Massenmedien nur ein Plädoyer für ein System wirtschaftlich unabhängiger Massenmedien in Form öffentlich-rechtlicher Medien folgen. Adressiert sind damit keine öffentlich-rechtlichen Medien, die sich so darstellen wie derzeit etwa das deutsche Fernsehen, wo sich ARD, ZDF und deren Tochtersender unter dem selbst gewählten Druck der Quote einer absurden Konkurrenz mit dem Privatfernsehen ausliefern und sich so einer Marktlogik beugen, der man von vornherein enthoben sein sollte. Erst wenn öffentlich-rechtliche Medien steuerfinanziert, potenziell durch alle politisch kontrolliert, für alle zugänglich sind und sich weder unmittelbar noch mittelbar dem Druck des Marktes aussetzen, erfüllen sie die gesellschaftliche Funktion, die privatwirtschaftlich ausgerichtete Medien per se nicht erfüllen können. Sich hier bloß auf eine Selbstregulierung, auf ein journalistisches Ethos oder eine in die Freiheit der Unternehmen partiell
an die beschriebenen Monopolisierungstendenzen, denen exogen per Gesetzgebung begegnet werden muss. Zur Rechtfertigung von Smith sei allerdings angemerkt, dass er staatliche Eingriffe in Form marktförderlicher Gesetzgebung nicht per se ausschließt (z.B. 2005: 95), auch wenn es in der Exegese von Smiths Wealth of Nations manchmal den Anschein hat. Hierzu ausführlich Vogl (2010: 31ff.), der auch die Vorgeschichte des Konzepts der ›unsichtbaren Hand‹ elaboriert. 354 | Siehe zum Konzept der Mediendemokratie und dessen Diskussion Donsbach/ Jandura (2003).
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eingreifende Gesetzgebung zu verlassen, kommt letztlich einer Enteignung der Entscheidung aller gleich. Nur indem – zwar nicht nur, aber auch – öffentlich-rechtliche Medien existieren, die einer Diktatur von Angebot und Nachfrage enthoben sind, kann überhaupt die Bedingung der Möglichkeit demokratischer Entscheidungsprozesse in demokratischen Staatssystemen erfüllt werden; zwar um den Preis einer staatlichen Einflussnahme, aber mit dem möglichen Gewinn der Demokratisierung von Entscheidungsprozessen, das heißt in diesem Fall: der ›Entmarktung‹ und damit gerade nicht der Enteignung von Entscheidungsprozessen. Genau das beschreibt auch der Syllogismus. Wenn die erste Prämisse eine andere ist, namentlich »Wenn Nachrichten nicht vorrangig nach marktökonomischen Maßgaben produziert werden«, dann folgt daraus eben auch nicht mehr zwangsläufig »Es resultiert keine möglichst umfassende Informiertheit der Rezipienten«. Das kann immer noch folgen, nun aber nicht mehr unbedingt. Vielmehr eröffnet sich jetzt die Möglichkeit der Alternative.355 Befragt man also die westlichen Demokratien daraufhin, ob diese im Sinne einer transzendentalen Konsistenz die Bedingungen der Möglichkeit dessen schaffen, was sie zu sein behaupten, dann gilt: Wenn Demokratien Demokratien sein wollen, müssen sie, auch wenn sie es nicht unbedingt gewährleisten können, doch zumindest ermöglichen, dass sich alle umfassend informieren können. Dafür bedarf es frei zugänglicher und wirtschaftlich unabhängiger staatlicher Medien. Nur mit diesen können alle rationale Entscheidungen treffen, nicht nur, aber auch solche über politisch motivierte Gewalt und deren Täter. Allerdings besteht in der staatlichen Einflussnahme selbst eine immer wieder praktizierte Form der Enteignung der Entscheidung. Das war das Projekt der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts. Nicht umsonst hieß, wie gesagt, das zentrale Presseorgan der UdSSR Prawda – Wahrheit.356 Die Prawda sollte, wie alle anderen Propagandaorgane der KPdSU, Wahrheit propagandistisch produzieren, indem Meinungsbildung mittels staatlicher Kontrolle massenmedial gleichgeschaltet wurde, zwar losgelöst von Marktmechanismen, aber auch losgelöst von jedem Widerstand extramedialer 355 | Ich mache hier nichts weiter, als dass ich die Funktionsweise des Subjunktors expliziere: Ist der Vordersatz wahr, muss der Nachsatz wahr sein. Ist der Vordersatz falsch, kann der Nachsatz wahr oder falsch sein. 356 | Auch in der Bezeichnung des im Auftrag von Joseph Goebbels entwickelten ›Volks empfängers‹ offenbart sich die Vorstellung einer Gleichschaltung der Meinungen, indem ›das Volk‹ eben nur das empfängt, was ein ›Führer‹ ihm als Wahrheit sendet.
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Korrespondenz oder Wahrheit und von vornherein losgelöst von der ›Wahrheit‹ demokratischer Mehrheitsentscheidungen. Entscheidungsprozesse, die auf massenmedialen Informationen beruhen – und das sind Entscheidungen, die den öffentlichen politischen Raum betreffen, fast ausnahmslos –, bewegen sich also innerhalb der Parameter marktwirtschaftlicher Deregulierung und staatlich-institutioneller Regulierung. Während massenmediale Deregulierung sich, wie gesehen, als ungeeignet erweist, ein demokratisches Ideologem zu realisieren, erscheint staatliche Regulierung, die sich der Kontrolle aller entzieht, dagegen als der Königsweg in die Diktatur. – Aber das ist buchstäblich eine andere Geschichte, deren analytische Betrachtung sich durchaus lohnen würde. Hier ging es dagegen um nicht mehr, aber auch nicht um weniger als darum, die Frage nach einer transzendentalen Konsistenz von demokratischen Diskursen über politisch motivierte Gewalt und ihre Täter zu beantworten.
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Fazit
Luhmanns eingangs zitierte Sentenz »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien« hat sich im Verlauf der Untersuchung für das Objekt derselben als durchaus treffend erwiesen: Was wir, die Rezipienten und Akteure der westlichen Mediendemokratien, über politisch motivierte Gewaltakte und ihre Täter wissen, wissen wir durch die Massenmedien. Und wenn es bei Luhmann unmittelbar anschließend heißt: »Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, dass wir diesen Quellen nicht trauen können. Wir wehren uns mit einem Manipulationsverdacht, der aber nicht zu nennenswerten Konsequenzen führt« (2004: 9), dann gilt dies ebenfalls für Akte politisch motivierter Gewalt. Die Glaubwürdigkeit dessen, was wir von den Massenmedien über diese Akte der Gewalt erfahren, steht immer schon infrage. Zugleich aber wird der Medienbeobachter in Ermangelung alternativer Quellen der Information immer auch gezwungen sein, den massenmedialen Äußerungen Glauben zu schenken: »Man wird alles Wissen mit den Vorzeichen des Bezweifelbaren versehen – und trotzdem darauf aufbauen, daran anschließen müssen« (2004: 9f.). Und man wird sich letztlich entscheiden müssen, seine Entscheidungen über politisch motivierte Gewalt aus massenmedialen Informationen resultieren zu lassen, will man sich nicht gegen die Entscheidung selbst entscheiden. Zwar bleibt es, wie in Kapitel 1 herausgearbeitet, im Rahmen eines interdependenztheoretischen Ansatzes grundsätzlich möglich, ein Medienereignis auf ein Referenzereignis einer extramedialen Realität zu beziehen, welches das Medienereignis bewahrheitet. Allerdings entspricht das keineswegs einer normalen Beobachtersituation. So werden beinahe alle Medienereignisse nicht zusammen mit ihren Referenzereignissen wahrgenommen. Ereignisse erscheinen fast ausnahmslos durch die Medien vermittelt und als Medienereignisse nicht an extramedialen Realitäten validierbar, sondern einzig an der Glaubwürdigkeit medial behaupteter Rea-
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litäten. Das gilt im Fall der Beurteilung politisch motivierter Gewalt selbst dann noch, wenn ein Referenzereignis beobachtbar bleibt, entscheidet doch die Beobachtung referenzieller Realität allein nicht darüber, wie Akte politisch motivierter Gewalt zu beurteilen sind, sondern, wenn überhaupt, darüber, ob etwas, das als Akt politisch motivierter Gewalt massenmedial berichtet wird, zu Recht als ein solcher berichtet wird. Trotzdem ist der Rezipient der Berichterstattung, wie sich im Rahmen von Kapitel 2 gezeigt hat, nicht gezwungen, beliebig jedem massenmedialen Diskurs über politisch motivierte Gewalt Glauben zu schenken. Man muss einzig von einem massenmedialen Diskurs das verlangen, was man laut Kamlah und Lorenzen (1996: 128) jedem »vernünftigen Reden« abverlangen kann: dass sich der Diskurs nämlich »nicht bloß durch Emotionen und nicht durch bloße Traditionen oder Moden bestimmen lässt«, sondern durch Rationalität in Form von Widerspruchsfreiheit. Selbst wenn die Positionen in einem Konflikt widersprüchlich sind, bleibt der massenmediale Diskurs daran beurteilbar, ob – immanent, transzendent und transzendental – widerspruchsfrei über diese Positionen berichtet wird. Immanente Widerspruchsfreiheit adressiert, wie gesehen, eine Konsistenz im Rahmen des Diskurses selbst. Transzendente Widerspruchsfreiheit bezieht sich auf die erweiterte Konsistenz der Beurteilungen von politisch motivierten Gewaltakten im Rahmen ihrer Argumentations- und Begründungszusammenhänge. Transzendentale Widerspruchsfreiheit schließlich richtet sich auf die Konsistenz der immanenten und transzendenten Argumentation zum zugrunde gelegten Ideologem. Das ist im Falle der westlichen Massenmedien das demokratische Ideologem einer potenziellen Entscheidung aller. Genau daraufhin waren die westlichen Massenmedien in Kapitel 3 zu befragen. Ist ein demokratisches Ideologem diesen doch ebenso kategorisch vorausgesetzt wie eine Marktwirtschaft, die als solche – trotz globaler Finanzkrisen und trotz der, mit den Worten Habermas’, »disparitären Entwicklungsdynamiken der Globalisierung« (2006: 62) – der Mehrheit, sicher nicht der Allgemeinheit, momentan noch alternativlos erscheint. So sind Marktwirtschaft und Kapitalismus als wirtschaftliche und gesellschaftliche Dispositive zwar auch im Rahmen der vorliegenden Analyse weitgehend unhinterfragt geblieben. Hier musste die Untersuchung analog zu Luhmanns Medienbeobachter gleichsam auf der Ebene des Misstrauens und des Verdachts stehen bleiben. Allerdings hat eine Rekonstruktion marktökonomischer Mechanismen und deren Folgen für die potenzielle Informiertheit aller eine Reflexion ermöglicht, die über eine transzendentale Konsistenz im engeren Sinne hinausgeht: Es hat sich gezeigt, dass, wenn eine möglichst umfassende Informiertheit aller die Voraussetzung
Fazit
für deren Entscheidung darstellt, diese Entscheidung nur unter der Voraussetzung der Existenz eines spezifischen Medienapparats ermöglicht werden kann; eines Medienapparats, der gleichermaßen ›entmarktet‹ und reguliert wie ›vergemeinschaftet‹ und institutionalisiert alle demokratischen Entscheider gleichermaßen bedient. Wenn man ein demokratisches Ideologem fordert, ja sogar institutionell voraussetzt, muss man auch irgendeine Art von reguliertem Informationssystem, das für alle zugänglich ist, schaffen und darf die Medien nicht einem freien und globalisierten Markt überlassen. Vor diesem Hintergrund hieße es schließlich auch, die vorliegende Untersuchung grundsätzlich misszuverstehen, wenn man in ihr eine Handlungsanleitung für die Durchführung von Entscheidungen über politisch motivierte Gewaltakte sähe. Hier ist vielmehr eine Taxonomie erarbeitet worden, die es ermöglicht, Diskurse über politisch motivierte Gewalt kritisch auf ihre Widerspruchsfreiheit hin zu befragen. Die Taxonomie selbst wurde dabei an faktischen Diskursbeispielen entwickelt, insbesondere denen des massenmedial kommunizierten ›War on Terror‹ und Tibetkonflikts, und kann nun als Instrument der kritischen Evaluation anderer faktischer Diskurse über politisch motivierte Gewalt und ihre Täter dienen. Genau diese Perspektive bietet die mit dem Instrumentarium der (klassischen) Formallogik entwickelte Taxonomie. Was die Taxonomie samt ihren medienepistemologischen Prämissen und marklogischen Konsequenzen dagegen nicht leisten kann, ist eine Beschreibung des Spontanen, Affektiven und Unbewussten der Entscheidung. Dass solche Entscheidungen stattfinden und dass man sich mit diesen wissenschaftlich auseinandersetzen kann und muss, ist damit genauso wenig geleugnet wie der Umstand, dass eine Entscheidung für eine Rationalität der Widerspruchsfreiheit nicht mehr als eine Entscheidung für etwas und damit gegen etwas anderes ist. Doch selbst wenn im Rahmen einer formalen Beschreibung politisch motivierter Gewaltdiskurse über affektive und emotionale Bedingungen der Ausbreitung von Propaganda geschwiegen werden muss, kann auf der Basis formaler Begriffsdefinitionen und der Beschreibung der begrifflichen Relationen nun doch bestimmt werden, was im hier definierten Sinne als nicht rational gelten soll – nämlich all das, was widersprüchlich ist. Damit ist es gelungen, ein Verfahren zu entwickeln, um Diskurse über politisch motivierte Gewalt in der Gegenwart oder im historischen Zeitverlauf zu analysieren, das heißt, sie mit den Mitteln der formalen Logik zu differenzieren, zu klassifizieren und kritisch zu evaluieren. Bezogen auf aktuelle Diskurse ergibt sich daraus insbesondere die Möglichkeit, etablierte und sich etablierende Diskurshoheiten kritisch zu hinterfragen.
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Terror und Propaganda
Ob damit aber auch eine neue Methode vorgelegt wurde, kann nur eine Ausarbeitung zeigen, zunächst in der Anwendung des modifizierten Analyseverfahrens auf andere und neue Untersuchungsobjekte, dann in der theoretischen Ausformulierung des Analyseverfahrens selbst. Wenn beispielsweise Michael Titzmann seiner methodischen Ausarbeitung der strukturalen Textanalyse die Subjunktion »Wenn Text-Analyse überhaupt intersubjektiv und wissenschaftlich sein kann, dann müssen sich Regeln formulieren lassen« (1993: 19) voranstellt, so müsste dies auch für die Ausformulierung des hier entwickelten Verfahrens hin zu einer Methode gelten. Als Methode bedürfte es eines Sets zueinander widerspruchsfreier präskriptiver Aussagen, damit eine solche formale Diskursanalyse intersubjektiv nachvollziehbar, praktizierbar und damit letztlich erst zu einer Methode wird. Für die weitere Ausformulierung des vorgelegten Verfahrens etwa zu einer Theorie von Diskursen über politisch motivierte Gewalt und ihre Täter bedürfte es dagegen eines Sets widerspruchsfreier deskriptiver Sätze, um Diskursformationen in ihrem So-Sein zu erklären und zu begründen. Dass hier folglich keine Theorie entwickelt wurde, ist offensichtlich: Es wird, von einigen Ansätzen abgesehen, etwa hinsichtlich der höheren Praktikabilität einer abgeschwächten Propaganda gegenüber radikalen Propaganden, gerade nicht erklärt, warum sich Diskurse über politisch motivierte Gewalt so darstellen, wie sie sich aktuell darstellen, oder so dargestellt haben, wie sie in der historischen Rekonstruktion erscheinen. Dass sich die Taxonomie, genauer: die Art und Weise der Entwicklung der Taxonomie, aber in Form von Regeln hin zu einer Methode ausformulieren lässt, steht außer Frage. Es könnte sich allerdings zeigen, dass sich diese Regeln letztlich auf einige wenige Regeln reduzieren, nämlich darauf, medienwissenschaftliche Objekte mit den Mitteln der formalen Logik möglichst exakt zu beschreiben, um auf diese formallogisch informierte Rekonstruktion aufbauend Diskurse zu evaluieren. Die basale Regel lautet also: Betreibe Diskurskritik mit den Mitteln einer angewandten Logik! Damit wäre im Rahmen der vorliegenden Untersuchung tatsächlich nicht der Weg für eine neue Theorie des Terrors und seiner Propaganda bereitet worden; jedoch hätte man es genau mit dem zu tun, was die Arbeit in ihrem Untertitel verspricht: Mit der Untersuchung läge eine selbstreflexive Anwendung formaler Logik auf ein medienwissenschaftliches Objekt vor. Damit wären die ersten und entscheidenden Schritte hin zu einer neuen medienwissenschaftlichen Disziplin getan und die methodischen Vorüberlegungen, die Prolegomena also, zu einer Analytischen Medienwissenschaft vorgelegt.
Anhang
258
Terror und Propaganda Definition von x und z K1
K2
K3
K4
1
W
W
W
W
x =df Held Machthaber z =df innerer Befreiungskrieg
2
W
F
W
W
x =df Befreiungskrieger Machthaber z =df innerer Befreiungskrieg
3
W
W
W
F
x =df Held Machthaber z =df äußerer Befreiungskrieg
4
W
F
W
F
x =df Befreiungskrieger Machthaber z =df äußerer Befreiungskrieg
5
W
W
F
W
x =df Held z =df innerer Befreiungsschlag
6
W
F
F
W
x =df Freiheitskämpfer z =df innerer Befreiungsschlag
7
W
W
F
F
x =df Held z =df äußerer Befreiungsschlag
8
W
F
F
F
x =df Freiheitskämpfer z =df äußerer Befreiungsschlag
9
F
W
W
W
x =df Amokläufer Machthaber z =df innerer Staatsterror
10
F
F
W
W
x =df Staatsterrorist Machthaber z =df innerer Staatsterror
11
F
W
W
F
x =df Amokläufer Machthaber z =df äußerer Staatsterror
12
F
F
W
F
x =df Staatsterrorist Machthaber z =df äußerer Staatsterror
13
F
W
F
W
x =df Amokläufer z =df innerer Amoklauf
14
F
F
F
W
x =df Terrorist z =df innerer Anschlag
15
F
W
F
F
x =df Amokläufer z =df äußerer Amoklauf
16
F
F
F
F
x =df Terrorist z =df äußerer Anschlag
K1: Die Mehrheit der Referenzgruppe der Beurteiler fühlt sich durch x und z nicht erschreckt. K2: Die Mehrheit grenzt an die Gesamtheit der Referenzgruppe der Beurteiler. K3: x ist ein Machthaber. K4: x agiert innerhalb seines eigenen Landes.
Tabelle 1.1: Ausformulierung der Taxonomie erster Ebene
Anhang Ausformulierung [Bezug zur Definition in Worten/zu Tabelle 1] innerer Befreiungskrieg eines Helden innerer Befreiungskrieg eines Befreiungskriegers
[7]
äußerer Befreiungskrieg eines Helden äußerer Befreiungskrieg eines Befreiungskriegers
[8]
innerer Befreiungsschlag eines Helden innerer Befreiungsschlag eines Freiheitskämpfers äußerer Befreiungsschlag eines Helden äußerer Befreiungsschlag eines Freiheitskämpfers innerer Staatsterror eines Amokläufers innerer Staatsterror eines Staatsterroristen
[5]
äußerer Staatsterror eines Amokläufers äußerer Staatsterror eines Staatsterroristen innerer Amoklauf eines Amokläufers innerer Anschlag eines Terroristen äußerer Amoklauf eines Amokläufers äußerer Anschlag eines Terroristen
[6]
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Sven Grampp, Jens Ruchatz Die Fernsehserie Eine medienwissenschaftliche Einführung September 2016, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,99 €, ISBN 978-3-8376-1755-9
Dennis Göttel, Florian Krautkrämer (Hg.) Scheiben Medien der Durchsicht und Speicherung September 2016, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3117-3
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Edition Medienwissenschaft Beate Ochsner, Robert Stock (Hg.) senseAbility – Mediale Praktiken des Sehens und Hörens August 2016, ca. 500 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3064-0
Christina Schachtner Das narrative Subjekt – Erzählen im Zeitalter des Internets Juni 2016, ca. 248 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2917-0
Gundolf S. Freyermuth Games | Game Design | Game Studies Eine Einführung 2015, 280 Seiten, kart., 17,99 €, ISBN 978-3-8376-2982-8
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Edition Medienwissenschaft Gundolf S. Freyermuth, Lisa Gotto (Hg.) Der Televisionär Wolfgang Menges transmediales Werk. Kritische und dokumentarische Perspektiven August 2016, ca. 620 Seiten, kart., ca. 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3178-4
Anne Grüne Formatierte Weltkultur? Zur Theorie und Praxis globalen Unterhaltungsfernsehens Juni 2016, ca. 490 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3301-6
Véronique Sina Comic – Film – Gender Zur (Re-)Medialisierung von Geschlecht im Comicfilm Februar 2016, 304 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3336-8
Hannes Niepold Die phantastische Serie Unschlüssigkeit, Bedeutungswahn und offene Enden: Verfahren des Erzählens in Serien wie »Twin Peaks«, »Lost« und »Like a Velvet Glove Cast in Iron« Februar 2016, 202 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3423-5
John David Seidler Die Verschwörung der Massenmedien Eine Kulturgeschichte vom Buchhändler-Komplott bis zur Lügenpresse Februar 2016, 372 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3406-8
Jonas Nesselhauf, Markus Schleich (Hg.) Das andere Fernsehen?! Eine Bestandsaufnahme des »Quality Television« Januar 2016, 306 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3187-6
Stefan Greif, Nils Lehnert, Anna-Carina Meywirth (Hg.) Popkultur und Fernsehen Historische und ästhetische Berührungspunkte 2015, 322 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2903-3
Nadja Urbani Medienkonkurrenzen um 2000 Affekte, Finanzkrisen und Geschlechtermythen in Roman, Film und Theater 2015, 528 Seiten, kart., zahlr. Abb., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3047-3
Julia Zons Casellis Pantelegraph Geschichte eines vergessenen Mediums 2015, 242 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3116-6
Sarah Ertl Protest als Ereignis Zur medialen Inszenierung von Bürgerpartizipation 2015, 372 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3067-1
Vincent Fröhlich Der Cliffhanger und die serielle Narration Analyse einer transmedialen Erzähltechnik 2015, 674 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2976-7
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