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German Pages 584 Year 2018
Katharina Eck Tapezierte Liebes — Reisen
wohnen +/− ausstellen Schriftenreihe Herausgegeben von Irene Nierhaus und Kathrin Heinz
wohnen +/− ausstellen Schriftenreihe, Band 4 Katharina Eck http://www.mariann-steegmann-institut.de/publikationen Forschungsfeld wohnen +/− ausstellen Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik Universität Bremen
Mit freundlicher Unterstützung der Gerda-Weiler-Stiftung für feministische Frauenforschung D-53894 Mechernich, www.gerda-weiler-stiftung.de
Diese Veröffentlichung lag dem Promotionsausschuss Dr. phil. der Universität Bremen als Dissertation vor. Gutachterin: Prof. Dr. Irene Nierhaus Gutachterin: Dr. habil Christiane Keim Das Kolloquium fand am 3. Dezember 2015 statt. Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept, Gestaltung und Satz: Christian Heinz Redaktion und Lektorat: Katharina Eck Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN: 978-3-8376-3205-7
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
KATHARINA ECK
Tapezierte Liebes —– Reisen Subjekt, Gender und Familie in Beziehungsräumen des frühindustriell-bürgerlichen Wohnens
wohnen +/− ausstellen
In halt
Vorwort
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1. Einleitung
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2. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete und ihren Wirkungsweisen
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2.1 Bild-, Panorama- oder Szenen-Tapete: Eine verwirrende Terminologie und eine (Neu-)Kategorisierung der „Bildtapete“ als Teil von Interieur-Anordnungen und Subjektivierungsprozessen
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2.1.1 Tapezierte Innenräume um 1800: Paradigmenwechsel in der
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Wohngeschichte 2.1.2 Textile, architekturale, motivische Wanderungen im Innenraum: Materialien und Dekore der Wandgestaltung bis zu und mit Bildtapeten 2.1.3 Von Materialien und Motiven zum Raum(-Wirkungs)-Dekor: Was wird aneinander tapeziert und welche Bilder fügen sich zu
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Panoramen?
2.2 „Taktiken des Wohnens“, „so mannigfaltig als möglich durchschnittene“ Sphären: Wohnen und In-Beziehung-Setzen mit Bildtapeten um 1800
75
2.2.1 Zimmerbilder: Verbildlichte, imaginierte und idealisierte Interieurs 84 2.2.2 Die Entfaltung des Gartens, die Beschreitung des Interieurs. Natur und Naturalisierungen als erste Achse der Analyse von Bildtapeten-
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räumen 2.2.3 Anordnungen im Raum, Anschließungen an die Gesellschaft: Bildersequenzen und Panorama-Blick als zweite Achse der Analyse
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von Bildtapetenräumen
2.3 Joseph Dufours Bildtapetenprogramme
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3. Dufours Paar-Anordnungen: Einübung und Er-Haltung von Subjektpositionen in Bezug zu tapezierten Interieurs
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3.1 Dufours Papier-Geschöpfe und Liebes-Figurationen
146
3.1.1 Telemach, Calypso, Eucharis: Eine ménage à trois der Tugend und
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Mäßigung 3.1.2 Psyche verdient sich Amors Liebe: Sensibilité und die Verkörper-
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lichung der Seele als epistemische Voraussetzung für eine ‚sittliche‘ Liebe und Ehe auf Tapeten 3.1.3 Paul und Virginie: Naturalisierung einer Freundschaftsliebe nach
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Rousseau’schen Prinzipien
3.2 Dynamik(en) des Wohnens in und mit Bildtapeten 3.2.1 Bilder – Ornamentik – Zeichen: Struktur der Wand, Ordnung
162 165
des Raums 3.2.2 AufgeRÄUMT: Dispositäre Anordnungen aus Bildtapete, (Ori-
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entierungs-)Raum und Subjekten
3.3 Literatur, Luxus, Lebendigkeit. Kontexte der Bildtapeten-Mode entlang der Theatralitäts-Achse 3.3.1 Die drei ‚L‘ und die Schule des Empfindens, der Bildung und des
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Wohnens. Der Philosoph Schleiermacher in seiner Gelenkfunktion 3.3.2 Wahrnehmung, Ausdruck, Spektakel. Die Theatralität des Alltags und die Bühne der Gesellschaft als dritte Analyseachse für Bildtapetenräume
194
4. Die Paysage de Télémaque – Bildwelten einer scheinbar idyllischen Liebesinsel; oder: wohin reist Telemach?
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4.1 Der moralisch-didaktische und ästhetische Gehalt der literarischen Vorlage: „Peindre, c’est non-seulement décrire les choses […]“
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4.2 Natoire, Tischbein, Gluck, … und ein Teeservice: Der Telemachstoff in Kunst, Musik und Alltag
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4.2.1 Malerei, Grafik, Raumprogramme und Kunstgewerbe
211
4.2.2 Musiktheater
226
4.3 Telemachs Reise in das Interieur und entlang der Wände
236
4.3.1 Warendorf: Inselimaginationen in einem Bürgerhaus im
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Münsterland 4.3.2 Telemach auf den Hammerhöfen: ein Fachwerkhaus in Rem-
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scheid-Lüttringhausen 4.3.3 Die Didaktiken der Insel und die Philanthropie auf Gut Borghorst:
302
Der Telemach-Gartensaal
4.4 Klassizismen und Fantasmen in Interaktion: was ‚Personal‘, Natur und Architektur der Tapete erzählen
318
4.5 Auf der Insel ist nach der Insel: Insel-Arkadien und Vergesellschaftung oder die Suche nach gesundem Sex
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4.5.1 Körpermodellierungen I – Hygiene, Sensibilité und die Denkfigur
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der Haushaltung(en) 4.5.2 Körpermodellierungen II – Zurichtungen der Geschlechter: délicatesse, Lebenskraft, tissu cellulaire, oder: in welchen Körperteilen liegt die Seele …
341
5. Les Amours de Psiché et de Cupidon: Bildwelten der Seele und des Weiblichen im eleganten Palastdekor; oder: wohin reist die Königstochter Psyche?
346
5.1 Der Mythos von „Amor und Psyche“ bei Apuleius und La Fontaine
346
5.2 ‚Besetzungen‘ der Psyche-Figur in der Kunst(handwerks)-, Ornament- und Interieurgeschichte
357
5.3 Entführung, Reise, Selbsterkenntnis: Die rites de savoir der jungen Königstochter
371
5.3.1 Das Teezimmer im Kartausgarten Eisenach: Botanik, geselliges
383
Lernen und die Platzierung(en) der Psyche im Gärtnerhaus 5.3.2 Badekultur, Zwischen-Räume und Erlebnisgesellschaft: Der Ova-
432
le Saal mit seinen Psyche-Anordnungen im klassizistischen Palais in Bad Doberan 5.3.3 Aufführungen von délicatesse bei den Leuchtenbergern. Das Eich-
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stätter Palais 5.3.4 Psyche in sechsfacher Hängung: Schloss Ellingen und die Gesamt-
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inszenierung eines theatrum domus et socialitatis
5.4 ‚Subjekte‘ der Liebe, „Verhältnis der Herzen“: Codierung(en) von Liebe und Partnerschaft und deren Sichtbarkeiten
470
6. P aul und Virginie oder die Liebe im „Reich der Frau- 487 en“: wohin reisen die beiden Kinder? 6.1 Ein ‚klassizistisches Martinique‘ auf dem pfälzischen Bauernhof: die Rarität Paul und Virginie auf dem Schlossgut Petry
487
6.1.1 Bernardin de Saint-Pierres Roman und die enthusiasmierte For-
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schungsreise seit Alexander von Humboldt 6.1.2 Intermedial Reisende: Das Gleiten vom Text über Grafiken an
494
die Wand 6.1.3 Das Schlossgut Petry: Exotistische Tapetenwelt und bacchanti-
497
sche Übergänge
6.2 Die Gefühlsgemeinschaft: eine ‚Ge-Wohnheit‘ zusammen zu leben
532
7. Schlussbetrachtung
543
Bibliografie
565
Bildnachweise
583
Vor wort
Das vorliegende Buch ist die im Bild- und Textteil leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation mit dem Titel „Und immer den Ton seines Geschlechtes beibehalten … von literarisierten Wänden zu dynamisierten Interieurs. Ordnungs- und Orientierungsräume für Geschlecht und Partnerschaft in und mit Bildtapeten des 19. Jahrhunderts aus der Manufaktur Dufour.“ Sie wurde am 3. Dezember 2015 vom Promotionsausschuss Dr. phil. an der Universität Bremen angenommen. Diese Dissertationsschrift habe ich in meiner Zeit als Stipendiatin am Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender (MSI) in der Kooperation mit dem Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik an der Universität Bremen anfertigen können. Ohne die konstante und intensive Förderung durch das MSI und insbesondere durch Dr. Kathrin Heinz sowie meine Doktormutter Prof. Dr. Irene Nierhaus, die mich seit Antritt des Stipendiums in Bremen betreut hat und mir seitdem in allen Belangen mit Rat und Tat zur Seite steht, wäre dies nicht möglich gewesen. Ihnen beiden gebührt daher an erster Stelle mein Dank. Hier in Bremen am Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik habe ich auch meine Zweitbetreuerin Dr. habil Christiane Keim kennengelernt, die mit ihren motivierenden Vorschlägen und wertvollen Anmerkungen die Entstehung aller Kapitel begleitet hat. Sie hat mich zusammen mit Irene Nierhaus und Kathrin Heinz immer wieder auf neue Denkwege und in produktive Bahnen gebracht. Darüber hinaus waren mir auch die Hinweise, Gespräche und der vielfältige Austausch mit allen TeilnehmerInnen der beiden regelmäßig stattfindenden Kolloquien, die ich besucht habe, eine große Unterstützung. Es handelt sich dabei um die Kolloquien Bild–Raum–Subjekt an der Universität Bremen sowie Methodologien kunst- und kulturwissenschaftlicher Geschlechterforschung an den Universitäten Bremen und Oldenburg. Die Arbeitsumgebung dort ist von kritischer Reflexion und einem im besten Sinne neugierigen Umgang miteinander geprägt und hat so meinen Zugang zu wissenschaftlichem Recherchieren und Denken und meine Freude am genauen Hinschauen und Hinterfragen sehr geprägt und gefestigt. Die regelmäßigen Treffen mit allen KollegInnen des Forschungsfeldes wohnen +/– ausstellen am MSI, unter anderem in der Forschungsgruppe und bei Forschungswerkstätten, haben mich insbesondere auf neue Ideen gebracht, aber auch für Hilfestellung beim Zeitmanagement und bei organisatorischen Belangen gesorgt. Namentlich danke ich Astrid Silvia Schönhagen, mit der ich mich speziell zum Gebiet der Bildtapeten-Forschung austauschen konnte und deren weitreichende Kenntnisse über Exotik- und Alteritätskonzepte im Wohnraum auch bereits in unseren gemeinsam herausgegebenen Tagungsband „Interieur und Bildtapete“ (Schriftenreihe wohnen +/– ausstellen, Band 2) eingeflossen sind. Meiner Kollegin am Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunst-
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Tapezierte Liebes — Reisen
pädagogik, Johanna Hartmann, danke ich für das unschlagbar gute Büro-Teamwork und dafür, dass sie zwischendrin und immer ein offenes Ohr für mich hat. Großer Dank gilt last but not least natürlich dem Ansprechpartner für alle Gestaltungsfragen schlechthin, der dieser Publikation und der Schriftenreihe ihr unverwechselbares Gesicht gab und gibt, Christian Heinz. Den Anstoß für meine Beschäftigung mit Bildtapeten erhielt ich allerdings schon in den Zeiten meines Masterstudiums der Historischen Kunst- und Bilddiskurse (Aisthesis) an den Universitäten KU Eichstätt-Ingolstadt, Augsburg und LMU München, wo ich durch mein damaliges Betreuerteam Prof. Dr. Michael Zimmermann (Kunstgeschichte) sowie Prof. Dr. Elisabeth Décultot (Germanistik, Ästhetikgeschichte) bei der Anfertigung meiner Masterarbeit zum Thema Mythos und Eros: Joseph Dufours Bildtapete zur Amor und Psyche-Fabel und bei der Entscheidung für eine spätere Promotion außerordentlich unterstützt worden bin. Dank dieser Betreuung und auch der überaus spannenden Seminare und Exkursionen während dieser Zeit konnte ich meinen Weg innerhalb der Kunstwissenschaft und Ästhetik finden. Auch ist mir dieser Weg durch die konstante Unterstützung meiner Eltern, Jutta und Peter Eck, sehr erleichtert worden. Sie sind in den nicht ausbleibenden Phasen der Zweifel und Beschwerlichkeiten immer für mich da gewesen. Gewidmet sei dieses Buch meinen Eltern in ihrer Neu-Ausrichtung von spanischer Sonne ins Schietwedder, sowie meinem lieben Bruder Alexander Eck in seiner Neu-Ausrichtung im „Reich der Frauen“.
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�. Einleitung Der Reisende Friedrich Blaul beschrieb in seinem Buch „Träume und Schäume vom Rhein“ 1838 die Wirkung einer französischen Bildtapete mit den Worten: „[…] eine furchtbare großartige Zeit stieg rings vor meinen Augen aus dem Grabe: Der Held des Jahrhunderts auf seiner ersten Kriegsfahrt in Italien. Die Tapete war grau in grau gemalt und die Dämmerung gab all diesen Gestalten ein wundersames Leben. Da ziehen die Helden der Republik mit übermenschlichen Anstrengungen über die Alpen […].“1 Bei Erscheinen dieses Reisebuches war die Hochkonjunktur der Bildtapeten allerdings schon vorbei; die französischen Papiers Peints waren um 1800 bis in die 1830er Jahre, also für eine vergleichsweise kurze Zeitspanne, ein äußerst beliebtes Einrichtungsobjekt und haben entsprechend im späteren 19. Jahrhundert dann auch Eingang in die Literatur gefunden. Sie stehen in der vorliegenden Forschungsarbeit im Mittelpunkt, und mit ihnen die Räume, Häuser und Betrachter- bzw. Bewohnersubjekte, die sich mit ihnen in Beziehung setzen. Als ein sehr spezifisches Handdruck-Erzeugnis bzw. eine eigene Produktklasse sind sie von anderen szenischen (Bild-)Tapeten abzusetzen, die es u. a. auch in Deutschland gab, und so ist in dieser Arbeit mit der Bezeichnung ‚Bildtapete‘ auch durchgehend dieses Papier Peint gemeint. Schon beim Betreten eines Raums können diese aneinander tapezierten Bildwelten ihre BetrachterInnen in den Bann ziehen. Wie man an der von Blaul thematisierten Napoleon-Tapete aus der Manufaktur Dufour sieht, scheint mit ihnen und durch sie Vergangenes und Fantasiertes direkt „aus dem Grabe“2 heraus zum Leben erweckt zu werden, ohne dass jedoch ihre Medialität, ihr Gemacht-Sein dabei vergessen oder verdrängt werden würde. Sie verleiten eher zu einem bewussten Fantasieren und Interagieren. Die Rede von „Helden“3 und ihren Taten 1
Friedrich Blaul: Träume und Schäume vom Rhein. In Reisebildern aus
Rheinbayern und den angrenzenden Ländern, zit. n. Sabine Thümmler: „Zwischen Wohnen und Wahn. Tapeten in Interieurbeschreibungen“, in: Barbara von Orelli-Messerli (Hg.): Ein Dialog der Künste. Beschreibungen von Innenarchitektur und Interieurs in der Literatur von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2014, S. 102–111, hier S. 108. 2 Ebd. 3 Ebd.
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Tapezierte Liebes — Reisen
verweist darauf, dass dieses Genre an Tapeten – und hier ist ein erster wichtiger Unterschied zu anderen Tapetendekoren festzuhalten – eine Geschichte erzählt respektive an ihrem Anbringungsort ein aus Einzelfiguren und -elementen zusammengesetztes Narrativ entfaltet. In den folgenden Kapiteln geht es um ‚Heldinnen‘ und ‚Helden‘, die mit ihrer Handlung zugleich einen wie auch immer gearteten Mythos entlang der Wände und im Raum fortschreiben. Es sind, wie sich zeigen wird, Liebes-Reisende. Diese Bildtapeten sind viel mehr als eine idyllische Szenerie für den Innenraum: Sie entfalten ihr Wirkungspotenzial innerhalb und als Teil von Machtverhältnissen und sind somit politische Medien und weitaus mehr als Dekorationsobjekte. Eines der Hauptanliegen dieser Arbeit ist es entsprechend, die Mechanismen der Subjektformung bzw. die Herausbildung und alltägliche (Neu-)Aufführung eines Beziehungsgeflechts von Tapetenelementen, Raum und BetrachterInnen auszuloten und damit zu beginnen, die eklatante Forschungslücke in dieser Art der Erforschung von Bildtapetenräumen zu schließen. Wenn die Tapetenforscherin Lesley Hoskins betont: „The wall becomes a site of discourse, whether consciously or unconsciously. And in the case of scenic wallpapers, that discourse becomes a message […]“,4 wird bereits klar markiert, dass Bildtapeten Anteil an Diskursformationen haben und nicht nur dem Innenraum anhaften, sondern zwischen dem ‚Innen‘ eines privaten Hauses und dem ‚Außen‘ der Vergesellschaftung und Machtverschiebungen vermitteln. Sie gestalten also diese sozialen Räume über die Ebene der Subjekte und ihres Wohnens und Kommunizierens aktiv mit. Diese „message“5 der Bildtapeten wird nun aber weder direkt von der Wand auf die Betrachtenden übertragen, noch ist sie eindeutig und ein für alle Mal fixiert. Raumkonstellationen, die von verschiedenen Subjekten zu verschiedenen Zeiten einmalig oder auch wiederholt betreten und erfahren werden, lassen ein momenthaftes Beziehungsgefüge entstehen, in dem auch die Elemente der Tapete performativ wirksam werden können; sie geben also kein unveränderliches Bild ab. Dieser Tatsache wird man sich nicht unbedingt sofort bewusst, da diese Tapeten gerade so gestaltet sind, dass sie ein kohärentes Gesamtbild aus einzelnen Szenen vor Augen führen, welches zumeist aus der Landschaftsmalerei oder auch von Aquarellen aus Reisebüchern und Journalen bekannte Natur- und Architekturkulissen darstellt. Das Beispiel der napoleonischen Feldzüge auf der von Blaul beschriebenen Tapete schiebt dabei besonders seine politisch-ideologische Aussage in den Vordergrund, jedoch sind – so lautet eine grundlegende These der vorliegenden
4 Odile Nouvel-Kammerer: „Wide Horizons: French Scenic Papers“, in: Lesley Hoskins (Hg.): The Papered Wall: The History, Patterns and Techniques of Wallpaper, London: Thames & Hudson 2005, S. 94–113, hier S. 94. 5 Ebd.
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�. Einleitung
Arbeit – auch andere Tapetensujets, wie bspw. die ‚harmlos-pittoresk‘ wirkenden Literaturtapeten, die auf beliebten literarischen Stoffen beruhen, durchaus politisch bzw. können es werden.
Landschaft im Innenraum … oder die Kunst, rosa Putti und Madonnen neben Panzer zu collagieren Die Verklammerung von Natur im Innenraum und politischer „message“6 mittels und auf Tapetenbahnen ist in der aktuellen Kunstproduktion ein spezifisches Vorgehen der in Bremen und Berlin lebenden Künstlerin Patricia Lambertus. Sie greift für ihre großformatigen Tapeten-Installationen u. a. auf historische Bildtapeten – insbesondere Napoleon- und Schlachten-Tapeten – zurück, die sie versatzstückartig mit anderen Bildelementen, die hauptsächlich aus der Medienberichterstattung stammen, und mit sehr heterogenen Ornamenten, Motiven und Materialien in digitaler Bearbeitung zu einem panoramatischen Raumbild collagiert. In Lambertus’ Installationen verbinden sich Krieg und Kitsch, Historisches und Aktuelles, idyllische und zerstörerische Bilder zu einem „Illusionsraum“ und einer „Ruinenlandschaft“,7 der oder die körperlich und in mehreren Wahrnehmungsetappen erfahren werden will. Um sich über das Dargestellte eine Orientierung zu verschaffen, muss man gegebenenfalls Objekte wie den Stummen Diener oder den Keramikelefanten in der Rauminstallation „Kiss me, Hardy“ [Abb. 1] umrunden und sich der Wand annähern, sich von ihr distanzieren, sich sogar mit herunterhängenden Fetzen mehrerer Papiertapetenschichten auseinandersetzen. Lambertus arbeitet mit einer Schichtung dieser verschiedenen Bedeutungsträger und ihrer semantischen Bezüge, oder auch, wie sie in einem Vortrag 2014 an der Universität Bremen formulierte, mit „Stratigrafien“ bzw. „Fundhorizonten“.8 Dieses Konzept verweist darauf, dass sich Bedeutung nicht so einfach an der Oberfläche abgreifen oder ablesen lässt, sondern sich in Schichten überlagert, verdeckt und teilweise freigibt, wie es die materielle Anordnung, Zerstückelung und Wiederverwendung ihrer Installationen auch auf der Ebene
6 7
Ebd.
8
Vortrag von Patricia Lambertus am 3. November 2014 im Programm
Ludwig Seyfarth: „Krieg im Illusionsraum/War in Illusionistic Space“. Siehe die Begleitpublikation zur Ausstellung von Patricia Lambertus: Oliver Kornhoff (Hg.): kiss me, hardy, Bad Ems/ Künstlerhaus Schloss Balmoral 2014, o. S. des Forschungsfeldes wohnen +/– ausstellen in der Kooperation des Instituts für
Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik der Universität Bremen mit dem Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender: „Kiss me, Hardy. Stratigrafien zwischen Kitsch und Gewalt in Bildräumen des Wohnens“.
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Tapezierte Liebes — Reisen
Abb. 1 Patricia Lambertus: Teilansicht der Rauminstallation „Kiss me, hardy“, Bad Ems 2013.
des Gemacht-Seins vorführt. Die BetrachterInnen werden entsprechend dazu angehalten, sich auf ein Spiel zwischen Oberfläche und Tiefe, schönen Aussichten und plötzlichen Einbrüchen von Gewalt sowie ein Gleiten zwischen dem illusionären Innenraum und seiner Situierung im weiteren geographisch-kulturellen Sinne einzulassen. Um beim Beispiel „Kiss me, Hardy“ zu bleiben, so entsteht die irritierende Spannung der von Brüchen und Rissen zersetzten militärisch aufgeladenen Landschaft hier nicht zuletzt dadurch, dass die Installation inmitten des mondänen Kurortes Bad Ems in einem als barock markierten Setting situiert wurde.9 Die Tapetenfragmente setzen sich so in einen ironischen Bezug zu diesem Ort, etwa wenn eine militärisch gekleidete Reiterin – sichtbar ein Portrait der Künstlerin selbst – einen madonnenhaften Heiligenschein bekommt, oder ein Puttenmädchen im rosa Kleid ein Maschinengewehr hält [Abb. 2 und Abb. 3]. Die interessante Verknüpfung mit meinem Thema der literarischen Bildtapeten des frühen 19. Jahrhunderts ist jedoch nicht so sehr die Wieder-Verwendung und -Verwertung eines Papier Peint mit Schlachtenmotiven – auch wenn diese Collagierung sehr eindrücklich die Fragekomplexe der Nacherzählung und Bewertung sowie Mythifizierung historischer Ereignisse und des fiktionalen Charakters von Geschichtsschreibung überhaupt aufwirft. Vielmehr soll das 9
Siehe die Begleitpublikation zur Ausstellung, wie Anm. 7. In den letzten
Jahren hat sich Lambertus verstärkt mit Raumanordnungen in barocken Schlössern und Gärten auseinandergesetzt, so auch für ein Projekt in Schloss Hundisburg in Sachsen-Anhalt 2011 und für das Werk „Chambre Bleu“ im Kunstverein Schwerin 2014. Die Ausstellung „Apokalypse“ 2016 in der St. Stephani Kirche Bremen ist direkt in einen sakralen Innenraum gesetzt und lässt so Titel, Materialität, Bildsprache und Raum mit- und ineinander wirken. Siehe die Website der Künstlerin: http://www.patricialambertus.de/ [zuletzt aufgerufen: 11.08.2016].
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�. Einleitung
Abb. 2 Patricia Lambertus: Detail der Rauminstallation „Kiss me, hardy“, Bad Ems 2013. Abb. 3 Patricia Lambertus: Detail der Rauminstallation „Kiss me, hardy“, Bad Ems 2013.
Augenmerk auf Lambertus’ Umgang mit dem Raum und mit der sehr subjektiven Wirkung von zusammengestellten Elementen auf die Betrachtenden in diesem Raum liegen. Damit ist man wieder bei der scheinbar zusammenhängenden Landschaft und idyllischen Wirkung der Papiers Peints angelangt und stellt sich noch eindringlicher die Frage, was an der Landschaft eigentlich idyllisch ist und wovon dies abhängt. Gerade die im späten 18. Jahrhundert neu aufkommenden ästhetischen Theorien und wahrnehmungstheoretischen Schriften formten die vorherrschenden Bilder und Vorstellungen von Freiheit, Ungezwungenheit, Gesundheit und Naturgenuss mit, die dazu noch mit einem seit Johann Joachim Winckelmann und Johann Gottfried Herder in Deutschland und bald in ganz Europa verbreiteten Antikeideal verknüpft worden sind. So konnten diese (Denk-) Bilder den Blick auf Landschaftsdarstellungen bestimmen und die Tapeten maßgeblich mitproduzieren. Die ‚Landschaft‘ der Tapeten ist dann vielmehr ein Resultat aus politischen und ästhetischen Diskursen und Strategien, ist also bereits vielfach kulturell gemacht, besetzt, visualisiert, erfahren, genutzt, beschrieben … und wird dies erneut in und mit den Tapeten. Mit diesem Landschaftskonzept verbunden sind Themenkomplexe der Reise und Eroberung, des Wissenserwerbs und -weitertragens und des Sich-im-Raum-Bewegens überhaupt.10
10 Mit William Mitchell gesprochen, ist Landschaft also nicht einfach da oder repräsentiert einen Inhalt X, sondern „tut“ etwas und ist eher als eine Kulturtechnik zu analysieren, „that would ask not just what landscape ‚is‘ or ‚means‘ but what it does, how it works as a cultural practice […] it is an instrument of cultural
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Tapezierte Liebes — Reisen
Das Papier Peint im Fokus einer kunst- und kulturgeschichtlichen Forschung Mit einer intensiven kulturwissenschaftlichen Reflexion zum Thema Bildtapeten, zu deren Aussagen, Anwendungsmöglichkeiten und räumlich-situativen Rahmungen respektive ästhetischen Strukturen sowie der mit ihnen in den Fokus rückenden wahrnehmungstheoretischen Ebene hatte ich mich bereits 2009 in einer Masterarbeit zur „Amor und Psyche“-Tapete der Manufaktur Dufour befasst.11 Während meines kunstwissenschaftlichen Studiums nutzte ich die Möglichkeit ein Semester in Paris zu verbringen und konnte in der dortigen Bibliothèque Forney alle sehr gut erhaltenen Bahnen der Dufour’schen Erfolgstapete aus der Nähe betrachten,12 von der ich bisher nur einen Teil aus dem Eichstätter Landratsamt bzw. ehemaligen Fürstbischöflichen Palais kannte;13 kurze Zeit später konnte ich mich bei der Konferenz der „Journées d’études Joseph Dufour“14 in Tramayes im Südburgund über die neuesten Forschungsansätze zur Tapetenproduktion Dufours informieren. Mich hatte besonders fasziniert, wie unterschiedlich die einzelnen unter die Kategorie ‚Bildtapete‘ bzw. ‚Panoramatapete‘ zusammengefassten Tapeten in der Anbringung in konkreten Räumen wirkten. Dazu hatte ich mir in meiner Masterarbeit auch die Frage gestellt, inwiefern die „Amor und Psyche“-Tapete überhaupt als
power […]“. Vgl. W. J.T. Mitchell (Hg.): Landscape and Power, Chicago: The University of Chicago Press 1994, v.a. „Introduction“, S. 1–4, hier S. 1f. In diese Richtung geht auch der Tagungsband Landschaftlichkeit von 2010, in dem Landschaften, wie es einführend heißt, „als Wirkungsgefüge verstanden“ werden, „die ihrerseits an der Konstruktion und Aufrechterhaltung von Raum- und Gesellschaftsordnungen beteiligt sind“, sodass sie auch nicht ‚einfach nur‘ und direkt ‚Natur‘ repräsentieren, und „wir in der Landschaft nicht Natur gegenübertreten“, sondern wir es vielmehr mit einer „im Medium des Ästhetischen vergegenwärtigten und repräsentierten Vorund Darstellung von Natur“ zu tun haben. Vgl. Irene Nierhaus, Josch Hoenes und Annette Urban (Hgg.): Landschaftlichkeit – zwischen Kunst, Architektur und Theorie, Berlin: Reimer 2010, Einleitung: „Landschaft – Landschaftlichkeit. Transformationen eines kulturellen Raumkonzeptes“, S. 9–19, hier S. 11. 11
Katharina Eck: Mythos und Eros: Joseph Dufours Bildtapete zur Amor und
Psyche-Fabel, verfasst und eingereicht an der KU Eichstätt-Ingolstadt, zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts am 30.9.2009, unveröffentlicht. 12
Dafür danke ich Dominique Deangeli Cayol, der Leiterin der Abteilung
für bedruckte Tapeten und Stoffe an der Bibliothèque Forney, Paris. 13
Siehe das Teilkapitel 5.3.3 der vorliegenden Arbeit: „Aufführungen von
délicatesse bei den Leuchtenbergern. Das Eichstätter Palais“. 14
Der entsprechende Tagungsband erschien ein Jahr darauf: Bernard Jacqué
und Georgette Pastiaux-Thiriat (Hgg.): Joseph Dufour: Manufacturier de Papier Peint [Journées d‘études, 8.–10. Mai 2009], Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2010.
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�. Einleitung
eine Panoramatapete gelten könne und ob sich die einzelnen Szenen wirklich panoramatisch zusammenfügen, bzw. wie sich hier und in anderen, eher als ‚Landschaftstapeten‘ wirkenden Papiers Peints das Verhältnis von erzählenden Elementen und Kulissenhaftigkeit darstellt. Über die gängige Charakterisierung als bürgerliches Medium, das gewissermaßen die Adelsdekore und näherhin Tapisserien und Wandbemalungen abgelöst hat und dabei als Produkt einer revolutionären Zeit auch selbst revolutionär zu sein scheint,15 näherte ich mich diesen Tapeten weiter unter der Prämisse an, dass sie als ein Teil eines politischen Programms und daher kaum als ein harmloses und lediglich die Wände verschönerndes Dekor gesehen werden müssen. Eine weitere Erkenntnis meiner Masterarbeit war zudem gewesen, dass die in den einzelnen Szenen entfaltete Thematik im Zusammenspiel mit der räumlichen Konstellation aktiv und aus- (bzw. ein-)drücklich Subjekte prägt – umso mehr, wenn diese in den so gestalteten Wänden zuhause sind und sich in ihrem Alltag bewegen. Ich konzentrierte mich näherhin auf die Geschlechterformung und Herausbildung eines neuen, im Zuge der europäischen Aufklärung immer weiter verbreiteten Liebes- und Ehediskurses, der im 19. Jahrhundert bis in die tapezierten Innenräume hinein re-inszeniert und als zu erstrebende Existenzform naturalisiert worden ist. Mit dem Beginn meiner Promotion im Rahmen des Mariann-Steegmann-Stipendiums 2010 konnte ich einerseits weitere Bildtapeten in meine Analysen einbeziehen und in ein Verhältnis setzen und andererseits sehr viele verschiedene mit ihnen ausgestattete Räume und Häuser untersuchen. So trat auch der Aspekt der Praktiken und Didaktiken des Wohnens um 1800 in Verbindung mit den Themen, Motiven und (materiellen) Kombinationsmöglichkeiten der Tapetenbahnen immer mehr in den Vordergrund meines Arbeitens. Nach und nach konnte ich vertiefende Erkenntnisse zum Themenkomplex der Geschlechterformierung im und durch das Wohnen und Einrichten, der Inneneinrichtung als politisch wirksames Gefüge und der Konstruiertheit von auf den ersten Blick selbstverständlich gegebenen (sozialen, ökonomischen, ästhetischen) Ordnungen gewinnen. Wenn in diesem Zusammenhang, d.h. auf den Zeitraum der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bezogen, vom Innenraum als Interieur die Rede ist, so sei auch daran erinnert, dass damit „das komparativisch zu verstehende Interieur als Inneres des Innen“16 gemeint ist. In Bezug
15
Aus aktueller Forschungsperspektive: siehe ebd.
16
Günter Oesterle: „Poetische Innenräume des 18. Jahrhunderts“, in:
Christiane Holm und Heinrich Dilly (Hgg.): Innenseiten des Gartenreichs. Die Wörlitzer Interieurs im englisch-deutschen Kulturvergleich, Halle: Mitteldeutscher Verlag 2011, S. 59–71, hier S. 61.
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Tapezierte Liebes — Reisen
auf den Raum gestaltende und sich darin aufhaltende Subjekte wird damit eine Erweiterung des Begriffs des Innenraums oder der Inneneinrichtung respektive eine methodische Ausdehnung des Verständnisses vom (architektonischen) Wohn- oder Innenraum zum Interaktionsraum17 und zum „Resonanzraum des Subjekts“18 vorgenommen. Der Verweis auf ein „frühindustriell-bürgerliches Wohnen“ im Titel des Buches markiert zudem, dass es sich um Innen- und Resonanzräume zu Zeiten einer historischen Wende zu Massenproduktion und -konsum, nach dem Vorbild und ausgerichtet an den Bedürfnissen eines aufstrebenden Bürgertums, handelt. Im Vordergrund steht somit nicht eine monographische Abhandlung über die Manufaktur Dufour mit einem Meisterdiskurs rund um den Gründer Joseph Dufour, wie es der gängigen Praxis in der Kunstgewerbeforschung entsprechen würde, und auch nicht eine hauptsächlich ikonographische Bildanalyse der Tapetenszenen ohne weiteren Bezug zu den räumlichen Settings und den BewohnerInnen, und erst recht nicht eine designgeschichtliche Einordnung (und Bewertung) des/der Objekte(s). Dies heißt nun nicht, dass diese Aspekte keine Rolle spielen sollen – sowohl die wichtigen Fakten zur Arbeit in der Manufaktur und die Problematisierung der hier leider klaffenden Informationslücken als auch einige teils sehr detaillierte Bildanalysen nebst Verbindungslinien dieser Bildinhalte zu kultur- und auch konsumgeschichtlichen Phänomenen werden in den einzelnen Kapiteln dieser Arbeit berücksichtigt werden. Jedoch ist es das Ziel, insbesondere solche Verbindungslinien aufzuspüren und in den Fokus zu rücken, die aufgrund der Problemfelder einzelner Disziplinen in einem beispielsweise rein kunsthistorischen oder soziologischen Rahmen bisher nicht weiter aufgefallen sind und thematisiert wurden. So ist es zwar ein Ausgangspunkt soziologischer und historischer Forschung sowie auch einer historisierenden Kunst- und Bildwissenschaft, ein ‚historisch greifbares‘ bzw. nachweisbares Subjekt zu fassen und damit weiter zu arbeiten, d.h. möglichst viele Fakten zusammen zu tragen, die Aussagen über beispielsweise die Wirkung von Bildtapeten-Anordnungen ‚damals‘ zu
17
Katharina Eck und Astrid Silvia Schönhagen: „Imaginationsräume des
(bürgerlichen) Selbst. Möglichkeiten und Herausforderungen kulturwissenschaftlicher Analysen des Wohnens in Bildtapeten-Interieurs im frühen 19. Jahrhundert“, in: Dies. (Hgg.): Interieur und Bildtapete. Narrative des Wohnens um 1800, Schriftenreihe wohnen+/-ausstellen, Band 2, Bielefeld: transcript 2014, S. 13–64, hier S. 15. 18
Beate Söntgen: „Bild und Bühne. Das Interieur als Rahmen wahrer
Darstellung“, in: Rudolf Behrens und Jörn Steigerwald (Hgg).: Räume des Subjekts um 1800. Zur imaginativen Selbstverortung des Individuums zwischen Spätaufklärung und Romantik, Wiesbaden: Harrassowitz 2010, S. 53–72, hier S. 54.
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�. Einleitung
einem nunmehr vergangenen Zeitpunkt ermöglichen sollen.19 Jedoch möchte ich, statt eine auf vermeintlich sicheren Fakten basierende Abhandlung zu schreiben, die schon skizzierten unterschiedlichen Diskursfelder berücksichtigen und zusammendenken. Daraus folgt notwendigerweise, dass es in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand zu einer Ausweitung und Ausdifferenzierung der Thesen und Ansätze kommt, mitunter auch an Stelle von festgelegten Schlussfolgerungen nunmehr weitere Fragekomplexe aufgeworfen werden. Es soll davon ausgegangen werden, dass weder ein ‚Subjekt‘ eine ganzheitliche und jederzeit sich gleichbleibende Entität,20 noch ein historisches Faktum eine unverrückbare Wahrheit ist. Sowohl Subjekte als auch der Rückblick auf vergangene Geschehnisse haben einen fiktionalen Charakter; wenn über sie geschrieben und diskutiert wird, sind dies Zuschreibungen bzw. Konstruktionen, die selbst immer in Bewegung sind und in der Verbindung – ein Subjekt zum Zeitpunkt X im Verhältnis zu einem Objekt Y – zu einem Narrativ werden, das aber in anderen Verbindungen und Wahrnehmungszuständen auch anders erzählt werden könnte.21 Die Zielsetzung dieser Arbeit besteht darin, die bisherigen Erkenntnisse zur Bildtapetenproduktion und -nutzung und die Konzentration auf bestimmte Aspekte, die v.a. für die Kunstgeschichtsschreibung von Interesse sind – wie die Kategorisierung dieser Tapeten als klassizistisch, als Aufwertung des Innenraums wohlhabender neuer Gesellschaftsschichten oder als Variation von Landschaftskulissen bzw. Echo der beliebten Landschaftsmalerei22 – und damit einhergehenden Benennungen und Bewertungen kritisch 19 So entwerfen bspw. die Quellen in dem oben angeführten Artikel von Thümmler sich schriftlich äußernde Subjekte, deren Aussagen allerdings gerade keine allgemeine Gültigkeit haben, da sie u. a. von der Auswahl und Zusammenstellung ebendieser Quellen, in denen sie sich äußern, abhängig sind, vgl. Anm. 1. 20
Stuart Hall spricht auch von einem „de-zentrierte[n] Subjekt“, siehe:
„Die Frage der kulturellen Identität“, in: Ders. (Hg.): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg: Argument Verlag 2000, S. 180–222, hier 187. 21
Wir haben es zu jeder Zeit mit Fiktionen im Alltag zu tun, die sich auch
ohne Einbeziehen von Bildtapeten oder Einrichtungsprogrammen ergeben. Durch letztere werden diese Fiktionen aber wiederum anders konstruiert und zirkulieren auf eine andere Art und Weise, bspw. wenn durch die literarisierten Wände ganz konkrete Themen und Stoffe aktiviert werden. Hier ist dann von spezifischen Didaktiken auszugehen, dass also etwas aktiv Formendes und auf bestimmte Ziele hin Gerichtetes (auf Veränderung hin Arbeitendes) am Werk ist. 22
Vgl. u. a. die Ansätze von Helke Kammerer-Grothaus: „Bildtapeten des
Klassizismus“, in: Deutscher Verein für Kunstwissenschaft e.V. (Hg.): Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft, Band XXXVII, Berlin/ München: Deutscher Kunstverlag 1983, S. 109–140; Bernard Jacqué: „Luxury Perfected: The Ascendancy of French Wallpaper 1770–1870“, in: Lesley Hoskins (Hg.): The Papered Wall, wie
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Tapezierte Liebes — Reisen
zu hinterfragen und dabei auch um richtungsändernde Forschungsfragen zu ergänzen. Dabei sind viele Diskursfelder, die mit den Bildtapeten in Berührung stehen und von ihnen mitgeformt werden, als Ausgangspunkt denkbar. Allein schon die Konzentration auf Dufour-Tapeten ist eine spezifische Auswahl meinerseits, denn es gab ähnliche Tapeten aus ebenso aufwendiger Herstellung und mit vergleichbarer Qualität sowie interessanten Sujets auf dem französischen Bildtapetenmarkt, wie die der Manufaktur von Jean Zuber – dem großen Konkurrenten Dufours in Rixheim – oder auch von Velay und in den 1830ern Étienne Délicourt. So wäre es bei all diesen Tapeten lohnenswert, die sich wiederum verknüpfenden Diskursstränge zu analysieren, wie die Inszenierung von Feldzügen und Kriegsgebärden oder auch von Exotik und exotistischen Landschaften auf und mittels der Tapeten, wie sie aktuell Astrid Silvia Schönhagen untersucht.23 Für mein Vorhaben der sehr detaillierten Untersuchung von literarischen Bildtapeten hinsichtlich ihres ständigen Weiter-Produzierens von Geschlechter- und Liebesdiskursen bieten sich die drei Tapeten zum „Amor und Psyche“-, „Telemach“- und „Paul und Virginie“-Stoff besonders an. Sie bearbeiten alle, auf unterschiedliche Weise, die Denkfiguren von familiärer Einheit und Liebesehe, Tugendideal, weiblicher schöner Seele sowie Maßhalten im (sexuellen) Begehren. Als roten Faden der schrittweisen Verknüpfung der Diskursfelder arbeite ich zudem drei Analyseachsen von Natur und Naturalisierungen, Bildersequenzen und Panoramablick und Theatralität des Alltags und Bühne der Gesellschaft heraus. Mit der ersten Achse kann ich die Berührungspunkte dieser Tapeten-Landschaften mit den um 1800 wichtigen Praktiken der
Anm. 4, S. 56–75; François Robichon: „From Panoramas to Panoramic Wallpaper“, in: Odile Nouvel-Kammerer (Hg.): Papiers Peints Panoramiques, Ausst.-Kat. Musée des Arts Décoratifs Paris: Flammarion 1990 (2001, neuere Auflage in englischer Übersetzung: French Scenic Wallpaper 1795–1865), S. 164–178. Weitere ForscherInnenpositionen werden in dieser Einleitung im Abschnitt zum Forschungsstand aufgeführt. 23 Vgl. die Aufsätze von Astrid Silvia Schönhagen: „Tapezierte Kolonialfantasien – Auf den Spuren der Inkas im Münsterland“, in: Irene Nierhaus, Josch Hoenes und Annette Urban (Hgg.): Landschaftlichkeit, wie Anm. 10, S. 173–182; sowie „Räume des Wissens – Räume des Reisens. Vom Überschreiten imaginärer (topografischer) Grenzen im Wohnen“, in: archimaera 5, August/2013, S. 51–71, http://www.archimaera.de/2012/grenzwertig/raeumedeswissens/index_html [zuletzt aufgerufen: 11.08.2016]. Aktuell ist erschienen: „À la mode: pittoreske Ansichten vom Rhein. Das Interieur als Medium der Inszenierung von Rheinromantik und Westfalen-Mythos um 1800“, in: Thomas Metz (Hg.): Wieder Salonfähig. Handbemalte Tapeten des 18. Jahrhunderts [Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz], Petersberg: Michael Imhof Verlag 2016, S. 162–176.
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Gartengestaltung und des Spazierengehens bzw. Sich-Bewegens im Garten sowie die mit den Themen von Natur und Landschaft verbundenen Aspekte kunsttheoretischer Schriften wie bspw. von Diderot, Schiller und Schlegel aufgreifen. Hier spielen bereits – wie auch bei den anderen beiden Achsen – die Geschlechterauffassungen und -differenzierungen mit hinein. Die zweite Achse dient v.a. dazu, die angesprochenen Gestaltungsmöglichkeiten mit den Bildtapeten im Raum zur Disposition zu stellen, mit ihnen auch den Panoramabegriff kritisch zu hinterfragen und zugleich die Bildtapeten-Anordnungen als eine Form des Displays zu untersuchen. Hier verschränken sich dann die materielle, räumliche und Subjektformungs-Ebene zu einem größeren Fragekomplex in Bezug auf Bildtapeten und es wird noch tiefgehender begründet, warum die Analysen nicht mit den Tapeten-‚Inhalten‘ allein befasst sind und sein können. Die dritte Achse hebt schließlich sehr stark auf den Aspekt der Vergesellschaftung und des performativen Potenzials der Bildtapeten ab, wie es auch im Begriff der „Beziehungsräume“ anklingt; so wird dann im Verlauf der gesamten Arbeit auch auf sie immer wieder zurückgegriffen werden.
Hauptthesen und Strukturierung der Arbeit Im Folgenden soll nun aufgezeigt werden, wie sich dieser wissenschaftliche Umgang mit bzw. die Neu-Ausrichtung von Bildtapetenanalysen in der Struktur der vorliegenden Arbeit niederschlägt. Der grundsätzliche Aufbau soll sowohl die theoretischen Implikationen, die wiederum durch die drei Analyseachsen aufgefächert und gegliedert sind, als auch konkrete Analysen einzelner Tapeten und ihrer Anordnungen im Raum und sozialen Milieu berücksichtigen und v.a. miteinander in Verbindung bringen. Diese Verbindungslinien würden einerseits in einem abgegrenzten Theorieteil, der dem Analyseteil vor- oder nachgeschaltet ist, nicht deutlich werden. Daher soll die Bildung zweier ‚Blöcke‘ von Theorie und Bild- bzw. Raumanalysen vermieden werden und beide Ansätze sollen sich stetig durch die Arbeit ziehen und gegenseitig ergänzen. Andererseits sind dies aber keine immer linear verlaufenden Stränge, sondern sie verlaufen teilweise quer, überschneiden und überlagern sich und geben immer wieder Anlass zu neuem Hinschauen und Hinterfragen. Um grundsätzliche Fragekomplexe und Herangehens- und Deutungsweisen von Anfang an einzubringen, ist es also dennoch unerlässlich, das zweite und dritte Kapitel für solche Klärungen und die theoretische Grundlagenformulierung zu nutzen und diese dann in den Kapiteln vier bis sechs, die den exemplarischen Analysen gewidmet sind, einfließen zu lassen.
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Das zunächst noch weiter in die großen Themenblöcke einführende zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Diskursgeschichte und den Einflüssen auf und Wirkungsweisen von Bildtapeten allgemein, wobei der erste Teil – in Erweiterung respektive Fortführung dieser Einleitung – die Gebrauchs- und Anwendungsaspekte früherer Tapetendesigns bis hin zum High Peak der Bildtapeten und dann in den Bildtapetenräumen des 19. Jahrhunderts beleuchtet. Dabei wird der konzeptuelle Begriff ihrer ‚Wanderungen‘ in textiler, architekturaler und motivischer Hinsicht vorgestellt und das Prozesshafte benannt, das den Praktiken der Tapetengestaltung und auch den Raumprogrammen anhaftet. Es findet im 19. Jahrhundert nicht etwa eine Ablösung dieser Praktiken und Vorlieben statt; vielmehr ergeben sich andere Formen von Interaktionen mit den tapezierten Wänden, wobei teils auch Zwischenbereiche sicht- und analysierbar werden. Das Medium ‚Bildtapete‘ an sich ist bereits als eine Art Zwischenprodukt der Kunstwelt und der frühen Industrialisierung samt Konsumorientierung zu sehen und vermittelt so auch vielfach Wissen über die Zeit, in der es zirkuliert. Es ist ein epistemisches Produkt (sowie wiederum epistemischer Produzent), so möchte ich genauerhin sagen. Durch die Aufeinander-Bezogenheit verschiedener medialer Ebenen, Objekte und Subjektpositionen ist es zudem auch ein ausgesprochen intermediales bzw. intermedial vernetztes Produkt. Im weiteren Verlauf des zweiten Kapitels soll dann die Problematik der Kategorisierungen von Bildtapeten mit verhandelt werden. Solche Einteilungen sind seit der Verbreitung der Papiers Peints um 1800 schon immer vorgenommen worden und stützen sich oft auf spezifische Ähnlichkeits- oder Einflussfaktoren – etwa, dass sie auf Landschaftsmalerei oder auf Theaterkulissen basieren –, während andere Aspekte gar nicht zur Sprache kamen und kommen. Der Versuch, ihre in dieser Geschichte der Kategorisierungen und Diskursivierungen immer wieder hervorgehobenen Besonderheiten auf eine andere und neue Art für die wissenschaftliche Betrachtung produktiv zu machen, schließt eine Zusammenführung der Bildtapeten- und der Wohngeschichte ein, die wiederum auch mit Geschmacksgeschichte(n) und Formen von Disziplinierung zu tun hat. Dieser Aspekt von Disziplinierung wird im Teilkapitel 2.2 mit den „Taktiken des Wohnens“24 untersucht (bzw. den Selbsttechniken von Subjekten) und im Zuge dessen mit Friedrich Schleiermachers Theoremen zur Geselligkeit25 in Verbindung gebracht. Gerade der Begriff von
24 Siehe Michel Foucault: „Das Auge der Macht“, in: Daniel Defert et al. (Hgg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden = Dits et écrits, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, Band 3, S. 250–271, hier S. 253. 25
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Friedrich Schleiermacher: „Versuch einer Theorie des geselligen Betra-
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Geselligkeit bzw. Vergesellschaftung, den der frühromantische Philosoph in essayistischer Manier entwirft, lässt sich als Gelenkstelle zwischen Individuations- und Gesellschaftspolitiken sehen. Das Ziel nicht nur dieses Kapitels, sondern der vorliegenden Arbeit im Ganzen soll es sein, die nur scheinbare Einheit von ‚Wohnen‘ und ‚Privatheit‘ bzw. ‚Privatraum‘ zu hinterfragen. Letztlich dient auch der Innen- bzw. Privatraum der Selbstinszenierung und der Bedeutungsproduktion, die wiederum von einer Gesellschaft ‚draußen‘ nicht trennbar ist und an der die Bildtapeten aktiv teilhaben. Der Akzent in meinen Analysen liegt speziell auf den Gender- und Partnerschafts-‚Logiken‘, die konstruiert und perpetuiert werden. In das zweite, immer noch in die Gesamtthematik und -methodik einführende Kapitel sollen daher auch Analysen von Zimmerbildern integriert werden, einem weiteren um 1800 sehr beliebten (Bild-)Medium. Sie dienen hier als Beispiel für Sichtbarkeitspolitiken,26 die Geschlecht und Partnerschaft – und zwar i.d.R. nicht direkt ablesbar – mitkonstruieren. Es soll dann von bereits geordneten Bahnen, in visuell-räumlicher und gesellschaftspolitischer Hinsicht, und von Ordnungsräumen, die vor Augen geführt werden, die Rede sein, um im letzten Teil dieses Kapitels auf die sozio- und biopolitischen Rahm(ung)en zu kommen, die auch die drei Analyseachsen aufzeigen können. Mit einer Überleitung zu Gärten, Kunsttheorien des späten 18. Jahrhunderts und Spazierengehen werden die großen Themenfelder der Einbildungskraft (aus dem Bereich der Ästhetik) und der Moral betreten, mit denen das Menschenbild und die Verhaltenscodes für die kommenden Jahrzehnte bis weit in das 19. Jahrhundert hinein vorbereitet und verbreitet worden sind. Hier soll Schleiermachers „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“ weiterhin als Gelenkstelle aufgerufen werden. Auch das performative Moment ist zu berücksichtigen, das wiederum in der konzeptuell zu verstehenden Bezeichnung des In-Beziehung-Setzens in der vorliegenden Arbeit von Bedeutung ist und erkennen lässt, wie und wodurch die Ordnungen (Ordnungsräume) entstehen oder sich eben vollziehen. Auch im dritten Kapitel werden die Geselligkeits- mit den Subjektivierungstendenzen in Bildtapetenräumen zusammengedacht und die so entstehenden Beziehungsräume als Teil von Machtaushandlungsprozessen der sich um 1800 neu ordnenden Gesellschaft beleuchtet. Die drei Dufour’schen Bildta-
gens (1799)“, in: Andreas Arndt (Hg.): Friedrich Schleiermacher – Schriften, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1996, S. 65–92. 26
Hier folge ich der kritischen Auseinandersetzung mit „Repräsentation“
und „Zu-Sehen-Geben“ von Sigrid Schade und Silke Wenk in ihrem Buch: Studien zur visuellen Kultur: Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld: transcript 2011, S. 105.
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peten und ihre Paare und Paarungen werden dabei jeweils als Chiffren für bestimmte idealisierende Liebesauffassungen und Leitbilder des Liebes- und Geschlechterdiskurses um 1800 herausgestellt. Zentral ist hier Jean-Jacques Rousseaus Roman „Emil oder über die Erziehung“ und näherhin seine Ausführungen speziell zur Erziehung junger Mädchen.27 Darauf wird noch zurückzukommen sein. Der Akzent wird nach und nach auf die Schnittstellen der Bildtapeten-Figur(ation)en mit den sie betrachtenden Subjekten in ihrer diskursiven und performativen Wirksamkeit innerhalb der und gerichtet auf die Machtverhältnisse im konkreten Raum und darüber hinaus gelegt. Dafür werde ich in den beiden Teilkapiteln 3.2 und 3.3 noch einmal näher auf bereits angerissene philosophisch-ästhetische und raumtheoretische Implikationen eingehen: zunächst auf die um 1800 äußerst kontrovers geführte Debatte um Bedeutungen und konstruierte Moralia des Ornaments und speziell der Arabesken im Innenraum und dann davon ausgehend auf das Zusammenspiel von Dekorationssystemen und dekorativen Programmen mit der Körperlichkeit (Anwesenheit, Bewegung, Haltung) und den Vor-Prägungen sozialer und mentaler Art von BetrachterInnen. Auch die kunstwissenschaftlichen Bereiche der Wahrnehmungslenkung und klassizistischen Motive und Anordnungen als didaktisches Programm sollen dabei einfließen. In diesem Zusammenhang ist ‚Klassizismus‘ nicht sofort als Stilrichtung und als Einsatz bestimmter antikisierender Motive und Ornamente in Abhebung zu vorgängigen, d.h. barocken und Rokoko-Formen gemeint, sondern wird auf diese Festlegung hin erst einmal befragt. Auch wenn die untersuchten Bildtapeten und darüber hinaus oft auch die entsprechenden Räume sehr von klassizistischen Elementen geprägt sind und der Begriff ‚klassizistische Tapeten‘ sicherlich zutreffend ist, sollen aber gerade die Didaktiken, die damit verbunden sind, und auch eventuelle Brüche und Widersprüche darin thematisiert werden. Klassizistischer ‚Zwang‘ und individuelle Freiheit konnten und sollten durchaus miteinander (ko-)existieren. Die Raumkonstellationen sind Veränderungen unterworfen und somit dynamisch; sie entsprechen gewissermaßen der Vorstellung von Karl Philipp Moritz und anderen Kunst- und Gesellschaftstheoretikern der späten Aufklärung, dass Menschen im Raum stets damit beschäftigt sind zu „isolieren“, also Elemente aus der Umgebung herauszulösen um einen spezifischen Erkenntniswert aus ihnen zu ziehen.28
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Jean-Jacques Rousseau: Emil oder über die Erziehung, vollst. Ausg. in
neuer deutscher Fassung besorgt von Ludwig Schmidts, Paderborn: Schöningh 1978, siehe Fünftes Buch: Sophie oder die Frau, S. 385–530, insbes. Die Erziehung der Frau, S. 392–429. 28
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Karl Philipp Moritz: Schriften zu Ästhetik und Poetik, hg. und komm. von
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Hierin werden Subjektivierungsformen eines spielerisch aus seiner Imagination Neues schaffenden Betrachtenden deutlich und es kann auf die im zweiten Kapitel schon herausgearbeitete Rolle der Einbildungskraft und der (moralisch gedachten!) Mannigfaltigkeit und Freiheit zurückgekommen werden. Diese Konzepte und Ansprüche müssen nun mit Auffassungen eines Gefühls- bzw. (körperlich erfahrbaren) Erlebensraums gekoppelt werden, wie sie sich bei Gaston Bachelard, Michel de Certeau und Henri Lefèbvre finden,29 um das In-Beziehung-Setzen mit Bildtapeten näher definieren und als These zum Komplex der Bildtapeten und ihres Potenzials stark machen zu können. Hier soll als weiterer konzeptueller Begriff – und gleichsam zur Herleitung meiner dritten Analyseachse – aus der Zusammenführung des Leibniz’schen theatrum naturae et artis und der Leitidee des konkreten Vor-Augen-Bringens und Sich-Bildens (auch und gerade im eigenen Wohn-Raum)30 das theatrum domus et socialitatis, also Theater des Hauses und der Geselligkeit, herauskristallisiert werden. In dieser Zusammenschau von Interaktionsräumen, Dynamiken und Verlebendigung im Wohnraum bzw. dem sich bewegenden und auch geistig sehr beweglichen Subjekt inmitten seiner Wohnwelt wird mir über den neuen theatrum-Begriff sowie Schleiermachers Geselligkeits-Text eine im Vergleich mit einer klassisch kunsthistorischen Objektanalyse sowohl erweiterte als auch vertiefende Betrachtung von Bildtapeten möglich. Mit einer Überleitung von diesen noch allgemein auf Bildtapetenräume bezogenen Reflexionen zu den exemplarischen Analysen mittels der dritten Analyseachse (Theatralität des Alltags und Bühne der Gesellschaft) werde ich zu den Kapiteln vier bis sechs kommen. Hier soll das, was bereits auf allgemeiner Ebene hinsichtlich der Bildtapeten-Anordnungen vermittelt wurde, mit einfließen und über einzelne Themenfelder mit in die Bild- und Raumanalysen eingebracht bzw. mit ihnen verknüpft werden. In Bezug auf den „Telemach“ im vierten Kapitel sind den Analysen der drei Tapetenexemplare noch Überlegungen zu thematisch-motivischen Vorbildern, näherhin zum Basistext von
Hans Joachim Schrimpf, Reprint der Ausgabe Tübingen 1962, Berlin: De Gruyter 2010, S. 116. 29
Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, Frankfurt am Main: Fischer 1987;
Henri Lefèbvre: The Production of Space (Original: La production de l’espace, Paris 1974), übers. von Donald Nicholson-Smith, Malden/Oxford/Victoria: Blackwell 2011; Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988. 30
Siehe zu Leibniz: Horst Bredekamp: Die Fenster der Monade, Berlin: Aka-
demie Verlag 2008; zum Bilden im Wohnraum und durch das Vor-Augen-Bringen siehe die Beiträge im Katalog: Sebastian Böhmer et al. (Hgg.): Weimarer Klassik. Kultur des Sinnlichen, Ausst.-Kat. Klassik Stiftung Weimar und Deutsches Forum für Kunstgeschichte Paris, Berlin u. a.: Deutscher Kunstverlag 2012.
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François de Salignac de la Mothe-Fénelon und zu Beispielen aus der Kunst und dem Musiktheater vorangestellt. Hier soll ein roter Faden herausgearbeitet werden, der aufzeigen kann, welche didaktischen, ästhetischen und anthropologischen Ideale bis in die Tapetenszenen hinein wanderten oder auch dort dann im 19. Jahrhundert unter-wandert oder neu formuliert wurden. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei erstens auf dem Generieren mentaler Bilder und der auf immer neue Art stattfindenden Vermittlung einer Erziehung des jungen privilegierten Adoleszenten bis zu seiner ‚Apotheose‘ durch eine akzeptierte Form von Liebe sowie zweitens auf den Images von weiblichen und männlichen Räumen und Zuordnungen. Der junge Mann begibt sich auf einen ‚Lehrgang‘, der mehr oder weniger zur Liebesschule gerät, und dabei werden Neugier und Entdeckungsdrang, Affekte und Emotionslandschaften im Fokus stehen, die schon vor der Bildtapete in der Rezeption dieses Stoffes in Kunst und Alltag präsent gewesen waren und sich nun als eine neue Form der Zur-Schau-Stellung im Wohnraum niederschlagen. Zu den kulturgeschichtlichen Phänomenen, die dabei, wie ich zeigen möchte, besonderen Einfluss nahmen, zählt die bildungsbürgerliche Grand Tour, die wiederum Idealvorstellungen von Landschaft und Geselligkeit prägte sowie die Umcodierung eines nunmehr propagierten Trieb-Staus zum Bildungstrieb vornahm. Solcherlei Phänomene sollen mit den Ergebnissen der Bildtapetenanalysen dergestalt verwoben werden, dass die ‚Insel-der-Calypso‘ der Tapetenwelt als Chiffre für eine disziplinierte und maßgeregelte Körper-, Geschlechts- und Liebesauffassung sichtbar wird. Die drei in situ vorhandenen Tapeten-Anordnungen in Häusern auf dem Gut Borghorst, in Remscheid-Lüttringhausen sowie in Warendorf werden entsprechend auf ihre mythifizierende, ästhetisierende und hygienisch-biopolitisch wirksame Landschafts- und Figurenmodellierung hin untersucht. Die Beobachtungen zum Psyche31-Mythos, der in die „Amor und Psyche“-Tapete von Dufour wandern und sich hier konkret als Wiederaufnahme von vorgängigen Images aus dem Text von La Fontaine und aus bekannten Grafiken niederschlagen konnte, lassen wiederum Rückschlüsse zu einem weiblichen (Liebes-)Lehrgang zu, der nun auf andere Weise inszeniert und moralisiert wurde. Wie ich in Kapitel fünf aufzeige, verschmelzen in der Figur der jungen Königstochter Psyche Seele und Körper zu einem Schönheitsideal der schönen Seele oder Tugendseele als spezifisches Konstrukt um 1800, das bereits in der Literatur und im Alltagskontext der Empfind-
31
Im Folgenden wird der Begriff „Psyche“ sowohl als Eigenname der
Protagonistin verwendet als auch zur Bezeichnung der entsprechenden Bildtapete.
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samkeit und Anakreontik besonderen Status erlangt hatte.32 Das Thema der Adoleszenz als Schwellenerfahrung und im Sinne einer (körperlichen, geistigen und moralischen) Formbarkeit insbesondere von heranwachsenden Frauen wird hier im Fokus stehen, verbunden mit der in der Forschung zum Psyche-Stoff vielfach untersuchten Doppelrolle dieser Figur als einerseits körperlose Seele und andererseits gerade auch vergeschlechtlichtes Frauenidealbild.33 Das spielerisch anmutende und zugleich sehr ernst zu nehmende Antiken-Setting, das rund um Psyche aufgebaut wird – auch in sehr architektonisierter Form in der Tapete –, soll unter Bezug auf die Antike als ein „Gesellschaftsspiel“ verdichtet werden.34 Hier sind wieder Anschlüsse an die Analysen zur Vergesellschaftung und auch der frühen Konsumgesellschaft, in der sich Individuen über spezifische Objekt-Inszenierungen auch selbst mitinszenieren, möglich und sinnvoll. Anhand einer ebenso wie beim „Telemach“ durchgeführten Analyse der Tapetenszenen und ihrer nun anders, respektive sehr viel mehr in Einzelabschnitte aufgeteilten Landschaft soll aufgezeigt werden, wie eine Domestizierung der Erotik stattfindet – und zwar bis in einzelne Elemente des Bildraums hinein, wenn sich bspw. eine von Gefahr und Verletzung markierte Chaiselongue am Ende zu einem sicheren Ehebett samt darin angedeuteter Hochzeit wandelt. Die Bandbreite der räumlich-geographisch und kulturhistorisch jeweils anders akzentuierten Psyche-Tapetenräume, die verhandelt werden sollen, reicht dabei vom Gärtnerhaus in Eisenach über festlich gestaltete Palais im Kurort Bad Doberan und in Eichstätt bis hin zum Landschloss eines Fürsten im mittelfränkischen Ellingen. Eine ähnliche Form von „cultural investment“35 in die idealisierte formund erziehbare Frauenfigur und auch eine spezifische Schwellenerfahrung findet sich im letzten exemplarischen Beispiel in der „Paul und Virginie“-Tapete vorgeführt. Hier stehen Didaktiken eines weiblichen Gefühls- und Unschuldsparadigmas im Wohnraum im Fokus. Da ich im Vergleich mit den vorzufindenden „Telemach“- und „Amor und Psyche“-Tapeten nur auf ein einziges gut
32
Hierzu grundlegend: Christiane Holm: Amor und Psyche. Die Erfindung
eines Mythos in Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur (1765–1840), München/Berlin: Deutscher Kunstverlag 2006. 33 Ebd. 34 Hannelore Schlaffer: „Antike als Gesellschaftsspiel. Die Nachwirkungen von Goethes Italienreise im Norden“, in: Marianne Henn und Christoph Lorey (Hgg.): Analogon rationis: Festschrift für Gerwin Marahrens zum 65. Geburtstag, Edmonton: Univ. of Alberta Press 1994, S. 193–207. 35 Ludmilla Jordanova: Sexual Visions: Images of Gender in Science and Medicine between the Eighteenth and Twentieth Centuries, Madison/Wisconsin: Univ. of Wisconsin Press 1989, S. 135.
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erhaltenes Exemplar gestoßen bin, konzentriert sich mein sechstes Kapitel auf diesen einen Tapetenraum auf dem Schlosshof Petry nahe der luxemburgischen Grenze, in dem die Bildtapete fast vollständig in Kombination mit unterschiedlichen programmatischen papiernen Supraporten erhalten ist. Die utopistische Kleine Gesellschaft nach dem Vorbild Rousseaus und Jacques-Henri Bernardin de Saint-Pierres ist wie eine Versuchsanordnung für die Wand hinsichtlich der diskutierten geschlechtlichen und biopolitischen Diskurse zu verstehen. Allerdings tritt zu den hier miteinander verwobenen Themenkomplexen des Reisens und Eroberns, Heimkommens und ‚gesund Liebens‘ bis hin zur weiblichen Opferrolle auch die schwierige und von ‚Heimat‘ eigentlich untrennbare hochideologische Vorstellung von Exotik und Andersheit hinzu. Zur Selbstformung und -inszenierung gehört – hier, wie aber auch in allen anderen Beispielen – die Abgrenzung zu dem, was nicht gewünscht ist, mit dazu. Aus diesem Grund interessiert mich in allen Kapiteln auch stets dieses Nicht-Gesagte bzw. Nicht-Gezeigte ebenso wie das Zu-Sehen-Gegebene.
Forschungsstand und Potenziale der Neuausrichtung der Bildtapetenforschung Die vorliegende Arbeit möchte ein neues Kapitel zur Verortung großformatiger Bildtapeten in der Kunstwissenschaft aufschlagen und kann dazu an einige historisch und kuratorisch ausgerichtete Publikationen zu den Papiers Peints anknüpfen. Zwar existieren in der Forschung zum Thema Bildtapete allgemein nur sehr wenige mit detaillierteren Informationen aufwartende Arbeiten und man kann trotz des in den letzten zehn Jahren v.a. in Frankreich und Deutschland steigenden Interesses an diesem Medium noch immer von einem Forschungsdesiderat sprechen, zumal eine auch den Bereich der Gender Studies berücksichtigende Betrachtung eines oder mehrerer Papiers Peints bisher noch gar nicht unternommen wurde. Jedoch finden sich mittlerweile einige einführende Werke, Kataloge und Sammelbände, die einen guten Überblick zu den wichtigsten Manufakturen und zur Herstellung, dem Vertrieb, einzelnen Tapetenserien und -exemplaren und deren Zustand sowie der kunsthistorischen Sonderstellung dieses Mediums bieten. Die Referenz für alle nachfolgenden Forschungsaufsätze ist bis heute Odile Nouvel-Kammerer geblieben; sie veröffentlichte zuerst 1981 eine „dekorative Grammatik“ zu den französischen Bildtapeten von 1800–1850, die eine Art kurze historische Abhandlung mit zahlreichen Abbildungen darstellt. Weitaus umfangreicher und informativer ist ihr Katalog „Papiers Peints Panoramiques“, der begleitend zur Ausstellung des Pariser Musée des Arts Décoratifs im Jahr
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1990 erschien. Unter anderem werden hier die bedeutendsten Manufakturen und ihre Hauptwerke vorgestellt und die Bedeutung der Tapete im Vergleich mit anderen Wanddekorationen – vor allem den Wandteppichen bzw. Gobelins – besprochen.36 Die wichtigsten französischen KuratorInnen und TapetenspezialistInnen wie Bernard Jacqué vom Tapetenmuseum Rixheim kommen hier ebenfalls zu Wort. In diesem Katalog finden sich wichtige Vorüberlegungen zur Rolle des Zeitgeschmacks und der Interessenten und Käuferschichten. Von Jacqué selbst existieren bereits zahlreiche Abhandlungen zu verschiedensten Tapeten(räumen), Stilfragen und papiernen Ornamenten;37 auf diese kann sich die vorliegende Arbeit entsprechend stützen. Das Thema der Tapetenmanufakturen und -erzeugnisse hat die Historikerin Christine Velut in ihrem reich illustrierten Buch „Décors de papier“ im Jahr 2000 aufgegriffen.38 Sie konzentriert sich auf eine sehr genaue Beschreibung der Entstehung der wichtigsten Manufakturen, ihrer Arbeitstechniken und der wirtschaftlichen Zusammenhänge für die Verbreitung der Bildtapeten in ganz Europa und Nordamerika. Unter anderem betont sie die neuartige Verwendung eines preiswerten Materials und die fortschrittliche Herstellungstechnik, um zu begründen, warum die Tapeten in ihrer hohen Qualität auch für bürgerliche Haushalte erschwinglich waren. Velut liefert eine Art Grundwissen zur Herstellung und Anbringung dieser Tapeten und nennt sie ein „Demi-Luxusprodukt“, das gleichermaßen für adelige Haushalte als auch den Mittelstand interessant sei: „Le succès commercial du papier peint tient autant à la conquête d’une solide base de clients issus des catégories moyennes, qui trouvent dans ce produit de demi-luxe un moyen relativement bon marché d’égayer leur cadre de vie, qu’à la stratégie de qualité adoptée par une partie de la profession, ce qui lui permet de faire bonne figure jusque dans les logements de l’entourage royal.“39 36
Odile Nouvel-Kammerer (Hg.): Papiers Peints Panoramiques, wie Anm. 22.
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Hier seien zwei Aufsätze jüngeren Datums von Bernard Jacqué ge-
nannt: „Eine Typologie der Präsentation von Panoramatapeten im 19. Jahrhundert“, in: Hendrik Bärnighausen et al. (Hgg.): Papiertapeten: Bestände, Erhaltung und Restaurierung [Staatliche Schlösser, Burgen und Gärten Sachsen und Landesamt für Denkmalpflege Sachsen], Dresden: Michel Sandstein 2005, S. 15–25; „Das goldene Zeitalter der Papiertapeten in den Sammlungen des Schweizerischen Nationalmuseums“, in: Jürgen Fitschen et al. (Hgg.): Tapeten: Wände sprechen Bände; die Sammlungen des Schweizerischen Nationalmuseums, Ausst.-Kat. Château de Prangins und Landesmuseum Zürich, Zürich: Bibliothèque des Arts 2010, S. 19–39. 38 Christine Velut: Décors de papier: Production, commerce et usages des papiers peints à Paris, 1750–1820, Paris: Éd. du Patrimoine 2005. 39
Ebd., S. 137.
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Tapezierte Liebes — Reisen
An englischsprachiger Forschungsliteratur müssen Nancy McClellands „Historic Wallpapers“ von 1924 sowie der Sammelband von Lesley Hoskins, „The Papered Wall“, der zuerst 1994 und dann noch einmal 2005 als Neuedition erschienen ist, hervorgehoben werden.40 Auch letzterer präsentiert wieder einen historischen Abriss des Mediums von SammlungsleiterInnen und KuratorInnen aus dem Kunstgewerbe zusammen mit DenkmalpflegerInnen. In Deutschland ist die Arbeit von Heinrich Olligs von 1970, „Tapeten, ihre Geschichte bis zur Gegenwart“, grundlegend.41 Programmatisch bereitet der Titel darauf vor, dass es um die Entstehung und Entwicklung der dekorativen Tapete geht; es gibt hier also keine Fokussierung auf die französische Bildtapete oder gar interpretatorische Ansätze ihrer Bildszenen. Ebenfalls in den 1960er und 1970er Jahren veröffentlichte der damalige Leiter des Tapetenmuseums in Kassel Josef Leiss einige Aufsätze; als wichtigste Arbeit wäre „Bildtapeten aus alter und neuer Zeit“ von 1961 zu nennen,42 die vor allem die drei Manufakturen Zuber, Dufour und Jaquemart & Benard ins Zentrum rückt. Die Nachfolgerin von Leiss, Sabine Thümmler, hat 1998 eine Bestandsaufnahme des Kasseler Museums in „Die Geschichte der Tapete“ geliefert.43 Sie folgt in der historischen Einteilung den großen Epochen der Kunstgeschichte und stellt die Flocktapeten des Barock, Chinoiserien und Dominopapiere des Rokoko und die klassizistischen und Biedermeier-Motive vor. Auch die Tapeten des Jugendstils und der Neuen Sachlichkeit werden besprochen, allerdings wie üblich in Katalogform, also mit kurz gehaltenen Texten und sehr vielen farbigen Abbildungen, die der Einführung ins Thema und Einladung ins Museum dienen sollen. Wie diese Beispiele zeigen, konzentriert sich die Aufarbeitung des Themas (Bild-)Tapete auf Fragestellungen zum Ursprung der Tapeten, zum verwendeten Material und zu Restaurierungsfragen, zu den Quellen der Motive, den historischen Begleitumständen der Manufakturen und Künstler sowie dem (vermutlichen) Zeitpunkt und Ort der Anbringung der Tapetenbahnen. Wenn auf die zugrundeliegenden Bildmotive eingegangen wird, bieten die Autorinnen und Autoren eine Art Zusammenfassung der ‚Geschichte‘ bzw. des Ausgangstextes für die Tapete und heben hier und da einzelne Figurengrup40
Nancy McClelland: Historic Wallpapers – from their Inception to the Intro-
duction of Machinery, Philadelphia/London 1924; Lesley Hoskins (Hg.): The Papered Wall, wie Anm. 4. 41 Heinrich Olligs (Hg.): Tapeten – ihre Geschichte bis zur Gegenwart, Band 1–3, Braunschweig: Klinkhardt & Biermann 1970. 42
Josef Leiss: Bildtapeten aus alter und neuer Zeit, Hamburg: Broschek 1961.
43 Sabine Thümmler: Die Geschichte der Tapete: Raumkunst aus Papier; aus den Beständen des Deutschen Tapetenmuseums Kassel, Eurasburg: Ed. Minerva 1998.
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�. Einleitung
pen oder Motive hervor. So ist es auch in den neuesten Sammelbänden zu beobachten, die alle auf Tagungen zu Papiertapeten beruhen: „Papiertapeten – Bestände, Erhaltung und Restaurierung“ von 2005,44 von den „Staatlichen Schlössern, Burgen und Gärten Sachsens“ und dem „Landesamt für Denkmalpflege Sachsen“ herausgegeben, „Wände sprechen Bände“ von 201045 sowie die auf Joseph Dufour spezialisierte Publikation „Joseph Dufour, Manufacturier de Papier Peint“, ebenfalls von 2010.46 Auf die Tapetenproduktion des 18. Jahrhunderts bezog sich zuletzt eine Tagung in Kaub, auf die dann die Publikation „Wieder salonfähig“ (2016) folgte.47 Dem Thema der Bildtapete als Gegenstand und Mitproduzent von Diskursen rund um Exotismus und Alteritätskonstruktionen hat sich Astrid Schönhagen gewidmet, die zuletzt Beiträge im Tagungsband „Landschaftlichkeit – zwischen Kunst, Architektur und Theorie“ sowie in der Zeitschrift „archimaera“ und dem besagten Katalog „Wieder salonfähig“ veröffentlicht hat48 und mit der ich zusammen den Bremer Tagungsband „Interieur und Bildtapete“ in der Schriftenreihe „wohnen +/– ausstellen“ herausgegeben habe. Ebenfalls zu Tapeten und exotischen Einordnungen und Zuschreibungen, näherhin auf chinesische und chinoise Wanddekore spezialisiert, forscht Friederike Wappenschmidt, die auch in ebendiesem Tagungsband mit einem Beitrag vertreten ist.49 In den beiden letztgenannten Forschungspositionen geht es darum, mit den Tapeten- und Interieurgestaltungen auch das weite und komplexe Gebiet der Subjektformierungen zu beleuchten, das auch eines der Hauptinteressen für die vorliegende Arbeit ist. Besonders relevant ist dabei der Aspekt des „Sich-Einrichtens“, wie ihn Irene Nierhaus im Sinne einer niemals gänzlich individuellen und privaten, sondern in Interdependenz mit kulturellen und sozialen Settings einer Epoche ausgeführten
44 45 46
Wie Anm. 37. Wie ebd. Bernard Jacqué und Georgette Pastiaux-Thiriat (Hgg.): Joseph Dufour:
Manufacturier de Papier Peint, wie Anm. 14. 47
„Wieder salonfähig: Leinwand- und Papiertapeten des 18. Jahrhun-
derts“, Tagung in Kaub am Rhein vom 22. bis 24. April 2013, veranstaltet von der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz, anlässlich der Restaurierung der Tapeten im ehemaligen Gasthaus „Stadt Mannheim“ in Kaub am Rhein. Katalog: wie Anm. 23. 48 Wie Anm. 23. 49
Friederike Wappenschmidt: Chinesische Tapeten für Europa: Vom Rollbild
zur Bildtapete, Berlin: Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft 1989; sowie dies.: „Raum, Kulisse und synästhetische Impulse – Zur Rezeption original-chinesischer Bildtapeten in Europa“, in: Katharina Eck und Astrid Silvia Schönhagen (Hgg.): Interieur und Bildtapete, wie Anm. 17, S. 133–150.
35
Tapezierte Liebes — Reisen
Tätigkeit untersucht,50 und damit verbunden des Interieurs als einem Ort der Aushandlung von Subjektivierungsformen und „sozial-kulturelle[r] (Selbst-) Modellierung“,51 wie er insbesondere bei Andreas Reckwitz thematisiert wird. Auf die Verknüpfung von ‚Wissen‘ und ‚Zeigen‘ im und beim Wohnen wird ausführlicher in dem Band „Wohnen Zeigen – Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur“ eingegangen, in dem einführend festgestellt wird: „Im Zeigen wird ein Wohnwissen erzeugt, das an der Organisation der Wohnbauten und Wohnräume wie des Wohnhandelns teilhat, ebenso wie an den Bildwelten des Wohnens und an den Vorstellungen über Bewohner und Bewohnerinnen. Wohnen ist ein Argumentationsnetzwerk, das eine Fülle von Bewertungen, Bedingungen und Artikulationen bereithält und das auf Äußerung und Darstellung drängt. D.h., Wohnen ist ein Schau_ Platz, an dem sich das Subjekt zeigt und an dem ihm gezeigt wird.“52 Mit der Struktur und Entwicklung der vorliegenden Arbeit wird entsprechend also auch zu zeigen sein, inwiefern Bildtapeten an einem solchen „Argumentationsnetzwerk“ teilhaben bzw. ein solches mit bereitstellen. Unter anderem wird dabei besonders auf spezifische Moralvorstellungen eingegangen werden, da das Wohnen mit Bildtapeten auch – eine Formulierung Norbert Wichards aufgreifend – zum „Schauplatz moralischer Integrität“53 wird. Ein schlichter, an Vorstellungen und Aufteilungen des Klassizismus orientierter Einrichtungsstil korrespondiert dabei in der Epoche um 1800 mit einer an den Idealen von Sittlichkeit und Tugendhaftigkeit orientierten bürgerlichen Lebenshaltung. Wie auch schon in der Einleitung zu „Interieur und Bildtapete“ vermerkt, ist jedoch nicht ‚der Bürger‘ als sozialer Stand bzw. soziale Klasse in Abhebung von Bauern oder Adel und Klerus gemeint, sondern vielmehr eine spezifische 50
Vgl. die Ausführungen zu einer Ein-Richtung der BewohnerInnen im
biopolitischen Sinne von Irene Nierhaus: „Landscapeness as Social Primer and Ground. Visual and Spatial Processes between Biopolitics, Habitation and the Body“, in: Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer (Hgg.): Space (Re) Solutions, Bielefeld 2011, S. 29–41, insbesondere S. 35f. 51 Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2006, S. 15. 52 Irene Nierhaus und Andreas Nierhaus (Hgg.): Wohnen Zeigen. Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur, Bielefeld: transcript 2014, S. 9. 53
Norbert Wichard: Erzähltes Wohnen. Literarische Fortschreibungen eines
Diskurskomplexes im bürgerlichen Zeitalter, Bielefeld 2012, S. 52.
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�. Einleitung
Form und Praxis von Verbürgerlichung, für die das Bürgertum als role model fungiert und mit der die „Ausbildung einer bürgerlichen Kultur“ verbunden ist.54 Somit ist der erweiterte Bereich meiner Arbeit zu Bildtapeten angesprochen, der – noch über das konkrete Wohnen und die Interieurgestaltung hinaus und gleichsam das aufgreifend, was das „Wohnwissen“55 eben auch impliziert – auf Geselligkeits- und Machtaushandlungspraktiken zielt. Für diese Verknüpfungsarbeit haben sich Forschungsansätze zum Thema „Geselliges Vergnügen“56 und zu Körperlichkeit und Aufwertung des Sinnlichen seit der Aufklärung als grundlegend erwiesen, insbesondere bei Hartmut Böhme57 und in dem für mich in vielerlei Hinsicht höchst aufschlussreichen Katalog zur „Kultur des Sinnlichen“58 in der Goethezeit. Des Weiteren sind als wichtige Referenzen Günther Heegs Forschung zu Körper und Ausdruck59 sowie Gudrun Königs Ausführungen zum Spazierengehen als Kulturtechnik zu nennen,60 wie auch die von Albrecht Koschorke und von Philipp Sarasin jeweils unterschiedlich fokussierten Aspekte des geschlechtlichen und naturalisierten Körpers in den hier relevanten Diskursen des 18. und 19. Jahrhunderts.61 Wie bereits betont wurde, sollen hauptsächlich die Bereiche Wohnen und Geschlecht zuammengedacht werden, deren wirkungsmächtiges Ineinandergreifen exemplarisch am Medium der Bildtapete aufgezeigt werden soll; hier stößt man erneut auf eine große Forschungslücke. Spezifisch in diesem Bereich ansetzende Reflexionen finden sich in Irene Nierhaus’ Publikation „arch6“62 sowie bei Christiane Keim,
54
Vgl. Katharina Eck und Astrid Silvia Schönhagen: „Imaginationsräume
des (bürgerlichen) Selbst“, in: Dies. (Hgg.): Interieur und Bildtapete, wie Anm. 17; siehe auch die auf Norbert Wichard rekurrierenden Ausführungen hierin auf S. 37 zum Scharnier der Bürgerlichkeit im 18. und 19. Jahrhundert. 55 Wie Anm. 52. 56
Ana Ananieva, Dorothea Böck und Hedwig Pompe (Hgg.): Geselliges
Vergnügen – Kulturelle Praktiken von Unterhaltung im langen 19. Jahrhundert, Bielefeld: Aisthesis 2011. 57 Hartmut Böhme: „Der sprechende Leib: Die Semiotiken des Körpers am Ende des 18. Jahrhunderts und ihre hermetische Tradition“, in: Ders.: Natur und Subjekt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 179–211. 58 Wie Anm. 30. 59
Günther Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und
Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main u. a.: Stroemfeld 2000. 60
Gudrun König: Eine Kulturgeschichte des Spaziergangs. Spuren einer bür-
gerlichen Praktik 1780–1850, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1996. 61
Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr: Mediologie des 18.
Jahrhunderts, München: Fink 2003; Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen: eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. 62 Ein Beispiel wäre die Verknüpfung von Handarbeiten wie dem Sticken mit der (geschlechtlichen) Semantisierung von Einrichtungsobjekten und der Ver-
37
Tapezierte Liebes — Reisen
die Mechanismen zur „Konstruktion von Geschlecht im Interieur“ untersucht,63 und in dem von Darja Reuschke herausgegebenen Band zu „Wohnen und Gender“.64 An allgemein zum Thema Gender und Konstruktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit in Kunst und Alltag beitragender Forschungsliteratur habe ich mich an den grundlegenden Arbeiten von Karin Hausen, Ilsebill Barta, Freia Hoffmann, Ludmilla Jordanova, Silvia Bovenschen, Judith Butler, Cornelia Klinger, Beate Söntgen und Ellen Spickernagel orientiert.65 Als ein weiteres Forschungsfeld, an das ich mit meiner Neuausrichtung der Bildtapetenforschung andocke, ist die in den 2000er Jahren in Folge des spatial turn in den Kunst- und Kulturwissenschaften boomende Raumwissenschaft zu nennen. Hier verschmelzen oftmals soziologische Studien und kulturhistorische bzw. psychosoziale Betrachtungen, wie etwa in den Sammelbänden von Stephan Günzel.66 Hervorzuheben ist auch das sich ebenfalls mit den Themen Raum und Raumwahrnehmung, aber auch Geschlecht und Identitätskon-
ortung der Frau im Wohnraum: Siehe Irene Nierhaus: arch6: Raum, Geschlecht, Architektur, Wien: Sonderzahl 1999, S. 91 sowie S. 98. Beide Beispiele finden sich in dem Kapitel „Sichtbare Seelen. Zur Entwicklung des Inneren im bürgerlichen Wohnen“. 63
Für die Zeit der Architektur-Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts
untersucht sie, „wie Geschlecht im Interieur produziert wird, und zwar zum einen als Markierung der Subjekte und zum anderen als Einschreibung in die Objekte“, und verortet damit das Interieur sowohl in einer Objekt- als auch in einer Subjektgeschichte der Moderne. Vgl. Christiane Kein: „Zur Konstruktion von Geschlecht im Interieur“, in: Stephan Moebius und Sophia Prinz (Hgg.): Das Design der Gesellschaft. Zur Kultursoziologie des Designs, Bielefeld: transcript 2012, S. 143–162, hier S. 145. 64
Darja Reuschke (Hg.): Wohnen und Gender. Theoretische, politische, soziale
und räumliche Aspekte, Wiesbaden: VS Verlag 2010. 65 Karin Hausen: „Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben“, in: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1976; Ilsebill Barta et al. (Hgg.): Frauen Bilder Männer Mythen, Berlin: Reimer 1987; Freia Hoffmann: Instrument und Körper: Die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur, Frankfurt am Main: Insel Verlag 1991; Ludmilla Jordanova: Sexual Visions, wie Anm. 35; Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979; Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991; Cornelia Klinger: „1800 – Eine Epochenschwelle im Geschlechterverhältnis?“, in: Katharina Rennhak und Virgina Richter (Hgg.): Revolution und Emanzipation. Geschlechterordnungen in Europa um 1800, Köln u. a.: Böhlau 2004, S. 17–32; Beate Söntgen: „Bild und Bühne“, wie Anm. 18; Ellen Spickernagel: „Zur Anmut erzogen – weibliche Körpersprache im 18. Jahrhundert“, in: Ilse Brehmer (Hg.): Frauen in der Geschichte, Band IV, Düsseldorf: Schwann 1984, S. 305–319. 66
Stephan Günzel und Franziska Kümmerling (Hgg.): Raum: Ein Inter-
disziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar: Metzler 2010; Stephan Günzel (Hg.): Raumwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009.
38
�. Einleitung
struktionen auseinandersetzende Buch zur „E-Motion“ und zum (emotionalen) „mapping“ von Giordana Bruno.67 In diesen Forschungsansätzen, insbesondere aber auch den für die Gender Studies wegweisenden Büchern von Judith Butler, liegt ein besonderes Augenmerk auf der Performanz bzw. performativen Akten im Raum. Hier ist schließlich auf die entsprechenden Theorien von Michel de Certeau und Henri Lefèbvre zu verweisen, die meine Sicht auf die Produktion von (sozialen) Räumen und verräumlichter Vergesellschaftung sowie die möglichen Parcours-Strecken und Bahnungen in Bildtapetenräumen entscheidend geprägt haben.68 Einige der wichtigsten TheoretikerInnen auf diesem Gebiet haben ihre Ansätze in dem „Performanz“-Band von Uwe Wirth dargelegt. Dieser betont zum Auftakt der in dem Band präsentierten Beiträge zur Geschichte des Performanzbegriffs, der sich aus den linguistischen Betrachtungen von John L. Austin heraus zu einer eigenen kulturtheoretischen Schule entwickelte: „[S]ie [die performativen Äußerungen] beschreiben keine Tatsachen, sondern sie schaffen soziale Tatsachen.“69 Im Gegensatz zu einer rein deskriptiven bzw. – hier im Bereich der Tapeten – (einen Inhalt) visuell abbildenden und dekorativen Funktion kommt dem Medium, das solchermaßen als ein performativ Wirksames untersucht wird, eine Funktion des Vollzugs respektive der Geste oder auch des die Betrachtenden einbeziehenden Spiels zu (was auch in Erving Goffmanns Theorie des „Framing“, der Rahmenanalyse, ein relevanter Faktor ist,70 auf die sowohl in der Soziologie als auch im kulturwissenschaftlichen Bereich in diesem Zusammenhang häufig verwiesen wird). Kulturelle Inhalte gelangen so zu einer nie endenden Re-Inszenierung, die auch die Aufforderung enthält, sich an dem Spiel des Performativen zu beteiligen und über die Bedingungen der eigenen Wahrnehmung überhaupt zu reflektieren. In „Performig Feminisms“ postuliert Judith Butler, dass unsere Aktionen andauern, bevor einzelne Agierende die Bühne betreten, sodass letztlich alles Handeln eine Re-Inszenierung kulturel-
67
Hier mit dem Schwerpunkt Film und filmische Räume: Giordana Bruno:
Atlas of Emotion. Journeys in Art, Architecture, and Film, New York: Verso 2007. 68 Henri Lefèbvre: The Production of Space; Michel de Certeau: Kunst des Handelns, wie Anm. 29. 69
Uwe Wirth: „Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokuti-
on, Iteration und Indexikalität“ (Einführung), in: Ders. (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 9–60, hier S. 11. 70 Demnach ist jeder Akt „zugleich ein Rahmungshinweis“, der also mit vermittelt, unter der Bedingung welcher Deutungsmuster eine Bedeutung generiert und aufgenommen wird; wie ebd., S. 36, unter Verweis auf Erving Goffmanns „Rahmen-Analyse“.
39
Tapezierte Liebes — Reisen
ler Diskurse ist. Identitäten (in diesem Zusammenhang geschlechtliche) sind demnach nicht vorgegeben, sondern werden erst durch performative Prozesse hervorgebracht.71 Das spezifische Zusammenstellen und ‚In-das-Wohnen-Bringen‘ von Liebespaaren in den Bildtapeten aus einem vorher bekannten traditionellen (Kon)Text und aus „politischen und kulturellen Vernetzungen“72 heraus kann so ebenfalls als eine Aktivierungsmöglichkeit von Bedeutungen (ausgehend von den historisch-sozialen Vorbedingungen) verstanden und – v.a. über meine dritte Analyseachse – als aktiver und aktivierter Teil der Bühne der Gesellschaft bzw. als performativ wirksames Gefüge in einem bestimmten Moment im Raum analysiert werden. An dieser Stelle sind meiner Auswahl der wichtigsten Referenzen und vorgängigen Überlegungen und Theorien, gewissermaßen eine wiederum allgemeinere Ebene betretend, noch diejenigen hinzuzufügen, die in ihrer diskursanalytischen, für verschiedene kulturwissenschaftliche Phänomene offenen, repräsentationskritischen Denkweise immer wieder neu und produktiv Einfluss nahmen und nehmen. Näherhin sind dies die Schriften von Michel Foucault, insbesondere zum Komplex von „Sexualität und Wahrheit“, die Arbeiten zum Mythos und Mythifizierungen von Roland Barthes, die für meine Ausführungen zu Liebesdiskursen des 19. Jahrhunderts sehr ergiebigen Reflexionen von Niklas Luhmann in „Liebe als Passion“ sowie die von Sigrid Schade und Silke Wenk herausgegebenen, für eine kulturwissenschaftlich orientierte und kritische Kunst- und Bildwissenschaft plädierenden „Studien zur visuellen Kultur“.73 71 Grundlegend formuliert Butler in „Das Unbehagen der Geschlechter“ mit Verweis auf Foucault, dass „die juridischen Machtregime die Subjekte, die sie schließlich repräsentieren, zuerst auch produzieren“, und dass diese „politische Konstruktion des Subjekts […] mit bestimmten Legitimations- und Ausschlusszielen verbunden“ ist. „Folglich lässt sich die ‚Geschlechtsidentität‘ nicht aus den politischen und kulturellen Vernetzungen herauslösen, in denen sie ständig hervorgebracht und aufrechterhalten wird“, wie Anm. 65, S. 16–18. Für Butler sind auch Körper keine festgelegten Einheiten, sondern lediglich Aktualisierungen von Möglichkeiten, die kulturell vorgegeben werden. „Als intentional organisierte Materialität ist der Körper immer eine Verkörperung von Möglichkeiten, die durch historische Konventionen sowohl konditioniert wie beschnitten sind. Anders gesagt, der Körper ist eine geschichtliche Situation […] und er ist eine Art des Tuns, der Dramatisierung und der Reproduktion einer geschichtlichen Situation“, siehe: Judith Butler: „Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie“, in: Uwe Wirth (Hg.): Performanz, wie Anm. 69, S. 301–320, hier S. 305. 72 Siehe Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, wie Anm. 65, S. 18. 73
Michel Foucault: Der Wille zum Wissen – Sexualität und Wahrheit Band 1, Der
Gebrauch der Lüste – Sexualität und Wahrheit Band 2 sowie Die Sorge um sich – Sexualität
40
�. Einleitung
Der Erkenntnisgewinn, der nun in Folge eines auch auf den oben genannten Forscherpositionen basierenden verknüpfenden Denkens generiert werden kann und soll, ist schließlich als eine Möglichkeit des Ordnens meinerseits zu sehen. Die Einsicht darin, dass Wissenschaft nicht statisch sein soll und ihre Ergebnisse nicht für Generationen festgeschrieben sein dürfen, sondern sie selbst einen pluralen und oft auch widersprüchlichen oder von Leerstellen durchsetzten Zugang zu ihren Objekten hat, scheint darin auf und soll wiederum auf neue, vielleicht weitverzweigte Wege führen.74 Zugleich mit der Frage „was ist eine Bildtapeten-Anordnung“ wird also auch sicherlich eine nicht nur allein wissenschaftliche, sondern auch persönlich gefärbte Frage „was ist ein [Bildtapeten-] Theoretiker“ mit verhandelt werden.75
und Wahrheit Band 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987 bis 1989; Roland Barthes: Mythen des Alltags, übers. von Helmut Scheffel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964; Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994; Sigrid Schade und Silke Wenk: Studien zur visuellen Kultur, wie Anm. 26. 74 Wie Gert Selle es formuliert hat, schauen die Dinge – eben auch Forschungsobjekte – so zurück, wie man sie anschaut bzw. fokussiert, vgl.: „Wie man ein Ding ansieht, so schaut es zurück“, in: Stephan Moebius und Sophia Prinz (Hgg.): Das Design der Gesellschaft, wie Anm. 63, S. 131–140. Hier betont Selle: „Es kommt immer darauf an, wie das forschende Auge fokussiert wird, mit welchem Interesse man die Dinge ansieht, bis sie so zurückschauen, wie wir es möchten“, S. 135, und zitiert in dem Zusammenhang Paul Feyerabend, wenn er betont, dass es „nicht nur einen Zugang zum Wissen, die Wissenschaft, sondern viele solcher Zugänge“ gibt und dass die Wissenschaft „nicht konsistent“, sondern vielmehr „eine Collage, nicht ein System“ ist, S. 137. 75
Siehe zu dieser von „was ist ein Künstler“ abgewandelten Frage der Au-
torposition: Martin Hellmold et al. (Hgg.): Was ist ein Künstler?, zit. n. Alexia Pooth: Kunst, Raum, Autorschaft. Der Nachlass des US-amerikanischen Malers C. H. Phillips (1889–1975) aus autorgeografischer Perspektive, Bielefeld: transcript 2014, S. 30.
41
Tapezierte Liebes — Reisen
�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete und ihren Wirkungsweisen �.� Bild-, Panorama- oder Szenen-Tapete: Eine verwirrende Terminologie und eine (Neu-) Kategorisierung der „Bildtapete“ als Teil von Interieur-Anordnungen und Subjektivierungsprozessen
Großformatige Wandtapeten bringen ihr Programm nicht nur in einen Raum oder auch in mehrere Räume eines Hauses, sondern verorten es zugleich auch innerhalb von spezifischen geografischen bzw. regionalen Koordinaten. So stehen diese programmatischen Inhalte, das Medium Tapete und die Struktur der Räumlichkeiten sowohl miteinander als auch mit der näheren Umgebung des Hauses in Verbindung. Davon ausgehend ist es zentral, nicht nur einen näheren ikonographischen und formalästhetischen, ggf. auch medien- und sozialhistorischen Blick auf die Bildtapetenszenen zu werfen, wie es im primären kunsthistorischen und näherhin kunstgewerbehistorischen Erkenntnisinteresse liegt, sondern gerade auch die möglichen Aussagekomplexe mit zu berücksichtigen, die in genau diesen Verbindungslinien liegen und die mit einer Bildanalyse und Betrachtung der tapezierten Wände allein nicht erfassbar sind. Der Begriff von Aussage ist hier weiter gefasst als in der Bedeutung, ein Signifikat X mit einem Signifikanten Y zu belegen, also beispielsweise einen Bildtapeteninhalt als männliche Figur bzw. Palast – oder spezifisch unter Aktivierung des historisch-kulturellen Wissens als Telemach bzw. Palast der Calypso – zu bezeichnen. Die Bedeutungen, die sich nicht aus den visuellen Elementen allein, sondern in einem Prozess der Semiose bzw. der ständigen Bedeutungsproduktion und -verschiebungen ergeben, sind daher auch nicht eindeutig den Tapetenszenen zu entnehmen, wie eine erste Beschreibung oder Betitelung wie „Telemach auf der Insel der Calypso“ zunächst suggeriert. Mit dem Material/Medium der Bildtapete sind alle mit ihr Beschäftigten bereits in einen literatur- und kunstgeschichtlichen Diskurs, der viele
42
�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
Jahrhunderte zurück reicht und nun in dieser Form ‚wieder ankommt‘, und des Weiteren auch in einer gesellschaftlichen Realität verflochten, die dieses Ankommen in den (oftmals bewohnten) Innenraum holt und es neu codiert. Auf diese Weise werden die BewohnerInnen und Bildtapeten-‚LeserInnen‘ selbst Teil dieser Semiose und der Neu-An-Ordnungen von Zeichen – seien sie visueller oder anderer Art. Somit werden wiederum alle sich mit diesem Phänomen auseinandersetzenden WissenschaftlerInnen, die aktuell die vorliegende Arbeit lesen und rezipieren, zugleich zu Semiologen und zu im Strom der Zeichen schwimmenden Interpretanten. Diese werden nie eine übergeordnete Position einnehmen können, da die Semiose ein Prozess und kein abgeschlossener Zustand ist, den man ‚von außen betrachten‘ könnte. In diesem Prozess, in der Zeichenhaftigkeit der gestalteten Wände, aber auch der Innenräume und ihrer An-Ordnungen, sowie der Arbeit des Dechiffrierens und seiner Möglichkeiten und Grenzen sind die Bildtapeten also zu verorten und neu lesbar zu machen. Das Ziel des folgenden Kapitels ist es zunächst, die potenziellen Verbindungen aufzuzeigen und zu beleuchten, wobei im ersten Teilkapitel insbesondere herausgestellt werden soll, inwiefern Bildtapeten in ihrer historischen, motivischen und materiellen Entwicklung, die sich in den diversen Vertretern ihrer Gattung spiegelt, immer auch an kulturgeschichtlichen Entwicklungen und Ereignissen dergestalt teilhaben, dass sie diese mit formen und initiieren. Die NutzerInnen, KäuferInnen, BewunderInnen und zeitgenössischen RezipientInnen dieser Tapetendekore stehen dabei stets in einem Austauschprozess mit ihnen. Sie nehmen also diese Innenraumgestaltung nicht lediglich en passant wahr, sondern formen sich selbst respektive ihre Vorstellungen von sich selbst und ihrer Lebenswelt anhand der komplexen Tapetenszenerien. An Stelle einer Objektgeschichte tritt somit eine Kultur- und Subjektformungsgeschichte – festgemacht an den Spezifika des Objekts Bildtapete – in den Mittelpunkt dieses Kapitels und dieser Arbeit. Dabei wird von einem Paradigmenwechsel ausgegangen, der sich im Wohnen um 1800 niederschlägt und der auch mit und in den Bildtapeten visualisiert und für den Alltag der Subjekte aktualisiert wird.76 Dieser lässt sich am besten mit dem Foucault’schen Begriff der ‚Selbsttechniken‘ erfassen, anhand dessen man sich darüber klar werden kann, dass sich die mit Bildtapeten befassenden Subjekte im Zuge der Aufklärung – die Bildtapete kommt gerade in den Folgejahrzehnten der Aufklärung in Mode und Umlauf – überhaupt erst
76
Nähere Ausführungen hierzu: Vgl. Katharina Eck und Astrid Silvia
Schönhagen: „Imaginationsräume des (bürgerlichen) Selbst“, wie Anm. 17.
43
Tapezierte Liebes — Reisen
als individuelle, fühlende, ihren Alltag selbst gestaltende Subjekte entwerfen. Dass diese scheinbare Einheit eines autonomen und aus der eigenen Motivation und (Geistes-)Kraft handelnden Subjekts dabei jedoch ebenso zirkulierenden Fantasien und auf unterschiedlichsten Ebenen wirksamen Machtmechanismen entspringt wie die Tapetenfiguren, ist ein bedeutender Faktor, der bei der Analyse von Selbsttechniken und einer weiter greifenden Diskurs- und Kulturanalyse der Zeit der Bildtapetennutzung berücksichtigt werden muss. Der Paradigmenwechsel im Wohnen ist Teil der (Bild-)Tapetengeschichte und steht im Zusammenhang mit geänderten Präferenzen von Motiven, Narrativen und Materialkombinationen sowie anders gelagerten Selbstdarstellungsbedürfnissen als in den Adelsresidenzen des Barock und Rokoko. Jedoch bedeutet er nicht, dass es einen radikalen Bruch mit vorgängigen Formen des Wandschmucks gegeben hätte. Die im weiteren Verlauf des zweiten Kapitels aufgezeigten ‚Wanderungen‘, in denen die Bildtapeten begriffen sind, verdeutlichen, dass sich zwar Motive und deren Strukturen und Anordnungen, Materialien und Anbringungsmodalitäten immer wieder änderten, jedoch auch beliebte ältere Motive und Elemente77 mitgewandert sind, in aktualisierter und vielleicht neu arrangierter Form wieder auftauchten und dabei auch ein-, um- und in den Hintergrund gewandert sind. Das ‚Wandern‘ ist hier als ein konzeptueller Begriff zu verstehen, in dem zum einen mitschwingt, dass sich die Geschichte der Dekorform Bildtapete und ihrer Nutzungen aktiv und aus der steten Auseinandersetzung des Menschen mit seinem Wohn- und Aufenthaltsraum vollzieht (und nicht nur punktuell ein nicht weiter motiviertes Entstehen und wieder gänzliches Verschwinden von etwas markiert). Zum anderen wird so zum Ausdruck gebracht, dass auch Kombinationen an Wänden und in Räumen der Regelfall waren und es sich eher um einen Prozess denn einen abgeschlossenen oder gar unwiederholbaren Akt des Dekorierens handelt. Es werden die textilen, motivischen und architekturalen Wanderungen in und mit Bildtapeten im Wohnraum um 1800 untersucht, die einen geeigneten gedanklichen Ausgangspunkt für die spätere Analyse von exemplarischen Beispielen gut erhaltener Tapetenräume bieten können. Gegen Ende dieses ersten Teils des zweiten Kapitels, wenn es um das Verhältnis von (Einzel-)Bild und Panorama geht – und somit eine der Kernproblematiken in der Bildtapetenforschung – soll das Augenmerk auf der Wahrnehmungs- und Raumästhetik liegen. Die Beziehungen, die sich ergeben, wenn mehrere Bilder sich zusammenfügen, die potenzielle Kulissenwirkung, der auf
77
Seien es arabeske Figuren, Samt- und Seidenstoffe oder Wandeintei-
lungen mit imitierten Pilastern und Sockeln.
44
�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
die Betrachtenden einwirkende ‚Tiefensog‘, in jedem Falle aber die besondere Art der Betrachtung und Versenkung, die der durch Bildtapetenszenerien narrativierte Raum einfordert, öffnen das Raum-Wirkungs-Medium Bildtapete für weitere Fragestellungen. Diese setzen sich wiederum aus rezeptionsästhetischen, kultur- und mentalitätgeschichtlichen und tapetenhistorischen Einzelfragen zusammen, die darauf abzielen, herauszufinden, welche spezifischen Positionen betrachtende Subjekte in Relation zum tapezierten Raumprogramm physiologisch und auch mental einnehmen konnten und können. Als ein wichtiger Aspekt ist somit auch das Körperliche, oder vielmehr die Schnittstelle von Körper und Raum, näherhin zu untersuchen. Es wird davon ausgegangen, dass sich das Zeichen – ein Bildtapetenbild in einem Salon beispielsweise – und der Betrachterkörper nicht einfach gegenüber stehen, sondern erst zusammen den oben so benannten Aussagekomplex (und aussagenden Komplex) bilden. Das Wirkungspotenzial und die strategische Aus-Richtung und An-Ordnung von Bildtapetenprogrammen wird hierin erst richtig deutlich.
�.�.� Tapezierte Innenräume um 1800: Paradigmenwechsel in der Wohngeschichte Das Verhältnis von Subjekten, die bestimmten zeitspezifischen Vorstellungen und Lebensweisen unterworfen sind,78 sowohl untereinander als auch zu ihrer alltäglichen Umgebung, welche durch die tapezierten Wände mitgeformt wird, macht also den eigentlich spannenden und fruchtbaren Kern einer neu akzentuierten Bildtapetengeschichte aus. Sie ist nicht zuletzt eine Geschichte der Kategorisierungen von Tapeten wie auch Tapetenwohnformen, wie ein Blick auf die überwiegend französisch-, aber auch deutsch- und englischsprachige Tapetenforschung zeigt79 – genauer gesagt der vorläufigen, unabgeschlossenen,
78 Einem Zustand unterworfen zu sein, steckt bereits im lateinischen Begriff selbst: sub-iectus. Ein Subjekt ist also per definitionem nicht außerhalb einer Bezugsetzung (zur Umwelt, zu anderen Subjekten, zu Objekten…) zu denken. Auf diese für die Betrachtung von Subjektformierungen im 18. und 19. Jahrhundert grundlegende Tatsache wird noch zurückzukommen sein. Butler betont zudem in „Das Unbehagen der Geschlechter“: „Doch gerade weil die Subjekte diesen Strukturen unterworfen sind, die sie regulieren, werden sie auch in Übereinstimmung mit den Anforderungen dieser Strukturen gebildet, definiert und reproduziert“, und macht so in Bezug auf Foucault die Verknüpfung von Unterworfensein, Subjektformung und Geschlechterdifferenzierungen deutlich. Wie Anm. 65, S.16. 79
Vgl. die Erläuterungen zum Forschungsstand in der Einleitung der
vorliegenden Arbeit.
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stets auch mit Hierarchisierungen verbundenen und nicht immer unbedingt evidenten Kategorisierungen.80 Bei dem Objekt ‚Bildtapete‘ handelt es sich um eine Sonderform der Papiertapete, die dem kunstgewerblichen Bereich der Wand- und Raumdekoration zuzuordnen ist. In meinem Fokus steht die als Papier Peint bezeichnete französische Bildtapete, ein in höchstem Maße verfeinertes und perfektioniertes Produkt einiger weniger französischer Manufakturen, das im ausgehenden 18. Jahrhundert und im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in ganz Europa und in Nordamerika sehr erfolgreich verkauft wurde.81 Bernard Jacqué fasst die Fakten zur Herstellung dieses Produktes folgendermaßen zusammen: „Einige Manufakturen in Paris, Lyon und Rixheim im Elsass haben zwischen 1800 und 1860 etwa einhundert verschiedene Motive erarbeitet, wobei die Entwurfsphase in den Jahren von 1810 bis 1820 sehr intensiv war. Da sie industriell hergestellt wurden, druckte man mindestens 100 bis 150 Exemplare. Der Erfolg einiger Motive veranlasste sogar den Druck von Tausenden von Exemplaren.“82 Die durchschnittlichen Kosten für eine solche Tapete beliefen sich auf ca. 100 bis 200 Francs.83 Damit bewegte man sich, verglichen mit Dekoren für Adelssitze, in einem durchaus preiswerten, jedoch gemessen am Einkommen der unteren
80
Die folgenden Ausführungen in Kapitel 2.1 habe ich zuerst in einem
2012 veröffentlichten Artikel entwickelt, sie sind hier um wichtige Aspekte erweitert worden. Vgl. Katharina Eck: „Papiers Peints und ihre Wandgeschichten: Kategorisierungs- und Diskursivierungsstrategien für französische Bildtapeten“, in: Elisabeth Fritz et al. (Hgg.): Kategorien zwischen Denkform, Analysewerkzeug und historischem Diskurs, Heidelberg: Winter 2012, S. 293–308. 81
Einige dieser Tapeten – wie die in dieser Arbeit untersuchte Psyche-Ta-
pete von Dufour – waren solche Verkaufsschlager, dass sie noch bis zum frühen 20. Jahrhundert von Nachfolgefirmen in Neuauflagen mit leider weitgehend unbekannten Stückzahlen gedruckt worden sind. Durch das ab den 1830er Jahren verbreitete Walzendruckverfahren, mit dem die Szenen auf durchgehende Papierrollen und nicht mehr auf einzelne später verklebte Bahnen angebracht wurden, lassen sich diese recht gut von den früheren Auflagen unterscheiden. Zu den späten Editionen der Psyche-Tapete vgl. Heinrich Olligs (Hg.): Tapeten – ihre Geschichte bis zur Gegenwart, wie Anm. 41, Band 1, S. 238. 82
Bernard Jacqué: „Eine Typologie der Präsentation von Panoramata-
peten im 19. Jahrhundert“, wie Anm. 37, hier S. 15. 83
Vgl. ebd., sowie die historische Studie von Christine Velut, die sich
auf die teils gut erhaltenen Aufzeichnungen der noch heute in Rixheim ansässigen Manufaktur Zuber stützt: Christine Velut: Décors de papier, wie Anm. 38.
46
�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
Bevölkerungsschichten um 1800 immer noch unerschwinglich teuren Bereich der Warenproduktion. Der Aufwand in der Herstellung war zum Teil erheblich: „Von der Zeichnung werden zuerst in richtiger Größe Pausen bzw. Vorlagen gemacht, die der Formstecher für seine Arbeit braucht. Die farbige Zeichnung muss in Flächen und Linien umgesetzt und die einzelnen Farbtöne genau abgegrenzt werden. [...] Die Zeichnung wird auf die Holzplatte übertragen, die auf der Oberfläche aus Birnbaumholz besteht und auf der Rückseite gesperrt ist. Genau nach der Pause werden die Linien und Flächen herausgestochen (daher Formstecher), die dann erhaben auf der Platte stehen. [...] Sehr oft waren die Formstecher auch Dessinateure bzw. Zeichner. [...] Bevor mit dem Druck begonnen werden konnte, hatte der Fabrikant schon eine enorme Summe für die Entwürfe und die Formen investiert.“84 Entsprechend lange war auch die Vorlaufzeit, die einberechnet werden musste, wenn man solch ein Produkt orderte.85 Dass sich die Bildtapetenproduktion in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auf einem solchen quantitativen und qualitativen Höhepunkt befand, hat mit ihren Vorläufern in der Geschichte der Wanddekoration zu tun. Die Anwendung von Tapeten war keineswegs neu oder ungewöhnlich. Nancy McClelland, die in den 1920er Jahren eine erste Bestandsaufnahme historischer Tapeten in den USA unternahm, unterscheidet fünf Epochen, die von ihr willkürlich benannt und in dieser Einteilung äußerst vielsagend sind: „Frühe handgedruckte Tapeten Frankreichs“ (und davon abgesondert jene Englands),86 „Tapeten, die Wandbehänge und Webstoffe imitieren“, „die bedruckte Stoffe imitieren“ – hier sind auch die sogenannten Flock Papers und Chinoiserien eingeordnet –, „die bemalte Wandfelder imitieren“ – wieder in französische und englische Produkte eingeteilt – und schließlich als fünfte „die Epoche der Scenic Papers“. Letztere markiert den Höhepunkt der Tapetenkunst:
84 85
Josef Leiss: Bildtapeten aus alter und neuer Zeit, wie Anm. 42, S. 37. Odile Nouvel-Kammerer (Hg.): Papiers Peints Panoramiques, wie Anm.
22, siehe die Einleitung dort, insbes. auf S. 26–31. Dieser für die Bildtapetenforschung grundlegende Katalog ist 2001 auch in einer englischen Übersetzung erschienen. 86 Bis zum 18. Jahrhundert war England in der kunstgewerblichen Produktion und Innovation führend in Europa, bevor Frankreich schließlich die Vorreiterrolle übernahm. Siehe Christine Woods’ Beschreibung der starken Einflussnahme französischer Dekore und Motive auf die „Great Exhibition“ 1851 in London: „Dufour en Angleterre Pourquoi?“, in: Bernard Jacqué et al. (Hgg.): Joseph Dufour: Manufacturier de Papier Peint, wie Anm. 14, S. 129–148, hier S. 131.
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„Late in the eighteenth century began the fifth great epoch of wall-paper in France, which may be characterized as the Epoch of Scenic Papers. [...] What was done by the French set the fashion for America.“87 Die Tapetenformen bzw. -gattungen der zweiten bis vierten „Epoche“ haben laut McClelland die Gemeinsamkeit, dass sie jeweils andere Kunstformen imitieren, und zwar Stoffe bzw. Wandmalereien. Im Folgenden soll genauer beleuchtet werden, inwiefern die Kategorien der Scenic Papers bzw. Panoramatapeten eine Ausnahme von diesen immer schon mitgedachten Imitationen bilden. Die Schwierigkeiten beim wissenschaftlichen Umgang mit Bildtapeten und insbesondere Panoramatapeten beginnen schon damit, dass sich ihnen kein eindeutiges Etikett von high art oder low art zuordnen lässt – sie referieren zum einen auf große klassizistische Themen und das kunsthistorische Genre der Landschaftsmalerei und haben zum anderen einen simplen Gebrauchswert, der im Bedecken der Wände und ihrem Schutz sowie in der Isolierung und der Dekoration besteht. Tatsächlich wirkt ein mit Bildtapeten gestalteter Raum ganz anders als einer, der beispielsweise mit von Rapportmustern verzierten Ledertapeten ausgestattet ist: er wölbt sich jenseits der Raumgrenzen nach außen und scheint sogar die BetrachterInnensubjekte in imaginierte Landschaften und Räume hinein zu ziehen. So lenkt dieses Medium gerade von seiner Gemachtheit aus Papier und Leimfarbe und seiner Funktion als Wandbekleidung ab. Dass Tapeten eine über alle Wände durchgängige Geschichte erzählen können, ist zudem in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ausgesprochen à la mode. Die Forschung zur Bildtapete sieht sich also mit Schwierigkeiten bei der historischen und ästhetischen Einordnung dieses Gegenstandes konfrontiert und tut sich schwer, eine zu seiner Beschreibung geeignete Terminologie zu finden. „The changes in terminology reflect a major debate that was going on throughout the 19th century concerning the decorative arts. Of the two words used by the jury in 1806, one, paysage, refers to painting, while the other, tenture, refers to tapestry: the jury is clearly hesitating whether comparison should be made to a major art (painting) or to a minor art (tapestry). [...] The notion of ‚papier panoramique‘ with its emphasis on the continuous and enveloping nature of the decorations, did not come in until the 20th century in France. At the same time, American and British writers began to refer to ‚scenic‘ or ‚panoramic papers‘, and Germans to ‚Bildtapeten‘.“88
87 88
48
Nancy McClelland: Historic Wallpapers, wie Anm. 40, S. 157. Odile Nouvel-Kammerer: „Wide Horizons“, wie Anm. 4, hier S. 98.
�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
Eine verbindliche Definition für dieses Produkt ist bis heute nicht gefunden. Stattdessen stellt man fest: „[...] die Papiers Peints gehörten zu dieser ambivalenten Zone, in der Kunst und Industrie eine umstrittene Symbiose eingingen.“89 Beobachtungen zur Situation der Forschung über Bild- bzw. Panoramatapeten ergeben beispielsweise, dass es „Publikationen darüber [...] bis in die 1970er Jahre eigentlich nur aus dem Umkreis der Spezialmuseen in Kassel, Rixheim und Paris [gab]; der erste große Aufsatz in einer kunsthistorischen Fachzeitschrift war jener von Frau Dr. Kammerer-Grothaus 1983, gefolgt ab 1986 von den Veröffentlichungen Verena Baumer-Müllers.“90 Doch die noch immer recht spärliche Forschungsliteratur stimmt darin überein, dass die Zwischenstellung der Bildtapeten, die Ambivalenz, gleichzeitig ein individuell von Hand gefertigtes Kunstwerk als auch Industrieprodukt, d. h. – wenn auch in eingeschränktem Ausmaß – ein mit technischen Mitteln mehrfach reproduziertes Produkt zu sein, ein wesentlicher Katalysator ihres Erfolgs gewesen sein muss. Sie lösten die Tapisserien aus den Adelsschlössern des Ancien Régime ab, waren jedoch variabler anzubringen und moderner, und brachten ferner die Fortschritte der Technik ins Haus. Nichtsdestotrotz scheint aber ihre Modernität nur ein oberflächliches Verkaufsargument gewesen zu sein, wenn man sich die Rhetorik der Manufakturen und der Kritiker auf Industrieausstellungen des 19. Jahrhunderts anschaut, die das neue Produkt durchweg gerade
89
Vgl. in Odile Nouvel-Kammerer, Papiers Peints Panoramiques: „[Les pa-
piers peints] appartenaient à cette zone ambiguë où l’art et l’industrie tentaient une symbiose contestée“, wie Anm. 22, hier das Vorwort von Yvonne Brunhammer, S. 7. In dem Katalog findet sich einige Seiten später noch die Aussage von Nouvel-Kammerer, Bildtapeten befänden sich außerhalb jeglicher Kategorisierungen und seien eigentlich nicht klassifizierbar: „Le propre du papier peint panoramique est de se situer à l’intersection de catégories différentes. [...] l’essence du panoramique est d’être hors catégorie, hybride, inclassable [...]“, vgl. die Einleitung auf S. 23. 90
Wolfgang E. Stopfel: „Tapetenensembles in Privaträumen. Entde-
ckungen – Schwierigkeiten – Lösungen“, in: Papiertapeten – Bestände, Erhaltung, Restaurierung, wie Anm. 37, S. 79–87, hier S. 80. Die Beiträge der von Stopfel angesprochenen Wissenschaftlerinnen – Helke Kammerer-Grothaus: „Bildtapeten des Klassizismus“, wie Anm. 22, sowie Verena Baumer-Müller: „Bild- und Landschaftstapeten des frühen 19. Jahrhunderts in der Schweiz. Versuch einer Bestandsaufnahme“, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte (Band 46), Zürich 1989, S. 153–160 – zielen auf eine Darlegung der unterschiedlichen Arten und Präsentationsformen der Tapeten und auf eine grundlegende Information über existierende Bestände und deren Zustand.
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in seiner Ähnlichkeit mit vorgängigen Dekorationsformen bewerben. Dass die Tapeten zu ihrer Entstehungszeit als Tenture oder Paysage bezeichnet wurden,91 weist bereits darauf hin, dass sich die Diskussion über das Moderne an ihnen eher auf das Material und die neuen Kombinationsmöglichkeiten bezieht und die Motivik im Gegensatz dazu ‚geadelt‘ werden muss, indem sie auf bereits existierende Genres und akzeptierte Images rekurriert. Ein Nachvollzug der mit ihnen assoziierten Terminologie bis in die 1990er und 2000er Jahre kann verdeutlichen, welchen Neu- und Umdeutungen die Bildtapete unterliegt und wie sie den Geschmack des Wohnens und die Subjektivierung im Wohnen seit ihrem Erscheinen mit beeinflusst, denn „die Entwicklung der Papiertapete vollzog sich innerhalb der Kulturgeschichte des Wohnens.“92 Hier knüpft an der Schwelle zum 19. Jahrhundert der bereits benannte Paradigmenwechsel in der Kunst sich einzurichten und zu wohnen an. Er impliziert, dass die Bildtapetenwelten in den eigenen (vier) Wänden nicht nur ein Ausdruck eines modernen und den Fortschritt technischen bzw. handwerklichen Könnens demonstrierenden Wohngeschmacks sind, sondern vielmehr als Teil einer Umordnungsgeschichte der europäischen Gesellschaft und ihres Selbstverständnisses und damit auch von politischen und psychosozialen Prozessen betrachtet werden müssen. Die Bereiche, die entsprechend mit den Tapeten zusammenwirken, sind daher zum einen die um 1800 zunehmende Konzentration auf die Kernfamilie und die stattfindende Dissoziation von häuslichem und Erwerbsleben, die dabei neu entstehenden Raumaufteilungen und Raumnutzungsfunktionen und die Vorstellungen von ‚privaten‘ Wohnbereichen. Zum anderen sind es auch die rousseauistischen Ideale eines von starren Gesellschaftsregeln unkorrumpierten Lebens, welche mit gesundheitserzieherischen Reglements verbunden sind. Der gesellschaftspolitische Paradigmenwechsel, der mit Foucault vielleicht am treffensten als der Siegeszug einer „bürgerliche[n] Selbsttechnik“93 in Abhebung zu (und als Ablösung von) absolutistischer Machtausübung bezeichnet werden kann, verankert sich letztlich auch in der
91
Siehe Anm. 88, sowie auch die Ankündigung in der „Gazette nationale
ou Moniteur universel“ vom April 1805, dass Joseph Dufour „un papier-tenture nouveau“ zum Verkauf anbiete, im Beitrag von Christine Velut: „Dufour à Paris: une implantation réussie au faubourg Saint-Antoine“, in: Joseph Dufour: Manufacturier de Papier Peint, wie Anm. 14, S. 53–61, hier S. 54. 92
Josef Leiss: „Die Geschichte der Papiertapete vom 16.–20. Jahrhundert“,
in: Heinrich Olligs (Hg): Tapeten – ihre Geschichte bis zur Gegenwart, wie Anm. 41, Band 1, S. 197–368, hier S. 197. 93 Eine ausführlichere Darstellung dieses Themas findet sich in Kapitel 2.2 der vorliegenden Arbeit.
50
�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
Sphäre des Wohnens und des Gestaltens und Erlebens dieses Wohnraums. Hier muss eine aktualisierte und erweiterte Bildtapetengeschichte ansetzen.
�.�.� Textile, architekturale, motivische Wanderungen im Innenraum: Materialien und Dekore der Wandgestaltung bis zu und mit Bildtapeten Die Pariser Exposition des Produits de l’Industrie, die Napoleon im Jahre 1806 auf dem Champ de Mars ausrichten ließ, feierte in großem Stil den Fortschritt in der industriellen Produktion Frankreichs und die französische Eroberung internationaler Märkte.94 Unter den zahlreichen Manufakturen, die dort ihre Exponate ausstellten, sie zur Bewertung durch die Jury freigaben und nicht zuletzt natürlich einem breiteren Käuferkreis bekannt zu machen versuchten, befanden sich auch die aufstrebenden Bildtapetenmeister Joseph Dufour und Jean Zuber.95 Auf dieser Ausstellung war der Begriff Papiers Tentures gebräuchlich, der oben bereits erwähnt worden ist. Er legt den Akzent auf das Haptische respektive Stoffliche der Tapeten und somit auf ihre Abkunft aus der Tapisserie. In der neueren Forschung hat sich der Ausdruck Papier Peint aus den 1760er Jahren als Oberbegriff durchgesetzt,96 wobei das Panoramique bzw. das Scenic Wallpaper, welches keine Wiederho-
94
Beispielsweise befindet sich auf Schloss Rheda im Landschaftszimmer
eine „hervorragend erhaltene Bildtapete mit den 1806 von Zuber & Cie. publizierten Vues de Suisse des französischen Künstlers Pierre-Antoine Mongin (1761–1827). Gräfin Louise [zu Bentheim-Tecklenburg] war einer der ersten Käufer der innovativen Tapete, die bei der Französischen Industrieausstellung von 1806 mit der Silbermedaille ausgezeichnet wurde“, siehe die Website von Schloss Rheda zum Tapetenzimmer: http://www.schloss-rheda.de/tapetenzimmer [zuletzt aufgerufen am 19.08.2016]. 95 Zur Manufaktur Zuber & Cie. existiert einiges an Archivmaterial bis hin zu erhaltenen Druckmodeln und Lithografien im 1983 eröffneten Musée du Papier Peint in Rixheim, außerdem werden auch heute noch einige Tapeten gedruckt und in mehreren show rooms weltweit – u. a. in Moskau und Dubai – gezeigt, vgl. die Websites: http://www.zuber.fr/menu_photo.html, sowie: http://www.museepapierpeint.org/english/index.html [beide zuletzt aufgerufen: 19.05.2013]. Vor allem Bernard Jacqué hat ausführlich zur Manufaktur Zuber geforscht; vgl. u. a.: Bernard Jacqué: „Approche économique des Panoramiques, établie à partir des archives de la manufacture Jean Zuber & Cie“, in: Odile Nouvel-Kammerer (Hg.): Papiers Peints Panoramiques, wie Anm. 22, S. 71–101. 96
Siehe Josef Leiss in: „Die Geschichte der Papiertapete“, wie Anm. 92,
S. 216: „Erst gegen 1765 erschien in Frankreich die Bezeichnung ‚papier peint‘. Damit ist die Papiertapete in Rollen gemeint [bzw. in größeren Bahnen, im Unterschied z.B. zu den Dominopapieren], und dieser Begriff hat sich bis heute in Frankreich erhalten.“
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lungen von Motiven aufweist, von früheren dekorativen Papier Peint-Formen, die i.d.R. Rapport-Musterungen aufweisen, unterschieden wird.97 Das Eigentümliche an diesen Begrifflichkeiten ist, dass sie zum Teil gerade nicht vorhandene Eigenschaften betonen. Weder ist ein Papier Peint ein bemaltes Papierprodukt, denn es handelt sich fast ausschließlich um Handdrucke, noch ist es, wie der Begriff Tenture nahelegt, ein Stoffbehang – lediglich die früheren Gattungen, wie beispielsweise die Flock Papers oder die Indiennes hatten tatsächlich Stoffanteile bzw. waren aus Baumwollstoff, für die Bildtapeten gilt dies jedoch nicht mehr. An Stelle einer mehr oder weniger umfangreichen Überblicksgeschichte sämtlicher Vorläuferdekorationen von Bildtapeten soll hier im Hinblick auf die Problematik der Definition, Kategorisierung und (impliziten) Hierarchisierung von Bildtapeten im Sich-Einrichten98 um 1800 eine kurze Geschichte der ‚Wanderungen‘ von wiederkehrenden Dekorformen im Innenraum im Fokus stehen. Damit soll betont werden, dass die Materialien und Motive und deren Kombinationen an der Wand recht frei, also ohne strikte Trennung von- oder untereinander, angebracht worden sind und prinzipiell wandern: von einem Raum und einem Haus zum anderen, von einer Epoche zur folgenden und auch innerhalb eines Dekorsystems an derselben Wand, sodass sie sich möglicherweise auch gegenseitig unterwandern. Die wichtigsten Referenzen und (Wieder-)Aufnahmen in Bildtapeten-Anordnungen aufgreifend, soll das Augenmerk hierbei auf den textilen, motivischen und architekturalen Elementen und deren Wanderungen liegen. Mit dem ‚Wandern‘ ist auch das allen Analysen dieser Arbeit zugrunde liegende Konzept von Intermedialität mit benannt, welches sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr von dem seit den 1970–80er Jahren entwickelten Intertextualitätskonzept abspaltete und mittlerweile ein eigenes kulturwissenschaftliches Forschungsfeld bildet. Da es hier um Bildlichkeit und um Aufeinander-Bezogenheit von verschiedenen Medien, Objekten, Subjektpositionen und Anordnungen geht, die mitnichten alle als Text oder in Eins-zu-eins-Beziehung zu einem solchen begriffen werden bzw. in einem großen Kon-Text aufgelöst werden sollen, scheint ein Bewusstsein von Intermedialität von Nöten, das auch erst „eine differenzierte Analyse der Interaktionen und Interferenzen zwischen mehreren unterschiedlichen Medien erlaubt und die Forschungsausrichtung um den Aspekt der Materialität und die soziale Funktion dieser Prozesse bereichert.“99 97 Vgl. Christine Velut: Décors de papier, wie Anm. 38, S. 25, sowie Odile Nouvel-Kammerer: „Wide Horizons“, wie Anm. 4, S. 98. 98
Vgl. Irene Nierhaus: „Landscapeness as Social Primer and Ground“,
wie Anm. 50, insbes. S. 35f. 99
Jürgen E. Müller: „Intermedialität und Medienhistoriographie“, in:
Joachim Paech und Jens Schröter (Hgg.): Intermedialität. Analog/ Digital. Theorien – Methoden – Analysen, München: Fink 2008, S. 31–47, hier S. 39.
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�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
Wie sich im weiteren Verlauf zeigen wird, wäre es mehr als nur verkürzend, die Bildtapeten in ihrer medialen Spezifik, ihrer sozioökonomischen Bedeutung an der Wende vom Auftragswerk zur Massenproduktion und ihrem raum- und subjektproduzierenden Wirkungsmechanismus lediglich als in Bildserien übersetzte Texte oder Hybride von Literatur und Wandbildern zu sehen. Wie es auch dem Ansatz der Material Studies und deren Aufwertung von Objekten, Materialität und Haptik entspricht und meinem Vorhaben einer diskursanalytischen Neulektüre der Bildtapeten, kann eher weniger von einem Inter-Text, jedoch durchaus von intermedialen Anordnungen (gerade im Raum) die Rede sein. Dabei ist dem von mir verwendeten Begriff des ‚Architekturalen‘ in der im Folgenden zu skizzierenden Geschichte der Wanderungen eine besondere Vielschichtigkeit eigen. Zunächst soll die Verwendung des Adjektivs ‚architektural‘ an Stelle von ‚architektonisch‘ im Zusammenhang dieser Arbeit den Akzent darauf legen, dass es sich eben nicht um Betrachtungen von architektonischen Bereichen im engeren Sinne handelt, sondern vielmehr von Architektur imitierenden Innenraumdekoren. Im Falle der Bildtapete kommen Trompe-l’œil-Effekte, die die Dreidimensionalität architektonischer Konstruktionen in die Fläche der papiernen Wände bringen, sowohl innerhalb der Tapetenszenen als auch um sie herum angeordnet vor. Architektur erhält hier zudem immer wieder als Motivrepertoire, Imagination und als ein spezifisches Verhältnis von Außen und Innen große Bedeutung (auch aufgrund der Tatsache, dass sich Innenräume ja innerhalb einer gebauten Architektur befinden, mit der sie in Bezug gesetzt sind). Außerdem soll die Endung ‚-al‘ in ‚architektural‘ auch auf einen performativen Modus verweisen, auf ein prozesshaftes ‚mit etwas Umgehendes‘, ‚aus etwas heraus Wirkendes‘, und so ein Äquivalent zum ‚Ornamentalen‘ bilden, was beides wichtige Untersuchungsfelder meiner Tapetenforschung sind. Foucault verwendet den Begriff des Architekturalen in seinen Ausführungen zum Dispositiv: Gemeint ist ein Netz aus heterogenen Elementen wie „Diskurse[n], Institutionen, architekturale[n] Einrichtungen, reglementierende[n] Entscheidungen, Gesetze[n], administrative[n] Maßnahmen, wissenschaftliche[n] Aussagen, philosophische[n], moralische[n] oder philanthropische[n] Lehrsätzen, kurz: Gesagte[m] ebensowohl wie Ungesagte[m] […].“100
100
Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahr-
heit, Berlin: Merve Verlag 1978, S. 119–120.
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Da in dieser Arbeit Bildtapeten-Räume als Teil einer dispositivähnlichen Struktur bzw. eines solchen Gefüges analysiert werden, um den in der Einleitung bereits genannten Verbindungslinien auf die Spur zu kommen, bietet es sich umso mehr an, das Architekturale – mehr noch als es sich bei Foucault findet (wobei ja „architekturale Einrichtungen“ u.U. auch mehr bezeichnen als nur ein konkretes Haus oder Funktionsgebäude) – als für Bildtapeten konzeptuellen Begriff zu verstehen. Anhand dieser drei Unterkategorien der Bildtapetengeschichte und -forschung wird auch klar, wie changierend der Einfluss bestimmter Vorläufer der Bildtapeten auf diese gewesen ist und wie komplex ihre Einbeziehung in die Maschinerie von Industrie und Verkauf sowie die kunstgewerbliche, -kritische und -wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Bildtapeten bis heute noch ist.
Textile Wanderungen Festzuhalten bleibt zunächst, dass die Vorläufer der Bildtapeten vor allem in den Wandbespannungen seit der Frührenaissance bis zum 18. Jahrhundert, also im textilen Bereich, zu finden sind. „Von Italien ausgehend entwickelte sich zu Beginn des 15. Jahrhunderts jene Mode, die Wände ringsum vollständig mit Textilien zu bedecken. Hier vollzog sich der Wechsel vom losen, abnehmbaren Behang zu der über die ganze Fläche glattgezogenen Wandbespannung.“101 Obwohl sich die „Anfänge der Papiertapete in Europa“ teilweise „nur schwer rekonstruieren“ lassen, „da die wenigen Originale nur fragmentarisch erhalten sind“,102 ist jedoch gesichert, „dass mit beginnender Renaissance bedruckte Papierbögen als Wandschmuck verwendet wurden und sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreuten.“103 Somit ist schon recht früh eine gleichzeitige Anwendung textiler und papierner Wanddekorationen nachzuweisen und somit auch Wanderungen eines Dekorationsschemas (textile wandfüllende Behänge) in ein anderes (Papierbögen), ohne dass damit das erste eigentlich abgelöst oder überkommen wäre. Der Formenkanon einer papiernen Raumdekoration, von floralen Motiven und größeren Figuren bis zu umlaufen-
101
Sabine Thümmler: Die Geschichte der Tapete: Raumkunst aus Papier; aus
den Beständen des Deutschen Tapetenmuseums Kassel, wie Anm. 43, S. 11. 102 Ebd. 103 Ebd.
54
�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
den Friesen und Borten, ist schon im 16. Jahrhundert zu verorten und daher nicht an sich schon eine große Neuerfindung des 19. Jahrhunderts.104 Zur Zeit des Barock waren sehr repräsentative, besonders kostbare Stoffe zur prunkvollen Ausstattung der Herrscherhäuser gebräuchlich; man schmückte zunächst in Spanien und dann in Holland die Räume mit Goldledertapeten, welche aufgrund ihrer neuartigen Plastizität und ihres Luxusstatus zum beliebten Ausfuhrartikel für europäische Höfe wurden.105 Doch die Erfolgsgeschichte der Bildtapeten knüpft auch an eine beispielhafte Form der Verschmelzung von textilem Wandbehang und Tapete in einem Wanddekor an: die englischen Flock Papers aus dem späten 17. Jahrhundert, die „um 1750 ein bedeutender Einfuhrartikel in Frankreich“106 waren, sind hier von besonderem Interesse. Sie gehen der Bildtapetenproduktion unmittelbar voraus bzw. sind um 1800 oftmals zusammen mit Bildtapeten oder gemalten Panoramen in einem Hause angebracht worden.107 [Abb. 4] Sie eigneten sich auch für kleinere Privaträume oder weniger repräsentative Räume von Schlössern bzw. für Landhäuser und entlegene Residenzen. Die Flocktapeten enthielten Anteile von Stoffen,108 imitierten jedoch hauptsächlich ein edleres Material: den glänzenden und wertvollen Samt. Josef Leiss, der sich in dem von ihm geleiteten Museum in Kassel mit Tapeten allgemein beschäftigte,109 beschreibt sie folgendermaßen: „Es sind Leinwandbahnen, die mit einer Holzform einen Leimaufdruck erhielten und dann mit gefärbtem Wollstaub bestreut wurden, weshalb man sie auch Streutapeten nannte. Der auf dem Leim haftende Woll-
104
Vgl. ebd., S. 15.
105
Vgl. ebd., S. 16f. und S. 20. Einige schöne Beispiele solcher Ledertapeten
kann man im Schloss Moritzburg bei Dresden anschauen. 106 Heinrich Olligs (Hg.): Tapeten – ihre Geschichte bis zur Gegenwart, wie Anm. 41, Band 1, S. 231. 107
Ein später noch eingehend zu analysierendes Beispiel für diese Kombina-
tionen ist auch das Schloss Ellingen bei Nürnberg, siehe Kap. 5.3.4 der vorliegenden Arbeit. 108
Siehe Sabine Thümmler, wie Anm. 43, S. 26: „Das erste Privilegium für
Woll-, Seidenflock und andere Materialien […] zur Herstellung von Tapeten und anderem wurde in England 1634 Jerome Lanyer erteilt“, der aber „wahrscheinlich aus Frankreich sein Wissen mitgebracht“ hatte. 109 Den Grundstock zur Sammlung legte der Hamburger Tapetenhändler Gustav Iven, vgl. Sabine Thümmler, wie ebd., S. 6. Die aktuelle Sammlungsleiterin ist Astrid Wegener (ehem. Arnold), deren Artikel „Der ‚Wilde‘ im Wohnzimmer. Überlegungen zur Rezeption und Vermarktung der Les Sauvages de la Mer Pacifique und anderer Panoramatapeten“ im 2014 erschienenen Band „Interieur und Bildtapete“, wie Anm. 17, S. 111–131, zu finden ist.
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Abb. 4 Tapezierung: flockpaper, Lydiard House (drawing room), Swindon/UK, ca. 1825. Abb. 5 Indienne, Schlafzimmer der Madame de Warens, Les Charmettes, Chambéry/FR, 18. Jh.
staub bildete das Muster, und war gute Arbeit geleistet, dann konnte die Flocktapete dem echten Samt täuschend ähnlich sein, zumal man seine Muster nachahmte.“110 Doch neben Leder und Flock gab es noch andere wichtige textile Dekorationen. In einer grundlegenden Periodisierung der Wandtapeten in den drei Bänden von Heinrich Olligs111 bekommt man zunächst eine ausführliche Einführung in die Geschichte der textilen Wandbespannungen. Dort erfährt man, dass
110 111
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Josef Leiss: Bildtapeten aus alter und neuer Zeit, wie Anm. 42, S. 15. Wie Anm. 41.
�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
französische Tapisserien in Adelshäusern bzw. Schlössern und auch in preiswerteren Varianten im vornehmen Großbürgertum sehr populär waren. Seit der Zeit Ludwig XVI. wurden solche Tapisserien immer detailreicher gestaltet, und auch Seidentapeten waren stark nachgefragt; in den Papiertapeten der nachfolgenden Jahrzehnte findet man bezeichnenderweise das Bemühen, mit Glanzpunkten und floralen Dessins dieses Textile wieder mit hervorzurufen. Auch waren im 17. und 18. Jahrhundert die sogenannten Indiennes höchst begehrt. [Abb. 5] Dies waren bemalte Baumwollstoffe, die in der Bezeichnung von Bildtapeten als Toiles Peintes gelegentlich mit aufgerufen werden: „[…] deux locutions reviennent également dans les sources: papier de tenture et papier peint. Ce dernier mot, très trompeur quant aux techniques de fabrication, puisque le papier peint n’est pas peint mais imprimé, profite probablement du rapprochement avec la ‚toile peinte‘ dite ‚indienne‘, avec laquelle il partage nombre de traits […].“112 Diese Toiles Peintes waren wiederum Kombinationen aus bedruckten Baumwoll- und bemalten Seidenstoffen, sodass man hier also eine Vermischung der Kunst des Webens mit der des Malens beobachten kann. Hierin ist sicherlich die Anregung für die im Laufe der Zeit etablierte Bezeichnung Papiers Peints bei Bildtapeten zu sehen, nur dass diese de facto keinen gemalten Anteil mehr aufweisen (es sei denn, die Drucke wurden nachträglich noch individuell mit dem Pinsel bemalt). Eine gewisse definitorische Unentschiedenheit, die in den verschiedenen Termini wie Toiles Peintes, Indiennes, Papier de Tenture und Papier Peint zum Ausdruck kommt, begleitet also die Wanderungen der Dekorformen immer schon mit. Interessanterweise scheint das vermeintlich Stoffliche die Tapeten dabei zu ‚adeln‘, obwohl (oder gerade weil) sie sich doch gegen die Innendekoration in Adelshäusern absetzen sollten bzw. für einen neuen, gerade erst entstehenden Markt konzipiert worden sind. So findet in ihren Benennungen und Kategorisierungen eine implizite Hierarchisierung statt, die das neue Produkt immer noch an alten Maßstäben und unter der Prämisse misst, wie sehr sie alten Standards und Seh- und Einrichtungsgewohnheiten genügen. Tapeten gelten am Ende des 18. Jahrhunderts als „[…] eine Art Zeug, welches gebraucht wird, die Wände der Zimmer auszuschlagen und zu tapezieren. […] Die ältesten und vornehmsten sind
112
Christine Velut: Décors de papier, wie Anm. 38, S. 14f.
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wohl die gewirkten […] Nächst diesen folgen die gemalten und gedruckten Leinwandtapeten.“113 Hier geht es zwar nicht um Papiertapeten, sondern um Leinwandbespannungen, aber es ist ersichtlich, dass gewirkte Stoffe in dieser Hierarchie oben stehen, dann die bemalten Dekorationen folgen und die ‚lediglich‘ bedruckten114 das Schlusslicht der Aufzählung bilden. Die Strategie, die dahinter steckt, soll der Aufwertung der neuen Dekorationsform dienen und sie in einer Art Kanon der Wanddekoration verankern. Die neuere Tapetenforschung beschäftigt sich daher häufig mit dem Thema der Imitation versus Originalität; ein Diskurs, der die Papiers Peints seit ihren Anfängen im 18. Jahrhundert begleitet und ihnen auch sichtlich aufgedruckt ist.115
Motivische und architekturale Wanderungen Die Bildtapeten greifen neben den Tapisserien bzw. Stoffbehängen auf zwei weitere große Kategorien von Wanddekoration zurück: zum einen die Wandmalerei116 und zum anderen die collagenartige Gestaltung einer oder mehrerer Wände zu (exotisch-chinoisen, antiken, literarischen etc.) Raumprogrammen.117 Bevor nun die Bild- bzw. Panoramatapeten als Höhepunkt der Papiertapetenproduktion genauer betrachtet werden können, bleibt also zunächst noch der Aspekt der (Wieder-)Aufnahme, Aktualisierung und Um-
113 Siehe Johann Karl Gottfried Jacobson: Technologisches Wörterbuch, Teil 4, Berlin 1784, zit. n. Sabine Thümmler: „Der ewige Garten – Landschaftsund Gartenzimmer als Ideal“, in: Hildegard Wiewelhove (Hg.): Gartenfeste: das Fest im Garten – Gartenmotive im Fest, Ausst.-Kat. Museum Huelsmann, Bielefeld: Huelsmann Stiftung 2000, S. 127–136, hier S. 128. 114
Es handelt sich wohl gemerkt um von Hand gedruckte und nicht im
erst später aufkommenden Walzendruckverfahren hergestellte Produkte. 115
Vgl. Bernard Jacqué: „From Textile to Wallpaper, 1770–1890; Drapery
Wallpapers by Dufour and Dufour & Leroy 1808–1830: Imitation or Creation?“, in: Studies in the Decorative Arts, Vol. XVII.1 (2009/10), S. 68–95. 116
Die hauptsächlichen Vorbilder waren vor allem die raumfüllenden
Fresken der Renaissancezeit und auch die Arabeske als beliebte Ornamentform seit den Ausgrabungen römisch-antiker Zeit in Pompeji und Herculaneum. 117
Vgl. die Forschung von u. a. Velut, Nouvel-Kammerer, McClelland, wie
Anm. 38, 22 und 40. Zu chinoisen bzw. exotischen Wandgestaltungen siehe v.a.: Friederike Wappenschmidt: Chinesische Tapeten für Europa: vom Rollbild zur Bildtapete, wie Anm. 49, und Astrid Silvia Schönhagen: „Tapezierte Kolonialfantasien“, wie Anm. 23, S. 173–182.
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�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
codierung ihrer Motivik aufzufächern und mit der Episteme des 18. und 19. Jahrhunderts, vor allem Prozesse der Imitierung und der Überführung von Altem in Neues anzustoßen, zu verkoppeln. Hierbei muss die Bandbreite an Praktiken der Raumgestaltung insbesondere des 18. Jahrhunderts berücksichtigt werden. Die Chinoiserien in exotisch gestalteten Rokokoschlössern, vor allem jedoch die chinesischen Seidentapeten, welche zum Anfang des 18. Jahrhunderts fernöstliche Stimmung in die Räume holten, waren vor dem Siegeszug der klassizistisch-panoramatischen Bildtapeten bereits sehr gefragt. Seide und Papier waren laut Leiss hierbei die wichtigsten Basismaterialien: „Das bemalte Papier hatte in der Mitte des 18. Jahrhunderts als Chinesische Wandtapete schon einen festen Platz in der Raumgestaltung gefunden. Mit diesen durch die ostindischen Kompagnien im 17. und 18. Jahrhundert eingeführten chinesischen Tapeten sind hier nicht die Rollbilder gemeint, sondern die großen, wandfüllenden Dekorationen, auf Papier, oder auch auf Seide gemalt und gedruckt.“118 Wie Friederike Wappenschmidt in ihren Publikationen zeigt, bildet die „Chinatapete“ – wiederum in einem größeren Kontext chinoiser Raumgestaltungen – ein eigenes Kapitel innerhalb der Interieur- und Subjektivierungstheorien, und es finden sich gerade im deutschsprachigen Raum noch gut erhaltene Beispiele für solcherlei Interieurs, die Teil eines Diskurses von Chinamode, China-Opern und den Einflüssen ostasiatischer Philosophie auf das westliche Denken sind: „Zwischen 1745 und 1773 boten Chinatapeten in Schloss Nymphenburg und der dortigen Badenburg die Kulisse für rhizomatisch ausgreifende Diskussionen etwa über den durch Jesuitenmissionare gesteuerten Wissenszufluss aus China, über dessen Verklärung als utopisches Ideal abendländischer Philosophen und über ‚China-Opern‘ am Münchner Residenztheater.“119 Auf den chinoisen Wand- und Raumdekorationen finden sich neben als asiatisch oder gar konfuzianisch imaginierten Symbolen und Tier- und Pflanzen-
118
Josef Leiss: Bildtapeten, wie Anm. 42, S. 22.
119
Friederike Wappenschmidt: „Raum, Kulisse und synästhetische Im-
pulse“, wie Anm. 49.
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motiven zuweilen auch Alltagsszenen mit chinesischen Personen, die narrativ entfaltet werden.120 Eine weitere einflussreiche Kategorie motivischen Repertoires für Tapeten bilden die sogenannten Dominopapiere, die einen Raum programmatisch mit einem spezifischen Rapport ausstatten. „Das Wort ‚domino‘, beziehungsweise ‚dominotiers‘ für ihre Hersteller, leitet sich von Heiligenbildern ab. […] Im 17. und 18. Jahrhundert wurden unter dem Begriff ‚Domino‘ alle im Handel befindlichen kolorierten Blätter zusammengefasst […]. Für Tapeten wurden großzügigere Rapporte gewählt, die sich manchmal erst beim Zusammenkleben mehrerer Bögen ergaben und kostbare Seidenstoffe oder sogar Bildteppiche als Vorbild hatten.“121 Als eine (motivische wie materielle bzw. auf den Raum als Ganzes bezogene) Mischform aus Chinatapete und Print Room erscheinen zudem um 1750 die „Medaillon-Tapeten à la Chinois“.122 Das Print Room-Konzept, ein Vorbild für Print Room Tapeten, kommt ursprünglich aus England: „Dabei hatte man Kupferstiche direkt auf die Wand oder auf papiernen Untergrund geklebt und umrahmt, beziehungsweise in Dekorationssysteme mit Bordüren, Girlanden, Festons etc. hineingesetzt. Diese Art und Weise wurde auf die Chinatapeten übertragen.“123 Eine allgemeine Definition von Print Rooms gibt Joanna Banham, die feststellt, dies seien Interieurs „decorated with arrangements of black and white prints, cut out and framed with engraved paper borders, and pasted directly onto a plain coloured wall“, und somit zusätzlich das spielerische Element eines Wechsels von Schwarz-Weiß und Farbe hervorhebt.124 In den 1790er Jahren waren allerdings nicht nur Tapetenbahnen, sondern auch Papiers en Feuille in Gebrauch; einzelne Papierbögen, die man zurechtschneiden und an die
120
Neben Wappenschmidt siehe u. a. den Band: Papiertapeten: Bestände,
Erhaltung, Restaurierung, wie Anm. 37, v.a. den Beitrag von Birgit Finger zur „procession chinoise“ in Schloss Weesenstein, S. 97–106, oder die Werke zur Tapetengeschichte von Leiss und Thümmler. 121 Sabine Thümmler: Die Geschichte der Tapete, wie Anm. 43, S. 49. 122 Ebd., S. 46. 123 Ebd. 124
Joanna Banham: Encyclopedia of interior design, Vol. 2, London u. a.:
Fitzroy Dearborn 1997, S. 996.
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�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
Wand kleben konnte. Professionelle Dekorateure gestalteten auf diese Weise ganze Räume mit Szenen, Medaillons, Bordüren und anderen Einzelteilen aus bedrucktem Papier, sodass dann ein Raumprogramm daraus entstehen konnte. Im Gegensatz zu den englischen Print Rooms, deren Druckgrafiken nicht extra zum Zweck der Raumgestaltung hergestellt worden waren, sind die Papiers en Feuille „specially designed to be pasted on a wall.“125 Im 18. Jahrhundert finden sich also durchaus voneinander unterscheidbare Praktiken der Raumgestaltung, mit denen jeweils immer wieder auf Papierbahnen und -schnittstücke zurückgegriffen und dabei exotisch-chinoise, vegetabile oder antikisierende Ornamente zusammengesetzt wurden. An dieser Stelle ist nun als letzte wichtige Ebene neben der motivischen die (mit ihr sehr eng verwobene) architekturale zu besprechen, um zu zeigen, inwiefern Bild- und Panoramatapeten nicht nur Produkte textiler und motivischer, sondern auch architekturaler und anbringungspraktischer Wanderungen sind. Papiers Peints nehmen vielfach Ornamente von gängigen Architekturtypen auf und verweisen somit auf den Zusammenhang von gebauter Architektur und deren Verzierung; ihre so oft gelobte Verfeinerung verdankt sich gerade der Ineinanderblendung von Architektur und Ornamenten in bzw. auf Papierbögen. Die französischen Bildtapeten sind Ende des 18. Jahrhunderts keineswegs Beispiele völlig neuer Prints, „[…] one of the major sources of inspiration being the large world of ornament, especially neoclassical ornaments of architectural character.“126 Wenn nun vom Klassizismus (in der Architektur) die Rede ist, so ist insbesondere Charles Percier als zentraler Protagonist des Style Empire hervorzuheben. In seinem 1801 erstmalig erschienenen „Recueil des Arts Décoratifs“ verkündet er v.a. Gesetze von Symmetrie und Ordnung. Die „Reduktion von Form auf Flächigkeit“ im Zusammenspiel mit einer „additiven“ Struktur (der Ornamentteile) kennzeichnet diese Form der klassizistischen Gestaltung127 und wandert offensichtlich von Stichen und Skizzenblättern bzw. der Anwendung auf verschiedenem Mobiliar auf die Tapete:
125
Bernard Jacqué: „From ‚papiers en feuille‘ to ‚décor‘: the industriali-
sation of decoration“, in: Elisabet Stavenow Hidemark (Hg.): New Discoveries – New Research. Papers from the International Wallpaper Conference at the Nordiska Museet 2007, Stockholm: Nordiska museets förlag 2009, S. 8–19, hier S. 14. In England hat John Baptist Jackson ca. 1750 in Battersea Drucke für die Wanddekoration hergestellt, die auch als Tapeten-Vorläufer gelten. 126 Wie ebd., hier S. 8. 127
Hans Ottomeyer: „Die Erfindung der Einfachheit“, in: Hans Ottomeyer
et al. (Hgg.): Biedermeier: die Erfindung der Einfachheit, Ausst.-Kat. Deutsches Historisches Museum, Berlin, Ostfildern: Hatje Cantz 2006, S. 43–55, hier S. 48.
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Tapezierte Liebes — Reisen
„Die ehemals plastisch gedachten Formen, die aus der griechisch-römischen Bauornamentik hergeleitet sind, wurden auf glatte Furnierflächen übertragen und erscheinen dort in Form zweidimensionaler Intarsien als optische Illusion, als scheinbar plastisches ‚trompe l’œil‘. Formen des [frühklassizistischen] Zopfstils mit einer architektonisch geprägten, aber stark zurückgenommenen Syntax einer additiven Struktur prägen noch in Spuren die Zeit um 1800.“128 Der Style Empire ist als ein ursprünglich französisches, in der Zeit Napoleons auf Repräsentationsbedürfnisse und somit also besonders hochwertige Materialien und Verarbeitungen ausgerichtetes Inneneinrichtungsprogramm eine besonders ‚offizielle‘ und teure Ausrucksform des Klassizismus im Wohnen. Er „bewirkt eine Entwicklung des Ornaments“, die sich teils auch in den Tapetengestaltungen wiederfinden lässt; diese reichen über einen frühklassizistischen und eher verspielten goût etrusque bzw. goût arabesque hin zu den sehr architekturalen Formen der Zeit nach 1815, als „schwere architektonische Grundformen und skulpturale krautige Dekorationen dominieren, die sich an römischer Baukunst und römischen Marmormöbeln des Kaiserreichs orientieren.“129 Es wurde so mit und über die Ornamentik bzw. Dekoration ein ideologisches Programm im Wohnen implementiert, das einen pädagogischen Effekt auf die BewohnerInnen haben sollte, denn „[d]ie Monarchen des 19. Jahrhunderts hatten zumeist ihre Erziehung im Geiste Rousseaus erfahren und waren auf Einfachheit, Schlichtheit und persönliche Anspruchlosigkeit hin trainiert worden. Das manifestierte sich am deutlichsten in den Arbeitszimmern als einem Raum neuen Typs, in dem der Monarch die meisten Stunden verbrachte.“130 Ein bereits tradierter Kanon an klassizistischer Ornamentik und Architekturimitationen findet also Eingang in die papierne Innenraumgestaltung und bildet auch den Anfang der Ära des Papier Peint. Diese ist mit der Arabeskentapete und mit dem goût grec bzw. dem goût arabesque eng verbunden.131
128 Ebd., S. 49. 129 Ebd., S. 46. 130 Ebd. 131
Zur Arabeske und dem Arabeskgrotesken siehe in der neuesten For-
schung Angela Borchert: „Arabeskgroteske ‚Zimmerverzierung‘ in der Raumästhetik des Interieurs um 1800“, in: Katharina Eck und Astrid Silvia Schönhagen (Hgg.): Interieur und Bildtapete, wie Anm. 17, S. 201–220.
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�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
Abb. 6 Arabeskentapete, aus der Manufaktur Jean Baptiste Réveillon, Schloss Prangins, Raum 1116, ca. 1790.
Der große Name, der hier besonders hervorzuheben ist, lautet Jean Baptiste Réveillon; ein Unternehmer, der 1784 in den Rang einer „königlichen Manufaktur“ erhoben wurde. Er steht für eine Technik, die die „ornamentale Kunst der Textilien seiner Zeit auf das Papier übertragen [hat] und dabei zu eigenen Schöpfungen [kam]“132 und vor allem auch Motive der pompejanischen Wandmalerei übernommen hat. Réveillon verband Ornamente der Tapisserie und der Wandmalerei, ohne jedoch bereits ein Hersteller von Papiers Scéniques bzw. Panoramatapeten im engeren Sinn zu sein. Er war jedoch deren unmittelbarer Wegbereiter. Sein größter Erfolg waren die perfekt auf das Material und die Wirkung von Papiertapeten abgestimmten arabesken Muster ab den 1780er Jahren.133 [Abb. 6] Hier bewegt man sich nun erneut in einem Bereich der Kategorisierung von Bildtapeten als etwas, das sie gar nicht ursprünglich sind, sondern auf das sie zu ihrer Nobilitierung zurückgreifen: in diesem Fall auf die römische Groteskenmalerei, die als Arabeske bezeichnet maßgeblich den goût grec – eine Strömung des Frühklassizismus – mit formte. Durch die variantenreiche und zu endloser Kombinatorik einladende Gestaltung mit (ebenfalls auf Papier gedruckten) Pilastern oder Bordüren und zum Teil handbemalten Medaillons, auch Sockelzonen oder Deckenfriesen, konnten nun ganze ‚Arabesken‘-Räume entstehen, wie sie beispielsweise
132 Heinrich Olligs (Hg.): Tapeten – ihre Geschichte bis zur Gegenwart, wie Anm. 41, Band 1, S. 251f. 133
Vgl. die Ausführungen dazu in Sabine Thümmler: Die Geschichte der
Tapete, wie Anm. 43, S. 71.
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Tapezierte Liebes — Reisen
auf Gut Knoop zu besichtigen sind.134 Die Kombinatorik von Architekturelementen, antikisierenden Motiven und den handbedruckten, wandfüllenden, sich fortlaufend aneinanderreihenden Papierbahnen zu beispielsweise arabesken oder pompejanischen Räumen stellt nun eine erste eigene Praxis der Interieurgestaltung und -interpretation mittels der Papiers Peints dar, die grundsätzlich von textilen, Chinatapeten- oder Print Room-Arrangements abweicht. Der auf diese frühe Form der Bildtapeten folgende ‚High Peak‘ der Bild- bzw. Panoramatapetenherstellung im frühen 19. Jahrhundert135 beruht allerdings hauptsächlich (und zum Teil auch weiterhin mit Referenzen auf die eben genannte Ornamentik) auf einem anderen Genre für die Raumillusionswirkung: der Landschaftsmalerei und Naturansichten. Diese hatten in der akademischen Kunsttradition Frankreichs und Europas zunehmend einen hohen Status bekommen. Die ganze Bedeutung für sowohl die Raumästhetik und die Nutzung und Wirkung dieser Räume als auch die Selbsttechniken der Subjekte, die sich mit den Wänden und Räumen entwerfen, wird in Kapitel 2.2.2 herausgestellt, in dem die Schnittstellen von Landschaft, Natur und Tapetenbahnen anhand der Analyseachse Natur und Naturalisierungen untersucht werden.
�.�.� VonMaterialienund Motiven zum Raum(-Wirkungs)-Dekor:Waswirdaneinandertapeziertundwelche Bilder fügen sich zu Panoramen? Die Panoramiques oder Papiers Scéniques kamen am Anfang des 19. Jahrhunderts namentlich mit den Manufakturen Dufour und Zuber auf, und es stellten „nur wenige und ausschließlich französische Manufakturen sie im Handdruckverfahren her. […] Während für ein einfaches Tapetenmuster 4–10 Druckmodel genügten, waren für eine Bildtapete je nach der Zahl der Farben und den 20–36 wandhohen Tapetenbahnen zwischen 1000–4000 Druckmodel notwendig.“136 134
Siehe ebd., Abb. S. 72. Eine weitere Spielart siehe ebd., S. 74. Zur Raum-
ästhetik der Arabeske als Programm, siehe Angela Borchert: „Arabeskgroteske ‚Zimmerverzierung‘ in der Raumästhetik des Interieurs um 1800“, wie Anm. 131. 135 Siehe Josef Leiss: „Die Geschichte der Papiertapete vom 16.–20. Jahrhundert“, wie Anm. 92, hier S. 315: „1808 gab es in Paris 120 Tapetenfabrikanten und Kaufleute.“ 136
Heinrich Olligs (Hg): Tapeten – ihre Geschichte bis zur Gegenwart, wie
Anm. 41, Band 2, Abschnitt von Josef Leiss: „Die Bildtapete“, S. 187.
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�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
Der Herstellungsprozess war bei Bild- bzw. Panoramatapeten besonders aufwendig und sie waren, wenn auch erschwinglicher als Tapisserien, keinesfalls günstig;137 dies wurde entsprechend von denen, die über sie schrieben und schreiben, gewürdigt und beständig hervorgehoben. Sie werden als ein luxuriöses Dekorprodukt beschrieben, wie bei Bernard Jacqué, der sich in seinem Aufsatz „Luxury Perfected“ auf das „Journal du Lycée des Arts“ bezieht: „For appearance, cleanliness, freshness and elegance, these papers are to be preferred to the rich textiles of yester-year.“138 In der Zeit kurz nach der Aufklärung, als die Ausstattung von Wohnräumen gleichsam verschönernd und belehrend sein sollte, waren nun die Bildtapeten dabei, sich als Objekte des aufkommenden Konsumbewusstseins, der Moderne und gleichzeitig als Fortführung edler und eleganter Dekore aus großen Adelshäusern mit vergleichbarer Wertigkeit zu profilieren. Im zweiten Band von Olligs’ Tapetengeschichte wird die Panorama- und Illusionswirkung der Bildtapeten betont und der Begriff ‚Panoramatapete‘ im Vergleich mit anderen Begriffen favorisiert. Josef Leiss hadert hier mit dem deutschen Begriff ‚Bildtapete‘ und präsentiert seinen LeserInnen eine Definition anhand dessen, was sie eher nicht ist, um dann ihre Illusionswirkung zu thematisieren: „Eine Bildtapete ist eigentlich kein Bild. Ein Bild ist transportabel, eine malerisch belebte kleine oder größere Fläche, die einen Rahmen braucht, um sich von der Wand abzuheben. Das Bild führt auf der Wand ein Eigenleben. Die Bildtapete dagegen deckt die gesamte Wand zu. Mit der Landschaftsszenerie darauf ist die Wand optisch nicht mehr vorhanden, sie ist zur Illusion geworden. Selbst wenn die Bildtapete durch eine Einrahmung mit Bordüren, mit Sockeltapeten, Fries und Säuleneinrahmung usw. als Panneau tapeziert wird, bleibt sie illusionistisch in ihrer Wirkung, die Wand wird zum Fenster.“139 Diese Beschreibung demonstriert einerseits sehr eindringlich, dass eigentlich ihre Wirkung die Panoramatapete von ihren Vorgängern abhebt: die Wände werden quasi aufgebrochen und deren raumbegrenzende Materialität von einer durchgängigen Bildszenerie überdeckt, sodass Öffnung und Illusion im Raum die Folge sind. Dies meint Leiss mit „optisch nicht mehr vorhanden.“ An-
137
Vgl. Josef Leiss: „Vom Handdruck zum Maschinendruck“, in: ebd.,
Band 3: „Technik und wirtschaftliche Bedeutung“, S. 9–70, hier S. 44. 138 Bernard Jacqué: „Luxury Perfected“, wie Anm. 22, hier S. 57. 139 Wie Anm. 136, S. 188.
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dererseits decken die Tapeten nicht immer die komplette Wand zu, und dass letztere dadurch „zum Fenster“ wird, wäre auch wieder nur ein Rückgriff von Leiss auf das tradierte Beschreibungsvokabular der Kunstgeschichte, so wie Alberti vom Bild als einem offenen Fenster schreibt.140 Doch worauf schauen die BildtapetenbetrachterInnen bzw. sind hier mehrere Fenster in der Wand möglich? Oder ist es eher ein ‚inneres‘ Fenster im Betrachtenden, das – anlässlich des gerade Angeschauten – geöffnet wird?141 Vor allem aber setzt Leiss die Bildtapete nun rhetorisch wieder mit einem Bild gleich, was er der eigenen Aussage nach ja verhindern wollte. Es ist äußerst vielsagend zu beobachten, wie sich die Diskussion um die ‚richtige‘ Begrifflichkeit entwickelt und wie der Begriff Panoramatapete, den Leiss ganz klar bevorzugt, auch von anderen ForscherInnen der Tapetenkunst als die beste Kategorisierungsalternative herausgestellt wird. Leiss hält fest: „Die Franzosen bezeichnen die Bildtapete viel richtiger als ‚Papier Panoramique‘, in Anlehnung an das um 1800 neu erfundene Panorama und wegen seiner ähnlichen Wirkung. Die englisch sprechenden Völker schreiben ‚Scenic Paper‘, die Holländer hingegen ‚Behangsels‘.“142
140
Leon Battista Alberti: Über die Malkunst – Della Pittura, hg. von Sandra
Gianfreda und Oskar Bätschmann, Darmstadt: WBG 2002. 141 Vgl. u. a. Jonathan Crary: Techniques of the Observer: on Vision and Modernity in the Nineteenth Century, Cambridge/Mass. u.a.: MIT Press 1990. Die sog. ‚Afterimages‘ sind Bilder, die von einem Subjekt in dessen Gehirn produziert werden, ohne dass das zuvor wahrgenommene respektive die Vorstellung der Bilder auslösende Objekt zu diesem Zeitpunkt (noch) betrachtet wird. In diesem Zusammenhang könnten also die Bildwelten an der Wand neue, von der Tapete unabhängige Bilder in den Betrachtenden hervorrufen, die von seinen/ihren Erfahrungen und Vorprägungen mitgeformt werden. In der Publikation „Nachbilder“ wird die Verknüpfung von Bildproduktion und der Körperlichkeit der Betrachtenden deutlich gemacht: Ein Nachbild „verknüpft nun das Bild mit der Zeitlichkeit desjenigen Körpers, der es hervorbringt und zugleich erfährt. Kurz, das Nachbild wird zu einem Bild in der Zeit: zu einer so instabilen wie wechselhaften Wahrnehmung, die in der Physiologie der Augen gegründet ist. Es gerät auf diesem Wege zu einem im buchstäblichen Sinne verkörperten Bild: zu einer visuellen Erscheinung, die bedingt ist von den spezifischen Eigenschaften des Auges, von seinen Müdigkeitserscheinungen, seinen Gewohnheiten und seinen Störungen – zu einem Bild also, das symptomhaft mit dem Körper verbunden ist, dem es entspringt [Hervorhebungen der Autorin].“ Gerade in Bildtapetenräumen wirken die gesehenen Ausschnitte in die weitere Folge von Sinneseindrücken, die das Betrachtersubjekt verarbeitet, mit hinein. Vgl. Carolin Meister: „Das Gedächtnis des Auges“, in: Werner Busch und Carolin Meister (Hg.): Nachbilder – das Gedächtnis des Auges in der Kunst, Zürich: diaphanes 2011, S. 7–15, hier S. 7. 142
66
Josef Leiss: Bildapeten, wie Anm. 42, S. 11.
�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
Nouvel-Kammerer betont, ähnlich argumentierend, die hauptsächliche Funktion dieser Tapeten bestehe darin, die Wände zu vereinheitlichen. Eine Befreiung des Musters wird hier proklamiert, und dabei die Neuerungen der Manufakturen, ein über mehrere Bahnen laufendes Motiv zu einem kohärenten Ensemble zusammenzufügen, als wagemutig vorgestellt: „[…] the manufacturers proposed instead a new and bold solution: a single vast pattern on a number of pieces which fitted together to form a landscape. Each piece is treated as an element within a coherent and structured ensemble.“143 Die Definition, die Nouvel-Kammerer entwickelt, zielt darauf ab, alle möglichen Variablen mit einzubeziehen, um dann schließlich die Schaffung einer einzigartigen Atmosphäre zu betonen. Eine solche Eigenschaft grenze die Panoramatapete von anderen Tapetenformen klar ab. Auch in McClellands früher Studie wird bereits vermerkt, die Scenic Papers würden im Gegensatz zu ihren Vorläufern eine kontinuierliche Szenerie ohne Wiederholungen aufweisen.144 Somit verlagert sich der wissenschaftliche Umgang mit – respektive die Versuche von – Kategorisierungen von (Papier-)Tapeten weg von der Materialebene und dem Anliegen, ein neues Produkt durch Vergleiche mit seinen Vorläufern zu nobilitieren, hin zu der den Panoramatapeten eigenen Wirkungsweise, Räume optisch zu verändern und zu narrativieren respektive atmosphärisch aufzuladen. Auch wenn dieser Aspekt für sämtliche Analysen in den folgenden Kapiteln zentral sein wird, gilt es jedoch, dabei die scheinbar offensichtlichen Merkmale wie die dem Jahrmarktpanorama ähnliche Wirkung und die Vereinheitlichung der Wände kritisch zu hinterfragen und auch an den Fallbeispielen zu überprüfen. Dabei kommt man zu einer Auseinandersetzung nicht nur mit Tapetendekoren, -motiven und -narrativen, sondern zugleich auch mit dem Wohnen in der Zeit um 1800 und dem unter 2.1.1 thematisierten Paradigmenwechsel des Sich-Einrichtens. Dabei sollen Wohnen, Tapetenprogramme, Sich-Einrichten und die Formung einer kollektiven Identität, zusammen betrachtet, neue Einblicke und Ausrichtungen für das Feld der Tapetengeschichte bringen. Die Schwierigkeiten, die bei einer Kategorisierung der Tapeten entstehen, werden in Hoskins’ Band besonders in einem historischen Rückblick auf die Pariser und Londoner Industrieausstellungen aufgezeigt. Die Bemerkungen
143 144
Odile Nouvel-Kammerer: „Wide Horizons“, wie Anm. 4, S. 94f. Nancy McClelland: Historic Wallpapers, wie Anm. 40, S. 165.
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der Jury werden hier knapp wiedergegeben, wobei man erfährt, dass die Jurys der Pariser Ausstellungen, die bis 1849 stattfanden,145 immer wechselnde Aspekte der Bildtapeten hervorhoben: „The names given to the first papers in this new style are revealing: […] In 1806 the jury referred to ‚paysages‘ (landscapes), and ‚tentures‘ (wall-hangings); in 1819, it mentioned ‚tableaux en grisaille‘ (paintings in grisaille) and ‚paysages coloriés‘ (coloured landscapes); in 1834, we find ‚paintings on paper to depict landscapes, familiar scenes and historical subjects‘ […].“146 Ein genauerer Blick auf die Berichte zu den Ausstellungen macht die Bewertungen, welche diese Terminologie impliziert, noch deutlicher. Die Jury von 1819 widmet den Papiers Peints eine eigene Sektion unter dem Kapitel XIV: „Tapisseries, Tapis et Tentures“, wobei es zur Einführung heißt, die französischen Bildtapeten hätten ihren Erfolg der hervorragenden Zeichenkunst und den talentierten Zeichnern zu verdanken, die wiederum mit reifer Imagination und delikatem Geschmack147 ihr Handwerk verrichteten. Zudem wären die Papiertapeten leichter austauschbar als ältere Formen der Wanddekoration und so immer à la mode. Die Manufaktur Zuber wird für die ausdrucksstarken Farben ihrer Paysages gelobt und Dufour für die gut komponierten, dem „bon style“ entsprechenden Grisaille-Bilder.148 Hier wird also die Orientierung
145
Diese Ausstellungen sind gewissermaßen konzeptuelle Vorläufer der
Great Exhibition 1851 in London und markieren deutlich, wie hoch das französische Kunstgewerbe gerade in seinem Wettbewerb mit dem englischen bei Käufern, Kennern und Kritikern im Kurs stand, bevor Frankreich zur Jahrhundertmitte auf diesem Gebiet hinter die englischen Produzenten zurück trat. Die Konkurrenz und der gegenseitige Ansporn sowie die jeweils auf einen nationalen Diskurs abzielenden Bemühungen der Manufakturen, die mit der Ausdifferenzierung und dem Aufschwung des Kunstgewerbes im 19. Jahrhundert einhergehen, sind hier nicht Thema, aber ein äußerst lohnendes Forschungsfeld, wenn man sich mit dem Wohnen und den Selbsttechniken im frühen und fortschreitenden 19. Jahrhundert beschäftigt. 146 Odile Nouvel-Kammerer: „Wide Horizons“, wie Anm. 4, S. 94ff. 147 Zur Imagination bzw. Einbildungskraft vgl. Kap. 2.2, zum Geschmack bzw. der Verbindung von Klassizismus, Kombinatorik und Empfinden (im Wohnen) v.a. Kap. 3.3. der vorliegenden Arbeit. 148
Vgl. den Rapport du Jury Central sur les Produits de l’Industrie Française:
Rédigé par M. L. Costaz, Paris 1819, S. 150ff. Siehe auch den Bericht von 1806: Notices sur les Objets Envoyes a l‘Exposition des Produits de l‘Industrie Francaise, Claude-Anthelme Costaz, Paris 1806; sowie Odile Nouvel-Kammerer (Hg.): Papiers Peints Panoramiques, wie Anm. 22; zu den Begriffen Tenture und Paysage siehe dies. in: „Wide Horizons“, wie Anm. 4, S. 98.
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�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
der Tapetenhersteller an den bei den Zeitgenossen beliebtesten Genres der Malerei als anerkennenswert hervorgehoben; sowohl Landschaftsmalerei als auch klassizistische, in Grisaille gefertigte Gemälde und Zeichnungen standen hoch im Kurs.149 In einer historischen Einführung des „Rapport du Jury Central sur les Produits de l’Industrie Française exposées en 1834“, in Paris im Jahre 1836 in 3 Bänden erschienen, wird „un autre genre de tenture“ – also eine andere Form der Wandbespannung – erwähnt, welche „les perfectionnements les plus marqués“ aufweisen könne, eben die Papiers Peints. Sie werden immer noch aufgrund ihrer „belles imitations“ gelobt, indem hervorgehoben wird, dass das Geheimnis entdeckt worden sei, „de donner au papier l’aspect même des étoffes“, und dass Architekturimitationen bzw. neue Formen des Trompe-l’œil angewendet worden seien. Besonders bemerkenswert wären sie jedoch deshalb, weil sie im Unterschied zu tatsächlichen Architekturdekoren und Draperien „de bon marché“ zu haben und daher für die „classes les moins aisées“ bestimmt wären.150 Hier wird die Rolle der Papiertapeten als ‚Ersatzobjekte‘ sehr deutlich, auch wenn sie natürlich die Lieblinge der Jury sind, welche durchaus angetan ist von der Entwicklung dieser Produktklasse. Schließlich wurden die Papiers Peints 1851 in London mit dem Œuvre-Begriff geadelt und damit in den Rang ‚hoher‘ Kunst gehoben.151 Dies ist nur deshalb möglich gewesen, weil sie zum einen, wie oben gezeigt wurde, auf die beliebtesten und anerkannten Genres der (Dekorations-)Kunst zurückgriffen und daraus neue und modisch-innovative Kombinationen für den Raum schufen, und zum anderen aus dem Raum, den sie schmückten, ein „coherent and structured ensemble“152 mit einem gesellschaftlich hochaktuellen Aussage- und Wirkungspotenzial machten. Dieses entsprach den veränderten Bedingungen des Lebens, Wirtschaftens und Wohnens seit der Französischen Revolution und der Aufklärung. Es ging nicht mehr nur um edle Stoffe oder gut gewählte Motive an der Wand, sondern um eine Programmatik für den Raum, die in hohem Maße ein In-Beziehung-Setzen der Subjekte einforderte und ermöglichte.
149
Zu diesen in Grisaille gefertigten Gemälden und Zeichnungen vgl. Josef
Leiss in Bildtapeten aus alter und neuer Zeit, wie Anm. 42, S. 47: „Die Graudrucke wirken dezenter an der Wand, da die farbige Lautstärke fehlt, ähnlich dem Unterschied zwischen einem gezeichneten Entwurf und dem farbig ausgeführten Bild, wo oft der Entwurf vorgezogen wird“. 150 Vgl. den Rapport du Jury Central sur les Produits de l’Industrie Française exposées en 1834, par le Baron Ch. Dupin, Vol. 1, Paris 1836, S. 183f. 151 Bezogen auf die Tapete „Grandes Chasses“ von Delicourt, vgl. Odile Nouvel-Kammerer (Hg.): Papiers Peints Panoramiques, wie Anm. 22, S. 21. 152 Odile Nouvel-Kammerer: „Wide Horizons“, wie Anm. 4, S. 94f.
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Tapezierte Liebes — Reisen
Der Raum als Ganzes und der in ihm gelebte Alltag rückte im frühen 19. Jahrhundert bei dem um seine Selbstbehauptung und -formierung bemühten Bürgertum in den Mittelpunkt des Interesses. Während „sich in England und Nordamerika die ‚Printrooms‘ größter Beliebtheit erfreuen“, gab es in Deutschland immerhin „als Vorläufer der papierenen Wandbekleidung gelegentliche Versuche ‚ein ganzes Kabinett mit lackierten Kupferstichen buchstäblich zu tapezieren‘.“153 Die eigentliche Neuerung im Zeitalter des Papier Peint, das nun als Papier Panoramique oder Papier Scénique die Wände veredelte, scheint in einem Anliegen der Vereinheitlichung des Raums durch die auf der Tapete visualisierten Inhalte zu liegen. Auch die Tapetenforschungs-‚Pioniere‘ McClelland und Henri Clouzot konzentrierten sich in den 1920er bzw. 1930er Jahren hauptsächlich auf den szenischen und Panorama-Effekt dieser Tapeten, wobei der Begriff der Panoramatapete von Clouzot geprägt wurde.154 Die Begriffe des ‚Panoramischen‘ und des ‚Szenischen‘ werden in der Forschung weitestgehend synonym verwendet, was nicht gerade selbsterklärend ist. Doch in Bezug auf die Bildtapete soll dies ihre charakteristische Eigenschaft unterstreichen, mehrere Landschaftsausschnitte oder eben Szenen eines zusammenhängenden Bildes zu einem einzigen umlaufenden und den Raum quasi von innen umspannenden Bild zusammen zu fügen, woraus man dann eine Art Panorama ableitete. Es wurde prinzipiell seitens der Hersteller davon ausgegangen, dass die KäuferInnen der Bildtapete die einzelnen Bahnen in der richtigen Reihenfolge anbrachten, denn dadurch konnte sie ihre in höchstem Maße didaktische Wirkung, ihren Bildungsauftrag, erfüllen: Gerade literarische und mythologische Szenen wie in der „Paysage de Télémaque sur l’Île de Calypso“ oder auf der „Les Amours de Psiché et Cupidon“-Tapete – mit den verschiedensten Prüfungen des Mädchens Psyche bis zu der Szene, in der sie sich mit Amor vermählen kann – führen den Besitzenden und Betrachtenden eine moralisierende oder auch im Sinne Foucaults disziplinierende Geschichte in ihren eigenen Privaträumen vor Augen. Der Raum kann zur Bühne der sich vor einer solchen Kulisse im Alltag bewegenden Bewohnerinnen und Bewohner werden.155 153 Vgl. Walter Stengels „Alte Wohnkultur“ (1958), zit. n. Sabine Thümmler: Die Geschichte der Tapete, wie Anm. 43, S. 66. 154 Vgl. Bernard Jacqué: „Eine Typologie der Präsentation“, wie Anm. 37, S. 17. 155 Siehe Sabine Thümmler: Die Geschichte der Tapete, wie Anm. 43, S. 61: „[…] comme feraient des décorations théâtrales […]“; vgl. auch die Ausführungen von Friederike Wappenschmidt in „Raum, Kulisse und synästhetische Impulse“, wie Anm. 49.
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�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
Dennoch lässt sich nicht ohne Weiteres immer von einem ‚Panorama‘ sprechen, denn die Bildtapete eröffnet auch die Möglichkeit, nur einzelne Bahnen (panneaux) an ausgewählten Wandflächen anzubringen: „Diese Möglichkeit, die Teile einzeln als Panneaux an die Wand zu bringen oder sie bei Bedarf auch ohne Unterbrechung zu kleben, ist ein Charakteristikum der Bildtapete“, wie Leiss und auch in der neueren Forschung Jacqué betonen.156 Die Potenzialitäten, wo und wie genau die Tapetenbahnen genutzt werden konnten, machen eigentlich den Reiz dieses Dekors aus. So verlagert sich der Akzent, wenn man vom ‚Panorama‘ und der Kulissenwirkung oder auch dem Szenischen der Bildtapete spricht, zum einen auf eine mögliche Analyse des Raums, also auf das, was sich außer der Tapete noch in dem durch sie veränderten Zimmer oder Saal befindet, und zum anderen auf soziale Interaktionen im Alltag, die durch die Tapete beeinflusst werden bzw. die vor einer solchen Kulisse anders verlaufen. Das gewohnte Umfeld wird zu einer anderen Welt, die eine veränderte Wahrnehmung bewirkt respektive einfordert, wie es in der Erinnerung des Sohnes einer Industriellenfamilie aus Warendorf über die Wandgestaltung seines Elternhauses aufscheint: „Und dann tat sich mit dem Öffnen der großen Flügeltür eine fremde Welt auf, die wohl jeden Besucher, der zum ersten Mal und unvermittelt den Tapetensaal betritt, zunächst überwältigt und in höchstes Erstaunen und in Bewunderung versetzt.“157 Entsprechend sollte „[d]ie Zimmerdekoration […] nicht nur schmückendes Element sein, sondern im Sinne Horaz’ ‚instruere et delectare‘“,158 und die an die Wand projizierten Didaktiken griffen auf die im beginnenden 19. Jahrhundert besonders virulenten Vorstellungen und Diskussionsstoffe zurück, wie beispielsweise die des „edlen Wilden“.159 Wie Astrid Schönhagen gezeigt hat,
156
Josef Leiss: Bildtapeten, wie Anm. 42, S. 28; siehe auch Bernard Jacqué
in: „Eine Typologie der Präsentation“, wie Anm. 37, S. 19: „Manchmal verzichtete man auch auf die volle Größe des Panoramas und brachte die verschiedenen Szenen wie Teppiche an […]“. Jacqué erwähnt in diesem Zusammenhang auch das Beispiel Ellingen, das in der vorliegenden Arbeit ausführlich in Kapitel 5.3.4 behandelt wird. 157
Christoph Kottrup: „Die Wandbilder im Hause des Gründers unserer
Firma“, in: Werkszeitung der Inlettwebereien, 4. Jg. (April 1953), zit. n. Sabine Thümmler: Die Geschichte der Tapete, wie Anm. 43, S. 102. 158 Sabine Thümmler: wie ebd., S. 106. 159
Siehe Astrid Arnold, mit Fokus auf der Dufour-Tapete Les Sauvages de
la Mer Pacifique, wie Anm. 109, S. 111–131.
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Tapezierte Liebes — Reisen
thematisiert dabei selbst eine so exotische Landschaft wie die auf Dufours „Inka“-Tapete beim genaueren Hinsehen eher die heimischen Belange in „einer Kombination von Antikisierung und Whitening, die die Inkas zu Repräsentanten einer besseren Vergangenheit und […] zur Projektionsfläche für die europäischen BetrachterInnen macht.“160 Solche Überlegungen eröffnen neue Möglichkeiten der Untersuchung von Papiers Peints im Bereich der Kunstwissenschaft, der Sozial- und Kulturwissenschaften, oder auch im Rahmen noch junger wissenschaftlicher Disziplinen wie den Material Studies, die neue Erkenntnisse über den Gebrauch der Tapeten im Alltagskontext bringen können – oder vielmehr den im Objekt angelegten möglichen Gebrauch. Dabei sollten die schwankende Terminologie und ambivalenten Definitionen, welche die Tapetenforschung begleiten, mit bedacht werden. Beim Panoramischen oder Szenischen ansetzend hieße das also, sich darüber im Klaren zu sein, dass diese Begrifflichkeiten immer nur einen Teilaspekt einfangen – der Fall der Psyche-Tapete demonstriert dies: zwar spielen sich die zwölf Einzelszenen vor einem vereinheitlichenden Architekturhintergrund ab, doch von einer zusammenhängenden Landschaft kann nicht die Rede sein; der Begriff Panoramatapete wäre hier m. E. nicht treffend. In der Forschung hat man sich damit beholfen, sie als eine ‚Ausnahme‘, einen Sonderfall, zu deklarieren,161 wenn auch nicht vollständig, denn szenisch und alle (vier) Wände mit einbeziehend ist sie ja dennoch. Man könnte auch von einer ‚Literaturtapete‘ sprechen, oder – um einen gängigen Ausdruck zu nehmen – von einer ‚mythologischen Wandtapete‘.162 Hiermit wäre man auf eine andere Art von Kategorisierung gestoßen, die statt auf die Materialität, den Herstellungsprozess, die historischen Vorbilder oder die Wirkung nunmehr auf den Inhalt respektive die ‚Story‘ der Tapetenbahnen abhebt. Eine stark ausdifferenzierte, gänzlich auf den abgebildeten Inhalt bezogene oder aber auch zu unspezifische Terminologie samt impliziter Hierarchisierungen könnte eher dazu führen, dass der Untersuchungsgegenstand kaum mehr in Abgrenzung zu anderen analysierbar ist, wie aus den oben angeführten Beobachtungen und Forschungszitaten folgt. Die hier thematisierten (Bild-)Tapeten entziehen sich durch die ihnen inhä160 Astrid Silvia Schönhagen: „Tapezierte Kolonialfantasien“, wie Anm. 23, S. 178. 161
Zur ‚Ausnahmestellung‘ der Psyche-Tapete vgl. Odile Nouvel-Kamme-
rer: „Les Thèmes d’une Nouvelle Philosophie du Quotidien“, in: Dies.: Papiers Peints Panoramiques, wie Anm. 22, S. 103-133, hier S. 104. 162
Der Katalog von Odile Nouvel-Kammerer (ebd.) kategorisiert die Bildta-
pete thematisch und motivisch, wie „Mythologie und Biblische Szenen“, „Literatur, Theater, Oper“, „Jagdszenen“, „Festlichkeiten“, „Historische Szenen“ etc., S. 258–316.
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�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
rente Eigenschaft vielschichtig Altes mit Neuem zu verbinden, und durch ihr Changieren zwischen unterschiedlichen Ebenen des Marktes und der Gesellschaft, einer eindeutigen Definition. Sie bieten aber gerade deshalb die Möglichkeit, bei ihrer Untersuchung immer wieder neue Aspekte entdecken und diese in Begriffe fassen zu können. Die Bildtapete wird, wenn man sie nicht nur in ihren historischen Bezügen und Entwicklungen, sondern darüber hinaus auch in ihren Diskursivierungen – u. a. als Kunst- oder Gebrauchsgegenstand, Wirkungsmacht im Wohnen und Katalysator von Empfindungen wie auch Selbstformungspraktiken der Wohnenden – untersucht, zu einem Teil einer umfangreicheren Interieur-Anordnung. So entsteht mit den tapezierten Wänden zugleich auch ein ganzes (zeit- und orts-)spezifisches Raumprogramm. Dabei setzen sich die Tapeten in ein Wechselverhältnis mit BetrachterInnensubjekten und Objekten, ihren Positionierungen im Raum und den performativ im Raum umgesetzten Codes und Verhaltensweisen ihrer Zeit. Das ‚Lesen‘ von Bildtapetenszenen ist immer auch ein Aktualisieren von aufgezeichnetem Wissen, das erst durch eine (medienhistorische) Diskursanalyse detailliert fassbar wird.163 Ein solches diskursanalytisches Vorgehen ist auch deshalb wichtig, weil es „die Wahrnehmungsperformanz des Lesers/Betrachters (sein Lesen und Sehen)“ mit einbezieht – eine Ebene, die beim ausschließlichen Operieren mit der Ikonographie oder auch mit intertextuellen Verweisstrukturen verloren gehen würde. Es gilt also, exemplarisch solche Raumprogramme und Wechselverhältnisse – immer mit den Bildtapeten als Ausgangspunkt – aus ihrer scheinbar unproblematischen bzw. oft unhinterfragten Kategorisierung als ‚schön verzierter Wohnraum‘ herauszufiltern und gerade auch in ihrer (gesellschafts-)politischen Wirkmacht als eine Kulturtechnik zu analysieren. Dabei lässt sich der um 1800 zu beobachtende und oft beschriebene Paradigmenwechsel von souveräner Herrschaftsmacht und ihrer Repräsentation im Wohnraum zum bürgerlichen Wohnen und Über-Sich-Selbst-Verfügen-Lernen auch in und an den tapezierten Wänden nachvollziehen.164 Dazu müssen bspw. neben den Bildtapetenszenen auch ihre Beziehungen zu den weiteren Papierdekoren im Raum mit beachtet werden. Diese imitieren oftmals Architekturen: Speziell beauftragte Dekorateure tapezierten archi-
163
Vgl. die Einleitung von Silke Horstkotte und Karin Leonhard: „‚Lesen
ist wie Sehen‘ – über Möglichkeiten und Grenzen intermedialer Wahrnehmung“, in: Dies. (Hg.): Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Bild und Text, Köln u. a.: Böhlau 2006, S. 1–15. Hier beziehen sich die Autorinnen auf Foucaults „Archäologie“. 164 Siehe auch Foucault und den Begriff der „Maschinerie“ in Kapitel 2.2 der vorliegenden Arbeit.
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Tapezierte Liebes — Reisen
tekturale Designs mit aufeinander abgestimmten Imitationen von Pilastern, Paneelen, Friesen und Sockeln, teilweise um textile Imitationen ergänzt, zu einem „‚décor‘ (called ‚pilaster-and-panel‘ in England, ‚frescopaper‘ in America and ‚Salondekor‘ in Germany)“,165 welcher auch nach der großen Zeit der Panoramatapeten gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch in Gebrauch war. Dieses „[…] ‚décor‘ formed the major part of French wallpaper companies’ arabesque production. Always modular, simple or complex, and made up of a small number of matching elements, it was printed by the hundred […].“166 Um es nicht mit den aufwendiger hergestellten Papiers en Feuille zu verwechseln, welche um 1800 von dieser Form der Massendrucke abgelöst wurden, schlägt Jacqué den Vergleich mit Kleidung vor, „‚papiers en feuille‘ were rather like haute-couture, whereas ‚décors‘ were off the peg.“167 Von besonderer Bedeutung für die exemplarischen Analysen in dieser Arbeit sind, abgesehen von diesen papiernen Pilastern und Sockeln, aber auch Papier-Supraporten. Die Anzahl auf Papier gedruckter Supraporten scheint beträchtlich und die Nachfrage groß gewesen zu sein: „Die Manufakturen, die Papiertapeten herstellten, kommen sehr rasch einer grundlegenden Nachfrage der Dekorateure nach, indem sie Supraporten entwickelten, die bis ins 19. Jahrhundert ein unerlässliches Element für die Ausschmückung eines Raums waren.“168 Wenn man nun nicht allein die Bild- bzw. Panoramatapeten in das forschende Blickfeld nimmt, sondern gerade auch das durch sie mit geformte Gesamtkonzept eines Raumes, in dem auch textile und/oder motivische und/oder architekturale Wanderungen sichtbar werden, so sind sehr komplexe Beziehungen zu untersuchen, wie es anhand der Analyseachse von Bildersequenzen und Panorama-Blick ermöglicht werden soll. Die Panoramen, die Bildtapeten entwickeln können, sind auch gesellschaftliche oder psychosoziale Panoramen, wenn auch mitunter nicht weniger landschaftliche oder architektonische, wie sie auf den ersten Blick entfaltet werden. Die Bilder, die sich zu Panoramen fügen können, sind wiederum nicht allein in den Tapetenbahnen
165
Bernard Jacqué: „From ‚papiers en feuille‘ to ‚décor‘“, wie Anm. 125, S. 17f.
166 Ebd. 167 Ebd., S. 18f. 168 Bernard Jacqué: „Das goldene Zeitalter der Papiertapeten“, wie Anm. 37, hier S. 38. Hier mit dem Beispiel einer Supraporte mit Vögeln und Papageien nach einem Entwurf von Joseph-Laurent Malaine von ca. 1800.
74
�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
zu finden, sondern genauso in anderen Dekoren und auch in den Köpfen der BetrachterInnensubjekte. Darin sind sie um 1800 über die zunehmende Verbreitung von Stichen und Buchillustrationen und die aufkommenden Mode- und Geschmacksbildungsjournale verankert, aus denen sie – um diesen Begriff erneut aufzugreifen – auch auf die Tapetenbahnen wandern. Dabei ist schon der Begriff des Panoramas in Bezug auf die Bildtapete nicht unproblematisch, denn wie sich in den Analysekapiteln zeigen wird und in Bezug auf die Psyche-Tapete schon angedeutet worden ist, geben die Tapetenszenen nicht zwangsläufig eine All-Ansicht oder eine ununterbrochene Ansicht (einer Landschaft beispielsweise) zu sehen. Dies heißt nun nicht, dass man Begriffe wie ‚Panorama‘ oder ‚Panoramatapete‘ nicht verwenden sollte, nur ist es nützlich, sich der dabei ein- oder auch wiederum ausgeklammerten Aspekte der Tapetengeschichte, -verwendung und -betrachtung bewusst zu sein.
�.� „Taktiken des Wohnens“, „so mannigfaltig als möglich durchschnittene“ Sphären: Wohnen und In-Beziehung-Setzen mit Bildtapeten um 1800 Die Annäherung an das Wohnen mit Bildtapeten im frühen 19. Jahrhundert, die im Folgenden unternommen wird, geschieht unter einem erweiterten Blickwinkel; es wird davon ausgegangen, dass diese Tapeten und ihre vielfältigen Nutzungen als eine (Mit-)Gestaltungsform von Beziehungsräumen zu analysieren sind. Ein Interieur formt sich immer wieder neu, wenn es im Alltagskontext von mit ihm und in ihm agierenden Subjekten aufgesucht und (um-)gestaltet wird. Es funktioniert im Moment seiner Nutzung und Diskursivierung als Teil eines Komplexes zur Selbstbildung für diese Subjekte. Die mit Bildtapeten gestalteten Wände eines Interieurs sind wiederum eine ganz spezifische Art und Weise, diesen Prozess in Gang zu setzen und zu lenken. Dass sich die Beziehungsräume in Bildtapeten-Interieurs aber im Sinne einer für das frühe 19. Jahrhundert symptomatischen Ordnung herausbilden und welcher Art eine ‚Orientierung‘ in ihnen sein könnte, gilt es noch ausführlich darzulegen. Die Tapetenraum-Anordnungen sind also in diesem Sinne Teil einer Geschichte der Räume und somit der Machtverhältnisse, die darin ausgehandelt werden. Wie Foucault in einem Gespräch 1977 betont, müsste man darum
75
Tapezierte Liebes — Reisen
„eine ganze Geschichte der Räume schreiben – die zugleich eine Geschichte der Mächte wäre –, von den großen Strategien der Geopolitik bis zu den kleinen Taktiken des Wohnens, der institutionellen Architektur, dem Klassenzimmer oder der Krankenhausorganisation und dazwischen den ökonomisch-politischen Einpflanzungen.“169 Zwar sind die „kleinen Taktiken des Wohnens“ in den umfangreichen Schriften Foucaults zu den Räumen des Gesundheits- oder Strafvollzugssystems bzw. zum Panopticon nicht explizit theoretisiert, können aber dennoch in der Foucault’schen Perspektive zumindest mitgedacht und im Zusammenhang mit dem Wohnen in Bildtapetenwelten sehr gut fruchtbar gemacht werden, da es dabei ebenso um biopolitische Fragen und Selbsttechniken geht. Foucault erläutert in zahlreichen Schriften mit unterschiedlichem Fokus, wie seit dem 18. Jahrhundert und im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Ausübung von Macht nicht mehr an einen Souverän zurückgebunden werden kann, sondern sich stattdessen auf Taktiken, Strategien und Selbsttechniken der Subjekte, die eine Gesellschaft bilden, verteilt, sodas man auch von einer „Maschinerie“ sprechen kann. Dieser kann man nur durch genaues Betrachten der einzelnen Bereiche gesellschaftlichen Handelns – wie dem Wohnen und Sich-Einrichten – einigermaßen auf die Spur kommen: „Die Macht wird nicht mehr substantiell mit einem Individuum identifiziert, das sie besitzen oder sie aufgrund seiner Herrschaft ausüben würde; sie wird zu einer Maschinerie, auf die niemand einen Besitzanspruch hat.“170 Die Körper der Subjekte werden dadurch auch gewissermaßen zu Maschinen, die optimal gereinigt und gepflegt werden müssen, denn: „Die Harmonie der eigenen Körpermaschine durch eigene Regulationsleistungen aufrechtzuerhalten, lautet die biopolitische Botschaft an die aufgeklärten Bürger, das virtuell revolutionäre Programm der Selbstregierung.“171 Für die Beziehungsräume in, um und mit Bildtapeten, die ebenso Thema der vorliegenden Arbeit sind wie die Tapetendekore selbst, und die also in gewisser Weise Erscheinungsformen der Macht-Maschinerie sind, können drei besonders starke Achsen ausgemacht werden, nach denen sie sich in der Zeit des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts ausbilden und die
169 170
Siehe Michel Foucault: „Das Auge der Macht“, wie Anm. 24. Ebd., S. 262.
171
Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen, wie Anm. 61, S. 75. Siehe auch das
Kapitel 4.5 der vorliegenden Arbeit.
76
�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
in sämtlichen Tapetenräumen ihren Niederschlag finden. Diese Achsen sind, wie bereits in der Einleitung erwähnt, als Analysekategorien zu verstehen, die dabei helfen, Bildtapeten in ihren kulturhistorischen Verortungen und ihrem wahrnehmungstheoretischen und performativen Potenzial umfassender als bisher zu untersuchen und bei den Beispielanalysen eine Vergleichsebene zu schaffen. Sie sollen im Folgenden noch etwas näher beschrieben werden: Die Achse der Natur und Naturalisierungen zeigt die Tendenz der Bildtapeten-Beziehungsräume zur Natur bzw. in die wohlüberlegte Gartenlandschaft, die von draußen wieder in das Interieur gespiegelt wird und zugleich mit mentalen Konzepten der sich im Interieur aufhaltenden Subjekte vom Spazieren und Erkunden im Garten verflochten ist. Dabei ist das Genre der Landschaftsmalerei, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Aufschwung erhält und zu einem der wichtigsten Praxis- und auch Theoriefelder der Malerei schlechthin wird, von besonderem Interesse, ebenso wie der Diskurs rund um den Landschaftsgarten, der von England aus bald ganz Europa erfasst hatte. Die bereits herausgehobene und problematisierte Panoramawirkung der Bildtapeten, die in einer Vielzahl der Fälle mit dem Sujet der Landschaft bzw. der gestalteten Natur gekoppelt ist, und die Entfaltung mehrerer Bildeinheiten entlang der Wand zu einem Gesamtbild, kann als eine zweite große Achse genauer untersucht werden, die Achse Bildersequenzen und Panorama-Blick. Gerade im Hinblick auf die zeitgenössischen Diskurse um das Jahrmarktpanorama, um optische Medien zur Illusionsbildung und um ‚Erhabenheit‘ und Größe als menschliche Erfahrungswerte in der Auseinandersetzung mit bestimmten Landschaftstypen kann diese Achse verdeutlichen, inwiefern die Bildtapeten-Szenen eine spezifische Art und Weise des Anschauens, Abschreitens und Miterlebens seitens der Betrachtersubjekte erfordern. Letztlich ist damit auch die Frage verbunden, inwiefern ein sich an der Wand und im Raum entfaltendes Medium anders mit Betrachtenden interagiert als ein Einzelobjekt oder -bild. Die Bildtapete ist zudem eine Mischform einer teilweise panoramatischen Bild(erzählungs)-Tapete und kein reines Panoramabild, was noch einer näheren Untersuchung im Rahmen dieser Arbeit bedarf. Eine dritte wichtige Achse meiner Bildtapetenforschung bildet schließlich die Theatralität des Alltags und die Bühne der Gesellschaft respektive die Vernetzung der aufgeführten Szenen in der Tapete mit diesem Alltag. Zwar ist diese Achse insofern mit der ersten und zweiten verbunden, als sich bei der panoramatischen Anordnung der Szenen und dem sich so ergebenden Raumprogramm von einer Kulissenwirkung der Tapeten sprechen lässt, jedoch berührt diese Achse darüber hinaus auch die weiter reichenden Selbstinszenierungs-Strategien und Didaktiken, die Subjekte in ihren Wohnbereich implementieren bzw. mit denen sie bis in die scheinbar privatesten Winkel hinein
77
Tapezierte Liebes — Reisen
zu tun haben und die sich auf den verschiedensten gesellschaftlichen Feldern zeigen, von denen eines auch das der Bildtapetenräume ist. Alle drei Achsen von Garten-Natur, Bild-Panoramatik und Theatralität umgeben die Tapeten nicht etwa, als würden sie die Tapetendekore mit ihren jeweils spezifischen Zeichensystemen umrahmen172 oder ihnen erst eigentlich einen Sinn verleihen, sie werden auch nicht einfach von den Tapeten abgebildet oder reflektiert, sondern sie bilden vielmehr mit ihnen zusammen einen ganz eigenen Diskurs, der vorläufig als ein ‚In-Beziehung-Setzen mit Bildtapeten’ beschrieben werden soll. Mit dem oder den sich in Beziehung Setzenden sind sowohl die Objekte ‚(Wohn-)Raum‘, seine ‚Dekore‘ bzw. ‚Materialien‘ und ‚Umgebung‘ (beispielsweise für das Gartenzimmer oder -haus entsprechend der Garten, in den es eingegliedert ist) gemeint, als auch die sich darin platzierenden Subjekte. Dieser Diskurs ist nicht nur im Hinblick auf die Objekt- und Designgeschichte der Tapeten, sondern gerade für eine allgemeine kulturhistorische Betrachtung der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts äußerst erhellend, da sich in dieser Zeit bürgerliche Praktiken und – in Abhebung zum feudalen System entwickelte – gesellschaftliche Codes und Selbsttechniken herausbilden, die zusammen und in Wechselwirkung mit den Tapetenräumen ein Beziehungsgefüge ergeben. Im zweiten Teil des vorliegenden zweiten Kapitels konzentriere ich mich dann auf genau dieses Beziehungsgefüge und somit noch deutlicher auf die kulturhistorischen und (psycho-)sozialen Entwicklungen im Zuge des paradigmatisch umgestalteten – und sich gestaltenden – 19. Jahrhunderts. Wie sich Subjektivierungsprozesse und Aushandlungen von Macht im Wohnen und insbesondere zwischen den als grundsätzlich bipolar entworfenen Geschlechtern zeigen kann, wird am Genre der zur Zeit der Bildtapeten sehr populären Zimmerbilder verdeutlicht, in denen durchaus auch Bildtapeten wiederum als Bild im Bild vorkommen. Anschließend werden die Beziehungsräume anhand der zwei ersten Achsen, Natur und Naturalisierungen sowie Bildersequenzen und Panorama-Blick, näher beschrieben. Der ersten Achse ist dabei sehr viel Gewicht beigemessen, denn die Themenkomplexe der Landschaftsmalerei und der Gartentheorie und untrennbar davon einer Verhaltensmoral, die vor allem in der Begegnung von Mensch und Natur und der Formung der letzteren durch den Menschen geschliffen und verankert wird, bekommen gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine gesellschaftliche und
172
Damit ist weniger ein konkretes Rahmen von Objekten und eher ein
framing im Sinne Erving Goffmans gemeint; ein kognitiver Akt, entlang bestimmter Schemata die eigene Wahrnehmungswelt zu organisieren und sich dadurch erst (in einem gegebenen sozialen Raum) zu verhalten.
78
�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
künstlerische Relevanz wie nie zuvor. Sie finden sich in einigen Bildtapeten, wie beispielsweise der später ausführlich besprochenen Telemach-Tapete, besonders augenfällig umgesetzt. Wenn es um die Panoramawirkung und die Bedeutung von Blickrichtung und -wechsel sowie Wahrnehmung allgemein geht, so führe ich zur besseren Erfassung der Beziehungsräume und des Mit-Wirkens der Tapeten an den gesellschaftlichen Verhaltenscodes und Machtverhandlungen eine theoretische Schrift Schleiermachers zum Thema der ‚Geselligkeit‘ ein. In diesem Text erörtert der Philosoph, dass die Sphäre eines Individuums „so mannigfaltig als möglich durchschnitten“173 werden soll von den Sphären anderer Individuen, und daran andockend hebe ich hervor, dass es auch in Bildtapetenräumen immer um die Schaffung und das In-Bewegung-Halten von sozialen Räumen, um Interaktion und Vermittlung geht. Wie die Anordnungen im Raum sich nun an die Gesellschaft anschließen, oder anders: wie Subjekte im Raum, und zudem auch ihre – mit Schleiermacher gesprochen – „Sphären“ sich zu und zusammen mit Bildtapeten verhalten und zugleich Geselligkeit schaffen und fordern, steht gegen Ende des Kapitels zur Diskussion. Hier wird zudem ein erster Überblick zu den drei Bildtapeten, die ich in den Kapiteln vier bis sechs exemplarisch in ihrer Einbindung in unterschiedlichen (Wohn-) Häusern analysiere, gegeben. Diese Tapeten werden als Schnittstellen von Figuren und Landschaftselementen, literarischen Referenzen und epistemischen Narrativen der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts vorgestellt, um den Bogen von Raum-, Subjekt- und Gedanken-Anordnungen zu den konkreten Tapetenbahnen und deren Bildern zu spannen und diese Verbindungslinien im weiteren Verlauf der Argumentation dieser Arbeit noch stärken zu können. Damit ist auch bereits eine Annäherung an die dritte Achse der Theatralität des Alltags und Bühne der Gesellschaft geschaffen, die jedoch erst im dritten Kapitel im Zentrum steht, nachdem noch weitere Kontexte der Bildtapeten-Mode – Literatur bzw. Literarisierung, Luxus und Lebendigkeit – näher beleuchtet worden sind. Die Tapeten-Beziehungsräume, von denen die Rede ist, sind dabei von einer vermeintlichen Privatheit gekennzeichnet, da es sich i.d.R. um Wohnräume handelt. Dass aber auch Räume mit einer Bestimmung zum Wohnen, als Rückzugsort und zu besonderer Intimität nicht eigentlich ‚privat‘ sind, sondern ihnen oftmals in der Wahrnehmung und Nutzung ein nicht minder wichtiger öffentlich-repräsentativer Aspekt zukommt – und zwar unabhängig davon, ob
173
Friedrich Schleiermacher: „Versuch einer Theorie des geselligen Be-
tragens (1799)“, wie Anm. 25, S. 65.
79
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es sich um eine Adelsresidenz oder ein bürgerliches Haus handelt –, soll an dieser Stelle noch nicht ausführlich dargelegt werden; es ist hier aber wichtig festzuhalten, dass dieses ‚Private‘ ihnen über ihre Funktion und Ausgestaltung von Beginn an zugeschrieben wird, sodass das ‚Wohnen‘ und das ‚Private‘ eine Einheit zu bilden scheinen. Dadurch vermittelt auch die Inszenierung des Interieurs und die der Wände und Decken private Befindlichkeiten, Interessen und Mentalitäten miteinander, und diese gleichzeitig – da sie mit denen der Gesellschaft, in denen die Individuen situiert sind, rückgekoppelt sind – als eine Art Katalysator wiederum mit einer kollektiv geformten Identität und ihrer ständigen Äußerung und Wieder-Äußerung. Beate Rössler konstatiert: „Privat werden die Räume nämlich nicht nur dadurch, dass ich die Kontrolle darüber habe, wer sie wann betreten darf; sondern auch dadurch, dass ich sie für mich selbst inszenieren kann, dass die Gegenstände in diesen Räumen eine bestimmte Anordnung haben und dass es bestimmte Gegenstände sind, die sich hier finden, dass also durch die Inszenierung des Interieurs eine Bedeutung konstituiert wird.“174 Für eine Neubetrachtung der Tapetenräume als Beziehungsräume sind also anhand exemplarischer Beispiele erstens die Aspekte von privater bzw. öffentlicher Nutzung, von der Selbst-Inszenierung (wohnender) Individuen über die Inszenierung ihres Interieurs, von Kontrolle und somit auch von Machtausübung und -anpassung und von den Anordnung(en) in den jeweiligen Räumen in Betracht zu ziehen und zweitens die Produktion und Zirkulation von Bedeutung in dieser sozialen und in Machtverhältnisse eingefügten Tapete-/Raum-/ Subjekt-Inszenierung herauszufiltern. Selbstinszenierung und Bedeutungsproduktion sollen als sich gegenseitig bedingend untersucht werden. Um noch einmal vor der Ausarbeitung der drei Achsen, die für die Bedeutungsproduktion in und mit Bildtapetenräumen maßgeblich sind, auf Foucault zurückzukommen: Die Räume, um die es geht, sind als privat markiert, sind auch Räume des Partnerschafts- und Familienlebens, das in ihnen tagtäglich geradezu aufgeführt wird. Ausgehend von der Achse der Theatralität – aber nicht ausschließlich – ist diese Tatsache nicht nur von rein historischem oder politökonomischem Interesse, sondern wird genauso Teil und Bedingung der beschriebenen Selbstinszenierung und der Machtmaschinerie, und zwar als Komplex von Räumen, Anordnungen, Aufführen von Familiarität und Macht.
174
Beate Rössler: Der Wert des Privaten, Frankfurt am Main: Suhrkamp
2001, S. 257.
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�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
Foucault bringt dies besonders treffend in einem Gespräch mit Lucette Finas zum Ausdruck: „Zwischen jedem Punkt eines gesellschaftlichen Körpers, zwischen einem Mann und einer Frau, in einer Familie, zwischen einem Lehrer und seinem Schüler, zwischen dem der weiß und dem der nicht weiß verlaufen Machtbeziehungen, die nicht die schlichte und einfache Projektion der großen souveränen Macht auf die Individuen sind, sie sind eher der bewegliche und konkrete Boden, in denen die Macht sich verankert hat, die Bedingungen der Möglichkeit, damit sie funktionieren kann.“175 Wenn sich Macht anhand von Beziehungen und auf dem beweglichen Boden zwischen diesen Beziehungsgeflechten verankert, so findet sie auch Eingang in Tapetenräume, in die auf den Tapeten visualisierten bildimmanenten Beziehungsgeflechte und die sich im Raum (potenziell) realisierbaren Beziehungen. Für die Tapetenhäuser, die in den Kapiteln vier bis sechs diskutiert werden, sind auch insbesondere Foucaults Überlegungen zur Thematik „Sexualität und Wahrheit“ zentral, die er mit der Thematik des Wahnsinns zusammendenkt und als eine seit dem 19. Jahrhundert herrschende „Technologie der Psyche“ bezeichnet: „Seit dem 19. Jahrhundert tritt ein grundlegendes Phänomen ein: die Verzahnung zweier großer Machttechnologien: jener, die die Sexualität antreibt, und jener, die den Wahnsinn abtrennt. […] Es kommt also eine große Technologie der Psyche zur Welt, die einer der Grundzüge unseres 19. und 20. Jahrhunderts ist: sie macht aus dem Sex gleichzeitig die verborgene Wahrheit des vernünftigen Bewusstseins und den entzifferbaren Sinn des Wahnsinns: ihren Gemeinsinn und somit das, was den Zugriff auf beide freigibt.“176 Anstatt den Sex und Intimität als einen und den Wahnsinn als entgegengesetzten Pol zu denken, oder mit Blick auf die Tapetenbilder formuliert: die Paarbildungsdidaktiken und eine wiederum als ständige Bedrohung imaginierte Destabilisierung dieser Paar-Logik177 als zwei unversöhnliche Pole, steckt hierin eine Aufforderung, gerade das zu bemerken, was beide Prinzipien respektive Machttechnologien miteinander verzahnt (und auf welche Weise). In 175 176 177
Michel Foucault: Dispositive der Macht, wie Anm. 100, S. 110. Ebd., S. 106. Vgl. dazu ausführlich Kap. 3.1 der vorliegenden Arbeit.
81
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der Spezifik der tapezierten Räume kann man so diesen Taktiken des Wohnens auf eine erste Spur kommen – beispielsweise in der Telemach-Tapetenwand auf dem Gut Borghorst. Hier wird der Wahnsinn in den Code einer unproduktiven, selbstgerichteten und auf Trieberfüllung abzielenden Liebesleidenschaft gebracht und gerade dadurch erst ein als richtig und gesund imaginiertes Liebesideal – in letzter Konsequenz häusliches Ideal – herausgebildet. Diese Codierungsarbeit leisten die Tapeten im Verbund mit dem gelebten Alltag auf einem der Basedow’schen Philanthropie nahe stehenden Landgut, und sie werden hier didaktisch wirksam.178 Die Taktiken des Wohnens sind, wie auch Foucault betont, kein Resultat der Entscheidungen souveräner Individuen, die ihren Herrschaftsanspruch eben auch an den Wänden des Domizils geltend machen bzw. die Erfolge und Beschlüsse ihrer Familie sichtbar verankern wollen. Sie entstehen und verändern sich vielmehr diskursiv und performativ am gegebenen (Wohn-)Ort. Doch zunächst soll noch der Aspekt der (Selbst-)Inszenierung als eine – an Foucault anknüpfend – basale Technik und/oder Taktik weiter vertieft werden. Ein Blick auf Beispiele von für die hier relevante Zeitspanne typischen Zimmerbildern179 kann einiges an Informationen über den Geschmack und die Vorlieben des Einrichtens und Dinge-Positionierens um 1800 vermitteln. In der Forschung wird der dokumentarische Wert dieser Bilder und ihre Eigenschaft, Eindrücke aus dem Alltag wiederzugeben, betont. Dabei werden gleichzeitig die Sinnschichten, die ‚hinter‘ der Interieurwiedergabe liegend auf die Individualität des Bewohnenden und auf eine Erinnerungsfunktion schließen lassen, als die eigentlich interessante Aussage herausgestellt: „Diese detailgetreuen Wiedergaben von meist menschenleeren Wohnräumen wurden aus verschiedenen Anlässen – etwa eines Umzugs oder eines Todesfalls – bei spezialisierten Architekturmalern in Auftrag gegeben, um Freunden, Verwandten oder Hinterbliebenen die häusliche Umgebung des Bewohners in einem authentischen Bild zu überliefern. Der Phantasie des Betrachters war es überlassen, sich auf diesem Wege den Bewohner selbst zu vergegenwärtigen. Die ‚Zimmerporträts‘ dienten so als Hilfsmittel, um in Gedanken bei einem befreundeten, verwandten oder verehrten Menschen zu sein oder sich an eigene Lebensstationen zu erinnern. […]
178
Zu Gut Borghorst vgl. Kap. 4.3.3. der vorliegenden Arbeit.
179
Siehe insbesondere die Kataloge: Christiane Lukatis (Hg.): Mein blauer
Salon: Zimmerbilder der Biedermeierzeit, Auss.-Kat. Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg: Verlag des Germanischen Nationalmuseums 1995; sowie Hans Ottomeyer et al. (Hgg.): Biedermeier: Die Erfindung der Einfachheit, wie Anm. 127.
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�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
Andererseits steht das menschenleere Interieur stellvertretend – ‚repräsentativ‘ – für seinen Bewohner und soll – gewissermaßen als der äußere Abdruck eines individuellen Menschen – etwas von dessen Lebensweise, dessen Geschmack und dessen Wesen widerspiegeln. Es entspricht dem Charakter des ‚photographischen Blicks‘, dass er einen augenblicklichen Zustand dokumentiert und zum Stillstand bringt. So erhalten die Zimmerbilder absichtlich oder unversehens eine memoriale Funktion, sobald die dargestellte Situation der Vergangenheit angehört.“180 Um sich die Problematik beim Umgang mit diesem Genre der Interieur-/Zimmerbilder bewusst zu machen, sollten einige in diesem ausführlichen Zitat zentrale Wörter wie „authentisch“ oder „widerspiegeln“ mitreflektiert werden. Sie reproduzieren einen Diskurs um eine scheinbare Authentizität und Funktion der Bilder als Hilfsmittel, Spiegel oder Abdruck, um einen ursprünglichen Zustand zu vergegenwärtigen. Hierbei werden gängige Auffassungen der Fotografiegeschichte aufgegriffen, während einer kritischen Hinterfragung der ebenfalls reproduzierten Dichotomien der privaten und öffentlichen Sphäre, des Weiblichen und Männlichen und dem Innen-/Schutz- und Außen-/Repräsentationsraum kein Platz gegeben wird. Stattdessen wird jedoch eine Dichotomie vom „intimen Bereich des Privaten“ und den symbolischen Arbeits- und Sterbezimmern großer Geister mit deren „falschen Reliquien“ aufgemacht – was die Frage aufwirft, inwieweit die „wirklich“ privaten Zimmer denn im Gegensatz zu letzteren authentische, individuelle Gegenstände vor Augen führen, oder ob nicht vielmehr sämtliche Interieurbilder von Zeigestrategien an Stelle vom Nachweis „echter“ Habseligkeiten geprägt sind.181 Hinsichtlich der im Verlauf der vorliegenden Arbeit zu reflektierenden Bildtapeten-Anordnungen und -interieurs sollen diese Wohn-Bilder jedoch als ein Teil bestimmter (Selbst-)Inszenierungsstrategien betrachtet werden. Erst dadurch kann geprüft werden, ob und inwiefern man von einem „photographischen Blick“ darauf oder dadurch sprechen kann,182 und welche Art von
180
Rainer Schoch: „Repräsentation und Innerlichkeit. Zur Bedeutung
des Interieurs im 19. Jahrhundert“, in: Mein blauer Salon, wie ebd., S. 11–16, hier S. 11f. Entsprechend auch Christiane Lukatis: „Zimmerbilder. Entwicklung und Charakter des Genres“, wie ebd., S. 17–26, hier S. 21: „Den Zimmerbildern ist also ein ausgesprochen dokumentarischer Charakter zu eigen. Mit akribischer Genauigkeit halten sie die gewöhnliche, alltägliche Umgebung eines Menschen fest.“ 181 Rainer Schoch: „Repräsentation und Innerlichkeit“, wie ebd., S. 16. 182
Lukatis weist in „Zimmerbilder“ auf die Selbstinszenierung in Zim-
merbildern hin, wie ebd., S. 23f. Sie macht aber eine grundsätzliche Trennung von dokumentarisch-sachlich ausgerichteten (frühen) und porträthaft-inszenatorischen
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Tapezierte Liebes — Reisen
Authentizität oder memorialer Funktion – im Verbund mit welchen anderen, eben nicht mehr ausschließlich im Privaten praktizierten Strategien – eigentlich produziert (anstatt nur dokumentiert oder gespiegelt) wird.
�.�.� Zimmerbilder: Verbildlichte, imaginierte und idealisierte Interieurs Eine Abbildung des Salons der Prinzessinnen Sophie und Marie in Schloss Nymphenburg wurde 1820 von Wilhelm Rehlen angefertigt und zeigt hinter einer der Prinzessinnen am Klavier eine Panoramatapete („La Grande Helvétie“) aus der Manufaktur von Jean Zuber & Cie von 1818. Mit einer kurzen Beschreibung und Interpretation der (An-)Ordnung dieses Interieurs möchte ich nun eine erste Spur legen, die zum Komplex rund um das Wohnen, Inszenieren und (sich) Identifizieren leiten kann – gerade auch, da die in den weiteren Kapiteln dieser Arbeit zu analysierenden Tapeten-Anordnungen aus genau dieser Zeit stammen. [Abb. 7] Der Betrachterblick in den dargestellten Salon fällt frontal auf einen Teil der Schweizer Landschaft, die von der Tapete an die Wand gebracht wird, und die am Klavier sitzende junge Frau davor. Die Landschaft zeigt einen leicht bewölkten Himmel, einen See mit Segelschiffen, ein paar Bäume und am Ufer eine Gruppe von teils gestikulierenden Menschen, darunter eine Frau mit Kind. Dieser Ausschnitt der Tapete ist wie ein selbstständiges Gemälde an die Wand zwischen dem Fenster links und der Schranktür rechts arrangiert und wird in ein System einer Trompe-l’œil-Architektur eingebunden, genauer gesagt eingerahmt von Säulen, einem Lambris und einem Fries samt einer zusätzlichen Bordüre. All diese Elemente sind mit dem Bildfeld zusammen auf einer Ebene, d.h. zweidimensional an der Wand, angeordnet. Das Prinzip von Fries, Bordüre und Säulen durchzieht allerdings den ganzen Raum und vereinheitlicht diesen so für den Betrachterblick zu einem harmonischen Ganzen, in dem alle Elemente aufeinander abgestimmt sind und auf sich gegenseitig verweisen. Wie wirken nun diese Raum-Einheit, die dargestellte Landschaftsszenerie und die musizierende Frauenfigur zusammen? Die Architektur bzw. die Stuckimitationen, die ein wichtiger Teil des architek-
(späteren) Bildern auf, wobei sie bzgl. der zweiten Kategorie ausschließlich vom männlichen Gelehrten und seinem Arbeitszimmer spricht und das Thema Weiblichkeit in und mit Zimmerbildern nicht behandelt. Dieses wäre interessant weiter zu verfolgen, da bürgerliche Tugenden und Inszenierungen derselben gerade mit und durch Images des Weiblichen und nicht nur durch die bekannten Darstellungen männlicher Geniesubjekte produziert werden.
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tonischen Gefüges sind, gliedern die Wand sowie den Raum und lenken die Aufmerksamkeit beim Betrachten so stark auf dieses sehr konsequente Strukturprinzip des dargestellten Innenraums, dass eine Versenkung in die Tiefe der Landschaft auf der Tapete von vornherein nicht möglich ist. Zusätzlich wird der Blick in diese Landschaft wiederum durch das dichte Grau-Weiß der Berge und Wolken im Mittel- und Hintergrund sehr begrenzt. Die Tapetenszene ist Teil des durchkomponierten Innenraums und soll als solcher wahrgenommen werden und nicht etwa ein Hinausgleiten des Blickes in eine völlig freie, aus dem Raumkontext gelöste Natur bewirken. Sie thematisiert lediglich die Übergängigkeit zwischen Innen (-Zimmer) und Außen (-Natur), wie es in Zimmerbildern ohne Tapete häufig das (oder die) Fenster tun. Ebenso wie die Vorhänge, die in ihren Falten-Schraffierungen und der dreieckig geformten Drapierung sowie den Zacken der Säume sehr geometrisiert sind, stützen auch Details wie die Polster der Stühle das geometrische Prinzip, welches auch jeder Form von Architektur zugrunde liegt. Die Streifen dieser Polster korrespondieren mit den gestreiften Dielen des ebenfalls braunen Fussbodens, der zum einen in Fluchtlinien auf die Prinzessin und die Tapetenlandschaft zuführt und zum anderen maßgeblich die Raumwirkung des Bildes produziert. Das Klavier und seine Spielerin sowie zwei exakt mit der Sitzfläche nach vorn ausgerichtete Stühle sind genau am unteren Rand der Tapetenszene, d.h. am Übergang von Lambris und Landschaftsdarstellung ausgerichtet, sie befinden sich an der Basis des Ausblicks und des Bild-Architektur-Gefüges. Der Oberkörper und der Kopf der Spielenden ragen nicht wirklich in die Szene
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Abb. 7. Zimmerbild I. Wilhelm Rehlen: Salon der Prinzessinnen Sophie und Marie in Schloss Nymphenburg, Aquarell aus dem „Wittelsbacher Album“, 1820.
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hinein, da sie sich am linken Rand der Bildfläche befindet und ihr Oberkörper förmlich in die aufragende Säule neben der Landschaft überzugehen scheint, sie wird formal in die Architektur eingeordnet. Auch dadurch, dass sie in der durch den Akt des Klavierspielens geforderten aufrechten Sitzposition bereits gebändigt und geschult sitzt und nicht etwa mit weit ausholenden Bewegungen dargestellt ist, bleibt der Betrachterblick frei auf die Landschaft, mit der die Prinzessin auch nicht weiter interagiert und in Bezug auf die sie mehr daneben gesetzt als hinein versetzt ist. Ihr weißes Kleid entspricht farblich sowohl der Bildarchitektur als auch der Zimmerausstattung – der Decke, den Türen, den Vorhängen – sowie den Wolken in der Tapetenszene. So wird die Prinzessin visuell den Gegenständen des Zimmers angeglichen bzw. mit formalen Mitteln zu einem Objekt der und in deren Anordnung. Die Gesamtkomposition des Aquarells ist ebenfalls auffällig von geometrischen Prinzipien (geraden Linien und Abschlüssen, Symmetrien) gekennzeichnet; die Kommoden und Stühle an der Fensterseite links sind genau so exakt an der Wand ausgerichtet und ins Zimmer weisend dargestellt wie die Bücher auf dem Beistelltisch hinter der Spielenden parallel zueinander und zu den Tischkanten gelegt sind und wie sogar der Lichteinfall durch die drei Fenster genau rechteckige Formen auf den Boden wirft. Die besagte Vereinheitlichung und Harmonisierung im Bild resultiert gerade aus dieser Geometrisierung, die jedoch nicht hart oder abweisend wirkt, denn die weißen Akzente – die Tapete und die hohe helle Decke, die die Wolkenkringel auf der Tapete wiederaufnimmt – geben einen lichtdurchfluteten hohen Raum wie eine Art Oase inmitten der Stadt zu sehen. Da sich die Geometrisierung auf den ganzen dargestellten Raum bezieht, kann von einer Stereometrie gesprochen werden, und dieses über den ganzen Raum und nicht etwa nur einzelne Elemente greifende Prinzip zeigt sich ganz besonders deutlich am Fensterblick, der das Prinzip hinaus- und wieder hineinspiegelt: Durch das Fenster hinter der Klavierspielerin sind statt freier Landschaft eine Hauswand und wiederum ein Teil einer Fensterfront zu sehen. Der Sprossenrahmen des Fensters ‚draußen‘ teilt ebendieses wiederum in geometrische Felder, während das Fenster drinnen, durch das der Betrachterblick geht, außerdem noch um das Gitter bzw. die Sprossen eines Fenstergeländers ergänzt ist. Somit gibt es gerade keine Flucht aus dem Interieur in eine freie Natur; der Blick aus dem Fenster führt wieder hinein in das Zimmer und verstärkt eher die Geo- bzw. Stereometrisierung. Die Aufmerksamkeit wird beim Betrachten somit auf ein visuell modelliertes Raumgerüst gelenkt, das trotz der Thematisierung von freier Natur in der Tapete und trotz des Fensters, das prinzipiell der Vermittlung von Außenund Innenraum dient, solcherlei potenzielle Öffnungen sogleich wieder verschließt. Auch in den Landschaftsszenen liegt der Akzent auf geometrischen
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�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
Anordnungen, denn selbst wenn die Bäume (und andere auf der Bildfläche verteilten Naturelemente) sehr pittoresk-natürlich scheinen, als wäre man in eine solche Naturidylle hinein versetzt, so sind sie doch streng gerade an der rechten und linken Seite des Tapetenausschnitts ausgerichtet und korrespondieren mit den sie wiederum vertikal begrenzenden Säulen. Auch das große Segelboot in seiner Dreiecksform ist genau in die Mitte des Sees und oberhalb des Klaviers gesetzt und somit kompositorisch in die Geo-/Stereometrisierung eingebunden und nicht ‚frei schwimmend‘. Die Tapetenwände haben so auch Teil an der oben festgestellten Vereinheitlichung des Raumes; insbesondere dadurch, dass sich die Tapetenszenerie in den Spiegeln der linken Fensterseite potenziell spiegelt183 und somit die geometrisierte Landschaft den ganzen Raum einfasst. Die fünffach gleich drapierten Vorhänge dienen der Regelung und der Kontrolle des Ausblicks – bis hin zu dessen Verhinderung – und sind konstitutive Elemente für das (semiologische) Ausschöpfen des Bedeutungspotenzials dieses Bildes, das nicht nur das umfasst, was zu sehen ist – eine Landschaft an der Wand, eine Klavierspielerin, ein adeliges Interieur –, sondern auch gerade das, was nicht zu sehen ist oder nur angedeutet wird. Dazu gehört beispielsweise der Vorhang über der Nische/ Supraporte der Tür rechts vom Klavier, der eher das dahinter Liegende versteckt, als dass es komplett sichtbar und verfügbar wäre. Auch die Vorhänge an den Fenstern ermöglichen keinen Ausblick in eine freie oder in einen anderen Hintergrund weiter verweisende Fläche: „Es geht mithin, wenn visuelle Kultur analysiert werden soll, immer auch darum, sichtbar zu machen, was im Dunkeln geblieben ist, um eine spezifische ‚Kunst des Sehens‘“, um so laut Sigrid Schade und Silke Wenk dann „erkennbar zu machen, was unter bestimmten historischen Bedingungen nicht beleuchtet ist, was nicht unmittelbar erkennbar oder offenbar ist, was neben oder mit dem offenkundig Sichtbaren als Objekt des Wissens zugleich hergestellt wurde.“184 Auf dieses Bildbeispiel bezogen, wird die junge Frau aus dem gehobenen Stand zu einem Objekt des Wissens gemacht, auf sowohl der Ebene des offenkundig Gezeigten als auch auf einer zweiten Ebene des nicht offen Gezeigten, aber in
183
Im vorderen Spiegel ist etwas Baumgrün zu erkennen – allerdings ist
dieses auch nicht korrekt von der gegenüberliegenden Wand gespiegelt, wie ein näherer Blick erkennen lässt. 184
Sigrid Schade und Silke Wenk: Studien zur visuellen Kultur, wie Anm. 26,
S. 99.
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den formalen Bezügen, der Haltung und Positionierung im Bild Mitgemeinten. In sozialer und mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht verweist diese Ansicht des Zimmers durch die Bücher auf dem Tisch und im Schrank und ganz besonders die Klavierspielerin auf die Werte des Bildungsbürgertums, welches die Dinge in seiner Umgebung wohl arrangiert und in Ordnung hält – und somit auf Werte, die auch in adeligen Kontexten übernommen wurden, wie es der These zur allgemeinen „Verbürgerlichung“ der Lebensweise im frühen 19. Jahrhundert entspricht.185 Diese Ordnung und Übersichtlichkeit wird sogar über die pittoreske, aber in der Szenenbegrenzung, der Farbgebung und Geometrisierung sehr zurückgehaltene und dem Innenraum an- und eingepasste Naturdarstellung auf der Tapete vermittelt. Die gleichsam verdinglichte Klavierspielerin ist ebenso akkurat angeordnet wie die Bücher, Stühle und Tapetenausschnitte und führt besonders eindringlich vor Augen, welche Beschäftigung, Körperhaltung und Kleidung von einem Mädchen aus gutem Hause erwartet wurde bzw. erwartet werden konnte. Um die Dekodierungsarbeit in Bezug auf das nicht offenkundig Gezeigte, aber dennoch im Bild Vorhandene leisten zu können, ist über die bisher geschehene Analyse der Bildelemente und ihrer Beziehungen bzw. des formalen Bildaufbaus hinausgehend ein erweiterter Blick auf das Zeitgeschehen und die Episteme, die im Bild Eingang gefunden haben, unerlässlich. Im späten 18. und im 19. Jahrhundert ist eine virulente Verknüpfung von als weiblich vorgestellten Körperaspekten und Charakterzügen mit dem Klavierspiel zu beobachten, und eben dieser Thematik widmet sich Freia Hoffmann in ihrer grundlegenden Untersuchung zum Thema Frauen, Weiblichkeitskonzepte und Musizieren sehr ausführlich. Sie stellt fest, dass Frauen mit ihrer Tätigkeit als Klavierspielerin körperlich und charakterlich diszipliniert worden sind: „Ein Körper, der in dieser Weise bewegungslos diszipliniert war, erfüllte beim Musizieren zwei bürgerliche Idealforderungen: Die Forderung nach vornehmer Ruhe, verbunden mit weiblicher Anmut, und die Forderung nach ‚Industriosität‘, also nach fleißiger, geduldiger Tätigkeit.“186 Auch in der Literatur – speziell bei Rousseau – werden weibliche Schönheit und Tugenden mit dem Klavier verbunden:
185 186
88
Wie Anm. 54. Freia Hoffmann: Instrument und Körper, wie Anm. 65, S. 46.
�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
„Jean-Jacques Rousseau lässt Sophie, sein Musterbeispiel weiblicher Erziehung, Spinett spielen in der Absicht, ‚ihre Hand vorteilhaft auf jenen schwarzen Tasten zur Geltung zu bringen‘ (Emile S. 790). Die schöne Hand als Pflichtübung weiblicher Körpersprache hat sich durch die Jahrhunderte erhalten.“187 Entsprechende Äußerungen finden sich im 19. Jahrhundert immer wieder: „[…] wie schön ist Frau Pleyel, wenn sie am Piano sitzt. Es genügt nicht sie zu hören, man muss sie auch sehen. Man begreift, dass diese Musik, welche sie auf das Klavier überträgt […] ihr aus der Seele quillt und dass ihre Finger nur Dolmetscher sind […].“188 Nicht nur, dass Aspekte der zurückhaltenden Körperlichkeit und als wesenhaft imaginierte Charakterzüge von Frauen mit den Regeln des Klavierspiels gekoppelt sind, zudem scheinen ihre Körper und ihre Gesten auch noch via Klavierspiel Regungen ihrer Seele zum Ausdruck zu bringen, was wiederum einer gewissen Entkörperlichung gleichkommt. So geht dieser Komplex mit den Sexualitätsnormen und Passivitätsforderungen bzw. der Regulierung von Sexualität im 19. Jahrhundert zusammen, und „[d]ie untätig-elegante Hand und das schöne Antlitz mit dem hingebungsvollen Blick werden der Wahrnehmung deshalb gern anempfohlen, weil sie die sexuell unverdächtigsten Teile des Körpers sind.“189 Für die Analyse des Zimmerbildes von Rehlen spielt auch eine nicht minder wichtige Rolle, dass klavierspielende Frauen als Teil der Häuslichkeit, der gepflegten Einrichtung mit gutem Mobiliar und Mittelpunkt familiärer Zusammenkünfte galten: „Das Instrument und die daran musizierende Frau waren Teil des bürgerlichen Heims, das den Wohlstand und den Sozialstatus des Familienoberhaupts dokumentierte. […] Handlichkeit war beim ‚Frauenzimmer-Instrument‘ nicht gefragt. Denn eine Frau sollte mit ihrer Musik den sozialen Raum der Familie und der häuslichen Geselligkeit nicht verlassen. […] Das Begleiten passte zu den ‚typisch weiblichen‘ Eigenschaften der Einfühlsamkeit und Unterordnungsbereitschaft.“190
187 Ebd., S. 47. 188 Siehe ebd., S. 40, zit. n. einer Zeitung von 1845. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die Szene aus Jane Austens Roman „Stolz und Vorurteil“ (1813) in der Verfilmung von Regisseur Joe Wright (2005), in der Elizabeth beim Klavierspielen im Hause der Lady Catherine de Bourg von Darcy beobachtet wird. Jane Austens Protagonistin muss sich in ihre klavierspielende Rolle hineindrängen lassen, braucht diese Positionierung aber offensichtlich auch, um sich nicht in der Gesellschaft und für die spätere Heirat potenziell zu disqualifizieren. 189 Freia Hoffmann, wie ebd., S. 56. 190 Ebd., S. 75.
89
Tapezierte Liebes — Reisen
Rehlens Prinzessinnenfigur ist sowohl dem Naturausschnitt in der Tapete unter-geordnet – sie sitzt darunter bzw. daneben wie eine Fortsetzung der weißen Säule und des weißen Vorhangs – als auch im Akt des Klavierspielens diszipliniert. Der Landschaftsraum auf der Tapete, als dessen Fundament sie und ihr Klavier dienen, wird zu einem Vorstellungsraum der (weiblichen) Seele, zu einer Imagination, die über die Verknüpfung Frau–Musizieren–Landschaftsraum entsteht, und verweist so eher auf innere Vorstellungswelten als einen tatsächlichen Ausblick nach draußen. Ihre oben angesprochene ‚Verdinglichung‘ ergibt sich aber über die konkreten Bildinhalte hinaus v.a. auch durch ihre Anordnung in die geometrisierte Umgebung und ihre dadurch stattfindende Rahmung. Gerahmt wird letztlich nicht nur die Tapete im Bild, die Architekturen, die Figur, sondern auch der Betrachterblick auf das Bild und den dargestellten Raum. Dieser Blick erschließt nicht einen vorgegebenen (Bild-) Raum, sondern gestaltet ihn aktiv mit, sodass man besser von einer Blickhandlung191 sprechen sollte. Die Art und Weise, wie die Klavierspielerin zu sehen gegeben wird, entspricht einer dominant fiction, die sich auf dem Bild als eine Art ‚Bildschirmlichkeit‘ formt, die wiederum erst im Sehen, in der Blickhandlung, entsteht.192 Durch diese Verkettung von Bild, Blick, Rahmung und dominant fiction können gerade zum Thema Wohnen und Bilder des Wohnens (hier des 19. Jahrhunderts) Aussagen zu den Auslassungen, die nicht Teil der dominant fiction waren und sind, getroffen werden – erst recht mit dem Hintergrundwissen beispielsweise zu Weiblichkeit und Klavierspiel im Kopf. Irene Nierhaus zeigt an mehreren Beispielanalysen und u.a. auch
191 192
Vgl. Irene Nierhaus: arch6, wie Anm. 62, S. 35. Ebd. Irene Nierhaus greift das „Screen“-Konzept von Kaja Silverman
in deren Schrift „The Treshold of the Visible World“ auf. Silverman bezieht sich damit ihrerseits auf ein Theorienkonstrukt Lacans, der im Sehen eines Subjekts auch den Blick der Anderen, die gesellschaftlich schon vorgeformten Bilder und Sichtweisen mit einbezogen wissen will und den Schirm – den „Screen“ – als ein Sprachbild prägt für die Schnittstelle, an der „sich die Bilder und Projektionen von beiden Seiten manifestieren“, wie Schade und Wenk verdeutlichen (vgl. Studien zur visuellen Kultur, wie Anm. 26, S. 140). Die dominant fiction, von der Silverman spricht, umfasst dabei das gesellschaftlich codierte und vor-eingestellte Bilderrepertoire, das ein sehendes Subjekt bereits verinnerlicht hat und das gewisse Inhalte des Bildes (und des Sehens bzw. Feld des Sehens) vorstrukturiert hat und andere daher (unbewusst) als Teil der „Erzählung“ ausschließt. Eine kritische Bildanalyse muss daher auf solche dominanten und auf der anderen Seite auch dabei verdrängten und abgewerteten, nichtsdestotrotz aber aussagekräftigen Bild- und Konstruktionsschemata aufmerksam machen, wie sowohl Nierhaus als auch Schade und Wenk in ihren Publikationen herausstellen.
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�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
dem kunsthistorischen Genre der Fensterbilder193 des 19. Jahrhunderts auf, inwiefern gerade in solchen Bildern die scheinbare Natürlichkeit der Verbindung von Frauen, Innenraum und ruhigen, als privat gekennzeichneten Tätigkeiten perpetuiert wird, und zwar neben den Bildinhalten auch durch die Bild- und Blickkonstruktion. Diese erkennt Frauen keinen Status als aktives und handelndes Subjekt zu, sodass die dargestellten Frauen wie Formalia oder Hilfsmittel für den männlichen Blick zu „Markierungen von Raumgrenzen für das neue bürgerliche (männliche) Subjekt“194 werden bzw. zur „Ver-Körperung des Blickes und Blickraumes selbst.“195 Eine Asymmetrie der Geschlechter und ihrer Zuschreibungen ist auch hier feststellbar, „konkret eine wir-sie-Perspektive, eine Subjekt-/Objektrelation: ‚das eine, das männliche (Geschlecht) hat gesprochen, hat benannt, hat sich als Sub-
193
Zum kunstgeschichtlichen Genre des Fensterbildes ist vor einigen
Jahren eine Publikation erschienen, die sich mit dem „‚Schau-Spiel‘ der Malkunst“ darin beschäftigt. Allgemein ist die Entstehung dieses Genres in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts zu verorten, und es handelt sich dabei „um eine Bildform, deren Struktur auf eine ausdrückliche Beziehung zum Betrachter ausgerichtet ist: Sie sucht den Dialog mit ihm“, siehe Stephanie Sonntag: Ein ‚Schau-Spiel‘ der Malkunst: das Fensterbild in der holländischen Malerei des 17. und 18. Jahrhunderts, München: Deutscher Kunstverlag 2006, S. 191. Der holländische Künstler Gerrit Dou hatte diesen Bildtypus erstmalig entwickelt, ebd. S. 11. „[D]ie besondere Wirkung des Fensterbildes auf den Betrachter besteht darin, dass dieser den Fensterrahmen mit dem Niveau der Bildfläche identifiziert. Dies erreichen Gerrit Dou und seine Nachfolger […] zum einen mit der Frontalität, in der sie das Fenster wiedergeben, zum anderen damit, dass sie den Fensterrahmen mit dem Bildrand in eins fallen lassen. So erscheint das gesamte Bild als ein Fenster“, ebd. S. 205. Davon ist jedoch noch einmal grundsätzlich das Fenster- bzw. Interieurbild des 19. Jahrhunderts zu unterscheiden, wie es z.B. bei Künstlern der Romantik bzw. des Biedermeier beliebt war (Georg Friedrich Kersting, Caspar David Friedrich, Carl Gustav Carus). „Ein beliebtes Motiv […] in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts […] war der Blick aus dem Fenster, eine Variante des längst bekannten Blicks in ein Interieur gegen ein Fenster hin. Im Anschluss an die Niederländer des 17. Jahrhunderts malte man um 1800 gern freundliche und bescheidene Interieurs. Aber während die Niederländer die kleine Szene durch allerlei Helldunkel-Wirkungen gern ins Weite und Tiefe hinüberspielten, betonte man im frühen 19. Jahrhundert vor allem das Einfache, Nahe, Vertraute“, siehe Rudolf Zeitler, Anders Åman und Kurt Bittel (Hgg.): Die Kunst des 19. Jahrhunderts, Band 11, Berlin: Propyläen-Verlag 1966, S. 71. Das Fenster als Verbindungsstelle von einer freiheitverheißenden Natur draußen und einem Schutz- und Familienraum drinnen – den zwei großen bürgerlichen Themenkomplexen um 1800 schlechthin – wird auch bei Karl Philipp Moritz in Bezug auf Rahmungen in einem Essay zum „isolierenden Subjekt“ thematisiert, siehe dazu ausführlicher Kap. 3.2.1. 194 195
Irene Nierhaus: arch6, wie Anm. 62, S. 43. Ebd., S. 47.
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Abb. 8 Zimmerbild II. Studierzimmer mit Ausblick auf Hirschengraben, Aquarell, anonym, Schweizerisches Nationalmuseum Zürich, um 1820-1825.
jekt gesetzt; das andere, das weibliche, wurde zum Objekt und Thema des Diskurses gemacht‘ […].“196 In Zimmerbildern wie diesem von Rehlen wird nun das in solchen Fensterbildern deutliche ‚im Rahmen haben‘ bzw. die skopische Gefangennahme der Frauen auf den Innenraum als Ganzheit und damit ganz spezifisch den Komplex Frauen – (dekorierter) Innenraum – Privatheit bezogen. Durch die ‚Bild-in-Bild-Ebene‘ der Landschaftstapete kommt in diesen Komplex auch die ‚Natur im Wohnen‘ mit hinein, vermittelt über die Frauenfigur: Das Weibliche wird als naturnah und gleichzeitig in den Innenraum gehörend inszeniert. Über die visuelle Zusammen- und Engführung von Natur und Musik finden hier des Weiteren Naturalisierungen des weiblichen Schaffens statt, da Frauen zum einen als Lebensspenderinnen durch Geburt und Mutterschaft, und damit einer der Natur zugeordneten biologistischen Notwendigkeit folgend, und zum anderen als häuslich-diszipliniert die weichen und geselligen Töne anschlagend imaginiert werden. So scheint die ‚Natur‘ letztlich vor allem eine innere und auf die Eigenschaften der Frau gerichtete zu sein.
196
Vgl. Cornelia Klinger: „Feministische Theorie zwischen Lektüre und
Kritik des philosophischen Kanons“, in: Hadumod Bußmann und Renate Hof (Hgg.): Genus: Geschlechterforschung – Gender studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften; ein Handbuch, Stuttgart: Kröner 2005, S. 329–364, hier S. 334.
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�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
Diese Ebene des Mitgemeinten im Bild, die mittels einer „Kunst des Sehens“197 zu dechiffrieren ist, lässt sich auch in Bezug auf die Architektonisierung im Zimmer bzw. des Zimmers mit Roland Barthes als eine dem Betrachtenden angebotene Zusammenschau von „Mitteilungsarchitekturen“ sehen, durch die Machtverhältnisse im Wohnen und dort angesiedelte Wertesysteme einer Gesellschaft vermittelt werden können. Was (auf Bildern) zu sehen oder nicht zu sehen gegeben wird, ist mit politischen bzw. Machtverhältnissen außerhalb von ihnen verknüpft: „Sichtbarkeitspolitiken sind mithin niemals neutral, sie schreiben sich in Repräsentationstraditionen ein, welche auf eine Weise wirksam werden, die man mit Saussure als Konvention und mit Barthes als konnotiert und/oder mythisch bezeichnen kann. Repräsentationen stellen Mitteilungsarchitekturen im Sinne Barthes dar. Ihre Funktion lässt sich mit der Naturalisierung der gesellschaftlichen Verteilung von Macht(positionen) und universalisierten Wertsetzungen in Verbindung bringen, wie sie aus semiologischer Perspektive beschrieben wurden.“198 Gerade im Hinblick auf Sichtbarkeitspolitiken und auf die Barthes’schen Mitteilungsarchitekturen lohnt es sich, zusätzlich noch zwei weitere Zimmerbilder etwas näher anzuschauen, die zum einen ein männliches Subjekt und zum anderen gar keine Personen zu sehen geben. Diese beiden Zimmerbilder – ebenfalls Aquarelle – aus dem Schweizerischen Nationalmuseum (anonymer Künstler) und den „Musées d’Art et d’Histoire“ in Genf (Jean-Bénédict Mussard-Claparède) aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zeigen auf unterschiedliche Weise ein im Zimmer inszeniertes Wechselspiel von Innen- und Außenansicht, schönen Künsten und literarischer Bildung. In beiden Darstellungen geht der Betrachterblick auf ein zentral abgebildetes Fenster und den davor gestellten Tisch, darum gruppieren sich jeweils die Einrichtungsdinge und gestalteten Wände. Im ersten Bild sind durch das geschlossene Fenster eine Allee, also wieder eine geometrisch gerade Linie, und einige Häuser im Hintergrund erkennbar. [Abb. 8] Das Zimmer scheint in Abendlicht getaucht zu sein und weist als markantes Element eine Fülle von Büchern auf. Rechts neben dem Fenster stehen die Bücher in einem großen Regal und noch dazu in und auf einem kleineren daneben, auf dem Tisch häufen sich Bücher, Dokumente, Mal- und Schreibutensilien; er bildet 197
Vgl. Anm. 184.
198
Sigrid Schade und Silke Wenk: Studien zur visuellen Kultur, wie Anm. 26,
S. 105.
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Tapezierte Liebes — Reisen
einen rechten Winkel zur Fensterbank, auf der ebenfalls Bücher liegen. Hier ist also ein hochgradig als Bildungs- und Wissens-Raum markiertes Interieur zu sehen gegeben. Im linken Bilddrittel steht eine vornehm gekleidete und frisierte männliche Figur vor einer Kommode, auf der wiederum ein aufgeschlagenes Buch auf einem weiteren dicken Buch platziert ist, und hält zudem eine Schrift in der Hand, über die ihr Blick hinweg gleitet in Richtung der gegenüber liegenden Wand. Interessant ist hier insbesondere der Winkel, der sich zwischen dem Mann, dem leicht geneigten Buch in seiner Hand und der Kommodenuhr zwischen diesem Buch und dem Gesicht ergibt, sowie die Vertikalität der Elemente: der aufrechte Mann, das aufrecht gestellte Blumenspalier, die hohen Bücherregale und die durch Bordüren betonte Rechteckigkeit der Tapetenfelder ergeben trotz des Querformats des Bildes eine in die Vertikale gehende Felderung. Das Muster der Tapete weist ebenfalls durch schmale Linien gebildete viereckige Felder auf, die durch die üblichen papiernen Bordüren und Sockelzonen, wie auch die Zierleisten entlang des Randes der Decke, voneinander abgesetzt sind. Strukturell zieht sich diese Geometrisierung des Raumes aber auch darüber hinaus noch in die Fenster- und Türfelder und die sehr genau auf die Tapete abgestimmten Fussbodenfelder sowie den kleinen Teppich unter dem Tisch – der diesen Tisch nochmals ganz augenscheinlich vom Boden abhebt – und in die gerahmten Bilder an der Wand (die wiederum das Fenster in ihrer Mitte rahmen) hinein. Zu diesem System der Rahmungen und Felderung passen auch die Supraporten im Empire-Stil. Im Bildaufbau sind rechts, mittig und links – also auch hier wieder geometrisch bestimmt – drei thematische Blöcke auszumachen: Rechts und links neben dem Fenster hängen zwei Gemälde, einmal mit Figuren in einer Landschaft und einmal wohl ein Familienportrait; der vertikalen Achse des linken Gemäldes ist die Elementgruppe Mann–Kommode–Uhr zugeordnet und wird, von den im Spalier gerade gerückten Pflanzen begrenzt, als eigener ‚Block‘ definierbar. Der Mann trägt einen graubraunen feinen Gehrock mit Stehkragen und polierte schwarze Schuhe, er ist also auch durch seine Kleidung als gebildet und wahrscheinlich dem gehobenen Bürgertum zugehörig charakterisiert. Ein herauszustellendes Merkmal ist zudem, wie er im Zwiegespräch mit sich selbst (oder mit dem Bild an der gegenüberliegenden Wand?) inmitten einer Fülle von Büchern inszeniert wird. Im mittigen Bildblock kann eine imaginäre Verlängerungsachse der gefüllten Schreibtischfläche direkt nach draußen in die breite und lichtdurchtränkte Allee gezogen werden. Dabei bildet die vage erkennbare Baumreihe draußen eine fortgesetzte Linie der Buch- und Utensilienhäufung drinnen auf dem Tisch, während analog dazu die Streifen auf
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dem Teppich mit ihren Linien die Linie der Allee auch wieder fortsetzen. Die Bücher auf dem Tisch und auf dem Fensterbrett bilden einen rechten Winkel zueinander. Durch Linienbetonung, Winkel und Tisch- und Teppichfläche ist der mittlere Bildblock von dem linken sowie dem rechten abgesetzt. Im dem rechten Gemälde zugeordneten Bildblock dominieren die Bücherregale und die wiederum akkurat am Winkel des Tisches ausgerichtete Couch, die wie der Fussboden und auch die Tapete und der Grundton des ganzen Bildes sandfarben ist. Mit einem Blick auf das zweite Vergleichsbild kann man feststellen, dass auch hier mittig ein Fenster platziert ist, das allerdings weit geöffnet ist und den Blick in eine offene grüne Landschaft führt. [Abb. 9] Diese ist auch keineswegs unberührt oder gar wild, denn es sind zwei von sehr senkrecht wachsenden Bäumen gesäumte Alleen erkennbar, die den menschlichen Eingriff in die Natur markieren. Diese Baumreihen wechseln sich mit Wiesenflächen und einer Gebirgslinie im Hintergrund ab und weisen so etwas wie eine horizontale Schichtung auf, die durch das ganz gerade in den Fensterrahmen eingefügte Fenstergitter noch betont wird. Eine menschliche Figur ist hier, wie es in Zimmerbildern häufiger der Fall ist, nicht abgebildet. Die grau-gelben und zartgrünen Farbtöne der auch hier geometrisch gemusterten Tapete nehmen die Farbskala der Feld- und Hügellandschaft draußen auf, ebenso wie der Teppich, der wiederum in quadratische Felder geteilt ist, welche von roten Linien durchzogen sind in Anlehnung an die roten Bordüren der
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Abb. 9 Zimmerbild III. Jean-Benedict Mussard-Claparède: Innenansicht mit offenem Fenster mit Ausblick auf Felder in der Genfer Umgebung, Aquarell, 14,7 � 20,3 cm, Genf, Musée d’art et d’histoire, um 1850.
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Tapete und die roten Fensterrahmen. Boden und Wände werden durch die auffällige Gittermusterung zu einem visuellen Netz, durch das hindurch der Blick (wie durch einen Filter) auf einen zu sehen gegebenen Ausschnitt der Landschaft draußen fällt. Dieses Gitter erinnert wieder an ein Spalier, das (wie bereits im Zimmerbild mit dem fein gekleideten Mann) als Zimmer- und Blickfeldordnungselement dient. Auch hier wird – mit anderen formalen Mitteln – die durch das Fenster gesehene Landschaft geometrisiert und in ein Ordnungsschema, das sich von drinnen nach draußen und vice versa fortsetzt, eingebunden. Auch wenn hier kein weibliches oder männliches Subjekt in den Bildausschnitt eingefügt ist, so ist ein solches doch über die wohl arrangierten Objekte eines Tuns und Waltens im Zimmer gleichsam anwesend: rechts steht ein Klavier mit einem aufgeschlagenen Notenbuch und einem weiteren Band auf dem Stuhl davor; auf dem runden Tisch direkt vor dem geöffneten Fenster befinden sich Malutensilien und ein offensichtlich selbst gemaltes, noch nicht ganz fertig gestelltes oder einfach zum sofortigen Betrachten arrangiertes Bild im Passepartout. Links ist ein Ofen mit einem darüber hängenden Spiegel erkennbar, welcher um einen Ofenschirm mit einem vertikal arrangierten Blumenmotiv und ein Arrangement aus Lampe und kleinen Blumenvasen ergänzt wird. Interessanterweise sind im Spiegelglas ein aufgehängtes Passepartout-Bild und einige Schriftstücke – wahrscheinlich Briefe – erkennbar, die nur gespiegelt und nicht an ihrer originalen Position ersichtlich sind. Obwohl keine Person anwesend ist, scheint doch in absentia jemand mit abgebildet zu sein, die oder der gerade die Fensterflügel weit geöffnet hat und durch das hellblaue Buch auf dem Stuhl vor dem Klavier ‚vertreten‘ wird. Die leichten weißen Stoffvorhänge sind durch die Fensterflügel zurückgeschoben und ähnlich wie in dem Aquarell von Rehlen gleichsam gebändigt. Wie auf einer Bühne mit zurückgezogenen Vorhängen und einer leichten Wölbung bzw. angedeuteten Arkade über dem Fenster zur Decke hin ist der kleine Tisch in der Bildmitte als Hauptakteur präsentiert und die Themen Bildung, Kunst und für den Innenraum arrangierte Landschaftselemente werden kompakt dargestellt. Flankiert wird dieser Auftritt von dem Kamin-Block links und dem Klavier-Block rechts, sodass auch hier von einer Dreiteilung des Gesamtbildes gesprochen werden kann. In allen drei Zimmerbildern, die ich hier exemplarisch analysiert habe, ist ersichtlich, dass das entweder in Relation zum Interieur mit abgebildete oder – im letzten Beispiel – über die Objekt-Anordnung in den Bildausschnitt geholte Subjekt eines ist, das in diesem Zimmer spezifische Aktivitäten miteinander verräumlicht. Dabei handelt es sich näherhin um das Musizieren, Malen und Betrachten sowie den schriftlichen Austausch und dessen Verewigung an der
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�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
Wand. Zugleich wird dabei entweder im Hintergrund oder sogar als zentraler Mittelpunkt der Blick durch ein Fenster inszeniert. In allen Bildern spielt zudem ein spezifisch gewählter Blick in eine idyllische Landschaft eine Rolle, die dieser Betrachterblick mit der Zimmereinrichtung zusammenstellt und als ein Bild von Natur–Kunstschaffen/ Kreativität–Rückzugsort wahrnehmen kann. In der formalen Bildgestaltung wird auch jeweils deutlich, inwiefern eigenlich Ordnungsräume geschaffen werden, die in einem System von Geometrisierung bzw. Stereometrisierung zu sehen gegeben werden, und nicht etwa Räume mit vom Menschen unabhängig wachsender, wild wuchernder Flora und Fauna. Vorstellungen von Idylle werden evoziert, aber gleichzeitig im Innenraum ge- und überformt. Um 1800 bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts entstehen sehr viele Zimmerbilder,199 die ein beliebtes Genre des Biedermeier sind. Für die vorliegende Arbeit soll jedoch vor allem das folgende sie verbindende gemeinsame Merkmal von Interesse sein, das bei ihrer genauen Betrachtung zutage tritt und gerade in den drei hier fokussierten Aquarellen besonders dominiert: die Innenräume changieren zum einen eigentlich zwischen Innen- und Außenraum und inszenieren dabei zum anderen die Gewohnheiten200 und sozialen Einbindungen ihrer BewohnerInnen in diesem changierenden Raum bzw. verknüpfen sie visuell-formal mit der Einrichtung. Einen Klavier-Raum bewohnt und/oder nutzt beispielsweise ein Klavierspieler-Subjekt, also ein gebildetes und sich sozial mit Musikinteressierten in Bezug setzendes Subjekt, das zudem mit Weiblichkeits- und Anstandsvorstellungen in Verbindung gebracht wird. Dieser Befund ist also mit zu bedenken, wenn die Interieur-Anordnungen mit Bildtapeten in den weiteren Kapiteln betrachtet werden sollen. Hier geht es schließlich um Beziehungsräume und nicht allein um ein Abbilden oder Dokumentieren von Zimmereinrichtungen. Die Beziehungsgefüge, von denen oben die Rede war, können und müssen herausgelesen werden, und genau an dieser Stelle des aufmerksamen (Neu-) Lesens der Zimmerbilder vor dem Hintergrund kultureller, v.a. geschlechtsdifferenzierender und bildungsorientierter Umordnungen lassen sich wertvolle Hinweise auf die Tapeten-Beziehungsräume dieser Epoche gewinnen. Die Forschung zu Zimmerbildern betont hauptsächlich eine Auffassung vom gezeigten Raum als einem Erinnerungs-Raum, hierzu heißt es:
199
Vgl. beispielsweise die von Laurie Stern gezeigten in: „Eine Kultur der
Harmonie und Erinnerung – Die Transformation des Wohnraums im Biedermeier“, in: Biedermeier: Die Erfindung der Einfachheit, wie Anm. 127, S. 72–80. 200 Zu „Gewöhnung“ und „Wohnen“ vgl. Katharina Eck und Astrid Schönhagen: „Imaginationsräume des (bürgerlichen) Selbst“, wie Anm. 17.
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„[…] Das Biedermeier ist durchdrungen von einer Kultur der Erinnerung, von der Sehnsucht nach einer idealisierten Vergangenheit und der Rückkehr zur universellen Harmonie.“201 Die schnelle Verknüpfung von „Sehnsucht“, „Erinnerung“ und „Vergangenheit“, die das Zitat impliziert, ist dabei problematischer als es zunächst den Anschein hat. Bezogen auf das hier betrachtete Genre beispielsweise ist zwar gerade in den Interieurbildern des Biedermeier deutlich eine Art Begehren spürbar, einen geschützten (Innen-)Raum für die Zukunft zu fixieren und die darin platzierten, oft mit der Persönlichkeit der Bewohnenden verknüpften Objekte in einem momentanen Zustand zu konservieren und gleichzeitig für Betrachterblicke auszustellen, womit eine Erinnerung an diesen Zustand aufgerufen werden soll. Dieses Begehren ist jedoch nicht direkt im Bild oder aufgrund des Bildaufbaus (er)fassbar. Worauf richtet sich das Begehren, was genau sind die angesprochenen Sehnsuchtsorte, woran orientiert sich das erinnernde Subjekt? Diese Fragen gilt es beim Blick auf Bilder und Objekte dieser Zeit und auf ihre Kultur im weiteren Sinne zu berücksichtigen, denn darüber kann man sich auch der Frage nach den Mechanismen der Subjektivierung annähern, die über solche Bilder und Anordnungen funktioniert. Bleibt man einmal bei den Anordnungen (der Dinge), so zeigt sich, dass auch Zimmerbilder wie die von Eduard Gaertner, Franz von Maleck oder Johann Stephan Decker voll von Dingen sind: Blumen, Vitrinen, Büsten, Bilder und Portraits, Draperien, Geschirr, Schreibutensilien, Bücher, Vasen, Kerzenständer, Spiegel, Tischuhren… . Dabei besteht ein interessanter Kontrast zwischen der Einfachheit der Farben und Formen und der Fülle der Dinge. Doch die Verbindungslinien von imaginierten und idealisierten Interieurs zu einem Gesamtkonzept des biedermeierlichen Wohnens sind nicht klar zu ziehen, und auch die Versuche in der einschlägigen Forschung, biedermeierliche Tapetendekore als ein Genre gegen klassizistische abzusetzen, können leicht ins Leere führen.202 Das Sich-Einrichten203 der Subjekte und ihr Begehren, das sich im Innenraum mit ihnen und durch sie niederlässt, konnte in der (Biedermeier- und Zimmerbildforschung) bisher so gut wie nicht erfasst werden. 201
Siehe Laurie Stern, wie Anm. 199, hier S. 76 unter Verweis auf Simson
und Ottomeyer 1994: Biedermeier – ein bürgerlicher Stil? 202
Einführungstext der Sektion „Tapete“ von Sabine Thümmler, in: Bie-
dermeier: Die Erfindung der Einfachheit, wie Anm. 127. Siehe auch den Beitrag hierin von Anne-Katrin Rossberg: „Wie Frauen Zimmer wurden. Zur Wohnkultur im 18. und 19. Jahrhundert“, ebd., S. 143–153. 203 Siehe die Begriffsverwendung bei Irene Nierhaus in „Landscapeness as Social Primer and Ground“, siehe Anm. 50.
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�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
Auch kann die Gestaltung von Beziehungsräumen und das wohn-politische Agieren darin nicht eindeutig (Tapeten -) Stilen zugeordnet werden, wohl aber kann ein Zusammenhang zwischen der Stildiversität und deren konkreter Ausgestaltung im Alltag bzw. zwischen dem Spielen mit Stil- und Dekorformen und Subjektformung hergestellt werden. Interessanterweise wünscht sich Jacques-François Blondel in seinen Ausführungen über das Landhaus, „dass man dem Raum eine eigene Persönlichkeit verleihe.“204 Auch die Darstellung von mythologischen Figuren verweist nun nicht mehr ins Transzendente, sondern auf einen Raum der individuellen Nutzbarkeit im Alltagsgefüge.205 Die mythologischen Themen und Dekore dienen auch als eine andere Form der Erziehung als sie mitunter die verbreiteten Traktate und Haushaltsratgeber lieferten, womit eine weitere Ebene der Taktiken des Wohnens und der Selbstinszenierung angesprochen ist. Diese Erziehungselemente sind bspw. auch in der Telemach-Tapete in Form einer Dreiecksbeziehung oder in der Psyche-Tapete in Form einer Aufgabenbewältigung und Belohnung durch das Ehebett präsent. Sie werden ebenso notwendigerweise in die Analysen der Tapetenräume als Selbstinszenierungs-Räume einfließen wie die Verknüpfung des oben angesprochenen Begehrens nach einer idealen oder eher ‚zeitlosen‘ Zeit mit bestimmten Dingarrangements im Wohnraum und mit einem fluktuierenden ‚Innen-Außen‘. Als eine gute Zusammenfassung der somit skizzierten Aufgabenbereiche können die Überlegungen von Behrens und Steigerwald zu „Raum – Subjekt – Imagination um 1800“ dienen: in der Sattelzeit um 1800 scheint sich „das grundsätzliche Verhältnis im Dreieck zwischen Subjekt, räumlich wahrgenommener Welt und dem Vorgang des Wahrnehmens selbst zu ändern.“206 Es ergeben sich nun Verschiebungen in der bis dahin gültigen geometrisch-mathematischen Auffassung vom Raum.207 So können die gegenseitigen Wechselwirkungen und die hierin liegende potenzielle Produktivität zwischen Dingen (Tapete), Subjekten und dem sowohl/einerseits (in-
204 Sebastian Hackenschmidt: Möbel als Medien: Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge, Bielefeld: transcript 2011, S. 146. 205
Ebd. Dort heißt es erläuternd: „Die Darstellung der Venus im Toilet-
tezimmer der preußischen Königin Sophie-Charlotte weist nicht auf die Taten, die aus Liebe geschahen, sondern auf den intimen Akt der Körperpflege; Apoll mit den Künsten am Plafond ihres Arbeitskabinetts dient nicht der Apotheose, sondern der Inspiration.“ 206
Rudolf Behrens und Jörn Steigerwald: „Raum – Subjekt – Imagination
um 1800. Einleitende Überlegungen“, in: Dies. (Hgg.): Räume des Subjekts um 1800, wie Anm. 18, S. 1–13, hier S. 1. 207 Ebd., S. 2.
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nen-)architektonisch begrenzten (definierten) Raum als auch/andererseits dem erst mit der Wahrnehmung und Bewegung (des sich ins Verhältnis zur Umgebung setzenden Betrachtersubjekts) entstehenden Raum beleuchtet werden. Diese verräumlichten Wechselwirkungen können als ein Display analysiert werden, eine „Gesamtheit bedeutungsvoller Zueinanderstellungen und Gruppierungen, die sich situativ kon- und defigurieren.“208 Mit den Bestimmungen „bedeutungsvoll“ und „situativ“ wird auf eine immer wieder neu in Gang gebrachte Semiose, die in den Mitteilungsarchitekturen Bedeutungen auf- und weiterbaut, sowie eine performative, nicht-fixierte An-Ordnung hingewiesen. Ein so verstandenes Display gibt also keine ganzheitliche, auf lineare Logiken und eine übergeordnete Aussage ausgerichtete Konstellation zu sehen (und zu erleben), sondern ist prinzipiell in der Lage, Wahrnehmung nicht nur zu bündeln, sondern auch wieder zu zerstreuen und neu zu arrangieren. Es ist mehr ein Modus der Wahrnehmungslenkung und, wenn man so will, auch der Aufgabenformulierung an die Betrachtersubjekte. Dennoch sind die Bildtapetenräume in ihrer Struktur und Wirkmacht auch sehr genau beschreib- und analysierbar, und nach an exemplarischen Analysen aufgezeigten Konstellationen von konkreten Tapetenräumen kann entsprechend mehr zur Raumwirkung dieser Objekte gesagt werden und damit auch zu dem ganzen Themenkomplex von Subjekt und Raum um 1800. Die Beispielanalysen der Zimmerbilder209 haben bereits deutlich gemacht, wie stark diese als Bilder für private Alben oder die eigenen vier Wände gedachten Innenraumansichten doch an einem dominanten Diskurs der politischen Öffentlichkeit teilhaben, indem sie die Zimmer und ggf. Subjekte darin strategisch ordnen und in einen Rahmen bzw. eine spezifische Innen-Außen-Relation bringen. Dabei ist es erhellend zu beobachten, dass der dargestellte Mann sich in einem Arbeitszimmer mit einem geöffneten Fenster nach draußen befindet, während die Klavierspielerin sich in einem Salon befindet, in dem sie für die Unterhaltung der ganzen Familie und der Besucher zuständig ist. Sie muss sich hauptsächlich in ihre Innenraum- und soziale Umgebung einfügen, wobei die Landschaft eine über die Papiertapete hinein geholte ist, in der sie formal gesehen ‚aufgeht‘, und das Fenster auch keinen richtigen Ausblick in ein Draußen bietet. Dennoch ist auch der Mann
208
Irene Nierhaus: „Landschaftlichkeiten. Grundierungen von Bezie-
hungsräumen“, in: Irene Nierhaus, Josch Hoenes und Annette Urban (Hgg.): Landschaftlichkeit zwischen Kunst, Architektur und Theorie, wie Anm. 10, S. 21–37, hier S. 21. 209
In einem hier nicht weiter zu vertiefenden Genre des Zu-Sehen-Gebens
von Interieur und Wohnen.
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�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
nicht viel freier oder deutlich aus dem Innenraum heraus imaginiert, denn er ist vielmehr wie die Kaminuhr nahe seinem Gesicht in eine Ordnungsstruktur hinein ‚getaktet‘. Die Frau orientiert sich am Takt des Klaviers, der Mann an dem der Uhr und der Arbeitsstunden. Es finden in den Zimmerbildern jeweils Rahmungen in dreifacher Hinsicht statt: durch den Betrachterblick und seine Ordnung des Bildausschnitts, der sich im Akt des Sehens formiert, durch die geometrisch-linearen Rahmungen in der Innenraumansicht – die Tapetenflächen, Gitter des Fensters, Boden und Decke, Schattenwürfe, Buchdeckel usw. – und schließlich durch den Rahmen um die Natur, der beim Blick durch das gemalte Fenster bzw. auf die Tapetenszenen wahrnehmbar wird, und der diese Natur somit als Reihung und Strukturgebilde hereinholt und überformt. Ein solcher Text des Bildes – oder besser Architektur des Bildes – lässt sich nicht, oder zumindest nicht ausschließlich, als Ausdruck von gänzlich individuellen Gefühlen und deren Verräumlichung in einem nur als privat zu denkenden Umfeld lesen bzw. sehen.
Machtverhältnisse und Individuationen von Macht im Wohnen Das oben beschriebene ‚Sich-Inszenieren‘, das die Objekt- und Einrichtungsgeschichte des frühen 19. Jahrhunderts mit einer Geschichte der Subjektivierungen verbindet bzw. beide Aspekte zusammenführt, ist auch mit einem ‚Sich-Identifizieren‘ mit der Umgebung und mit der eigenen Einrichtung gekoppelt. Somit verlaufen sowohl Prozesse der „Individuation“ als auch der „Sozialisation“, wie es grundlegend Jan Assman beschrieben hat, „in kulturell vorgezeichneten Bahnen“. Deshalb verbildlichen die Zimmerbilder aus verschiedenen, kulturell-mentalitätsgeschichtlich jedoch ähnlich geprägten Kontexten auch jeweils solche Anbahnungen und Verläufe: „Beide Identitätsaspekte sind Sache eines Bewusstseins, das durch Sprache und Vorstellungswelt, Werte und Normen einer Kultur und Epoche in spezifischer Weise geformt und bestimmt wird. Die Gesellschaft erscheint so […] nicht als eine dem Einzelnen gegenüberstehende Größe, sondern als konstituierendes Element seiner selbst. Identität, auch Ich-Identität, ist immer ein gesellschaftliches Konstrukt und als solches immer kulturelle Identität. […] Die Evidenz kollektiver Identität unterliegt einer ausschließlich symbolischen Ausformung. Den ‚Sozialkörper‘ gibt es nicht im Sinne sichtbarer, greifbarer Wirklichkeit. Er
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ist eine Metapher, eine imaginäre Größe, ein soziales Konstrukt. Als solches aber gehört er durchaus der Wirklichkeit an.“210 Ein sich als Individuum wahrnehmendes und erforschendes Subjekt ist also notwendigerweise bereits gesellschaftlich-symbolisch geformt und ist ebenso sehr Individuum wie auch Teil einer (politischen) Öffentlichkeit. Seine scheinbar nur es selbst und sein Wollen betreffenden Entscheidungen und Vorlieben sind erst im Austausch mit denen der Gesellschaft entstanden und formen und ändern sich auch mittels dieses Austauschs, sodass vice versa auch diese Gesellschaft von den vielen in ihr und durch sie agierenden Individuen geformt und geprägt wird. Dabei ist von entscheidender Relevanz, dass der „Sozialkörper“, von dem Assmann spricht, wenn auch imaginiert und (gedanklich) konstruiert, darum nicht weniger der Wirklichkeit angehört als Körper und Handlungen der Individuen, indem er gerade als imaginierte Größe Wirkungen und Macht ausübt. Worauf der Blick aus dem Fenster fällt und welchen Stellenwert diese Blickrichtung und die drum herum geordneten Dinge des Innenraums – und auch die weiblichen oder männlichen Figuren im Bild und deren Haltungen und Blickrichtungen – in einem wiederum für spätere Zeiten und Blicke festgehaltenen Bild bekommen, sagt also nicht nur etwas über ein als ‚schön‘ oder ‚inspirierend‘ wahrgenommenes (bürgerliches, angemessenes, modernes etc.) Wohnen aus und damit über Wertesysteme des Wohnens, Blickens und Einrichtens. Es zeigt sich hierin auch, wie sich diese Werte oder auch Didaktiken tatsächlich an einem scheinbar privaten Ort des Individuums – denn diese Interieurs sind ja durchaus als Orte des Rückzugs und des für Fremde begrenzten Zugangs imaginiert – niederschlagen respektive verfestigen. Anordnungen im Interieur, Bildtapetenszenen, Handlungen in diesem Raum und Blicke nach draußen sind verfestigte, materialisierte oder auch konkretisierte Ordnungsräume nach den Parametern eines gemeinsamen Zeichenaustauschs. Auch die Tapetenbilder fügen sich in diese Zirkulation von Zeichen ein und tanzen in ihrem Reigen mit. Die gemeinsamen Werte, die eine kollektive Identität ausmachen und sich unter anderem auch an den Wänden abzeichnen und an ihnen haften bleiben, gilt es herauszukristallisieren und in ihrem Bezug zu Tapetenräumen zu entdecken, denn bislang sind Tapetenszenen weder als identitätsbildend noch machtausübend betrachtet worden und somit auch nicht in ihrer
210
Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische
Identität in frühen Hochkulturen, München: Beck 2002, S. 132.
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„Teilhabe an einem gemeinsamen Wissen und einem gemeinsamen Gedächtnis, die durch das Sprechen einer gemeinsamen Sprache oder allgemeiner formuliert: die Verwendung eines gemeinsamen Symbolsystems vermittelt wird.“211 Die Art und Weise des Wohnens und Einrichtens ist ein Teil dieses „Symbolsystems“, und deshalb nur vermeintlich ein von äußeren Einflüssen abgesonderter Privatraum oder Ausdruck gänzlich privaten Geschmacks – und somit auch weitaus drastischer, als es zunächst den Anschein haben mag, eine Form der Macht- und Kontrollausübung, wie mit Foucault deutlich wird. In „Überwachen und Strafen“ zeigt er beispielsweise, dass das „Gefängnis die Delinquenz, die es zu beseitigen vorgibt, zugleich auch miterzeugt“,212 das heißt, dass erschaffene Strukturen und Medien (in einem spezifischen gesellschaftlich genutzen Raum) den Umgang mit ihnen und in diesem Umgang die Subjekte selbst mit formen und definieren. Auf die Bildtapeten-Räume bezogen lässt sich sagen, dass Vorstellungen von Liebesbeziehungen, Reisen, Bildung und/oder gesundem und daher genormtem Verhalten – oftmals zusammen – eigentlich weniger in sie einfließen oder in ihnen zur Darstellung kommen als durch sie und in ihnen produziert werden. Auch die Dualität zweier Geschlechter, des männlichen und des weiblichen, als Basis von genormten und akzeptierten Liebesbeziehungen und – wie zu zeigen ist – auch von der sich neu ausrichtendenen Gesellschaft allgemein, wird in jedem Raum, in dem sich Geselligkeit konfiguriert, erst produziert, sodass sich Subjekte immer schon als geschlechtlich definierte Subjekte zu sich selbst und zu anderen verhalten. Wenn von Subjektivierung die Rede ist, so muss bedacht werden, dass also die Geschlechter „auch in der von ihnen gemeinsam bewohnten Privatsphäre […] grundsätzlich unterschiedlich situiert“213 sind. Doch um sich diesem Phänomen weiter nähern zu können, ist es zunächst hilfreich, die oben erwähnten drei Achsen für die Bildung von Beziehungsräumen näher zu definieren und zu untersuchen – sie erst können den Zeichenaustausch, den die Tapeten mit in Gang halten, und die stattfindende geschlechtsspezifische und in jedem Raum soziopolitisch wirksame Subjektformung genauer beschreiben helfen.
211
Ebd., S. 139.
212
Hinrich Fink-Eitel: Michel Foucault zur Einführung, Hamburg: Junius
2002, S. 77. 213 Cornelia Klinger: „1800 – Eine Epochenschwelle im Geschlechterverhältnis?“, wie Anm. 65, S. 25.
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�.�.� Die Entfaltung des Gartens, die Beschreitung des Interieurs. Natur und Naturalisierungen als erste Achse der Analyse von Bildtapetenräumen In der Forschung zu (Bild-)Tapeten, aber auch der historischen und kunsthistorischen Barock-, Rokoko- und Klassizismusforschung allgemein, finden sich immer wieder Hinweise und Beispielanalysen zum Verhältnis von (Innen-) Architektur, deren NutzerInnen und Garten-bzw. Landschaftsform(ung)en. Ein Großteil der Bildtapeten lässt sich sehr gut unter diesem Fokus analysieren, da sie auf ihren Papierbahnen zumeist Gartenlandschaften und Gartenarchitekturen – und in diesen wiederum Praktiken des Sich-Aufhaltens und Kommunizierens – zu sehen geben. Der Spaziergang und die ‚Augenreise‘ werden dabei in der Tapetenforschung vorrangig als kulturgeschichtlich interessante Aspekte herausgestellt, ebenso wie die Themen des Garten- und Naturerlebnisses und des Panoramas.214 Dieser sich wie von selbst herstellende Zusammenhang ist jedoch auch trügerisch, da man suggeriert bekommt, Gärten, ihre Visualisierung auf den Tapetenszenen, ein panoramatisches Sehen und bestimmte Praktiken des Spazierengehens, Ausruhens, Entdeckens, Genießens und Kommunizierens-Gestikulierens wären auf unumstößliche Weise miteinander verbunden. Dabei wird leicht außer Acht gelassen, dass diese Themen und Praktiken bereits Politiken (d.h. vor allem Ausdruck und Wieder-Bestätigung eines normierenden Verhaltens-/Ansichtskodexes ihrer Zeit und der bereits genannten kollektiven Identitätsfindung) sind, die als gesellschaftliche Errungenschaften perpetuiert und nicht weiter hinterfragt wurden. Monique Mosser reformuliert eine gängige Zuordnung der Bildtapeten-Gärten zu einem Entdeckungs- und Freiheitsgestus der Aufklärung, wenn es ihrer Beschreibung nach gilt, einen Parcours zu absolvieren, der den Genuss der gerade erst entdeckten Landschaft und das Vergnügen, sich von abwechslungsreichen Wegen und Anlagen überraschen zu lassen, bietet: „Mille scènes successives suscitent le plaisir de l’exploration et viennent rythmer, comme des ‚stations‘, la déambulation du promeneur.“215 Der Rhythmus des Schlenderns wird hier rhetorisch mit dem „Vergnügen der Entdeckung“ verbunden und sogar als eine Initiation des Spaziergängers (re-)mythifiziert:
214
Vgl. v.a. die Beiträge im Katalog Papiers Peints Panoramiques, wie Anm.
22, und zur Panoramathematik insbesondere den Beitrag von François Robichon, ebd. 215
Vgl. Monique Mosser: „Les Promenades du regard. Les panoramiques
et la théorie des jardins“, in: Papiers Peints Panoramiques, wie ebd., S. 194–209, hier S. 196.
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�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
„C’est-à-dire que le jardin ne s’offre plus in unu aspectu, mais il intègre une nouvelle dimension, celle du temps, et ne se découvre qu’au terme d’un parcours, en quelque sorte initiatique.“216 Der Faktor Zeit auf dieser Entdeckungstour bildet dabei das Bindeglied zwischen realem Schlendern, der Theorie des schrittweisen Erkundens in einem extra dafür angelegten Garten und dem Abtasten der auf Papierbahnen im Interieur dargestellten Gartenszenen mit dem Auge, um diese Erfahrung im Garten und des Gartens in den Innenraum zu transponieren. Die Zeit spielt auch bei der Analogisierung der Bildtapeten-Betrachtungs-Mechanismen mit dem (Jahrmarkt-)Panorama des späten 18. Jahrhunderts eine wichtige Rolle.217 Bereits die Kategorien des Rhythmischen, des Neu-Entdeckens und der Entfaltung in der Zeit, die seit dem Diskurs um den Landschafts- bzw. englischen Garten des 18. Jahrhunderts bis heute als Erfahrungswerteskala des Gartenerlebnisses auf das Erlebnis der Bildtapetenbetrachtung übertragen werden, lassen vermuten, dass der Garten – und sein scheinbares Analogon auf den Bildtapeten – wie ein Spektakel der Natur imaginiert, in höchstem Maße verfeinert und für den ästhetischen Genuss zugerichtet wird. Dadurch bekommt er gleichsam etwas Magisches, Außer-Ordentliches zugesprochen: „[…] je ne sais quoi de magique, de surnaturel, qui ravit l’esprit et les sens; on oublie tout, on s’oublie soi-même, on ne sait plus où l’on est.“218 Diese Ästhetik des Selbstvergessens an einem magischen Ort hebt den Garten aus dem Alltag heraus und überformt ihn mit einem über verschiedene Kanäle zufließenden Zeichenstrom moralischer Anforderungen, sodass der als neu oder anders erlebte Ort eigentlich umso mehr zum Teil der An-Ordnungen des scheinbar verlassenen Alltags wird. Das Heraustreten, Vergessen und Genießen funktioniert nur als Schein und stützt ganz subtil die (‚drinnen‘ und ‚draußen‘) herrschenden Identitätsformungspolitiken. Wenn sich beispielsweise ein Subjekt beim Spazierengehen in oder zwischen Gartenanlagen bewegt, so produziert es bestimmte Vorstellungen, mentale Bilder, Gefühle, und/oder Gesten und Haltungen, die ihm aber nicht intrinsisch gegeben sind und nur nach außen gelangen müssten, sondern die erst in Interaktion mit dieser spezifischen Umgebung hervorgebracht werden. Der Landschaftsgartenforscher Adrian von Buttlar bemerkt dazu:
216 Ebd. 217 Siehe Kapitel 3.3.2 der vorliegenden Arbeit. 218
Odile Nouvel-Kammerer: „Les thèmes d’une nouvelle philosophie“, wie
Anm. 161, hier S. 110.
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Tapezierte Liebes — Reisen
„Nur im Subjekt des Parkwanderers schlossen sich die wechselnden Parkbilder, das ganze Spektrum der Stimmungen und Assoziationen zu einer Ganzheit zusammen.“219 Allerdings ist der „Wanderer“ in einer gestalteten (und erst recht stadtnahen) Gartenlandschaft bzw. im Park eher als Spaziergänger zu betrachten, und über diese Subjektformierungspraktik, die um 1800 eine besondere Stellung innerhalb und für die sich umordnende Gesellschaft gewinnt, hat Gudrun König ausführlich geforscht. Sie ordnet das Spazierengehen u.a. auch in die
219
Adrian von Buttlar: Der Landschaftsgarten: Gartenkunst des Klassizismus
und der Romantik, Köln: DuMont 1989, S. 53. Horst Bredekamp wendet sich in seinem neuen Buch zu den Herrenhäuser Gärten in Hannover allerdings gegen die verbreitete Meinung, dass die Kopplung von Garten und Freiheit bzw. individueller Parcours-Findung erst im englischen Garten stattgefunden hätte. Er stellt den Barockgarten als Gegenbeispiel vor, indem er auf den Großen Garten von Hannover-Herrenhausen und die Monadologie des Wilhelm Gottfried Leibniz eingeht: „Wenn Leibniz im Garten das Prinzip der unendlichen Einschachtelung angelegt sah, dann sagt dies zugleich, dass er im geometrischen Garten das fand, was spätere Interpreten erst im Landschaftsgarten zu erkennen meinten: die Freiheit des Individuellen. […] Der Große Garten von Herrenhausen war weniger eine zeremoniale Verhaltenssphäre als vielmehr ein freier Entfaltungsraum. Dies erklärt auch die Zwanglosigkeit des Austauschs, die aus den Begegnungen zwischen der Kurfürstin Sophie und Leibniz spricht.“ Er kommt so zu dem Schluss, „dass der Barock- und der Landschaftsgarten zwei Varianten ähnlich gelagerter Empfindungen und Zielvorstellungen darstellen.“ Siehe Leibniz und die Revolution der Gartenkunst – Herrenhausen, Versailles und die Philosophie der Blätter, Berlin: Wagenbach 2012, S. 77 und S. 120f. Somit zeigt sich gerade in dieser Studie von Bredekamp, aus einer anderen Zeit und einem anderen philosophischen System heraus gedacht, wie sehr das Konzept der Individualität und subjektiven Gefühlsausdrücke im Garten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts ein Konstrukt der Aufklärungsmoral (und gestützt durch politische Schriften, Ästhetik bzw. Poetik sowie Verhaltenscodes) und mitnichten eine natürlich gegebene Entwicklung ‚vom Eingegrenzten zum Befreiten‘ ist. Damit ist zugleich auch gegen Buttlar argumentiert, der in Der Landschaftsgarten feststellt, dass „[d]ie raum-zeitliche Einheit des Barockgartens mit seiner symmetrisch-tektonischen Ordnung […] im Landschaftsgarten durch eine raum- und zeitlose, nur mehr ideelle und gefühlsmäßige Einheit ersetzt“ wurde (S. 53). In dem Aufsatz „The Liberty of the Park“ hat Jill Franklin an historischen Quellen gezeigt, inwiefern das (politische) Ideal einer Verknüpfung von Garten und Freiheit – „just as English liberty found expression in the landscape garden, so did French autocracy in the regimented gardens typified by those at Versailles“ – sich in der Praxis als sehr autoritativ eingeschränkt erwies, wenn „ugly scenes of hard work and views of unsightly villages“ aus den Anlagen verbannt wurden und freistehende Landflächen gesäubert von „villains and poachers“; siehe Jill Franklin: „The Liberty of the Park“, in: Raphael Samuel (Hg.): Patriotism. The Making and Unmaking of British National Identity, Vol. III der „National Fictions“, London/N.Y.: Routledge 1989, S. 141–159, hier S. 141 und S. 155.
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spätaufklärerischen Diskurse um die Aufwertung der Landschaftsmalerei und die Reisebilder, insbesondere auf Veduten, sowie der (bürgerlichen) Alltagsgestaltung in Württemberg ein. Dabei zeigt sich die „Relevanz des Themas Spaziergang“ näherhin „nicht nur in seiner Abbildfunktion auf der Vedute wie in der Landschafts-, Bildnis- und Genremalerei“, sondern auch in seiner „Integration in den Alltag bürgerlicher Schichten“.220 Für die im Folgenden zu leistende Verkopplung von Phänomenen des Spaziergangs, des panoramatischen oder ordnenden Sehens und der Bildtapeten mit der Kunsttheorie und Ästhetik seit der Aufklärung ist Königs Feststellung außerordentlich wichtig, der „Spaziergang meinte damals das Gehen in einer entsprechend gestalteten, eingerichteten Natur, es betonte den Spaziergang als geselliges Ereignis [Hervorhebung der Autorin].“ Dies bedeutet auch: „Die Spaziergänger ergingen sich im urbanen Umfeld und auf geebneten Bahnen. Kontakt mit der ‚unberührten Natur‘ war diesem Wortgebrauch nicht inhärent.“221 Die geebneten Bahnen waren auch in der Geometrie des Innenraums und im Ausblick in die – ebenfalls alles andere als unberührte – Natur respektive auf die schnurgeraden Alleen draußen vor dem Fenster in den Interieurbildern erkennbar. Das Bahnen, Ordnen und Sinnieren über das eigene Verhältnis zur (geformten) Natur gewinnt im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts immer mehr Bedeutung. Seit dem englischen Sensualismus222 werden sinnlich erfahrbare Gegenstände schließlich mehr auf die Gefühle, die sie im Subjekt hervorrufen, hin befragt. Gartentheoretiker wie Thomas Whately und Lancelot Brown, die deutsche Theoretiker und Philosophen wie Hirschfeld bis hin zu Goethe, Schiller und Sulzer beeinflussten, beschäftigten sich entsprechend auch weniger mit konkreten Landschaftsparkgestaltungen und sehr viel damit, wie es gelingen könne, „über die Selbstempfindung im Garten zur seelischen Reinigung zu kommen“, wie es in Whatelys „Observations on modern gardening“ von 1770 heißt.223 Werner Busch hat den Begriff „Gestimmtheit“ geprägt, da die Bedeutung bspw. von Gartengestaltungen nicht „entschlüsselt, sondern erfahren werden“224 sollte. Empfindende, sich mit der gestalteten Landschaft in Beziehung setzende Subjekte können etwas zum
220
Gudrun König: Eine Kulturgeschichte des Spaziergangs, wie Anm. 60, S. 19.
221 222
Ebd., S. 26. Vor allem durch Edmund Burke, dessen Auffassung während der Auf-
klärung, und gleichsam als ergänzender Part des Vernunftdenkens bzw. mit diesem verbunden, europaweit verbreitet und rezipiert wurde. 223 Zit. n. Werner Busch: Landschaftsmalerei, Berlin: Reimer 1997, S. 199. 224 Ebd., S. 200.
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Ausdruck bringen, was nicht aus der rationalen Analyse einzelner Bauteile oder Elemente resultiert, sondern aus eben jener „Gestimmtheit“. Brown geht es noch um mehr, näherhin um eine ständige Verbesserung, die einer Naturgegebenheit inhärente „Wesenheit“ herauszustellen, wofür die Schlangenlinie als Sinnbild steht, bei der man „keinen bestimmten Punkt angeben kann, bei dem sich ihre Richtung ändert (Schiller) und die darum vom Maler William Hogarth (1697–1764) in seiner ‚Analysis of Beauty‘ (1753) zur ‚Schönheitslinie‘ erklärt worden war.“225 Es ist nun also schon annähernd deutlich geworden, in welchem Ausmaß und mit welchem Anspruch der Natur eine Art ganzheitsorientierte, ja sogar seelenreinigende Funktion – immer in Bezug auf die Subjekte, die sie erfahren sollen – zugesprochen wird; und diese Funktion, in den und mit den durch sie durchwandernden Subjekten mehr zu leisten als eine hübsche Kulisse oder ein abwechslungsreicher Frischluftweg zu sein, sollte bis weit ins 19. Jahrhundert hinein immer wieder aufgegriffen und erweitert werden. Eine ganz besondere Form der Verlandschaftlichung der Prinzipien Antikenverehrung, Dichtung, Philosophie und Garten bietet Ermenonville mit der Rousseau-Insel: Der „Tempel der Philosophie“ sollte an den Sybillentempel von Tivoli erinnern, und sechs Säulen verwiesen durch Inschriften auf berühmte Männer der Aufklärung.226 Die Aufschrift eines Säulenrestes stellt die Frage Wer wird das vollenden? – „Bis zur Überführung der Gebeine des Philosophen ins Pariser Pantheon (1794) auf Wunsch Robespierres war die Pappelinsel eines der wenigen echten Grabmäler im Landschaftsgarten“,227 stellt von Buttlar fest; und zudem wird die Kombination der Inschriften und Namen, der antikisierenden Architekturen und der Gräber in der gestalteten Natur zu einer Chiffre für die neue Landschaftsauffassung, nach der Philosophie und moralischer Anspruch fest in den Elementen der Natur verankert sind bzw. sein sollen. Auch der Landschaftsmalerei wurde als Vorbild und wichtige Kunstgattung in Form einer zweiten Grabstätte ein Denkmal gesetzt: „Auf der zweiten Insel befand sich das Grab des Landschaftsmalers GeorgeFrédéric Mayer, des Malers von Ermenonville. Philosoph und Dichter einerseits, der Landschaftsmaler andererseits vertreten eben jene Kunstgattungen, denen der Landschaftsgarten seine Entstehung verdankt.“228
225
Adrian von Buttlar: Landschaftsgarten, wie Anm. 219, S. 60.
226
Dies sind genauerhin: Newton, Descartes, Voltaire, William Penn, Mon-
tesquieu und Rousseau; dazu verweisen zwei Säulenreste auf Buffon und Benjamin Franklin. 227 228
108
Adrian von Buttlar, wie ebd., S. 118. Ebd., S. 119.
�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
In ähnlicher Weise war bei Montmorency ein Garten der Liebesthematik – auch auf Rousseau verweisend – gewidmet, hier entstand eine Szene aus der „Neuen Heloïse“ mit den überlebensgroßen Figuren Julie, Claire und Saint Preux, die als der Erste Kuss der Liebe betitelt wurde, und ebenso auch ein Salon der Freundschaft.229 Es handelt sich um eine Art von „humanisierter Natur“.230 Doch im Hinblick auf das Thema der Garten- und Naturthematik und Bildtapetenräume muss genauer geklärt werden, wie diese Moralia in der Natur, die Eingriffe und Modellierungen bzw. der ästhetische Überbau in Form von Schriften und Didaktiken – und im Speziellen die Art und Weise von Antikisierung und Gefühlssemantik – mit den Vorbildern aus der Landschaftsmalerei und mit Vorstellungen von Geschlechterrollen in den Innen- und Außenräumen ineinander greifen.
Landschaftsmalerei, Gartengestaltung, Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts: Das große Ganze, der Blick durch das Claude-Glas und die (weiblichen) Wonnen der Gesellschaft Die Landschaften, die als Vorbild für Gartengestaltungen und auch für die Bildtapetengestaltung bei u.a. Dufour dienten, rekurrieren zum einen auf das Italien der Bildungsreisenden und der längere Zeit in Rom oder Neapel tätigen KünstlerInnen, und zum anderen auf das mit den Ausgrabungen von Herculaneum und Pompeji neu erweckte Interesse an der Antike und einer als antikisch verstandenen Lebens- und Verhaltensweise. Diese Landschaften sind geradezu en masse auf Zeichnungen und in Form von Skizzen und späterhin auch großformatig angelegten Gemälden festgehalten worden. Sie vermittelten idyllische Ansichten sonnendurchfluteter Ebenen des bereisten Landes mit der euphorisch verehrten Vergangenheit einer untergegangenen Epoche in Form von Bildelementen, die antike Ruinen und Versatzstücke vor Augen führen, welche oft zum dominanten Teil dieser Bilderzählungen werden. Es handelt sich also um ästhetisierte Landschaften, die von einem sie arrangierenden (Künstler-)Subjekt so geformt sind, dass sie in das Bezugssystem ihrer jeweiligen Zeit passten. Dieser Begriff von „Landschaft als eigenständiger ästhetischer Gegenstand“, der „Distanznahme einerseits und den organisierten Entwurf von einem aufnehmenden Subjekt andererseits“ voraussetzt, ist auch
229 230
Ebd., S. 120. Ebd., S. 152.
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Tapezierte Liebes — Reisen
erst „seit der frühen Neuzeit gegeben“.231 Vor allem Petrarcas Brief über die Besteigung des Mont Ventoux ist nicht aufgrund der tatsächlichen Bergbesteigung von so großer Bedeutung, sondern aufgrund der „ästhetischen Dimension ihrer Schilderung“,232 oder anders formuliert: „[…] die Erfahrung der Landschaft, des Blickes, weckt in Petrarca die Ahnung einer Seelenlandschaft, und die Erfahrung dieser Wechselwirkung ist Voraussetzung für die neuzeitliche Landschaft als Bildthema.“233 Unter anderen Voraussetzungen im 18. Jahrhundert ist es ebenfalls eine Wechselwirkung, und zwar zwischen Landschaft, Betrachterblick und der Einbildungskraft, die den Landschaftsgarten zu einer Signatur der Epoche und die Natur eine „in Dichtung, Malerei und Geschichte gespiegelte Natur, deren verständige Wahrnehmung beim Betrachter ein geschultes ästhetisches Empfinden und eine umfassende, fast elitäre Bildung voraussetzte“,234 werden lässt. „Die Einbildungskraft des empfindsamen Betrachters stärker zu erregen, als dies eine bloß natürliche Gegend vermöchte – wie der deutsche Gartentheoretiker Christian Cay Lorenz Hirschfeld (1742—1792) schrieb –, wurde jetzt zum künstlerischen Hauptziel der Gartenkunst“,235 und die für Bildungsreisende zur Erinnerung an ihre Erlebnisse produzierten Landschafts- und Stadtansichten von Künstlern aus Italien und Frankreich hatten eigentlich wenig mit den tatsächlichen topographischen Gegebenheiten und mehr mit Poesie und einer spezifischen Stimmungsästhetik zu tun.236 Wenn man sich Bildtapeten und die Spezifik ihrer Landschaften und Naturelemente genauer anschaut, kommt man nicht umhin, die Bedeutung der insbesondere französischen Landschaftsmaler sowie auch der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts (Roger de Piles, Denis Diderot), die sich mit dieser Gattung auseinandersetzt, mit zu reflektieren. Immer wieder wird von ForscherInnen der Vorbildcharakter von u.a. Nicolas Poussin, Claude Lorrain oder Hubert Robert für die Komposition der Bildtapeten und ihrer Einzelszenen hervorgehoben, sodass sich die großen Themen der Landschaftsmalerei – ideale Landschaften, Lichteinfall, Geschichte und Natur oder
231
Werner Busch: Landschaftsmalerei, wie Anm. 223, S. 37.
232
Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 140. 233 Werner Busch: Landschaftsmalerei, wie Anm. 223, S. 62. 234 235 236
Adrian von Buttlar: Landschaftsgarten, wie Anm. 219, S. 14. Ebd., S. 16. Thomas Habersatter: „Alle Wege führen nach Rom – Grand Tour und
französische Reisebeschreibungen Italiens im 17. und 18. Jahrhundert“, in: Thomas Habersatter und Norbert M. Grillitsch (Hgg.): Sehnsucht Süden: französische Barockund Rokokomaler in Italien, Ausst.-Kat. Residenzgalerie, Salzburg: Residenzgalerie Salzburg 2002, S. 11–22, hier S. 17.
110
�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
deren Verfall, sowie die Bühnenwirkung – auf den ersten Blick ebenfalls als Frageperspektive für die Bildtapetenräume eignen. Ob dies sinnvoll ist oder welche Fragestellungen bei dem neuen Medium und seinen Verwendungsmöglichkeiten eher in Betracht gezogen werden sollten, wird sich im Anschluss an eine erste Annäherung an die Landschaftsmalerei und -theorie klarer zeigen. Insbesondere Nicolas Poussin (1594–1665) scheint mit seinem sehr durchgeplanten, wie in einem Baukastensystem kleine mythologische Figuren in eine Landschaft einpassenden Bildaufbau einer der wichtigsten Vorläufer für das Genre der Bildtapeten zu sein.237 Er beschäftigte sich zunehmend mit der idealen bzw. arkadischen Landschaft als Sujet seiner Kunst, und dieser Art der Landschaftsmalerei kommen gerade in den kompositionellen Bezugnahmen zwischen Naturelementen und den in sie gesetzten (Staffage-)Figuren, „antik gekleideten Personen in klassischen Posen“,238 die Bildtapeten-Schemata der Manufaktur Dufour sehr nahe. Die Staffagen in der Landschaftsmalerei und in grafischen Ansichten wie v.a. den Veduten sind bisher weder in kunst- noch kulturgeschichtlichen Arbeiten sehr intensiv analysiert worden, wie es Gudrun König kritisiert: „Die Kunstgeschichte bestimmt die Staffage als untergeordnete Bildgestalt, die in der Tradition der Landschaftsmalerei für die Wiederholung der Landschaftsstimmung steht und bildraumtechnische Probleme zu lösen hat. […] In der Kunstgeschichte reduziert sich die Untersuchung auf Einzelprobleme der Staffagefiguren, wie die Rückenfigur oder das Bild des Zeichners in der Landschaft. Demgegenüber bleibt die Frage bestehen, ob die Staffage nicht noch andere Funktionen hat, ob sie von signifikanter Bedeutung für die gesellschaftlichen Verhältnisse und ob ihre Konfiguration dafür ein Abbild ist.“239
237
Seine Werke sind allerdings in den 1640er/1650er Jahren und somit
lange vor der Aufklärung und vor der Zeit der Bildtapeten-Interieurs entstanden. Er gehörte zu den französischen, an die „Académie royale de peinture et de sculpture“ gebundenen Klassizisten, die sowohl in Rom als auch am französischen Hof verweilten. Poussin war auch für den v.a. durch Winckelmanns Schriften beförderten néoclassicisme der 1760er Jahre von großer Bedeutung, als die Antikenbegeisterung der Renaissance wiederum Vorbildfunktion erlangte und zur innovatio in Kunst und Wohnen anregte. 238 Thomas Habersatter: „Französische Landschaftsmaler des 17. und 18. Jahrhunderts in Italien“, in: Sehnsucht Süden, wie Anm. 236, S. 39–58, hier S. 43. 239
Gudrun König: Eine Kulturgeschichte des Spaziergangs, wie Anm. 60,
Seite 71.
111
Tapezierte Liebes — Reisen
In den exemplarischen Analysen der vorliegenden Arbeit sollen die Staffage-Figuren der Bildtapeten in ihren Beziehungen zueinander, zu den anderen Bild(raum)elementen und zu den BetrachterInnen und ihrem soziokulturellen Setting analysiert werden. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, die auch König nennt, sind so in diesen Figuren durchaus mit – also ‚kon‘ – figuriert. Auch die Farbgebung der mythologischen Figuren und ihre Verlandschaftlichung zusammen mit den Natur- und Architekturelementen gehen in abgewandelter Form von Poussin auf die Tapetenszenen über, und zwar in den meisten Fällen, die eine Parklandschaft in Pastellfarben vor Augen führen, wie z.B. bei der Telemach-Tapete, aber auch Renaud et Armide oder Les Voyages d’Anthenor.240 Die Sorgfalt in Themenwahl und -ausführung hat Poussin auch auf Modell-Bühnen regelrecht erprobt, bevor das eigentliche Werk entstehen konnte: „Zuallererst wählte er das Bildthema aus und holte hierzu sämtliche Informationen ein, die er erlangen konnte. In einem zweiten Schritt entstanden die ersten Entwurfszeichnungen, bevor er seine Figuren nach Vorbildern antiker Skulpturen erarbeitete und in Wachs fertigte. Danach stellte er das Wachsmodell in eine entsprechende Kulisse auf eine kleine Bühne und erprobte an dieser verschiedene Beleuchtungsarten, ehe er das gewünschte Ergebnis in Kohle und Tusche festhielt und dann zu einem Gemälde ausarbeitete.“241 Diese Überlegungen hinsichtlich der Bildkomposition, Figuren- und Elemente-Verteilung und des Bühnenaufbaus sind etwa anderthalb Jahrhunderte später für die Bildtapeten-Arrangements von großer Bedeutung.242 Auch Claude Lorrains (1600–1682) Kompositionen wurden im fortschreitenden 18. Jahrhundert, auch noch von Goethe, geschätzt; in Bezug auf Bildtapeten hebt Leiss hervor:
240
So heißt es über Poussins Werke: „Meist ist der Hintergrund in ge-
trübten, erdfarbenen Tönen gehalten und die Akteure sind ihrer Bedeutung nach farblich akzentuiert. Die Bauwerke werden als integrativer Bestandteil der Landschaft aufgefasst“, vgl. Thomas Habersatter: „Französische Landschaftsmaler“, wie Anm. 238. Mehr zum Bildaufbau der Telemach-Tapete und zur Positionierung der Figuren in der Landschaft sowie der Figurenhaltung und -kleidung in Bezug auf die Kulissen- bzw. Bühnenwirkung siehe v.a. Kapitel 4.3 und 4.4 der vorliegenden Arbeit. 241 Thomas Habersatter, wie ebd., S. 43f. 242
Zur Bühne und zur dritten Tapetenanalyse-Achse – Theatralität des
Alltags und die Bühne der Gesellschaft – vgl. insbesondere Kapitel 3.3.2 der vorliegenden Arbeit.
112
�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
„Lorrains Einfluss auf die Landschaftsmalerei des 18. Jahrhunderts war bedeutend und ist auch auf der [Bildtapete] ‚Vue d’Italie‘ noch unverkennbar. Die besondere Art, Baumgruppen und Gebäude wie dunkle Kulissen vor den Abendhimmel zu setzen, ist Lorrain nachempfunden.“243 In Lorrains Bildern kulminieren bestimmte Vorstellungen von kompositorischen, ästhetisch-empfindsamen und stimmungserzeugenden Wirkungsweisen ‚gelungener‘ Landschaftsmalerei, wie sie die Spätaufklärung und Frühromantik favorisierten. Das Ganze des Bildes, die Gesamtkomposition bzw. Verteilung der Bildelemente und deren Beziehungen unter- und zueinander, sowie das Stimmungsbild respektive Einfangen des Moments interessierte die Lorrain-RezipientInnen und prägte die Anforderungen an das, was Landschaftsdarstellungen leisten sollten. „Claude erzählt von der Landschaft her oder besser gesagt vom Ganzen her. Er verlegt die Dramaturgie seiner Geschichten in die Komposition selbst […]. Es gibt bei Claude keine Landschaft ohne Figuren, und diese Figuren handeln auch, aber sie sind Teil der Gesamtkomposition; sie stehen in der Hierarchie des Bildes auf derselben Ebene wie die anderen Elemente der Komposition.“244 Gerade die Malerei eines Lorrain sorgt dafür, „dass alles der vom Verstand gelenkten, unsichtbar wirksamen Ordnung unterworfen ist.“245 Diese Ordnung soll Vergangenheit und Gegenwart, Natur und Zivilisation miteinander harmonisieren. Im Jahr 1829 brachte Goethe dann schließlich anhand von Lorrain eine idealistische Kunsttheorie auf den Punkt, die gerade in der wahr scheinenden Täuschung einer „höchsten Wahrheit“ entgegen strebt, welche eben nicht in einer möglichst exakten Wiedergabe des Wahrgenommenen, sondern in dessen individuell-schöpferischer Überformung nach den innersten Werten des Schaffenden und gleichsam über seine Imaginations- bzw. Einbildungskraft zu erreichen ist:
243
Josef Leiss: Bildtapeten, wie Anm. 42, S. 55.
244
Martin Sonnabend et al. (Hgg.): Claude Lorrain: die verzauberte Land-
schaft, Ausst.-Kat. Städel Museum, Frankfurt am Main, Ostfildern: Hatje Cantz 2011, S. 17f. 245
Wolfgang Wanko: „Von der Veränderung eines Ideals – Die französi-
sche Landschaftsmalerei im Siècle des Lumières zwischen Ordnung und Natürlichkeit“, in: Sehnsucht Süden, wie Anm. 236, S. 69–76, hier S. 69.
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„Die Bilder haben die höchste Wahrheit, aber keine Spur von Wirklichkeit. Claude Lorrain kannte die reale Welt bis ins kleinste Detail auswendig, und er gebrauchte sie als Mittel, um die Welt seiner schönen Seele auszudrücken. Und das ist eben die wahre Idealität, die sich realer Mittel zu bedienen weiß, dass das erscheinende Wahre eine Täuschung hervorbringt, als sei es wirklich.“246 Die Parallelen zur oben in Bezug auf die Gartengestaltung erwähnten „seelischen Reinigung“ und „Gestimmtheit“ werden hier mit dem Anspruch, auch in der Malerei „die Welt seiner schönen Seele auszudrücken“ in einem etwas anderen Kontext also sehr deutlich. Das produktive Potenzial, das nun in dieser Imaginationskraft liegt („als sei es wirklich“), die wiederum der subjektiven Empfindung entspringt, hatte entsprechend großen Einfluss auf die englische Gartenkunst des 18. Jahrhunderts. „Etwa in der Mitte des 18. Jahrhunderts hatte man begonnen, die freie Naturlandschaft nach malerischen Reizen abzusuchen, vorerst mit Hilfe eines ‚Claude-Lorrain-Glases‘, einer geschliffenen Linse, die die Landschaft zu einem eigenartigen Panorama verdichtete.“247 Hierbei findet ein Ineinanderfließen von Gartenerlebnissen statt und vollziehen sich Überblendungen verschiedener Wahrnehmung- und Deutungsebenen sowie auch des Zeit- und Raumempfindens – die ‚ferne‘ Antike im Hier und Jetzt korrespondiert mit dem malerischen Fest-Legen der Natur –, während dieser Fluss an Eindrücken und die ästhetischen Praktiken zugleich wieder theoretisiert werden. Diese Überblendungen und Diskursivierungen geben einen Hinweis darauf, wie die Landschaftsmalerei von Poussin, Lorrain, Vernet und anderen Künstlern dieses Genres für eine erweiterte Deutung von Bildtapeten-Räumen produktiv gemacht werden kann. Es wäre allerdings zu eindimensional, lediglich eine Linie von diesen Landschaftsbildern und ihren einzelnen Elementen (der Natur, Architektur und mythologischen Figuren) zu den später auf dieses Repertoire zurückgreifenden Bildtapeten-Szenen zu ziehen. Es ist weniger dieses Repertoire, sondern eher dessen Vernetzung mit der Gartentheorie, der Wahrnehmungsund Imaginationsthematik und auch der sich vehement durchsetzenden Liebhaber-Kunstkritik am Ende des 18. Jahrhunderts, was als ein Komplex von 246 J. W. Goethe „Gespräche mit Eckermann“, zit. n. Martin Sonnabend et al.: Claude Lorrain. Die Verzauberte Landschaft, wie Anm. 244, S. 19. 247 Adrian von Buttlar: Landschaftsgarten, wie Anm. 219, S. 74.
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�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
Parametern wiederum in die Bildtapetenräume des frühen 19. Jahrhunderts hineinwirken und mit ihnen neue Vernetzungen herstellen kann. Ein Beispiel wäre die Vorstellung vom Sich-Hineinversetzen in die Landschaft (Diderots Vernet-Kritik des „Salons“ von 1767) oder ihr (mentales) Abtasten durch fühlend-denkende Subjekte. Hier verbinden sich ganz bestimmte Begriffe von Natur, Kunst/Malerei und Subjekten zu einem moralisch-didaktischen Gemenge, das sich kaum zeitlich oder in Form von Labels und Genres fix eingrenzen lässt (als handle es sich beispielsweise um einen „akademischen versus bürgerlich-revolutionären Klassizismus“, „Frühromantik“, „Landschaftsmalerei“ oder „Kunstkritik“), da diese miteinander korreliert sind. Gerade die Gartentheorie und Landschaftsmalerei stehen in einer unauflösbaren Verbindung mit der Kunsttheorie der Spätaufklärung und beginnender romantischer Strömungen, und zudem mit raumtheoretischen Diskursen, die sich mit der (Neu-)Verortung von Subjekten befassen. Ein entscheidender Theoretiker des frühen 18. Jahrhunderts, noch vor Diderots Überlegungen zur Wechselwirkung von Kunst und Subjektwahrnehmung, war Roger de Piles, der sich in „Cours de Peinture par Principes“ 1708 insbesondere für die Landschaftsmalerei stark machte (und dabei auch für die Aufwertung der Farbe und Relativierung der Gattungshierarchien eintrat): „Ainsi la Peinture, qui est une espèce de création, l’est encore plus particulierement à l’égard du Païsage.“248 Außerdem unterschied er prinzipiell zwei Arten von Landschaftsmalerei, die heroische und die pastorale, und diese Einteilung „sollte bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wirken: ‚Parmi tant de styles differens que les Païsagistes ont pratiqués […] j’en distinguerai seulement deux dont les autres ne sont qu’un mélange, le style Heroïque, & le style Pastoral ou Champêtre.‘“249 Doch es geht, und dies soll hier besonders betont werden, nicht nur um einen heroischen Landschaftsstil und dessen Abhebung von der pastoralen/ idyllischen Landschaft250 sowie ein Zusammendenken der bisher gegeneinander
248 Roger de Piles: Cours de Peinture par Principes (1708), zit. n. Wolfgang Wanko: „Über die Landschaft. Die französische Kunsttheorie und Kunstkritik des 17. und 18. Jahrhunderts und ihre Auswirkungen auf die Entwicklung der Landschaftsmalerei“, in: Sehnsucht Süden, wie Anm. 236, S. 59–68, hier S. 63. 249 Ebd. 250
Die heroische Landschaft ist jedoch nach der Kunsttheorie von De Piles
als eine hauptsächlich Poussin zugeordnete Ausnahmeerscheinung zu sehen bzw. als eine „Grenzleistung“ innerhalb der Landschaftsmalerei: „De Piles zeichnet die Pole als Gegensätze, die ihre doktrinären Parteigänger haben, und so sehr seine Konstruktion auf Ausgleich zielt, ist doch unzweifelhaft, dass er die erfahrungsnahe Landschaft bevorzugt und in der heroischen nur eine forcierte Grenzleistung sieht“,
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Tapezierte Liebes — Reisen
ausgespielten Prinzipien von Linie–Geist und Farbe–Materie, sondern auch um die weltschaffende und -beherrschende Lust, die der Maler der Landschaften empfindet und mit seinem Werk verknüpft. Diese Lust, so sei hier festgehalten, weitet sich im 19. Jahrhundert in den Bildtapetenräumen auf das Bewohnen der (tapezierten) Landschaften aus, wo die Bewohner mit diesen frei „schalten und walten“ können. „Die Landschaft ist eine Gattung der Malerey, welche Felder, und alle darauf vorkommenden Gegenstände vorstellt. Unter all den Vergnügen, welche einem jeglichen Maler seine ihm eigene Gabe und Art der Malerey während der Arbeit verschaft, scheint mir keines lebhafter und anständiger zu sein, als welches ein Maler bey Verfertigung einer Landschaft verspürt. Denn bey der großen Manchfaltigkeit, welche in dieser Gattung der Malerey herrschen kann, hat der Maler mehr Gelegenheiten, als in allen übrigen Arten dieser Kunst, bey der Wahl der Vorwürfe auf seine Zufriedenheit und Ergötzung zu sehen. Die Einsamkeit der Felsen, die Kühle der Wälder, die Klarheit des Wassers […] alle diese Dinge machen, dass er daselbst jagt, bald frische Luft schöpft, bald spatzieren geht […]. Endlich ist er Herr über alles, was man auf der Erde, oder auf dem Wasser und in der Luft sieht, und kann frey damit schalten […].“251 Interessant ist hier im Hinblick auf die Arbeit von Gudrun König – und den bereits herausgestellten Status des Spazierengehenden in der gestalteten, eingerichteten Natur – die Verbindung, die de Piles wie beiläufig in einem Satz zwischen Naturelementen, künstlerischem Schaffen und eigener Aktivität inmitten dieser Natur macht. Die Erfahrung dieser Natur und die Subjektivierung als Künstlercharakter bedingen sich und werden wiederum Voraussetzung für die Imagination von Weltbeherrschung. Wichtig ist de Piles hier auch die „angenehme und erstaunliche Wirkung“, und auch der „für die Landschaftsmalerei folgenreiche Begriff des Sublimen zeichnet sich ab“.252 Um die Mitte des 18. Jahrhunderts kam gerade mit der Landschaftsmalerei die Kunstkritik durch (nichtakademische) Amateure und Liebhaber auf:
Eckhard Lobsien: „Landschaft“, in: Karlheinz Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB); historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 3, Stuttgart u. a.: Metzler 2010, S. 617–664, hier S. 625. 251
Zit. n. Werner Busch: Landschaftsmalerei, wie Anm. 223, S. 162. Zu dieser
Lust des (Er-)Schaffens und zur Mannigfaltigkeit als Prinzip vgl. auch Kap. 3.2.1 der vorliegenden Arbeit. 252 Werner Busch, wie ebd., S. 166.
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„Als Begründer der modernen Kunstkritik ist Etienne La Font de Saint-Yenne (1688–1771) zu nennen, der in seinen 1747 erschienenen Réflexions sur quelques causes de l’etat présent de la peinture en France. Avec un examen des principaux ouvrages exposés au Louvre le mois d’août 1746 das Grundrecht der freien Kunstkritik postulierte: ‚Un tableau exposé est un livre mis au jour de l’impression. C’est une pièce représentée sur le théâtre: Chacun a le droit d’en porter son jugement.‘ “253 Das gesellschaftskritische Moment und die Bekräftigung des eigenen subjektiven Geschmacksurteils hallt mit noch weitaus größerem Bekanntheitsgrad in den Salonkritiken von Denis Diderot (1713–1784) nach.254 Seine Vernet-Kritik des „Salons“ von 1767 ist eine der bis heute bekanntesten. Sie prägte einen Begriff von Landschaft, nach dem diese dramatisch belebt sein sollte, um – hier trifft sich seine Auffassung mit der von De Piles – „die Empfindung und Fantasie des Betrachters anzuregen.“255 Horace Vernets (1714–1789) Landschaftsbilder bieten den Ausgangspunkt für Diderots mentales Durchwandern der Landschaft.256 Erst im Hineinversetzen in die verbildlichte Landschaftsszenerie wird die Natur als Kunst und somit bereits durch die Einbildungskraft des Betrachtenden geformt erkennbar – und zwar auch nicht eine beliebige Natur, sondern „eine Natur, die in ihrer besonderen Wirkung aus der täglichen Erfahrung von Künstlern herausgefiltert ist“ – und wenn „aus den Gemälden wirkliche Landschaften gemacht“ sind, „geht [es] also nicht mehr um Natur, es geht um Kunst.“257 Eben diese Filterwirkung durch die Imagination der (Künstler-, Betrachter- und Bewohner-)Subjekte bestimmt den philosophisch-ästhetischen Diskurs um Landschaft und Naturerfahrung auch noch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts maßgeblich, u.a. wenn Carl Ludwig Fernow 1803 das Idealische beschwört, das der Künstler „nicht aus der Wirklichkeit entlehnt, sondern in seiner Einbildungskraft erzeugt.“258 Eine „wirkliche Landschaft“ (eine wahrscheinliche, gefilterte „wirkliche“) zu malen und vor allem auch mental zu erfassen oder gar zu erwandern ist
253
Wolfgang Wanko: „Über die Landschaft“, wie Anm. 248, S. 64.
254
Ebd., S. 66. Vgl. Werner Busch: Landschaftsmalerei, wie Anm. 223, S. 191:
„Die Institution Salon, die große, allerdings zuerst nur für Akademiemitglieder vorgesehene, zu Anfang jährliche, später (ab 1751) zweijährliche Kunstausstellung im Salon Carré des Louvre in Paris (daher der Name), existiert seit 1737.“ 255 Werner Busch: Landschaftsmalerei, wie ebd. 256 Ebd. 257 Ebd. 258
Carl Ludwig Fernow, Ueber die Landschaftsmalerei (1803), zit. n. Eck-
hard Lobsien: „Landschaft“, wie Anm. 250, S. 625f.
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dabei als moralisches Postulat erkennbar. Oder auch: „Ist die Illusion vollkommen, dann ist das Werk in der Lage, moralisch zu wirken, wie es der Kunst von Greuze und Vernet gelingt (nicht moralisch zu belehren, wie es das klassische Werk im diskursiven schrittweisen Nachvollzug der im Bild angelegten Argumentation will).“259 Sinnliche Erfahrung, künstlerische Ausführung, Imagination beim Betrachten und moralischer Impuls bedingen sich also. Diderot fordert eine moralische Kunst und wendet sich gegen die Affektiertheit und Koketterie des Adels, die sich – so wird die Argumentation entwickelt – besonders stark in der Malerei bei François Boucher niederschlägt. Gegen solcherlei Negativbeispiele wird nun als Ziel formuliert, „wirklichen Geschmack“ und „richtige Ideen“ mit der Kunst zum Ausdruck zu bringen. Über diese Rhetorik kommen auch in neuer Kontextualisierung Vorstellungen des Kunsttheoretikers André Félibien von decorum bzw. bienséance (Angemessenheit) mit auf, die sich sowohl auf die Bildgestaltung als auch das (soziale) Verhalten beziehen lassen und einen ganz spezifischen Kodex für das neue Bürgertum formen.260 Félibien will und kann die Landschaftsmalerei – anhand der Werke Poussins – nur aufwerten, indem die bienséance hervorgehoben wird, die in Form von Poussins auf der musikalischen Tonartenlehre basierenden Modus-Konzept das Bild bestimmt und als eine Art „Einstimmung“ fungiert, „die den rationalen Nachvollzug des Gezeigten in die richtige Richtung lenkt.“261 Für Diderot wird dann wie ein moralisches Gegenbild dazu mit Bouchers „lüsternen“ Schäferidyllen die ménage à trois zum Drohbild einer verkommenen Tugend,262 die sich auch farblich-stimmungsbetont ausdrückt und laut Diderot nur dazu geschaffen ist, „den Leuten von Welt und den Künstlern den Kopf zu verdrehen.“263 Einbildung, Einstimmung und Decorum sind Kategorien, die sich auf den Umgang der Betrachtenden mit den betrachteten Bildern beziehen und ästhetisches Erleben mit Moralvorstellungen koppeln. Entsprechend ist auch das ‚Dekor‘ von Räumen und Wänden alles andere als frei von Moral bzw. moralischen Anforderungen, auch dann, wenn es keine narrativ-fortlaufenden Geschichten erzählt, sondern nur scheinbar verziert und Flächen ausfüllt. Es ‚stimmt‘ sich vielmehr ein, (oder: an), als Teil einer Gesamtwirkung, wie auch der Blitz in
259
Vgl. Werner Busch: Landschaftsmalerei, wie Anm. 223, S. 193.
260
Zu Decorum, Angemessenheit, Tapetendekor und moralisierender
Literatur vgl. Jane Nardin: Those Elegant Decorums. The Concept of Propriety in Jane Austen’s Novels, New York: State Univ. of New York Press 1973. 261 Werner Busch: Landschaftsmalerei, wie Anm. 223, S. 152. 262
In Kap. 4 der vorliegenden Arbeit wird eine Dreiecksbeziehung bzw.
ménage à trois in der Dufour’schen Telemach-Tapete thematisiert. 263 Wolfgang Wanko: „Von der Veränderung eines Ideals“, wie Anm. 245, S. 73.
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der „Landschaft mit Pyramus und Thisbe“ Teil der Erzählung und Didaktik des Bildes wird und nicht nur ein Element der Farb- und Kompositionstechnik ist. Weiterhin ist das Verhältnis zwischen (Ein-)Stimmung und Musik keinesfalls singulär eine Aufgabenstellung der Komposition und harmonischen Wirkung bei Poussin, sondern wird vielmehr in den ästhetischen Schriften v.a. Schillers und Schlegels zu einem Schlüsselmoment und zu einer Grundlage des romantischen Denkens und Philosophierens: „Auch Schiller unterstellt die ‚Empfindungseinheit‘ des Landschaftsgemäldes den Gesetzen der Musik. Und diese Einheit wird bei August Wilhelm Schlegel zur Stimmung.“264 Solche Konzepte sind für das In-Beziehung-Setzen mit Bildtapeten zentral, und dass diese aus der Romantik und der Musik- und Empfindungstheorie stammenden Philosopheme in ihrer gesellschaftlichen Relevanz nicht weiter mit den Analysen der ‚pittoresken‘ Tapeten verknüpft worden sind, ist daher auch als eine große Forschungslücke zu bezeichnen. Um diesen Kreis der für Bildtapeten besonders prägenden Künstler zu erweitern, ist auch die Umformung der (idealen) Landschaft zur Ruinenlandschaft bei Hubert Robert (1733–1808) zu erwähnen.265 Diderot lobt in der Salonkritik von 1767 die Erhabenheit von Roberts Ruinendarstellungen und fordert sogar: „Man sage mir, wem diese Ruinen gehören, damit ich sie ihm stehle!“266 Mit Ruinen angereicherte Landschaften sind stark mit dem Aspekt des Sich-Erinnerns und Vergegenwärtigens von nicht mehr aktuellen Geschichts- und Lebensphasen verknüpft; eine vergangene Epoche erlangt eine Vorbildfunktion, die sich nicht nur in der schriftlichen literarischen oder philosophischen Form ausdrückt, sondern auch materialiter und gestaltungstechnisch in den Jetzt-Alltag eingeschlossen wird. Was als antik imaginiert und gestaltet wird, hat allerdings nicht mehr viel mit tatsächlichen Verhältnissen in der griechischen oder römischen Antike zu tun, sondern wird zu einem den herrschenden Bildungs- und Aufklärungsdiskurs stabilisierenden Faktor. Dieser orientiert sich an dem hohen Ideal einer Zeit, die man zwar verloren glaubte, die aber – gerade dadurch und erst recht – die Zeitgenossen zum Wieder-Aufrufen bestimmter Bilder und Ornamente anregen konnte.267
264
Eckhard Lobsien: „Landschaft“, wie Anm. 250, S. 628.
265
Leiss bemerkt in Bildtapeten zu der Tapete „Türkische Landschaft“ von
Dufour: „Hier wirken die Kupferstiche des Italieners Piranesi und die Ruinenlandschaften des Franzosen Hubert Robert (1733–1808) nach und sind als Vorbilder leicht festzustellen“, wie Anm. 42, S. 69. 266 Wie Anm. 263. 267
So schreibt Diderot:„Ruinen erwecken in mir erhabene Ideen. Alles
wird zunichte, alles verfällt, alles vergeht. Nur die Welt bleibt bestehen. Nur die Zeit dauert fort. Wie alt ist doch unsere Welt! … Wohin ich auch blicke, überall weisen
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Hubert Roberts Ruinenlandschaften, das neue Potenzial, das die Landschaftsmalerei in Wechselwirkung mit Gartengestaltungsprinzipien seit dem 18. Jahrhundert erhält, und die Antiken- und Archäologiebegeisterung, die v.a. durch die Ausgrabungen in Italien und durch Winckelmanns Schriften ausgelöst wird, bilden einen gemeinsamen Strang der ästhetisch-performativen Praxis, die man als „imaginative investment“268 – das subjektive Empfinden und (Weiter-)Imaginieren – bezeichnen kann. Die Ruinenlandschaften sind Ausdruck der Episteme des späten 18. Jahrhunderts und der Aufwertung subjektiver Empfindung, die beim Betrachten an die Stelle ontologischer Gewissheiten bzw. Vorgaben tritt, und letztlich Visualisierungen von scheinbar Vergangenem oder Verlorenem als potenzielle Quelle von (politischer, gesellschaftlicher) Neuproduktion. Gerade was man nicht sieht, kann von entscheidendem Interesse sein, da an diesem Punkt Imaginationen als selbst produzierte Inhalte hervorgebracht werden können, oder wie es Nina Dubin mit Rückgriff auf Diderots „Salon de 1767“ formuliert: „the field of the imagination is inversely proportioned to that of the eye.“269 Mit einer solchen Intensivierung der ganz individuellen Wahrnehmung und damit verbundenen Schulung der Verarbeitung von Sinneseindrücken ist das größere Feld der Wahrnehmungsästhetik und der Subjektivierungspolitiken des ausgehenden 18. Jahrhunderts betreten, das für die Untersuchung der Bildtapetenräume so wichtig ist. Wie oben im Zusammenhang mit den promenades du regard auf und durch Bildtapeten und mit der Entdeckungs- und Überraschungskomponente beim Spazierengehen schon festgestellt wurde, hat es nie – und erst recht nicht im 18. und 19. Jahrhundert – ein naives, respektive nicht in epistemische Beziehungsnetze eingebundenes Sich-Bewegen im Garten gegeben. Der Landschafts- bzw. gestaltete englische Garten war immer auch ein Erziehungsort und ein Ort, der Narrationen von Tugend, Geselligkeit, Partnersuche und Paarfindungen mitgestaltete.270 mich die Gegenstände, die mich umgeben, auf das Ende aller Dinge hin, und so finde ich mich mit dem Ende ab, das mich erwartet“, zit. n. Wolfgang Wanko, wie ebd., S. 74. Der Diskurs rund um Erhabenheit, v.a. bei Schiller, und um die eigene Vergänglichkeit und das verloren geglaubte „Goldene Zeitalter“ schlägt sich in den Arbeiten von Robert besonders nieder, vgl. vor allem Nina L. Dubin: Futures & Ruins: Eighteenth-Century Paris and the Art of Hubert Robert, Los Angeles: Getty Research Institute 2010. 268 Nina L. Dubin: wie ebd., S. 3. 269 Ebd., S. 13. 270 Wie sehr sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diese Narrationen veränderten und sich Ordnungen buchstäblich verwachsen haben, deutet Thümmler in Bezug auf Bildtapeten nach 1830 an: „Die Blumenbilder wuchsen langsam zu tropischen Landschaften und Gewächshäusern zusammen, die ihre
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Unter anderem hatte auch Claude-Henri Watelet in seinem „Essai sur les jardins“ die „Tugend des Gartens“ beschworen, und er beschreibt, wie Barbara Stafford feststellt, „the garden’s gratification of man’s wish ‚to be constantly enthralled‘ and of his search for a place ‚where his sensibilities are intensified.‘“271 Stafford unterstreicht insbesondere den Aspekt des mentalen Wanderns, des „arousal of a sequence of ideas that, by definition, flee from the object.“272 Dabei sollen die einzelnen Elemente des Gartens – Gartenbilder, Gartenarchitekturen, Wegesysteme, offene Flächen und Begrenzungen – hauptsächlich als Anlass und ursächlicher Reiz für die eigene ins potenziell unendlich Kreative tendierende Geistestätigkeit dienen, sodass die Imagination einen wichtigeren Stellenwert bekommt als die beschrittenen Gartenwege selbst. Bei diesem ästhetischen Postulat ist jedoch zu bedenken, dass es gesellschaftliche Voraussetzungen und dadurch Ausschlüsse impliziert, wie König spezifisch für den Spaziergang herausstellt, „denn der Spaziergänger wollte als Nicht-Arbeitender identifiziert werden, ohne als Müßiggänger und Zeitvergeuder zu gelten: Die Wende zum bürgerlichen Selbstbild kristallisierte sich heraus, dessen Pole Arbeit und Muße hießen.“273 Ein Spaziergänger zu sein, oder, allgemeiner, sich in die gesellschaftlichen Gepflogenheiten, Denksysteme und künstlerischen Praktiken und Theorien einzufinden, wie sie die Gartentheoretiker, Kunstkritiker und Philosophen in Gang brachten und erhielten, erforderte einen gewissen Spielraum innerhalb des zwischen Arbeit und familiären Aufgaben pendelnden Alltags. Einen solchen Spiel- oder Frei-Raum konnten untere, d.h. weniger privilegierte Gesellschaftsschichten (Bauern, Tagelöhner, Hausangestellte etc.) so gut wie nie aufbringen. König setzt sich mit den Ideen von K.G. Schelle auseinander, der 1802 in „Die Spatziergänge oder die Kunst spatzieren zu gehen“ ganz klar formuliert, dass die Praktik des Spazierengehens eine gesellschaftliche mit entsprechenden Anforderungen an das jeweilige Mitglied dieser Gesellschaft ist und somit kein unreflektiertes oder beiläufiges Naturerlebnis, und es
Schwüle einfingen und ihren adäquaten Ausdruck in den letzten Panoramatapeten wie ‚Eden‘ oder ‚Isola Bella‘ und den großen Salondekoren fanden, zu denen der ‚Jardin d’Armide‘ [aus der Manufaktur Desfossé von 1855] gehört“, siehe Sabine Thümmler: Die Geschichte der Tapete, wie Anm. 43, S. 127. 271
Zit. n. Barbara Maria Stafford in: Voyage into Substance: Art, Science,
Nature, and the Illustrated Travel Account, 1760–1840, Cambridge, Mass. u. a.: The MIT Press 1984, S. 22. 272 Ebd., 24. 273
Gudrun König: Eine Kulturgeschichte des Spaziergangs, wie Anm. 60, S. 28.
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„gehöre zum ‚guten Ton‘, sich dann einzufinden, wenn [der Garten] von der ‚geselligen Welt‘ besucht werde, damit ‚das Vergnügen des Lustwandlers darin ein gesellschaftlicher Genuss von Natur‘ sein könne. Sich dann einzufinden, wenn sich die ‚gesellige Welt‘ versammelt, setzte einen ähnlichen Lebensrhythmus und eine relativ freie Zeiteinteilung voraus. Exklusivität zeigte sich nicht nur in der Wahl des Ortes, sondern auch in der Verfügung über freie Zeit.“274 In dieser Zugehörigkeit zu einem exklusiven Gesellschaftsbereich trifft sich das Groß- und Bildungsbürgertum eher mit dem Adel als mit den um das tägliche Brot bemühten unteren Schichten. Dabei ist die gesellige Welt nicht nur Ziel- und Vergleichsgröße bei der Wahl von Ort, Zeit und Verhaltensmustern beim Spazierengehen, sondern darüber hinaus eine der wichtigsten Kategorien und Grundvoraussetzungen für die Selbstvergewisserung und die Ambitionen des sich ausdifferenzierenden Bürgertums schlechthin. Dies wird in der Schrift des Theologen und Philosophen Friedrich Schleiermacher275 von 1799 zum „Versuch einer Theorie des Geselligen Betragens“ besonders deutlich. Hier formuliert er ansatzweise – denn die Schrift ist Fragment geblieben – die Suche nach einem neuen Zustand, in dem eine freie Geselligkeit „von allen gebildeten Menschen“ gefordert wird und Geselligkeit mit Freiheit sowie mit der Zielgruppe des Bildungsbürgertums (dies war auch Schleiermachers Publikum während seiner Predigten und Vorlesungen) zusammen gedacht wird.276 Dieser Zustand sollte einer sein, „der die Sphäre eines Individui in die Lage bringt, dass sie von den Sphären Anderer so mannigfaltig als möglich durchschnitten werde, und jeder seiner eignen Grenzpunkte ihm die Aussicht in eine andere und fremde Welt gewähre, 274
Ebd., S. 40.
275
Schleiermacher war einer der einflussreichsten Theoretiker des 18. und
beginnenden 19. Jahrhunderts und sowohl der Aufklärung als auch der frühromantischen Gedankenwelt sehr nah. Er studierte Theologie an der Universität Halle und kam mit Christian Wolff – einem der führenden Aufklärer – und mit den Ansichten Kants in Berührung. Ab 1796 predigte er an der Charité in Berlin und lernte Friedrich Schlegel kennen; er verkehrte viel in literarischen Salons wie dem von Henriette Herz. Er lehrte ab1804 als Professor Theologie und übte als Prediger auf das gebildete Publikum einen starken Einfluss aus. Er sah die Bereiche Vernunft, Religion und Gefühlsausdruck als gleichwertig und zusammengehörig an, was in seinen Schriften deutlich wird und seine Vorstellung von idealer Geselligkeit prägt. Vgl. v.a.: Thomas Lehnerer: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, Stuttgart: Klett-Cotta 1987. 276 Wie Anm. 25, S. 65.
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sodass alle Erscheinungen der Menschheit ihm nach und nach bekannt, und auch die fremdesten Gemüter und Verhältnisse ihm befreundet und gleichsam nachbarlich werden können. Diese Aufgabe wird durch den freien Umgang vernünftiger, sich unter einander bildender Menschen gelöst [Hervorhebungen der Autorin].“277 Nur ein Zustand gewissermaßen außerhalb aller Zwänge kann etwas Neues aufkommen lassen, das dann alle zusammen, die sich einbringen, fruchtbar machen können. Er kann in den Sphären des Berufs und der Häuslichkeit nicht erreicht werden, denn dort herrschen Beschränkung und Einseitigkeit bzw. ein Mangel an der bisher schon in der Kunst- und Gartentheorie mehrfach benannten Mannigfaltigkeit. Schleiermacher spezifiziert diese Beschreibung noch dahingehend, dass hier der Mensch „ganz in der intellektuellen Welt“ wäre und sich „dem freien Spiel seiner Kräfte“ überlassen könne.278 Dies erinnert stark an Schillers Theorie vom Spiel als verbindendem Zustand von Vernunft und Empfinden und an das auch bei Kant und Schiller wichtige Vermitteln von bisher unvereinbar scheinenden Kräften. Jedoch sollten der fragmentarische Charakter des Textes und seine teils sehr vagen Formulierungen nicht darüber hinweg täuschen, dass sein Autor nichts Geringeres anstrebt als eine von der Sphäre des Hauses und des Geschäftlichen distanzierte weitere Ebene von Kommunikation und Austausch denkbar zu machen, die letztlich eine ganze Kultur und Seinsweise einer Individuum und Gesellschaft zusammenbringenden Bürgerlichkeit zum Ausdruck bringt.279 Er geht dabei ganz im Sinne der Aufklärungsdidaktik vor, wenn er zunächst auf über fünf Seiten erst einmal zu begründen versucht, warum eine Theorie der Geselligkeit dringend aufgestellt werden muss, sodass ein „wenigstens im Umriss vollendetes System des geselligen Betragens“280 sichtbar wird. Dabei stünde der Theoretiker „auf dem höchsten Standpunkt“, denn „er allein will das
277 Ebd. 278 Ebd., S. 66. 279 Vgl. den Online-Pressetext von Michael Welker, der Friedrich Schleiermacher gerade in seinem Gefühl und Vernunft vermittelnden Ansatz als „Denker über die Moderne hinaus“ beschreibt: „Komplexe oder signalträchtige Handlungen, die anziehend oder ansteckend wirken, die nicht nur einzelnen Menschen zugute kommen, sondern Zustände, ja sogar Weltzustände verändern, sind immer von Gefühlen getragen und begleitet“, Forschungsmagazin Ruperto Carola 3/97: http:// www.uni-heidelberg.de/uni/presse/RuCa3_97/welker.htm [zuletzt aufgerufen am 02.08.2013]. 280 Wie Anm. 278.
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gesellige Leben als ein Kunstwerk konstruieren.“281 Schleiermacher verdeutlicht so erstens, dass der Geselligkeit erst im und mit dem Theoretisieren zu einem Gedankenkonstrukt, dem dann die Praxis folgen kann und wird, eine „Stelle im System“ zugewiesen werden kann, und dass zweitens auf dem Feld der Geselligkeit nicht weniger eine theoretische Grundlage notwendig ist als auf dem der Sittlichkeit oder des Rechts.282 Da es dabei immer um die Schaffung und Gestaltung sozialer Räume geht, muss an den Berührungspunkten vom Individuum und dem „anderen“, mit dem es in Austausch tritt, gearbeitet werden. Es werden dafür Gesetze und Maxime herausgestellt – sicherlich besonders durch den Einfluss von Kant bedingt – , welche das Maß und die Gerichtetheit des Betragens von Subjekten in diesem Prozess des Austausches regeln sollen und weiterhin zum Nachdenken über die Frage anhalten, wie die „gemeinschaftliche Sphäre Aller“ bestimmt werden kann oder muss.283 Dabei kommt dem Auftreten des Einzelnen eine besondere Aufmerksamkeit zu, wenn es um die Bereiche von Schicklichkeit und Gewandtheit im Umgang miteinander geht. Indem zuallererst ein schicklicher Stoff gewählt und auch durch seine Manier und den guten Ton entsprechend vertreten wird, mit dem Ziel, „seine Individualität, seine Eigentümlichkeit“284 einzubringen – hierin stecken grundlegende Ansätze einer Subjekttheorie, die mit der Geselligkeitstheorie unweigerlich verbunden ist –, kann auch erst „der Charakter der Gesellschaft völlig ausgebildet werden.“285 Bei all diesen Reflexionen verbirgt Schleiermacher jedoch nicht, wie notwendigerweise unabgeschlossen sein Theorieentwurf eigentlich ist, der wie im Titel ja angekündigt nur einen Versuch darstellt, „die Sphäre der Gesellschaft zwischen den angegebenen Grenzen immer genauer zu bestimmen.“286 Für den Fortlauf der Überlegungen zu Bildtapeten-Räumen als Beziehungsräume ist dieser Theorieentwurf Schleiermachers außerordentlich wichtig, und so werde ich ihn weiterhin in seiner Gelenkfunktion für die drei Achsen von Natur und Naturalisierungen (sowie dem Spaziergang im Garten), Bildersequenzen und Panoramablick und der Theatralität des Alltags und der Bühne der Gesellschaft berücksichtigen. Doch vorerst sind zur ersten Achse noch Verbindungslinien im Netz von Gartengestaltung, Empfindungssteigerung und Geschlechterformung zu ziehen, wozu die Anlagen und Schriften von Louis Carmontelle weiterhelfen können.
281 Ebd., S. 68. 282 Ebd. 283 Ebd., S. 74. 284 Ebd. 285 Ebd., S. 78. 286 Ebd., S. 85.
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Der Wechsel von Bewegung/Sich-Bewegen innerhalb des Gartens und einem auf konkrete Punkte fokussierten Blick, das immer wieder von neuem stattfindende déplacement, geschieht geradezu exemplarisch in den sogenannten „magischen Kisten“, den Bewegtbildern von Carmontelle, der hiermit Versuche wagte, mechanisch Ansichten zu verändern. Carmontelles Ansichten des Parc de Monceau und seine dazu verfassten Texte sieht Monique Mosser zudem in drei Bildtapetenszenerien wieder auftauchen, in Jardins de Bagatelle (um 1805, unbekannte Manufaktur), in Château de Versailles (um 1825, Manufaktur Carré) und in Les Jardins français (um 1822, Manufaktur Zuber).287 Es ist sehr aufschlussreich, sich etwas genauer anzuschauen, wie Carmontelle seinen Park beschreibt. Er wird eigentlich zu einem Ort des Schauspiels umcodiert und soll durch die Augen von Malern gesehen werden, die ihn den Spaziergängern durch ihre Erfindungsgabe schrittweise zu enthüllen vermögen: „Parcourez avec eux [den Malern] la nature, ils vous arrêtent à chaque pas pour vous en faire observer les beautés. […] ils vous dévoilent l’espace […] transportons, dans nos Jardins, les changements de Scene des Opéra; faisons-y voir, en réalité, ce que les plus habiles Peintres pourroient y offrir en décorations, tous les temps & tous les lieux.“288 Die Natur wird somit zum Schauspiel, und zu einem von Malern gestalteten Ort, wie es auch bei Diderot zu genau dieser Zeit anklingt, der feststellte, dass es eben nicht mehr um Natur, sondern um Kunst gehe.289 Mitten hinein in diesen Komplex aus Gartengestaltung, Kunsttheorie und Landschaftsmalerei, wenn aus Elementen der Natur und ihres Bezugs zum Menschen eigentlich ein System zur Subjektformung und didaktischen Lenkung im menschlichen Miteinander wird, spielen nun auf einer weiteren Ebene die Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Carmontelle beschreibt besonders deutlich, wie sich in dieser kulissenhaften, von den großen Künstlern der Zeit überformten Parklandschaft Liebende zusammenfinden können, bis sich durch ihre Treffen der Ort und alle(s) darin Befindliche(n) zu einer großen Feierlichkeit zuspitzt:
287
Vgl. den Artikel von Monique Mosser: „Les Promenades du regard“,
wie Anm. 215. 288
Louis Carrogis Carmontelle: Jardin de Monceau, près de Paris, Appar-
tenant A Son Altesse Sérénissime Monseigneur Le Duc De Chartres. A Paris, M. DCC. LXXIX. (1779), Chapitre Premier, S. 3. Auch Henri Clouzot hatte im Hinblick auf panoramatische Tapeten von Theaterdekoren gesprochen. 289
Vgl. Wolfgang Wanko: „Über die Landschaft“, wie Anm. 248, hier S. 66.
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„Pour l’homme qui fait voir, tout est spectacle dans la nature, & le moindre objet détaillé devient pour lui une source de réflexions. [...] C’est donc à la campagne qu’on goûte mieux la douceur d’être ensemble, que l’on se connoît davantage, qu’on se choisit, & où se forment ces liaisons qui y renouvellent sans cesse les plaisirs [...] tout y devient fête.“290 Dieser Textausschnitt ist deshalb so erhellend, weil er zusammenfasst, wie die Vorstellungen eines (sich selbst) reflektierenden Beobachtersubjektes mit einer kraftvollen Imagination zusammen mit dem Begehren, in einer ländlichen Umgebung mit anderen (dem anderen Geschlecht) zusammen zu sein, zu einem Ort des Glücks verräumlicht werden. Dabei finden sich bezeichnenderweise auch gleich Paare zusammen, sodass eine gewisse Leichtigkeit und scheinbare Ausblendung von Arbeit und Sorge die Folge ist. Dabei wird betont, dass es um eine Feier und eine Inszenierung geht, sodass der Entwurf dieses Ortes nicht etwa mit einem politisch gedachten Programm verwechselt werden kann. Anhand der Zimmerbilder wurde bereits gezeigt, inwiefern das als unpolitisch, pittoresk oder dekorativ Markierte sehr wohl politisch wirksam sein kann und muss. Im Park Carmontelles soll letztlich versucht werden, den Frauen zu gefallen, denn sie sind es, die als Wonnen der Gesellschaft gelten. So wird der Garten zu einem Ort der Weiblich- und Männlichkeitsformung und der Einübung von Geschlechterrollen: „On s’occupe de plaire aux femmes; ce sont elles qui sont les délices de la société […] [Hervorhebung der Autorin].“291 Auch König spricht von einem Laufsteg, „wie er zur Erprobung kultureller und geschlechtsspezifischer Identität diente.“292 Interessanterweise nimmt Joseph Dufour in seiner Werbebroschüre zur Psyche-Tapete einen ganz ähnlichen Wortlaut wieder auf.293 Sowohl in der Selbstdarstellung einer Tapetenmanufaktur als auch dem Entwurf eines Parks zum gesellschaftlichen ‚Highlight‘ werden also mittels eingeübter und einzuübender Interaktionen im Garten bzw. Park und in Innenräumen Beziehungen zwischen den Geschlechtern hergestellt und bestätigt. Wie auch in Bezug auf Zimmerbilder festgestellt werden konnte, wird eine Kollektividentität gebildet, die sich bis in die kleinsten Winkel scheinbar privaten Lebens schiebt, und die
290 291
Louis Carrogis Carmontelle: Jardin de Monceau, wie Anm. 288. Ebd., S. 4.
292
Gudrun König: Eine Kulturgeschichte des Spaziergangs, wie Anm. 60,
S. 295. König stellt für das Spazierengehen fest: „Im Vertrag der Geschlechter war die Anwesenheit bürgerlicher Frauen auf der Promenade ein notwendiges Pendant zu ihrer eingeschränkten Bewegungsfreiheit im politisch-sozialen Raum“, S. 322. 293 Siehe Kap. 5.3.3 der vorliegenden Arbeit.
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auch wiederum bestimmte Codes für den kollektiven Umgang mit Liebe und Partnerschaft bereitstellt. Interaktionen wie die in Zimmerbildern des 18. und frühen 19. Jahrhunderts visualisierten, von Hubert Robert in antike Ruinenlandschaften hineinprojizierten und von Carmontelle am Beispiel des Monceau-Parks beschriebenen geben einen Einblick in das, was man als ‚Weltbild‘ einer spezifischen Zeit bezeichnen kann, und was auch in die Tapetenräume gleitet und von dort wieder nach draußen: „Was durch solche Interaktion zirkuliert wird, ist der in gemeinsamer Sprache, gemeinsamen Wissen und gemeinsamer Erinnerung kodierte und artikulierte kulturelle Sinn, d.h. der Vorrat gemeinsamer Werte, Erfahrungen, Erwartungen und Deutungen, der die ‚symbolische Sinnwelt‘ bzw. das ‚Weltbild‘ einer Gesellschaft bildet.“294 Bildtapeten wie die aus der Manufaktur Dufour nehmen Diskurse des späten 18. Jahrhunderts rund um Garten, Spazierengehen, Theater- bzw. Kulissenhaftigkeit und das Wirken einer an antike Didaktiken geknüpften individuellen Einbildungskraft in ihren Bildaufbau hinein und entfalten sie hinsichtlich ihrer medienspezifischen Potenzialitäten zusammen mit dem Raum und den BetrachterInnen. Dabei konnte nun die erste von drei Achsen, die dabei eine wichtige Rolle spielt, die der Natur und Naturalisierungen, etwas näher in ihrer Entwicklung im 18. Jahrhundert beleuchtet werden. Sie muss nun im Folgenden mit den beiden Achsen von Bildersequenzen und Panoramablick sowie Theatralität des Alltags und die Bühne der Gesellschaft verknüpft werden. Die Landschaft der Insel der Calypso auf Dufours Telemach-Tapete ist bspw. als ein Ort der antiken Formen des Bauens und Lebens gezeigt mit seinen Rundtempeln, Säulenhallen und in idyllischen Hainen tanzenden Grazien. Zugleich wird dieser aber mit den um 1800 modernen Ornamenten des Empire-Stils (Sphinxen, spezifische Dekore wie Eierstäbe, Rosetten etc.) und zudem seit dieser Zeit hochaktuellen Thematiken wie die der Reise und/oder Suche nach der Liebe und Partnerfindung nach der Auflösung höfischer und religiös begründeter Ehestandsreglements angereichert und so in seiner Aussage sehr moralisch.295 Dieser Ort ist also offensichtlich keine Idylle oder arkadische Landschaft in nuce mehr, aber auch keine Utopie oder Foucault’sche Heterotopie, da er nicht so ‚anders‘ ist, respektive kein strukturell völlig alternativer im Vergleich zu – wie auch immer 294 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, vgl. Anm. 210, S. 140. 295 Siehe die ausführliche Analyse der Tapete und ihrer Anbringungsformen und -orte in Kap. 4 der vorliegenden Arbeit.
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gearteten – ‚Normalorten‘. Der Ort in den Bildtapeten und seine Beziehung zu dem umgebenden Raum und den sich dort aufhaltenden Subjekten und ihrem Alltag ist viel stärker ideologisch und gesellschaftspolitisch mit anderen (realen und imaginierten) Orten wie dem Park von Monceau, dem Salon der Wittelsbacher Prinzessinnen, der Ruinenmalerei und realiter in Parks errichteten Pavillons und Treffpunkten verknüpft, als es zunächst den Anschein haben mag. Doch tapezierte Räume sind nicht hermetisch von einem außerhalb ihrer Welt stattfindenden Alltag getrennt – gerade weil sie Narrative entwickeln und eine Art Bühne inmitten zusammenhängender Kulissen sind, haben sie an letzterem Teil in einer bisher nicht annähernd profunde untersuchten dispositären Anordung, die keinesfalls hinter den Wänden des Raumes endet.
�.�.� Anordnungen im Raum, Anschließungen an die Gesellschaft: Bildersequenzen und Panorama-Blick als zweite Achse der Analyse von Bildtapetenräumen Wie gezeigt wurde, ist die subjektive Wahrnehmung von und das Sich-Auseinandersetzen mit idealen Landschaften in der Kunst an Konzepte von Imagination, Fantasie und Geschmack gekoppelt. Aufgrund der eigenen Einbildungskraft wird immer zunächst eine Auswahl im Kopf getroffen, die erst die Voraussetzung zu jeder (künstlerischen, gesellschaftlich weiter entwickelten) Produktion und Weiterpoduktion bildet. Die ‚Landschaft‘ ist so eigentlich eine ästhetische Idee einer Landschaft und keine rein malerisch-kompositionelle Aufgabe mehr. Entsprechend heißt es auch in Kants Kritik der Urteilskraft, es hafte „der Geschmack […] an den eigentlichen Phantasieen, womit sich das Gemüth unterhält, indessen dass es durch die Mannigfaltigkeit, auf die das Auge stößt, continuirlich erweckt wird.“ Dieser Fingerzeig, Landschaft als ästhetische Idee zu begreifen, findet sich zudem auch in Schillers Rezension „Über Matthissons Gedichte“ (1794).296
296 Eckhard Lobsien: „Landschaft“, wie Anm. 250, S. 632. Siehe Schillers „Über Matthissons Gedichte“ in: Rolf-Peter Janz (Hg.): Schiller – Theoretische Schriften, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 2008, S. 1016–1037, insbes. S. 1026 und 1027: „Die landschaftliche Natur ist ein auf einmal gegebenes Ganzes von Erscheinungen, und in dieser Hinsicht dem Maler günstiger, sie ist aber dabei auch ein sukzessiv gegebenes Ganzes, weil sie in einem beständigen Wechsel ist, und begünstigt in sofern den Dichter.“
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Die Gestaltung der eigenen Wände und das damit in den begeh- und bewohnbaren Raum implementierte Programm folgt nun dieser in Garten- und Kunsttheorie vorbereiteten Verknüpfung von Einbildungskraft mit einer neuen „Art der Konstitution von Subjektivität im Medium von ‚Bildern‘ bzw. Texten“,297 wie auch ein sich in den tapezierten Innenräumen aufhaltendes Subjekt, „dem eine kreative Einbildungskraft zugeschrieben wird“,298 zu einem „sich auf imaginäre ‚Bilder‘ beziehendes“299 wird. Dessen Fähigkeit zur kreativen Gestaltung der eigenen Innenräumlichkeiten ist also mit der Imaginationsfähigkeit, die wiederum mit den Tapeten- und Ornamentbildern interagiert, zusammen zu denken, wenn von einem Sich-in-Beziehung-Setzen mit Bildtapeten die Rede ist. Dabei läuft dieser Imaginations- und Gestaltungsprozess auch im Sinne einer moralischen Erziehung ab, die diskursiv entsteht und nicht etwa von einer definierten Stelle oder Person diktiert wird. Sie hebt auf eine „logische Anbindung des Mannigfaltigen“300 ab, denn die Anordnungen im Raum und in der subjektiven Imagination dürfen nicht etwa völlig ungeordnet und willkürlich durcheinander laufen und sich in einem Wirrwarr der Bilder und Konzepte verlieren. Sie geschehen, ganz im Gegenteil, „nie ohne Regel, der sich in schnellen Momenten selbst unser bedrohtes Auge nicht entziehet.“301 Es findet also ein Mannigfaltigkeits- und „Phantasiemanagement“302 statt, indem zwar die Vielfalt und die Imagination gefeiert wird, sie aber letztlich auch organisiert und bereinigt sein soll, was sich exemplarisch in der klassizistischen Formenstrenge und Symmetrie der Dufour’schen Bildtapeten und der Ordnung in ihren Bildern wiederfindet, die ja trotz ihrer fortlaufenden Szenerie und dominanten Präsenz im Zimmer alles andere als sinnesverwirrend sind.303 Die in der Manufaktur als durchgängige Szenerie gedruckten Tapeten bieten den KäuferInnen für die konkrete Anbringung und Raumnutzung vielfältige Möglichkeiten. Gerade die Tatsache, dass die Tapetenbahnen voneinander getrennt und auch an ungewöhnlichen Stellen der Wand und des Zimmers
297
Jochen Schulte-Sasse: „Einbildungskraft/Imagination“, in: ÄGB, wie
Anm. 250, Band 2, S. 88–120, hier S. 92. 298 Ebd. 299 Ebd., S. 93. 300 Ebd., in Bezug auf Kant, S. 107. 301 Ebd., in Bezug auf Herders „Kalligone“, S. 108. 302 Ebd., S. 109. 303
Zur Verknüpfung von diesen Überlegungen mit einrichtungsspezifi-
schen Textstellen aus dem Journal des Luxus und der Moden siehe auch: Katharina Eck: „Donnant Naissance à la Volupté: Die Amor und Psyche-Tapetenszenen in (kon-) textuellen Ordnungen des Einrichtens um 1800“, in: Barbara von Orelli-Messerli (Hg.): Ein Dialog der Künste, wie Anm. 1, S. 39–53.
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angebracht werden können, und dass sogar Bahnen unterschiedlicher Tapeten und darüber hinaus auch andere Formen und Materialien der Wandgestaltung – wie sie in diesem Kapitel bereits als ‚Wanderungen‘ im Innenraum besprochen worden sind – miteinander kombiniert werden können, macht den Reiz dieses Mediums aus. Statt einheitlicher Dekore können also Fragmente bzw. Fragmentierungen von visualisierten Inhalten entstehen; und auch diese Form der ästhetischen Idee von Landschaft ist durch eine prinzipielle Deutungsoffenheit charakterisiert bzw. bietet neben der ‚Hauptidee‘ – sei es z.B. die Insel der Calypso oder Amors Palast – neue und andere Deutungsmöglichkeiten. Es soll mithin Aufgabe und Ziel der folgenden Kapitel sein, diese sowohl in der Anordnung an Beispielorten – als sich formierende Displays304 – als auch in den Details der Tapetenszenen aufzuspüren und auch ihrer prinzipiellen Unabgeschlossenheit gegenüber offen zu bleiben. Schließlich haben auch Schriftstellerphilosophen wie Novalis und Schelling, Wegbereiter und Theoretiker der Romantik,305 das Unabgeschlossene und Fragmentarische zum Leitbild ihrer Zeit und ihres Denkens gemacht. Es schlägt sich auch in der Theorie und der immer wieder neu arrangierten Visualisierung von Ruinen nieder, die wiederum dieses Leitbild in den einzelnen Bildern, Beschreibungen und Kompositionen aufrufen. Besonders in Notizen von Novalis zum Essay „Über Landschaftsmalerey“ treten Gemeinsamkeiten dieses Fragmente-Konzeptes mit den Bildtapeten-Elementen zutage: „Landschaften – Oberflächen – Structuren – Architektonische. HöhlenLandschaften. Atmosphären, Wolken-Landschaften. Die ganze Landschaft soll Ein Individuum bilden – Vegetation und unorganische Natur – Flüssige, Feste – Männliche – Weibliche. geognostische Landschaften. NaturVariationen.“306
304
Vgl. die Ausführungen in der Einleitung.
305
Schelling und Schleiermacher haben sich ebenfalls stark gegensei-
tig beeinflusst, sie haben in Schleiermachers Dienstwohnung zusammen gewohnt und sich dort ihrem „Symphilosophieren“ gewidmet. Beide waren Verfechter des frühromantischen Denkens und stuften entsprechend das gesellige Verhalten bzw. Verhalten in der Gesellschaft als Kunst und als literarisch zu behandelndes Thema ein. Sie strebten danach, aus der Erforschung der mannigfaltigen Gegenstände und Stoffe eine Synthese mit wiederum potenziell unendlicher Fortwirkung abzuleiten. Vgl. die Anmerkungen von Andreas Arndt in Friedrich Schleiermacher – Schriften, sowie: Ders. (Hg.): Wissenschaft und Geselligkeit, Berlin u. a.: De Gruyter 2009. 306 Zit. n. Novalis: „Studien zur Bildenden Kunst: Antiken“, Fragment 476 (1798): Eckhard Lobsien: „Landschaft“, wie Anm. 250, S. 633.
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Die Variationen und ihre eher momentanen Manifestationen sollen „ein Individuum bilden“, sie bilden eine Ganzheit, die sich aber jederzeit wieder ändern kann und die sich auch je nach Blickpunkt anders und neu formt.307 Die Art des Be-Schreibens, das récit, spiegelt dabei formal das, was thematisiert wird, das Fragment, das Ruinöse, das Spontane und noch zu Ergänzende. Es ist kein Zufall, dass der Text sich aus auffällig vielen Gedankenstrichen und eher Stichworten denn ganzen Sätzen zusammensetzt. Besonders bei Schlegel wird das Fragmentierte, Überraschende, Frappante in einem Aufsatz von 1797 zur übergeordneten Denkfigur und löst die nun bald überkommene Vorstellung des Gleichbleibend-Idyllischen ab,308 ohne dass es jedoch deshalb keine Ord-
307
Das Stoffliche, sich Formende und Verändernde, das in diesem Zitat
steckt, verweist auf das große, für die Frühromantik und insbesondere Novalis bedeutsame Gebiet der Chemie und der Stoffanalyse. „Novalis verstand diese eminent aktive, experimentelle Wissenschaft Chemie als Vorbild, nicht nur für die experimentelle Naturforschung, sondern auch für die Poetik, Philologie und Philosophie“, und ergänzend möchte man sagen, ist das Experimentelle auch maßgeblich für das Sich-Entwerfen von Subjekten im (tapezierten, dekorierten) Innenraum. Ursula Klein: „Der Chemiekult der Frühromantik“, in: Andreas Arndt (Hg.): Wissenschaft und Geselligkeit, wie Anm. 305, S. 67–92, hier S. 79. Auch für den Komplex der Geschlechterauffassungen und -zuschreibungen ist der aus der Chemie abgeleitete Umgang mit den Stoffen hochinteressant; allein die Wortwahl von Novalis ist vielsagend: „Um einen Gegenstand wahrzunehmen, muss ich ihn erst essen, und mich dann mit ihm begatten, dann ihn als Keim setzen, ihn befruchten, selbst empfangen und gebähren“, dazu stellt Klein fest: „Der chemische Experimentalstil implizierte die explorierende, tätige Auseinandersetzung mit materiellen Gegenständen ebenso wie die kontinuierliche Ausweitung auf neue Gegenstände, aus der empirisches Wissen über eine große Vielfalt von Gegenständen resultierte“, siehe ebd., S. 80. In diesem Stil und der Wortwahl verbinden sich zunächst die Mannigfaltigkeit der Gegenstände sowie das Experiment in und mit der Materie bzw. dem Stofflichen, um daraufhin auch auf etwas Sexuelles, auf eine Begehrensstruktur zu kommen, die auf Reproduktion und Neuerschaffung wie auch Vervielfältigung und Umwandlung abhebt. Letztere steht v.a. in Goethes „Wahlverwandtschaften“ – hier in poetisierter Form – im Fokus. Damit gelangt man bereits in den Bereich der Familien- und Geschlechterideologie, der in den nächsten Kapiteln von Interesse ist. 308
Vgl. Friedrich Schlegel: Über das Studium der griechischen Poesie, KA
Band I/1, hg. von Ernst Behler, Paderborn: Schöningh 1979, S. 228; v.a. die Ausführungen zur Absetzung der neuen (romantischen) Dichtung von der antiken griechischen, deren Schönheit uneinholbar sei. Nun gelte jedoch „[f]erner das totale Übergewicht des Charakteristischen, Individuellen und Interessanten in der ganzen Masse der modernen Poesie, vorzüglich aber in den spätern Zeitaltern. Endlich das rastlose unersättliche Streben nach dem Neuen, Piquanten und Frappanten, bei dem dennoch die Sehnsucht unbefriedigt bleibt.“ Trotz Schlegels gespaltenen Verhältnisses zu diesem „Piquanten“ und „Frappanten“ klingt hier schon seine gleichzeitige Faszination für das Innovationspotenzial einer solchen neuen Sprache an.
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Abb. 10 Tapetenansicht: „Die Reisen des Anthenor“, Manufaktur Dufour, Musikzimmer im Schloss Fasanerie bei Fulda, um 1825.
nung oder keine idyllischen Landschaftsvisualisierungen wie auch in den Bildtapeten mehr gäbe. Es ist nur ein neues ästhetisches Postulat erkennbar, das sich gerade in der Garten- und Landschaftstheorie abgezeichnet hatte und nun weitere Bereiche des Lebens und der darin stattfindenden Beziehungsgeflechte erreicht und in unterschiedlicher Form und Intensität durchdringt. Die Figur des Unabgeschlossenen schlechthin ist zudem die Arabeske; sie flankiert und kommentiert (gerade auch als beliebtes Wanddekor und eigenes Tapetengenre) durchaus auch Bildtapetenszenen, und sie kann zur Dynamisierung der Räume beitragen, die nun keine wie selbstverständlich panoramatischen oder idyllisch-vereinheitlichten Räume mehr sind und statt dessen eine Auswahl, Deutungsoffenheit und Fragmente oder Teil-Bilder zum In-Beziehung-Setzen anbieten.309 309
Zur Funktion der Kommentierung und Dynamisierung von Bild-Ara-
besken-Kombinationen in Tapeten siehe das Kap. 3.2 der vorliegenden Arbeit. Angela Borchert setzt sich intensiv mit dem Arabeskgrotesken im Interieur ausei-
132
�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
Abb. 11 Tapetenansicht: „Monuments de Paris“, Manufaktur Dufour, Pariser Zimmer im Schloss Weilburg, Hessen, um 1812–14.
Die potenziellen Anbringungen der Tapetenszenen orientieren sich also nicht zwangsläufig an einer umfassenden Panoramawirkung, denn es sind sowohl Auslassungen und Neukombinationen als auch Unterbrechungen oder Hinzufügungen in diesem Anordnungsgefüge möglich. Der Beispiele gibt es viele, doch seien hier zunächst drei in der Denkmalpflege bereits bekannte bzw. restaurierte erwähnt, um einen ersten Eindruck zu geben: Die Dufour-Tapete „Les Voyages d’Anthenor“ im Schloss Fasanerie bei Fulda ist zwar in der gedruckten Reihenfolge zu sehen, jedoch wird die visuelle Brückenfunktion einer in den Fluss gesetzen Thronsaal-Bühnen-Brücke zwischen den Figurengruppen beim Boot und bei einer Schaukel aufgegeben – es erscheinen hier nun ein Kamin und ein gemaltes Portrait dazwischen, und zudem setzt auch der gemauerte Wandabschnitt eine weitere Zäsur. [Abb. 10] Die „Monuments de Paris“, ebenfalls von Dufour, sind in Schloss Weilburg indes gar nicht mehr als ein durchgängiges Bild visualisiert, sondern als einzelne in papierne Rahmen gesetzte Panneaux, in deren Reihung der über einen Kamin platzierte großformatige Spiegel mit dem Spiegelbild eines Teils der Tapete wiederum selbst wie eines der Panneaux wirkt und sich trotz der Brechung der Gesamtansicht in die Wandgestaltung einfügt. [Abb. 11]
nander und stellt fest: die „Spezialfähigkeiten des Arabeskgrotesken haben eine wahrnehmungs- und vermögensästhetische Voraussetzung, welche die Kunst- und Literaturtheoretiker um 1800 in ihren Schriften immer wieder betonen. Es ist die wahrnehmungsästhetische Fähigkeit des ‚frei hin- und her schweifende[n] Auge[s]‘ zu einem zerstreuten Sehen, ‚im Vorübergehen‘ […]. Und es ist die vermögensästhetische Fähigkeit der ‚ungebunden spielende[n] Phantasie‘ […]. Diese Fähigkeiten dürften die Grundlage für die Konjunktur der Arabeskgroteske um 1800 sowohl in der Alltagsästhetik – wie beispielsweise bei der Tapete – als auch in Kunst, Literatur und Theorie bilden.“ Wie Anm. 131, S. 207f.
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Tapezierte Liebes — Reisen
Auch die sepiagetönten Szenen der „Fêtes de la Grèce et Jeux Olympiques“ von Dufour in einem Herrenhaus in Rüdigsdorf bei Kohren-Salis sind panneauxartig über die Wand verteilt, doch überwiegt hier in der Gesamtanordnung des Raumes der Eindruck von Plastizität, und die einzelnen Elemente – ob Tempel oder sich neigende Palme – erfahren in ihrer Trennung bzw. Absetzung voneinander eine besondere Aufmerksamkeit. Inmitten der Szenen ist die Skulptur eines Jünglings auf einen Sockel und vor die Ofennische gesetzt und nimmt die in der Tapete visualisierten Statuen noch einmal explizit in den Raum hinein; die Wölbung der Nische korrespondiert mit den ebenfalls gewölbten Supraporten, aus denen kleine Amphoren und Trinkgefäße hervorzuragen scheinen, die das Thema der Festlichkeiten und Sportivitäten an das häuslicher (Trink-)Gesellschaften anbinden. Hier ist in keinem der Fälle mehr ein durchgängiges respektive ‚ungestörtes‘ Panorama gegeben; oft werden Ausschnitte so von Türen, Fenstern, Gemälden, Nischen u.ä. begrenzt und definiert, dass sich Bedeutungen, die von den Tapetenszenen mitproduziert werden, gerade erst in dieser Raumkonstellation ergeben oder sie auch wechseln und überraschen können. Dennoch bleiben die Begeisterung der Forschung über die in die eigene Wohnung geholten Panoramen und die Vergleichsmomente mit den großen Jahrmarktpanoramen unwidersprochen. Ausgehend von der Theorie des Panoramas von Robert Fulton310 wird konstatiert, dass sich in der Rotunde eines solchen öffentlichen Panoramas ein bildliches Kontinuum bilde, das eine Wahrnehmung des sonstigen Innenraums oder der Architektur, in der man sich befindet, ausblende, und dass sich so ein „utopischer Raum“ formiere.311 Die Panoramatapeten wären nun als eine Art „domestiziertes Panorama“312 zu interpretieren, doch gerade dies scheint bei einer genauen Betrachtung ihrer Anbringungs- und Wirkungspotenzialitäten gerade fraglich zu sein. Nouvel-Kammerer betont ganz ähnlich die Rundum-Fiktion, die durch die Bild-(Panorama-)Tapeten entstehe, bis dass „le point de séparation des fictions aux réalités“313 nicht mehr auszumachen sei. Sie vergleicht, die Form der Rotunde der Panoramen vor Augen, den tapezierten Raum mit einer Insel und einem Zentrum der Welt, das ein Ausgangspunkt für Weltreisen wird:
310
Betje Black Klier: „Die Bonapartist Utopia-Bildtapete. Zur Verschrän-
kung von Alltagsgeschichte, Literatur und französischer (Kolonial-)Politik in Alabama und Texas“, in: Katharina Eck und Astrid Silvia Schönhagen (Hgg.): Interieur und Bildtapete, wie Anm. 17, S. 151–177. 311 François Robichon: „From Panoramas to Panoramic Wallpaper“, wie Anm. 22, hier S. 168. 312 Ebd., S. 177. 313 Odile Nouvel-Kammerer: „Les Thèmes d’une Nouvelle Philosophie du Quotidien“, wie Anm. 161, hier S. 112.
134
�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
„Seule la conception circulaire, fermée, des papiers peints panoramiques pouvait traduire et provoquer cette subtile expérience de l’île. Le décor mural prend ici une dimension existentielle: la pièce est l’île, le havre de paix, le centre du monde d’où l’on voit défiler la tierre entière.“314 Während diese Sichtweise sehr essentialistisch anmutet, was sich sicherlich durch die Verkettung von Tapetenszenen, friedlichem Hafen, Panorama und Rousseaus Poesie, auf die Bezug genommen wird, ergibt, ist es jedoch spannend und auch hilfreich, sich in dem Punkt mit dem (Jahrmarkt-)Panorama auseinanderzusetzen, der auf eine neue Wahrnehmungsweise des 19. Jahrhunderts abhebt. An diesem Punkt sind Bildtapetenräume durchaus als Nachfolge-Anordnungen der Panoramen kategorisierbar. Jonathan Crary betont in Abhebung zum Prinzip der camera obscura, wie seit Goethes Farbenlehre 1810 immer mehr die Körperlichkeit des Betrachtenden in die Wahrnehmung und deren Verarbeitung hineinspielt: „The corporeal subjectivity of the observer, which was a priori excluded from the concept of the camera obscura, suddenly becomes the site on which an observer is possible“, und er räsonniert: „The human body […] becomes the active producer of optical experience.“315 Gerade wenn der verkörperte Blick in seinen Bewegungen und Reaktionen beim Erfassen ganzer Wände und Räume an eine andere Zeitlichkeit gebunden ist als beim Erfassen eines Einzelbildes, kann der menschliche Körper nach Crary als ein neuer Wahrnehmungsapparat gelten und somit das Subjekt sowohl ein Empfänger als auch Produzent des Wahrgenommenen werden, schließlich ist sogar „space itself […] a function of our brain“,316 und die Panoramen konnten so als „Schulungsstätten der modernen Apperzeptionsfähigkeit“317 dienen. Auch in Bildtapetenräumen, die nicht durch ununterbrochene Bildszenen und ansonsten verdunkelte Architekturen geprägt sind und durch die Teilhabe an einem Alltag, der sich darin täglich abspielt, auch ganz anders mit den Subjekten interagieren – bzw. diese mit ihnen – werden Wahrnehmungsschemata und -abläufe trainiert. Dabei sollte man sich aber auch des Unterschiedes zwischen dem anthropologisch-philosophischen Anspruch der Zeit (Totalität der Welterfassung, Übersicht und Beherrschung, Perfektionierung, Gerechtig-
314 Ebd. 315 Jonathan Crary: Techniques of the Observer, wie Anm. 141, S. 69. 316 Ebd., S. 75. 317 Albrecht Koschorke: „Das Panorama: die Anfänge der modernen Sensomotorik um 1800“, in: Harro Segeberg (Hg.): Die Mobilisierung des Sehens: zur Vorund Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst, München: Fink 1996, S. 147–168, hier S. 165.
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Tapezierte Liebes — Reisen
keitsstreben) und dem, was in Zwischen-Räumen, in Winkeln des Alltags, im täglichen Aufführen praktiziert und weitergetragen wird, bewusst sein, auch wenn sich beide Bereiche durchaus berühren. In Politiken des Gartens, des Dekors, der Häuslichkeit (wie im Klavierspielen, in den Fenster- und Bücherrastern) sind immer wieder Widersprüchlichkeiten zu entdecken. So gibt es bspw. Fenster, die statt in ein klar vom Innen abgrenzbares Draußen nur wieder auf Wände und Raster und letztlich in den Innenraum zurückführen, oder die einen ähnlich geometrisierten Außen- wie Innenbereich miteinander koppeln und zu einem Gefüge machen. Ebenso, wie ein Fenster im Zimmerbild vielleicht gerade nicht nach draußen und in eine ganz anders gestaltete Raumstruktur verweist, gibt eine Bildtapetenszene auch nicht zwangsläufig ein Panorama wieder. Das Potenzial der Anschließungen an die Gesellschaft und das, was sie charakterisiert und erst eigentlich formt, das in und mit den Bild-Panorama-Anordnungen freigesetzt wird, lässt sich am besten erfassen, wenn diese nicht unter der Voraussetzung von festgesetzten Kategorien wie „Panorama“, „Ideallandschaft“ oder „sichere Insel“ untersucht werden, sondern eher als Felder, die im Zusammenwirken eine gewisse Dynamik entfalten. „Felder sind unabgeschlossene und dynamische Gebilde, die sich insgesamt und auch in allen ihren Elementen ändern, sobald sich einzelne Elemente oder deren Positionen ändern.“318 Die in dieser Arbeit untersuchten, durch spezifische Narrative literarisierten Räume waren nicht zuletzt auch als Treffpunkt und als Geselligkeitsraum geschaffen. Hier hilft Schleiermachers Geselligkeitstheorie in einer Art Gelenkfunktion319 dabei, die Anschlüsse der so gestalteten Räume an Praktiken im Garten, im Interieur und im menschlichen Miteinander allgemein herauszustellen und die ästhetischen und alltagspraktischen Prämissen, die er selbst als untrennbar verstanden hat, nicht zu vernachlässigen. Ein auf den ersten Blick privater Raum wird so durchaus zu einem öffentlichen bzw. changiert zwischen diesen vermeintlichen Polen des Öffentlichen und Priva-
318
Eckhard Lobsien: „Landschaft“, wie Anm. 250, S. 623, hier auf Bourdi-
eu und dessen theoretische Ansätze in „Quelques propriétés des champs“ von 1976 referierend. 319
Das oben herausgehobene Experimentieren, das ein für die Frühro-
mantik so bedeutsames Merkmal ist, zeigt sich auch in poetologischen und philosophischen Kurztexten wie Schleiermachers „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“. Das Experimentelle eines Essays oder Versuchs ist auch in Schlegels Poetik und dessen ars combinatoria fest als Grundprinzip verankert und kann letztlich als „thoroughly chemical combinatorics“ gesehen bzw. gelesen werden. Siehe Michel Chaouli: „The Laboratory of Poetry. Chemistry and Poetics in the Work of Friedrich Schlegel“, zit n. Ursula Klein: „Der Chemiekult der Frühromantik“, wie Anm. 307, S. 83.
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�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
ten. So bekommen diese Räume sowohl ein erweitertes Bedeutungspotenzial als semiotische Systeme als auch ein Handlungspotenzial als Mitproduzenten gesellschaftlicher Werte und Orientierung, das ihnen bisher noch nicht voll zuerkannt worden ist.
�.� Joseph Dufours Bildtapetenprogramme Die französischen Bildtapeten des frühen 19. Jahrhunderts waren, wie schon herausgestellt werden konnte, im Hinblick auf die Organisation und Kunstfertigkeit der Herstellung und die internationale Verbreitung und Nutzung zweifellos der Höhepunkt der Tapetenproduktion. Neben der Rixheimer Manufaktur Zuber & Cie war die Manufaktur von Joseph Dufour (1754–1827) eine der erfolgreichsten überhaupt auf diesem Gebiet und konnte zwischen etwa 1806 und den 1830er Jahren zahlreiche Tapeten herstellen und verkaufen. Aufgrund der im besten Fall immer noch unvollständigen und oft auch komplett fehlenden Dokumentation zu den Bedingungen der Arbeit in der Manufaktur, ihren Mitarbeitern und den konkreten Hintergründen zu den Bestellungen und Auslieferungen320 ist es zwar schwierig, für eine Überblicks-Geschichte und für einzelne Stufen in Produktion und Vertrieb verbürgte Fakten oder Zahlen anzugeben, jedoch sind einige Materialien im „Centre de documentation Joseph Dufour“321 in dessen Geburtsort Tramayes archiviert. Zudem ist jüngst die bisher erste umfangreichere Darstellung von Dufours Werdegang und Unternehmen in Form eines Tagungsbandes zu den „Journées d’études Joseph Dufour“ erschienen.322 Die bisherigen Informationen aus der Forschung und Denkmalpflege lassen erkennen, dass Dufours eigentlicher Erfolg als Bildtapetenhersteller begann, als er 1806 mit Les Sauvages de la Mer Pacifique bei
320
Vgl. Odile Nouvel-Kammerer zu den fehlenden Informationen in Be-
zug auf die Bildtapeten-Manufakturen: „La Logique du Silence“, in: Papiers Peints Panoramiques, wie Anm. 22, S. 13–35, hier S. 15: „Silence sur la mise au point de la conception, anonymat absolu des artistes et, la plupart du temps, absence de mention du nom de la manufacture qui, curieusement, ne revendique pas la propriété de sa production.“ 321 Das Centre arbeitet eng mit dem Musée du Papier Peint in Rixheim zusammen. 322 Dies ist der von Bernard Jacqué und Georgette Pastiaux-Thiriat bzw. dem Centre gemeinsam herausgegebene Band Joseph Dufour: Manufacturier de Papier Peint, wie Anm. 14.
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Tapezierte Liebes — Reisen
der großen Industrieausstellung in Paris punkten konnte323 und daraufhin nach Paris ging und seine Kontakte im industriellen Kerngebiet Faubourg Saint-Antoine nutzte.324 Er muss ca. 150–200 Mitarbeiter beschäftigt haben325 und gab sein Unternehmen 1822/23 an den Schwiegersohn Amable Leroy ab, der es dann erfolgreich unter dem Doppelnamen „Dufour & Leroy“ bis zu seinem Tod weiterführte.326 In dieser Zeit entstanden weiterhin hochqualitative Bildtapeten wie Paul et Virginie. Von allen Ländern und Regionen, in die französische Bildtapeten erfolgreich exportiert wurden – darunter auch Schweden, England, Italien und die Schweiz sowie Nordamerika – kann Deutschland als besonders bedeutend gelten. Hier finden sich nach wie vor noch Exemplare, die freilich oftmals nach Kriegsende 1945 zunächst verschollen waren und sich danach leider in keinem guten Zustand mehr befanden, die aber mit Beginn des 21. Jahrhunderts auf zunehmendes Interesse und auch denkmalpflegerischen Schutz und Restaurierung stoßen,327 sowie hin und wieder sogar sehr gut erhaltene in situ-Räume, die auch teilweise der Öffentlichkeit zugänglich sind. Die Wertschätzung, die diese Tapeten in Deutschland nach 1800 erfuhren, hängt auch mit dem kulturellen Kontext deutsch-französischer Beziehungen zusammen.328 Es ist also sehr ergie-
323
In den Notices sur les Objets Envoyés à l’Exposition des Produits de l’Indus-
trie Francaise (rédigées et imprimées par ordre de S.E.M. de Champagny), Paris 1806, heißt es: „Monsieur Joseph Dufour de Mâcon […] a expédié de nouvelles tentures dont les sujets tirés de voyages de capitaine Cook sont peut-être ce que l’art a produit de plus curieux en ce genre.“ 324
Vgl. zuletzt im Tagungsband Joseph Dufour: Manufacturier de Papier Peint,
wie Anm. 14, die „Introduction“, S. 10, sowie den Beitrag von Christine Velut, wie Anm. 91, S. 53. 325
Siehe Josef Leiss: Bildtapeten, wie Anm. 42, S. 42: „Nach der Häufigkeit,
mit der die Bildtapeten aus der Firma Dufour seit 1806 hervorgingen, ist anzunehmen, dass der Betrieb mindestens 150–200 Arbeiter beschäftigte.“ 326 Vgl. ebd., S. 41. 327
Zuletzt die Bände Papiertapeten – Bestände, Erhaltung, Restaurierung,
wie Anm. 37; New Discoveries – New Research, wie Anm. 125; sowie Tapeten – Wände sprechen Bände, wie Anm. 37. 328
Vgl. Christine Velut: „Der Papiertapetenhandel zwischen Frankreich und
den deutschsprachigen Ländern im 18. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts“, in: Papiertapeten – Bestände, Erhaltung, Restaurierung, wie Anm. 37, S. 26–40, hier S. 27: „Die Qualität der Handelsnetze, die schrittweise in verschiedenen deutschen Städten etabliert wurden, erklärt nicht allein die Dominanz der gedruckten Papiertapeten von Pariser Manufakturen. Auch die Pariser Mode und Herstellungsweise setzen sich bei den deutschen Kunden durch, die sich an dem neuen Stil orientierten. Dieser Einfluss, der sowohl anhand der Auswahl der Motive als auch der Art der Anbringung deutlich wird, steht im Einklang mit einem viel größeren Kontext eines intensiven kulturellen und künstlerischen Austauschs zwischen Frankreich und Deutschland in dieser Zeit.“
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�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
big, sich Bildtapetenräume in Deutschland zur exemplarischen Analyse heraus zu suchen – insbesondere, wenn diese noch weitestgehend in situ erhalten sind. Ein Vergleich mit den Tapeten anderer Manufakturen, v.a. von Zuber, zeigt eine Tendenz Dufours zu literarisch-mythologischen Themen.329 Dufour scheint tatsächlich „passionné de la littérature“330 gewesen zu sein und die Grundausrichtung seiner Tapetenproduktion entsprechend dieser Begeisterung angepasst zu haben. Nicht zuletzt auch aus Marketinggründen hat er seine Quellen unter den beliebtesten Stoffen, Erzählungen und Romanen seiner Zeit gesucht und gefunden und daraus die Themen und Ausarbeitungen von Einzelszenen der Tapeten modelliert. Kennzeichnend für diese literarischen Tapeten ist aber auch, dass sie in und durch ihre Szenen und Figuren inhaltlich-philosophisch auf mehreren Ebenen operieren bzw. mehrere für die Käufer und Interessenten relevante Fragekomplexe aufwerfen. Georgette Pastiaux-Thiriat nennt als erstes Beispiel die Paul et Virginie-Tapete, die sowohl exotische Orte und mit ihnen hochaktuelle exotistische Themen visualisiere als auch auf eine Verbindung von Natur und Liebe, die auf Rousseau zurückgeht, und ein philosophisches Gedankenspiel abhebe.331 Als zweites Beispiel dient die Psyche-Tapete, die eine Wiederbelebung antiker Formen und zugleich eine mystisch-initiatische Liebesauffassung in einer Art Kombination von Platon und La Fontaine sowie eine spezifische Pädagogik an die Wand bringen wolle.332 Jedenfalls seien diese Tapeten aber nicht nur dekorativ und eine ansehnliche Verschönerung der Räume, sondern beinhalten darüber hinaus auf jeweils eigene Art philosophisch-moralische Aussagen und hätten auch eine symbolische Funktion.333 Diese Feststellung ist ein wichtiger Ausgangspunkt für eine größer angelegte Analyse des In-Beziehung-Setzens mit diesen Bildtapeten und der Anordnungen im Raum sowie Anschlüssen an die Gesellschaft. Die hier beispielhaft
329
Siehe hierzu v.a. den Beitrag von Georgette Pastiaux-Thiriat: „Les
Sources Littéraires des Panoramiques de la Manufacture Dufour et les Mystères d’Anthénor“, in: Joseph Dufour: Manufacturier de Papier Peint, wie Anm. 14, S. 183–199, hier S. 183: „Sur les dix-sept panoramiques qui lui sont attribués, sept se réfèrent à des œuvres littéraires. Et cette source d’inspiration ne se dément pas tout au long de l’existence de la manufacture […]. Par comparaison, Zuber à la même époque n’en éditera que trois de ce type: L’Arcadie, La Dame du Lac et des Fables de La Fontaine […].“ 330 Ebd., S. 198. 331 332
Vgl. ihre Ausführungen in ebd., S. 184. Ebd., S. 186f. Hier folgt die Argumentation hauptsächlich der Selbst-
darstellung der Manufaktur im Verkaufsprospekt und kommt so zu dem Schluss, die Geschichte auf der Tapete zeige auch einen „chemin initiatique, l’itinéraire de l’âme s’arrachant à la terre pour rejoindre l’absolu“. Ebd., S. 187. 333
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Tapezierte Liebes — Reisen
genannten Psyche- und „Paul und Virginie“-Tapeten sind besonders vielschichtig in ihren Verschränkungen von Figuren, Landschaftselementen und Philosophemen und lohnen daher ganz besonders eines genauen Blicks, wie auch die Telemach-Tapete, die nach der Psyche am häufigsten in Deutschland zu finden ist.334 Diese drei Tapeten visualisieren zudem ganz spezifische Auffassungen von Paar-Konstellationen und Liebesbeziehungen, die am Diskurs zu Geschlecht, Liebe und Ehe um 1800 teilhaben und ihn im Bereich Wohnen und Interieur – bzw. aus diesem Bereich in die Gesellschaft rückwirkend – mit formen, und sie sollen in all diesen Facetten im Fokus stehen. Dabei ist auf zwei Ebenen der Mythos mit thematisiert: Zunächst handelt es sich bei der Geschichte von Amor und Psyche und bei dem Odysseus-Sohn Telemach um Stoffe, die aus der griechischen bzw. römischen Antike überliefert sind, und dazu kommen weitere mythologische Elemente wie tanzende Grazien, Figurationen der Pomona und der Demeter, und ebenso visuelle Anspielungen auf die Büchse der Pandora und den Hades. Der Mythos erscheint hier also als ‚inhaltliches‘ Mythologem, ein Versatzstück aus antiken Erzählstoffen, das zur Schaffung neuer Erzählungen in neuer Form und Zusammenstellung dient. Doch es wird zugleich eine andere, strukturelle Ebene eines Mythos sichtbar, die jedoch erst herausgearbeitet werden muss, eine ideologiekritische Auffassung von Mythos, wie sie Roland Barthes vertreten hat. In seinem einflussreichen Buch „Mythologies“ („Mythen des Alltags“) hält er fest, „der Mythos ist eine Aussage“ und zudem „ein Mitteilungssystem, eine Botschaft“.335 Damit sind auch wieder die obigen Ausführungen zum Aussagekomplex der Interieur-Anordnungen und zu den Mitteilungsarchitekturen aufgegriffen, welche gebaut sind, um Naturalisierungen von gesellschaftlichen Machtpositionen zu gewährleisten, die aus semiologischer Perspektive aufgedeckt werden können. Es geht also letztlich nicht um die Mythologeme an der Wand, sondern mit Barthes formuliert um die Art und Weise, wie eine Botschaft ausgesprochen wird,336 und gerade das ‚Sprechen über‘ ist auch dieser Mythos – also wie etwas mitgeteilt und wieder rezipiert und weiterproduziert wird.337 Der Mythos ist ein „sekundäres semiologisches System“,338 er ist in eine endlose Kette von Bedeutungstransport gefasst und
334
Siehe Sabine Thümmler: „Installations Historiques de Papiers Peints
Panoramiques de Joseph Dufour en Allemagne“, in: Joseph Dufour: Manufacturier de Papier Peint, wie Anm. 14, S. 201–213, hier S. 201. 335 Roland Barthes: Mythen des Alltags, wie Anm. 73, S. 85. 336 Ebd. 337 Der Begriff „parole“ meint in der neuen Übersetzung eine „Rede“. 338 Ebd., S. 92.
140
�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
daher auch nicht in seinem Kern oder in einer nicht-mythischen Form fassbar, weshalb er eine Art Metasprache ist.339 Er funktioniert so, dass er „Geschichte in Natur verwandelt“, indem er Begründungen liefert, „wo nur eine Äquivalenz besteht“, denn „das Bedeutende und das Bedeutete haben in seinen Augen Naturbeziehungen.“340 Es ist dann der so verstandene Mythos, der eine Bedeutung stiftet,341 und so kann bespielsweise das Zeichen für eine Gartenarchitektur auf der Tapete die Bedeutung Pavillon oder noch spezifischer – im Zusammenspiel mit anderen Zeichen und Anordnungen – Liebestempel erhalten, und dieser sofort mit einem Liebes- und Freundschaftsdiskurs verkoppelt werden, ohne dass dies jedoch eine unumstößliche Tatsache wäre. „Der Mythos versucht, die geschichtlichen, von Menschen gemachten Spuren an den Phänomenen zu tilgen, um sie als ‚natürlich‘, als ‚gegeben‘ und damit zugleich als unveränderbar zu präsentieren wie zu repräsentieren. […] Wo Natur zu sein scheint, muss Kultur werden.“342 Interessanterweise benutzt Barthes im Zusammenhang mit dieser Naturalisierungsfunktion den Begriff des „Verbrauchers von Mythen“,343 der eine Art von zunächst noch unreflektiertem Konsum dessen, was man vor Augen gestellt bekommt, impliziert. Auch ist damit das „Verbrauchen“ dieser Aussage(komplexe) von ihrem Dekodieren, das die Aufgabe des Mythologen wäre, getrennt: Der Entzifferer, der Mythologe – der Wissenschaftler – macht sich das sekundäre semiologische System bewusst und auch den Aufschub jeglichen Sinns, er ist aber auch unweigerlich „zur Metasprache verurteilt“.344 Zu erfassen, wie und wo und vor allem zu welchem Zweck Sinn erzeugt wird und die Ideologie dahinter funktioniert, hieße noch nicht, selbst außerhalb dieses Prozesses zu stehen, denn auch der Mythologe ist in diesen Mythos verstrickt. Nichtsdestotrotz machen der Mythos-Begriff und die Semiose, wie sie Barthes in „Mythen des Alltags“ in einem eigenwillig-literarisierenden Duktus vorführt, im Rahmen dieser Arbeit die Verstrickungen der Tapeten-Paare in ihre (Alltags-) und Wohnkultur besonders deutlich und sollen so auch vor der Gefahr bewahren,
339 Ebd., S. 93. 340 Ebd., S. 113 und S. 115. 341 Ebd., S. 113. 342 Ottmar Ette: LebensZeichen. Roland Barthes zur Einführung, Hamburg: Junius 2011, S. 54. 343 Roland Barthes: Mythen des Alltags, wie Anm. 73, S. 113. 344 Ebd., S. 150.
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Abb. 12 Psyche-Tapete im Großherzoglichen Palais in Bad Doberan, Mecklenburg-Vorpommern, Ovaler Saal: Teilansicht der tapezierten Wand in Richtung Eingangstür.
sich selbst von diesen Bildern an der Wand zu schnell verführen zu lassen. Doch sollen zunächst einmal die Grunddaten zu diesen Tapeten mit ihren wieder-ergriffenen Paar-Geschichten zusammen benannt werden. Die Psyche-Tapete besteht aus 26 Bahnen, deren Szenen zum Teil von Merry-Joseph Blondel und Louis Lafitte entworfen worden sind. Sie gibt in insgesamt 12 Szenen die Erzählung der Geschichte von Psyche wieder, wie sie in dem Text von Jean de La Fontaine, basierend auf Apuleius, sehr große Verbreitung gefunden hat. [Abb. 12] Die Druckstöcke wurden höchstwahrscheinlich von Xavier Mader gestochen. Die erste Edition der Tapete entstand 1815/16, jedoch war sie so erfolgreich, dass sie Jahrzehnte später von der Manufaktur Desfossé & Karth mindestens fünf Mal neu aufgelegt wurde (1872, 1889, 1905, 1923, 1931). Die Farben sind entweder in Grisaille oder in Sepia gehalten, sie wurden mit 1245 Blöcken auf die Papierbahnen aufgedruckt. Die Tapete wurde im Jahr 1819 bei der Industrieausstellung in Paris gezeigt, und zu ihrer Verkaufsförderung ist 1815 eine Begleitbroschüre erschienen, die das Interesse der potenziellen Käufer an dem Produkt und an der Geschichte erwecken sollte und außerdem ihrerseits eine Version der Geschichte nacherzählt. In den Szenen wird Psyches Weg zu ihrer Vermählung mit Amor gezeigt, von der Abschiednahme von den Eltern und ihrer Entführung durch Zephyr über Prüfungen im Palast des Amor und außerhalb, die ihr von Venus auferlegt werden, bis hin zur Versöhnung mit Venus und der Verbindung mit Amor im Ehebett. Es handelt sich also um eine Liebesgeschichte, die auf einer antiken Fabel basiert und in der Kunst und im Kunstgewerbe bereits vielfach aktualisiert worden ist. Einige Szenen basieren auf Zeichnungen von Gérard bzw. Lafitte, die dem Publikum schon bekannt waren und teilweise in den Salons
142
�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
Abb. 13 Telemach-Tapete auf Gut Borghorst/ Schleswig-Holstein, Gartensaal: Teilansicht der tapezierten Wand in Richtung der Eingangshalle.
ausgestellt waren. Die zweite Szene mit der Entführung durch Zephyr geht auf ein Gemälde von Prud’hon zurück, das in den Salons 1808 und 1814 gehangen hatte. So ist diese Tapete besonders auch unter dem Aspekt der Intermedialität fruchtbar zu untersuchen.345 Die Telemach-Tapete bewegt sich mit 25 Bahnen in einer sehr ähnlichen Größenordnung, die Erstedition wurde ca. 1818 herausgebracht (wobei Clouzot das Jahr 1825 nennt) und polychrom mit heller Farbpalette bedruckt. Es sind insgesamt acht Szenen voneinander unterscheidbar, die auf einem Teil des Epos zu den „Abenteuern des Telemach“ von Fénelon basieren, den Büchern eins bis sechs. Daraus sind Teilepisoden gewählt worden, die Tapete zeigt also keine chronologische Abfolge aller Ereignisse aus diesen Büchern.346 [Abb. 13] Zu sehen sind die Ankunft des seinen Vater Odysseus suchenden Telemach auf der Insel der Calypso und seine Interaktionen mit Calypso und der Nymphe Eucharis sowie dem alten Mentor, in dessen Gestalt laut Textvorlage die Göttin Athene den reisenden Telemach begleitet. Der Fokus dieser Inselepisode liegt auf der Dreiecksgeschichte der in Telemach verliebten Calypso- und ineinander verliebten Telemach- und Eucharis-Figuren. Das Liebesthema ist also zunächst einmal grundsätzlich anders gesetzt als bei der Psyche-Tapete. Die Geschichte von Paul und Vir345 Alle Informationen finden sich im Katalogteil bei Odile Nouvel-Kammerer, wie Anm. 22, S. 262. Psyche: Nr. 4, Telemach: Nr. 5, Paul et Virginie: Nr. 10. 346
Siehe ebd.
143
Tapezierte Liebes — Reisen
Abb. 14 Paul und VirginieTapete auf Schlossgut Petry/KörperichNiedersgegen, Rheinland-Pfalz: Teilansicht der tapezierten Wand zwischen Ofennische und Eingangstür.
ginie, die auf der dritten hier zu untersuchenden Tapete dargestellt ist und auf einem Roman vom Rousseau-Anhänger Bernardin de Saint-Pierre basiert, erstreckt sich sogar auf 30 Bahnen. [Abb. 14] Die Erstedition erschien bei „Dufour & Leroy“ ca. 1823/24 und wie bei Psyche gab es gegen Ende des 19. Jahrhunderts Neuauflagen von „Desfossé & Karth“. Die Farben sind in Grisaille oder Ocker gehalten, es erschien um 1824 eine Begleitbroschüre. Von den acht Szenen basieren sechs auf Drucken von Descourtis347 nach Frédéric Schall, gezeichnet von Jean Broc. Die Geschichte spielt in einer exotischen Landschaft, die eine Distanz zur europäischen Heimat und eine Wirkung von Unschuld evozieren soll, denn es wird eine Freundschafts- und Liebesgeschichte zweier Kinder inszeniert, die mit spezifischen Natur- und Natürlichkeitsvorstellungen verkoppelt wird. Im Folgenden soll nun interessieren, welche Paar-Konstellationen in den Tapeten und ihren jeweiligen Einzelszenen zusammengefügt werden, wie sich diese in Bezug auf die Natur-, Architektur- und weiteren Figurenelemente verhalten und welche Schlussfolgerungen dann für das Potenzial dieser Tapeten-Paar-Anordnungen innerhalb spezifischer Wohn- und Gesellschaftsräume gezogen werden können. Zu Beginn dieses Kapitels habe ich ja schon die Beziehungsgeflechte und Wahrnehmungsperformanzen hervorgehoben, die in einer intermedialen und diskursanalytischen Untersuchung mit berücksichtigt werden sollten, und durch diesen erweiterten Fokus soll auch die Barthes’sche
347
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Diese sind in Paris in der Bibliothèque Nationale einsehbar.
�. Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur Bildtapete
Mythosbildung mit reflektiert werden und die Unmöglichkeit, nicht Bedeutung zu produzieren – auch wiederum in der eigenen Analyse. Barthes’ Überlegungen in den „Mythen des Alltags“ und auch in dem bildwissenschaftlich interessanten Essay „Ist die Malerei eine Sprache?“, in dem von einem Grammatographen die Rede ist, „der die Schrift des Bildes schreibt“,348 umkreisen auch immer das aktive Hinein-Lesen von Bedeutung durch das entziffernde Subjekt, den Mythologen oder – im Rahmen eines Inter-Textes argumentierend – den Grammatographen. So besteht eigentlich immer die Gefahr, wieder einer eigenen Mythologie zu verfallen, denn kein Entzifferer steht de facto außerhalb der Verweisstruktur der Zeichen und ihrer Beziehungsräume. Hier überkreuzen sich auch seine Überlegungen mit denen Foucaults und seiner kritischen Analyse der Voraussetzungen und Motive für Subjektivierungen, denn beide Theoretiker kennen die „Gefahr, dass wir für unsere ureigene Subjektivität halten, was in Wahrheit Produkt disziplinierender und normalisierender Macht ist.“349
348
Roland Barthes: „Ist die Malerei eine Sprache?“, in: Ders.: Der entge-
genkommende und der stumpfe Sinn, Kritische Essays III, übers. von Dieter Hornig, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 159. 349 Hinrich Fink-Eitel: Michel Foucault zur Einführung, wie Anm. 212, S. 79.
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Tapezierte Liebes — Reisen
�. Dufours Paar-Anordnungen: Einübung und Er-Haltung von Subjektpositionen in Bezug zu tapezierten Interieurs �.� Dufours Papier-Geschöpfe und LiebesFigurationen Wer im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert Anregungen zum Thema Inneneinrichtung vermittelt haben und sich geradezu entlang von spezifischen Didaktiken ‚richtig‘ einrichten wollte, kam an Modejournalen wie Friedrich Justin Bertuchs „Journal des Luxus und der Moden“350 kaum vorbei. Derlei Zeitschriften richteten sich vor allem an das aufsteigende Bildungsbürgertum und dessen Bedürfnisse auf den unterschiedlichsten Ebenen des (Zusammen-) Lebens, denn „[…] die kreative Gestaltung der Alltagskultur [wurde] von immer breiteren Schichten des Bürgertums als begehrenswert betrachtet […], was sich wiederum in der wachsenden Zeitschriftenliteratur der Zeit wie dem Journal niederschlägt und durch diese wiederum verstärkt wird.“351 In diesem „papiernen Zeitalter“352 verschränkten sich Diskurse des (Sich) Einrichtens, der Antikenbegeisterung und der Geschlechterdifferenzierungen sowie der konkreten Geselligkeitsformationen in Innenräumen derart, dass sie ein hochinteressantes Untersuchungsfeld im Zusammenhang mit den Bildtapetenräumen bieten. Die papiernen Medien in Form von Zeitschriften, Traktaten oder Journalen und in Form der Tapete ergänzten und
350
Im Folgenden zur besseren Lesbarkeit mit JLM abgekürzt. Zu Ethik
und Ästhetik des JLM vgl. insbesondere: Angela Borchert und Ralf Dressel (Hgg.): Das Journal des Luxus und der Moden: Kultur um 1800, Heidelberg: Winter 2004. 351 Karin A. Wurst: „Topographie der Geselligkeit. Geselligkeit und Gartenkultur um 1800“, in: Ana Ananieva, Dorothea Böck und Hedwig Pompe (Hgg.): Geselliges Vergnügen, wie Anm. 56, S. 11–25, hier S. 25. 352
Vgl. das Journal London und Paris I, hg. von F. J. Bertuch, Weimar
1798, darin: „Erstes Stück – Plan und Ankündigung“, S. 3–11, hier S. 3, http:// www.ub.uni-bielefeld.de/cgibin/neubutton.cgi?pfad=/diglib/aufkl/londonparis/154981&seite=00000006.TIF [zuletzt aufgerufen: 11.06.2013].
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�. Dufours Paar-Anordnungen
beeinflussten sich in hohem Maße gegenseitig. Als Stoff, als delikates und dennoch einigermaßen widerstandsfähiges (Träger-)Material boomt das Papier, das im „Laufe des 19. Jahrhunderts […] zu einem ‚Ersatzstoff‘ in allen Lebensbereichen“353 wird; und mit ihm kommt auch bahnenweise eine Konsumgeschichte ins Rollen, als Bertuch, „der nachmalige Fabrikant, Verleger und Zeitschriftenherausgeber sein Netz von Unternehmen“354 mit einer Papiermühle spinnt. Die schöpferischen Tätigkeiten des (Be-)Schreibens, Druckens, Notierens und Vervielfältigens sind ohne die Papiergrundlage in sich ausdifferenzierenden und verschiedene Käuferschichten bedienenden Varianten nicht denkbar; und so gelangten diese schließlich auch im Großformat und mit sich aneinanderreihenden Stücken wie in einem Fortsetzungsroman oder in einer Bilderfolge als Papier Peint an die Wand. Wie die Grundlage sind hier auch die Werkzeuge zum Bedrucken – viele einzelne Holzmodel – auf eine noch gemäßigte Serienproduktion ausgerichtet, während allerdings davor geschaltete Vorlagen, eigens angefertigte Lithografien, noch ganz dem Bereich des individuellen ‚originalen‘ Kunstschaffens anzugehören scheinen. Doch auch die Model werden in nicht wiederholbarer Form bearbeitet und präpariert und drücken dem Papier und den damit ausstaffierten Wänden und Räumen, auch den Betrachtersubjekten, handgemachte Bilder ein und auf. Die Paare, die Dufours Mitarbeiter auf seine Tapetenschöpfungen bringen und verteilen, werden auf dem Papier und in den Momenten der Interaktion mit Betrachtersubjekten zu Figurationen von spezifischen Liebesauffassungen; sie sind ähnlich wie ihr Trägermaterial (ihr Untergrund) eine Chiffre für Didaktiken und Politiken ihrer Zeit und als solche auch im Innenraum les- und erfahrbar.
�.�.� Telemach, Calypso, Eucharis: Eine ménage à trois der Tugend und Mäßigung Im Folgenden soll in Kurzform ein Überblick über die behandelten drei Dufour’schen Bildtapeten und ihre Liebes-Figurationen gegeben werden. Alle drei basieren in erster Linie, aber nicht nur, auf literarischen Texten. Die in hellen Pastellfarben über insgesamt 25 Papierbahnen gedruckte Insellandschaft mit Szenen aus dem Roman von Fénelon, „Les Aventures de Télémaque“ (deutsch nach Ludwig Ernst von Faramond: „Die seltsamen Begebenheiten 353
Cornelia Ortlieb: „Schöpfen und Schreiben – Weimarer Papierarbei-
ten“, in: Weimarer Klassik – Kultur des Sinnlichen, wie Anm. 30, S. 76–85, hier S. 78. 354 Ebd.
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Tapezierte Liebes — Reisen
des Telemach“), der 1696 anonym erschienen war, gibt eine an Orten und Zeit des Textes gemessen sehr verdichtete Episode auf der Insel der Calypso zu sehen und ist entsprechend „Télémaque sur l’Île de Calypso“ benannt. [Abb. 13] Dass die Tapetenszenen jedoch keinesfalls Eins-zu-eins-Visualisierungen der Fénelon’schen Inhalte sind oder als solche konzipiert wurden, wird dann klar, wenn man sich die Didaktiken zur Zeit Fénelons im Vergleich mit denen zur Zeit Dufours ansieht. Der Text des ausgehenden 17. Jahrhunderts steht in einer Tradition der Prinzenerziehung; die Abenteuer und Aufgabenbewältigung des jungen Königssohnes zielen stets darauf, aus ihm einen guten Monarchen zu machen, der – einmal nach Ithaka zurückgekehrt – in der Lage ist, Verantwortung für das Wohlergehen seines Staates und Volkes zu übernehmen.355 Telemachs Abstammung vom legendären Vater Odysseus wird ebenso oft betont wie seine daraus abgeleitete Pflicht, dem weisen Vater zur Ehre zu gereichen und die politischen Erfolge seines Familienstamms fortzusetzen. Im adeligen Kontext des (frühen) 18. Jahrhunderts ist dieser Aspekt der Erziehung zum guten Monarchen in den Vordergrund gerückt, und wenn beispielsweise der Fénelon-Übersetzer Faramond356 „die Vortrefflichkeit des Telemach damit motiviert, dass sein Autor hier ‚die vollkomenste Staats-Kunst mit dem herrlichen Begriff der Tugenden vereint habe‘ […] dann bastelt er an jenem goldenen Rahmen, in dem spätere, ‚philosophisch‘ denkende Generationen den Prinzenerzieher und berühmten Telemach-Dichter mit Vorliebe zu betrachten pflegten.“357 Wie die Forschung Iris Wenderholms zeigt, entwickelten sich innerhalb dieses „goldenen Rahmens“ der Rezeption und Interpretation sogar imaginäre Rollenspiele, wie bspw. die Rolle der Brandenburger Kurfürstin Sophie Charlotte als Athene/Mentor(in) für ihren Sohn Friedrich Wilhelm (Telemach).358 Doch das 355 Wolfgang Bensiek betont die Rolle Telemachs, bzw. Fénelons, als u. a. „Prinzenerzieher“ und „Seelenführer“, in: Die ästhetisch-literarischen Schriften Fénelons und ihr Einfluß in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland, ClausthalZellerfeld: Bönecke 1972, Einleitung, S. 1. 356
Es handelt sich um eine Prosaübertragung von Philipp Balthasar Si-
nold, genannt von Schütz, „der 1733 unter dem Pseudonym Ludwig Ernst von Faramond ‚Die seltsamen Begebenheiten des Telemach, in einem auf die wahre Sitten- und Staatslehre gegründeten, angenehmen und sinnreichen Heldengedichte […] mit nöthigen Anmerckungen erläutert‘ herausgibt“, wie ebd., S. 127f. 357 Ebd., S. 130. 358 Vgl. Iris Wenderholm: „Gelehrsame Spaziergänge, zur Rezeption von Fénelons Roman ‚Les aventures de Télémaque‘ am Hofe der Sophie Charlotte“, in: Guido Hinterkeuser und Jörg Meiner (Bearb.): Aspekte der Kunst und Architektur in
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�. Dufours Paar-Anordnungen
Tugend-Ideal, das hier seine Wirkung im Hinblick auf zukünftige Herrschercharaktere entfaltet, ist grundsätzlich verschieden von dem, was die Bildtapete des frühen 19. Jahrhunderts präsentiert. Die bürgerlichen Werte, die sich im Zuge der Aufklärung von Frankreich ausgehend in Europa verbreiteten, fanden als visuelle Zeichen codiert Eingang in das hier untersuchte Bildtapeten-Gefüge bzw. bildeten ein solches mit heraus. Die Interdependenzen zwischen BetrachterInnen-Subjekten des 19. Jahrhunderts und ihrem gelebten Alltag, ihrer Bildung und der Bildtapeten-Dekoration sowie den Machtverhältnissen, in die sie stets eingebunden sind, können nur als äußerst komplex und schwer zu fassen bezeichnet werden. Sie lassen sich nicht als einfaches Ursache-Wirkungs-Schema beschreiben, sodass dann die Bildtapete auf Seite der Ursache für etwas – wie z.B. bürgerliche Tugendvorstellungen – oder aber der (klar zugeordneten) Wirkung auf etwas oder jemanden stehen würde. Vielmehr bilden Texte, Bilder und künstlerische Werke, Aufführungen wie Opern-, Lektüre- und Tanzabende sowie der ‚Vorrat‘ einer Gesellschaft an Wissen bzw. Bildung, an politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen und allen Formen des privaten Lebens (im Haus, im Familienkreis) ein großes Netz an Variablen, die so verknüpft sind, dass sich Schnittstellen ergeben. An einer solchen Schnittstelle befindet sich auch das Objekt Bildtapete, und es produziert im Zusammenspiel mit den oben genannten Faktoren Bedeutungen, die wiederum u.a. affektive, unbewusste oder auch verhaltensmodifizierende Wirkungen auf Subjekte haben können. Allerdings ist die Telemach-Tapete nicht völlig aus ihrem intermedialen Zusammenhang gerissen359 und ihre Visualisierungsstrategien stehen mit der Semantik des Fénelon-Textes noch in Verbindung: sie heben ebenfalls auf ein Erziehungs- und Tugendideal ab, das zunächst einmal in der Beziehung zwischen Telemach und Mentor ihren Niederschlag findet. Die Figur des Mentors – eines väterlich-freundschaftlichen Ratgebers und Erziehers, der die zu Berlin um 1700, Potsdam: Generaldirektion der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg 2002, S. 37–47, hier S. 45. Kurfürstin Sophie Charlotte von Brandenburg hatte ihren Sohn Friedrich Wilhelm II., den späteren Soldatenkönig, mit dem Telemach unterrichtet und „ihren Bibliothekar und Vorleser Larrey sogar veranlasst, eine Art Protokoll der im Garten zu Lützelburg geführten Gespräche über den Telemach zu verfassen. Die ‚Conversation sur le livre de Télémaque‘ (1700) sollte dann dem französischen Text als pädagogischer Leitfaden beigefügt werden“, vgl. Wolfgang Bensiek, wie Anm. 355, S.188. Die Kurfürstin hatte sogar betont, dass es nicht genug sei „‚dies Buch nur einmal zu lesen, ich bitte Sie, es hundertmal zu wiederholen und besonders auf die Charaktere Telemachs, Sesostris und Pygmalions zu achten‘“, ebd. 359 Siehe die Ausführungen zur Intermedialität in Kapitel 2.1.2 der vorliegenden Arbeit.
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erziehende Person begleitet und auf den ‚richtigen‘, d.h. den Diskursen und Praktiken der Zeit entsprechend zu wählenden Weg bringt – wird in der Aufklärungspädagogik zu einem zentralen Element. Das „Mentoring“360 ist im 18. Jahrhundert vor allem in Form von Aufklärungstraktaten, (Gesundheits-) Polizeilichen Schriften, Unterweisungen wie den berühmten Ausführungen zur „Philosophie der Ehe“ von Wilhelm Traugott Krug, die tatsächlich weniger zu den philosophischen Schriften als zu moralisch-belehrenden Unterrichtswerkzeugen gezählt werden müssen, sowie den in gutbürgerlichen Häusern üblichen Hauslehrern und den Lehrkörpern staatlicher Einrichtungen stets präsent und ein tragender Teil der Gesellschaft. Eine Prinzenerziehung bei Hofe ist als Erziehungsprogramm für eine nicht mehr von einer feudalen, nach ererbten Privilegien handelnden oberen Klasse geführten Gesellschaft obsolet geworden, und an ihre Stelle tritt eine Erziehung zum guten oder auch „reinlichen Bürger“.361 Die Haupt-‚Bühnen‘, auf denen sich das Programm der Erziehung zum Bürger abspielt, sind v.a. die Hygiene- und Gesundheitspolitik und die Liebe und Ehe betreffenden sozialen Felder, die sich wiederum in und mit der Vorstellung von einem anständigen, produktiven, vernunftbegabten und tugendhaften Bürger herausbilden. Eine Art Negativfolie bilden dabei die Verhaltensweisen des Adels, bzw. die als für den Adel typisch imaginierten, und zwar konkret eine lasterhafte, unkeusche, in Luxus und Dekadenz schwelgende Lebensführung, die an Stelle von Produktivität und körperlicher wie geistiger Gesundheit nur Schwäche, Unausgeglichenheit, Trägheit362 und allerlei selbstsüchtige Extravaganzen kennt. Um sich gegen einen auf diese Weise verunglimpften Adel der alten Gesellschaftsordnung abzusetzen, wird es notwendig, einen nunmehr anders ausgerichteten Verhaltenscodex auf allen Ebenen der sich gerade erst neu ausrichtenden Gesellschaftsschichten durchzusetzen. Gleichzeitig sollte aber eine Atmosphäre der Freiheit und Gleichberechtigung geschaffen werden, die mit einem allzu autoritären Regelwerk unvereinbar wäre. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts finden viele Formen der Erziehung und Subjektbildung Eingang in die Alltagsgestaltung, die nach bestimmten Idealen ausgerichtet sind und nicht mehr der Gesetze eines Souveräns bedürfen, um wirksam zu werden. Dazu gehören auch Visualisierungen, die entweder direkten pädagogischen
360
Wie es in der aktuellen Wirtschafts- und Unternehmenskultur, wenn es
um die Ausbildung und Förderung von Nachwuchskräften geht, Hochkonjunktur hat. 361
Manuel Frey: Der reinliche Bürger: Entstehung und Verbreitung bürgerlicher
Tugenden in Deutschland; 1760–1860, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997. 362 Die acedia ist eigentlich die Ursünde schlechthin.
150
�. Dufours Paar-Anordnungen
Einfluss auszuüben versuchten, oder – wie im Falle der Bildtapete – mittels eines subtileren Mechanismus agierten. Allerdings kann man nun die (Telemach-)Tapete nicht zwangsläufig als ein bürgerliches Medium bezeichnen, auch wenn meine Verknüpfungen dies zunächst nahelegen. Bildtapeten waren stets auch in Schlössern und adeligen Herrenhäusern beliebt, so wie es auch auf gestalterischer Ebene unübersehbar ist, dass es viele Einflüsse adeliger Dekore wie v.a. der Wandbehänge auf die Tapetenherstellung gab.363 Dass die Tapeten Teil eines bürgerlichen Macht- und Subjektformierungsdiskurses sind, muss nicht heißen, dass dieser Diskurs nicht auch auf andere Gesellschaftsschichten übergreifen konnte – im Gegenteil: Mit dem Transport in Häuser unterschiedlicher Schichten konnte so auch ein Transport von Ideen, Codes und Didaktiken stattfinden. Ein gut situierter Bourgeoiser war oftmals adligen Verhaltensformen näher als denen eines Kleinbürgers – wie es auch anschaulich am Beispiel Bad Doberans und der Badeorte und Praktiken des Kururlaubes gezeigt werden wird364 –, sodass hier in Bezug auf das Bildtapeten-Display nicht etwa distinktionstheoretische Annahmen verhandelt werden sollen, sondern eher auf das „Wandern“ der Ideen und Codes durch die Gesellschaft des 18. und frühen 19. Jahrhunderts aufmerksam gemacht werden soll. Die Telemach-Episode à la Dufour entwirft eine Liebesgeschichte für die Wand, die im sechsten Buch Fénelons als Dreiecksgeschichte angelegt ist und die nicht nur für die Inselherrin Calypso – welche zur Zornes- und Eifersuchtsfigur wird –, sondern auch für die Nymphe Eucharis und den von Mentor zur Raison gerufenen Telemach tragisch ausgeht (im Sinne einer Nichterfüllung der Liebeswünsche für alle drei Figuren). Das Personal aus diesem textuellen Erzählstrang wird auf der Tapete übernommen, doch die Didaktiken, die erkennbar werden, sind anders geartet als im Text. Die Tapeten-Landschaft ist als Reich der Calypso weiblich markiert, und die Handlung dreht sich – sowohl im Ausgangstext als auch auf der Tapete – um Geschlechterbeziehungen und das Eindringen des Helden in diese weibliche Sphäre. In Fénelons Text sind Herrschaft, Liebe und Bedrohung bzw. Ängste, Wut und Eifersucht die basalen affektiven Koordinaten des Zusammentreffens von Telemach, Calypso und Eucharis. Während das Eindringen zunächst wenig aggressiv geschieht – da die Schiffbrüchigen notgedrungen und nicht aus eigenem Antrieb oder Eroberungswillen auf der Insel landen –, so ist das Verlassen der Insel von Aggressivität und destruktiven Elementen und Gefühlen geprägt, was interessanterweise in der Tapete kaum zum Ausdruck kommt. 363 Vgl. auch die „textilen“ Wanderungen, die in der vorliegenden Arbeit betrachtet werden, Kap. 2.1.2. 364 Vgl. Kapitel 5.3.2 der vorliegenden Arbeit.
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Tapezierte Liebes — Reisen
Während im sechsten Buch Fénelons von der anfänglichen Idylle nichts mehr geblieben ist, Calypso durch die Wälder rast, Mentor verzweifelt ein Fluchtschiff baut und Telemach kaum schafft, sich in seinem umnebelten Zustand – hervorgerufen durch die Zauberei von Venus und Amor – von Eucharis zu entfernen,365 geht es auf der Tapete deutlich entspannter zu. Die Figuren sind in wohlgeordneten Gruppen über die Landschaft verteilt und in gemäßigten Gesten, mit klarer Linienführung und in harmonischer Anordnung zur umgebenden Natur gehalten. In der Folge werden in den Tapetenszenen auch die Nymphen mitnichten zu Bacchantinnen; die Sünde des Aktes der Brandstiftung – in dem sich die Wut der Fénelon’schen Calypso entlädt und in dem sowohl ihre Verzweiflung ob der Fluchtpläne des Geliebten als auch ihr Machtanspruch über alles auf der Insel Befindliche kulminieren – findet ebenso wenig Einlass in diese tapezierte Bildwelt (in der lediglich am Rande das bereits brennende Schiff ohne Attentäterinnen zu sehen ist) wie ein jeglicher Vernunft entrücktes Herumrennen oder offensichtliche Gesten der Missgunst, des Hasses oder gar eines unbedingten Zerstörungswillens. Es wird letztlich eine Vorstellung von Weiblichkeit assoziativ erweckt, die mit Mütterlichkeit, Fruchtbarkeit, Zurückhaltung, Ordnung und Symmetrie sowie ruhiger Angemessenheit verbunden ist und nicht (mehr) mit den eigentlich der Telemach-Calypso-Konstellation inhärenten destruktiven Zuständen. Genauere Verbindungslinien werden bei einer ausführlichen Szenenanalyse zu ziehen sein, jedoch ist es im Hinblick auf die oben skizzierten Tugend- und Reinlichkeitsvorstellungen zur Zeit Dufours von zentraler Bedeutung herauszustellen, dass die Idylle der Tapete, die wie eine Bereinigung von angedeuteten Konflikten samt Lösungsvorschlag fungiert, sehr wohl in Bezug auf die Räume außerhalb ihrer Szenerie und zugleich innerhalb des im Innen-Raum stattfindenden Alltags gedeutet werden sollte. Letzterer steht zu Beginn des 19. Jahrhunderts ganz im Kontext der Familienbeziehungen, welche wiederum als ein geschützter Privatraum und somit eine Art gelebte Idylle und Gegenpol zur Außenwelt produziert und imaginiert werden. Hier sollen Eifersucht und Exzesse keinen Platz haben und der Lernprozess Telemachs zum Prinzip für einen eigenen Familien-Privatraum avancieren. Das Prinzip einer vernünftigen Liebe stellt einzig und ausschließlich eine Basis für ein gemeinsames Leben und bedingungsloses Vertrauen dar, und ihr sind spontane, unkontrollierte Leidenschaften geradezu entgegen gesetzt. 365
Jeanne-Lydie Goré (Hg.): Fénelon: Les Aventures de Télémaque (im Fol-
genden: Les Aventures), Paris: Edition Garnier 1987, vgl. Buch VI, ab S. 223 und insbesondere S. 236–245.
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�. Dufours Paar-Anordnungen
Telemachs Verzicht auf ein Ausleben leidenschaftlich-selbstvergessener Liebe fern der üblichen Verpflichtungen, der auf der Tapete als beherzter Sprung ins Meer und zurück in eine scheinbar logische Handlungskette und gerade nicht als von anderen, ihn lenkenden Mächten, Delirien und dramatischen Leidensszenen bestimmt dargestellt ist, wird zum Schlüsselmoment des bürgerlichen Alltags. Er soll bereinigend, erlösend, weiterführend sein auf seinem Weg zu einer vernünftigen Liebe, die auch ein Grundprinzip der Ehevorstellungen um 1800 ist. Die Figuren der Telemach-Tapete werden so zu Figurationen der Mäßigung und Tugendhaftigkeit – im Sinne des Verzichts und der Beschränkung – sowie des ‚hygienischen‘ Umgangs mit den weiblichen Verlockungen in Form von Unterredung, Spazierengehen und Distanzierung. So wird einer von vielen Strängen der im Alltag stattfindenden Erziehung zu einem ‚gut‘- bürgerlichen Lebensstil gebildet. Mit den medizinphilosophischen Traktaten beispielsweise von Pierre Cabanis oder Pierre Roussel oder auch dem deutschen Arzt und Sozialhygieniker Christoph Wilhelm Hufeland kam ein Hygiene-Begriff und Diskurs auf, der jegliche Verschwendung von körperlicher Energie und Säften – hier mit besonderem Augenmerk auf Onanie – missbilligte und die körperliche Gesundheit und Ausgeglichenheit zur Basis für Lebensglück allgemein und zu einem Hauptziel pädagogischer Arbeit machte, denn „in common was the excitement and wonderment about the body, which now appeared like a new continent to be explored, mapped, and mastered […].“366 Mäßigung und Hygiene sind also in diesem Zusammenhang als Teil eines größeren Diskurses der Ordnung, Sauberkeit und Vernunftgerichtetheit zu verstehen, der sich mit und durch Foucault’sche Selbsttechniken367 bildet und weiterentwickelt und auch die Anordnungen mit Bildtapeten einschließt. Eigentlich war „[d]ie massenkulturelle und alltägliche Form der Technologie, die in der Moderne Bedeutungen mit Körpern verknüpft, um bürgerliche Subjekte hervorzubringen, […] das hygienische Programm des 19. Jahrhunderts. […] Es sind die Bücher, Texte, Bilder, Praxisformen und Werkzeuge der hygienischen Sorge um sich. Körpergeschichte ist daher auch Mediengeschichte – das heißt die Geschichte von Medien, ihrer Materialität und ihrer diskursiven Strukturen, die den Körper zugleich zur Darstellung bringen und ihn konstruieren.“368
366 367 368
Jonathan Crary: Techniques of the Observer, wie Anm. 141, S. 79. Siehe auch Kapitel 2.1 und 2.2 der vorliegenden Arbeit. Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen, wie Anm. 61, S. 26.
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Tapezierte Liebes — Reisen
Die Formen der Anbringung und Nutzung der Tapeten, ihre Bilder und visuellen Strategien und der inmitten ihrer Räume gelebte Alltag wirken mit den Körpervorstellungen und körperlichen Praktiken sowie Liebesidealen, wie sie hier in der spezifischen Figuration einer ‚gemäßigten Dreiecksliebe‘ sichtbar werden, zusammen an der Herausbildung eines biopolitisch wirksamen entscheidenden Momentes in der Entwicklungsgeschichte des nachaufklärerischen Bürgertums. Die Bilder, mit denen man sich in dieser Phase der Geschichte umgab – auch auf Tapeten in Innenräumen wie dieser Telemach-Liebesinsel – konstruieren dabei die Kopf-Bilder, wie beispielsweise Liebe und Sexualität genormt sein muss, entscheidend mit. Diese wirkten dann als Ordnungs- und Kontrollmechanismen sozusagen ‚von innen‘ auf die Haus-Bewohnenden und -Besuchenden ein. Wie es Foucault griffig formulierte, ging es dabei um eine „Besorgnis um den sexuellen Körper“ und „darüber hinaus um eine unbeschränkte Ausweitung der Kraft, der Stärke, der Gesundheit, des Lebens […]“,369 und letztlich um die Kontrolle und Eindämmung der als gegenläufig imaginierten Tendenzen, wie es das ‚unproduktiv-ausschweifende‘ und das Subjekt als aktiv-fortschrittsmodellierendes Mitglied der Gesellschaft sozusagen ‚lahm legende‘ Genießen von Sex und Lust wäre. Somit sind die Tapetenbilder also weniger vergrößerte Illustrationen eines beliebten Textes oder einfach besonders dekorative Wandbedeckungen, sondern vielmehr Mitproduzenten eines solchen an Sexualität und Gesundheit andockenden– und nicht mehr an ein einziges profiliertes Herrschersubjekt rückkoppelbaren – Kontrollmechanismus. Fénelons in Versuchung geführter, leidender Königssohn wird an den Wänden sauberer und für den Familienalltag konzipierter Wohn- und Aufenthaltsräume des 19. Jahrhunderts zum Durchreisenden einer didaktisch-gebändigten antikisierenden Gartenlandschaft, die an Stelle einer rasenden Calypso nun tanzende Grazien und harmonisch verteilte Skulpturen und Wasserbassins zu sehen gibt.
369
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Michel Foucault: Der Wille zum Wissen, wie Anm. 73, S. 122f.
�. Dufours Paar-Anordnungen
�.�.� Psyche verdient sich Amors Liebe: Sensibilité und die Verkörperlichung der Seele als epistemische Voraussetzung für eine ‚sittliche‘ Liebe und Ehe auf Tapeten Unter den Gesichtspunkten Format, Herstellungsprozess und Vermarktung fällt die Dufour’sche Psyche-Tapete, „Les Amours de Psiché et de Cupidon“, in dieselbe Kategorie ‚Bildtapete‘ bzw. ‚Panoramatapete‘ wie die Telemach-Tapete, jedoch unterscheidet sie sich auffällig von dieser. Statt einer durchgängigen Insellandschaft mit eingestreuten, sich zu narrativen Szenen fügenden Figuren- und Architekturelementen werden die Betrachtenden hier nun mit einzelnen, voneinander abgegrenzten Szenen mit einer starken Durchlässigkeit von Innen- und Außenarchitekturen konfrontiert, deren Figuren in Relation zur Umgebung weitaus größer dimensioniert sind und dominanter den Bildaufbau bestimmen als es in der Telemach-Tapete der Fall ist. Zudem weisen die Szenen hier in ihrer Grisaille- oder Sepiatönung eine andere Farbigkeit auf. [Abb. 12] Doch auch auf dieser Tapete wird eine Liebes- und Paarbeziehungsgeschichte erzählt und dabei lassen sich in ihrer Vorführung eines didaktischen Programms frappante Ähnlichkeiten mit der Telemach-Tapete feststellen. Den Prinzipien und Symboliken, die mit den Figuren von Amor und Psyche an die Wand gelangen, genauer nachzuspüren, lohnt sich gerade auch im Hinblick auf einen Vergleich mit den Tapeten zum Telemach- und zum Paul-und-Virginie-Komplex. Dadurch können sowohl die Überschneidungen als auch die Gemeinsamkeiten herausgefunden und anschließend Ergebnisse zum In-Beziehung-Setzen mit Bildtapeten um 1800 formuliert werden. Wie auch bei Telemach, handelt es sich bei Psyche um den Nachwuchs eines Königshauses, also eine gewissermaßen privilegierte adoleszente Figur, die dabei ist, auf den ‚richtigen Weg‘ zu finden. Die Liebesthematik ist hier bereits ganz zentral angelegt, und zwar schon in den beiden basalen Texten von Apuleius – der die Psyche-Geschichte im 2. Jahrhundert nach Christus als Binnenerzählung in den Erzählstrang seiner „Metamorphosen“ eingefügt hatte – und von Jean de La Fontaine, der auf dieser Textgrundlage 1669 einen höfischen Roman schrieb. Beide Autoren zeichnen mit ihren Worten den abenteuerlichen und mitunter sehr beschwerlichen Weg Psyches bis zur Gewinnung von Venus’ Vertrauen und der glücklichen Vereinigung mit Amor in dessen Palast nach, legten aber entsprechend der Liebes- und Erotikauffassung ihrer Zeit sehr unterschiedliche Akzente. Wo bei Apuleius eine teils augenzwinkernd unterbreitete antike erotische Liebesschule vor Augen geführt und kommentiert wird, werden bei La Fontaine – neben einer Diskussion um Form und Stil des romanesken Schreibens an sich, die auf
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einer Metaebene des Textes stattfindet – vor allem die didaktisch-moralischen Ansprüche an eine junge Frau thematisiert. Sie muss sich die Liebe des Liebesgottes Amor erst verdienen und dabei Erkenntnisse über sich selbst sammeln um schließlich über sich hinauszuwachsen. Damit ist der Akzent von Spiel und Erotik auf die Selbsterkenntnis und einen neuplatonischen Läuterungsprozess verschoben. Im Zuge der Aufklärung gewinnt die Thematik der Selbstbildung und -erkenntnis sowie des Strebens nach dem moralisch ‚Guten‘ eine neue Dringlichkeit und gesellschaftspolitische Relevanz, sodass sich hier eine neue Deutung des „Amor und Psyche“-Stoffes abzeichnet, die für die Dufour-Tapete ausschlaggebend wird – in enger Verbindung mit dem Thema der Geschlechtertypologie und der als weiblich charakterisierten Körper- und Verhaltensschemata. In den einzelnen Szenen der Tapete wird Psyche trotz der Härte der von ihr zu bewältigenden Aufgaben und Prüfungen, die mit Stress, Verzweiflung und Leid einhergehen und sehr viel Disziplin und Konzentration verlangen, stets als aufrecht und elegant ihren Körper präsentierend dargestellt nach dem Vorbild klassizistischer (Empire-)Figuren. Die Visualisierungen sind inspiriert von der Plastizität größerer Skulpturen wie denen Canovas oder Thorvaldsens sowie der Feingliederigkeit kunstgewerblicher Erzeugnisse. Doch nicht nur der Kunst- und Antikediskurs übt hier auf das vergleichsweise neue Medium seinen Einfluss aus, auch die Theoreme von Medizinphilosophen und Physiologen des späten 18. Jahrhunderts wie Pierre Roussel, Xavier Bichat und Pierre Cabanis scheinen hier zur Anschauung zu gelangen. Roussel spricht von der „organisation particulaire“ weiblicher Körperteile und von „l’élégance des formes, la légèreté des mouvements, et la vivacité des sensations qui caractérisent son sexe.“370 Die sensations – als sich zu jeglicher rationaler Erkenntnis diametral verhaltendes Konzept diskursiviert – sind in diesen Schriften immer der Frau zugeschrieben, als wäre ihr diese Empfindungsfähigkeit quasi körperlich gegeben. Die Figur der Psyche ist zum einen in den Darstellungen der Bildenden Kunst bereits als Allegorie der Seele tradiert, sodas hier eine scheinbare Einheit von Seele und Weiblichkeit postuliert und auch nicht weiter aufgebrochen wird, und nun kommt zum anderen zu diesem ‚Bündnis‘ in Rhetorik und Bildsprache noch hinzu, dass das Konzept der Seele im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend von einem religiös-metaphysischen Kontext in einen physiologisch-geschlechtsspezifischen verschoben wird. 370
Pierre Roussel: Système Physique et Moral de la Femme, suivi du Système
Physique et Moral de l‘Homme, et d‘un Fragment sur la Sensibilité, Paris: Crapart, Caille et Ravier 1818, S. 11f.
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Gewissermaßen übernimmt die sensibilité als körperlich bedingte Reaktion die Aufgabe der Seele, die höchstgestellte und gleichsam den Körper ordnende Instanz zu sein, und wird von Roussel sogar noch einmal in ein für einzelne Organe und schließlich für den ganzen Körper, nebst Bewusstsein, verantwortliches Vermögen differenziert: „Tout prouve donc qu’il n’est point de sensibilité particulière, que celle de chaque organe n’est qu’une modification de la sensibilité générale […]. Tout est harmoniquement lié dans l’économie de l’homme […].“371 Der Körper ist also kurz vor und weiterhin auch nach der Aufklärung von einer höheren Instanz organisiert und daher nicht ohne Seele imaginiert, jedoch heben die Körperfunktionen und ihre Zielorientierung – zumal im weiblichen Körper – merklich auf den Fortpflanzungstrieb und die damit verbundene Produktivität ab,372 was sich zwar schwerlich mit der Vorstellung einer Seele, jedoch sehr gut mit der einer sensibilité und Reizbarkeit in Einklang bringen lässt. Namentlich mit Théophile de Bordeu beginnt ein (zunächst medizinhistorisch und zunehmend auch gesellschafts- bzw. biopolitisch folgenreicher) Prozess, der die Aktivität der Seele in das Konzept der sensibilité überführt.373 Dieses wird nun eine Art Leitprinzip der medizinisch-physiologischen Debatte vor 1800 und soll auch die Sicht auf Dufours Psyche-Tapete neu lenken, da diese Tapete von zuvor transportierten Sinngehalten mit und in der Psyche-Figur abweicht. Bordeu hatte als einer der ersten angenommen, „that a similar indwelling sensitivity exists in every organ of the body. Nervous fibres are its instrument. It is unique in each organ, and therefore capable of performing its particular function. It is accompanied by an irritability which activates, causing it to move the parts of the organ. Sensibility is, therefore, the force that directs all organic functions. It even dominates in illness and directs the action of remedies.“374 Um den Bogen zur Körperlichkeit und weiterhin zur bildsprachlichen Charakterisierung von Dufours Psyche schlagen zu können – welche statt einer ins Transzendente aufsteigenden Seele nun das Prinzip der sensibilité nachmodelliert – ist es jedoch auch zentral zu bedenken, dass man gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit dem zunehmenden Wissen über Medizin noch das größere
371
Ebd., 376f. Roussel folgt in diesem Gedanken Hippokrates.
372
Vgl. den Argumentationsstrang von Elizabeth Haigh: Xavier Bichat and
the Medical Theory of the Eighteenth Century, London: Wellcome Inst. for the History of Medicine 1984. 373 Ebd. 374 Ebd., S. 35.
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Tapezierte Liebes — Reisen
Projekt einer integrierten Wissenschaft „über den Menschen“ verfolgte. Dies war auch ein erklärtes Ziel der Pariser „Société Médicale d’Émulation“ und ihrer Mitglieder der ehemaligen „Société Royale de Médecine“. So sah u.a. Xavier Bichat vor, „[…] that medicine would be incorporated into a general science of man,“375 und zwar „one that concerned itself not only with man’s physical being but also with his psychological and social make-up.“376 Ähnlich sind auch Cabanis’ Vorstellungen, wenn er betont: „Medical science must, henceforth, take into account man’s physical, cultural, and social milieu, as well as the condition of his physical body. […] To be totally effective, the physician must also be a moralist – we might say a psychologist – who seeks to perfect the private life, a legislator who tries to correct a national or social situation, and a healer of the various problems that affect man’s wellbeing in general.“377 Hier werden die pädagogischen Anforderungen an Mediziner und Medizinphilosophen auf das gesamte Gebiet des sozialen und privaten Lebens ausgeweitet und es wird klar, dass diese als für Heilung, Besserung und Wohlbefinden in den verschiedensten Bereichen zuständig angesehen wurden. Immer stärker werden gegen Ende des 18. Jahrhunderts physisch-organische, psychologische und soziologische bzw. psychosoziale Faktoren gleichermaßen herangezogen, um die menschliche Konstitution und Verhaltensweise(n) zu erklären und der Seele dabei „nun auf anthropologischer statt auf metaphysischer Basis ein aktives und autonomes Tätigsein“378 eingeräumt. So kann sie in dem oben beschriebenen sensibilité-Konzept aufgehen. Das Mark des Körpers kann schließlich den „Weltglobus der Seele“379 bilden. Die sich anbahnende Verkörperlichung des Seele-Konzeptes ist dabei mit einem gendering verknüpft, das sich erstaunlich klar auch in den Tapetengestaltungen zeigt: Telemachs Mäßigungs-Aufgabe und Psyches sensibilité und Zartheit der Empfindungen heben ab „auf das prekäre Verhältnis von Reiz und Kontrolle, von weiblicher Sensibilität und jener männlichen Selbstregulierung, die für die Hygieniker
375 Ebd., S. 67. 376 Ebd. 377 Ebd., S. 80. 378
Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, wie Anm. 61, S. 128.
379
Ebd., S. 126. Koschorke bezieht sich mit diesem Ausdruck auf Reils
„Ueber die Erkenntniß und Cur der Fieber“.
158
�. Dufours Paar-Anordnungen
des 19. Jahrhunderts die einzige Möglichkeit darstellte, als körperliches Subjekt ‚autonom‘ zu sein.“380 Die Psyche-Figur(ation) der Tapete und des frühen 19. Jahrhunderts ist darauf angelegt, sich zu einer guten Ehefrau – der perfekten Partnerin mit dem Liebesgott im Ehebett – zu entwickeln, während Telemach quasi als Pendant dazu den Insel-Verlockungen entfliehen muss, um eben solch eine gute und gesellschaftlich akzeptable Ehefrau finden zu können. Körpervorstellungen, Verhaltenscodes und geschlechtstypologische Festlegungen verschmelzen dergestalt, dass die Autonomie individuellen Handelns, die mit der Aufklärung zum Maßstab von Freiheit und Glück schlechthin erhoben wurde, massiv in Frage gestellt werden muss; und diese Spannung zwischen einem autonomen Entscheiden bzw. Handeln und dessen Begrenzungen u.a. durch Gesundheits-, Hygiene- und Produktivitätsdiskurse wird in den sich über die Wände von Innenräumen bahnenden Tapeten sichtbar. Auf der Beziehungsebene zwischen Mann (männlichem Held) und den potenziellen Partnerinnen sowie zwischen Frau respektive (weiblicher) Protagonistin und dem ihr als Belohnung zugedachten Partnergott ist entsprechend die Körperlichkeit zurückgenommen zugunsten eines Partnerschaftsideals (in der Psyche-Tapete konkret-visuell und bei Telemach implizit zum Ausdruck gebracht), welches auf Dauer und auf Fortpflanzung und gerade nicht auf die zweckfreie Erfüllung körperlich-sexueller Begierden ausgerichtet ist. Dem Aufklärungsgedanken gemäß sollen Ehepartner selbstverständlich auch innerhalb des Eheverhältnisses als frei und einander gleich gelten, wie auch Kant betont. Dass „rein gesetzlich der Mann als Vormund der Frau auftritt“,381 wirft jedoch noch einmal erneut und aus juristischer Sicht umso dringlicher die Frage auf, inwiefern Gesetze dem Ehemann eine recht große Macht über die Frau zusicherten – prinzipiell wie im Verhältnis des Vaters zu einem Kind – und dennoch ein Konsens über eine Gleichsetzung der Partner herrschen konnte. Erklärbar ist diese Diskrepanz in der Auffassung des Geschlechter- und Eheverhältnisses nur, indem man die Jurisdiktion von einem allgemeineren Leitbild trennt, das de facto nicht minder effektiv war. Ein solches Leitbild konnte in dispositären Anordnungen wie den hier untersuchten aus Romanen, Bildern und Alltagsgestaltung im und durch das Wohnen performativ wirksam werden.
380
Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen, wie Anm. 61, S. 28.
381
Julia Bobsin: Von der Werther-Krise zur Lucinde-Liebe: Studien zur Liebes-
semantik in der deutschen Erzählliteratur 1770–1800, Tübingen: Niemeyer 1994, S. 33; Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, dort: „Zum Eherecht“, 1. Teil, 2. Hauptstück.
159
Tapezierte Liebes — Reisen
Koschorke untersucht u.a., wie die Malerei „[…] einen wichtigen Beitrag dazu leistet, ein neues bürgerliches Leitbild der Familie und die damit verbundenen Rollenmodelle zu instituieren.“382 Er weist v.a. auf das Genre der Familienporträts hin, denn diese haben, wie er meint, „nicht nur eine repräsentative Funktion, sie dienen stillschweigend auch einem didaktischen Zweck.“383 Bildwerke und medizinisch-hygienische Schriften schließen sich beispielsweise zu einem gesellschaftspolitisch hochwirksamen Image der (selbst) stillenden Mutter zusammen: „Dem Bild der stillenden Mutter […] kommt hier programmatische Bedeutung zu. Es zeugt vom Erfolg der ungezählten medizinisch-pädagogischen Schriften, die sich gegen das als schädlich begriffene Ammenwesen wenden und im Selbststillen der Kinder die emotionale Basis der Mutter-Kind-Bindung schlechthin erkennen.“384 Das Gegenbild zu dieser mütterlichen Frauenrolle wäre dann z.B. eine rasende Calypso, die – von ihren Leidenschaften innerlich zerrissen – eben nicht das Ziel einer Familiengründung vor Augen hat, sondern eher die Machterlangung über den auf ihre Insel gelangten Jüngling. Das ideale Frauenbild, das immer wieder aus Romanen und Erziehungsschriften spricht, sieht jedoch eine moralische Frau vor, denn das „‚unverdorbene Weib‘, weiß nichts von der sexuellen Lust und ist ein gänzlich unsinnliches, vollkommen altruistisches Geschöpf.“385 Als ein solches wird auch die tapezierte Psyche entworfen, die ebenso einem Idealbild der mütterlich-fürsorglichen wie auch einer in ihrer Charakterschwäche leicht verführbaren, schließlich aber sich selbst zum guten Ende/zur guten Ehe lenkenden jungen Frau entspricht. Nur nach diesem Schema können das sich im Wohnen entwerfende Bürgertum und sich bürgerlich ausrichtende Klassen eine sittliche Liebe erreichen, die ohne Ehe undenkbar wäre, denn „[d]urch die Ehe konstituiert sich eine neue Familie, […] die neue Familie aber [ist] die sittliche Liebe.“386
382 Albrecht Koschorke: Vor der Familie: Grenzbedingungen einer modernen Institution, Konstanz: Konstanz Univ. Press 2010, S. 22. 383 Ebd. 384 Ebd., S. 24. 385
Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, wie Anm. 61, S. 165.
In der Zähmung, der Zurückhaltung, der Unverdorbenheit liegt allerdings auch eine hier sehr spezifisch geformte Sinnlichkeit, bzw. Sinnlichkeit und Unverdorbenheit sind nicht gleich Antonyme, sondern bedingen sich gegenseitig. 386
Georg W. Fr. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. von Lud-
wig Siep, Berlin: Akademie Verlag 2005 (Reihe Klassiker auslegen), §172, §324.
160
�. Dufours Paar-Anordnungen
�.�.� Paul und Virginie: Naturalisierung einer Freundschaftsliebe nach Rousseau’schen Prinzipien Liebe und Sittlichkeit bzw. Tugend ist auch das Thema der ebenfalls in Grisaille und Sepia gehaltenen Paul und Virginie-Tapete. [Abb. 14] Die beiden Kinder aus dem gleichnamigen 1788 erschienenen Roman von Bernardin de Saint-Pierre, einem Rousseau-Anhänger, werden aus den gesellschaftlichen Zwängen in eine Südsee-Natur hinaus-imaginiert, wo sie ihre Adoleszenz ‚freier‘ und quasi im Einklang mit der Natur verleben. Die sich formende ‚natürliche Gesellschaft‘ soll laut Rousseaus Vorstellung auf der Verbindung der beiden ‚unverdorbenen‘ und sich in Freundschaft zugeneigten Kinder fußen, „die schließlich im bürgerlichen Modell der Familie als einer substantiell außerhalb der rechtlichen Sphäre stehende Gefühlsgemeinschaft endgültige Gestalt annimmt.“387 Gefühl, Mitleid, Freundschaft und Menschlichkeit sollen als Ziel in diesem Modell natürlich-naturalisierter Liebe entwickelt werden, wobei aber eine leidenschaftlich-sexuelle Liebe lediglich die erste und auch definitiv zu überwindende Phase auf diesem Weg ist. Es geht gerade durch die Thematisierung des In-die-Fremde-versetzt-Seins um ein Heimkommen, das aber v.a. moralisch gemeint ist und ein Ankommen in der tugendhaften und ‚reinen‘ Ehe idealisiert, das jedoch für das junge Paar durch die sozialen Umstände unmöglich gemacht wird. Entsprechend ‚realisiert‘ es sich für Virginie auch erst im Tod und kann somit im Unterschied zu den anderen beiden Tapetengeschichten nicht mehr in der aktuellen Vergesellschaftung zu einem Happy End führen. Aber das Reisen als (hier schließlich gescheitertes) Heimkommen und auch Zu-sich-Selbst-Kommen wird trotz der Thematisierung einer exotischen Ferne an der Ausgestaltung der Szenen sichtbar innerhalb des eigenen europäischen Diskursfeldes verhandelt, und diese Ausgestaltung ähnelt nicht zufällig der Gartenlandschaft bei Telemach. Die Kinder wachsen wie Geschwister auf und werden zu Figurationen von Unschuld und Verwurzelung im großen Ganzen der Natur, die hier zum Haus und zum Schutzraum wird. Auch diese Tapete bedient sich einer antikisierenden Bildsprache und bringt somit Formeln einer harmonisch-freudvollen antiken Lebensgestaltung mit der idealisierten Freundschaftsliebe zusammen, während die ‚Exotik‘ v.a. darin zum Ausdruck kommt, dass das Biotop der mütterlichen Familien hier auf der Basis von Eroberung, Beherrschung
387 Friederike Kuster: Rousseau – die Konstitution des Privaten, Berlin: Akademie Verlag 2009, S. 36.
161
Tapezierte Liebes — Reisen
und sozialer Ungleichheit zustande kommt – auch indirekt eine Kritik an der Praxis der europäischen Gesellschaft. Letztlich inszeniert die Tapete die wachsende Liebe der beiden Kinder, die nachvollziehbar von Szene zu Szene von Kleinkindern zu Adoleszenten werden, und verbindet diese Liebe bildsprachlich mit Idealen von Treue und Geborgenheit sowie starken mütterlich-fürsorglichen Motiven, die das Konstrukt einer nur in der ewigen Treue und im Für-den-Anderen-Aufopfern sinnhaften Liebe unterstützen. Auf Virginie liegt dabei die Last, wenigstens in der Erinnerung (und hier im Bildtapetenraum sichtbar für die Bewohnersubjekte) ein anspruchsvolles Liebesideal in Verkoppelung mit einer weiblichen Leidensfähigkeit zu verkörpern; hier findet anders, aber trotzdem auch wie bei Psyche eine Aus- und Zurichtung weiblichen Verhaltens auf die tugendhafte Liebe zu einem männlichen (Seelen-) Partner statt. Entsprechend wird die Unterbrechung des Natur-Liebes-Freundschaftszustands, als Virginie in die verdorbene französische Gesellschaft zurückgeholt wird und sowohl sie als auch Paul daran zugrunde gehen, dann zum Symbol tragischer Entzweiung und Entfremdung durch die widernatürliche Gesellschaft, und wirkt als literarische Erfolgsstory seit dem Erscheinen des Buches noch durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch nach. Die Bildsprache der Tapete ist zum einen vor diesem Hintergrund und mit Bezug auf Rousseau’sche Ideale zu analysieren, und zum anderen ist die Gesamttapete hinsichtlich ihrer Medialität genauer unter die Lupe zu nehmen: sie ist ‚streng‘ grafisch-graustufig und eben nicht in bunten Inselfarben gedruckt und spielt so auf ihre Weise intermedial mit Vorlage-Stichen von Descourtis nach Frédéric Schall, als handele es sich um vergrößerte und farblich veränderte Kopien dieser Stiche. Sie scheint sowohl Gemeinsamkeiten mit der Telemach-Insel als auch der grisaille-farbenen Psyche-Tapete aufzuweisen. Insgesamt sind schließlich die Ähnlichkeiten und Abweichungen in den Liebes-Auffassungen, wie sie ansatzweise benannt werden konnten, und schließlich das sich entfaltende Raumwirkungspotenzial aller drei Tapeten zu untersuchen und zu bewerten.
�.� Dynamik(en) des Wohnens in und mit Bildtapeten Die Wandgestaltung mit Tapeten und anderen (papiernen) Elementen war durch Epochen und Zeitgeschmacksprägungen hindurch von „Wanderungen“ geprägt, wobei sich dabei ganz individuelle Kombinationen von Bildern, Ornamenten und
162
�. Dufours Paar-Anordnungen
Materialien im Innenraum ergeben konnten.388 Dadurch wird es schwierig, von einem klar abgrenzbaren Stil in einem Bildtapeten-Raum zu sprechen; zu stark ist der Einfluss individueller, regionaler oder familien- und gruppensoziologisch bedingter Faktoren und die mit der Empfindsamkeit und Frühromantik einsetzende Lust am Neuschaffen und Variieren bzw., wie im vorigen Kapitel beschrieben, am Umgang mit der Mannigfaltigkeit der Dinge, Themen und Verzierungen. Dennoch ist die klassizistische Form und Ausgestaltung der Bildtapetenbahnen, die sich v.a. in der Verteilung von Ideallandschaften und an den antikisierenden Bildfiguren sowie den zurückgenommenen Farbskalen – mit teils komplett in Grisaille oder Sepia getönten Szenen – und den Architekturkulissen zeigt, ebenso dominant für den Raum bzw. innerhalb des Raumes. Zusammen mit diesen formalen und stilistischen Merkmalen der Tapeten muss jedoch eine genauere Betrachtung der Ornamentik erfolgen, die für die Raumwirkung nicht minder ausschlaggebend ist. Ornamentale Gestaltung und insbesondere rapportierende Muster waren bis zum Siegeszug der Bildtapeten bzw. Papiers Peints und auch wieder ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die übliche Motivik für Tapetendrucke. Dennoch sind auch Bildtapeten zumeist mit ornamentalen Papierelementen in Beziehung gesetzt. Der Platz, der diesen in Bildtapeten-Räumen zugewiesen ist, findet sich allerdings in der Regel außerhalb der figuralen respektive Landschaftskompositionen und vorzugsweise in Form von papiernen Friesen, Sockeln, Lambris oder Rahmungen. Sie werden also materialiter in die Architektur bzw. die architektonisch-illusionistische Raumausstattung integriert und tauchen in einzelnen Szenen der Tapeten hin und wieder auch als Teil der Bildkomposition, d.h. innerhalb des Bildgeschehens, auf, wie beispielsweise in der Innenräume darstellenden Psyche-Szenerie, welche die Ornamentik als solche zur Erzählung werden lässt.389 Es werden so gerade durch die ornamentalen Gestaltungselemente Ordnungsbilder geschaffen und die Szenen an ihren Platz gewiesen, in geraden Bahnen gehalten und von anderen Szenen und Umgebungen abgegrenzt. Auf den ersten Blick sind also die noch im Rokoko so raumbestimmenden Ornamente wie verschlungene, für eine ganze Epoche namensgebende Rocaille-Formen,390 tänzelnde Putten und Stab- und Rankenwerk deutlich
388 389
Vgl. Kap. 2.1.2 der vorliegenden Arbeit. Vgl. die Szenenanalysen in Kapitel 5 der vorliegenden Arbeit.
390
Hans Sedlmayr: Epochen und Werke: gesammelte Schriften zur Kunstge-
schichte, Mittenwald: Mäander 1982, hieraus Band 3, Kapitel „Zur Charakteristik des Rokoko“; sowie ders., ebd., Band 2, Kapitel „Das Gesamtkunstwerk der Regence und des Rokoko“; Hermann Bauer: Rocaille. Zur Herkunft und zum Wesen eines Ornament-Motivs, Berlin: De Gruyter 1962.
163
Tapezierte Liebes — Reisen
reduziert und an den Rand gedrängt, um der Bilderzählung an prominenter Stelle an den Wänden Platz zu machen. Jedoch verschwindet die verspielte architektonisch-dreidimensionale Ornamentik um 1800 auch nicht ganz, sondern wird stattdessen immer mehr in eine Flächigkeit geholt, die mittels eines Trompe-l’œil immer noch (zumindest illusorisch) Dreidimensionalität im Raum suggeriert.391 Im Zusammenspiel mit den genauer zu untersuchenden perspektivischen Konstruktionen innerhalb der Bildtapeten werden die Wände dadurch scheinbar aufgebrochen und andere Schichten (visueller) Zeichen in den Raum eingebracht.392 So soll diese Arbeit auch nicht ausschließlich den narrativen Inhalten der Tapetenszenen gewidmet sein und die Übernahme historisch vorgängiger Ornamente und architektonischer Elemente in die Papierwelt nicht lediglich als eine Nebensache und ein Beispiel verfeinerter Lebensart beschrieben werden. Vielmehr soll auch die Frage nach dem Anteil an der Produktion von Bedeutung (am Objekt, auf der Fläche, in die Tiefe, im Raum, im intermedialen Austausch), den die Ornamente in Tapetenräumen haben, gestellt werden. Die Herausbildung von Ordnungsschemata, wie sie auch Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ beschreibt, wenn „die Gemälde, die sonst in dem alten Hause zerstreut herumgehangen, nunmehr zusammen an den Wänden eines freundlichen Zimmers neben der Studierstube, alle in schwarzen, mit goldenen Stäben verzierten Rahmen symmetrisch angebracht“393 sind, ist dabei besonders relevant, denn gerade in Bildtapeten-Räumen sind die Bildszenen und das Ornament-‚Beiwerk‘ nicht willkürlich oder verstreut angebracht. Als dritte damit verknüpfte Ebene ist die Formung oder gar Erziehung, Konditionierung und Disziplinierung von Subjekten entsprechend ihrer spezifisch zu-zuordnenden Subjektpositionen mit in Betracht zu ziehen,
391
Vgl. Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20.
Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Berlin: Ullstein 1966. Siehe hier S. 145: Die „Dreiheit Régence – Rokoko – Louis XVI. ist nun als Ganzes eine deutliche Absage an etwas sehr Wesentliches im Barock, an die Idee des ‚großen‘ Menschen. Das prägt sich schon darin ab, dass das Gesamtkunstwerk dieser Epoche nicht mehr der öffentliche Königspalast oder die Kirche ist, sondern der relativ kleine und intime Stadtpalast, und dass die Ikonologie dieses Gebildes vollkommen von den ‚großen‘ Themen abrückt und sich ins Kleine, Spielerische und Amourös-Idyllische wendet“. 392
Dies gilt insbesondere für Tapeten, ist aber natürlich kein spezifisches
Merkmal dieses Mediums, wie erhaltene Raumbeispiele sowie Abbildungen und Zeichnungen von klassizistischen Interieurs zeigen. 393
Vgl. den Text von J. W. Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit
in der Hamburger Ausgabe: Erich Trunz (Hg.): Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, 9. überarb. Auflage, München: C. H. Beck 1981, Band 9, S. 28.
164
�. Dufours Paar-Anordnungen
die sich in den Ordnungen im Raum mit vollzieht. Goethes schwarz-gülden gerahmte Gemälde-Reihungen entsprechen so einer Anordnung von subjektivem Charakter und von individueller Lebensweise und Weltauffassung innerhalb des Wohnraumes: ein Sich-Verlieren zwischen verstreuten Einzeleindrücken ist dem Blicken und Verstehen in geordneter Reihenfolge und unter vereinheitlichter Rahmung394 gewichen. Ohne auf dieses literarische Beispiel näher eingehen zu können, sei bemerkt, dass sich mit den Bildtapeten und ihren ornamentalen Ergänzungen zwar ein nicht ganz so abrupter Wahrnehmungswechsel vollzieht, aber interessante Spannungen von Rahmung/Ordnung bzw. Vereinheitlichung und der freien Kombinatorik und Fragmentisierungslust zu beobachten sind. Zwang und Freiheit sind auch in diesem Medium und intermedialen Spiel nicht immer klar unterscheidbar und sollten es auch nicht sein.
�.�.� Bilder – Ornamentik – Zeichen: Struktur der Wand, Ordnung des Raums Ornament-Paratexte und das isolierende Subjekt Durch die gängige Kategorisierung von Tapeten, hauptsächlich anhand ihres dargestellten Inhalts bzw. ihrer Motivik, wie sie im zweiten Kapitel kritisch beleuchtet wurde, ergibt sich eine Differenz in der (impliziten) Bewertung von einerseits eine Szenerie ‚repräsentierenden‘ Tapeten – den hier verhandelten Bildtapeten – und den mit potenziell unendlich wiederholten Ornamenten versehenen Tapeten (mit den häufigsten Formen der Arabesken- und der Draperien-Tapete). Doch gerade die hier betrachteten Bildtapeten zeichnen sich dadurch aus, dass diese Elemente miteinander kombiniert sind und dass das eine durch das andere ergänzt, ge- und entrahmt werden kann. Aus dieser Sicht können ornamentale Elemente nicht mehr lediglich als ‚Beiwerk‘ zu einem mit der eigentlichen Bedeutung aufgeladenen Hauptinhalt gesehen werden; sie sind vielmehr struktur- und ordnungsstiftende Prinzipien, denn „Ornamente können als eine Maßgabe bildlicher Ordnung verstanden werden.“395 Besonders augenfällig ist dieses Maß-Geben und die (Raum-)Struk-
394
Dies ist im materiellen und übertragenen Sinn gemeint, als vorgege-
bener ‚Rahmen‘, in dem etwas getan werden muss oder kann. 395 Vgl. die Einleitung: Vera Beyer und Christian Spies: „Ornamente und ornamentale Modi des Bildes“, in: Dies. (Hgg.): Ornament: Motiv – Modus – Bild, München u. a.: Fink 2012, S. 12–23, hier S. 14.
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Tapezierte Liebes — Reisen
turierung durch Ornamente im fränkischen Schloss Ellingen und dem dort neben dem Festsaal liegenden Psychezimmer.396 Hier dominiert keinesfalls die Psyche-Tapete, die in Einzelbilder zergliedert und mit mehrfacher Rahmung geschmückt ist, sondern es wird gerade eine Kombination aus Bildern/Erzählung und Ornamentik vorgeführt, deren einzelne Elemente in einem räumlich wirksam werdenden Bezug zueinander stehen und somit ein für die gesamte Innenausstattung geltendes Programm zum Ausdruck bringen. Um hier noch einmal auf die Staffage bei Poussin zurück zu kommen, so sind seine Kleinkompositionen und insbesondere Figurenstaffagen auch als Parerga zu deuten, die (konkrete) antike Texte auf ein erzählerisches Moment hin zuspitzen und den Betrachter durch das Bildgeschehen lenken, indem sie wie ein Kommentar zur Entschlüsselung des symbolischen Gehaltes des Bildes fungieren.397 Auch die Ornamentik in Bildtapetenräumen erfüllt eine wichtigere Funktion als die des bloß schmückenden Beiwerks. Um einen literaturwissenschaftlichen terminus technicus zu gebrauchen, so kann man die ornamentalen Bereiche der Tapeten als Paratexte lesen, was ihnen andere Qualitäten zuerkennt als die Rede von einem epitheton, also nach der antiken Rhetorik von etwas (beiläufig) Zugefügtem. Das Präfix para- kann neben sowohl örtlicher als auch zeitlicher Bestimmung eine Gegenrede oder auch ein direktes Zusammenwirken anzeigen; das heißt, die Ornament-Paratexte können Akzente setzen, welche durchaus die Lektüre verändern. Sie beeinflussen somit die Wahrnehmung der ganzen Tapeten-Anordnung, kommentieren sie und/oder formen ggfs. eben auch eine Gegenrede zu den sich nur scheinbar nahtlos aneinander fügenden Erzählsequenzen. Ein Beispiel hierfür wären die Ausblicke in eine wilde, von Palmen dominierte Natur im Paretzer Gartensaal, die jedoch durch die Trennung mittels rautenförmiger Bordüren und aufgedruckter Verandagitter, welche zusammen eine strikte Rahmung vornehmen, den Standpunkt des Betrachters distanzieren. So wird der Eindruck, inmitten einer Palmenoase zu stehen, sofort wieder zurückgenommen und der Aufenthalt in einem vom Draußen getrennten Drinnen akzentuiert. [Abb. 15] Bildelemente und wiederholte Ornamentik – wie hier in Paretz die wiederholten Rauten, die angelehnt an ein Bandelwerk die Naturdarstellungen um- bzw. einfassen – sind also grundsätzlich aufeinander bezogen. Deshalb ist auch das über die Papierbahnen entfaltete
396
Vgl. Kap. 5.3.4 der vorliegenden Arbeit.
397
Vgl. Henry Keazor: Poussins Parerga. Quellen, Entwicklung und Bedeu-
tung der Kleinkompositionen in den Gemälden Nicolas Poussins, Regensburg: Schnell & Steiner 1998, insbesondere S. 137f. und zur „Signalwirkung“ der Elemente im Bild S. 149.
166
�. Dufours Paar-Anordnungen
Abb. 15 Tapeten aus der Manufaktur Aaron Wessely, Gartensaal Schloss Paretz, Brandenburg, ca. 1797–98.
Tapetenmotiv (das unter einem – bei den Dufour-Beispielen bereits aus der Literatur bekannten – Titel als ein fertiges Produkt angeboten wird) von der konkreten Anordnung398 dieses Produktes im Raum zu unterscheiden. Eine Sache an etwas (davon Unterschiedenes) an zu ordnen ist seit Aristoteles mit dem Begriff des kosmos verbunden, und dieser „[…] bezeichnet gleichzeitig den Schmuck, das Schmuckstück oder die Schminke, kurz jedes künstliche Mittel der Verschönerung und die Anordnung, die harmonische Ordnung. Der epithetische Charakter von Ornament kann also nicht allein unter dem Blickwinkel einer Kosmetik betrachtet werden, es erhält eine weitreichendere, konsistentere Bedeutung durch den Aspekt der Anordnung.“399 Die Wahrnehmung und Lektüre wird bei dieser Anordnung von den ornamentalen Elementen mitbestimmt, welche als rhetorische Diskursformation400 wirksam werden. Daher „[…] gilt es zu analysieren, wie und wodurch Bilder ornamentale Qualitäten bekommen und wo Ornamente bildliche Wirkung entfalten. Im Hinblick
398 Die Anordnung kann mit oder ohne zusätzlichen Papierdekor und in bestimmten Hänge- und Bruchstellensituationen erfolgt sein. 399
Siehe Danièle Cohn: „Der Gürtel der Aphrodite. Eine kurze Geschich-
te des Ornaments“, in: Vera Beyer und Christian Spies (Hgg.): Ornament: Motiv – Modus – Bild, wie Anm. 395, S. 148–178, hier S. 152. 400
Ebd., S. 149.
167
Tapezierte Liebes — Reisen
auf das Verhältnis zwischen einer potenziell unendlichen ornamentalen Wiederholung und der begrenzten Bildfläche stellt sich dabei beispielsweise die Frage, welche Rolle Rahmungen für die Wirkung von Ornamenten als Bild spielen – und inwiefern umgekehrt die Wiederholung des rahmenden Ornaments in einer Reihe von Bildern dazu führt, dass das Bild selbst als Ornament eines Raumes wahrgenommen wird.“401 Die Tapeten-Anordnungen können sowohl Bilder mit ornamentalen Qualitäten als auch Ornamente mit bildlicher Wirkung aufweisen. Deren Zusammenwirken an der Wand respektive im Raum funktioniert als eine Semiose, die wiederum im Austausch mit Betrachtersubjekten produktiv wird. Gerade mit dem Ziel, die sich zwischen den Bild-Ornamenten positionierenden Subjekte als Teil der An-Ordnung im Raum zu betrachten, macht es Sinn, über die Kategorie des Schmucks, des Beiwerks oder der Zierde hinauszudenken und diese nicht mehr nur als „Füllwerk – nach dem Vorbild natürlicher Überfülle – der von der narrativen Mimesis offen gelassenen Zwischenräume zu betrachten.“402 Das Konzept des Parergons bzw. Paratextes als Signal, Kommentar oder Gegenrede verdeutlicht besser, inwiefern man es hier mit einem Zusammenspiel zwischen visueller Narration, Ornamentik, Raumgefüge und Betrachterwahrnehmung zu tun hat und nicht nur mit optischem Beiwerk oder zufälligen Zierformen. Dass oft Zwischenräume, Auslassungen oder Gegen-Richtungen bei einer Lektüre entstehen, ist immer auf ein Zutun des Subjekts und dessen Konstruktionsfähigkeit zurückzuführen und nicht darauf, dass Ornamente notwendigerweise Leerstellen einer Narration (und somit auch erst ansonsten funktionslose Leer- oder Zwischenräume) markieren. Statt automatisch von einer binären Opposition von ‚Leere‘ versus ‚Fülle‘ oder ‚Hauptwerk‘ versus ‚Beiwerk‘ auszugehen, könnte es sich als gewinnbringend erweisen, mit Kant, Schiller und vor allem Moritz, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Ästhetik grundsätzlich neue Fragen und Perspektiven aufwarfen, die Rolle des Menschen als die eines wirklichkeitskonstruierenden Subjekts anzunehmen. Er/Es ist nicht einfach ein passiver Empfänger des ihm Dargebotenen, sondern: „Das Ornament bestätigt, dass das Sichtbare das ist, was der Mensch konstruiert und nicht das, was er durch seine Wahrnehmung aufnimmt.“403 Struktur, Ordnung und Sinngebung sind nicht einfach da, oder fix an ein Bild X, ergänzt um Ornament Y, gebunden. Sie ergeben sich vielmehr im Wechselverhältnis von Wand, Raum und Zeichenfluss und dem sich dazwischen 401 402 403
168
Wie Anm. 395, S. 16. Wie Anm. 399, S. 159. Ebd., 171ff.
�. Dufours Paar-Anordnungen
situierenden Betrachtersubjekt. Dieses Wechselverhältnis und eben auch das sicht- und ordnungserzeugende Potenzial von Ornamenten darin ist das hier eigentlich zu erforschende Thema und nicht die Tapete, die Motivik oder der Tapetenraum allein. Es lassen sich so Sichtbarkeiten und Ausschlüsse innerhalb dieses Prozesses untersuchen, die mitunter sehr komplex und nicht auf den ersten Blick fassbar sind. Die bei den Ästhetikern des späten 18. Jahrhunderts geläufigen Begriffe des Spiels, des Isolierens und der schöpferischen Kraft des Subjekts verweisen sowohl auf die Bedeutung des Ornamentalen als Gestaltungsprinzip und die diesbezüglich stattfindenen Veränderungen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert als auch auf die Rolle der (mitspielenden) Subjekte – beides Untersuchungskriterien und Erkenntnisfaktoren für Tapetenräume, die bisher noch weitgehend unberücksichtigt blieben. Nach Karl Philipp Moritz sind „Körper und Seele nach einer ‚prästabilierten Harmonie‘ verbunden: Es handelt sich zwar um zwei verschiedene Substanzen, sie sind jedoch verwandt, sie kommunizieren und beeinflussen sich gegenseitig. Die Moritzsche Ornamenttheorie wird also im Rahmen eines psychologisch-anthropologischen Vorhabens entwickelt. Dabei versteht Moritz das Verzieren tatsächlich als einen Trieb des Menschen […].“404 Ein anthropologisches Programm des „Ganzen Menschen“405 zu entwickeln war ein wichtiger geistesgeschichtlicher Teil der Aufklärung, und Moritz hat entsprechend Überlegungen zum Trieb zum Verzieren und zu Körper und Seele des Menschen mit Zügen einer Ornamenttheorie verbunden. Diese wiederum hängt mit aufklärerischen Postulaten von Vernunft und Schönheit bzw. deren Einklang zusammen406 und kann nur vor dem Hintergrund des Ornamentstreites der 1790er Jahre sowie der stilistischen Ab-Lösungen vom Rokoko und Régence-Stil hin zu den verschiedenen Formen des Klassizismus verstanden werden. Clara Paquet bemerkt hierzu:
404
Clara Pacquet: „Das Spiel des Ornaments bei Karl Philipp Moritz.
Zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit“, in: Vera Beyer und Christian Spies (Hgg.): Ornament: Motiv – Modus – Bild, wie Anm. 395, S. 237–252, hier S. 243f. 405
Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Litera-
tur im 18. Jahrhundert, DFG-Symposion 1991, Stuttgart/Weimar: Metzler 1994. 406
Karl Philipp Moritz: Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente, mit einer
Einführung von Hanno-Walter Kruft, Faks.-Neudr. der Ausg. Berlin 1793, Nördlingen: Uhl 1986.
169
Tapezierte Liebes — Reisen
„Über Form in ihrem Verhältnis zur Schönheit nachzudenken, ohne das Phänomen des Ornaments zu berücksichtigen und zu analysieren, war tatsächlich unmöglich geworden. […] Die Debatte ist also vor dem Hintergrund dessen zu verstehen, dass der Klassizismus das Rokoko besser verneinen kann, wenn er seine eigene Beziehung zum Ornament klärt. Dazu muss er das Ornament nicht nur negativ, sondern auch positiv definieren. Ein solches positives Verständnis des Ornaments erfordert, dass es zum Begriff des Schönen sowie der Vernunft und der Notwendigkeit passt, sonst würde es sich als eine Gefahr für die Schönheit und die Selbständigkeit des Kunstwerkes erweisen.“407 Offensichtlich ist das Ornamentale – mehr als ein verzierendes, Epochen und Stile abgrenzendes und differenzierendes ästhetisches Instrument – auch ein Mittel der Übertragung von didaktischen Inhalten und ein Teil des Programms der Erziehung zum „Ganzen Menschen“ und darin den Bildinhalten auf der Wand und im Raum durchaus gleichgestellt. Deutlicher wird dieser den Schriften Moritz’ zu entnehmende Anspruch, wenn es um Begriff und Tätigkeit des „Isolierens“ geht, als „immerwährende Beschäftigung des Menschen“.408 Ein Element aus seiner Umgebung (optisch) zu lösen und ihm damit eine Aufwertung, einen besonderen Erkenntniswert oder einen spezifischen Bezug zu anderen Elementen zu geben, ist ein Hauptmerkmal des Rahmens respektive vorgenommener Rahmungen an Wänden, denn „[…] das Ornament existiert zuerst im Verhältnis zu einem Ort und als dessen Einfassung entscheidet es in jedem Fall, ob dieser Ort einem Kunstwerk entspricht oder nicht. Damit weist es einem einen Gesichtspunkt zu, von welchem aus man das Objekt oder das Ereignis ins Auge fassen kann, um es zu lesen. […] Der Rahmen macht sichtbar, dass das Kunstwerk ein ‚in sich selbst vollendetes‘ Gebilde ist; er unterstreicht das Wesentliche und leitet sein Grundprinzip zugleich aus dem Werk her, welchem er untergeordnet ist. So muss das Ornament ständig und stets im Dienst des Ganzen arbeiten und den Totalitätseindruck erleuchten [Hervorhebungen der Autorin].“409 Das „im Dienst des Ganzen“ stehende Ornamentale entspricht in Bildtapeten-Räumen also nicht zuletzt den vorgenommenen Rahmungen, Ein- und Ausschnitten in bzw. aus den Szenerien und der über die Tapetenfläche hinaus
170
407
Wie Anm. 404, S. 245.
408
Karl Philipp Moritz: Schriften zu Ästhetik und Poetik, wie Anm. 28, S. 116.
409
Ebd., S. 247.
�. Dufours Paar-Anordnungen
reichenden, sie mit der Wand und dem Raum gleichermaßen verbindenden ‚Thematik‘ wie z.B. des ‚präsentierten Gemäldes‘ (wie in Ellingen) oder der ‚pompejanischen Sockelzone‘ (wie in Warendorf).410 [Abb. 16 und Abb. 17] Die
‚Verhältnis‘-Zuweisung und Einfassung der Bilder durch Ornamente, in Form von Rahmungen, und letztlich auch der Ornament-Rahmungen durch die Bildfelder – denn die Rahmungen sind ihrerseits auf das zu Rahmende angewiesen – hebt auf die Vermittlung eines übergeordneten (Raum-)Eindrucks ab. Dabei steht, auch und insbesondere beim Vorhaben einer Analyse spezifischer Bildtapeten-Räume, die Dynamik der wechselseitigen Bezüge und Verweissysteme im Fokus, denn weder Ornamente noch die von ihnen umgebenen Bilder sind statisch. Es ist, wie schon bei Moritz, festzuhalten, „dass das Ornament deshalb ein dynamisches Potential besitzt, weil es gleichzeitig befestigen und aktivieren kann. […] Das Ornament ‚spielt‘, bewegt sich zwischen Form und Bedeutung, Künstler und Empfänger, Objekt und Subjekt und, wie die Monade, zwischen dem Innen und dem Außen.“411 410
Vgl. die exemplarischen Analysen in Kap. 5.3.4 und 4.3.1 der vorliegen-
den Arbeit. 411 Karl Philipp Moritz, wie ebd., S. 247f.
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Abb. 16 Psyche-Tapete im mittelfränkischen Schloss Ellingen/ Bayern, Szene 1: Psyches Eltern befragen das Orakel. Abb. 17 Telemach-Tapete in Warendorf/ Nordrhein-Westfalen, Klosterstraße 7, Szene 3 und pompejanische Sockelzone.
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Da dem Subjekt als einem spielenden, anordnenden, isolierenden eine zentrale Rolle in dieser Dynamik zukommt, und auch das Potenzial des Ornaments nur durch das Subjekt aktiviert werden kann, sind schließlich die anthropologisch-didaktischen Kategorien von Verstand, Einbildung und freiem Spiel412 dem Moritz’schen „Dienst des Ganzen“ inhärent. Erst im Subjekt bildet sich etwas heraus, entsteht ein Ein-Druck,413 der scheinbar logische Zuweisungen im Bild wie auch Raum und Zeit ins Kippen bringen kann, und der außer durch den Bild-Raum auch durch die im Interieur als Ganzes vorhandenen Rahmungen und Auslassungen entsteht. Hier setze ich bei der Bildtapetenanalyse also wieder insbesondere mit und entlang der zweiten Analyseachse von Bildersequenzen und Panoramablick an. Solch ein Ein-Druck steuert also Subjekte mental, und er wird auch materialiter von Druckerzeugnissen wie den Tapeten und den zirkulierenden Journalen und Ratgeberschriften hervorgerufen bzw. verstärkt. In Periodika wie dem JLM werden immer wieder eine ausgewogene Komposition der Inneneinrichtungsgegenstände, ihre Eleganz und die unbedingte Vermeidung von Schwere und Affektiertheit als die zentralen Punkte herausgestellt, anhand derer die Tapetenanordnung ebenso wie die anderen Objekte im Raum bewertet werden müssen, und zwar insbesondere, wenn es um die Einrichtung zum Teil privater, aber oft auch halböffentlicher Räume414 geht. Die Zusammenschau antiker Formeln, moderner Bedürfnisse (oder was als solche imaginiert und damit erst produziert wurde) sowie konkreter Einrichtungsgegenstände wie eben auch Tapeten lässt sich exemplarisch an einer Selbstdar-
412
Oder vielmehr geht es um eine anzustrebende Vermittlung von Ver-
stand und sinnlicher Wahrnehmung durch das Spiel wie bei Schiller, siehe Kap. 2.2.2 der vorliegenden Arbeit. 413
Wenn die den Wänden auf-gedrückten Elemente sich im Subjekt
ein-drücken, und es synthetisiert, also eine Gesamtvorstellung dessen entwickelt, was es aufgenommen hat. 414
Vgl. u. a. Ulla Terlinden: „Naturalisierung und Ordnung. Theoretische
Überlegungen zum Wohnen und zu den Geschlechtern“, in: Darja Reuschke (Hg.): Wohnen und Gender, wie Anm. 64, S. 15–26, insbesondere S. 15f.: „Die bürgerliche Wohnkultur des 19. Jahrhunderts zelebrierte […] die symbolische Trennung zwischen öffentlichen und privaten Räumen, indem sie halböffentliche Räume schuf wie die hoch differenzierte Eingangssituation mit Vorgarten, Haustür, Treppenpodesten und Fluren.“ Bei Norbert Wichard findet sich dazu: „In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist eine umfangreiche Ausdifferenzierung der Wohnräume nachweisbar […]. Die für die Gesellschaft öffentlichen Räume, darunter vor allem der Salon, befanden sich nun nach Möglichkeit im Erdgeschoss, die oberen Etagen des Hauses werden zum Refugium privater Intimität“, siehe: Erzähltes Wohnen, wie Anm. 53, S. 22.
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stellung der Tapetenfabrikanten Spoerlin und Rahn aus Wien nachverfolgen, die sich im JLM im Jahre 1813 finden lässt und die Verbindungen sowohl zur zeitgenössischen Kunst- und Ornamenttheorie als auch zur Subjektformung und -erziehung enthält.415 In dem Beitrag der Rubrik AMEUBLEMENT (einer der für das JLM wichtigsten Rubriken) mit dem Titel „Verzierungen zur Verbreitung des guten Geschmacks, herausgegeben von Spoerlin und Rahn, privaten Papier-Tapeten-Fabrikanten, in Wien“ heißt es zunächst: „Gute Musterblätter architectonischer Verzierungen tragen viel zur Verbreitung eines richtigen und geläuterten Geschmacks unseres Ameublements, so wie der Ausschmückung ganzer Häuser, bei. Eine gerechte Würdigung der bis jetzt unübertroffenen Bau- und Verzierungskunst der alten Griechen und Römer, deren vorhandene Ueberreste uns noch ein deutliches Bild der Harmonie und Schönheit der einzelnen Theile unter sich, so wie dieser zum Ganzen geben, führte uns in neuerer Zeit zurück von der verschrobenen Künstelei, welche sich seit Ludwig XIV. mit der Sprache auch in Sachen des Geschmacks über die Höfe und Privatverhältnisse Teutschlands verbreitete, und ließ uns mehr die schönen Formen der Antike benutzen. So reinigte sich, um bei dem hier zu erwähnenden Gegenstande zu bleiben, auch der Geschmack der Ornamente und architectonischen Verzierungen [Hervorhebungen der Autorin].“416 Die Musterblätter, die von den Fabrikanten herausgegeben wurden, dienten neben der Verkaufsförderung der eigenen Tapetenware nicht zuletzt dazu, eine Art Katalogwerk der als begehrenswert charakterisierten Ornamentik zu schaffen. Hierin zeigt sich eine von verschiedenen Strategien, den „richtigen und geläuterten Geschmack“ als unbedingtes Kriterium des Einrichtens zu verbreiten; und interessanterweise ist auch von einer „Reinigung“ die Rede, und zwar nicht
415
Die folgenden Ausführungen und Anknüpfungen an Moritz’ Ganzheits-
philosophie sind auch als Teil eines Artikels erschienen: Katharina Eck: „Donnant Naissance à la Volupté“, wie Anm. 303. 416
JLM 1813, Jahrgang 28 (Juli), http://zs.thulb.uni-jena.de/receive/
jportal_jparticle_00085661, S. 447–449, hier S. 448 [zuletzt aufgerufen am 23.08.2016]. In diesem Text wird deutlich auf Cicero und die antike Rhetorik Bezug genommen, die Ursprungsdisziplin für Theorien der Verzierung und des Schmucks oder Beirats (der parerga). Sie wurde erst im 18. Jahrhundert vornehmlich auf das Feld der Ästhetik übertragen. Cicero spricht schon in „De oratore“ von einer notwendigen Harmonie der einzelnen Teile (einer Rede), vgl. Gérard Raulet: „Ornament“, in: ÄGB, wie Anm. 250, Band 4, S. 656–683, hier S. 659.
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der Innenräume, sondern – in einem moralischen Sinne – des Geschmacks. Das Textbeispiel aus dem JLM geht mit der konkreten Begriffswahl jedoch weit über die Proklamation eines Siegeszugs des guten Geschmacks hinaus und deutet an, worin genau sich solcher zeigen würde: Harmonie sowie die daraus resultierende Schönheit gehen auf die (Verzierungs-)Künste der griechischen und römischen Antike zurück, und sie erscheinen aus dem Verhältnis der „einzelnen Theile unter sich“ und „zum Ganzen“. Ein schönes Motiv oder Muster allein kann noch nicht hinreichend sein, denn die einzelnen Elemente müssen ein Ganzes ergeben, welches als solches von den ZimmerbewohnerInnen und BesucherInnen wahrgenommen werden kann. Zudem wird der Begriff der „Reinigung“ mit dem Geschmack und der Harmonie verkoppelt, denn dies ist genau die ästhetische und moralische Dimension, für die ein im Innenraum wirksam werdendes Antikenideal in Abhebung zu den verkünstelten Verhältnissen am Hof des (Hoch)-Adels in Anspruch genommen wird. Letztlich haben solche Beiträge die Absicht, Orientierung für die Einrichtung zu bieten und somit wohnende und sich einrichtende Subjekte insofern zu erziehen, als sie auf keinen Fall (aufgrund mangelnder Planung und Information) geschmack- und stillos agieren und dadurch in ihren möglichen Beziehungen mit anderen Subjekten, die ebenso über Mode- und Geschmacksfragen und die Funktion der Antike als Vorbild informiert sind, gefährdet sein respektive den gemeinsamen Nenner dieser Beziehungen gefährden sollen. Diese Lebens- und Handlungsweise wird im JLM zwar als genuin bürgerlich entworfen, reicht jedoch über eine „kollektive Identitätsbildung“417 – die sich vor allem nach unten abzugrenzen versucht und über Bildung und ästhetische Formeln funktioniert – auch genauso in die Adelshäuser hinein, die wiederum diese Ausdrucksformen des Bürgertums goutieren. Die Hersteller Spoerlin und Rahn legen der Leserschaft des Journals weiterhin ihr Procedere zur Geschmacks- und Kauferziehung418 offen: sie beschafften sich erstens Vorlagen für geeignete Ornamente und Ausstattungselemente auf dem französischen Markt, und „[d]iese Ornamente sind theils von unserer Erfindung, großen Theils aber Nachbildungen von ausgezeichneten französischen Kunst- und Industrieproducten, welche wir, während unseres öftern Aufenthalts in Paris Gelegenheit hatten zu sammeln,“419
417
Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, wie Anm. 210, u. a. S. 132.
418
Für die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert siehe grundle-
gend zur Definition und Aspekten/Politiken der Kauferziehung: Gudrun M. König: Konsumkultur – inszenierte Warenwelt um 1900, Wien u. a.: Böhlau 2009. 419 JLM 1813, Jahrgang 28 (Juli), wie Anm. 416, S. 449.
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woraufhin sie sich zweitens einer intensiven Ordnungsarbeit widmeten, die allein zum Garanten für den Erfolg werden könnte, d.h. „[w]ir wandten unsere Erholungsstunden dazu an, die Zeichnungen zu ordnen, und übergeben anspruchslos dieses Werk einem geehrten Publicum, hinreichend belohnt, wenn es uns dadurch gelungen seyn sollte, bei manchem Künstler neue Ideen, bei anderen richtigeres Gefühl für schöne Formen und reinen Geschmack erweckt zu haben,“420 und benannten schließlich drittens eine Auswahl von wichtigen Gestaltungselementen mit der Angabe, wo diese – in ihrer geordneten Form – zu erwerben seien: „In [den Heften] findet sich eine Auswahl mannichfacher Verzierungen, zu Plafonds, Friesen, Säulen, Mittelfeldern, antiken Lampen u.v.m., welche nach guten Zeichnungen, in scharfen geistreichen Contouren gestochen, in ziemlich großem Maßstabe geliefert werden. […] Liebhaber finden in der Beckerschen Buchhandlung in Gotha Exemplare des ganzen Werks vorräthig.“421 Zur Auswahl, Ordnung und Bereinigung nach antikem Vorbild sei noch ein weiterer Beitrag im Themenbereich Inneneinrichtung herangezogen, der sich recht ausgiebig „Ueber die Dekoration der Zimmer“ äußert.422 Hierin lobt der Autor – vermutlich ein Herr Stieglitz – eine Zweckmäßigkeit in der Anordnung der Elemente, wie Fußboden, Gardinen und Öfen und auch Wandverzierungen untereinander, und zwar stets mit Bezug auf die „Alten“, wenn er darauf besteht, man könne „aus den Quellen schöpfen, welche uns aus dem Überflusse des Klassischen Alterthums entgegenquellen.“423 Seinem übergeordneten Grundsatz der zweckmäßigen Ausrichtung aller Elemente im Wohnraum entsprechend, bemüht sich der Autor jedoch auch, ein Ausufern oder Überborden der Verzierungen und ein allzu deutliches Vortäuschen ‚falscher‘ Wohnsituationen – wenn eine einfache Bürgerstube bspw. zu reich ausgestaltet wäre – zu unterminieren. Papiertapeten werden also aufgrund ihres Materials den einfacheren Innenräumen zugeordnet und Stofftapeten denen eines gehobenen Standards:
420 Ebd. 421 Ebd. 422
JLM 1806, Jahrgang 21 (Oktober): http://zs.thulb.uni-jena.de/recei-
ve/jportal_jparticle_00086508, S. 648–658, hier S. 648 [zuletzt aufgerufen am 23.08.2016]. 423 Ebd., S. 658.
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„Atlassene, seidene, und sammetene Tapeten ordnet man jetzt als freie Gehänge und Gardinen an, statt dass man sie sonst glatt auf die Wandfläche spannte […] und gewährt eine angenehme, reiche Mannichfaltigkeit, wenn die Gehänge mit Geschmack geordnet sind. […] Papiertapeten sind für ordinäre Zimmer eine sehr passende Dekoration, besonders wenn Grund und Bordüre mit Geschmack und Verstand erfunden und gewählt sind. In vornehmere Zimmer aber passen sie nicht, indem hier nicht nur die Form, sondern vorzüglich der Stoff den Reichthum bezeichnen muss.“424 Neben diesem Ordnungs- und Angemessenheitsargument taucht aber auch hier wieder der Aspekt der Mannigfaltigkeit auf, welcher bereits seit dem späten 18. Jahrhundert in der Kunstphilosophie, Gartentheorie und den verschiedenen Erziehungsprogrammen für moderne Subjekte maßgeblich war.425 Auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts und im Bereich der Innendekoration geht es darum, die Sinne anzuregen und die Imagination in Gang zu setzen, sei es durch die Anordnung der einzelnen Elemente im Raum oder die Zusammenstellung von (Ornament-)Musterbüchern zur Orientierung und Auswahl, wie es die oben zitierten Stellen aus dem JLM aufzeigen. Moritz’ Theorie des Isolierens und die anthropologische Dimension seines Denkens unterstreichen noch einmal aus einem anderen Kontext als diesem aus der Geschmacks- und Kauferziehung in Journalen und Ornamentbüchern herangezogenen, wie dieser Prozess der Bild- und Ganzheitswerdung als ein moralisch-didaktischer verstanden werden kann. Ein (imaginäres) Tätigwerden der Subjekte426 steht in einem Spannungsverhältnis mit den ästhetisch-moralischen Vorgaben der Schriften und Erziehungsmechanismen um 1800, jedoch sind beide Pole ausschlaggebend für das Wohnen und Sich-Einrichten und sollen auch bei den exemplarischen Analysen der Bildtapetenräume mit bedacht werden.
Arabeske in Theorie und (Tapeten-)Anwendung Aus den obigen Ausführungen ergibt sich, inwieweit auch in der Anwendung und Anordnung von und mit Bildtapeten grundsätzliche – und vor allem auf die Wahrnehmungs- und Produktionsfähigkeiten der Subjekte ausgerichtete –
424
Ebd., S. 655.
425
Vgl. die Verknüpfungen von Landschaftsmalerei, Kunstphilosophie und
-kritik in Bezug auf ein „Phantasiemanagement“ durch die betrachtenden Subjekte in Kapitel 2 der vorliegenden Arbeit. 426 Siehe Kap. 2, ebd., zur Einbildungskraft bzw. Imagination.
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ästhetische Überlegungen zu (Bild-)Zentrum und ornamentierten Rändern, zum Isolieren und zur Ganzheit sowie zu Harmonie und Angemessenheit eine Rolle gespielt haben. Die arabesk gestalteten Bordüren und Rahmungen, die sich auch in den klassizistischen Bildtapeten-Räumen oftmals finden, sollten aber auch deshalb gründlicher mit einbezogen werden, weil sie eine bildräumliche Verweisstruktur auf die Arabeske als eine kunsttheoretische Kategorie,427 vielmehr sogar Leitkategorie des späten 18. Jahrhunderts und des klassizistischen Geschmacks bilden. Dabei handelt es sich im Kontext dieser Geschmacks- und Verzierungsvorgaben allerdings um ein „Grenzphänomen […], das mit verschiedenen ‚Bildlogiken‘ (z.B. der Fläche und der Tiefe, ornamentalem Rand und plastischem Zentrum) artistisch-anmutig spielt […] indem ein Gesetz (z.B. die Schwerkraft) ausgesetzt wird“428, sodass die Arabeske „in der Lage ist, die zentralen Begriffe der Aufklärungsästhetik wie Naturnachahmung, Wahrscheinlichkeit, Klarheit, Schicklichkeit und Simplizität in Frage zu stellen.“429 Genau dieses Changieren zwischen Grenzbereichen und das Innovationspotenzial, das Angela Borchert ihr wiederum u.a. in Rückbezug auf Günter Oesterles Arabeskenforschung zuerkennt,430 ist im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts von den wichtigsten Theoretikern ebenso wie in populären Zeitschriften und Vermittlungsorganen umfangreich analysiert und diskutiert worden. So wurde der Ornamentdiskurs um 1800 eigentlich fast zum Synonym für den Arabeskendiskurs. Einer der sicherlich herausragendsten Texte hierzu stammt von Goethe („Von Arabesken“), der den Arabesken bescheinigt , dass sie das Auge erfreuen, jedoch auch „den Sinngehalt des verzierten Gegenstandes hervor[heben], indem sie die Aufmerksamkeit des Betrachters auf bestimmte Aspekte lenken.“431 Zum Thema Mitte und Rand oder Rahmen, Sinn und Leichtsinn heißt es bei ihm konkret: „Stäbchen, Schnirkel, Bänder, aus denen hie und da eine Blume oder sonst ein lebendiges Wesen hervorblickt, alles ist meistenteils sehr leicht gehal-
427
Zur Arabeske als kunsttheoretischer Kategorie siehe auch Günter Oes-
terle: „Arabeske“, in: ÄGB, wie Anm. 250, Band 1, S. 272–286, insbesondere S. 272. 428 Ebd., S. 272. 429 Ebd., S. 273. 430 Vgl. Anm. 131. 431 Gérard Raulet: „Ornament“, wie Anm. 416, hier S. 670.
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ten, und alle diese Zieraten, scheint es, sollen nur diese einfarbige freundlicher machen und, indem sich ihre leichten Züge gegen das Mittelstück bewegen, dasselbe mit dem Ganzen in Harmonie bringen.“432 Weiterhin formuliert Goethe, die Wand müsse „in ihrer Mitte ein proportionierliches gutes Kunstwerk enthalten, welches die Augen anzöge und den Geist befriedigte […] Fröhlichkeit, Leichtsinn, Lust zum Schmuck scheinen die Arabesken erfunden und verbreitet zu haben, und in diesem Sinn mag man sie gerne zulassen; besonders wenn sie […] der bessern Kunst gleichsam zum Rahmen dienen, sie nicht ausschließen, sie nicht verdrängen, sondern sie nur noch allgemeiner, den Besitz guter Kunstwerke möglicher machen.“433 Zwar ist Goethe der arabeske Schmuck dann doch eher als Rahmung und Hervorhebung des „Eigentlichen“, der „bessern Kunst“ in der Mitte der Aufmerksamkeit genehm, dennoch betont er ganz klar – analog den oben bereits von mir zitierten Stellen aus dem JLM und den im zweiten Kapitel aufgegriffenen Passagen – wie stark die Arabesken zur Harmonieherstellung und Ganzheitsorientierung und somit zu einem sich im Subjekt verfestigenden Gesamteindruck beitrügen. Moritz geht indes noch weiter, und zwar in Bezug auf Kants „Dritte Kritik“, wenn er ausgehend davon, dass „[d]as zweck- und interesselose Ornament […] zwar nicht zu etwas [dient], […] aber Symbol der Freiheit und Ausdruck der gemeinschaftlichen Dimension des Geschmacksurteils, das heißt eines Gemeinsinns oder gemeinschaftlichen Sinns [ist]“,434 der Arabeske ein ungemein freiheitliches Potenzial zugesteht. Zwar wird Moritz in seiner „Bedeutung als Theoretiker“435 vielfach unterschätzt, doch seine „Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente“ von 1793 sind in Hinsicht auf eine allgemeine Kunsttheorie ebenso wie auf konkrete Praktiken von Subjekten äußerst aufschlussreich. Für Moritz ist zentral, „dass Oberfläche als sie selbst thematisiert und in ihrer Eigenart untersucht wird […]“ und er „identifiziert das Ornament mit dem vollendeten autonomen Kunstwerk, mit der ‚schönen Figur‘ […]“.436
432
J.W. Goethe: Sämtliche Werke, Stuttgart/Berlin: Cotta’sche Buchhand-
lung o. J., Band 33: „Schriften zur Kunst, Erster Teil“, S. 49–54, hier S. 50. 433 Ebd. S. 51f. 434 Vgl. Gérard Raulet: „Ornament“, wie Anm. 416, S. 670. 435 Wie ebd., S. 671. 436 siert.
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Ebd. Die schöne Figur wird in ‚Über die Allegorie‘ von 1789 themati-
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Moritz möchte den Bereich der Kunst als eine autonome, von jeglicher Zweckhaftigkeit befreite Sphäre bestimmen, und dazu scheint ihm nicht so sehr ein etabliertes Genre wie das Historienbild bzw. ein logisch-linear erzählter Stoff geeignet, sondern gerade die schnörkelhafte, sich zu ganz eigenen Figuren windende Ornamentik. Dies erinnert sehr stark an die im zweiten Kapitel behandelten mit Landschaftsgärten in Verbindung gebrachten Schlangenlinien und die Freiheit in der Mannigfaltigkeit – insbesondere, wenn Moritz wiederum „die Wellenlinie als eine Form zweckfreier Schönheit, die ihren Sinn in sich selbst hat“437 bestimmt. Er legt so schlängelnde Linien, Freiheit und Selbstzweck der Arabeske über ihre eigentliche Schmuckfunktion hinaus als ästhetische Kategorien fest, welche auf den ersten Blick schwer in ein klassizistisches Weltbild von Symmetrie, Ordnung und Maß passen mögen. Auch die Auffassung, das Arabeske sei „ein schönes Labyrinth, worin das Auge sich verliert“ und sogar „das Wesen der Zierde selbst, die sich an kein Gesetz bindet, weil sie keinen Zweck hat, als den, zu vergnügen“438 stimmt zwar mit der neuen freiheitlichen Philosophie, mit Goethes Überlegungen und mit dem Schiller’schen Spieltrieb überein, jedoch weniger mit klassizistischer Kunstproduktion, (Innen-)Architektur und Einrichtung. Der eben dennoch existierenden Verbindung von klassizistischen Themen und Landschaften mit solchen arabesken Linien und Bereichen kann in Bildtapetenräumen nachgespürt werden; die Kapitel vier bis sechs widmen sich solchen Räumen. Dabei sind die hier in groben Zügen aufgerufenen Theorien und Debatten auf keinen Fall zu vernachlässigen, da sie implizit in diesen Wand- und Raumgestaltungen mit- und nachwirken und die sich dort aufhaltenden Subjekte ebenfalls darin geschult sind und performativ weitergeschult werden. Auch die tapezierte Scheinarchitektur bzw. die vielen Trompe-l’œil in den Tapetenszenen und die sich hierin zeigende Überkreuzung von Architektur bzw. Tiefe und Ornamentik bzw. Fläche lässt sich auf einer Meta-Ebene der Wahrnehmungsästhetik analysieren. Gérard Raulet spricht in Bezug auf Goethe von einem „[…] Verhältnis zwischen Wand und Säule“, welches „das Problem des Verhältnisses zwischen Transzendenz [der Vertikalität der Säule] und Immanenz [der Horizontalität der Wand, der Breite]“ architektonisch-räumlich veranschaulicht.439 Beide Wirkungsrichtungen (in die Höhe, in die Breite) entsprechen auch miteinander in Bezug gesetzten Blick- und
437
Ebd., S. 672.
438
Karl Philipp Moritz: „Arabesken“, aus der „Theorie der Ornamente“,
in: Helmut Pfotenhauer und Peter Sprengel (Hgg.): Bibliothek der Kunstliteratur, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1995, S. 393–395, hier S. 395. 439 Gérard Raulet: „Ornament“, wie Anm. 416, S. 672f.
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Aufmerksamkeitslenkungen sowie einer „Verweildauer“ oder einem „arabesken zerstreuten Sehen“,440 die wie in einem Spiel miteinander kombiniert werden können. Gerade dass die oder das Arabeske „[i]m Schutz ‚subordinierter Kunst‘ und im Rekurs auf soziale Zeichen der Freude und des Spiels“441 analysiert worden ist, verleiht ihr eigentlich erst das Potenzial, sich als eine ästhetisch legitime Arabeske und Teil einer Ästhetik der Grazie und Anmut, der Leichtigkeit und Ungezwungenheit zu etablieren. Somit kann sie in dem, was ihr als ein gesellschaftlich-didaktisches ‚surplus‘ hinzu imaginiert wird, geradezu ein innenräumliches Pendant zum Idealbild des außenräumlichen freiheitlichen Landschaftsgartens, der im letzten Kapitel besprochen wurde, werden. Die Goethe’sche Lust zum Schmuck ist auch auf den Tapeten auffällig, sie soll daher in ihrer erotischen Semantik als Schlagwort so festgehalten werden. Offensichtlich ist hier ein wichtiges Moment für die Bezugsetzung von Subjekt und Bild-Tapeten-Wand-Programmen benannt. Diese Lust, die Leichtigkeit und Anmut bzw. das „Schwebende“442 sowie die „Autonomie der schaffenden Einbildungskraft“, die in der „Arabeske ihre universelle Form“443 findet, soll an einzelnen motivischen Elementen der Tapetenlandschaften, wie der Palastarchitektur, Wolkenformationen, kleinen Lust- und Wandelgärten oder Tänzen, konkret nachvollzogen werden. Anthropologie, Philosophie und die Tapezierung der Wände und Räume sind so ‚vom Großen‘ der Gedankenspiele Goethes und Moritz’ bis in ‚das Kleinste‘ der einzelnen bedruckten Tapetenbahn im (Privat-)Raum miteinander korreliert. Zu dieser allgemeineren Wahrnehmungs- und Gestaltungsebene tritt dann auch die Ebene der Paar- und Liebesauffassungen entsprechend der in den jeweiligen Tapeten visualisierten Themenkomplexe hinzu.
�.�.� AufgeRÄUMT: Dispositäre Anordnungen aus Bildtapete, (Orientierungs-)Raum und Subjekten Wenn mit und über Moritz hinaus von „isolierenden“ und ihr Umfeld (mit-)konstruierenden Subjekten in Relation zu Raum und Wand auszugehen ist, so folgt daraus, dass Räume auch prinzipiell – und ganz besonders nach Auffassung der Kunst- und Gesellschaftstheoretiker des 18. und frühen 19. Jahrhunderts – immer Interaktionsorte sind. Diese bilden sich respektive ihre Merkmale zum
440 441 442 443
180
Günter Oesterle: „Arabeske“, wie Anm. 427, S. 274. Ebd., S. 275. Ebd., S. 276. Ebd., S. 277.
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Teil erst dann heraus – oder besser gesagt auf ganz neue Weise heraus – wenn mehrere Subjekte in ihnen interagieren. Es sei noch einmal betont, dass bei Bildtapetenräumen neben der Eigenschaft der Wände, Teil eines Bezugs- und Interaktionsraumes für Subjekte zu sein, noch eine Art gedoppelte Räumlichkeit hinzugedacht werden muss: innerhalb der Bildszenerie, die sich die Wände entlang zieht, wird ein spezifischer Bildraum entfaltet, der sich als im Moment des Betrachtens vom Subjekt zur Vorstellung gebrachter Raum vom umgebenden Raum des Zimmers oder Saales unterscheidet. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll der innerhalb der Bilder dargestellte Raum als ‚Bildraum‘ und der umgebende als ‚realer Raum‘ oder auch ‚umgebender Raum‘ bezeichnet werden. So ist z.B. der Gartensaal in Borghorst mit seinem Grundriss, Fenstern, Türen, Stuckverzierungen etc. der reale Raum und die in den Tapetenszenen dargestellte Insel der Calypso der Bildraum, der zwar fiktiv ist, aber durchaus Wirkungen im Verbund mit dem realen Raum haben kann. Diese Art von Doppelräumlichkeit, die damit angesprochen ist, haben die mit Bildern tapezierten Zimmer mit den Zimmern vorangegangener Epochen und Wohnkontexte gemeinsam, wie beispielsweise den mit Fresken geschmückten Sälen in Renaissance-Palästen oder mit Gobelins ausgestatteten barocken Interieurs. Es gab bei der Entwicklung von Raumprogrammen schon immer Bestrebungen der Künstler, Dekorateure und Auftraggeber, die Betrachter imaginär einzusaugen, einzuhüllen, oder Teil eines dreidimensional gedachten Bild-Raumes werden zu lassen.444 So gesehen wäre die in Bezug auf die Künste der Gegenwart formulierte Feststellung, „[d]as Verhältnis des Betrachters zur Kunst“ sei „früher durch ‚Gegenübertreten und Davorbleiben‘ gekennzeichnet“ und habe sich dann schließlich „in Richung ‚Eintreten und Eintauchen‘ verschoben“445 etwas zu relativieren: bei Objekten, die sowohl in die Tiefe als auch in die Breite konzipiert sind, werden (gemäß den Goethe’schen Überlegungen zu Säule und Wand bzw. Vertikalität und Horizontalität) die betrachtenden Subjekte von allen Seiten umgeben, wie es
444
Rudolf Behrens und Jörn Steigerwald geben hier hauptsächlich Bei-
spiele aus der Literatur: „Raum – Subjekt – Imagination um 1800. Einleitende Überlegungen“, wie Anm. 206, S. 5: „[D]as sich individuierende Subjekt [kann] sich imaginativ mit anderen, abwesenden Räumen vernetzen, um sich in einer Art doppelter Verräumlichung seiner selbst zu versichern; sei es in elegischer Distanz zur klassischen Antike, wie z.B. bei Goethe oder Mme de Staël, sei es in bewusst gewählter Abgeschiedenheit zu den als degeneriert geltenden Zentren der Zivilisation, wie bei Bernardin de Saint-Pierre oder Senancour.“ 445
Vgl. Robert Kudielka im Tagungsband Topos RAUM, zit. n. Michaela
Ott: „Ästhetik/Kunstgeschichte“, in: Stephan Günzel (Hg.): Raumwissenschaften, wie Anm. 66, S. 14–60, hier S. 16.
181
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bei den Bildtapeten der Fall ist, sodass nicht mehr von einem „Davorbleiben“ gesprochen werden kann. Die Bildtapete steht keinem Subjekt gegenüber, sie bildet vielmehr mit ihm oder ihr zusammen eine situative Anordnung, die durchaus einem „Eintauchen“ gleichen kann, selbst wenn die Wände nicht (im Gegensatz zu vielleicht einer zeitgenössischen Installation) realiter, sondern eher mental betreten werden können. Wenn es um den Bildraum geht, so ist die Forschung hierzu – v.a. in der Kunst- bzw. Bildwissenschaft, der Ästhetik und den Cultural Studies – immer mit den Kategorien von Raum und Zeit (im Bild) verknüpft. Da die ‚Literarisierung‘ der Wände mit Dufour’schen Bildtapeten gerade auch durch die Entfaltung von Inhalten in Zeit und Raum stattfindet, soll an dieser Stelle eine (Neu-) Betrachtung dieser Tapeten als mit Raum und Zeit agierende Medien stattfinden. Grundsätzlich ist man sich in der Forschung zu Bildräumen einig, dass Bilder ausgehend von der Art und Weise, wie sie Wahrnehmungsstrukturen modellieren, erkenntnisbringend untersucht werden können.446 Bild, Bildraum, Subjekte und ihre Wahrnehmung sind also miteinander gekoppelt.447 Dabei kann entweder die Raumwirkung448 oder die Chronologie von Bildern – ihre im Raum nacheinander entfalteten Narrationen und somit die ihnen inhärente Zeitlichkeit449 – betont werden; oder aber – und dieser Ansatz soll bei der vorliegenden kulturwissenschaftlich ausgerichteten Bildtapetenanalyse verfolgt werden – der Schluss gezogen: „Es ist immer verkehrt, Raum und Zeit gegeneinander auszuspielen, die in jedem kulturellen Element miteinander verflochten sind – eine ebenso triviale wie robuste Wahrheit. In welcher Variante auch immer: Kultur ist ein Chronotopos.“450
446
Vgl. Stephan Günzel: „Bildtheorie“, in: Raumwissenschaften, wie ebd.,
S. 61–76. 447
Siehe die Ansätze der Rezeptionsästhetik, wie bei Wolfgang Kemp: Der
Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Berlin: Reimer 1992; sowie in der Literaturtheorie die Apellstruktur der Texte und den impliziten Leser: Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München: Fink 1994 und ders.: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München: Fink 1994. 448 Siehe Felix Thürlemann: Vom Bild zum Raum. Beiträge zu einer semiotischen Kunstwissenschaft, Köln: DuMont 1990. 449
Wolfgang Kemp: Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, Mün-
chen: Beck 1996. 450
Hartmut Böhme: „Kulturwissenschaft“, in: Stephan Günzel (Hg.): Raum-
wissenschaften, wie Anm. 66, S. 191–207, hier S. 191.
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Es scheint durchaus berechtigt, die Bildtapeten-Arrangements nicht nur als situative Anordnung, sondern auch als eine chronotopologische Anordnung (von Bildern und Betrachtersubjekten im Raum) zu bezeichnen. Die tapezierten Flächen modellieren jeweils ganz unterschiedlich den sie umgebenden Raum und ihre Bilder überformen diesen wiederum mit ihren eigenen, sich gleichzeitig in die Fläche und in den Tiefenraum ziehenden Inhalten, sodass der reale Raum um einiges an Räumlichkeit und Tiefe potenziert erscheint. Jedoch werden in und mit diesen verräumlichten Szenen auch Geschichten erzählt, zwischen denen das Betrachterauge hin- und herwechseln und somit auf einer Zeitachse „wandern“ kann. Interessanterweise spricht Gaston Bachelard in seinem gleichsam analytischen wie poetischen Buch „Poesie des Raumes“ sowohl von einer „Chronotopie“ als auch von der „Topophilie“ des Hauses451 und hebt auf die im Haus und in seinen Räumen stattfindende Verdichtung ab. In dieser in den 1950er Jahren entstandenen Poetik des Raumes – hier im Zeichen einer Semantik von Erinnerung und Träumerei – wird die subjektive Erlebniswelt zu einem Gefühlsraum verdichtet, der mit dem realen und mathematisch-physisch-berechenbaren Raum verschmilzt oder ihn vielmehr überformt. Zwar sind das Medium, der historische und der kulturelle Kontext (bei Bachelard finden sich v.a. psychologisch-psychoanalytisch motivierte Gedankenspiele) bei den Bildtapetenräumen völlig anders gelagert, jedoch lässt sich aus einer raumwissenschaftlichen bzw. zwischen Raumwissenschaft und Ästhetik angesiedelten Perspektive festhalten, dass Bildtapetenräume in ihrer Bezüglichkeit zu den BewohnerInnen viel eher Gefühlsräume her- als nur bebilderte Wände bereitstellen. Die Gefühlsebene ist an die körperliche Präsenz, sinnliche Wahrnehmung und ein Sich (aktiv-performativ)-Verhalten der Subjekte gekoppelt. Wenn also mit und durch die literarisierten Wände eine Dynamisierung der Räume stattfindet, dann geschieht dies gerade, indem sich Körper ins Verhältnis mit den wand- und raumumgreifenden Szenen setzen. Es erfolgen auf die Umgebung ausgerichtete Bewegungen dieser Körper, die dann in sofortiger Wechselwirkung die Raumwahrnehmung (erneut) verändern, sodass sich der Raum immer wieder neu konstituiert und das Thema – wie z.B. „Telemach auf der Insel der Calypso“ oder die Liebesgeschichte von „Amor und Psyche“ – variiert wird. Dabei ist „Bewegung, sowohl als Eigenbewegung, Bewegtwerden wie auch als Wahrnehmung von Bewegung, […] diejenige Kategorie, die Raum und Zeit glei-
451
Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, wie Anm. 29, u. a. S. 25.
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chermaßen konstituiert (Nitschke, 1990). […] Die Bewegungen, die Menschen mit ihrem Körper und als Körper im Raum vollziehen, erschließen erst das, was als Raum historisch erfasst werden kann.“452 Nun ist es zwar nahezu unmöglich, die konkret vollzogenen Bewegungen von historischen Subjekten in den tapezierten Räumen ihres Alltags nachträglich zu rekonstruieren, jedoch lassen die Befunde weitgehend original erhaltener Tapetenräume in unterschiedlichen Regionen und Milieus durchaus Thesen zu jeweils sehr unterschiedlichen und spezifisch genau zu untersuchenden Parcours, die in den Räumen angelegt sind, zu. Bei solchen Parcours ist nicht nur der Bewegungs- und Bahnungsraum, also die Strecke, die durch die Wände und ihre Bilder vorgegeben wird, sondern auch ein zu überwindender Hindernisraum mit zu beachten, der den sich bewegenden Subjekten einen (tatsächlichen oder auch optisch-imaginierten) Widerstand bietet. Raum und Körper arbeiten dadurch zusammen, d.h. wenn man sich den Bildtapetenraum als Parcours vorstellt, dann sind in ihm auch Körper und spontan erzeugte Räumlichkeit als ein Beziehungsgeflecht mitgedacht, das kaum voneinander zu trennen ist. Der sich durch den Raum bewegende Körper aktualisiert eine von verschiedenen Möglichkeiten bzw. das sich bewegende Subjekt trifft eine Auswahl. De Certeau betont: „Wenn es also zunächst richtig ist, dass die räumliche Ordnung eine Reihe von Möglichkeiten (z.B. durch einen Platz, auf dem man sich bewegen kann) oder von Verboten (z.B. durch eine Mauer, die einen am Weitergehen hindert) enthält, dann aktualisiert der Gehende bestimmte dieser Möglichkeiten. Dadurch verhilft er ihnen zur Existenz und verschafft ihnen eine Erscheinung. […] Und wenn er einerseits nur einige der von der baulichen Ordnung festgelegten Möglichkeiten ausschöpft (er geht nur hier und nicht dort lang), so vergrößert er andererseits die Zahl der Möglichkeiten (indem er zum Beispiel Abkürzungen und Umwege erfindet) und der Verbote (er verbietet sich zum Beispiel erlaubte oder vorgeschriebene Wege). Er wählt also aus.“453
452
Hartmut Böhme: „Kulturwissenschaft“, wie Anm. 450, hier S. 197.
453
Michel de Certeau: Kunst des Handelns, wie Anm. 29, S. 190. Er bezieht
sich in seinen Überlegungen v.a. auf urbane Räume und Architekturen und weniger auf Innenräume – wobei diese dennoch mitgedacht und auch angesprochen werden – und geht zudem von spezifisch sprachwissenschaftlichen Ansätzen aus, die er auch auf andere Bereiche wie das Gehen oder Reisen anwendet.
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Durch dieses Beziehungsgeflecht drücken sich auch soziale und nicht zuletzt Machtverhältnisse aus („ausschöpfen“), sodass ein möglicher Parcours in Bildtapetenräumen einen Ein- und Ausschlussraum mitkonstruiert. Abgesehen davon, dass nicht jeder von außen Kommende das Haus und diesen Raum betreten darf, kann sich nicht jedes Subjekt gleichermaßen in die Bildtapeten-Räumlichkeit einfinden und sich gleichermaßen mit den Tapetenbildern in Bezug setzen. Der Parcours wird notwendigerweise von jemandem, der mit Text und Bildern zum dargestellten Thema vertraut ist, anders gestaltet werden als von jemandem, der mit den Inhalten keine zusammenhängende Geschichte verbindet oder sich mit den spezifischen Philosophemen dazu auskennt. Wer viel über Botanik weiß, wird bei den Naturdarstellungen länger oder intensiver verweilen als Unkundige, die aber beispielsweise einen Interessensschwerpunkt bei Kostümen und Haartracht haben und daher ihre Bewegungen und Verzögerungen im Raum dementsprechend anpassen werden. Die Ordnung, die in der An-Ordnung entsteht, ist also in hohem Maße abhängig vom sich bewegenden Körper, dessen Bewegungen wiederum von der konkreten Wandgestaltung und Bilder-Verteilung abhängen: „Das Bahnen des Raums ist performativ: Indem man bahnt, erzeugt man die Ordnung des Raums, und dies ist Stiftung der Kultur.“454 So werden auf der Subjekt-Ebene des Gefühls, der Körperlichkeit und der Bewegung die mit spezifischen Objekten (Tapeten) gestalteten Räume zu Ordnungsräumen, die eine ganz bestimmte Form von Orientierung ermöglichen, um die es bei einer kulturwissenschaftlichen Sicht auf und in die Bildtapetenräume auch gehen muss und soll. Diese Orientierung basiert auf den Bildern und deren Bildraum, den dadurch geordneten Bewegungen der Betrachtersubjekte im Realraum und deren (bewusst oder teils unbewusst verfestigten) Eindrücken durch andere kulturelle Phänomene und Verhaltensweisen, die in dem Moment aktualisiert werden und sich in der Bezugsetzung zu Raum und Bild niederschlagen. Sie wird so in einem Verbund aus Raum, Körper(reaktionen), Bewegung, Wohnkultur und Sozialisation produziert. Um noch einmal auf die chronotopologische Anordnung zurück zu kommen, so wird der Raum gelesen bzw. in einer zeitlichen Abfolge erschlossen, da die Einzelbilder/Einzeleindrücke nicht auf einen Blick erfassbar sind. Das Medium Bildtapete ist somit als Teil einer dispositären Struktur aufzufassen, die weder Zeit noch Raum allein zum Bestimmungsfaktor der Wahrnehmung im Subjekt werden lässt, sondern immer schon deren Verknüpfung. Darüber hinaus spielen notwendigerweise nicht nur rein subjektbezogene Ordnungen und
454
Hartmut Böhme: „Kulturwissenschaft“, wie Anm. 450, S. 200.
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Orientierung(en) eine Rolle, wenn es um die Bestimmung der Raumcharakteristika von Bildtapetenräumen geht, sondern auch die sozialen Ordnungsfaktoren. Im vorigen Kapitel war von Geselligkeitstheorien und den Didaktiken, die im geselligen Beisammensein von Menschen gebildeter Schichten zirkulieren, die Rede. Hier soll ein für Bildtapetenräume ungemein interessanter Raum- und Gesellschaftstheoretiker herangezogen werden, der – wenn auch wie Bachelard und De Certeau im 20. Jahrhundert tätig – in seinen Raumdefinitionen einige wichtige Aspekte thematisiert, die das In-Beziehung-Setzen mit Bildtapeten betrifft. Henri Lefèbvre hat den sozialen Raum als ein soziales Produkt charakterisiert.455 „Dieses Axiom soll der Vorstellung entgegenwirken, der Raum existiere gleichsam an sich, als leerer Container vor den Dingen und Praxen, die ihn füllen und besetzen.“456 Für die mit Bildtapeten literarisierten und durch Subjekte und soziale Handlungen dynamisierten Räume ist von besonderem Interesse, dass Lefèbvre den ‚Raum‘ als Produkt sowohl von Konzepten als auch (früher) Erlebtem und (aktuell) Wahrgenommenem und von symbolischen Ordnungen definiert.457 Die von mir in Kapitel zwei und drei herausgearbeiteten Achsen – Natur und Naturalisierungen sowie Bildersequenzen und Panoramablick – und Diskursebenen treten unter Rekurs auf seinen Raumbegriff sehr deutlich als ein Beziehungsgeflecht und nicht als zeitgleich unabhängig voneinander wirkende Einzelphänomene zutage. Die Produktion des Raumes und im Raum scheint unendlich: „The historical and its consequences, the ‚diachronic’, the ‚etymology’ of locations in the sense of what happened at a particular spot or place and thereby changed it – all of this becomes inscribed in space. […] Thus production process and product present themselves as two inseparable aspects, not as two separable ideas.“458
455 Henri Lefèbvre: The Production of Space, wie Anm. 29, S. 26: „(Social) space is a (social) product.“ Lefèbvre konnte sich an dem Kultursoziologen Georg Simmel orientieren, während seine Thesen wiederum Eingang in die Schriften von u. a. Bourdieu und De Certeau fanden. 456
Jörg Döring: „Spatial Turn“, in: Stephan Günzel und Franziska Küm-
merling (Hgg.): Raum: ein interdisziplinäres Handbuch, wie Anm. 66, S. 90–99, hier S. 91. 457
Laura Kajetzke und Markus Schroer: „Sozialer Raum/Verräumli-
chung“, in: wie ebd., S. 192–203, hier insbes. S. 196; und die Kategorien Lefèbvres der „pratique spaciale“ (l’espace perçu), der „représentations de l’espace“ (l’espace conçu) und der „espaces du représentation“ (l’espace vécu). 458 Henri Lefèbvre: The Production of Space, wie Anm. 29, S. 37.
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Subjekte verorten sich also zum einen physisch im Realraum bzw. im konkreten Zimmer und in dessen Materialitäten und zum anderen auch sozial und inmitten von Machtverhältnissen, das heißt „in addition to being a means of production it is also a means of control, and hence of domination, of power; yet that, as such, it escapes in part from those who would make use of it.“459 Ähnlich sieht es auch De Certeau, wenn er den Raum als „ein Geflecht von beweglichen Elementen“ beschreibt und fortfährt: „Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten.“460 Die Bewegungen werden von den Anwesenden vollzogen, die sich im Raum oder vielmehr an dem hier als dispositäre Struktur vorgestellten Ort orientieren und somit Orientierungsräume nicht nur aufsuchen sondern mitgestalten. In den spezifischen Bildtapetenraum-Konstellationen, die zu analysieren sind, muss genau herausgestellt werden, welche Elemente wo und wie und wozu eigentlich ‚aufgeräumt‘ sind: welche Raum-Ordnungen, soziale bzw. soziokulturelle und mentalitätsgeschichtliche Ordnungen ergeben sich darin? Wie sind sie beschreibbar und was oder wer fällt eventuell aus der Ordnung heraus, da schließlich ein „coherent whole“ immer dann erfahren (ergangen) werden kann, wenn es „a common language, a consensus and a code“ gibt,461 wie den Code eines Geschlechter- und Liebesideals in Bildtapetenräumen, der aber andere Auffassungen von Liebe auschließt?
�.� Literatur, Luxus, Lebendigkeit. Kontexte der Bildtapeten-Mode entlang der Theatralitäts-Achse Spezifische Ordnungen werden auch in den Texten des JLM geschaffen; wie oben deutlich geworden ist, findet hier sowohl eine Geschmackserziehung als auch eine Lenkung der Subjekte hin zu einem imaginären Tätigwerden statt, stets in den Bahnen von an der Antike orientierten Elementen und Vorstellungen. Das Ideal der Antike ist jedoch kein statisch in den Raum, in die Texte oder in Objekte des Gebrauchs projiziertes Bild, sondern es wird textuell, visuell und auch räumlich lebendig respektive als lebendig entworfen – letztlich 459 460 461
Ebd., S. 26. Michel de Certeau: Kunst des Handelns, wie Anm. 29, S. 218. Henri Lefèbvre: The Production of Space, wie Anm. 29, S. 40.
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verlebendigt. Diese Lebendigkeit ist ein wichtiger Aspekt der Ästhetik um 1800 und des Subjektivierungsprozesses, sie zeigt sich insbesondere auch in den Gartenanlagen und dem Konzept des sich darin frei ergehenden, mit der Natur in Einklang bringenden Spaziergängers, wie es im zweiten Kapitel und mit der ersten Achse der Natur und Naturalisierungen behandelt wurde. Doch auch im Innenraum wird Lebendigkeit mit und in den (An-)Ordnungen, in die das Subjekt eingebunden ist, erzeugt und in Gang gehalten. Zum einen geschieht dies durch den starken Hang, soziale und auf nie endende Kommunikation ausgerichtete Räume zu schaffen, und zum anderen als performativer Akt der Selbstformung der Subjekte in dem Moment, in dem sie auf antike (visuelle, verräumlichte) Inhalte und deren auch durch Journale und Debatten bereits zu-geordnete Zuschreibungen treffen und somit wiederum an einem lebendigen Wohn-Kommunikations-Raum mitwirken. Beate Söntgen spricht von der „kommunikative[n] Praxis des Darstellens und Betrachtens“ im Interieur und verweist auf die Nähe von „Bild und Bühne“462 – hier bei Diderot –, was ja auch auf Bildtapetenszenen, die wie Kulissenbilder wirken können, und ebenfalls die zur ‚Bühne‘ werdenden Bildtapetenräume zutrifft. Diese Art der Verlebendigung in Szenen oder im aufgeführten Spiel führt mich nun zur Ausarbeitung der dritten wichtigen Achse der Analyse von Bildtapetenräumen, der Achse der Theatralität, welche im letzten Teil dieses Kapitels ausführlicher beschrieben werden soll. Die Lebendigkeit kommt nicht erst in der Kommunikation nach außen und in der Aufführung (seiner selbst) im Alltag zum Ausdruck, sondern wird bereits dem Blick auf die den Raum strukturierenden Dinge – und eben auch auf die Bildtapeten – eingegeben. Der den Dingen anhaftende Luxus, wie er auch über Texte des JLM regelrecht ‚verliehen‘ und verbreitet wird, und wie er auch in einzelnen Bildtapeten und den dort abgebildeten Dingen wiederum visualisiert wird, kann nicht nur passiv erblickt, sondern mit ‚mobilen Blicken‘ aufgenommen und ‚erfühlt‘ werden. So wird eine sinnliche Wahrnehmung praktisch umgesetzt, wie sie die Literatur theoretisch als Maß aller Welterkenntnis entwirft und auch als solche versprachlicht. Im Folgenden soll der Zusammenhang zwischen solchen Theoremen, ihrer Anwendung im Innenraum und mit Objekten des (Luxus-)Gebrauchs und der Verlebendigung in ihren hauptsächlichen Erscheinungsformen beleuchtet werden.
462
188
Beate Söntgen: „Bild und Bühne“, wie Anm. 18, hier S. 55.
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�.�.� Die drei ‚L‘ und die Schule des Empfindens, der Bildung und des Wohnens. Der Philosoph Schleiermacher in seiner Gelenkfunktion Die drei ‚L‘ – Literarisierung im Alltag, Luxus und luxuriöse Objekte im Innenraum sowie die Lebendigkeit – sind um 1800 aufs Engste mit der Bildungsabsicht als höchste Priorität im aufstrebenden Bürgertum verbunden. Dabei ist die Antike wichtigste Referenz und stärkster Ordnungsfaktor, „als Wissensgebiet, welches gegen Mitglieder unterer Schichten abgeriegelt ist, den Angehörigen des Bürgertums jedoch in der Schule vor allen anderen Fächern vermittelt wurde. Die Berufung auf die Antike stellt eine Rückbesinnung auf den gemeinsamen Werdegang und auf die gemeinsam hart erworbene Bildung dar.“463 Bildung, hauptsächlich aus den entsprechenden Institutionen wie Schulen und Salons sowie aus der Literatur und Traktaten erworben, verfestigt bzw. materialisiert sich temporär oder auch dauerhaft als Bildgefüge, auf und in Dekoren, und in der Innenraumgestaltung ganz allgemein. Diese (subjekt-) bildenden Inhalte werden nicht passiv rezipiert, oder ausschließlich mit dem Verstand wie einen Text lesend aufgenommen, sondern vielmehr in verlebendigter Form, d. h. wie es immer eingefordert wird, qua Gefühl und Seelenempfindung. Das Fühlen und die Tätigkeit der Seele sind also nicht allein an die Lektüre von Büchern und an das Spazierengehen im Garten gekoppelt – ähnliches wird auch in Innenräumen und deren Ordnungen in Gang gesetzt.
Klassizismus als Postulat des ‚Zurückgenommenen‘ – in Dekorationssystemen und als Geistesund Körper-Haltung Voraussetzung für die neue Art von Erfahrung und Fühlen im Innenraum ist ein von barocken Dekorationsformen abgesetztes Wertesystem der Gestaltung. Es ist „[z]entrale[s] Anliegen der klassizistischen Ausstattungstheorie: nach
463
Susanne Holmes: „‚Aphroditens holden Kindern.‘ Formen und Funkti-
onen von Antikerezeption im ‚Journal des Luxus und der Moden‘“, in: Angela Borchert und Ralf Dressel (Hgg.): Das Journal des Luxus und der Moden, wie Anm. 350, S. 155–178, hier S. 177.
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innen zu weisen, sich von allem verbergenden und überflüssigen Schmuck zu befreien […].“464 Laut einem JLM-Beitrag vom August 1787 ist es ratsam, „die Wände […] in reguläre Felder abzutheilen […] sie rundherum mit einer gemahlten Bordüre von anderer dazu passender Farbe einzufassen, den Lambris grau mit Feldern auszusetzen […] und das Auge ruht sanft auf den großen einfarbigen Feldern, auf welche man Mahlereyen oder schöne Kupferstiche und Handzeichnungen hängen kann, ohne ihrem Effekte zu schaden.“465 Nicht nur, dass hier sehr genau Aufbau und Wirkungsweise von Print-Room-Arrangements466 und auch von einigen Bildtapetenräumen wie vor allem den Psyche- Anordnungen, deren Einzelszenen wie großformatige Stiche an der Wand wirken, ausformuliert sind – es wird auch die Anforderung an klassizistische Wandgestaltungen schlechthin deutlich. Diese sollen vor allem zurückgenommen und nicht zu ausufernd oder ungebändigt sein, dazu am besten eingerahmt und an ihren Platz verwiesen. Andreas Beyer betont als Merkmale die „Einfachheit und Ruhe durch Rahmung.“467 Gerade bei Goethe und in dessen literarischem Werk findet sich der Verweis darauf, dass eine solche Einfachheit und Zurückgenommenheit sowie die Rahmung aller Elemente im Sinne des ‚Zentrierens‘ und ‚an-den-richtigen-Platz-Verweisens‘ auch zur moralischen Bildung und Selbst-Bildung wird: in „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ und den „Bekenntnissen einer schönen Seele“ findet sich eine Stelle, wie Beyer sehr zutreffend betont, „wo das Haus des Oheims mit den Worten gepriesen wird: ‚Hatte Pracht und Zierrat mich sonst nur zerstreut; so fühlte ich mich hier gesammlet und auf mich selbst zurück geführt.‘“468 Die Forderung nach einer Konzentration auf sich selbst als Effekt und Anspruch der Innenraumgestaltung resultiert nach Moritz und seiner Reflexion der Nacktheit als Schau des Wesentlichen „aus der vollkommensten Bestimmtheit aller Teile“. Somit wird die Art der An-Ordnung, „wodurch alles Zufällige von der vollendeten Bildung ausgeschlossen wird, und nur das Wesentliche auf der Oberfläche erscheint“,469
464 Andreas Beyer: „Schlichtheit der Form, Reichtum der Gedanken – Sitzund andere Denkgelegenheiten der Weimarer Klassik“, in: Sebastian Böhmer et al. (Hgg.): Weimarer Klassik. Kultur des Sinnlichen, wie Anm. 30, S. 156–165, hier S. 158. 465
JLM 1787, Jahrgang 2 (August), „Ueber Zimmer-Tapezirung, im Style
eines bürgerlichen Ameublements“, zit. n. Andreas Beyer, wie ebd.
190
466 467
Siehe Kapitel 2.1.2 der vorliegenden Arbeit.
468 469
Ebd., S. 159. Ebd., S. 163.
Andreas Beyer: „Schlichtheit der Form“, wie ebd.
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zu einer Chiffre für eine Zurichtung von Körper und Geist. Sie ist zudem auch eine Chiffre für eine ‚Haltung‘ der Subjekte im doppelten Sinne, die weit über die reine Wand- und Interieurbetrachtung hinaus weist. Der Bereich des Ästhetischen als ein Verstand und Gefühl vermittelnder, daher harmonisierender Bereich ist im zweiten Kapitel schon reflektiert worden – hier sind Kant mit seiner „Dritten Kritik“ und Schillers ästhetische Schriften zentral – , jedoch muss gerade beim Thema der ‚Haltung‘ der Subjekte ganz dezidiert die ‚Lust‘ dabei und daran betont werden; denn die „‚Lust‘ am Schönen erhält bei Kant einen sittlich-empirischen Aspekt, indem sie den Geschmack fördert und zur freien Mitteilung des Gefühls anregt, woraus Geselligkeit und Gemeinschaft erwachsen. Damit kommt der Schönheit jedoch eine in sozialer Hinsicht bedeutendere Funktion zu als der Wahrheit. An der Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils lässt sich dabei die Kultivierung einer Gesellschaft ablesen.“470 Gerade da ‚Lust‘ in Bezug auf Liebespaare ein signifikantes Thema ist, wird in Bezug auf die Bildtapetenszenen zu untersuchen sein, worin sie sich zeigt oder wohin sie sich im Inneraum verschiebt. Auch das ‚Schöne‘ und seine gesellschaftsrelevante Funktion auf einer über Bildtapetensujets hinausreichenden Ebene wird, zusammen mit Schleiermachers Theorie zur Geselligkeit betrachtet, die hier in dieser Verbindung von Lust und Schönheit implizit enthalten ist, weiterhin ein für alle exemplarischen Analysen wichtiger Untersuchungsaspekt sein. Es ist dabei auch zu beachten, inwiefern bei Schillers ästhetischer Erziehung auch einem „erhabeneren Begehren“471 der Weg geräumt werden soll, also augenscheinlich einem Begehren, das ebenso wie die Lust am Schönen eher ästhetisch-didaktisch aufgefasst wird. Um beim Thema Begehren noch einmal spezifischer auf den Aspekt der Verlebendigung zurückzukommen, sei hervorgehoben, dass das Ansammeln und Zurschaustellen von Objekten im Innen- und Wohnraum als subjektkonstituierender Akt – und zwar noch einmal stärker als beim flüchtigeren Anblicken – diese Räumlichkeiten mit etwas anreichert bzw. auflädt, was in den Objekten für sich isoliert betrachtet nicht unbedingt angelegt ist. Somit kann über eine Wand- oder Regalgestaltung hinaus im Netz zwischen begehrendem und sich formendem Subjekt, aufgeladenen Objekten und Raumordnung ein
470
Boris Roman Gibhardt: „Verkauf der Sinnlichkeit – Materielle Inno-
vation und Ästhetische Opposition im Klassischen Weimar“, in: Weimarer Klassik. Kultur des Sinnlichen, wie Anm. 30, S. 146–155, hier S. 153. 471 Ebd.
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ganzes „ästhetisches Ideal, eine historische Stilepoche“ aufgerufen und dynamisch-lebendig gleichsam heraufbeschwört werden.472 Die Art des Zusammenbringens und Vor-Augen-Stellens ist vor allem für Goethe fundamental, sie ist Teil eines umfassenden Bildungs- und Empfindungsschulungsprogramms, und das „Vor-Augen-Bringen der in nahezu allen Räumen verwahrten Objekte ist dabei als konstitutiver Bestandteil einer spezifisch Goethe’schen Sammlungspraxis zu verstehen.“473 Das Sammeln, Aus-Richten im Ein-Richten, Begehrensstrukturen schaffen und ausfüllen sowie Vermitteln von Didaktiken, die auf Images der Antike und antiker Lebensweise basieren, wird zu einer theatralen Gesamtinszenierung im Innen und im Wohnen, für die Goethes Haus am Frauenplan in Weimar ein besonders markantes, aber sicher nicht einmaliges Beispiel ist.474
Mobiler Blick und tastendes Sehen: Die Körperlichkeit von Bildtapetenbetrachtung und -erleben Das Vor-Augen-Stellen ist ebenfalls im Zusammenhang mit einem umfassenderen Konzept von Wahrnehmung und Verlebendigung zu analysieren. Im Zuge einer „neue[n] Hierarchisierung der Sinne im 18. Jahrhundert“ wird v.a. dem „einst gänzlich priorisierten Augensinn […] das Tasten als komplementäre Erkenntnisquelle an die Seite gestellt.“475 Der wichtigste Theoretiker ist hier Herder und seine Schriften zur Plastik. „Einen Begriff von den Objekten können wir, so Herder, erst durch das tatsächliche Begreifen, das Fühlen und Tasten der
472
Martin Dönike: „Antike(n) aus zweiter Hand – Weimarer Kulturimpor-
te“, in: Weimarer Klassik. Kultur des Sinnlichen, wie Anm. 30, S. 126–135, hier S. 134 473
Christiane Holm: „Goethes Gewohnheiten – Konstruktion und Gebrauch
der Schreib- und Sammlungsmöbel im Weimarer Wohnhaus“, in: Weimarer Klassik.
Kultur des Sinnlichen, wie Anm. 30, S. 116–125, hier S. 125. Siehe auch das Wortspiel aus Wohnen und Ge-Wohnheit bzw. Gewöhnung in: Katharina Eck und Astrid Silvia
Schönhagen: „Imaginationsräume des (bürgerlichen) Selbst“, wie Anm 17, S. 22. 474
Goethes Einrichtung und (Sammel-)Möbel stehen auch im Fokus eines
aktuellen Forschungsprojektes an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, in Zusammenarbeit mit der Klassik Stiftung Weimar und den Universitäten Erlangen-Nürnberg sowie Bielefeld: „Epistemische Möbel. Wahrnehmungs- und Erkenntniseinrichtungen in Goethes Sammlungen“ im Rahmen des übergeordneten Verbundprojektes: „Parerga und Paratexte – Wie Dinge zur Sprache kommen. Praktiken und Präsentationsformen in Goethes Sammlungen“. 475 Matthias Buschmeier: „Antike begreifen – Herders Idee des ‚tastenden Sehens‘ und Goethes Umgang mit Gemmen“, in: Weimarer Klassik. Kultur des Sinnli-
chen, wie Anm. 30, S. 106–115, hier S. 106.
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Körper erhalten.“476 In der Schrift „Plastik“ wird denn auch die resultierende Lebendigkeit dieses Begreifens benannt: „Je mehr er [der Mensch] Körper, als Körper, nicht angaffte und beträumte, sondern erfaßte, hatte, besaß; desto lebendiger ist sein Gefühl, es ist, wie auch das Wort sagt, Begriff der Sache.“477 Das Erfassen und Besitzen ist hier durchaus auch im Zusammenhang mit dem Schiller’schen erhabenen Begehren zu verstehen, es ist ein Mehr an Empfindung und an Lust (an der Sache, dem Objekt, dem Be-Greifen des Objektes) als nur das optisch-passive Sehen. Herder spricht interessanterweise vom ‚Gleiten‘: „Darum gleitet er: sein Auge ward Hand […]. Sie [die Seele] hats! die Täuschung ist geschehn: es lebt, und sie fühlt, dass es lebe; und nun spricht sie, nicht, als ob sie sehe, sondern taste, fühle.“478 Matthias Buschmeier argumentiert, dass in dieser Fühlung ein neuer und folgenreicher Modus an ästhetischer Wahrnehmung und Betrachtung stecke: „Indem Herder ein Sehen propagiert, welches das äußere Gefühl (als Seelenkraft) zu simulieren ermöglicht, entwirft er ein Ideal der Betrachtung von Plastiken, das in letzter Konsequenz die Distanz zum Objekt stets aufrechterhält und ein haptisch angereichertes Sehen zum Modus ästhetischer Betrachtung macht.“479 Die enge Verknüpfung von Denken, Anschauen, und (antiker) Bildung findet sich in dem einen Satz Goethes komprimiert, „dass mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen sei.“480 Ohne die sinnliche Erfahrung (von Phänomenen) ist das Denken (der Phänomene und ihrer Verknüpfung) nicht möglich, und es sei noch hinzugefügt: eine Verlebendigung von Dingen im und durch das Aufführen im Alltag war die nächste Stufe auf diesem Prozess der kreativen Auseinandersetzung und Interaktion der Subjekte mit den Dingen.
476 Eb., S. 107. 477 Ebd. 478 Ebd., S. 108. 479 Ebd. 480
J.W. Goethe: „Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches
Wort“, zit. n. Johannes Grave: „Schule des Sehens – Formen der Kunstbetrachtung bei Goethe“, in: Weimarer Klassik. Kultur des Sinnlichen, wie Anm. 30, S. 96–105, hier S. 105.
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�.�.� Wahrnehmung, Ausdruck, Spektakel. Die Theatralität des Alltags und die Bühne der Gesellschaft als dritte Analyseachse für Bildtapetenräume Die mobilisierten Blicke und die haptische Aufwertung des Sehens bzw. die Umcodierung vom passiv-aufnehmenden zum ‚empfindenden‘ Sehen müssen als ästhetisch-(wahrnehmungs-)psychologische Tendenzen aufgefasst werden, die mit der Schaffung von Ordnungsräumen – unter anderem auch in und an den eigenen vier Wänden – zusammenspielen; und dies im wörtlichen Sinne als ‚Zusammenspiel‘ dieser Faktoren auf einer Art Bühne des Alltags. Dass sich durch intensivierte Arten der An-schauung, oder, einfacher gesagt, die Aufmerksamkeitslenkung auf das Ansehen und Wahrnehmen als ästhetisch-produktiven Akt (und somit an der Schnittstelle von – individueller – Körperlichkeit und wahrgenommenen Objekten und Bildern) das Wissen über und um die Welt formiert und mehrt, ist ein grundlegendes Merkmal dieses Zusammenspiels und eine Erkenntnis aus der Theater- und der Wissenschaftsgeschichte. Ein Höhepunkt der Theoretisierung auf diesem Gebiet findet sich schon im Barock mit Gottfried Wilhelm Leibniz und dessen Verständnis vom Theater als theatrum naturae et artis, dem Theater der Natur und Kunst.481 Die entscheidende Richtung, in die dieser Begriff die dritte Achse der Analyse von Bildtapeten-Beziehungsräumen führen kann, ergibt sich aus dem universellen Anspruch der Leibniz’schen Theater-Philosophie. Diese konzentrierte sich nicht lediglich auf eine Bühne oder einen definierten Raum zur Aufführung von Stücken, vielmehr bezeichnete „[d]as Theatrum […] einen Ort oder ein Mittel, das die Anschauung von einem Gegenstand oder einer Idee intensivierte“,482 man kann also auch von einem „Theater der Exponate“483 sprechen. Dieses Konzept des Leibniz’schen Theaters umfasst auch Visuelles und Materielles: „Durch alle Bereiche, und dies ist der entscheidende Gedanke, wirkt ein dynamischer, die Kunstkammern mit dem Theater verbindender Begriff des Sammelns, Forschens und Vermittelns.“484 Das theatrum naturae et artis des 17. Jahrhunderts scheint nun in seiner Schau respektive Zurschaustellung von göttlichem Wirken und Durchwalten des Universums im veränderten Gesellschaftsgefüge des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts ausgedient zu ha-
481 482 483 484
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Horst Bredekamp: Die Fenster der Monade, wie Anm. 30. Ebd., S. 34. Ebd., vgl. die Überschrift des zweiten Kapitels bei Bredekamp. Ebd., S. 44.
�. Dufours Paar-Anordnungen
ben. Doch sein ihm inhärentes Potenzial, Ordnungs- und Wissensräume485 zu schaffen wie sie sich z.B. in Kunstkammern, Bibliotheken, Laboratorien (nach Leibniz) oder eben im eigenen Wohnraum (im Zuge des 18. Jahrhunderts) formieren, ist gleichwohl auch in dieser ‚neuen‘ gesellschaftlichen Konstellation von entscheidender Relevanz. Wenn von der ‚Bühne‘ oder Theatralität um 1800 die Rede ist, so sind damit vor allem kulturelle und soziale Settings gemeint, und mit der Achse von produzierter und zirkulierender Theatralität in und mit den Bildtapetenräumen wiederum genau solche Settings und Wissensräume, in die Objekte und Bilder – die wiederum Geschlechtervorstellungen sowie Moralia von Körperlichkeit, Haltungen und Kommunikation erzeugen – eingebunden sind und im Zusammenspiel mit Subjekten zur Aufführung gelangen. Die Theaterbühne im engeren Sinne ist daher „nur Extremfall und Vorbild der Bühne der Gesellschaft.“486 Das Sich-Aufführen zuhause zwischen den Bildtapeten entspricht im Sinne der dritten Achse einem, wie ich es hier, den Leibniz’schen Begriff aufnehmend und mich zugleich auf Schleiermachers Geselligkeitstheorie beziehend, nennen möchte, theatrum domus et socialitatis, einem Theater des Hauses und der Geselligkeit. Diese Form des Handelns – und damit ist das In-Beziehung-Setzen mit den Bildapeten gemeint und nicht etwa, wie oben beschrieben, die Theaterbühne als solche – befördert in einem momenthaften Ausagieren Diskurse, die auch an anderer Stelle und in anderen Räumen enstehen und sich weiterproduzieren, und die somit weder exklusiv im Innen-Raum noch im ‚Außen‘-Raum von Natur, Außenarchitektur oder öffentlichen Plätzen zu finden sind. Das theatrum domus et socialitatis der Bildtapetenbeziehungsräume verknüpft beide Sphären und kann dies besonders greifbar und materialiter, da die Bildtapeten als spezifisches Medium des 19. Jahrhunderts wiederum ihre Kulissenwirkung mit einbringen. Die Gestaltung dieser ‚Kulissen‘ mit ihren Verweisen auf ein ‚Außerhalb‘ des Interieurs führt ihrerseits auch bereits ein solches theatrum – in der Regel in einem anderen geographisch-kulturhistorischen Setting wie antikisierenden Parks oder Südseelandschaften – vor Augen. An dieser Stelle treffen auch die Theatralitäts-Achse und die Achsen der Natur und Naturalisierungen sowie der Bildersequenzen und des Panoramablicks – beide verbunden durch das „neue Sehen“ im 19. Jahrhundert – aufeinander: das wiederholte und performativ umgesetzte In-Beziehung-Setzen geschieht vor dem Hintergrund von in Gartenlandschaften, auf Reisen und in Geselligkeitsräumen eingeübten Praktiken, Haltungen und Körper-Ausdrücken, die mit 485
Vgl. u. a. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge: eine Archäologie der
Humanwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009. 486
Günther Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, wie Anm. 59, S. 418.
195
Tapezierte Liebes — Reisen
Blicksituationen und Bewegungsrichtungen sowie den ihnen entsprechenden Rahmen und Begrenzungen korreliert sind. Im Folgenden soll die Didaktik des Sehens, Auswählens, Bewegens und Rahmens, die auch für die beiden anderen Achsen bedeutend ist, weitergehend beschrieben werden, um die Schnittstelle zur Theatralität im (häuslichen) Alltag und schließlich zu dem, was sich hier als ‚Spektakel‘ zeigt, herausstellen zu können. Hauptsächlich anhand von Landschaftsparcours wurde ein bildgerechtes Sehen geradezu eingeübt, sodass man „zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts schon seit mehreren Jahrzehnten mit einer zweiten Linie der Natur- und Landschaftswahrnehmung den gerahmten Ausblick zur ästhetischen Routine“ hat werden lassen, wie er dann „[b]ei der touristischen Ansteuerung von Aussichtspunkten vor allem im Gebirge“487 besonders gesucht und favorisiert wurde. Auf diese Weise wurden Subjekte „sozusagen auf den richtigen Blick trainiert, den sie dann ‚in der Natur‘ zur gegenständlichen Bestätigung des schon gewussten Bildes suchen.“488 Natur wird also gemäß antrainierten ‚Konstruktionsprinzipien‘ und ganz spezifisch nach einem Rahmen und nach gewählten Begrenzungen489 wahrgenommen und diskursiviert. Dieses Wahrnehmungs- und Darstellungsprinzip der „Rahmenschau“490 orientiert sich stark an einzeln gerahmten bzw. zu sehen gegebenen Bildern, wie sie auch im 18. Jahrhundert zahlreich in Form von Stichen und Buchillustrationen zirkulierten und die Haushalte eroberten. Es findet sich in Medien wie dem Guckkasten wieder, dessen Bilder bzw. Bildszenen „Ansichten von Städten, Gebäuden und Landschaften aus nahen und fernen Ländern“491 zeigen und die somit medial-mediengeschichtlich Vorläufer der Bildtapeten sind. Mit den Panoramen und Myrioramen des späten 18. Jahrhunderts wird das ‚rahmende‘ Sehen, das sich an rationalen Konstruktionsprinzipien und an geometrischen Vorgaben orientiert, um die wichtige Komponente des ‚mobilen‘ Sehens bzw. der „mobilen Blicke“492 487
Ludwig Fischer: „Perspektive und Rahmung. Zur Geschichte einer
Konstruktion von ‚Natur‘“, in: Harro Segeberg (Hg.): Die Mobilisierung des Sehens, wie Anm. 317, S. 69–96, hier S. 72. 488 Ebd., S. 72f. 489 Ebd., S. 73. 490 August Langen: „Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts. Rahmenschau und Rationalismus“, zit. n. Ludwig Fischer, wie ebd., S. 74. 491
Wojciech Sztaba: „Die Welt im Guckkasten. Fernsehen im achtzehnten
Jahrhundert“, in: Die Mobilisierung des Sehens, wie Anm. 317, S. 97–112, hier S. 99. 492 Monika Wagner: „Bewegte Bilder und mobile Blicke. Darstellungsstrategien in der Malerei des neunzehnten Jahrhunderts“, in: Die Mobilisierung des Sehens,
wie ebd., S. 171–189.
196
�. Dufours Paar-Anordnungen
ergänzt. Beide Faktoren – Rahmung und Mobilität – konnten so auch gleichermaßen zu Merkmalen der Wahrnehmung in Bildtapetenräumen werden. Albrecht Koschorke stellt in seiner Untersuchung des Panoramablicks mit Bezug auf Marcus Herz’ Schriften über den „Schwindel“ fest, dass „die Panoramen mit ihren topographischen und historischen Übersichten als Schulungsstätten der modernen Apperzeptionsfähigkeit [dienen]. Sie instituieren eine Blicksituation, die seither eine große Karriere durchlaufen hat: den Blick aus einem an jeden Platz der Welt zu setzenden Interieur ins ‚Freie‘.“493 An der „Schnittstelle zwischen Mensch und medialer Apparatur“494 – hier sind nun die auf Jahrmärkten aufgebauten Panorama-Rotunden gemeint – macht er interessanterweise eine Kippwirkung in der spätaufklärerischen menschlichen Psychologie und Sensomotorik aus: es geht um eine „physische Festigkeit, um Ansichhalten und Abgrenzung einerseits, auf der anderen Seite um die Beanspruchung und Entwicklung der höheren Sinne und des höheren, körperfreieren Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögens […].“495 In Bildtapetenräumen geht es nicht (mehr) um Schwindelerfahrungen, und ebenso wenig um einen Panoramablick im engeren, das Jahrmarktpanorama theoretisierenden Sinn. Dennoch sind auch hier, auf andere Weise, „Schulungsstätten“ zu verorten, deren Wirkung sich nicht darin erschöpft, Blicke auf ein imaginiertes Außen zu inszenieren und (Innen-)Räume zu fiktionalisieren respektive imaginär-sensomotorisch zu dynamisieren, indem Subjekte nicht an einer Stelle stehen bleiben können, wenn sie ‚alles‘ an den Wänden Entworfene sehen wollen. Vielmehr findet hier sowohl ein Begrenzen, Rahmen und Ordnen statt als auch ein Prozess, der ein individuelles Empfindungs- bzw. Imaginationsvermögen sich ausbilden und weitergleiten lässt. Das Theatralische als Verknüpfungsmoment von Haus/Innen und Gesellschaft/Außen ist bei diesem Prozess eine hilfreiche Analysekategorie, die, speziell auf die Beziehung zwischen Bild und BildbetrachterInnen angewandt, aufklärungsdidaktisch von Diderot neu definiert wurde.
493
Albrecht Koschorke: „Das Panorama“, wie Anm. 317, hier S. 165.
494 495
Ebd., S. 169. Ebd., S. 167.
197
Tapezierte Liebes — Reisen
Das imaginative Stadium, die Versenkung, die assoziativen Verkettungen, in die Betrachtersubjekte durch Bilder oder Bildsequenzen versetzt werden können, sind für ihn das entscheidende Kriterium bei der Auseinandersetzung mit ‚guter‘ Kunst. „For Diderot and his colleagues, as we have seen, the painter’s task was above all to reach the beholder’s soul by way of his eyes […].“496 Etwas soll und muss im Betrachter hervorgerufen werden, ihn oder sie als Individuum berühren und bewegen, und dies entsprechend den gesellschaftlichen Codes und Normen. Bildsprache soll fesseln, in einen anderen Zustand versetzen und erziehen, sie ist nicht nur ‚an sich‘ da und schön. Somit ist der Topos von den Augen als Fenster zur Seele, auf den Michael Fried anspielt, hier durchaus passend, denn es geht um Selbstformung der eigenen ‚Seele‘ und darum, dass diese von Bildern ebenso wie von Theaterszenen ausgehen kann. Um noch einmal auf Diderots Besprechung der Vernet-Bilder aus dem Salon von 1767 zurückzukommen, um die es auch in Kapitel 2.2.2 ging, so sollen Landschaftsszenen viel mehr vermitteln als eine mimetische Wiedergabe von Natur, sie seien gemacht „to induce in the beholder a particular psycho-physical condition, equivalent in kind and intensity to a profound experience of nature, which for the sake of brevity might be characterized as one of existential reverie or repos délicieux.“497 Die ‚rêverie‘ ist ein ästhetischer Zustand, der von Rousseau vor allem in dessen „Rêveries du promeneur solitaire“ entworfen wird und der Innerlichkeit und stilles Glücksempfinden mit der Ansicht und dem Erleben von Natur koppelt bzw. in ein Wechselverhältnis setzt, und der hier nun von Diderot für die Betrachtung von Landschaftsbildern eingesetzt wird. Entscheidend für diesen Zustand und die Theatralität des Betrachtens und ‚In-Rêverie-Versetztseins‘ sind die interessebindenden visuellen Einheiten, die auch die einzelnen tableaus der Bildtapeten in den Innenraum bringen, denn „they are experienced as centers of interest only separately, in whatever sequence they happen to be encountered.“498 Wenn man nun die Ausführungen von Koschorke zum panoram(at)ischen Sehen um 1800 mit dem Anliegen Diderots und der Kunstkritik seiner Zeit zusammendenkt, so wird klar, dass in Bildtapetenräumen eben diese Faktoren von Wahrnehmung, Versenkung, Empfindung und auch Mobilität und Dynamik mit zu analysieren sind, ohne jedoch einer dieser Kategorien einen
496
Michael Fried: Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the
Age of Diderot, Berkeley u.a.: Univ. of California Press 1980, S. 92. 497 Ebd., S. 130. 498 Ebd., S. 135.
198
�. Dufours Paar-Anordnungen
Vorzug geben zu müssen oder zu können. Das Theatralische als einerseits Anforderung an diese Anordnungsform und andererseits deren Effekt ergibt sich nun daraus, dass die im Bild – oder in den Bildtapetenszenen – dargestellten Figuren, die mit Raum, Rahmungen und BetrachterInnen interagieren, wie in einem aufgeführten Stück Haltungen vor- und vollführen, die den Haltungen und Rezeptionsweisen dieser BetrachterInnen entsprechen sollen. Wenn also die entstehenden Ordnungsräume als Teil einer Bühne der Gesellschaft begriffen werden sollen, als wirkungsmächtiges Setting, zu dem mobile Blickrichtungen und rêverie als menschliche Vermögen ebenso gehören wie Gesten und (Körper-)Haltungen und deren Visualisierungen, so ist abschließend auch der Ausdruck mit einzubeziehen. Dieser kann sowohl körperlich-gestisch bei BetrachterInnen als auch in den Wandszenerien und als verinnerlichte Haltung vorkommen. ‚Ausdruck‘ ist eine weitere für das späte 18. Jahrhundert besonders charakteristische ästhetische Kategorie, die wiederum eng mit Theater- und Sprachwissenschaft verbunden ist. Sie lässt sich in gerade erst entstehenden (populär)wissenschaftlichen Disziplinen und Diskursfeldern wie der Physiognomik, der Hygiene bzw. Diätetik und der konstruierten Geschlechterpolarität wiederfinden. Ein Beispiel für die Relevanz des (bürgerlichen, geschlechtsspezifischen, literarischen) ‚Ausdrucks‘ innerhalb eines häuslichen theatrums sind die um 1800 äußerst beliebten und häufig literarisch modellierten499 tableaux vivants; sie sind eigentlich sogar ein Ausdruck ‚auf zweiter Ebene‘, auf einer Meta-Ebene, da sie sich im Aufführen eines spezifischen Ausdrucks auf das Phänomen ‚Ausdruck‘ selbst beziehen. Als Teil eines Gegenprogramms zur barock-höfischen Artifizialität gedacht, mit dem der ‚natürliche Ausdruck‘ in Geistes- und Körpersprache zum Leitbild wurde und sich in tableaux vivants wie in deren literarischen Formungen manifestieren konnte, entspricht dieses Phänomen dem aufklärerischen Ideal des ‚authentisch-glaubwürdigen‘ Ausdrucks seine(r)/s Selbst: „Zwischen dem Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit und der Gefahr, in deren Extrem, nämlich exaltiert dargebotene Empfindung, zu verfallen, bildeten Natur und Vernunft die Eckwerte bürgerlicher Körpersprache. […] Das natürliche und glaubhafte Spiel wurde zur Richtlinie. Die inneren Vorgänge der Figuren, ihre Gefühle, sollten in Handlung, Gebärde und Mimik wieder erkennbar dargeboten werden.“500
499
Siehe die Beschreibungen von Tableaux Vivants in den „Wahlverwandt-
schaften“, hier nach Ter Borchs Father’s Admonition. 500 Rita Wöbkemeier: „Physiognomische Notlage und Metapher. Zur Konstruktion weiblicher Charaktere bei Jean Paul“, in: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der
ganze Mensch, wie Anm. 405, S. 676–696, hier S. 679.
199
Tapezierte Liebes — Reisen
Günther Heeg spricht sogar von dem „Phantasma der natürlichen Gestalt“ und betont damit die Problematik einer künstlich konstruierten Natürlichkeit, die zudem auch mittels Theatralität inszeniert und immer wieder re-inszeniert wird, um sich so selbst zu bestätigen und sich eine scheinbar anhand von Philosophie, Anthropologie und Ethik klar umrissene Identität geben zu können: „Der Bürger verlangt von sich und seinesgleichen Authentizität, die sich nicht eigens darzustellen braucht. All dies ist nicht auf dem Weg der Selbstreflexion erlernbar, sondern in der lebenspraktisch fundierten ästhetischen Selbstvergewisserung, für die der Schauspieler Modell steht. An ihm gewinnt der Bürger Gestalt. So erfährt er seine Identität, indem er sich selbst zur Gestalt wird. Dass diese Gestalt auf Illusion beruht und kunstvoll veranstaltet ist, hindert das 18. Jahrhundert nicht daran, sie ‚natürlich‘ zu nennen.“501 Als konkrete Figurationen von gespielter Natürlichkeit, zwischen performativem Erleben und einer „Wertschätzung des malerischen Augenblicks“,502 sind tableaux vivants moralisch und ordnungsschaffend und erfüllen in dieser Hinsicht eine ähnliche Funktion wie – entlang der Achse der Theatralität betrachtet – die Bildtapetenräume. Interessant ist auch, um noch kurz bei dem Begriff selbst zu bleiben, die Zusammenführung von tableau, einer malerisch-gemalten abgegrenzten und i.d.R. zweidimensionalen Einheit, und vivants, also dem Lebendigen, das hier gerade stillgestellt wird – oder mit Heeg gesagt, mehr als still, da den tableau vivants schon der Tod eingeschrieben ist.503 Doch „[d]as Tableau schafft Ordnung. Es verbannt Zufall und Chaos nach ‚draußen‘ und synthetisiert das Verbliebene unter einem (moralischen, gesellschaftlichen) Gedanken, einer ‚Hauptidee‘.“504 Es handelt sich also hier nicht um eine Verdoppelung oder Bekräftigung ‚tatsächlicher‘ Natürlichkeit oder um die Visualisierung authentischer Fakten, sondern um eine theatralisch (immer wieder) aufgeführte gesellschaftliche Konstruktion von Normen und Schemata, die sich in Körpern verbildlichen oder in Bildern verkörperlichen können, und die in Räumen der Geselligkeit zirkulieren. Wie es Hartmut Böhme in Bezug auf die Körpersemiotik des Bürgertums und seine Werte formulierte: „Nicht nur spielen die Körper auf der Bühne ihre
501
Günther Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, wie Anm. 59, S. 177.
502
Rita Wöbkemeier: „Physiognomische Notlage und Metapher“, wie
Anm. 500, S. 680.
200
503
Günther Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, wie Anm. 59, S. 377.
504
Ebd., S. 77f.
�. Dufours Paar-Anordnungen
undurchsichtigen Rollen, sondern die Körper selbst werden zur Bühne, auf der die moralischen Signifikanten auftreten.“505 So entsteht ein (Körper-)Spektakel, wenn sich der Hang – und sogar Zwang – zum Selbst-Ausdruck und zur rêverie und der in ihr schwingenden Künstlichkeit im Alltag mit Verhaltenscodes und moralischen Ansprüchen auflädt. Statt fortschreitender individueller Freiheit erfolgt eine „Dramatisierung und Theatralisierung der Selbstdarstellung“506, die bis in die Gestaltung des Interieurs mit Bildtapeten einfließt.
505
Hartmut Böhme: „Der sprechende Leib“, wie Anm. 57, hier S. 182.
506
Günther Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, wie Anm. 59, S. 22.
201
Tapezierte Liebes — Reisen
�. Die Paysage de Télémaque – Bildwelten einer scheinbar idyllischen Liebesinsel; oder: wohin reist Telemach? „[…] je ne crains plus ni mer, ni vents, ni tempêtes; je ne crains plus que mes passions. L’amour est lui seul plus à craindre que tous les naufrages.“ François de Salignac de la Mothe-Fénelon: Les Aventures de Télémaque „Im Meer der Verstellungen und Listen überfiel den Bürger die Sehnsucht nach der Insel des Authentischen.“ Hartmut Böhme: Der sprechende Leib Im Folgenden soll der Fokus nun auf Dufours Telemach-Tapete liegen, die mit ihren pastellfarbenen, aneinandergereihten Naturansichten als ein typisches Beispiel für eine sich panoramatisch durch den Raum ziehende Bildtapete gelten kann. Es werden dabei mögliche Hintergründe für die Bearbeitung des Telemach-Themas durch die Manufaktur Dufour beleuchtet und die in acht große Szenen gegliederten Bildabschnitte507 der Tapete, wie sie von Dufour und seinen Mitarbeitern konzipiert und ausgeführt wurden, analysiert. Zuvor soll jedoch – um zur Aktualisierung und Modellierung des Telemachstoffes in der Bildtapete Aussagen treffen zu können – in den zwei hinführenden Teilkapiteln 4.1 und 4.2 auf die literarische Vorlage der Bilder und auf zu berücksichtigende Bearbeitungen des Stoffes in der Kunst- und Musikgeschichte eingegangen werden. Dabei ist es weniger relevant, sich eindeutig für ein Modell von Intertextualität oder Intermedialität auszusprechen508 (obwohl vielerlei Bezüge in der Tapete nachweisbar sind), sondern eher, die expliziten und impliziten Referenzen auf vorangegangene Bearbeitungen bzw. Interpretationen des Stoffes in einzelnen Szenen und in der Gesamtkomposition anzuschauen und Rückschlüsse auf deren Aussagepotenzial innerhalb des dispositären Gefüges vor Ort zu ziehen.
507
Diese Gliederung folgt dem Katalog Papiers Peints Panoramiques von
Odile Nouvel-Kammerer, wie Anm. 22. 508 Vgl. die Überlegungen zur Intermedialität in Kap. 2.1.2 der vorliegenden Arbeit.
202
�. Die Paysage de Télémaque
Wenn man Medien vorrangig als Errichtungen und Einrichtungen zur Vermittlung von Inhalten versteht, so geht es, wie schon festgestellt werden konnte, um im (Bildtapeten-)Raum intermedial angelegte Anordnungen und Austauschprozesse, die dann Ordnungs- und Orientierungsräume schaffen. Um diesen auf die Spur zu kommen, werde ich in einzelnen Schritten die Handlung und das Setting der Tapete, d.h. also sowohl Bildsprache als auch -raum auf dem Papier, untersuchen und diese Komposition anschließend als ein im Wohnraum seine Macht entfaltendes509 Display betrachten, das Bild- und Sozialräume ineinander blendet und Subjekte sich positionieren lässt. Nachdem die drei Beispiel-Häuser in Warendorf, Remscheid-Lüttringhausen und Borghorst, wo sich die in Deutschland besterhaltensten Telemach-Tapetenfolgen befinden, im Kapitel 4.3 mental durchschritten worden sind, soll das Kapitel 4.4 dazu dienen, sich bei den Bild- und Raumgefüge-Analysen spezifisch auf die Figurenkonstellationen, Naturelemente und die Architektur in den Tapeten zu konzentrieren. Im letzten Teil des Kapitels können dann die Ergebnisse dieses Überblicks und sämtlicher Detailanalysen genutzt werden, um sich mit Hilfe der drei herausgestellten Analyseachsen den Schnittstellen der Tapeten mit den gesellschaftlichen Komplexen von Körpermodellierungen, Haushalt(ung) und Geschlechter-Sphären anzunähern. Der Fokus dieses Kapitels liegt dabei auf der Bedeutung dieser gesellschaftlich und geschlechterhistorisch hoch brisanten Komplexe sowie auch des Liebesinsel-Themas für die Zeit der Spätaufklärung allgemein und speziell für bürgerlich-empfindsame Kreise um 1800. Warum sich die Ideenfigur, gesellschaftliche Praxis und (Selbst-)Erziehungsmethode des Reisens als eine Klammer für alle drei Tapetenwelten, die in den Kapiteln 4 bis 6 im Fokus stehen, eignet, und welches die Spezifika des Telemach’schen Reisens sind, soll in dem den Detailanalysen vorangestellten Teilkapitel 4.3 beleuchtet werden. Doch die Reise des Telemach erlangte schon im ausgehenden 17. Jahrhundert eine besondere Bedeutung in der europäischen Geistesgeschichte,510 als sie in einem Epos der Erziehung, erdacht wiederum von einem Erzieher, zum ersten Mal überhaupt zu einem vom Homer’schen „Oysseus“ entkoppelten Hauptthema wurde.
509
Zu Foucault und dem Machtbegriff in der Innenraumgestaltung und
dem Wohnen siehe Kapitel 2.2 der vorliegenden Arbeit.
510 Die Bildungsreise ist – insbesondere seit das Bürgertum sie als selbstverständliche Lebensgestaltungspraxis vom europäischen Adel übernommen hat – ein wichtiges Selbstbildungsinstrument geworden. Vgl. die Ausführungen zu Beginn des Kapitels 4.3 der vorliegenden Arbeit.
203
Tapezierte Liebes — Reisen
�.� Der moralisch-didaktische und ästhetische Gehalt der literarischen Vorlage: „Peindre, c’est non-seulement décrire les choses […]“ Die im Folgenden zu untersuchende Tapete bezieht sich auf den Text von François de Salignac de la Mothe-Fénelon, den dieser zur moralischen Bildung seines Zöglings Louis – des späteren Duc de Bourgogne (und Enkel von Ludwig XIV.) – zur Jahreswende 1695/96 in Paris geschrieben hat. Dieser Roman gehörte im 18. Jahrhundert in Frankreich und bald in ganz Europa zum weit verbreiteten Bildungsgut; er erschien seit den 1720er Jahren bis 1800 in zahlreichen illustrierten Ausgaben, von denen die deutsche „Ansbacher Ausgabe“ von 1727 – übersetzt von Benjamin Neukirch511 – eine der beliebtesten war. Peter Keller berichtet: „In Frankreich stand der Roman bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in den Lehrplänen. Für den Unterricht in Deutschland kam 1732 eine französische Ausgabe mit deutschen Kommentaren heraus, die oft nachgedruckt wurde. Nach 1790 häuften sich solche Ausgaben.“512 Fénelon knüpft mit seinem Text an die homerischen Epen und speziell an die „Odyssee“ an und erdenkt einen Handlungsfaden, nach dem sich Odysseus’ Sohn Telemach auf die Suche nach seinem Vater und dabei auch nach seinen eigenen Zielen und Privilegien als zukünftiger Staatsmann macht. Verbunden mit dieser Abenteuergeschichte sind auch poetologische und ästhetische Fragestellungen, die Fénelon in dem Roman und auch in seinen theoretischen Schriften behandelt. Der Schriftsteller wurde als der „Mystiker, der Prinzenerzieher, der Seelenführer“513 betitelt, da er mit seinem Telemachstoff über
511
Benjamin Neukirch (1665–1729) hatte den Text in Verse übertragen:
Die Begebenheiten des Printzen von Ithaca, oder: Der seinen Vater Ulysses suchende Telemach, aus dem Französischen des Hrn. Von Fénelon in teutsche Verse gebracht, Und mit Mythologisch-Geographisch-Historisch und Moralischen Anmerckungen erläutert, von Benjamin Neukirch, Onolzbach 1727. 512 Peter Keller: „Der Telemach in der Kunst des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Zur Rezeption einer homerischen Figur in Fénélons Roman und der Romanfigur in der Kunst“, in: Axel Rügler und Max Kunze (Hgg.): Wiedergeburt griechischer Götter und Helden. Homer in der Kunst der Goethezeit, Mainz: Philipp von Zabern Verlag 1999, S. 204–219, hier S. 208. 513
Wolfgang Bensiek: Die ästhetisch-literarischen Schriften Fénelons, wie
Anm. 355, Einleitung: S. 1.
204
�. Die Paysage de Télémaque
die Ebene des Erzählens und der narrativen Strategien seine Rezipienten zu formen und ihre ‚Seele‘ zu lenken beabsichtigt hatte. Für eine ganze Traditionslinie von Telemach-Visualisierungen, die in Folge des Fénelon’schen Romans und seiner breiten Rezeption bis in die Bildtapete hinein wirkte,514 war es dabei von großer Bedeutung, dass sich Fénelon poetologisch mit dem Begriff des Zeichnens und der Lebendigkeit bzw. des Vor-Augen-Stelles befasst und somit die visualisierende respektive ekphrastische Kraft des Be-Schreibens von Figuren und Gegenständen betont hatte. Anstelle eines mimetischen Weltbezugs ging es ihm vielmehr um die Herausbildung einer imaginativen Bildlichkeit im und durch den Text. Darin war Fénelon seiner Zeit um fast ein Jahrhundert voraus, denn solche ästhetischen und gattungsübergreifenden Reflexionen kamen als eigenständige Wissens- und Praxisfelder erst mit der Aufklärung und der Ausdifferenzierung der Kunstgeschichte und -kritik im späten 18. Jahrhundert und speziell mit Winckelmann und Lessing zur Reife. In den „Dialogues sur l’eloquence en général“ „[…] heißt das fénelonsche Zauberwort nun ‚peindre‘, womit noch vor Du Bos die altbekannten Verwandtschaftsbeziehungen von Dichtung und Malerei wiederaufgegriffen und die Weichen für eine neue Entwicklung gestellt werden: ‚Peindre, c’est non-seulement décrire les choses, mais en représenter les circonstances d’une mani-ère (sic!) si vive et si sensible, que l’auditeur s’imagine presque les voir […].‘“515 Das „presque les voir“, das lebhafte Vor-Augen-Stellen der einzelnen Episoden, Orte und Handlungsabläufe, diente dazu, dass LeserInnen mentale Bilder generieren konnten, welche dann in Form von Gemälden, Grafiken und Kunsthandwerk durch spätere Generationen wanderten und sich besonders häufig als verdichtete Szenen auf Opernbühnen wiederfanden.516 Dabei zeichnet sich Fénelons Textdramaturgie aber auch dadurch aus, dass trotz der Vielzahl der Abenteuer und Orte, die nacheinander vorkommen, keine Überfrachtung der einzelnen Erzählstränge stattfindet. Es ist eine Konzentration auf einen Grund-
514
Die bildlichen Darstellungen der Telemach-Figur zu Renaissance-Zei-
ten basieren auf der Homer’schen „Odyssee“, in der der Sohn des großen Seefahrers zum Personal gehört, jedoch noch kein Protagonist eines eigenen Erzählstranges ist. Entsprechend ist er dann gewöhnlich zusammen mit seinem Vater Odysseus dargestellt, von dem er nicht getrennt betrachtet werden konnte. Siehe das Beispiel im Palazzo Della Meridiana in Genua. Vgl. Anm. 539. 515 „Dialogues sur l’Eloquence en général“, XXI, 47, zit. n. Wolfgang Bensiek: Die ästhetisch-literarischen Schriften Fénelons, wie Anm. 355, S. 11. 516
Hierzu speziell das Kapitel 4.2.2 der vorliegenden Arbeit.
205
Tapezierte Liebes — Reisen
konflikt und ein leicht nachvollziehbares Geschehen feststellbar, wodurch sich dieser Stoff (neben der inhaltlichen Ebene der Weiterführung eines der bedeutendsten antiken Epen überhaupt) besonders für klassizistische Aktualisierungen bzw. Neu-Interpretationen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert anbot. Fénelon äußert sich auch in geradezu klassizistischer Weise, er bevorzuge das „einfache Schöne“: „c’est le beau simple, aimable et commode, que je goûte.“517 Mit diesem erzähltechnischen und ästhetischen Prinzip ist noch ein weiteres verbunden, das hinsichtlich der späteren Telemach-Bilderzirkulation wichtig ist: Fénelon, der hauptsächlich einen Roman zur Prinzenerziehung und moralischen Stärkung des späteren politischen Entscheidungsträgers geschrieben hat, beschreibt weder einen stufenweisen Erkenntnisprozess, noch lässt er seinen Helden aus der Berichtigung selbst erkannter Irrungen und Misserfolge lernen. Hier ist darauf zu achten, keine Rückprojektion aufklärerischer Gedanken auf den Text vorzunehmen. Der jugendliche Held agiert vor dem „klassischen Gegensatz von Sinnlichkeit und Vernunft“518 und ist von einem höheren, seine eigene Erkenntnisfähigkeit transzendierenden Prinzip gelenkt, das ihn letztlich zur Erfüllung einer innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges angemessenen und notwendigen Liebe führt.519 Diese Liebe scheint mit dem Vernunftprinzip ineins zu fallen und von einer sinnlichen Liebe weit entfernt zu sein. Wie in Kapitel 3 gezeigt wurde, lassen sich im Verlauf der Aufklärung gute neunzig Jahre später jedoch starke Tendenzen zu einer Vermittlung von Vernunft und Sinnlichkeit und zur Eigenerkenntnis und Selbstverbesserung bei gleichzeitiger Abschwächung (jedoch – noch nicht – Verdrängung oder Leugnung) eines Konzeptes von transzendent-göttlichem Wirken feststellen.520 Die Handlungsabfolge bei Fénelon ist hingegen ganz klar einem höheren Auftrag unterstellt, und in einem dualistischen Pendeln zwischen Neigung und Pflicht521 hat der Held 517
„Lettre à l’Académie“, XXI, 198, zit. n. Wolfgang Bensiek: Die ästhe-
tisch-literarischen Schriften Fénelons, wie ebd. 518 Wie ebd., S. 26f. 519
Liebe ist für Fénelon, und ganz der Episteme des Absolutismus ent-
sprechend, eine von Gott ausgehende und auf Gott ausgerichtete Auffassung – wobei Fénelon innerhalb dieses Systems recht fortschrittlich denkt, da er die auf Erden von Menschen ausgeübte Macht kritisch beleuchtet und sein von weltlichen Begierden losgelöstes Liebesprinzip auch als ein Korrektiv der herrschenden Missverhältnisse einsetzt. 520
Vgl. v.a. das Kapitel 3.3.1 der vorliegenden Arbeit: das Empfindungsvermö-
gen – nicht die reine Vernunft – wird zur Voraussetzung jeglichen Weltverständnisses. 521
Diese moralische Frage nach raison versus passion ist einer der Haupt-
diskussionspunkte in der französischen Dramentheorie und insbes. bei Pierre Corneille („Le Cid“) und Jean Racine („Phèdre“).
206
�. Die Paysage de Télémaque
sein momentanes Glück „zu Gunsten eines übergeordneten Wertes“522 zurück zu stellen, um die gesellschaftliche Stabilität zu garantieren. In diesem Zusammenhang ist die Episode auf der Insel der Calypso, auf die in Kunst und Kunsthandwerk am häufigsten rekurriert wird und die auch auf der Tapete wieder auftaucht, eine Art mise en abyme der Gesamtausrichtung der Telemach’schen Reise. Hier in dieser Insel-Situation muss Telemach ebenso seinen aufflammenden Wünschen entfliehen und sich auf seine übergeordnete Funktion für die Gesellschaft als Entscheidungsträger zurück besinnen – was auf das Verlassen der Situation und die Weiterreise hinausläuft – wie in der Gesamterzählung. Man kann auch sagen, die an den Anfang des Romans gestellte Calypso-Episode ist strukturell eine Exposition zum Gesamtthema. Doch sei zunächst ein grober Überblick zur Handlung des Buches gegeben. Telemach begibt sich auf die Suche nach seinem im Trojanischen Krieg verschollenen Vater Oysseus und wird dabei von Athene (bzw. Minerva, der Göttin der Weisheit) in Gestalt Mentors begleitet. Nach einem Schiffbruch gelangen beide auf die Insel der Calypso. Die Inselherrin ist, den Sohn des von ihr einst begehrten Odysseus erkennend, sofort fasziniert von dem Jüngling und lädt ihn und Mentor zu einem festlichen Gastmahl ein, bei dem Telemach ihr von seinen Abenteuern berichten soll.523 Unter anderem erzählt Telemach rückblickend von seiner Gefangenschaft beim ägyptischen Herrscher Sesostris und von dem Verkauf Mentors an die Äthiopier.524 Telemach wird auf dem Schiff von Narbal mitgenommen, der ihm von der grausamen Herrschaft Pygmalions und der Unterwerfung der Phönizier berichtet. Nach weiteren Handlungssträngen gelangt Telemach schließlich nach Zypern. Dort fühlt er sich von den lüsternen Nymphen, die ihn am Tempel der Venus empfangen, bedroht, und flieht auf Rat Mentors, den er durch den Syrier Hasael wiedertrifft, von der Insel, ohne sich nach den Wünschen der Venus zu richten.525 Die nun wiedervereinten Reisenden gelangen nach Kreta und bewundern die weise Herrschaft des Minos. Hier gelangen sie zu großen Ehren, verfolgen aber ihren Plan, baldmöglichst nach Ithaka zu kommen. Die erzürnte Venus hatte indes bei Neptun erbeten, das Schiff der Reisenden zu versenken. Sie gelangen nur mit letzter Kraft auf eine weitere Insel, die Insel Ogygia, wo sie sich nun in Calypsos Reich befinden.526 Im sechsten Buch des Epos will
522
Wolfgang Bensiek: Wie ebd., S. 32.
523
Jeanne-Lydie Goré (Hg.): Les Aventures, wie Anm. 365, Buch I, S. 119–134.
524 525 526
Ebd., Buch II, S. 135–153. Ebd., Buch III und IV, S. 155–192. Ebd., Buch V, S. 193–222.
207
Tapezierte Liebes — Reisen
nun Calypso Telemach nicht mehr ziehen lassen und verbündet sich mit der rachsüchtigen Venus. Diese schickt ihren Sohn Amor, um in Telemachs Herz eine leidenschaftliche Liebe zu Calypso zu entfachen. Allerdings verliebt sich der Jüngling in die Nymphe Eucharis und vergisst vorübergehend das Ziel seiner Reise. Mentor stößt ihn dann von einem Felsen, um doch noch der Insel der Calypso zu entkommen, und sie werden sodann von einem phönizischen Schiff gerettet.527 Die Reisenden gelangen schließlich nach Salent zu König Idomeneus, der mit Mentors Hilfe seine schwindende Macht konsolidieren kann. Hier unternimmt Telemach auch eine Reise in die Unterwelt, die eine Gelegenheit bietet, sich vorbildhafte und weniger vorbildhafte Herrscherfiguren vor Augen zu führen. Telemach rettet zudem die Königstochter Antiope vor einem Eber und wird auf eine vernünftige, einem zukünftigen Herrscher angemessene Liebe vorbereitet.528 Telemach und sein Vater werden schließlich in Ithaka wieder zusammengeführt.529 Die Episode auf der Insel der Calypso ist dadurch gekennzeichnet, dass sie eine momentane Entrückung des Helden inmitten des Machtbereichs der Calypso und mit ihr verbündeten Venus thematisiert und zudem eine dramatische Dreiecksgeschichte zwischen Calypso, Telemach und Eucharis erzählt, die nicht aufgelöst werden kann und aus der sich Telemach nur mit Hilfe Mentors befreien kann und muss. Diese Teilgeschichte wird in der visuellen Kultur um 1800, wie in der Bildtapete, zur für sich stehenden Neu-Erzählung. Sie bekommt so einen programmatischen Charakter und wird, wie ich schlussfolgern möchte, zu einer Art Chiffre der ‚Insel-der-Calypso‘, derer man sich relativ frei bedient. Die Rahmenhandlung ist dann zwar immer noch im kollektiven Gedächtnis präsent, wird jedoch nicht aktuell aufgerufen. Zunächst sei noch einmal betont, dass das Fénelon’sche Buch in seiner Gesamtheit im 18. Jahrhundert als Standardlektüre in ganz Europa zirkulierte und auch in Deuschland sehr verbreitet war. Goethe greift es in „Dichtung und Wahrheit“ auf, indem er reflektiert: „einen frömmeren, sittlichern Effekt […] machte Fénelons Telemach, den ich erst nur in der Neukirchschen Übersetzung kennen lernte, und der […] eine gar süße und wohlthätige Wirkung auf mein Gemüt äußerte.“530 Eine nur kurze Zeit nach Neukirchs Buch 1733 unter dem Pseudonym Ludwig Ernst von Faramond
527 528 529
Ebd., Buch VI, S. 223–245. Ebd., Buch VII-XVII, S. 248–549. Ebd., Buch XVIII, S. 551–572
530
J. W. Goethe, zit. n. Wolfgang Bensiek: Die ästhetisch-literarischen Schrif-
ten Fénelons, wie Anm. 355, S. 112.
208
�. Die Paysage de Télémaque
erschienene Prosaübertragung von Philipp Balthasar Sinold, genannt von Schütz – „Die seltsamen Begebenheiten des Telemach, in einem auf die wahre Sitten- und Staatslehre gegründeten, angenehmen und sinnreichen Heldengedichte“ – arbeitet besonders die Verbindung von guter Staatsführung und (persönlichen) Tugenden heraus und „bastelt […] an jenem goldenen Rahmen, in dem spätere, ‚philosophisch‘ denkende Generationen den Prinzenerzieher und berühmten Telemach-Dichter mit Vorliebe zu betrachten pflegten.“531 Aufgrund der klaren und poetischen französischen Sprache wurde das Fénelon’sche Original sehr breit als Schulbuch eingesetzt, was einige engagierte Aufklärer ärgerte, da sie darin eine Abwertung der philosophischen Inhalte sahen.532 Herder formuliert 1803 ein an einem ‚neuen Telemach‘ auszurichtendes Gleichheitspostulat: „Mich dünkt, die Zeiten der Telemache sind vorüber. Lass junge Prinzen mit andern Menschen auf einem gemeinschaftlichen Boden Recht und Wahrheit sehn, das Gute und Schöne empfinden und in ihrem Stande anwenden lernen; es giebt keine besondre Moral oder Poesie für Prinzen.“533 Darin klingt schon an, dass die Telemach-Tapetenräume des 19. Jahrhunderts wohl nicht mehr an dem Ideal der Prinzenerziehung ausgerichtet sind. Der Text, seine über ein Jahrhundert andauernde Rezeptionsgeschichte und seine zahreichen Illustrationen waren aber noch lange nicht überholt, sodass der Telemach-Stoff auch in anderen, innovativen Kunst- und Darstellungsformen auf Interesse stoßen konnte: „Wohl im Zusammenhang mit der Herausgabe des Gesamtwerkes von François de Salignac de la Mothe-Fénelon in den Jahren zwischen 1820 und 1824 stand die Aufnahme des Themas in die Produktion der Tapetenfirma Dufour& Leroy in Paris zum Druck der Bildtapete. […] Die Geschichte des Telemach war in zahlreichen dramatisierten Schauspielen und Opernlibretti zum Lieblingsthema des theaterbegeisterten Publikums des 18. Jahrhundert geworden. So verwunderte es nicht, dass diese Begeisterung noch im 19. Jahrhundert anhielt und dass auch die Landschaften, Paläste, Treppenläufe, Säulen und Standbilder der
531 532
Vgl. zu Faramond/Sinold/von Schütz: Anm. 356. Wolfgang Bensiek, wie ebd., S. 133f.
533
Aus den „Sämtlichen Werken“ von B. Suphan, zit. n. Wolfgang Bensiek,
wie ebd., S. 140.
209
Tapezierte Liebes — Reisen
Bildtapete wie eine Theaterdekoration wirken und die einzelnen Szenen des ‚Télémaque‘ kulissenhafte Züge mit Tiefenwirkung zeigen.“534 „Schauspiel“, „Kulisse“ und „Tiefenwirkung“ sind Schlagworte, die auf die dritte Analyseachse in dieser Arbeit verweisen. Sie kreisen dabei um eine Doppelbedeutung von Theatralität und Bühne – wenn zum einen die Bildfolge auf der Tapete zusammen mit ihren medialen Spezifika der raumum- (bzw. er-) greifenden Form und Materialität „die Illusion einer detailgetreuen Theaterinszenierung“,535 die die Betrachtersubjekte gerade erleben können, erweckt, und wenn zum anderen durch die Beziehungsgefüge im Raum eine Alltags-Aufführungspraxis angeregt wird. Dabei wandern die mentalen Bilder, die auch schon für Fénelon in seinem Telemach-Epos so wichtig waren, auf Papier und an die Wände des eigenen Wohnhauses und können dort ein Weiterdenken und -handeln anregen. Das Insulare der Fénelon’schen Teilepisode eignet sich besonders gut dazu, denn sie ist in sich abgeschlossen, quasi auch losgelöst vom Romanganzen mit Bedeutung(en) zu füllen und vor allem einheitlich an erzähltem Ort und erzählter Zeit.536 So sind beim Betrachten und Erschließen der Tapetenszenen keine großen gedanklichen Sprünge von einem Erzählstrang zum nächsten nötig. Zudem bietet sich die Insellandschaft besonders für eine sehr dekorative Gestaltung mit den noch genauer zu analysierenden Pflanzen, Figuren und Gebäuden an. Die Inselepisode wird, wie oben bereits angedeutet, zu einer Chiffre, die sich von Fénelons Didaktiken und Philosophie entfernt hat und – wie ich im Laufe der ausführlichen Bildanalysen argumentieren werde – auch über einen lieblichen locus amoenus oder eine utopistische Gegenwelt für den Innenraum weit hinaus geht.
534
Mechthild Habiger and Helke Kammerer-Grothaus: „Les Aventures
de Télémaque: ein literarisches Programm für den markgräflichen Felsengarten in Sanspareil und die klassizistische Bildtapete von Dufour, Paris 1823“, in: Deutscher Verein für Kunstwissenschaft e.V. (Hg.): Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft, Band 51, Berlin/ München: Deutscher Kunstverlag 1997, S. 179–194, hier S. 187. 535 Ebd., S. 190. 536 Zwar ist die Episode über die ersten sechs Bücher des Gesamttextes hinweg narrativ verschachtelt und besteht aus der Rahmenhandlung der Erlebnisse von Telemach und Mentor auf der Insel der Calypso und der sehr langen Binnenerzählung Telemachs über die zuvor besuchten Orte und Völker (u.a. über Tyrus und dessen Herrscher Pygmalion im dritten und über die Rettung nach der Zypern-Flucht durch die Vaterfigur Hasael im vierten Buch), aber dennoch ist diese Insel-Episode nochmals erzähltechnisch klar von den folgenden zwölf der insgesamt 18 Bücher zu unterscheiden.
210
�. Die Paysage de Télémaque
Wie in Kapitel 3.1.1 in einer ersten Annäherung an die Dufour’sche Telemach-Aktualisierung schon betont wurde, ist hier eine mythologische Gestalt Herrin über einen begrenzten Raum, in dem sich nun mit der Ankunft des Telemach (und Mentors) Geschlechterbeziehungen gestalten. Damit ist ein anderer Diskurs eröffnet als die Prinzenerziehung. An deren Stelle tritt nun etwas, das vorläufig als eine ‚Reise zu sich selbst‘ bezeichnet werden soll und durchaus innerhalb der schon bei Fénelon gesetzten Koordinaten von Versuchung und Rückzugswunsch, Liebe und Eifersucht sowie Passivität und Tatendrang stattfindet. Die von klassizistischen Architekturelementen durchsetzte Parklandschaft ist ebenfalls nicht weit entfernt von Fénelons Philosophie, die sich am „Geist der Antike“ ausrichtet – wenn auch von göttlichem Schalten und Walten geprägt, worin auch wiederum eine Kritik an den Ausschweifungen des absolutistischen Herrschers und seines Hofes steckt. Fénelon beschreibt: „Je me sens transporté dans ces beaux lieux et parmi ces ruines précieuses, pour y recueillir, avec les plus curieux monuments, l’esprit même de l’antiquité.“537 Nun ist bereits der Schwenk von der Textvorlage aus dem ausgehenden 17. Jahrhundert zu bildlichen Telemach-Erzählungen und zu (vor Augen gestellten) Markierungen bestimmter Philosopheme und Didaktiken darin getan. Es bleibt genau zu untersuchen, was sich in Folge Fénelons von Telemachs Reise „vive et si sensible“538 auf der Tapete umgesetzt findet.
�.� Natoire, Tischbein, Gluck, … und ein Teeservice: Der Telemachstoff in Kunst, Musik und Alltag �.�.� Malerei, Grafik, Raumprogramme und Kunstgewerbe Da die Tapetenszenen zur Telemach-Geschichte von Dufour nicht beliebig zusammengestellt sind, sondern auf einer stringenten Auswahl basieren, stellt sich die Frage, warum die acht Szenen in dieser Konstellation visualisiert wurden und was diese Visualisierung an Informationspotenzial für 537
François de Salignac Fénelon: Correspondance, Tome II, hg. von Jean
Orcibal, Paris: Klincksieck 1972, S. 291. 538 Wie Anm. 515.
211
Tapezierte Liebes — Reisen
eine kultur- und mentalitätsgeschichtliche Einordnung der Tapete und ihrer An-Ordnungsmöglichkeiten bereitstellt. Dafür ist es unerlässlich, neben dem Bezug zur Textquelle einen Blick auf die Motiv- und Bildgeschichte des Telemachstoffes zu werfen und herauszufinden, welche Teile der Geschichte mit welchen narrativen und/oder ornamentalen Elementen und mit welcher Wirkungsweise schon vor der Tapetenproduktion an Wänden und in Räumen zirkulierten. Dabei sind Begriffe wie Vorläufer oder Vorlagen der Bildtapetenszenen lediglich Hilfsbegriffe, da sich die Tapete in ihrer Gesamterscheinung nicht direkt auf eine bestimmte Vorlage bezieht; und wo es solche gegeben haben mag, handelt es sich auch nicht um eine Eins-zu-einsÜbertragung vorliegender Bilder in das neue Medium, sondern immer um eine Adaptation und Neuinterpretation. Auf die Beliebtheit des Stoffes wurde bereits eingegangen, es ist also nicht verwunderlich, dass Telemach-Bilder seit der breiten Rezeption von Fénelons Roman in Kunst und Alltag häufig und in unterschiedlichen medialen Varianten und Kombinationen anzutreffen waren. Wenn im Folgenden auf einige einflussreiche bildliche Vorlagen näher eingegangen wird, so können diese den Epochen des Rokoko und der Régence bis hin zum Klassizismus zugeordnet werden, sind also nicht vor Beginn des 18. Jahrhunderts zu finden. Der Grund ist, dass zwar die „Telemachie“ als ein Teil von Homers „Odyssee“ schon lange bekannt war und die Homer’schen Helden vor allem in der Renaissance oft und en détail zur visuellen Darstellung herangezogen wurden, die Telemach-Episoden jedoch immer als Nebenstrang in Erscheinung traten.539 Die ausführliche Geschichte von Telemachs Abenteuern während seiner Suche nach dem Vater, d.h. mit ihm als Hauptfigur, wird erst von Fénelon erdacht, ist also am Ende des 17. bzw. zu Beginn des 18. Jahrhunderts in dieser Form zugleich ein Andocken an die wohlbekannte Dichtung Homers und eine Neuerfindung. Nun soll und kann es nicht darum gehen, eine vollständige Übersicht über die der Tapetenproduktion vorangehenden Telemach-Visualisierungen zu geben;540 doch soll ein exemplarischer Blick auf zirkulierende Bilder von Jean Raoux, Jean-Joseph Natoire und auf Objekte der Berliner Königlichen 539
So findet sich z.B. im Palazzo Della Meridiana in Genua eine Freskense-
rie von ca. 1565 mit dem Thema der Rückkehr des Odysseus, die auch die Wiedervereinigung mit Telemach zeigt. Vgl. Bertina Suida Manning und William Suida: Luca Cambiaso – la vite e le opere, Milano: Casa Ed. Ceschina 1958, S. 92, Abb. 162. 540
Weitere Telemach-Bilder, die auch zu ihrer Zeit schon sehr populär
waren, sind z.B. Angelika Kauffmanns „Telemach und die Nymphen der Calypso“ von 1783 oder Jacques-Louis Davids „Abschied von Telemach und Eucharis“ von 1818.
212
�. Die Paysage de Télémaque
Porzellanmanufaktur, sowie in ein Raumgefüge mit Bildern von Johann Heinrich Tischbein geworfen werden. An dieser Auswahl sind drei Aspekte gut ersichtlich, die für die spätere Bildtapetenanalyse zentral sind: – die philosophische und praktische Ausrichtung der Prinzenerziehung, die sich mit einer Zurschaustellung des eigenen gesellschaftlichen Rangs und Ambitionen von BetrachterInnen bzw. BenutzerInnen zusammenfügt, – das schon in der Kunst der Renaissance oftmals mit mythologischen Figuren und Handlungen verknüpfte Liebesthema als ein Streben der Hauptfiguren nach göttlichen Sphären, bis hin zur Apotheose durch und mittels der Liebeserfahrung, – sowie die Kunst der Konversation als ein mit göttlicher Transzendenz durchwirkter Ritus. Gerade der zuletzt angeführte Punkt ist bei Jean Raoux (1677–1734) besonders wichtig, der für sein Gemälde „Télémaque raconte ses aventures à Calypso“ (1722) das Thema des Erzählers im Kreise der Nymphen wählte. Der Protagonist ist hier in einer (in Fénelons Text mit Calypsos inneren Konflikten in Verbindung gebrachten) Grotte platziert. [Abb. 18] Raoux’ Schaffen fiel in eine Zeit, da die klassizistische Strenge im Bildaufbau, die in durchkomponierten heroischen bzw. moralischen Landschaften erkennbar ist, und die obligatorische ‚Größe‘ des Sujets abgelöst wurde durch „un angle plus agréable et familier“, und durch „scènes de la vie quotidienne chez des gens simples, mais dans ses aspects heureux, dans la détente, la beauté.“541 Raoux hatte das Atelier von Bon Boullogne in Paris besucht,542 welcher sich, inspiriert von der flämischen und holländischen Malerei, der Genremalerei widmete. Überdies wurde Raoux im Kreis um den Großprior des Herzogtums Vendôme, Philippe, in das Milieu der Opern und Schauspielkunst eingeführt, denn „le théâtre (Opéra, Théâtre-Francais, Théâtre italien et même les théâtres des foires Saint-Germain et Saint-Laurent) occupe une place très importante dans la société de l’époque.“543 Auch in seinen Bildern hat Raoux wichtige Augenblicke und Figurenkonstellationen zur ‚Aufführung‘ gebracht und die Leinwand entsprechend zur Bühne für diese Augenblicke gemacht.
541
Vgl. den Ausstellungskatalog: Michèle-Caroline Heck (Hg.): Jean Raoux,
1677–1734: un peintre sous la régence, Ausst.-Kat. Musée Fabre, Paris u. a.: Somogy 2009, S. 19. 542 Ebd. 543 Ebd., S. 25.
213
Tapezierte Liebes — Reisen
Abb. 18 Jean Raoux: „Télémaque raconte ses aventures à Calypso“, Öl auf Leinwand, 114 × 146 cm, RMN–Grand Palais, Paris, 1722.
Ein genauerer Blick auf das Bild von der Telemach-Ankunft zeigt, dass die Erzählgruppe im Eingangsbereich der Grotte versammelt ist – im linken Bildhintergrund ist auch bereits das Innere des Grotten-‚Interieurs‘ zu sehen, wo gerade Festlichkeiten zu Telemachs Empfang vorbereitet werden. Durch diesen festlich-fröhlichen Charakter unterscheidet sich die Szenerie bei Raoux von anderen Bearbeitungen des Themas, denn sie ist zwar in eine vorhandene Darstellungstradition einzuordnen – beispielsweise mit einem Bild des ebenfalls mit dem Bon Boullogne-Atelier vertrauten Pierre-Jacques Cazes544 –, bringt jedoch in ihrer Theatralität etwas prinzipiell Neues hervor. Ein vergleichender Blick auf die später genau zu analysierenden Tapetenszenen, der keinesfalls die epochen- und medienspezifischen Differenzen einebnen soll, zeigt recht deutlich, dass sowohl Raoux als auch ein gutes Jahrhundert später die Dessinateure der Manufaktur Dufour ein Zusammentreffen im intimen, von den Geschehnissen der Umgebung abgeschotteten Kreise und an einem als idyllisch geltenden Ort vor Augen führen wollten.
544
„Télemaque racontant ses aventures à Calypso“, erste Hälfte 18. Jahr-
hundert, siehe die Abbildung im Online-Portal der Sammlungen französischer Museen „Joconde“. Das Bild von Cazes befindet sich im „Musée des Beaux Arts“ in Rennes (INV 794.1.39): http://www.culture.gouv.fr/public/mistral/joconde_ fr?ACTION=CHERCHER&FIELD_98=AUTR&VALUE_98=CAZES%20Pierre%20 Jacques&DOM=All&REL_SPECIFIC=3, [zuletzt aufgerufen am 25.08.2016.]
214
�. Die Paysage de Télémaque
Bei Raoux sitzen die einen Halbkreis bildenden sieben Hauptfiguren vor allem auch durch ihre leuchtende Kleidung wie auf einer Bühne inmitten der Natur. Gerahmt wird die beleuchtete Vordergrundgruppe von einem Baum und der Grotte an den Bildrändern, noch dazu wird sie von Felsen bzw. dem Eingang zur Grotte überwölbt. Im Unterschied zur Tapetenszene finden im Hintergrund synchron zwei Nebenhandlungen statt: Schweift der Blick nach rechts, können noch das sinkende Schiff im Meer, welches nicht bedrohlich wirkt und den ebenfalls aus den Wogen ragenden Felsen gleicht, sowie drei mit der Natur (Blumen, Wiese und Baum) interagierende Inselbewohnerinnen wahrgenommen werden. Zur linken Seite sind die erwähnten Nymphen mit der Vorbereitung der Festlichkeiten in der offenbar möblierten und ausgeleuchteten, wie eine große Empfangshalle wirkenden Grotte beschäftigt. Die Figuren der Hauptgruppe sind hier im Halbkreis angeordnet, welcher durch die halbrunde Steinbank545 vorgegeben bzw. betont wird. Calypso, die bei Cazes einer Inselherrin gemäß auf dem Thron sitzt, [Abb. 19] ist hier leutselig in der Mitte der Gruppe auf einem Fell platziert, dessen Stofflichkeit und weiche Haptik durch ihr seidenglänzendes Kleid noch verstärkt wird. Das Dreieck, das die Geschichte von der Dreiecksbeziehung vorgibt, ist mit in der Figurenkonstellation abgebildet, zeigt jedoch nicht Calyso, Telemach und Eucharis. Vielmehr wird letztere durch Mentor ersetzt, der in der Mitte des sich zugewandten Paares Calypso und Telemach sitzt. Mentor und sämtliche Zuhörerinnen lauschen ihrem Gesichtsausdruck nach gebannt Telemachs Erzählung und sind völlig davon gefesselt. Eucharis ist seitlich rechts der Dreiergruppe (und für die Betrachtenden des Bildes links) platziert und blickt an Calypso vorbei auf Telemach. Sie hält in Andeutung ihrer späteren Leidenschaft einen Köcher mit (Amors) Pfeilen im Arm. Die Dufour’sche Tapeten-Erzählszene (Szene 3) gibt ebenfalls eine Dreiergruppe auf der halbrunden Bank wieder;546 [Abb. 20] sie ist allerdings nicht 545 Hier sei auch auf die Nachwirkung von Raoux’ Bildschema bis in das Kunstgewerbe hinein hingewiesen: offenbar ist seine Bank-Gruppe beliebt genug gewesen, um sie als Motiv für eine Kupferdruckplatte, mittels derer Wandbehänge bedruckt werden konnten, oder auch eine Porzellangruppe aus Sèvres-Porzellan zu nutzen (1776). Jacques Firmin Beauvarlet fertigte 1773 eine Zeichnung nach dem Bild, und es gab ab 1784 Drucke davon, die in Wien in der Albertina verblieben. Siehe dazu den Jean Raoux-Katalog, wie Anm. 541, S. 121. 546
Es soll hier nicht spekuliert werden, ob und inwieweit das Gemälde von
Raoux eine ‚direkte‘ Vorlage für die Manufaktur Dufour gewesen sein könnte – es wäre jedoch durchaus denkbar, da es schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts mit kurzen Unterbrechungen im Louvre hängt und sehr bekannt gewesen sein muss, vgl. den Jean Raoux-Katalog, wie Anm. 541, S. 119. Gerade die Form der Bank ist doch eine auffällige Gemeinsamkeit; bei Cazes sitzt Calypso wie erwähnt
215
Tapezierte Liebes — Reisen
Abb. 19 Pierre Jacques Cazes: „Télémaque racontant ses aventures à Calypso", Öl auf Leinwand, 80 × 100 cm, Musée des Beaux-Arts de Rennes, 2. Hälfte 18. Jh.
so dominant wie bei Raoux, da die architektonischen Elemente und die sehr in die Vertikale tendierende (architektonisierte) Natur sowie der vierstöckige, die beiden Männer optisch von Calypso trennende Brunnen eine wichtige Rolle in der Bilderzählung übernehmen.547 Auch ist die Grotte, die bei Raoux und auch Cazes als Bühnenbild dient, auf der Tapete nicht zu sehen. Sie markiert bei Raoux einen von der Außenwelt abgeschotteten ‚anderen‘ Ort, der im neuesten Katalog über ihn und sein Werk als ein femininer Ort im Gegensatz zur männlichen Welt der Abenteuer, aus der Telemach ja gerade kommt, beschrieben wird: „La grotte de Calypso, les coquillages sur les parois, les fleurs composent un lieu clos et féminin. Derrière Télemaque et Mentor, l’échappée se fait sur un lieu ouvert, la mer d’où ils sont venus. La balance entre l’aventure, le monde masculin et les plaisirs de l’intimité, du foyer, le monde féminin, ordonne l’oeuvre formellement et symboliquement, comme Mentor l’explique d’ailleurs à Télémaque [Hervorhebungen der Autorin].“548 Es ist lohnend, auf die hier angerissenen Aspekte der Theatralität, der „intimen“ Zusammenkunft in einer Erzählrunde und der „femininen“ versus „mas-
noch auf einem Thron und in einer Zeichnung Guérins auf einem Felsen. Auch in Charles-Joseph Natoires Darstellung 17 Jahre später findet sich eine völlig andere Bühne für diese Szene. 547 Siehe die Kapitel 4.3 und 4.4.3 der vorliegenden Arbeit. 548 Vgl. den Jean Raoux-Katalog, wie Anm. 541, S. 120.
216
�. Die Paysage de Télémaque
Abb. 20 Telemach-Tapete in Warendorf, Klosterstraße 7, Szene 3: Telemach erzählt von seinen Abenteuern.
kulinen“ Sphäre im (Bild-)Raum zurückzukommen. Auch die Grotte als (Aufführungs-)Ort von Liebesränken und, allgemeiner, als Ort, der Vergangenes und Erwünschtes in das Hier und Jetzt von Gesprächen und Interaktionen holt, wird zunächst mit der Thematisierung des Musiktheaters noch einmal aufgegriffen werden. Die beiden oben genannten Aspekte des Liebesthemas und der Konversation finden sich also hier fein modelliert bei Raoux wieder, während der erstgenannte Aspekt der Prinzenerziehung bei Raoux und in anderen Gemälden oder Einzelskizzen nicht so sehr augenfällig wird wie in seriellen Bildproduktionen, die für und in bestimmte(n) Innenräume(n) gedacht waren. Der Telemachstoff fand allgemein Zuspruch als „ständige Ausstattung adliger Häuser“,549 und Peter Keller vermutet die „frühesten Wiedergaben des Telemach in der bildenden Kunst auf Teppichen.“550 Wie das Beispiel einer Telemach-Bearbeitung auf Supraporten in der Zeit um 1700 in der Alten Galerie im Schloss Charlottenburg zeigt, lassen sich zwischen Raumdekorationsformen und dem Leben und den Idealen von BewohnerInnen oftmals Rückschlüsse ziehen, in diesem Fall speziell zur Bedeutung der Prinzenerziehung bei Hofe. Iris Wenderholm betont:
549 Peter Keller: „Der Telemach in der Kunst“, wie Anm. 512, S. 211. 550 Ebd.
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Tapezierte Liebes — Reisen
„In einer für die Zeit charakteristischen Weise werden in der Conversation [sur le livre de Télémaque] wie in den Supraporten Friedrich Wilhelm mit Telemach und Sophie Charlotte mit Minerva parallelisiert. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt auch die Deutung der Telemach-Supraporten an Klarheit, da sie den Beginn der von Minerva initiierten Suche Telemachs nach seinem Vater darstellen. Diese Reise des Thronfolgers kann auf allegorische Weise als Suche nach eben den fürstlichen Idealen gelesen werden, die Fénelon in seinem Roman ausgeführt hatte.“551 Der spätere König von Preußen ist von seiner Mutter nachweislich mit und in der Rolle des Telemach, der sich zu einem weisen Herrscher zu entwickeln hatte, imaginiert worden, was die Aufgabe der Prinzenerziehung in den großen Zusammenhang der Landes- und Großmachtpolitik Preußens im frühen 18. Jahrhundert stellt. Gerade vor dem Hintergrund der sehr unterschiedlichen Auffassungen vom Regieren, die Friedrich Wilhelm und sein Vater Friedrich III. (ab 1701 König Friedrich I. von Preußen) vertraten, ist diese Durchdringung der Räume des Schlosses von den Erziehungsidealen eines Schriftstellers höchst bemerkenswert. In Frankreich lässt sich als weiteres Beispiel dafür, wie die Fénelon’sche Telemach-Pädagogik in einem Raum- und Dekorationsprogramm fruchten konnte, der gräfliche contrôleur général des finances und Gutsherr von La Chapelle-Godefroy, Philibert Orry, anführen. In dessen Schloss befanden sich Bilder des Künstlers Charles-Joseph Natoire (1700–1777), die sich dem Themenkomplex der „Histoire de Télémaque“ widmen.552 Immer noch gute 80 Jahre vor der Tapete entstanden (1739–41), sind diese Telemach-Visualisierungen bereits ins kollektive Gedächtnis übergegangen, insbesondere, da zwei der Bilder im Salon von 1739 gezeigt worden sind und Natoire schließlich die Thematik im Jahr 1745 für das Versailler Schloss noch einmal aufnahm.553 Der Zeitraum von 1730 bis 1750, in dem Natoires Telemach-Darstellungen entstanden, ist der produktivste und wichtigste des Künstlers.554 Signifikant ist hierbei, dass es sich jeweils um Raumprogramme, ausgewählt und arrangiert an spezifischen
551
Iris Wenderholm: „Gelehrsame Spaziergänge“, wie Anm. 358, hier S. 45.
552
Das Schloss ist zerstört worden und die Bilder in der Revolutionszeit
eingezogen, einige befinden sich heute im Museum von Troyes bzw. in russischen Museen, vgl. Petra Tiegel-Hertfelder: ‚Historie war sein Fach‘: Mythologie und Geschichte im Werk Johann Heinrich Tischbeins d. Ä. (1722–1789), Worms: Werner 1996, S. 86. 553 Susanna Caviglia-Brunel: Charles-Joseph Natoire, 1700–1777, Paris: Arthena 2012, S. 292ff, S. 326f. 554 Ebd., S. 43. Er hatte sich auch u. a. der Amor und Psyche-Thematik angenommen.
218
�. Die Paysage de Télémaque
Orten adeligen Wohnens, handelt. Die sechs Szenen des von Philibert Orry für Schloss La Chapelle-Godefroy georderten dekorativen Zyklus555 sind alle auf der Insel der Calypso angesiedelt und nehmen somit auf das in der Kunst des Barock und Rokoko beliebteste Motiv aus den Telemach-Abenteuern Bezug. Zum einen liegt das an der Präferenz für die Kombination von theatralischen Szenen und idyllischen Landschaften in der Malerei, insbesondere in den beliebten fêtes galantes, und zum anderen an einer ganz spezifischen Annäherung des Liebesthemas an die Ziele und Strategien der über Haus und Umgebung herrschenden Familie. In La Chapelle-Godefroy tendierten die Bildinhalte in Richtung einer göttlichen Zusammenkunft, sodass die eigentliche Dreiecksgeschichte hier visuell nicht zum Tragen kommen konnte „en faveur d’une évocation poétique de l’île de la nymphe, royaume de l’amour.“556 In der Versammlung in der Grotte beispielsweise ist Eucharis als Krisenauslöserin nicht auszumachen; und auch die beiden als Aquarell und als Ölgemälde überlieferten Themen „Die Nymphen setzen Telemachs Schiff in Brand“ und „Telemach und die Nymphen der Calypso“ setzen jeweils weniger auf Konfliktstoffe als vielmehr eine von irdischen Mühsalen weit entfernte Feierlichkeit und Leichtigkeit. In letzterem lässt sich der Held von den Nymphen umgarnen und steht kurz vor der Apotheose.557 Auf die drei eingangs genannten Aspekte zurückkommend, die diese Bildbeispiele und die Tapete verbinden, lassen sich in La Chapelle-Godefroy der erste und zweite Aspekt einer Zurschaustellung des eigenen Höherstrebens mittels des Telemach-Raumprogramms und einer Verräumlichung der Liebesthematik – hier als idyllische Momentaufnahmen in einem Reigen von Nymphen – ausmachen. Gerade für einen Finanzbeauftragten des niederen Adels scheint es attraktiv, sich inmitten von Göttern und ihrem Walten zu bewegen, und so vielleicht – wie auch der Telemach Fénelons – zu einer Art verlängertem Arm der Götter zu werden. Die in die Realpolitik und wirtschaftlichen Entscheidungen verwickelten Bewohner eines so dekorierten Hauses präsentieren sich auf diese Weise in ihren Innenräumen als von Himmelsgeschöpfen und -mächten inspiriert.558 Das Prinzip der Suche und des
555
Ebd., S. 292.
556
Ebd. Die realisierten Szenen, die sich in dem Buch alle abgebildet
finden, sind näherhin „Venus übergibt Amor an Calypso“ (samt einer Vorskizze für die Pariser Salonausstellung), „Télémaque chez Calypso“, „Telemach hört die Ratschläge Mentors an“ und „Calypso hört die Ratschläge des Amor an“; außerdem „Die Nymphen setzen Telemachs Schiff in Brand“ und „Telemach und die Nymphen der Calypso“. Vgl. die Abbildungen hier: P.111 bis P.117, im Katalogteil S. 292–297. 557 Ebd., P.117, Katalog S. 297. 558
Auch die beiden von Natoire in Versailles im Zimmer des Thronfolgers
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Tapezierte Liebes — Reisen
Ratschlags in Kombination mit einer festlich-amourösen Stimmung verfestigt visuell-räumlich die Verbindung der Betrachter-/BewohnerInnensubjekte mit dem Göttlich-Transzendenten, das sie aus dem Alltag und seinem Mühsal zu entheben scheint. Die eigenen Entscheidungen scheinen hier an den Wänden der bewohnten Räume und im mythologisch-transzendenten Bild(t)raum höhere Weihen zu erfahren. Das Prinzip von geselliger Runde und einer in den eigenen (Lebens-)Alltag eingepassten Telemachie wandert wenige Jahrzehnte später sogar bis auf den Teetisch – davon zeugt ein mit Telemach-Motiven verziertes Teeservice, das die Abenteuer des Prinzen in allen möglichen Etappen aufgreift und nicht mehr nur auf die Liebesinsel konzentriert ist. Das Erzählen und Erziehen geht nunmehr direkt von dem Mund in den Magen; es wird auch körperlich verinnerlicht. Als Vorlage für das um 1790 hergestellte siebenteilige Service der „Berliner Königlichen Porzellan-Manufaktur“ dienten einige Kupferstiche von Charles Monnet aus einer Fénelon-Ausgabe von 1773, die nochmals in einer Folgeausgabe von 1824 von Jean-Baptiste Tilliard gestochen wurden.559 Somit steht hier auch ein Beispiel für die Praxis des Kopierens und der intermedialen Bezugnahmen im Fokus, die um 1800 auf einem kreativen Höhepunkt war und sich insbesondere im Sammeln und Vor-Augen-Stellen (sowie, wie hier, im Gebrauch) von Objekten im Wohnraum zeigte respektive vergegenständlichte. Letztlich wurden so Subjekte in ihrem Kontakt und Agieren mit ihnen geformt und in einen neuen Antike-Kontext eingefügt, wie es bereits mit Goethes Haus in Weimar anklang.560 Die Images,561 die schon den Text begleitet und kommentiert hatten, form(ier)ten sich neu auf einem Présentoire, einer Kaffee-, Tee- und Milchkanne sowie einer Teedose und zwei Deckeltassen, während sie quasi zeitgleich (1824) mit einer Wiederaufnahme in grafischer Form auch auf den Tapeals Supraporten ausgeführten Szenen „Télémaque dans l’Île de Calypso“ und „Le songe“ (1746 im Salon ausgestellt) müssen für ein traumartiges (le songe), den Intrigen und Machtränken des Alltags entzogenes Setting gesorgt haben, das in den Bereich von Kunst und Ästhetik führt – gerade da Athene nicht nur Telemach lenkt und schützt, sondern auch für Wissenschaft und Kunst steht. Vgl. ebd., P.162, D.349 und D.350, Katalogteil S. 326f. 559 Hannelore Plötz-Peters: „Die Telemachie des Fénelon auf Berliner Pozellan“, in: Keramos 213 (2011), S. 77–86, hier S. 78. 560 Vgl. Anm. 473 zu dem neuen Forschungskontext zu Goethes Haus. 561
Unter den elf Abbildungen auf dem Porzellan sind nur fünf, die sich
auf die Insel der Calypso beziehen – darunter auch die Erzählszene und die Übergabe Amors an Calypso – und alle anderen sind weiteren Episoden aus der Telemachie zuzuordnen, wie bspw. „Telemach in der Wüste Oasis“ oder „Telemach fleht Hazael an“.
220
�. Die Paysage de Télémaque
tenszenen wieder ganze Wohnräume verlebendigten. Solche Images wanderten also „[…] von einem Theetisch zum andern“ und bildeten dabei einen „neuen Kulturtyp“ mit heraus,562 der symptomatisch für ein frühmodernes „massenkulturelles Weltverhältnis“ wurde.563 Hiermit ist genau die Schnittstelle von Subjekten in ihrem (alltäglichen) Umfeld mit Gegenständen des Gebrauchs und der Selbstrepräsentation gemeint, die bis ins frühe 19. Jahrhundert wiederum in besonderem Maße von Antike-Bildern und -Vorstellungen geprägt sind. Ein Anspruch an möglichst lückenlose Bildung sowie ein durch diese dynamisierter Prozess von Kommunikation und Vergesellschaftung wird mit dem ebenso starken Bedürfnis nach Besitz und Konsum korreliert;564 die antiken HeldInnen und Götterfiguren werden nun zu Sammler- und Liebhabertrophäen, ohne jedoch ihren über die Jahrhunderte mittransportierten moralisch-didaktischen Gehalt einzubüßen, wie bereits gezeigt wurde. Hier verbindet sich nun wieder das in Kapitel 3.3.1 thematisierte (An-) Sammeln und Zur-Schau-Stellen – von Objekten und der eigenen Bildung – mit der Haltung der Subjekte und der Lust, die sich in diesem Tun äußert. Diesen Verbindungsstellen kann man hauptsächlich in Texten, aber auch Bildern des JLM nachspüren, welches deutlich das neue Konsumbedürfnis herausstellt und auch erst eigentlich mitproduziert und dabei Objekte und deren Gebrauch als Transponenten antiker Images versteht. So wird das JLM als bild- und subjekterzeugendes Massenmedium zu einem „Seismograph des Zeitgeistes“,565 der sensibel auf noch so geringe Veränderungen in Diskursen und Praktiken des verbürgerlichten Lebens reagiert. Die Mode respektive wechselnde Moden, der und denen sich das JLM verpflichtet fühlt, und ebenso Manufakturen und letzt-
562 Siehe den Artikel von Dorothea Böck: „[…]‚von einem Theetisch zum andern‘. Die ‚ästhetische Prügeley‘ zwischen Berlin und Leipzig im Lichte der Herausbildung eines neuen Kulturtyps“, in: Ana Ananieva, Dorothea Böck und Hedwig Pompe (Hgg.): Geselliges Vergnügen, wie Anm. 56, S. 93–120. 563
Klassizistische und frühromantische Ästhetik und die Auseinanderset-
zung mit Vorstellungen von der idealen Antike münden im 19. Jahrhundert – und da sind die Tapeten-Welten gerade an der Schwelle – in ein „massenkulturelles Weltverhältnis“, wie es Dominik Schrage nennt. Konsum, so seine These, befördert eine Ästhetik der Verfügbarkeit und Perfektibilität. Dominik Schrage: „Integration durch Attraktion. Konsumismus als massenkulturelles Weltverhältnis“, in: Mittelweg 36, 12,6 (2003), S. 57–86. 564
Hierin zeigt sich ein „Archetyp der modernen Konsumgesellschaft“,
der auch bei Schlegel und Schiller diskutiert wurde, vgl. Dorothea Böck: „[…]‚von einem Theetisch zum andern‘“, wie Anm. 562, S. 115. 565
Angela Borchert: „Ein Seismograph des Zeitgeistes. Kultur, Kultur-
geschichte und Kulturkritik im ‚Journal des Luxus und der Moden‘“, in: Dies. und Ralf Dressel (Hgg.): Das Journal des Luxus und der Moden, wie Anm. 350, S. 73–104.
221
Tapezierte Liebes — Reisen
lich Käuferschichten, die auch beispielsweise für Telemach-Szenen auf dem Teetisch sorgten, sind vor allem als ein Phänomen von Aktualität566 zu verstehen. Es geht also um einen Aktualisierungsprozess und nicht etwa ‚die‘ in sich einheitliche und einer historischen Epoche genau nachempfundene Antike. Nur so kann diese Antiken-Wiederaufnahme auch in die Selbst-Entwurfsprogramme u.a. in Wohnräumen integriert werden: als nicht nur neu designte Schablone, die didaktischen, geselligen und biopolitischen Bestrebungen unterlegt wird, sondern vielmehr als ein ernst zu nehmender materialisierter Katalysator für ebendiese. „Die Verfügbarkeit der Dinge“567 gehört mit zu diesem Prozess des An-Sammelns, Ein-Gliederns, Aus-Bildens und Neu-Ausrichtens, der ebenso die modischen Dinge als auch die Subjekte erfasst. Antike Formeln und Bilder werden erstens zu einem Verhaltens-Programm für das moderne Subjekt bzw. fügen sich in ein solches ein, und werden zweitens als Zeichen für die Vermittlung und Wiederherstellung eines als natürlich und glückselig verstandenen früheren Zustandes aktualisiert. Telemach-Bilder in der hier betrachteten Epoche vermitteln etwas über die durch sie dargestellten Abenteuer der Seereisenden Hinausgehendes, und dieses In-Gebrauch-Nehmen und Mit-Vermitteln ist kennzeichnend für die sogenannte Ästhetische Moderne568 als die oben bereits herausgestellte Zeit der Mannigfaltigkeit und des (Selbst-)Experimentellen. An den bisherigen Beispielen für Telemach-Neu-Formierungen ist bereits deutlich geworden, inwiefern auch ein (sozio-)kulturelles Kapital des sich mit Telemach auseinandersetzenden (wenn nicht, wie im Falle Sophie Charlottes, gar identifizierenden) Subjekts mit aktualisiert wird. „Bildung wird zum kulturellen Kapital sensu Bourdieu“,569 und entsprechend ist die Beschäftigung
566
Susanne Holmes: „‚Aphroditens holden Kindern‘“, wie Anm. 463, S. 155–
178; Holmes schreibt auch über das doppelte Konzept des JLM im Jahre 1813, da „Aphrodite, die römische Kalender-Heilige“ das Wort Mode im Sinne von Kleidung sowie auch Aktualität verkörpert, S. 174, also Körper- und Geschlechtervorstellungen, modisches Einkleiden und Anpassen, aber auch die Aktualisierung von Images der Welt der Antike mittransportiert. 567
Dominik Schrage: Die Verfügbarkeit der Dinge. Eine historische Soziologie
des Konsums, Frankfurt am Main u. a.: Campus 2009. Siehe auch zum Hedonismus als Antrieb des modernen Konsums, der also – in den Käufersubjekten verankert – das Konsumieren produziert: Colin Campbell: The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism, Oxford u. a.: Blackwell 1987. 568 Hierzu auch: Dirk Kemper: „Ästhetische Moderne als Makroepoche“, in: Silvio Vietta und Dirk Kemper (Hgg.): Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik, München: Fink 1998, S. 97–126. 569 Irmgard Nickel-Bacon: „Literarische Geselligkeit und neue Praktiken der Unterhaltung in der Kinder- und Jugendliteratur der Biedermeierzeit“: in: Geselliges Vergnügen, wie Anm. 56, S. 157–199, hier S. 161.
222
�. Die Paysage de Télémaque
mit Kunst zentraler Bestandteil der im Entstehen begriffenen bürgerlichen Identität, als Beschäftigung mit dem Idealen „gegenüber der banalen Welt von Arbeit und Leistung.“570 Auch das JLM trägt „[a]ls genuin bürgerliche Publikationsform […] zur Selbstfindung und Repräsentation des aufstrebenden Standes bei und dokumentiert sukzessiv den damit einhergehenden Entwicklungsprozess. Die über ein Journal vermittelte Erinnerungskultur spiegelt die Sukzession des Fortschritts am besten wider.“571 Dieses kulturelle Kapital wird in den Wohnräumen um 1800 zu einem performativen Spiel der Selbst-Darstellung und -Reflexion. Hierfür sei ein letztes sehr bemerkenswertes Beispiel aus dem Feld der Telemach-Visualisierungen angeführt: In der Nähe von Kassel hatte sich Landgraf Wilhelm VIII. 1748–55 seine Residenz erbaut. Das Lustschloss mit den Wohnungen von Landgraf und Landgräfin, Festsaal und Speisesaal sowie Gästewohnungen ist zu einem großen Teil von Johann Heinrich Tischbein (1722–1789) ausgemalt worden. Wie Petra Tiegel-Hertfelder in ihrer Monographie beschreibt, sind „[e]ntsprechend der barocken Hierarchie der Raumfolgen […] die Kabinette der Wohnungen wie der Festsaal im Obergeschoss, der nach seinen Supraporten auch ‚Musensaal‘ genannt wird, besonders aufwendig ausgeziert. […] Fast die gesamte malerische Ausstattung – Porträts und Supraporten – in Wilhelmsthal oblag Johann Heinrich Tischbein. […] In den Wohnungen, die beiderseits des Musensaales liegen, schilderte Tischbein ausführlich eine berühmte Geschichte: Es sind die Erlebnisse des Prinzen Telemach, der sich auf die Suche nach seinem verschollenen Vater Odysseus begeben hat.“572 Die Raum-Bilder müssen um 1760 ausgeführt worden sein,573 also im Rahmen der hier vorgestellten Beispiele zeitlich nach Natoires Beiträgen für die Salon-Ausstellungen und herrschaftlichen Schlösser und noch vor der Herstellung des Teeservices. Es können insgesamt zwölf Szenen unterschieden werden,
570 Ebd. 571 Ebd., S. 175. 572 Petra Tiegel-Hertfelder: Historie war sein Fach, wie Anm. 552, S. 59f. 573 Eine Datierung ist nur aufgrund weniger Anhaltspunkte möglich, insbesondere Rechnungsvermerken aus den Jahren 1756 und 1760, ebd. S. 82f.
223
Tapezierte Liebes — Reisen
die „alle Räume im Obergeschoß“574 durchdringen und wiederum verschiedene Stationen des Telemach auf seiner Reise einschließlich einiger Ereignisse vor der Abfahrt und der Wiedervereinigung mit Oysseus am Ende visualisieren und als räumliche Markierungen setzen.575 Die Bilder der Gemäldefolge gehören laut Tiegel-Hertfelder zu einem „durchdachten Programm, das die Begegnungen des Prinzen Telemach mit dem ‚weiblichen Geschlecht‘ in den Vordergrund stellte, den verschlungenen Weg zu dem ‚Amour raisonnable‘ nachvollziehend, eine in Vernunft gründende Liebe.“576 Dieser Parcours, der sich aus den so markierten Stationen in der Bel Etage ergibt, weist also auf den erzieherischen Gehalt des Findens einer auf Vernunft gründenden Liebe hin.577 Dabei handelt es sich von Beginn an um eine politisch-dynastisch motivierte Suchaktion Telemachs, bis hin zur Flucht von Calypsos Insel und zur Rettung der ihm bestimmten Antiope. Das didaktische Programm ist gemessen an dem Gesamtepos Fénelons umfassender, als wenn nur die Inselepisode dargestellt worden wäre, wie beispielsweise in dem Programm von Natoire. Die Rekonstruktion einiger biographischer Ereignisse aus dem Leben der landgräflichen Familie gibt nun Aufschluss darüber, warum gerade bei der Tischbein’schen Innenraumgestal-
574 575
Ebd., S. 60. Vgl. die Ausführungen zu den Bildern und ihren Benennungen sowie
den Schwierigkeiten bei den Zuordnungen bei Tiegel-Hertfelder, ebd., S. 63–90. Die Identifizierung bzw. Benennung der Szenen folgt Friedrich Bleibaum und seinen „Bau- und Kunstdenkmälern im Regierungsbezirk Cassel, Band VII, Kreis Hofgeismar, Teil 1, Schloß Wilhelmsthal“ von 1926, mit dessen Analysen sich Tiegel-Hertfelder kritisch auseinandersetzt. 576
Petra Tiegel-Hertfelder, wie ebd., S. 63 Dieses Liebeskonzept geht auf
Thomasius zurück und den Aspekt von Freundschaft in der Liebe. 577
Tiegel-Hertfelder geht auch auf vier erhaltene Zeichnungen Tischbeins
ein: Die „Ankunft Telemachs auf Zypern“ (Abb. 21), „Telemach findet Mentor auf der Insel Zypern wieder“ (Abb. 22), „Mentor zeigt Telemach das brennende Schiff“ (Abb. 23) und „Telemach rettet Antiope“ (Abb. 24); wobei die ersten beiden die Zypern-Episode, welche Telemach auch Calypso später erzählt, die dritte die Calypso-Episode und die vierte bereits die späteren Ereignisse bei den Salentinern und König Idomeneus (wo Telemach erfolgreich den Staat lenkt und Idomeneus’ Tochter bei der Jagd vor einem Eber rettet) zeigen. Für Tiegel-Hertfelder sind diese Zeichnungen besonders hilfreich, um den „Original“- Bildzyklus, wie er unter Wilhelm VIII. konzipiert gewesen sein könnte, zu rekonstruieren. Außerdem stellt sie Verbindungen zur schwierigen Vater-Sohn-Beziehung von Wilhelm und Friedrich her, die hier auch in Telemachs Suche gespiegelt sein könnte.
224
�. Die Paysage de Télémaque
tung von einer Rückkopplung zwischen dem Bildprogramm und dem (hochpolitischen) Lebensalltag der Bewohner ausgegangen werden muss: Der Erbprinz Friedrich hat teilweise ein seinem Vater und dessen politischen Bestrebungen gegenläufiges Verhalten gezeigt, indem er sich zum einen Liebeleien hingab und zum anderen 1749 einen problematischen Religionswechsel zum Katholizismus vollzog,578 was nicht nur seiner Stellung unangemessen war, sondern sogar potenziell den Landesfrieden gefährdete.579 Der Vater Wilhelm VIII. hatte jedoch zu seinen Lebzeiten stets Wert auf eine Ausbildung nach den Idealen des weisen, gemäßigten Herrschers gelegt und dabei auch die genaue Lektüre des Fénelon’schen Telemach in die Erziehung des Prinzen integriert.580 Das visuelle Telemach-Programm im Schloss ergänzte wohl diesen Erziehungsgedanken (umso mehr, wenn man die Zeichnungen Tischbeins zu nicht ausgeführten Raumbebilderungen mit berücksichtigt), indem der Held mit verschiedenen Frauen konfrontiert wird und sich am Ende für Antiope und für die „amour raisonnable“ entscheidet. Wenn sich Wilhelm VIII. genau dies für seinen Sohn wünschte, so hat es sich zu dessen Leb- und Amtszeiten nicht erfüllt, wurde aber als ein in den Raum geholtes Vater-Sohn-Macht-(Wunsch)-Verhältnis, das in Formeln der antiken Mythologie bzw. der Re-Aktualisierung eines beliebten Stoffes zum Ausdruck kommt, präsentiert. Von den drei Aspekten, die die hier aufgeführten Bild-(Raum-)Beispiele hinsichtlich ihrer Wirkmächtigkeit verknüpfen, werden in Schloss Wilhelmsthal der erste – also der Prinzenerziehungs- und dynastische Aspekt – sowie der zweite, die Thematik der ‚angemessenen‘ Liebe als Ziel jeden Strebens, besonders augenfällig. Der dritte Aspekt, die alltägliche Konversation, wird sicherlich weniger eine Rolle gespielt haben als in Sophie Charlottes praktischer Anwendung des Telemachstoffes. Letztlich werden aber durch die Platzierung der Bilder über den Türen und damit an Durchgangsstellen der gesamten Beletage wiederum die durchschreitenden Subjekte in eine Situation des momenthaften Sich-Hineinversetzens in die visuell dargestellten Stationen und auch das Sprechen darüber gebracht, sodass hier doch eine Dynamisierung von Konversation stattgefunden haben mag. Dadurch, dass mehrere zeitliche Abschnitte der Telemach’schen Abenteuer abgeschritten werden konnten, wird ein Nachvollzug (auch körperlicher Art) der Reise durch diese Subjekte in einem Erfahrungsraum in den eigenen Wohnräumen ermöglicht. Ähnlich funktionierte die Interaktion mit der Tapete einige Jahrzehnte später, die jedoch dann einen
578
Tiegel-Hertfelder stützt sich u. a. auf die Tagebücher des Grafen
Lehndorff aus den Jahren 1753–1767, ebd., S. 79. 579 Ebd., S. 82. 580 Ebd., S. 81.
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Tapezierte Liebes — Reisen
zusammenhängenden Landschaftsraum und keine einzelnen Durchgänge einer Gesamtreise zu produzieren versuchte. Doch bevor dies genauer untersucht wird, soll noch ein Blick auf Telemach’sche Erfahrungsräume in dem äußerst beliebten Musiktheater geworfen werden.
�.�.� Musiktheater Da sich seit dem 18. Jahrhundert eine Häufung an Vertonungen des Telemachstoffes für Theaterbühnen feststellen lässt, soll zunächst den sich hier ergebenden Verbindungslinien nachgespürt werden: Welche Aspekte gehen von Bildern auf die Bühne über und umgekehrt, welche Didaktiken werden dabei mit aufgeführt und werden hier ähnliche Aussagen bezüglich des Liebesdiskurses vermittelt? Dabei konzentriere ich mich auf drei Beispiele von Gluck, Lesueur und Coustou. In den zahlreichen Aufführungen auf den Bühnen Europas, v.a. in Opernform, fand die Telemach-Begeisterung des Adels und des gehobenen Bürgertums verstärkt ihren Ausdruck. Der „Stieger“581 verzeichnet Dutzende Telemach-Stücke und weist zugleich auf ein sehr großes Repertoire hin, das dem Bereich des Musiktheaters zugeordnet werden kann; dazu gehören Opern, Musikstücke, Dramma per Musica, Kantaten, Ballettstücke, Zarzuela, Singspiele und Parodien. Diese Aufführungen fanden vom späten 17. bis ins späte 19. Jahrhundert europaweit, jedoch hauptsächlich in Italien als dem Opernland der Barockzeit schlechthin statt. Inhaltlich liegt der Schwerpunkt eindeutig auf Inszenierungen der Dreiecksbeziehung zwischen Telemach, Eucharis und Calypso bzw. der Suche nach der ‚richtigen‘ Liebe582 und weniger der politischen Kooperationen und staatsphilosophischen Handlungen und Entscheidungen: „Die amouröse Deutung wurde besonders Sache der Oper und der Malerei. Die Künstler und Komponisten konzentrierten sich auf die Geschehnisse auf der Insel Kalypsos, als hätten sie nur die ersten sieben Bücher des
581
Franz Stieger: Opernlexikon = Opera catalogue = Lexique des operas,
Titelkatalog Band 3, Tutzing: Schneider 1975, S. 1185f. 582
Das Musikdrama „Il Telemacco – Il valore coronato“ Antonio Draghis
(1634–1700) wurde bereits 1689 in Augsburg uraufgeführt und liegt damit noch vor der Fertigstellung von Fénelons Text: Franz Stieger, ebd., Komponisten Band 1, S. 280. Es wird hier die Tapferkeit des sich auf die Suche nach dem Vater begebenden Sohnes besungen, entsprechend der Homer’schen mythologischen Vorlage, mit einem Text von Ottavio Malvezzi und Ballettmusik von Andreas Anton Schmelzer. Vgl. ebd., S. 283.
226
�. Die Paysage de Télémaque
Romans gelesen. Stücke mit den Titeln Telemach und Kalypso, Telemach auf der Insel der Kalypso, Telemach und Eucharis oder Telemach auf Ogygia lassen sich ab 1712 in ganz Europa nachweisen.“583 In den 1760er Jahren entwickelte Herder, dessen Theorie des Be-Greifens insbesondere in der Schrift „Plastik“ schon vorgestellt wurde,584 die für die Kunsttheorie und Ästhetik bis ins frühe 19. Jahrhundert grundlegenden Reflexionen seiner „Kritischen Wäldchen“. Im „Vierten Wäldchen“ geht es um die Wirkung von Musik respektive Tönen auf die Seele und die sich in dieser Empfindungsfähigkeit zeigende Zusammenarbeit zwischen (Empfindungen verarbeitendem) Körper und Geist: „Der […] Ton […] würkt auf die feine Nerve des Gehörs, die die Nachbarin des Geistes ist […].“585 Auch in Schlegels „Theorie des Geselligen Betragens“ schlägt sich das Sich-Einfühlen, das Sympathisieren, als die Menschen untereinander und mit der (Ding-)Welt verbindende Eigenschaft schlechthin nieder. Bei Herder bildet sich diese über ein unmittelbares Fühlen des Subjekts heraus, wenn z.B. beim Ertasten einer Statue oder beim Aufnehmen eines Klangs Körper und Geist eine Verbindung eingehen, und zwar eine, die sich unabhängig des ansonsten sehr dominanten Vernunftdiskurses bildet. Doch Sympathie und Sympathisieren impliziert auch eine moralische Dimension: „Diese Auffassung, die sich u.a. aus den Theorien des Earl of Shaftesbury, Jean-Jacques Rousseau und Adam Smith speist, besitzt durchaus gesellschaftspolitische Konnotationen, da sie darauf zielt, ‚mit Hilfe moralischer Empfindung eine neue Kommunikationsgemeinschaft zu gründen.‘“586 Das Anliegen von Konversation, Kommunikation und einem passier- bzw. erfahrbaren Parcours, das in den Telemach-Bild-Räumen erkennbar geworden ist, scheint auch in der Philosophie um ein ‚richtiges‘ Wahrnehmen von Tö-
583 584
Peter Keller: „Der Telemach in der Kunst“, wie Anm. 512, S. 210. Vgl. Kap. 3.3.1 der vorliegenden Arbeit.
585
J.G. Herder: „Viertes Wäldchen“, zit. n. Barbara Thums: „Das Kloster
als imaginierte Heterotopie um 1800“, in: Räume des Subjekts um 1800, wie Anm. 18, S. 37–51, hier S. 40. 586 Irmela Marei Krüger-Fürhoff: Der versehrte Körper. Revisionen des klassizistischen Schönheitsideals, Göttingen: Wallstein Verlag 2001, S. 74. Krüger-Fürhoff zitiert hier Gerhard Sauder aus seinem Band „Empfindsamkeit“ (Band 1). Interessant in dem Zusammenhang ist auch ihre Herausarbeitung von Winckelmanns und Herders Körper-Entwürfen als ein „Projekt zur Konstruktion eines ‚Ekelvermeidungskörpers‘“, wie sie es andockend an Winfried Menninghaus’ Forschung zum „Ekel“ aus den 1990er Jahren beschreibt, siehe S. 68.
227
Tapezierte Liebes — Reisen
nen regelrecht mitzuschwingen. Interessant ist nun in diesem Zusammenhang das Projekt einer „Anthropologie der Sinne“, das im frühen 20. Jahrhundert namentlich mit Helmuth Plessner, letztlich jedoch schon früher mit dieser Ästhetik des Herder’schen „Wäldchens“ auf den Weg gebracht wurde. Plessner war einer der Mitbegründer der Philosophischen Anthropologie, er war stark von der Husserl’schen Phänomenologie beeinflusst und verfasste Schriften, die auch medientheoretisch relevant sind.587 In der frühen Schrift „Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes“ von 1923 greift er auf den Begriff der aisthesis als Wahrnehmung im weitesten Sinne zurück und konzentriert sich auf Musik und Klang. Er sieht eine Besonderheit der Musik in der ihr eigenen Dynamik,588 wenn mehrere Klänge nach- und miteinander ertönen und dabei den „phänomenalen Leibesraum“ ausfüllen. Dies ist durchaus konkret-räumlich gemeint, jedem Klang entspricht also ein Ort im Leib.589 Dabei wird eine Haltung erzeugt, die ein unmittelbares Verstehen des akkustisch Wahrbzw. Aufgenommenen garantiert.590 Die Töne verarbeitet das Subjekt durch und in dieser spezifischen Haltung in „Akkordanz“ zur Musik, sodass in diesem Moment Klang, Geist, Leib und Äußerung nicht voneinander trennbar sind, „[d]er Geist […] muss von diesen beiden Seiten her [syntagmatisch-logisch sowie anteilnehmend] kooperierend vorgehen, um die Welt zu bedeuten [also in Sprache zu fassen].“591 Die reinste Form, Gestalten – d.h. im Geiste mit Bedeutung gefüllte Reize – zu schauen, ist nach Plessner das Musikhören, da Musik die unmittelbarste Wirkung hat, auch im Vergleich mit (Bildender) Kunst. Damit knüpft er direkt an die frühe Ästhetik des 18. Jahrhunderts und ihr Bemühen um Ganzheit und Unmittelbarkeit respektive um ein Verbergen von trennenden Stufen zwischen dem Sinnesreiz und seiner Verarbeitung durch das wahrnehmende Subjekt an. Das Musiktheater ist auf dieser Ebene wiederum besonders raffiniert verknüpft mit der inhaltlichen Ebene des Amourösen, das auch auf einem Diskurs von (konstruierter) Unmittelbarkeit bzw. direkter Affizierung – wenn man so will, vielleicht auch „Akkordanz“ zwischen zwei Seelen – beruht.592 Gerade
587
Auch als Subjekttheorie, v.a. in Kombination mit den neueren Studien
zu Affekt und Affektpolitiken, ließen sich Plessners Ausführungen zur Anthropologie der Sinne neu lesen und in kulturwissenschaftlichen Kontexten fruchtbar machen. 588
Helmuth Plessner: Anthropologie der Sinne, hg. von Günter Dux, Frank-
furt am Main: Suhrkamp 2003, darin: Kapitel „Einheit der Sinne“, S. 229 und S. 231. 589 590 591
Ebd., S. 234. Ebd., S. 238. Ebd., S. 246.
592
Ausführlicher wird die Seelen-Thematik in Kapitel 5 der vorliegenden
Arbeit behandelt.
228
�. Die Paysage de Télémaque
im Verlauf des 18. Jahrhunderts wird das Musiktheater zu einem Theater des Mitempfindens. Vor diesem Hintergrund seien nun drei Telemach-Inszenierungen seit 1765 bis 1807 von Gluck, Lesueur und Coustou in deren Ausrichtung auf den amourösen Diskurs des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts in den Fokus gestellt. Bei Christoph Willibald Ritter von Glucks (1714–1787)593 „Il Telemacco ossia L’isola di Circe“594 handelt es sich um eine freie Zusammenstellung unterschiedlicher mythologischer Stoffe, denn es „erscheinen neben der Homerschen Hauptfabel die Mythen und Theaterstücke von Medea, Kalypso, Alcina, Ruggiero, Armida und Dido.“595 So kann man also eher von einer „eklektischen Märchenoper“ als einer auf Fénelon basierten Umsetzung sprechen.596 Jean François Lesueurs (1760–1837)597 Stück mit dem aussagekräftigen Titel „Télémaque dans l’isle de Calypso – Le triomphe de la sagesse“ erhielt eine Textgrundlage von P. Dercy und wurde 1796 zum ersten Mal in Paris gezeigt.598 Das Ballett „Telemach auf der Insel der Calypso“ von Rosa Coustou und mit einem Libretto von Dauberval (Jean Bercher) wurde im Jahr 1807 in Wien uraufgeführt. Zur Zeit von Glucks Telemach-Premiere zu Ehren der Habsburger und des späteren Kaisers Joseph II., zu dessen zweiter Hochzeit er insgesamt drei Opern – darunter den „Telemacco“ – komponiert hatte,599 war der Stoff zu einer Art Bestseller nicht zuletzt für Komponisten und Librettisten avanciert:
593
Franz Stieger, wie Anm. 581, Band 2, S. 424.
594
Mit einem Libretto von Marco Coltellini, wurde 1765 am Wiener
Burgtheater uraufgeführt, ebd. 595 Carl Dahlhaus (Hg.): Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, München: Piper 1987, S. 441. 596 Ebd. Die der ‚Alten Musik‘ zugehörigen Formen des Musiktheaters – hauptsächlich die Opera Seria – wurden nach und nach vom empfindsamen Stil und von der Französischen Oper bzw. der (Wiener) Klassik abgelöst. Sie scheinen jedoch wieder in den Fokus zu rücken, wie eine „Telemacco“-Aufführung im Sommer 2011 in Deutschland und der Schweiz (Schwetzingen, Basel und Nürnberg) zeigt: http://www.oper-aktuell.info/kritiken/details/artikel/basel-telemaco-09062011. html, [zuletzt aufgerufen am 25.08.2016]. 597 Franz Stieger, wie Anm. 581, Band 2, S. 630. 598
Ebd., S. 631. Der Text von Dercy liegt auch François Adrien Boieldi-
eus (1775–1834) „Télémaque (Calypso)“ zugrunde. Diese Oper wurde 1806 in St. Petersburg uraufgeführt, vgl. ebd., Band 1, S. 126. 599
Christoph Willibald Gluck und Karl Geiringer: „Telemaco: Dramma per
Musica in zwei Akten von Marco Coltellini“ (Partitur): Kassel/Basel: Bärenreiter Verlag 1972, Vorwort S. VI.
229
Tapezierte Liebes — Reisen
„Außerhalb Frankreichs [wo der Fénelon-Roman aufgrund seiner vermeintlichen Diskreditierung des Königs und seines gesamten Hofstaates verboten und Fénelon selbst vom Hof und seiner einst hochrangigen Erzieherposition ausgeschlossen worden war] sah man in Fénelons Werk eine anziehende Abenteuergeschichte und fand überdies die Beziehung zum französischen Herrscherhaus recht pikant. Man fühlte Rührung für den edlen Telemach […]. Hier gab es einen richtigen Opernstoff, um so mehr, als durch die Einführung der mit magischen Kräften begabten Kalypso die Möglichkeit geschaffen wurde, die damals so beliebten Zaubervorgänge auf die Bühne zu bringen.“600 Die Ereignisse rund um Telemach, Odysseus, Circe und Asteria – Tochter des Kreterkönigs Idomeneo und spätere Partnerin Telemachs – ersetzen hier bei Gluck bzw. im Libretto Coltellinis gewissermaßen die Dreiecksgeschichte auf Calypsos Insel; die Parallelen reichen bis hin zur Brandstiftung am Schiff und zur Rage, in welche die Inselherrin versetzt wird. Jedoch hat Coltellini seine zur Aufführung bestimmte Textvorlage gegenüber den Fénelon’schen Inhalten wesentlich verändert: „Die Nymphe Kalypso, eine zentrale Figur der früheren Oper, wurde in Coltellinis Werk durch die Zauberin Circe ersetzt und die Gestalt des Ulisse (die auch bei Fénelon fehlt) neu eingeführt. Die Liebesbeziehungen sind in beiden Werken völlig abweichend.“601 Bei Gluck wird das glückliche Ende (dessen Einführung) wesentlich durch das Eingreifen von Amor und Venus – wie ein französisches Supplément, das zur Zeit der Aufführung 1765 in der „Gazette de Vienne“ erschienen ist, beschreibt602 – herbeigeführt. Seine Oper weicht in vielerlei Hinsicht von den italienischen Kompositionen ab, wenn es heißt, sie „atmet dämonische Energie und wilde Leidenschaft“.603 Sie wird der Reformoper zugeordnet: „Bei Glucks Telemaco handelt es sich unzweideutig um ein Werk, in dem der neue Geist der Oper Ausdruck findet.“604 Gemeint sind mit diesen unklaren Begriffen hauptsächlich eine Belebung des Stoffes und ein individuellerer Ausdruck der (auf die wichtigsten Charaktere beschränkten) Sängerinnen und Sänger. Auch war
600 601 602 603 604
230
Ebd., Vorwort S. VII. Ebd., Vorwort S. VIII. Ebd., Vorwort S. VII. Ebd., Vorwort S. IX. Ebd., Vorwort S. X.
�. Die Paysage de Télémaque
eine deutliche Dominanz der dramatischen Handlung gegenüber der Musik gemeint, die man den bald überkommenen Formen der opera buffa und opera seria so nicht zuordnete, sodass erst mit Einflüssen durch die französische komische Oper eine neue (im Sinne von weniger steife) Opernform entstehen konnte.605 In der Gluck-Forschung werden zur Beschreibung und Einordnung häufig Worte wie das „Individuelle“ und die „naturhafte Eindringlichkeit“606 verwendet; auch wird er mehr oder weniger direkt mit Winckelmann verglichen und als „ein Prophet der Klassik“607 charakterisiert – nur eben im Bereich des
605
Reinhard Strom problematisiert den Begriff der Opernreform bzw. Re-
formoper allerdings und macht darauf aufmerksam, dass es einen „roten Faden“ gibt, „der sich durch die Geschichte aller angeblichen und wirklichen Opernreformen hindurchzieht, und das ist die Opernkritik, die literarische Diskussion über die Oper.“ Er verweist außerdem auf die Tautologien, die sich ergeben, wenn im Musiktheater die Musik dem Wort untergeordnet werden soll, und auf die soziologische Ebene, da alle Reformbestrebungen „von den Höfen und vom Adel getragen werden“ und eigentlich „als nur eine Tendenz innerhalb eines größeren, ziemlich geschlossenen Systems zu sehen wären – nennen wir es einmal ‚höfische Oper des vorrevolutionären Europa‘ […].“ Vgl. Reinhard Strom: „Tradition und Fortschritt in der Opera Seria“, in: Klaus Hortschansky (Hg.): Christoph Willibald Gluck und die Opernreform, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1989, S. 325–352, hier S. 326ff. 606
V.a. Rudolf Gerber: „Wege zu einer neuen Gluck-Betrachtung“, in: ebd.,
S. 15–38, hier S. 34 und S. 37. 607 Siehe den Beitrag von Emil Staiger von 1947: „Glucks Bühnenkunst“, in: ebd., S. 39–49, hier S. 48. Fraglich ist hier jedoch, ob die vorgenommene Mythifizierung (v.a. in Anbetracht des Geniekults um Wagner) der Figur Gluck als „vornehmer Herr“, der „mit unerschütterlicher Gelassenheit als Künstler schaltet“ (S. 49), wirklich erhellend sein kann in der konkreten Interpretation seiner Werke und ihrer Bedeutung für das Musiktheater des 19. Jahrhunderts, oder der Mythos seit E.T.A. Hoffmanns „Fantasie- und Nachtstücken“ nun weiter gefestigt werden soll. In solchen etwas älteren Beiträgen wird aber bereits das Changieren zwischen „ungezügelter Leidenschaft“ und ihrer (künstlerischen) „Bändigung“ in Glucks Werken thematisiert, das bis heute bei Gluck-Rezensenten und -Interessenten sowohl Faszination als auch Unsicherheit in der Bewertung und Einordnung innerhalb der Musikgeschichte hervorruft. Schließlich kommt die Problematik hinzu, dass Gluck „in eine lineare Geschichtskonstruktion, die im Wagnerschen Musikdrama ihren Ziel- und Gipfelpunkt besaß“ eingeliedert wurde, wie Stefan Kunze in den 1980er Jahren betont: „Christoph Willibald Gluck, oder: Die ‚Natur‘ des musikalischen Dramas“, in: ebd., S. 390–418 und hier S. 391. Gluck ist also verflochten in eine angeregte Debatte, die sowohl politische als auch historische und (formal-) ästhetische Ebenen umfasst und Gluck selbst nun darin zu verorten sucht. Seine künstlerische Einstellung aber, mit all ihren Widersprüchlichkeiten, liegt an einem Knotenpunkt des Interesses auch dieser Arbeit zu den Bildtapeten von Dufour. Sie entspricht vor allem – dies darf nicht vergessen werden und wird u.a von Kurt Klinger betont – der politischen Ausrichtung des aufgeklärten Adels und Bürgertums: „Gluck und der aufgeklärte Absolutismus in Österreich“, in: ebd., S. 353–372.
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Tapezierte Liebes — Reisen
Musiktheaters verortet und mit dem Anspruch der Erstrebung einer „Ganzheitlichkeit“ durchaus gleichberechtigt zur Literatur bzw. Philosophie seiner Zeit. Gluck konzentriert sich im „Telemacco“ nun sehr konsequent auf zwei Haupthandlungsstränge; erstens das Schicksal der zurückbleibenden und verzweifelt rezitierenden Zauberin und zweitens die Tugend Telemachs (die in dessen Suche nach dem Vater zum Ausdruck kommt), samt seiner Belohnung in Form der erfüllten Liebe zu Asteria.608 Nach der musikalischen Affektenlehre sind menschliche Gefühle und Belange hier hauptsächlich auf die Götterwelt übertragen und es werden zudem Verbindungen zu anderen mythologischen Figuren und Orten hergestellt, die das theater- und opernbegeisterte Publikum schon kannte. Gluck knüpfte damit an seine im Vergleich zum „Telemacco“ erfolgreicheren Opern an. Etwa 30 Jahre später kam Lesueurs „Télémaque“ auf die (Pariser) Bühne; hierbei handelt es sich um eine sogenannte „tragédie lyrique“ in drei Akten, die den „Triumph der Weisheit“ bereits im Titel ankündigt.609 Das Stück fügt sich gut in eine Reihe von lyrischen Dramen ein, die Ende des 18. Jahrhunderts im „Théâtre Faydeau“ gezeigt wurden, wobei hier von Interesse ist, dass Lesueur auch „Paul et Virginie“ umgesetzt hat, mit einem ebenfalls kennzeichnenden Untertitel „le Triomphe de la Vertu“. Es stehen also die Telemach-Geschichte für die Weisheit und die von Paul und Virginie für die Tugend bzw. Sittlichkeit
„Das Kunstwerk reflektierte eher impulsiv als bewusst die Absicht des Systems, mit der neuen, gerechteren Ansicht von Menschlichkeit übereinzustimmen: mit Hilfe einer neuen Ideologie – im Theater musste das heißen: mit Hilfe einer neuen Dramaturgie. Glucks Bekenntnisse zum klar konstruierten dramatischen Prozess, zu Leidenschaft und schmuckloser Wahrhaftigkeit, […] und alle diese vermenschlichten heroischen Handlungen, die er bevorzugte, sprengten nicht die Klammer einer wohlgeordneten, maßvollen, harmonischen, also auch vertrauenswürdigen Weltordnung, und die Repräsentanten dieser Ordnung […] verhielten sich so, als hätten sie alle das Erziehungsprogramm der Habsburger Prinzen studiert. […] Dieser alles in allem bürgerfreundliche Olymp trug insgeheim den Namen Hofburg, und seine Götter wohnten im Sommer in Schönbrunn“, S. 365f. Aber auch „an die Stelle des Schicksals treten Maßnahmen“ (S. 366): Menschen verlassen sich nicht mehr auf „Hilfe einer höheren Instanz“ und wollen aktiv ihr Schicksal gestalten. Diese politischen Entwicklungen finden auch Eingang in die Kunst und das Theater. 608
In Fénelons Text heißt die Tochter des Idomeneo „Antiope“, und sie ist
auch keine Dienerin Calypos, sondern taucht erst gegen Ende der Abenteuer auf, als Mentor (Athene) seinem (ihrem) Schützling Telemach die Königstochter sozusagen anempfiehlt, kurz bevor der Held mit seinem Vater Odysseus wiedervereint ist. 609 Vgl. die Partitur „Télémaque dans l‘Isle de Calypso ou le Triomphe de la Sagesse. Tragédie Lyrique en trois Actes. Représenté pour la premiere fois sur le Théâtre Faydeau le 11 Mai 1796“, Paris: Imprimerie de Laurens aîné 1795.
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�. Die Paysage de Télémaque
ein. Zudem gab es auch noch ein weiteres Stück mit dem Titel „La Caverne, ou le repentir“. Tugend, Fähigkeit zu Reue und moralischem Abwägen sowie Weisheit sind offensichtlich die zentralen Eigenschaften, die u.a. Lesueur auf der Bühne besungen wissen wollte und deren Fehlen zu korrigieren ist bzw. zu einem tragischen Verlauf führt. Es ist gerade nach dem für visuelle Telemach-Bearbeitungen geschärften Blick aufschlussreich, sich mit dem im Buch von Dercy vorgeschlagenen Bühnenbild etwas genauer zu befassen.610 Einleitend zur Partitur des erstens Aktes heißt es: „Le théâtre représente l’isle de Calypso bordée de rochers riants. On voit, à droite, sa Grotte en architecture rocailleuse et brillante de crystallisations, de nacres et de coquillages; à gauche, mais plus enfoncée, est une Caverne d’un aspect sauvage, retraitre ordinaire des Vents.“611 Der Ort des Geschehens ist die Grotte der Calypso mit ihren geheimnisvollen Muscheln und Gesteinsformationen; eine wilde Höhlenöffnung ohne „architecture“ befindet sich gleich daneben.612 Im Rokoko wird alles in der Umgebung kleinteiliger und detaillierter, wobei „[d]as Motiv der Muschel […] für eine sehr grundlegende Wertverschiebung [steht]: Nicht mehr Jupiter, Apoll oder Helios sind Mittelpunkt des
610
Ein aus musikwissenschaftlicher Perspektive unternommener Ver-
gleich verschiedener Telemach-Opern, gerade im Hinblick auf sich wandelnde Figurenkonstellationen und hier angesprochene Paradigmen wie Weisheit, Tugend und Leidenschaft, die im Musiktheater vertont anders zum Ausdruck kommen als in Textform, wäre sicherlich lohnend. Für die vorliegende Arbeit würde er jedoch zu weit führen; bzw. erscheint es im Hinblick auf die zu analysierenden Tapetenszenen sinnvoller, hier bestimmte Akzente zu setzen und das Musiktheater nicht weiter zu vertiefen. Die starken intertextuellen und intermedialen Verknüpfungen, in die der „Telemach“ seit der Tapetenproduktion bereits einzuordnen ist, sind indes schon deutlich geworden. 611 Partitur wie Anm. 609. 612
Das Innere der Calypsogrotte wird in einigen ekphrastischen Zeilen
zum zweiten Akt noch detaillierter beschrieben bzw. vor Augen geführt: „Le théâtre représente l’intérieur de la Grotte de Calypso transparente de Crystallisations, de Nacres, de Burgos. Elle est ornée de tout ce que la mer produit de plus rare et de tout ce que la terre fait naître d’admirable. Des Cuves d’émeraudes reçoivent de toutes parts des eaux jaillissantes. Des Coquilles énormes sont surmontées de fruits de toute espèce. Une jeune vigne remplie de raisins ambrés compose la frise de l’entablement. Une Mosaïque, de Bourgos et de Coquillages en forme la voûte“, wie ebd.
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geistigen und künstlerischen Interesses, sondern der Hirtengott Pan, Herr über die Traumlandschaft Arkadien, und die aus dem Meeresschaum geborene Venus. […] Die rocaille ist das abstrahierte Zeichen der Meereswelle, die in immer kleineren Bögen sich aufbaut und schließlich bricht. C- und S-Linien werden infinitesimal gereiht und dabei zunehmend miniaturisiert.“613 Die Schaumbildung und das Element von bewegten Wellen (versus stillgelegten Gewässern) werden als gestaltende Elemente in der Telemach-Tapete eine wichtige Rolle spielen, denn auch in diesem Medium werden solche Formungen der Naturgewalten zu Zeichenträgern von kultureller Bedeutung. Der Raum, der in dem Stück dominant ist – die Grotte und ihre Muschelformationen – wird gewissermaßen symbolisch für eine als feucht-schlüpfrig und geheimnisvoll gedeutete weibliche Sphäre. Auch dies ist beim Wechsel von einem Medium zu einem anderen und vom Rokoko- zu einem eher klassizistischen Interieur zu beachten.614 Ebendiese Orte sind auch die in den Darstellungen der Kunst beliebtesten, denn das Isolierte, Zurückgezogene, Märchenhafte und zugleich den Liebeskonflikt episodenhaft Vorstellende der Insel und der dort befindlichen Grottenund Waldlandschaft eignet sich als ebenso pittoreske Kulisse wie visualisierte Chiffre der zu überwindenden Liebes- und Leiderfahrung, zu der die Insel der Calypso wird. Gerade die Absage an das glitzernd-verlockende Reich der Calypso stellt hier in der Oper schon über den Titel eine Herausforderung für die Weisheit dar.615 Die Grotte als weiblicher Raum ist eine Gefahr der Verfüh-
613
Marcus Felsner: Rococo: Mozarts ‚Così fan tutte‘ und die Kultur des 18.
Jahrhunderts, Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 119. 614
Wie ebd., S. 120: „Die Muschel, dieses geheimnisvolle Tier-Mineral-We-
sen, das wie alles ‚Hybride‘ von großer Faszination für das frühe 18. Jahrhundert ist, gewährt Zugang zu ihrem weichen, feuchten Innern nur auf sanften Zwang hin. Mit ihrer Mischung aus dunkler Verschlossenheit und nassem Perlmuttglanz regt die Muschel die Phantasie an.“ Mit „Phantasie“ ist vor allem eine erotische Phantasie gemeint. Die lyrische Tragödie spielt sich also nicht in irgendeiner Höhle ab, sondern in einer vor Kostbarkeiten geradezu sprießenden Behausung, die eher an reich verzierte Paläste denken lässt mit ihren Perlmutt- und Smaragdwänden. Es glitzert und glänzt darin – die Kristallisationen, das abperlende Wasser sorgen dafür – und an Früchten und Wein fehlt es nicht. Das Mosaik spielt zudem auf die bereits in die Natur geholte Kultur an, denn auch Objekte der Kunst finden ihren Platz, nichts an dem Ort erinnert mehr an einen naturbelassenen Unterschlupf: Die Herrin der Insel hält sich in einer ihr adäquaten Behausung auf. 615 Letztlich ist auch nur die Göttin der Weisheit selbst, Athene bzw. Minerva, durch ihr Eingreifen und Wiederherstellen einer bedrohten Ordnung, der Insel gewachsen.
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�. Die Paysage de Télémaque
rung und des doppelten Versagens für den männlichen Helden, näherhin des Vernachlässigens der Aufgaben und des Betrugs an der Inselherrin. Nicht alles, was glänzt, wird gut, und Calypso bleibt klagend und wenig göttlich zurück. Einmal mehr die Verlassene, wird sie, nun bereits im 19. Jahrhundert, tragische Figur eines Balletts: Die Figuren und Konstellationen in Daubervals (Berchers) Text zu Coustous Ballett entsprechen recht genau dem Buch nach Fénelon und auch den in der Kunst beliebtesten Darstellungsformen; das Ballett spielt am „Gestade der Insel der Kalypso“,616 im „Inneren der Grotte der Kalypso“,617 und in einem „Wald, rechts der Eingang der Grotte der Kalypso.“618 Die Gefühlswelt, die zwischen Empfindsamkeit, Zorn, Mäßigung und Leidenschaft oszilliert und im Tanz ausgedrückt werden soll, dominiert im Text, wenn es über Kalypso heißt: „Sie hasst alle Männer, – denn Ulisses hat sie verlassen“,619 und über Telemach und Eucharis: „Er will in ihre Arme fliegen, Mentor hält ihn zurück; die junge Nymphe, die alles, was sie liebt, verlieren soll, äußert ihre innige Zärtlichkeit, ihren tiefen Schmerz.“620 Noch mehr als in den vorangegangenen Opern und in der „tragédie lyrique“ wird ein Mitleiden des Publikums evoziert. Das Ende weist über das bekannte Rezitativ aus der Opernwelt und die mit diesem verbundene Verzweiflungsstimmung und Einsamkeit hinausgehend auf Rache, Schadenfreude und Missgunst hin: „Kalypso hält die unglückliche Eucharis in ihren Armen, freut sich ihrer Pein, und findet keinen Trost über Telemachs Verlust, als die Verzweiflung ihrer Nebenbuhlerinn (sic!).“621 Die Figur der Kalypso bekommt hier eine rein negative Funktion als das sich dem Liebespaar in den Weg stellende Hindernis, und sie verhindert letztlich, wie bei Fénelon auch vorgesehen, diese Liebe. In der zuvor angeführten Oper von Gluck dagegen kann die Liebe durch die Ersetzung der Nymphe Eucharis, die nun schon zur für Telemach bestimmten Frau wird (Asteria/eigentlich Antiope), durchaus realisiert werden. Für die Ballett-Dramatik ist es interessant zu wissen, dass „Dauberval (eigentlich Jean Bercher, 1742–1806), ein Schüler des Ballettreformators Jean-Georges Noverre […] das Genre der demokratisch-realistischen Ballettkomödie“ schuf.622 „Im Sinne Noverres war für ihn das Ballettkunstwerk ein
616 Jean Bercher and Rosa Coustou: Telemach auf der Insel der Kalypso, ein Ballett in drey Akten, Wien 1807, S. 3. 617 Ebd., S. 8. 618 Ebd., S. 14. Ebd., S. 3. 619 620 Ebd., S. 18. 621 Ebd. 622
Eberhard Rebling: „Das Grosse Ballett Lexikon“, München: Wilhelm
Heyne Verlag 1981, S. 369.
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künstlerisches Abbild echter menschlicher Gedanken, Gefühle und Konflikte.“623 Auch hier muss bedacht werden, dass „echte menschliche“ Gedanken und Gefühle nicht per se existieren, sondern letztlich durch kulturelle Akte und wiederholte (performative) Äußerungen und Handlungen in unterschiedlichen Rahmen der gesellschaftlichen Bühne, und eben auch auf der Theaterbühne, konstruiert und immer neu bestätigt werden. Das (auch täglich auf der Bühne des Alltags stattfindende) Theater des Mitempfindens ist mitnichten spontane Äußerung und zum größten Teil kulturell ‚vorbereitet‘ und konstruiert. Die Wanderungen, die der Telemach-Stoff in Kunst, Alltag und Theater bzw. Oper durchläuft, bis er um 1820 auf der Tapete wiederkehrt, sind gerade deshalb auch Wanderungen solcher kultureller Äußerungen, die sich materialiter im bewohnten Raum niederschlagen.
�.� Telemachs Reise in das Interieur und entlang der Wände Bevor die Telemach-Tapete, wie sie in der Dufour’schen Produktion entstand, detailliert Szene für Szene analysiert werden kann, ist es notwendig, zuvor das Verständnis für die ‚Aufführung‘ in der und durch die Gesamtszenerie zu vertiefen. Wie auch in der Oper stellt die Tapete als Gesamtkomposition das Setting vor und verweist alle Figuren und Elemente an einen genau ihnen zugewiesenen Platz im Gefüge des (Bild-)Raums. An die ProtagonistInnen aller drei in dieser Arbeit behandelten Tapetenszenerien richte ich nun jeweils die Frage, wohin sie eigentlich reisen, denn sie werden auf sehr unterschiedliche Art als Reisende vorgeführt. Betrachtende Subjekte reisen so im Moment des Betrachtens ein Stück mit diesen an die Wände gebrachten Figuren mit. Auf der Telemach-Tapete ist diese Thematik am schnellsten fassbar; hier kommen der Jüngling und sein Begleiter mit dem (gerade verunglückten) Schiff auf der Insel und somit dem Ort des Geschehens an. Wichtig ist zu bedenken, dass mit einem solchen Schiff eines der Jahrhunderte lang wichtigsten Fortbewegungsmittel und geopolitisch seit den großen Seefahrten der Frühen Neuzeit untrennbar mit Eroberungs- und Beherrschungstaktiken verbundenes Machtvehikel in den Raum eingeführt wird. Das Mädchen Psyche reist da weitaus ungewöhnlicher – und vor allem unfreiwillig – in den Armen des sie entführenden Zephyr bis zu Amors Palast, wobei Zephyr wie ein verlängerter Transportarm des sich Psyche bemächtigenden Halbgottes agiert. Die beiden Kin-
623 Ebd.
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�. Die Paysage de Télémaque
der Paul und Virginie reisen zwar zunächst überhaupt nicht, sondern sind bereits in einer exotischen Inselumgebung situiert, werden aber anstrengende Fußreisen quer über diese Insel unternehmen, bis schließlich das junge Mädchen nahe der ‚Heimat‘-Insel wiederum als Schiffsreisende verunglückt, nachdem sie sich in die ihr neue und fremde Zivilisation des europäischen Festlandes vorgewagt hatte. Die Formen des Reisens, die in allen drei Beispielen vor Augen gestellt werden, umfassen dabei neben der physischen Fortbewegung in andere Regionen und Länder als ‚klassischer‘ Länderreise auch die individuelle Selbst-Entdeckung, die analog zu den Entdeckungen noch unbekannter räumlich-topographischer Strukturen verläuft und so zu einer Reise zu sich selbst wird, sowie die imaginierte oder Gedanken-Reise, auf die sich Betrachtersubjekte im Austausch mit solchen Bildern begeben. Eine Kombination dieser Reiseformen findet sich in der Bildungsreise als ein sich in Folge und Ablösung der Grand Tour – einer Unternehmung finanziell gut gestellter und anfangs vor allem adeliger junger Männer – entwickelndes Phänomen des späten 18. Jahrhunderts, das bis in das frühe 20. Jahrhundert noch übliche Praxis war. Attilo Brilli, der sich insbesondere mit der Italienreise als Kernstück der Grand Tour auseinandergesetzt hat, bringt diese deutlich mit dem Erziehungs- und Formungsaspekt für Heranwachsende in Verbindung, denn als Grand Tour lässt sich „[…] im weiteren Sinn die Reise durch den europäischen Kontinent, besonders nach Frankreich und Italien bezeichnen, eine Reise, die ganze Generationen von Adeligen und Bürgerlichen aus Europa, vor allem aber aus England in dem Moment unternehmen, da sie sich vom jugendlichen Menschen zum Erwachsenen entwickeln.”624 Es handelt sich also um eine Erfahrungs- und Erziehungsreise, die zum Zeitpunkt der Adoleszenz stattfindet und Teil eines übergreifenden Erziehungsprogramms ist. Im 18. Jahrhundert „schwankt das Alter, das als der richtige Zeitpunkt für die Reise der grandtourists angesehen wird, zwischen sechzehn und zweiundzwanzig Jahren“,625 wie Brilli feststellt. Die Erziehung oder – etwas allgemeiner gefasst – Orientierung in der Welt und auf die eigenen Fähigkeiten und Aufgaben hin vollzog sich dabei während der Reise in dreierlei Hinsicht: zum einen galt es, sehr praktische und für den eigenen Stand in der Gesellschaft und Familie erforderliche Kenntnisse zu erwerben, denn solche
624
Attilio Brilli: Als Reisen eine Kunst war. Vom Beginn des modernen Touris-
mus: Die ‚Grand Tour‘, übers. von Annette Kopetzki, Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 1997, S. 22. 625 Ebd.
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Tapezierte Liebes — Reisen
„[…] waren für die Mitglieder einer neuen gesellschaftlichen Führungsschicht sowohl auf dem Gebiet der öffentlichen Verwaltung als auch bei der Ausübung freier Berufe von großer Bedeutung, und den Sprößlingen der Aristokratie nützten sie bei der umsichtigen und zeitgemäßen Verwaltung ihrer Vermögen.“626 Zum anderen kann man diese Art des Reisens aber darüber hinaus auch „als einen Weg, menschlich zu reifen und sich geistig wie körperlich zu erneuern“ begreifen, also eben eine Reise zu sich selbst, sodass „die Grand Tour mit all ihren Mühen und Wonnen im Grunde eine Metapher der Reise durch das Leben“627 wird. Gleichzeitig ist diese Reise so ein-drücklich für den Heranwachsenden, dass ihre Stationen, Lerninhalte und Bilder immer wieder aufgerufen werden, und diese „Tätigkeit der Einbildungskraft mündet in das Wiedererschaffen aus der Erinnerung, in die rêverie, die noch befriedigender ist als die unmittelbare Erfahrung […] [Hervorhebungen der Autorin].“628 Telemachs Reise unter Mentors (respektive Athenes) Begleitung entspricht genau dem Ablauf einer solchen Erziehungsreise, auch wenn sie ursächlich durch die Suche nach dem verschollenen Vater motiviert und nicht als Grand Tour markiert ist. Auf einer Meta-Ebene sucht Telemach jedoch von Anfang an nach seiner eigenen gesellschaftlichen Positionierung und passt in das Schema des sich im Reisen bildenden privilegierten Jünglings. Wie Antje Stannek festhält, mussten die jungen Adeligen „ihren Platz in der Standeshierarchie kennen und die Platzierungsmechanismen der höfischen Gesellschaft entschlüsseln lernen. Während des Grand Tour (sic!) wurden ihnen diese Techniken vermittelt.“629 Entgegen der Auffassung und zu Zeiten der Aufklärung oft geäußerten Kritik, eine solche Grand Tour sei eine reine Vergnügungsreise ohne ernsteren
626 Ebd. 627 Ebd., S. 10. 628
Ebd., S. 60. Im Zusammenhang mit dieser Art des Wiedererschaffens
sei auch die Reise im Kopf bzw. die imaginierte Reise erwähnt, insbesondere in der viel beachteten „Zimmerreise“ von Xavier de Maistre: Voyage autour de ma Chambre, Paris: Librairie de la Bibliothèque Nationale 1898, zusammen herausgegeben mit der „Expedition nocturne. Le Lépreux de la cité d’Aoste“ und „Les Prisonniers du Caucase“. Auf deutsch liegt dieser Text in einer Übersetzung von Caroline Vollmann vor: Xavier de Maistre: Reise um mein Zimmer, hg. von Gerd Haffmanns und übers. von Caroline Vollmann, Frankfurt am Main: Zweitausendeins 2005. Siehe hierzu auch: Bernd Stiegler: Reisender Stillstand. Eine kleine Geschichte der Reisen im und um das Zimmer herum, Frankfurt am Main: S. Fischer 2010. 629 Antje Stannek: Telemachs Brüder. Die höfische Bildungsreise des 17. Jahrhunderts, Frankfurt am Main u. a.: Campus 2001, S. 13.
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Sinn und Zweck,630 erlernten die Reisenden durch sie wichtige Umgangsformen, die sie für ihre Ausrichtung bei Hofe später brauchten, und so „diente ihre Mobilität einem angestrebten Statuserwerb.“631 Die Grand Tour war im 17. und frühen 18. Jahrhundert daher bereits Teil eines umfassenden Formungsprozesses der jungen männlichen Subjekte und „ein Prozess der Aneignung einer ‚Identität‘.“632 Sie war, wie es nun schon angeklungen ist, vor allem auch „ein geschlechtsspezifisches Programm, welches allein den Söhnen erlaubte, eine Vertrautheit mit fernen höfischen Welten herzustellen.“633 Für die Betrachtung der Reisenden-Darstellungen auf den Tapeten, auf denen auch die Einübung von Geschlechterrollen in einem bürgerlich-aufgeklärten Kontext vor Augen geführt wird, ist diese Folie der männlichkeitsformenden sozialen Praktiken auf der Grand Tour der vorausgehenden 200 Jahre von großer Bedeutung: sowohl Telemach als auch Psyche und das Kinder-Paar Paul und Virginie vollziehen vor den Augen der Betrachtersubjekte eine identitätsbildende und geschlechterspezifische Reise. Diese ist nunmehr von höfischen Idealen und Forderungen abgelöst, scheint sich aber dennoch stark an diese anzulehnen. Auch die Praxis des ‚Hinein-Tapezierens‘ von örtlich und zeitlich entfernten Räumen in das eigene Interieur – und, weitaus komplexer noch, des exemplarischen Sich-auf-Reisen-Begebens der jeweiligen Figuren in den visualisierten entfernten Räumen – ist innerhalb einer Tradition des imaginären Sich-Aneignens dieser Räume zu verstehen. Stannek, die sich intensiv mit den Umständen der Reisen deutscher Grafen und Prinzen beschäftigt hat, betont die Bedeutung gezielter Vorbereitungen auf die Reisen in Form einer Vermittlung von geographischen, klimatischen, politischen und historischen Kenntnissen. Diese fand vor allem durch Lektüre entsprechender Reiseberichte und Empfehlungen, aber interessanterweise auch durch Innenraumgestaltung statt, wie ein Zitat Johann Christoph Wagenseils belegt: „‚Zu förderst wird für den Prinzen ein wol tapeziertes Gemach erfordert, dessen Wände auch mit den 5 grossen illuminirten Holländischen Land=Charten, welche die gantze Welt […] fürstellen, behangen seyn. […] Es muss eine große lange Tafel da sein, auff die stellet man zwey Globos […] in deren Mitte soll eine schöne Uhr und oben bey dem ersten ein grosser Compass, unten ein Kästchen mit allerhand gangbaren Geld stehen.‘
630 Ebd., S. 8. 631 Ebd., S. 14. 632 Ebd. 633 Ebd., S. 13.
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Schon in jungen Jahren sollten den Jungen ein räumliches Bild von der Welt vermittelt werden (sic!).“634 Eine möglichst umfassende Erfassung und Kontrolle von Raum, Zeit und Himmelsrichtungen sowie eine Orientierung über unbekannte Währungen soll schon in den (und an den) eigenen vier Wänden ermöglicht und ein genaues Bild der Erkundungsgebiete vermittelt werden. Dies sollte auch Objekt-Anordnungen einbeziehen und eine Vor-Orientierung geradezu erzwingen, offenbar auch über die Hauptreiseziele Italien, Frankreich, England und die Niederlande hinaus. Die später praktizierte physische (Länder-) Reise war dann eine Art Steigerung dieser Neigung zur Erkundung und Aneignung unbekannter Gebiete. Mit der Schwerpunktsetzung dieser Reisen auf Bildung und Wissenserwerb seit dem 18. Jahrhundert und dem wachsenden Anteil bürgerlicher Reisender, die vor allem aus Künstler- und Literatenkreisen stammten oder sich diesen nahe fühlten, kann man nun spezifischer von einer ‚Bildungsreise‘ sprechen und davon, dass „Lernen durch eigene Anschauung“635 als eine der Ästhetik der Zeit von Goethe und Herder entsprechende Haltung auch zur Reisemaxime wurde. Die eigene Anschauung und das Potenzial an Kreativität und Schaffenskraft, das diese idealiter freisetzte, kann als Katalysator des gesellschaftlichen Aufstiegs und Prestiges „einer neuen gesellschaftlichen Führungsschicht“636 gesehen werden. Diese war eben nicht mehr in höfische Strukturen eingebunden und musste sich ihren Status deshalb in ihrem Selbstverständnis erst erwirtschaften, ‚ertiteln’ oder eben auch erreisen. Die Studienzwecke, denen eine solche Reise umfänglich zu dienen hatte, waren in den Fokus gerückt (an Stelle von u.a. der „Pflege von standesgemäßen Kontakten“ und der Übung „im Tanzen, Fechten, Reiten, Ballspielen und Jagen“637) und das hierbei gesammelte Material – Schriften, Skizzen, Bildquellen, Forschungsproben wie botanische und mineralische Objekte, Andenken – diente späteren Analysen und künstlerischer Produktion. Die leidenschaftliche curiositas, die erst jetzt endgültig ihre pejorative Einordnung als sündenhafter Makel der Menschheit abstreifen konnte, wird zur Antriebskraft schlechthin für alle neuen Vorhaben und Entdeckungen. Wohl nicht zuletzt aufgrund der langen abwertenden Tradition, in der die mensch-
634 Ebd., S. 37. 635 Gabriele M. Knoll: Kulturgeschichte des Reisens: von der Pilgerfahrt zum Badeurlaub, Darmstadt: Primus 2006, S. 35. 636 Attilio Brilli: Als Reisen eine Kunst war, wie Anm. 624, S. 22. 637 Gabriele M. Knoll: Kulturgeschichte des Reisens, wie Anm. 635, S. 36.
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�. Die Paysage de Télémaque
liche Neugier steht, wird diese mit dem Begriff der Erfahrung um- und neu gedeutet: „Der Begriff der Erfahrung […] umgreift den geistigen Prozess, mit dem sich eine derart ausschweifende Neugier befriedigen und in ihren Ergebnissen geordnet verwahren läßt.“638 Die Er-fahrung verweist auch schon begrifflich auf eine Fortbewegung, auch wenn sie nicht unbedingt eine physische Ortsveränderung impliziert; und sie erscheint in Brillis Argumentation als Grundlage für die Entwicklung eines geordneten Denksystems, womit sie bereits in ihren Anfängen in spezifischen Koordinaten erfasst und nicht völlig ins Ungewisse geleitet scheint. Inwiefern sich dieses Verständnis von Erfahrung mit der Leidenschaft der Neugier vereinen lässt oder wo sich beide Konzepte reiben, wird noch zu untersuchen sein. Diese Fragestellung erweist sich als zentral für die Reise und Suche aller TapetenprotagonistInnen. Eine wichtige Vorbildfunktion für die eben skizzierte Entwicklung der Grand Tour zur Bildungsreise im Verlauf des 18. Jahrhunderts kommt wohl Goethe und näherhin seiner „Reise durch Italien im Jahre 1740“639 zu, wobei man nicht außer acht lassen sollte, dass auch schon im 16. Jahrhundert Reiseberichte als Inspirationsquelle und als Anweisung für eigene Reisen genutzt worden sind. Doch auch im 18. und 19. Jahrhundert sind die Bildungsreisenden weder frei auf allen Routen noch sich selbst überlassen gewesen; wie die Adelssöhne ihren Haushofmeister oder Präfekten und oftmals eine ganze Dienerschar mit sich führten, so reisten auch bürgerliche Jugendliche in Gemeinschaften bzw. mit Vertrauten oder Erziehern, die unterwegs Anstand und Sicherheit gewährleisten sollten. Auch wenn höfische Zwänge und Strukturen zunehmend obsolet geworden sind, herrschten Regeln, wenn nicht gar „auf lange Zeit verbindlich festgelegte[n] Vorschriften“640 für das Wie und Warum des Reisens, die auch auf den Tapeten erkennbar sind. Insbesondere beim Telemach wird dessen Grand Tour, wie sie im Fénelon’schen Text im Rahmen der Prinzenerziehung noch gemeint war, im Innenraum des 19. Jahrhunderts zur Bildungsreise. Die Naturkulissen, die man bereiste und die auch in die Tapeten Eingang fanden, entsprechen dabei den mit der Kunsttheorie und Landschaftsmalerei entstandenen Vorstellungen von Idylle und einem Zustand des Abgeschiedenen, Insularen (vor allem, aber nicht nur, beim Telemach sowie bei Paul und Virginie). Noch im Jahr 1828 zeigte sich in Johann Gottfried Schnabels „Insel Felsenburg“ (eingeleitet von Ludwig Tieck) ein „wirklicher Bedarf an solchen Traumbildern“641 und so erfreuten
638 639 640 641
Attilio Brilli: Als Reisen eine Kunst war, wie Anm. 624, S. 20. Ebd., S. 37. Ebd., S. 31. Horst Brunner: Die poetische Insel, Stuttgart: Metzler 1967, S. 103.
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Tapezierte Liebes — Reisen
sich die zahlreichen Insel-Imaginationen von den Dichtungen des Rokoko bis ins Biedermeier einer anhaltenden Beliebtheit und Faszination. „Ihre Fluchthaltung spricht einer ihrer Meister, Salomon Geßner, in der Vorrede zu seinen Idyllen (II, 7ff.) aus. Gleich im ersten Satz erscheint das entscheidende Wort: ‚ich fliehe‘ […].“642 Scheinbar wird die Insel zu einer Gedankenfigur, die ein Maximum an Stille und Frieden garantiert, weil sie die räumlichen Voraussetzungen dafür bietet; und somit „ist die Insel auch hier die letzte räumliche Steigerung der an sich schon intimen Schäferlandschaft des Rokoko.“643 Entsprechend finden sich dann im 18. und frühen 19. Jahrhundert viele Opern, in denen die Insel als Ort der Liebe („L’isola d’amore“, 1752), des Glücks („L’isola della fortuna“, 1765) oder der unumstößlichen Wahrheit (Im „Diamant des Geisterkönigs“, 1824) markiert wird.644 Inwiefern dies auch auf die tapezierten Insellandschaften zutrifft, ob diese als Schutzraum, Glücksorte, Liebeshöhlen oder gar das profane Alltagsleben transzendierende Mikrokosmen für religiös-spirituelle Riten oder Zauberhandlungen gestaltet sind, wird erst eine tiefergehende Analyse der einzelnen Figuren-, Naturund Architekturelemente ergeben können. Dann wird es auch möglich, sich dem Inselbegriff noch einmal neu und in Verknüpfung mit dem Wohnen und Selbst-Entwerfen anzunähern, denn die Insel wird schließlich im eigenen Haus verbildlicht und ihre Elemente mit diesem und den darin stattfindenden Interaktionen zusammenfügbar. Die bisherigen Thesen widersprechen bereits einer simplen Addition vom eigenen Haus als Schutzraum und der Inselidylle als permanentem Glücksversprechen, als wäre ein friedliches Drinnen, geformt von entsprechenden Bildwänden, von einem dissonanten Draußen trennbar. Gerade vor dem Hintergrund des (gedanklichen) Reisens und der auf Lebensrealitäten unterschiedlichster Art gerichteten Erfahrungsbegeisterung kann nun die Insel im Haus allenfalls vordergründig noch eine verbildlichte Idylle Gessners sein, jedoch kaum in ihrer Verbindung mit dem Wohn- und Lebensalltag, wie sie hier untersucht wird. Die konkreten Ver-Ortungen der Telemach’schen ‚Insel‘ in drei historischen (Guts-)Häusern in Deutschland soll nun im Folgenden im Zentrum stehen.
642 643 644
242
Ebd., S. 113. Ebd., S. 115. Vgl. ebd., 118f.
�. Die Paysage de Télémaque
�.�.� Warendorf: Inselimaginationen in einem Bürgerhaus im Münsterland Telemachs Reise auf die Insel im (bürgerlichen) Innenraum wurde gelegentlich von ganz anderen Tapetenbahnen durchkreuzt und ergänzt. Der an der konservatorischen Arbeit an und mit Tapeten interessierte Treve Rosoman beschreibt ein Haus in England, das ab 1755 der angesehenen Familie Redman gehört hatte:645 Gutsbesitzern, die mit Handelsschiffen ausfuhren um mit Austern zu handeln. Ihr Haus war um 1823 von einem der Söhne umgebaut worden und hatte dabei einen neuen Frontbau mit 3 Stockwerken und – vermutlich ab 1836 – einigen Szenen der Panoramatapeten „Les Incas“ und „Télémaque“ von Dufour erhalten. Diese Tapetenfragmente sind in einem hinteren Raum unbekannter Funktion angebracht worden.646 Rosoman zeigt, wie sich die sehr unterschiedlichen Designs und Themenkomplexe der beiden Tapeten vor Ort an- und ineinander fügen: Die östliche Wand ist mit den Bahnen 19 bis 25 der „Les Incas“ tapeziert, welche „the arrival of Pizarro and his Conquistadores“ zeigen, „the end of an age of innocence, as it were.“647 Die nördliche Wand ist noch komplexer in ihren Arrangements; hier befinden sich zwei Sets an Tapeten (-Geschichten) kombiniert: Die Telemach-Szenerie „is hung on the chimney breast and to the right while to the left, beneath, and actually behind the hanging cupboard there are some more panels of Les Incas.“648 Interessant ist weiterhin: „[…] there is a house that stood in Danvers, Connecticut, USA and now moved to Washington DC that also has the same two scenic papers hung in one room.“649 [Abb. 21] Rosoman ist hier auf ein Phänomen gestoßen, dass für Bildtapetenräume – offensichtlich weltweit – signifikant ist: Anstatt ganze respektive in sich geschlossene Tapetenszenerien an die Wände zu bringen, sind oft nur einzelne Bahnen und Ausschnitte gewählt und diese dann auch gelegentlich mit Ausschnitten weiterer Bildtapeten kombiniert worden. Man kann sich also Bildtapetenräume nicht so vorstellen, dass sie zwangsläufig immer einem Stoff oder einer Thematik gewidmet waren, wie es in musealen Rekonstruktionen oftmals den Anschein hat. Doch Rosoman weist auch ausdrücklich auf das Bemühen hin, die unterschiedlichen Tapetenstücke so
645
Treve Rosoman: „The French Scenic Wallpaper at 7 Church Road, Oare,
Kent“, in: Elisabet Stavenow-Hidemark (Hg.): New Discoveries – New Research, wie Anm. 125, S. 88–99. 646 Ebd., insbes. S. 92f. 647 Ebd., S. 95. 648 Ebd. 649 Ebd., S. 94.
243
Tapezierte Liebes — Reisen
zu arrangieren, dass sie sich wiederum zu einem vereinheitlichten und damit möglichst ‚störungsfreien‘ Gesamteindruck fügen. „The top half of the Palace of Calypso has been cut off, along with the mountains in the background. The lower set of steps has gone and the columns have been cut out and slightly re-arranged. However, the heavily cut and shortened version still works and has a coherent pattern to it. The joining of the two designs on the left side of the chimney breast is also clever; the paperhanger has fretted out the section showing the Arrival of Venus in her Chariot and where the clouds have been cut out and folded around the corner they have been overlaid onto a Peruvian jungle scene to join the two different designs of paper.“650 Eine Kombination aus Telemach- und Inkatapete findet sich auch in Deutschland in einem Bürgerhaus in Warendorf im Münsterland. Hier sind die Tapeten auf jeweils separate, aber nebeneinander liegende und nacheinander betretbare Räume verteilt. Das Haus gehörte zur Zeit der Anschaffung der Tapeten dem Hofrat Dr. med. Franz Joseph Katzenberger, der es im Jahre 1812 in der damaligen Ritterstraße 692 – der heutigen Klosterstraße 7 – errichten ließ.651 [Abb. 22] Im zeitweise französisch besetzten Münsterland und insbesondere im handelsfreudigen Warendorf waren die Voraussetzungen gut, Informationen über den Pariser Wandschmuck aus der Manufaktur Joseph Dufour zu erhalten und sich die Tapeten auch anzuschaffen, sodass ein ‚Einzug‘ der beiden dort vorhandenen Tapeten „Les Incas“ und „Télémaque“ ab 1823/24 geplant und durchgeführt werden konnte.652 Es wurden zwei repräsentati-
650
Ebd., S. 97.
651
Walter Suwelack: „Das kostbare Haus Klosterstraße sieben“, in: Pfarrei
St. Laurentius (Hg.): Kirchengeschichte der Stadt Warendorf, 1200 Jahre Pfarrei Sankt Laurentius, Band III, Warendorf 1985, S. 538–545. 652
Eine Verbindung zwischen Katzenberger und dem sich ab 1797 als
Kunsthändler betätigenden Johann Bernhard Frye, der die Tapeten beschafft haben könnte, scheint naheliegend, denn der „[…] folgte dem Vater als Linnentuchmacher und Couponweber und machte 1790 sein Meisterstück. Die für Gesellen übliche Wanderschaft führte ihn nach Frankreich und besonders Paris, in das Zentrum der vornehmen Mode und feinen Textilproduktion. Der französischen Sprache mächtig, knüpfte Frye hier Kontakte zur Tapetenmanufaktur Dufour, deren kostbare Produkte er in Warendörfer Bürgerhäuser vermittelte […]“, wie es bei Paul Leidinger heißt: „Kunst und Künstler in Warendorf“, in: Ders. (Hg.): Geschichte der Stadt Warendorf, Warendorf 2000, Band III, S. 247–282. Leider gibt es keinen Nachweis, ob Frye tatsächlich genau diese Tapeten in genau dieses Haus
244
�. Die Paysage de Télémaque
Abb. 21 Tapezierung im Redman-Haus, Homeside, 7 Church Road, Oare, Kent/UK, Szenen aus „Les Incas“ und „Telemach“, 1830er Jahre. Abb. 22 Hauseingang Warendorf, Klosterstraße 7.
brachte; dennoch dürfte die Verbindung von Warendorf nach Paris über die Achse des Textilhandels ein wichtiger Hinweis sein, wie Katzenberger zu seinen tapezierten Wänden kam. Die bei Suwelack und Leidinger hergestellte Verbindung zu der Textilfirma Brinkhaus, deren Gründer Katzenbergers Tochter heiratete und wohl auch Katzenbergers Haus als Lager nutzte, kommt erst ab 1849 zustande, kann also nicht als relevanter Faktor für die Einrichtung um 1820 mit Dufour’schen Bildtapeten herangezogen werden.
245
Tapezierte Liebes — Reisen
ve Räume im Erdgeschoss zwischen der Straßen- und der Gartenseite mit den beiden Tapeten verziert; der größere und zentrale ovale Gartensaal mit der „Inka“- und der durch diesen zugängliche kleinere Salon mit der „Telemach“-Tapete.653 So wurde also das ‚Herz‘ des Hauses (auf die räumliche und Raumnutzungsstruktur bezogen) mit diesen Tapeten-Anordnungen versehen, die jeweils auf literarischen Vorlagen beruhen und mit den Themen des Reisens und Sich-Bildens spielen. Ein Blick auf den Haustyp und dessen Einordnung in den Warendorfer respektive Münsterländer Kontext bestätigt die auch für die innenarchitektonischen Verhältnisse ‚zentrale‘ Stellung der literarisierten Wände. Es handelt sich hier um eines der im 18. Jahrhundert besonders in Westfalen sehr beliebten (Quer-)Flurhäuser, welches als besonderes Merkmal „starke Anklänge an französische Palaisbauten aufweist und in Deutschland zumeist vom Adel und nur vereinzelt vom Bürgertum übernommen wird.“654 Das zweigeschossige Gebäude besitzt ein „kurzes, flurartiges Vestibül zwischen zwei straßenseitigen Stuben“ und „weitet sich in einen sich von Seitenwand zu Seitenwand erstreckenden Flur, in dem rechts die Geschoßtreppe sitzt. Vom Vestibül gelangt man in einen großen, ovalen Gartensaal, dem links die Küche und rechts ein Salon benachbart sind. Im Obergeschoß und Dach standen genügend Schlafzimmer und Personalräume zur Verfügung. Im Gegensatz zur sparsam gegliederten Straßenfront tritt an der Rückfront der ovale Gartensaal in den drei Mittelachsen als Kreissegment weit vor und wird dreigeschossig über das Hauptgesims in das Mansard-Walmdach hochgezogen. Im Inneren stehen die einfache Geschoßtreppe und die schlichten klassizistischen Türen, von denen die Gartensaaltür im Vestibül von ionischen Pilastern flankiert wird, in starkem Kontrast zu den leuchtenden, handgedruckten Pariser Landschaftstapeten in Saal und Salon.“655 [Abb. 23] Das Raumgefüge im Erdgeschoss richtet sich hauptsächlich nach den tapezierten Zimmern aus, die hier gleichsam exemplarisch für die sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts ausdifferenzierenden Wohn- und Reprä-
653
Nähere Ausführungen zu dieser Konstellation in Warendorf und ins-
besondere zum „Inka“-Saal finden sich bei Astrid Schönhagen: „Tapezierte Kolonialfantasien“, wie Anm. 23. 654
Stefan Baumeier: Das Bürgerhaus in Warendorf – Ein volkskundlicher Beitrag
zur Geschichte des Profanbaus in Westfalen, Münster: Verlag Aschendorff 1974, S. 42. 655 Ebd.
246
�. Die Paysage de Télémaque
↑ Garten 3 Flügeltüren
Saal (Inka)
Küche
Flur
Salon (Telemach)
Treppe
Stube
Stube
Abb. 23 Grundriss Erdgeschoss, Warendorf, Klosterstraße 7.
Straße ↓
sentationsansprüche der Bürger stehen, denen „die völlig überalterten Wohnwirtschaftsbauten des 16./17. Jahrhunderts nicht mehr“656 genügten. So entstand auch das Bürgerhaus Klosterstraße 7 als ein reiner „Wohnbau mit günstiger Raum- und Geschoßaufteilung und torloser, großfenstriger Fassade, die sich entsprechend der Kapitalkraft der Erbauer an den einfachen Vorbildern in der Stadt Münster orientiert.“657 Ein genauerer Blick auf Saal und Salon und ihre Tapeten bzw. ihr Verhältnis zueinander kann nun Aufschluss darüber geben, inwiefern sich die gut bemittelte Schicht der Gesellschaft – zu der Hofrat Katzenberger zweifellos zählte – in seinem Interieur selbst entwarf und somit spezifischen, im Entstehen begriffenen und nicht mehr nach den Codes des Hochadels ausgerichteten Repräsentationsbedürfnissen genügen wollte. Zudem soll die im Salon fast vollständig erhaltene Telemach-Tapete in ihren Einzelszenen und im Hinblick auf die Einordnung als eine Wohn-Insel, die gesellschafts- und geschlechterspezifische Didaktiken vermittelt, analysiert werden.
656 Ebd., S. 123. 657 Ebd.
247
Tapezierte Liebes — Reisen
Abb. 24 „Inka“-Saal, Pilaster-Verzierung neben dem äußeren Türrahmen, Warendorf, Klosterstraße 7. Abb. 25 „Inka“-Saal, Innentür mit Sonnen-Symbolik, Warendorf, Klosterstraße 7.
Der Hauptzugang in den Telemach-Salon erfolgt über den ovalen Gartensaal mit der Inka-Tapete. Zwischen Gartensaal und Salon und somit auch den unterschiedlichen Tapetenerzählungen befindet sich eine verbindende Flügeltür, während die ebenfalls neben dem Saal gelegene Küche nicht durch diesen betreten werden kann, sondern nur über den Flur. Die beiden Tapetenräume bilden so ein Raumgefüge für sich, das wiederum mit der Garten- und Terrassenanlage, auf das es hinaus führt, eine Einheit und weiterhin einen noch näher zu bestimmenden Innen-Außen-Komplex bildet, der klar von den (deutlich kleineren und karger ausgestatteten) Raumeinheiten Flur, Küche, Arbeitsstuben und Treppenaufgang separiert ist. [Vgl. Abb. 23] Zunächst wird der Übergang vom Vestibül der ‚Jetztzeit‘ in die südamerikanisch-exotistische (Schein-)Welt der Inkas im ovalen Saal klar durch die Säulenformen markiert: Die klassizistischen weißen Pilaster der ionischen Säulenordnung neben dem Türrahmen wiederholen sich nochmals als Schmuckelement auf den Flügeln der Tür selbst, und sowohl sie als auch Tür und Türrahmen stehen in ihrem leuchtenden Weiß in einem augenfälligen Kontrast zur Türseite im Inneren des Gartensaales. [Abb. 24] Diese kann man bewundern, sobald man durch den Türrahmen getreten ist und sich umdreht: Hier sind die Pilaster in einer exotisch anmutenden Fantasie-Ausführung gestaltet mit golden getünchten Federn in den Kapitellen, die das Indianer-Thema der Tapete aufnehmen. An Stelle einer Supraporte scheint eine goldene Sonne mit ihren Strahlen auf dieses Sonnen-Tor hinab. [Abb. 25]
248
�. Die Paysage de Télémaque
Während direkt gegenüber drei Flügeltüren auf die Terrasse führen, kann man rechter Hand durch das rundum mit der Tapete geschmückte Wandoval des Inka-Raumes in den kleineren Salon nebenan mit der Telemach-Tapete treten. Dabei fällt der Blick – noch bevor man überhaupt hinüber geht – zuerst auf die lange Wand im nächsten Raum, die den Teil der Telemach-Tapete präsentiert, der sich auf der Terrasse abspielt (Szene 6–8). So wirkt der Übergang, als gelänge man von der exotistischen Welt direkt auf eine Art Bühne, als die man die Terrasse sehen kann, und auf der sich nun eine andere, neue Geschichte abspielt. [Abb. 26] Interessanterweise bestärken die Inka-Tapetenbahnen, die sich direkt neben der Übergangstür befinden, optisch noch die Bewegung herüber in den nächsten Raum, indem rechts eine Figur gerade über eine Hängebrücke in Richtung der (realen) Tür läuft und links zwei Figuren auf einem Floß ebenfalls in Richtung der Tür fahren. [Abb. 27 und Abb. 28] Sodann befindet man sich, begleitet von diesen Figuren, auf der Insel der Calypso. Dreht man sich hier zur Tür, beginnt die Geschichte der chronologisch angebrachten Tapetenszenerie rechts neben der Tür und entfaltet sich entgegen dem Uhrzeigersinn. [Abb. 29: Grundriss des Telemach-Salons] Es folgen acht Szenen aufeinander: – Der Tanz der Nymphen und ihr Opfer an Pomona (1) – Die Ankunft von Telemach und Mentor auf der Insel (Schiffbruch) (2) – Telemach erzählt von seinen Abenteuern (3) – Venus übergibt Amor an Calypso (Palastszene) (4) – Telemach und Eucharis brechen zur Jagd auf (5) – Die eifersüchtige Calypso beobachtet Telemach und Eucharis (Terrassenszene) (6) – Opfer an Demeter (7) – Telemach und Mentor springen ins Meer (Flucht vor Calypsos Rache) (8) Im Folgenden sollen diese acht Szenen detailliert betrachtet werden. Die Analysen dieser Szenen und ihrer Einzelelemente beziehen sich zum einen auf die Telemach-Tapete als Druckerzeugnis, d.h. so, wie sie die Manufaktur hergestellt hat und sie sich auch in anderen Häusern und Räumen befindet, enthalten aber zum anderen auch einige Hinweise auf die spezifische Situation in Warendorf. Auch die Wirkung im und durch den räumlichen Parcours wird nochmals vertiefend behandelt. Anschließend lassen sich dann die Situationen in Remscheid und Borghorst zum Vergleich anführen.
249
Tapezierte Liebes — Reisen
Abb. 26 Blick durch die Tapetentür vom „Inka“-Saal in den angrenzenden Telemach-Salon, Warendorf, Klosterstraße 7. Abb. 27 Durchgang vom „Inka“-Saal in den angrenzenden Telemach-Salon, rechte Seite der Tapetentür, Warendorf, Klosterstraße 7. Abb. 28 Durchgang vom „Inka“-Saal in den angrenzenden Telemach-Salon, linke Seite der Tapetentür, Warendorf, Klosterstraße 7.
250
�. Die Paysage de Télémaque
Die Telemach-Szenen, ihre Figur(ation)en und innerbildlichen Bezüge am Beispiel der Anordnung in Warendorf Erste Szene: Der Tanz der Nymphen und ihr Opfer an Pomona Der Einstieg in die Bildfolge der Tapete, respektive die erste Szene, bezieht sich zunächst noch nicht auf den Roman Fénelons; stattdessen wird von Anfang an eine eigene Bildwelt entfaltet. Zu sehen sind zwei durch eine große Palme voneinander abgetrennte Flächen im Vordergrund. Rechts befindet sich ein Teich, der von zwei schmalen Fontänen gespeist wird, die hier wie aus dem Fenster des Zimmers herein zu strömen scheinen. [Abb. 30] Im Vergleich mit der idealiter vorgesehenen Szenenfolge von Dufour fehlt hier die Anfangsbahn, sodass bereits deutlich wird, wie flexibel man in der Anbringung der Tapeten war und wie stark die Wirkung im Raum und auf betrachtende Subjekte variiert, je nachdem, wo innerhalb dieses Raums man Szenen und Bildfiguren ‚andocken‘ lässt – bspw. an den Fenstern, Nischen oder Türen. Links befindet sich ein leicht schräg zum Teich hin abfallendes braunes Felsplateau mit einem Baumstumpf und einer grün bewachsenen Felsenfläche, auf der Muscheln wie in einem Stilleben verteilt liegen. Hinter dem Teich ist eine Motivgruppe aus tanzenden Nymphen und einer hohen Palme zu sehen. [Abb. 31] Die Palme hat sehr große, in verschiedene Richtungen zeigende, be-
Szene 8
Szene 7
Szene 6
Szene 5
Fenster
Szene 4
Szene 8
Fenster
← Garten
Szene 3
Szene 1
Szene 1
Abb. 29 Grundriss des Telemach-Salons mit Anordnung der Tapetenszenen, Warendorf, Klosterstraße 7.
Szene 2
Übergangstür ovaler Saal
251
Tapezierte Liebes — Reisen
Abb. 30 Telemach-Tapete in Warendorf, Klosterstraße 7, Szene 1 neben dem Fenster (Detail): Tanz der Nymphen.
wegte Palmwedel. Auffällig ist die starke Symmetrie im Bild; die nach unten gerichteten Palmwedel bilden eine erste Ebene und die nach oben gerichteten noch eine zweite. Die untere Ebene mit den vier längeren Wedeln scheint den Tanz der vier durch das nach oben gehaltene Tuch miteinander verbundenen Nymphen nachzubilden. Beide Ebenen weisen eine Bewegungstendenz nach links und somit in Lesrichtung der Gesamtszenerie auf. Die Schlangenform des vordersten, den Palmenstamm kreuzenden Wedels findet sich außerdem in dem in den Hintergrund laufenden Pfad wieder. Da diese einleitende Szene zweigeteilt ist, geht es links von der Tür mit einigen der Pomona opfernden Nymphen weiter. [Abb. 32] Pomona steht im System der Allegorien der vier Jahreszeiten für den Herbst. Zu ihren Attributen zählt das Füllhorn, das sie auch hier in der Hand hält, und das ein in der Tapete mehrmals wiederkehrendes Motiv ist – wie auch das der Traube, die bei Ovid in einer Liebeswerbung des Gottes Vertumnus eine zentrale Rolle spielt658 und die ebenfalls häufiger die Tapete schmückt. Auf die Verlinkung der Pomona-Vertumnus-Geschichte mit dem Tapetenraum komme ich noch zurück. Die Pomona-Figurengruppe besteht
658
Ovid (Publius Ovidius Naso): Metamorphosen Lateinisch/ Deutsch, hg.
und übers. von Michael von Albrecht, Stuttgart: Reclam 1994, Buch 14, S. 775–790.
252
�. Die Paysage de Télémaque
aus der in weißer marmorner Erscheinung gehaltenen und auf einem erhöhten runden, einer kurzen Säule ähnelnden Sockel platzierten Statue und zwei stehenden Frauenfiguren an ihrer rechten sowie einer knienden Frauenfigur mit einer Opferschale an ihrer linken Seite.659 Von den rechts bzw. im Hintergrund verteilten Bäumen können vier als Zypressen und vier als Pinien identifiziert werden. Die beiden höheren Pinien wölben sich leicht nach links und formen so eine Art Baldachin für die Figuren, sodass die Szenerie eine altarähnliche, sakrale Wirkung erhält, entsprechend dem Anlass der Opfergaben. Zusätzlich zur Stufigkeit der Bildräume in ihrer durchkomponierten Symmetrie und den in sie hinein gesetzten sakralen Handlungen ist an dieser Stelle bereits eine die gesamte Tapetenlandschaft dominierende antikisierende Architektur hervorzuheben. Diese ist wiederum in sich sehr detailliert dargestellt; hier sind bspw. an dem auf einer Anhöhe platzierten griechischen Tempel nicht nur
659 Details dieser und weiterer sehr klein abgebildeter Figuren- und Objektgruppen der Tapete können entweder beim nahen Betrachten der Originaltapeten oder auf Vergrößerungen punktueller Bereiche ihrer Fotografien recht gut ausgemacht und beschrieben werden.
253
Abb. 31 Telemach-Tapete in Warendorf, Klosterstraße 7, Szene 1 zwischen Fenster und Tür: Tanz der Nymphen. Abb. 32 Telemach-Tapete in Warendorf, Klosterstraße 7, Szene 1 links der Tür: Opfer an Pomona.
Tapezierte Liebes — Reisen
Abb. 33 Telemach-Tapete in Warendorf, Klosterstraße 7, Szene 1 links der Tür (Detail): korbtragende Nymphe.
die drei erkennbaren klassischen Teile des Stufenbaus (Krepis), der Säulen und des Gebälks zu sehen, sondern über die normale Verzierung des Tympanons hinaus auch noch plastische Figuren, die vom Giebeldach aus nach oben ragen, sowie am rechten unteren Rand der Stufen in Form einer weiteren Statue erscheinen. Die in der Ferne liegende Landschaft aus Bergen und Wald zieht sich weiter nach rechts und wird durch sehr helle Farbverläufe immer schemenhafter. An der rechts unten verlaufenden Grenze dieses Bildausschnitts, hier links der Tür, befindet sich vor dem Felsvorsprung eine weitere, nach links in die sich entfaltende Landschaft gewandte Nymphe. Mit der rechten Hand hält sie einen Korb auf dem Kopf fest. [Abb. 33] Sie gleicht in frappierender Weise der Nympha aus dem Mnemosyne-Projekt Aby Warburgs, welche für das „bewegte Beiwerk“ bzw. Pathosformeln und das „Weiterleben der Antike“ schlechthin steht.660 „In Anlehnung an Aby Warburg können die Topoi zusammen mit dem Bildund Zitatenschatz der Antike als ‚Pathosformeln‘ bezeichnet werden, affektiv
660
254
Vgl. Giorgio Agamben: Nymphae, Berlin: Merve 2005.
�. Die Paysage de Télémaque
aufgeladene ‚Dynamogramme‘.”661 Die Kombination der dynamogrammatischen Nymphe mit dem über ihr gelagerten Tempel, der Pomona-Gruppe und den kleineren, am unteren Bildrand ‚abgelegten‘ Objekten schreibt nun wiederum ein rautenförmiges Viereck in das Grün der Landschaft, sodass eine Chiffre für das später dann von Warburg so genannte „Weiterleben der Antike“ herauslesbar ist. Es wird mit diesem genauen Blick auf den Bildaufbau klar, dass nicht von einem Sujet einer zufällig gewachsenen Natur, aber auch nicht von dominanten menschlichen Interaktionen die Rede sein kann. Vielmehr handelt es sich um eine recht komplexe Bildstruktur von nymphenhaften Figuren, symbolischen Elementen und architektonischen sowie botanischen Versatzstücken, aus deren Anordnung erst weitere Schlüsse gezogen werden können. Über die für die Eingangsszene so bedeutsame Pomona-Statue und den entsprechenden Originaltext von Ovid lässt sich in ‚gemeinsamer Lektüre’ ein Bezug auf das Thema der weiblichen Räume und der Tapeten-Ordnungs-Räume herstellen. In dem Text wird Pomona als Form(el) für eine in ihren eigenen Obstgarten eingeschlossene und so auch räumlich vor männlichem Begehren abgeschottete Weiblichkeit entworfen. Diese wird nun von einem Verehrer/ Eroberer verfolgt, der sich des Gartens und somit der mit diesem Garten identifizierten Frau zu bemächtigen versucht. Bei Ovid „schließt sie ihre Obstgärten von innen, gestattet Männern keinen Zutritt und flieht vor ihnen […]“.662 Doch Vertumnus – nach dem lateinischen Begriff vertere (= wenden) ein sich wandelnder und gewandter Typus des Eroberers –, umwirbt sie in verschiedenen Gestalten und schließlich als (Nach-)Erzähler von wiederum mythologischen Inhalten, die auch Wirkung auf die Begehrte zeigen. Diese Grundkonstellation, die mit dem Einzelelement der Pomona wieder aufgerufen wird, ist bei der Szenenanalyse mit zu bedenken: Auch hier wird eine Frauenfigur in einer Gartenlandschaft verortet und visuell mit Früchten und Fruchtbarkeit ‚angereichert‘ respektive semantisch aufgeladen. Die Landschaft, als deren markantes Element sie entworfen ist, wird nun aber von den Seefahrern wenn schon nicht direkt erobert, so doch ‚besetzt‘, und ebenso der Salon, in dem die Betrachtenden gerade Zeugen des Geschehnisses werden. Das Heilige, Abgeschottete ist nun geöffnet und passierbar (oder für Blicke freigegeben) worden. Genau in diesem Moment findet also im Warendorfer Salon eine Verlinkung von (Garten-)Landschaft und der dort verorteten Frau sowie der ermöglichten Zugänglichkeit dieser (verschlossenen, abgeschiedenen) Landschaft und eben-
661
Stefan Goldmann: „Topos und Erinnerung. Rahmenbedingungen der Au-
tobiographie“, in: Hans-Jürgen Schings: Der ganze Mensch, wie Anm. 405, S. 660–675, hier S. 673. 662
Vgl. Ovid: Metamorphosen, wie Anm. 658, S. 775.
255
Tapezierte Liebes — Reisen
dieser Frau statt – mit einem erfahrbaren Bezug zum konkreten Innenraum und seiner täglichen Nutzung. Das aus dem antiken Text herübergeholte und in der Tapete verarbeitete Pomona-Vertumnus-Motiv wird nun mit und in der ihrerseits von den Nymphen verehrten Statue umcodiert zu einem Kult-Akt. Dadurch findet, wie ich besonders betonen möchte, eine Entschärfung des eigentlich dahinter stehenden Aktes des gewaltsamen Eindringens statt. Angesichts der blumigen Idylle kann und soll das mitschwingende Thema der Gewalt verborgen und trotz des Aufrufens der Pomona ihr eigentliches Schicksal somit umgebildet und -bebildert werden: denn Pomona wird bei Ovid gewaltsam erobert, in ihren hortus conclusus wird eingedrungen, und in der Wortwahl des (zum Kanon eines jeden Bildungsbürgers gehörenden) Ovid’schen Textes ist deutlich: „The repetition of colere links Pomona’s cultivation of her garden with Vertumnus’ cultivation of her.“663 Die Kultivierung, colere, meint sowohl bebauen als auch pflegen, bewirtschaften und bewohnen, d. h. das Thema des Wohnens und des Pflegens der eigenen Wohnflächen ist indirekt auch wieder der Tapete auf-gedruckt und mit Begehren, Eroberung und Eindringen – wie Telemach in die Nymphenwelt und nebenan Pizarro in die Welt der Inkas eindringt – verbunden. Doch interessant ist nun insbesondere, wie sich diese Symbolik mit anderen Elementen der Tapete zusammenfügt: Das Heilige, sozusagen dem Alltag Enthobene auf der Tapete erfährt eine zusätzliche Akzentuierung durch immer wieder eingestreute Musikinstrumente, wie die hier in einer vertikalen Linie mit der Opfergaben-Gruppe angeordnete antike Harfe [vgl. Abb. 32]. Mit solchen Instrumenten wird die seit der Antike gefestigte Vorstellung einer harmonisch geordneten Welt aufgerufen, wobei sie außerdem mit der Sphäre des Über-Irdischen, Heiligen verknüpft und mythologischen Figuren bzw. Gottheiten zugeordnet sind. Genannt sei an dieser Stelle v.a. die Macht, die von Apolls Leier ausgeht, um die Bedeutung der Musik und der harmonischen Klänge für die Antike und ihre Wieder-Einholung in der Visualisierung heiliger Rituale und Mysterien hervorzuheben. Auch in Fénelons Text sind die rituellen Handlungen der Nymphen, welche vom Verbrennen des Zedernholzes und verschiedener Aromen sowie von Musik – hauptsächlich der Leier – und Gesang begleitet werden, ein wichtiger Bestandteil der Inselcharakterisierung.664 Über Musik und Harmonielehre eine kosmische Ordnung auch im Innenraum aufzurufen, war bereits im höfischen Rokoko gängige Praxis.665
663
Roxanne Gentilcore: „The Landscape of Desire: The Tale of Pomona
and Vertumnus in Ovid’s ‚Metamorphoses‘“, in: Phoenix, Vol. 49, No. 2, Summer 1995, S. 110–120, hier S. 115. 664 Les Aventures, wie Anm. 365, Buch I, S. 6f. 665
256
Vgl. Katharina Benak: Schloss Sünching – ein Gesamtkunstwerk des hö-
�. Die Paysage de Télémaque
Die Harfe und speziell die Äolsharfe wird dann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zur Zeit der Romantik, als Wind- und Geisterinstrument zum Ausdruck einer literarisch-mystischen Weltanschauung und zum Symbol für den Dichter schlechthin – in Anlehnung wiederum an Apoll und seine Leier. Der Name dieses Instruments leitet sich von Aeolus – dem Beherrscher der Winde – ab, und es lässt sich so unmittelbar mit freier Natur und weiten, winddurchfluteten Flächen in Verbindung bringen, da es unter diesen Umständen am besten zum Klingen gebracht wird. In der Literatur der Romantik wird oft eine Verbindung zwischen Gesang bzw. musikalischen Tönen, einer nicht zivilisierten Natur und Gefühlen von Liebe hergestellt, so wie beispielsweise bei Coleridge in „The Eolian Harp“ (1796), wenn ein junger Liebhaber seine Liebe für die Verlobte Sara buchstäblich besingt. Die bereits in den Ausführungen zur Klavierspielerin im zweiten Kapitel angeführte Freia Hoffmann stellt hierzu fest, dass sich „[d]ie Botschaft von Harfe und Harfenspielerin […] auf die Begriffe von Körperlosigkeit und Entsexualisierung bringen“ lässt,666 und schlussfolgert dann: „Die vollkommenste Entsexualisierung ist der Tod. […] Bei der Harfe ist es das Verklingen, eine oft gebrauchte Metapher für den letzten Seufzer von Sterbenden oder das Aushauchen der Seele.“667 In diesem Zusammenhang von Harmonie, Musik und sakralen (Opfer-) Handlungen ist auch der Gebrauch der Farbskala zu sehen – Dufour nutzte hier eine begrenzte, zarte Pastellskala, die sich in die dominierenden Farbbereiche rosa-weißlich, grün-blau und orange-erdfarben einteilen und die jeweiligen Farbbereiche so auch semantisch deuten lässt. Die hellsten, eher weißlichen und glänzenden Flächen der Eingangsszene sind die Gewänder, Wolken, Schwäne, das Meer, der Tempel und die Statue. Diese Elemente sind dadurch von den der Erde zugehörigen Bereichen – also denen der Natur, wie Bäume, Felsen und Erde – auch farblich getrennt. Somit sind zwei Sphären
fischen Rokoko in Bayern; Umbau und Neuausstattung nach Entwürfen von François de Cuvilliés d. Ä. (1757–1766), Regensburg: Schnell & Steiner 2009. Mit Bezug auf die Musik- und Puttendarstellungen im Sünchinger Festsaal heißt es hier: „Wie Bandmann für den Speise- beziehungsweise Musiksaal im Brühler Schloss Augustusburg bemerkte, hängt die hervorgehobene Stellung der Musik in der Dekoration nicht nur mit einer der Funktionen des Raumes zusammen, sondern auch mit der antiken Vorstellung, dass die kosmische Ordnung musikalischer Natur ist. […] Zusätzlich passt die lichte Farbigkeit der Stuckornamente in ihrem irisierenden, hellen Grau-Blau zusammen mit dem Blau des Himmels im Deckenfresko äußerst gut zum kosmischen Anspruch des gesamten Raumes“, S. 99. 666 Freia Hoffmann: Instrument und Körper, wie Anm. 65, S. 136. 667 Ebd., S. 137.
257
Tapezierte Liebes — Reisen
auszumachen, die des Sakralen – der Statue und des Rituals, des Tempels, des Himmels, der Unendlichkeit – und die des Irdischen. Überhaupt ist das, was ich hier als ‚sphärisch‘ bezeichne, als ein bevorzugter Aggregatzustand herauszustellen; die Wolkenformationen binden Wasser und Luft in sich, und gerade das Wasser – das die Inselwelt im Meer begrenzt und erst ermöglicht – ist auch in Form von Dampf, kleinen Teichen und symbolisch durch die Muscheln und Schwäne sehr dominant. Doch auch Feuer spielt in mehreren Szenen eine wichtige Rolle, und damit ist die auch noch im 18. und frühen 19. Jahrhundert sehr verbreitete Lehre von den Vier Elementen bzw. Säftelehre – die sich auch auf den menschlichen Körper und seine Gefühlslage bezieht – in der Bildsprache mit aufgerufen. Für eine kulturwissenschaftliche Analyse und die Berücksichtigung einer sich im Wohnen zeigenden Subjektivierungsgeschichte ist hierbei wichtig zu wissen, „[…] dass sich in der Geschichte der Elemente eine immer wieder verschiedene, niemals linear entwickelte Verwebung von Natur mit menschlicher Praxis und symbolischer Form zeigt […].“668 Innerhalb des Settings der Bildtapete sind die Elemente mit den Nymphen und deren rituellen Handlungen verwoben, und solche „Nymphen gehören einer mythischen Zwischenzeit an, die zwischen der Ureinheit [Gaia und Uranos vor dessen Entmannung durch Kronos] und der olympischen Rationalität lag; ihre Dimension ist diejenige der Vermischung und Komplementarität der Gegensätze, der Koexistenz der Gottheiten des Lichts und der Finsternis. Als weibliche Gottheiten der Natur und des Krieges stehen sie für eine Beziehung zum anderen Geschlecht, bei der es um gewaltsame Inbesitznahme, Raub und Entführung geht.“669 Gerade der Aspekt von Eindringen und Inbesitznahme tritt in Warendorf, wie schon argumentiert werden konnte, auf mehreren Bedeutungsebenen hervor. Wie die Beschreibung und kulturwissenschaftliche Analyse der ersten Tapetenszene nun gezeigt hat, wird dieser Aspekt jedoch en détail und damit letztlich in der Gesamtwirkung wiederum entschärft, verklausuliert und entsexualisiert bzw. als eine kosmisch-transzendente Erfahrungswelt zu sehen gegeben.
668
Gernot Böhme und Hartmut Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine
Kulturgeschichte der Elemente, München: Beck 1996, S. 13. 669 Silvia Vegetti Finzi: „Nymphomanie: Zeit und Mythos der weiblichen Sexualität“, in: Maria Gazzetti (Hg.): Der Liebesangriff – ‚Il dolce assalto‘: von Nymphen, Satyrn und Wäldern; von einer Möglichkeit, über die Liebe zu sprechen, Hamburg: Rowohlt 1993, S. 43–67, hier S. 47.
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Zweite Szene: die Ankunft von Telemach und Mentor auf der Insel (Schiffbruch) Die Ankunft des Telemach auf der Insel bildet thematisch und kompositorisch die zweite Szene der Tapete. Sie erstreckt sich über eine im Vergleich mit der ersten Szene kleinere und weniger gestaffelte Kulisse. Dem Ankommen per se wird zwar innerhalb der Gesamtszenerie keine große Rolle zugewiesen – statt dessen bleibt mehr Platz an der Wand für das bald folgende dramatische Geschehen zwischen den Figuren bzw. deren Interaktionen –, jedoch markiert es die Verteilung der Geschlechter auf der Insel respektive die Umcodierung eines weiblichen Umfeldes in ein stark männlich geprägtes. Als Leitfragestellung ist nun zu überlegen: Bilden sich zwei Lager, werden in Folge weibliche und/oder männliche Abschnitte unterscheidbar, und um welche Art von Weiblichkeit und Männlichkeit handelt es sich überhaupt bzw. hat man es mit einer weiblichen Erziehung (durch Athene, Calypso, Venus) oder hauptsächlich einer Mentor-Vaterfigur zu tun? Wer ist in dieser Bildfolge ErzählerIn und Erzählsujet (das also, was gerade erzählt wird), und wie ist es dabei um die Figuration des Erzählens und des Erziehens bestellt? Solcherlei Fragestellungen kommen – zusammen mit Telemach und Calypso – auf der Insel und auf der Wand des Salons im Bürgerhaus an. Die Ankunftsszene spielt sich eher im Hintergrund ab, an einem Strandabschnitt, hinter dem das glitzernde Meer und auch gerade noch das kleine sinkende Schiff zu sehen sind. [Abb. 34; siehe auch Abb. 49] Zwar sind Schaumkronen erkennbar, doch von einem richtigen Unwetter samt aufgewühltem Meer kann nicht die Rede sein, dieses scheinen die Schiffbrüchigen schon hinter sich gelassen zu haben. Mentor – eigentlich die verwandelte Athene, die Telemach in Gestalt Mentors begleitet und beschützt – präsentiert der von links herbei eilenden Calypso mit einer Geste seines rechten Arms den in orangefarbene Kleidung gehüllten Königssohn, welcher mit seinem Kopf ein Nicken als Begrüßung bzw. Ehrerbietung in Calypsos Richtung andeutet.670 Dabei bildet diese Dreiergruppe wiederum mit dem direkt hinter Telemach versinkenden Schiff ein Dreieck, welches auch in dem in einer Spitze zulaufenden Strandabschnitt erkennbar ist. Formalästhetisch gesehen stehen Dreieck bzw. Trichterform, die den weiblichen Genitalien nachempfunden sind, für das weibliche Geschlecht, in das die beiden männ670
In der Warendorfer Tapete ist die Stelle mit dem Gesicht des Telemach
stark beschädigt, weshalb die Stadt Spenden unter der Initiative „Gebt Telemach sein Gesicht zurück!“ sammelt.
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Abb. 34 Telemach-Tapete in Warendorf, Klosterstraße 7, Szene 2: Ankunft von Telemach und Mentor auf der Insel.
lichen Figuren visuell eindringen. Die Bildsprache der Tapete ‚argumentiert‘ also auch weiterhin stark geometrisch und über konkrete Ausrichtungen der Elemente zueinander und im Bildraum, sodass geometrische Formen entsprechend als Zeichen für geschlechterspezifische Ereignisse und Prozesse gesetzt sind. Im Vordergrund der Szene stehen unter hohen Bäumen vier Nymphen im Kreis. Die den BetrachterInnen den Rücken Zuwendende deutet dabei mit dem linken Arm eine Geste erhöhter Aufmerksamkeit an und schaut in Richtung der Schiffbrüchigen. Überhaupt sind die Hand- und Fingerhaltungen der Figuren sehr differenziert. Auffällig ist insbesondere der immer wiederkehrende Zeige-Gestus. Weiter links verteilt sind noch vier weitere Nymphen zu sehen: Zwei stehen eher versteckt zwischen den Bäumen und schauen in Richtung Strand, eine weitere ist zwischen diesen Bäumen und einer steinernen Sitzbank angeordnet, auf der schließlich Nymphe Nummer vier ebenfalls wieder mit einer Zeigegeste sitzt, wodurch die Szenenfolge für den Betrachterblick flüssig ineinander übergeht. Die Sitzbank am Übergang von der zweiten zur dritten Szene erfüllt zwei besondere Funktionen für die Komposition und das Narrativ der Tapete: von ihr aus wird über Blicke und Gestik eine (Wahrnehmungs-)Linie bis zu den Ankömmlingen am Strand gezogen; und sie bildet zudem in einer Art ‚Neumodellierung‘ die sogenannte Mammia-Bank nach, die bei Ausgrabungen in Pompeji gegen Ende des 18. Jahrhunderts gefunden worden ist. Herzogin
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Anna Amalia ließ sich 1789 auf ihr portraitieren, dadurch ist sie ins kulturelle Gedächtnis übergegangen.671 [Vgl. Abb. 20] Helke Kammerer-Grothaus hat die für die detaillierte Bildtapetenanalyse zentrale Feststellung getroffen, dass „[…] im Zusammenhang mit der Rezeption antiker Grabformen nicht etwa das ganze Mammia-Monument kopiert wurde, sondern eben nur die Bank. Das ist ein Herausgreifen von Motiven, die – wo sie erscheinen – den Totenkult der Antike zitieren.“672 In der Tapetenszene wird die Bank mit einem Empire-Fries, das spielende Putten darstellt, geschmückt, und bekommt so die Funktion eines Pavillons in der Natur. Dies waren architektonisch speziell markierte Orte für Zusammenkünfte und geselligen Austausch in Landschaftsgärten. Trotz dieser verspielten Version bleibt die Bank aber auch hier ein Verweis auf die antike Kultur für gebildete BetrachterInnen, welche mit den Ausgrabungen in Pompeji vertraut sind, und führt die sinnstiftende Rolle der Architekturkulisse in Lesrichtung weiter fort. Die Bank-Gruppe ist sehr harmonisch in die umgebende Natur eingehüllt; es ranken sich Schlingpflanzen an den Bäumen entlang, von denen zwei, wie zum Spiel und zum Schmuck gleichermaßen geeignet, über den Nymphenfiguren auf und neben der Bank als Girlanden angeordnet sind. Die größere davon besteht aus einer mit Trauben behängten Weinrebe. Dieser Schmuck unterstreicht das Feierliche der Ankunft der beiden Männer und verweist ebenso wie die aufgeregten Gesten und das Versammeln der Nymphen auf die dem normalen Ablauf auf der Insel enthobene Situation. Die Aufmerksamkeitslenkung auf die Reisenden erinnert an die Gastgeberqualitäten von Hofdamen, die sich um die männlichen i.d.R. adoleszenten Fremden kümmerten, diese „Hofdamen […] galten als regelrechte ‚Liebhaberinnen der Fremden‘. Sie nahmen sich der jungen Männer an, vermittelten ihnen die Sitten und Gebräuche eines unbekannten Hofes, unterrichteten sie in der fremden Sprache und korrigierten ihr gesellschaftliches Auftreten. Hofdamen fungierten somit als Mediatorinnen zwischen einer lokalen Hofkultur und den fremden Besuchern.“673 Die Nymphen übernehmen also hier nicht nur eine Gastgeber-, sondern auch eine Vermittlungs-, Unterweisungs- und Mediatorinnenfunktion sowie eine
671
Jan Assman: Das kulturelle Gedächtnis, wie Anm. 210.
672
Helke Kammerer-Grothaus: „Antikenrezeption und Grabkunst“, in: Vom
Kirchhof zum Friedhof. Wandlungsprozese zwischen 1750 und 1850, Kasseler Studien zur Sepulkralkultur, 2, Kassel 1984, S. 125–136. 673 Antje Stannek: Telemachs Brüder, wie Anm. 629, S. 235.
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Liebhaberinnenrolle. Allerdings wird auf formaler Ebene ein Eindruck von Ordnung und Legitimität erweckt, der sich wie auch bei der ersten Szene insbesondere durch die Anordnung der botanischen Elemente ergibt: Zum einen betonen die hochgewachsenen Bäume die Vertikalität der Gesamtszenerie, die sich keinesfalls nur entlang der Längsachsen der von den BetrachterInnen abgelaufenen Wände zieht, sondern vertikale gleichsam wie horizontale Achsen einbezieht, und zum anderen weisen zwei Bäume der jeweils Girlanden tragenden Baumgruppen über Knicke wieder in Lesrichtung nach links, wie in Szene eins die Palmwedel. Auch hier scheint also nichts zufällig zu wachsen, was auf den ersten Blick vielleicht noch so anmutet.
Dritte Szene: Telemach erzählt von seinen Abenteuern Die nächste Szene schließt sich wie oben beschrieben direkt an die Bank-Gruppe an und erweckt den Eindruck, die Handlungen der Tapete würden simultan geschehen. Dennoch interagieren die Figuren dieser dritten Szene, der ‚Erzählszene‘, nicht mit den Figuren der benachbarten Szenen, sodass sie als eigenständiger Bildausschnitt respektive ein für sich stehendes Bild gelten kann. Dieses zeigt nun die Dreiergruppe bestehend aus Telemach, Mentor und Calypso auf einer runden, aus Gras geformten Sitzgelegenheit nebst einigen um sie herum verteilten Nymphen. Die Zahl drei ist in der Tapete immer wieder hervorgehoben und verweist somit auf die Dreiecksbeziehung, das ‚love triangle‘, zwischen den ProtagonistInnen. Telemach erzählt den gespannt Lauschenden von seinen bisher erlebten Abenteuern, ganz in der Homer’schen Tradition der mündlichen Überlieferung und des Geschichtenerzählers. Damit kommt eine Metaebene auf, die sich darauf bezieht, dass im Moment des Betrachtens dieser tapezierten Wandbilder auch gerade etwas im realen Raum erzählt bzw. nachempfunden wird, während diese Bilderzählung wiederum auf einer Textvorlage und somit seit sehr früher Zeit überlieferten Erzählinhalten beruht. Erzählen und Erläutern sind schließlich auch wichtige Formen des Unterrichtens bzw. der Erziehung, insbesondere im ausgehenden 18. Jahrhundert. Über was, und v.a. in welcher Form, die Betrachtenden unterrichtet werden, lässt sich wiederum nur aus der detaillierten Analyse der Elemente und des Aufbaus der Szene herleiten. Die runde Form der Sitzgelegenheit, auf der diese Gruppe platziert ist, nimmt die Mammia-Bank wieder auf; zudem bildet auch die Anordnung der Zuhörerinnen einen Kreis, einschließlich einer in Rückenansicht zu sehenden
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Nymphe. Letztere hält ein Musikinstrument in der rechten, stark nach hinten verlängerten Hand, diesmal ein Tamburin. [Vgl. Abb. 17] Hierbei handelt es sich wieder um das ‚bewegte Beiwerk‘ mit seiner aktiven Teilhabe an der Bedeutungsproduktion bzw. Semiose, wie auch bei der Äolsharfe, sodass die musikalische, harmonische, festliche Stimmung aus den vorigen Szenen hier also erneut evoziert wird. In der Textvorlage von Fénelon wird seit dem Eintreffen Telemachs hauptsächlich erzählt und gesungen; dabei werden zahlreiche Mythologeme und Figuren aufgerufen wie beispielsweise der Trojanische Krieg, das Schicksal von Orpheus in der Unterwelt oder die Erzählung von Jupiter und Semele. Dies könnte als eine Autorenstrategie gewertet werden, um den eigenen gerade festgehaltenen Text genealogisch in einen Meta-Text der abendländischen kulturellen Überlieferung einzuordnen. Es wird damit aber auch auf die Wurzeln jedweden Textes und auch bildlicher respektive Bild-Sprache in einer mündlichen Kommunikationskette verwiesen, die, einmal in Gang gesetzt, immer neue Fort-Schreibungen nach sich zieht. Ihre Signifikate bestehen fort, sie wandern durch Zeiten und Räume. Fénelons Integration von Mythen, die chronologisch vor den Telemach-Abenteuern einzuordnen sind, seine Überarbeitung des noch nie in dieser Ausführlichkeit behandelten Telemach-Stoffs, der seinerseits wiederum ein erzählerischer Nebenstrang des Odysseus-Epos ist, und die (erneute) Überarbeitung dieses Stoffes in Form der Tapetenbilder zeugen von der Kraft und auch der Notwendigkeit der Mythen. Laut Hans Blumenberg behalten diese ihren narrativen Kern bei, generieren und verbreiten jedoch in ihrer schier unendlichen Ausdeut- und Anwendbarkeit Inhalte, die anders nicht existieren könnten – gerade durch ihre Bildlichkeit und ihre Eigenschaft, scheinbar Dichotomien bzw. scharfe Entgegensetzungen aufzulösen und somit Harmonie (wieder-)herzustellen.674 Mit Roland Barthes wurde indes schon argumentiert, dass genau mit diesem gerade auch bildlichen ‚Wiederherstellungsverfahren‘ und der eigentlich nie endenden Semiose auch immer wieder neue Mythen gebildet und verfestigt werden, wie auch im täglichen In-Bezug-Setzen mit den tapezierten Räumen. Somit können mythologische Elemente und Szenen als Korrektiv realiter bestehender Missstände dienen. Sie sind zur Zeit der Romantik zu universellen Symbolen geworden, wie es hier in der Bildtapete beispielsweise mit der Äolsharfe der Fall ist, die einen Mythos von Harmonie schaffender Harfenmusik in der freien Landschaft aufnimmt und weitertradiert. Dies ist umso interessanter und für die Betrachtung von Bildtapetenräumen 674
Vgl. die Argumentation in: Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frank-
furt am Main: Suhrkamp 1986, sowie die Ausführungen zu Roland Barthes und dessen Mythosbegriff in Kapitel 2.3 der vorliegenden Arbeit.
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Abb. 35 Pierre Narcisse Guérin: Aeneas berichtet Dido vom Untergang Trojas, Musée du Louvre, Paris, ca. 1815. Abb. 36 Antonio Canova: Paolina Borghese als Venus Victrix, Marmor, Länge 200 cm, Rom, Galleria Borghese, 1804–8.
wichtig, als es sich eben nicht um ein reines Vor-Augen-Stellen klassizistischer Ästhetik handelt, sondern die aufkommende Romantik und der mit ihr verbundene Wunsch nach einer Weltharmonie und der Verbindung von Gegensätzen hier ebenfalls Spuren hinterlässt.675 Wie ich schon festgestellt habe, funktioniert diese Überwindung von Gegensätzen bzw. der Versuch eines Korrektivs
675
In dieser Form hauptsächlich in der Philosophie der Frühromantik bei
Schelling, Novalis und Schlegel zu finden.
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über eine (Bild-)Strategie der Entschärfung und der in allen Details sichtbaren Ordnungsschaffung, die sich vom ‚Kern‘ der Aussagen der mythologischen Einzelelemente zuweilen stark entfernt und ein neues Aussagesystem schafft. Für dieses ist zunächst die Anordnung der Figuren in der Erzählrunde der Tapete ein zentrales ‚Argument‘. Hier sitzen Telemach und Mentor rechts und Calypso links, wobei Telemach und Calypso sich direkt gegenüber sitzen und anschauen, während Mentor in Denkerpose, den Kopf in die rechte Hand gestützt, in Richtung der BetrachterInnen schaut. Die Telemach-Calypso-Gruppe erinnert sehr stark an eine Komposition von Guérin, die den Äneas in einer Erzählsituation mit Dido zeigt.676 [Abb. 35] Die Parallelen und Unterschiede zwischen den Texten von Vergil und Fénelon können an dieser Stelle nicht ausführlich untersucht werden,677 doch ist es interessant zu beachten, dass die Äneas-Erzählsituation nach Guérin für die hier betrachtete Episode des erzählenden Telemach Entsprechungen auf der Ebene der Figurendarstellung und -gestiken findet. Guérins Äneas sitzt mit einem angewinkelten und einem ausgestreckten Bein der Dido gegenüber und öffnet seine linke Hand erläuternd in ihre Richtung; Telemach befindet sich auf der Tapete in ebendieser, nur spiegelverkehrten Position. Dido liegt leicht nach hinten gelehnt in einem weißen Kleid mit Krone und Schleier und umarmt Äneas’ Sohn Ascanius in 676
Es handelt sich um „Äneas und Dido“ von Pierre-Narcisse Guérin (1815,
Paris, Louvre). Siehe dazu: Josette Bottineau und Elisabeth Foucart-Walter: L‘inventaire après-décès de Pierre-Narcisse Guérin, Société de l‘histoire de l‘art français, Archives de l‘art français, Nouvelle période – Tome XXXVII von 2004 sowie die Neuauflage der Cahiers du Dessin Français n°13. Pierre-Narcisse Guérin (1774–1833), Édition Galerie de Bayser 2006. 677
Die Episode in dieser Tapetenszene weist inhaltlich große Ähnlichkeit
mit der Äneas-Episode auf; es ist überdies wahrscheinlich, dass Fénelon sich mit seinem Roman auch an Vergils Epos orientiert hat: Sowohl Äneas als auch Telemach sind ihren Vätern verpflichtet und Idealverkörperungen eines Königssohns, der bald ein großer Herrscher werden soll. Beide werden schiffbrüchig und landen – jeweils als Rahmenhandlung der eigentlichen Kerngeschichte – im Umkreis einer mythologischen Frauengestalt: Äneas in Karthago bei Dido und Telemach auf Calypsos Insel. Dort durchleben beide den inneren Kampf von Pflicht gegen Neigung (auch das Hauptthema schlechthin der großen französischen klassizistischen Dramen von Racine und Corneille), da sie sich zwar verliebt haben, jedoch nicht verweilen können, um ihre Reise wieder aufzunehmen und ihre Aufgaben zu erfüllen. Dieser ursprünglich schon in der Antike bearbeitete Konflikt mit seinen moralischen Konsequenzen ist – wie sich auch weiterhin noch zeigen wird – nicht zufällig in der Kunst und Dekoration des späten 18. bzw. frühen 19. Jahrhunderts mit Vorliebe neu behandelt worden. Das Ende der Liebesaffären unterscheidet sich allerdings stark voneinander; Dido bringt sich bekanntermaßen um, während auf Calypsos Insel eine Dreiecksaffäre beginnt, die mit dem Zorn Calypsos und der erzwungenen Flucht Telemachs endet.
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Gestalt des Amor mit einem Arm, während der andere locker ausgestreckt über ihrem Oberkörper liegt. Genau diese Haltung nimmt wiederum spiegelverkehrt Calypso auf der Tapetenszene ein. Da hier aber die Amor-Figur (noch) nicht auftaucht, hält sie mit einem Arm ihren Schleier – es wird so angedeutet, dass sie sich bereits als Braut bzw. Partnerin Telemachs sieht, so wie Dido tatsächlich eine sexuelle Verbindung mit Äneas einging. Weitere Verknüpfungen visueller Art zwischen der Äneas-Dido-Geschichte und der Telemach-Tapete können durch die Elemente des Feuers/Rauchs und natürlich Venus und Amor hergestellt werden, denn in der „Äneis“ wird Dido als von Liebe vergiftet bzw. entbrannt beschrieben und ihr Liebesbegehren so mit fehlender Legitimation und Verderbnis gekoppelt. Die Schwierigkeiten und Hindernisse der Liebe zwischen Telemach und Eucharis werden also visuell in einen Kontext und eine entsprechende Symbolik eingebettet, welche literarisch gebildeten RezipientInnen seit der Antike bekannt ist. Noch eine weitere Figur aus der Kunstproduktion um 1800 ist eine deutlich markierte Vorlage für die liegende Calypso und hat somit Anteil an der Schaffung des (neuen) Ausage- und Erziehungssystems: In ihrer sehr spezifischen Gestik respektive mit ihrer an den Kopf geführten Hand ist Calypso kompositorisch analog zu Antonio Canovas Modellierung der Paolina Borghese als „Siegreiche Venus“ gestaltet und führt, allgemein gesprochen, vielleicht eine gerade durch (Wort-)Zauber entflammte Liebende vor Augen.678 [Abb. 36] Das hier im Fokus stehende semantische Feld baut sich also rund um Feuer, Liebe, Begehren, Rituale und Zuschreibungen an eine Art mythologisch hergeleitete Weiblichkeit auf. Auch die hier dieser Venus-Figur nachempfundene Calypso ist eine siegreiche weibliche Gestalt, oder zumindest übt sie in diesem Moment nach Telemachs Ankunft noch ihre Macht über die Neuankömmlinge aus und lässt sich von ihnen unterhalten. Ihr Ausdruck, der von Gefühlen des Siegens und der erotischen Macht geprägt ist, resultiert daraus, dass sie sich ihrer selbst und ihrer Ausstrahlung bzw. ihrer Wirkung auf den jungen Königssohn (noch) sicher ist und vor allem daraus, dass sie über die Gabe der Unsterblichkeit verfügt.679 Sie denkt zu Beginn des Dritten Buches bei Fénelon über Telemachs Vorzug nach, aus seinen Fehlern gelernt und daraus eine gewisse Größe und
678
Es handelt sich um die Gestaltung der Paolina Borghese als Venus
victrix („Siegreiche Venus“, 1815, Rom, Museo e Galleria Villa Borghese). Siehe dazu: Jan Woratschek: Antonio Canovas Mythologische Statuen, Frankfurt: Lang 2005; Johannes Myssok: Die Erneuerung der klassischen Mythen in der Kunst um 1800, Petersberg: Imhof 2007. 679 Vgl. Les Aventures, wie Anm. 365, Buch I, S. 125.
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Edelmut sowie Weisheit, Voraussicht und Mäßigung entwickelt zu haben: „Elle trouvait une noblesse et une grandeur étonnante dans ce prince qui s’accusait lui-même, et qui paraissait avoir si bien profité de ses imprudences pour se rendre sage, prévoyant et modéré.“680 Der Moment des Erzählens/Zuhörens zieht erstens eine Erkenntnis, einen Lernprozess nach sich und bewirkt zweitens, dass Calypso anfängt, sich in den tapferen Helden zu verlieben: sie wird von seinen Worten geformt und durchdrungen.681 Wie mit Foucault schon festgestellt wurde, sind in Alltagspraktiken, wie auch dem Anwenden von Sprache oder allgemeiner dem Kommunizieren, bereits Machttechniken enthalten, denn die Erzählung hat auch „eine distributive Macht und eine performative Kraft (sie macht, was sie sagt). Somit schafft sie Räume.“682 Auch in der Insellandschaft und erst recht im Bewegungsraum der Betrachtersubjekte werden nun solche (sozialen) Räume eröffnet und sogleich mit dem Liebesthema aufgeladen. Dazu ist jedoch zu bemerken, dass die auf der Tapete visualisierte Gruppensituation der zweiten Erzählung im Textverlauf entspricht, nachdem Mentor bereits Rücksprache mit seinem Zögling über die durch Calypsos Gefühle lauernden Gefahren gehalten hat; es hatte am Tag zuvor bereits eine erste große Runde in der Grotte gegeben, die nicht auf der Tapete dargestellt ist. Erst diese zweite Runde führt auch zu den darauf stattfindenden dramatischen Ereignissen und dem Liebeskonflikt. Die Hinweise im Katalog Nouvel-Kammerers ernst zu nehmen683 und den visuellen Vorlagen für einige Tapetenszenen nachzuspüren erweist sich als ebenso sinnvoll wie der Blick in Fénelons Text, um Erkenntnisse über die Auswahl der Tapetenszenen und ihr Zusammenwirken zu gewinnen. Zwei weitere Elemente der Erzählszene schließen wiederum an die schon besprochenen Leitmotive der antikisierten (Ideal-)Architektur und des sakralen Bildraums an: Zum einen befindet sich hinter der Gruppe auf der Bank ein stilisierter Brunnen mit einem drei- bzw. vierstufigen Wasserspiel. Hier findet eine Architektonisierung des Brunnens samt Wasser statt – der geometrisch und in die Höhe aufragend dargestellt ist und das Wasser eben nicht spielerisch verspritzt – sowie ferner auch der Lichtung als ein Haus, das mit Bäumen
680
Ebd., S. 155.
681
Albrecht Koschorke in Körperströme: „Die Rezitation zählt zu den
beliebtesten Paarbildungsritualen in den gebildeten Kreisen jener Zeit. Der Mann rezitiert und eignet sich auf diese Weise einen Anteil an der auktorialen Macht und Herrlichkeit zu, die Frau wird von seinen und den Worten des Dichters durchdrungen“, wie Anm. 61, S. 158. 682
De Certeau: Kunst des Handelns, wie Anm. 29, S. 228.
683
Odile Nouvel-Kammerer (Hg.): Papiers Peints Panoramiques, wie Anm. 22,
S. 262.
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Tapezierte Liebes — Reisen
an Stelle der Wand und des Daches versehen ist. Diese Bäume schützen die Figurengruppe und isolieren sie von den anderen Szenen, so wie es sonst die Wände eines Hauses tun. Zum anderen lassen sich eigentlich zwei voneinander unterscheidbare Gruppen-Anordnungen ausmachen: die schon beschriebene Dreiergruppe auf der Bank, die in ihrem Halbkreis für sich und somit getrennt von den Zuhörerinnen hinter Calypso gesehen werden kann, und die große Gruppe weiblicher Figuren links vom Brunnen – sozusagen das ‚Standardpersonal‘ auf der Insel, – die wiederum abgesetzt ist von den beiden männlichen Figuren. Von diesen beiden ist Mentor in seiner Denkerpose besonders herausgehoben; er ist von Anfang an derjenige, der nicht voll an der Konversation beteiligt ist und auch keine Figur direkt anschaut, sondern sorgenvoll und in sich versunken leicht nach unten blickt. Seine Sonderstellung im Gefüge der Figuren soll noch näher beleuchtet werden. Die am äußeren Rand links der Gruppe stehende Nymphe hält einen kleinen Gegenstand, der wie eine Schale oder auch eine Fruchthülle aussieht, in den Dampf eines brennenden Kessels. Sie bereitet mit dieser rituellen Handlung auch bereits optisch die sich anschließende nächste Szene, die mit dem Palast und der Figur der Venus in den Bereich des Olympisch-Göttlichen verweist, vor. Dieses Bildelement spielt wie schon zuvor die Pomona-Szene mit einer Symbolik des Heiligen, Reinen, Geordneten, die auf formaler Ebene mit der geometrischen Ordnung der botanischen Elemente verknüpft ist. Nach Gernot und Hartmut Böhme ermöglicht das Element Feuer außerdem „das Seßhaftwerden um die Herdflamme“, wobei ferner „die geherdete Flamme die Kunst des Schmiedens“ und somit die „Ursprünge menschlicher Kultur“ ermöglicht,684 doch „hängen Feuer und Sexualität ambivalent zusammen: im Segen des gemeinschaftsstiftenden Herdes und im Fluch des unlöschbaren Begehrens, das nicht ‚geherdet‘, sondern wild flammt.“685 Es ist vor diesem Hintergrund also sehr entscheidend für die Bildanalysen der Tapetenszenen, dass das Feuer nicht wild lodert, sondern in Gefäßen und in Form von Ritualen geherdet, gezähmt und eingefangen ist. In der Zusammenstellung mit den anderen Elementen der Vier-Elementen-Lehre und vor allem dem oftmals auch in Rauchform vorkommenden Wasser wird auf eine sinnlich wahrnehmbare Weise – denn die Kräfte oder dynameis der Elemente können nur mit Hilfe von Sinnesorganen wahrgenommen werden, die so einen Zugang zu und Erklärung der Welt leisten686 – ein harmonisches Bild von einer nicht (mehr) wilden oder unbeherrschbaren Welt gegeben. Auch der Bezug
268
684
Gernot und Hartmut Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft, wie Anm. 668, S. 68.
685 686
Ebd., S. 69. Ebd., S. 93 und S. 117.
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zu Didos Begehren, das nach Äneas entbrannte, ist hier wieder deutlich. Auf einer isolierten und von den Reisenden nur zufällig durch eine Notsituation betretenen Insel, die vor allem von Nymphen, also Figurationen von in ihren Trieben weitgehend ungehemmten weiblichen Gestalten, bevölkert und dadurch eigentlich schon als ‚ausschweifender‘ Ort markiert ist, muss eine solche Bild- und Formensprache als ein sehr spezifisches neuartiges Aussagesystem aufgefasst werden. Komplexe Sachzusammenhänge sind so erstens auf ganz basale Elemente zurückgeführt und es wird ein ‚Erklärungsprogramm‘ vorgestellt, nach dem „alle übrigen Naturdinge und Prozesse […] von der Basis der Vier als ihren Erzeugenden verstanden werden“ sollen.687 Zwar ist zur Zeit der Bildtapeten die Vier-Elementenlehre als wissenschaftliches Theoriekonstrukt eigentlich überholt, jedoch „als gedankliche Möglichkeit nicht tot. Sie lebt auch nach 1800 in anderen Traditionen fort, in Traditionen der Alltagsvorstellungen und der künstlerischen Symbolik.“688 Für die Tapeten-Bilderwelt, die hier entfaltet wird, ist also zweitens bedeutsam: „Sie ist als Lehre ein Ausdruck des historischen und kulturellen Umgangs des Menschen mit der Natur, und das heißt auch mit sich selbst.“689 Dies heißt, wie die Figuren auf der Tapete mit Elementen der Natur interagieren, sagt weniger über ‚das Feuer‘ oder ‚die Wärme‘ an sich aus, sondern eher etwas darüber, wie diese Figuren sich zueinander verhalten und welche Rückschlüsse auf die durch sie gebildete Gemeinschaft und ihre Werte möglich sind.
Vierte Szene: Venus übergibt Amor an Calypso (Palastszene) Die gerade beschriebene Erzählszene und die fünfte Szene, die Jagdszene, welche die Beziehung zwischen Telemach und Eucharis visualisiert bzw. verdichtet, sind optisch durch eine Zwischenszene mit einer gigantischen, fantastischen Architekturanlage voneinander getrennt. Hier ist der Palast der Calypso zu sehen, vor dessen Stufen Venus den kleinen Amor an Calypso übergibt. Symbolisch ist also dargestellt, wie Calypso sich verliebt. Außerdem ist deutlich gemacht, welch aktive Rolle Venus – eigentlich die Gegenspielerin der weisen Athene, die in Gestalt Mentors auf der Insel verweilt – dabei spielt. [Abb. 37]
687 688 689
Ebd., S. 97. Ebd., S. 140. Ebd., S. 142.
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Abb. 37 Telemach-Tapete in Warendorf, Klosterstraße 7, Szene 4: Palastszene.
Zum Palasteingang führen zwei steile Treppenaufgänge, die ziemlich genau im rechten Winkel zueinander stehen, nach links oben, sodass das Palasthauptgebäude in einer Untersicht in der linken oberen Hälfte des Bildausschnitts zu sehen ist. Aufgrund leichter Verzerrungen der Perspektive sind Stirn- und Längsseite gleichermaßen gut zu sehen. Nicht nur, dass über die Treppenführung wieder die Lesrichtung nach links (wie bei den Baumästen und Palmwedeln) weitergeführt wird; das geometrische Prinzip der Gesamtszenerie wird darüber hinaus noch perfektioniert: Der dominante Schattenwurf schräg über der Haupttreppe verläuft wiederum im stumpfen bzw. spitzen Winkel zu den beiden die Stufen flankierenden Säulen; ein weniger leicht zu bemerkender Schatten auf dem Säulengang im Hintergrund dieser Haupttreppe setzt die schräge Linie dann fort, die von den Stufenkanten links bis hinein in das diffuse Baumgrün zwischen Säulengang und Gebirge verläuft. Parallel verlaufende Linien, Winkel und Stufigkeit prägen sämtliche Elemente dieser Palastszene. Mit der Übergabe von Amor ist auch im Text von Fénelon eine Schlüsselszene markiert, wobei es wichtig ist zu wissen, dass die Erscheinung der Venus im sechsten Buch durch eine Erzählung Telemachs im vierten Buch antizipiert
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wird. Gerahmt von der Erzählsituation, in der er von seiner Irrfahrt durch die Mittelmeerregion berichtet, beschreibt er unter anderem seinen Aufenthalt auf Zypern, der Heimatinsel von Venus, und hebt dabei die Ausmaße ihres Palastes, den Rauch der sich ausbreitenden Aromastoffe und die verschiedenen Arten der Berauschung und sinnlichen Verlockungen hervor, die ihm unverschämt und zersetzend erscheinen.690 Genau solch ein Ort – einschließlich der wolkigen Rauchgebilde – wird nun auf der Tapete vor Augen geführt, wobei auch die anschließende Beschreibung des Telemach, wie er in den Wald flieht und sich wie ein gejagtes Tier fühlt, das den in seinem Körper steckenden Pfeil nicht entfernen kann, in der nächsten Szene der Tapete auftaucht.691 Die Binnenerzählung – Telemachs Wiedergabe seiner Abenteuer bis zur Ankunft auf der Insel der Calypso innerhalb Fénélons Gesamterzählung – bringt bereits Elemente und Motive auf, die für die spätere Entwicklung der Dreiecksgeschichte zentral sind. Die Angst vor der eigenen Lust bzw. das schlechte Gewissen, das mit den Tugend-Vorstellungen eines gut erzogenen, umsichtigen und vernünftig handelnden Charakters kontrastiert, sowie das Gefühl von Verlorenheit, Schwäche und Kontrollverlust werden durch ein Jagd-Beute-Schema sowie der thematisch naheliegenden Analogie des Ertrinkenden bzw. durch die Fluten Mitgerissenen zum Ausdruck gebracht. „J’étais comme un homme qui nage dans une rivière profonde et rapide“, erinnert sich Telemach in der zweiten Hälfte des vierten Buches, und ruft damit auch Assoziationen von einer weiblich konnotierten unergründlichen Wasserumgebung und dem darin kämpfenden männlichen Helden hervor: „[D]’abord il fend les eaux et remonte contre le torrent; mais, si les bords sont escarpés, et s’il ne peut se reposer sur le rivage, il se lasse enfin peu a peu […].“692 Der ‚Held‘ gibt auf, akzeptiert das Nachlassen seiner Kräfte, wird zum Gejagten und zum Opfer der Tricks und Intrigen von Venus und ihrem als gemein-gefährlich charakterisierten Reich. Zwei Bücher weiter im Text werden genau diese semantischen Komplexe wieder aktualisiert, indem Venus und Amor sich rächen wollen und diesmal Calypso eine rasende Leidenschaft einflößen, aus der auch wieder metaphorisch Jagd und Beute, Raserei und Verstandesverlust folgen. 690 Les Aventures, wie Anm. 365: „On brûle nuit et jour sur les autels les parfums les plus exquis de l’Orient, et ils formen tune espèce de nuage qui monte vers le ciel“, S. 184. 691 Wie ebd.: „Pendant ce trouble je courais errant çà et là dans le sacré bocage, semblable à une biche qu’un chasseur a blessée. Elle court au travers des vastes forêts pour soulager sa douleur; mais la flêche qui l’a percée dans le flanc la suit partout“, S. 185. 692 Wie ebd., S. 184f.
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Es soll noch kurz weiter auf den Text eingegangen werden: Der Großteil der für die Tapete wichtigen Ereignisse findet sich komprimiert im sechsten Buch. Im Anschluss an die Erzählrunde deutet sich eine geradezu unverhältnismäßige Begeisterung aller Zuhörerinnen-Nymphen für Telemach an. „Quelle mine! Quelle beauté! Quelle douceur! Quelle modestie! Mais quelle noblesse et quelle grandeur […]!“,693 meinen sie ihm bescheinigen zu können und zählen interessanterweise einige der vehement geforderten Eigenschaften des tugendhaften Bürgers des 18. und 19. Jahrhunderts auf. Die Harmonie auf der Insel wird fortan immer mehr getrübt und wandelt sich gegen Ende des Buches in ein chaotisches, gänzlich aus dem Gleichgewicht gebrachtes Szenario. Nun wird die Ankunft der Venus mit ihrem von Tauben gezogenen Wagen inmitten betörender Wolken beschrieben und wie Amor eine Flamme in Calypsos Brust entzündet; dies entspricht dem – schon an früherer Stelle in Variation enthaltenen – Bild der Entzündung von destruktiver Leidenschaft und findet sich innerhalb der Tapetenfolge genau in der Mitte dargestellt. Was nicht auf der Tapete dargestellt ist, sind die Weitergabe der Flamme Amors von Calypso an Eucharis – ursprünglich zur Erleichterung ihrer Qualen und bald darauf Ursache der großen Eifersucht Calypsos – und die folgende Unterredung Mentors mit Telemach.694 Immer wieder betont Fénelons Text auf der einen Seite das Motiv des Feuers, Entflammens und Brennens – „Vouz brûlez vous-même, ô malheureux jeune homme […]“ – und auf der anderen Seite die auf dem Spiel stehenden Werte wie Unschuld, Einfachheit, Bescheidenheit und Tugend.695 Es wird explizit gemacht, dass die nun auch Telemach ergreifende leidenschaftlich-sinnliche Liebe, die „aveugle passion“,696 keine natürliche und etwa wünschenswerte Form der Liebe ist, die auch genau betrachtet nicht aus einer freien Entscheidung entstanden ist, sondern vielmehr aufgrund göttlicher Zaubereien; es handelt sich vielmehr um eine schnellstens zu verlassende Irrsituation. Die nach und nach von Calypso durchlebten Veränderungen, die sich auch körperlich in einer nachlassenden Schönheit äußern, sind der Tapetenfigur Calypso allerdings nicht anzusehen; diese verändert sich kaum, wie auch die anderen schwer zu differenzierenden Figuren. Zwar ist die von Mentor initiierte Jagd, die Telemach und Eucharis einander näherbringt und Calypsos Eifersucht schürt, in einer kleinen Szene wieder mit in die Tapetenlandschaft integriert, doch ist hier ebenso wenig die Raserei der Calypso wie die Gespaltenheit Telemachs aus der Fénelon’schen Narration thematisiert.
693 694 695 696
272
Wie ebd., S. 223. Wie ebd., S. 226. Wie ebd., S. 228f. Wie ebd., S. 228.
�. Die Paysage de Télémaque
Im Text und den Variationen der Venus-Amor-Intrigen in Buch vier und sechs vermischen sich Erzählung bzw. Erinnerung, Fantasie und Ängste mit der gerade erlebten Situation, wobei die Bilder für die Wand sehr viel harmonischer respektive harmonisierender sind als es in dem Text von Fénelon der Fall ist. Auch die psychische Verfasstheit der ProtagonistInnen ist nicht wiedergegeben. Aber auch hier muss man sich erneut klar machen, dass die Tapetenbilder keine reine Adaptation der Fénelon’schen Erzählinhalte sind oder sein sollen; der diskursive Zusammenhang, in dem die Tapetenbilder zu verorten sind, und ihre spezifische Weise der Bedeutungsproduktion sind von dem Text Fénelons und wiederum dessen Kon-Texten grundsätzlich zu unterscheiden, und dies nicht (nur) aufgrund der im 19. Jahrhundert bereits zu konstatierenden Historizität des Textes. Darauf wird in den folgenden Kapiteln 4.4 und 4.5 näher einzugehen sein. Doch nun zurück zum Bild auf der Tapete und der erwähnten Palastarchitektur. Die Anlage des Tapetenpalastes erstreckt sich insgesamt auf drei Ebenen, die jeweils reichlich mit Natur- und Architekturelementen geschmückt sind. Der breite untere Treppenaufgang bzw. die Haupttreppe ist von zwei hohen Säulen auf Podesten flankiert, die jeweils von korinthischen Kapitellen und darauf gestellten weiblichen Skulpturen bekrönt sind. Die Skulpturen – insbesondere die rechte mit dem Füllhorn in der Hand – nehmen das Pomona-Motiv wieder auf bzw. verweisen auf die für die Insel charakteristische Weiblichkeit und Fruchtbarkeit. Die in mehreren Szenen wiederholt auftauchenden Nymphenskulpturen sind hauptsächlich durch ihre steinern-graue Farbigkeit und Platzierung auf Sockeln oder Podesten von den ‚lebenden‘ Nymphen zu unterscheiden, denn alle Figuren auf der Tapete wirken sowohl sehr filigran als auch äußerst plastisch. Die ‚Lebenden‘ zeichnen sich jedoch durch eine besondere Beweglichkeit respektive Dynamik ihrer Gesten und Haltungen aus, sodass von reinen Staffage-Figuren trotz ihrer im Vergleich zur Umgebung minimalen Größe nicht die Rede sein kann.697
697
Zum Problem der Staffage (im Zusammenhang mit der Malerei Pous-
sins), vgl. das Kapitel 2.2.2 in dieser Arbeit, insbes. den Teil zu „Landschaftsmalerei, Gartengestaltung und Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts“. Siehe auch Paul Zubek über die Figurendarstellungen auf Bildtapeten: Paul Zubek: „Weltliteratur auf Zimmerwänden – einiges über Tapeten und Literatur“, in: Bilder zur Weltliteratur, Ausst.-Kat. Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum, Neumünster: Schleswig-Hosteinisches Landesmuseum 1986, S. 35–40, hier S. 39: „In der Regel finden sich gleichsam als neutrales Bildkontinuum Landschaftsdarstellungen, in die nur relativ kleine figürliche Szenen eingelagert werden […]. Diese Landschaft mit ihren Ausblicken auf das Meer, auf Felsenberge und klassische Tempelanlagen bildet jenes panoramaartig sich über alle vier Raumwände erstreckende Kontinuum, in
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Neben den Säulen befinden sich wiederum zwei in entgegengesetzte Richtungen blickende Löwenfiguren, die Wasser in schmale Wasserbecken speien. Das Wassermotiv ist insbesondere in der Palastszene auf alle Ebenen verteilt; auf den sechs Vorsprüngen des Treppengeländers entlang des breiten Treppenganges befinden sich an beiden Seiten jeweils Miniatur-Springbrunnen sowie am Ende noch jeweils zwei – diesmal sich gegenseitig anblickende – Löwenstatuen; ein großer Springbrunnen mit einer hoch aufsprudelnden Wassersäule befindet sich im Innenhof und drei weitere auf der zweiten, mit blühenden Büschen bepflanzten Ebene; außerdem fließen von der runden Terrasse in der untersten Palastmauer drei Rinnsale von Wasser speienden Löwenköpfen in den angedeuteten Wassergraben hinunter. Wenn man mit dem Blick der ersten Treppe hinauf folgt, nimmt man den als Peristyl ausgearbeiteten Innenhof wahr, dessen Säulengänge wieder mit zahlreichen Statuen geschmückt sind, sowie die im Hintergrund aufragenden Laubbäume, Palmen und schließlich Gebirgszüge, die ebenfalls drei Ebenen – diesmal an Naturelementen – bilden. Links führt eine weiter entfernte Treppe zum zweiten Terrassenlevel bzw. der dritten Ebene, wo sich der eigentliche Palastbau befindet. An dessen Längsseite tritt ein Portikus mit sechs Säulen hervor; die zur Betrachterseite zeigende Stirnwand weist einen weiteren Eingangsbereich mit sechs (bzw. fünf sichtbaren) kleineren Säulen auf. Der Palast wirkt v.a. durch die verschiedenen dicken Mauerwerke und den Wassergraben hermetisch und wehrhaft und kann mit seiner völlig symmetrisch durch Pilaster unterteilten Fassade überdies als Anlehnung an die italienische Villenarchitektur charakterisiert werden. Vom Seiteneingang führt noch eine zusätzliche, in zwei Abschnitte geteilte Treppenzone bis zu der runden Terrasse hinab. Auf dieser Treppe befinden sich sehr schemenhaft angedeutet zwei Figuren; zwei weitere stehen links vor dem Hauptportikus, von denen eine von der runden Terrasse zur Venus-Gruppe hinunter schaut. Diese Figuren erfüllen hauptsächlich die Funktion, die übermächtige Architektur nicht zu starr und unbelebt erscheinen zu lassen, denn der Palast erscheint hier auf der Tapete nicht vorrangig als eine Architekturskizze à la Blondel oder Desprez. Vielmehr dient er im Zusammenspiel mit Naturelementen, Figuren und (impliziten) Textverweisen sowie den Betrachtenden dem (sich im Moment des Betrachtens vollziehenden) Aufbau einer spezifischen Bildwelt des antikisierten, geordneten Sakralraums. Dass in dieser Szene Venus die zentrale Figur ist, kann man nicht nur aus Kenntnissen der oben präzisierten Passagen des Telemach-Textes und seiner Chronologie schlussfolgern, sondern auch anhand ihrer Attribute, die auffällig welches die figürlichen Szenen gleichsam nur als eine Art Staffage eingelagert erscheinen.“ Zubek erkennt hier die unabhängig von der Textvorlage produzierten Aussagekomplexe dieser Tapeten nicht als solche an.
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in ihre Nähe gerückt sind: ein blühender Rosenstrauch befindet sich rechts vom Treppenaufgang, und ganz links vorn bzw. unter dem Hauptgebäude und den Rinnsalen ist ihr Himmelswagen in einer bauschigen Wolkenformation zu sehen, die auch wieder das Element Wasser in einem anderen Aggregatzustand präsentiert. Dieses goldfarbene Gefährt wird von zwei weißen Tauben gezogen, welche sich schnäbelnd anschauen und den Eindruck verstärken, dass hier eine Sphäre besonderer Harmonie und Liebe zur Darstellung kommen soll. [Vgl. Abb. 37] Venus weist mit dem rechten Arm in einer gebieterisch-hoheitlichen Geste auf ihren Sohn Amor, der sich eher kindlich-anhänglich an Calypso schmiegt und dabei die Fackel, durch die Calypso in Liebe entbrennt, fast bedrohlich in die Höhe hebt, während er die Betrachtenden etwas herausfordernd anschaut. Die Gruppe ist durch das Feuer der Fackel, das fast die zeigende Hand der Venus berührt, miteinander verbunden. Hand, Fackel und Köpfe ergeben einen sanften Bogen, sodass auch in dieser Figurenkomposition die geometrisch-formale Gestaltung dominant ist. Die durch Wolken, botanische Elemente und hohe Säulen von den anderen Szenen deutlich abgegrenzte Palastszene kann als ein Höhepunkt der symmetrisch-harmonischen und mehrstufigen Komposition innerhalb des Tapetenganzen bezeichnet werden, sie liegt ungefähr in der Mitte der Bildfolge und markiert daher sowohl inhaltlich als auch kompositorisch einen Wendepunkt.
Fünfte Szene: Telemach und Eucharis brechen zur Jagd auf An die Palastarchitektur schließt sich die oben bereits erwähnte Jagdszene an: Telemach und Eucharis brechen zusammen zur Jagd auf und geben sich – sinnbildlich – ihrer Liebe hin.698 Das Jagdmotiv ist auch bei Äneas und Dido zentral, da sich diese während der Jagd vereinigen, und findet entlang dieser Traditionslinie Eingang in Fénelons Text und in die Tapetenszene. Dieser etwas schmalere Abschnitt der Tapete kontrastiert mit seinem grünen Setting aus Wiesen, Büschen und vielen Bäumen stark mit dem angrenzenden Palast und seiner hellrosa gehaltenen stufigen Architektur. [Abb. 38] Der dichtere Baumbewuchs holt die Betrachtenden nun in einen eher mit Begehren und Sexualität konnotierten Bildraum, auch „[i]n der Literatur er-
698 Vgl. den entsprechenden Text in Les Aventures, wie Anm. 365, Buch VI, S. 230–237.
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Abb. 38 Telemach-Tapete in Warendorf, Klosterstraße 7, Szene 5: Telemach und Eucharis brechen zur Jagd auf.
scheinen die Wälder […] immer schon als Ort, an dem die Sexualität ihren Ursprung in Gewalttätigkeit und Tiernatur erkennen lässt, oder, im Gegensatz zu den lärmenden Städten, als Schauplatz sehnsüchtiger Träumereien.“699 Von zwei besonders hochgewachsenen Baumgruppen, die den Ausschnitt rechts und links begrenzen, geht die Blickachse der Betrachtenden von seitlich versetzten Baumreihen gelenkt und im Hintergrund leicht nach links schweifend in die Tiefe. Am Übergang von dem satt grünen und mit Figurengruppen besetzten Vorder- in diesen bläulichen Hintergrund ist ziemlich genau in der Mitte des Abschnittes ein nach links springender Hirsch gesetzt. Die Hintergrundgestaltung unterscheidet sich formal stark von den anderen Tapetenabschnitten: In der Regel läuft der Blick nicht ins Freie bzw. in eine imaginierte Unendlichkeit, sondern wird entweder klar von Bergen, Gebäuden (Eingangsszene mit den 699
Maria Gazzetti: „Das selten glückliche Zusammentreffen von weiblicher
Maßlosigkeit und männlicher Attacke“, in: Dies. (Hg.): Der Liebesangriff – ‚Il dolce assalto‘, wie Anm. 669, S. 21–42, hier S. 27.
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Tanzenden, Palastszene, Terrassenszene) und dichtem Baumbestand (Erzählszene) begrenzt oder ‚stößt‘ an eine Horizontlinie zwischen Meer und Himmel (Ankunftsszene und Sprung ins Meer). Hier wird jedoch der eigentliche Hintergrund – wie er sich bspw. in der Palastszene daneben mit der Gebirgskette und einigen Wolken bildet – von den Bäumen ‚versperrt‘ und damit das Geschehen im Vordergrund sehr betont. Außerdem wird der Blick entlang des diffusen blauen Pfades, der wie ein Loch zwischen den Bäumen erscheint, in die Tiefe gesogen, um dann schließlich nicht weiter aufgehalten zu werden und mit den Bäumen in die Höhe zu schweifen. Die geometrisch-exakten Kompositionen und Felderungen, die ich in den bisherigen Szenen herausgehoben habe, finden sich auch hier wieder: Die elf Personen und sechs Tiere, die im Vordergrund auf der Waldlichtung verteilt sind, lassen sich drei horizontalen Ebenen innerhalb dieser Lichtung zuordnen. Auf der ersten, weit vorne von rechts in die Szene hineinlaufend, ist ein Paar (Telemach und Eucharis) mit einem Jagdhund sowie mittig (auf einer Höhe mit dem Baumstamm, der am Übergang von Vorder- und Hintergrund vor dem Hirsch steht) eine das Jagdhorn blasende Nymphe mit zwei Jagdhunden an der Leine platziert. Weiter hinten, auf einer zweiten Ebene, finden sich ein Dreierpaar – hier also Telemach, Eucharis und Calypso – sowie eine weitere Dreiergruppe aus zwei Nymphen und dem auf das Geschehen weisenden Amor. Ganz in der Tiefe des Hintergrunds an dem genannten Übergang sind zwei springende Jagdhunde, der Hirsch und ein auf ihn zielendes Paar platziert. Diese Figuren(gruppen) sollen nun noch etwas genauer betrachtet werden, denn ihre Anordnung und die Zuteilung an Attributen und Kleidung sowie ihre Gestik und Blickrichtungen sind für die Bildsprache der Tapete ebenso aufschlussreich wie die schon beschriebenen Natur- und Architekturelemente, die sakralen Handlungen und Vier-Elemente-Symbolik. Der blau gekleidete Telemach ganz rechts vorn trägt einen Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken und hält einen Speer in der rechten Hand, der wie eine Verlängerung seines Hinterkopfes in die Höhe ragt. Die linke Hand ist wie um Aufmerksamkeit heischend mit gespreizten Fingern erhoben. Die ihm zugewandte weibliche Figur (Eucharis) hält links einen Pfeil vor sich, dessen Spitze wie die des Speeres nach oben gerichtet ist, und holt mit der rechten Hand den Bogen hervor. Sie hat ein dunkles Fell übergeworfen und ihr ist auch der graue Jagdhund zugeordnet. Die mittig in der Lichtung des Waldes stehende, Jagdhorn blasende Figur mit den zwei weiteren Jagdhunden an der Leine ist in Frontalsicht dargestellt und entgegen der Lesrichtung positioniert. So zieht sie die Aufmerksamkeit der Betrachtenden auf sich als würde sie ankündigen wollen, was nun weiter geschieht. [Abb. 38]
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Der Schatten auf dem Waldboden lichtet sich in Richtung der aufbrechenden Dreiergruppe, bestehend aus Telemach mit seinem orange-roten Mantel,700 Eucharis und vermutlich Calypso. Die beiden Frauengestalten sind im Laufschritt dargestellt – ihre Bögen hinter sich her ziehend – und ihre Arme sind weit auseinander gezogen. Telemachs Speer ist wieder steil nach oben gerichtet, sodass die Gruppe eine starke Dynamik und Potenz – durchaus übertragbar auf die hier ja thematisierte sexuelle Lust – ausstrahlt und einen Sog des Blickes in die Tiefe des Bildausschnitts und in Richtung des dort in der vollen Sonne abgebildeten springenden Hirsches bewirkt. Hier soll auch wieder die Symbolik der geometrischen Anordnungen betont werden: Der Hirsch springt vor einem hell abgesetzten Dreieck, das wie auch das Dreieck des Strandes in der Ankunftsszene sexuell konnotiert ist, und die Dreiergruppe auf der Lichtung bildet wiederum mit dem Hirsch ein rautenförmiges Viereck wie in der Pomona-Gruppe. Dadurch sind die drei mit dem Hirsch in einen besonderen Bezug gesetzt. Der Tiefensog wird nun noch durch eine weitere Dreiergruppe links verstärkt; hier laufen zwei Nymphen in die ihnen von Amor angedeutete Richtung des Hirsches, ihr Speer zeigt in dieselbe Richtung wie Amors Pfeil, der das Jagen und Erbeuten der Liebesopfer symbolisiert. Der oft vorkommende Pfeil bzw. Speer, gerade auch in der sexuell lesbaren Aufrichtung nach oben, wiederholt bildsprachlich diese Semantik immer wieder. Die Thematik des Jagens und Besiegens wird im Mittelgrund nochmals auf der Ebene der Tiere gespiegelt: Der Hirsch und ihm gegenüber zwei Hunde springen in exakt der gleichen Haltung und Höhe aufeinander zu und es entsteht ein Moment der Spannung und vor allem auch der Unentschiedenheit, wer diesen nur visuell angedeuteten Kampf gewinnt. Der Hirsch ist gejagt von allen Seiten, er ist eingerahmt von dem Dreieck, von zwei Baumstämmen, von zwei ihn jagenden Paaren – die Hunde links und die Nymphen mit Pfeil und Bogen rechts – sowie von der Dreiergruppe vorn. Auch die Paarung als weiteres Schlüsselelement der Bildsprache ist sehr deutlich herausgehoben, entweder die Tiere oder die Personen sind stets gepaart mit Ausnahme des Amor, der Dreiergruppe und des Hirsches, die auch wiederum alle zusammen eine Bedeutungseinheit der eifersüchtigen Liebe bilden.
700 Im Gutachten zur Restaurierung der Telemach-Tapete des Museums für Hamburgische Geschichte von Monika Gast und Susanne Rödel-Strobel wird auf S. 29 vermerkt, dass „der rote Mantel des Telemach […] wie ein roter Faden auf der Bildtapete“ erscheint.
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Sechste Szene: die eifersüchtige Calypso beobachtet Telemach und Eucharis (Terrassenszene) Von dieser Waldzone aus findet in Lesrichtung nach links ein Vor-Ziehen des Blicks in den Vordergrund statt, der nun von einer großen Terrasse eingenommen wird. Dabei handelt es sich um genau die Szene, die in Warendorf auch vom Inka-Saal aus zuerst erblickt werden kann. Auf der Terrasse finden zwei Handlungen statt: Rechts werden Telemach und Eucharis vom kleinen Amor am Fortgehen gehindert und dabei von der eifersüchtigen Calypso hinter dem Aufgang zur Terrasse beobachtet, links verehren zwei Nymphen eine am äußersten Rand der Terrasse aufragende Demeter-Statue. [Abb. 39] Die Dreiergruppe bestehend aus Telemach, Eucharis und Amor symbolisiert dabei den gerade vollzogenen Übergang von der locus amoenus-Stimmung zur tragischen Trennung des Liebespaares; während Telemach zielgerichtet vorwärts läuft und seine Geliebte am Arm mitziehen möchte, hält Amor diese an ihrer Hand zurück und beugt sich dabei leicht nach hinten. Diese Geste ist der sich direkt anschließenden Dreiergruppe im Wald, wo Amor nach vorne weist, genau entgegen gesetzt. [Abb. 40] Die Tragweite dieses Schlüsselmoments ist jedoch im Bildganzen kaum wahrnehmbar; die Terrasse grenzt die Figuren räumlich von der Umgebung ab, und der mit ihr ins Bild geholte Verweis auf italienische Villenarchitektur und auf Landschaftsgärten lässt die Szene friedlich erscheinen und nichts von einer Wildnis der Natur oder gar – wie in der klassizistischen französischen Malerei – einer inneren Zerrissenheit der Figuren, wie sie beispielsweise durch aufkommendes Unwetter ausgedrückt wird,701 erahnen. Vielmehr ist das Terrassengeländer noch wie in kleinen gepflegten Gärten üblich mit einer Blumenvase dekoriert. Nirgendwo können die bei Fénelon genau beschriebenen psychischen Momente der Verzweiflung und der teilweise zu Suizidgedanken führenden Selbstvorwürfe Telemachs oder Calypsos ausgemacht werden, auch die Selbstgespräche Calypsos in ihrer Grotte fehlen komplett.702 Im Text rennt diese sogar wie wild geworden durch den dichten Wald und droht allen Nymphen, die ihr nicht folgen bzw. sich auf Eucharis’ Seite schlagen, damit, sie umzubringen.703 Eucharis wiederum leidet extrem an dem sie verzehrenden Feuer, das ihr sterbensähnliche Schmerzen bereitet.704 Mentor
701 Ein typisches Beispiel hierfür wäre Poussins „Gewitterlandschaft mit Pyramus und Thisbe“ (1651). 702 Vgl. Les Aventures, wie Anm. 365, S. 236f. 703 Ebd., S. 238. 704 Ebd., S. 239.
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Abb. 39 Telemach-Tapete in Warendorf, Klosterstraße 7, Szene 6 und 7: Terrasse und Opfer an Demeter.
nimmt die Dichotomie von Sehen und Blindheit wieder auf und beteuert, dass gerade Fieberkranke oft betonen, sie seien nicht krank, um Telemachs Lage und seinen Irrtum zu verdeutlichen.705 Von dieser ganzen Dramatik ist in der Tapete allerdings nichts zu spüren; auch nicht von der Eile, mit der Mentor ein Fluchtschiff baut, und vom Anzünden des Schiffes durch die wild gewordenen Nymphen, die im Text zu Bacchantinnen oder Furien werden – nicht jedoch auf der Tapete706 – und der daraufhin einsetzenden Panik. Statt dessen und als eigene Bildsprache der Tapete fällt die detailliert ausgearbeitete Gartenlandschaft mit ihren antikisierenden Versatzstücken stark ins Gewicht: Leicht rechts hinter der Dreiergruppe befindet sich, umgeben von Bäumen und Sträuchern, ein Monopteros mit einer weiblichen antiken Statue – vermutlich Venus – und einer Marmorfigur eines seinen Blick und den Bogen in Richtung der Figuren richtenden Amors auf der Kuppel. Dadurch wird die Thematik von Liebe, Blick und Entflammen, die so häufig auf der Tapete vorgeführt wird, auch in den umgebenden Architekturelementen wiederaufgenommen. In einer vertikalen Linie mit Telemachs aufgerichtetem linken Arm ist hinter einem Busch eine weitere, frei stehende weibliche Statue
705 706
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Ebd., S. 240. Ebd., S. 243.
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Abb. 40 Telemach-Tapete in Warendorf, Klosterstraße 7, Szene 6: Terrassenszene (Detail mit Amor-Figurengruppe).
auf einer Säule über einem mit einem Schwan verzierten Kapitell zu sehen, die jedoch diesmal orangefarbig und nicht wie die anderen Statuen weiß ist. Damit rückt sie in auffällige Nähe zu Telemachs orangerotem Mantel und der ebenfalls orangefarbigen Kuppel und den Kapitellen des Monopteros sowie in einen farblichen Kontrast zu den blaugrünen Farbtönen der Natur. Der Monopteros erfüllt als architektonisches Element im Garten bzw. als Bildelement im Bildganzen verschiedene Funktionen; die wichtigsten – die des Aussichtspavillons, des Verbindungsstücks zwischen Natur und Architektur, des Bühnenabschlusses und des Freundschafts- oder Ehrentempels bzw. des Denkmals – erfüllt auch dieser durch seine Positionierung in der Terrassenszene. Ingrid Weibezahn stellt für den frühen englischen Landschaftsgarten – den Jardin anglo-chinois – fest, dass „der Monopteros mit Vorliebe auf die Spitze eines Hügels gesetzt“ wurde und damit „als Aussichtspavillon“ diente.707 Er war aber auch häufig „Teil eines lebendigen Landschaftsgemäldes, mit welchem die von
707
Ingrid Weibezahn: Geschichte und Funktion des Monopteros. Untersuchungen
zu einem Gebäudetyp des Spätbarock und des Klassizismus, Hildesheim: Olms 1975, S. 13.
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den Theoretikern geforderte Harmonie zwischen Natur und Architektur vor Augen geführt werden konnte.“708 Abgesehen davon, dass der Monopteros hier auch entsprechend auf einer kleinen Anhöhe liegt und die typische harmonische Gestaltung solcher Landschaftsgärten vor Augen führt (die sich aus der abwechselnden Anordnung von Bepflanzung und Architektur und der Einplanung von gewundenen Wegen bzw. Auf- und Abstiegen ergibt), schaut hier zudem die Venusfigur auf das Paar mit dem Amor auf der Terrasse hinab, das wiederum auch von Calypso auf der linken Seite beobachtet wird. In dieses Dreieck der Blicke ist auch der Betrachterblick, der immer wieder bei dem Paar in der Mitte landet, eingebunden. Somit wird über die Architektur (Monopteros, Terrasse), die Natur, die Figurenplatzierung und die Blicklenkung das Thema von Liebe und Eifersucht – das auch über die Er-Blickung und das dadurch gelenkte und gesteigerte Begehren mit hinein wirkt – ganz deutlich entfaltet, ohne dabei jeglichen Kontrollverlust oder überhaupt explizite Liebesszenen darzustellen. In der harmonischen Bezugsetzung der einzelnen aus der Gartentheorie und praktischen Gartengestaltung bekannten Elemente ist also auf einer anderen, semiologisch erfassbaren Ebene die Referenz auf die so gar nicht harmonisch verlaufende Verstrickung der Personen der Erzählung enthalten. Als ein beliebtes Kulissengebäude war der Monopteros weiterhin „als Bühnenabschluss noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts verbreitet.“709 Er diente dann oftmals als Ort der Erinnerung, des Kultes und des Andenkens in Form eines Brunnentempels, Freundschafts- oder Ehrentempels (mit Büsten) oder einer Denkmalstätte bzw. eines Grabmals.710 Hier wird er nun zur Markierung eines (vertikal und auch horizontal) gestaffelten Bühnenbildes und gleichzeitig auch zum Liebestempel, der die Thematik der Bildtapete im Kleinen spiegelt. Von hier aus weiter in die Mitte der Terrasse schauend kommt man bei Calypso an, die genau im Bereich des Auf-/ Ausgangs zwischen zwei musizierenden Statuen positioniert ist. Genauer gesagt, schweift man mit dem Blick, wodurch sich BetrachterInnen die Tapetenlandschaft auf eine körperliche, gewissermaßen auch erotische Art aneignen, gerade da seit der Antike bereits Erotik und Blicke und deren Gleiten-Lassen eng verknüpft sind. Mit den Instrumenten – einem Tamburin und einer Panflöte – ist nun wiederum das Thema des Musizierens und der Harmonielehre, das schon zuvor mit der Äolsharfe aufkam, fortgeführt. Genau zwischen den Musizierenden läuft eine (gerade, gepflegte) Wiese auf einen kleinen Tempel im Hintergrund zu, dessen Anlage – einschließlich des kleinen viereckigen Teichs mit Schwänen – den 708 709 710
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Ebd., S. 15. Ebd., S. 54. Ebd., S. 55f.
�. Die Paysage de Télémaque
Abb. 41 Telemach-Tapete in Warendorf, Klosterstraße 7, Szene 6: Terrassenszene (Detail mit eifersüchtiger Calypso).
schon beschriebenen ähnelt. Dass Calypso nun in diese harmonisierende Umgebung von Musikinstrumenten, Tempel, Schwänen und sanftem Lichteinfall eingefügt ist, und auch der Blick von ihr direkt auf die in die Tiefe gehende Gartenlandschaft gezogen wird, die fast von der gut sichtbaren Fläche des Terrassenbodens nach hinten weg zu knicken scheint, ist zunächst ein bildsprachlicher Widerspruch zur Vorstellung einer vor Wut rasenden Inselherrin. Es ist also festzuhalten, dass die mit der Tapete präsentierte ‚Emotionslandschaft‘711 nicht der im Text von Fénelon entspricht, und dass entgegen der Erwartungshaltung der BetrachterInnen kein offensichtlicher Gefühlskonflikt zu sehen ist, sondern, wie auch in den vorigen Bildanordnungen, Gefühle und Leidenschaften nicht in Mimik und Gebärden der Figuren ausgedrückt werden. Die hier zu sehende Calypso steht ruhig da, mit ihrem nur leicht verwehten weißen Kleid, und zieht sich mit einer beide Arme involvierenden Bewegung den Schleier aus dem Sichtfeld. [Abb. 41] Diese Geste deutet auf ihr sehr angestrengtes längeres Betrachten des Paares auf der Terrasse hin. Zudem wird die Symbolik des Schleiers und Schleier-Lüftens im Sinne des Ver- oder Entschleierns, Sichtbarmachens und
711
Siehe auch das emotionale mapping, das in einem Raum vorgenommen
wird: Giordana Bruno: Atlas of Emotion, wie Anm. 67.
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Abb. 42 Antoine-Denis Chaudet: La Paix, Statue, Silber/Bronze und Vergoldungen, Musée du Louvre, Paris, 1806.
Verbergens hier gerade durch fehlende andere Attribute und Gestik sehr deutlich. Bildlich weggerückt vom betrachteten Paar, allein und den Geschehnissen enthoben in ihrem Status als Inselherrin, und dennoch von nicht erfüllten Wünschen gepeinigt, kann sie nun beim Verbergen ihres Zorns und dem Erblicken der Nichterfüllbarkeit ihrer Wünsche betrachtet werden – und zwar so, als würde man selbst mit auf der Terrasse stehen, denn die rückwärtige Balustrade ist auch nicht mehr abgebildet bzw. könnte sich eben im Rücken der BetrachterInnen befinden. Die Calypso der Tapete ist eine völlig andere als die in Fénelons Text.712
Siebte Szene: Opfer an Demeter Am linken äußeren Ende der Terrasse befindet sich die erwähnte Demeter-Statue, der zwei Nymphen – die vordere in Hocke, die hintere stehend mit ausgebreiteten Armen – Blumenkränze darbringen. Die Tapetenlandschaft insgesamt ist also von rahmenden Szenen weiblicher Verehrung wiederum weiblicher
712 Siehe Les Aventures, wie Anm. 365, S. 232: „Calypso avoit les yeux rouges et enflammés […]“.
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Gottheiten markiert – von zunächst der Pomona und dann auch der Demeter opfernden Nymphen –, sodass sie als Ort des Weiblichen markiert ist, oder noch genauer: als Insel des Weiblichen. Im Gegensatz zur Grotte des Rückzugs und der Verzweiflung, die z.B. das Musiktheater aufführte, wird hier aber das Weibliche gefeiert und seine vorgebliche Transzendenz betont. Die hier nun die Terrassenszene abschließende Demeter-Statue soll nach Nouvel-Kammerers Einschätzung Ähnlichkeiten mit der großen Statue „La Paix“ von Chaudet aufweisen,713 jedoch ist die auf der Tapete dargestellte Demeter-Figur bewegter und mit weicheren Zügen ausgestattet als die bekannte Louvre-Plastik. Darüber hinaus ist sie ein Hybrid aus Demeter bzw. dem wiederaufgenommenen Pomona-Motiv, der beliebten Psyche-Figur und einer eigentlichen Inselherrin mit ihren auf die Figur der Psyche hinweisenden Flügeln am Rücken und dem den Insel-Nymphen gleichenden Gesichtsausdruck. [Abb. 42 und Abb. 43] Mit ihren Füßen spielt sie mit einer Kugel, als würde sie spielerisch die Weltkugel drehen, und verweist somit auch auf die Allegorie der Fortuna; sie hält schützend die linke Hand über den Blumenkorb und ein Ärmel des im
713 Antoine-Denis Chaudets Statue „La Paix“ von 1806 ist im Musée du Louvre zu sehen.
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Abb. 43 Telemach-Tapete in Warendorf, Klosterstraße 7, Szene 7: Opfer an Demeter.
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schönen Faltenwurf präsentierten Gewandes fällt keck über die rechte Schulter. Diese Figur symbolisiert auf mehreren Ebenen das Maternale in der Welt bzw. das maternale Weltschema der Antike (v.a. Fruchtbarkeit und Geburt) und führt zudem auch dieses Mütterliche in Verbindung mit körperlichen Reizen und erotischem Ausdruck als ein Leitthema ein. In der ‚Mutter Erde‘ dieser Figur(ation) wird auch der weibliche Urstoff, die materia prima schlechthin,714 und das naturphilosophisch ausgerichtete Streben nach einer (verlorenen) Ganzheitlichkeit mit thematisiert. Der Sockel der Demeter/Psyche-Statue ist mit Rosenwinden bekränzt, die von dem Busch vor ihr stammen könnten, und aus einer verzierten Dose, die eher einer Spieldose gleicht als einem Kessel, steigt (Weih-)Rauch auf. Hiermit ist auch das Opfer- und Ritualmotiv in Verbindung mit Wasser und dem Sakralen erneut visualisiert. Direkt hinter ihr überkreuzen sich zwei Palmen wie in einer Umarmung, was wiederum die vereinigende, mütterlich-sorgende Eigenschaft der Demeter bestärkt. Im spitzen Winkel nach rechts hinten verläuft das Geländer der Terrasse mit acht weiteren Statuen geschmückt, die zum Teil wieder die Äolsharfe und weitere Musikinstrumente tragen. Regelmäßig zwischen ihnen angeordnete Palmen ragen streng gerade in die Luft und wirken sowohl sehr statuesk als auch wie eine imaginäre Wand, die sich ergeben würde, wenn man sich die Fläche zwischen den Stämmen gefüllt denkt. Gleichmäßigkeit, Symmetrie und klare Linien dominieren insgesamt die Szene im Hintergrund, was durch die geometrischen Verstrebungen in dem Geländer noch betont wird, und auch das Element des Monopteros findet sich hier nochmals im Hintergrund zwischen den Bergen, in das Blickfeld der BetrachterInnen leicht oberhalb des Kopfes der fünften Statue eingefügt, sodass auf den Ebenen der Motivik, der Zahlen und geometrischen Anordnungen sowie der Liebes- und Ganzheitlichkeitsthematik bis zum Schluss der Szenerie auf der Tapete immer neu arrangierte Wiederholungen gesetzt sind. Passend zur Thematik von Musik und Harmonie kann man auch von einer Rhythmisierung in und mit der Tapete sprechen.
Achte Szene: Telemach und Mentor springen ins Meer (Flucht vor Calypsos Rache) Die abschließende Szene zeigt die Flucht Telemachs und Mentors von der Insel. Der Boden wird zu felsigem Untergrund, mit dem das brennende Schiff durch
714 Dieser Begriff geht auf Aristoteles zurück, der ihn sowohl in der „Physik“ als auch der „Metaphysik“ verwendet.
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einen kleinen Steg verbunden ist; dahinter erstreckt sich das Meer. Die Szene wird von grauen Wolkenbildungen dominiert, die sowohl vom Feuer auf dem Schiff als auch von den Fackeln der das Unglück herbeiführenden Figuren herrühren – drei Nymphen und erneut Amor – und sich darüber hinaus mit den etwas dunkleren Wolkenschichten des Himmels mischen. Von einem Felsvorsprung links über dem Schiff und der Gruppe stürzt sich gerade Telemach mit ausgebreiteten Armen und Beinen ins Wasser – bzw. wurde von Mentor hinunter gestoßen –, hinter ihm setzt Mentor zum Sprung an, sich mit angewinkeltem Arm die Nase zuhaltend. Im Text wird der auf einem Felsvorsprung sitzende Telemach von Mentor geschubst, da er allein nicht mehr handlungsfähig ist, während diese Szene im Vergleich entdramatisiert wirkt. Ganz fern im Hintergrund sieht man das kleine von Mentor als mögliche Rettung anvisierte Segelschiff, in dessen Richtung beide schwimmen werden. [Abb. 44] Insgesamt deuten vor allem die bewegten Wolkenformationen an, dass etwas passiert bzw. in Gang kommt, jedoch ist die eigentliche Dramatik des Vorgangs – das Feuer, die Eifersucht, Schuldfragen, die Flucht und damit verbunden auch endgültige Entscheidung gegen die Realisierung der Liebe
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Abb. 44 Telemach-Tapete in Warendorf, Klosterstraße 7, Szene 8: Flucht vor Calypsos Rache. Abb. 45 Telemach-Tapete in Warendorf, Klosterstraße 7, Szene 8: Flucht vor Calypsos Rache (Detail zwischen den Fenstern).
Tapezierte Liebes — Reisen
zu Eucharis – nicht aus der Tapetenszene ersichtlich. Sie ist auch hier immer noch harmonisch angeordnet und nicht chaotisch. Am äußeren Bildrand befindet sich Calypso, die zu den springenden Männern empor schaut. Nur die Tatsache, dass eine weitere Nymphe sie um die Taille festhält und anscheinend von einem Hineilen zum Unglücksort abhalten will, weist darauf hin, dass sie wegen ihrer Tat und der Flucht des Telemach unglücklich, schuldbewusst oder aufgeregt ist. Je nachdem, wie die Tapete vor Ort geklebt ist, kann man mit einem weiteren Dreh des Körpers mit dem ‚Lesen‘ der Geschichte wieder von vorn beginnen. Hier in Warendorf ist die Szene mit der schauenden Calypso allerdings genau zwischen den Fenstern angebracht, was in der Raumwirkung den Effekt hat, dass die beiden Nymphen jeweils zu einem der beiden Fenster hinaus schauen. Damit ist auch der Betrachterblick und die Positionierung des Betrachtenden zwischen Innen- und Außenraum, erzählter Geschichte und gelebter Realität thematisiert (in der eigenen Zeit bzw. im sich abspielenden Moment, bei ebenfalls vom Moment abhängigen Lichteinfall aus diesem Fenster schauend und sich orientierend). Während Calypso auf das Ende – und damit auch den Neubeginn – der Erzählung ‚hinter ihr‘ schaut, blickt die andere Nymphe in Richtung des baumbewachsenen Tapetenhintergrundes und damit, auf den Realraum bezogen, in den Garten hinaus. Hier ist also eine Verbindungsstelle zwischen dem Garten und dem narrativierten bzw. literarisierten Interieur geschaffen, die auch wieder über die Haltung und Blicke der abgebildeten Figuren mit produziert wird. [Abb. 45]
Die Raumeinheit von Inka-Saal und Telemachsalon in Warendorf Auf die Verknüpfung von Realraum und Bildraum kommt auch Schönhagen in ihrer Untersuchung des Warendorfer Inkasaales zu sprechen.715 Ihre Analysen der Inkatapete lassen sich in ein interessantes (Wechsel-)Verhältnis zur Telemach-Tapete nebenan setzen: Auch wenn sich das Setting und die Einzelelemente in der Inkaszenerie deutlich von der Telemach-Tapete unterscheiden, so existieren dennoch Bezüge zwischen beiden Tapeten. Die Sonnenanbetung der Inkas in Kombination mit Musik und Tanz findet ihr Pendant nebenan in den tanzenden Nymphen sowie der Verehrung der Pomona und der Demeter. Die Betrachtenden werden so in einen fremd anmutenden heidnischen Kontext ver-
715
288
Astrid Silvia Schönhagen: „Tapezierte Kolonialfantasien“, wie Anm. 23.
�. Die Paysage de Télémaque
setzt – im großen Saal in die geographische Ferne der Neuen (eroberten) Welt und im Telemach-Salon in die (idealisierte) zeitliche Ferne der griechisch-antiken Welt. Cornelia Klinger widmet sich in einem jüngst publizierten Artikel unter anderem der Thematik von „Ferne und Vergangenheit im Interieur“ und untersucht, inwiefern beide dieselbe Funktion erfüllen können.716 Zwar wird hier von einem Text Walter Benjamins im späteren 19. Jahrhundert respektive Einrichtungen und Subjektformierung v.a. im Biedermeier und Historismus ausgegangen, jedoch liefern einige zentrale Thesen auch im Hinblick auf die Bildtapetenräume in Warendorf interessante Anknüpfungspunkte. Indem im Interieur „das von und aus der Wirklichkeit Entfernte“ imaginiert wird und „die westliche Vergangenheit (das Hier-Damals) mit in der Gegenwart in weiter, fremder Ferne liegenden Räumen (dem Dort-Jetzt) in ein Analogieverhältnis gesetzt wird, unterliegen beide derselben widersprüchlichen Sicht.“717 Sowohl die Insel der Calypso mit ihren antikisierenden Park- und Tempelansichten als auch die exotistische Natur der Inkatapete, die Vorstellungen von außereuropäischen Ritualen und Lebensweisen zu sehen gibt, bewirken eine räumlich-visuelle Bezugsetzung der Subjekte mit und eine (auch körperlich-gestisch vollzogene) Eroberung von den dargestellten Räumen. Die Ankunft der spanischen Konquistadoren, die in der Inka-Tapete thematisiert wird, findet sich sinngemäß im kleineren Salon nebenan auf die Ankunftsszene und die Erzählszene aufgeteilt: Es findet in beiden Fällen eine Eroberung des noch fremden Raumes statt. Einmal wird Pizarro von einer ganzen Gruppe ihn mit Geschenken überhäufenden Inkas empfangen und einmal die beiden Reisenden von den Nymphen, die, sogleich zur Gruppe versammelt, seinen Erzählungen lauschen. In beiden Fällen herrscht eine festlich-sakrale Stimmung, die den Anschein eines außergewöhnlichen Ereignisses hat bzw. verleiht. Die Eroberer sind zudem jeweils in einem Mikro-Raum innerhalb des Bildraums von den anderen Figuren abgesetzt; Pizarro erhöht auf seinem Pferd und auf einem erhellten Weg, Telemach und Mentor auf einem dreieckig geformten Strandabschnitt. Die Gruppe der außereuropäischen ‚Wilden‘ wird nebenan zu einer Gruppe weiblicher Figuren; die ‚Empfangenden‘ sind also im großen Saal Images des Indigenen und im kleineren Salon des Weiblichen. Dies entspricht der These Sigrid Weigels, auf die sich auch Schönhagen bezieht, dass „die Frau in der Nähe“ zur Abgrenzungsfigur, zum noch zu erobernden ‚Anderen‘ wird,
716 Cornelia Klinger: „Innerlichkeit und Natur in Walter Benjamins Theorie des Interieurs“, in: Interieur und Bildtapete, wie Anm. 17, S. 87–106, hier S. 92. 717
Ebd., S. 93.
289
Tapezierte Liebes — Reisen
analog zu den indigenen Völkern in der Ferne.718 Auch eine Zuführungsszene, die sich in diesen Eroberungskontext einordnen lässt, findet sich in beiden Tapeten; bei den Inkas wird die junge Cora dem Konquistador bildsprachlich zu Füßen gesetzt,719 im Telemach-Setting wird Amor der Calypso zugeführt. Im zweiten Fall ist die Zuführung, oder besser gesagt: die Liebespaarbildung etwas verklausulierter dargestellt. Indem Amor von der erbosten (bereits in der Vergangenheit von Telemach zurückgewiesenen) Venus an die Inselherrin überreicht wird, kann er seine Liebesgewalt über sie ausüben und die dramatische Dreiecksgeschichte zwischen Calypso, Telemach und Eucharis in Gang bringen. Dies ist im Grunde ein gewaltsamer Akt, denn Venus rächt sich an Telemach und übt Gewalt bzw. Macht über Calypso aus, genau so wie ihr Sohn Amor, damit Calypso daraufhin den Seefahrer in ihre Gewalt bringen und auf der Insel halten kann – stellvertretend für Venus, die eine frühere Niederlage damit abgelten will. Die Zuführung der jungen Cora an den Eroberer auf der Inka-Tapete hat Schönhagen beschrieben: Hier findet die Eroberung als eine Form der Entjungferung statt, des Mädchens ebenso wie des noch unberührten Raumes.720 Beide Tapetenszenerien sind also in dieser Verknüpfung von Eroberung, Eindringen und Gewalt und der bildsprachlichen Übersetzung in ein festlich-idyllisches und sogar religiös-sakrales Tableau potenzielle Imaginationen des Wohnsubjektes, das sich damit als reisend, entdeckend, erobernd und zielgerichtet handelnd inszeniert. Nun zeigt sich aber auch in der innenarchitektonischen Anlage und Wegführung im Katzenberger’schen Haus, wie stark die Thematik der Inkas und der Liebesgeschichte auf Calypsos Insel miteinander verknüpft werden. Die von anderen Räumen abgesonderte Lage und die Bewegungsrichtung von der exotischen Ferne der Inka-Tapete hin zur zeitlichen Ferne der antiken Insellandschaft über die direkte Verbindungstür macht die beiden Räume als eine räumlich-thematische Einheit erfahr- und begehbar. Dabei ist einer „‚internen Kolonisierung‘ der Frau in der eigenen Gesellschaft und damit der Inszenierung biedermeierlicher Häuslichkeit“721 der Weg bereitet. Es geht hier in beiden Fällen – wie die weitere Argumentation noch deutlicher zeigen wird – nicht um ein Zeigen oder Erfahren gleichberechtigter Partnerschaften und des
718
Astrid Silvia Schönhagen: „Tapezierte Kolonialfantasien“, wie Anm. 23,
S. 182. Schönhagen zitiert hier Sigrid Weigels Aufsatz „Die nahe Fremde“, und auch Klinger thematisiert mit dem ‚Anderen‘ oder ‚Fremden‘ ebenfalls die Geschlechterdiskurse um 1800. 719 Wie ebd., S. 179. 720 721
290
Wie ebd. Wie ebd., S. 180.
�. Die Paysage de Télémaque
im eigenen Alltag implementierten oder implementierbaren wertschätzenden Umgangs mit (geschlechtlicher und ethnischer) Alterität. Vielmehr wird ein Erobern des ‚Anderen‘ inszeniert bzw. choreografiert, über das eine imaginäre Machtposition im eigenen Hause erreicht und vorgeführt werden kann, die im „Spannungsfeld von Heimat und Fremde, von Innen und Außen“722 entsteht. Auch die Verbindung beider Räume mit dem Garten ist dabei von Bedeutung. Der Blick auf den Garten und die damit eröffnete Innen-Außen-Relation geschieht nicht nur vom exotistischen Saal aus, sondern auch vom kleinen Salon, wobei jeweils ein anderer Bezug aufgemacht wird: zum einen der von Exotik–heimischer Natur und zum anderen von Arkadien–heimischer Natur. Beide sind so auch in ihrer jeweils spezifischen Ver-Ortung des geographisch fernen Südamerika und zeitlich fernen idyllischen Arkadien in Warendorf und im eigenen Haus Ausdruck des Verfügbarmachens von sich ansonsten entziehenden Machtbereichen unter dem eigenen, scheinbar ganz privaten und abschirmenden Dach. Dieser Prozess funktioniert wiederum in entscheidendem Maße über die Verfügbarmachung von (Teilen der) Natur. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wird diese Ein-Richtung mit und anhand von modellierter Natur immer mehr verfeinert: „Dabei geht die offenbar höchst erwünschte, mit raffiniertesten Mitteln ins Werk gesetzte Verwischung der Grenzen von Innen und Außen in beide Richtungen: Auf der einen Seite werden – je nach finanziellen Möglichkeiten – mit mehr oder weniger Aufwand größere oder kleinere Stücke der schönen Natur, namentlich Pflanzen, Bäume (vorzugsweise Palmen) und ganz besonders Blumen in die Innenräume hineingeholt, eingetopft und abgebildet. Auf der anderen Seite dehnt sich das Interieur nach außen hin aus, findet Leben und Wohnen draußen statt, in Gärten sowie in verschiedenen Arten von Zwischenräumen wie Balkonen, Loggien, Pergolen und Wintergärten. Im scheinbar beliebig austauschbaren Verhältnis zwischen Innen und Außen findet ein verwirrendes Maskentreiben statt.“723 Im Warendorf des frühen 19. Jahrhunderts kann zwar von einem „verwirrenden Maskentreiben“ noch nicht die Rede sein, herrscht doch – wie schon gezeigt wurde – ein großes Bemühungen um Ordnungsräume, geometrische Genauigkeit und Zurückhaltung in der Darstellung von Dramatik und Emotionen vor. Jedoch ist die von Klinger so genannte „fantasmatisch-ästhetische Sphäre“724 722 723 724
Wie ebd., S. 181. Cornelia Klinger: „Innerlichkeit und Natur“, wie Anm. 716, S. 98. Wie ebd., S. 98, siehe dort die Fußnote 19.
291
Tapezierte Liebes — Reisen
Abb. 46 Fachwerkhaus mit Telemach-Tapete in RemscheidLüttringhausen, Nordrhein-Westfalen, Frontseite mit offenem Portal.
der Gartenarrangements an der Schwelle zum Wohnraum und in seinen Bildwelten bereits voll und ganz Teil der Inszenierung(en) der sich im Wohnen entwerfenden Subjekte geworden. Diese Fantasmatik war später für Kierkegaard zentral, auf den sich Adorno mit der Bezeichnung ‚Flaneur im Zimmer‘ bezieht mit der Feststellung: „Wirklichkeit erscheint ihm allein reflektiert von bloßer Innerlichkeit.“725 Obgleich der Flaneur-Begriff erst mit dem späten 19. Jahrhundert und dem Zeitalter der Décadence aufkommt, insbesondere mit den Schriftstellern Oscar Wilde, Charles Baudelaire und Joris-Karl Huysmans (unter anderen), scheint das Konzept des ‚Flaneurs im Zimmer‘ aber auch in diesen Tapetenräumen schon zu greifen, nur dass hier nicht die (moderne) Stadt, sondern das Interieur der entsprechende Erfahrungsraum ist. So ist die Wohnung in diesem Fall wohl eine Art ‚Pre-Passage‘ des frühen 19. Jahrhunderts, und der Flaneur ist sozusagen (noch) at home. Doch wie sehen solche Konstellationen mit und rund um die Telemach-Szenen-Arrangements in anderen Häusern aus? Zwei weitere Beispiele, im industriellen Milieu sowie auf einem Gutshof des Kleinadels, können darüber Aufschluss geben.
725
In einem Kommentar Adornos aus seiner Frankfurter Habilitations-
schrift von 1929/30 reflektiert dieser, ausgehend von einem Text von Kierkegaard über seine Spaziergänge zu Hause in der Stube, die Spaziergänge des ‚Flaneur(s) im Zimmer‘. Siehe die Einleitung von Claudia Becker: Zimmer-Kopf-Welten. Motivgeschichte des Intérieurs im 19. und 20. Jahrhundert, München: Fink 1990, S. 28.
292
�. Die Paysage de Télémaque
�.�.� Telemach auf den Hammerhöfen: ein Fachwerkhaus in Remscheid-Lüttringhausen In der kleinen Gemeinde Lüttringhausen, heute zugehörig zu Remscheid, findet sich ein unter Denkmalschutz gestelltes Fachwerkhaus, in dessen Erdgeschoss ein in situ-Exemplar der Telemach-Tapete angebracht ist. Das Gutachten des Restaurators Lars Wodtke, das bei einer Bestandsaufnahme erstellt wurde, klärt darüber auf, dass dieses Haus in der Zeit von 1780–1790 erbaut worden ist726 und dass die Bildtapete noch in ihrer ursprünglichen Montierung vorhanden ist, wobei es sich um 22 ganze und zwei angeschnittene Bahnen von den insgesamt 25 handelt. Die Sockelzone aus Papier ist nicht mehr erhalten. Der Lichteinfall erfolgt, so ist dem Gutachten zu entnehmen, von rechts nach links über die Tapete und die Montage orientierte sich fortlaufend an der Tür und Supraporte
Szene 2
Innenraum: Flur
Szene 1
Fenster
Szene 3
Szene 8
Szene 5
Fenster
Szene 4
Garten →
(Flötenstatue) Szene 6
(Calypso) Szene 6
Abb. 47 Grundriss des Telemach-Raumes mit Anordnung der Tapetenszenen, Fachwerkhaus in RemscheidLüttringhausen.
Szene 7
Fenster
726
Darüber gibt auch die Datierung unter dem Giebeldach Aufschluss.
293
Tapezierte Liebes — Reisen
Abb. 48 Telemach-Tapetenraum in RemscheidLüttringhausen, Szene 1: Tanz der Nymphen und Opfer an Pomona, Blumen-Supraporte.
Reihenfolge der Geschichte. Auch die goldfarbene Holzleiste ist noch Originalbestand. Die Supraporte über der Eingangstür ist ebenfalls ein Holzmodeldruck auf Papier aus der Manufaktur Dufour (& Leroy), wie aufgrund der Hintergrundfarbe und der Art der Modellierung vermutet werden kann. Das hier vorhandene Exemplar der Telemach-Tapete scheint eines der am besten erhaltenen in Europa zu sein.727 Aus den (spärlichen) Informationen des Taufregisters, der Unteren Denkmalbehörde und des Amtsgerichtes Remscheid lässt sich rekonstruieren, dass das Fachwerkhaus zur Zeit der Anbringung der Tapete in den 1820er Jahren der Familie und Firma P. C. Hasenclever & Söhne gehört haben muss und sich damit in Besitz von Stahl- und Eisenwarenhändlern befand. Am 6. August 1878 hat Caspar Friedrich Stursberg das Grundstück und Wohnhaus von der Erbin Dorothea Hasenclever erworben.728 Dessen Vater, Johann Carl Stursberg, war wiederum als Hammerschmied ebenfalls im Stahl- und Eisengewerbe tätig ge-
727
Informationen erhielt ich vor Ort von Uschi Motte, der aktuellen
Bewohnerin des Hauses, die mir auch von der erfolgten Bestandsaufnahme des Zustandes der Tapete im Jahr 2000 durch den Restaurator Lars Wodtke erzählte und mir dessen Notizen zeigte. Man hatte sich zunächst gegen eine Restaurierung der insgesamt erfreulich gut erhaltenen Tapete entschieden. 728 Dies ist aus Unterlagen des Amtsgerichts Remscheid vom 09.02.1983 ersichtlich.
294
�. Die Paysage de Télémaque
Abb. 49 Telemach-Tapetenraum in RemscheidLüttringhausen, Szene 2 und 3: Ankunft von Telemach und Mentor auf der Insel, Telemach erzählt von seinen Abenteuern.
wesen und er selbst hat diese Tradition mit seiner eigenen Firma fortgesetzt;729 die „Hammerhöfe“ waren zu Zeiten der beginnenden Industrialisierung das Hauptgewerbe der Gegend am Singerberg und des heutigen Lüttringhausen. Das Haus der Hasenclevers ist seit den 1820er Jahren ein zweigeschossiges und verschiefertes Fachwerkhaus, das fünf Achsen mit Eingang in der Mittelachse und ein Satteldach mit Krüppelwahn aufweist, der Garten und die Parkanlage sind noch gut erhalten.730 [Abb. 46] Die Aufteilung der Tapetenszenen im Rauminneren des kleinen Salons im Erdgeschoss ähnelt der in Warendorf: Von der Tür aus eintretend und sich umwendend, kann man die Szenerie entgegen dem Uhrzeigersinn, also in Lesrichtung nach links, ablaufen. [Abb. 47] Rechts neben der Tür befinden sich
729
Aus dem Taufregister der evangelischen Kirchengemeinde Rem-
scheid-Lüttringhausen ist zu ersehen, dass Caspar Friedrich Stursberg, geboren am 30.01.1833, gestorben am 20.01.1920, Hammerschmied und Hammerherr zu Krähwinklerbrücke-Dörpe (Hammerhöfe) war. Er gründete die Firma C. F. Stursberg & Co., Stahl- und Hammerwerk zu Singerberg. Die Eltern von Caspar waren Johann Carl Stursberg (Hammerschmied, 25.12.1807–02.06.1891) und Charlotta Holthaus, seine Paten waren wohl Emilie Hasenclever und Friedrich Motte gewesen, dessen Nachfahrin Uschi Motte heute das Fachwerkhaus besitzt und bewohnt. 730
Informationen der Unteren Denkmalbehörde Stadt Remscheid, aus
dem Auszug der Denkmalliste vom 12.12.1985.
295
Tapezierte Liebes — Reisen
Abb. 50 Telemach-Tapetenraum in RemscheidLüttringhausen, Szene 4: Palastszene.
die Tanz- und Pomonaszene, wobei hier wie in Warendorf der kleine Teich links vom Fenster – allerdings, da die Bahnen hier beschnitten sind, ohne die Wassergüsse – ‚ins Zimmer hinein‘ angeordnet ist. [Vgl. Abb. 48] Auch die Ankunftsszene links der Tür, mit der Mammia-Bank über die Ecke laufend, ähnelt der Situation in Warendorf. [Abb. 49] An der linken Längswand gehen die Erzähl- und die Palastszene ineinander über, in der Ecke befindet sich die Jagdszene und endet mit dem rechten Teil der Terrasse und der Telemach-Eucharis-Amor-Gruppe sowie dem Venustempel am Rand des ersten Fensters, an den sich gerade noch die Flöte spielende Statue schmiegt, und hinter dem sich dann der linke Teil der Terrasse mit Calypso fortsetzt. [Abb. 50–53] Hinter der nächsten Ecke in Lesrichtung schließt sich das brennende Schiff an, hinter dem der Sprung Telemachs und Mentors vom Felsen komplett fehlt. Statt dessen sind hier zwei weitere Fenster vorhanden, zwischen denen – genau wie in Warendorf – Calypso und die Nymphe positioniert sind, die sich wieder jeweils zum Garten und zum Schiff im Innenraum wenden.731 [Abb. 51] Hier beginnt mit einer weiteren Linksdrehung die Geschichte wieder von vorn. Interessant ist nun, auf die Brüche in der Szenerie durch Fenster und Tür zu achten und wie diese die Wahrnehmung und Blicklenkung beeinflussen. Zunächst ist auffällig, wie die Tür und der Türrahmen gesetzt sind. Die Türöffnung befindet sich genau zwischen der Verehrung der Pomona und der Ankunftsszene.
731
296
Vgl. diese Anordnung in Warendorf, Abb. 63.
Drei weibliche Figuren verehren hier die Göttin des Frühlings mit Blumen, indem sie um diese kreisförmig angeordnet sind, und das Ankunftsszenario greift genau diese Konstellation auf, denn Telemach wird hier in der Mitte Mentors und der beiden Nymphen dargestellt und somit gottgleich umkreist. Auch die erhobenen Hände – von Mentor in präsentierender Geste, von Calypso in begrüßender und von ihrer Begleiterin in überraschter – unterstreichen diese Einordnung in den Mittelpunkt des Geschehens und die Sonderstellung des Reisenden. Das Motiv des Frühlings wird an dieser Stelle im Raum ganz besonders durch die Supraporte betont, die mittig und oberhalb dieser beiden Szenen angebracht ist und einen prall gefüllten Blumenkorb zu sehen gibt. Die Insel und ihre Gesamtszenerie wird durch dieses Ornament bzw. diesen Paratext der Bildtapete732 an und über der Tür noch stärker als Ort der Fruchtbarkeit, des Frühlings als Zeit des Neubeginns und der Gartenelemente charakterisiert. Zudem werden sämtliche Wandflächen und ihre Raumwirkung nicht nur motivisch, sondern auch über den Hintergrund vereinheitlicht, was sich ebenfalls auf die Supraporte ausdehnt: Das Himmelblau des oberen Bilddrittels der Tapete, das mit dem leicht grau getönten Weiß der Wolkenformationen gemischt ist, zieht sich auch nahtlos von den Bildszenen über die Supraporte. [Vgl. Abb. 48]
732
Siehe das Teilkapitel 3.2.1 der vorliegenden Arbeit und die Ausführun-
gen zum Thema „Ornament-Paratexte und das isolierende Subjekt“.
297
Abb. 51 Telemach-Tapetenraum in RemscheidLüttringhausen, Szene 8: Flucht vor Calypsos Rache (Detail zwischen den Fenstern).
Tapezierte Liebes — Reisen
Der Raum wird auffällig durch (gut erhaltene) Goldleisten gefeldert, wie auch durch den Türrahmen, der zudem wie ein Sockel für die darauf ‚platzierte‘ Blumenvase im Empire-Stil dient. Die Vase teilt sich ebenfalls in einen Vasensockel, den Bauch sowie die Griffe in Schwanenform auf, wodurch sie sehr architektonisch wird und mehr wie ein Einrichtungsgegenstand als nur eine zufällige Verzierung wirkt. Sie bildet so mit dem Türrahmen – der wiederum als Ort des Ein- und Ausgangs in die und von der Inselwelt die Ankunftsszene direkt daneben räumlich-körperlich erfahrbar bzw. auf die eigene Körperbewegung im Innenraum übertragbar macht – eine Einheit. Die Blumen auf der Supraporte neigen sich leicht über die Vase hinaus, wie auch die Schwäne ihre Hälse bogenförmig schwingen, allerdings sind sie zusammengesteckt und zurückgehalten und in einem akkuraten Bogen angeordnet, der wie ein Giebeldreieck unter der Zimmerdecke sitzt. Hier dominieren wieder bis ins Detail geometrische Anordnungen und architektonisierte Naturelemente statt wuchernder Blumen und Büsche. Es ist auch sogleich festzuhalten, dass das sich hier aufhaltende ‚Zimmer-Flaneur‘-Subjekt – im Unterschied zu der Inka-und-Telemach-Raumeinheit in Warendorf mit ihren fließenden Übergängen und größeren Flächen dazwischen – nun vor klarer abgegrenzten Sinneinheiten zu stehen kommt. Zudem wird über die Supraporte eine Art Stopp-Markierung und Bewusstseinslenkung auf das Blumig-Dekorative erreicht, das noch stärker den Charakter des Konstruierten und Arrangierten in und mit den Tapetenszenen betont. Neben den Arrangements um die Türöffnung herum sind auch die um das Fenster der gegenüber liegenden Seite bemerkenswert: Dieses Fenster sitzt inmitten der Terrassenszene im Bild und trennt somit optisch die Gruppe von Telemach, Eucharis und dem sie ziehenden Amor sowie den Venustempel – also die Liebesgruppe – von der eifersüchtig schauenden Calypso, die nun relativ isoliert zwischen dem Fensterrahmen auf der anderen Seite und der Tamburin spielenden Statue steht, deren Oberkörper- und Kopfhaltung sowie Blickrichtung exakt mit ihrer übereinstimmen. So verschmelzen die Statue und Calypso zu einer Bildeinheit der ‚eifersüchtig Zurückschauenden‘ [Abb. 52 und Abb. 53]. Auch die im Bild und Realraum gedoppelte Ein- und Ausgangssituation, wie sie sich gegenüber in der Tür und der Ankunftsszene findet, ist hier wieder gegeben mit der Terrasse, die man optisch betreten kann als einen Sonder- und Zwischenraum innerhalb der Inselnatur, und dem Fenster, aus dem der Blick in den realen Außenraum (und zurück) wandern kann. Das Schauen, Anblicken sowie ‚aus dem Fenster Blicken‘ und ‚von der (Bild-)Terrasse zur (realen) Tür Gehen‘ verbindet sich somit zu einem sowohl bildlich als auch räumlich wahrnehmbaren Thema des Bewegens und Gleitens bei gleichzeitiger Isolierung einzelner Bildelemente bzw. deren Konzentration auf ein ihnen zugewiesenes
298
�. Die Paysage de Télémaque
Wandstück. Dadurch wird ein völliges mentales Versinken der Betrachtenden in die Einzelszenen verhindert und ihre aktive Bezugsetzung, die dann schrittweise stattfinden kann, eingefordert. Auch das brennende Schiff wirkt hier vor Ort als ein isoliertes Element; der Zusammenhang mit den brandstiftenden Nymphen und den flüchtenden bzw. vom Felsen springenden Reisenden fehlt hier, und dazu scheint das Schiff auch in das Fenster oder in die dahinter liegende Gartenanlage zu fahren. [Vgl. Abb. 51] Das Fahren in Linksrichtung findet sich auch mit den Schwänen in der letzten Szene zwischen den Fenstern der Längsseite wieder, die sich – wie auch der sich drehende Betrachtende – von den beiden Nymphen, die nach innen und außen blicken, abwenden und die Bildgeschichte beschließen. Interessant ist an den letztgenannten Anordnungen auch, dass sich mit dem brennenden Schiff, dem Fenster mit Blick auf den außen liegenden Garten und den Nymphen neben dem Schwanenteich drei für sich stehende Elemente finden, die einen gestaffelten Tiefen- oder Fernsog evozieren: Die Ausschau haltenden Nymphen befinden sich eher vorn nahe den Betrachtenden, das Schiff wiederum im etwas weiter entfernten Mittelgrund und die Welt ‚draußen‘ vorm Fenster ist zwar physisch nah, aber dennoch von diesem Standpunkt gesehen
299
Abb. 52 Telemach-Tapetenraum in RemscheidLüttringhausen, Szene 6: Terrassenszene (Detail neben dem Fenster). Abb. 53 Telemach-Tapetenraum in RemscheidLüttringhausen, Szene 6: Terrassenszene (Detail mit eifersüchtiger Calypso).
Tapezierte Liebes — Reisen
Abb. 54 „Inka“-Saal und Telemach-Salon mit „gedoppelter“ pompejanischer Sockelzone, Warendorf, Klosterstraße 7.
‚außen vor‘. Raumkompositorisch lässt sich außerdem festhalten, dass es eine sehr fließend ineinander übergehende Szenerie an der inneren Längswand von Erzähl-, Palast- und Jagdszene gibt, aber die eben erwähnten Szenen der Liebesgruppe vor dem Venustempel, der eifersüchtigen Calypso, dem Schiff und den schauenden Nymphen mehr für sich stehen und keine zusammenhängende Szenerie ergeben, sodass der Zusammenhang erst mit dem Erkunden und Erfahren des Raumes hergestellt werden muss. Zu der Felderung durch die Goldleisten ist noch weiterführend anzumerken, dass diese eine spezifische Klarheit in den Raum bringt, wie es mit der Thematik der Rahmung und Ausschnitthaftigkeit schon beschrieben wurde, und den Effekt der Trennung einzelner (Erzähl-)Einheiten betont. Dies wird dadurch verstärkt, dass hier keine verzierte Sockelzone vorhanden ist wie die pompejanische Sockelzone in Warendorf. [Vgl. Abb. 26] Zwar ist nicht gesichert, dass es nicht einst solche Papiersockel gab, die sich nur nicht erhalten haben, da jedoch die Goldleisten ein in sich geschlossenes Bordürensystem sind und die Supraporte auch erhalten ist, und hier im Ganzen Wert auf eine recht einfache und an Stelle von aufwändiger Zusatzdekoration die vorhandenen Fenster- und Türöffnungen mit einbeziehende Bild-Raum-Anordnung gelegt wurde, scheint es unwahrscheinlich, dass hier mit einer weiteren Bild-Symbolik-Ebene über eine Sockelzone gearbeitet wurde. Eine solche findet sich jedoch in Warendorf.
300
�. Die Paysage de Télémaque
Ein Vergleich zeigt, dass in Warendorf – im Unterschied zu Remscheid-Lüttringhausen – eine weitere Bedeutungsebene ‚unterhalb‘ der Bildszenerie aufgemacht wird. Hier hat man es mit einer etwas anderen Modellierung im Zusammenspiel mit der Tapete als mit den bisher genannten Brüchen durch Türen und Fenster, Rahmungen und Felderungen zu tun. Zum einen wird ein auch bildliches Fundament geschaffen, indem die ornamentalen Elemente auf der Sockelzone – abwechselnd die umrankten Säulen und die erhobenen Arme der Putten, die dabei sind eine Harfe zu schmücken – die Bildtapete ‚stützen‘. Zum anderen wird auf dieser Ebene noch einmal die räumliche Einheit der Inka- und Telemachräume betont, da in beiden dieselbe pompejanische Sockelzone verwendet wurde und in ihr auch noch zwei kleine Elemente aus jeweils einer der Tapetenszenerien zu entdecken sind: Die Sonne über der Äolsharfe verweist auf das Sonnentor und die Sonnenanbetung der Inkas, die Äolsharfe selbst wieder auf die Musikinstrumente in der Telemachtapete.733 [Abb. 54] Bezogen auf das Haus in Warendorf und seine Raumgestaltung allgemein passt es auch sehr gut zu dem einem Adelspalais nachempfundenen Ambiente mit Flügeltüren und Lüstern, die Dekorform der reich verzierten papiernen Sockelzone mit einzubeziehen und dadurch das herrschaftliche Wohnen noch näherhin zu unterstreichen. In Remscheid ist diese Art der Repräsentation im Wohnraum nicht zu finden, und sie entspräche auch nicht den Wohn- und Arbeitsverhältnissen vor Ort. Im Gegensatz zum hofrätlichen Haus in Warendorf ist der Kontext der ehemaligen Hammerhöfe viel industrieller geprägt: Auf Bodenschätze zurückgreifend wurden Stahl- und Eisenwaren hergestellt. Im Zuge des Handels damit ist dann in den 1820er Jahren auch die französische Bildtapete in das Haus eines der Eisenhändler gelangt und machte dort die Einordnung des Hauses in eine höhere bürgerliche Schicht, die sich durch Arbeit im eigenen Betrieb ihr Weiterkommen sichern konnte, sichtbar. Interessant ist zudem, wie der verarbeitende Sektor auf jeweils spezifische Weise im täglichen Leben ausgestellt bzw. zur An- und Übersicht gestellt wurde: zum einen im Außenbereich des Hauses und in der sozialen Zuordnung durch die Konzentration darauf, etwas herzustellen bzw. zu produzieren – das Haus ist verschiefert, und auch der Schiefer musste den Bergen abgerungen, musste zersägt und zugerichtet werden. Zum anderen geschah dies eben auch im Innenbereich mit der ebenfalls im Zuge der frühen Industrialisierung recht aufwendig handgedruckten Tapete. Das Wohnsub-
733
Siehe die den Szenenanalysen vorgeschalteten Ausführungen in Kapitel
4.3.1 der vorliegenden Arbeit.
301
Tapezierte Liebes — Reisen
jekt in Remscheid war geerdet, lebte mit und aufgrund von Erzeugnissen aus dem Erdreich und war auf diese Lebensgrundlage stolz genug, um auch im Interieur darauf zu verweisen. Letztlich stammt auch das Papier aus Holz, welches sich wiederum unter dem Schiefer im Fachwerk des Hauses findet, und in den Tapetenszenen verweist das Motiv des Wassers in seinen unterschiedlichen Aggregatszuständen auf die wassergetriebenen Hammerwerke und deren Produktivität. In all diesen Schichten des Hauses stellt sich die Industriellenfamilie selbst mit aus.
�.�.� Die Didaktiken der Insel und die Philanthropie auf Gut Borghorst: Der Telemach-Gartensaal Das dritte Beispiel für einen Telemach-Bildtapetenraum und seinen weiteren Kontext findet sich in einer Wald- und Weidelandschaft an der Landstraße zwischen Eckernförde und Gettorf im „Dänischen Wohld“. Hier liegt das seit etwa 1450 als Dorf bekannte ehemalige Adelsgut Borghorst.734 Es besteht aus dem Herrenhaus und einigen Neben- bzw. Wirtschaftsgebäuden, weist heute etwa 720 Quadratmeter Wohn- und 180 Quadratmeter Nutzfläche auf und wird als Gestüt, Reitschule und Pension sowie Veranstaltungsort genutzt.735 [Abb. 55 und 56] Im Jahr 1742 erwarb der großfürstliche Geheimrat Josias von Qualen das Gut von seinem Schwiegervater Wulf Blome und leitete umfangreiche Veränderungen ein.736 Zum einen vergrößerte er die Ausdehnung seines Besitzes und zum anderen verbesserte er, ganz dem Geiste der Aufklärung verpflichtet, die Verwaltung und das Sozialwesen und holte sich ab 1749 den bekannten Philanthropen Johann Basedow als Erzieher für seinen Sohn ins Haus737 – und somit 734
Georg Dehio: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Hamburg/
Schleswig-Holstein, hg. von der Dehio-Vereinigung und der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin/München: Deutscher Kunstverlag 2009. Siehe dort den Eintrag „Osdorf“ – „Gut Borghorst“, S. 734. Siehe weiterhin: Die Kunstdenkmäler des Landes Schleswig-Holstein Kreis Eckernförde, Band 5, hg. vom Landesamt für Denkmalpflege im Auftrag des Ministeriums für Volksbildung, Berlin/München: Deutscher Kunstverlag 1950, unter dem Eintrag „Borghorst“, S. 45–49. 735
Siehe Website: http://www.herrenhaus-borghorst.de/ [zuletzt aufge-
rufen: 29.08.2016]. 736
Vgl. Die Kunstdenkmäler des Landes Schleswig-Holstein Kreis Eckernförde,
wie Anm. 734, S. 45. 737 Vgl. Peter Hirschfeld: Herrenhäuser und Schlösser in Schleswig-Holstein, Berlin/München 1980, dort ist Borghorst unter dem Kapitel „Die Baumeister des
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�. Die Paysage de Télémaque
Abb. 55 Gut Borghorst, Blick über den Anlagensee auf das Herrenhaus. Abb. 56 Lageplan von Gut Borghorst mit Weideund Waldflächen.
einen Didakten, der wiederum stark von Rousseau beeinflusst war. Daniel Chodowiecki, ein weiterer Bekannter des Hauslehrers, der sich viel mit der Aufklärungspädagogik und Mentalität seiner Zeit beschäftigte, hat die Kupferplatten für Basedows pädagogisches Hauptwerk gestochen. Einige Jahrzehnte
späten Barock“ unter „Unbestimmbare Bauten“ eingeordnet, die „mit keinem Architekten in Verbindung zu bringen sind“, S. 185.
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Tapezierte Liebes — Reisen
Abb. 57 Herrenhaus auf Gut Borghorst: Treppenaufgang im Haus, nördlich der Eingangshalle. Abb. 58 Herrenhaus auf Gut Borghorst: Mezzaningeschoss im Haus, nördlich der Eingangshalle.
später wurde der repräsentative Gartensaal auf Gut Borghorst – entsprechend der aufgeklärten Familientradition – mit der Telemach-Tapete ausgestattet738 und das Landesamt für Denkmalpflege in Kiel geht davon aus, dass die Raumaufteilung des Herrenhauses seitdem weitgehend erhalten geblieben ist.739 Diese stellt sich wie folgt dar: Der Mitteltrakt des Querbaus ist um zwei leicht vorspringende Seitenflügel ergänzt, und der Ziegelbau ist weitgehend ohne Schmuck ausgeführt, bis auf den Dreiecksgiebel und das Sandsteinportal
738 Diese Tapete ist laut eines Kieler Gutachtens einer Trockenreinigung unterzogen worden, zudem konnten Risse geschlossen, Leimfarben nachgetragen und Retuschen im Himmel vorgenommen werden. 739 Informationen erhielt ich von Herrn Dr. Berthold Köster.
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zur Hofseite, das einen Mittelrisaliten andeutet. [Abb. 55] Es gibt an Frontund Rückseite insgesamt dreizehn Fensterachsen, sieben im Mitteltrakt und jeweils drei in den Seitenflügeln. An den Schmalseiten befinden sich jeweils vier Fensterachsen.740 Im Mitteltrakt befinden sich insgesamt sechs Räume, jeweils drei zur Hof- und drei zur Gartenseite hinaus. Vom Hof eintretend gelangt man in die Eingangshalle, die wiederum nördlich zum Treppenaufgang und zum Keller führt. Letzterer präsentiert sich als ein mittelalterliches Gewölbe mit einem Mezzaningeschoß darüber. Der Nordflügel liegt leicht niedriger als der übrige Bau.741 [Abb. 57 und 58] Zum Garten hin befindet sich, gleichsam in einer Achse mit der Eingangshalle, der tapezierte Gartensaal als prachtvolles ‚Zentrum‘, von dem nördlich die Wirtschaftsküche und der ‚Pinnower Salon‘, südlich der mit einer hellgrünen gestreiften Seidentapete verzierte Grüne Salon ausgehen. Es ergibt sich so ein ‚Rundgang‘ im Erdgeschoss, der über die sehr großzügig geschnittene Halle entweder durch den historischen Keller, die Küche und den Gesellschaftsraum oder durch einen weiteren kostbar tapezierten Salon in das ‚Zentrum Gartensaal‘ führt. [Vgl. Abb. 13] Durch die Flügeltüren, den direkten Zugang zu Terrasse und Garten sowie seine Spiegel und Lüster wirkt der Gartensaal besonders herrschaftlich. Ein Wechselspiel des Eintritts von der gartenarchitektonisch draußen angelegten Natur in eine an der Wand gespiegelte ‚Innenraumnatur‘ verbindet zudem raffiniert und noch einmal ganz anders als in Warendorf und Remscheid-Lüttringhausen das Draußen mit dem Interieur, sodass BesucherInnen und die BewohnerInnen selbst durch ihren Parcours und ihre Nutzung der verschiedenen Ein- und Zugänge in Richtung Gartensaal aktiv ihr Raumerleben gestalten und sich dabei nicht wie an einem intimen Rückzugsort fühlen konnten, sondern eher als im Zentrum des Geschehens ‚Empfangene‘. Die sehr pittoreske Umgebung mit Seen und weiten Flächen verstärkt den Eindruck, sich in einer Art ‚edlem Inneren‘ der Natur selbst zu bewegen, besonders, da das Herrenhaus ganz bewusst inmitten des Gartens, der Felder und des Gutshofes platziert ist und sich durch die kaum in die Vertikale gebaute Architektur – es weist über dem Erdgeschoss lediglich ein Obergeschoss auf und zieht sich eher in die Breite – sehr gut in die Ebene einpasst. Mit dem Lehrer Basedow und seinem pädagogischen Konzept, das auch Gut Borghorst beeinflusste, sind der Garten, die weiten Flächen und die von Gudrun König untersuchte Praxis des Spazierengehens nun an Ort und Stelle stark vernetzt: 740 Siehe: Die Kunstdenkmäler des Landes Schleswig-Holstein Kreis Eckernförde, wie Anm. 734, S. 45. 741 Ebd., S. 46.
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Tapezierte Liebes — Reisen
„Johann Bernhard Basedow, der Begründer des ‚Philanthropins für gesittete Stände‘ in Dessau im Jahr 1774, hatte den Anstoß gegeben, die körperliche Erziehung in den Schulunterricht zu integrieren. Er war wie die anderen Philanthropen stark von Jean-Jacques Rousseaus Erziehungsroman ‚Emile‘ beeinflusst. Joachim Heinrich Campe übernahm nach zwei Jahren von Basedow die Leitung des Philanthropinums.“742 Für Basedow und Campe war entsprechend den Vorstellungen von körperlicher Ertüchtigung und Abhärtung der Spaziergang eine
Tür und Supraporte „Gondel“
Szene 8
Szene 7
Szene 6 Szene 5
Fenster
Szene 0 „Bäume“
Szene 4
Terrassentür
Garten
Tür und Supraporte „Mutterschaft“
←
Teilszene 3
Fenster
Teilszene 3
„Löwe“ Szene 0
Szene 1
in
Szene 2
Ka m
Abb. 59 Grundriss des Telemach-Gartensaals mit Anordnung der Tapetenszenen, Gut Borghorst.
Tür und Supraporte „Tanz“
742
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Gudrun König: Eine Kulturgeschichte des Spaziergangs, wie Anm. 60, S. 207.
Halle →
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Abb. 60 Telemach-Gartensaal, Gut Borghorst, Tapetenbahn mit wasserspeiendem Löwen. Abb. 61 Telemach-Gartensaal, Gut Borghorst: Supraporte mit Tanzszene.
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Abb. 62 Telemach-Gartensaal, Gut Borghorst: Szene 1: Schwanenteich, Tanz der Nymphen und Opfer an Pomona. Abb. 63 Telemach-Gartensaal, Gut Borghorst: Szene 1: Schwanenteich (Detail).
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�. Die Paysage de Télémaque
„Verpackung für Lehrstunden und Lehrgespräche aus Anschauung. Dieser Spaziergang als Lehrgang sollte durch den Anblick und die Beobachtung der Natur Förderung der Erkenntnis sein und zugleich den Körper durch Bewegung und durch den Einfluss der Witterung stärken, nicht nur für Jungen, sondern auch für Mädchen.“743 Aus Sicht der Philanthropen war also der Spaziergang nicht nur, wie bereits ausführlich dargelegt werden konnte, eine Möglichkeit, sich gesellig zu zeigen und nach den üblichen Codes des Zusammentreffens und Kommunizierens zu agieren bzw. diese immer wieder neu zu bestätigen, sondern mehr noch ein (körperlicher) „Lehrgang“, was gewissermaßen eine Verschärfung des Prinzips der künstlichen Formung im Rahmen scheinbarer Natürlichkeit ist. So wie nun die Philanthropen „mit der Schaffung einer künstlichen Erziehungswelt auf die Gesellschaft rückwirken wollten“,744 lässt sich schlussfolgern, dass auch die Innenraumgestaltung als Teil eines größer angelegten Erziehungsprogramms gesehen werden muss. Um dies besser verstehen zu können, ist nun ein Überblick über die Anordnungen der Tapetenszenen im Gartensaal hilfreich, wie er auch schon für Warendorf und Remscheid-Lüttringhausen gegeben wurde. [Abb. 59] Aus einer der drei Flügeltüren kommend, vom Vestibül aus – man könnte hier vom Hauptzugang sprechen, da die anderen beiden Türen in zwei Nebenräume führen –, beginnt die Reihenfolge der Szenerie in der hinteren linken Ecke, nachdem man den Raum einmal schräg durchquert hat. Die hier angebrachte Bahn gehört nicht zur Telemach-Tapete, sondern ist unbekannter Herkunft. Sie zeigt eine wasserspeiende Löwenfigur mit Bäumen im Hintergrund und einem gut zwei Drittel der Bahn ausfüllenden Himmel. [Abb. 60] Der speiende Löwe wiederholt sich als architektonisches Element auch in der Palastanlage und passt daher exakt in das hier entfaltete Bildund-Raum-Programm. Über der Tür ist eine von insgesamt drei Supraporten, hier mit der Darstellung eines Reigens tanzender Mädchen, zu sehen, daran schließt sich in der nun schon bekannten Lesrichtung nach links entlang der Wand die Szene mit dem Teich, den tanzenden Nymphen und der Verehrung der Pomona an. Der arkadische Tanz auf der Haupt-‚Bühne‘, der großen Wand, wiederholt sich also in der komprimierten Form der Supraporte als einem ‚Nebenspielplatz‘ mit Bedeutungspotenzial für den Gesamtraum, wie noch näher auszuführen sein wird. [Abb. 61] In dieser Anbringungssituation findet sich nun der Teich, hinter dem die tanzenden Nymphen platziert sind,
743 744
Ebd., S. 209. Ebd., S. 210.
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Abb. 64 Telemach-Gartensaal, Gut Borghorst: Übergang von Tapetenwand mit Szene 1 zur stuckierten Ofennische.
vollständig mit der zugehörigen Statue, die aus Kannen Wasser hinein gießt (eine Modellierung des Motivs des Wasserspeiens bzw. -spendens und der Verbindung von [Marmor-]Statue und Wasser), sowie den drei schwimmenden Schwänen. [Abb. 62] Der Teich ist sehr klein, allerdings ist seine genaue Ausdehnung im Bild nicht ganz ersichtlich, da Teile von ihm durch Felsen und Bäume verdeckt werden. Die Vertikale des rechten Bildrandes wird durch die aufragenden Bäume und die senkrechte Statue sehr betont, dazu bildet der leicht absinkende Teich mit den drei Schwänen einen reizvollen Kontrast. Die Schwäne bilden eine miteinander in Beziehung gesetzte Gruppe: zwei von ihnen sind direkt nebeneinander in das Bildgeschehen hinein blickend positioniert und einer blickt sich – etwas weiter links schwimmend – nach ihnen um. Bemerkenswerterweise spiegelt sich diese Gruppen-Anordnung in den weiter in den Hintergrund gesetzten tanzenden Nymphen, denn auch hier blicken von der Dreiergruppe zwei nach rechts und eine (in schwanenweiß gekleidete) nach links ins Bildgeschehen. Jedoch haben eine vierte und mit Abstand nach links sogar noch eine fünfte Nymphe an dem Tanz teil bzw. streben ihm zu. [Abb. 63] Auch die Pomona-Gruppe entspricht in ihrem Blickaustausch genau der Schwanengruppe auf dem Teich – die beiden rechts stehenden Frauen blicken nach links und die links platzierte nach rechts zu ihnen hin. Die Anordnung der Figuren in den Bildern korrespondiert also in den Wiederholungen bzw. Spiegelungen mit den Spiegeln im Raum und sorgt dafür, dass Blicke hin- und zurückfallen und nicht unbedingt an einer Stelle oder einem Motiv haften bleiben. Bevor sich die Ankunfts- und Mammiabankszene anschließen, fällt in der Ecke eine weiße, reich stuckierte Ofennnische auf, die zudem eine eben-
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�. Die Paysage de Télémaque
falls in Stuck geformte Vase trägt. Die originalen Stuckierungen, die sich in allen Ecken finden und den Raum plastisch überformen, besonders in der Decke mit den in den Raum schwebenden Putti, lassen den Raum weniger streng-klassizistisch und sehr verspielt erscheinen; hier ist also eine starke Affinität zu den reich verzierten Sälen in Schlössern festzustellen. Hierin unterscheidet sich auch die Borghorster Raumsituation ganz markant von der in Warendorf und Remscheid-Lüttringhausen. [Abb. 64] Die Haupteingangstür trennt nun die Erzählszene dergestalt, dass Telemach, Mentor und Calypso (sowie die sitzende Nymphe in Rückenansicht) rechts der Tür (von innen und in Lesrichtung aus gesehen) und die Gruppe zuhörender Nymphen nebst der an der (Opfer-)Feuerstelle Stehenden links der Tür platziert sind. Dadurch ergibt sich als räumlich-körperliche Erfahrung derer, die den Raum durch den Haupteingang betreten, dass sie mitten durch diese Erzählgruppe hindurch eintreten; sie nehmen also in diesem Moment – und sobald sie sich zu den Szenen umdrehen auch für sie sichtbar – an dieser Runde teil. Somit werden sie auf einer übergeordneten Ebene Teil der Fiktionalität, die wiederum in den Bildern ebenfalls thematisiert wird, da die fiktiven Charaktere dem Bericht über andere fiktive Charaktere in der erzählten Vergangenheit Telemachs lauschen. Die Verkettung von Imagination, Erzählung, Zuhören
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Abb. 65 a Telemach-Gartensaal, Gut Borghorst: Szene 3 rechts von Tür und Supraporte. Abb. 65 b Telemach-Gartensaal, Gut Borghorst: Szene 3 links von Tür und Supraporte.
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und Weitertragen sowie Anordnen und Nachvollziehen im Raum wird hier besonders eindrücklich performativ erfahrbar. [Abb. 65a und 65b]
Die Supraporte über dieser Haupttür bringt ein Thema mit in den Raum, das nur auf den ersten Blick nichts mit den sonstigen Erzählungen und Figuren zu tun hat: das der Mutterschaft und Mutter-Kind-Beziehung. Doch wie bereits argumentiert wurde, wird hier gerade eine in den Telemach-Bildtapetenräumen zentrale Grundlage visualisiert, die nun lediglich in der Supraporte eine konkretere Form der Darstellung findet bzw. thematisch gespiegelt wird, als (Leit-) Prinzip jedoch auch immer in den Bildtapetenszenerien präsent ist. Der Blick auf die Zimmerbilder im zweiten Kapitel hat gezeigt, wie Natur in den Wohnraum geholt und zugleich als weiblich-geordnete Sphäre inszeniert wird, sodass einer Verknüpfung von Weiblichkeit, gemäßigter Natur, Fruchtbarkeit und Geburt der Weg geebnet ist bzw. die Frau als zurückhaltend, über einen begrenzten (Innen-)Raum verfügend und mit den familiären Aufgaben wie der Hausmusik, dem Arrangieren von Blumen und eben auch dem Gebären und Erziehen von Kindern naturalisiert wird.745 Auch die Pomona-Vertumnus-Geschichte holt die Vorstellung einer Gleichsetzung der (hegenden, pflegenden) Frau mit ihrem Garten mit in den Raum. Zudem konnte auch der Zusammenhang mit den Medizinphilosophen und der Hygiene als Paradigma der Zeit um 1800 schon hergestellt werden, aus dem sich das Image der selbst stillenden und treusorgenden Mutter herausgeschält hatte, das sich hier in Borghorst nicht gerade zufällig über der Haupttür zum Telemach-Gartensaal konkretisiert. Es sind auf der Supraporte gleich zwei voneinander getrennt gezeigte Mutter-Kind-Beziehungen thematisiert. Auf einer Veranda – erkennbar an der Balustrade, die wie auch die Terrasse auf der Insel der Calypso eine Bühne für die Figuren bildet und zugleich die Natur in den Hintergrund verweist –, sitzen beide Frauen zwar mit ihren Oberkörpern einander zugeneigt, aber in entgegen gesetzte Richtungen blickend. Die linke lehnt ihren linken Arm angewinkelt auf die Wiege, in dem ihr Baby schläft, und die Zugehörigkeit von Mutter und Kind wird noch ein weiteres Mal betont, indem auch das Kind sein rechtes Ärmchen anwinkelt. Zusätzlich trägt das Kind eine weiß-blaue Mütze, die wiederum die Farben des Kleides der Mutter aufnimmt. [Abb. 66] Zudem hält diese Figur in der anderen Hand ein Musikinstrument – eine Laute – und bringt somit die den Frauen zugewiesenen Aufgaben des Musizierens und der Kindererziehung zusammen. Die rechte Mutterfigur wiegt ihr Kind auf dem Schoß und verweist auf ihre linke Brust und damit auf das Stillen. Auch hier tragen sowohl Mutter als auch Kind weiß-blaue Kleidung.
745
312
Vgl. meine Thesenformulierungen zu den Zimmerbildern im Kapitel 2.2.1.
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Sehr bemerkenswert ist an dieser Supraporte auch, wie mehrere Schutzräume gebildet werden, denn die Mutter-Kind-Figuren sind eben nicht in eine freie Natur gesetzt. Beide Figuren sind mit dem Rücken in einem runden Vorsprung platziert auf eher bequemen Sitzgelegenheiten, wobei die rechte sogar ihre Füße auf einem Bodenkissen abstellt. Sie sind außerdem zur Bildmitte hin durch Kleinmöbel voneinander abgesetzt, links in Form der Wiege und rechts in Form eines Konsolentischs. Auf dem Tisch ist ein Vogelkäfig mit zwei Vögeln zu sehen, welche die Situation der (skopischen) Gefangennahme746 und der Ein-Rückung der beiden Frauen an für sie bestimmten Orten spiegeln. Das Begehren, welches das Kätzchen auf dem Tisch normalerweise nach den Vögeln haben müsste, wird von dem Käfig weg in Richtung einer Trinkschüssel kanalisiert, über die das Tier verspielt eine Pfote hält. Auch die Babies haben ihre Schutzräume, das linke in der noch zusätzlich mit dem mütterlichen Tuch abgeschirmten Wiege und das rechte in der Bedeckung mit dem orangefarbenen Tuch und in der Wiegeposition nah am Körper der Mutter. Die Naturelemente – Bäume, Büsche und Blumen – sind von dieser Veranda-Bühne verdrängt und schließen auf einer geraden Linie etwas über den Köpfen ab, sie bilden eher den rahmenden Hintergrund für die Frauen. Wo diese Elemente auf die Veranda kommen, sind sie sorgfältig arrangiert und sehr klein, in den Vasen rechts der Frauen, in Form von Blumenkränzen auf dem Kopf der rechten Frau und an der Wiege. Diese Art der ‚Bändigung‘ und Ein-Topfung von Natur und ihr Anbringen am Körper ist auch wiederum mit der Verknüpfung von Weiblichkeit und blumig-wohlriechendem Ambiente, also dem hier ins Bild gesetzten ‚Duft der Frauen‘ zusammen zu denken, denn „[d]ie köstlichen Wohlgerüche besiegeln das Bild eines durchscheinenden Körpers, den man sich als schlichten Widerschein der Seele wünscht – eine ehrgeizige Strategie, die darauf ausgerichtet ist, den Gefahren der Animalität zu trotzen und die Triebe der Frau zu zügeln. Man will sie als Rose, als Veilchen oder als Lilie, […] die der Blumenwelt entlehnten Bilder vertreiben jene anderen, die dem Zyklus der fleischgierigen Raubtiere enstammen [Hervorhebung der Autorin].“747 Der Raum, in dem sich die Frauen mit ihren Babies befinden, ist folglich strukturell einem Innenraum ähnlicher als einem Außenraum, bzw. eine Terrasse
746 Vgl. meine Ausführungen zur dominant fiction und „skopischen Gefangennahme“, ebd. 747
Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs,
übers. von Grete Osterwald, Berlin: Wagenbach 2005, S. 246.
313
Abb. 66 Telemach-Gartensaal, Gut Borghorst: Supraporte mit Müttern.
oder Veranda ist auch ein Zwischenraum und gehört noch zum Gebäude, an das sie gebunden ist. So sind die Frauen hier in einer häuslich-geschützten Sphäre platziert und überblicken von der Haupttür aus den Raum. Das genaue Gegenbild zu dieser mütterlichen Frauenrolle wäre dann z.B. eine rasende Calypso, die – von ihren Leidenschaften innerlich zerrissen – eben nicht das Ziel einer Familiengründung vor Augen hat, sondern eher die Machterlangung über den auf ihre Insel gelangten Jüngling. Die Bildtapete zieht sich nun zwischen der Palastszene und der Demeter sowie dem brennenden Schiff und dem Sprung ins Meer an einem Stück an der Wand entlang, wobei wie in Warendorf und Remscheid-Lüttringhausen die Biegung um die nächste Ecke des Raumes an der Stelle nach der Jagd bzw. an der rechten Begrenzung der Terrasse verläuft. [Abb. 67] Hier in Borghorst ist nun also die inhaltlich zusammengehörige Szene von Brandstiftung, Sprung ins Meer und Beobachtung durch Calypso und ihre Begleiterin an einem Stück vor dem dritten Türrahmen zu sehen, sodass die Geschichte an dieser (innen von der Haupttür aus linken) Wand ‚zuende‘ erzählt ist. Über der dritten Tür befindet sich ebenfalls eine Supraporte, die eine Gondelfahrt thematisiert. Hier sind sechs Figuren, drei männliche und drei weibliche, abgebildet, sodass sich allein durch die Figuren und ihr Geschlecht Paarungen ergeben bzw. solche visualisiert werden. [Abb. 68] Zwei männliche Figuren befinden sich in der Gondel rechts im Bild, der eine stößt mit dem Riemen die Gondel ab und der andere reicht einer der Damen die Hand, damit sie das Boot betreten kann. Rücken an Rücken mit dieser ist ein Harfespieler abgebildet, der die Mitte des Bildes markiert und zu dessen rechter (d.h. für die Betrachtenden linker) Seite eine sitzende und eine stehende Dame
314
in seine bzw. die Richtung der Gondel schauen. Formal gesehen ergibt sich zum einen eine Dreier-Anordnung der Gondel- und der Musikgruppe und zum anderen eine sehr deutliche Rahmung der drei Figuren auf dem Boot und der beiden Damen links, deren Köpfe jeweils von den Bäumen im Hintergrund abgerundet sind, während der Kopf des Harfespielers ‚frei‘ in das Blau des Himmels ragt. Diese Supraporte holt die Thematik eines beliebten Zeitvertreibs des venezianischen Renaissance-Adels in den Raum, der über die geschmückten Gondeln seine Repräsentationsbedürfnisse vom Palast auf das Wasser ausdehnte, und betont gleichzeitig auch den Aufführungscharakter, der mit dem Thema Venedig und der venezianischen Oper verbunden ist. Der etwas isolierte Harfespieler fungiert hier wie ein Erzähler, der von Freizeitgestaltung, Paarungen beim Gondelfahren und vergnüglichen Ritualen berichtet. Diese Paarungen finden (wie bei der Mutter-Supraporte) in einem regulierten und abgesicherten Raum statt, schließlich fahren die Figuren auf Gondeln im seichten Wasser und nicht etwa auf Stromschnellen oder dem offenen Meer, ähnlich wie auch die Jagd und die Tänze auf der Telemach-Tapete einen geordneten und feierlichen Charakter haben. Die Wahl dieses Motivs und seiner Anordnung passt zum Rokoko-Ambiente des Saales, der ja mit den Stuckierungen, Spiegeln und den schwebenen Putten keine klassizistische Strenge im engeren Sinn aufweist, sondern sehr verspielt gestaltet ist. Zur Zeit des Rokoko fanden theatrale Aufführungen vor und mit dem ganzen Hofstaat regulär im Alltag statt und im Hochadel kann man sämtliche Handlungen des streng reglementierten Protokolls als tägliches (Wieder-)Aufführen bezeichnen. So ergänzt und kommentiert die zusätzliche Ebene von Theatralität speziell dieser Gondel-Supraporte das auf der ‚Tele-
315
Abb. 67 Telemach-Gartensaal, Gut Borghorst: Szene 4–7 entlang der Ecke des Saales.
Abb. 68 Telemach-Gartensaal, Gut Borghorst: Supraporte venezianisch, mit Gondelmotiv.
mach-Bühne‘ der Bildtapete stattfindende Spiel und erfüllt, mehr noch, die Funktion eines visuellen Hinweisens auf den fiktionalen Charakter und das Durchdringen von realem Raum, Alltagsgestaltung und Imagination bzw. Schein. Das „geistvolle[n] Spiel mit der Trennung zwischen Realem und Irrealem“ zeichnet die Epoche des Rokoko besonders aus, und „Theater und vor allem Oper sind gerade darum die Kulminationspunkte dieser Ästhetik.“748 Besonders Venedig – das hier über die Gondel aufgerufen wird – ist auch im darauf folgenden Jahrhundert noch ein Bild für Theatralität und Festivität schlechthin: „Die Serenissima wird zu dem erstarrten Bild, das man später als ‚perennierende Festdekoration‘ bezeichnet hat. […] Sieben Theater und sechs Opernhäuser, die meisten davon mit je fünf Rängen aus reich verzierten Logen, locken mit großen Komödianten, mit den führenden Kastraten und Sopranen Europas und den teuersten Bühnendekorationen.“749 An die Tür mit dieser Gondel-Supraporte schließt sich keine Telemach-Szene mehr an. Die Wand gegenüber des Haupteingangs ist nicht tapeziert, denn sie ist durch zwei Fenster, die mittige Verandatür zum Garten hin und die dazwischen gesetzten Konsolentische mit großformatigen Spiegeln gegliedert. [Abb. 69]
748 749
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Marcus Felsner: Rococo, wie Anm. 613, S. 155f. Ebd., S. 163f.
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Abb. 69 Telemach-Gartensaal, Gut Borghorst: Spiegel zwischen den Fenstern gegenüber der Tapezierung.
Die beiden Tapetenstreifen rechts und links dieser Wand mit den Spiegeln, die nicht (mehr) Teil des Telemach-Geschehens sind, zeigen links den schon genannten wasserspeienden Löwen und ihm direkt gegenüber ein weiteres Baumarrangement aus derselben Tapete mit demselben blau-violetten Himmel und in dieselben goldgelben Bordüren gefasst, die sich ebenfalls von denen der Telemach-Szenen unterscheiden. Das Gesamtprogramm im Raum ist sehr sorgfältig aufeinander abgestimmt und verbindet insbesondere über die einzigartige Supraporten-Dreiergruppe die Themenbereiche von Mutterschaft und Innen-/Zwischenraum sowie Theatralität und Festivität mit der Telemach-Reise und mit adeligen Dekoren sowie dem Prinzip von Wiederaufnahme und Spiegelung(en).
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Tapezierte Liebes — Reisen
�.� Klassizismen und Fantasmen in Interaktion: was ‚Personal‘, Natur und Architektur der Tapete erzählen Auf den folgenden Seiten sollen noch einmal die wichtigsten Aspekte, die sich aus der Analyse der einzelnen Telemach-Tapetenszenen ergeben haben, unter dem Fokus der Figurenkonstellationen bzw. -anordnungen, der Naturgestaltung und der architektonischen Elemente herausgehoben werden. Die Telemach-Tapete führt aus einzelnen Figuren und horizontalen wie vertikalen Schichten Bildwelten zusammen, die dann in konkreten Räumen und der Rückkoppelung mit betrachtenden Subjekten wiederum unterschiedlich wirkmächtig werden. Unter anderem ist es interessant genau danach zu schauen, was wie situiert wird, also in Bezug auf die Figuren zu fragen: Wie verhalten sich in einer bestimmten Szene beispielsweise Amor und Calypso oder Telemach und Eucharis – oder verschiedene Gruppen von Figuren – zueinander? Das feste ‚Personal‘ der Tapetenszenerie, auf das oben bereits vielfach Bezug genommen wurde, setzt sich aus Telemach, Mentor (Athene), Calypso, Eucharis, Venus und ihrem Sohn Amor, weiteren Nymphen sowie den dominant platzierten Statuen der Pomona am Anfang und der Demeter (Psyche) gegen Ende des Erzählverlaufs zusammen. Diese Figuren sind im Vergleich mit ihrer Umgebung sehr klein und in einander ähnlicher antikisierender Kleidung und Haarfrisur dargestellt, sodass in Folge keine von ihnen zum zentralen Motiv der Bilder(sequenzen) wird. Es handelt sich statt dessen um in die Landschaft gesetzte, kleinere Figuren oder vielmehr Kombinationen von ihnen und weiteren um sie herum gruppierten Elementen, die dann das eigentliche ‚Motiv‘ – oder besser: eine Bildaussage – generieren. Wie in Kapitel 4.1 herausgearbeitet wurde, war die Textgrundlage von Fénelon zur Zeit der Spätaufklärung und auch noch bis ins 19. Jahrhundert in ganz Europa äußerst beliebt und viel bekannter als es heute der Fall ist. Man kann also davon ausgehen, dass zeitgenössische BetrachterInnen zumindest mit den Grundzügen dieser Erzählung und vor allem ihrem pädagogischen Kern vertraut waren – denn dies ist die Telemach-Geschichte vor allem: ein pädagogisches Lehrstück über ein (ge)rechtes Verhalten, über angemessenes Umsetzen von Erlerntem in neuen Situationen und über den Umgang mit Extremsituationen für einen männlichen Heranwachsenden. Das Tugendideal, das sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts im Zuge der Verbürgerlichung der Wohn- und Lebensweise herausbildete, ist nicht mehr darauf ausgerichtet, Heranwachsende auf das Leben und die Ent-
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scheidungsbefugnisse eines Herrschers vorzubereiten wie zur Lebzeit und in den Adelskreisen Fénelons, sondern sie statt dessen auf den Lebensweg eines ‚guten‘ Bürgers zu bringen. Mentor als Erziehungsfigur und Korrektiv taucht zwar auch in der Tapete als Begleiter Telemachs auf, jedoch tritt sein sich im Text in autoritären Reden und Maßregeln äußernder Einfluss auf den Königssohn hier nun komplett in den Hintergrund und wäre auch aus bürgerlicher Sicht verfehlt, da sich eine Erziehung nach der Episteme der Aufklärung als Selbst-Formung zu vollziehen hatte. Es bedarf zwar durchaus eines Mentors, jedoch gilt: „Väterlichkeit (Freund, nicht Richter sein) dient als das pädagogische Intrusionsmittel schlechthin. Zur Verschließung des Körpers ist die Öffnung der Seele komplementär.“750 Statt eines Befehlstons wird ein Modus der liebevoll-freundschaftlichen Empfehlung bevorzugt, und das Umdenken der Zöglinge soll über einen Austausch der Seelen geschehen, die einander nahe sind und vertrauen. Solch eine Seelenfreundschaft ist als Lesart der Telemach-Tapete auch deshalb naheliegender, weil Mentor gerade nicht als die Gottheit dahinter – Athene bzw. Minerva – visualisiert wird und somit als eine transzendente Entität mit übermenschlichen Fähigkeiten und Einsichten, sondern als weises Väterchen und Denkerfigur. Gerade seine aus der Konstellation der Tapete auf die Betrachtenden ‚hinaus‘ schauende Pose in der Erzählszene unterstreicht, dass er eigentlich ein nahendes Unheil kommen sieht und der momentanen Idylle misstraut bzw. eine andere Denk-Haltung einnimmt, die später Telemach – im Sinne des Tugendmaßstabes – aus den Verstrickungen der Insel retten soll. In sich an antiken Texten und Philosophemen orientierenden Epen gibt es häufig eine weise, über das momentane Geschehen hinaus denkende und dieses gewissermaßen schon vorweg kritisierende Figur, wie sie besonders eindrücklich der portugiesische Renaissance-Schriftsteller Luís Camões mit dem ‚weisen Alten‘ in den „Lusíadas“ geprägt hat.751 Religion, Spiritualität und Transzendenz sind durchaus auf der Tapete präsente Themen, doch eine den Menschen direkt leitende Gottheit – die sowohl in den antiken Epen als auch in Fénelons Roman noch üblich und geradezu Voraussetzung der ganzen Handlung gewesen war – bekommt nun keine herausragende Bedeutung mehr. Freundschaft auf Augenhöhe, von Mensch zu Mensch, entspricht eher den zeitgemäßen Vorstellungen. Die antiken Heldinnen und Helden irren und verirren sich, zweifeln und leiden,
750
Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, wie Anm. 61, S. 88.
751
Dieser fungiert in dem Epos als Erzähler- und Kommentatorfigur und
schafft eine (philosophische) Distanz zur Dramatik des Plots. Traditionell wird eine solche ‚über den Dingen stehende‘ Figur mit dem Schriftstellersubjekt ineins gesetzt und soll dessen ästhetische und/ oder politische Ansichten vertreten.
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und so wird die Odyssee des Lebens junger Menschen, die als leicht abzulenken und ihre wahren Ziele erst mit der Zeit erkennend typisiert werden, zum Rahmenthema gemacht. Seit dem 18. Jahrhundert wird an Stelle einer Lesart von der Autorität eines göttlichen Willens, einem zu erduldenden undurchschaubaren Schicksal und der Unterordnung des Menschen unter eine nicht lokalisierbare höhere Bestimmung viel mehr Bezug zur individuellen Lebenserfahrung im Hier und Jetzt der RezipientInnen hergestellt. Dies gilt auch für die zweite große Figurenkonstellation neben der Telemach-Mentor-Beziehung, der Dreiecksbeziehung zwischen Telemach-Calypso-Eucharis. Auch hier ist es höchst aufschlussreich danach zu schauen, wie welche Figuren auf der Tapete verkörpert sind und was ihre Gestik, Mimik und Platzierung über sie und ihre Rolle aussagen. Die Rolle Mentors sagt hauptsächlich etwas über Erziehungs- und Adoleszenzkonzepte aus. Die Ausgestaltung der Calypso ist v.a. im Hinblick darauf bemerkenswert, für welches Konzept von Weiblichkeit bzw. einer weiblichen Liebenden sie bisher stand – wenn man sich noch einmal ihre Rolle bei Fénelon oder im Musiktheater vor Augen führt – und wie sich dieses nun auf der Tapete darstellt. Sie ist traditionell die Zurückgewiesene (sogar doppelt, von Odysseus und später von Telemach), die Verlassene, die Zürnende und Rächerin, und zugleich die Zauberin und Inselherrin, die zwischen den Polen der Machtausübung und des Verlassen- und Besiegtwerdens schwankt und somit eine Herausforderung bzw. eine zu bestehende Prüfung für Telemach ist. Sie erfüllt also weder im Fénelon’schen Text noch in der Tapete allein die Rolle der weisen oder gar göttlich-alterslosen Herrin über die Insel und über das Geschehen, sondern irrt im Text verzweifelt und auf den Tapetenszenen eher beobachtend und begleitend durch die Umgebung. Sie wird jeweils auf eine spezifische Weise als eine Einfügung in die Natur modelliert – im Text und, wie deutlich geworden ist, auch auf einigen Bildern in der Kunst- und Theatergeschichte, zieht sie sich in eine Grotte zurück, während sie auf der Tapete immer sichtbar, aber eher auf Nebenschauplätze verlegt, zwischen den anderen Elementen und Figuren posiert. Dabei ist, wie Ulla Terlinden bemerkt, „[d]ie Naturhaftigkeit, die den Frauen anhaftet […] wie das Wohnen auch, Resultat dauerhafter, sich reproduzierender gesellschaftlicher Zuschreibungen, die tief im Bewusstsein der Menschen vorhanden sind und sich auch in den Körpern von Männern und Frauen manifestieren. Aufgrund dieser sich immer wieder reproduzierenden Deutungen und Handlungen ergeben sich soziale Strukturen.“752
752
320
Ulla Terlinden: „Naturalisierung und Ordnung“, wie Anm. 414, S. 19.
�. Die Paysage de Télémaque
Da es sich um einen der ‚Inselherrin‘ gehörenden Ort handelt, der komplett weiblich markiert ist, handelt die Telemach-Geschichte – und zwar sowohl der Ausgangstext als auch die Tapete – ganz vordergründig von Geschlechterbeziehungen und vom Eindringen des Helden in eine weibliche Sphäre. Besonders die Schlüsselszene auf der Terrasse, die nach der Textvorlage eine aufgelöste und vor Wut schäumende Calypso-Figur zeigen müsste, aber stattdessen eine zurückhaltend am Fuße der Terrasse nur leicht ihren Schleier hebende Figur präsentiert, ändert gerade in dieser Form der Darstellung auch den Inhalt der Aussage: Calypsos Blick auf das Paar links deutet gerade den Kennern des Erzählstoffes die eifersüchtige Grundhaltung durchaus an. Statt jedoch eine große Dramatik, ein Chaos und Ausbrüche an Gefühlen hervorzubringen, verbreitet die Figur eine ruhige und geordnete Stimmung und favorisiert damit implizit eher einen Trieb-Stau als eine Verausgabung und Ekstase. Gerade die Zusammenfügung der Bildwelten (und nicht lediglich die Figuren bzw. ihre vermeintlich bekannte Geschichte) generiert eine Gesamtaussage – wie hier die Eifersuchtsszene auf einer sommerlichen Terrasse im Grünen neben der Jagdszene und dem Opfer an Demeter. Hier werden Vorstellungen von Ordnung, Mäßigung und Zurückhaltung und auf einer körperlich-gestischen Ebene auch von Grazie und Anmut vermittelt, wie sie gleichzeitig in anderen Formen der Kunst, wie etwa in Canovas Plastik, zum Ausdruck kommen. Die Haltung der „Siegreichen Venus“,753 die Calypso noch in der Erzählszene ziemlich exakt einnimmt, und die von Selbstsicherheit, Dominanz und Beherrschung der Situation zeugt, weicht auf der Terrasse der Haltung einer seitlich platzierten eifersüchtigen, aber zurückgenommenen Figur, die zwar beobachtet, aber nicht das Bildgeschehen dominiert. Von Rachsucht oder Brandstiftung ist mit der Tapetensprache nicht auszugehen. Eine Anmut der Körperhaltung und Gestik, wie sie Winckelmann und Herder propagierten, ist hier relevanter als das Zeigen großer Gefühle, obwohl diese durchaus artikuliert, nur eben auf andere Bildelemente verschoben werden. Dies entspricht auch den gängigen Geschlechterkategorisierungen und Bemühungen um die Gleichsetzung von Weiblichkeit, Natur und Ausgeglichenheit. Die Dreiecksbeziehung zwischen Telemach, Calypso und Eucharis, die ménage à trois der Tugend und Mäßigung, wie sie in Kapitel 3.1.1 genannt wurde, ist ein didaktisches Exempel für den Alltag der BetrachterInnen und BewohnerInnen, in dem Liebe, Sexualität und Verlangen nicht etwa getilgt oder aus der Bildsprache ausgeschlossen werden, aber in bereinigter und verklausulierter Form vorgeführt, um so durchaus mitzuteilen, wer der oder die Verlierer im
753
Vgl. die Szenenanalyse in Kapitel 4.3.1 der vorliegenden Arbeit.
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Tapezierte Liebes — Reisen
Liebesspiel sind, und welches Modell von Liebe anzustreben ist. Was die Tapete nicht zu sehen gibt – sei es der Schiffbruch als solcher, das Bacchantische oder Ausschweifende auf der Insel, die Verzweiflung in der Grotte oder die künstlich erwirkte Affektentladung Telemachs, die in Richtung Eucharis kanalisiert wird – ist dabei ebenso Bestandteil ihrer Aussage, wie die Tatsache, dass die Lesrichtung immer wieder zum Tanz der Nymphen und zur Insellandschaft zurückführt und es visuell kein Entkommen von der Liebesinsel gibt. Der pädagogische Plan eines Erreichens der vernünftigen Liebe am Ende kann also räumlich und performativ nicht nachvollzogen werden. Dadurch setzen die Bildtapete und ihr Personal auch Kontrapunkte im Rahmen der Aufklärungs- und Ordnungsdidaktiken, die zu einer Unentschiedenheit und Unauflösbarkeit des Liebeskonfliktes führen, außer, die Betrachtenden lösen ihn imaginativ im Weiterdenken der Bildszenen auf – was die Tapetenzimmer auch zu veranlassen in der Lage sind. Was nicht zu sehen gegeben wird, kann weitergedacht werden, jedoch in den vorgegebenen (Ordnungs-)Bahnen der vorhandenen Bilder und Parcours. Um hier noch einmal auf die Naturalisierungen in den Bildern zurückzukommen, entspricht die Zurücknahme von starken Affekten wie Lust und Rache und das Grazile in Calypsos Gestik auch einem durch Göttinnenverehrung, Demeter- und Fruchtbarkeitssymbolik sowie musikspielende Gefährtinnen nahegelegten maternalen Weltschema. Dieses ist zum Teil auch in Fénelons Text schon angelegt, trifft dort jedoch auf das männliche (Macht-)Wort Mentors – und letztlich auch des dahinter geschalteten Autors Fénelon –, sodass sich eine Art männliches Prinzip von Weisheit und Schrift (Logos) mit einem weiblichen von Mündlichkeit (Oralität auch im Sinne des Stillens bzw. Nährens) und erzählender Überlieferung (Mythos) zu verbinden scheint: „[…] ne l’oublions pas, les différentes icônes de la paternité, substitutives du père absent, cachent en leur fond le secret d’un cœur maternel. […] Car enfin le lait de Minerve et la parole de Mentor, modèle achevé de l’éloquence fénelonienne, se correspondent jusqu’à coincider: face à la loi paternelle du livre, ils suggèrent une loi maternelle de l’oralité et de l’expérience, qui ne nous semble pas contredire la première […].“754 In der Tapete tritt nun erstens das Mentor-Machtwort hinter die weiblich-maternale Struktur der Landschaft zurück, während zweitens diese Struktur deutlich entdramatisiert, harmonisiert und gereinigt wird. So ist die Land754
Benedetta Papàsogli: „Pour et contre la lecture: paradoxes du Téléma-
que“, in: Jean-Philippe Grosperrin (Hg.): Fénelon, Les aventures de Télémaque, Paris: Champion 2009, S. 315–330, hier S. 325.
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�. Die Paysage de Télémaque
schaft zwar narrativ und auch in erkennbarem Bezug zur Ausgangsgeschichte gestaltet, zugleich aber auch als eine einheitlich-idyllische Formung ohne (ver) störende Brüche (die sich aber dann im spezifischen Raum ergeben können). Das männlich-väterliche Mentoring bleibt als Folie von Bedeutung, steht aber nicht so sehr im Vordergrund; dies wird am deutlichsten in der Schlussszene: eigentlich wird der eher willenlose Telemach von seinem weisen Freund vom Felsen gestoßen, um überhaupt die Flucht zu ermöglichen, doch hier springt er aktiv voran und weder sein noch Mentors Sprung wirken gefährlich oder riskant. Mit bildsprachlichen Mitteln wird eine Didaktik vorgeführt, die den oben beschriebenen Idealen der Mäßigung, Ordnung und freiwilligen mühelosen Anpassung an moralisch-sittliche Pflichten entspricht. Die kultivierte (Garten-)Landschaft bietet eine entsprechende Kulisse, die auf ihre Weise die Traktatphilosophie und hygienischen Schriften des 18. Jahrhunderts stützt. Die Kultivierung ist einer der zentralen Punkte in der Tapete und ihren verschiedenen Anbringungssituationen, denn letztlich geht es sowohl um die Behandlung und Beherrschung bzw. Nutzbarmachung von Natur als auch um die Kontrolle über die ‚Naturfunktionen‘ der Geschlechter und insbesondere des Weiblichen. Das Eingreifen und Beherrschen ist mit der Durchsetzung eines Lebens-, Wohn- und Liebesideals verknüpft, und in Borghorst findet sich diese Verknüpfung noch explizit über der Tür mit den beiden Mutter-Kind-Bildern vor der Gartenkulisse: „Züchtungsstrategien bilden einen Grundmechanismus der Agrikultur: Natur wird erstmals in einigen Segmenten nicht als dasjenige, das von sich aus da ist (physis), behandelt, sondern als Produkt von Eingriffen (techné). Die räumliche Verstetigung war mit der Durchsetzung von Eigentum verbunden.“755 Die Aufzucht von Pflanzen ist so der ‚Aufzucht‘ der heranwachsenden Kinder analog gesetzt. Weiterhin soll einem aus den Bahnen laufenden Begehren Einhalt geboten werden, und in der philanthropisch geprägten Umgebung Borghorsts wird besonders auch für Mädchen propagiert worden sein: „Auch das Weib soll seinen Körper gebrauchen können, […] es soll nicht kranke, nein, es soll gesunde Kinder gebären!“756 Die neuen Freiheiten der Kinder- und Mädchenerziehung zielten auf eine Disziplinierung für häusliche Zwecke: „Im ganzen zeigt sich jene doppeldeutige Strategie in der Beurteilung der bürger755
Hartmut Böhme: „Kulturwissenschaft“, wie Anm. 450, S. 201.
756
Gudrun König: Eine Kulturgeschichte des Spaziergangs, wie Anm. 60, S. 211.
König zitiert hier Johann Christoph GutsMuths „Gymnastik für die Jugend“ von 1804.
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Tapezierte Liebes — Reisen
lichen Frauen, die Mündigkeit und mehr Bewegungsfreiheit nur als Garanten für eine optimale Reproduktionstätigkeit einzusetzen gedenkt.“757 Freiheit und Entdeckungseuphorie wurden nur um den Preis weiterer Einschränkungen v.a. für Mädchen und Frauen verhandelt. In der Szenenanalyse ist bisher deutlich geworden: Auch und gerade die Naturelemente sind so angeordnet, dass sie diesen sich durch den Raum bahnenden Diskurs von Mäßigung und Disziplinierung stützen. Bereits im Text von Fénelon ist die Inselumgebung, in die es Telemach und Mentor verschlägt, keine urwüchsige und unbekannte, sondern sie ist bereits als ein Garten imaginiert und daher von Menschenhand geformt.758 In der Tapete findet sich nun eine visuelle Zusammenschau von exotisch anmutenden Gewächsen – vor allem Palmen –, die markieren, dass es sich um einen Ort in der scheinbaren ‚Fremde‘ handelt und die zudem die Italiensehnsucht und das arkadische Lebensgefühl der Zeit um 1800 aufrufen – mit den typischen mitteleuropäischen Gartengewächsen und Bäumen.759 So finden sich vor allem aus Deutschlands Mischwäldern bekannte Sträuche und Bäume, die schematisiert in die Tapete versetzt sind (also keine naturgetreuen Abbildungen), wie z.B. Eichen (Erzählund Mammiabankszene, Ankunftszene), welche sich wiederum als Zeichen für Treue auf das Liebesthema beziehen lassen, mächtige Kastanien (Palast- und Jagdszene), eine Trauerweide (neben dem Venustempel in der Terrassenszene) und Weinreben (bspw. neben der Mammiabank). Insbesondere die Baumsymbolik muss noch etwas detaillierter beachtet werden: Zum einen nehmen die Bäume Haltungen an und sind so gestaltet, dass sie formalästhetisch die Haltungen der Figuren spiegeln oder bekräftigen, wie es mit den ‚tanzenden‘ Palmwedeln in der ersten Szene der Fall ist oder auch den sich umarmenden Palmen in der Demeter-Szene.760 Ein weiteres Beispiel sind die beiden jeweils zwei Bäume miteinander verbindenden Laubgirlanden zwischen Ankunftsszene und Mammiabank. Sie verbreiten eine festliche Stimmung und visualisieren zudem auch die Verbindung, die sich thematisch zwischen der Insel, respektive ihrer Bewohnerinnen, und den Ankömmlingen
757 Ebd., S. 212. 758 Les Aventures, wie Anm. 365, Buch I, S. 6: „Le figuier, l’olivier, le grenadier et tous les autres arbres couvraient la campagne et en faisaient un grand jardin.“ 759 Es geht hier nicht darum, eindeutig Pflanzen identifizieren zu wollen. Auch wenn sich die Manufaktur an bekannten Pflanzen orientiert haben mag, so hat sie jedoch keine exakten Abbildungen liefern wollen und es werden vielmehr Imaginationen aufgerufen, die mit den Abbildungen auf Druckblättern aus der Pflanzenkunde nicht verglichen werden können. 760 Vgl. die Szenenanalysen in Kapitel 4.3.1 der vorliegenden Arbeit.
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�. Die Paysage de Télémaque
– zwischen den weiblichen Figuren und den beiden männlichen – ergibt, noch einmal auf der Ebene der Flora. Zum anderen sind die Pappeln, die hier eingefügt sind (hinter der Pomona und auch im hinteren Teil der Terrasse) unter einem geradezu philosophischen Blickwinkel zu betrachten: „Die Pappel galt nicht nur Schiller […] durch ihren geraden Wuchs, wie durch ihre ‚schwankende Bewegung‘ als ein Baum, der seine ‚Freiheit‘ zeige. […] Auch wurden die Bäume in Ermenonville oder in Wörlitz mit Rousseau in Verbindung gebracht […].“761 In der Tapete wird nun der gerade Wuchs besonders betont; die genannten Pappeln sind hier Säulenpappeln, wie sie auch oft als Alleenbäume verwendet werden, und es lassen sich daher analog zu der Analyse der Geometrisierung und Geradlinigkeit der Alleen in den Zimmerbildern auch hier, auf eine andere Art, Tendenzen zur Geometrisierung und Architektonisierung der Natur ausmachen. Gerade aufragende Bäume, wie die hinter der Pomona-Statue und besonders die Palmenreihe zwischen den Statuen an der Grenze der Terrasse zum Wasser hin, betonen die vertikale Achse der Tapete, die durchaus neben der Horizontalität der Lesrichtung entlang der Wände und im Raum eine wichtige Rolle spielt. Die Betrachtenden können und sollen sich nicht nur entlang einer schweifenden Linie auf Augenhöhe, sondern eben auch vertikal nach oben wenden und aufrichten. Geradezu die Funktion eines Gebäudeteils bekommen die Baumkronen, die eine Art Baldachin oder Dach bilden, wie beispielsweise hoch über der Mammiabank oder über der Pomona. Zusätzlich formen die Naturelemente auch die Wahrnehmung der unterschiedlichen Ebenen bzw. Stufigkeit, wenn die erste Ebene des Palastes komplett mit Büschen bepflanzt ist, oder wenn durch das ‚grüne Loch‘ der Bäume in den Hintergrund der Jagdszene hinein ein Tiefensog entsteht. Ecken und Winkel ergeben sich insbesondere durch den Schattenwurf der Bäume – wie sehr markant im Fall der Pappeln hinter der Terrasse, wo die Bäume nach oben und deren Schatten nach links einen rechten Winkel ergeben, der wiederum den Tempel mit dem rechteckigen Teich einschließt. Die Bäume dienen allgemein zur Begrenzung und Absetzung einzelner Figuren- und Elementegruppierungen, die so einen eigenen Raum innerhalb des Bildraums bekommen. Sie sind daher alles andere als zufällig über die Tapete verteilt. In einigen Szenen bilden die Baum- und Buschbestände einen abgegrenzten Raum für die Figurenkonstellation – so etwa in der Erzählszene, wo das Gras des Bodens die Sitzgelegenheit formt und sich die Figuren auf diese Weise mit den Naturelementen verbinden. Diese Schutzraum-Funktion wird auch in Borghorst in den Supraporten ersicht-
761
Michael Niedermeier: Das Ende der Idylle. Symbolik, Zeitbezug, ‚Gartenre-
volution‘ in Goethes Roman ‚Die Wahlverwandtschaften‘, Berlin u. a.: Lang 1992, S. 41.
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Tapezierte Liebes — Reisen
lich, wenn in der Tanzszene die Bäume rechts und links ein rahmendes Dach zum Bildinhalt hin formen, und die Natur in der Mutter-Kind-Supraporte hinter die Terrasse bzw. das Vöglein in den Käfig versetzt wird. Ordnungs-und Schutzräume werden so in und mit der Interaktion der Figuren, Natur und Architektur visuell errichtet und zum Programm erhoben. Für François Delaporte ist die Botanik sogar ganz klar „eine Technik zur Beherrschung der Triebe.“762 Bisher konnte verdeutlicht werden, wie die Natur der Insel eigentlich geformt ist, welche Rolle Geometrie, Stabilität, Schutz und gebahnte Blicklenkung spielen und wie Innen- und Außenräume – Gärten auf der Tapete und vor der Haustür, Terrassen und Pavillons als Zwischenräume des Zugleich-drinnen-unddraußen-Seins – miteinander verkoppelt werden. Somit konnte auch das Potenzial der ersten beiden Achsen der Bildtapetenanalyse, die sich um die Natur und Naturalisierungen und um Bildersequenzen und Panorama-Blick drehen, noch einmal ausgelotet werden. Nun soll im Hinblick auf die dritte Achse der Theatralität des Alltags und Bühne der Gesellschaft eine weitere Konzentration auf die Architektur der Tapete folgen. Sie bietet keinen starren Hintergrund für eine oder mehrere davor agierende Figuren, denn die Gesamtkulisse der Tapete ist vielmehr als eine Art beteiligtes Tun aller Elemente und Gruppierungen entsprechend der oben angeführten Argumentation des (Bild-)Raums als eines Kommunikationszusammenhanges zu verstehen. Wer sich wo positioniert und spricht, handelt oder gestikuliert, und wie dieser Ort markiert ist, wird zu einem Teil der Mitteilung bzw. der hier buchstäblich zu verstehenden Mitteilungsarchitektur.763 Die Kulisse ist nicht Beiwerk, Mittel zur Hervorhebung von Wichtigerem oder Bedeckung sonst ungeformter Stellen auf der Fläche und im Raum, ebenso wie die Figuren gerade nicht zur bedeutungslosen Staffage, zur dekorativen Anfüllung dienen. Gerade die von mir herausgearbeitete dritte Achse hilft zu verstehen, dass alle Elemente zusammen Inhalte vermitteln, die im Abschreiten von Wand und Raum variieren können und die von Betrachtersubjekten situativ und performativ nachvollzogen und wieder aufgeführt werden. So entsteht eine Bühnensituation, die nicht auf einzelne Elemente an Stellen der Wand beschränkt ist, sondern viel aktiver und mit weitreichenden Konsequenzen im Bereich des Sozialen abläuft. Doch welchen Beitrag leisten hier ganz konkret die Architekturen in der Tapete, deren Charakterisierung sich kaum im ‚Klassizistischen‘ oder ‚Fantasti-
762
François Delaporte: „Das zweite Naturreich“, zit. n. Hans Werner In-
gensiep: „Der Mensch im Spiegel der Tier- und Pflanzenseele. Zur Anthropomorphologie der Naturwahrnehmung im 18. Jahrhundert“, in: Der ganze Mensch, wie Anm. 405, S. 54–79, hier S. 76. 763 Barthes.
326
Vgl. das Kapitel 2.3 und die dortigen Ausführungen in Bezug auf Roland
�. Die Paysage de Télémaque
schen‘ erschöpft? Die Nähe zur Gartenarchitektur und ihren vielfältigen Erscheinungsformen, die im zweiten Kapitel thematisiert worden sind, ist hier sicherlich das auffälligste Merkmal, sind doch in diesen geradezu typisierten Landschaftsgarten, als der sich die Insel der Calypso präsentiert, immer wieder solcherlei kleine Tempel, Tanzflächen und Plätze, Springbrunnen und eigenwillig zurecht geschnittene Teiche bzw. Wasserbecken sowie Außenterrasse und Statuen gesetzt. Die resultierende Ästhetik des Ungezwungen-Spielerischen dieser Kleinanlagen ist dabei sicherlich ein Modus, sich mit einer verfeinerten, den komplexen und dennoch oder gerade deshalb Genuss bietenden Gartenanlagen der Schlösser nacheifernden Lebensart zu präsentieren, denn „[o]ne thing common to all follies and garden buildings is that they were a source of great pleasure and pride to their owners […] it should not be ignored that these buildings were the privilege of wealth, security and peace.“764 Dennoch greift eine Interpretation solcher Anlagen – auch und gerade hier in der Telemach-Tapete – als ein pures aesthetic pleasure nicht ganz: Die Spezifik der Architekturen verweist auf einen größeren Zusammenhang von idealisierter Antike, Denkmal und Erinnerung, Venuskult und Liebeszauber, der in dem Stufentempel, der Mammiabank, dem Palast mit seiner Paradetreppe und dem Venustempel (temple d’amour) aufgerufen wird. Besonders die Tempel stellen ein „symbolic dwelling-place for the gods“ dar und bilden ein „interface between heaven and earth, a sacred place where ceremony and ritual are practised“, und sind somit auch Orte (seelen-)bereinigender Praktiken.765 So wird zunächst ein Ort der fête champêtre im Stil der Rokoko-Leichtigkeit vorgeführt, die bereits im frühen 18. Jahrhundert die Grenzen zwischen Alltag und Schauspiel, zwischen Selbstverwirklichung und ‚Als-Ob‘ verwischte, wie es beispielsweise in der Eremitage von Wilhelmine, der Markgräfin von Bayreuth, der Fall war: „Bereits 1732 hatte Wilhelmine im waldigen Tiergarten der Eremitage, Monplaisir, ein kleines Haus mit Gärtchen bezogen, in dem sie mit ihren Damen spielerisch das ‚stille Landleben‘ einer Edelbäuerin probte. […] In diesem ‚halb natürlichen, halb künstlichen Paradies‘ verlebte Wilhelmine Tage des stillen Glücks […] Hier schrieb sie 1744 ihre Memoiren, in denen sie den Leser durch die von ihr selbst gestalteten und bewohnten Räume führt.“766
764
James Howley: The follies and garden buildings of Ireland, New Haven
u.a.: Yale Univ. Press 1993, hier: S. 3. 765 Ebd., S. 137. 766
Friederike Wappenschmidt: Der Traum von Arkadien. Leben, Liebe, Licht
und Farbe in Europas Lustschlössern, München: Klinkhardt & Biermann 1990, S. 141.
327
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Auch Fürst Carl Theodor hatte in Schloss Benrath ein Gesamtprogramm erschaffen (lassen), das aus dem Leben ein Fest im Zeichen musischer und bewegter Geselligkeit machte: „Durchwandert man die Gärten und Räume des Benrather Schlosses, erlebt man das sorgfältig durchdachte Konzept des Baumeisters Pigage, der das Landleben des pfälzischen Kurfürstenpaares als apollinisches Fest gestaltete.“767 Auf der Telemach-Insel mit ihrer Gartenarchitektur und den tänzerischen und musikalischen Elementen wird nun aus einer ursprünglich bacchantischen Umgebung eine eher apollinische, was jedoch eine Art Umerziehung oder Um-Orientierung von der Ausschweifung zum harmonisch-maßvollen Miteinander impliziert. Daher kann nicht nur von einem ästhetischen, sondern muss auch von einem didaktischen Programm gesprochen werden. Die sorgfältig angelegte und in den Details aufeinander abgestimmte Architektur lässt den berechnenden und die Natur nach dem eigenen Wunschbild formenden Blick und die entsprechenden Aus- und Zurichtungen erkennen, die sich in ein politisches Aufklärungsprojekt fügen. Die Landschaft der Insel wird aus Sicht von Seefahrern wie dem hier auftretenden Telemach präsentiert, und deren Funktion, ein Objekt geopolitischer Bestrebungen zu sein, wird dabei auch über die Nautik, Hydrotechnik und allgegenwärtige Bewässerung und über das ex negativo im Brennen oder Sinken mit hereingeholte Schiff zur Anschauung gebracht.768 Auf diese Weise betrachtet, ist die Insel keineswegs abgelegen und paradiesisch im Sinne eines vorgesellschaftlichen und unberührten Zustandes. Entsprechend bildet die Abschluss- und Felsenszene eine Überleitung zur ersten Szene im Raum über die Symbolik des Sprungs (zurück) ins Meer. Von hier aus werden weitere Räume erschlossen bzw. erobert. Die BetrachterInnen und BewohnerInnen umrunden ebenfalls die Insel und können auch gefahrlos von einer Szene zur nächsten, von einem Raum in den anderen ‚springen‘. Den Telemach-Visualisierungen für den eigenen Wohnraum ist (im Gegensatz zu den textuellen Formationen oder teilweise Grafiken, auf die sie zurückgreifen,) kein Kommentar beigefügt, und dennoch ergibt sich eine Kommentarfunktion aus den Bild-Raum-Anordnungen selbst: Sie entsteht, wenn die ‚lesenden‘ BetrachterInnen die Umbrüche ihrer Zeit, den Paradigmenwechsel im Wohnen und in der Alltagsorganisation und die im Psychosozialen veran767
Ebd., S. 175.
768
Zu den Verbindungssträngen von Schiffen, Geopolitik, Hydrotechniken
und Wasser siehe: Hartmut Böhme: „Kulturwissenschaft“, wie Anm. 450, S. 203.
328
�. Die Paysage de Télémaque
kerten Ideale und Vorstellungen – hier konkret von Liebespaarungen und von Reise und Eroberung – mit in ihre Lektüre einbringen und die Bildsprache, die ich in diesem Kapitel sehr detailliert entschlüsselt habe, somit zur Bildpolitik wird. In der Tapetengestaltung, dem neuen Medium und seinem Gebrauch werden die BetrachterInnen zu einer Art Mentor des eigenen Lebens, sie entwickeln Szene für Szene und mit jedem Schritt und jeder Drehung des Körpers im Raum diese Vorstellungen weiter und machen sie in Form der aufzurollenden und zu arrangierenden Tapetenbahnen transportabel und anpassbar. Bilder, Konzepte und Relationen, die über den Telemach-Stoff hinausgehen bzw. die dieser auch nicht einfach ‚repräsentiert‘ – wie die Erläuterung der komplexen Wirkungsebenen anhand der drei Analyseachsen zeigt – können neu aufgemacht und in Fluss gehalten werden. Die Mobilität der Anblicke, des Körpers und des intersubjektiven Austauschs trifft hier nun auf verfestigte Darstellungstraditionen aus Kunst und Literatur, und gerade in diesem Aufeinandertreffen wird eine scheinbare Evidenz produziert, die sich beispielsweise in der im Becken begradigten Wasserdarstellung oder der dezent zwischen die Statuen gesetzten Inselherrin zeigt. Das ‚Einleuchten‘, welches das Wort evidere mittransportiert, lässt vergessen, dass beispielsweise die Figur der Calypso in anderen Darstellungsmodi auch ganz anders gedacht und modelliert war und nicht schon immer wie auf der Tapete wirkte. Zur näheren Betrachtung der Strategien, die hiermit verbunden sind und die sich auf die Lebensgestaltung der BewohnerInnen beziehen lassen (müssen), werde ich in einem letzten Abschnitt dieses Kapitels noch stärker von den Tapetenszenen zu deren Wechselverhältnis mit den Bewohnersubjekten übergehen.
�.� A uf der Insel ist nach der Insel: Insel-Arkadien und Vergesellschaftung oder die Suche nach gesundem Sex In den Bildanalysen habe ich Calypsos eifersüchtiges, aber zurückhaltendes, gefasstes Beobachten des Liebespaares auf der Terrasse thematisiert. Der hier sichtbare ‚Trieb-Stau‘, der sich auch im geometrisch-akkuraten Bildbeziehungsgefüge niederschlägt, respektive die visuelle Zusammenführung von Liebes-Blicken, Begehren, Harmoniestreben, Freundschaft und (imaginierter) Flucht ist Teil des dominanten Diskurses um 1800, der als Diskurs der Mä-
329
Tapezierte Liebes — Reisen
ßigung und der konstruierten Natürlichkeit bereits mehrfach in den Fokus gerückt wurde. Gefühle, allen voran die intensive Gefühlswelt von Liebe und Begehren, sind letztlich „historisch variable Produkte kultureller Normierung und Kodierung“769 und werden im Zuge der Aufklärung und der sich zeitgleich durchsetzenden Bewegung der Empfindsamkeit im späten 18. Jahrhundert in völlig neuer Weise (bio-)politisch umgeformt. Während in den höfisch-feudalen Kreisen des 17. Jahrhunderts ein als einzig richtig kodifiziertes Verhalten im Rahmen von honnêteté vorherrschend war, sodass ein scheinbares Zur-SchauStellen von Gefühlen eigentlich einem genau definierten Protokoll von Abläufen und Haltungen entsprach, haben Aufklärer wie Locke und Rousseau bzw. Philanthropen wie Shaftesbury, Joachim Heinrich Campe oder Johann Bernhard Basedow eine aus ihrer Sicht humanere Auffassung vom Menschen verbreitet, die einem Ideal von authentischem und reziprokem Fühlen entsprechen sollte. Es waren vor allem literarische Texte wie der (Brief-)Roman und die sie oftmals begleitenden Illustrationen, welche in ihrer Struktur und Aussage Modelle für diese ideale Emotionalität bereitstellten. Vor allem der Roman des späten 18. Jahrhunderts war „dasjenige Genre, dem die Funktion der Darstellung von Innerlichkeit zukommt“, und er war deshalb „besonders geeignet, die subjektstabilisierende Funktion der modernen Liebe an der exemplarischen Innerlichkeit des Protagonisten vorzuführen.“770 Doch die Koordinaten der Innerlichkeit und Liebesempfindung, die man sich in einem (authentisch fühlenden) Subjekt zusammengeführt dachte, und welche wiederum das Subjekt erst als solches entwerfen und es dann zum Modell für RezipientInnen werden lassen, finden sich ganz ähnlich in Bildern und auch – wie im Fall der Telemach-Tapete – mit ihnen geformten Wohnräumen. Der/die lesende RezipientIn des 18. und 19. Jahrhunderts war schließlich stets auch ein/e wohnende/r RezipientIn. Ein sich in einem Rahmen aus Literatur bzw. Romanen, Bildern und Wohnraum bewegendes Subjekt erfährt also gerade durch die einwirkenden und sich auf- und einprägenden äußeren Einflüsse erst sukzessive, was es heißt, ein ‚Subjekt‘ zu sein und was alles damit verbunden ist. Es konstituiert sich also erst über das Lesen, Schauen/ Betrachten, Wohnen (und, bereits als Reaktion darauf, selbst darüber sinnierend oder sprechend) als Subjekt. Gefühle, Innerlichkeit bzw. die Erfahrung, etwas zu empfinden – und sich darüber mit anderen Subjekten austauschen zu können – sind die den oben kurz skizzierten ‚Rahmen‘ konstruierenden Grundpfeiler, die geradezu als eine anthropologische Notwendigkeit gelten und als Voraussetzung, in eine ‚echte‘ (Liebes-)
330
769
Julia Bobsin: Von der Werther-Krise zur Lucinde-Liebe, wie Anm. 381, S. 14.
770
Ebd., S. 15f.
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Beziehung mit anderen treten zu können. Austausch, Mitempfindung bzw. Mitleid, und ein Sich-Hineinversetzen in den/die andere/n wird zu einem Postulat, das mit dem Ausleben der eigenen (Sexual-)Triebe leicht zu kollidieren droht. Dass dies nicht zwangsläufig so ist und durch ein Ausleben der Sexualität eine intensive Gefühlsbindung an den oder die anderen nicht ausgeschlossen sein muss, wird dabei dann ausgeblendet, um ein binäres Modell von ‚echtem Fühlen‘, das zielgerichtet sein soll, versus einer verwerflichen, weil verschwenderischen, Hingabe an die Triebe aufrecht zu erhalten. Diese Beobachtung führt über viele weitverzweigte Felder bis in die mit den Telemach-Szenen tapezierten Räume. Friedrich Ramdohr philosophiert 1798 über die „Natur der Liebe“ und ihre „Veredlung und Verschönerung“771 – dabei wird ein Liebesbegriff naturalisiert, der alles andere als anthropologisch konstant ist, und der vielmehr über viele Kanäle und Sprecher erst neu gebildet und immer wieder auch verändert wird. Die wichtigsten Felder, in denen dies geschieht, sind die Wissenschaften – v.a. Rechts- und auch Naturwissenschaften –, Philosophie, Medizin bzw. Hygiene sowie die schon genannte Literatur- und Kunstwissenschaft und -produktion; wobei die so erschaffenen Empfindsamkeits-, Liebes- und Tugendmodelle wiederum im Feld der Ästhetik, die sich im 18. Jahrhundert als Disziplin herausbildet, weitreichende Wirkungen nach sich ziehen. Statt eines Auslebens der im Bereich der Natur verorteten Triebe, für die der Sexualtrieb stellvertretend als der stärkste und bedrohlichste steht, wird ein Trieb-Stau präferiert, der allerdings zum ‚Bildungstrieb‘772 in und mit der Gesellschaft anderer umcodiert wird. Es ist dieser Prozess der Umcodierung der Liebe zu einem vergeistigt-ästhetisierten Zustand, der die Subjektkonstitution um 1800 wesentlich mitbestimmt, und der die Dreiecksbeziehung von Telemach, Calypso und Eucharis als letztlich schöne und ausgewogene Szenerie (statt eines das drohende Kollabieren jeglicher Ordnung anzeigenden 771
Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohr: Venus Urania: Ueber die Natur
der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung, Leipzig: Göschen 1798. 772
Auch bei dem schon zitierten Karl Philipp Moritz wird die Gestaltungs-
arbeit als Teil des Triebs zur Vervollkommnung des Menschen begreifbar, denn sie ist offensichlich viel mehr als nur ein Akt der Verzierung seiner Umgebung, vgl. auch den Artikel von Sabine M. Schneider: „Zwischen Klassizismus und Autonomieästhetik der Moderne. Die Ornamentdebatte um 1800 und die Autonomisierung des Ornaments. Günther Hess zum 60. Geburtstag“, in: Aufsätze, Miszellen, Forschungsberichte I. Zeitschrift für Kunstgeschichte, Nr. 63, S. 339–357, hier S. 339: „Jener ‚Bildungstrieb‘ ist somit das Anthropologikum, das den Menschen über seine tierische Natur erhebt und ihm seine genuine Würde als sinnlich-geistiges Wesen erst verleiht.“ Bildung ist also zu dieser Zeit untrennbar sowohl mit dem Vergesellschaftungsprozess als auch der Leitdisziplin der Ästhetik verbunden.
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Missverhältnisses) an die Wände projiziert. Die arkadische Insellandschaft steht nicht für sich im Raum, wie man zunächst vermuten könnte; sie ist kein Dekor, das vom ‚Außen‘ des (politischen) Lebens scharf getrennt existiert und ein insulares Dasein schafft, sondern ist Teil einer sich notwendig vollziehenden Subjekt- und Gesellschaftsformierung – sowohl im Moment des Betrachtens der Tapeteninsel als auch danach an anderen Orten. Mit der Tapete zu interagieren ist Teil einer Vergesellschaftung, die sich auf diese Art auch im Interieur bzw. im Wohnen vollzieht. Diese Subjektformung und Vergesellschaftung des 18. und 19. Jahrhunderts werden unter dem Schlagwort des ‚humanitären Zeitalters‘ zusammengefasst. Hier geht es um Bildung im umfassendsten Sinne, also um Bildung des Körpers, des Geistes und Geschmacks wie auch der sozialen Umgangsformen und Verhaltensweisen. So übernimmt die Humanisierung „die Funktion der alten Christologie, denn sie leistet selbst die Versöhnung der entzweiten Seele; diese Vermittlung heißt sinnliche Darstellung des Schönen, Ästhetik.“773 In dieser Formulierung ist treffend ausgedrückt, warum die Tapetenräume mehr leisten als sich kunsthistorisch und -gewerblich in eine Tradition der Darstellung von Stoffen und Motiven einzureihen. Es geht um eine Vermittlung von Didaktiken, die tief in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens verankert sind und die das Bewohnersubjekt bilden im Sinne der Selbst- und der Fortbildung. Dies ist ein äußerst dynamischer Prozess, der als ein ‚natürlicher‘ diskursiviert und mit Moral, Erziehung und steter (Selbst-)Optimierung verknüpft wird: „Eine dynamische Natur – äußerliche und innerlich, körperlich und seelisch – konnte sich als Bildungsprozess zur Humanität selbst begreifen. Die Idee der Bildung, das interne Ziel, die Entelechie aller Natur und Erziehung, diese Idee war Bildung zu dem Ziel, das als Natur der Seele und Seele der Natur sich andeutungsweise zeigt: Humanität.“774 BewohnerInnen der Telemach-Räume sind auch hier im nur scheinbar privaten Umfeld in einen Prozess fortlaufender Humanisierung eingebunden, und sie sind einem Paradigma von erstens Maßhaltung und ökonomischem Denken und zweitens Fortschritt und Streben nach potenziell unbegrenzter Entwicklung und Entfaltung unterworfen. Dieses wird bis in die intimsten Körperregionen, die Nerven und die sexuellen Verhaltensweisen wirksam. 773
Wilhelm Schmidt-Biggemann: „Einführung (Neue Diskurse von der
Seele und vom Körper)“, in: Der ganze Mensch, wie Anm. 405, S. 9–13, hier S. 13. 774 Ebd., S. 12.
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�. Die Paysage de Télémaque
Die Hygiene und mit ihr verbundenen Subjektivierungsmaßnahmen, die aus dem Zusammenhang mit den ‚bereinigten‘ Bildformeln der Tapete bereits bekannt sind, werden hier zu einem der wichtigsten Felder mit einer Art Schnittstellenfunktion zwischen dem in höchstem Grade individuellen Körper und der Gesellschaft bzw. Vergesellschaftung als Prozess: Der „moderne Blick auf den Körper“ impliziert „die Frage nach dem Subjekt […]“, „denn Hygiene war in einem engeren, ja emphatischen Sinne tatsächliche eine Sorge um sich“,775 wie Sarasin feststellt. Die „souci de soi“ (Selbstsorge), die Foucault rückblickend dem 19. Jahrhundert attestiert, erhält insofern auch eine Vergesellschaftungsfunktion, da sie „schon in der ersten, biopolitischen Kultur des späten 18. Jahrhunderts, wie sie von den Theoretikern der Medicinischen Polizey (Johann Peter Frank) formuliert wurde“ mit der „Sorge um die ordentliche Produktion von Kindern und deren gesunde[r] Aufzucht“ respektive dem „‚richtigen‘ Sex in der Ehe“ verknüpft ist.776 Hier findet also eine Verschaltung dieser biopolitischen Normen und Moralitäten mit dem antiken cura sui-Prinzip statt, der Sorge um sich als Voraussetzung zur Freiheit. „Für die Griechen war die individuelle Freiheit etwas sehr Wichtiges“, betont Foucault, und hält fest, er „glaube, dass es bei den Griechen und den Römern – vor allem bei den Griechen – um sich richtig zu verhalten und um den rechten Gebrauch von der Freiheit zu machen notwendig war, dass man sich mit sich selbst befasste, dass man sich um sich selbst sorgte, einerseits um sich zu erkennen […] und andererseits um sich zu formen, um sich selbst zu verbessern und um in sich die Begierden zu meistern, die einen mitzureißen drohen.“777 Die Selbstsorge ist nach diesem Verständnis also zugleich auch Garant für das Wohl der anderen, und entsprechend die „Beziehung zu anderen während der gesamten Entwicklung der Sorge um sich gegenwärtig.“778 Wenn die Sexualorgane, denen entsprechend in Traktaten und pädagogischen Programmen wie denen der Philanthropen besondere Aufmerksamkeit gezollt wird, im Französischen als „organes de relation“ bezeichnet werden,779 so kann dies gerade im Wissen um diese Selbstsorge-als-Vergesellschaftung
775 776
Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen, wie Anm. 61, S. 23. Ebd., S. 358.
777
Michel Foucault: „Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit“, in:
Schriften in vier Bänden = Dits et écrits, wie Anm. 24, Band 4, S. 875– 902, hier S. 880. 778 779
Ebd., S. 883. Vgl. Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen, wie Anm. 61, S. 363.
333
Tapezierte Liebes — Reisen
auch metonymisch verstanden werden, da jedes einzelne Subjekt auch ein mit anderen in Beziehung tretendes Organ einer Gesellschaft ist. Die Rolle eines antikischen Settings, wie es mit der Telemach-Tapete eröffnet wird, dient auch entsprechend der moralisch-politischen Analogisierung mit diesem idealisierten Zeitalter, da „[s]owohl der freie Mann der Polis als auch der autonome Bürger des 19. Jahrhunderts […] sich selbst die Regeln des Umgangs mit sich und dem eigenen Körper“780 auferlegten, was den Regeln der Selbsttechnik entspricht als einer „Technik, die für die Formierung des bürgerlichen Subjekts und des bürgerlichen Körpers zentral war.“781 Diese Regeln gingen jedoch, und darauf weisen auch die Ergebnisse aus den Tapetenanalysen hin, stets von einem männlich-bürgerlichen Subjekt aus, das als Bezugs- und Vergleichsgröße für andere Schichten und vor allem auch für das weibliche Geschlecht diente – und, mehr noch, diese männliche Subjektposition ist sogar gedoppelt, wie gerade auch das Beispiel Telemach besonders eindringlich zeigt, „als Staatsbürger und als Träger eines Geschlechts“.782 Die starre Codierung weiblicher und männlicher Gesten, Statur und Körperhaltungen, die man auch in den Tapetenszenen findet, erklärt sich aus diesen historischen und psychosozialen Entwicklungen der Spätaufklärung.
�.�.� Körpermodellierungen I – Hygiene, Sensibilité und die Denkfigur der Haushaltung(en) Für die Beantwortung der im Titel des vierten Kapitels aufgeworfenen Frage, „wohin reist Telemach?“, sind nun wichtige Schritte gegangen worden, die einem besseren Verständnis des Aufbaus der einzelnen Tapetenszenen, ihres Personals einschließlich der Haltungen und Gesten, ihrer Natur- und Architekturkulissen und ihrer Relation zueinander und zum Raum sowie der sozialen Verortungen der BewohnerInnensubjekte dienen. Dabei sind einige Denkfiguren sichtbar geworden, die immer wieder für die Diskursformation in und mit Bildtapeten charakteristisch zu sein scheinen, und die auch Telemachs Reise und ihre Modellierung auf der Insel-Tapete bestimmen: zunächst die Dynamik im Sinne einer nie zuende zu bringenden Prozessualität und Veränderung, eines Weiterstrebens und Sich-Bewegens (im Raum, im Denken, in der Selbstoptimierung; schließlich auch in konkreten Bildern wie den Tanz-Szenen und der Reise und Reiseunterbrechung in der Tapete). Sie ist auch ein Gegenentwurf
334
780 781
Ebd., S. 464. Ebd., S. 465.
782
Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, wie Anm. 61, S. 99.
�. Die Paysage de Télémaque
zur Stasis bzw. dem Stillstand. Weiterhin sind noch die zentralen Denkfiguren das Haushaltens mit den zur Verfügung stehenen Kräften im Sinne einer Mäßigung und Fokussierung und gegen (unnötige) Zerstreuung zu nennen sowie die Partnerschaftssorge als Erweiterung der Selbstsorge. Im Folgenden sollen diese an Aspekten von Körperlichkeit bzw. Körpermodellierungen untersucht werden, die sich in den Schriften und Maßnahmen der Hygieniker und in physiologischen Theorien um 1800 sicherlich am deutlichsten und radikalsten abzeichnen. In Folge können dann sowohl Haushaltungen als auch Paarbildungsvorstellungen als Leitbilder der Verbürgerlichung und Vergesellschaftung im fortschreitenden 19. Jahrhundert nachverfolgt werden. Mit der zunehmenen Konzentration auf den genauen Aufbau und die Funktionszusammenhänge des menschlichen Körpers als ein nicht von Gott gelenktes, sondern aus dem Zusammenspiel der einzelnen Organe autonom agierendes System, dessen Funktionstüchtigkeit und damit auch Gesundheit zu einem gewissen Grad selbst erwirkt und gesteuert werden kann, ergeben sich tiefgreifende Veränderungen in der Auffassung der Relation zwischen Subjekten und auch zwischen Geschlechtern. Die in der Medizinphilosophie gewonnenen Erkenntnisse werden zum Fundament einer Erziehung der Mittelklasse zur Selbst-Kontrolle und zu einem Differenzmerkmal gegenüber denen, für die man solche Sorgen als nicht notwendig ansah, in der Regel sozial niedrig eingestuften Arbeitern und Tagelöhnern. Sie zogen eine intensive Beschäftigung mit den sogenannten ‚nicht-natürlichen‘, also dem Körper von außen zuführbaren, Faktoren nach sich: „The ‚non-naturals‘ were factors exernal to man which inevitably and continuously influenced his physical well-being: air, food and drink, motion, rest, sleep and waking, evacuation and retention“, und die zu diesem Thema florierenden Handbücher und Schriften „emphasized the idea of health as a product of individual practice and control over the non-naturals. For the first time, ‚health‘ was erected into an ideal to strive for.“783 Nach und nach verfestigte sich das Konzept von der Sorge um die eigene Gesundheit so sehr, dass der Körperbau und die körperliche ‚Funktionstüchtigkeit‘ zu einem Normalisierungsmaßstab wurden, also auch alles nach diesen Kriterien nicht Gesunde und hygienisch Korrekte allgemein suspekt wurde und andere Körper und Subjekte entsprechend zum Vergleich herangezogen werden konnten: „The concept of ‚health‘ was also used to link the individual sharply to his individual body: he and no one else was the manager of that body. […] person, body, health and self-management were welded indissolubly
783
Dorinda Outram: The Body and the French Revolution: Sex, Class and
Political Culture, New Haven/ Connecticut u.a.: Yale Univ. Press 1989, S. 47.
335
Tapezierte Liebes — Reisen
together in a way which separated each body from any other body.“784 Auf diese Weise wurde der Körper zum „ultimate sign“, und selbst was nicht zu seinem „System“ gehört oder aus ihm entsteht, wird auf seine physische Realität und Unhintergehbarkeit bezogen oder daran gemessen.785 Der Körper und seine Funktionen sowie die Möglichkeit – und sogar die Forderung – der individuellen Kontrolle darüber sind zu einer Ökonomie der physiologischen Systeme geworden.786 Damit sich das Haus- und Maßhalten überhaupt zu einer dominanten Denkfigur entwickeln konnte, musste es sich im Sinne dieser Hygiene- und Gesundheitscodes erst als Korrektiv eines körperlichen Phänomens zeigen: es war die Antwort auf den Reiz und die Reizbarkeit, die sensibilité, die vor allem von den französischen, jedoch auch englischen und deutschen Physiologen und Hygienikern zunehmend ins Feld geführt wurde. Reiz, Kontrolle und Gleichgewicht wurden so spätestens im 19. Jahrhundert über das Feld der Gesundheit hinaus sich gegenseitig beeinflussende Grundbedingungen von erfolgreicher Subjektformung. Sarasin stellt fest: „‚Reizbarkeit‘ beziehungsweise die Sensibilität der verschiedenen Gewebe galt seit der Aufklärung für lange Zeit als die tiefste Ursache und zugleich Kennzeichen des Lebendigen. In diesem Sinne bildete der Reiz auch den heimlichen Fokus des hygienischen Regulationsdenkens […] auf ihn bezogen sich alle Vorstellungen der Mäßigung und der Selbstbeherrschung. Zugleich war damit auch ein materialistisches Programm bezeichnet.“787 Das Interesse an den menschlichen Organen und Nerven und vor allem deren Erforschung und Kontrolle löste ältere metaphysisch-religiöse Vorstellungen der Organisation der Welt und der in ihr lebenden Subjekte weitestgehend ab, ohne dass dies zunächst aber implizierte, dass auch eine höhere Ordnungsinstanz abgeschafft wäre. Vielmehr wurde die Reizbarkeit als ein körperliches Phänomen zu einer höheren Macht erklärt, welche die Tätigkeiten einzelner Zellen und Körperteile dirigierte. Diese Denkimpulse stammen größtenteils von Théophile de Bordeu, der bis 1776 lebte und für spätere Medizinphilosophen
784 785
Ebd., S. 48. Ebd., S. 53.
786
Ebd.: „It was also to be the pre-condition for modern views of the body
as an ‚economy‘ of physiological systems […].“ 787
Hier wird also das Maschinelle der Körpervorgänge betont: Philipp
Sarasin: Reizbare Maschinen, wie Anm. 61, S. 20.
336
�. Die Paysage de Télémaque
und Hygieniker wie Condillac, Hufeland, Bichat788 und Cabanis zum Vorbild und -denker wurde. Bordeus „[…] most fundamental ideas found their way into the Encyclopédie and helped to shape the physiological viewpoint adopted in that widely read work.“789 Bordeu hatte letztlich den Sitz der „Seele“, oder vielmehr des Konzepts eines über-körperlichen Regulatoriums, in die Nerven verlegt. Auch hatte Henri Fouquet, der für die Encyclopédie Artikel zu Sensibilité und Secretion schrieb, die Sensibilité eher als eine sensible Seele denn eine materiell fassbare Substanz aufgefasst und somit das Konzept der Seele als eine über das Körperliche hinausgehende Ordnungs- und Leitinstanz in die moderne Gesellschaftsstruktur mittransportiert.790 Dennoch war die ‚Seele‘ nun unhintergehbar an die Nervenenden und damit den Körper und seine diversen Organe rückgebunden bzw. in sie eingebunden. Als ein geistiges, den Körper komplett transzendierendes Prinzip war sie nun nicht unbedingt mehr im Fokus, auch wenn sich selbst die Medizinphilosophen offensichtlich nicht ganz von ihr lösen konnten und wollten; zu sehr war mit ‚Seele‘ auch ein moralisch-gutes Verhalten verknüpft, das zuvor mit religiösen und nun zunehmend biopolitischen Argumenten eingefordert wurde. Bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts fanden besonders die Lehren von John Brown, François Broussais und Xavier Bichat, welche von den Erkenntnissen der Reizbarkeit ausgehend ein ganzes medizinisches System entwickelt hatten, sehr großen Anklang in der Medizin und Pädagogik, und „die Vorstellung, dass Krankheit nur das Resultat mangelnder oder übermäßiger Reize sei, wurde von Auguste Comte 1828 gar in den Rang eines universellen Prinzips erhoben.“791 788
Der Philosoph Arthur Schopenhauer war äußerst fasziniert von Bichat
und dessen „Recherches physiologiques sur la vie et la mort“ von 1800, siehe Paul Janet: „Schopenhauer et la physiologie française: Cabanis et Bichat“, in: Revue des deux Mondes, 39 (1880), S. 35–59. 789
Elizabeth Haigh: Xavier Bichat and the medical theory of the eighteenth
century, wie Anm. 372, S. 32. 790 Ebd., S. 58, sowie Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen, wie Anm. 61, hier S. 19: „Diese Geschichte begann in der Aufklärung – zugespitzt formuliert: mit dem Erscheinen der letzten Bände der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert im Jahr 1765. In den Artikeln „Hygiène“ und „Santé“ zeichnete sich ein revolutionäres Programm ab, das den Körper und seine Gesundheit ins Zentrum individueller und politischer Sorgen und Aufmerksamkeiten stellte […]. Erzwingt es nicht der aufklärerische Glaube an die perfectibilité de l’homme, dem Individuum die Verantwortung für seine Gesundheit zu übertragen?“ Reizbarkeit und Sinnesempfindungen sowie deren Auswirkungen waren allerdings auch schon in den 1750ern bei Stahl, Bordeu und Condillac große Themen gewesen, dies erregte dann die Aufmerksamkeit der Autoren der Encyclopédie. 791
Philipp Sarasin: Wie ebd., S. 214. Wie Elizabeth Haigh zeigt, nahm
schon mit La Mettries „Homme Machine“ (1747) die Debatte, was die Organe und
337
Tapezierte Liebes — Reisen
Ein Zuviel an körperlichem Ausdruck steht nun unter dem Generalverdacht, durch ein Zuviel an Lust hervorgerufen zu sein, und „[w]enn […] die immer schon notwendige Bedürfnisbefriedigung nicht mehr durch religiöse Ziele begrenzt und relativiert wird, sondern ins Zentrum rückt, schiebt sich auch der surplus der Lust in den Vordergrund […].“792 Dieses nun derart zu kanalisieren, dass es sich in die Gesellschaft und ihre (soziale, ökonomische, technologische) Fortschrittslogik einpasst und dort produktiv werden kann, wird nun das vorrangige Ziel von Pädagogen, Philosophen und Hygienikern, die „zunehmend die Gefahr des Reizes, das notwendige Gleichgewicht und die Mitte der Gesundheit zu betonen begannen“ und damit „eine moderne Reaktion auf das aufklärerische Offenlegen des radikal individuellen Genießens der Organe“793 zeigten. Die Denkfigur des Haushaltens und der Mäßigung, die sich auf andere Felder der Subjektformung und des gesellschaftlichen Zusammenlebens übertragen lässt, entsteht so v.a. durch und mit dem Hygienediskurs des 18. und frühen 19. Jahrhunderts und der „Verschiebung des hygienischen Diskurses vom expansiven Reizkonzept zum defensiven Gleichgewichtsmodell“.794 Mit ‚Haushalten‘ ist also auch gemeint, aus vermeintlich exzessiven Kräften wie dem Sexualtrieb ein Gleichgewicht (wieder-)herzustellen und sich um „die sorgfältige Verwaltung der Körper“ zu bemühen.795 Die Praktiken der Hygiene dienen als Regulatorium und als Maßnahme der Disziplinierung, wie es auch in den Telemach-Szenen deutlich wird, wenn Wasser, Dampf und in die Luft verräucherte Essenzen eine ‚reinliche‘ Insel vor Augen stellen. Aus dem Umfeld des sogenannten „Gesundheitsrates“ hieß es 1820, „Sauberkeit ist alles zugleich, sowohl ein Mittel der Selbsterhaltung als auch ein Zeichen, das den Sinn für Ordnung und Beständigkeit zum Ausdruck bringt […].“796 Durch Reinlichkeitsnormen und -praktiken wird Affektkontrolle ausgeübt – hier hatte sich eine Art Knotenpunkt aus dieser Art von Hygiene, Physiognomik und Vorstellungen einer Übereinstimmung von Mimik und Gestik mit dem Charakter und der individuellen Persönlichkeit sowie Geschlechter- und Liebescodierungen ergeben, an dem und mit dem ein bürgerliches Tugendideal erst entworfen werden konnte. deren Funktionen bzw. Reaktionen motiviere, unter Physiologen eine neue Wende, siehe Elizabeth Haigh: Xavier Bichat, wie Anm. 372, S. 58. 792
Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen, wie Anm. 61, S. 219. Sarasin be-
dient sich hier der Sprache Derridas. 793 Ebd., S. 226 794 Ebd., S. 238. 795 Michel Foucault: Der Wille zum Wissen, wie Anm. 73, S. 135. 796 Vgl. Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft, wie Anm. 747, S. 209.
338
�. Die Paysage de Télémaque
„Dass äußere Sauberkeit – am besten im Zusammenspiel mit ebenmäßigen Gesichtszügen – innere Reinheit und die Lauterkeit der Absichten manifestiere, war seit den Zeiten von Lavaters Physiognomik ein geradezu klassisches bürgerliches Argument, um die Übereinstimmung von Innen und Außen, von Denken und Handeln, von Wesen und Erscheinung tugendhafter Bürgerinnen und Bürger zu fordern.“797 Neben dem Haus- und Maßhalten, der Sauberkeit, der Sensibilité und Reizkontrolle tritt noch der Komplex der guten und frei zirkulierenden Luft hinzu, der wiederum in engem Zusammenhang mit der Aufwertung der Sinne, hier mehr dem Riechen als dem Tasten, sowie dem Sich-Bewegen in der Natur steht. Auch deshalb finden sich in Bildtapeten hauptsächlich ‚Freiluft-Bühnen‘, auf denen ein arkadisches Leben fern der „von Miasmen verpesteten Stadtluft“798 gefeiert werden kann. Auch das Verräuchern zu kultischen Zwecken, wie es die Nymphen in der Erzähl- und der Demeterszene tun, kann zu diesem Bedeutungskomplex von Geruch und Säuberung gezählt werden, und entsprechend der antikischen Szenengestaltung bestätigt auch die sich hier verbreitende „therapeutische Bedeutung, die das Aromat aufgrund seiner Flüchtigkeit und seiner Durchdringungskraft gewinnt, […] eine alte Tradition, die schon Hippokrates veranlasst hatte, die Pest mit Wohlgerüchen zu bekämpfen.“799 Die Opferung an (heidnische) Göttinnen geht auf der Tapete daher auch mit einer Bekämpfung schädlicher Substanzen einher und scheint ein Gleichgewicht auch auf olfaktorischer Ebene zu schaffen – allerdings visuell vermittelt. Ein aromatischer Duft öffnet „den Weg für das Lebensprinzip“,800 welches als hygienisches Instrumentarium für eine physiologische Neu-Verortung der Seele sorgt und in den folgenden Kapiteln der vorliegenden Arbeit noch näherhin beleuchtet werden wird. Zusammen mit der Reinigung und Zirkulation von Luft und Essenzen kann auch festgestellt werden, dass „[s]eit Harveys Entdeckung der Blutzirkulation, die unter organizistischen Gesichtspunkten hinfort als Vorbild dient, […] der Imperativ der Bewegung von Wasser, Luft und festen Stoffen die Oberhand gewonnen“ hat.801 Die Dynamik als (neben Haushaltung bzw. Mäßigung) zweite der oben definierten Denkfiguren802 greift auch hier im Sinne eines Sicherstellens von Abfluss,
797 Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen, wie Anm. 61, S. 311. 798 Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft, wie Anm. 747, S. 12. 799 Ebd., S. 29. 800 Ebd. 801 Ebd., S. 124. 802 Siehe die Ausführungen zu Beginn dieses Teilkapitels.
339
Tapezierte Liebes — Reisen
Ventilation und Drainage803 und gleichzeitigen Verhinderns von Stauungen und schädlicher stockender Ansammlung. In der Tapete finden sich, abgesehen von der zwischen Innen- und Außenarchitektur changierenden Terrassenanlage, auch Säulengänge im bzw. nahe dem Palast, welche in ihrer besonderen architektonischen Form „die notwendige Ventilation“ garantieren, es aber zugleich auch zulassen „sich den Launen von Wind und Wetter zu entziehen.“804 Hierin wird die ideale Kombination aus Schutzraum und Bewegungsraum sichtbar. Der Aspekt der Reinigung und Zirkulation ist wiederum eng verknüpft mit der Bewässerung, die sich in den Telemach-Tapeten in den bereits benannten Elementen vielfach wiederfindet, und die in der zeitgenössischen Literatur und der Entstehung von Liebescodes wichtig wird – es beginnt, gewissermaßen „parallel zur Entwicklung von medizinpolizeilichen Hygienekonzepten, eine große Ära literarischer Wassermetaphern […]“.805 Das Wasser ist zwar prinzipiell sexuell codiert, insbesondere auch als Attribut und im Umfeld der Nymphen auf der Insel der Calypso, wird aber in der Tapete eingegrenzt und in Form von kleinen Teichen und architektonisch eingepassten Brunnen gebändigt und zu einem verspielten, gleichsam unschuldig-dekorativen Accessoire, das auch die Nymphen und somit die Form der Weiblichkeit, mit der Telemach konfrontiert wird, entsexualisiert.806 Die Wasserstellen werden zum Garanten für Stabilität und Ordnung auf der Tapeten-Insel und machen diese als Teil eines Kreislaufs erkennbar, wie er sich mit dem menschlichen Körper und dem ihn durchströmenden Blut findet, denn: „Das Blut ‚bewässert‘ den Körper wie einen terrassenförmigen Garten.“807 Wichtig ist hierbei nicht so sehr die genaue Analogie von Blut und Wasser, die sich aus den physiologischen Interessen und Erforschungen um 1800 ableiten lässt, sondern eher noch das Prinzip der Zirkulation (als zugehörig zur Denkfigur von Dynamik), denn dieses „wird damit zu einer der fundamentalen Kategorien der – politischen wie physiologischen – Ökonomie, deren Analyse die Stabilisierung konstanter Abläufe und darin vor allem eine Administration von Überschüssen verfolgt.“808
803
Zu Abfluss und Bewegung vgl.: Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft,
wie Anm. 747, S. 124f. 804 Ebd., S. 134. 805
Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, wie Anm. 61, S. 137.
806
Siehe die Ausführungen zu Wasser und Weiblichkeit in ebd., S. 136f.
Zum Thema Entsexualisierung in Verbindung mit Harfenklängen vgl. meine Bezugnahmen auf Freia Hoffmann und in der vorliegenden Arbeit auch insbesondere die Anm. 666.
340
807
Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, wie Anm. 61, S. 55.
808
Ebd., S. 89.
�. Die Paysage de Télémaque
�.�.� Körpermodellierungen II – Zurichtungen der Geschlechter: délicatesse, Lebenskraft, tissu cellulaire, oder: in welchen Körperteilen liegt die Seele… Mit den physiologischen und hygienischen Anforderungen und Didaktiken wurde dem Körper eine eigene Kraft (Antrieb) zugeordnet, die ihn mobilisiert bzw. auf verschiedenen Wegen dynamisiert und aus einem ehedem favorisierten kontemplativen Zustand in einen aktiven und vor allem produktiven Zustand bringt. Man sollte sich im Zuge der Aufklärung nicht mehr im Geiste an Gott und göttlichen Geboten orientieren sondern mit dem eigenen Körper die Welt erfahren. So sah man den Körper durch ein ihn aktivierendes Lebensprinzip bzw. eine Lebenskraft verwaltet, die gewissermaßen seine Leitinstanz wurde und nicht mit einer Seele im metaphysischen Sinne zu verwechseln ist, „man erschließt ein ‚principe de vie‘ aus den Lebensäußerungen der Organe und des Organismus, wobei die Irritabilität und Sensibilität in besonderem Maße spezifisch lebendige Lebensäußerungen sind. Von diesen Ansätzen nahm Xavier Bichats (1771– 1802) Bestreben, die spezifisch lebendigen Kräfte mit bestimmten Geweben in Verbindung zu bringen, seinen Ursprung.“809 Diese Lebenskraft wurde besonders in Deutschland sowohl in der Medizin als auch in der Philosophie als ein Konzept entwickelt, das maßgeblich an den biopolitischen Formungen der männlich-bürgerlichen Subjekte mitwirkte. Herder spricht in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ von 1784 davon, „[w]o Wirkung in der Natur ist, muss wirkende Kraft sein; wo Reiz sich in Bestrebungen oder gar in Krämpfen zeigt, da muss auch Reiz von innen gefühlt werden. […] Kein Punkt der Schöpfung ist ohne Genuss, ohne Organ, ohne Bewohner: jedes Geschöpf hat also seine eigene, eine neue Welt [Hervorhebung der Autorin].“810
809
Karl E. Rothschuh: Physiologie: der Wandel ihrer Konzepte, Probleme und
Methoden vom 16. bis 19. Jahrhundert, Freiburg u.a.: Alber 1968, S. 159. 810
J. G. Herder: „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“
(1784), zit. n. Karl E. Rothschuh: Physiologie, wie ebd., S. 167f.
341
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Was hier passiert, ist eine gewisse Vereinheitlichung der Äußerungen einzelner Teile des Körpers – und im übertragenen Sinne einzelner Mitglieder der Menschheit und ihrer Gemeinschaft, um die es auch Herder letztlich geht und die er zu erziehen gedenkt – unter einem großen Prinzip, welches nicht chaotisch wirkt und waltet, sondern analog zur Natur. Es vermittelt des Weiteren ein Innen mit dem Außen, eine Welt mit ihren BewohnerInnen, eine Schöpfung mit deren ‚Genuss‘ (also deren Erkennen und Für-Sich-Nutzen). Eine Schöpfung, ein Organismus bildet eine eigene Welt für sich, ist jedoch zugleich Teil des Ganzen, womit letztlich wieder eine Art Seelenvorstellung aufgerufen wird. Christoph Wilhelm Hufeland bringt dies auf den Punkt, indem er das menschliche Glück – also ein per se nicht organisch-körperlich verankertes Konzept – thematisiert und in einen Zusammenhang mit der Lebenskraft stellt: „Ohnstreitig gehört die Lebenskraft unter die allgemeinsten, unbegreiflichsten und gewaltigsten Kräfte der Natur. Sie erfüllt, sie bewegt alles, sie ist höchst wahrscheinlich der Grundquell, aus dem alle übrigen Kräfte der physischen, wenigstens organischen Welt fließen. […] Sie ist’s endlich, die – verfeinert und durch eine vollkommenere Organisation exaltiert – sogar die Denk-und Seelenkraft entflammt und dem vernünftigen Wesen zugleich mit dem Leben auch das Gefühl und das Glück des Lebens gibt.“811 Die Lebenskraft wird hier – mehr noch als ein aktivierender Reiz für das Zusammenspiel der Organe – zu einem Garanten für Sinn und Glück schlechthin; ihre Vollkommenheit, die aber nicht näher beschrieben wird, gilt als Ursache für diese enorme Wirkung auf das Individuum und sein Beziehungspotenzial. Johann Christian Reil bestätigt ebenfalls Ende des 18. Jahrhunderts (1795): „Lebenskraft zeigt das Verhältnis besonderer Erscheinungen, durch welche sich die lebendige Natur von der toten unterscheidet, zu einer besonders gebildeten und gemischten Materie an.“812 In dieser Feststellung schwingt Schillers „Schönheit ist Freiheit in der Erscheinung“ mit und seine zeitgleich mit den medizinisch-biopolitisch motivierten Schriften auf den Weg gebrachten Versuche (v.a. in den Kallias-Briefen von 1793),813 den Bereich des Sinnlichen mit der Vernunft und ihren Zwängen zu einem idealen und in diesem idealen Sinne
811
C. W. Hufeland: „Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern“
(1797), zit. n.: Karl E. Rothschuh, wie ebd., S. 173. 812 Ebd., S. 171f. 813
Siehe den Brief von Friedrich Schiller an C. G. Körner im Jahr 1793:
„Kallias oder Über die Schönheit“, in: Friedrich Schiller: Über das Schöne und die Kunst. Schriften zur Ästhetik, München: DTV 1984.
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„freiheitlichen“ Zustand zu vermitteln. Auch die Lebenskraft eines Hufeland, Reil oder auch Bichat und Cabanis scheint als eine solche Vermittlungsinstanz gedacht zu sein, die weniger ästhetisch als physisch-biologistisch richtungsweisend wirken soll. Es sind vor allem zwei wichtige Punkte in Bezug auf die Lebenskraft festzuhalten: Zum einen vermittelt sie organisch-materialistische Erkenntnisse mit dem Bereich der Ideen respektive einer übergeordneten Vernunft, welche die Materie steuert bzw. steuern soll; zum anderen wird sie zur Grundlage für eine sich mit und nach der Aufklärung verfestigende dualistische Geschlechterauffassung. Physiologische Eigenschaften – oder vielmehr die, die ‚entdeckt‘ und als besonders bemerkenswert diskursiviert worden sind – werden derart mit Charakter- und Verhaltenseigenschaften gleichgesetzt, dass sich vermeintliche Unterschiede der Geschlechter ergeben, die wiederum die weitere Erforschung der körperlichen Materie und die ableitbaren Argumente beeinflussen. Beide Punkte ziehen fundamentale Konsequenzen für das noch weiter zu diskutierende Tugend- und Liebesideal mit sich und formen einen anderen Aspekt des Paradigmenwechsels um 1800, der in Bezug mit Wohnen und Privatheit aufgezeigt wurde. Die hier skizzierten Entwicklungen zeigen einen Wandel von einer mechanistischen zu einer form- und wachstumsorientierten Welt- und Körperauffassung, denn „durch den Beitritt der Lebenskraft wird also ein Körper aus der mechanischen und chemischen Welt in eine neue, die organische oder belebte, versetzt […].“814 Diese Belebung und die stets wiederkehrenden Theoretisierungen der Wechselwirkung von Natur und menschlichem Organismus führen den Menschen – und zwar den in zwei Geschlechter eingeteilten Menschen – darauf hin, sich selbst als höchsten Punkt einer sich immer weiter vervollkommnenden Entwicklung wahrzunehmen. Während die Lebenskraft und damit verbundene Aktivität und Robustheit männlich markiert ist, wird es allerdings als ein weibliches Spezifikum aufgefasst, statt einer (aktiveren) Kraft eine (passivere) Geschmeidigkeit, eine délicatesse des Körpers und Ausdrucks an den Tag zu legen. Dies entspricht der seit Aristoteles vorgenommenen Zuordnung des Geistes bzw. der formenden Kraft zur männlichen und des Stoffes bzw. der Materie zur weiblichen Seite. Für die Geschlechter gilt so: „l’un ne peut pas plaire par les mêmes endroits que l’autre […]“!815 Pierre Roussel, der ausführlich das „système physique et moral de l’homme“ untersuchte und in diesem Teiltitel schon programmatisch die Physiologie mit der Moral verband, argumentiert
814 815
Karl E. Rothschuh: Physiologie, wie Anm. 809, S. 174. Pierre Roussel: Système physique, wie Anm. 370, S. 54.
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hauptsächlich mit moralischen Redewendungen und versucht auch weniger, wissenschaftliche Belege zu liefern. Stattdessen bedient er sich mit Formulierungen wie „coccix“ oder „les os du pubis“816 einer medizinischen Sprache, die ihn als Autor und Festschreibender der moralischen Auffassungen seiner Zeit aufwerten bzw. ihm Autorität verleihen sollen. Die weibliche délicatesse beschäftigt ihn ganz besonders; sie wird als grundlegendes Merkmal des weiblichen Körpers affirmiert und kann in Folge dessen die Frau in die Nähe eines Kindes stellen, was einen Erziehungsauftrag der (mündigen) männlichen Subjekte in Richtung der (unmündigen) weiblichen rechtfertigen soll: „Délicate et tendre, elle conserve toujours quelque chose du tempérament propre aux enfants.“817 Außerdem ist diese délicatesse der weiblichen Körperteile als „un effet de leur éducation ou de leur manière de vivre“818 charakterisiert. So wird die Lebenshaltung wiederum selbst zum Effekt der als weich und passiv vorgestellten Körperteile und -funktionen, der Nervenbahnen und Zellengewebe, sodass weibliche Körperteile und ihre ‚Bestimmung‘ innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges sich als natürliches Wechselwirkungssystem darstellen: „Les parties molles qui entrent dans la constitution de la femme, […] les vaisseaux, les nerfs, les fibres charnues, tendineuses, ligamenteuses, et le tissu cellulaire […] sont aussi marqués par des différences qui laissent entrevoir les fonctions auxquelles la femme est appelée, et l’état passif auquel la nature la destine.“819 Sowohl Roussel als auch der ähnlich argumentierende Cabanis greifen in ihren Ansichten größtenteils auf Rousseau zurück, „whose strongly dualistic style of thinking had placed gender alongside other dichotomies in a political context.“820 Roussel zieht sogar einen direkten Vergleich zwischen männlicher und weiblicher Physis und beginnt mit dem Mann und dessen Kraft – „force“, – die er als „l’attribut essentiel du sexe qui doit protéger l’autre“ vorstellt. Weiterhin argumentiert er nun: „La mâle vigueur de l’homme, exprimée dans la majesté de ses traits et dans la noble rudesse de ses formes, se fait encore mieux sentir par le contraste que forment avec elles les grâces touchantes de la femme. […]
816 Ebd., S. 6. 817 Ebd., S. 4. 818 Ebd., S. 9. 819 Ebd. 820 Ludmilla J. Jordanova: Sexual Visions, wie Anm. 35, S. 27.
344
�. Die Paysage de Télémaque
Celui-ci est toujours beau lorsqu’il est fort; car c’est dans sa force qu’il puise les principaux moyens de remplir sa destination et les vues de la nature […].“821 Dass die Schönheit beim Mann in seiner Kraft und Robustheit, bei der Frau aber in ihrer grazilen Konstitution liegen soll, dient letztlich auch der Zielvorstellung, beide Geschlechter seien komplementär zueinander geschaffen und müssten sich zwangsläufig zielgerichtet fortpflanzen. Somit erweitert sich der Fokus der utilité,822 von dem schon die Rede war, über die Erforschung und Beschreibung der Körperbeschaffenheiten hinaus: Leidenschaft ist nicht von vornherein verboten oder verschmäht. Sie darf nur nicht ziellos entfacht werden und ist einem Paradigma der Produktivität, des Gebärens und (im Rahmen familiär-häuslicher Bedingungen) Erziehens der Nachkommenschaft sowie Stabilisierens der Verhältnisse unterworfen. Daher ist (Selbst-)Kontrolle und Mäßigung auch eine männliche Aufgabe, v.a. wenn Hufeland die Lebenskraft an den männlichen Samen rückbindet und die Kontrolle der Zeugungssäfte als „Erhaltungsmittel“ des Lebens an sich propagiert. Auch Tissot hat sich ausgiebig mit dem „Problem“ der Onanie – als Höhepunkt in der Verschwendung ebendieses Saftes und der sinnlosen Verausgabung – beschäftigt.823 Es ist auch in diesem Zusammenhang eine (bio)politische Strategie, den weiblichen Körper durch das tissu cellulaire, ein Gewebe aus hochempfindlichen Nerven, zu charakterisieren, und nicht den männlichen:824 Gewebe sind weich und biegsam und sie halten kleinste Teile zu einem funktionalen Ganzen zusammen, ähnlich wie es als Aufgabe der Frau in der Gesellschaft und in ihrer Familien- und Mutterrolle definiert wird. Meine These hierzu lautet ensprechend, dass sich die Textur des Gewebes in einer spezifischen Textur der Geschlechterrollen und auch in einer Textur des Wohnens wiederfindet, und sie soll auch im nächsten Kapitel weiter verfolgt werden.
821
Pierre Roussel: Système physique, wie Anm. 370, S. 343.
822
Ebd., S. 93: „Mais quelque forme que prenne la passion, et quelque ac-
tivité que lui donnent des circonstances qui ne sont point générales, ella a toujours pour objet un rapport dont l’utilité fait la base“. 823
Siehe die Ausführungen zu Simon-Auguste Tissot „Von der Onanie“ bei
Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen, wie Anm. 61, u.a. S. 69. 824
Im späten 19. Jahrhundert entwickelt sich daraus ein Diskurs über die
weibliche Hysterie.
345
Tapezierte Liebes — Reisen
�. L es Amours de Psiché et de Cupidon: Bildwelten der Seele und des Weiblichen im eleganten Palastdekor; oder: wohin reist die Königstochter Psyche? �.� Der Mythos von „Amor und Psyche“ bei Apuleius und La Fontaine „[…] Trotz dem schlechten Ruf einiger Inseln steht fest, dass man von allen Völkern der Erde, die Römer nicht ausgenommen, keines kennt, wo die Frauen sittsamer und freundlicher zugleich gewesen wären und wo Ehrbarkeit und Schönheit sich besser gepaart hätten als im alten Griechenland.“ Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung „Wahre Tugend existiert nur in Form einer unaufhörlichen Bewährung. […] Insofern ist die Leserin von Sittenschriften enger verwandt mit der Romansüchtigen, die sich imaginäre Erfüllung erhofft […] Beide erwarten ihre Vervollständigung von der gleichen Instanz, die sie fragmentiert hat.“ Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr Die Darstellungen der Psyche-Tapete folgen dem Erzählstrang des Romans „Les Amours de Psiché et de Cupidon“ von Jean de La Fontaine aus dem Jahre 1669 – wobei, wie bereits erläutert, darunter wie eine Schicht Blaupapier die Binnenerzählung in den „Metamorphosen“ von Apuleius aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. liegt.825 Mit der Version von La Fontaine liegt also bereits eine Neudeutung einer viel älteren Erzählung vor: Der griechische Märchenstoff der Spätantike ist in den Kontext einer fantastischen Rahmenhandlung um die Verwandlung und Abenteuer des Esels Lucius eingebaut, als Erzählung einer Erzählung. In dieser will die alte Köchin in der Räuberhöhle die gefangene Braut Charite von ihrem Kummer ablenken, bevor die junge Frau mit Lucius
825
346
Siehe die Kurzeinführung in Kapitel 2.3 dieser Arbeit.
�. Les Amours de Psiché et de Cupidon
fliehen kann.826 Mit den skurrilen Abenteuern des Lucius hat die Binnenerzählung nur eine einzige, jedoch signifikante Gemeinsamkeit, und zwar, dass sie in variatio das Thema der (erotischen) Liebesschule und der Belehrung einer (zukünftigen) Braut aufgreift. Für die „Amor und Psyche“-Rezeption in der Spätantike und der Renaissance bildet die Erzählung von Apuleius die Folie und den Bezugspunkt schlechthin und wurde auch für ehrgeizige Raumprogramme in der Zeit des Cinquecento, wie beispielsweise im Palazzo del Te in Mantua, in der Engelsburg und in der Villa Farnesina in Rom aufgegriffen.827 Im christlichen Mittelalter hatte sich die Deutung der Psyche-Figur hauptsächlich auf den Aspekt der Läuterung der Seele konzentriert, wobei die Erzählung rein allegorisch als das Streben nach einem Leben nach dem Tod aufgefasst wurde – eine Lesart, die auch in der Hochrenaissance unter neuplatonischem Einfluss nachwirkte. Psyche als Personifikation der menschlichen Seele wird von Amor als göttlichem Beistand begleitet, der ihr nach Bestehen der harten Prüfungen den Aufstieg in himmlische Sphären ermöglicht.828 Neuplatonisch betrachtet, konnte sich Psyche – ergo die menschliche Seele – nur durch diesen mühevollen und schrittweise zu leistenden Aufstieg der körperlichen Hülle entledigen und hernach vollends an der alles überstrahlenden göttlichen Liebe teilhaben. „Es geziemt sich eben, dass man das Göttliche dem Menschlichen vorzieht. Häufig kommt es auch vor, dass der Liebende ganz in das geliebte Wesen überzugehen wünscht, und nicht mit Unrecht; denn in diesem Streben 826
Vgl. das „Vierte Buch“ bei Apuleius: „Gleich hinein mit ihr in die Höhle
[…] sie hatte ja ihren Kopf zwischen die Knie gelegt und weinte ohne Unterlass. Da rufen die Männer die Alte herein und schaffen ihr an (sic!), sich zu ihr hinzusetzen und sie soweit möglich mit gütiger Ansprache zu trösten“, in: Apuleius: Der goldene Esel. Metamorphosen, hg. und übers. von Edward Brandt, Diessen: Jos. C. Huber KG 1958, S. 153. 827
Vgl. u.a. die Dissertation von Florian Weiland-Pollerberg: Amor und
Psyche in der Renaissance. Medienspezifisches Erzählen im Bild, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2003. 828
Vgl. u a. die Ausführungen von Christiane Holm zu den „christliche[n]
und neuplatonische[n] Allegoresen von Sündenfall und Seelenaufschwung“, in: Amor und Psyche, wie Anm. 32, auf S. 91–95. Sie betont auch: „In Ficinos Hauptwerk, der Theologia platonica von 1482, wird die Seele zum Dreh- und Angelpunkt der Weltordnung, die die göttliche Sphäre, aus der sie ‚emaniert‘ wurde, mit der körperlichen, in der sie lebt, vermittelt, indem sie ständig ‚remaniert‘. […] Es geht um den graduellen Aufstieg der Seele von der sinnlich genossenen Liebe zu ihrer himmlischen Reinform, wobei der Verbotsübertritt der Psyche als Vor-Schau des Göttlichen den eigentlichen Ausgangspunkt ihrer Selbstveredelung durch Liebe beschreibt“, S. 93.
347
Tapezierte Liebes — Reisen
sucht er aus einem Menschen Gott zu werden […]. Wenn jemand […] die körperliche der geistigen Schönheit vorzieht, so macht er keinen würdigen Gebrauch von der Liebe, und diesen tadelt Pausanias. Wer sich aber der Liebe auf rechte Art befleißigt, der preist wohl die schöne Form des Körpers, lenkt aber durch ihre Vermittelung seine Gedanken auf die erhabenere Schönheit der Seele, des Geistes und Gottes und trägt nach dieser das heißeste Verlangen.“829 Hier im Platon-Kommentar von Marsilio Ficino – einem Protagonisten des Florentiner Renaissance-Humanismus aus dem Kreise Cosimo de Medicis – wird nun sehr deutlich, dass körperliche Schönheit im neuplatonischen Verständnis nicht etwa für sich, sondern immer als Vermittlung der inneren Schönheit und somit Zugang zur schönen (am Göttlichen teilhabenden) Seele geschätzt wurde. Im Umkehrschluss galt ein unzureichend schöner – etwa unproportionierter – Körper als ein Zeichen für fehlende Größe der Seele. Gerade in der Verbindung von volkstümlichen Motiven (wie dem Tierbräutigam und der Erfüllung schwieriger Test-Aufgaben) mit dem Reigen der olympischen Götter und insbesondere der Schlüsselrolle der Venus öffnet die Fabel des Apuleius – ein Kunstmythos, der heterogene Narrative in sich aufnimmt830 – den Psyche-Stoff für unterschiedliche philosophische Systeme und Deutungen. Das Motiv der Totenbraut begünstigte eine christlich-allegorische Lesart dieses Mythos,831 wovon insbesondere die Häufigkeit der Psyche-Figur als Dekoration an Sarkophagen zeugt. Diese Lesart bleibt weiter bis zu künstlerischen Großprojekten wie dem des Raffaelschülers Perino del Vaga vorherrschend, dessen Psyche-Fries von 1545 in der Engelsburg zu Rom noch ganz in der christlich-neuplatonischen Tradition steht.832 Wie Christiane Holm zeigt, speist sich die „Amor und Psyche“-Rezeption – die in der Renaissance ihre erste große Blüte erreichte – einerseits aus der Textvorlage und andererseits aus antiken kunsthandwerklichen Gegenständen bzw. Kleinkunst wie Reliefs und Gemmen. Diese Rezeptionsstränge sind weitestgehend unabhängig voneinander verlaufen und es ist auch unklar,
829
Marsilio Ficino: Über die Liebe oder Platons Gastmahl. Lateinisch-deutsch,
hg. von Paul Richard Blum, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2004, S. 59 und S. 65. 830
Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur, Stuttgart: Kröner 1998, S. 41.
831 Christel Steinmetz: Amor und Psyche. Studien zur Auffassung des Mythos in der bildenden Kunst um 1800, Köln: Diss. Köln 1989, S. 221f. 832
Vgl. Paul Lang (Hg.): Ein Blick auf Amor und Psyche um 1800, Ausst.-Kat.
Kunsthaus Zürich, Zürich: Kunsthaus Zürich und Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft 1994, S. 34. Hier wird auch die Neuartigkeit „eines ununterbrochenen Frieses“ betont.
348
�. Les Amours de Psiché et de Cupidon
inwiefern Apuleius selbst, abgesehen von der mündlichen Überlieferung, auch aus vorhandenen visuellen Quellen geschöpft hatte.833 Im beginnenden 18. Jahrhundert tritt nun zu diesen disparaten Überlieferungssträngen, die in den im Folgenden näher zu betrachtenden visuell-räumlichen Aktualisierungen allegorisch bzw. philosophisch und vielfach auf das Alltagsleben in diesen Räumen bezogen ausgelegt wurden, der Einfluss der neuen Textfassung von La Fontaine hinzu. Abgesehen davon, dass in seinem Text wesentliche Elemente aus der Apuleius-Version weggelassen oder umgedeutet und auch neue Episoden hinzugefügt wurden, ist der erzählerische Rahmen der Geschichte ein völlig anderer. Dieser Aspekt ist, ähnlich wie im Falle der Telemach’schen Abenteuer bei Fénelon, die dieser mit seinen ästhetisch-philosophischen Überlegungen des Vor-Augen-Stellens verknüpft,834 für die weiteren Analysen der Psyche-Bildtapete höchst aufschlussreich. Bei La Fontaine spazieren vier Freunde in den Gartenanlagen von Versailles und loben das Zusammenspiel von Natur und Architektur, während sie eine Diskussion darüber führen, welches literarische Genre das würdigste sei, die Tragödie, Komödie oder Idylle. Eingefügt in diese hochgeistigen Gespräche gibt der Erzähler Poliphil die Geschichte von Psyche wieder, um seinen Freunden seine Art zu erzählen vorzustellen und sie dafür zu gewinnen. Gewissermaßen entlehnt La Fontaine somit das Prinzip der Binnenerzählung (mit der die oder der ErzählerIn einen pragmatischen und/oder ästhetischen Zweck verfolgt) von Apuleius. Poliphil835 scheint sehr dem „lyrischen Ausdruck“ zuzuneigen, wie auch sein Freund Akante. Dies scheint jedoch die Streitfrage über die literarischen Stile nicht zu entscheiden, vielmehr wird eine solche gerade erst aufgeworfen, da auch Heiterkeit und Ernsthaftigkeit wiederum als Grundelemente eines jeden Ausdrucks genannt werden und ihr Fehlen undenkbar wäre: „Ils penchaient tous deux vers le lyrique; avec cette différence, qu’Acante avait quelque chose de plus touchant, Poliphile de plus fleuri. Des deux
833 834
Christiane Holm: Amor und Psyche, wie Anm. 32, insbes. S. 93–95. Vgl. Kap 4.1 der vorliegenden Arbeit.
835
Der Name ist sicher nicht ganz zufällig in Anklang an den ebenfalls
als eine Liebesschule konzipierten Renaissance-Roman „Hypnerotomachie des Poliphilos“ von Francesco Colonna gewählt. Hier wird Poliphilos – der „Vieles Liebende“ – ebenfalls zusammen mit seiner Geliebten Polia von Amor auf Venus’ Insel Kytherea gebracht. Vgl. die kürzlich vollständig übersetzte Ausgabe: Francesco Colonna: Hypnerotomachia Poliphili: Interlinearkommentarfassung, hg. und übers. von Thomas Reiser, Breitenbrunn: CreateSpace Independent Publishing Platform 2014.
349
Tapezierte Liebes — Reisen
autres amis, que j’appelerai Ariste et Gelaste, le premier était sérieux sans être incommode; l’autre était fort gai.“836 In La Fontaines Vorwort wird sein Ringen um die richtige Form deutlich, das auch die Rahmenhandlung seines Textes bzw. die Gespräche der Freunde dominiert und als philosophisch-anregendes Spiel en passant dargestellt wird, um nicht zu gelehrt und somit verkrampft zu wirken.837 Auch kann dieses Spiel als eine Hommage an die von dem einflussreichen Mäzen Nicolas Foucquet gepflegte Freundschaft mit La Fontaine, Paul Pellisson und François Maucroix gelesen werden.838 Eine rein theoretische Abhandlung über den ‚guten Stil‘ in der Literatur ist also nicht das Ziel des Autors, der selbst lebhaft betont, mit seinem Roman vor allem Gefallen finden und also auch gut unterhalten zu wollen. Dennoch hält er sich an die eine festgelegte Regel, die er meint kennen und befolgen zu müssen, und versucht statt einer Mischung verschiedener Schreibstile eine „neue Form“ zu finden: „D’employer l’un en un endroit, et l’autre en un autre, il n’est pas permis: l’uniformité de style est la règle la plus étroite que nous ayons. J’ai donc besoin d’un caractère nouveau, et qui fût mêlé de tous ceux-là: il me le fallait réduire dans un juste tempérament. J’ai cherché ce tempérament avec un grand soin. Que je l’aie ou non rencontré, c’est ce que le public m’apprendra.“839
836
Jean de la Fontaine: Les Amours de Psiché et de Cupidon, Paris: Dufart
1793 [im Folgenden: „Les Amours“], S. 15. Vgl. die Übersetzung: Jean de la Fontaine: Amor und Psyche/ Eine Reise ins Limousin, übers. von Helga Keil-Coenen, Karlsruhe: Amadis Verlag 1966 [im Folgenden: „Amor und Psyche“], S. 2: „Sie neigten beide zum lyrischen Ausdruck – mit dem Unterschied, dass Akante etwas Gefühlvolleres hatte, während Poliphil sich weit blumenreicher ausdrückte. Von den beiden anderen Freunden, die ich Arist und Gelast nennen will, war der erste voller Ernst, ohne dass es störend gewirkt hätte, und der andere sehr heiter.“ 837 Vgl. den Schreibstil und das Bemühen um sprezzatura bei Baldassare Castiglione: The Book of the Courtier, New York: Norton Edition 2002, S. 12. In diesem 1528 erstmals erschienenen Buch heißt es: „Here, then, gentle discussions and innocent pleasantries were heard, and on everyone’s face a jocund gaiety could be seen depicted, so much so that this house could be called the very abode of joyfulness.“ Auch La Fontaine zielt darauf ab, eine höfische Leichtigkeit zu vermitteln. 838
Marc Fumaroli: „De Vaux à Versailles: politique de la poésie“, in: Claire
Lesage (Hg.): Jean de La Fontaine, Paris: Seuil 1995, S. 14–37. 839 „Les Amours“, S. IV; „Amor und Psyche“, wie Anm. 836, S. 273: „Nun ist es aber nicht erlaubt, bald den einen, bald den anderen Stil zu verwenden, denn die Einheit des Stils ist die strengste Regel, die wir kennen. Ich brauchte also eine neue Form, welche die genannten in sich barg, und musste diese Mischung zum richtigen Ausgleich bringen. Ich habe diesen Ausgleich mit großer Mühe herbeizuführen gesucht; ob es mir gelungen ist oder nicht, wird das Publikum für mich entscheiden müssen.“
350
�. Les Amours de Psiché et de Cupidon
Diese Passage zeigt, dass La Fontaine als klassizistischer Autor im Frankreich des Ancien Régime zwar nicht daran dachte, die „Einheit des Stils“ in Frage zu stellen,840 jedoch mit seinen Reflexionen über das Medium des Erzählens bereits sehr fortschrittliche Tendenzen aufweist. Besonders besorgt ist er darum, einen Text nach dem Zeitgeschmack zu präsentieren und damit Gefallen zu finden, wie er schon zu Beginn des Vorwortes betont. Obwohl deutlich wird, wie modern La Fontaine denkt, darf nicht außer Acht geraten, dass er vor allem auch gut beim Publikum ankommen möchte und seine Ästhetik darum ganz nach diesem Wunsch ausgerichtet ist: „Mon principal but est toujours de plaire. Pour en venir là; je considère le goût du siècle; or, après plusieurs expériences, il m’a semblé que ce goût se porte au galant et à la plaisanterie; […] il a fallu chercher du galant et de la plaisanterie […].“841 Das Anliegen des Geschmacks wird immer wieder von La Fontaine vorgebracht, etwas radikaler dann am Ende des Vorworts: „[…] j’en demeurerai d’accord, et ne prétends pas que mon ouvrage soit accompli: j’ai tâché seulement de faire en sorte qu’il plût, et que même on y trouvât du solide aussi bien que de l’agréable.“842 Die Abschwächung der tiefergehenden Bedeutung seiner Romaninhalte zugunsten der (oberflächlicheren) Unterhaltung ist hier ein rhetorisches Mittel, um sich von vornherein gegen Vorwürfe seiner Kritiker zu wappnen, die ein Autor, der den kanonisierten Text eines ‚Klassikers‘ wie Apuleius umschreibt, mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten hatte. Dennoch ist die Tatsache, dass La Fontaine großen Wert auf die Anpassung an Geschmacksfragen legt, für die visuellen Wiederaufnahmen in der Tapete höchst signifikant.
840
Dies unternahm erst ca. ein Jahrhundert später Denis Diderot mit sei-
nem „Jacques le fataliste et son maître“ von 1765, der die Problematik des Erzählens selbst zum Inhalt machte und die Zerstörung einer verlässlichen Erzählerperspektive zum Programm. Mit diesem Programm ging er als stilgeschichtlicher Aufklärer in die Literaturgeschichte ein. 841
„Les Amours“, S. IVf.; „Amor und Psyche“, wie Anm. 836, S. 273f.: „Mein
Hauptziel ist immer, zu gefallen; und um das zu erreichen, habe ich mich dem Geschmack der Zeit angepasst. Nach meinen Erfahrungen scheint nun dieser Geschmack zum Gefälligen und Scherzhaften zu neigen […] ich war also gezwungen, nach galanten und scherzhaften Elementen zu suchen.“ 842
„Les Amours“, S. IX; „Amor und Psyche“, wie ebd., S. 276: „Ich be-
haupte nicht, dass mein Werk vollkommen sei; ich habe mich nur bemüht, es so zu schreiben, dass es gefallen und dass man neben dem Angenehmen auch einige Substanz darin finden möge.“
351
Tapezierte Liebes — Reisen
Zwar gibt es zur Zeit Dufours im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts durchaus Wiederaufnahmen des Psyche-Stoffes in der Kunst, die sich eher auf Apuleius stützen,843 doch die Version von La Fontaine ist als Vorlage für den Druck auf Papier in einer Tapetenmanufaktur weitaus reizvoller. Auch hier ist es für die Künstler ein Hauptanliegen, mit ihrem Produkt gleichermaßen zu gefallen wie auch eine neue Auslegung der Psyche-Geschichte ab 1815 in unzähligen Anwesen und Villen zu verbreiten. Diese neue Auslegung setzt einen anderen Akzent auf philosophische und soziale Fragestellungen als es noch bei Apuleius der Fall war. La Fontaine äußert sich dazu sehr ausführlich in seinem Vorwort: „Il y a quelques épisodes de moi, comme l’aventure de la grotte, le vieillard et les deux bergères, le temple de Vénus et son origine, la description des enfers, et tout ce qui arrive à Psyché pendant le voyage qu’elle y fait, et à son retour, jusqu’a la conclusion de l’ouvrage. La manière de conter est aussi de moi, et les circonstances, et ce que disent les personnages. […] Premièrement, cette solitude est ennuyeuse; outre cela est effroyable. Où est l’aventurier et le brave qui toucherait à des viandes, lesquelles viendraient d’elles-mêmes se présenter? Si un luth jouait tout seul, il me ferait fuir, moi qui aime extrêmement la musique. Je fais donc servir Psyché par des nymphes qui ont soin de l’habiller, qui l’entretiennent de choses agréables, qui lui donnent des comédies et des divertissements de toute sorte.“844
843
Die Marmorgruppe Antonio Canovas aus den frühen 1790er Jahren, die
die durch Amors Kuss wiedererweckte Psyche mit der geöffneten Proserpina-Büchse im Rücken darstellt, bezieht sich beispielsweise auf Apuleius, da Psyche bei La Fontaine in keinen Todesschlaf fällt, sondern nach dem Öffnen der Büchse ‚nur‘ ihre Hautfarbe ändert. Siehe Christiane Holm: Amor und Psyche, wie Anm. 32, S. 170–173. 844
„Les Amours“, S. Vf.; „Amor und Psyche“, wie Anm. 836, S. 274: „Es
gibt einige Episoden, die ich hinzugefügt habe – so das Abenteuer in der Grotte, den alten Mann und die beiden Schäferinnen, den Tempel der Venus und seinen Ursprung, die Beschreibung der Unterwelt und alle Erlebnisse Psyches bei ihrer Reise dorthin und ihrer Rückkehr bis hin zum Ende der Erzählung. Von mir stammen auch die Erzählweise, der Dekor und die Gespräche der Gestalten. [...] Diese Einsamkeit [in Amors Palast] ist erstens langweilig und überdies geradezu schreckenerregend. Denn wo wäre der Abenteurer oder der Held, der solche Speisen berührte, die sich von allein vor ihn hinstellen? Wenn eine Laute von allein zu spielen anfinge, würde mich das zur Flucht treiben, und dabei bin ich ein großer Musikliebhaber. Ich lasse daher Psyche von Nymphen bedienen, die sich um ihre Kleidung kümmern, sie mit erfreulichen Dingen unterhalten, ihr Theaterstücke vorführen und ihr alle erdenklichen Zerstreuungen bieten.“
352
�. Les Amours de Psiché et de Cupidon
Mit einem Blick auf das Papier Peint von Dufour kann man feststellen, dass gerade die von La Fontaine neu eingefügten bzw. geänderten Elemente auf der Ebene des Plots visuell umgesetzt werden, sodass die so entstehende Bildfolge wiederum einen im Vergleich mit Apuleius geänderten récit bildet. Wie auch schon im Fall von Telemach ist hier zwar kein Platz für eine ausführliche Wiedergabe der Inhalte der Geschichte von Apuleius und/oder La Fontaine, doch soll der Plot zumindest kurz umrissen und an der entsprechenden Stelle die für die Tapete wichtigen Neuerungen in La Fontaines Text benannt werden: Psyche ist eine junge Königstochter, die aufgrund ihrer Schönheit von vielen bewundert wird und so den Neid von Venus auf sich zieht,845 die eine solche Hybris zu bestrafen versucht, indem sie ihren Sohn Amor anweist, Psyche einem Ungeheuer als Gatten zuzuführen. Nach einem Orakelspruch Apollons setzen Psyches Eltern sie aus, damit sie dieses Ungeheuer heiratet. Stattdessen wird sie vom Westwind Zephyr auf Anweisung Amors zu seinem Palast gebracht. Dort besucht Amor sie des Nachts, erteilt aber ein Verbot, ihn anzusehen, sodass Psyche die Identität des sich ihr aufzwingenden Liebhabers nicht (er)kennt. Sie lebt im Palast ein luxuriöses und entspanntes Leben und bildet ihren Sinn für die Künste, für Poesie und (die eigene) Schönheit aus. Die beiden Schwestern Psyches, die neidisch auf dieses Leben sind, überreden sie bei einem Besuch dazu, das Sehverbot zu übertreten, sodass sie nachts mit einer Öllampe und einem Messer zu Amors Bett schleicht. Dabei verbrennt sie Amor aus Versehen leicht mit dem heißen Öl, sodass dieser aufwacht und flieht. Die zürnende Venus sucht die inzwischen schwangere Psyche und erlegt ihr verschiedene Prüfungen auf, unter anderem muss sie Getreide sortieren und Wasser aus dem Styx holen. Zuletzt muss sie das Kästchen der Proserpina aus der Unterwelt holen und übertritt zum zweiten Mal ein Verbot, indem sie das Kästchen öffnet und in einen Todesschlaf fällt, aus dem sie dann der zu Hilfe eilende Amor wieder erweckt. An genau dieser Stelle hat La Fontaine eine grundsätzliche Änderung vorgenommen, denn nach seinem Plot nimmt Psyche nach dem Öffnen des Kästchens eine dunkle Hautfarbe an und wird ‚hässlich‘, woraufhin sie sich in eine Grotte zurück zieht und wiederum Amor verbietet, sie zu sehen, bis sie ihre Schönheit wieder erlangt. Hiermit ist – sowohl bei Apuleius als auch dann bei La Fontaine – ein moralischer Komplex von Neugier in Verbindung mit Sicht- und Unsichtbarkeit und Ent-Deckung sowie mit Erkenntnis und Poesie zur Disposition gestellt, der zudem auch geschlechterspezifisch entwickelt wird.846 Die Zur-Schau-Stellung
845
Vgl. den Beginn der Binnenerzählung bei Apuleius und den direkten
Vergleich: „ […] als ob sie geradezu die Göttin Venus persönlich wäre [… ]“, Apuleius: Der goldene Esel, wie Anm. 826, S. 159. 846
Diese geschlechterspezifische Charakterisierung und Moralisierung
nach einem two sex model wird in den Kapiteln 5.3 und 5.4 wichtig sein.
353
Tapezierte Liebes — Reisen
Abb. 70 Psyche-Tapete im ehem. fürstbischöflichen Palais in Eichstätt, Bayern: Szene 7: Psyche beim alten Fischer, auf Holzrahmen. Abb. 71 Psyche-Tapete im ehem. fürstbischöflichen Palais in Eichstätt, Bayern: Szene 8: Psyche im Thronsaal der Venus, auf Holzrahmen.
von (weiblicher) Neugier mit dem Öffnen der Büchse der Proserpina/Pandora ist eigentlich an dieser Stelle nur eine Zuspitzung der Psyche zugeschriebenen Eigenschaften, die zuvor schon – und zwar durchaus zum Positiven – in den Erkundungen der Palastwelt Amors hervor traten. Dabei ist sie auch in die Welt der schönen Künste eingeführt worden. „Dans le roman de La Fontaine, ce thème est amplement développé et Psyché recoit dans le palais de l’Amour une éducation artistique complète. […] elle admire des statues […] et des galeries de tableaux.“847 Sie hat in dieser Phase ihres Prüfweges, die sie in Amors Palast verbringt, auch die Muße sich immer wieder selbst in großen Spiegeln zu betrachten.848 Dabei geht es auch darum, wie sie schrittweise außer sich selbst auch den anderen, sie ergänzenden Part zu erkennen vermag und wie eine ideale Liebe, die auf Gegenseitigkeit beruhen soll (bzw. auf gegenseitigem
847
Siehe im Katalog: Psyché au miroir d’Azay, Ausst.-Kat. Château d’Azay-
Le-Rideau, hg. vom Centre des monuments nationaux, Paris: Editions du patrimoine 2009, S. 47. 848
Diese Standspiegel werden dann im französischen Empire zu einem
eigenen, nach ihr benannten Einrichtungsstück und als „Psyche“ bezeichnet.
354
�. Les Amours de Psiché et de Cupidon
Abb. 72 Psyche-Tapete im ehem. fürstbischöflichen Palais in Eichstätt, Bayern: Szene 11: Versöhnung von Venus und Psyche, auf Holzrahmen.
Erkennen), beschaffen sein muss. Der „éveil des sens et des perceptions“849 ist auch mit dem Erwachen der Liebe für den anderen verbunden; so werden Liebe und das poetische Erschaffen, das Im-Entstehen-Begriffen-Sein miteinander verbunden. Psyche ist nicht nur die Übertreterin von Verboten, sie ist auch die Er-Schaffende und Ent-Deckende.850 Nach der ‚Büchsen-Krise‘, die Psyche gemeinsam mit ihrem zukünftigen Gemahl Amor bewältigt, entscheidet dann bei Apuleius Jupiter als Vorsitzender des Götterrates darüber, dass Amor und Psyche heiraten dürfen und nimmt das Mädchen in den Olymp und somit in den Reigen der Gottheiten auf; bei La Fontaine ist Venus selbst am Ende mild und versöhnlich gestimmt und nimmt sie als ihre Schwiegertochter an. Die gemeinsame Tochter von Amor und Psyche, Voluptas, wird geboren. In der Tapetenfolge sind nun Szenen zu sehen, die auf La Fontaine und nicht Apuleius basieren. Konkret gehören dazu das Bild Nummer sieben mit der Szene von Psyches Besuch beim alten Fischer und seinen Enkelinnen, die im Gebirge die Schafe hüten, sowie das Innere von Venus’ Palast in den Bildern acht und elf und die Versöhnungsumarmung zwischen Venus und Psyche. [Abb. 70; 71; 72] Besonders wichtig ist auch, dass zwar der Gang in die Unterwelt angedeutet wird, jedoch die Vorgänge in der Unterwelt nicht gezeigt werden. Außerdem ist weder der Todesschlaf der Psyche zu sehen, 849
Psyché au miroir d’Azay, wie ebd.
850
In der „Ode an Psyche“ von John Keats wird sie 1819 dann letztlich zum
Emblem der Poesie, wie ebd.
355
Tapezierte Liebes — Reisen
Abb. 73 Psyche-Tapete im Teezimmer, Eisenacher Kartausgarten, Thüringen: Szene 12: Amor und Psyche im Ehebett.
noch ihre physische Veränderung oder der Rückzug vor Amor und der Welt, die nach der Version von La Fontaine erfolgen. Der Akzent liegt vielmehr ganz klar auf der Versöhnung und dem Vollzug der Ehe sowie dem festlichen Rahmen für diese Entwicklung. Mit dieser Lafontaine’schen Re-Lektüre und Interieurgestaltung im Zuge der nach der Renaissance bereits zweiten großen „Amor und Psyche“-Blütezeit des 19. Jahrhunderts haben sich die philosophischen und sozialen Implikationen verschoben. In welcher Weise und mit welcher Programmatik dies geschah, soll nun zur Debatte stehen. Vor allem das letzte, auf die Versöhnung von Venus und Psyche folgende Tapetenbild mit dem Ehebett verschiebt die bisherige Darstellungstradition von der Hochzeit im Olymp deutlich in ein visuelles Beziehungsgeflecht, das auf Zweisamkeit und Intimität ausgerichtet ist, jedoch noch immer eine herrschaftlich-festliche Umgebung (des Nach-Außen-Repräsentierens) mit überliefert. [Abb. 73] Hier finden sich Didaktiken, die nicht mehr wie bspw. bei Telemach auf eine Prinzenerziehung, sondern ganz zentral auf
356
�. Les Amours de Psiché et de Cupidon
ein Ideal einer (Zweier)-Liebe und auf den Prozess des Findens der – und Sich-Ergebens in die – Liebe ausgerichtet sind. Mit einem Rückblick auf die Telemach-Tapete lässt sich auch noch einmal betonen, dass der Aspekt des festlichen Rahmens im Alltag und der Konversation anhand der und über die jeweiligen Texte851 sowie die Möglichkeit der Übertragung auf die eigenen Lebensverhältnisse auch in diesen Tapetenräumen wieder angelegt ist. Gerade die sehr detaillierten Beschreibungen der Palasträume bei La Fontaine und auf der Meta-Ebene die Spaziergänge der vier Freunde, die sich über die Psyche-Geschichte austauschen, sind in der Spezifik der Visualisierung der Szenen in den Tapeten erkennbar. Sie verweisen auf die Bedeutung, die nicht nur dem Plot, sondern dem ganzen récit, der Art und Weise des Erzählens, auf der Tapete zukommt.
�.� ‚Besetzungen‘ der Psyche-Figur in der Kunst(handwerks)-, Ornament- und Interieurgeschichte Das Thema des zu gegenseitiger Liebe und schließlich gemeinsamer Erhebung (in den Olymp und somit in göttliche Gefilde) findenden Paares kommt in der Zeit der europäischen Renaissance zur vollen Blüte. Zuvor gab es ikonographische Traditionen, die eher andere Aspekte betonten, wie die Qualen der Liebe, wenn Amor Psyche verfolgt und verletzt,852 die Beflügelung der himmelwärts strebenden Seele als isoliertes Element (Psyche als einzelne geflügelte Figur bzw. ein Schmetterling oder Schmetterlingsflügel) oder das spielende Kinderpaar, das oft ebenfalls mit Flügeln versehen war. Holm betont, dass der Aspekt der Paarbildung und auch gemeinsamen Abbildung von Amor (Eros) und Psyche bereits vor Apuleius verhandelt wird und daher an sich keine Innovation bei ihm ist. Dabei schaut sie speziell auf das Genre der Gemmen:
851
Vgl. die „Conversation sur le livre de Télémaque“ von Kurfürstin Sophie
Charlotte von Brandenburg. Siehe dazu auch die Anm. 358 der vorliegenden Arbeit. 852
Vgl. Christiane Holm: Amor und Psyche, wie Anm. 32: „Besonders reich
in der hellenistischen Glyptik ist das Motiv des kleinen, mehr oder weniger flinken und listigen Eros verbürgt, der dem Psyche-Schmetterling häufig auch mit Waffen, Fallen oder Lockmitteln nachstellt“, S. 69f.
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Tapezierte Liebes — Reisen
„Die Paarbildung erfolgt, als Amor bereits zum kindlichen Göttersohn verkleinert und […] er also weniger die Liebe figurierte als selbst als Liebender von Psyche auftreten kann […] Gerade die semantisch entlastete Kleinkunst […] hat in Psyche ein passendes geflügeltes weibliches Pendant für die Amor-Figur gefunden, der nun erstmals selbst in Liebeshändel eingebunden wurde.“853 Während im Mittelalter vor allem die Brautmystik bzw. die ‚Braut‘ und ihre spirituelle Erfahrung und Erlösung und weniger das Paar interessant war, rückte letzteres dann bei Apuleius besonders in den Fokus: „Amor, a god, marries at the end a mortal person, i.e. one of inferior social rank […].“854 Konrad Oberhuber hebt v.a. soziale Aspekte der Paarfindung hervor und die Rolle, die eine (göttliche) Schönheit und der Blick (Sich-Erblicken) für die Erfüllung der Liebe spielt, denn „[t]he story […] distinguishes clearly between higher and lower, immortal and mortal beauty, the beauty of Proserpina and that of Venus as the two ingredients that make up true legitimate love between two partners originally not of equal rank.“855
Psyche-Raumprogramme in der Renaissance Noch vor den einflussreichen und bis heute zum Thema der „Amor und Psyche“-Ausgestaltung im Innenraum wohl bekanntesten Beispielen der von Raffael und seiner Schule geschaffenen Freskenzyklen in der Villa Farnesina und im Palazzo del Te sind die Cassoni zu erwähnen – bunt bebilderte Hochzeitstruhen, die im Quattrocento in Italien beliebte und gängige Ausstattungsstücke waren und als Mitgift von der Braut in die Ehe eingebracht wurden. Sie waren passenderweise häufig mit „Amor und Psyche“-Szenen bemalt, wie Hubertus Günther beschreibt.856 Es gibt seit dieser Zeit eine starke intermediale Verknüpfung in Bezug auf „Amor und Psyche“ zwi853
Ebd., S. 85.
854
Konrad Oberhuber: „Visual Teaching of Love: Farnesina and Palazzo
Te“, in: Fontes, Siena: Agora Edizioni, Band 3/2000, Vol. 5/6, S. 173–180, hier S. 173. 855
Ebd., S. 174.
856
Hubertus Günther: „Amor und Psyche. Raffaels Freskenzyklus in der
Gartenloggia der Villa des Agostino Chigi und die Fabel von Amor und Psyche in der Malerei der italienischen Renaissance“, in: Artibus et historiae, 44 (2001), S. 149–166, hier S. 149.
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schen diesen Cassoni, der (größtenteils zerstörten) Villa Belriguardo, deren Fresken Ercole I. von Ferrara 1493 ausführen ließ, den dieses Freskenprogramm wiederum beeinflussenden textuellen Vorlagen von Apuleius und seinen italienischen Nachfolgern Niccolo da Corregio857 und Matteo Maria Bojardo, sowie den daraufhin entstehenden weiteren Raumprogrammen der Villa Farnesina, des Palazzo del Te und vieler Genueser Paläste im 16. Jahrhundert.858 In allen Fällen sind die Texte und ihre intensive Lektüre859 sowie die Nutzung der literarisch-poetisch überlieferten „Amor und Psyche“-Geschichte für didaktisch aufgebaute Raumdekorationen im Sinne einer ‚Liebesschule‘ von der frühen Renaissance an miteinander verkoppelt. Nur aus diesem Bezugssystem heraus ist auch verstehbar, wie und warum diese Thematik bis zum 18. Jahrhundert zunehmend durch Kleinkunst und -objekte in einen gelebten Alltag integriert wird, wie u. a. auch Holm sehr detailliert zeigt. Die am Ende erfüllte Liebe des sich durch göttlichen Einfluss gegenseitig begehrenden Paares wurde insbesondere für die von Raffael für Agostino Chigi gestaltete Villa Farnesina in Rom und den vom Raffael-Schüler Giulio Romano für Federigo II. von Gonzaga gestalteten Palazzo del Te in Mantua programmatisch.860 Die Villa Farnesina wurde als Lustschlösschen geplant und erhielt ihre Wandbemalung um 1516/17, als Chigi schließlich seine Geliebte Francesca Ordeaschi – als Händlertochter von niederem Stand und jahrelang von ihm in einem Kloster ‚versteckt‘ – heiratete und damit seine Verbindung mit ihr legitimierte.861 Durch den ganzen Palast ziehen sich mythologische Szenen, die auf die Ehe und den Sieg der Liebe anspielen, v.a. kommen auch die mit Heirat und Ehe in Verbindung stehenden Götter Jupiter, Venus, Juno und Ceres vor,862 doch die Loggia di Psiche ist unstreitig der Höhepunkt des Dekorationsprogramms. Die Psyche-Geschichte ist hier so angeordnet „that one of the central scenes in the ceiling is dedicated to the marriage feast, the one on the side of the garden loggia, where festivals and dinners
857
Dieser hatte seine Stanzen 1491 der Isabella d’Este gewidmet.
858
Siehe zu diesen Zusammenhängen Hubertus Günther, wie ebd., S. 150–152.
859
Vgl. ebd., S. 150: „Es ist überliefert, dass Ercole I. täglich Apuleius
las und dass er mit großen (sic!) Engagement selbst das Programm der Fresken ausarbeitete […].“ 860
Abbildungen zu allen Wänden und Fresken dieser vielfach erforschten
Renaissance-Paläste finden sich ebenfalls in den zitierten Publikationen von Günther, Oberhuber und Holm. 861
Vgl. Konrad Oberhuber: „Visual Teaching of Love“, wie Anm. 854, S. 176.
862 Ebd.
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took place in summer. The other one is dedicated to the Council of the Gods, in which the marriage is decided and where Psyche receives from Mercury the cup of immortality and is thus elevated to the rank of goddess. This side is at the right where one enters into Chigi’s working room.“863 Es ergeben sich hier im doppelten Sinne Korrespondenzen: Zunächst zwischen der abgebildeten Feier zur Erhebung der Psyche und den real stattfindenden Festlichkeiten in der Loggia, womit ein performatives Potenzial der Bild-Raum-Subjektkörper-Anordnungen ausgelotet wird – ähnlich wie es mit den Telemach-Supraporten Tischbeins und den realen ‚Übergängen‘ innerhalb des Raumgefüges oder auch der ‚Einverleibung‘ der Telemach-Erziehung mit dem Tee aus dem entsprechenden Teeservice funktionierte. Zum anderen gibt es hier auch Korrespondenzen zwischen der politischen Ebene im Bild (respektive der Machtausübung der Götter als Voraussetzung der Feier und der Versöhnung) und dem Arbeitszimmer Chigis, das ebenfalls von Entscheidungsprozessen und vollziehender Gewalt markiert ist. Oberhuber fasst zusammen: „Eros subjected everybody to his rule until in the scenes above he was finally himself subjected to marriage through the delicate influence of Psyche, the human soul, with whom he had fallen in love.“864 Auch die Sala di Psiche im Palazzo del Te ist „one of the central rooms in that side of the Palazzo del Te dedicated to pleasures of dining, feasting and simply sleeping […] “865, und ist so als Kontrast zum Programm von offizieller militärischer Machtausübung des anderen Flügels mit seiner Sala dei 863 Ebd. 864 Ebd., S. 177. Auch Holm hebt auf die in Bild und Raum mit vermittelten Lebensumstände in dem jeweiligen Haus ab, wenn sie festhält, „dass in ausnahmslos allen überlieferten Amor und Psyche-Raumprogrammen die Liebes- und Hochzeitsthematik über konkrete biographische Bezüge […] mit den Auftraggebern und ihrem jeweiligen Liebes- und Gesellschaftsleben verknüpft ist, weshalb diese exklusiven, architektonisch gebundenen Bildzyklen treffend als ‚Einladung zum Rollenspiel‘ für eine ‚filtrierte Öffentlichkeit‘ beschrieben werden“, vgl. Amor und Psyche, wie Anm. 32, S. 96. Sie bezieht sich dabei auf Forschungen von Weiland-Pollerberg und von Martin Warnke. Ferner betont sie, „[d]ie Villa war kein fester Sommersitz, sondern ein Ort für die spektakulärsten Gastmähler Roms sowie für wissenschaftlich-gesellige Veranstaltungen […]. Die Gäste gelangten über eine aufwendig ausgestattete Gartenanlage am Tiberufer […] zu der Villa, die über die Loggia betreten wurde. Der von den Seitenflügeln der Villa eingefasste Außenraum von der zu dieser Seite hin offenen Loggia wurde für Theateraufführungen genutzt, die dann als Kulisse fungierte. […] Die malerische Ausstattung betont diese Funktion zwischen Empfangsbereich und Festsaal sowie zwischen Garten- und Wohnraum […]“, wie ebd., S. 97. 865 Konrad Oberhuber: „Visual Teaching of Love“, wie Anm. 854, S. 177.
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Giganti gedacht,866 sodass es eine ‚offiziell-häusliche‘ und eine ‚offiziell-politische‘ Seite des Palastes gab. Hier sind also ebenfalls wieder die starken Anklänge an das Liebesleben des Bau- und Hausherrn, Herzog Federigo, zu betonen, der sich eine Heirat mit Isabella Boschetti ersehnte.867 Der Psyche-Saal und sein Hochzeitsbankett-Dekor über zwei Wände ist hier ganz klar als „culmination point of the sequence of rooms“ zu sehen – jedoch wird durchaus noch eine andere Auffassung von Liebe mit visualisiert, die in eine eher unkontrolliert-ausschweifende Richtung tendiert, mit den sexuellen Übergriffen Jupiters auf Olympia sowie der Pasiphae, die sich mit einem Bullen vergnügt und den Minotaurus zur Welt bringt,868 und des Weiteren dem eifersüchtigen Polyphemus, der kurz vor dem Angriff auf Acis steht.869 Die Liebeschule für den Herzog sollte offensichtlich umfangreich sein und auch eine Warnung vor Ausbrüchen aus einem gesellschaftlich akzeptablen Schema enthalten. Die (sich über den Köpfen der Betrachtenden und Feiernden hinziehende) Liebesschule und göttliche Zusammenführung wider alle Ausschweifungen und Irrwege, die indes die Villa Farnesina entfaltet, beschreibt Günther als quasi aus der Literatur – vornehmlich den Beschreibungen des Palastes des Amor und seiner Gärten bei Niccolo da Corregio – übertragene Verräumlichung ebendieses Idealortes,870 wenn Raffael „die Essenz der Fabel, die Erhebung Psyches in den Olymp, bündelt“871 und die Loggia di Psiche „zum Palast des Amor“ wird. Gerade auch der Bezug zur realen ‚Entführung‘ und letztlich Ehelichung des Mädchens Francesca Ordeaschi wird sehr augenscheinlich, wenn man bedenkt, „dass die Fabel bei Apuleius einem geraubten Mädchen zum Trost erzählt wird“872 und wiederum Psyche in einem solchen Verhältnis zu Amor – in seinem Palast – steht. Das performativ-identifikatorische Element, das in der Farnesina vorherrscht und die Betrachtenden (Feiernden) zu Rollenspielern macht in diesem real gewordenen Palast des Amor, hebt etwas anders argumentierend auch Egon Verheyen für den Palazzo del Te und Herzog Federigo hervor, indem er den
866 Ebd. 867 Ebd. Isabella d’Este setzte allerdings gegen diesen Wunsch ihres Sohnes die vorteilhafte Heirat mit Margherita Paleologa durch. Vgl. ebd., S. 180. 868 Die Thematik kreist hier um ein Verbergen, um die eigene Lust auszuleben: Jupiter verwandelt sich in eine Schlange und Pasiphae steigt in die Attrappe einer Holzkuh. 869 Ebd., S. 178. 870 Hubertus Günther: „Amor und Psyche“, wie Anm. 856, S. 162f. 871 Ebd., S. 159. 872 Ebd., S. 163.
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Tapezierte Liebes — Reisen
dortigen Psyche-Saal wiederum – ebenfalls eng mit literarischen Quellen verknüpfend – als eine elysische Insel analysiert.873 „Die Zusammengehörigkeit der Räume im Ostflügel des Palastes kommt auch in ihrer Dekoration zum Ausdruck, die im Gewand der Allegorie der Verherrlichung Federigos dient. […] In der Sala dei Giganti fand [der Gedanke der Verherrlichung des Siegers] […] seinen Höhepunkt im mythologischen exemplum der Gigantomachie.“874 Ziel des Dekorationsprogramms „war die Sichtbarmachung der ‚geistigen Genealogie‘ des Herrschers. Es ging darum, ihn seinen moralischen Vorbildern an die Seite zu stellen und somit zugleich anderen als exemplum virtutis zu empfehlen. Der Herrscher bewegte sich in persona unter den von ihm erwählten uomini illustri, ja, er wird einer von ihnen.“875 Verheyen widerspricht einer rein allegorischen Deutung des Psyche-Saales im Sinne eines Aufstiegs zu den Göttern, auch deshalb, weil der Saal nicht nur Psyche-Bilder miteinander in Beziehung setzt. Er wurde 1528 ausgemalt,876 also ein gutes Jahrzehnt nach der Farnesina, wobei nur die Decken und die Süd- und Westwand mit Apuleius’ Psyche-Szenen gestaltet sind, während die Nord- und Ostwand die schon erwähnten Szenen der ‚destruktiv-verwerflichen‘ Auswirkungen von Liebe und Begehren zeigen. Der Akzent hier liegt insbesondere auf Venus und Mars im Bade sowie der Flucht des Adonis und der Fußverletzung von Venus,877 die auf eine weitere literarische Quelle zurückgehen, die Verheyen mit hinzuzieht, die „Hypnerotomachie des Poliphilos“ von Francesco Colonna.878 Er weist darauf hin, „dass Colonnas Roman die Lokalität angibt, in der sich die Geschichte von Amor und Psyche abspielt“879 und leistet so einen wichtigen Beitrag zur Anerkennung der Bedeutung räumlicher Anordnungen und Kombinationen und deren Bezug zum Alltagsleben der HausbewohnerInnen, was eine reine Allegorese – auch wenn natürlich 873 Egon Verheyen: „Die Malereien in der Sala di Psiche des Palazzo del Te“, in: Jahrbuch der Berliner Museen 14 (1972), S. 33–68. 874 Ebd., S. 36. 875 Ebd., S. 37. 876 Ebd., S. 43. 877 Ebd., S. 51 und S. 55. 878 Ebd., S. 55. 879 Ebd., S. 56.
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der Aufstieg in den Olymp und das Thema der Seele eine wichtige Rolle spielen – kaum berücksichtigen würde. Die Überfahrt zur Insel der Venus, Kytherea, findet sich ebenfalls bei Colonna, und so sollte die Dekoration den Psyche-Saal in die „Insel Kytherea verwandeln, auf der Federigo sich zum Ausgleich für seine Mühen […] der Muße hingeben konnte, einer Muße freilich, die Federigos Anlagen entsprechend stark erotische Züge trug.“880 So hätte die „Totalität der Dekoration, die sich in vergleichbarer Weise in den Malereien der Sala dei Giganti wiederholt und somit keineswegs einen fragwürdigen Einzelfall darstellt, […] von den sich in der Sala di Psiche aufhaltenden Personen gefordert, die Rollen der beim Gastmahl anwesenden Götter zu spielen“881, und es kann sogar von „der Identifizierung von Federigo mit Zeus“ sowie von „Doppelrollen“ die Rede sein, da „Federigo sehr wohl als Richter und Ehestifter erscheinen kann […] zugleich aber auch als Amor, der mit seiner Psyche […] das otium genießt, von dem die Inschrift spricht“.882 Also stellt „das Grundthema des Raumes das glückliche Zusammensein von Amor und Psyche auf der Insel Kytherea“ dar, wobei beide auch zu Zeugen „des Bades von Mars und Venus und der Verfolgung des Adonis“ werden.883 Venus indes ist „die Liebe spendende und Liebende belohnende Herrin der Insel“ und schließlich war auch „der Palazzo Te selbst […] auf einer Insel gelegen.“884 Auch im nun folgenden zweiten Teil dieses der kunsthistorischen ‚Vorgeschichte‘ der Psyche-Tapete gewidmeten Kapitels soll es um die Verknüpfungen von Psyche-Deutungen und konkreten Raum-Subjekt-Konstellationen gehen.
Die (schöne) Seele in der Alltagskultur In den letzten Jahren sind zwei unterschiedliche ganz zentrale Publikationen zur Geschichte und Rezeption des „Amor und Psyche“-Stoffes erschienen, die beide auch einen Akzent auf Kleinkunst und Kunsthandwerk sowie die Model-
880 Ebd., S. 61. 881 Ebd., S. 62. 882 Ebd., S. 64. 883 Ebd. 884 Ebd., S. 65.
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lierung des Stoffes im Alltag und im Interieur legen. Holm setzt sich in ihrem Buch von 2006 mit der „Arbeit am Mythos“ – nach dem Konzept Hans Blumenbergs – von Amor und Psyche sowohl in Texten und Bildern als auch Plastiken, Artefakten und Alltagskulturphänomenen wie z.B. Tableaux Vivants (Attitüden) und Brieffreundschaften auseinander. Sie schaut sich dabei die Formungen dieses Stoffes auf bisher noch nicht in den Blickpunkt geratenen Ebenen der Gesellschaft an. Der Begleitkatalog zur Ausstellung „Psyché au miroir d’Azay“ von 2009 präsentiert hingegen verschiedene Einzelstudien zu exemplarischen Psyche-Bearbeitungen u.a. in wichtigen Stichfolgen, auf Teppichen und im Empire-Interieur.885 In diesen Studien finden sich auch einige für die weitere Untersuchung des Themas mit Bezug auf Bildtapetenräume wichtige Anmerkungen zum Verhältnis der (mythologischen) Psyche und der Seele, die beide untrennbar und sehr komplex miteinander verbunden sind. Im antiken Griechenland war die ‚Seele‘ ein menschlicher (Atem-)Hauch – „un souffle“, abgeleitet von dem griechischen Wort psyche886 – der im Todesfall den Körper verließ; man kann sie näherhin beschreiben als etwas, das „zunächst im ganz vitalistischen Sinne […] außerhalb des Körpers keine eigene Qualität mehr hat, sondern vielmehr ein ‚gefühls- und vernunftloses Schattenbild ohne Erinnerungsvermögen‘ ist“,887 sodass die Seele zu einem „Körperrest“ wird.888 Psyche hat aber zugleich auch die Bedeutung von Schmetterling, sodass sich daher in der Ikonographie der hellenistischen Kunst die Schmetterlingsflügel durchgesetzt haben.889 In antiken und frühchristlichen Grabplastiken bzw. auf Sarkophagen dominiert Psyche entsprechend auch im Zusammenhang mit Schmetterlingen, teilweise gekoppelt an Bacchusgefolge und an den Schlaf oder Todesschlaf (hypnos).890 In der Literatur und Ästhetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts entsteht dann die ‚schöne Seele‘ als Leitbild und philosophisch-moralisches Konstrukt, das wiederum mit der „Amor und Psyche“-Geschichte verschmilzt und besonders für die Interieur-Gestaltung 885 Christiane Holm: Amor und Psyche, wie Anm. 32, und der Katalog: Psyché au miroir d’Azay, wie Anm. 847. In beiden Publikationen kommt die Dufour-Tapete nicht vor, die jedoch – wie dieses Kapitel noch ausführlicher zeigen wird – stoff- und motivgeschichtlich und auch in der Präsentationsweise an die hier diskutierten Amor und Psyche-Umsetzungen in Kunst und Alltag andockt. 886 Vgl. die Anmerkung dazu von Lorraine Mailho-Daboussi im gleichnamigen Beitrag: Psyché au miroir d’Azay, wie ebd., S. 27–37, hier S. 27. 887 Christiane Holm: Amor und Psyche, wie Anm. 32, S. 67. 888 889
Ebd., S. 261. Siehe Véronique Gély: „Les promenades de Psyché, de palais en poè-
mes“, in: Psyché au miroir d’Azay, wie Anm. 847, S. 39–47, hier S. 42. 890 Vgl. einen marmornen Kindersarkophag im Katalog, ebd., mit der Katalognummer Kat. 14.
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an Bedeutung gewinnt, was im Teilkapitel 5.4 weiter verfolgt werden soll. Für diese Verwendungen im Interieur ist neben der Tradition der dekorativen Kleinkunst auch die der grafischen Bilderzählungen hervorzuheben, die aus dem Stoff erst eigentlich eine – sehr literarisch gestaltete – zusammenhängende Erzählung machen. Durch die Praxis des Kopierens und Aufeinander-Verweisens konnte der Stoff von „Amor und Psyche“ schließlich im 18. und 19. Jahrhundert besonders populär werden. Im 16. Jahrhundert entstand mit der Stichfolge des Maître au Dé891 ein „véritable répertoire visuel“, das nach Zeichnungen von Michiel Coxcie angefertigt wurde, und auf eben diesem Bild-Repertoire basieren hochwertige, ebenfalls noch im 16. Jahrhundert hergestellte Glas- und Keramikarbeiten, die v.a. in Grisaille gehalten sind und die späterhin boomende Porzellanproduktion angeregt haben.892 Der Maître au Dé hat 1531/32 zusammen mit Agostino Veneziano 32 Bildtafeln gestochen, die chronologisch dem Apuleius-Text folgen und mit Textzeilen unter den Bildern versehen sind. Er hat mit diesem Begleittext also eine Art Bilderbuch angelegt, ein sehr literarisches Medium, das Sehen und Lesen verknüpft und die Figurengruppen zeigt bzw. deren Plot erzählt, während es zugleich einen architektonischen ‚Haupt‘-Raum für diese Geschichte modelliert, wie es ganz ähnlich auch ab 1815 die Tapete macht. Das didaktische Potenzial, das im Psyche-Stoff angelegt ist, wurde also vor dem Tapetenerfolg bereits in Form von performativ wirksamen Liebesschulen in Renaissance-Palästen ausgelotet. Es kam zudem sowohl in der Plastik und Kleinkunst mit deutlichem Bezug zu unterschiedlichen (!) literarischen Quellen und philosophisch-moralischen Konstrukten wie der Brautmystik oder der gereinigten, schönen Seele als auch in der Grafik als eine neue und wiederum anders in den Lebensalltag integrierbare Art von Lektüre zum Ausdruck. Im französischen Interieur zur Zeit Napoleons wurden dann Vorstellungen von Antike und antiker Lebensweise sehr innovativ mit und über eine „Amor und Psyche“-Motivik vermittelt, sodass sich hier ein Ideenkomplex herausbilden konnte, an dem auch die Tapetenszenen noch teilhaben. Der Psyche-Mythos „s’affirme comme un thème majeur dans la demeure après la Revolution française et se prolonge sous la Restauration“, und zwar nicht nur als dekoratives Modesujet: „[…] la valeur symbolique des ornements prend une dimension particulièrement forte.“893 Die Symbolik und letztlich auch über
891
Den Namen hatte er erhalten, da er oft Blätter mit einem kleinen Würfel
unterzeichnete. 892 So z.B. das Emailgeschirr aus Limoges und Ecouen, vgl. im Katalog, ebd., die Abbildungen Kat. 25–31. 893 Siehe Odile Nouvel-Kammerer: „Le mythe de Psyché dans la demeure sous l’Empire napoléonien“, im Katalog, ebd., S. 79–85, hier S. 79.
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sie vermittelte Didaktik ist im Zusammenhang mit dem Werk von Charles Percier und Pierre François Léonard Fontaine zu sehen, „les deux architectes officiels du régime consulaire puis imperial“, die den „texte fondateur du style Empire“ verfasst haben „qui indique à l’artiste le meilleur emploi des formes, et fixe leurs variétés dans un cercle qu’elles ne devraient jamais franchir.“894 Die Ornamente und (architektonischen, dekorativen) Formen werden also durch einen ‚Ortsverweis‘ reglementiert bzw. in Grenzen gewiesen; die Antike wird zu einem ‚Regulatorium‘ und der Klassizismus über einen ‚Stil‘ hinaus zu einer Lebenshaltung, die ein „modèle de société heureuse“ aufrufen und die aktuellen „sanglants événements révolutionnaires“ vergessen lassen sollte.895 Die Figur(ation) der Psyche steht hier für eine Transformation in und durch Liebe, „[…] le papillon qui sort de sa chrysalide symbolisant les métamorphoses de l’âme féminine lorsqu’elle découvre les premiers émois de la séduction. Il y a donc toute une problématique de la transformation amoureuse et des douleurs liées à la passion qui fait l’objet de jeux ornementaux dans le décor intérieur au début du XIXe siècle.“896 In der häufig vorkommenden Kombination von Schmetterling und Feuer wird die flammende Liebe und damit einhergehende Gewalt symbolisiert, beispielsweise, wenn auf Kandelabern Schmetterlinge in ein brennendes Gefäß getaucht werden oder Putti ihnen die Flügel ausreißen wollen. Auf Pendeluhren stehen Schmetterlinge für den Sieg Amors über die Zeit bzw. auch die Kapitulation vor der Zeit in Form des nahenden Todes;897 als weiteres beliebtes Symbol ist auch der Schwan zu nennen, ein Tier Apollons, das zusammen mit oder im Wasser dargestellt wird bzw. auf Objekten, die mit dem Gebrauch von Wasser einhergehen, wie Waschschüsseln oder Kesseln. Schwäne können Apollon auch geradezu verkörpern, während sie als Tiere der Verführung898 und Begleitung der Venus mit ihrem glänzenden weißen Gefieder „d’une sensualité toute féminine“ sind.899 Diese Symbole der Verführung „repésentent par définition l’ingouvernable et l’imprevisible“ und werden so zu „images de contre-pouvoir face aux symboles […] de la victoire militaire tels que faisceaux de licteurs,
894 Ebd., S. 79. 895 Ebd. 896 Ebd., S. 81. 897 Ebd., S. 81f. 898
Schwänen wird ein besonders großer Penis zugeschrieben, entspre-
chend verführte Zeus Leda in der Gestalt eines Schwans. 899 Odile Nouvel-Kammerer: „Le mythe de Psyché“, wie Anm. 893, S. 82.
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palmes de vainqueur, boucliers des amazones […].“ Sie bilden so eine „langage subtilement érotisé qui offre une véritable alternative aux expressions conquérantes du pouvoir des armes“ und „une dialectique de signes entre gouvernance vertueuse et désordres amoureux.“900 Diesem Sprachsystem der Erotik kann auch das Empire-Möbel Psyche – der oben erwähnte Standspiegel speziell für Damenzimmer – zugeordnet werden: Der Spiegel war drehbar und zeigte den ganzen Körper ab den Füßen aufwärts. Um die Spiegelfläche herum waren oftmals antike Götter angeordnet, sodass der nackte Körper nicht allein erschien; „il est environné de toutes les divinités de l’Olympe qui ornent la demeure“, und es zeigten sich so „les images des corps nus, réels, face à ceux, idéaux, des dieux antiques.“901 Es war so möglich, sich im ‚Spiegel der Antike‘ zu sehen: „La vie quotidienne s’inscrit dans la proximité physique avec l’antique.“902 Auch in Deutschland wurde die Psyche-Thematik seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert stark in den Alltag und in das Interieur eingebunden. Allerdings – dies soll abschließend zu diesen ‚Besetzungen‘ der Figur der Psyche in der Kunst(geschichte) festgehalten werden – geschah dies auf eine andere Weise und mit anderen (philosophisch-politischen, ästhetischen) Implikationen als im Frankreich des vorrevolutionären Klassizismus und später des Empire. In Deutschland war aus der begeisterten Beschäftigung mit der Literatur der Anakreontik und Empfindsamkeit heraus903 eine Tendenz zur Bindung von Dichtung und deren ‚Einsatz‘ im Alltag an den immer mehr geschlechtlich codierten Körper entstanden. Einen besonderen Reiz konnte dabei wiederum die noch nicht so (religiös-philosophisch) ‚besetzte‘ Kleinkunst ausüben, über die ein Andocken an die eigene Lebensgestaltung möglich wurde, wie Holm detailliert herausarbeitet. In Anlehnung an das Konzept von einer Antike als „Gesellschaftsspiel“ hält sie treffend fest, dass die „Aneignung des Themas“ eigentlich „aus der semantisch offenen bzw. noch völlig ungeklärten Paarbeziehung der antiken Kleinkunst“ motiviert ist, „wobei der Reiz eben darin bestehen zu scheint, dass dieses offene Verhältnis erst in den Rollenspielen gestaltet werden kann.“904 Überhaupt geschieht die Aneignung der Antike bzw. die Integration vorgeblich antiker Objekte und auch Lebensweisen in den eigenen Alltag sehr spielerisch, wie auch das JLM
900 Ebd. 901 Ebd., S. 83. 902 Ebd., S. 85. 903
In den frühen 1770er Jahren speziell mit den Literaten um Wieland,
Gleim, Jacobi und Herder. 904 Christiane Holm: Amor und Psyche, wie Anm. 32, S. 51.
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immer wieder vermittelt. So versucht der Autor Carl August Böttiger, Erfahrungen und Erkenntnisse, die Goethe während seiner Italienreise sammeln konnte, in seinem Aufsatz „Tischbeins Vasen. Lady Hamiltons Attitüden von Rehberg“ von 1795 für ein breites antikenbegeistertes Publikum aufzubereiten.905 Er bemüht sich so „die Leserinnen des Journals des Luxus und der Moden (JLM) zu müßigen Teilhaberinnen einer poetischen Reise zu machen: sie sollten aus der großen Bildungsanstrengung des Dichters ihre kleinen Gewinne für den Alltag ziehen. Böttiger macht im wörtlichen Sinne die Antike ein-heimisch, indem er nur Gesten und Szenen zur Nachahmung empfiehlt, die auf einer Bühne gespielt werden können, deren Radius nicht weiter reicht als eine menschliche Hand. Böttiger führt die intellektuelle Erfahrung in ihre handwerkliche Machbarkeit über.“906 Hannelore Schlaffer erläutert in ihrem Aufsatz die Verbindungen von Schauspiel und Rollenspiel, Skizzen und Kopien sowie Kunsthandwerk im gelebten Alltag in bildungsbeflissenen Haushalten und stellt Böttiger in den Mittelpunkt des Interesses. Dieser suche „Vorbilder für ‚unsere Wohnungen, Kleidungen, Tisch- und Trink-Geschirre und Geräthschaften […] die wir in den kostbaren Trümmern und Ueberresten des griechischen Altertums noch jetzt hier und da zu bewundern Gelegenheit finden‘ (JLM 1795, 59).“907 Sie betont, Böttiger leite „eine neue Privatisierung und Banalisierung des Kunstgenusses ein“,908 mit der Folge, dass schließlich über die Tätigkeit und Würdigung des Kopierens und Imitierens die Antike immer mehr zu einer Rolle wird, die jede(r) für sich einnehmen und ausagieren kann. „Die Kopie ist der Spiegel der Wirklichkeit des Originals; die Folie dieses Spiegels aber ist der Kopist, ist der moderne Mensch. In der Kopie erscheint die Antike als ein Teil seiner selbst, und während er sie kopiert, verwandelt auch er sich in Antike. Er übernimmt den Habitus ‚Antike‘ als eine Rolle, mit der er über sein wirkliches Dasein einen Schein ausbreitet.“909
905
Hannelore Schlaffer: „Antike als Gesellschaftsspiel“, wie Anm. 34,
S. 193–207. 906 907 908 909
368
Ebd., S. 193f. Ebd., S. 194. Ebd., S. 195. Ebd., S. 199.
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Bei dieser „Eingemeindung der Antike in die Gegenwart“ werden nun „die gültigen Werte der Vergangenheit allerdings mit Leben erfüllt“ und „der Besitz der Vergangenheit“ wird allmählich „zum emotionalen Eigentum des gegenwärtigen Menschen.“910 Diese Betonung des emotionalen Faktors in Verbindung mit „Eigentum“ respektive „Besitz“ berührt den gerade im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert so wichtigen Themenkomplex der Mode/modischen Objekte und des Konsums als ein „Medium der Vergesellschaftung“,911 wie ihn v.a. Dominik Schrage und Colin Campbell erörtern.912 Die Anhäufung von Dingen dient – wie ja auch Schlaffer an dem Konzept von Antike als „Gesellschaftsspiel“ zeigt – dazu, „soziale Positionen und Prestigeansprüche durch den Kauf und Gebrauch von Dingen zu kommunizieren“;913 es geht also nie nur am das Ding (oder seine Kopie bzw. Variation) an sich, sondern den Ideenkomplex und die Selbststrategien, die mit seinem Umgang und Gebrauch aktualisiert werden. Über den Konsum als Antike-aneignende Praxis lassen sich Schrages Warenkonsum-Thesen und Foucaults Ansätze der (Selbst-)Disziplinierungsstrategien als zwei ‚Modellierungssysteme‘ des sich entwerfenden und in Beziehung setzenden Subjektes betrachten. Somit ist „[d]ie seit dem 18. Jahrhundert in Europa dichter werdende Vergesellschaftung durch den Warenkonsum […] aus dieser Sicht für die Entstehung des modernen Individuums von vergleichbarer Bedeutung wie die Vergesellschaftung durch Disziplinierung“.914 Campbell betont noch stärker die Rolle von Emotionen, die durch Dinge und deren Konsum ausgelöst und scheinbar eingelöst werden, und spricht mit dem „Hedonismus“ im Kaufen und des Kaufens auch eine Be-
910 Ebd., S. 201 und S. 200. 911 Dominik Schrage: Die Verfügbarkeit der Dinge, wie Anm. 567, S. 12f. 912 Was Schlaffer, die auch auf das Konsumententum in Verbindung mit Antike eingeht, allerdings nicht weiter herausarbeitet. 913 Dominik Schrage, wie ebd. Vgl. auch das mit Kopie und Konsum einhergehende Selbst-Entwurfsprogramm im Zusammenhang mit dem Telemach-Stoff im Alltag. In Georg Simmels „Philosophie der Mode“ wird diese Verhaltensweise in soziologischer Hinsicht noch stärker als ein Bedürfnis der Nachahmung und gleichzeitiger Abhebung von anderen sozialen Schichten untersucht; hier in Bezug auf Antike und Konsum kommt es mir aber besonders auf die ästhetische und zugleich moralisch-didaktische Werteproduktion und Subjektivierungsmöglichkeit an. Friedrich Schiller betont: „Es sind nicht diese Gegenstände, es ist eine durch sie dargestellte Idee, was wir in ihnen lieben. Wir lieben in ihnen das stille schaffende Leben, das ruhige Wirken aus sich selbst, das Dasein nach eignen Gesetzen, die innere Notwendigkeit, die ewige Einheit mit sich selbst“, in: „Über naive und sentimentalische Dichtung“ (1795/96), in: Sämtliche Werke, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München: Carl Hanser 1980, S. 695. 914 Dominik Schrage: Die Verfügbarkeit der Dinge, wie ebd., S. 130.
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gehrensstruktur an, die im 18. Jahrhundert – hier spezifisch auf die englische Mittelschicht bezogen – wichtiger wird als die reine Bedürfnisbefriedigung (satisfaction) durch die Dinge. Es ist nicht allzu relevant, was ein Ding ist, sondern viemehr, für was es genommen/genutzt werden kann und dass dadurch Vergnügen hervorgerufen wird: „[…] whereas an object’s utility is dependent upon what it is, an object’s pleasure significance is a function of what it can be taken to be.“915 Dabei arbeitet Campbell heraus, dass Geschmack (taste) eben nicht nur eine Frage der Mode ist, sondern dass vielmehr die im Zuge der englischen Empfindsamkeit und insbesondere bei Shaftesbury entwickelte Theorie der sensibility auch untrennbar mit einer moralisch denkenden und handelnden Persönlichkeit verknüpft wird, wie auch die Beurteilungsfähigkeit und somit der Geschmack als höchstpersönliche Eigenschaft gilt.916 Wie Campbell schlussfolgert, ist es „the character of consumption as a voluntaristic, self-directed and creative process in which cultural ideas are necessarily implicated“, was den Konsum und das Streben nach Besitz sowie nach Ansammeln und Vorzeigen kulturwissenschaftlich so interessant macht.917 Als Zwischenergebnis zu den bisher hervorgehobenen Aspekten der Rezeption des „Amor und Psyche“-Stoffes und seiner Übernahme, Überformung und teilweisen Neucodierung in Innenräumen sowie Bildern und Objekten kann festgehalten werden, dass sein Potential der Verbindung des Liebes- und Begehrensthemas (und all seiner Gefahren) mit Erziehung, Selbstformung und Selbstdarstellung immer wieder erkannt und genutzt worden ist. Der Bezug zur Selbst-Bespiegelung über die und anhand der Psyche-Rezeption hat sich in Deutschland im (bewohnten) Innenraum zwischen den Bereichen der Dichtung und des sich in Auseinandersetzung mit dieser aufführenden Körpers hergestellt; im Empire-Interieur Frankreichs eher zwischen den Bereichen des Gegenstandes und des Körpers, wie es die Spiegelung des (Frauen-)Körpers im antik besetzten Standspiegel auf den Punkt bringt. In jedem Fall aber setzen sich die Betrachter-Körper im Innenraum mit Psyche, Amor, Venus und Co. in
915
Colin Campbell: The Romantic Ethic, wie Anm. 567, S. 61. Campbells
Studie orientiert sich schon im Titel stark an Max Webers „The Protestant Ethic“. 916 Ebd., S. 138ff. Am literarischen Beispiel von Marianne und Elinor aus „Sense and Sensibility“ erläutert Campbell: „Responsiveness [also auch die Fähigkeit an sich, überhaupt auf einen stimulus zu reagieren, Anm. der Autorin] to beauty thus became a crucial moral quality, such that any deficiency in this respect became a moral lapse, whilst correspondingly virtue became an aesthetic quality, such that, in turn, any moral lapse was ‚bad taste‘. This is a significant extension of the doctrine of signs for it makes ‚taste‘ the most important of an individual’s qualities […]“, ebd., S. 152. 917 Ebd., S. 203.
370
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eine zwar spielerische, jedoch auch ästhetisch und didaktisch weiter wirkende Beziehung. Dieses performative Potential nutzt auch die Psyche-Tapete ab 1815, allerdings – wie eine Analyse exemplarischer Beispielräume zeigen wird – in der Modellierung wiederum anders gelagerter Paar(ungs)-Didaktiken.
�.� Entführung, Reise, Selbsterkenntnis: Die rites de savoir der jungen Königstochter Wie die obigen Ausführungen gezeigt haben, ist die Entscheidung der Manufaktur Dufour für die Umsetzung des „Amor und Psyche“-Stoffes auf einer Tapete ganz klar mitmotiviert durch eine ganze Traditionslinie, die so durch einen Literaturklassiker ‚verbürgte‘ Vorstellungen von Liebesbeziehungen und Paarbildungen in den Innenraumen zu holen und letzteren damit ‚aufzuladen‘ ermöglichte. Ähnlich wie beim Telemach sind nicht nur die Beliebtheit des Stoffes und seine Entfaltungsmöglichkeiten als Narration im Raum ausschlaggebend, sondern auch die Diskurse, die mit ihm verfestigt und performativ in Gang gesetzt bzw. weitergetragen werden, in Interdependenz mit den RaumnutzerInnen und -bewohnerInnen. Der Geschlechts-, Liebes- und Paarbildungsdiskurs, der sich in den Inhalten der 12 Tapetenszenen ausbildet und mitteilt, soll hier nun – vor den vier Beispielanalysen zur Psyche-Tapete – noch näher definiert und theoretisch vorbereitet werden als ein Teil von Psyches rites de savoir. Dabei stellt sich ein Vergleichsmoment zu Telemachs Reise heraus, wobei schließlich dieses Zu-Sehen-Gegebene auch zusammen mit seiner Präsentationsform – den konkreten medialen Eigenschaften dieser Tapete und der ästhetischen Zusammenschau an der Wand und im Raum – betrachtet werden muss. Psyche ist im Gegensatz zu Telemach in Einzel-Tableaus gegliedert, die in Grisaillefarben gehalten sind (teils, je nach Auflage, allerdings auch in Sepiafarben) und keine ‚offene‘ Landschaft wie beim Telemach anbieten. Die Landschaftstapete transportiert ihre Inhalte anders als die Psyche-Tableaus, die eher wie vergrößerte Stiche aneinandergereiht sind. Einleitend zu den Telemach-Einzelanalysen wurde die Bedeutung der Bildungsreise für das sich am Adel orientierende Bürgertum herausgehoben (Kapitel 4.3), die auch in der Reise Telemachs mit Mentor auf der Suche nach (Selbst-)Erkenntnis enthalten ist. In dieser gesellschaftlich hoch bewerteten Praxis bedingten sich ein gesteigertes anthropologisches Interesse, medizinhistorisch- hygienische Moralia und die festgesetzte Geschlechterpolarität, deren Tugendideale in den Vordergrund drängten, gegenseitig. Dabei hatte sich die
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traditionelle Grand Tour als Möglichkeit des Erwerbs von politischer Finesse und Kontakten oder gar für neugieriges Umherschweifen und Entdecken immer mehr in Richtung eines Bildungsauftrags verschoben. Diese Bildung sollte aber mitnichten nur Bücherwissen oder konkretere Welt(er)kenntnis umfassen, sondern richtete sich auf eine Liebes-Bildung, die für Mann und Frau grundsätzlich differierte und – wie noch genauer gezeigt werden wird – eine Differenz überhaupt erst mitproduzierte und festigte. Franz Posselt brachte dieses für die Zeit um 1800 so typische Projekt der Verknüpfung von Reise und Bildung zu einer proklamierten Vollkommenheit von Verstand und Herz, wie sie in anderem Zusammenhang auch in Schillers ‚freiem Spiel‘ oder dem Geselligkeits-Ideal Schleiermachers anklingt, auf den Punkt: „Bildung des Geschmacks ohne Bildung des Verstandes und des Herzens giebt bloß Kultur; Bildung des Verstandes ohne Bildung des Herzens und des Geschmacks giebt bloß Aufklärung. Vollkommne Bildung des Menschen erfordert, dass alle drey Geistes- oder Gemüthsvollkommenheiten vorhanden seyn.“918 Er schlussfolgert entsprechend: „[…] das Geschäft der allgemeinen Bildung besteht in der Bildung des ganzen Menschen.“919 Nun wird mit Psyche eine Protagonistin sichtbar, die ebenfalls auf einem Bildungsweg ist, und die bis zum Ziel der Ehelichung ihres Entführers Amor diverse Aufgaben zu erfüllen hat. Ihre Reise besteht zwar auch in gelegentlichem Ortswechsel, ist jedoch eher als eine Reise zu sich selbst modelliert. Ihr (Selbst-)Bildungsweg gestaltet sich wie ein Weg der rites de savoir, einem aus dem Konzept der rites de passage von Arnold van Gennep920 abgeleiteten Begriff. Für die Durchführung einer Grand Tour in den Niederlanden des 17. und 18. Jahrhunderts macht Willem Frijhoff die rites de savoir als eines von drei grundsätzlichen Elementen aus (neben dem erzieherisch-touristischen Anteil, beispielsweise der Besichtigung von Baudenkmälern, sowie der Einübung politisch erforderlicher Kompetenzen). Sie seien durch den Besuch bei Gelehr-
918
Franz Posselt: „Apodemik oder die Kunst zu reisen“ (1795), zit. n.
Thomas Grosser: „Bürgerliche Welt und Adelsreise: Nachahmung und Kritik“, in: Rainer Babel und Werner Paravicini (Hgg.): Grand Tour. Adeliges Reisen und Europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, Ostfildern: Thorbecke 2005, S. 637–656, hier S. 650. 919 Ebd. 920
Gennep war ein französischer Ethnologe, der sich in seinem Hauptwerk
„Les rites de passage“ (1909) mit Übergangsriten beschäftigt und deren Notwendigkeit für das Funktionieren einer (geschlossenen) Gesellschaft betont hat.
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ten, den Erwerb von Büchern und die Aneignung eines (wissenschaftlichen) Abschlusses gekennzeichnet.921 Eine Schwellenerfahrung, die die Grand Tour darstellt, wird auf diese Weise also mit und als Wissenserwerb ritualisiert. Wie bereits festgestellt werden konnte, reichert sich das Ideal eines solchen Wissenserwerbs im ausgehenden 18. Jahrhundert als neue und sehr weitreichende Entwicklung mit dem Erwerb von Gefühlskompetenzen an. Die Geschichte von Psyche hat sowohl bei Apuleius als auch bei La Fontaine den adoleszenten und ‚formbaren‘ Lebensabschnitt der Protagonistin im Fokus. Die Adoleszenz als Schwellenerfahrung am Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter drängt hier mit der Reise- und Selbstbildungs-Schwelle, die Psyche (immer wieder) übertreten muss, sehr dicht zusammen. Holm hebt die Schwellenerfahrung der Adoleszenz sowie die „Genese der geschlechtlichen Identitäten“ als konstitutives Element auch visueller und räumlicher Gestaltungen hervor: „Bei Apuleius sind beide, das Menschenmädchen und der Götterjunge, in ihrer Selbst- und Fremdwahrnehmung als Pubertierende konzipiert, deren geschlechtliche Identität anfangs noch unklar ist. Diese Disposition […] als Übergangsfiguren macht sie für eine Zeit interessant, in der die Jugend gerade als eigene Lebensphase entdeckt wird […].“922 Die „Suche nach gesundem Sex“, die in Kapitel 4.5 untersucht wurde, geht mit Psyche weiter: Die Formung weiblicher und männlicher Körper und die biopolitischen Forderungen, die sich damit verknüpfen, werden an adoleszenten Figuren besonders deutlich. Es entwickelt sich „mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert unter Einbeziehung der vergleichenden Anatomie eine weibliche ‚Sonderanthropologie‘“,923 und somit ist die etymologisch und diskursgeschichtlich eigentlich vollständig mit ‚Seele‘ gleichgesetzte Psyche nun gerade als ‚verkörperlichte‘ besonders relevant. Das „Bedürfnis nach poetischen Seelenbildern, nach ‚sinnlicher Anschauung‘“924 wird größer mit der fortschreitenden Ausdifferenzierung der Wissenschaften (des Menschen); die neue „Ordnung der Geschlechter“ wird – wie auch die Gleichsetzung von Weiblichkeit und Seele als Teil dieser Ordnung – genauso „über ‚biopolitics‘ betrieben“ wie allgemein
921 Willem Frijhoff: „Éducation, savoir, compétence. Les transformations du Grand Tour dans les Provinces-Unies à l’époque moderne“, in: Grand Tour, wie ebd., S. 609–636, hier S. 613. 922 Christiane Holm: Amor und Psyche, wie Anm. 32, S. 9. 923
Ebd., S. 13. Holm bezieht sich damit auf Claudia Honegger in „Die
Ordnung der Geschlechter“. 924 Ebd.
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über Erkenntnisse aus der Medizin und Anthropologie und mit Hilfe von Literatur und Kunst- bzw. Dekorobjekten, die wiederum die Forderung nach sinnlicher Anschauung einzulösen versprechen. Die Psyche-Figuration auf der Tapete ist genau im Kontext dieses nunmehr bis in die (verbürgerlichten) Wohnräume einzelner Subjekte vorgedrungenen Diskurses zu sehen. Sie ist eine verkörperlichte, entführte, sich bildende, selbst wieder unterrichtende, von Kunst faszinierte und zur Versöhnung sowie zur Ehe strebende ‚schöne Seele‘, die jedoch dieses mit Schiller besonders prominent gewordene Konzept umdeutet. Das ‚beseelte’ Weibliche ist jedenfalls bereits zum gesellschaftlichen Konsens geworden: „Im Anschluss an Friedrich Schillers Konzeption von der ‚schönen Seele’, die über ihren Ausdrucksmodus der ‚Anmut‘ zwar weiblich konnotiert, jedoch nicht zwingend an das biologische Geschlecht gebunden ist, reicht Wilhelm von Humboldt genau dieses Scharnierstück nach: ‚Hier nun beginnt der Unterschied der Geschlechter. Die zeugende Kraft ist mehr zur Einwirkung, die empfangende mehr zur Rückwirkung gestimmt. Was von der ersten belebt wird, nennen wir männlich, was die letztere beseelt, weiblich.‘“925 Diese neue „Ordnung der Geschlechter“ hat „den neuen ‚Mythos‘ von Psyche, die die Seele durch den weiblichen Körper figuriert, mit hervor getrieben und geradezu beflügelt“,926 sodass „die apuleische Psyche nicht – etwa wie Schillers ‚schöne Seele‘ – nur ‚ist‘, sondern ‚pubertiert‘, also eine Entwicklungsgeschichte hat und zudem eine aktiv gestaltete.“927 Der Stoff geht so in eine „Privatmythologie“ ein,928 bei der es um ein ‚Innerstes‘ geht, um Mythenbildung und Naturalisierung von Geschlecht, Geburt und Seele-Körper-Verhältnis. Nach und nach wird ein „weiblicher Heroismus konstruiert und eingeübt“,929 der sich jedoch grundlegend von einem männlichen unterscheidet. Der sogenannte „Darmstädter Kreis“ um Wieland und Herder, der vor allem die Psyche als literarische und, mehr noch, im eigenen Lebensumfeld verlebendigte Figur mit einer hochsensiblen Ideal-Weiblichkeit ineins setzte, stieß zwangsläufig auf das Grundproblem, dass diese Psyche „[e]inerseits […] die Naturgeschichte der Seele in ihrer Beziehung zum platonischen Amor als
925 Ebd. Hier zitiert aus Humboldt „Über den Geschlechtsunterschied“. 926 Ebd., S. 14. 927 Ebd. 928 Ebd. 929 Ebd., S. 23.
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etwas Geschlechtsunabhängiges figurieren“ soll, jedoch „andererseits […] als Protagonistin eines ‚psychologische[n] Feenmährchen[s]‘ einen geschlechtsspezifischen rite de passage“ durchlebt.930 Diese Doppelrolle ist kennzeichnend für die Psyche-Figur, ebenso wie die Verknüpfung mit etwas ‚Privatem‘ und ‚Innerstem‘, das sie offensichtlich einlösen sollte, und das sie grundlegend von dem auf ein öffentlich-vorbildhaftes Amt hin arbeitenden Königssohn Telemach unterscheidet. Während dieser aus freien Stücken auf die Suche geht, ein Schiff navigiert und die Nymphen auf der Insel der Calypso in sich verliebt zu machen versteht, wird über Psyche entschieden, wird sie zum Objekt von Kalkulationen und Entscheidungen, sowohl bei ihren Eltern als auch bei Amor und Venus, der Schwiegermutter in spe. Ihre Gedankengänge, Charaktereigenschaften und innere Zerrissenheit und schließlich der Weg der ‚Festigung‘ zu einer akzeptablen Ehefrau sind nunmehr im Fokus des Interesses. Die Tapetenszenerie führt gewissermaßen ein Spiel fort, das in Deutschland etliche Jahrzehnte zuvor in den empfindsamen Kreisen Darmstadts und Weimars beliebt gewesen war: ein junges Mädchen wird zugleich ästhetisiert und für ein Liebesideal in Anspruch genommen, das sich zusammen mit der neuen „Ordnung der Geschlechter“ herausbildet bzw. eine solche als unumstößliche Wahrheit festigt.931 Dieses Moment wird mit dem gegen Ende des zweiten Kapitels beschriebenen Mythosbegriff von Barthes greifbarer, da es weniger um die Tatsache geht, dass ein antikes mythologisches Narrativ aufgegriffen wird, sondern mehr das wie der Präsentation der Aussage zählt, das ‚Sprechen über den Mythos‘.932 Etwa 20 Jahre nach Barthes hat sich Hans Blumenberg mit dem Mythos und seinen Ausformulierungen beschäftigt.933 Auf dessen Ausführungen zur „Arbeit am Mythos“ referiert Holm. Mit den Psyche-Visualisierungen und -aktualisierungen steht ein Blumenberg’scher „Grundmythos“ zur Disposition, und dieser 930
Ebd., S. 43.
931
Die beliebten Rollenspiele, die fortlaufend die Produktion und Rezep-
tion von Literatur sowie die Inszenierung ganzer Lebensläufe der Mitwirkenden anregten, waren fast auschließlich auf das empfindsam-elegische Liebesideal ausgerichtet. So ist nach dem Gedicht „Die erste Liebe. An Psyche“ von 1774 in Analogie „zur ‚erste[n] Liebe‘ des Dichters, zu seiner ‚Doris‘ […] der Kunstname für Sophie von La Roche in Wielands Dichtungen während der Brautzeit“ entstanden, wie ebd. Die auf diese Weise verewigte Doris, die aktiv am Literaturbetrieb partizipierende Autorin Sophie und das Bild einer liebenden Psyche-Figur wurden so zu einer einzigen Figur stilisiert. Psyche wird abgesehen von einer mythobiographischen Aktualisierung bzw. Akzentuierung zudem auch zu einer Figur für die Dichtung schlechthin, die von diesem Weiblichkeitsideal geradezu durchdrungen ist. 932 933
Siehe das Kapitel 2.3 und insbes. Anm. 336 der vorliegenden Arbeit. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, wie Anm. 674.
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„narrative und ikonische Kernbestand eines Mythologems, der ‚Grundmythos‘, ist, so die Pointe dieses Mythenbegriffs, nicht präfiguriert, sondern wird erst durch die historischen Bedürfnisse entdeckt, erprobt und erhärtet: ‚Der Grundmythos ist nicht das Vorgegebene, sondern das am Ende sichtbar Bleibende, das den Rezeptionen und Erwartungen genügen konnte.‘“934 Letztlich wird damit jedoch wieder der Mythos einer „Arbeit am Mythos“ geschaffen, und diese ‚Arbeit‘ wird zu einer nie endenden Praxis von Naturalisierung, wie sie bei Barthes diskutiert wird, der konstatiert, dass „Natur in Geschichte“935 übergegangen ist bzw. als solche aufgefasst und eben kulturell bearbeitet wird. Auch wenn man sich anschaut, wie die Figur der Psyche durch die Epochen und Diskurse gestaltet wurde, wird schnell klar, dass Mythen als ‚immer schon in Rezeption übergegangen verstanden‘ werden müssen – dass aber mit den Versuchen der „Benennungen für das Unbenennbare“ auch der Mythos immer weiter fortgeschrieben wird, damit sich Subjekte durch ihre Imagination, die hier zum Ausdruck kommt, in der Welt und dem Verlauf der Geschichte mit ihren Machtverteilungskämpfen behaupten können.936 Es geht darum, sich an etwas abarbeiten zu können. Mit Psyche wird spezifisch an einem Modell der Weiblichkeit und der weiblichen Liebes- und Erkenntnisfähigkeit gearbeitet. Ihre Erlebnisse und Eigenschaften werden in den Texten benannt, in Bildern und Plastiken visualisiert und geformt, und somit erneu(er)t als Teil der wahrnehmbaren Welt geschaffen. Alle an diesem Prozess beteiligten Medien sind deshalb auch „keine neutralen Vehikel des Mythos, sondern sind schon Teil der Arbeit an ihm und seiner Sinnproduktion“.937 Auch die Tapete formt und produziert als Diskursmitträger des frühen 19. Jahrhunderts daran weiter. Es konnte bereits deutlich werden, dass Dufours Psyche-Figuration – im Rückgriff auf eine jahrhundelange Arbeit am Mythos – ein Modell von Tugend, schöner Seele und einem stark ritualisierten Prozess des Heimkommens (Zuführung an Amor, für den sie ‚bestimmt‘ ist) vor Augen führt. Dabei ist zu bedenken, dass ihre Reise zunächst nichts anderes als eine Entführung ist, und zwar – hier geht es schon gleich sehr unverstellt um
934 Vgl. ebd., S. 192, sowie das weiterführende Zitat zu diesem Grundmythos aus Christiane Holm: Amor und Psyche, wie Anm. 32, S. 25. 935
Siehe zu Roland Barthes und den „Mythen des Alltags“ das Kapitel 2.3
der vorliegenden Arbeit. 936
Christiane Holm: Amor und Psyche, wie Anm. 32, S. 29.
937 Ebd.
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Geschlechtermythen, oder radikaler gesagt, -traumata – ausgelöst von Neidund Rachegelüsten der Venus, die auf die vermeintliche Hybris eines viel zu schönen Mädchens reagiert. Psyche musste in der Logik dieser Mythologisierungs- und Naturalisierungsgeschichte weggebracht und auch bestraft werden dafür, dass ihre Erscheinung in der Welt nicht von angemessener Zurückhaltung war. Eine Reise kann man dies anfänglich nicht nennen, und doch wird es zu einer Reise zu sich selbst. Diese wird fast ausschließlich von anderen (Götter- und Helden-)Subjekten in Gang gebracht und gehalten, sodass sie diesem Gang folgt und am Ende die in Anbetracht der biopolitischen Formung als liebende und geliebte Ehefrau ‚richtigen‘ Entscheidungen trifft. Ihre Prüfungen auf diesem Weg sind im Vergleich zu Telemachs Standhaftigkeitstest auf der Insel der Calypso938 wesentlich härter und gehen an die Substanz, wenn sie angelogen, von der Familie verraten, verlassen und größten Strapazen ausgesetzt wird. Sie muss sich den Ehestand mit Amor regelrecht verdienen, wobei auch der junge Amor teilweise auf die Probe gestellt wird: Man hat es hier mit einem pubertierenden Paar zu tun, dessen Übergang in die nächste Lebensphase – die für das 18. und 19. Jahrhundert besonders wichtige und biopolitisch brisanteste Phase – als rites de passage inszeniert wird. Vor allem für Psyche dient diese Phase dem Erwerb und der Festigung eines geschlechtsspezifischen Wissens. Ihr Bildungsweg an der Wand, wie ihn die Tapetenszenen zeigen, muss also auch auf den Zusammenhang von Geschlechternormierung, Liebesidealen, Innerlichkeit und Wohnrauminszenierung hin befragt werden. In allen Beispielen fällt dabei die Abweichung der Gestaltung und Anordnung der Tapetenbahnen von den weitaus häufiger vorkommenden Landschaftstapeten wie Telemach auf, die ihre Szenerie als zusammenhängende, von verschiedenen Naturelementen durchzogene Landschaft zeigen. Die Psyche-Thematik hingegen wird auf 12 prinzipiell voneinander unabhängig anzubringenden Einzeltableaus präsentiert, mit jeweils den Hauptfiguren des dargestellten Plots in einer sehr detaillierten Formung der Körper und Gewänder im Vordergrund. Jede Figur unterscheidet sich z.B. durch ihre Gesichtslinien oder Körperhaltung von den Figuren auf anderen Szenen. Die ‚Landschaft‘ ist hier eine hybride Verschmelzung von Innen- und Außenansichten, die von Szene zu Szene wechseln und keine Einheit von Raum und Zeit mehr suggerieren, sondern tatsächlich mehrere passages aufzeigen. Ich möchte hierbei eher von ‚Modulen‘ sprechen, die zusammengefügt durchaus
938
Der Test bringt für Telemach zudem auch weniger Leid mit sich als
für die zurückbleibenden liebenden Nymphen Calypso und Eucharis.
377
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eine einheitliche Dekoration und vor allem zusammenhängende Geschichte ergeben, aber nicht zwingend nebeneinander angebracht werden müssen. Das Fehlen einer oder mehrerer Szenen stört also nicht von vornherein schon das ‚Gesamtbild‘, wie es im Gegensatz dazu die eher panoramatischen Landschaftstapeten zu geben intendieren, deren ‚Lücken‘ im Alltagsgebrauch kreativ kaschiert oder ergänzt worden sind. Es wird ein anderes Verhältnis von den handelnden Figuren im Vordergrund und den sie umgebenden Elementen, die sehr architektonisch und mit besonderem Augenmerk auf dekorative Zusätze gestaltet sind, hergestellt und vor Augen geführt, sodass statt eines Rundblicks über Berglandschaften oder Inselsiedlungen mit tanzenden Grazien hier eine klare Fokussierung auf das jeweils einzeln abgesetzte Sujet feststellbar ist. Diese Einzeltableaus fügen sich wiederum zu dem Gesamtthema der Entwicklung der Liebesbeziehung zwischen der sterblichen Psyche und dem jungen Gott Amor zusammen. Der Raum, der hier in den Szenen entworfen wird, ist also ein Raum für die entstehende Liebe des Paares. Sie wird inszeniert wie ein Theaterstück, stehen doch die Figuren wie Akteure eines Stückes in einer exakt an sie angepassten bühnenartigen Umgebung und treten in einer erstaunlichen Tiefenwirkung hervor. Wie bei jeder Inszenierung wurde eine sorgfältige Auswahl des zu zeigenden Plots getroffen, welche impliziert, dass immer auch andere Facetten weggelassen oder abgeändert und angepasst wurden. Die 12 Szenen sind aus einer prinzipiell viel größeren Menge von Ereignissen aus der Psyche-Geschichte gewählt worden und es stellt sich daher die Frage, warum diese Wahl getroffen worden sein könnte und welche Faktoren dafür ausschlaggebend waren. Die Darstellung in Grisaille-Tönen mit den vom helleren ins dunklere Grau gleitenden Bildbereichen, die Licht- bzw. Schatteneffekte modellieren, aus denen sich schließlich die Tiefenwirkung ergibt, basiert auf der grafischen Kunst bzw. den vor allem für Buchillustrationen wichtigen (Kupfer-)Stichen mit ihrem Akzent auf Linienführung und Schatteneffekten. Das Interieur wird so umso mehr zu einem Bilderbuch,939 in dem man gedanklich ‚blättert‘, indem man von einer Szene zur nächsten läuft – und zurück. Zwar mag gerade bei dem bekannten Kupferstecher Xavier Mader, der für Dufour an der Psyche-Tapete mitgearbeitet hat, das Fehlen einer leuchtenden Farbpalette zunächst überraschen, doch die Grisaille-Ausführung liefert einen „effet plus original d’amplification de l’art de l’estampe. Les sources graphiques utilisées par Mader expliquent
939
378
Christiane Holm: Amor und Psyche, wie Anm. 32, S. 100.
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probablement le choix du noir et blanc.“940 Es ergibt sich eine Art „patchwork de motifs anciens et de formes nouvelles; il apparaît donc comme le produit déroutant et complexe d’une époque qui consomma l’estampe dans tous ses états.“941 Abgesehen von der Literarisierung der Epoche um 1800 und der Romanbegeisterung des Bürgertums, die sich so auch an den Wänden materialisierte,942 lässt sich rezeptionsästhetisch auch eine andere Wirkung auf Betrachteraugen und -körper konstatieren. Der Raum wird so gerade nicht zur (Außen-)Landschaft, zur Insel oder zu einem Natur-Refugium, und die ‚Stationen‘ von Psyches Reise-Lehrgang müssen alle einzeln und als kleine Erzählungen für sich wahrgenommen werden, die in kognitiver Eigenleistung dann eventuell doch ein ‚Panorama‘ der Gesamtgeschichte ergeben, wobei im Moment des Anschauens eine gewisse Distanzierung vom Dargestellten erfolgt. Diese Wirkungsweisen müssen im Verlauf des fünften Kapitels genauer geklärt werden. Es ist interessant, dass die Form der ‚modularen‘ Darstellung in dieser Distanzierungstendenz auch auf eine Verallgemeinerungstendenz abhebt, als wären mit den ‚Maxi-Illustrationen‘ universelle Werte (und zwar solche, die schon in vielen zuvor gedruckten Büchern und grafischen Werken zirkulierten) mit Anspruch auf auch im Innenraum und im ‚Innersten‘ zu beachtender Gültigkeit abgebildet. Ähnliches ist auch in Bezug auf die Images von Weiblichkeit und guter Körperhaltung – als Ausdruck moralischer Integrität – zu sagen, die sich in der Tapete als Psyche-Mythologem verdichten, denn auch diese Inhalte der Darstellung sorgen für ein „distancing“ mit einer Reihe von Effekten, „including universalizing subject-matter, providing imaginative space, defusing potential threats, and endowing issues with cultural dignity.“943 Der weibliche Körper wird in dieser Formung zu einem „substratum onto which shared values and collective commitments can be projected“, und Psyches Körper bietet sich (stellvertretend für ein ganzes kollektives Ideal weiblicher Körper) für ein „cultural investment“ an.944 Diese Funktion kann sie (ihr Tape-
940 François Pupil: „Les rapports entre les panoramiques et les arts figuratifs“, in: Papiers Peints Panoramiques, wie Anm. 22, S. 135–161, hier S. 141. 941
Ebd., S. 142.
942
Aus dem eigenen [Wohn-] Raum ein Kabinett mit vergrößerten Il-
lustrationen nach einer beliebten und auch aus Adelsresidenzen übernommenen Geschichte zu machen, schien tatsächlich attraktiv. 943
Ludmilla Jordanova: Sexual Visions, wie Anm. 35, S. 134.
944
Ebd., S. 135. Bei Silvia Bovenschen sind weibliche Körper in Texten
und in der Kunst, allgemeiner noch im Sprechen über sie, „Imagines“ von Weiblichkeit: Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit, wie Anm. 65, S. 15.
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ten-Bild, ihr Tapeten-Körper) besonders gut erfüllen, indem sie entsprechend immer wieder großformatig und in spezifischen Schattierungen und Rahmungen ‚auftritt‘. Es wird außerdem auch noch zu untersuchen sein, inwiefern außer Distanzierung, Verallgemeinerung und kulturellem Investment durch die Art der Farbgestaltung und Präsentation auch eine Art ‚Domestizierung‘ einer eigentlich zutiefst erotischen Lektüre stattfindet. Es ist letztlich eine Umcodierung einer solchen Erotik zu einem Selbstbildungsweg mittels des Erlernens von Liebe zu beobachten, und diese These gilt es zu untermauern.
Die Produktion der Psyche-Räume Im Vergleich mit den untersuchten Telemach-Beispielen in dieser Arbeit fällt auf, dass die Psyche-Räume tendenziell herrschaftlicher bzw. eher in einem adeligen Wohn- und Lebensumfeld zu verorten sind als die zum Teil im Industriellenmilieu auffindbaren Telemach-Räume. Dies mag an einem Bündel von Ursachen liegen, nicht zuletzt auch an der Verfügbarkeit der Ware und den Kontakten nach Paris und zu Handelsreisenden, allerdings wohl auch an der Spezifik des Bildraums in den Psyche-Szenen, der – wie noch detailliert zu zeigen ist – viele palastähnliche und übermäßig reich und wertvoll geschmückte Architekturen aufweist und somit besonders repräsentative Fantasieräume in den Realraum holt. Es ist also jeweils mit zu berücksichtigen, was an der Nutzung der Räume und am ‚Status‘ der RaumnutzerInnen und -bewohnerInnen spezifisch ist, sowie, inwiefern die gegebene ästhetische Struktur der Innenräume von der in den bereits untersuchten Telemach-Beispielen abweicht oder ihr auch ähnlich ist. Der für die Raum(nutzungs-)Theorie bedeutende Text „La production de l’espace“ von Henri Lefèbvre zeigt auf, dass Räume nicht nur leere, mathematisch zu berechnende Container sind, sondern vor allem soziale Produkte, die erst durch die in und mit ihnen agierenden Subjekte als (spezifischer) Raum wahrnehmbar und analysierbar werden.945 Dies gilt genauso für die Abfolge von Räumen, die erst zur Raum-Folge werden, wenn Subjekte Entfernungen in ihnen zurücklegen und sich in und zwischen ihnen aufhalten. „Unser Alltag gliedert sich in eine Abfolge von Räumen, die wir mit bestimmter Regelmäßigkeit aufsuchen: Wohnräume, Arbeitsräume, Erholungs- und Freizeiträume, Reiseräume. In ihnen und ihrer besonderen
945 Anm. 455.
380
Vgl. die Ausführungen in dieser Arbeit im Kapitel 3.2.2 und insbes. die
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Differenzierung spielt sich das menschliche Leben ab. Raum ist konstitutiv für jede Ausprägung von gesellschaftlichen Strukuren und Verhaltensmustern […].“946 Dabei werden NutzerInnen des Raumes „von ihm gleichzeitig auch (um)geformt“.947 Auch nach Otto F. Bollnow ist der „gelebte Raum“, wie er ihn von mathematisch-physikalischen Definitionen abgrenzt, „weder absolut noch starr, noch homogen noch unendlich, denn an die subjektive und begrenzte Wirklichkeit des wahrnehmenden Menschen gebunden, ist er heterogen, veränderlich und relational.“948 Auch die Tapetenräume sind in hohem Maß genutzte, gelebte Räume, semantisch und performativ von wahrnehmenden und sich bewegenden Subjekten mit Bedeutung aufgeladen und, mit Lefèbvre gesprochen, Teil von einem „dynamische(n] Netz aus Codes, die im Raum koexistieren, sich herausbilden, sedimentiert werden oder gänzlich verschwinden.“949 Es gilt also, das Netz aus Codes, das Zusammenspiel von Akteuren und ihrer Bühne in den Psyche-Räumen zu betrachten und den Bezug zu den Tapetentableaus und ihren Darstellungen herauszufiltern, wobei wieder die drei Analyseachsen von Natur und Naturalisierungen, Bildersequenzen und Panoramablick und Theatralität des Alltags und Bühne der Gesellschaft herangezogen werden sollen. Das hier so hervorgehobene Zusammenspiel lässt sich gleichermaßen mit dem Denken Lèfebvres und Foucaults sowie dem Konzept des kulturellen Gedächtnisses analysieren, denn, um die Diskursivierung mit und durch Bildtapetenräume noch einmal hervorzuheben, „Räumen sind immer Diskurse eingeschrieben, ohne die sie in dieser Weise nicht existierten. Sie entstehen nicht absichtslos, sondern ihnen ist ein Interesse immanent. Die Frage nach dem ‚Raum‘ muss sich also immer mit Verteilungskämpfen von Macht auseinandersetzen, die den räumlichen Konfigurationen eingelagert sind.“950 Zudem lassen sich im Raum unterschiedliche „Markierungspunkte eines kulturellen Gedächtnisses ablesen.“951 Raum, Macht und Gedächtnis sind so mit946
Michaela Krug: Auf der Suche nach dem eigenen Raum. Topographien des
Weiblichen im Roman von Autorinnen um 1800, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 17. 947 948 949 950 951
Ebd., S. 18. Ebd., S. 21. Ebd., S. 25. Ebd., S. 26. Ebd., S. 28.
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einander korreliert, dass nicht von einer reinen Faktizität des Dings oder der Dinggefüge im Raum gesprochen werden kann, da auch kein neutrales bzw. rein faktisches Wahrnehmen dieser Konstellationen stattfindet. Die Überlegungen aus der Kultursoziologie und zu einer durch ein subjektives Prisma fallenden Wahrnehmung aus der Einleitung aufgreifend, collagieren Subjekte ihr Sehen in ihrem – ganz persönlichen – Sinne: „Die Sprechenden und Sinnproduzierenden sind immer wir – (die) Betrachter oder Analytiker. Denn was Dinge angeblich erzählen, erweist sich bei genauer Prüfung als ein stummes Echo der Erwartungen und Projektionen ihrer Betrachter […]. Wir selbst sind es, die ihre ‚Erzählungen‘ produzieren.“952 Durch das Zusammensetzen der Eindrücke in der Imagination, das vor Ort aktuell geschieht, sich also performativ vollzieht, ergeben sich erst spezifische Platz-Zuweisungen des Gesehenen und Verknüpften: So auch, wenn beispielsweise auf die Raumstruktur bezogen das Schiff bei Telemach in Richtung Fenster tendiert und so mit dem Außenraum in Verbindung und aus dem Innenraum gewissermaßen heraus tritt [Vgl. das Beispiel Remscheid, Abb. 51], oder, auf die Figurenmodellierung bezogen, die Calypso auf der Terrasse isoliert vom Liebespaar erscheint. [Vgl. das Beispiel Remscheid, Abb. 53]. Dazu kommt dann das bei Selle erwähnte sehr individuelle „Echo der Erwartungen“, das z.B. eine Isolierung einer Figur an der Wand individuell bewerten wird, und das sich einer umfassenden wissenschaftlichen Analyse gewissermaßen entzieht. In jedem Falle wird ein soziales und emotionales mapping vorgenommen, das sich mit den lokalen, konkret-räumlichen Gegebenheiten bzw. der Raumstruktur zusammen kartographieren lässt, und doch bisher häufig nicht als Teil dieser Kartographie beachtet wird.953 So ein mapping sieht nun im Telemach-Fall ganz anders aus als bei Psyche, da es sich im ersten Fall um eine Insel-Landschaftsszenerie mit Unterbrechungen handelt, im zweiten Fall hingegen um Einzeltableaus mit großformatigen Figuren, die auch nicht in eine offene Landschaft, sondern in Innenarchitekturkulissen gesetzt sind. In beiden Fäl-
952
Gert Selle: „Wie man ein Ding ansieht“, wie Anm. 74, S. 132.
953
Vgl. Giordana Brunos in ihrem Projekt Atlas of Emotion vorgenommene
Untersuchung filmischer Räume („filmic space“), die sich „within the delicate cartography of emotion“ aufspüren und erfassen lassen: Atlas of Emotion, wie Anm. 67, S. 16. Vgl. auch das Zimmer, das zur Weltkarte wird, indem es per Zimmerreise erkundet wird, in Kapitel 4.3.
382
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len ist jedoch nicht nur ein abgrenzbarer Innenraum allein, sondern dieser in seiner Situierung innerhalb einer Gesamtanlage – einem Gutshof, einer Raumfolge im Haus, einer spezifischen Etage etc. – zusammen mit der Tapetenfolge und dem Wahrnehmungsakt der BetrachterInnen bedeutungsproduzierend und subjektformend. Deshalb ist der Blick bei den folgenden Haus- und Raumanalysen nicht nur auf das ‚Ding‘ Bildtapete oder ihre Berührungspunkte mit der Wand zu richten, sondern auch auf Innen-Außen-Relationen, Wegeführung im und nahe dem Haus und regionale bzw. soziale Rahmungen auszuweiten.
�.�.� Das Teezimmer im Kartausgarten Eisenach: Botanik, geselliges Lernen und die Platzierung(en) der Psyche im Gärtnerhaus In Eisenach erstreckt sich unweit der Wartburg eine knapp 40.000 m² große Parkanlage, der Kartausgarten.954 Die Anlage, welche zwischen 1380 und 1390 von Kartäuser Mönchen geschaffen955 und bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts als herzoglicher Küchengarten genutzt worden war,956 erfuhr um 1790 ihre Umgestaltung als Landschaftsgarten durch den aus der bekannten Landschaftsgärtnerfamilie stammenden Johann Georg Sckell. Ab 1802 schließlich
954
Vgl. Bernd Maehler und Heinrich Weigel: Gärten, Parke und parkähnlich
gestaltete Täler und Waldpartien im Kreis Eisenach, Eisenacher Schriften zur Heimatkunde (Heft 33), Eisenach 1985, S. 16. 955
Ebd., sowie des Weiteren Helmut Scherf: Bau- und Kunstdenkmale in
Stadt und Kreis Eisenach, Teil II: Stadt Eisenach, Eisenacher Schriften zur Heimatkunde (Heft 15), Eisenach 1981, S. 56: „Der gepflegte Kartausgarten […] geht auf eine mittelalterliche Klosteranlage der Kartäusermönche zurück. […] Balthasar, der seit 1381 allein regierende Landesherr, begünstigte das Kloster in jeder Weise und ließ ihm schon damals reiche Einkünfte zukommen.“ Weiterhin zur Klostergeschichte vgl. ebd., S. 58: „Neben der land- und forstwirtschaftlichen Betriebsamkeit war das Kartäuserkloster auch eine Stätte der Armen- und Krankenpflege sowie eine Stätte der Bildung. […] Nach der Reformation wurde ein Teil der zunächst wieder instandgesetzten Klostergebäude (wohl Kirche oder Kapitelhaus) als fürstliches Heu- und Strohlager, später als Jagd- und Waschhaus genutzt. Von der Kirche sind schon 1549 die Ziegel zur Ausbesserung der Wartburg verwendet worden, ihr Bau dürfte bald darauf vollends verfallen sein. Hinsichtlich des Aussehens ist uns nichts überliefert, über den Kellergewölben soll das heutige Gärtnerhaus erbaut worden sein.“ 956
Ebd., S. 59: „Der zunächst in Pacht gegebene Klostergarten war um
1700 zum fürstlichen Lust- und Küchengarten geworden.“ Scherf bezieht sich hier auf J. Limberg: „Das im Jahr 1708 lebende und schwebende Eisenach“, Eisenach 1712, S. 177f.
383
Tapezierte Liebes — Reisen
Abb. 74 Eisenacher Kartausgarten, Teilansicht, Aufnahme von 2012.
veranlasste Johann Gottlieb Dietrich, der als großherzoglicher Garteninspektor für Carl August tätig war – dessen Mutter Anna Amalia wiederum die Weimarer Klassik und das Geistesleben dieser Zeit so prägte – die Einrichtung eines botanischen Gartens.957 „Zur Hand ging Dietrich 1823 bis 1841 der Hofgartenkondukteur Georg Ludwig Eduard Sckell, dessen Tätigkeit sehr gelobt wurde.“958 [Abb. 74] Gärten als Orte der Erholung, Erbauung und des gesellschaftlichen, vermeintlich unbefangenen Austauschs inmitten ästhetisierter Natur entstanden seit dem 18. Jahrhundert auch im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach in hoher Zahl. Diese waren oft mit den verschiedensten Architekturen, follies und Sichtachsen ausgestattet, und so erhielt auch der Kartausgarten ein Häuschen, das den Garten um eine Manifestation menschlichen Behausens und Wirkens, auch menschlicher Kontrolle und Einflussnahme, ergänzte.
957
Vgl. die Angaben in: Heinrich Weigel: Von Goethe entdeckt und gefördert:
Johann Christian Gottlieb Dietrich, in: Heimatblätter Folge 39 (Januar 1994), S. 10–15, hier S. 11. 958
384
Ebd., S. 12.
�. Les Amours de Psiché et de Cupidon
Sich in einem englischen Garten auch über längere Zeit und bei unangenehmer Witterung aufhalten zu können und dabei dem Anschein nach der Starre des Alltags und der Zeittaktung im ‚festen‘ Wohnhaus zu entziehen, war sicherlich auch einer der Anreize für Goethe, sich durchaus komfortabel in seinem Weimarer Gartenhaus einzurichten. „Etwas mehr als sechs Jahre, von Mai 1776 bis Juni 1782, wohnte Goethe im Gärtgen vorm Thore. […] Der Natur so nahe wie niemals zuvor, konnte der Dichter in dem neu erworbenen Besitz, ohne sich beengt zu fühlen, einen kreativen, geselligen und heiteren Lebensstil entfalten. Das Haus wurde Anziehungspunkt für zahlreiche Besucher.“959 Zu dem „geselligen und heiteren Lebensstil“ gehörten auch gewisse gesellschaftliche Veranstaltungen und damit verbundene Erwartungen an Goethe, der ganz wesentlich an der Weimarer Gesellschaft partizipierte. Es gab „zumindest einmal monatlich stattfindende, finanziell nicht unaufwändige Gesellschaften und Kartenspielabende, unterhaltsame Geselligkeiten mit Lesungen und andere Zusammenkünfte in seinem Haus.“960 Auch dem Liebhabertheater als besonderer Ausprägung dieser Geselligkeiten widmete man sich wohl von Zeit zu Zeit recht intensiv: nachdem der Theatersaal im Schloss abgebrannt war, fand sich „ein Kreis spielfreudiger Menschen“, „Angehörige der herzoglichen Familie, des Hofes sowie aus bürgerlichen Kreisen, um an unterschiedlichen Spielstätten durch Laienspiel für Spaß und Unterhaltung zu sorgen. Goethe hatte die Leitung dieses Liebhabertheaters übernommen und holte die Gesellschaft bzw. ausgewählte Mitglieder derselben häufig in seinem Garten zu Lese- und Sprechproben 959
Ernst-Gerhard Güse und Margarete Oppel: Goethes Gartenhaus, Wei-
mar: Klassik Stiftung Weimar 2008, hier die Einführung, S. 8. Auch im frühen 19. Jahrhundert war das Gartenhaus nicht etwa dem Verfall preisgegeben, vgl. S. 21: „Zwischen 1810 und 1820 überließ Goethe das Grundstück mit dem Haus der Schauspielerin Caroline Jagemann, später geadelte von Heygendorff. Sie war die offizielle Geliebte des Herzogs Carl August, und für ihre drei gemeinsamen Kinder wurde der Garten zum Spielplatz.“ Auch in den 1830ern rückte es im Zuge von Erneuerungsarbeiten nochmals in den Fokus, vgl. ebd.: „Goethes Interesse an den Ausgrabungen in Pompeji inspirierte ihn zu dem sternförmigen, in Form eines Pentagramms ausgeführten Mosaik nach dem Vorbild dortiger Funde.“ Sowohl die Kernbereiche des Familienlebens als auch der Antiken- und Archäologiebegeisterung – beides kulturgeschichtlich besonders relevante Bereiche des 19. Jahrhunderts – hinterließen also im Gartenhaus ihre Spuren. 960 Ebd., S. 15.
385
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zusammen, so etwa am 2. Juli 1782, wie seinem Tagebuch zu entnehmen ist: Diesen Abend kommt die Schröter und Seidler und Aulhorn in meinen Garten das Stück (Die Fischerin) zu probiren.“961 Der Natur nahe zu sein, und an einem außerhalb der fest umrissenen Wohnkonventionen geschaffenen Ort kreativ-gesellig und gleichzeitig produktiv die Zeit zu verbringen, ist ein Muss in der Freizeit des Bildungsbürgertums und bildungsbeflissenen Adels um 1800, und Goethes Lebensstil konnte sich nur als ein Vorbild in diese Richtung auswirken. Es ist also festzuhalten, dass der Ort, der bis heute mit der Geschichte von Amor und Psyche verkoppelt ist, bereits vor der und zur Zeit der Anbringung der Tapeten von Natur und Naturalisierungen sowie einer Theatralität des Alltags und Bühne der Gesellschaft durchdrungen war. Die Verbindung einer naturnahen Wohn- und Aufenthaltsarchitektur mit der Freizeitgestaltung von sich regelmäßig in ähnlichen Konstellationen treffenden, am gegenseitigen Austausch interessierten Subjekten und den dabei in Gang gesetzten Diskursen wie sie sich z.B. in Theaterstücken, Gesprächsverläufen, Spielen und Forschungsaufgaben (weiter-)produzieren und gegenseitig beeinflussen, lässt sich als ein ganz spezifischer Interaktionsraum beschreiben. Dieser hat sich jedoch nicht voraussetzungslos zur Zeit der Aufklärung herausgebildet; vielmehr knüpft seine Erscheinungsform an Praktiken des Barock und Rokoko und des Ancien Régime an. Die follies des Barockgartens – Pavillons und Grotten, gestaltete Treffpunkte an Brücken und Bächen (Bänke, Wandelgänge…) – waren das Vorbild, wenn es darum ging, dem Regulativ des „Sich-im-Schloss-Befindens“ und des Sich-Ausrichtens an zeremoniellen bzw. vorgegebenen Handlungs- und Kommunikationsschemata zeitweise zu entfliehen.962 Zu Goethes Zeit ist der Anspruch des ‚Entfliehens‘ noch immer ausgeprägt, jedoch nicht mehr allein mit dem Ziel der Belustigung und des Anscheins freien Bewegens. Die Natur sollte nicht nur genossen, sondern auch studiert werden, und der Austausch mit Gleichgesinnten folgte didaktischen Zwecken – zuallererst dem Streben nach Erkenntnis. Die individuelle Kreativität und auch Produktivität sollte nach Möglichkeit angeregt werden. Der Interaktionsraum ‚Gartenhaus‘, wie er hier betrachtet wird, entsteht also sowohl mit und durch Geselligkeit als auch mit und durch Bildung und Perfektionierung. Dabei ist Geselligkeit nun ein Begriff, der in diesem Kontext keinesfalls missverstanden werden sollte als ein Synonym zu ‚Kommunikation‘ oder eine Art ‚Zusammentreffen Mehrerer‘. Zum einen ist er ganz im Sinne 961
Ebd., S. 19.
962
Ein berühmtes Beispiel dafür ist das „Petit Trianon“ im Versailler
Schlosspark.
386
�. Les Amours de Psiché et de Cupidon
Schleiermachers aufzufassen und bezeichnet eine von Haus und Haushalt sowie von Arbeit und Bedarfsabdeckung abgesonderte Sphäre, zum anderen ist auch die spezifische Nutzung des Raums als ein sozialer und gelebter, von sich darin bewegenden Subjekten geprägter damit gemeint, denn solcherlei Sphäre kann nicht ohne diesen Raum geschaffen werden.963 Ausgehend von dem Text(-Fragment) Schleiermachers bekommt der Lefèbvre’sche Raumproduktionsbegriff hier noch eine besondere Bedeutung, da das ‚Garten-Geselligkeits-Haus‘ in Eisenach die Implikationen des Schleiermacher-Textes und Lefèbvres gleichermaßen verräumlicht: wie in Lefèbvres Theoremen sind das Gartenhaus und seine Umgebung sowohl „Voraussetzung und Resultat sozialer Praxis“ als auch geprägt durch Repräsentationen des Raumes „die die mentalen und ideellen Räume einer Gesellschaft umfassen“964 und damit verflochten Beispiel von Räume(n) der Repräsentation, „in denen die ‚Erinnerungen, Träume und Bedeutungen vergangener Repräsentationen von Räumen und räumlicher Praxis‘ virulent sind.“965 Schließlich erhält auch dieser konkrete Raum, diese Verräumlichung sozialer Praxis, „unter dem Aspekt seiner Gesellschaftlichkeit […] die Qualität eines aktiven Wirkungsfeldes.“966 Wie wird nun der Kartausgarten samt Garten-/Gärtner-Haus in Eisenach zu solch einem Wirkungsfeld? Wohin bzw. wie weit reicht die Wirkung? Zunächst ist zu beachten, dass die betrachteten Formen der Geselligkeit in Goethes Gartenhaus in enger Verbindung zum Eisenacher Gärtnerhaus stehen, hat doch Carl August seinem Freund Goethe das Gartenhaus in Weimar geschenkt – „er ließ Goethe als Eigentümer eintragen und zahlte 600 Reichstaler aus einer persönlichen Kasse“967 –, während wiederum durch Vermittlung Goethes Johann Gottlieb Dietrich für den Eisenacher Kartausgarten (und auch größere Gartenanlagen wie die von Wilhelmsthal) tätig werden konnte. Dietrich hatte sich ganz nach aufklärerischen Prinzipien des kategorisierenden Wissenserwerbs systematischen botanischen Studien im Garten gewidmet; und auf seinen Wunsch hin erteilte er dort in einem Pavillon Unterrichtsstunden in Botanik. Er wohnte schließlich auch inmitten dieser von ihm geschaffenen Garten- und Lehrwelt in einer Wohnung im Gärtnerhaus, die 1825 eigens für den
963
Siehe das Kapitel 2.2 der vorliegenden Arbeit.
964
Michaela Krug: Auf der Suche nach dem eigenen Raum, wie Anm. 946,
S. 25. So dienen diese Räume „als Kopf-Räume“ dazu, „die Vorstellungen, Konzeptionen und Ideologien von Architekten, Planern und Raumtheoretikern“ – hier auch Gartengestaltern – zu transportieren. 965 Ebd. 966 Ebd. 967
Ernst-Gerhard Güse und Margarete Oppel: Goethes Gartenhaus, wie
Anm. 959, S. 13.
387
Tapezierte Liebes — Reisen
Abb. 75 Gärtnerhaus im Eisenacher Kartausgarten, zum Teezimmer geöffnete Flügeltür.
rührigen Hofgarteninspektor errichtet wurde. [Abb. 75] Der darin befindliche Salon im Erdgeschoss – das noch heute zu besichtigende Teezimmer – wurde ab 1830, also in der Blütezeit des Kartausgartens, mit der Dufour-Tapete ausgestattet. Helmut Scherf stellt schon in den 1980ern die Verbindung zwischen Goethe, Carl August und Dietrich her: „Zu ebener Erde des Gärtnerhauses liegt nach Südwesten ein stilvoller kleiner Salon, das sogenannte Teezimmer. Hier weilte der Überlieferung nach Goethe und hier ging der von Herzog Carl August 1801 als Garteninspektor (Direktor) des Botanischen Gartens und der Parkanlagen in Eisenach sowie des Schloßparkes in Wilhelmsthal berufene Botaniker Dr. Friedrich Gottlieb Dietrich (1765–1850) ein und aus. Dietrich war seit 1790 Goethes Gehilfe bei der Ausarbeitung des ‚Versuch[s], die Metamorphose der Pflanzen zu erklären‘ und seit 1794 Gärtner in Goethes Hausgarten am Frauenplan in Weimar.“968 Heinrich Weigel schaut sich vertiefend das Verhältnis zwischen Goethe und Dietrich an. Es ist hier deshalb so interessant, weil es entscheidende Impulse für ein Zusammendenken von Pflanzenkunde, wissenschaftlicher Forschung und Bildtapeten-Interieurs geben kann. Dietrich hat Goethe bei einem Spaziergang in Jena im Jahr 1785 getroffen. Dabei hielt Goethe „ihn an, ließ sich die von ihm gesammelten Pflanzen erklären, war überrascht von seinen Kenntnissen und lud ihn kurzerhand ein, an seiner geplanten Reise nach Böhmen teil-
968
Helmut Scherf: Bau- und Kunstdenkmale in Stadt und Kreis Eisenach, wie
Anm. 955, S. 59.
388
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zunehmen.“969 In der „Geschichte meines botanischen Studiums“ hatte Goethe 1817 geschrieben, durch die Begleitung des kenntnisreichen jungen Mannes „ward mir ein neues Verhältnis zur freien, herrlichen Natur, indem mein Auge ihrer Wunder genoß und mir zugleich wissenschaftliche Bezeichnungen des einzelnen, gleichsam aus einer fernen Studierstube, in das Ohr drangen. […] reichliche Lektionen brachte er mir sodann an den Brunnen [in Karlsbad], ehe ich noch meine Becherzahl geleert hatte: alle Mitgäste nahmen teil, die, welche sich dieser schönen Wissenschaft befleißigten, besonders.“970 Dietrich entstammte allerdings auch schon einer wissenschaftlich tätigen Familie, sein Großvater Adam war mit Linné bekannt und ein anerkannter Botaniker gewesen. Um den neuen Schützling zu fördern, erwirkte Goethe „beim Großherzog Carl August eine Unterstützung für Dietrichs Studium der Naturwissenschaften in Jena und Heidelberg.“971 Dietrich war für Goethes Garten am Frauenplan tätig und schrieb im „Neuen Nachtrag zum vollständigen Lexikon der Gärtnerei und Botanik“ 1840 über die Pflanzen dort, sie wären „in Gruppen zusammengestellt, so wie in Jussieu’s natürlichem System die Gattungen aufeinander folgen […]“,972 und dieses System in Kombination mit Lehrstunden vor Ort bot „sehr angenehme und belehrende Unterhaltung“, und zwar „besonders dann, wenn Goethe selbst zugegen war, das Umwandeln der Pflanzen erklärte und über analytische Forschung freie Vorträge hielt, […] und ich mag jener schönen Zeit und Goethes synthetischer Lehr mit Vergnügen noch gerne gedenken.“973 Über die Tätigkeit in Eisenach schreibt er, dass „in dem Garten des Herrn von Goethe der Grund gelegt war, in großen und erweiterten Gartenanlagen“ botanisch zu arbeiten.974 Weigel betont schließlich in seinem Artikel, das „Jussieu’sche System“ als „lebendiges Studienmaterial“ zu verwenden sei als eine „ihrer Zeit weit vorauseilende wissenschaftliche Tat“975 zu bewerten. Zusam-
969
Heinrich Weigel: Von Goethe entdeckt und gefördert, wie Anm. 957, S. 10.
970 Ebd. 971 Ebd. 972 Ebd., S. 11. 973 Ebd. 974 Ebd. 975 Ebd., S. 14.
389
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menfassend kann also festgehalten werden, dass das gemeinsame botanische Interesse Goethe und den sich noch als Gartenexperten entwickelnden Dietrich zusammengeführt hatte und in Dietrichs Schriften einige grundlegende Phänomene des zeittypischen Wissenschafts- und Alltagsdiskurses zutage treten, welche sich auf den Ort ‚Kartausgarten‘ beziehen lassen.
Geselligkeit und Abgrenzung im Eisenacher Gartenhaus Das Teezimmer ist also in eine kulturhistorische Traditionslinie von erstens zu didaktischen Zwecken genutzten Gartenlandschaften, die unter Herzog Ernst August und Anna Amalia im Eisenacher Gebiet sehr verbreitet waren, und zweitens einem der einflussreichsten Literatenkreise rund im Wieland, Goethe, Schiller und später auch Herder einzuordnen. Selbst die botanische Lehre als Zweig der (natur-)wissenschaftlichen Studien um 1800976 erfuhr eine gründliche Literarisierung, da sie erst in der schriftlichen Fixierung und Verbreitung über den lokalen Wirkungsort hinaus weitere Liebhaber und Mit-DiskutantInnen anzog.977 Zu diesem kulturhistorischen Setting passt insbesondere auch die Psyche-Tapete, welche hier eine in Sepia- statt Grisaillefarben gehaltene Neuedition des Erstdrucks von 1815 ist. Die Tapetenszenen sind vollständig und in sehr gutem Zustand an den Wänden des Häuschens erhalten.978
976
Das Interesse, das man auch in Literatenkreisen den Naturwissenschaf-
ten entgegen brachte, nahm gerade durch die Schriften des sowohl Pflanzen als auch andere Phänomene der Erde und ihrer Erscheinungsformen – wie Mineralien und metereologische Zusammenhänge – ergründenden Goethe deutlich zu. 977
Einer Einschätzung um 1850 nach richtete Dietrich es so ein, „dass
gerade diejenigen Pflanzen kultiviert wurden, welche er zur Zeit in seinem Lexikon beschrieb, worauf diese wieder anderen weichen mussten. Demnach war der botanische Garten fast nur da, um Dietrichs schriftstellerische Arbeiten zu unterstützen […]“, ebd., S. 13. 978
Helmut Scherf, wie Anm. 955, über die Tapete: „Bald wurde sie be-
kannt und beliebt und zur Ausstattung französischer und deutscher Schlösser des öfteren nachgedruckt […]. Bald nach 1830, der Entstehungszeit der Eisenacher Amor- und Psyche-Tapete, ist auf fortlaufende Papierrollen gedruckt worden“, S. 62. Die Tapetenszenen sind einzeln in weißen Rahmen an der Wand angebracht und wurden, wie der Restaurator Michael Kunze von der Denkmalpflege Thüringen berichtet, in den 1950er Jahren restauriert. In einem Ausschnitt der Zeitung „Das Volk“ mit Überschrift „Das Teezimmer ist bald wieder zugänglich“ vom 28. August 1958 heißt es: „Als im Jahre 1956 Feuchtigkeit und Schimmel den an den Wänden des Teezimmers angebrachten Bildtapeten ernsthaften Schaden zuzufügen drohten, sah sich die Direktion des Thüringer Museums veranlasst, die wertvollen und emp-
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An dem kleinen, zeittypischen Ort der Geselligkeit und Alltagskultur verbindet sich der Bildungsanspruch der BesucherInnen mit einem Paradigma des Unterhalten-Werdens, gerade wenn die Wand Szenen aus einem der meistgelesenen antiken Märchen bzw. dessen Didaktiken vor Augen führt. Die Bildtapete kann an dieser Schnittstelle von Gartenkultur, sich austauschenden und lernwilligen BesucherInnen, antikisierender Raumausstattung und Alltagspraktiken (in Form von Unterricht) eine abgesonderte Sphäre im Sinne Schleiermachers eröffnen. In einem Rahmen der eleganten Ausstattung und Geschmacksäußerung und zugleich der Geselligkeit situiert, wurden diese Räume zumeist halböffentlich – d.h. zwar privat, aber dennoch auch zur Repräsentation und als Interaktionsraum – genutzt. Sie halfen den Subjekten, die sich darin bewegten, eine Sphäre der Abgrenzung, des kulturellen Austauschs und der Verfeinerung des Alltags zu errichten. Auch für Goethe bot sein Weimarer Gartenhaus eine solche Sphäre, die allerdings – anders als in dem auf regelmäßige Zusammenkünfte, jedoch nicht aufs Wohnen ausgelegten Teezimmer – mit der Einrichtung von Küche, Schlafzimmer und Arbeitszimmer schon sehr fest in den regulären Arbeitsalltag und die mit ihm einher gehenden sozialen Verpflichtungen eingebunden ist. Das Teezimmer hingegen ist kein Wohn-, aber durchaus ein (Selbst-) Bildungsort, für sowohl die Bildung des Geistes als auch die Bildung einer entsprechenden Umgebung, in der man sich bewegt, und des sich darin bewegenden Körpers – und somit auch ein Ort der Formung einer kollektiven Identität für die BetrachterInnen. Sich selbst bilden, auch indem man seinen Wohn- und Handlungsraum bildet bzw. ordnet, und mit Wissen (WissensWERTEN) verknüpft, heißt zugleich, an dieser kollektiven Identität teilzuhaben und sie aktiv mit zu gestalten, denn
findlichen Tapeten von den Wänden zu lösen und vorerst im Museum zu bergen.“ In der „Thüringer Landeszeitung“ vom 16. Juli 1959 mit der Überschrift „Amor und Psyche vor Verfall gerettet. Große Bildtapeten im Gärtnerhaus des Karthausgartens wiederhergestellt. Eine Erinnerungsstätte an Goethe“ heißt es: „Diese Stätte, die an Beziehungen Goethes zu Eisenach erinnert, ist jetzt nach vorheriger Anmeldung wieder zu besichtigen. […] Weil im Laufe der Zeit das Dach undicht geworden war, wurde die auf die Wand aufgeklebte Bildtapete abgelöst, auf Leinwand aufgezogen und auf Keilrahmen gespannt, so dass sie nun als transportable Bilder zu betrachten sind. […] [Friedrich Gottlieb Dietrich] wurde durch des Dichters Vermittlung Hofgärtner und Gartenbaudirektor in Eisenach. In dieser Eigenschaft verwandelte er den Karthausgarten in eine Art botanisches Museum, wo man zahllose Pflanzen bewundern konnte. Bei der allgemeinen Park- und Gartenmanie, die diese Zeit beherrschte, wurde er von vielen prominenten Persönlichkeiten besucht, denen dann im Gartensalon kleine Erfrischungen gereicht wurden. Würdig statteten Tapeten und Mobiliar (jetzt nicht mehr vorhanden) die Erholungsstätte aus.“
391
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„[k]ollektive Identität ist die Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen. Es gibt sie nicht ‚an sich‘, sondern immer nur in dem Maße, wie sich bestimmte Individuen zu ihr bekennen [Hervorhebungen der Autorin] […].“979 Das Bekennen zu etwas – einer Lebensweise, wie sie sich etwa in ‚Leben und Lernen im Gartenhaus‘ oder ‚Gestalten mit Bildtapeten‘ ausdrückt – fügt sich nun zu den Abgrenzungsbestrebungen und schlägt sich zum einen in den Wandtapetenfeldern und zum anderen den Feldern der Kommunikation und des Handelns darin und darum nieder. Wenn z.B. Gartenkultur und antikisierende Ornamente mit der „Amor und Psyche“-Geschichte zusammen an einem Ort verräumlicht werden, wird altes und neues Wissen wieder aktualisiert; und dieses Wissen zirkuliert über Texte und Bilder, über das Reden darüber und verschiedene soziale Praktiken, wie sie in dem Teehaus vollzogen (zelebriert) werden. Wie Karin Wurst es in dem Band „Geselliges Vergnügen“ ausdrückt, erlaubt „dieser Wissenserwerb im kulturellen Bereich […] eine bewusste Gestaltung der Lebensformen, eine abwechslungsreichere Freizeitgestaltung und die Möglichkeit, sich von anderen abzugrenzen.“980 Die vielfältigen Möglichkeiten, sich über die Tapetenszenen darzustellen, sind dabei auch von deren seriellem Charakter geprägt. Es handelt sich ja, wie im zweiten Kapitel dieser Arbeit ausführlich dargelegt, um kein gänzlich individuelles Produkt, sondern eines, das mehrfach hergestellt und ausgeliefert wurde; im Fall der Psyche-Tapete zudem auch in mehreren Folgeeditionen, die nachträglich kaum voneinander zu unterscheiden sind. Gleichzeitig passte ihre aufwendige und entsprechend auch nicht billige Ausführung per Handdruck und der Anbringungsprozess an den Wänden nur in das Budget bestimmter Haushalte. Selbstdarstellung und Abgrenzung funktionieren also über ein Produkt, das nicht alle, aber doch einige andere in ihren Räumen haben konnten, und sie finden vielfach erst am konkreten Ort statt: wenn sich z.B. im Gartenhaus zur Beschäftigung mit Botanik oder der Verzierung mit Blumenarrangements auch Architektur und Figuren im Bildraum der Tapete arrangieren (und, wie schon festgestellt wurde, auf einen Selbstbildungsweg gehen bzw. geschickt werden). Diese Elemente stellen sodann Ordnungen her, die Leitvorstellungen in verschiedenen anderen alltagskulturellen Bereichen entsprechen oder diese mit formen.
979 980
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Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, wie Anm. 210, S. 132. Karin A. Wurst: „Topographie der Geselligkeit“, wie Anm. 351, S. 11.
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Die Bedeutung von ‚Leitvorstellung‘ und ‚An-Ordnung‘ sowie ‚Abgrenzung‘ kommt auch in der Anlage der Wege und Sichtachsen im Garten und seiner Umgebung zum Ausdruck, denn es ist alles sehr überschaubar und auch recht klein gehalten, damit die Orientierung und das Zueinander-Finden im Raum gewährleistet bleibt. Gerade Wege und klare Begrenzungen der Bepflanzung und der Aufenthaltsorte weisen „auf eine ökonomische Organisation des Raumes“981 hin, der ja der Erziehung und Erforschung dient, die wiederum erst eigentlich die Gärtnerlust befördert und vice versa. Die Lust wiederum kann auch durch die Innen-Außen-Verbindung von Garten und Häuschen, durch Blicke durchs Fenster und offene Flügeltüren entfacht und gesteigert werden, denn allein schon „[d]er hochgeschätzte Blick auf den Garten durch Türen und Fenster verstärkt die Vorstellung vom Garten als bewusst zu gestaltender Erweiterung des Wohnraums. Dem Garten kommt besonderes Interesse zu, weil er durch den immerwährenden Reiz des Neuen, der ständigen Veränderung in den Jahreszeiten, durch seine alle Sinne ansprechenden Reize Vergnügungen und Abwechslung bietet.“982 Doch zunächst soll die Konzentration auf dem Inneren des Gartenhauses im Kartausgarten liegen und eine Analyse aller 12 hier vorhandenen Psyche-Szenen erfolgen: Das Teezimmer im Gartenhaus ist ein seltener Fall eines Raums, der tatsächlich alle Szenen vollständig präsentiert,983 denn
981 Zu geraden Wegen bzw. Alleen und ihrer Geometrie vgl. das Kapitel 2.2.1 zu den Zimmerbildern. Michaela Krug bringt als Beispiel aus der Literatur den Ordnungswillen Sternheims bei Sophie von La Roche, der „auf seine Kosten einen schnurgeraden Weg mit Bäumen“ umpflanzte und den Raum so strukturierte, dass „den Menschen ein problemloses Fortbewegen“ zugesichert war. So wurde, über und mit der „Sorge für gute Verkehrswege“, eine „Topographie der Beziehung“ zum Ausdruck gebracht. Siehe: Auf der Suche nach dem eigenen Raum, wie Anm. 946, S. 65. Kommunikation und Geselligkeit muss auch räumlich-verkehrsstrukturtechnisch produziert werden. 982
Karin A. Wurst: „Topographie der Geselligkeit“, wie Anm. 351, S. 13.
Sie bezieht sich hier auf Gundula Lang in „Bürgerliche Privatgärten in deutschen Landen um 1800“. 983
Eine restauratorische Untersuchung von 1998, zu der mir das Gut-
achten vorgelegt wurde, geht von drei seit dem frühen 19. Jahrhundert (aufgrund von Papierfragmenten) nachweisbaren Raumausgestaltungsphasen aus, wobei die Bildtapeten wohl in die zweite Ausgestaltungsphase des Zimmers gehören. Ein weiterer interessanter Punkt dieses Gutachtens hebt hervor, dass zusammen mit den Psyche-Tableaus wohl eine Flächenmustertapete mit grünem Blattranken- und grauem Wellenmuster, vermutlich mit Wasserpflanzen kombiniert, und wohl eine rötliche an Korallen erinnernde Bordüre verwendet worden war. Dies legt nahe,
393
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die weiteren exemplarischen Analysen werden zeigen, dass dies nicht der Normalfall war und oft nur Teile der Szenen verwendet wurden.
Vom ‚Schoß der Familie‘ über die Chaiselongue ins Ehebett: Die Psyche-Szenen, ihre Figur(ation)en und innerbildlichen Bezüge am Beispiel der Anordnung in Eisenach Erste Szene: Die Eltern von Psyche befragen das Orakel Die enge mediale Verknüpfung zwischen den Tapetenszenen und der immer mehr Verbreitung findenden Druckgrafik bzw. den beliebten Buchillustrationen konnte schon herausgestellt werden, jedoch kann abgesehen von dieser allgemeinen Ebene der grafischen Gestaltung bzw. des frühen Massendrucks noch eine direktere Verbindungslinie zwischen einigen Szenen der Psyche-Tapete und ihren druckgrafischen Vorlagen gezogen werden. Während sich die Telemach-Tapete vor allem an der Praxis der Landschaftsmalerei und auch der Bühnenbildgestaltung orientiert, sind die Tableaus von Psyche zum Teil als Kopien konkreter Stiche angefertigt. Es wurden vier Stiche nach Vorlagen von François Gérard, die in der Ausgabe von La Fontaines Text des Verlages Didot 1797 abgedruckt worden sind, berücksichtigt,984 die in der ersten, fünften, sechsten und zwölften Szene ‚wiederkehren‘: Die Befragung des Apollo-Orakels, Psyche will Amor erdolchen, die verlassene Psyche auf dem Felsen985 und Psyche und Amor im Ehebett. [Abb. 76; 77; 78; 79] Diese vier Einzelszenen sind von der Manufaktur Dufour respektive ihrem Künstler Louis Lafitte übernommen worden, wobei allerdings Details im Dekor und in der Ausführung verändert worden sind. Außerdem basiert die zweite Szene, in der Psyche von Zephir davongetragen wird, auf einem Ölgemäl-
dass die strenge Felderung und Grafik-Optik der Psyche-Tableaus durch diese ‚Paratexte‘ wiederum aufgebrochen worden war, wovon allerdings heute nichts spürbar ist. 984 François Pupil: „Les rapports entre les panoramiques et les arts figuratifs“, wie Anm. 940, S. 141. 985
Dieses nach Gérard gezeichnete Motiv hatte Lafitte nach seiner Arbeit
für Dufour im Salon von 1817 ausgestellt, vgl. Pupil, wie ebd: „De toute facon, le panneau de ‚Psyché abandonée‘, dont Lafitte exposa le dessin au Salon de 1817, est une compilation manifeste de l’illustration de Gérard.“
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Abb. 76 Louis Lafitte, nach François Gérard: Psyche beim Orakel, aus: "Les Amours de Psiché et de Cupidon", Paris: Didot 1797. Abb. 77 Louis Lafitte, nach François Gérard: Psyche erblickt den schlafenden Amor, aus: "Les Amours de Psiché et de Cupidon", Paris: Didot 1797. Abb. 78 Louis Lafitte, nach François Gérard: Die verlassene Psyche, aus: "Les Amours de Psiché et de Cupidon", Paris: Didot 1797. Abb. 79 Louis Lafitte, nach François Gérard: Amor und Psyche im Ehebett, aus: "Les Amours de Psiché et de Cupidon", Paris: Didot 1797.
de Prud’hons, das der Öffentlichkeit aus dem Salon von 1808 bekannt war.986 [Abb. 80] Die Tapete knüpft so an Erfolgsgeschichten aus der Kunstszene bzw. dem Kunstmarkt und der Illustrationskunst an und konnte als Privat-Ausstel-
986
In den „Annales“ zum Salon von 1808 heißt es zu Prud’hons Bild: „C’est
une production toute poétique, qu’embellissent les formes les plus gracieuses, les teintes les plus suaves et les plus délicates, l’expression la plus douce, l’effet pittoresque le plus idéal.“ Vgl. Charles-Paul Landon: Salon de 1808. Annales du Museé et de l’École Moderne des Beaux-Arts, Paris: L’Imprimerie des Annales du Museé 1808.
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Abb. 80 Pierre Paul Prud’hon: L’enlèvement de Psyché, Öl auf Leinwand, 195 × 157 cm, Musée du Louvre, Paris, 1808.
lungsobjekt für all diejenigen besonders attraktiv werden, die das illustrierte Buch oder die in den Salons ausgestellten Werke kannten und sie sich in das eigene Interieur holen wollten. Davon abgesehen handelt es sich – das Kapitel 5.2 dieser Arbeit erzählt davon – um in der Kunstgeschichte vielfach (re-)produzierte und in das kollektive Gedächtnis übergegangene Szenen. Die erste Szene der Bildtapete zeigt den Besuch einer apollinischen Orakelstätte von Psyches Eltern mit ihrer Tochter. [Abb. 81] Bei La Fontaine wird aus dramaturgischen Gründen der Trauerzug, der Psyche zum Felsen begleitet, ausführlicher beschrieben als der eigentlich alles in Gang setzende Aufenthalt beim Orakel (denn in der Verlassenheit der rauen Natur findet der endgültige Abschied statt). Gérards Zeichnung bzw. Lafittes Variation davon favorisiert indes nicht nur den Moment der Schicksalsverkündung, sondern ändert auch den zeitlichen Ablauf der Geschehnisse: In einer Prolepse lässt Psyche ihren Kopf auf die Schulter der Mutter sinken, was im Text von La Fontaine erst später passiert – dort läuft die Mutter im Anschluss an die unheilvolle Kundgebung des Orakels „mit aufgelöstem Haar durch die Tempel“987 und umarmt ihre Tochter verzweifelt. In Apuleius’ Version besucht wiederum nur der Vater allein
987
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„Amor und Psyche“, wie Anm. 836, S. 19.
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Abb. 81 Psyche-Tapete im Teezimmer, Eisenacher Kartausgarten, Thüringen: Szene 1: Psyches Eltern befragen das Orakel.
das Orakel und wird dabei weder von Psyche noch von seiner Frau begleitet.988 Zudem versteckt sich Amor rechter Seite hinter der Tür an einer Wand und hat von der unglücklichen Familie unbemerkt an der Szene teil. Amor ist als zukünftiger Gemahl Psyches von Anfang an präsent. Er schaut den Betrachter an, der dadurch zum ‚Komplizen‘ wird und sich bereits auf die kommende Paarbildung freuen darf. Sein kecker Blick und das durch die Türöffnung in den Tempel einfallende Lichtrechteck als Verbindungsstück zwischen der Tür und den beiden Frauen direkt dahinter führen ihn als Teil der Tempel-Gruppe ein. Der Schattenwurf schräg hinter den Frauen sondert diese beiden und den nahen Amor von dem Vater links unterhalb der Statue ab und weist die drei
988 Vgl. Apuleius: Der goldene Esel, wie Anm. 826: „So befragt der arme Vater […] das uralte Orakel des Gottes von Milet […]“, S. 164, und der darauf folgende Spruch des Orakels: „Nicht erwarte du dir einen Schwiegersohn sterblichen Stammes, sondern ein grausam-wild frevelndes Viperngezücht!“, S. 165.
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Figuren als eine Bildeinheit aus. Des Weiteren sind Apoll, die Mutter und die Tochter über Blicke und Gesten zu einer Gruppe geformt, indem die Götterstatue mit dem linken Arm auf die Frauen verweist und die Mutter – die durch die enge Umarmung und überkreuzten Hände eng mit Psyche verbunden ist – wiederum zu ihr hochschaut. Die ‚Vorsehung‘ des sehr bald stattfindenden Ent-Rückens der Psyche aus ihrem irdischen Lebensumfeld ist ebenfalls über den schrägen Schatten angedeutet, der die Frauengruppe umfängt und in direkter Linie mit einer darüber liegenden hellen Wolkenlücke im Himmel verbindet. Abgesehen von der göttlichen Vorsehung, die über Licht-Schatten-Brücken und den Apoll ins Bild geholt ist, wird zudem die Frauengruppe von den beiden Männern der Vergangenheit und der Zukunft Psyches eingerahmt. Während der Vater in körperliche Distanz gerückt ist und Psyche von ihm ab-, dem zukünftigen Gemahl hinter der Tür (von ihr noch unbemerkt) jedoch zugewandt ist, fügt sie sich in ihrer defensiven Haltung und mit geschlossenen Augen bereits in die kommenden Geschehnisse und die Rolle des Fremdbestimmt-Seins ein. Über die Fußstellung – mit einem Fuß den Mosaikboden eine Stufe unter ihr berührend – ist sie jedoch immer noch mit dem Vater verbunden, der ebenfalls korrespondierend dazu seinen hinteren Fuß auf den Mosaikboden gesetzt hat. Indem die Eltern beide gleichermaßen mit dem rechten Fuß einen Schritt nach vorne setzen, scheinen sie jeweils in ihrer Ausrichtung die Tochter einzurahmen. Oberhalb der Ebene der Füße schaffen jedoch der schräg vor ihn gestellte Stock und die abwehrende Handgeste gleich Distanz zwischen dem Vater und seiner Familie. Auch die Nische mit dem Apoll bedarf noch eines genaueren Blickes: er ist unter dem mit einem Figurenfries geschmückten Giebel des Altars platziert und zeigt mit der linken Hand auf Psyche, während er im rechten Arm die Leier hält. Zwar schaut er auf die Frauen hinab, scheint aber dennoch mit seinem Blick auch die BetrachterInnen anzuvisieren, mit denen er dadurch, ähnlich dem Amor, in eine Kommunikationssituation tritt. Die drei wichtigsten Eigenschaften des Apoll werden hier illustriert: Er ist der Gott der Weissagung, des Lichtes und der Musik. Die Zeigegeste Apolls vermittelt in dieser Darstellung keinen allzu großen Schrecken; auch wenn die Figurengruppe der beiden Frauen durchaus von Verzweiflung geprägt ist, so haben etliche kleine visuelle Hinweise eine ironisch-schalkhafte Wirkung auf die Betrachtenden, konkret die fast unmerkliche Fixierung von Psyches Kleidersaum durch den Stock ihres Vaters und die subtil-erotischen Modellierungen. Diese zeigen, wie Psyche ihren Schambereich mit der rechten Hand bedeckt, während ihre Brüste voll und rund erscheinen, und der Amor hinter der Tür ebenfalls fast nackt ist, denn sein Intimbereich ist (anders als bei Gérard!) nur gerade noch
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durch ein flatterndes Tuch bedeckt. Die durch den Stock angedeutete männliche Dominanz des Vaters wird bald der Macht der (erotischen) Liebe weichen. Noch weiter verstärkt wird die Verbindung von Psyche und Amor durch das Überkreuzen der Beine, das beide gerade vollziehen, und ihre jeweils zueinander ausgerichtete Körperneigung, die Psyche an die Mutter und Amor an die Wand zwischen ihnen lehnen lässt. Die Architekturelemente im Bild erhalten gegenüber der Vorlage Gérards eine deutliche Aufwertung; die Wand, in welche die Statue eingelassen ist, besteht nun aus Marmor und der Boden erscheint nicht mehr im einfachen Fischgrätenmuster, sondern ist aufwendig mit geometrischen Formen gefliest und den Mosaikböden des Mittelmeerraums nachempfunden. Die Raumaufteilung bzw. die Absetzung des Tempelinneren vom Außenraum erscheint sehr plastisch mit dem scharfen Winkel der beiden Wände, die eine Art Bühne für die sich gerade abspielende Handlung bilden. Trotz der sehr dekorativen klassizistischen Schmuckelemente wie den Mamorinkrustationen, Pilastern und der sehr dominanten Ädikula im oberen linken Bildabschnitt zeigt die Szene ganz klar den Auftakt zu einer Geschichte, ist also narrativ und mit Akzent auf den Verbindungen zwischen den fünf AkteurInnen gestaltet.
Zweite Szene: Psyche wird von Zephir davongetragen Das kurze Moment des Transports von Psyche durch den Wind Zephir ist bei Apuleius und La Fontaine nicht länger ausgeführt, doch gibt diese Szene Dufour die Möglichkeit, an die Ikonographie des Klassizismus anzuknüpfen – wie bereits vor ihm Pierre-Paul Prud’hon, der das Bild in Öl gemalt hatte. Eine besondere Vorliebe für Sujets der antiken Plastik ist hier an dem fein modellierten Jüngling mit ebensolchem Mädchen im Arm sehr gut erkennbar. [Abb. 82] Zephir erscheint auf klassizistischen Darstellungen meist als geflügelter junger Mann und rückt somit in die Nähe des Liebesgottes Amor.989 Auch die Details der ‚Vita‘ dieses Jünglings hängen eng mit der Liebesthematik zusammen, denn er verwandelte die Nymphe Chloris in die Frühlingsgöttin Flora und konnte mit einem Hauch bereits Frauen schwängern, weshalb er
989
Eine klassizistische Skulptur von Henri-Joseph Ruxthiel, die im Salon
1814 ausgestellt wurde und daher der Manufaktur Dufour bekannt gewesen sein dürfte, zeigt Psyche und Zephir als ein in etwa gleich großes nebeneinander her fliegendes Paar, das durch ein Tuch miteinander verbunden ist.
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Abb. 82 Psyche-Tapete im Teezimmer, Eisenacher Kartausgarten, Thüringen: Szene 2: Psyche wird von Zephir davongetragen.
oft von entsprechenden Fruchtbarkeitssymbolen umgeben dargestellt wird. Ferner zeugte er auch mit Flora den Sohn Karpos (griech.: Frucht) und kann so zum einen als eine Allegorie der Fruchtbarkeit schlechthin gedeutet werden,990 weist zum anderen aber in diesem spezifischen Kontext auch auf die baldige Schwängerung von Psyche hin. Das Thema der Mutterschaft ist auch in der ersten Szene schon im Voraus betont, mit der starken körperlichen Verbindung von Psyche und ihrer Mutter. Die Figur der Psyche ist insgesamt, in Abhebung zur ikonographischen Tradition, gegenüber dem sie tragenden Jüngling optisch aufgewertet und in den Mittelpunkt des Bildes gerückt. Der hier themenspezifisch mit Schmetterlingsflügeln versehene Zephir hat zusammen mit den beiden Putti hauptsächlich die Funktion, Psyche dem Betrachter zu präsentieren. Diese ist 990 Patricia Turner und Charles Russell Coulter: Dictionary of Ancient Deities, Oxford: Oxford University Press 2001, Eintrag „Chloris“, S. 127.
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Abb. 83 Psyche-Tapete im Teezimmer, Eisenacher Kartausgarten, Thüringen: Szene 2 (Detail): Amor in der Gondel.
weich auf Wolken gebettet und wird zusätzlich von zwei Tauben, den Vögeln der Venus, umschwirrt. Auffällig ist auch, dass die vom Wind aufgeblasenen Tücher sie bogenförmig bekrönen. Sie ist schon jetzt eine Auserwählte, deren Status als größte Konkurrentin der Liebesgöttin Venus und zukünftige Gattin Amors mit verschiedenen visuellen Elementen hervorgehoben wird. Nicht nur, dass die schöne ‚Fracht‘ schützend und umsorgend von im inneren Kreis drei männlichen geflügelten Figuren und im äußeren Kreis den aus der Raumdekoration bekannten Putti und Tauben gerahmt wird, ihre Körperkonturen werden zudem ganz besonders zur Geltung gebracht. Ihr unter dem Kleid hervorschauender Fuß ist annähernd parallel zum gespreizten Fuß des unteren Putto ausgerichtet, der wiederum mit seinem rechten Ärmchen Psyches Gesäß hält. Der rechte aus den Wolken hervorblickende Putto wiederholt mit dem Bogen seines linken Armes den Bogen von Psyches Arm über ihrem Kopf und auch insgesamt die Rundung des ‚Segeltuchs‘ über ihr und Zephir. Letzterer unterstützt mit seiner rechten Hand den anderen ausgestreckten Arm von Psyche und ihre leicht geknickte Hand, die auf dem wallenden Tuch liegt und somit genau am Rande der Achter-Formation, die sich aus den Rundungen des Tuches über und der Wolkenformation unter ihr ergibt, sodass sie genau in diese ‚Acht‘ eingepasst ist. Diese kompakte Figurengruppe ist inmitten der fluffigen Wolkenformationen in einen ihr eigenen Bildraum versetzt, der jedoch einen klaren Bezug
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zum Ziel der Reise (eigentlich: der Entführung) behält und sozusagen auch wieder ‚geerdet‘ wird: In der rechten unteren Bildecke geben die Wolken den Blick auf den Palast frei, in dessen Hof Psyche laut La Fontaines Text nun bald abgesetzt wird. Ihr Ziel kann sie selbst also noch nicht erkennen, das Betrachterauge aber sehr wohl. Zusätzlich befindet sich eine kleine und keck zu Psyche hinaufschauende Amor-Figur in einer Schwanengondel unter ihr. [Abb. 83] Sie ist eine Innovation Dufours und kommt in Prud’hons Bild nicht vor. Die Verbindung des jungen Paares wird, wie schon in der ersten Szene, hergestellt, noch bevor dieses überhaupt aufeinander trifft. Durch die Gestaltung Amors als Putto und zugleich als Gondoliere erhält die Szene etwas sehr Verspieltes; auch kommt zusätzliche Bewegung auf, indem Amor-Putto mit seinem Ruderstab die Wolken mit den ‚Reisenden‘ von unten stützt und dadurch auch erst den Blick auf seinen Palast im Hintergrund freigibt, sodass er sich als eigentlich Lenkender der Geschehnisse zu erkennen gibt. Seiner Kontrollposition ist Psyches Ohnmacht entgegen gesetzt; wie schon in der ersten Szene ist sie defensiv und hält die Augen geschlossen, wird gestützt und getragen und mit erblühendem weiblichem Körper als Objekt noch nicht ausgelebten Liebesbegehrens ausgestellt. Dabei ist ihr volles Dekolleté, aus dem die Brustwarzen hervorscheinen, Symbol von zugleich sexueller Lust und mütterlichem Stillen.
Dritte Szene: Psyche im Bade La Fontaine beschreibt die Annehmlichkeiten, derer sich Psyche nach ihrer Ankunft in Amors Palast erfreuen darf, sehr viel ausführlicher als Apuleius. Dennoch wird ihr Bad, das sie sogleich nimmt, auch in dieser Textversion nur mit drei Sätzen erwähnt. Für Dufour bietet die Darstellung der Badeszene allerdings die Möglichkeit, Psyche mit ihren Dienerinnen in einer intimeren Situation zu zeigen als beim anschließenden Speisen, Tanzen oder Spazierengehen. [Abb. 84] Die Erotik eines Bades passt thematisch sehr gut in die Tapetenszenerie und bietet wieder, wie in den ersten beiden Szenen, die Gelegenheit, Psyches Körperrundungen in Szene zu setzen. Louis Lafitte, der diese Szene entwarf, zeigte alle seine vier Entwürfe für Dufours Projekt im Pariser Salon von 1817,991 was
991
Vgl. Heinrich Olligs (Hg.): Tapeten – ihre Geschichte bis zur Gegenwart,
wie Anm. 41, S. 239. Für sechs der Szenen gilt als gesichert, wer sie ursprünglich entworfen hat, wobei vier Zeichnungen von Lafitte und zwei von Blondel stammen. Außerdem kann man davon ausgehen, dass Johann Xaver Mader zuständig war für die „Übertragung der kleineren Entwürfe auf die Bildhöhe von 182cm, die
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darauf schließen lässt, dass er auch seinen individuellen Erfolg im Bereich der Grafik gefeiert wissen wollte.
992
Die Badeszene spielt sich in einem geschlossenen Raum ab, der jedoch durch etliche Durchbrüche der Wände auch auf eine ‚außen‘ liegende Landschaft verweist und sehr elegant bzw. geradezu prächtig ausgestattet ist. In den herrschaftlichen Häusern der Zeit um 1800 schenkte man der Hygiene eine immer größere Beachtung, sodass luxuriöse Badezimmer bereits in Mode kamen. Man kann das Wohlbefinden (Bien-être) als Schlüsselwort für die gehobene Gesellschaftsschicht dieser Zeit nennen: Es kam zu Verbesserungen in der Hygiene und infolge dessen zu einer ganz neuen Bedeutung von Körperpflege in den modernen Villen, sodass auch mehr Wert auf die Gestaltung des Badezimmers gelegt wurde. Alltägliche Gebrauchtwaren wie Geschirr und Anrichten wurden ebenfalls immer mehr verfeinert; es wurde viel Wert auf gemeinsame
Einteilung der 1450 Druckmodel auf die Grautöne bzw. Sepiafarben [...] sowie die Einhaltung des graphischen Charakters bei den Vorlagen für die Formstecher.“ Ein gutes Jahrzehnt nach dieser Feststellung wird die Bedeutung Maders für die Manufaktur Dufour in der Forschung als noch gewichtiger eingeschätzt: „Xavier Mader vergrößert das Geschäft, überträgt selbst die Gouachen auf die Tapetenbahnen und leitet die Gravur der erforderlichen eintausendfünfhundert Druckplatten – eine bewundernswerte Leistung, die eine zuvor nicht erreichte Beherrschung der Modellierung und Schattierung voraussetzt.“ Siehe Françoise Teynac et al.: Die Tapete – Raumdekoration aus fünf Jahrhunderten, München: Callwey 1982, S. 120. 992
Vgl. Paul Lang: Ein Blick auf Amor und Psyche, wie Anm. 832, S. 148f.
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Abb. 84 Psyche-Tapete im Teezimmer, Eisenacher Kartausgarten, Thüringen: Szene 3: Psyche im Bade.
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Abb. 85 Psyche-Tapete im Teezimmer, Eisenacher Kartausgarten, Thüringen: Szene 3 (Detail): rechter unterer Bildausschnitt.
Teeabende und Billardspiele gelegt und – um noch ein weiteres Beispiel aus dem Alltag zu nennen – ab 1810 das Service à la russe eingeführt, bei dem die verschiedenen Gänge nacheinander und nicht mehr alle zum gleichen Zeitpunkt aufgetragen werden, sodass man das gemeinsame Essen auf eine ganz neue Art zelebrieren konnte.993 In diesem Alltagskontext einer verfeinerten und sich in den Gegenständen des Gebrauchs niederschlagenden Lebensweise ist auch dieses mehr wie ein luxuriöses Schlafzimmer gestaltete Badezimmer zu sehen. Ein so reich dekorierter Badesaal lässt die Betrachtenden gerade erahnen, wie prunkvoll die anderen, repräsentativen Säle des Palastes erst sein müssen. Zudem kann das Motiv des Wassers bzw. der Wasserspiele, das auch in den späteren Garten- und Hofszenen Dufours noch wichtig werden wird, hier bereits entfaltet werden, und zwar in Kombination mit der en détail modellierten Innenarchitektur. Ich möchte sie eine ‚offene Innenarchitektur‘ nennen, da die Betrachtenden durch Bogengänge, Fenster und Torbögen stets die Natur außerhalb des 993
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Bernard Chevallier: Décors d’Empire, Paris: de Monza 2008, S. 67.
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Palastes erahnen können, auch wenn kein Fluchtpunkt in der Tiefe vorhanden ist, sondern der Blick an Wänden und Säulen gestoppt wird. In der häuslich-intimen Szene, die Psyche und die fünf Dienerinnen in die Körperpflege versunken zeigt, wird der Raum an sich hier zum zweiten ‚Hauptakteur‘. Der Boden ist wieder aufwendig geometrisch gefliest und auf der Badewanne ist als mise-en-abyme ebenfalls eine Badeszene dargestellt mit einem Schwan als Attribut der Venus und Hinweis auf die sexuelle Ausschweifung Ledas mit dem Schwan. Am rechten Bildrand ist ein Flachrelief mit einer weiteren mythologischen Szene zu erkennen (es könnte sich hierbei um einen Stier respektive den Raub Europas handeln), welches mit einem Gesims abschließt, über dem ein neuer Pilaster aufragt. Auf diesem sind Arabesken zu erkennen, die hauptsächlich aus Vasen und Emporen bestehen. [Abb. 85] Neben dem Flechtmuster auf einem weiteren Pilaster sind auf Dufours Tapete auch andere dekorative Elemente in großer Zahl zu erkennen; darunter Wandbespannungen aus Stoff, auf den Boden und auf Konsolen gestellte Vasen, eine als Zimmerbrunnen fungierende Statue, die Wasser in die Wanne gießt, eine Chaiselongue mit einem darüber geworfenen Gewand sowie ein Weihrauchbecken mit einer Sphinx-Verzierung. Dem Betrachterauge wird hier ein besonders reich verzierter Empire-Saal präsentiert. Die Badewanne mit der Frauengruppe füllt den gesamten Bildvordergrund aus und dient wieder hauptsächlich dazu, Psyche in ihrer körperlichen Schönheit zu zeigen. Die Königstochter stößt sich mit den Beinen leicht von einem Schemel ab und kniet sich auf den Wannenrand, wobei eine der Dienerinnen sie am Arm stützt und ihr Haar ordnet, während sie sie ergeben anschaut. Erneut sind Psyches Augen geschlossen bzw. demütig zu Boden gerichtet, an ihrem Status als umsorgtes hübsches Objekt hat sich noch nichts geändert. Über eine am Boden knieende Dienerin, die rückwärts nach einem Tuch über einer Stuhllehne greift, gleitet der Blick in das in die Tiefe führende linke Bilddrittel. Auch in dieser Szene wohnt Psyches zukünftiger Liebhaber und Ehemann den Ereignissen bei: Amor steht von den Frauenfiguren unbemerkt – aber eben für die Betrachtenden gut erkennbar – an eine Fenstersäule gelehnt im Hintergrund. Hinter ihm ist ein Teil eines Portikus erkennbar und zu seiner linken Seite eine Reihe von Lisenen mit kleineren Nischen dazwischen, in denen Frauenstatuen platziert sind. Man kann in Fortführung der ersten Szene hier bereits eine antizipierte Hochzeitssituation herauslesen, da Psyche als entführte Braut in Amors Palast weilt und gerade von einer Dienerin eine Art Brautschleier auf das Haar drapiert bekommt. Da Amor noch keine aktive Rolle spielt, ist er in derselben Größenordnung dargestellt wie die Amphore, die ihn und Psyche im Bad optisch trennt. Er ist somit eher in einer dekorativen Rolle in das Ge-
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schehen eingebunden. Dennoch ist er raffiniert als der Badenden zugehörig abgebildet, ohne dass die Szene an die aggressive Erotik des „Susanna im Bade“-Stoffes erinnern würde. Dies geschieht allein schon durch die Größenordnung und da der Blick Amors nicht unverstellt auf sie fallen kann, sondern sich eher wie eine noch im Hintergrund verlaufende Nebenhandlung an die Betrachtenden richtet. Fast ist Amor in den ersten drei Tapetenszenen eine Erzählerfigur, die sich merklich, aber noch nicht aktiv beteiligt, mit dem Erzählten in Beziehung setzt.
Vierte Szene: Psyche zeigt ihren Schwestern den Schmuck Die darauffolgende Szene zeigt eine noch kunstvollere Verschränkung von Innen- und Außenraum; sie spielt zwar immer noch in Amors Palast, lässt aber detaillierte Blicke auf die Terrasse und die Landschaft draußen zu. [Abb. 86] Im Vordergrund zeigt Psyche ihren Schwestern den Schmuck, der ihr von zwei Dienerinnen gereicht wird. Der Betrachterblick reicht zur rechten Bildseite weiter durch einen großen Torbogen hinaus über einen sprudelnden Brunnen, in dessen Teich ein Schwan schwimmt, bis zu einer großen Terrasse, die von einer Balustrade samt Statuen begrenzt wird, und dem dichten Baumbewuchs dahinter. [Abb. 87] Das ganze Anwesen wirkt durch die dicht wachsenden Bäume am Horizont von jeder denkbaren Zivilisation abgeschottet. Die Höhe und die Maße des Palastes sowie seine prachtvolle Anlage und Ausgestaltung scheinen hier mit den so prominenten Architekturbeschreibungen in sämtlichen Textfassungen der Geschichte wetteifern zu wollen. Die Kulisse, vor der die fünf Frauen agieren, besteht aus einer prinzipiell sehr massiven Wand, die den Einschluss Psyches in das Innere von Amors Reich – denn auch das sichtbare ‚Außen‘ führt ja nicht in unendliche Weite, sondern ist sofort wieder begrenzt – verdeutlicht. Diese Wand ist durch den Torbogen, der als Durchgang in Richtung Terrasse dient, sowie einen Portikus hinter Psyche – einem in der römischen Villenarchitektur sehr beliebten Element –, der hier wie ein zweigeteiltes Fenster wirkt, und schließlich ganz links einen gewaltigen Sockel, auf dem wiederum stützende Säulen empor ragen, rhythmisch gegliedert. Obwohl es sich bei der Szene um ein Querformat handelt und die Wand mit den Durchbrüchen sowie auch die ‚Reihe‘ der Frauen davor sehr linear wirkt, ist auch die Vertikale durch die hoch aufstrebenden Säulen und Wandelemente stark betont.
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Abb. 86 Psyche-Tapete im Teezimmer, Eisenacher Kartausgarten, Thüringen: Szene 4: Psyche zeigt ihren Schwestern den Schmuck. Abb. 87 Psyche-Tapete im Teezimmer, Eisenacher Kartausgarten, Thüringen: Szene 4 (Detail): rechter oberer Bildausschnitt.
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Psyche, die Figur mit dem wallenden Schleier, ist in den Mittelpunkt dieser architektonischen Fantasiewelt gesetzt, und mehr noch: In ihrer Platzierung direkt hinter der in den Boden eingelassenen Rotunde, die wie ein Präsentierteller wirkt, rechts neben dem ebenfalls runden Tisch und ziemlich genau in der Bildmitte genau vor dem zweigeteilten Fenster ist sie ganz eindeutig die Protagonistin. Zudem fällt auch hier ein Lichtstrahl schräg von rechts oben über sie hinweg, der ihre Statur und die Helligkeit ihrer Kleidung in Korrespondenz zu der Bodenrotunde und der Tischdecke betont. Psyche ist bildkompositorisch wie eine Statue und ein besonders kostbares Dekorobjekt behandelt; sie überragt die anderen Frauen etwas, ist genau in die Interieurelemente Bodendekor, Tisch und Fensterrahmen ‚eingepasst‘ und stellt zudem als einzige ihren Körper und ihr reich gefaltetes Gewand in einer leicht verdrehten Frontalansicht und mit zu den Seiten gewinkelten Armen regelrecht zur Schau. Die Rundung des Bodendekors und der Tischdecke sowie die Stoffqualität der befransten Tischdecke und ihrer Kleidung heben ihre Weiblichkeit hervor, während ihre vertikal-aufrechte, einer Königin und Auserwählten angemessene Positur dadurch betont wird, dass ihr oberstes Körperdrittel genau zwischen die beiden durch die Fenster-/ Toröffnungen sichtbaren Statuen im Hintergrund und eine hohe Empore auf dem Tisch neben ihrem erhobenen rechten Arm gesetzt ist. Des Weiteren ist sie mit ihrem langen Schleier, dessen Zipfel sie mit der Hand hoch hält und noch verwundert betrachtet, bereits als Braut markiert. In La Fontaines Romanstruktur ist die Episode des ersten Treffens mit den Schwestern, die zu Besuch in den Palast kommen, durch psychologische Skizzen und moralische Sentenzen ausgeweitet. Dabei kommen vielerlei Details hinzu, die Rückschlüsse auf die Familie und das Vorleben Psyches erlauben. Die Schwestern sind von Neid zerfressen, als sie sehen, dass der kleinste Raum in diesem luxuriösen Palast mehr wert ist „als zehn Königreiche von der Größe, wie ihre Männer sie besaßen“.994 Noch dazu schwelgt der Autor geradezu in einem zwischen Erstaunen und Bewunderung changierenden Tonfall in der Aufzählung der eigentlich überflüssigen Gegenstände, die für die Toilette und
994
„Les Amours“, S. 61; „Amor und Psyche“, S. 53, wie Anm. 836: „Déjà
l’envie s’était emparée du cœur de ces deux personnes. Comment! On les avait fait attendre que leur sœur fut éveillée. Etait-elle d’un autre sang: avait-elle plus de mérite que ses aînées? Leur cadette être une déesse, et elles de chétives reines! La moindre chambre de ce palais valait dix royaumes comme ceux de leurs maris.“; „Der Neid hatte sich der beiden Frauen schon bemächtigt. Wie, man hatte sie warten lassen, bis ihre Schwester aufgewacht war! War sie denn von anderem Geblüt, hatte sie einen höheren Rang als ihre Schwestern? Doch ihre kleine Schwester war eine Göttin, und sie waren nur armselige Königinnen! Das kleinste Zimmer dieses Palastes war mehr wert als zehn Königreiche von der Größe, wie ihre Männer sie besaßen!“
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zum Wohlbefinden Psyches zur Verfügung stehen und die Schwestern schon bald auf Rache sinnen lassen.995 Der zynische Humor, der sich teilweise bei La Fontaine findet, hat in die Bildsprache der Tapete keinen Eingang gefunden; umso mehr jedoch die Verzierungen und die „Herrlichkeiten“, von denen La Fontaine spricht und die auch zur Ursache des Neids und des weiteren Verlaufs der Geschichte werden. Damit wird ein bestimmtes Frauenbild entworfen, das keineswegs in sich völlig einheitlich ist, worauf noch zurückzukommen sein wird; der Hang, sich zu schmücken und nach außen hin zu präsentieren, dominiert in dieser Szene. Das Neid-Motiv ist enstprechend auch im Dekor des Raums präsent: Ein Wandrelief auf der Innenseite des Portikus zeigt Venus und Amor und abermals eine (in einem Lorbeerkranz fliegende) Taube. [Abb. 88] Der Neid, den Venus auf die schöne Sterbliche hegt, welche sie deshalb versucht mit Hilfe ihres Sohnes zu bestrafen, ist so auch auf dieser Ebene der Architektur und Raumausstattung verbildlicht. Zudem bilden die beiden Schwestern eine ‚Neid-Gruppe‘, indem sie von Psyche abgerückt am Tisch sitzen und ihre Köpfe einander zuneigen und die Schwester in der Mitte sogar, während sie die Hand besitzergreifend
995
„Les Amours“, S. 62f; „Amor und Psyche“, S. 54f, wie ebd.: „Elle com-
mença par le point le plus important, c’est-à-dire, par les habits, et par l’attirail que le sexe traîne après lui. Il était rangé dans des magasins dont à peine on voyait le bout; vous savez que cet attirail est une chose infinie. Là se rencontrait avec abondance ce qui contribue non-seulement à la propreté, mais à la délicatesse; équipage de jour et de nuit, vases et baignoires d’or ciselé, instruments du luxe […]. Certainement, l’amour leur est obligé de la peine qu’elles se donnent […]. Quand tout l’empire de Flore, avec les deux Arabies, et les lieux où nait le beaume, seraient distillés, on n’en ferait pas un assortiment de senteur comme celui-là. Dans un autre étaient des pilles de joyaux, ornements, et chaînes de pierreries […]. Ses sœurs soupiraient à la vue de ces objets; c’était autant de serpents qui leur rongeaient l’âme.“; „Sie begann mit dem Wichtigsten, das heißt: mit den Kleidern und dem übrigen Putz, den die Frauen mit sich herumtragen. Sie füllten ganze Zimmerfluchten, deren Ende man kaum absehen konnte. (Wie ihr wisst, gibt es solcher Gegenstände unendlich viele). Dort fand sich im Überfluss alles, was nicht allein der Reinlichkeit, sondern auch der Verwöhnung dient: Aufputz für den Tag und die Nacht, Gefäße und Wannen aus ziseliertem Gold, Luxusgegenstände [...] (Amor ist ihnen sicher ob dieser Mühe zu Dank verpflichtet.) […] Selbst wenn man das gesamte Reich Floras destillierte und alle Wohlgerüche Arabiens und der Länder, wo der Balsam wächst, hinzunähme, könnte man keine Auswahl von Düften herstellen, wie sie sich hier befand. In einem anderen Raum gab es Berge von Juwelen, Zierrat und Ketten […]. Ihre Schwestern seufzten beim Anblick all dieser Herrlichkeiten: es war, als ob ebenso viele Schlangen an ihren Herzen fräßen.“ Dass das weibliche Geschlecht – und nur dieses – zu der Zeit mit „le sexe“ bezeichnet wurde, ist für die Betrachtungen zu den sich herausbildenden Geschlechtercharakteren im weiteren Fortlauf der vorliegenden Arbeit von besonderem Interesse.
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Abb. 88 Psyche-Tapete im Teezimmer, Eisenacher Kartausgarten, Thüringen: Szene 4 (Detail): Verzierungen am Portikus im Bild rechts.
auf das Schmuckkästchen legt, leicht schräg in Richtung der Betrachtenden schaut als würde sie mit ihnen über den ‚unverdienten‘ Reichtum der Schwester kommunizieren wollen. Die Dienerinnen an den Bildrändern sind hingegen auf Psyche als Hauptperson bzw. auf das Sortieren des Schmucks konzentriert.
Fünfte Szene: Psyche versucht Amor zu erdolchen Von der nun eingeleiteten Intrige der Schwestern und dem inneren Kampf Psyches ist auf der Tapete nichts zu sehen. Die nächste Szene zeigt bereits ihren Besuch in Amors Schlafgemach und damit den Wendepunkt von Psyches Wohlleben im Palast zu den harten Prüfungen. [Abb. 89] Auf zwei Neudeutungen im La Fontaine-Text sei an dieser Stelle hingewiesen. Zum einen verleiht der Autor hier seiner Protagonistin mehr psychologische Tiefe als es bei Apuleius der Fall war und generalisiert ihre Empfindungen in den für ihn typischen Aphorismen: „Qu’on fasse telle mine que l’on voudra, qu’on se querelle, qu’on se sépare, qu’on proteste de se haïr, il reste toujours un levain d’amour entre deux personnes qui ont été uni si étroitement.“996 Was hier hervorgehoben wird, ist der Bund, den das Paar durch seine Nähe
996 „Les Amours“, S. 78; „Amor und Psyche“, S. 67, wie ebd.: „Man kann sich so böse sein, wie man will, sich streiten, sich trennen, behaupten, dass man sich hasse – es bleibt immer ein Rest von Liebe zwischen zwei Menschen, die einander so eng verbunden waren.“
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Abb. 89 Psyche-Tapete im Teezimmer, Eisenacher Kartausgarten, Thüringen: Szene 5: Psyche entdeckt den schlafenden Amor.
zueinander bereits geschaffen hat. Er spielt in diesem für die Wände des Interieurs gestalteten Versuch, ein Liebes- und Ehekonzept zu modellieren, eine besonders wichtige Rolle. Ein anderer Aspekt, der schon im Text hervorgehoben wird, ist die Sorge darum, keine Familie gründen zu können bzw. sie auf der Basis von Trug, Wahn und Unangemessenheit oder Unehre gründen zu müssen. Psyches Bedenken, sich dem unbekannten Liebhaber weiter auszuliefern, ehren sie bei La Fontaine deshalb geradezu. Während Apuleius feststellt „in eodem corpore odit bestiam, diligit maritum“,997 philosophiert Psyche bei La Fontaine intensiver über ihre unmögliche Zukunft mit einem mutmaßlichen Ungeheuer-Gatten.998
997
Vgl. in einer anderen, neueren Ausgabe der Metamorphosen: Apuleius:
Das Märchen von Amor und Psyche, hg. und übers. von Kurt Steinmann, Stuttgart: Reclam 2004, S. 50. 998
„Les Amours“, S. 70f; „Amor und Psyche“ S. 61, wie Anm. 836: „Les
personnes riches souhaitent d’avoir des enfants: moi qui ne suis entourée que de pierreries, il faut que je fasse des vœux au contraire. C’est être bien malheureuse
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Abb. 90 Psyche-Tapete im Teezimmer, Eisenacher Kartausgarten, Thüringen: Szene 5 (Detail): Taubenpaar im rechten oberen Bildausschnitt.
Doch auch zu diesen Überlegungen tritt ein Gefühl der Hochmut und des Stolzes hinzu, das – neben der immer wieder heraufbeschworenen Neugier als Antriebskraft – die junge Frau charakterisiert und sie in missliche Situationen bringt. Eng damit verbunden ist der Sehsinn: Psyche ist aufgrund ihrer überirdischen Schönheit, dank derer sie auch eine besondere Behandlung gewohnt ist, auserwählt, und sie selbst neigt dazu, sich an schönen Dingen ergötzen zu wollen bzw. fürchtet die Trugbilder, die sie um sich versammelt glaubt und deren wahre Natur sie herausfinden möchte.999 Bei Apuleius war sie noch weitaus mehr vom Schicksal gelenkt. Sie verletzt sich
que de posséder tant de trésors et appréhender la fécondité. […] Quoi, Psyché peuplera de monstres tout l’univers! Psyché, à qui l’on a dit tant de fois qu’elle le peuplerait d’amours et de graces“; „Reiche Leute wünschen sich Kinder; und ich, die ich von Juwelen umgeben bin, muss meine Wünsche auf das Gegenteil richten. Ach, es ist ein großes Unglück, so viele Schätze zu besitzen und die Fruchtbarkeit fürchten zu müssen! […] Wie, Psyche soll die Welt mit Ungeheuern bevölkern? Psyche, der man so oft gesagt hat, dass sie ihr nur Liebesgötter und Grazien schenken würde!“ 999 „Les Amours“, S. 75 und S. 81f.; „Amor und Psyche“, S. 63 und S. 70, wie ebd.: „Il me fascine les yeux, et me fait accroire que je suis dans un palais, servie par des nymphes […] Elle bénit mille fois le défaut du sexe, se sut très-bon gré d’être curieuse […]. Après ces réflexions, il lui prit envie de regarder de plus près celui qu’elle n’avait déjà que trop vu.“; „Er behext meine Augen und macht mich glauben, dass ich mich in einem Palast befinde […]. Sie segnete die weibliche Neugier tausendfach und wusste sich Dank für dieses Laster […]. Zwar entglitt der Dolch ihren Händen, aber die Lampe hielt sie fest: sie brauchte sie zu sehr, denn sie hatte noch nicht alles gesehen, was es zu sehen gab.“
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an Amors Pfeil und verliebt sich deshalb ‚konsequenterweise‘ in ihn. Mit langsam wachsender, erprüfter und noch auf dem Prüfstand befindlicher Liebe hatte dies weniger zu tun.1000 Dufours Umsetzung der ‚Entdeckungs-Szene‘ an Amors Schlaflager – nach der Vorlage von Gérard – ist ein besonders eindrückliches Beispiel für die Schaffung eines symbolischen Raums im Medium des Papier Peint. In der unteren Bildhälfte ist der Antagonismus von Zeigen und Verbergen durch den rechts im Schatten platzierten Helm und die hingegen den liegenden Amor mit der Lampe beleuchtende Psyche links visualisiert. Das Verschwinden Amors ist zudem in der oberen Bildhälfte mit den – wieder auf Venus und das Neidmotiv anspielenden – beiden Tauben antizipiert: [Abb. 90] Die eine Taube entschwindet schon durch die Fensteröffnung; sie korreliert aber durch ihre Ausrichtung auf dem Bild mit Psyche, deren Blick bzw. Vorwärtsbewegung ebenfalls nach rechts geht. Die zweite zurückblickende Taube aber richtet den Kopf, genauso wie Amor, nach links. Diese Verknüpfung scheint sich an der in der Literatur gern verwendeten Trope des Chiasmus zu orientieren. Die rhetorische Figur wird also in diesem Fall visuell eingesetzt, indem zwei Ebenen überkreuzt werden: die entfliehende Taube mit der zurückgelassenen Psyche und die zurückblickende Taube mit dem (daraufhin) entfliehenden Amor. Diesen symbolischen Raum gab es in dieser Form auf Gérards Zeichnung nicht. Ihm kommt noch zusätzliche Bedeutung dadurch zu, dass die Szene auf die beiden Papierbahnen Nummer 13 und 14 gedruckt ist, die innerhalb des Ensembles von 26 Bahnen genau mittig liegen. Dadurch nimmt die Szene auch materialiter eine zentrale Stellung ein. Die Paarung der beiden Jugendlichen steht hier klar im Fokus des Interesses, während die der Szene inhärente Gewalt und Verletzung – das heiße Öl, das Amor trifft, und die Mordabsicht Psyches – nicht zum Vorschein kommt. Die Kriegs- bzw. Gewaltobjekte Helm und Messer sind zwar sichtbar am Boden platziert und auch korrekt jeweils als Amor (Helm) oder Psyche zugehörig (Messer) vor der ‚richtigen‘ Person abgelegt, dienen so aber mehr als Attribute und Hintergrunderzählung und sind nicht ‚in Aktion‘ dargestellt, sondern buchstäblich beiseite gelegt. Beide Jugendliche sind in ein gegenseitiges Anblicken vertieft, wobei der ‚schlafende‘ Amor sich an der Lehne des Bettes leicht aufrichtet und seinen Kopf der Psyche zuwendet. Diese beleuchtet seinen hier sehr männlich geformten Oberkörper mit der Öllampe und steigt wiederum zur besseren Prä-
1000
Vgl. Apuleius, wie Anm. 826, S. 52: „depromit unam de pharetra sagit-
tam et punctu pollicis extremam aciem periclitabunda trementis etiam nunc articuli nisu fortiore pupugit altius, ut per summam cutem roraverint parvulae sanguinis rosei guttae.“
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Abb. 91 Psyche-Tapete im Teezimmer, Eisenacher Kartausgarten, Thüringen: Szene 5: (Detail): Wandfeld neben den Tauben. Abb. 92 Psyche-Tapete im Teezimmer, Eisenacher Kartausgarten, Thüringen: Szene 5 (Detail): Die Gesichter des Paares im Schein der Flamme.
sentation ihres Körpers auf einen Schemel, wobei ihr rechtes gebeugtes Knie genau in die nur locker bedeckte Schamgegend des Liegenden weist. Die nur angedeutete, aber dennoch gut wahrnehmbare Erotik der Szene setzt sich v.a. in dem durch das halb durchsichtige Kleid Psyches erkennbaren Gesäß fort, in das als sexuelle Anspielung ein langer schräger Köcher als Attribut Amors zu ragen scheint. Direkt dahinter steht phallusähnlich eine hohe schlanke Amphore. Das gut sichtbare Wandfeld, in das diese Amphore vorstößt, illustriert mit einem ein Füllhorn bekränzenden Putto und einem in seine Richtung blickenden Pfau wiederum das Thema der Fruchtbarkeit. [Abb. 91] Auch das Gesamtsetting des Raumes, seine Stimmung, die über das Mondlicht und die Flamme der Öllampe ganz anders gestaltet ist als in den anderen Szenen, wirkt sehr intim und auf das sich anblickende Paar mit der Flamme dazwischen konzentriert. [Abb. 92]
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Hier sind auch die Themenkomplexe von Blick bzw. Sehverbot, Sinnlichkeit, Begehren und Tod (dieser eher implizit) miteinander verkoppelt. Noch vollzieht sich das Sich-Finden im Verborgenen, als flüchtiges, nicht-offizielles Moment: „Amor und Psyche sind zwei Pubertierende, deren Wollust im Dunkeln, außerhalb der geltenden Blickordnungen, entsteht und die, als der Gesichtssinn einbezogen und das Verhältnis öffentlich wird, erst in die soziale Ordnung der Geschlechter eingeführt werden müssen, bevor sie rechtskräftig heiraten können.“1001 Von einer sozialen Ordnung kann in dem Moment des heimlichen Schlafzimmerbesuchs, da Amor boudoir-ähnlich auf einer Empire-Chaiselongue ausgebreitet daliegt, noch nicht die Rede sein. Die Tapete zeigt im Folgenden auch auf, was noch getan werden muss, damit das Paar sich am Ende nicht mehr auf der ‚gefährlichen‘ Chaiselongue, sondern im ‚rechtmäßigen‘ Ehebett befindet. Der Tod jedoch, der bei La Fontaine „in ständiger Bezugnahme auf die Liebe die ganze Erzählung“ durchzieht,1002 ist weitgehend ausgeblendet und in Form des bodennahen Messers ‚abgelegt‘. Immer wenn er eigentlich sehr virulent wird – im Hades und beim Öffnen der Büchse der Proserpina in Form des Todesschlafs bzw. bei La Fontaine Todeswunsches der ‚hässlichen‘ Psyche – wird er von Dufour nicht in das Bildrepertoire übernommen. Der Augensinn und die Zweisamkeit des Paares sind hingegen stark betont, wobei jedoch insgesamt in der Formung der Innenräume auf der Tapete, wie noch weiter zu argumentieren sein wird, die heroisch-offizielle Seite dieses Findungsprozesss gegenüber der erotisch-intimen dominiert, sodass wir es mit einer Art (festlich-beschwingten) Loggia di Psiche des 19. Jahrhunderts zu tun haben.
Sechste Szene: Die verlassene Psyche Wie auch mit der zurückblickenden Taube und dem Anblicken des Paares im vorhergehenden Bild, wird in der sechsten Szene ein Blickkontakt inszeniert. Zwar sitzt Psyche auf einem Felsen (diesmal bereits fernab der schützenden Innenräume des Palastes), jedoch ist sie weder hilflos noch tatsächlich verlassen. Amor schwebt über ihr in den Wolken, sodass das Paar auch hier – trotz der eigentlichen Trennung – zusammen abgebildet ist. [Abb. 93] Amor behält die Kon-
1001 1002
Christiane Holm: Amor und Psyche, wie Anm. 32, S. 87. Ebd., S. 88.
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Abb. 93 Psyche-Tapete im Teezimmer, Eisenacher Kartausgarten, Thüringen: Szene 6: Die verlassene Psyche.
trolle über seine Geliebte: Er schaut auf sie hinunter, so wie sie – hilfesuchend – zu ihm hoch. Die Katastrophe ist in Form des Messers und einiger Trümmer am unteren Bildrand zwar präsent, aber das gute Ende schwebt bereits über Psyche und zieht ihren Blick in den Himmel, in den sie später aufgenommen wird. Diese Komposition hebt sich von ihren Vorläufern ab: Gérard hat zwar der verlassenen Psyche auch einen Amor hinzugesetzt, jedoch schaut sie in sich grämender Verzweiflung auf die Betrachtenden und hat dadurch im Bildaufbau keine Verbindung zum Liebesgott. [Vgl. Abb. 78] Jacques-Louis Davids Verlassene Psyche, die Dufour sicherlich bekannt war, sitzt völlig einsam und in Auflösung begriffen bzw. „von der Last des Körpers befreit“ inmitten des tosenden Meeres; kein Element weist hier auf ihre bevorstehende Hochzeit hin.1003 Beim in der Manufaktur Dufour wiederum von Lafitte im Rückgriff auf Gérard entworfenen Panneau1004 handelt es sich aber – und das macht einen großen Unterschied – nicht um die Darstellung einer einzelnen Szene, sondern
1003 Vgl. dazu auch Paul Lang: Ein Blick auf Amor und Psyche um 1800, wie Anm. 832, S. 150. 1004
Vgl. Heinrich Olligs (Hg.): Die Tapete – ihre Geschichte bis zur Gegenwart,
wie Anm. 41, S. 239.
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um ihre Einordnung in einen Handlungsablauf. In einen solchen muss die Szene eingefügt werden, also in einem Gesamtgefüge von Bildern ihren Platz einnehmen. Entsprechend ist auch hier, wie schon in den anderen Szenen, die Verbindung mit bzw. der Blick auf Amor gewährleistet, während ihr ebenfalls wieder in seinen weiblichen Rundungen präsentierter Körper – diesmal auf einem Felsvorsprung, der zur besseren Zurschaustellung leicht nach vorne geneigt ist – das Hauptsujet darstellt.
Siebte Szene: Psyche wird von einem Fischer aufgenommen Die bei La Fontaine eingeschobene Geschichte, wie Psyche von einem alten Fischer in dessen abgeschiedener Behausung Asyl gewährt bekommt, ist eine völlig neue Ergänzung der überlieferten apuleiischen Fabel und von großer Bedeutung für den Roman. Diese ‚Geschichte in der Geschichte‘ wird auf ca. 28 Seiten recht ausführlich erzählt und macht daher ein gutes Sechstel des Romans aus. Dufour übernimmt diese Szene in einer eigenen Interpretation in die Tapete, es gibt dafür auch keine Vorlage von Gérard. [Abb. 94] Auf den ersten Blick handelt es sich um eine Szene, die komplett in einer Naturkulisse spielt. In der Textvorlage wird diese Landschaft als schwer zugänglich beschrieben und betont, dass die Behausung des Fischers „auf einer so steilen Berglehne stand, dass selbst die Ziegen Mühe hatten, dort hinaufzuklettern.“1005 Auf der Tapete sieht man nun, wie Psyche mit ihrem Gastgeber vor dessen Behausung anlangt und mit ihrer Hand bei ihm Halt sucht – d.h. ihrer Schutzbedürftigkeit einen körperlichen Ausdruck verleiht –, um überhaupt
1005
„Les Amours“, S. 95; „Amor und Psyche“, S. 101, wie Anm. 836: „C’était
l’habitation d’un pêcheur, située au penchant d’un mont où les chèvres mêmes avaient de la peine à monter. Ce mont, revêtu de chênes aussi vieux que lui, et tout plein de rocs, présentait aux yeux quelque chose d’effroyable, mais de charmant. Le caprice de la nature ayant creusé deux ou trois de ces rochers qui étaient voisins l’un de l’autre, et leur ayant fait des passages de communication et dissue, l’industrie humaine avait achevé cet ouvrage, et en avait fait la demeure d’un bon vieillard et de deux jeunes bergères“; „Es war die Hütte eines Fischers, die auf einer so steilen Berglehne stand, dass selbst die Ziegen Mühe hatten, dort hinaufzuklettern. Dieser Berg, mit Eichen bewachsen, die so alt wie er selbst waren, und mit Felsbrocken übersät, war ein schrecklicher und gleichzeitig reizvoller Anblick. Eine Laune der Natur hatte zwei oder drei jener Felsen, die nebeneinander lagen, ausgehöhlt und damit die Verbindungsgänge und Durchlässe geschaffen, und menschliche Geschicklichkeit hatte das Werk der Natur vollendet und daraus die Behausung für einen gutmütigen Greis und zwei junge Schäferinnen gemacht […].“
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Abb. 94 Psyche-Tapete im Teezimmer, Eisenacher Kartausgarten, Thüringen: Szene 7: Psyche beim alten Fischer. Abb. 95 Psyche-Tapete im Teezimmer, Eisenacher Kartausgarten, Thüringen: Szene 7 (Detail): die Enkelinnen des Fischers im Häuschen.
den Aufstieg auf die Berghöhe zu schaffen.1006 Die Mühen des Aufstiegs sind in den Stufen visualisiert; sie bilden eine Art Vorhof zu der kleinen, in der oberen rechten Bildecke angedeuteten Hütte, aus deren Fenster die beiden Enkelinnen hinunter schauen. Mit näherem Betrachten wird sodann klar, dass der felsige Vordergrund eben keine naturbelassene Umgebung zeigt, sondern eine – freilich durch Menschenhand in den Berghang hinein gebaute – Architekturform eines Treppenaufgangs. Dieser führt über drei beleuchtete Felsentritte, die ein Podest für Psyche und den Fischer bilden, und windet sich anschließend entgegen dem Uhrzeigersinn nach rechts oben zum Hauseingang. Das Geländer
1006
„Les Amours“, S. 100; „Amor und Psyche“, S. 105, wie ebd.: „Psyché
suivait le vieillard, et le tenait par l’habit. Après bien des peines, ils arrivèrent à une petite esplanade assez découverte, employée à divers offices: c’était les jardins, la cour principale, les avant-cours et les avenues de cette demeure. […] De-là ils montèrent à l’habitation du vieillard, par des degrés et par des perrons, qui n’avoient point eu d’autre architecte que la nature“; „Psyche folgte dem Greis und hielt sich an seinem Gewand fest. Nach vielen Mühen gelangten sie auf einen kleinen, mit vereinzelten Bäumen bestandenen Platz, der den verschiedensten Zwecken diente: als Garten und Wirtschaftshof, als Vorhof und Zugang des Hauses […]. Von diesem Platz zur Behausung des Greises ging es über Stufen und Terrassen, an denen kein anderer Baumeister als die Natur gearbeitet hatte […].“
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bildet ebenfalls ein hoher Felsen, und das Häuschen wird zudem durch eine Baumgruppe abgeschirmt. Im Hintergrund links von Psyche ist eine flache Landschaft erkennbar, die jedoch durch einen hohen Berg auch wieder eine Begrenzung findet. Der Betrachterblick verbleibt also bei Psyche und dem Fischer und gleitet zwischen ihnen und den beiden Mädchen rechts oben hin und her. Psyche ist über ihre rechte Hand und den weißen wehenden Stoff von Kleid und Schleier, der in dem langen weißen Bart des Alten seine Entsprechung findet, mit dem Fischer verbunden. Sie ist sehr passiv-verschämt dargestellt mit dem zum Boden gerichteten Blick und dem Überlassen der Hand, die sie nicht aktiv führt oder vorstreckt. Ihre Haltung drückt Demut aus über den Gang der Ereignisse und die Hilfestellung der neuen ‚Familie auf Zeit‘, die sie in der Abgeschiedenheit der Berge findet. Es gibt hier keine üppigen Verzierungen mehr wie in den Innenräumen der anderen Szenen, keine Luxusgegenstände und Dienerinnen. Es soll ein Übergang von einem solchen Luxusraum, einem Reich der menschlichen Ränke und auch Intrigen, in ein davon separates Naturreich deutlich werden. Es ist ein Raum für den Unterricht Psyches durch einen einfachen Mann und das eigene Unterrichten von dessen Enkelinnen, sodass der Ort des Geschehens zu einer ‚Vorbereitung auf die Liebe‘ werden kann. Das Thema der Paarung ist durch insgesamt drei Zweiergruppen visualisiert: Psyche mit dem Fischer, die beiden Mädchen hinter dem Fenster und die beiden Baumstämme vor dem Haus. [Abb. 95] Der Mann entpuppt sich im Text dann als Weiser, der sogar Philosoph am königlichen Hofe gewesen ist; und der Erzähler lässt durch seinen Mund Aufrufe zu Mäßigung, Reflexion und stillem Genuss verlauten: „Pouvez-vous répondre de ce qui vous arrivera? Peut-être le ciel vous réserve-t-il un bonheur plus grand que celui que vous regrettez […] attendez du moins quelques jours en cette demeure. Vous pourrez vous y appliquer à la connaissance de vous-même et à l’étude de la sagesse […].“1007 Selbsterkenntnis und Weisheit zu erlangen, ist das zentrale Ziel von Psyches (hier durch den Felsen visualisierten) Aufstieg, wobei die eigentlich notwendige körperliche Anstrengung in eine Haltung der Passivität, Demut und Zartheit umgemünzt ist. Als ein Kontrapunkt oder Gegengewicht zu der vorher gezeigten Lebensweise und notwendige Vorbereitung auf das Schicksal, welches der Protagonistin noch zuteil werden wird, nimmt die Szene innerhalb der Gesamtszenerie eine Verbindungsstelle ein; sie leitet hier direkt im Anschluss zum Palast
1007
„Les Amours“, S. 107f; „Amor und Psyche“, S. 111f, wie ebd.: „Wie könnt
Ihr wissen, was Euch bestimmt ist? Vielleicht hält der Himmel ein noch größeres Glück für Euch bereit […] Wartet wenigstens ein paar Tage hier! Ihr könnt sie darauf verwenden, ein wenig Selbsterkenntnis und Weisheit zu gewinnen.“
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der Venus über, der – wie gezeigt werden wird – wieder in der Kategorie des Palastes des Amor modelliert ist bzw. dessen Eleganz wiederaufnimmt. Es wäre interessant gewesen zu wissen, wie die Manufaktur Dufour die einzelnen Erlebnisse Psyches bei dem Fischer und seinen Enkelinnen dargestellt hätte, doch die Tapete widmet dieser Erziehungsepisode nur eine Szene und geht unvermittelt von der Ankunft beim Fischer zur Szene der Darreichung des Wassers aus dem Jungbrunnen an Venus über. Die im Text ausgeführten Episoden, wie Psyche an Ceres und Juno Bittgesuche richtet und abgewiesen wird, ihre Schwestern zu Tode kommen und sie schließlich in den Tempel der Venus gelangt und von ihr körperlich gezüchtigt wird, sind ebenfalls auf der Tapete ausgelassen. Sie sind offenkundig als der Darstellung nicht angemessen erachtet worden, was der Strategie von erstens der Auslassung von expliziter Gewalt und zweitens vorrangigen Paar-Abbildung von Amor und Psyche bzw. der Darstellung eines in Psyche verkörperlichten Schönheitsideals entspricht. Der Fischer in seiner Fürsorge und die für Psyches Ehestandsvorbereitung nötige Lektion, die sie bei und mit ihm lernt, ersetzen hier allerdings die Anwesenheit und den Blick Amors.
Achte Szene: Psyche bringt Venus den Verjüngungstrank In der achten Szene der Tapete soll die Pracht im Palast der Venus die von Amors Gefilden noch übertreffen. [Abb. 96] Psyche kniet vor der rechts auf ihrem Thron sitzenden Venus und reicht ihr die Vase mit dem verjüngenden Wasser, während sie sich mit der linken Hand an die Brust fasst als Geste der Aufopferung und Untergebenheit. Auf Venus’ Schoß schnäbeln ihre beiden Tauben, sodass Psyche mit ihrer Geste symbolisch auch der Liebe ihr Opfer darbringt. Auf einem Podest steht Amor als Statue und richtet einen zufriedenen Blick auf Psyche. Hier ist er allerdings nicht als Jüngling dargestellt, sondern deutlich kindlicher, da er primär in seiner Eigenschaft als Venus’ Sohn auftritt. Zudem fungiert er als eine Art ‚Prinzip Amor‘ an der Spitze einer Figuration von Liebe, die auf graziler Erscheinung und weiblicher Charakterzuschreibung wie einer sanften Unterordnungsfähigkeit und einem mütterlich-aufopfernden Zur-Verfügung-Stellen beruht. Die insgesamt sechs Figuren sind wie ein Dreieck bzw. eine Pyramide angeordnet, wobei die Basis von der sich Venus und der Liebe darbietenden Psyche gebildet wird und hinter dem ausgestreckten Arm der Königstochter – der das (flüssige) Symbol ewiger Jugend genau mittig des Bildes präsentiert – stufenartig
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die drei Grazien1008 zur Amor-Statue hinauf führen, die wiederum über das Hinabblicken in einer schrägen Linie mit Psyche verbunden ist. Über den gestreckten Arm und den Becher führt die Königstochter die Linie zur Venus und eigentlich genauer zu ihrem Schoß mit den Tauben fort, während sich über den Tauben eine Vertikale über das Podest hinauf zu Amor ergibt. Der Stab, auf den sich Amor stützt, formt die bereits im Zusammenhang mit Gartentheorien und Landschaftsmalerei erwähnte Schönheitslinie nach,1009 sodass sich ein kleineres inneres Dreieck der Verbundenheit von Jungbrunnen, Tauben im Schoß und Schönheitslinie formt. Auch der Schoß bzw. das Dreieck des Schambereichs der mittleren Grazie wird betont: einmal durch die Falte des Kleides, die sich dort bildet, und auch zusätzlich, indem das Jungbrunnen-Gefäß in direkter Linie zu dem gut sichtbaren Korpus aus Schambereich, Bauchnabel (der von der für die Geburt zentralen Nabelschnur bleibt), Hüfte
1008
Die Zielgruppe gebildeter BetrachterInnen wusste, dass bei La Fon-
taine kurz vor dieser Episode eine Geschichte über die Grazie eingeschoben ist mit der Erklärung, wie aus der Königin Aphrodisa eine Göttin wurde, die dann den Bau des Tempels der Venus veranlasste. Psyche huldigt auch der Aphrodisa an ihrem Grab, bevor sie vor Venus tritt. Grâce bezieht sich außerdem nicht nur auf Aphrodisa und auf die drei Grazien und damit auch die Geburt der Venus, sondern ist eine immer wieder aufgenommene Charakterisierung von Psyches äußerer Erscheinung. 1009 Vgl. die Ausführungen zur Gartentheorie in dieser Arbeit.
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Abb. 96 Psyche-Tapete im Teezimmer, Eisenacher Kartausgarten, Thüringen: Szene 8: Psyche im Thronsaal der Venus.
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Abb. 97 Psyche-Tapete im Teezimmer, Eisenacher Kartausgarten, Thüringen: Szene 8 (Detail): die drei Grazien mit dem herabschauenden Amor.
und Brust führt. Das Mütterliche bzw. Zur-Verfügung-Stellen findet sich in der Betonung der Brüste der drei Grazien wieder: Die vordere stützt ihre prallen Brüste mit den verschränkten Armen, der mittleren fällt eine Kleidfalte genau von der linken Brust den Körper herab – auf die auch der rechte Zeigefinger der ersten Grazie zeigt – und die hintere bedeckt die linke Brust mit der linken Hand bzw. einem Stück ihres Kleides. Die volle Brust, die auch bei Psyche schon mehrmals betont wurde, steht für das Stillen, und dieses Fließen als eine Art Nahrungs- und Fruchtbarkeitsgarant findet sich auch auf der Ebene der Architektur in dem Tiefenraum im linken Bilddrittel wieder. Hier dominiert ein gerade zu erahnendes Wasserbecken und somit ein ganz spezifischer Bereich der Palastarchitektur. Es sind wieder die gängigen Empire-Dekorationen zu erkennen: Palmenblätter an den Säulen und im Geländer, ein Fries mit Rosetten und jede Menge verschlungene Rispen und Efeublätter, die den Boden und die Wände schmücken. Der Blick gleitet an vier großen Säulen entlang nach hinten in die Bildtiefe. Die Säulen stützen eine prachtvolle Kassettendecke mit vier Kassetten, ihre Balken nehmen die Kannelierung der Säulen auf. Ein sich von hinten bis in den Bildvordergrund erstreckendes Figurenfries verbindet den hinteren Gebäudeteil, in dem sich das Badehaus befindet, mit dem vorderen Teil. [Abb. 97] Aus den drei hinteren Säulen speisen Wasserfontänen das Becken in der Tiefe mit ständigem Wassernachschub, ergänzt durch die Fontänen aus der Skulptur im Halbrund der Nische. Das Wassermotiv erstreckt sich also über das Motiv des Jungbrunnenwassers – das wiederum die Versöhnung von
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Psyche und Venus ermöglicht – und die Fertilität weiblicher Brüste, die Flüssiges bereitstellen, bis hin zu der Bäderatmosphäre im Hintergrund und dem Wohlgeruch verbreitenden Dampf aus dem Schwanenkessel ganz links im Bild. Ähnlich der Behandlung des Wassermotivs beim Telemach ist aber auch hier kein freies, ungezügeltes Fließen dargestellt, sondern ein eingegrenztes und einem klaren Zweck untergeordnetes; wie sich Psyche der zukünftigen Schwiegermutter und ihrer ‚Funktion‘ in einer Ehe unterordnet, so hat auch das bereitgestellte Wasser dem Zweck der Repräsentation im Raum, der Reinlichkeit und Symbolisierung von Gesundheit und Wohlstand zu dienen sowie an die antike Bäderkultur und damit wieder ein antikes Lebensideal anzuknüpfen. Die geschwollenen Brüste haben den Zweck, dem (noch ungeborenen) Kind Nahrung zu stiften und eine als natürlich diskursivierte – das heißt, naturalisierte – biologische Bestimmung der Frau anzudeuten. Doch sei der Fokus auch noch einmal auf die architektonische Ausgestaltung gerichtet: Die raffiniert gestaltete Trinkhalle ruft – gerade da eine davor geschaltete Badeszene zur Tapete gehört – sowohl Diskurse rund um Sauberkeit, Gesundheit und eine mondäne Lebensweise als auch um eine Ästhetik der Verfügbarkeit und Perfektibilität auf. Das Leben in den beliebten Kurorten des 19. Jahrhunderts, wo sich vor Ort diese Bäderarchitektur, das immer fließende erquickende Wasser und bestimmte Codes gesellschaftlichen Verhaltens verbinden, ist hier Modell für die Tapetengestaltung und Unterstützungsfigur der ‚gesunden‘ Liebe schlechthin, wie beim Blick auf Bad Doberan noch weiter ausgeführt werden wird.
Neunte und zehnte Szene: Psyche geht in die Unterwelt, Psyche kehrt aus der Unterwelt zurück Die Auswahl der Szenen auf der Tapete lässt einige Prüfungen der Psyche aus; es ist weder zu sehen, wie sie Wolle der Schafe des Sonnengottes bzw. das Goldene Vlies holt, noch, wie sie die Getreidekörner für Venus sortiert. Auch der Abstieg in den Hades, um Venus die Schönheitssalbe der Proserpina zu bringen, wird nicht vollständig aufgenommen. Es ist lediglich die Fütterung der drei Höllenhunde vor dem Eingang und die wieder herauskommende Psyche mit dem dampfenden Kästchen auf den beiden von Lafitte entworfenen Panneaux1010 zu sehen. [Abb. 98] Des Weiteren fehlen die beiden Gespräche 1010
Vgl. Heinrich Olligs (Hg.): Tapeten – ihre Geschichte bis zur Gegenwart,
wie Anm. 41, S. 239. Die Vorzeichnungen für beide Szenen stammen vermutlich von Louis Lafitte, der u.a. als Innendekorateur recht beliebt und ein Meister der
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Abb. 98 Psyche-Tapete im Teezimmer, Eisenacher Kartausgarten, Thüringen: Szene 9 und 10: Psyche geht in die Unterwelt und kehrt aus der Unterwelt zurück.
Psyches mit der Fee und dem alten Turm, und schließlich auch die bei La Fontaine so ausführlich und auch sehr humorvoll beschriebene Reise innerhalb des Hades mit den Szenen der Überfahrt auf dem Styx und der Eifersucht Proserpinas. Die den Hades gerade verlassende Psyche hat zudem das Kästchen schon leicht geöffnet, so dass ein Hauch von dunklem Rauch entweicht. Somit sind die kommenden Ereignisse – die Schwarzfärbung von Psyches Haut bzw. ihre vorübergehende ‚Hässlichkeit‘ und ihr Rückzug in die Grotte – zwar angedeutet, aber nicht explizit dargestellt. Auf beiden Szenen fliegt über dem Kopf Psyches (und noch in das Reich des Hades gehörend) eine Fledermaus.
Grisaille-Malerei gewesen war. Im Speisezimmer des Schlosses von Malmaison, das Joséphine während des Ägyptenfeldzugs von Napoleon bewohnte, befindet sich ein Beispiel einer vom pompeijanischen Stil beeinflussten Wandmalerei, welche Lafitte auf Stuck aufgetragen hat. Hier herrscht, neben aufgemalten Rispenbändern, noch „echtes“ Dekor vor in Form von Pilastern, Lüstern und Spiegeln. Die Frauenfigur weist große Ähnlichkeit mit der Dufour-Psyche auf; vgl. Bernard Chevallier: Décors d’Empire, wie Anm. 993, S. 27 und S. 53.
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Sie ist in der abendländischen Mythologie überwiegend negativ besetzt und wird oft mit Düsternis und – spätestens seit Dürers „Melencolia I“ – Schwermut assoziiert, doch rückt sie in der frühen Neuzeit auch in die Nähe der Seele, die mit dem physischen Tod den Körper verlässt, und wird beispielsweise in Grimms „Deutschem Wörterbuch“ als Schmetterling, „der abends in das Licht fliegt“, gedeutet.1011 Die Fledermaus kann also hier in der Unterwelt durchaus als ein Analogon zum Schmetterling bei Tageslicht interpretiert werden, sodass Psyche letztlich weder als eine gemarterte, schwere oder stupide Arbeit erledigende, noch in allzu gefährlicher und dunkler Umgebung wandelnde Figur, sondern ziemlich konsequent und durchgängig als eine Figuration von eleganter, zarter und schicksalsergebener weiblicher Schönheit erscheinen kann, die sozusagen ‚geflügelt‘ und für eine Erhebung in höhere Gefilde vorgesehen ist. Dass der schwarze Rauch ihr in Dufours dekorativer Tapetenwelt nichts anhaben konnte, kann man sogleich bemerken, wenn in der nächsten Szene die Versöhnung von Psyche und Venus – die ja in der Palastszene mit dem Jungbrunnenwasser schon ihren Anfang nahm – gefeiert wird. Das Kästchen drückt Psyche hier an ihre Brust, es ist verschlossen, entschärft, ungefährlich und ganz nebenbei zu einem Hilfsrequisit der endgültigen Annäherung der beiden Frauen geworden. So schiebt sich insbesondere die ‚Fehlstelle‘ zwischen dem Eintritt in den und der Rückkehr aus dem Hades und die ‚Inkonsequenz‘ der Kästchenepisode1012 in die Tapetennarration ein und verschiebt die Didaktik für das Interieur merklich in Richtung einer glatten Versöhnung zwischen den beiden ehemaligen Konkurrentinnen.
Elfte Szene: Die Versöhnung von Venus und Psyche Die Versöhnung von Venus und ihrer neuen Schwiegertochter findet auf einer Loggia vor ihrem Palast statt. Somit stellt diese Szene ein Pendant zu der Palastszene mit der Überreichung des Jungbrunnenwassers dar: Psyche wird hier nun endgültig in ihr neues Heim aufgenommen. [Abb. 99] Die Vorzeichnung stammt wieder von Blondel und ist auf 1815 datiert. Die Wahl dieses Ortes ist dabei frei erfunden, da bei La Fontaine das Zusammentreffen von Venus und Psyche an einem nicht näher präzisierten Ort im Park stattfindet, und ist
1011
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig: Hirzel 1854,
Band 3 (Spalte 1745). 1012
Die didaktische Wirkung dieser Episode, wie auch die des erneuten
Zusammenführens von Amor und Psyche, damit Amor diesmal seine Geliebte retten kann, wird somit nicht thematisiert.
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Abb. 99 Psyche-Tapete im Teezimmer, Eisenacher Kartausgarten, Thüringen: Szene 11: Versöhnung von Venus und Psyche.
perfekt auf die Ornamentik der Bildtapete abgestimmt. Eine Loggia fungiert analog dem Portikus als Schnittstelle zwischen Innen- und Außenraum und fügt sich so harmonisch in Dufours Konzept der offenen Innenarchitektur ein. Der Ausblick in den Bildhintergrund lässt zum ersten und einzigen Mal annähernd eine Naturkulisse von der Art entstehen, wie sie die Gestaltung der Inselnatur beim Telemach bestimmt. Der überdachte Teil im Vordergrund wird von vier mächtigen Marmorsäulen im ionischen Stil getragen; vor und zwischen diese Säulen ist die Frauengruppe gesetzt. Venus hat sich gerade von ihrem um eine Stufe erhöhten Thron erhoben, der sich in der Ausführung vom Thron im Innenraum des Palastes unterscheidet und hier noch herrschaftlicher wirkt. Sie hat ihre Arme um die tiefer stehende Psyche gelegt und schaut an dem jungen Mädchen vorbei in Richtung des Parks bzw. des letzten Tapetenabschnitts, der – falls, wie hier, der Chronologie gefolgt wird – Amor und Psyche auf dem Ehebett zeigt. Die Szene wird im Hintergrund von einem umlaufenden Säulengang gerahmt, der weitläufig den Garten umgibt und hier wieder einen Einschluss der jungen Frau visualisiert: Diese ist von der zwischen Säulengang im Hintergrund und Loggia-Dach im Vordergrund wie ein gerahmtes Bild präsentierten ‚Außennatur‘ abgeschottet. Interessanterweise verstärkt sich der Eindruck eines ‚Bildes im Bild‘, über das die Natur also bereits verbildlicht, unzugänglich und als bloße Zierde thematisiert wird, durch die seitlich diese Fläche ‚rahmenden‘ Säulen der Loggia. Senkrechte, phallisch anmutende Springbrunnen sind zu erkennen, die die Vertikalität der Säulen und die Beherrschung der Umgebung durch
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diese monumentale Palastarchitektur betonen. Die hügelige Landschaft am Horizont mit einem kleinen antikisierten Tempel in der Mitte und mehreren Bäumen und Berggipfeln darüber wirkt wie eine in der Szene vorhandene kulissenartige Bildtapete, ähnlich der, die die Betrachtenden gerade vor sich haben, nur eben panoramatisch und nicht in Einzelpanneaus geteilt. Gerade der Säulengang darunter kann so gesehen zur dekorativen Bordüre werden, wie sie in Bildtapetenräumen usus ist. Diese Ebene von Meta-Medialität, die hier auszumachen ist, zeugt von dem selbstbewussten und vielleicht auch selbstironischen Umgang der Bildtapetenmeister mit ihrem Material und dessen Möglichkeiten, v.a. was das Zu-Sehen-Geben von (Ausschnitten von) Landschaft betrifft. Um noch einmal das Setting im Vordergrund zu beschreiben, ist zu beachten, dass auch hier ein verkleinerter Amor dem Geschehen beigesellt ist. Er erhebt in einer ehrfurchtsvoll-bewundernden Geste vor der gerade stattfindenden Versöhnung die rechte Hand. Das Wunder der Geschehnisse wird weiterhin mit den beiden Dienerinnen links hinter dem Thron-Stuhl sichtbar, die ebenfalls mit einer erstaunten Handgeste und leicht zurückweichend dargestellt sind. Venus und Psyche sind in ihrer Größe und mittigen Platzierung als Einheit wahrnehmbar, wobei Psyches zum Boden gerichteter Blick und ihre Passivität in der Umarmung sie in ihre neu eingenommene und untergeordnete Rolle innerhalb der Familienkonstellation verweisen. Der vordere Teil ihres Kleides fällt starr senkrecht und kanneliert wie eine Säule nach unten. Somit wird sie als Teil der sie umgebenden architektonisch-häuslichen Struktur modelliert, die ja von den mächtigen Säulen und Brunnenfontänen geprägt ist. Etwas ‚weicher‘ wird dieser Eindruck durch den hinter Psyche auf dem Geländer aufgestellten Blumentopf, in den die Pflanzen ebenso ‚hinein vertopft‘ sind wie die junge Frau in ihre neue Rolle.
Zwölfte Szene: Psyche und Amor im Ehebett Das letzte Tapetenmotiv zeigt nun Amor und Psyche als Brautpaar vor dem Ehebett. [Vgl. Abb. 73] Es ist – wie schon die erste Szene im Apollotempel – spiegelverkehrt von einer Illustration von Gérard übernommen. Abgesehen davon, dass das Paar wieder antikisierend bekleidet ist und Amor sogar eine Hose trägt, steigert die Szene noch einmal die implizite Erotik, die in der Entdeckungs-Szene spürbar war. Das fast durchsichtige Kleid gibt die Brüste und v.a. den nun viel stärker sichtbaren Schambereich von Psyche preis, ohne dass sie jedoch unverhüllt und damit nicht unschuldig genug wirken würde, denn sie ist ja gerade dabei, ihre Unschuld dem ‚rechtmäßigen‘ Ehemann gegenüber
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abzulegen. Es ist das Moment kurz vor dem Vollzug der Ehe dargestellt, nicht der Akt selbst. Dass Amor die junge Königstochter bereits mehrmals in seinem Palast verführt hatte, ist hier nicht von Belang, denn nun beginnt ihr geordnetes Leben als Ehepaar, das Psyche und auch Amor sich erst verdienen mussten. Amor ist hier mit muskulösem Oberkörper dargestellt, wie er die einer Braut angemessen ganz in weiß leuchtende Psyche umfasst und ihren Gurt unter der Brust löst als symbolische Geste der Entblätterung und Entjungferung. Ihre untere Körperhälfte wird zudem von seinen geöffneten Beinen umfangen. Ein kleiner Putto fliegt im oberen Bilddrittel über der Bettszene und hält in der linken Hand den Brautkranz, während er in der rechten eine Schale trägt, über der zwei Schmetterlinge dargestellt sind. Psyche lüftet ergänzend dazu ihren Schleier: Das Paar befindet sich in Harmonie miteinander und ist vollkommen aufeinander konzentriert. Amors linker nach oben gewinkelter Unterarm ergibt mit Psyches in seine Richtung abgewinkelten rechten Arm einen Bogen, der diese Harmonie noch einmal bildsprachlich untermauert. Das Bemühen um bienséance, das trotz und mit der Erotik der Szene sichtbar wird, macht letztere für die Anbringung an der Wand geeignet und passt wiederum zum Ehediskurs der Zeit, der hier seinen Niederschlag an der Wand findet.
Wissensweg und Liebesschule im Kartausgarten Im Folgenden soll nun interessieren, wie die 12 Szenen im Gärtnerhaus bzw. dem tapezierten Teezimmer angeordnet sind und inwiefern sich das bereits Gesagte über den Kartausgarten mit den Szenenanalysen der Psyche-Tapete verschränkt, bevor in weiteren Schritten andere Psyche-Räume hinzu genommen werden sollen. So können (auch wenn sich nicht mehr nachvollziehen lässt, wer alles wie oft diesen Ort in den 1830er Jahren besucht hatte) mögliche Konstellationen herauskristallisiert und deren potentielle Wirkmacht für die in der vorliegenden Arbeit thematisierten Diskurse beleuchtet werden. Es handelt sich, wie oben dargelegt, um eine Garten- und Lehrwelt mit dem besonderen Charakter eines Natur-Erkundungs-Projekts Goethe’scher Prägung. Die so angelegte Welt wird durch die Hinzufügung der Psyche-Bilder sowohl intensiv literarisiert als auch um mondäne Architekturkulissen erweitert. Diese „Erweiterung des Wohnraums“1013 funktioniert auf einer imaginären Ebene; sie schafft eine Sphäre der Abgrenzung und der ‚Veredelung‘ eines eigentlich eher bescheidenen Alltags in einer kleinen naturnahen Behausung.
1013
428
Siehe das Zitat nach Karin Wurst: Anm. 982.
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Darüber hinaus verbindet sie die Didaktiken der Unterrichts- und Gartenpraxis mit denen der Tapete, die die rites de savoir der jungen Königstochter im Wohnraum des Gärtners und als Sehschule für die BesucherInnen des Kartausgartens entfaltet. Die Wand-Bilder sind auch hier, wie im Fall von Telemach, in einer Verbindung bzw. an einer Schnittstelle zwischen Innenund Außenraum zu verorten – immerhin befinden sie sich mitten in einem Gartenhaus –, jedoch verhält sich der tapezierte Innenraum hier anders zur Natur vor der Tür als im ersten Fall. In Warendorf und Remscheid-Lüttringhausen beispielsweise leitet eine drinnen visualisierte antike Gartenwelt über Fenster und Terrasse zum Garten draußen über, die Telemach-Räume wurden auch entspechend häufig als Gartensaal bezeichnet. Hier in Eisenach handelt es sich eher um einen ‚Saal im Garten‘, der aber in der Abfolge der Psyche-Tableaus mit ihren prächtigen Interieur-Kulissen und bühnenartigen Aufstellungen die Subjekte drinnen von einer ‚Bühne‘ zur nächsten laufen und auch davor (und darinnen) verbleiben lässt und bewirkt, dass ihr Blick respektive ihre Konzentration nicht so stark nach draußen wandert. Ein Blick auf die Gesamthängung der Szenen zeigt, wie wenig im Raum von der dargestellten Geschichte ablenkt: Selbst wenn die originale Möblierung und sonstige Dekoration um 1830 unbekannt ist, zeigt die Verteilung der Geschichte über alle vier Wände und die sich beim Lesen ergebende Kreisbewegung der Betrachterkörper von der Fensterwand mit den ersten beiden Szenen ‚zurück‘ zur Flügeltür, dass auf einen Nachvollzug von Psyches Liebesschule in geordneten Bahnen innerhalb des Gärtnerhauses Wert gelegt wurde. Das „botanische Museum“1014 sorgte gleichsam für die Sortierung und Aneignung von Pflanzen(wissen) und von Leitvorstellungen über Liebe und Paarbildung, das eine beim Erkunden draußen vor der Tür und das andere drinnen in der Lehrstube. [Abb. 100] Die einfache Flügeltür ohne große Verzierungen oder Supraporten [Abb. 75] und die beiden recht schmalen Fenster links des Eingangs lenken kaum von der Lektüre der Tableaus ab, die klar den Raum und die Raumerfahrung dominieren. Beim Betrachten kann man ganz in die Kulissenwelt von Psyches Liebesschule versinken. Selbst die letzte Szene vor der Tür – der Ausgang aus dem Hades – führt mit einer Körperdrehung auf die Loggia in der Versöhnungsszene und gleich danach ins Ehebett, das nur durch ein Fenster von der Orakelszene getrennt ist. [Vgl. Abb. 101] Diese ist durch die beiden Fenster gerahmt und erscheint etwas isolierter als die anderen Szenen, da sie noch in der irdischen Welt zu verorten ist. Bereits die zweite Szene leitet in eine transzendente
1014
Wie Anm. 978.
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Szene 3
Szene 4
Szene 2
Szene 5
he isc nn fe O
Abb. 100 Grundriss des Eisenacher Teezimmers mit Anordnung der Tapetenszenen.
Fenster
Szene 6
Szene 7
Szene 1
Szene 8
Fenster
Szene 9
Szene 10 Szene 12
Szene 11
Eingangstür
Welt über, und danach findet bis zur Rückkehr Psyches aus dem Hades auch keine Blick-Ablenkung mehr statt; d.h. die weiteren Szenen sind eine nach der anderen gereiht [Abb. 102]. Die Entdeckungs-Szene ist allerdings auch raumästhetisch wiederum stark hervorgehoben, da sie genau in der Ofennische platziert ist – und der Ofen ist ja zumeist auch das ‚Herz‘ eines Zimmers und Mittelpunkt der Geselligkeit. Von hier ergibt sich dann auch eine Diagonale durch den Raum zur Versöhnungsszene und somit zur Familienformung, sodass der Raum ebenso sehr von Bezügen zwischen den Tableaus geprägt ist wie von seiner Gesamtanlage inmitten der Garten-Lehrwelt. Die Kopf-Bilder, die sich die Betrachtersubjekte beim ‚Lesen‘ der Geschichte machen, und die einen spezifischen, auf Mutterschaft und Ehe bzw. Familie gerichteten Liebesdiskurs zum Inhalt haben, gesellen sich also spätestens beim Hinaustreten in den Garten zu den Bildern der gestalteten Natur, sodass sich soziale, biopolitische und alltagspraktische ‚Ordnungen‘ sofort auf mehreren Ebenen verschränken. Hier im Teezimmer ist, so kann man zusammenfassend festhalten, die im Zusammenhang mit Schleiermacher genannte ‚Extra-Sphäre‘ eröffnet, die schon durch die Praxis der Aufführungen in Gartenhäusern und Pavillons als ein Theater-Raum markiert ist, und es um 1830 mit den Psyche-Tableaus umso mehr wird. Es ist hier
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Abb. 101 Teezimmer innen, Blick zur Eingangstür und zu den Szenen 11, 12 und 1.
Abb. 102 Teezimmer innen, Blick zur Ofennische und zu den Szenen 4–8.
ein weiteres Beispiel eines theatrum domus et socialitatis gegeben,1015 da die sich mit anderen und mit den Diskursen ihrer Zeit aktiv-wahrnehmend und aktiv-imaginierend auseinandersetzenden Besuchersubjekte hinzu kommen, und vor allem, da dieses Teezimmer eben nicht nur und in erster Linie ein
1015
Siehe Kapitel 3.3.2 der vorliegenden Arbeit.
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Gärtner-Wohnort war, sondern vielmehr ein Ort des Ausstellens einer ganzen Lebens- und Denkweise.
�.�.� Badekultur, Zwischen-Räume und Erlebnisgesellschaft: Der Ovale Saal mit seinen Psyche-Anordnungen im klassizistischen Palais in Bad Doberan In Bad Doberan nahe der Ostseeküste findet sich ebenfalls ein vollständiges und sehr gut erhaltenes Exemplar der Psyche-Tapete, allerdings in einem ganz anderen Setting als im Gärtnerhaus in Eisenach. In den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts, ca. 1806–1810, ließ sich der Herzog und spätere Großherzog von Mecklenburg, Friedrich Franz I., von Carl Theodor Severin – einem Schüler Friedrich Gillys und Carl Gotthard Langhans’ – dort ein Palais als Sommerresidenz errichten.1016 [Abb. 103] Das Schmuckstück in diesem Palais bildet der „Ovale Saal“ zum Garten hin, in dem sich die zwölf Szenen der Psyche-Tapete befinden. Der Großherzog scheint viel von tapezierten Wänden gehalten zu haben, denn auch im ein paar Meter weiter gelegenen Wohnhaus des hoch dotierten herzoglichen Kochs Gaetano Medini hatten Tapeten mit einer Schweizer Landschaft gehangen.1017 Nachdem Friedrich Franz I. aus medizinischen Gründen 1793 im nahen Heiligendamm gebadet und es als erstes deutsches Seebad etabliert hatte, erlebte unter seiner Herrschaft auch Bad Doberan eine Blütezeit als mondäner Bade- und Kurort, in dem die Gäste mit Glücksspiel und Tanzveranstaltungen ihre Freizeit verbrachten.1018 Rund um den „Kamp“, den kleinen Park im Zentrum der Stadt,
1016
Zur Geschichte des Ortes und seiner Gebäude vgl.: Georg Dehio:
Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Mecklenburg Vorpommern, bearbeitet von Hans-Christian Feldmann, Gerd Baier, Dietlinde Brugmann, Antje Heling, Barbara Rimpel München/ Berlin: Deutscher Kunstverlag 2000; sowie: Gerd Baier, Horst Ende und Brigitte Oltmanns: Die Bau- und Kunstdenkmale in der DDR. Mecklenburgische Küstenregion. Mit den Städten Rostock und Wismar, Berlin: Henschelverlag 1990. Dazu auch die historischen Quellen in: Ernst von Bülow: Doberan und seine Geschichte, Börgerende-Rethwisch: Godewind Verlag 2006; sowie: Adolf Nizze: Doberan-Heiligendamm: Geschichte des ersten deutschen Seebades, Börgerende-Rethwisch: Godewind Verlag 2009; Carola Herbst (Hg.): Reise eines Gesunden in die Seebäder Swinemünde, Putbus und Doberan: Reisebeschreibung aus dem Jahre 1822, Börgerende-Rethwisch: Godewind Verlag 2005. 1017
Diese befinden sich heute im Deutschen Historischen Museum in Berlin.
1018 Siehe hierzu Christian Tilitzki und Bärbel Glodzey: „Die Deutschen Ostseebäder im 19. Jahrhundert“, in: Rolf Bothe (Hg.): Kurstädte in Deutschland.
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Abb. 103 Großherzogliches Palais in Bad Doberan, Frontseite.
entstanden seit 1802 unter Severins Planung mehrere repräsentative Gebäude, die dem Status Bad Doberans als Ort des Vergnügens und der geselligen Abende gerecht werden sollten;1019 neben zwei Palais1020 waren dies ein Theater, ein Salongebäude mit neuem großem Festsaal und als Höhepunkt einer herausragenden Gartenarchitektur zwei Pavillons, die für Musikveranstaltungen und als Verkaufsgelegenheit genutzt worden sind, der „Rote Pavillon“ und der „Weiße Pavillon“. [Abb. 104] Zuerst gab Friedrich Franz I. den Roten (Kleinen) Pavillon bei Severin in Auftrag (1808), nachdem er im dänischen Exil ähnliche Bauten gesehen hatte.1021 Im Jahre 1810 folgte der Bau des Weißen (Großen) Pavillons,1022
Zur Geschichte einer Baugattung, Berlin: Frölich & Kaufmann 1984, S. 513–536, hier S. 522f. 1019
Ebd., S. 523.
1020
Ein weiteres 1821 errichtetes Palais hatte Severin umgehend an den
Enkel von Friedrich Franz I. und Erbprinzen Paul Friedrich verkauft, weshalb das Gebäude den Namen „Prinzenpalais“ erhielt. Es wird heute als Hotel genutzt. 1021
Vgl. Judith Groschank: Bäderarchitektur in Doberan-Heiligendamm, Kiel:
Opaion 1999. 1022
Dieser ist an die Nordseite des Kamps angeordnet. Über dem Erdge-
schoss des Pavillons wurde ein zweites Geschoss mit umlaufendem Balkon als Bel-
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Abb. 104 Der „Kamp“ in Bad Doberan mit Pavillons.
welcher von gegen Ende des 19. Jahrhunderts wieder abgerissenen Verkaufsbuden flankiert wurde, sodass mit den großen Mengen Alkohol auch das Geld fließen konnte. Der Kamp war das gesellschaftliche Zentrum des Geschehens, „von hier aus wurde 1819 eine frühe Ballonfahrt der Madame Reichard bejubelt und hier forderte 1824 Freiherr von Drais mit seinem Laufrad einen Schnellläufer zum Wettkampf heraus.“1023 Vor allem die beiden direkt nebeneinander gelegenen Anlagen des Großherzoglichen Palais und Salongebäudes1024 an der Ostseite des Parks ergeben – besonders, wenn man die Sichtachse zu den beiden Pavillons mit einbezieht – ein auf engster Fläche hervorragend erhaltenes klassizistisches Ensemble. Der Weiße Pavillon befindet sich auf einer Sichtachse etwa schräg gegenüber dem
vedere gesetzt. Der Grundriss ist ein in die Länge gezogenes Oktogon, in dem sich ein ovaler Saal von 14,5 Metern Länge und 10,4 Metern Breite befindet. Um das Gebäude verläuft ein aus 24 Säulen bestehender Umgang. Die Decke des Saales ist gewölbt. 1023
Zitiert aus: „Bad Doberan – ein Rundgang um den Kamp“, Amt für
Stadtentwicklung, Gesellschaft für Stadterneuerung und Ortsentwicklung Mecklenburg mbH, Landkreis Bad Doberan. 1024 Auch das Logierhaus (1793) schließt direkt an das Salongebäude an, sodass genau drei Häuser dem Park gegenüber angeordnet sind, allerdings stammt das Logierhaus von Johann Christoph Heinrich von Seydewitz und nicht wie alle anderen hier genannten von dem etwas später tätigen Severin. Es wird heute ebenfalls als Hotel genutzt. Vgl. zum Logierhaus: Christian Tilitzki und Bärbel Glodzey: „Die Deutschen Ostseebäder im 19. Jahrhundert“, wie Anm. 1018, S. 523.
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Haupteingang des Großherzoglichen Palais und der Rote Pavillon etwa schräg gegenüber dem Salongebäude, wobei letzteres von Severin zuerst errichtet worden ist, im Jahre 1802. Es weist in einem zweigeschossigen Bau mit Mittelrisalit und hoher Attika zwei Festsäle zur Gartenseite auf, dessen kleinerer mit einer Tapete mit Schweizer Ansichten ausgestattet war und daher „Schweizersaal“ genannt wurde. Er bildet im Vergleich mit dem Großherzoglichen Palais nebenan in der Ausrichtung und Ausstattung quasi das Pendant zum Ovalen Saal. Zum Kamp hin ausgerichtet waren im Salongebäude sechs Kaufläden zu finden. Der größere Festsaal wurde sowohl als Speisesaal als auch für Konzerte und Bälle genutzt und 1820 um den zweiten Saal ergänzt, sodass beide für Veranstaltungen zusammen nutzbar waren.1025 Der Chronist Heinrich Studemund schrieb 1834 über die Nutzung des neuen Festsaals: „Der Saal ist in brillante (sic!) Farben gemahlt, hängt unmittelbar mit der größern Vorderhalle durch Bogeneingänge zusammen, und beide Zimmer machen besonders des Abends im Kerzenschein einigen Effect.“1026 Die Inneneinrichtung des ganzen Gebäudes mit Stuckornamenten, (ursprünglich) hellblauen Wandflächen und der Gittergestaltung des Balkons tritt stilistisch-ornamental in eine Beziehung zu den umgebenden Gebäuden des Großherzoglichen Palais und Medini-Hauses.1027 Doch zurück zum Ovalen Saal mit den Psyche-Szenen im Erdgeschoss des Großherzoglichen Palais: Dieser zeichnet sich durch eine auffällige Wölbung in den hinteren Gartenbereich aus, wobei die langgestreckte Fensterfront des zweigeschossigen Gebäudes sowie die sechs ionischen Pilaster, die in dem Halboval zwischen die Fenster gesetzt sind, dabei einen zu wuchtigen oder unausgeglichenen Eindruck verhindern. [Abb. 105] An der Vorderseite zur Straße und zum Kamp befindet sich in gerader Linie von diesem Oval ausgehend das Eingangsportal, welches von einer Wölbung nichts erahnen lässt; es wird von einem Ziergiebel (Fronton) bekrönt und sitzt in einem zu1025 Vgl. zu diesen Angaben die Broschüre „Salongebäude Bad Doberan – Der Festsaal“ des Landkreises Bad Doberan, Redaktion: Helga Wohlert, Fassung 2013. 1026 Zitiert ebd., aus einer Handschrift im Landeshauptarchiv Schwerin. 1027 Das Medini-Haus wurde ca. 1825 errichtet und wird heute als Raiffeisenbank genutzt. Allgemein zur Bedeutung des Festsaals in den Kuranlagen des 19. Jahrhunderts siehe Rolf Bothe: „Klassizistische Kuranlagen. Zur typologischen Entwicklung einer eigenständigen Baugattung“, in: Ders.: Kurstädte in Deutschland, wie Anm. 1018, S. 17–48, hier S. 23: „War der Festsaal der Kuranlagen im 18. Jahrhundert entweder ein einfacher Nutzbau oder in Verbindung mit Logierräumen und Badezimmern in einem repräsentativen Gebäude untergebracht, ohne dass seine Funktion von außen erkennbar wurde, so tendierte die Entwicklung nun zum eigenständigen Saalbau, verbunden mit der Forderung nach einer repräsentativen äußeren Form.“
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Abb. 105 Großherzogliches Palais in Bad Doberan, Gartenseite: Der Ovale Saal. Abb. 106 Großherzogliches Palais in Bad Doberan, Portal mit Kolossalsäulen.
rückgesetzten Mittelteil, vor dem vier ionische Kolossalsäulen mit den Seitenteilen eine Linie bilden und wiederum mit dem hinteren Halboval und dessen Pilastern korrespondieren. [Abb. 106] Vom Portal gelangt man in ein Vestibül mit zwei Treppenaufgängen1028 und ihnen vorgelagerten Modellierungen ionischer Säulen, von hier aus führt eine Flügeltür mittig zwischen den Treppenaufgängen direkt in den Ovalen Saal. Er wurde insgesamt drei Mal restauriert, wobei im Zuge der zweiten Restaurierungsphase auch die einzigartige Zeltdecke originalgetreu hergerichtet werden konnte.1029 [Vgl. Abb. 12] Es sind
1028
Die aufgemalte Scheinarchitektur, die Grisaille-Deckenmalerei und
auch die Farben der Säulen und Treppengeländer sind 2003 restauriert worden, wie auch die Wände und Decke des Obergeschosses. 1029 Zu DDR-Zeiten fanden die Restaurierungen in den 1950er Jahren und nochmals in der Zeit um 1984–86 statt, zuletzt dann recht umfangreich noch einmal 2003. Bei der zweiten Renovierung wurde abgesehen von den Arbeiten an der
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Abb. 107 Psyche-Tapete im Großherzoglichen Palais in Bad Doberan, Ovaler Saal: Tapetentür mit Szene 10. Abb. 108 Psyche-Tapete im Großherzoglichen Palais in Bad Doberan, Ovaler Saal: Tapetenfriese.
zwei Streichphasen von Wand und Kamin nachvollziehbar; die Flächen unter den Psyche-Szenen und die Kaminrundungen waren ursprünglich terrakottafarben und zur Zeit der Anbringung der Psyche-Szenen – vermutlich in den 1820er Jahren – blau getüncht gewesen. In den 1950ern wurde der Ovale Saal als Sitzungssaal der SED genutzt (im „Stalin-Haus“), in dieser Zeit wurden Stoffe vor die Tapete gehängt, weil man die Szenen wohl nicht angemessen Zeltdecke der Fußboden neu gelegt, das Fries nach Original-Vorlagen ersetzt und auch das papierne Lambris – von dem ein Stück original erhalten geblieben ist – neu nachgedruckt und ergänzt. Für diese und die nachfolgenden Informationen danke ich Herrn Andreas Baumgart von der Denkmalpflege Rostock.
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fand. Dadurch waren die Szenen zwar lange Zeit gar nicht zu sehen, haben sich aber, da sie gut geschützt waren, ausgezeichnet erhalten. Auch die Tapetentüren, die teilweise von den Tapetenszenen überklebt waren (und sind), waren wohl eher als Schränke gedacht, da sich außer der Hauptflügeltür keine Durchgänge in der Saalwand befinden. Zu deren Bestimmung und Nutzung ist nichts Konkretes bekannt. [Abb. 107] Das Rosettenfries ist neu angebracht worden, das Füllhornfries hingegen ist original erhalten. [Abb. 108]
Die ‚Stationen‘ von Psyche im Inneren des Ovalen Saales Eine weitere Besonderheit im Ovalen Saal ist die Reihenfolge der Tapetenszenen: Hier ist keine lineare Lektüre des Stoffes ‚von einem Bild direkt zum nächsten‘ wie im vorigen Raumbeispiel im Eisenacher Kartausgarten möglich, denn die Szenen sind inhaltlich vollkommen ‚durcheinander gebracht‘. Was die formale Struktur ihrer Anbringung betrifft, ist hingegen ein sehr deutliches Muster erkennbar. Durch das Vestibül kommend und sich im Saal wieder der Tür zuwendend, kann folgende Verteilung der Szenen an der Wand – die außer den Psyche-Tableaus auch Öfen, Spiegel und Fenster aufweist – im Uhrzeigersinn abgeschritten werden: [Abb. 109] Psyche will Amor erdolchen (Szene 5), (ein Ofen mit darüber hängendem Spiegel), Psyche bringt Venus den Verjüngungstrank (Szene 8), Psyche kommt aus der Unterwelt (Szene 10), Psyche im Bade (Szene 3), die verlassene Psyche auf dem Felsen (Szene 6), (erstes Fenster), Psyche wird von Zephyr davongetragen (Szene 2), (drei Fenster mit zwei Spiegeln dazwischen), Die Befragung des Orakels (Szene 1), (fünftes Fenster), Psyche geht in die Unterwelt (Szene 9), Psyche zeigt den Schwestern den Schmuck (Szene 4), Psyche und Amor im Ehebett (Szene 12), Die Versöhnung von Psyche und Venus (Szene 11) (wieder ein Ofen mit Spiegel), Psyche wird vom Fischer aufgenommen (Szene 7), dann ist man wieder bei der Eingangstür. Bemerkenswert ist die sehr symmetrische und rhythmisierende Gliederung der ein großzügiges Oval beschreibenden Saalwand; hier erscheinen die Tapetenszenen in einem numerischen Verhältnis voneinander abgesetzt und zugleich im Raum einander zugeordnet und korrespondierend zu den vorhandenen Fenstern, Spiegeln und Öfen. Zum Garten hin haben die Szenen 1 und 2 die Stelle von Spiegeln zwischen den Fenstern inne und fassen zugleich die Aufeinanderfolge von drei Fenstern und zwei Spiegeln in ihrer ‚Mitte‘ ein. Zum Vestibül hin befinden sich jeweils die Szenen 7 und 11 sowie 5 und 8 ebenfalls von einem Spiegel – hier in Kombination mit einem Ofen darunter – getrennt bzw. voneinander abgesetzt. In der Mitte dieser Kombination von
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Abb. 109
Szene 10
Grundriss des Ovalen Saales in Bad Doberan mit Anordnung der Tapetenszenen.
Szene 3
Szene 8
Szene 6
Fenster
Szene 2
Spiegel & Ofen
Fenster
Szene 5
Spiegel
Tür
Fenster Szene 7
Spiegel
Fenster Szene 1
Spiegel & Ofen
Szene 11
Szene 9
Szene 12
Fenster
Szene 4
vier Szenen bzw. sechs Wandelementen befindet sich die Eingangstür, während die gesamte Vestibül-Anordnung wiederum der Anordnung der Gartenseite aus fünf Fenstern, zwei Spiegeln und zwei Szenen genau gegenüber liegt. Die insgesamt vier Spiegel werfen wiederum die Tapetenszenen sowie das Licht, das aus dem Lüster und den Fenstern eindringt, in den Raum zurück und schaffen eine potenzierte Fülle der Wandgestaltung. Schließlich ‚spiegeln‘ auch die Elemente einer Wandeinheit die gegenüberliegenden in ihrer Anordnung: Den zwei Ofen-Spiegel-Kombinationen liegen leicht diagonal die zwei Spiegel der Gartenseite gegenüber; den jeweils von Fenstern gerahmten Szenen 1 und 2 entsprechen die ‚Einzelszenen‘ 7 und 5 neben der Eingangstür und in den Krümmungen des Ovals befinden sich jeweils Viererkombinationen von Szenen, [Abb. 110] wobei immer Szenen im breiteren Format (11 und 8, 4 und 3) und im schmaleren – d.h. weniger Platz beanspruchenden – Format
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(12 und 10, 9 und 6) einander gegenüber angebracht sind. Durch diese Art der Raum-Aufteilung und -Anordnung ergibt sich ein starker Eindruck von etwas Korrespondierendem, vor dem einheitlichen (vermutlich auch ursprünglich schon himmelblauen) Grund Schwebenden der Szenen, von etwas Spielerischem – und zugleich genau Berechnetem – in der Variation mit den anderen Wandelementen. Dieses Wechsel-Spiel ist hier im Raum wichtiger als das schnelle Nachvollziehen des nicht chronologisch geordneten Plots. Während in Eisenach keine großen Dekorationen vom ‚Lesen‘ der Geschichte an der Wand ablenken konnten und die Szenen selbst – wenn man von der pastell-blumigen Untergrundtapete damals ausgeht – sich stark vom Untergrund abgehoben haben und so eine konzentrierte Aufmerksamkeit einforderten, setzt sich der Ovale Saal in Bad Doberan als eine ganz andere Räumlichkeit, ein Zelt im Freien und zugleich trotzdem noch Festsaal, in Szene. Er geht über sich selbst hinaus, ist genauerhin mit seinem gemalten Zeltdach, der runden Erscheinung und den doppelten Rahmungen der Wandfelder1030 [Abb. 111] eine Misch-Architektur aus fest im Wohnhaus verankertem, respräsentativem Saal und bereits den Aktivitäten im Kurpark zugehörigem Festzelt. Die BesucherInnen dieses Raums konnten sich in einer für sie als Raumprogramm inszenierten Welt mit der Figur der Psyche zusammen in eine tapezierte Palastarchitektur hineinversetzen. Die inhaltlich und räumlich versetzten Szenen legen dabei den Akzent auf die einzelnen Stationen von Psyches Reise, deren Beginn und Ende in der Rundung des Raumes kaum mehr auszumachen ist, sodass ich hier nicht mehr von einer Tapetenserie oder -abfolge, sondern vielmehr von einer Ausstellung der Psyche-Stationen im Medium oder mittels des Mediums der Tapete sprechen möchte. In Anlehnung an die klare Gliederung der Häuserfassaden am Kamp und die Sichtachsen von der Frontseite des Palais zu den Pavillons wirkt der zeltähnliche, hochgradig festliche Raum wie eine Fortsetzung dieser Bezugsetzungsstrategie zwischen den einzelnen Gebäuden bis in die Felder der Saalwand hinein, und wiederum durch die fünf Fenster zur anderen, hinteren Richtung des Gebäudes hin. Psyches Stationen befinden sich genau am ‚Durchgang‘ vom Kamp (und den Vergnügungen in den Pavillons) zur Gartenseite des Palais und damit dem wohl etwas weniger belebten Teil Bad Doberans, der aber in wenigen Gehminuten zu dem historisch bedeutsamen Münster mit seiner hochmittelalterlichen Ausstattung führt. Gerade durch
1030
Es finden sich als Elemente der Gliederung und Rahmung in diesem
Saal sowohl Rosettenbordüren um die Psyche-Tableaus als auch ein Rosetten- nebst Füllhornfries unter der (Zelt-)Decke und zusätzlich eine ebenfalls tapezierte, relativ hohe Sockelzone.
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Abb. 110 Der Ovale Saal, Ansicht mit Kronleuchter und Zeltdecke. Abb. 111 Der Ovale Saal, tapeziertes Lambris.
die Wölbung des Saales nach ‚hinten‘ hinaus ist sein Psyche-Programm auch etwas vom Kamp und dem Alltag(sgeschäft) abgeschottet. Die prächtige Kurhallenarchitektur, die sich dem Betrachterauge in den einzelnen Tapetentableaus jedoch bietet, spiegelt auch wieder die verfeinerte Lebensart vor Ort und verkoppelt diese zugleich mit dem Gefühl, eine Reinigung von Körper und Seele vorzunehmen.
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Der Umgang als Kunst: kuren, cura sui und geregeltes Vergnügen Wie auch beim Kartausgarten in Eisenach handelt es sich hier um einen Ort der Abgrenzung und Geselligkeit, wie Schleiermacher ihn imaginiert hatte. Jedoch ist der Ovale Saal weder ein Arbeits- oder ständiger Wohnraum noch ein Unterrichtsraum, wie beispielsweise für Pflanzenkunde und Gartenpflege; sondern er erhält gerade als eine vom Alltag abgelöste Sphäre seine Bedeutung. Auf dem Spiel der ‚Ver-Gesellschaftung‘ liegt letztlich das Hauptaugenmerk, wenn sich Geschmack und Verfeinerung der Lebensart in den geführten Konversationen, den Zeiten und Konstellationen der Fortbewegung von A nach B, in der Tischetikette und dem Tagesablauf zeigen. Alles ist prinzipiell der Aufmerksamkeit aller Gäste ausgesetzt, sodass man es mit einer Extremform einer Bühne der Gesellschaft zu tun hat. Christian Garve hat mit seinen Maximen aus dem „Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben“ etwas auf den Punkt gebracht, was sich insbesondere auf ein Leben im Kurort während der Saison sehr gut anwenden lässt: „Der Umgang ist eine Kunst, und wird, wie alle Künste, nur durch Uebung zur Vollkommenheit gebracht. […] so muss in einer Gesellschaft von Menschen, wo der Umgang sehr verfeinert werden soll, sehr viel Umgang seyn; der Mensch, welcher ein guter Gesellschafter werden will, muss viel Zeit in Gesellschaft zubringen.“1031 Weiterhin betont er auch besonders, dass gerade das Beobachten und Nachahmen derer, die sich auf die Kunst des Vergesellschaftens gut verstehen, und der wechselseitige Austausch zu einer generellen Verbesserung des „Zusammenseyns“ führe: „Hier hat es der Mensch mit Menschen zu tun: er soll auf sie wirken, indem er sich zugleich ihnen gleichsam darbiethet, um gewisse Eindrücke von ihnen zu empfangen, und ihrer Thätigkeit hinwiederum zum Gegenstande und zum Gehülfen zu dienen […]. Dafür hat auch […] jeder gewisse eigne Vorzüge, die von den übrigen nachgeahmt werden können: und so wird durch das Zusammenseyn jeder gebessert.“1032
1031
Christian Garve: Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral,
der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben, Band 1, Breslau 1792, S. 312. Siehe die Website der „Hathi Trust Digital Library“: http://babel.hathitrust.org/cgi/ pt?id=mdp.39015012327048;view=1up;seq=336, [zuletzt aufgerufen: 30.08.2016]. 1032
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Ebd., S. 314 und S. 321.
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Gerade im Kurort geht es immer um die Verbesserung respektive Optimierung eines Zustandes: In erster Linie des gesundheitlichen Zustandes des eigenen Körpers, doch darüber hinaus auch des gesellschaftlichen Zustandes, was bei Garve so dominant ist. Bevor nun ein Blick auf das Kurleben in Bad Doberan geworfen werden soll, gilt es diese Spezifik von Kur- und Badeorten des 19. Jahrhunderts etwas zu umreißen. Sie sind „Orte des geselligen Vergnügens“, was sich auch schon in ihrer Architektur ausdrückt, in „Bauten wie dem Gesellschafts- oder Kurhaus, Casino, Bade- und Brunnenhaus, Trink- und Wandelhaus, Schauspielhaus oder Theater, […] Luxusverkaufsbuden und Arkaden […]“,1033 wobei jedoch zu bedenken ist, dass diese „räumliche Inszenierung eines ‚Ortes des Glücks‘“ auch „mit einer strengen Trennung des Kurgebietes von den Wohnvierteln der Arbeitskräfte verbunden“ war.1034 Dieser Glücks-Ort ist also immer auch ein Ort der Abgrenzung von anderen, weniger privilegierten Orten, Subjektkonstellationen und Alltagspraxen. Darin gleicht er auch den luxuriösen Interieurs auf der Psyche-Tapete, die von der Prüfung und Ermächtigung einer Königstochter – noch dazu einer übermenschlich schönen – und somit einer sowieso schon privilegierten Figur handelt. Vermutlich ist Psyche auch deshalb so häufig in einem eher herrschaftlichen oder zumindest sehr mondänen Umfeld zu finden. Die Kur als Form der Selbstsorge – der cura sui – und des hygienischen und somit diskurskonformen Umgangs mit sich selbst1035 kann zudem als eine „temporäre ästhetische Erfahrung“ beschrieben werden, wenn sich die „Vorstellung einer gesunden, unterhaltsamen Kultur“ zugleich „mit dem schönen Kurgarten, der erholsamen schönen Landschaft und einer besonderen Kurarchitektur“ sowie mit „Gesundheit, Geselligkeit und Vergnügen“ verband.1036 Etwas Ähnliches bringt der Ausdruck einer „Erlebnisgesellschaft auf Zeit“1037 zum Ausdruck: In diesen Spiel-Räumen der Kurorte sind alle bemüht, für eine bestimmte Zeit – meist einige Wochen lang – an dieser besonderen Form der Geselligkeit teilhaben zu können, wodurch sich eine vom Alltag ‚zuhause‘ abweichende Architektur-, Unterhaltungs- und Verhaltensstruktur ergibt. Besonders das Reinigen,
1033 Burkhart Fuhs: „Kurorte als Orte des geselligen Vergnügens. Anmerkungen zur Herausbildung einer neuen Unterhaltungskultur im 19. Jahrhundert“, in: Geselliges Vergnügen, wie Anm. 56, S. 27–40, hier S. 33. Fuhs hat auch die „Kultur und Geschichte der Kurstädte 1700–1900“ (1992) untersucht. 1034 Ebd. Siehe Kapitel 4.5 der vorliegenden Arbeit und die Foucault’sche The1035 orie zur „Ethik der Sorge um sich“. 1036 S. 34.
Burkhart Fuhs: „Kurorte als Orte des geselligen Vergnügens“, wie ebd.,
1037
Thomas Grosser: „Bürgerliche Welt und Adelsreise“, wie Anm. 918, S. 656.
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also das eigentliche Baden und auch die innere Reinigung durch die Trinkkur, ritualisierte sich hier zu einem sehr geregelten formalen Ablauf, wobei sich die Gestaltung der entsprechenden Räume „an Vorstellungen über antike oder orientalische Badekultur“ orientierte, sodass beispielsweise „Wannen-, Dusch-, Dampf-, türkische und römisch-irische Bäder sowie große Bassins unter einer beeindruckenden Kuppelarchitektur“ errichtet wurden.1038 Besonders das Tapeten-Tableau im Thronsaal der Venus, die achte Szene, zeigt Images eines solchen Ortes. Aus Venus’ Thronsaal wird hier eine Kurhalle mit dem erotisierenden Anklang an antike Badekulturen, was ein genaues Gegenbild zu einem stickigen kleinen Arbeitsraum, der eher einem Alltags-Raum entsprechen würde, darstellt. Es ist auch ein Gegenbild zu dem eigentlichen Hintergrund des Plots, nach dem Psyche Schweiß und Tränen vergießt um die ihr auferlegten Aufgaben erfüllen zu können. Hier in den Bildräumen der Tapete wie auch im Kurort Bad Doberan in seiner Gebäude- und Geselligkeitsstruktur ist alles auf das erwähnte Bien-être1039 der gehobenen Gesellschaftsschicht ausgerichtet. Die Tapete visualisiert besonders in den beiden Szenen der Schmuck-Betrachtung mit den Schwestern (4) und des Venus-Thronsaals (8) den bürgerlichen Habitus des Werte-Erstrebens bzw. Anstrebens einer möglichst guten sozialen Platzierung. In der Zusammenkunft Psyches mit ihren Schwestern in Amors Palast wird der Akzent von der eigentlichen Semantik von Neid, Eifersucht, Angst und Unsicherheit weg auf ein heiteres Präsentieren von materiellen Werten vor den mit Psyches Blick konfrontierten Betrachtersubjekten verschoben. Diese wissen, welche Geschichte vor ihre Augen gestellt wird, welche moralischen Werte dort vertreten werden und welchen Wert die Tapete für das mit ihr geschmückte Zimmer hat, und sie wissen, dass diese Tapete zum Ausdruck einer umfangreichen Bildung ihres Besitzers, aber auch aller aktiv mit ihr Agierenden werden kann: „Bildung wird zum kulturellen Kapital sensu Bourdieu.“1040 Die „Beschäftigung mit Kunst“ wird zu einem „zentrale[n] Bestandteil bürgerlicher Identität und repräsentiert das Ideale gegenüber der banalen Welt von Arbeit und Leistung. Das Ästhetische zeigt sich im Alltagsleben etwa in der Kleidung oder den ‚feinen Manieren‘, die an die nachwachsende Generation weiterzugeben sind.“1041
1038
Burkhart Fuhs: „Kurorte als Orte des geselligen Vergnügens“, wie
Anm. 1033, S. 36. 1039
Siehe die Ergebnisse der Analyse der dritten Tapetenszene, „Psyche
im Bade“. 1040
Irmgard Nickel-Bacon: „Literarische Geselligkeit“, wie Anm. 569, S. 161.
1041 Ebd.
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Die Figur der Psyche und deren Abenteuer und Haltung ästhetisieren den Alltag der TapetenbetrachterInnen und verknüpfen antike Mythologie und moderne Geisteshaltung; sie wird zur Chiffre für einen bestimmten Lebens- und Auffassungsstil, der auf einem irdischen (im Prinzip materiellen, auf Wohlstand ausgerichteten) und ehelichen Glück und persönlicher Weiter-Entwicklung basiert. Die Platzierung ist ausschlaggebend, und zwar im materiellen wie im familiären Sinne, wie Irmgard Nickel-Bacon betont: „Liebe und Liebesentzug unterstützen die Umwandlung von Fremdzwang in Selbstzwang, um das bürgerliche Leistungsprinzip an den Nachwuchs weiterzugeben, damit dieser Chancen auf eine möglichst günstige soziale Platzierung erhält.“1042 Eigenleistung, Wohlstand, Liebe und soziale Platzierung sind subtil miteinander verwoben, und so gesehen wird das Selbstsorge (cura sui)-Prinzip auch zu einem des Selbstzwangs, wie die Ausführungen am Schluss dieses Kapitels zu Codierungen der Liebe im Zusammenhang mit biopolitischen Praktiken zeigen werden.
Psyche und die Förderung der Seele in Bad Doberan Diesen Abschnitt abschließend, soll nun, nach der Beschreibung des Ovalen Saales sowie seiner Psyche-Anordnungen und seiner Rolle innerhalb der Funktion des Kurortes (und der Spezifik der dort stattfindenden Vergesellschaftung) auch die erwähnte Beziehungsstruktur zwischen der klassizistischen Gebäudezeile, dem Kamp und den beiden Pavillons in die Analyse der Doberan’schen Konstellation einbezogen werden. Pavillons, diese in ihrer jeweiligen Besonderheit und ortsabhängigen Gebrauchs- und Symbolfunktion kaum allgemein definierbaren Garten- und Aufenthaltskonstruktionen,1043 zählen sicherlich zu den beliebtesten Formen der Gartengestaltung. Dies mag unter anderem an ihrer Bündelung von Eigenschaften liegen, wie beispielsweise ein Dach bzw. 1042 Ebd. 1043
Zum Thema des Pavillons – in konkreten Beispielen aus Kunst und
Architektur, aber auch als Denkfigur – fand am 7./8. Juni 2013 an der Universität Bremen eine internationale Tagung statt („Das Prinzip Pavillon“, veranstaltet vom Forschungsfeld wohnen +/– ausstellen in der Kooperation des Instituts für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik der Universität Bremen mit dem Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender, Konzept und Durchführung: Dr. habil. Christiane Keim).
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Tapezierte Liebes — Reisen
Schutz zu bieten, Treffpunkt und auch Zierde zu sein und den Anschein der Abgeschiedenheit vom Haupthaus zu erwecken. Zudem hatten sie oftmals eine Kulissenfunktion für im Park aufgeführte Schauspiele. Doch haben sie auch eine subjektbildende Funktion, wie sie im Kapitel über die Anlage und Erkundungen von Gärten bereits erörtert wurde.1044 Insbesondere die Schlangenbzw. Schönheitslinie, die aus der Gartentheorie bekannt ist, kehrt im Kurort Bad Doberan als Figur des Ovalen bzw. der Rundung wieder, die keine Ecken oder klare Begrenzungen aufweist und somit der Schlängelung sehr nahekommt. Die runden Pavillons im Kamp und auch der Ovale Saal selbst, der sich als eine Art Zelt bzw. Freiluft-Architektur präsentiert, eröffnen, wie ich festhalten möchte, für die sich in ihnen aufhaltenden Subjekte Zwischen-Räume. Diese sind und bieten also keine abgeschotteten, architektonisch fest umrissenen Räume für sich, sondern Übergänge zwischen den Sälen, Konzerten, Gartenfestivitäten und Gesprächsmöglichkeiten. Auf den ersten Blick scheinen die beiden Pavillons, die im Kamp errichtet worden sind, in ihrer chinesisch anmutenden Form nicht recht zu den klassizistischen Bauten im direkten Umfeld zu passen. Die Begeisterung für solche Pavillons entspringt dem Typus des jardin anglo-chinois, wie Georges-Louis Le Rouge ihn in seinen zwanzig Heften zur neuen Gartenkunst („Détails des nouveaux jardins à la mode, 1776—1788“) nannte. Gerade wenn sich solche Gartenmoden Anfang des 19. Jahrhunderts, wie im Beispiel Bad Doberan, in neuen Kombinationen wiederfinden, ist es allerdings wenig erhellend, mit Definitionen wie dem jardin anglo-chinois zu operieren. Zum einen ist der eigentliche high peak dieser Gestaltungsform bereits vorbei und zum anderen scheint gerade die Mischung bzw. die Zusammenstellung verschiedenartiger Elemente – wie klassizistischen geraden Linien und Architekturformen, Rundungen wie dem Oval im Herzoglichen Palais und im Weißen Pavillon sowie Um-Rundungen der Spaziergänger zwischen den Pavillons – das eigentlich Charakteristische des Ortes und der sich erholenden Subjekte zu sein. Es geht hier weniger um ein chinesisch-fernöstliches Programm, das nun dem klassizistischen zur Seite gestellt wäre. Diese Mischung will weder chinesische Lebensweisen einholen, noch solche mit klassizistischen Formen in Konkurrenz bringen oder den Kurgästen eine klare Botschaft vermitteln, sondern ist vielmehr ein Ausdruck des Mannigfaltigkeits-Phänomens.
1044 Siehe hierzu den Argumentationsstrang in Kapitel 2.2.2 der vorliegenden Arbeit.
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Konkrete Vorstellungen davon bieten sich nach der Lektüre der von Adolf Nizze zusammengetragenen Quellen in der „Geschichte des ersten deutschen Seebades“ von 1793 bis in die 1930er Jahre, sowie von Friedrich Röpers „Geschichte und Anekdoten von Doberan in Mecklenburg“. Nizze schreibt über die Jahre 1796 und 1797: „Überhaupt war der Kamp der gegebene und beliebte Ort für Spiele verschiedener Art; hier spielte man Ball und Federball, hier wurde oft ‚Karoussel‘ geritten, ein französisches Ritterspiel, wobei man seine Geschicklichkeit im Reiten und Ringstechen zeigen konnte, hier wurden sogar mehrmals militärische Manöver ausgeführt. […] Diese Manöver wurden natürlich nur zum Vergnügen der Badegäste arrangiert und waren bei ihnen außerordentlich beliebt.“1045 Hier wird der Park also nicht nur zum Ort des Spielens und Sich-Vergnügens, sondern es standen auch körperlich-geistige Übungen zur steten Optimierung der eigenen Fähigkeiten mit auf dem Programm und mischten sich mit militärischen Übungen. Dieser Ort ist wiederum inmitten des Kurerlebens zu lokalisieren, und somit gleichzeitig mit Hygiene und Leibesübungen nach den Vorschlägen Hufelands verknüpft, der in Bad Doberan einen Glücksfall an Förderung von Gesundheit und Seelenheil sah und selbst gern zugegen war.1046 Auch die Visualisierung prächtiger Kurhallenarchitektur in der Psyche-Tapete gehört zu diesem Komplex, in dem die bei Foucault beschriebenen biopolitischen Techniken wirksam werden. Die Selbstdisziplinierung der sich hier in Kur und in Austausch mit anderen Gästen begebenden Subjekte arrangiert sich mit zahlreichen Vergnügungen zu einem Zwischen-Raum, der scheinbar dem normalen Alltag von Beruf und Familie zuhause enthoben, aber dennoch ähnlich strukturiert ist, und der zudem nach durchaus formellen Regeln funktioniert. Die Ausführungen von Schleiermacher über die Geselligkeit sind ebenfalls recht formalisiert. Die Begegnungen in den Häusern und Sälen und im Park sollten vor allem dem Kurzweck angemessen sein; und diesen hat Friedrich Franz I. von Anfang an persönlich geprägt, denn er war sehr bedacht, zur heiteren Stimmung und zum Bien-être der Gäste beizutragen. Laut Nizze war es „bezeichnend, […] dass er in Doberan-Heiligendamm durch Anschläge das Hutabnehmen verbot, um die Standesunterschiede nicht so hervortreten zu lassen“, und der Hofrat Vogel legte wiederum
1045 1046
Adolf Nizze: Doberan-Heiligendamm, wie Anm. 1016, S. 21f. Ebd., S. 25f.
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„größten Wert auf die Aufheiterung der Seele und des Geistes der Badegäste […]. Deswegen war es ihm so äußerst wichtig, in einem Kurorte wie Doberan das Interesse der Seele auf alle mögliche Art zu fördern und ihren verschiedensten Bedürfnissen Befriedigung zu verschaffen. Gerade in der frohen, hoffnungsvollen Stimmung des Geistes liege oft das Geheimnis, wodurch manche schwere Kur allein möglich werde.“1047 Gerade die Betonung der Seele für den Kurerfolg – im Einklang mit der Philosophie und Ästhetik dieser Zeit – schlägt wieder einen Bogen zu der bei Whately etwa 20–30 Jahre zuvor geforderten seelischen Reinigung im Garten.1048 Dazu kommt der in den Annalen Bad Doberans 1804 angesprochene „gute Ton“, der immer gewährleistet sein sollte – vor allem von weiblicher Seite aus – und der mit Hygiene, Seelenempfindung und Festlichkeiten zusammengedacht wurde. Zu diesem Prinzip, oder besser: verschiedenen Strängen der Prinzipienbildung, sich aufzuhalten, zu stärken, zu empfinden und zu vergesellschaften, tritt ab 1808 als weiterer Faktor das ‚Prinzip Pavillon‘1049 hinzu, denn der Herzog hatte „[i]n Doberan […] mitten auf dem Kampe einen Pavillon in chinesischem Stil erbauen lassen, der […] zur Bewirtung von Gästen und […] als Musiktempel dienen sollte.“1050 Interessant ist die Bezeichnung „Musiktempel“, die andeutet, dass dem Geschehen hier etwas sehr Weihevolles, und nicht etwa rein Beiläufiges zukommt – wahrscheinlich hat Nizze diesen Begriff mit Bedacht gewählt, denn er findet sich auch in dem 1808 verfassten Text von Röper, „[…] so soll auf dem grünen Platze zwischen der Promenade, ein eigener Musiktempel, oder Pavillon, erbaut werden.“1051 Im Jahr 1810 kam noch der Weiße Pavillon dazu, „der sich in der Mitte eines Halbkreises von Kaufläden oder Boutiquen mit davor liegenden Säulenhallen erhob. Damit erhielten die Jünger der Musik und des Merkur […] solide und würdige Räume für ihre Betätigung.“1052 Außer Musik und gemeinschaftlichem Speisen wurde hier auch dem Kauf und Verkauf Raum gegeben. Zwischen den Pavillons, zwischen den zeitweise errichteten Funktionalitäten in und neben diesen und zwischen den anderen Gästen platzierten sich also die ParknutzerInnen, die eine
1047 Ebd., S. 27 und S. 33. 1048 Siehe die Anm. 223 der vorliegenden Arbeit. 1049 Siehe den Titel der Bremer Tagung: „Flüchtige Begegnungen/Dauerhafte Bekanntschaften. Das Prinzip Pavillon in Kunst und Architektur“, wie Anm. 1043. 1050 Adolf Nizze: Doberan-Heiligendamm, wie Anm. 1016. 1051 Friedrich L. Röper: Geschichte und Anekdoten. Von Doberan in Mecklenburg, Börgerende-Rethwisch: Godewind Verlag 2005, S. 58, unter der Überschrift „Vergnügen in Doberan“ und „Harmonie“. 1052 Adolf Nizze: Doberan-Heiligendamm, wie Anm. 1016, S. 68.
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mannigfaltige Darbietung an der Schwelle – also auch hier im Zwischenraum – von Gesundheitsvorsorge, Vergnügen und Seelenreinigung bekamen und selbst gaben. Sie wurden dadurch Teil einer Prozessualität, die auch das ‚Prinzip Pavillon‘ in Gang brachte, welches nicht fertig und abgeschlossen für die Ewigkeit erdacht und erbaut ist, sondern im Austausch mit ihnen erst entsteht und sich wandelt. Pavillon-Architekturen und -nutzungen wurden hier zum zwar flüchtigen, für diese Zeit jedoch äußerst bedeutenden Übergangsraum. In und an diesem konnten sich die Gäste aufführen, verlustieren, vergesellschaften, überprüfen und optimieren – sogar ökonomische Faktoren traten offensichtlich mit hinzu. Die Bevorzugung ovaler Formen kann dabei durchaus als ein Ausdruck des infiniten Um-Rundens und Sich-Weiter-Drehens in diesem Karussel betrachtet werden, das für den Kurund Vergnügungsort Bad Doberan vielleicht ein gutes Schlussbild abgibt. Letztlich sollte auch versucht werden, den Frauen zu gefallen, die ja den „guten Ton“ prägten, und die auch in Carmontelles Ausführungen zu dessen Parc de Monceau als „délices de la societé“ bezeichnet werden.1053 Umrundet wird an einem solchen Ort – entsprechend dem ‚Prinzip Pavillon‘ in der Funktion eines idyllischen Treffpunkts – auch immer das andere Geschlecht. Die Einübung von Geschlechterrollen ist bei allen Vergnügungen und auch in Hufelands medizinischen Empfehlungen stets ein primäres Ziel allen Handelns und Sich-Austauschens. Dazu dienten Zwischen-Räume, die weniger fixiert und begrenzt scheinen als Festsäle oder Hallen, tatsächlich in einem hohen Maße.
�.�.� Aufführungen von délicatesse bei den Leuchtenbergern. Das Eichstätter Palais Für die genauere Betrachtung eines weiteren Beispiels an Platzierungen der Psyche-Szenen wende ich mich nun dem Süden Deutschlands zu, näherhin dem bayerischen Altmühltal. Einem zentralen Stadtpalais – dem heutigen Landratsamt – im barocken Eichstätt können einige der Psyche-Tableaus zugeordnet werden, die noch aus der Erstauflage von 1815 stammen. Das Gebäude erhielt in der Vergangenheit verschiedene, an den jeweils aktuellen Besitzer angepasste Namen: „Schönbornhof“, nachdem es der Kanoniker Wilhelm Graf von Schönborn 1711 erworben und eine Vierflügelanlage um den Innenhof errichtet hatte, und „Hof Walderdorff“, nachdem Friedrich Nepomuk Graf von Walderdorff (1744–1808, u. a. auch Domkapitular in Eichstätt) es 1770
1053
Siehe Anm. 291 der vorliegenden Arbeit.
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gekauft und teilweise neu ausgestattet hatte.1054 Unter dem Hofbaudirektor Jakob Engel und im Auftrag des Fürstbischofs Johann Martin von Eyb war in der Mitte des 18. Jahrhunderts das neue Residenzgebäude entstanden und schließlich von Gabriel de Gabrieli vollendet worden.1055 Bischof Joseph von Stubenberg (Fürstbischof seit 1790) hatte das Gebäude weiter ausschmücken und das erste Obergeschoss klassizistisch ausstatten lassen.1056 Von besonderer Bedeutung soll im Folgenden sein, dass die Residenz von 1817 bis 1824 Eugène de Beauharnais, dem Herzog von Leuchtenberg, Fürst von Eichstätt, Schwiegersohn des bayerischen Königs Max I. Joseph und Stiefsohn Napoleons, als Wohnsitz diente (und sich dann noch weiterhin, bis 1833, in Besitz der Herzöge von Leuchtenberg befand).1057 Max I. hatte somit enge verwandtschaftliche Beziehungen nach Eichstätt und enge freundschaftliche Beziehungen nach Ellingen, dessen Residenz er Fürst von Wrede übergeben hatte. Das Schloss Ellingen wird im nächsten Teilkapitel genauer betrachtet und dient aufgrund der vielen Bezüge zum Ort Eichstätt hier schon als eine Referenz zum Thema Raumausstattung und Tapete. Unter Eugène bzw. den Leuchtenbergern wurde auch die Eichstätter Residenz mit Empire-Dekoren ausgestattet und im Zuge dessen auch mit zwei Dufour-Tapeten bestückt.1058 Die eine davon ist ein Teilbestand der Psyche-Tapete – wie auch in Ellingen mit sechs Szenen nur zur Hälfte vorhanden, aber nachweislich aus dem Erstdruck von 1815 geordert, wie sich an Zeitungsresten auf der Rückseite der Tapetenbahnen feststellen ließ.1059 Es handelt sich allerdings um andere Szenen als in
1054
Siehe Iris Visosky-Antrack: Materno und Augustin Bossi. Stukkateure
und Ausstatter am Würzburger Hof im Frühklassizismus, München/Berlin: Deutscher Kunstverlag 2000, S. 141. Siehe auch die Domkapiteltafel von 1794 im Diözesanmuseum Eichstätt, auf der Website: http://www.dioezesanmuseum-eichstaett.de/ rundgang/raum-xii/domkapiteltafel-von-1794/ [zuletzt aufgerufen: 15.10.2014]. 1055
Vgl. die Kunstdenkmäler von Bayern (KDB), Mittelfranken – Band 1: Stadt
Eichstätt, hg. von Felix Mader, erschienen in der „Alten Reihe“ im Jahr 1924, S. 522. 1056 1057
Ebd., S. 524. Über die Zeit der Leuchtenberger in Eichstätt siehe: Leo Hintermayr:
Das Fürstentum Eichstätt der Herzöge von Leuchtenberg 1817–1833, München: C.H. Beck 2000. 1058 Bei der zweiten, hier nicht im Fokus stehenden, handelt es sich ebenfalls um eine Grisaille-Tapete von Dufour, die „Fêtes de la Grèce“, entstanden ca. 1818. Offensichtlich sind beide Tapeten während Eugènes Wohnzeit im Eichstätter Palais kurz vor oder in den 1820er Jahren geordert worden. 1059
Mein Dank für Informationen über den Zustand und die Datierung der
Tapetenbahnen und für Literaturhinweise geht an Herrn Karl Zecherle, ehemaliger Mitarbeiter im Landratsamt Eichstätt, der mir auch den Ausdruck einer Festrede zur Rückkehr der Bildtapeten ins Palais/Landratsamt aus dem Jahr 1999 zur Verfügung stellte.
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Ellingen, genauerhin um: Psyche im Bade, Psyche zeigt ihren Schwestern den Schmuck, Psyche will den schlafenden Amor erdolchen, Psyche wird vom Fischer aufgenommen, Psyche bringt Venus den Verjüngungstrank und Psyches Versöhnung mit Venus.1060 [Abb. 112, 113, 114, 70, 71, 72] Da die Tapetenbahnen außerhalb des Residenzgebäudes gefunden und diesem nur durch historische Zusammenhänge zugeordnet worden sind, können sie nicht – wie es in den sonstigen Beispielen meiner Analysen der Fall ist – mit einem spezifischen Raum in Verbindung gebracht werden;1061 sie hängen seit ihrer Restaurierung im Großen Sitzungssaal und wurden zur besseren Haltbarkeit auf Japanpapier neu kaschiert und auf Holzrahmenkonstruktionen angebracht.1062 Auch wenn es daher nicht wie im folgenden Fall von Schloss Ellingen möglich ist, Aussagen zu einer originalen Raumwirkung, Blicklenkung und Wandaufteilung durch die sechs Tapetenszenen zu treffen, so ist doch als erster Anhaltspunkt der kulturhistorische Kontext der Nähe des Königreiches Bayern und insbesondere Max I. (und der Leuchtenberger) zu Napoleon und der Bevorzugung des Empire-Stils und eines französischen Einrichtungsgeschmacks aufschlussreich. Einen zweiten Strang, den es mit einzubeziehen lohnt, bildet das seit der Barockzeit vorgegebene ikonographische Programm, das sich im Treppenhaus, den Stuckierungen und dem großen Deckenfresko „Sturz des Phaeton“ von 1768 – gemalt vom Eichstätter Hofmaler Johann Michael Franz1063 – zeigt, und das in Relation zu den Tapetendekorationen gesetzt werden kann. Darüber hinaus lässt sich noch als dritter Fokus ausmachen, inwiefern sich diese Bezüge mit und um Psyche auch wiederum mit der Funktion einer Behausung von Bischöfen, höchsten kirchlichen Würdeträgern also, zusammendenken lassen.
1060
Die sechs Szenen sind in dem Großen Sitzungssaal heute ihrer nar-
rativen Abfolge nach angebracht, können aber durch die Rahmenkonstruktion prinzipiell umgehängt oder ganz abgenommen werden. 1061 Es ist auch nicht möglich, sicher zu sagen, ob nur die heute vorhandenen Tapetenbahnen unter Eugène de Beauharnais bestellt und geliefert worden sind, oder ob es noch andere Bahnen gab, die aber seitdem bis zur Inventarisierung des Funds durch den Historischen Verein 1923 verloren gegangen sind. Siehe auch das Gutachten zur Restaurierung, „Amor und Psyche. Die Restaurierung einer historischen Bildtapete“, das dem Historischen Verein vorliegt. 1062 Die Restaurierung fand von 1988 bis 1998 im Institut für Buch- und Handschriftenrestaurierung der Bayerischen Staatsbibliothek München statt. Die Tapete gehört dem Historischen Verein in Eichstätt, wurde aber als Dauerleihgabe dem Landkreis überlassen und kann dadurch im Landratsamt präsentiert werden. Siehe auch „Die Erneuerung der ehemaligen Fürstbischöflichen Residenz in Eichstätt 1976/77“, Sammelblatt des Historischen Vereins Eichstätt 70 (1977), S. 135. 1063 Felix Mader, wie Anm. 1055, S. 532f. und Tafel XLIX.
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Abb. 112 Psyche-Tapete im ehem. fürstbischöflichen Palais in Eichstätt, Bayern: Szene 3: Psyche im Bade, auf Holzrahmen. Abb. 113 Psyche-Tapete im ehem. fürstbischöflichen Palais in Eichstätt, Bayern: Szene 4: Psyche zeigt ihren Schwestern den Schmuck, auf Holzrahmen.
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Abb. 114 Psyche-Tapete im ehem. fürstbischöflichen Palais in Eichstätt, Bayern: Szene 5: Psyche entdeckt den schlafenden Amor, auf Holzrahmen.
Für den erstgenannten Anhaltspunkt (die Nähe zu Napoleon) und die zuletzt gestellte Frage ist es zunächst hilfreich, sich die Begriffe bzw. Funktionen des Fürstbischofs und der Säkularisation bewusst zu machen, die für Bayern und für das Beispiel Eichstätt zentral sind, und die auch für Eugène Beauharnais und die Einrichtung seines Wohnsitzes eine wichtige Rolle spielten. Ein Fürstbischof ist ein Bischof vom Rang eines Fürsten, der standesrechtlich einem Reichsfürsten des Heiligen Römischen Reiches gleichgestellt ist. Schon im frühen Mittelalter gab es diese Vereinigung kirchlicher und weltlicher Macht in einer Person. Die Territorien dieser Bischöfe bezeichnet man als Hochstift; dafür ist das Hochstift Eichstätt ein Beispiel.1064 Im Zuge der Reformation und mit ihr einhergehenden Aufstände ging es bis ins frühe 18. Jahrhundert in Eichstätt darum, wieder Ordnung in das (finanziell, aber auch moralisch) zerrüttete Gebiet zu bringen. Um 1800 wurde Bayern nach und nach säkularisiert, was dazu führte, dass der Fürstbischof Joseph Graf von Stubenberg ab 1802 an weltlicher Macht verlor und nunmehr als sog. Apostolischer Administrator in
1064
Karl Röttel: Das Hochstift Eichstätt, Ingolstadt: Verlag Donau Courier 1987.
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Eichstätt weilte.1065 Zudem war Bayern seit dem Bogenhausener Vertrag (1805), mit dem es zum Königreich wurde, stark an das napoleonische Frankreich gebunden1066 und wurde für etwa ein Jahrzehnt stark ‚französiert‘. Beauharnais kann als vehementer Vertreter dieser Art von Geschmackspolitik gelten. Die Residenz Ellingen muss allerdings wohl auch von den Zeitgenossen in den hier betrachteten Jahren nach 1815 als weitaus prächtiger und repräsentativer wahrgenommen worden sein als das Eichstätter Palais, sodass Eugène und seine Frau Auguste Amalie de Beauharnais bei einem Besuch in Ellingen 1818 direkt vor Neid erblassten: „Keine Frage beschäftigte die Herzogin von Leuchtenberg jedenfalls mehr als die nach dem Rang, Status und Ansehen ihrer Familie. Und dies war für sie nicht zuletzt eine Frage der Repräsentation.“1067 Auch wenn sie das Fürstenhaus Wrede wohl nicht sonderlich achteten, gebot es die Höflichkeit und Taktik, dort „vorbei zu schauen“, wie Leo Hintermayr schreibt, und „[d]er Luxus und die Pracht, mit denen sich der Feldmarschall und seine Familie dort in der weitläufigen ehemaligen Deutschordensresidenz umgaben, machten auf die Herzogin von Leuchtenberg einen gehörigen Eindruck. Die Residenz in München war ihrem Urteil zufolge nichts dagegen. Die pompöse Ausstattung des Ellinger Schlosses passte in den Augen der Fürstin von Eichstätt gar nicht zu einem Landsitz.“1068 Vor einem solchen Hintergrund erscheint es geradezu notwendig für Eugène de Beauharnais, seinem ‚bescheidenen‘ Sitz in Eichstätt genügend grandeur zu verleihen, um auf seine herzoglich-fürstliche Macht zu verweisen – auch wenn er sich nur bei gelegentlichen Besuchen wirklich dort aufhielt, denn die meiste Zeit verbrachte er im Schloss Ismaning bei München.1069 Dennoch scheint der Erwerb zweier besonders beliebter und mit ihren prächtigen Architekturfantasien auch glamouröser klassizistischer Bildtapeten aus Frankreich ein geeigneter Akt, die Inneneinrichtung des Eichstätter Palais zu verfeinern und sie narrativ zu gestalten bzw. ihr ein Programm zu geben. Dabei tritt eine Aufteilung der einzeln betonten, geordneten und aufeinander
1065 Alois Knöpfler: „Joseph Graf von Stubenberg“, in: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), Band 36, Leipzig: Duncker & Humblot 1893, S. 705–708. 1066 Siehe auch die Website des „Hauses der Bayerischen Geschichte“ und die entsprechenden Einträge dort: http://www.hdbg.de/polges/pages/kap6a.htm [zuletzt aufgerufen: 10.10.2014]. 1067 Leo Hintermayr: Das Fürstentum Eichstätt, wie Anm. 1057, S. 489. 1068 Ebd. 1069
1821 konnte er dann das von Leo von Klenze gebaute, sehr viel herr-
schaftlichere Palais Leuchtenberg beziehen.
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bezogenen Elemente hervor, der sich zuallererst bereits in den Stuckarbeiten der Bossi-Brüder ausdrückt. Die umfangreichen Stuckierungen, die von Materno Bossi entworfen wurden, lassen sich dank einer Stuckinschrift und der 2000 erschienenen detaillierten Studie von Iris Visosky-Antrack zu den Brüdern Materno und Augustin Bossi auf die Jahre 1781–82 datieren; das bedeutet, dass Materno Bossi sich diesen Arbeiten sehr zeitnah im Anschluss an seine Hauptarbeiten als Hofstuckateur in Würzburg (1776) gewidmet hat. Zudem war der um die Zeit in Eichstätt residierende Graf von Walderdorff auch Domherr in Bamberg und späterhin Würzburg gewesen,1070 sodass sich eine ‚Raum-Zeit-Achse‘ zwischen Würzburg, Bamberg (Wirkungsort Augustin Bossis) und Eichstätt ergibt. Die Stuckierungen schmücken acht Räume der Belétage, die als Wohnund Repräsentationsräume genutzt worden sind, auch wenn leider nicht mehr festgestellt werden kann, welche Funktion genau welchem Raum eigentlich zukam.1071 Dabei ist auch von Interesse, dass Materno Bossi sein Handwerk hauptsächlich von seinem Onkel Antonio Bossi und dem aus Frankreich nach Stuttgart abgewanderten Architekten Philippe de la Guêpières erlernte; zusammen mit Maternos Brüdern Augustin und Ludovico Bossi gilt dieser Kreis als Wegbereiter frühklassizistischen Formenguts in Süddeutschland.1072 Die Innenausstattung des Palais steht also schon seit den 1780er Jahren ganz im Zeichen innovativer Ornament- und Formfindung; beim Stuckwerk Bossis ist „ein Anschluß an den aus Frankreich vermittelten goût grec“ feststellbar und bei den Tapetentableaus unter den Leuchtenbergern ca. 35 Jahre später dann an die von Beauharnais präferierte herrschaftliche Empire-Dekoration.1073 Psyche platzierte sich, so lässt sich mit Bezug zum Dekorprogramm im ganzen Gebäude resümieren, in einem Umfeld, das schon Jahrzehnte zuvor viel Wert auf Repräsentation (im Anschluss an und Wetteifer mit regionalen Bauten), zeitgemäße Innenraumdekoration und einen französischen Stil legte. Ist es nicht auch naheliegend, dass in einer Residenz von Angehörigen des Klerus auch die Erhebung der Seele in höhere Gefilde gezeigt wird? Offensichtlich bot die subtil-erotische Psyche-Tapete, auch wenn – oder gerade weil – sie Psyche nicht im Olymp, sondern in 1070
Iris Visosky-Antrack: Materno und Augustin Bossi, wie Anm. 1054, S. 141.
1071 Ebd., S. 142. 1072 Ebd. 1073
Siehe die Rezension von Michaela Braesel: Iris Ch. Visosky-Antrack:
Materno und Augustin Bossi. Stukkatoren und Ausstatter am Würzburger Hof im Frühklassizismus, in: KUNSTFORM 1 (2000), Nr. 2, auf der Website: http://www.arthistoricum.net/kunstform/rezension/ausgabe/2000/2/5591/cache.off [zuletzt aufgerufen: 30.08.2016].
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weltlichem Luxus zeigt, ein passendes Raumprogramm.1074 Im Kontext des erwähnten Deckenfreskos mit dem „Sturz des Phaeton“ enthält das Gebäude jedoch auch einen deutlichen Hinweis auf die desaströsen Auswirkungen von Überheblichkeit; und der Luxus und Erziehungsweg der jungen Königstochter auf den Tapetentableaus wird, so möchte ich festhalten, gewissermaßen moralisch „vorbereitet“, da die TapetenbetracherInnen durch das Treppenhaus kommend noch von diesem „Sturz“ erfasst gewesen sein mussten. Psyche ist somit ein thematisch und didaktisch ebenso passendes wie innovatives Element in dem Gebäude gewesen, und es schließt außerdem an das Programm des Schlafzimmers von Papst Paul III. in der römischen Engelsburg an, das von Perino del Vaga stammt und bereits im Cinquecento Psyche in der Funktion eines Aufstiegs der Seele zeigt1075 – man wusste sich also in Eichstätt sowohl an der aktuellen Mode und an bürgerlichen Werten als auch an der traditionellen Ikonographie der höchsten kirchlichen Würdenträger zu orientieren und fand mit Psyche eine ideale Figuration für diese zunächst doch sehr unterschiedlich scheinenden Bedürfnisse, (sich) im Gebäude zu repräsentieren.
Der Text der Tapete und ihr Paratext: Die Werbebotschaft der Manufaktur Dufour In einer Werbebroschüre, die Joseph Dufour anlässlich des Erstdrucks seiner Psyche-Tapete im Jahr 1815 herausgegeben hat, findet sich durchgängig eine rhetorische Anknüpfung an antike Formeln und Moralvorstellungen, die nicht nur das Produkt bewerben, sondern gleichzeitig auch zu einer kulturellen Identitätsbildung beitragen. Die antike Erzählung, die in den Tapetenszenen für einen Alltags- und Kommunikationsraum visualisiert wird, sei deshalb so ein geeignetes Sujet, so heißt es im Text, weil es erlaube, „une réunion de beautés“1076 vor Augen zu führen – entsprechend den Vorstellungen idealer Körperlichkeit und auch idealer Umgebungen für diese Körper, wie sie z.B.
1074 Ob die Szene mit Amor im Bett tatsächlich nie angekauft wurde oder einfach verloren gegangen ist, lässt sich leider nicht mehr rekonstruieren. 1075 Bilder aus diesem Bildprogramm in der Engelsburg finden sich bspw. im Text von Elena Parma: „La favola di Amore e Psiche. Interpretata da Perino Del Vaga nel Palazzo di Andrea Doria a Genova e in Castel Sant’Angelo a Roma“, in: Fontes 3 (2000), S. 205–223. 1076
Psyché et Cupidon; Tableaux-Tentures en Papier Peint, La Manufacture
de Joseph Dufour et Cie, Rue de Beauveau No. 10, A Paris, De l’Imprimerie d’Abel Lanoe von 1815. Erstes Blatt der „Introduction“.
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�. Les Amours de Psiché et de Cupidon
Winckelmanns Kunsttheorie und Herders Schrift zur „Plastik“ mit prägten. Dabei sind jedoch nicht etwa ganz im Bereich der Kunst verankerte statueske Figuren, die in ihrer Aussage mehr oder weniger abstrakt bleiben, gemeint: vielmehr wird mit Psyches Lebens- und Liebesweg auch ein Anspruch der emotionalen Teilhabe seitens der BetrachterInnen ver-innenräumlicht. Es wird ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass das „ensemble complet“ die Heldin „toujours intéressante“1077 präsentiere – sie ist als Persönlichkeit und nicht als pure Allegorie oder Symbolfigur des Todes oder eines ‚Zwischenreiches‘ gestaltet. Es geht auch im Unterschied zu anderen bekannten Fresken und Gemälden mit ihr um die Didaktik ihres Lernens und ihrer Disziplinierung bis hin zum in der zwölften Szene so exklamatorisch präsentierten Ehebett. Nur so kann auf eine in Bildformeln und komplexe Verzierungen ‚verpackte‘, jedoch für die sich mit dem Dargestellten in Bezug setzenden Subjekte durchaus anwendbare Moral der Geschichte abgehoben werden, „soit que l’imagination nous associe à son bonheur, soit qu’elle nous fasse gémir sur ses infortunes.“1078 Ein Mit-Empfinden soll also durch die Tapetenbilder ausgelöst werden, ähnlich der Katharsis-Funktion des Theaters. Die im Text der Broschüre folgende genauere Beschreibung der Tapete ist zwischen dem Aspekt des Anpreisens und Verkaufen-Wollens, also einem noch in der Frühphase befindlichen Konsumismus des 19. Jahrhunderts, und den Diskursen des Klassizismus bzw. der Ästhetik der Spätaufklärung anzusiedeln – beide auch in den Mode-Journalen der Zeit um 1800 wie dem JLM zu finden. Nachdem auf die Textvorlagen von Apuleius und La Fontaine eingegangen wurde, erfährt die Leserschaft sodann, dass letzterer leider einen Mangel an „style“ aufweise, während aber die Tapeten „entièrement exempte de ce défaut“ seien, und zwar aufgrund der „pureté du dessin“ und der „sagesse de la composition“, die sich „dans les accessoires“ zeigt und in „l’élégante et belle simplicité des Grecs, qui savaient si bien allier la grâce à la magnificence, en évitant les deux écueils de l’affectation et de la pesanteur.“1079 Zu diesem formalästhetischen Postulat kommt eine zeittypische Geschlechterauffassung hinzu, da die Tapetenarrangements auch speziell konzipiert seien, „cette délicatesse de goût“ zu befriedigen, die ein „don naturel“ der Frauen sei.1080 Hier sind wir im Material der Tapete und ihres Begleittextes also wieder auf der Diskursebene angekommen, die mit und von den Medizinphilosophen und Physiologen des späten 18. Jahrhunderts schon so überaus folgenreich für die Geschlechterdif-
1077 Ebd. 1078 Ebd. 1079 Ebd., Introduction, S. iij. 1080 Ebd., S. iv.
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Tapezierte Liebes — Reisen
ferenzierungen geprägt worden war. Während der männliche Körper nach den ‚Gesetzen der Natur‘ als aktiv und von Lebenskraft gesteuert imaginiert wurde, war es in Abhebung davon und komplementärer Ergänzung dazu üblich, dem weiblichen Körper eine passive Geschmeidigkeit, eben die besagte délicatesse des Körpers und Ausdrucks zuzuordnen.1081 Entsprechend ist die Psyche auf der Tapete fast schon übersteigert weich, zart, mit fließenden Stoffen und in anlehnungsbedürftigen bis hin zu untertänigen Posen dargestellt und wird zusätzlich – wie die Detailanalysen der Szenen zeigen konnten – zu einer Figuration des Mütterlich-Fruchtbaren schlechthin. Gerade die Verbindung dieses weichen weiblichen und des aktiveren männlichen Prinzips bringt in der Idealvorstellung ein Kind als ‚Ergebnis‘ zur Welt, das bei Amor und Psyche ein Ergebnis des Genusses und der Lust (Wollust) ist – „donnant naissance à la Volupté“.1082 Diese steht in der Broschüre substantiviert und an einer exponierten Stelle. Die Volupté wirkt einerseits vielleicht überraschend – ist sie doch in der christlichen Vorstellungswelt noch eine der großen Todsünden –, doch als ein Konzept, das nun zum Garanten einer erfolgreichen Ehe wird, wenn es nur nicht eine als schicklich wahrgenommene Grenze sprengt, wird sie andererseits nach 1800 umcodiert und geradezu ein Muss zur Komplettierung der bürgerlichen Kernfamilie. Psyches Eleganz und ihre Verkörperung (Ver-Sinn-Bildlichung) der délicatesse in den Tapetentableaus fügt sich auch entsprechend gut in die ‚französierte‘ und Ornament-orientierte Residenz der Fürstbischöfe. Sie wird so auch Teil der kreierten Fantasiewelt eines antikisierten, geordneten und nach neuestem Geschmack gestalteten Innenraums, der einem wechelnden größeren Kreis an BesucherInnen zugänglich war, ohne dass sie dabei eine Übertretung seiner Grenzen, die sich für eine klerikale Umgebung nicht gehören würde, wagt. Auch wenn mit den Psyche-Tapetenräumen im Eisenacher Kartausgarten, im Kurort Bad Doberan und im fürstbischöflichen Palais in Eichstätt drei durchaus sehr unterschiedliche Beziehungsnetze der tapezierten Heldin mit den RaumnutzerInnen (interagierenden Subjekten) analysiert worden sind, so konnten doch Didaktiken und Wissens-Werte ausgelotet werden, die all diese Räume gemeinsam haben. Dies gilt auch für die letzte näher zu betrachtende Tapeten-Raum-Konstellation dieses Kapitels.
1081
Vgl. zur délicatesse näherhin das vorliegende Kapitel 4.5.2, sowie auch
die Szenenanalysen von Psyche, in denen immer wieder auf die Formung von Psyches Körper abgehoben wird. 1082 Introduction, S. vj. Vgl. auch: Katharina Eck: „Donnant Naissance à la Volupté“, wie Anm. 303.
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�. Les Amours de Psiché et de Cupidon
�.�.� Psyche in sechsfacher Hängung: Schloss Ellingen und die Gesamtinszenierung eines theatrum domus et socialitatis Psyche und das Gute Regiment In der schon erwähnten Residenz im fränkischen Ellingen nahe Nürnberg, die (kultur-)geschichtlich viele Gemeinsamkeiten mit dem Eichstätter Palais aufweist, befindet sich ein Saal mit ebenfalls sechs Szenen der Psyche-Tapete. Die Anbringung dieser Szenen ist deshalb in besonderem Maße interessant, da sie zum einen nicht im Geringsten der narrativen Abfolge der Geschichte folgt – was auch für Bad Doberan gilt – und sich dadurch besondere Raumwirkungen ergeben, und zum anderen die Szenen wie einzeln gehängte Gemälde präsentiert sind und diese Illusion sogar durch imitierte Hängevorrichtungen samt Haken an der Wand perfektioniert erscheint. [Abb. 116–119] Das Schloss hatte bis 1789 dem Deutschen Orden gehört, bis schließlich die Selbständigkeit der Ballei Franken mit ihrer Residenz Ellingen aufgelöst wurde und bereits in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts preußische Truppen die Kommende besetzt hatten – wie schon die ebenfalls an Preußen gefallene Markgrafschaft Ansbach. Ab 1806, nach französischer Besatzung, war Ellingen schließlich Eigentum Bayerns.1083 Im Jahre 1815 übergab König Max I. von Bayern es dem bayerischen Feldmarschall Carl Philipp Fürst von Wrede als eine besondere Auszeichnung, denn ohne dessen militärische Erfolge wäre „der Aufstieg Bayerns zum Königreich kaum denkbar“ gewesen.1084 Fürst von Wrede hatte eine besondere Verbindung zum Königreich Bayern und auch zu Max I., die in dem Geschenk der Residenz und deren prunkvoller Ausstattung sichtbar ist: Insbesondere der im Arbeitszimmer im ersten Obergeschoss neben der Bibliothek befindliche geschnitzte und mit Mahagoni furnierte Erdglobus, den Max I. seinerseits geschenkt bekommen hatte, und den er dem geschätzten Fürsten überließ, kann dafür als Beispiel dienen.1085 Darüber hinaus demonstrieren die französischen Einrichtungselemente des Spätklassizismus, die von Wrede hat anschaffen lassen und die zum Teil original erhalten sind, einen französischen Geschmack wie auch im Eichstätter Palais, der sich in Ellingen sehr
1083
Alle historischen Angaben zur Residenz Ellingen siehe: Bayerische
Verwaltung der Staatlichen Schlösser, Gärten und Seen (Hg.): Residenz Ellingen. Amtlicher Führer, bearbeitet von Christoph Graf Pfeil, München 2005. Hier S. 36. Im Folgenden: Amtl. Führer. 1084 Amtl. Führer, S. 37. 1085 Siehe die Beschreibung des Globus: Amtl. Führer, S. 119.
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Tapezierte Liebes — Reisen
ein-drücklich1086 in mehreren Räumen und eben auch dem Psyche-Saal umgesetzt findet. Von Wrede war, wie auch Eugène de Beauharnais, von Napoleon, der ihn 1806 zum französischen Reichsgrafen ernannt hatte,1087 und von dem französischen Empire-Stil sehr geprägt. Das ‚Bayerische‘ und das ‚Französische‘ sollten im Schloss Ellingen jeweils ihre Würdigung finden.1088 Zur Baugeschichte der Residenz lässt sich zwar viel sagen, doch soll unter Berücksichtigung der hier im Fokus stehenden Inneneinrichtung zur Zeit von Wredes erst der Umbau aus der Zeitspanne 1718–1720 nach Plänen von Franz Keller und unter der Bauherrschaft von Karl Heinrich Freiherr von Hornstein1089 genauer betrachtet werden, bzw. die Raumanordnungen des Haupttraktes und insbesondere des Mittelrisalites und seiner unmittelbaren Umgebung. Die Architektur des Komplexes insgesamt beruht auf einer mittelalterlichen Wasserburg des 13. Jahrhunderts, die später zu einer barocken Vierflügelanlage ausgebaut wurde.1090 Die Raumaufteilung des eigentlichen Schlosskomplexes aus dem 18. Jahrhundert gliedert sich in den Mitteltrakt und die Ost- und Westflügel, sowie der dem Mitteltrakt gegenüber liegenden Schlosskirche und eine Reithalle am nordwestlichen Ende. Aus Fürst von Wredes Zeit stammen die sehr gut erhaltenen klassizistischen Innenausstattungen, u.a. zwei Tapeten in Grisaille, etliche Flocktapeten, Seidentapeten und Empiremöbel. Von Wrede ließ seinen neuen Wohnsitz in den Jahren 1815–1818 von dem Pariser Dekorateur Jean Jacques Werner möblieren und auch die Wände neu bespannen.1091 Aus dieser Zeit stammt auch die Psyche-Tapete. Das verschachtelte und reich verzierte Barock-Treppenhaus, über das sich das hier im Mittelpunkt stehende zweite Obergeschoss erreichen lässt, wurde nach Plänen Franz Kellers 1719/20 erbaut und ein Jahr darauf mit Stuckierungen von Joseph Roth verziert.1092 Hier dominiert das Thema der mythologischen Paarungen und vor allem des Raubs bzw. der Entführung und Verfügbarmachung, das dann auch mit der Psyche-Geschichte im Raum neben dem Festsaal wieder aufgegriffen bzw. aufgerufen wird.1093 1086
Das Wort Eindruck meint hier auch sehr wörtlich, dass sich Bilder
dieses Geschmacks in die Wände der klassizistischen Räume eingedrückt oder gedruckt zu haben scheinen, teilweise auch ein-gerückt sind in dafür geschaffene Felder. 1087 Amtl. Führer, S. 37. 1088
Die Nachkommen von Wredes verkauften die Residenz im Jahr 1939
schließlich zurück an Bayern. Siehe Amtl. Führer, S. 5. 1089 Ebd., S. 59. 1090 Ebd., S. 14. 1091 Ebd., S. 38. 1092 Ebd., S. 65. 1093
Der Trompe l’œil-Effekt, dem man auch in den einzelnen Räumen
immer wieder begegnet, zeichnet sich bereits in diesem Treppenhaus ab: Siehe
460
�. Les Amours de Psiché et de Cupidon
Das zweite Obergeschoss dient in diesem architektonischen Gefüge als Béletage; die hier vorhandenen Fürstenzimmer waren „im 18. Jahrhundert für Empfänge und als Gästeappartement“1094 gedacht und entsprechend besonders repräsentativ und oft besucht. Den architektonischen und ideellen Mittelpunkt bildet der Festsaal, von dem mehrere Kabinette und Gobelinzimmer ausgehen. Durch den Festsaal gelangt man auch direkt in das „Psychezimmer“ respektive Vorzimmer des Fürsten.1095 Doch zunächst lohnt ein genauerer Blick in den Festsaal: Er öffnet sich mit einer Dreifenstergruppe auf den Balkon und ist also auch von außen sofort als zentrales Element des Hauses auszumachen.1096 Interessant an der Struktur des Innenraums sind die klaren, hellen Wandfelder, die Fürst von Wrede ab ca. 1815 durch gelben und weißen Stuckmarmor unterteilte. Sie wechseln sich mit gerade hochstrebenden Pilastern – im unteren Vollgeschoss kanneliert und mit ionischen Kapitellen versehen –, Fenstern, ebenfalls stuckierten Lambris, Spiegeln und Flügeltüren ab, die allesamt Variationen rechteckiger (und wieder in sich gespiegelter) Felder sind, ohne dass die Gesamtkomposition unruhig wirken würde. Was die Einrichtungsgegenstände betrifft, lässt sich festhalten, dass man hier die oben erwähnte Zusammenstellung bayerischen und französischen Kunsthandwerks finden kann: neben dem großen Kronleuchter (1815) und den Feuerhunden aus vergoldeter Bronze (1815) aus Frankreich sind zwei Standleuchter aus einer Glasmanufaktur aus dem Bayerischen Wald (Theresienthal, um 1840) und sechs Bänke aus der Münchener Residenz vorhanden.1097 Besondere Innenausstattungsmerkmale sind aber zum einen die an den Schmalseiten befindlichen Musikemporen und zum anderen das Deckenfresko von Johann Anton Pinck mit dem Thema des Guten Regiments. Letzteres wird
ebd., S. 65: „Die überschlanken […] Hermenpilaster und die mit Spitzbogengurten gerahmten Stichkappen machen zusammen mit dem eleganten Gitterwerk der Dekoration die Wölbung zeltartig leicht und luftig; die Decke öffnet sich mit einem Fresko scheinbar in den freien Himmelsraum“. Die antike Mythologie bestimmt das ikonographische Programm: Das Deckenfresko von Johann Anton Pinck (1721) zeigt den Kampf der Götter gegen die Titanen, und an der Fensterseite befinden sich zwei Reliefs mit dem Raub der Proserpina durch Pluto auf der linken und der Entführung Alkestes aus der Unterwelt durch Hermes auf der rechten Seite. Die Tür zum Festsaal auf der gegenüberliegenden Seite des Flures wird von zwei Reliefs flankiert, die linker Hand Apollo und Daphne und rechter Hand Boreas’ Raub der Oreithyia zeigen. Ebd., S. 65f. 1094 Ebd., S. 72. 1095
Dem Festsaal sind auf der westlichen Seite drei kleinere Räume als
Vorzimmer zugeordnet, die zusätzlich für eine Einordnung des Psychezimmers in das Gesamtdekorationsprogramm etwas näher betrachtet werden müssen. 1096 Ebd., S. 84. 1097
Ebd., S. 88.
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Tapezierte Liebes — Reisen
Supraporte Tür
Fenster
he sc ni
Szene 8
Szene 9
n fe O
Abb. 115 Grundriss des „Psychezimmers“ im Schloss Ellingen mit Anordnung der Tapetenszenen.
Szene 1
Supraporte Tür
Fenster
Spiegel & Blumenoval
Szene 7
fe n O
Szene 11
ni sc he
Szene 10
Tür Supraporte
in seiner militärisch-staatspolitischen Thematik noch von den Ovalgemälden Pincks unter den Emporen gestützt, die sich auf Alexander den Großen und im übertragenen Sinne die auch vom Deutschorden unterstützten Türkenkriege beziehen.1098 Zusammen mit den von Putten gerafften Vorhängen des Stuck-Baldachins ergibt sich eine Lesart, die Krieg und Politik als theatro mundi vorführt und auch die BesucherInnen mitten darin verortet. Die Aufführung der Psyche-Geschichte nebenan wird dabei – ebenfalls im Beziehungsgeflecht mit den mit ihr interagierenden BesucherInnen – zum theatrum domus et socialitatis. Wie ich schon zuvor als ein Ergebnis der Herausarbeitung der dritten Analyseachse für Bildtapetenräume festhalten konnte, bringt dieses theatrum domus et socialitatis die Verschiebung auf den Punkt, die sich hier im repräsentativen zweiten Geschoss der Ellinger Residenz vollzieht: An die Stelle der allegorischen Didaktik, die den Festsaal bestimmt und das Wohnhaus somit
1098 Ebd.
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�. Les Amours de Psiché et de Cupidon
an prominenter Stelle im Raumgefüge mit staatspolitischen (und v.a. auch militärischen) Diskursen vernetzt, tritt mit dem Psychezimmer eine neue Geselligkeits- und Familiendidaktik, die durch die Figur der Psyche und ihre (Selbst-)Erfahrungsreise mehr aufgeführt als repräsentiert wird. Das Psychezimmer erfüllt die Funktion eines östlich vom Festsaal gelegenen Vorzimmers. Wie in Eichstätt alle, die den Raum betraten, unter dem Eindruck des „Sturz des Phaeton“ im Treppenhaus standen, so lässt sich für die Ellinger Residenz eine ähnliche Verknüpfung von Wegen durch das Haus und deren Vermittlungsleistung feststellen: Die Moral einer ‚offiziellen Maßhaltung‘, die das Thema des Guten Regiments im Festsaal anklingen lässt, wird mit der Psyche-Thematik auf anderer Ebene – der Maßhaltung im Liebesleben – fortgeführt, sodass man hier mit biopolitischen (Bild-)Argumenten beim ‚Guten Selbst-Regiment‘ verbleibt. Wie ist das Zimmer nun konkret strukturiert bzw. Psyche wiederum platziert? Es weist ein Lambris, einen Fußboden und etwas später hinzu gekommenen Ofen im Rokokodekor auf, die aus der ursprünglichen Ausstattung um 1720 bis in die 1750er Jahre stammen; die Stuckierung mit dem Konsolgesims und den Blumenkörben sowie die als Supraporten gemalten Blumenstücke im klassizistischen Schuppenfries und das ovale Pfeilerbild mit Blumen stammen aus der Periode ab 1773, als die Ausstattung nach Entwürfen von Michel d’Ixnard erneuert bzw. ergänzt wurde.1099 Die Tapete selbst – die ja gerade nicht als Tapete, sondern als eine Art Set von Gemälde-Imitationen behandelt wird – fungiert als Ersatz der ursprünglichen Wandbespannung und bildet eine zweite Schicht über der Grundierung einer grünlich geflockten, allerdings ungemusterten Tapete. Die Grundfläche wird von breiten rot-gelben Bordüren gerahmt, während die Psyche-Szenen erneut gerahmt und mit papiernen Aufhängungen zusätzlich als eigenständige Bilder gezeigt werden. Im Uhrzeigersinn liest man, ausgehend von dem ovalen Pfeilerbild zwischen den Fenstern, folgende sechs Szenen: Psyche steigt in die Unterwelt hinab (9), Psyche bringt Venus den Verjüngungstrank (8), Psyche und ihre Eltern befragen das Orakel (1), Psyche wird vom Fischer aufgenommen (7), die Versöhnung Psyches mit Venus (11) und Psyche kehrt aus der Unterwelt zurück (10). [Abb. 115] Der vier Wände des Raumes stehen wieder – wie dies in anderen klassizistisch-symmetrisch gestalteten Bildtapetenräumen schon analysiert wurde – in starker Korrespondenz zueinander. Die Tapetentableaus sind hier innerhalb der Psyche-Thematik, die den Raum als Ganzes betimmt, nochmals thematisch angeordnet, wie die von mir angefertigte Skizze verdeutlicht:
1099
Ebd., S. 88f.
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Tapezierte Liebes — Reisen
Die Fensterwand, die ja als einzige die ‚Durchlässigkeit‘ in die andere Welt draußen markiert und das Licht des Tages ggfs. hereinlässt, präsentiert passenderweise Psyches Eintritt in die und Rückkehr aus der Unterwelt (Szene 9 und 10), die beide von den Fenstern in ihrer Mitte und einer Tür, die jeweils um die Ecke herum folgt, flankiert werden und so in der Raumstruktur des Psychezimmers den Ein- und Ausgang respektive das Betreten und Verlassen anderer Welten [Thema 1] nochmals stark betonen. [Abb. 116 und 117] Die beiden Wände des Zimmers, die jeweils nur eine Szene präsentieren, und die mit ihrer Tür den Durchgang ost- und westwärts in der Enfilade garantieren, stellen die ‚Familienzusammenführung‘ respektive die beiden offiziellen Zusammentreffen von Venus und Psyche gegenüber (Szene 8 und 11) [Thema 2]. [Abb. 118 und 119] Wie um die einem Familienbund zugeordnete Gemütlichkeit und Sicherheit wiederum in der Raumstruktur zu veranschaulichen, folgen auf die Venus-Szenen zur Innenwand hin jeweils Ofennischen – gilt doch die Feuerstelle als der Ort im Wohnhaus, der buchstäblich Wärme ausstrahlt und wo die Familie ‚unter sich‘ sein kann. Als eine dritte Themenpaarung in diesem Sechs-Szenen-Gefüge möchte ich die Eltern-Kind-Szenerien an der Innenwand ausmachen: Von der dritten Tür dieses Zimmers getrennt, und wiederum zwischen die Ofennischen gehängt, befindet sich das junge Mädchen erst bei den Eltern, die im Begriff sind es weg zu geben, und dann beim Fischer und den beiden Schäferinnen (Szene 1 und 7), also jeweils in ‚Übergangsstadien‘ des Familienlebens und Erzogen-Werdens, bevor es seinen Bestimmungsort an Amors Seite erreicht – bzw. verdient hat [Thema 3]. Es wird hier also entgegen einem ersten Eindruck von beliebiger Anordnung der Szenen eine Felderung und Zuordnung vorgenommen, die sich auf den Ebenen der einzelnen Wand, des Zimmers und, wie gleich im Anschluss noch zu argumentieren sein wird, auch des Gesamtgebäudes finden lässt.
Felder(ungen) des Wissens und der Bildung in den beiden Obergeschossen Das direkt an den Festsaal anschließende „Englische Zimmer“ enthält ebenfalls eine Ausstattung aus der Zeit um 1720, näherhin die Stuckaturen, den Fußboden und die Türstöcke und Vertäfelungen.1100 Die wie schon im Treppenhaus von Franz Joseph Roth ausgeführten Deckenstuckaturen zeigen Pluto und Cerberus, wobei damit nicht nur auf die Funktion des Vorzimmers
1100
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Ebd., S. 79.
�. Les Amours de Psiché et de Cupidon
Abb. 116 Psyche-Tapete im mittelfränkischen Schloss Ellingen, Ansicht von Szene 9. Abb. 117 Psyche-Tapete im mittelfränkischen Schloss Ellingen, Ansicht von Szene 10.
verwiesen wird, sondern auch ein inhaltlicher Zusammenhang mit dem Tapeten-Tableau, auf dem Psyche in die Unterwelt steigt, besteht (Szene 9). In diesem Vorzimmer zeigen sich enge Bezüge zu den anderen Räumen, wie sich auch motivische, materiale und formale Gemeinsamkeiten des Psychezimmers mit dem Innenraumdekor des gesamten Schlosses ergeben. Die konkret im Englischen Zimmer vorhandenen Bezüge zum Psychezimmer sind auf motivischer Ebene die genannte Unterwelt im Zusammenhang mit mythologischen Figuren und auf formaler Ebene die Wandeinteilung in mehrere Flächen – die ja auch im Festsaal durch stuckierte Farbflächen und deren Rahmung mit Pilastern, Friesen und Lambris erfolgte. Hier befinden sich mehrere die Wandfläche strukturierende Grafiken (Kupferstiche und Radierungen) in vergoldeten klassizistischen Rahmen und ebenfalls kostbare Vertäfelungen und Spiegel. Es ergeben sich dadurch Vierecke: Felder bzw. Module, welche die Wandfläche zerlegen, ordnen und kleinteilig halten, ohne sie jedoch optisch uneinheitlich werden zu lassen, was v.a. die immer wiederkehrenden Dekore und Rahmungen leisten. Der Übergang von einem beschwingten Rokoko-Dekor zum strengeren Klassizismus in seiner Rationalisierung und Simplifizierung der Ornamente, wie ihn Peter Werner in den 1970ern beschrieb, hat sich hier in jedem einzelnen Zimmer und im Gesamtprogramm niedergeschlagen:
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Abb. 118 Psyche-Tapete im mittelfränkischen Schloss Ellingen, Ansicht von Szene 8.
„Der Wandaufriss und auch der Formenschatz des Rokoko werden zwar beibehalten, aber im Sinne der geforderten Vereinfachung simplifiziert und ihrer kategorialen Durchdringungen beraubt. Die Gerade ersetzt nun die Kursivierungen, rechtwinklige Brechungen treten an die Stelle der nahtlosen Übergänge, der Schwung der Rocaille erlahmt in ornamentalen Verzopfungen, antikisierende Trophäen und Medaillons sollen die zeitgemäße Geisteshaltung versinnbildlichen.“1101 Im Zeitraum 1800–1850 ist das Dekor zwar „verräumlicht, hängt aber nach wie vor isoliert vor dem Grund“, sodass „die Unabhängigkeit von Dekoration und Wand“ bestehen bleibt;1102 und auch mit den klassizistischen Bildtapeten, die hier sogar wie Gemälde behandelt und über ihre mediale Spezifik hinaus wieder umcodiert werden zu einem anderen, traditionellen Bildmedium, sind die einzelnen Wände und der jeweilige Raum sehr betont und gehen nicht in einem großen illusionistischen Raum auf. Dennoch eröffnen die Bilder auf den Tapetenbahnen durch illusionistische Architekturen und Tiefenraumstrukturen wiederum auch neue Räume, in die man sich beim Betrachten hinein imaginieren kann, ohne allerdings hinein gesogen zu werden und das Gefühl für die Aufeinanderfolge der realen Räume zu verlieren. Die Gesamtraumkonstellation im Schloss ist wie bereits beschrieben sehr wichtig und ordnet das kleine Psychezimmer wahrnehmbar in ein begehbares Programm ein.
1101
Peter Werner: Pompeji und die Wanddekoration der Goethezeit, München:
Fink 1970, S. 104. 1102 Ebd., S. 122.
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�. Les Amours de Psiché et de Cupidon
Abb. 119 Psyche-Tapete im mittelfränkischen Schloss Ellingen, Ansicht von Szene 11.
Was den materialen Aspekt betrifft, ist die Psyche-Tapeten-‚Galerie‘ kein Einzelfall von papierner Dekoration, sondern wird zusammen mit etlichen weiteren Tapeten im Schloss verräumlicht.1103 Die Korrespondenzen im Hinblick auf das Material bzw. die Gattung der Ausstattungsobjekte sind also offensichtlich, und ein Objekt scheint immer wieder ein anderes zu imitieren – die Tapeten die Draperien und Bemalung, die Bespannungen die Tapeten, die Bemalungen wieder ihrerseits die Tapeten etc. Ein Blick in das dem Englischen Zimmer vorgeschaltete Audienzzimmer bestätigt auch wieder die augenfälligen Korrespondenzen: Der Raub der Proserpina durch Pluto an der Decke greift erneut das Entführungs-Motiv auf, zwei Grafiken im vergoldeten klassizistischen Rahmen und eine bedruckte Tapete mit Rapport-Motiv, die im Gegensatz zur Psyche-Tapete schon im Rollendruck entstanden ist und somit um 1830 datiert werden kann, setzen die Reihe der formalen und materialen Korrespondenzen weiter fort.1104 Das Prinzip der Felderung und Wiederholung findet sich
1103
So gibt es eine weitere (einfarbige) Flocktapete mit grüner Bordüre
(Bibliothek), eine rote Flocktapete (Durchgangskabinett), eine Maureskentapete (Audienzzimmer), eine Don Quijote-Tapete von Dufour (Don-Quijote-Zimmer), eine Tapete mit Veloursstreifen (chinesisches Kabinett) und zudem noch eine florale Papiertapete (Schlafzimmer des Feldmarschalls). 1104 Amtl. Führer, S. 73.
467
Tapezierte Liebes — Reisen
zudem auch noch in dem angrenzenden Intarsienkabinett, das zusätzlich zu dem festgestellten Wandeinteilungs-Programm eine Einteilung des hochwertigen Edelholz-Bodens in einzelne figural verzierte Abschnitte nebst ebenfalls verziertem Lambris erkennen lässt. Ein weiteres Merkmal des Bodens ist die Darstellung der vier Elemente Luft, Erde, Wasser und Feuer durch Frauenfiguren und weiterhin Allegorien der sieben Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Klugheit und Mäßigung, ebenfalls durch weibliche Figuren. Beide ‚Felder‘ der Elemente und der Tugenden, die schon in den vorigen Kapiteln herausgearbeitet werden konnten, kehren somit – ebenso wie Geschlechter-Zuordnungen – in der Ikonographie Ellingens wieder. Die einzelnen Sujets der Räume, wie die Erdteile aus dem Ersten Gobelinzimmer und die Vier Elemente und Sieben Tugenden aus dem Intarsienkabinett, sowie auch die immer wiederkehrenden Schlachtenmotive und mit der Geschichte des Deutschen Ordens verschränkten Ornamente und Objekte,1105 ergeben zusammen mit den Psyche-Tableaus eine Art Zusammenschau des (kategorisierbaren) Wissens bzw. der Bildung in Formen und Materialien der Inneneinrichtung. Auch das Hauptthema des Speisesaals,1106 der sich im ersten Obergeschoss direkt unter dem Festsaal befindet – welcher gerade mit seinen Musikemporen und Stuck-Vorhängen das (Sich-)Aufführen in eine Verbindung mit dem Guten Regiment bringt –, ist die Sichtbarmachung geographischen und historischen Wissens. Hier sind „Fluss- und Ruinenlandschaften“1107, von einer ausladenden und äußerst detailreich gestalteten Scheinarchitektur gerahmt, zu sehen. Zudem befindet sich im ersten Obergeschoss unter dem Psychezimmer angeordnet eine Bibliothek samt Durchgangskabinett. Von Wrede hat hier auf dem Untergrund einer grünen Flocktapete wandhohe Bücherschränke mit Glastüren so arrangiert, dass die Schränke (und die Buchrücken darin) auch eine Unterteilung der Wand vornehmen – durch buchstäbliche „Felder des Wissens“. Diese Einrichtung kam allerdings erst ab 1830 zustande.1108 Im Arbeitszimmer daneben wird das Thema von Wissen und Gelehrsamkeit durch Puttenszenen in (sehr plastischer) Grisaillemalerei auf Supraporten fortgeführt. Wie in Kapitel 4.3 einleitend zu Telemachs (Bildungs-)Reise herausgearbeitet wurde, ist der Begriff der Erfahrung hier zentral, jedoch als ein 1105
Im Rahmen der auf Bildtapeten-Anordnungen und hier speziell auf Psy-
che zielenden Argumentation ist es nicht möglich, auf die vielen Einzelräume und -kabinette der Residenz näher einzugehen bzw. diese detaillierter zu analysieren. 1106
Der Speisesaal ist nach 1786 in klassizistischer Art ausgemalt worden,
wobei der Künstler unbekannt ist; es kommen evtl. der Eichstätter Hofmaler Michael Franz oder der Donauwörther Joseph Leitrath in Frage. Vgl. Amtl. Führer, S. 113. 1107 1108
468
Ebd., S. 113. Ebd., S. 114f.
�. Les Amours de Psiché et de Cupidon
Erfahrungs- und Begreifensprozess, der alle Ergebnisse „geordnet verwahren läßt“1109 – eben auch in Bibliotheken, bzw. genau zugewiesenen Plätzen an der Wand und im Raum, letztlich also: im Wohnen. Das „geordnete Denksystem“ sorgt dafür, dass die Neugier und das Streben nach neuen Besitztümern – materiellen wie geistigen – nicht ‚ins Leere‘ läuft, sondern eine Platzzuweisung erhält. Auch Psyches Reise zu sich selbst erscheint hier vorselektiert, angepasst und in einen Rahmen gehängt, zusätzlich eingeordnet in ein Zurschaustellen aktuellster Wohn-‚Mode‘ bzw. -materialität. Es kann also zusammenfassend festgehalten werden, dass das Psychezimmer nicht isoliert, sondern als Teil eines Programms der Inszenierung und Aufführung von Wissen und Bildung – auch als Markierung machtpolitischer Positionierungen und Ansprüche –betrachtet werden muss. Die sechs Stationen der jungen Königstocher heften sich hier entsprechend wie eine Helden- oder Ahnengalerie des niederen Adels an die Wand. Psyches Bildungs- und Liebesweg ist in diesem Einrichtungskontext bereits gemäldewürdig, seine Form der Tapezierung schon historisch geworden, sodass er spielerisch mit den anderen Motiven und Dekoren im Schloss inszeniert werden kann. Die Schaffung von Wissens-Räumen und einer dem Alltag gewissermaßen enthobenen Sphäre, die zwischen Raum, Tapetenbildern und BetrachterInnen politisch-gesellschaftlich produktiv wird, hat dieses Psyche-Zimmer mit denen in Eisenach, Bad Doberan und Eichstätt gemeinsam. Als Figur(ation) einer schönen und tugendhaften Seele soll Dufours Psyche-Serie nun, im Anschluss an die Beschäftigung mit diesen vier beispielhaften Tapezierungen, noch weiter vertiefend im Kontext des Liebes- und Partnerschaftsdiskurses der Aufklärung und Empfindsamkeit betrachtet werden.
1109
Attilio Brilli: Als Reisen eine Kunst war, wie Anm. 624, S. 20.
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�.� , Subjekte‘derLiebe,„VerhältnisderHerzen“:Codierung(en)vonLiebeundPartnerschaft und deren Sichtbarkeiten Die Modellierungen einer „Tugendseele“ – Die schöne Seele als Regulativ Das Beispiel von Psyche und in den Einzeltableaus zu sehen gegebenen Körperhaltungen zeigt sehr eindrücklich, dass das weibliche Geschlecht mit der Aufklärungsphilosophie und dem ‚Boom‘ der empfindsamen Literaturproduktion immer stärker als ein philosophisch-moralisches Konstrukt der ‚schönen Seele‘ angelegt war. Die Körperhaltungen und Gesten sowie auch der Gesichtsausdruck der in allen Szenen sehr detailliert geformten Psyche-Figur bringen genau die demütig-zurückhaltende weibliche Erscheinung in das Interieur, die auch in Dufours Werbebroschüre geradezu konzeptuell gefordert wird und die dem weiblichen Geschlecht – zumal der unverheirateten jungen Frau – permanent anempfohlen und zugeordnet wurde: „Anmut und Schönheit […] wurden als Ausdruck des weiblichen Geschlechtscharakters begriffen.“1110 Überdies wurden diese Eigenschaften durch die unterschiedlichsten Medien und didaktischen Beispiele als die ‚natürlichen‘ Eigenschaften von Frauen schlechthin (re-) produziert, sodass jedes andere Verhalten1111 nur noch als eine negativ zu bewertende Abweichung aufgefasst wurde. Sodann wurden natürliche Haltungen dem aufstrebenden Bürgertum und unnatürlich-abweichende Haltungen dem mehr und mehr in Misskredit geratenen (Hoch-)Adel zugeordnet. Ellen Spickernagel leitet ihre Untersuchung „Zur Anmut erzogen“ mit dem Beispiel der Rousseau’schen Sophie aus dem „Émile“ ein, die als (äußerlich) „nicht schön“ beschrieben wird, weil dies auch nicht als notwendige Eigenschaft eingeschätzt wurde, denn sie konnte vor allem und ausschließlich deshalb zu einem auf ihn (!) abgestimmten Idealtyp an Weiblichkeit werden, „weil sich ihr zartes inneres Leben unmittelbar […] in anmutsvoller Mimik und Gestik äußerte und dadurch Emil anzog und seinerseits verfeinerte.“1112 Der Stellenwert der sich zum Wohle der Gesellschaft ver-äußernden Innerlichkeit – auch als scheinbar authentisches Fühlen, das sich von rituali-
1110 1111
Ellen Spickernagel: „Zur Anmut erzogen“, wie Anm. 65, hier S. 305. Es geht hierbei stets um Gesten und Haltungen und den gesellschaft-
lichen Auftritt, und nicht etwa einen davon getrennt zu behandelnden Phänotyp von Gesichtszügen und Körperteilen allein. 1112 Ellen Spickernagel, wie ebd.
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siert-verklausulierten Beziehungsstrukturen in Adelshäusern unterscheiden sollte – wurde bereits im Zusammenhang mit Telemach und der Vergesellschaftung im Zeichen empathischen Liebens als Sich-in-den-Anderen-Hineinversetzen (Reziprozität) thematisiert. Am Beispiel der Psyche-Figur (und auch der Emil-Sophie-Konstellation bei Rousseau) lässt sich nun besonders gut die Verschiebung des Anstoßes und der Verantwortlichkeit für das Gelingen eines solchen Liebeskonzeptes auf die weibliche Seite nachvollziehen. Rousseaus Sophie hatte ihrerseits nicht nur diesem Ideal zu genügen, sondern damit natürlicherweise auch Emil wiederum zu „verfeinern“.1113 Ganz ähnlich lenkt auch Psyche mit ihrem aufopfernd-produktiven Umgang mit den auferlegten Prüfungen und ihrem als Liebesbeweis gewendeten Verhalten wiederum Amor in die richtige Bahn von einer Sichtbarmachung der Liebe bis hin zu ihrer Legitimation in der Form der Ehe. Der körperliche Ausdruck ist nun (nur noch) eine – allerdings notwendige – Zeigeform der schönen ergo tugendhaften inneren Haltung, die eine früher übliche Körperzurichtung ad absurdum führen sollte. Es gilt als einsichtig, dass „Reifrock, Corsett, Perücke und Schminke bewirkten, dass der weibliche Körper weder sich selbst, noch die ihn bewegenden inneren Kräfte herzeigen konnte“,1114 ja, dass diesem Körper solcherlei Kräfte vielleicht sogar ganz fehlten. Zusammenfassend gesagt ist das Weibliche um 1800 gleichzeitig solchen Vorstellungen unterworfen – kann als subiectum dieses Diskurses also nicht ‚frei‘ über sich verfügen – und als Material dieses Diskurses omnipräsent. In der Kunst und im Kunsthandwerk findet es vielfältig Niederschlag, jedoch paradoxerweise eben nur als „ein Moment des Literarischen […] nur in der Fiktion, als Ergebnis des Phantasierens, des Imaginierens, als Thema ist es üppig und vielfältig präsentiert worden […]. Die Geschichte der Bilder, der Entwürfe, der metaphorischen Ausstattungen des Weiblichen ist ebenso materialreich, wie die Geschichte der realen Frauen arm an überlieferten Fakten ist.“1115
1113
Das fünfte Buch des „Emil“ ist auch vollständig der „Erziehung der
Frau“ gewidmet: Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung, hg. von Ludwig Schmidts, Paderborn: Schöningh 1978. Das einleitende Motto zum vorliegenden Kapitel von Rousseau, das mit einem zweiten von Albrecht Koschorke kombiniert ist, stammt ebenfalls aus diesem fünften Buch des „Emil“ (dort auf S. 396) und verdeutlicht sehr gut, wie das Vergeichsmoment von antikem Griechenland, Sittsamkeit und Schönheit bei Rousseau konstruiert und in die Erziehung eines Mädchens integriert wird. 1114 Ellen Spickernagel: „Zur Anmut erzogen“, wie Anm. 65, S. 305. 1115
Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit, wie Anm. 65, S. 11.
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In dieses „Weiblichkeitspanoptikum“,1116 diesen Reigen von grazilen und unschuldshaften, oftmals antikisierten Frauenbildern, fügen sich die Tapetenszenen nicht nur idealtypisch ein, vielmehr befinden wir uns darüber hinaus mit den textuellen Vorlagen von Apuleius und La Fontaine und den Visualisierungen Blondels, Lafittes und Dufours auch vollständig in einem diskursiven System des Mannes und des auf das dominante männliche Geschlecht ausgerichteten Denkens und Tuns. Das Weibliche ist von Anfang an und bis ins Detail das Material dieses Diskurses bzw. wird „[…] in diesem Denken mit Natur analogisiert: es wird zum Rohstoff der männlichen Phantasien und zum Objekt der materiellen Ausnutzung.“1117 Die Psyche-Figur auf der Tapete stellt gewissermaßen einen Höhepunkt dieser Tendenzen dar; sie wird entführt, ausgesetzt, auf die Probe gestellt und zu einem schön geformten Fluchtpunkt an Gehorsams- und Treuevorstellungen, denen sie schließlich auch Genüge tut, um sich am Ende mit Amor zu einer Ganzheit zusammenfügen zu können – auf Wolken schwebend wiederum herausgehoben aus der profanen Alltagsumgebung, in die sie sich doch auch Szene für Szene einfügt. Ähnlich den großen empfindsamen weiblichen Romanfiguren wird auch sie zur „Galionsfigur empfindsamer Tugend“,1118 und ihr stufenweise erworbener „idealisierte[r] gesellschaftliche[r] Status […] dient als Basis für die projektiven, auf Einheit gerichteten Imaginationen“, die in den Einzeltableaus der Tapete ins Bild und auch wieder neu in Gang gesetzt wurden. In einem Ausspruch Goethes gipfelt die Vorstellung vom Weiblichen in dem Sinnbild des „einzige[n] Gefäß[es], was uns Neueren noch geblieben ist, um unsere Idealität hineinzugießen“.1119 Diese Codierungen weiblicher Subjekte – in ihrem konstruierten Gegensatz zu männlichen – finden, wie zahlreiche Beispiele bisher zeigen konnten, durch ihre Aufführung im Alltag in und mit Bildtapeten nochmals eine erhöhte Sichtbarkeit. In der Rollenverteilung der Geschlechter und ihrem vorgeblichen Charakter kommt Frauen die Rolle einer korrigierenden, ausgleichenden, regulierenden Instanz in Bezug auf die sie dahingehend wiederum formenden und imaginierenden Männer zu. Als Tugendseele könnten sie dies gar nicht leisten, wären sie nicht permanent in ein Zweisamkeit-Bezugssystem hinein projiziert, das sicherstellt, dass ihr regulierendes Wirken auf das andere Geschlecht ausgerichtet ist und nicht etwa ziellos bzw. unbemerkt ‚verpufft‘. Umgekehrt
1116 1117 1118
Ebd., S. 69. Ebd., S. 37f. Ebd., S. 159.
1119
Ebd., zitiert aus der Korrespondenz Goethes mit Eckermann vom
5.7.1827, S. 38.
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reguliert männliches Denken und Äußern auch diese weiblichen Auftritte, insbesondere in der gerade bezüglich Geschlechterfragen sehr dichotomisch ausgerichteten pädagogischen Schule der Philanthropen: „Besonders bei Basedow bilden Naivität, Grazie und Anmut die Schlüsselbegriffe, die das Denken, das Körper-, Sprach-, Schreib- und Sozialverhalten von Frauen regulieren sollen: ‚Außer einer anmutigen Haltung, die des Mädchens innere Reinheit auch äußerlich zur Schau stellt, muss dem weiblichen Wesen, so Basedow, eine feine und sanfte Stimme eignen […] dass man bei ihnen die Gewohnheit verhüte, sich stärker zu bewegen als es jedesmal der Zweck erfodert […] derartige Qualitäten kennzeichnen den gesunden Frauenkörper, der Mutter- und Eheglück verspricht.‘“1120 Die Affekte, denen einerseits das Weibliche zugeordnet wird, sodass Frauen auf den Gefühlsbereich bezogen zum Maßstab werden konnten (während aber im intellektuellen Bereich fast ausschließlich Männer dominierten), sind andererseits, wie auch das obige Zitat verdeutlicht, nur in einer zurückhaltend-sanften Modellierung zulässig, damit sie in ein „Eheglück“ führen können. Diese Konstellation findet sich im künstlerischen bzw. literarischen Umfeld sehr häufig. Neben der Rousseau’schen Sophie in Bezug auf Emil wären da v.a. Sophie von La Roche in Bezug auf den sie und ihr Schreiben protegierenden Wieland sowie auch Herder in Bezug auf ‚seine Psyche‘ Caroline Flachsland, oder auch der ebenfalls dem Darmstädter Kreis zugewandte Klopstock, der seine Frau Margareta (Meta) nach der Lektüre des Richardson-Romans Clarissa zu Clärchen machte, zu nennen. Fiktion bzw. fiktive Charaktere werden hier bewusst mit der gelebten Realität verbunden zu einer Gefühlskultur, die trotz des spielerischen Umgangs miteinander sehr ernst gemeint ist, was die Rollen der Geschlechter und ihre Ordnung betrifft. Gerade die „Sophienimago“, die aus der realen Person Sophie von La Roche einen „allgemeinen sozialen Kulturtyp“ macht,1121 wie es ähnlich auch mit der Psyche-Figur geschieht, wird äußerst wirkmächtig für die und mit der Codierung von Liebe und Partnerschaft um 1800. Die „Tugendseele“ entwickelt sich dabei als „das moralphilosophisch-religiöse Konzept einer sich im Leiden vervollkommnenden Tugend. Unglück, Selbstüberwindung, Gelassenheit und schöne Resignation […] sind so notwendige Accessoires […] 1120
Gudrun Loster-Schneider: Sophie La Roche. Paradoxien weiblichen Schrei-
bens im 18. Jahrhundert, Tübingen: Gunter Narr Verlag 1995, S. 189. 1121 Ebd., S. 226.
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einer ‚übenden Tugend‘ und ‚bonne femme‘.“1122 Das Sich-Üben in der Tugend ist besonders wichtig, es geschieht auch mit und durch die hochliterarischen Rollenspiele und anhand von paradigmatischen Figuren wie Rousseaus Julie aus „Die neue Héloise“. Diese legt ein künstliches Elysium an als eine „symbolische Operation“, mit der sie in die Natur eingreift, um sie zu verbessern und sie „noch paradiesischer als die erste, rohe Natur“ erscheinen zu lassen, denn „nur diese wiedererzeugte Ursprünglichkeit besitzt jene Unschuld, die das Wesen des rousseauistischen Naturzustands ausmacht.“1123 Hier korrespondieren paradiesische Natur und weibliche Unschuld miteinander, und so gestaltet sich das gesellschaftliche Erwartungsbild an weibliches Erscheinen, Handeln und Wirken. Psyche ist keineswegs eine Schiller’sche ‚klassische‘ schöne Seele, da sie mit ihrer Reise, wie einleitend zu den exemplarischen Analysen in Kapitel 5.3 schon festgehalten wurde, „einen geschlechtsspezifischen rite de passage“ durchlebt“1124 und sich daher – in den Tapetentableaus entsprechend zum Nachvollzug im Raum modelliert – erst noch entwickelt und dadurch zu einem Idealbild werden kann anstatt es in abstracto schon zu sein. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen sei nochmals ein Blick auf die Kombination von Psyches Haltungen, der Narration ihres Tugendwegs und des Settings dafür in der Tapete geworfen.
Doppelte Repräsentativität: Bilder eines Idealbildes auf einer Interieur-Bühne. Weitere Arbeit mit und an der Dritten Analyse-Achse Wie gezeigt werden konnte, wird die Frau um 1800 als ergänzender Part eines Mannes, der in dieser Ganzheit zu ‚ihrem‘ Mann wird und sie zu ‚seiner‘ Frau macht, imaginiert. Diese Frau ist als „Tugendseele“ für die Einlösung moralisch-ethischer Standards zuständig und soll dies am besten ohne Kalkül respektive völlig unreflektiert – da natürlicherweise dafür geschaffen – tun. Dieses Bild repräsentiert eine Vorstellung von Weiblichkeit, die im Denken und Handeln der Subjekte (oder Akteure) wie selbstverständlich verankert ist, und fließt nun in die Modellierung von Frauenfiguren in Kunst und Kunsthandwerk ein. Es findet sich besonders plastisch verkörpert in der Tapeten-Psyche: Auf einer zweiten Ebene von Repräsentativität im und durch den mit ihr geformten Beziehungsraum kann sie so verbildlichen, verkörpern und aufführen, was auf 1122
474
Ebd., S. 228.
1123
Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, wie Anm. 61, S. 434.
1124
Ebd., S. 43.
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der beschriebenen ersten Ebene bereits gesellschaftlich imaginiert und als unumstößliches Faktum behandelt wurde. Anders als in Landschaftstapeten wie Telemach, kommt ihrer Körperhaltung, ihrer Mimik und Führung der Hände sowie Neigung des Kopfes auf dieser doppelten Repräsentativitätsebene besondere Bedeutung zu, wenn sie in einem an die Zeit des frühen 19. Jahrhunderts angepassten Bild-Stück für den Innenraum nicht nur Psyche, sondern zugleich eine junge Frau auf dem Weg der Tugend und in eine für sie vorgesehene gesellschaftlich produktive (verwertbare, kontrollierbare) Rolle darstellt. Ilsebill Barta spricht mit Blick auf die mannigfaltig „disziplinierte[n] Körper“1125 von einer „Zurichtung des Bürgers in seinen privaten und geselligen Tätigkeiten“,1126 und wie ausführlich belegt werden konnte, sind diese beiden Arten von Tätigkeiten komplex miteinander verzahnt und heben letztlich immer wieder auf die Geselligkeit als Ganzes ab. Der Kommentar zu Daniel Chodowieckis Stichen für den Göttinger Taschenkalender 1779/80 von Georg Christoph Lichtenberg – „Der Fortgang der Tugend und des Lasters“ – setzt sich mit der v.a. seit Johann Caspar Lavater in den bürgerlich-aufgeklärten Kreisen beliebten Physiognomie auseinander, die mal mehr und mal weniger wissenschaftlich betrieben wurde und „dem Bedürfnis nach bürgerlicher Standortbestimmung“1127 entsprach. Zwar beleuchtet Lichtenberg diese Mode, feststehende Charakterzüge an Gesichtern ablesen zu wollen, sehr kritisch und sieht die Gefahr, Kausalitäten zu übersehen und unnötig Vorurteilen Vorschub zu leisten, anstatt sich wirklich mit dem menschlichen Erscheinungsbild und seinen Ursachen und Beziehungen auseinanderzusetzen, ist aber dennoch fest im Wertesystem dessen, was als tugendhaft und als lasterhaft einzuordnen ist, verankert. Zudem ist seine Kritk religiös motiviert und warnt vor überheblichen ‚Schnellschüssen‘ im Urteil dessen, was der Mensch von sich aus nur begrenzt verstehen kann, wenn er seine Leserschaft auffordert: „[a]lso du, der du glaubst die Seele schaffe ihren Körper, horche auch du auf das, was sie dir auf einem andern Weg, als dem ihres Geschöpfs offenbart: halte den für weise, der weise handelt, und den für rechtschaffen, der Rechtschaffenheit übt, und laß dich nicht durch Unregelmäßigkeit in der Oberfläche irren, die in einen Plan gehören, den du nicht übersiehst […].“1128
1125
Ilsebill Barta: „Der disziplinierte Körper“, in: Dies.: Frauen Bilder. Män-
ner Mythen, wie Anm. 65, S. 84–106. 1126 Ebd., S. 84. 1127 Ebd., S. 86. 1128 Georg Christoph Lichtenberg: Der Fortgang der Tugend und des Lasters. Erklärungen zu Daniel Chodowieckis Monatskupfer zum Göttinger Taschenkalender 1778, Frankfurt am Main: Insel 1986.
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Unabhängig von der Frage danach, was woran genau ablesbar sein könnte oder nicht, bleibt jedoch bei Lavater, bei Lichtenberg und bei dem von diesem geschätzten Chodowiecki der grundsätzliche Tenor, dass eine breitenwirksame Erziehung zu tugendhaftem Verhalten nowendig sei und durch diese auch „jegliche Körpersprache aneigenbar und formbar war, je früher desto besser.“1129 Insbesondere ein Blick auf die Stichfolge Chodowieckis „Natürliche und affectierte Handlungen des Lebens“ – ebenfalls für den Göttinger Taschenkalender – zeigt das Bemühen um ein neues bürgerliches Selbstverständnis, in dem Körperlichkeit (also auch kleine Gesten und Haltungen), moralische und auf die Gesamtentwicklung der Gesellschaft gerichtete Ansprüche sowie Zuordnungen an die Geschlechter und deren Funktionieren miteinander als Theorie und in der täglichen Praxis in einer Denkfigur des Tugendhaften miteinander verschmelzen. Auf der dritten Analyseachse für Bildtapetenräume, der Theatralität des Alltags und Bühne der Gesellschaft, wurden die Bildtapetenräume bereits als Wissensräume, in denen inmitten und in Bezug auf die Tapetenbilder ein Sich-Aufführen stattfindet, charakterisiert. Wenn „der Körper […] gleichsam das Theater der Seele“ war bzw. dazu diskursiviert wurde, und die „Eigenschaften der Seele […] durch den Körper repräsentiert werden“ sollten,1130 so repräsentiert Psyches Körpermodellierung und ihre Setzung als Idealfigur in den zwölf Tableaus wiederum diese Vorstellungen einer Aufführung der Seele, genauerhin der Tugendseele. Die ‚Seele‘ muss hier allerdings als eine Art Knotenpunkt idealisierter Charaktereigenschaften verstanden werden, die bereits sozial codiert und keineswegs allen sozialen Beziehungen vorgängig sind. Die Bühne ist dann der von den Tapetentableaus und von Subjekten gemeinsam bespielte Innenraum. Interessant ist bei dieser Verknüpfung von Physiognomie, Bild-Erziehung und Tugendhaftigkeit auch noch einmal, welche Titel Chodowieckis Kupferstiche begleiten: Die eröffneten Themen wie Unterricht(en), Naturerfahrung und Unterredung gehören zu dem bevorzugten Feld bürgerlicher Selbsterfahrung und Vergesellschaftung, das auch in Psyche visualisiert ist und das die Rahmenbedingungen des (geschlechtercodierten) Tugendhandelns markiert. In der „Unterredung“ zeigt sich, wie stark „die Freiheit des Individuums in freier Natur suggerier[t]“ werden soll, während das Paar „schon durch die Schule der Disziplinierung und der bürgerlichen Moral“ gegangen ist,1131 und auch der scheinbare Gegensatz von Natur versus Afectation konstruiert eine Moral eines dem (imaginierten) antiken Griechenland nachempfundenen aufrichti1129 Ilsebill Barta: „Der disziplinierte Körper“, wie Anm. 1125, S. 86. 1130 Ebd. 1131 Ebd., S. 88.
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gen und einander zugewandten Spazierens als Gegensatz zu einem pompösen, ausladenden Posieren mit allzu theatralischer Wirkung, das dem adeligen Paar zugeordnet wird. In vielen Stichen wird durch die Mäßigung der Körperhaltungen auch Distanz zwischen den Paaren mit vermittelt, während sich aber das Begehren zwischen den Geschlechtern subtil auf andere Bildelemente verlagert: Beim „Gruß“ ist dies im Schattenwurf auffällig, denn obwohl sich die beiden Figuren nicht anschauen, fließt der Schatten des Herrn regelrecht in die Frauenfigur hinein. Anders beim adeligen Paar: Hier steht der direkte Körperkontakt der einander entgegen strebenden Oberkörper im Fokus. Chodowiecki hat „ideale Leitbilder und normative Entwürfe weiblichen und männlichen bürgerlichen Verhaltens“1132 vermittelt, und diese sind sehr an Schillers Vorstellungen von „Anmut und Würde“ und an antiken Idealtypen orientiert.1133 Im Gegensatz zu dem, was Lichtenberg ‚seinem‘ „Seelen-Zeichner Chodowiecki“1134 zuschreibt – eine Art Ist-Zustand an Stelle Winckelmann’scher Idealität eines vergangenen Griechenlands zu verzeichnen,1135 – sind viele Bilder Chodowieckis dennoch sehr nahe an antiken Idealen und an statuesker ‚Begradigung‘ des Körpers. Auch hier ist der Kult um das historisch in Distanz gerückte und damit aber geradezu verklärte Schöne der Einfachheit sehr präsent – und es findet sich auch beispielsweise im Niedersetzen der Telemach-Tapeten-Grazien auf der Mammia-Bank und in der Galerie der Schönheiten, in die sich die Ellinger Psyche-Bilder einreihen, wieder: in dem umcodierten antiken Rundgrab und in dem musealen Arrangement im Schloss, jeweils im Innenraum und einem neuen Kontext der Bewunderung durch Interieur-SpaziergängerInnen überlassen. Im Grab, im Museum, im Modus der Verehrung, im Tempel der Musen: In jedem Fall ist Schönheit und ihre Aktualisierung in den Tapetenbildern nach antikisierten Images geformt. Nicht zu vergessen, dass eine statueske Modellierung wie bei Psyche auch wiederum eine spezifische Art zu sehen impliziert, respektive „den bürgerlichen Blick auf den nackten Körper codier[t]“.1136 Hier ist man nun auf einer allgemeineren Analyse-Ebene, und alle in Kapitel 5 vorgestellten Bildtapeten-Räume einbeziehend, wieder beim Display angelangt: Es wird in der Bildtapete nicht ein klar abgrenzbarer Begriff von einer ihn ‚direkt‘ (eins-zu-eins) repräsentierenden Bildfigur transportiert, etwa ‚die Seele‘ in einer
1132
Ebd., S 101.
1133
Julia Bobsin stellt in Von der Werther-Krise zur Lucinde-Liebe sogar fest:
„Vereint stellen Anmut und Würde das Ideal der Menschheit dar“, wie Anm. 381, S. 152. 1134 Georg Christoph Lichtenberg: Der Fortgang der Tugend und des Lasters, wie Anm. 1128, S. 10. 1135 Ebd., S. 66f. 1136
Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, wie Anm. 61, S. 146.
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sich als Seele schlechthin zeigenden Psyche-Figur, sodass man von einem Modell X als für den Inhalt Y stehend sprechen könnte, und diese Konfiguration ‚nur‘ noch als Modell ‚X für Y‘ decodiert werden müsste. Der von Nierhaus fruchtbar gemachte Display-Begriff ist eher geeignet, die unterschiedlichen und nicht klar trennbaren Ebenen des Zu-Zeigen-Gebens und Weiterproduzierens von Inhalten zusammenzudenken – gerade, da es auch mehr um Inhaltsgefüge als Einzelinhalte geht, wie das Beispiel der Tugendseele und ihrer Verkoppelung mit dem weiblichen Geschlecht in pluralen texuellen, bildlichen und imaginierten Formen bis hin zur Psyche-Tapete zeigt. Ihre Verarbeitung als (serielles) Bild und Raumdekoration stellt Images von ‚Seele‘ und Weiblichkeit ‚on display‘, und damit auch wiederum die Art und Weise des „cultural investment“1137 in sie. Mit dem Aspekt eines „situative[n]“ Kon- und Defigurieren[s]“1138 vermittelt das Display als Zu-Sehen-gebende Anordnung schließlich auch Anteile der Gesamtaussage performativ, d.h. die letztere formt sich erst mit den mitspielenden Subjekten im Raum. Dadurch werden Machtstrukturen sichtbar: wer sagt wo was über wen, auf welche Art und Weise. Während sich dies in dem in Gang gesetzten Prozess spielerisch ergibt, darf nichtsdestotrotz die ernste Wirkung nicht unterschätzt werden, was durch den Begriff ‚Wirkmächtigkeit‘ gut erfasst werden kann. Die Verbindung von Display und Macht haben auch Jennifer John, Dorothee Richter und Sigrid Schade besonders betont: „Die Art und Weise, wie etwas präsentiert wird, ist selbst von Herrschaftsdiskursen durchzogen.“1139 Wenn nun auch der (bürgerliche) Blick (auf die Tapete, auf Psyche, ihren Weg an der Wand, im räumlich wirkmächtigen Display) weder naiv noch unvoreingenommen ist, sondern vielfach geformt, so wird er umso mehr umcodiert im Modus der Wahrnehmungslenkung des Displays vor Ort und in dessen Aufgabenformulierung an die Betrachtersubjekte. Hier ist auf den Anteil des Play im Dis-Play zu achten: Die Etymologie des Wortes (lat. dis-plicare) verweist auf ein Entwickeln bzw. Offenlegen, und das altenglische plegan oder auch holländische pleyen als „spielen“1140 und „sich amüsieren“ bekommt mit dem
1137
Vgl. die Anm. 35 der vorliegenden Arbeit.
1138
Vgl. die Definition von Irene Nierhaus, Anm. 208 der vorliegenden
Arbeit. 1139 Hier bezogen auf das Ausstellungsdisplay, das allerdings, wenn man Wohnen als ein Sich-Ausstellen versteht, auch für das Display im Wohnraum gilt: Jennifer John, Dorothee Richter und Sigrid Schade: „Das Ausstellungsdisplay als bedeutungsstiftendes Element. Eine Einleitung“, in: Dies. (Hgg.).: Re-Visionen des Displays. Ausstellungs-Szenarien, ihre Lektüren und ihr Publikum, Zürich: jrp ringier 2008, S. 17–24, hier S. 20. 1140
Vgl. auch die Ausführungen von Irene Nierhaus zum Spielerischen,
darin aber höchst Machtvollen des Dis-plays am Beispiel von Stadtplänen Roms,
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deutschen pflegen bzw. dem dänischen pleie in der Bedeutung des „Sich-Sorgens“ und „Sich-Kümmerns“ noch weitere Ebenen zugeordnet, die das Display als einen Hybrid aus Spaß, Aufführung, Vermittlung und (affektiver) Anteilnahme verstehbar machen, und als ein erst an der Schnittstelle der mit ihm aktiv interagierenden Subjekte funktionstüchtiges – und mächtiges – Gefüge.
Die schöne Seele kommt heim: Weiblicher Charakter, Vernünftige Emotionalität und Eheverbund – Liebe per Vertrag Die Bildanalysen der Psyche-Tapete haben gezeigt, wie stark Psyches weibliche Rundungen hervorgehoben werden, und darüber hinaus ist den mit ihrer Geschichte vertrauten Betrachtersubjekten klar, dass sie zum Zeitpunkt des Entdeckens des schlafenden Amors bereits schwanger ist und später in der legitimierten Verbindung des Ehepaares das Kind Voluptas zur Welt bringen wird. Die besonders betonten Brüste naturalisieren dabei die Rolle der jungen Frau als (zukünftige) Mutter: „Die weibliche Brust ist […] Teil der lebensspendenden Natur. Die Beziehung zwischen Mutter und Kind beschwört einen vorgesellschaftlichen Zustand, den Mythos des Paradieses, und stellt die einstige Harmonie zwischen Mensch und Natur als Modell für die künftige bürgerliche Gesellschaft vor Augen.“1141 Dabei ist eben diese ‚Natur‘ des weiblichen Körperbaus durch Dufours Manufaktur sorgfältig und mit dem Ziel dieser Wirkung modelliert und tritt im Gesamtzusammenhang der ganzen Bildfolge nicht nur wie eine mit einem fühlenden Blick1142 betastbare Statue, sondern fast wie ein auf seine Umwelt genau abgestimmtes Gebäude hervor. Diese Präsentationsform des menschlichen Körpers war in den philosophisch-ästhetischen Schriften sehr beliebt, „Herder stellt ihn
wenn davon die Rede ist, die entfaltete Grundfläche sei jeweils auch „ein Display der Monumente und Entleerung zugunsten einer im Totalen angelegten neuen Anordnungsmacht“, und der Plan Le Corbusiers Die Lehren Roms von 1922 zeige „ein[en] Baukasten mit Spielbrett und Spielregeln, dessen Spiel erst außerhalb der umrahmten Stadt beginnen kann“, in: Nierhaus, wie Anm. 208, S. 24. 1141 Ellen Spickernagel: „Vom Aufbau des großen Unterschieds. Der weibliche und männliche Körper und seine symbolischen Formen“, in: Frauen Bilder. Männer Mythen, wie Anm. 65, S. 107–114, hier S. 109. 1142 Siehe den Diskurs um Herders „Plastik“-Begriff.
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uns wie eine Architektur vor Augen […].“1143 In seiner Schrift „Plastik“ ist der weibliche Körper entsprechend als weich und elastisch imaginiert – nachgebend wie der als aufopfernd markierte Charakter von Psyche – und weicht deutlich vom männlichen Idealtypus ab. Der weibliche Körper kann vom Betrachterauge nachgeformt und so imaginativ in Besitz genommen werden. Mit dem kollektiven Wunschbild einer erstens auf Tugend gründenden ‚Natur‘ des Weiblichen und zweitens einer von dieser beförderten gemäßigten, sanften und dennoch nachhaltigen Korrekturwirkung auf den männlichen Gegenpart korrespondierte wiederum ein selbstreguliertes System der Ehe. Auch in diesem Image von Ehe wird die Frau in Besitz genommen; allerdings mehr noch von den dieser Partnerschaftsvereinbarung unterlegten Verhaltenscodes als vom realen Partner selbst. Diese Codes ergänzen sich zu einem Meta-Code von ‚Liebe‘, die sich in einer gesellschaftlich anerkannten Form ausschließlich im und als Ehebund ausdrücken durfte bzw. auf eine Ehe zulaufen musste. Die Verkopplung von ‚Liebe‘ und ‚Ehe‘ als einer quasi-geschlossenen und dem Bereich des ‚Privaten‘ zugeordneten Lebensform ist allerdings ein neues und zu feudalen Zeiten weitgehend unbekanntes Phänomen. Niklas Luhmann hat sich dieser gesellschaftspolitisch hochbedeutsamen Entwicklung in dem Buch „Liebe als Passion“ angenähert, laut seiner Analysen „[…] wird die Ehe zu dem modellhaften Ort, an dem sich Geschlechtslust in Neigung, ungerichtete Passion in individualisierte Empfindung, Wechselhaftigkeit in sich selbst erneuernde Dauer, Trieb in Sittlichkeit auflösen lassen.“1144 Um auf Dauer ‚funktionieren‘ zu können – und wie Luhmann betont, bedarf der zeitliche Aspekt in einer auf Beständigkeit angelegten Ehe der besonderen Aufmerksamkeit,1145 – ist es strukturell unabdingbar, an Stelle einer kurzfristig enstehenden und potenziell wieder schnell nachlassenden Leidenschaft eine permanente freundschaftliche Beziehungsebene zu fördern. Diese wird dann zum Garanten einer ‚tiefen‘ und sich lebenslang tragenden Liebe diskursiviert. Die Idee einer Freundschaftsliebe entstand im empfindsamen England des 18. Jahrhunderts und konnte sich – allerdings erst langsam über mehrere Jahrzehnte hinweg bis in das 19. Jahrhundert – in ganz Europa, v.a. Deutschland und Frankreich, durchsetzen. „For the English middle and upper classes in the middle of the eigteenth century, Mrs Hester Chapone summed up the prevailing opinion about the ideal relationship between husband and wife: […] ‚I believe it […] absolutely
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1143
Ellen Spickernagel: wie ebd., S. 110.
1144
Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, wie Anm. 61, S. 22.
1145
Niklas Luhmann: Liebe als Passion, wie Anm. 73, S. 126.
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necessary to conjugal happiness that the husband have such an opinion of his wife’s understanding, principles and integrity of heart as would induce him to exalt her to rank of his first and dearest friend.‘“1146 Dass dieser Prozess der Codierung und Aufführung (im Alltag) von Liebe auch von Frauen als wünschenswert propagiert wurde, zeigt beispielsweise eine Passage aus Mary Wollstonecrafts auf Gleichberechtigung abhebender „Vindication of the Rights of Woman“ von 1792: „[…] after marriage, calmly let passion subside into friendship.“1147 Damit wurde aber auch der Begriff von ‚Vernunft‘, der seit der Aufklärung zum Ordnungsfaktor aller Bereiche der Gesellschaft schlechthin avancierte, umcodiert in Richtung einer vernünftigen Emotionalität, die sich als noch bindender für die ‚Liebenden’ erweisen sollte als alle Gesetzesregeln. Ein Riss in diesem Schema der Emotionalität konnte demnach sogleich eine ganze Familienexistenz in Frage stellen, die auf den Fundamenten dieses Emotionalitätscodes und der sich mit und an ihm orientierenden „Geschlechtscharaktere“1148 beruhte. Zudem wurde der Ausschluss von Frauen aus dem öffentlichen Leben stärker befördert, indem „die Ehe nicht mehr durch gemeinsame Wirtschaft, sondern durch Liebe konstituiert gedacht wird, und die gegenseitige Ergänzung der Ehegatten weniger an der Ergänzung der Arbeitsfunktionen als an den Kommunikations- und Verhaltensweisen festgemacht wird […].“1149 So wurden Frauen aus ihrer ehemals mit-arbeitenden Position abgedrängt zu Tugendbotschafterinnen, die ihre Männer passiv unterstützten, deren Arbeit im häuslichen Bereich nicht als ökonomisch bedeutsam galt und die damit weiter ihren eigenen Ausschluss aus der Öffentlichkeit vorantrieben. Wenn es also „um die Institutionalisierung und Juridifizierung des Eheverhältnisses im Rahmen allgemeiner bürgerlicher Normensysteme“ ging, war diesen Gesetzen eingeschrieben, auch „den inferioren Status der Frauen […] neu zu legitimieren.“1150
1146 Carol Duncan: „Happy Mothers and Other New Ideas in French Art“, Art Bulletin 55, 4 (1973), S. 327. 1147 Ebd., S. 284. 1148 Siehe Karin Hausen: „Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“, wie Anm. 65, auf S. 363: „Geschlechtscharakter, dieser heute in Vergessenheit geratene Begriff bildete sich im 18. Jahrhundert heraus und wurde im 19. Jahrhundert allgemein dazu verwandt, die mit den physiologischen korrespondierend gedachten psychologischen Geschlechtsmerkmale zu bezeichnen.“ 1149 Ebd., S. 391f. 1150 Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit, wie Anm. 65, S. 145.
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Sowohl im französischen Code civil, dem ‚Gründungsbuch‘ dieses neuen und mit ihm auf gesetzliche Grundlage gestellten Eheverständnisses (auch als Code Napoléon bekannt), als auch den vielen an ihm ausgerichteten nationalen Gesetzeswerken um 1800 ging es darum, mit der Institution der Ehe auch diesen Geschlechtsunterschied und das resultierende Machtungleichgewicht zu festigen. „Als bürgerliches Gesetzbuch verwirklicht [der Code civil] im Bereich der bürgerlichen Gesellschaft, was das staatliche Gemeinwesen fordert, nämlich die Frauen an der Erlangung bestimmter häuslicher und öffentlicher Befugnisse zu hindern, die den Staatsbürger überhaupt erst hervorbringen und Voraussetzung für das demokratische Subjekt sind.“1151 Die Zweierbeziehung, um die es eigentlich ganz ‚privat‘ geht, verfestigt sich auch als juristischer Diskurs, „insofern sie für Gesellschaft und Staat relevant ist, also in der Form der Ehe.“1152 Die Ordnungs- und Disziplinierungsfunktion, die ihr deshalb, zuallererst auf das (geschlechtliche) Individuum und darüber hinaus auf die Gesamtgesellschaft bezogen, zukommt, betont auch schon das „Handbuch des Teutschen Eherechts“ von 1789 und macht die Vertragsbasis der so in allgemeinen Grundsätzen ausgehandelten Liebesehe deutlich: „Es bedarf keines Beweises, was für ein wichtiger Gegenstand die Ehe und die dabey vorkommenden Verhältnisse für die Gesetzgebung sind, und wie Unrecht der Staat handelt, der nicht darauf seine vorzügliche Aufmerksamkeit richtet, eine Gesellschaft zu ordnen […].“1153 Der biopolitische Ansatz tritt auch im Privatrecht, dem deutschen Code civil, um 1791 stark hervor, und in der Rechts- und zum guten Teil Populärphilosophie wird argumentiert, Frauen sollten keine öffentlichen Ämter bekleiden und in Bezug auf ihre Güter nicht voll rechtsfähig sein aufgrund „der körperlichen Beschaffenheit, und in der Hauptbestimmung, Kinder zur Welt zu bringen, und ihnen die erste Nahrung und Erziehung zu geben […].“1154 Kinder zu erziehen wird für ein Ehepaar als der „Zweck ihres Lebens“ beschrieben,
1151
Geneviève Fraisse: Geschlecht und Moderne. Archäologien der Gleichbe-
rechtigung, Frankfurt am Main: Fischer 1998, S. 80. 1152
Julia Bobsin: Von der Werther-Krise zur Lucinde-Liebe, wie Anm. 381, S. 26.
1153
Nach Johann Andreas Hofmann, „Handbuch des Teutschen Eherechts
nach den allgmeinen Grundsätzen des teutschen Rechts sowohl als der besondern Landes- Stadt- und Orts-Rechte“ (Jena 1789), in Julia Bobsin, wie ebd., S. 28. 1154 Julia Bobsin, wie ebd., S. 29.
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�. Les Amours de Psiché et de Cupidon
wobei für die Erziehung „wiederum eine Dauer der dieselbe beabsichtigenden gesellschaftlichen Verbindung wenigstens so lange, bis dieser Zweck erreicht ist“ vorausgesetzt wird.1155 Im Zusammenhang mit Telemach wurde auch die Rolle der Hygieniker schon hervorgehoben; für Hufeland beispielsweise ist der Ehestand „das einzige Mittel, um dem Geschlechtstrieb Ordnung und Bestimmung zu geben.“1156 Bei ihm wird auch die weibliche Rolle wieder ganz klar als die den Mann veredelnde, also zu seiner Perfektionierung existierende, herausgestellt: „Die Verantwortung für Frau und Kinder […] gewöhne [den Ehemann] an ‚Ordnung, Arbeit und vernünftige Lebensweise‘ und trage so zu seiner moralischen Veredelung bei.“1157 Parallel zur gewollten politischen Unmündigkeit der (Ehe-)Frau setzt sich also ein Nützlichkeitsparadigma durch, denn „[d]ie Entdeckung ihrer Rationalisierbarkeit verschafft der Liebe eine bis dahin unbekannte Ordnungskapazität. So ist das Progamm, die Erotik zu intimisieren, auf sanfte Weise einem ordnungspolitischen Zweck dienstbar.“1158 Luhmanns These, Liebe werde im 18. Jahrhundert zu einem Kommunikationsmedium, das die neu aufkommende Individualität – die es zuvor so als Konzept nicht gegeben hatte – an die Anforderungen der Gesellschaft anschlussfähig mache (und zwar in Abgrenzung zur höfischen Adelskultur), weist dem hier unterlegten Code einer auf (lebens-)lange Dauer abhebenden affektiven Verbindung freundschaftlicher Art eine wichtige Stellung zu. Nur über diesen Code kann die andere Seite des Ehediskurses – die Masse an sehr nüchternen Gesetzen und Ratgebern, an Vertragsliteratur und anderen Verhaltensvorgaben – schließlich ‚für Ordnung sorgen‘. Über weibliche Tugend und Aufopferung, Emotionalität und Mäßigung sowie eine breite Basis an vertragstheoretischen Entwürfen, die diese Maßstäbe in ein scheinbar logisch-gerechtes Raster bringen und somit auch (sozial-)politisch gültig machen, formt sich das neue Verständnis von Liebe in der Einssetzung mit Ehe und über die Denk- und Moralfigur der „Häusslichen Glückseeligkeit“, wie sie sich exemplarisch bei Karl Philipp Moritz darstellt.1159
1155
Es gab zahlreiche rechtsphilosophische Schriften, die sich mit der Le-
gitimation, den Voraussetzungen und der Praxis „guter Ehen“ auseinandersetzten, hier aus Friedrich Volkmar, „Philosophie der Ehe“ von 1794, der die Ehe als „eine aus Liebe eingegangene, fortdauernde, gesellschaftliche Verbindung eines Mannes mit einem Weibe, um Kinder zu erzeugen, zu erziehen und sich wechselweise den Zweck ihres Lebens zu befördern“ sieht; siehe Julia Bobsin, wie ebd., S. 32. 1156 Wie ebd., S. 38. 1157 Ebd., aus Hufelands „Makrobiotik“. 1158
Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, wie Anm. 61, S. 26.
1159
Karl Philipp Moritz: „Häussliche Glückseeligkeit – Genuss der schönen
Natur“, in: Schriften zur Ästhetik und Poetik, wie Anm. 28, S. 33 –35.
483
Tapezierte Liebes — Reisen
Johann Gottlieb Fichtes Sicht der Ehe als ein „natürliche[s] und moralische[s] Verhältnis der Herzen“1160 veranschaulicht kompakt und deutlich die Naturalisierung dieses Liebesdiskurses über das symbolische Herz und rückt den Körper und sein lebensspendendes Organ ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Durch eine Art des mappings, das auch soziale bzw. soziomentale und emotionale Praktiken berücksichtigt, verortet dann im frühen 19. Jahrhundert die Psyche-Tapete eine Entwicklung eines solchen „Verhältnisses der Herzen“ im Wohnraum von Subjekten. Die E-Motion baut dabei, wie Giuliana Bruno in ihrem Buch „Atlas of Emotion“ weiter ausführt, bereits etymologisch und eben auch in der Alltagspraxis auf der Bewegung auf. Tatsächlich sind auch alle reisenden Figuren auf den Bildtapeten bewegt – in ihrer Geschichte von Reise und Entdeckung und in der mehrteiligen Szenerie im Raum, den sie ausfüllen bzw. dynamisieren und neu erschaffen – und sie bewegen zudem physisch und psychisch die mit ihnen interagierenden Subjekte, die auch zu Reisenden in diesem Raum werden. „The Latin root of the word emotion speaks clearly about a ‚moving‘ force, stemming as it does from emovere, an active verb composed of movere, ‚to move‘, and e, ‚out‘. The meaning of emotion, then, is historically associated with ‚a moving out, migration, transference from one place to another.‘“1161 Bruno stellt auch klar heraus, dass dieser Transfer – etwas oder jemand, der (die, das) seinen Ort verändert und den Ort der Geschehnisse wiederum selbst mit verändert – geschlechtlich codiert ist: Die Reise und auch der Erfahrungszugewinn des männlichen und des weiblichen Subjektes sind seit der kulturgeschichtlich so bedeutsamen Homer’schen „Odyssee“ nicht einander gleich zu setzen. Odysseus und auch Telemach reisen – wie die Analysen im vierten Kapitel zeigen konnten – zielgerichtet, wobei Telemach auch eine Art Wiederbestätigungsreise unternimmt, die ihn erst als Sohn des Odysseus auszeichnet und bis zu seiner Ankunft in der Heimat weiser und mächtiger machen soll.1162 Als er droht vom Weg abzukommen, springt Mentor sofort ein und richtet den Verlauf der Dinge. Psyche hingegen wird entführt und entspricht einem bei Paola Melchiori und Bruno so bezeichneten „nomadic subject“, dem ein Heimkommen und Inbesitznahme (Herrschaft) verwehrt bleibt, sodass die Psyche- Tapete auch wie ein mapping dieses nomadischen Auf-den-Weg-geschickt-
1160 1161 1162 is the fear
Albrecht Koschorke: Vor der Familie, wie Anm. 382, S. 112. Giordana Bruno: Atlas of Emotion, wie Anm. 67, „Prologue“, S. 6. Ebd., „Traveling Domestic“, S. 85f.: „The anxiety of the (male) voyager that, upon return, he may not find the same home/ woman/ womb he
has left behind. […] domus, domesticity, and domestication continue to be confused and gendered feminine.“
484
�. Les Amours de Psiché et de Cupidon
Seins gelesen werden kann – bis die junge Frau dann doch ‚heimkommt‘ zu einer Familienkonstellation, die sie in Besitz nimmt (Venus, Amor). „For the voyageuse to exist as a nomadic subject, a different idea of voyage and different housing of gender is to be sought: travel that is not conquest, dwelling that is not domination.“1163 Für Psyche ist der Weg das Ziel, und er kann nur ins Ehebett führen, während das Ziel Telemachs auf eine politische Machtposition ausgerichtet ist – und beide werden wiederum auf der unvermeidlichen Reise getestet. Die Art der Reise, die Telemach und Psyche im Innenraum aufführen, ist also prinzipiell ganz unterschiedlich ‚gerichtet‘ bzw. jeweils anders als ‚erfolgreiche‘ Reise-Bewegung naturalisiert. Dazu kommt nun das „E“ vor der „Motion“ in Form des Vertrautheitsund Liebesideals, das mit den Tapetenszenen an der Wand und im Raum kartographiert wird: Dieses Partnerschaftsideal wird auch von der die inneren Qualitäten (Charakter und Ansichten) nach außen spiegelnden Körpermodellierung geprägt. So wird das Herz zur Schnittstelle von Körperlichkeit, respektive biopolitischen Formungen, und befähigt zur Freundschaftsliebe. Indem nun Psyche dieses Herzensverhältnis und all seine Implikationen und Zumutungen exemplarisch im und für den Wohnraum figuriert, bietet die Tapete ein Display an, das vor Ort in der Bezugsetzung aller beschriebenen Einzelelemente eine Vorstellung von häuslicher Glückseligkeit aufruft, die wiederum schon durch Texte wie dem von Moritz oder in den Ehe-Gesetzbüchern und -ratgebern zirkuliert. Der Betrachterblick aktualisiert diese aktiv, wenn Augen, Körper und Gedanken mit den Tapetenfiguren reisen. Der von der Tapete und den Raumstrukturen dahingehend collagierte Blick ist also auch – weitaus aktiver gedacht – ein collagierender Blick: Während beim Telemach drei Kulissen-Ebenen ausgemacht werden können, die ihr jeweils eigenes semantisches und semiotisches Potenzial entfalten,1164 ist dies bei Psyche nicht der Fall. Hier erstrecken sich die Collagen eher auf isolierten plastischen Bühnenszenen und werden als eine Chiffre von ‚Psyche plus‘ wirkmächtig – Modellierungen der Protagonistin Psyche ‚plus Thronsaal‘, ‚plus Fischer‘‚ ‚plus Enkelinnen/Schäferinnen‘ oder auch am Schluss ‚plus Ehebett‘. So wird das Raumprogramm an Stelle eines exemplum virtutis1165 aus der Renaissance nun zu einem exemplum matrimonialis, wie ich es umformulieren möchte: einem Vorbild an Eheführung. Dieses ist ein gleichsam fokussierteres exemplum virtutis.
1163
Ebd., S. 86.
1164
Dies sind die Ebenen der Figurenkonstellation, der Architektur und
der Naturelemente, siehe Kapitel 4.4. 1165 Siehe die Anm. 875 der vorliegenden Arbeit.
485
Tapezierte Liebes — Reisen
Die Hauptakteure sind weniger verstreut als beim Telemach und befinden sich nicht mehr in einem pastelligen Arkadien, sondern in den oben analysierten Einzelsettings, die der collagierende Blick wie vergrößerte Stiche miteinander verbindet. Dadurch wird der Akzent beim Betrachten auf das Körperlich-Gestische dieser Hauptakteure hin verlagert, und – wie gezeigt werden konnte – der Liebesdiskurs um den Aspekt von Ehe und Familie erweitert, während es beim Telemach um die Mäßigung des Begehrens beim Verlieben und um entsprechende Kontrollmechanismen geht. Sobald die Anordnung im dritten Tapetenbeispiel, „Paul und Virginie“, untersucht worden ist, soll diese Blickarbeit und das unterschiedliche Collagieren noch einmal aufgegriffen werden.
486
6. Paul und Virginie oder die Liebe im „Reich der Frauen“
�. Paul und Virginie oder die Liebe im „Reich der Frauen“: wohin reisen die beiden Kinder? „Comme de longs échos qui de loin se confondent Dans une ténébreuse et profonde unité, Vaste comme la nuit et comme la clarté, Les parfums, les couleurs et les sons se répondent.“ Charles Baudelaire, Correspondances, 1857 „Da offenbart sich uns, den Bewohnern der nordischen Zone, von ungewohnten Pflanzenformen, von der überwältigenden Größe des tropischen Organismus und einer exotischen Natur umgeben, die wunderbar aneignende Kraft des menschlichen Gemüthes. […] Wir fühlen uns so mit allem Organischen verwandt, dass wir uns doch bald in dem Palmen-Klima der heißen Zone eingebürgert glauben.“ Alexander von Humboldt, Kosmos, 1845
�.� Ein ‚klassizistisches Martinique‘ auf dem pfälzischen Bauernhof: die Rarität Paul und Virginie auf dem Schlossgut Petry Bisher konnten etliche Beispiele für durch Bildtapeten-Images dynamisierte Räume betrachtet, sehr detailliert analysiert und kulturwissenschaftlich eingeordnet werden. Mit dem Begriff der Dynamisierung ist dabei das In-Bewegung-Setzen und nie endende Aufführen der Betrachtersubjekte im Beziehungsgefüge mit den Anordnungen im Raum besonders akzentuiert worden. Die hier gemeinte Dynamisierung findet auf zwei Ebenen statt: zum einen auf der Ebene dessen, was das Raumprogramm (inhaltlich) mit den im Raum Anwesenden tut und dadurch in Bewegung setzt, und zum anderen auf der Ebene des Bild-Raum-Gefüges als Raumorganisator, das oder der also
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Tapezierte Liebes — Reisen
in seiner ästhetisch-strukturellen Wirkungsweise hochgradig dynamisch und dynamisierend wird. Die Rede ist dabei von einem Prozess, der sich auf dieser immer wieder neu konfigurierten Suche nach Ausdrucksmöglichkeiten der Verbürgerlichung und einem neuen Wohn-Paradigma vollzieht, wie schon zu Beginn des zweiten Kapitels in 2.1.1 thematisiert wurde. Zu dem Prozess gehört auch die (bio-)politische Selbstformung der BewohnerInnen als Heimkommende im räumlichen und im emotionalen bzw. soziomentalen Sinne. Dieses Heimkommen (von einer Reise, nach langen Strapazen, als Ziel) ist sowohl bei Telemach als auch bei Psyche ein sorgfältig modelliertes Thema mit jeweils anderer Gewichtung. Im ersten Fall ist es an eine klassische Bildungsreise angelehnt und bedeutet, dass tatsächlich beträchtliche geographische Strecken zurückzulegen waren (und ausgehend von der Insel der Calypso noch zurückzulegen sind), und im zweiten Fall ist es als eine Reise in eine neue, auf Partnerschaft und Ehe aufbauende Familienstruktur gestaltet und somit eher als Chiffre für einen machtvollen Liebesdiskurs denn als eine Erkundung fremder Orte zu lesen.1166 In dem nun zu betrachtenden dritten Beispiel, der Paul und VirginieBildtapete in einer historischen Anbringung nahe der Luxemburgischen Grenze, ist dieses Heimkommen wiederum als Reflexion des eigenen In-dieFerne-Versetzt-Seins und der möglichen Rück-Versetzung gestaltet. Es handelt sich somit um eine hochmoralische Zivilisationskritik, die auf die Meta-Ebene von Heim im Heimkommen und einem letztlichen Aufgehoben-Sein nach dem Tod abhebt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die ‚Fremde‘ bei Paul und Virginie dem eigenen sozialen Setting, die göttlichen Gefilde bei Psyche der bekannten Palast- und Innenarchitektur wohlhabender Zeitgenossen und die kurzzeitig rettende Insel bei Telemach dem typischen Landschaftsgarten nachempfunden sind. Die Reise bzw. das Heimkommen wird somit in allen drei Fällen innerhalb des heimischen Diskursfeldes verhandelt. Die in das Interieur geholten fremdartig anmutenden Orte geben jeweils zuallererst das Eigene zu sehen.
1166
Dies trifft wiederum, aus einer männlichen Sicht modelliert, allerdings
auch auf den Fall eins, die Telemach-Tapete, zu.
488
6. Paul und Virginie oder die Liebe im „Reich der Frauen“
�.�.� Bernardin de Saint-Pierres Roman und die enthusiasmierte Forschungsreise seit Alexander von Humboldt Die Paul und Virginie-Tapete hebt sich deutlich von den beiden bisher betrachteten Fällen von Telemach und Psyche ab; hier wird nicht eine andere Zeit, d.h. eine ‚arkadische Zeit‘ bzw. neu codierte Antike, sondern ein geographisch ferner Ort aufgerufen. Dieser vermeintlich ferngerückte Ort, der eine Exotisierung ‚einspielt‘, erfüllt aber letztlich eine ähnliche Funktion für die Subjekte ‚daheim‘ wie die auf der Zeitachse zurück imaginierten Orte (beispielsweise die Insel der Calypso), sodass dieser auf den ersten Blick bedeutsame Unterschied im Setting der drei Tapeten sich eher als Gemeinsamkeit erweist. Nach Cornelia Klinger, die von Walter Benjamins Reflexionen zum Interieur des 19. Jahrhunderts im „Passagenwerk“ ausgeht, „[…] meinen Ferne und Vergangenheit dasselbe: das vollkommen Fremde, das radikal Andere, Alterität im Kontrast zum Eigenen. […] Mit anderen Worten, in seinem Interieur macht der Privatmann [nach der Terminologie Benjamins] sich kein Bild von der Welt ‚da draußen‘, sondern er sieht, imaginiert das von und aus der Wirklichkeit Entfernte.“1167 Es geht auch in den Bildtapetenräumen um den bei Klinger angesprochenen „Zugriff“1168 auf etwas als das Andere vom Eigenen Abgesetztes, das aber unter diesem Zugriff zugleich im eigenen Lebens- und Wohnkontext didaktisch wirksam und dabei heimisch gemacht wird. Dies geschieht zuallererst durch eine Kombination der Idealisierung des „aus der Wirklichkeit Entfernte(n)“ und der Clusterung von gesellschafts- sowie biopolitisch hochaktuellen Elementen in den Szenen und der Gesamtzusammenstellung. Für Telemach und Psyche wurde dieser Prozess, der sich nach dem Anspruch des wieder(ge)holten Goldenen Zeitalters ausrichtete, bereits genau nachvollzogen, doch was geschieht in einem Tapetenraum, der sich nach einer exotischen Ferne ausrichtet und formt, und auf welchen Ort wird anhand welcher Images eigentlich zugegriffen? Wie werden Bilder des Exotischen und die dort hinein gesetzten Figuren zu – wenn es ja letztlich immer um das Eigene geht – im Sinne einer heimischen Didaktik angeordneten Figurationen? Lässt sich ein double bind verorten, „ein doppeltes Bild des Anderen, das zwischen Herabsetzung und Überhöhung, Verachtung und Verherrlichung schwankt“?1169 1167 Cornelia Klinger: „Innerlichkeit und Natur“, wie Anm. 716, hier S. 92f. 1168 Ebd., S. 96. 1169 Ebd.
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Tapezierte Liebes — Reisen
Die Geschichte von Paul und Virginie wurde von Jacques Henri Bernardin de Saint-Pierre zwischen 1787 und 1788 niedergeschrieben. Der Autor war schon in früher Jugend ein begeisterter Leser des „Robinson Crusoe“ gewesen, der sein eigenes Hauptwerk offensichtlich sehr beeinflusst hat, ohne dass die Beschreibungen der französischen Überseekolonien reiner Imagination entsprungen wären, da Bernardin de Saint-Pierre selbst eine Zeit lang auf Mauritius im Indischen Ozean gelebt und dort die Umgebung genau studiert hatte: „Bernardin reiste als Ingenieur in Europa einschließlich Russland, und zuletzt war er auf der Tropeninsel Isle-de-France. Diese Reise beschreibt er in ‚Voyage à l’Île-de-France‘ 1773. In Paris befreundete er sich mit Rousseau, begleitete ihn auf Wanderungen und bei seinen botanischen Arbeiten. 1784 erschien unter dem Einfluss dieser Bekanntschaft sein dreibändiges Werk ‚Etudes de la nature‘, dem er als vierten Band [in der dritten Auflage] 1787 die Erzählung ‚Paul et Virginie‘ folgen ließ. Sie wurde sein Meisterwerk, in dem er das beliebte Robinsonmotiv um das Element der Liebe und die künstlerische Naturschilderung vermehrte.“1170 Als Anhänger Rousseaus war es Bernardin de Saint-Pierre ein Anliegen, seinen Zeitgenossen in der Großstadt Paris ein literarisch-didaktisches Korrektiv zur eigenen gesellschaftlichen Verstrickung anzubieten – ein Korrektiv, das eine alternative und ‚unschuldigere‘ Lebensweise entfaltet und diese Unschuld verstärkt hervortreten lässt. Als Protagonisten treten bei ihm Kinder auf, deren Erziehung einerseits von Frauen und andererseits von SklavInnen – in der heimischen Gesellschaft also gerade als unmündig geltenden Subjekten – übernommen wird. Zu dieser Konstellation werde ich in 6.2 noch zurückkehren, zunächst sei der Aspekt des Reisens und des exotischen Settings vertieft: Der Diskurskomplex um die Vermittlung der Vielfältigkeit der Welt und der geradezu als Eros des Entdeckens zu bezeichnende Antrieb, in eine bis dato fremde Umgebung vorzudringen, spielt sowohl in den Roman als auch die Tapete mit hinein. Die Paul und Viginie-Tapete visualisiert also weder eine Bildungsreise wie Telemach noch eine fabelartige Aufgabenerfüllung wie Psyche, obwohl sie durchaus die BetrachterInnen auf eine Art von Reise mitnimmt. Sie führt jedoch eine Wissensformung in Bezug auf Liebesbeziehungen und zugleich auf die Eroberung des Anderen vor Augen, wobei sich letzere als paralleler Diskurs um 1800 mit den von der Aufklärungspädagogik getragenen Expeditionen in
1170
490
Josef Leiss: Bildtapeten aus alter und neuer Zeit, wie Anm. 42, S. 56.
6. Paul und Virginie oder die Liebe im „Reich der Frauen“
die ‚Neue Welt‘ verschränkt. Beides, die Entdeckung und Eroberung anderer Gebiete und des anderen Geschlechts – immer im und als Selbstbezug gedacht – findet also in den Tapetenbildern von Paul und Virginie eine Ausformung und spezifische Gestaltung. Auf den Punkt gebracht, blendet die Tapete sogar das vorherrschende Liebesideal und den Expeditionseifer von sich als männlich-zähe Abenteurer subjektivierenden Reisenden wie Alexander von Humboldt in ihrer Bildsprache ineinander.
Reisen als Konnex von Wissen und Eroberung Die große Südamerika-Expedition Humboldts von 1799 bis 1804, auf der viele seiner umfangreichen Vortragsreihen und Schriften beruhen und die auf den Wissenschaftsbetrieb in ganz Europa, v.a. aber in Frankreich und Deutschland, weitreichende Auswirkungen hatte, ist sicherlich einer der wichtigsten Referenzrahmen für die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, wenn es um Erforschungen und Beobachtungen in fremden Regionen geht. Die Denkfelder, die Humboldt betreten und wiederum für die auf ihn folgenden Wissenschaftlergenerationen bearbeitet hat, lassen sich besonders gut in seinem Alterswerk „Kosmos – Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“ ausmachen, das er in fünf Bänden zwischen 1845 und 1862 herausgegeben hat. Für den „Zugriff“1171 auf die zu der Zeit neu entdeckten, als exotisch und wundersam strukturiert aufgefassten Regionen, Landschaften und Lebensweisen und für das Verständnis über ihren Transfer in das eigene Wohnen und Einrichten mit der Paul und Virginie-Tapete in den 1820er Jahren ist v.a. die programmatische Einleitung von Humboldt und der komplexe Aufbau und interne Verweischarakter seines Werks sehr erhellend. An einer Stelle bedient sich Humboldt auch des literarischen Beispiels von Paul und Virginie,1172 das ihm als gelungene Vorlage für die Poetisierung einer ‚perfekten‘ exotischen Landschaft dient, interessanterweise obwohl und gerade weil der Roman auf der Île-de-France bzw. Mauritius verortet und somit eigentlich von Humboldts Südamerika-Route sowohl geographisch als auch kulturell weit entfernt ist. Eigentlich – denn Humboldt betont schon im sehr detaillierten Inhaltsverzeichnis: „Natur ist für die denkende Be-
1171
Vgl. Anm. 1168.
1172
Alexander von Humboldt: Kosmos, Entwurf einer physischen Weltbeschrei-
bung, hg. von Ottmar Ette und Oliver Lubrich, Frankfurt am Main: Eichhorn („Die andere Bibliothek“) 2004, Sonderausgabe (im Folgenden: Kosmos). Hier: „Einleitende Betrachtungen über die Verschiedenartigkeit des Naturgenusses – und eine wissenschaftliche Ergründung der Weltgesetze“, S. 11.
491
Tapezierte Liebes — Reisen
trachtung Einheit in der Vielheit“1173 und hebt damit sogleich auf ein synthetisches Denken ab, das gerade die Einheit in den sich auch noch so ausdifferenzierenden Phänomen der unterschiedlichen Regionen, Lebensgemeinschaften und Klimazonen sucht und formt. Besonders, da ihm die Kunst und näherhin die Landschaftsmalerei für seine Naturbetrachtungen unerlässlich ist, soll auf seine Reflexionen sowie seine Methode des Sammelns und Darstellens von Fakten noch näher eingegangen werden, um dann erste Thesen zur Gestaltung der Paul und Virginie-Tapete und ihrer Mitarbeit am Diskurskomplex der exotischen Landschaft zu formulieren. Dieser ist wiederum bis in die Bilddetails hinein mit dem Liebesideal Rousseaus und Bernardin de Saint-Pierres verknüpft. In den „Einleitenden Betrachtungen“, die auch Erkenntnisse und Ziele seiner Vorlesungen zusammenfassen, hebt Humboldt den Genuss der Natur hervor und bestimmt diese von Anfang an als ein ästhetisches Objekt, das in Bezug auf Subjekte respektive von ihrer Wahrnehmung ausgehend und nicht etwa von ihnen entkoppelt untersucht wird. Er unterscheidet dabei zwei Arten des Naturgenusses, wobei der zunächst stattfindende „Eintritt in die freie Natur und das dunkle Gefühl des Einklangs, welcher in dem ewigen Wechsel ihres stillen Treibens herrscht“ zu dem „anderen Genuss“ hinzuführen vermag, welcher „der vollendeteren Bildung des Geschlechts und dem Reflex dieser Bildung auf das Individuum“ gehört und erst „aus der Einsicht in die Ordnung des Weltalls und in das Zusammenwirken der physischen Kräfte“ entspringt.1174 Es kommt hier sehr deutlich zum Ausdruck, dass es ihm trotz des Gesamttitels des Werks nicht um eine reine Beschreibung der physischen Beschaffenheit der Welt geht, sondern eine Art Dreischritt entwickelt wird: von einem Eintritt in sie und einer ersten Ahnung über sie gelangt man späterhin zu einer Bildung und Selbstbildung an und mit der Natur – hier bezieht Humboldt auch das Individuum und seine Bezugsetzungsarbeit zur Umgebung mit ein – und schließlich zu einer aus eigener Anstrengung stammenden Einsicht. Diese EinSicht ist dabei stets aus vielen Bildern respektive Eindrücken geformt, so wie auch die Tapete in der eigenen Wohn-Umgebung mehrere visuelle Kern-Inhalte zu einem Ganzen zusammensetzt. Das Ziel ist es entsprechend, „den Geist der Natur zu ergreifen, welcher unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt“,1175 d.h. die sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen verhüllen nurmehr etwas in ihrer Tiefe Verborgenes, was das forschende Subjekt mittels seiner Geistestätigkeit herausgreifen muss. Das Be-Greifen einer verborgenen Wahrheit
1173 Kosmos, siehe hier „Inhalt“, Band 1, IX. Dazu später in den „Einleitenden Betrachtungen“: S. 10–15. 1174 Ebd., „Einleitende Betrachtungen“, S. 10. 1175 Ebd.
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6. Paul und Virginie oder die Liebe im „Reich der Frauen“
wird also zum subjekt- und weltkonstituierenden Akt und zugleich zu einer Ausübung von Macht, wenn diesen Forschersubjekten angeraten wird, „die Natur begreifend, den rohen Stoff empirischer Anschauung gleichsam durch Ideen zu beherrschen.“1176 Nicht reine Faktensammlung, sondern Anwendung eines Geistesvermögens und Herrschaft bilden also die Folie der empirischen Forschung und Reisebegeisterung Humboldts. Die Natur wird dabei erstens als eine Ganzheit aufgefasst und zweitens als vom Menschen zu begreifendes und beherrschendes strukturell Gegebenes (hier letztlich auch immer noch Göttliches), dessen Erkenntnis ihn – den Menschen – wiederum auf eine höhere Stufe seines Daseins heben kann. Als Mittel dazu dient v.a. die Landschaftsmalerei, das Zu-Sehen-Geben von Bildern, und zwar auch gerade für diejenigen, die nicht selbst reisen oder (empirisch) forschen können, aber dennoch an der großen Erkenntnis teilhaben sollen: „Der Begriff eines Naturganzen, das Gefühl der harmonischen Einheit im Kosmos wird umso lebendiger unter den Menschen werden, als sich die Mittel vervielfältigen die Gesammtheit (sic!) der Naturerscheinungen zu anschaulichen Bildern zu gestalten.“1177 Humboldt selbst hat in großem Umfang skizziert und gezeichnet und formulierte dabei – eingebettet in seine physische Weltbeschreibung – auch eine regelrechte Kunsttheorie, wenn er vom „Totaleindruck“ einer Gegend spricht und der „Aufgabe der Landschaftsmalerei“ schließlich, „diesen aufzufassen und anschaulich wiederzugeben.“1178 Dennoch kann die Rhetorik über die Anschaulichkeit und den Beitrag der Schönen Kunst zur Erkenntnis der in sich harmonischen Welt, die ‚nur’ begriffen und vermittelt werden muss, nicht darüber hinweg täuschen – und dies versucht Humboldt auch gar nicht –, dass eine Mehrung des Wissens und ein angestrebter Fortschritt der ‚zivilisierten Welt‘ immer nur um den Preis von Krieg, Gewalt und Eroberung zu haben ist.1179 In ihrem ausführlichen Nachwort zur Kosmos-Ausgabe in der „Anderen Bibliothek“ betonen Ottmar Ette und Oliver Lubrich: „Immer wieder sind es militärische Kommandos, koloniale Erkundungen und imperiale Eroberungsfeldzüge, die den Horizont erweitert und der Wissenschaft neue Felder erschlossen haben; ist es die Macht, die das
1176 Ebd. 1177 Ebd., „Inhalt“, Band 1, XVII; sowie später in Band 2: S. 234. 1178 Ebd., S. 233. 1179
Humboldt hat selbst drei Revolutionen miterlebt und schreibt schließ-
lich sein Hauptwerk um 1848 nieder, also zu Zeiten des Imperialismus und des Kolonialismus in der Phase der Machtverteilung zwischen England und Frankreich.
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Tapezierte Liebes — Reisen
Wissen vermehrt; und der Krieg, der die Völker miteinander in Kontakt bringt und sie zwingt, sich auch geistig mit dem jeweils Anderen auseinanderzusetzen.“1180 Dieser Reise-Entdeckungs-Kontext, in dem die Natur als Wunder göttlicher Gestaltung und harmonische Ganzheit gilt, an der Subjekte wiederum ihre Ganzheit erfahren können, findet sich in der Paul und Virginie-Tapete mit einer Rousseau’schen Liebesauffassung gekoppelt wieder. In acht Tapetenszenen sind die jungen Liebenden in eine als exotisch entworfene Vegetation gesetzt, die das literarisierte Mauritius Bernardin de Saint Pierres in den heimischen Salon holt. Eine gut erhaltene bzw. restaurierte Originaltapete ist auf einem Schlossgut nahe der heutigen Luxemburgischen Grenze in Niedersgegen in der Gemeinde Körperich zu sehen. In Deutschland handelt es sich dabei um das nach aktuellem Stand einzige in situ-Exemplar von Paul und Virginie, und auch international haben sich nicht annähernd so viele dieser Tapeten erhalten wie es beispielsweise bei Psyche der Fall ist. Im Folgenden soll diese Tapete und ihre Anordnung im Wohnhaus des Niedersgegener Schlossgutes näher untersucht und dabei die Verbindungslinien von Wohnen und Liebesdiskurs, Eigenem und Fremdem, dem Vor-Augen-Stellen von Bildern und Generieren mentaler Bilder sowie (Selbst-)Bildung und Erfahrungsräumen, wie sie bereits in den beiden vorhergehenden Analysekapiteln hergestellt werden konnten, weiter verfolgt werden.
�.�.� Intermedial Reisende: Das Gleiten vom Text über Grafiken an die Wand So wie er mit Louis Lafitte und Merry-Joseph Blondel zwei bekannte Künstler für die Vorlagen seiner Psyche-Tapetenszenen gewonnen hat, konnte Dufour im Fall von Paul und Virginie wiederum auf einen großen Namen zählen: Jean Broc, der auch Gemälde im Louvre ausstellte, zeichnete nach Recherchen von Clouzot die Vorlagen für die Tapete.1181 Die Beziehungen zwischen Grafiken, 1180
Kosmos: „Die andere Reise durch das Universum. Nachwort von Ottmar
Ette und Oliver Lubrich“, S. 905–920, hier S. 910. 1181
Siehe Hinrich Hudde: Bernardin de Saint-Pierre: Paul et Virginie. Studien
zum Roman und seiner Wirkung, München: Wilhelm Fink 1975, S. 97: „Der wichtigste Bereich bildlicher Darstellungen liegt in der Illustration der Paul et Virginie-Ausgaben, meist durch Stiche.“ Weiter stellt Hudde fest, der Roman verdanke seinen Ruhm „zu einem großen Teil der Tatsache […] dass diese Idylle die optische Vorstellungskraft durch mehrere Szenen und Beschreibungen besonders anspricht.“
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6. Paul und Virginie oder die Liebe im „Reich der Frauen“
die als Inspirationsquelle dienten, und ‚fertigen‘ Tapetenszenen waren häufig von uneindeutigen Provenienzen und Übernahmen gekennzeichnet und es ist schwierig zu bestimmen, wer der eigentliche (Haupt-)Zeichner der Manufaktur gewesen war und woraus sich wiederum seine Vorlagen – die z.T. en masse zirkulierten und auch in den Salonausstellungen gezeigt wurden – zusammensetzten. In diesem Fall gehen sechs der acht Tapetenszenen auf Grafiken von Schall zurück, die dann von Descourtis als Stichfolge angefertigt wurden und schließlich Broc zur Vorlage dienten: „[…] six sujets sur huit du fameux décor de Dufour viennent d’une suite gravée par Charles-Melchior Descourtis d’après Jean-Frédéric Schall. […] les gravures en suite de l’époque néo-classique étaient d’une telle qualité que leur exposition permanente dans les maisons permettait de conjuguer pédagogie et divertissement.“1182 Nach heutiger Auffassung hätte Broc die sechs Kompositionen nach Schall plagiiert und lediglich um zwei ‚neue‘ Szenen erweitert, den „Tanz der Kinder“ und „Die Sklaven tragen die Kinder auf einer Sänfte“.1183 Doch im frühen 19. Jahrhundert herrschte eine rege Kunst des Kopierens – und die Tapetenproduktion allgemein lässt sich genau inmitten dieser Kulturpraktiken verorten. An Stelle urheberrechtlicher Debatten war es vielmehr üblich, über bereits akzeptierte und bewunderte Kunstwerke, die in einen neuen Zusammenhang gestellt wurden, sich selbst und der eigenen Denk- und Lebensweise einen besonderen Status zu verleihen. Dufour hatte als Vorlage eine Didot-Ausgabe des bereits sehr beliebten Romans aus den 1790er Jahren vorgeschlagen, für die Jean-Frédéric Schall sechs Zeichnungen angefertigt hatte, die Charles-Melchior Descourtis dann in Aquatintamanier stach (1795).1184 Es war durchaus üblich gewesen, 1182 François Pupil: „Les rapports entre les panoramiques et les arts figuratifs“, wie Anm. 940, hier S. 138. 1183
Vgl. ebd., S. 139. Pupil bezeichnet die beiden neuen Szenen als un-
bedeutend („anodines“), wahrscheinlich, um anzudeuten, dass sie die Geschichte nicht weiter zu entwickeln vermögen. 1184 Ebd., sowie nach Informationen von Viola Rühse, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Donau-Universität Krems, die sie im Zuge eines früheren Projektes am MKG Hamburg zusammengetragen und mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Nach Rühses Hinweisen habe ich auch Abbildungen der sechs Stiche im Internet gefunden, die sich in gut erhaltenem Zustand im „William A. Whitaker Foundation Art Fund“ im Ackland Art Museum an der University of North Carolina at Chapel Hill befinden und entsprechend online zur Verfügung gestellt wurden. Das MKG Hamburg besitzt diese Stiche ebenfalls, allerdings in einem weniger gut erhaltenen Zustand. Die Website, die mit dem Suchbegriff
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vergrößerte Stiche auch direkt an die Wand zu bringen, was wiederum den Gebrauch der Papiertapeten überhaupt befördert hat, und die Nutzung und Rahmung bestimmter Papiertapetenszenen zeugt auch in den 1820er Jahren und später noch oftmals davon. Einen Einblick in die komplexe Situation von Intermedialität und (global) wandernden Materialien und Bildkompositionen im 19. Jahrhundert gibt Betje Black Klier in ihrer Untersuchung zur „Bonapartist Utopia Bildtapete“ im US-amerikanischen Alabama – und auch hier tauchen Paul und Virginie wieder auf:1185 In einer Szene der handbemalten Bildtapete mit der bonapartistischen Siedler-Utopie findet sich eine Verschmelzung einer Sitzgruppe unter einem Baum, die aus der Paul und Virginie-Tapete stammt (beziehungsweise der entsprechenden Bildvorlage von Schall und Descourtis) und eines Ingenieurs mit einem Winkelmesser aus einem Stich des Marinemalers Ambroise Louis Garneray von 1820.1186 Hieraus ergeben sich interessante Überlegungen auch für die – ebenfalls wie die Bonapartist Utopia in den 1820er Jahren entstandene1187 und in Umlauf gebrachte – Paul und Virginie-Tapete. Auch bei ihr geht es, wenn auch politisch und (sozio-)geographisch anders gelagert, um ein Besiedeln und Urbarmachen von zuvor fremdem Boden und somit um eine Eroberung unter dem Aushängeschild des Kultivierens und Nutzbarmachens.1188 Zusammen mit den Bildvorlagen wanderten also auch die Konzepte und Diskurse, und zwar bis in die Neue Welt und zurück. Wie verteilt sich aber die Geschichte der beiden Kinder im Südseegebiet konkret über die wandfüllende Tapete? Die acht Szenen, die identifiziert werden können,1189 sind durch hohe Bäume – zumeist Palmen – eindeutig voneinander getrennt und ordnen
„Descourtis“ auf die Abbildungen verweist, ist zu finden unter: http://www.unc. edu/ackland/collection/ [zuletzt aufgerufen: 30.08.2016]. 1185 1186 1187
Betje Black Klier: „Die Bonapartist-Utopia-Bildtapete“, wie Anm. 310. Ebd., S. 171, sowie die Abb. 5,6 und 7. Ebd., S. 152.
1188
Das genau diese Eroberung aushängende (bzw. ausweisende, ausbuch-
stabierende) Schild hängt in der Bonapartist Utopia zusätzlich an dem Baum und bestimmt die besiedelte Region nun als Aigleville in einem Akt der Aneignung auch über den Logos, die Sprache (ebd., Abb. 5). Die Ikonographie einer Kultivierung, über die Klier schreibt, ist in der Paul und Virginie-Sitzgruppe ebenfalls präsent über den gefällten Baum, die Spitzhacke und die gesattelten und gezäumten Pferde, die für die SiedlerInnen bereit stehen. Eine weitere Übereinstimmung der Aiglevilleund Martinique-Diskurse sehe ich in der aktiven Rolle des kontrollierenden und eine Siedlung aufbauenden Generals und Ingenieurs in der einen (Bonapartist Utopia) und des die Frauen besuchenden Gouverneurs (Szene 5) in der anderen (Paul und Virginie) Tapete. 1189
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Vgl. auch Papiers Peints Panoramiques, wie Anm. 22, Katalogteil S. 266.
6. Paul und Virginie oder die Liebe im „Reich der Frauen“
sich auf den fortlaufenden Papierbahnen nach der vollständigen Druckversion Dufours wie folgt an: – Bahn 1–3: Tanz der Kinder (1) – Bahn 4–8: (nach Descourtis): Paul und Virginie bitten den Sklavenhalter um Gnade (2) – Bahn 9–12: (nach Descourtis): Paul und Virginie sehen Domingo mit offenen Armen auf sie zueilen (Domingo findet die im Wald verlorenen Kinder) (3) – Bahn 13–17: Die Sklaven tragen die Kinder auf der Sänfte (4) – Bahn 18–20, (nach Descourtis): Der Besuch des Gouverneurs M. de La Boudonnais (Der Gouverneur verspricht Paul lebenslange Freundschaft) (5) – Bahn 21–23: (nach Descourtis): Der Abend vor Virginies Aufbruch (Das Schiff liegt vor Anker) (6) – Bahn 24–27, (nach Descourtis): Virginie wird leblos am Strand aufgefunden (Der Tod Virginies) (7) – Bahn 28–30: (nach Descourtis): Paul kniet vor der Kirche an Virginies Grab (Paul betet an Virginies Grab) (8) Es geht also darum, zum einen diese Bildabfolge in Bezug auf die genannten Diskursstränge und zum anderen die konkrete Anwendung dieser Bilder – aber auch Auslassungen oder Anpassungen, die erkennbar sind – im Niedersgegener Wohnhaus zu beleuchten.
�.�.� Das Schlossgut Petry: Exotistische Tapetenwelt und bacchantische Übergänge Das Wohnhaus mit der Paul und Virginie-Tapete in Niedersgegen war 1823 von Jean-Joseph Richard erbaut worden, einem politisch sehr interessierten bzw. aktiven österreichischen Baumeister, der generell viel in der Region tätig war.1190 Das Wohnhaus, ein Dreiflügelgebäude, ist wiederum von Wirtschaftsgebäuden umgeben, die in der heutigen Form erst im weiteren Verlauf des
1190
Die Informationen erhielt ich zuerst von den heutigen Bewohnern,
Gertrud und Werner Petry, die mich freundlicherweise durch das Erdgeschoss ihres Hauses geführt haben. Zur Datierung und zur Tapete siehe auch den Eintrag „Körperich – Ortsteil Niedersgegen“, in: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler, Rheinland-Pfalz, Saarland, hg. von Georg Dehio, bearbeitet von Hans Caspary, Wolfgang Götz, Ekkart Klinge, München/Berlin: Deutscher Kunstverlag 1972, S. 430.
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Tapezierte Liebes — Reisen
Abb. 120 Schlossgut Petry/ KörperichNiedersgegen, Rheinland-Pfalz: Außenansicht des Wohnhauses.
19. Jahrhunderts gebaut worden sind. [Abb. 120] Auf dem Hof befindet sich zudem ein fünfgeschossiger Wohnturm von quadratischem Grundriss, an den 1734 eine Kapelle angebaut wurde, und der noch als Südwestflügel von der ursprünglich mittelalterlichen Burganlage erhalten ist.1191 Das heutige Schlossgut gelangte 1913 in den Besitz der Familie Petry und wird von ihnen, samt eines Hofladens, erfolgreich bewirtschaftet. Das Wohnhaus weist über dem Kellersockel zwei Vollgeschosse und ein Mezzaningeschoss auf, die Hauptfassade folgt dem Typus eines Landschlosses aus dem 18. Jahrhundert. Der Eingang befindet sich in der Mittelachse, die deutlich hinter die beiden Seitenrisalite zurücktritt. Es findet sich vorgelagert eine Terrasse mit zweiarmiger, freiläufiger Treppe, schmiedeeisernem Gitter und einem Glasdach auf Eisenstützen aus der Zeit um 1900. Die Raumaufteilung im Inneren blieb original aus dem frühen 19. Jahrhundert
1191 Vgl. Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, Zwölfter Band, I.: Die Kunstdenkmäler des Kreises Bitburg, bearbeitet von Ernst Wackenroder, Düsseldorf: Verlag L. Schwann 1927, S. 130. Hier heißt es: „Das Geschlecht von Jegen hatte Gut und Schloss i. 15. Jh. von den Grafen von Vianden zu Lehen (Archives de Clervaux: Public. de Luxemb. 36, Nr. 1039 u. 1265). Durch Heirat kam die Burg zu Nieders Gegen an die von Lissingen und ebenso i. J. 1490 an Herman v. d. Heyden (Strasser in Public. de Luxemb. 59, S. 365). Im J. 1729 kaufte den Besitz Peter Andreae, Meister zu Hinterscheid, der als von Ennershausen i. J. 1739 geadelt wurde. Sein Schwiegersohn J. J. Richard ließ das Schloss niederlegen (Schannat-Bärsch, a. a. O.).“ Zur Kapelle, siehe ebd.: „Erhalten hat sich ein starker, mittelalterlicher Wohnturm, i. J. 1734 durch Anbau einer Kapelle mit dieser zu einer malerischen Gruppe vereinigt.“
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6. Paul und Virginie oder die Liebe im „Reich der Frauen“
Flur
Abb. 121 Grundriss des tapezierten Salons auf Schlossgut Petry mit Anordnung der Tapetenszenen.
Supraporte „Mütter“ Eingangstür
Szene 1 Szene 2
Szene 7 (beschnitten) Szene 6
Fenster
1. Teil: Sklavenhalter Szene 5 (beschnitten)
Ofen Szene 2 2. Teil: Kinder & Sklaven
Fenster
Szene 5 (beschnitten)
Szene 4 Szene 3 Tür Supraporte
Tür Supraporte
„Bacchus wird den Nymphen übergeben“
„Die Ziege Amaltheia“
erhalten, d.h. alle Türen und beide Treppen, auch die Stuckdecken und die zur Bauzeit angebrachte Tapete im vorderen rechten Raum des Mittelteils im Erdgeschoss. Die Eichenholztüren und eine Stuckrosette, eine Wandnische, der gusseiserne Ofen und die Biedermeiermöbel in diesem Raum stammen auch aus der Zeit, ebenso wie die drei Supraporten mit Szenen aus der Mythologie des Bacchus. Alle Tapeten- und Supraportenszenen sind in Sepia- und Ockertönen gehalten, wobei die Tapete im Winter 1944/45 stark zerstört worden war und 1973/74 von Marta Heise (Planegg) restauriert werden konnte.1192 Ein genauerer Blick auf die Verteilung der Bildtapetenszenen im Raum zeigt, dass die rechte Hälfte der Gouverneurs-Besuchsszene (Szene 5), die den Gouverneur und Paul darstellt, sowie die letzte Szene mit Paul 1192
Siehe die Informationslage in: „Restaurierung der französischen Bildta-
pete Paul und Virginie von 1824 der Firma Joseph Dufour, Paris“, in: Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft der Archiv-, Bibliotheks- und Grafikrestauratoren, Nr. 46, 1973, Band 3.
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Tapezierte Liebes — Reisen
Abb. 122 Paul und VirginieSalon auf Schlossgut Petry, Supraporte mit MutterschaftsMotiv. Abb. 123 Paul und VirginieSalon auf Schlossgut Petry, Teilansicht der tapezierten Wand und Eingangstür mit Mutterschafts-Supraporte.
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6. Paul und Virginie oder die Liebe im „Reich der Frauen“
Abb. 124 Paul und VirginieSalon auf Schlossgut Petry, Ecke des Raumes mit Detail aus Szene 2.
am Grab von Virginie und der Kirche im Hintergrund (Szene 8) fehlen. Die Anbringung kann, durch die Eingangstür kommend und sich umdrehend, nach links und somit entgegen dem Uhrzeigersinn abgeschritten werden. [Abb. 121] Über der Tür fällt die erste Supraporte mit der Darstellung von zwei Müttern mit ihren Kindern auf, [Abb. 122] die programmatisch die erste Szene der Tapete links mit dem Tanz der Kinder und die letzte Szene rechts – hier mit den verzweifelten Zuschauern des Schiffsuntergangs und der dominanten Rückenfigur des Sklaven endend – verbinden. [Abb. 123] Die Tanzszene führt dann über die Ecke in Richtung der Fensterwand links, wobei sich in der Ecke gerade noch vor der Fensteröffnung der rechte (kleinere) Bildteil der zweiten Szene, die Paul und Virginie beim Sklavenhändler zeigt, befindet: genauer gesagt die Figur des Sklavenhändlers mit einer hier bereits angeschnittenen zeltähnlichen Hütte im Hintergrund. [Abb. 124] Zwischen den beiden Fenstern befindet sich der linke (größere) Teil dieser Szene mit den zurückweichenden Kindern, einem Holzhaus und arbeitenden Sklaven im Hintergrund. [Abb. 125] [Abb. 126]
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Tapezierte Liebes — Reisen
Abb. 125 Paul und VirginieSalon auf Schlossgut Petry, Szene 2 der Tapete mit den beiden Kindern und Slaven. Abb. 126 Paul und VirginieSalon auf Schlossgut Petry, Szene 2 zwischen den Fenstern.
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Die Wand gegenüber des Eingangs wird von zwei (heute nicht zu öffnenden) Türen mit Supraporten rechts und links eingeteilt, dazwischen befindet sich die dritte Szene mit der Wiederauffindung der Kinder durch den Sklaven Domingo1193 und den Hund Fidel sowie einem massiv aufragenden Gebirge im Hintergrund. [Abb. 127] Die rechte Supraporte zeigt den kindlichen Bacchus, der den Nymphen übergeben wird, und die linke den Zeus bei der Nymphe Amaltheia, die ihn mit der Milch einer Ziege aufzog und auch (als Ziege) den Gott Bacchus ernährte, der somit u.a. eine Rolle als Halbbruder des Zeus erhält. [Abb. 128 und 129] Die Ziege ist auch Symboltier des Bacchus und ihr abgebrochenes Horn steht als Füllhorn für einen Überfluss an Gaben. Gegenüber den Fenstern mit der Sklavenszene wird die Wand in der Mitte von einer Ofennische geteilt; zur rechten Seite ist die vierte Szene mit den Kindern in der Sänfte und den auf sie zueilenden Müttern sowie einem Haus mit einem direkt zur weißen Ofennische schauenden Sklaven zu sehen [Abb. 130] und zur linken Seite die angeschnittene fünfte Szene mit den drei Frauen vor einem Baum, die wiederum in Richtung der Ofennische schauen. [Abb. 131] Ziemlich genau die Hälfte dieser Wandseite zeigt bereits die sechste Szene mit den verzweifelt zum Schiff weisenden Figuren, die sich über die Ecke zieht und dann neben der Eingangstür in die siebte Szene mit der hohen dunklen Felsformation und dem die Hände über den Kopf schlagenden Sklaven im Vordergrund übergeht. 1193 Bernardin de Saint-Pierre war seit seiner Kindheit stark von dem Roman „Robinson Crusoe“ beeinflusst, so verdankt der Sklave und Vertraute der Kinder den Namen „Sonntag“ auch dem Charakter des „Freitag“ in Defoes Geschichte.
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Abb. 127 Paul und VirginieSalon auf Schlossgut Petry, Szene 3: Domingo eilt auf die Kinder zu.
Tapezierte Liebes — Reisen
Abb. 128 Paul und VirginieSalon auf Schlossgut Petry, Supraporte mit Übergabe des Bacchus. Abb. 129 Paul und VirginieSalon auf Schlossgut Petry, Supraporte mit Ziege.
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Die Kleine Gesellschaft der Neuen Welt in einem Haus der Alten Welt: Einzelne Bedeutungseinheiten des Paul und Virginie-Narrativs wandern an die Wände Wie auch bei den anderen beiden Bildtapeten in ihren verschiedenen räumlichen Arrangements, handelt es sich bei Paul und Virginie nicht um eine Visualisierung aller wichtigen narrativen Elemente des Vorlagentextes, sondern um eine sehr spezifische Auswahl an Einzelsujets, die in dieser Zusammenstellung und Bezugsetzung ein eigenes performativ wirkendes Aussagesystem produzieren. Um sich orientieren zu können, soll den nun folgenden Detailanalysen der Tapete eine kurze Einführung zur Struktur und den wichtigsten Erzählsträngen der Romanvorlage vorgeschaltet und auf die acht Tapetenszenen bezogen werden. Dadurch soll der Einblick in die diskursive Vernetzung von Liebes- und Familienidealen, Naturkunde bzw. wissenschaftlichem Interesse an Geographie und Ethnologie sowie Kolonialfantasien um 1800 erleichtert werden. Bernardin de Saint-Pierres Geschichte der beiden Kinder und ihr tragischer Verlauf wird – entsprechend dem sogleich wieder verworfenen Anspruch
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Abb. 130 Paul und VirginieSalon auf Schlossgut Petry, Wand gegenüber den Fenstern mit Szene 4.
Abb. 131 Paul und VirginieSalon auf Schlossgut Petry, Teilansicht des Raumes mit den Szenen 5–7 zwischen Ofennische und Eingangstür.
des programmatischen Vorworts, ein Naturgemälde geben zu wollen1194 – in einem sehr beschreibend-belehrenden Stil von einer Augenzeugen-Figur erzählt. Dieser wird das Wort vom eigentlichen Erzähler übergeben, sodass letzterer zum Zuhörer wird. Die Narration schwankt von Beginn an in ihrem Status zwischen Tatsachenbericht, moralischer Erbauung und nostalgischer Überformung als eine Art Legende, die von der Figur eines alten Weisen wiedergegeben und dadurch verewigt wird. Dass es sich im frühen 18. Jahrhundert jedoch tatsächlich so oder zumindest so ähnlich zugetragen haben könnte, setzt nun auch die ‚Lektüre‘ eines Paul und Virginie-Raums zu anderen Voraussetzungen in Gang als wenn man sich in von antiken Poeten besungene göttliche Gefilde begibt. Während sich also der Palast des Amor oder die Insel der Calypso allein in der Fantasie verorten lässt, gehört die Isle-de-France und ihre Besiedlung durch die Europäer der historischen Realität an. Die vielen Verweise auf antike Welten und auf Vergils oder Horaz’ Verse und letztlich auch die Figur des weisen Alten, der in antiken oder Renaissance-Epen eine bedeutende Vermittlerfigur zwischen dem Beschriebenen und den Adressaten war, machen den Roman allerdings auch zu einem Teil eben dieses antiken Bildungsgutes und 1194
Vgl. die digitalisierte deutsche Ausgabe: J. H. Bernardin de Saint-Pierre:
Paul und Virginie (im Folgenden: Fink-Ausgabe), Neue Uebertragung durch G. Fink, Pforzheim 1840, S. 9.
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6. Paul und Virginie oder die Liebe im „Reich der Frauen“
setzen ihn in diese Tradition – auch dies wird für die Betrachtung der Tapete relevant sein. Dass es trotz der respektive neben den vielen Naturbeschreibungen darum geht, „die moralische Schönheit einer kleinen Gesellschaft“1195 darzustellen, und wie sich diese in die Natur um sie herum einfügt, wird ebenfalls im Vorwort erklärt, dem dann zu Romanbeginn eine sehr detaillierte Beschreibung des geographisch-botanischen Settings inklusive vergrößerndem Zoom auf die Behausungen der ProtagonistInnen folgt. Strukturell dient diese sehr lang gezogene, immerhin an die 25 Seiten umfassende Hinführung zum eigentlichen Plot dazu, die harmonische Einheit der Lebensführung der beiden (wiederum zu einer großen Familie verschmelzenden) Haushalte mit der Natur, dem Klima und den Jahreszeiten zu verdeutlichen. Eingangs werden die beiden Hütten als geschützt in einem Becken liegend erwähnt. Dabei handelt es sich keineswegs um objektive Naturbeschreibungen, denn der Verweis auf Ruinen und die sehr spezifisch auf die zu erzählende Geschichte bezogenen Eigennamen wie z. B. das „cap Malheureux“1196 nehmen zum einen den Verlauf der Geschichte gewissermaßen vorweg und charakterisieren zum anderen den Ort als einen von einem bedrohlichen ‚Außen‘ abgeschirmten Wohnort mit sehr individuellen Zügen. In der „grand silence“, die herrscht, und der Beständigkeit der Bewegungen der Palmenschäfte wird ein paradiesischer Zustand aufgerufen, der in dem quasi-sakralen Bild der von den Sonnenstrahlen beleuchteten Gebirgsspitzen, die „wie vergoldet und bepurpurt auf dem Blau des Himmels erscheinen“, kulminiert.1197 Mit dem Treffen der beiden Erzähler in dieser Landschaftskulisse und dem eigentlichen Beginn der Geschichte, die der alte Mann erzählt, wird sukzessive klar, welche Subjekte nun in diesen Ort hinein gesetzt sind. Die ‚Verderbtheit‘ der zivilisierten europäischen Welt ist Ausgangspunkt der Kleinen Gesellschaft auf der Insel: Die Mutter Virginies, Frau von Latour (die auch durchgehend diesen adeligen Namen trägt), hatte einen Mann unter ihrem Stand geheiratet, was zum Ausschluss aus der heimischen Gesellschaft führte und den Mann bei den Versuchen, eine wirtschaftliche Basis für die Familie zu sichern, umgebracht hat. Spiegelbildlich dazu ist die Vorgeschichte von Pauls Mutter, Margarethe (die auch nur mit ihrem Vornamen benannt ist), konstruiert: Als einfache Bäuerin von einem Adeligen im Stich gelassen, musste sie ebenfalls die Alte Welt verlassen. Beide werden wiederum jeweils von Skla-
1195 Ebd. 1196
Siehe J. H. Bernardin de Saint-Pierre: Paul et Virginie (im Folgenden:
PV), hg. von Pierre Trahard, Paris: Garnier Frères 1964, S. 77. 1197
Fink-Ausgabe S. 12; PV S. 79: „dont les pics s’élevant au-dessus des
ombres de la montagne, paraissent d’or et de pourpre sur l’azur des cieux“.
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Tapezierte Liebes — Reisen
vInnen unterstützt, Domingo und Marie, die miteinander verheiratet sind. Die beiden Hütten werden als „Zufluchtsstätte“ für diese in ihrem Ausschluss aus heimatlichen Gefilden vereinten Kleinfamilien gekennzeichnet. Sie schließen sich nun auf neuem Grund und Boden ein und sind allein auf Mutterschaft und Freundschaft hin orientiert. Die sich hier entwickelnde Idylle basiert also auf einer Situation des Vertriebenseins und des Exils. Noch dazu sind die Codes des als Negativfolie immer wieder mit benannten ‚herzlosen‘ Zusammenlebens in Frankreich in dem Standesunterschied zwischen den beiden Müttern und auch zwischen ihnen und ‚ihren‘ SklavInnen, die schließlich unfreiwillig und aufgrund von Regeln der Ungleichheit und des Herrschaftsanspruchs der Europäer in ihren Kreis gekommen sind, weiterhin präsent. Die fortschreitende Ein-Gewöhnung und Kultivierung durch die als eine Einheit zusammenarbeitenden Mütter-Familien ist also als Akt der Beherrschung und Aneignung zu sehen, der das Fundament aller häuslichen Glückseligkeit1198 in den Alltagspraktiken wie dem Aufrichten der Hütten, der Essenzubereitung, des Stillens und der Gartenzucht etc. bildet. Die Kinder wachsen wie Geschwister auf und werden als Figuration von Unschuld und Tugend schlechthin entworfen; für die Tapetenanalyse ist zudem hochinteressant, dass sie mit einer „antike[n] Gruppe von weißem Marmor“ verglichen werden.1199 Bemerkenswert ist, dass das erste Bild der Tapete gerade nicht eine der hier entfalteten und sehr bildlich vor Augen gestellten häuslichen oder auf die Versorgung ausgerichteten Alltagsszenen zeigt, wie z. B. das Stillen der Kinder, das Aufrichten der Hütten, das Sammeln von Früchten im Wald oder die eng beieinander sitzenden und bei sich Schutz suchenden Kleinkinder, sondern einen im Roman erst an viel späterer Stelle geschilderten Tanz, was dieser vorgezogenen (Zusatz-)Szene umso mehr Relevanz im Bildtapetenraum-Kontext verleiht. Ein erster Bruch mit der einförmig-harmonischen Alltagsidylle erfolgt, als die beiden Kinder einer entlaufenen Sklavin zu ihrem Herrn in einer entfernten Gegend der Insel folgen, um bei diesem um Gnade für die Geflohene zu bitten. Zwar gelingt das Vorhaben oberflächlich betrachtet, doch der Plantagenbesitzer in seiner groben und lüstern auf Virginie gerichteten Art verschreckt die beiden und sie fliehen vor ihm in den Wald, wo sie sich verlaufen. Paul sorgt mehrfach für seine Freundin, u.a. indem er sie auf dem Rücken über einen Fluss trägt und somit buchstäblich ihre Last auf seine Schultern nimmt. Sie werden schließlich von Domingo und dem Hund Fidel gefunden und in ihren Schutzraum zu den heimischen Hütten zurück gebracht. Diese beiden prägen1198
Fink-Ausgabe S. 22; PV S. 87: „le bonheur domestique“.
1199
Fink-Ausgabe S. 30; PV S. 92: „on eût cru voir un groupe antique de
marbre blanc“.
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6. Paul und Virginie oder die Liebe im „Reich der Frauen“
den und hochmoralisch mit den Gegensätzen von Wohltätigkeit und Grausamkeit, Freiheit und Zwang, Treue und Unredlichkeit spielenden Passagen, die kurz hintereinander und in logischer Aufeinanderfolge erzählt werden, finden sich in den nächsten beiden Tapetenbildern festgehalten. Darauf wird der Aspekt der freundschaftlich-aufopfernden Ergebenheit bei jedoch ungleichen Voraussetzungen für die Europäer und die SklavInnen nochmals in der folgenden Szene verstärkt, in der Visualisierung der in einer Sänfte getragenen Kinder. Es werden nun Themen und Motive im Roman entwickelt bzw. vertieft, die sich wiederum als Einzelszenen nicht in der Tapete wiederfinden; v.a. führt eine längere Passage ausgehend von der Beschreibung, wie Paul einen Garten anlegt, der sich konzentrisch von einem Mittelpunkt aus entfaltet „wie ein Amphitheater von Grün, Früchten und Blumen“,1200 den schon im Vorwort enthaltenen Leitgedanken einer sich mit und in der Natur zu einer ganzheitlichen Ordnung fügenden menschlichen Existenz weiter aus. Als Beispiele für die sehr verdichteten Vorstellungsbilder seien hier die „zwei Cocosbäume“, welche zum „Archiv der beiden Familien“ werden, und obendrein als „Paulsbaum“ und „Virginiensbaum“ getauft werden, die dann „ihre Zweige in einander“ schlingen,1201 sowie die Vögel in ihren Nestern, die „sich bald in der neuen Colonie nieder“1202 lassen, genannt. Hier verschmelzen der Rhythmus der Flora und Fauna und die menschliche Existenz sprachlich bzw. poetisch zu einem Bild. Das Ein-Nisten der Mütter-Familien in ihren beiden Hütten ist auch zuvor genau so beschrieben und dem der Vögel gleichgesetzt worden. Als sehr bedeutsam in diesem Zusammenhang möchte ich herausstellen, dass die längere Textpassage, die eine Gleichsetzung der beseelten Naturelemente mit den von ihnen inspirierten und durch sie erst emotional belebten Subjekten vornimmt, durch einen Tanz der Kinder in einem von Pflanzen kreisförmig umschlossenen und als „Eintracht“ bezeichneten Platz eingeleitet wird.1203 Der Tanz drückt die kosmischen Dimensionen aus, die mit dem Kreis, der Namensgebung1204 und der beschriebenen 1200 Fink-Ausgabe S. 55; PV S. 111: „de sorte que ce vaste enclos paraissait de son centre comme un amphithéâtre de verdure, de fruits et de fleurs“. 1201 Fink-Ausgabe S. 61; PV S. 116f: „Il naquit de ces deux fruits deux cocotiers, qui formaient toutes les archives de ces deux familles“. 1202 Fink-Ausgabe S. 62; PV S. 119: „dans cette nouvelle colonie“. 1203 1204
Fink-Ausgabe S. 59, PV S. 115 (mit Kapitälchen): „LA CONCORDE“. Der Name bezeichnet ganz direkt die Ursprünglichkeit, in einem Ver-
such, das Arbiträre der Sprache zu umgehen: die Geschichte dieser Kinderliebe hat so auch eine „fonction d’un mythe de fondation“, eine „mission de rendre compte de ce qui est, de justifier l’état de choses présent en l’ancrant dans une lointaine origine“. Daher stehen die motivierten Eigennamen für die Orte auf der Insel und zugleich für die identifikatorische Dimension, wenn diese Orte die Subjekte an sich binden und somit Ort, Subjekt und Bezeichnung miteinander eins zu werden
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Tapezierte Liebes — Reisen
Vereinheitlichung auch immer wieder einfließen. Es lässt sich auch geradezu eine Verwurzelung der Kinder herausfiltern, die wie Pflanzen gesetzt, gehegt und der Umgebung angepasst werden. Dieser semantische Komplex leitet wiederum als erste Szene die Modellierung der Geschichte auf der Tapete ein. Obwohl der nun folgende Erzählstrang eines nächtlichen Bades der Virginie den wichtigen Wendepunkt des Romans bildet, greift die Tapete diesen nicht auf; statt dessen gehören die fünfte bis achte Tapetenszene bereits zum zweiten, tragischen Teil der Geschichte, der sich im Roman dann nach dem Wendepunkt ereignet. Obgleich der Fokus hier nicht auf einer tiefergehenden Analyse des Romans liegen kann, sei die strukturell ebenso wie inhaltlich bedeutsame Stelle des Nachtbades noch etwas näher erläutert, um später sehen zu können, ob sich das hier Vermittelte in anderer Form auf der Tapete wiederfinden lässt. Eingeführt wird die bedeutsame Änderung der Harmonie auf der Insel damit, dass sich Virginie „von einem unbekannten Uebel beunruhigt“ fühlt.1205 Näherhin wird deutlich, dass damit ihr aufkeimendes körperliches Begehren nach dem brüderlichen Freund Paul gemeint ist, besonders, wenn es seine Berührungen sind, die diese Empfindungen bei ihr auslösen.1206 Wie auch sonst im Roman bedingen sich die innere Gefühlswelt der ProtagonistInnen bzw. der zur Hauptakteurin avancierten Virginie und die Erscheinungen in der Natur gegenseitig; entsprechend steigt eine fast unerträgliche Hitze auf und die Sonnenstrahlen gleichen „Flammen einer Feuersbrunst“,1207 während sie später beim Baden „ein verzehrendes Feuer erfasst“:1208 das der in einer Adoleszenten erwachenden Sexualität. Die Beschreibung des Bades und implizit des aufsteigenden Begehrens und der Flucht davor ist reichlich mit poetisch-expliziten Anspielungen versehen, wenn sie beispielsweise „im Wasser auf ihren nackten Armen und ihrem Busen die zwei Cocosbäume sich spiegeln“ sieht,1209 also ein Bild für ihre fantasierte Vereinigung mit Paul aufgerufen wird. Sogleich wird scheinen. Beispiele wären auch die „Warte der Freundschaft“, „Virginiensruhe“ oder „Berg der Drei Zitzen“. 1205 Fink-Ausgabe S. 79; PV S. 132: „un mal inconnu“. 1206 Fink-Ausgabe S. 80; PV S. 133. 1207 Fink-Ausgabe S. 82; PV S. 133: „comme les flammes d’un incendie“. 1208
Fink-Ausgabe S. 84; PV S. 134: „un feu dévorant la saisit“.
1209
Fink-Ausgabe S. 83; PV S. 134: „Elle entrevoit dans l’eau, sur ses bras nus
et sur son sein, les reflets des deux palmiers plantés à la naissance […] qui entrelaçaient au-dessus de sa tête leurs rameaux verts et leurs jeunes cocos“. Siehe auch Hinrich Hudde: Bernardin de Saint-Pierre, wie Anm. 1181: „Der Drang nach Rückkehr in den Mutterleib ist hier Gestalt geworden“, S. 41, sowie: „Die Mütter verdrängen bzw. sublimieren sexuelle Regungen“, und die Heraushebung der Kokospalme als „Verdoppelung des Paares“, deren „ineinanderwachsenden Blätter“ deutlich „die Bestimmung der Liebenden füreinander“ zeigen, S. 51.
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die Insel – wieder eine Übertragung des subjektiven Gefühles auf die Natur – von einem starken Unwetter erschüttert, das wie ein Vorbote des durch die baldige Abreise Virginies ausgelösten Unglücks alle in Angst und Schrecken versetzt und wiederum eine Wende in den sich nun beschleunigenden Ereignissen bewirkt. Genau in der Mitte des Romans angesiedelt und als der äußere Auftakt zum unglücklichen Verlauf gestaltet (indes das Baden und die Veränderungen in der Natur eine Art emotional-psychologische Wende bedeuten), ist der Besuch des Gouverneurs der Insel als ein Wendepunkt wiederum innerhalb des Tapeten-Raums zu sehen. Aufgrund seines Zuspruchs wird – hauptsächlich durch Frau von Latour – Virginies Einschiffung nach Europa beschlossen, die ihr einen sozialen Rang und wirtschaftlich-gesellschaftlichen Erfolg in der Alten Welt garantieren soll. Die folgenden Zweifel, Zerrissenheit und beginnende Spaltung der Kleinen Gesellschaft und schließlich die Abreise Virginies, die Unsicherheit und Qual Pauls bis zum dramatischen Untergang des die Geliebte wiederbringenden Schiffes nahe der Küste bis zur Grablegung Virginies finden sich in den Szenen sechs bis acht der Tapete angelegt, wobei genau zu untersuchen ist, welche Situation in welchen Elementen auf welche Art und Weise visualisiert wird und wie sich die erwähnten Auslassungen und Raffungen im Kontext der Gesamtszenerie auswirken. Es ist bereits klar geworden, dass die Tapete – auf den ersten Blick eine vergrößerte und bewohnbar gemachte Stichserie zum erfolgreichen Roman – eine ganz eigene Bildsprache und ein eigenes ästhetisch-didaktisches Potenzial hat und ihre Untersuchung die Thesen zu Telemach und Psyche vielschichtig ergänzen kann. Die Entfaltung der Tapete im kleinen Salon auf dem Schlossgut Petry ist in einen sehr augenfälligen Zusammenhang mit den drei genannten Supraporten gesetzt und ist daher auch in diesem Bezugssystem zu analysieren.
Die PV-Szenen, ihre Figur(ation)en und innerbildlichen Bezüge am Beispiel der Anordnung in Niedersgegen Erste Szene: Tanz der Kinder Wie oben schon erwähnt, zeigt die Tapete den Tanz der beiden Kinder in der im Roman als Eintracht bezeichneten Lichtung als Einstieg in das Geschehen. [Abb. 132] Der Abschnitt des Bodens, auf dem sie tanzen, ist kreisförmig bzw. leicht ellipsenförmig wie eine Bühne angelegt und wirkt auch hell beleuchtet mit einem von der Sonne gebildeten ‚Spotlight‘ auf den Tanz. Die Lichtung ist dicht von Felsen und Vegetation umschlossen, wobei sich in dem linken von
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Abb. 132 Paul und VirginieSalon auf Schlossgut Petry, Szene 1 der Tapete mit dem Tanz der Kinder.
Moos bewachsenen Felsvorsprung, wie oft in den Bildtapeten, die Thematik, hier also der Titel „Paul et Virginie“, eingraviert findet. Die Lichtung stellt so einen geschützten und zum Feiern bestimmten Ort dar, während sie zugleich mitten in der Landschaft ‚draußen‘ zu einem häuslichen Innenbereich wird: Die beiden schmalen hohen Bäume hinter der Figurengruppe stecken eine Art Eingangsbereich ab, an den rechts auch noch ein Vorhang geknüpft ist. Zusätzlich sind noch die beiden Mütter links hinter den Kindern mit Hausarbeiten beschäftigt – Spinnen und Korbflechten. Genau betrachtet sind die beiden Seiten des ‚Eingangs‘ von jeweils einer weiblichen Figur flankiert (links die mit Spinnen Beschäftigte und rechts die Sklavin Marie), sodass in diesem Bild in sehr verdichteter Form zum einen ein Konnex von Weiblichkeit und Innenraum hergestellt und zum anderen die (im Roman ziemlich realitätsfern und auch nicht widerspruchsfrei angelegte) experimentelle Gleichgewichtung von Hausherrin und Sklavin durch das Freundschaftsideal vor Augen geführt wird.1210 Somit wird ein Ideal einer naturbasierten, sich autark versorgenden Kleinfamilie vor Augen gestellt, die als Fundament und Garant für das Glück der beiden Kinder dient und diese auch entsprechend schützend halbkreisförmig einrahmt.
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Auch sind beim genauen Hinschauen auf die Szene drei zentrale Pha-
sen der Textilproduktion in einem sehr starken Rückbezug zur Natur der Insel auszumachen: das Herstellen der Fäden, die aus Pflanzenfasern gewonnen werden, das Verflechten zu einem Nutzgegenstand – hier allerdings nicht aus textilem, sondern Korbmaterial, dass aber ebenso aus Naturfasern besteht – und schließlich das Produkt des Vorhangs oder der Zeltplane rechts im Bild.
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Die beiden dunkelhäutigen SklavInnen sind aller Gleichsetzung zum Trotz dennoch als Einzelgruppe gegenüber den vier weißen ‚Familienmitgliedern‘ abgesetzt und unterscheiden sich auch in ihrer Kleidung von ihnen. Der Mann (Domingo) trägt eine kurze Hose und wird mit nacktem muskulösem Oberkörper gezeigt, die Frau (Marie) trägt ein kurzes Kleid, das schon über den Knien endet, während die beiden weißhäutigen Mütter links bodenlange und auch eher antkisierende Kleider tragen, die sie mit der Alten Welt und ihren kulturellen Vorstellungen und Praktiken verbinden. Ansonsten ergeben sich noch zwei andere Gruppierungen: Die Frauen sind durch ihre Hausarbeits-Attribute als die Arbeiterinnen und Versorgerinnen markiert, während der männliche Sklave Domingo unterhalb des Gesichtsfeldes der Frauen auf einer Linie mit den Kindern platziert ist und die Musik für ihren Tanz auf einer Triangel vorgibt. Er ist als väterlicher Freund – also gerade nicht eine Autoritäts-, sondern eher Vertrauensperson – dargestellt, was sich schon zwei Szenen weiter in seiner Rettung der Kinder wiederbestätigen wird. Mit dieser Präsentation des Personals und der Bezugsetzung von Selbsversorgung, Hausarbeit, Fröhlichkeit und Ungezwungenheit mit der Natur, die zum Haus und Schutzraum wird, gibt die erste Szene eine gute Exposition des Gesamtthemas zu sehen. Durch den ‚Eingang‘ zwischen den Palmen hindurch leicht schräg nach rechts hinten schauend, erkennt man klar gegen den hellen Berg im Hintergrund abgesetzt eine Figur mit Wanderstab und Hut auf die Lichtung zulaufen. Die Betrachtenden sind also auf ein baldiges Zusammentreffen eingestellt und können hier den Erzähler der (Bild-)Geschichte vermuten bzw. die Figur des Augenzeugen, der den Ablauf der Geschehnisse viele Jahre später weitertragen wird – der Beginn ‚des Ganzen‘ ist eingeleitet. Die Meta-Ebene des Erzählens und des potenziell unendlichen Rückbezugs auf Narrative, die einmal in das kulturelle Gedächtnis übergegangen sind, hat sich in etwas anderer Modellierung auch in der Erzählszene der Telemach-Tapete gefunden. So lässt sich noch einmal sehr gut fassen, dass und wie die Bildtapete, indem sie auch solche Meta-Ebenen der Narrative bzw. den Prozess des ‚Sich-als-Erzählung-Verdichtens‘ in den Innenraum transportiert, ein durchaus anspruchsvolles Reflexionsniveau mit in das Wohnen einbringt. In ihrer eigenen Bildsprache produziert und vermittelt sie vornehmlich Images von kulturellen Transformationen und Praktiken, anstatt lediglich fixe Ideen aus früheren Texten, Bildern und Medien zu übertragen.
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Zweite Szene: Paul und Virginie bitten den Sklavenhalter um Gnade Die zweite Szene basiert – wie auch die folgende – auf der Stichserie von Descourtis nach Schall und zeigt den Gang der Kinder zu dem grausamen Sklavenhalter. Interessanterweise ist diese Szene jedoch in ihrer Anbringung in Niedersgegen in zwei unterschiedlich große Abschnitte geteilt und auf den ersten Blick kaum als zusammenhängende Szene erkennbar. Hinter den buschigen Pflanzen, die in die Zimmerecke übergehen, hält sich ein Sklave – wiederum auffällig durch Nacktheit gekennzeichnet – an einer Palme fest und schaut seiner herabgesetzten Position gegenüber den Kolonialherren entsprechend von der Seite hoch zum Sklavenhalter, der wiederum seinen Stock mit der rechten Hand in die Höhe hält wie ein König sein Zepter. [Vgl. Abb. 124] Auf diese Weise sind die ‚Besitzverhältnisse‘ und die zentrale Thematik, die dieser Abschnitt der Bilderzählung behandelt, visuell abgesteckt. Der zweite und größere Teil dieser Szene findet sich erst an der nächsten Wand, und zwar prominent zwischen die beiden Fenster platziert. Der Mann und die Kinder schauen also jeweils in Richtung des Fensters und scheinen nicht direkt aufeinander zu reagieren bzw. sind durch das Fenster getrennt. Zwar weicht das Kinderpaar leicht nach hinten (also für die Betrachtenden in die Lesrichtung nach links) aus, jedoch ist diese Fluchtbewegung wenig akzentuiert und die Oberkörper entsprechend recht gerade. Die von ihrem Herrn bedrohte, sich auf allen vieren auf den Boden werfende Sklavin der grafischen Vorlage1211 wird auf der Tapete komplett durch eine größere Anzahl ‚anonymer‘ SklavInnen ersetzt, die hier in klarer räumlicher Trennung von den Kindern im Hintergrund auszumachen sind. [Abb. 125] Fünf anscheinend männliche Sklaven befinden sich mehr oder weniger auf einer Linie eher im Mittelgrund und eine weibliche Sklavin mit Kopfbedeckung schaut aus einem Fenster des Hauses im Hintergrund in Richtung des Geschehens. Nicht nur, dass die weibliche Arbeiterin in das Haus verbannt ist und auch noch zusätzlich hinter einer Gardine steht, vor ihr auf dem Fensterbrett sind zudem noch zwei Küchengefäße zu sehen. Jedes Geschlecht und jede soziale Position erhält hier einen eigenen Ordnungsraum im Bildgefüge. Das Anwesen des Herrn wird außerdem stark betont, indem das detaillierter ausgeführte Haus samt seines Anbaus (wahrscheinlich Ställe oder eine Art Schuppen andeutend) eine recht dominante Kulisse bildet. Die Architekturkulissen sind – v.a. in ihrer Kombination mit den Naturelementen 1211 Siehe unter der URL des Ackland Art Museum – wie Anm. 1184 – die erste Grafik von Descourtis: Paul and Virginie, 1 [Virginia Intercedes for a Runaway Slave].
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und als Markierungen eines in der Südsee verorteten Gesamtsettings – im zweiten Teil dieses Analysekapitels noch näher zu beschreiben. Abgesehen davon, dass Zeichen der Bedrohung und der unmittelbar wirksamen Ungleichheit und Unfreiheit, die der Roman und auch die Grafiken klar herausstellen, sehr zurückgenommen sind, ist hier bereits festzuhalten, dass die Formung der Kinder-Körper ab der zweiten Szene anders ist als noch in der einführenden Tanzszene. Das Pärchen ist deutlich erwachsener gestaltet und so wird klar: Mit der ersten Grausamkeits-Erfahrung und ihrem Verlorensein in der (Insel-)Welt beginnt nun die Adoleszenz und der Prozess der Reifung für beide Kinder. Innerhalb der Gesamtszenerie ist auch nochmals eine Entwicklung zwischen der zweiten und der dritten Szene der Tapete angedeutet, da das auf dem Waldboden knieende Paar wiederum etwas älter zu sein scheint; der Junge beispielsweise trägt längere Haare und hat etwas muskulösere Arme, das Mädchen hat rundere Oberschenkel und Hüften (ausgeprägte Brüste hat sie in beiden Szenen).
Dritte Szene: Paul und Virginie sehen Domingo mit offenen Armen auf sie zueilen (Domingo findet die im Wald verlorenen Kinder) Die gut die Hälfte der Wand gegenüber der Eingangstür einnehmende Waldszene ist auffällig in drei vertikale Abschnitte geteilt: In Lesrichtung ist zuerst die Kinder-Gruppe unter hohen Palmen auszumachen, dann der in starke Bewegung begriffene Domingo vor einem massiven in den Himmel aufragenden Felsen und schließlich eine in Richtung des hier zum ersten Mal durchschimmernden Meeres überleitende Pflanzenanordnung. [Abb. 127] Korrespondierend zur Tanzszene handelt es sich hier, bei Szene Nummer drei, wieder um eine bühnenartige und ebenfalls elliptisch gerundete Lichtung, die vollständig von Naturelementen in Form von sich mit einzelnen Bäumen oder Büschen abwechselnden Felsen umgeben ist. Der Felshintergrund ist schier undurchdringlich; der Eindruck einer Wildnis und eines ursprunghaft aus der Erde hervorbrechenden Ortes wird noch durch den steilen Wasserfall im Hintergrund zwischen Domingo und den Kindern verstärkt. Die Kinder haben wiederum ihren Schutzraum unterhalb von zwei Palmen und zwischen der hellen Ebene des Waldbodens und der dunklen der Felswand gefunden. Von besonderer Faszination ist dabei der Stamm der höheren Palme, der nach unten gerichtete Auswüchse zu allen Seiten hin aufweist und besonders lange Wurzeln hat, sodass hier ein Symbol für die Verwurzelung und das Geerdet-Sein der Kinder in der Insellandschaft sichtbar wird.
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Abb. 133 Paul und VirginieSalon auf Schlossgut Petry, Szene 4 (Detail) mit den Kindern auf der Sänfte.
Der genau mittig platzierte Domingo wirkt trotz der auf die Kinder gerichteten Bewegung einigermaßen isoliert. Er ist Teil einer vertikalen Linie, die sich von den Mini-Pflanzen im Vordergrund, die eine kleine Kuhle bilden, über seinen in den Felsen hinein modellierten Körper bis hoch in den weiter hinten und senkrecht aufstrebenden hellen Bergrücken zieht. Die Naturelemente sind dabei wiederum in ein genau berechnetes Bezugssystem zu den Figuren gesetzt, wenn beispielsweise die zweiarmige helle Blattpflanze im linken Vordergrund zum einen an den Felsen ausgerichtet nach oben und als Begrenzung der Lichtung wächst und zum anderen in etwa demselben Winkel wie Domingos rechtes Laufbein in seine Richtung weist. Es bilden sich ähnlich wie in der Telemach-Tapete mehrere Winkel, v.a. durch die beiden sich überlappenden Felsen vor dem Wasserfall und – über die ganze Szene hinweg betrachtet – durch die Vertikalen einmal entlang der Köpfe der Figuren und einmal entlang der höheren Palmen rechts abwärts zu den kleineren Palmwedeln links. Der Blick, der diesen Vertikalen folgt, wird immer in der felsig-massiven Mitte hängenbleiben. Zu den Kindern ist noch festzuhalten, dass sie sich in allen Szenen bis zum Schiffbruch berühren. Hier hält Paul das Mädchen am Arm fest und führt ihre Hand an das linke Vorderbein des Hundes – wobei sich beide im Schritt des jungen Mannes kreuzen – während der Hund Fidel mit beiden Vorderbeinen die Schenkel Pauls berührt und seine Schnauze zu Pauls Gesicht anhebt. Alle drei bilden somit eine körperlich-gestisch untrennbare Verbindung mit sexuellem Anklang. Letzterer wird umso wichtiger, wenn man bedenkt, dass der hier auch mit seinem Namen „Treue“ versprechende Hund als Symbolfigur der ehelichen Treue – ebenso wie der Freundschaft – fungiert.
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Abb. 134 Paul und VirginieSalon auf Schlossgut Petry, Szene 4 (Detail) mit den heraneilenden Müttern.
Vierte Szene: Die Sklaven tragen die Kinder auf der Sänfte An der Alkovenwand gegenüber den Fenstern befinden sich die vierte, fünfte und um die Ecke führende sechste Szene mit den Visualisierungen des Heimkommens der Kinder von ihrer Expedition zum Sklavenhalter, der Sitzgruppenszene (Besuch des Gouverneurs) und der Abschiednahme von Virginie am Hafen. Das Heimkommen, nachdem Domingo und der Hund Fidel die verirrten Kinder gefunden haben, findet in Form einer Prozession statt, wobei die Kinder von Sklaven in der Sänfte getragen werden und Domingo mit dem Hund vorausläuft. [Abb. 133] Die beiden Abschnitte dieser Szene – einmal rechts die auf die Siedlung und somit das Häusliche zulaufende Gruppe und einmal weiter links die beiden Häuser, zwischen denen die Mütter hervoreilen [Abb. 134] –, sind leicht halbkreisförmig angeordnet und nehmen das nur in Vorderansicht gezeigte Häuschen nebst den dazu gehörigen Pflanzen quasi in ihre Mitte. Domingo und der ergeben zu seinem Herrchen aufblickende Fidel bilden dabei wiederum eine Verbindungsstelle zwischen der Sänften- und der Müttergruppe. Das Paar auf der Sänfte wirkt eher wie in einer festlichen Prozession zur Schau gestellt als von einer Exkursion heimkehrend. In ihrer innigen Haltung – Paul hält Virginies Hand, legt seinen Kopf an ihr Haar und umfasst ihre Taille – und mit dem Rankenschmuck, der sie umgibt, bilden sie bereits ein Hochzeitspaar. Dieser These möchte ich noch hinzufügen, dass die Figuration des Sänftenpaares ein Pendant zu dem Hochzeitsbett in der Psyche-Tapete bildet, denn auch die
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Paul und Virginie-Tapete ist neben allen Narrativen zu Exotik, Sklaverei und Naturzustand insbesondere auch eine Paarfindungs-Tapete mit inszenierten Didaktiken zu Liebe und Ehe. Das über Virginies Kopf wehende und sie bekrönende Tuch ist wie ein Palmenwedel geformt und zudem ist das Paar von diesem Tuch und dem von der Sänfte herabhängenden Efeukranz geradezu als ein Oval gerahmt. Einer der vorderen Sänftenträger winkt zur Ankündigung dieses wertvollen Zuges jubilierend mit einem ‚echten‘ Palmenwedel. Durch die nach hinten gestikulierende Ankündigung Domingos und seinen Laufschritt wie auch die im Laufen begriffenen Mütter, die sich erstaunt und erleichtert an die Brust fassen bzw. die Hände gegeneinander pressen, erhält die Szene eine besondere Bewegung und wird zu einer Schlüsselszene. [Vgl. Abb. 134] Man bedenke auch, dass sie recht genau mittig in der (aus 30 Bahnen bestehenden) Gesamtszenerie platziert ist. Zusätzlich sticht die Szene formalästhetisch durch den besonders hell erleuchteten gekrümmten Sandweg heraus, auf dem sich die Schatten der Laufenden stärker abzeichnen als es in den anderen Szenen der Fall ist. Der Bühneneffekt, der sich dadurch ergibt, wird noch durch die beiden begrenzenden Häuser verstärkt, wobei das linke größere Haus mehr im Vordergrund steht und in dieser Raumanordnung genau am Rand der weißen Ofennische endet. Der Betrachterblick wandert hier von der Prozessionsszene aus die helle gekrümmte Bodenfläche entlang bis zu diesem Haus, das den Übergang zur nächsten Szene bildet, insofern an der anderen Seite des Hauses bereits eine weitere Figurengruppe zur Aufführung gelangt. Zu dem Haus ist noch zu sagen, dass auch hier, auf der Veranda und somit zwischen Innen- und Außenraum stehend, ein Sklave (diesmal eine männliche Figur) platziert ist, der einen Korb emporhält und dessen Körper und Blick zur nächsten Szene bzw. hier zu Wand und Ofen hin ausgerichtet sind. [Vgl. Abb. 130] Die oberen kleinen Fenster erlauben keinen Blick nach innen und wirken mit dem halb schließenden Vorhang, dem kleinen Gefäß auf dem Fensterbrett und einem Gitter davor wie Barrieren und zugleich Garanten eines sich abschließenden, wenn nicht gar verbarrikadierenden Wohnens. Das untere große Fenster wirkt auch ‚versperrt‘ von dem knochigen Baumstumpf, der davor respektive von der Blickachse her ‚hinein‘ platziert ist und ebenso stark zu gestikulieren scheint wie die menschlichen Figuren weiter hinten im Bild. Erneut erscheinen hier die Welten der SklavInnen und der Mütter-Familien – wenn auch stets in Bezug zueinander gesetzt – mit einem gewissen Abstand voneinander dargestellt und ihrem Status entsprechend ‚gruppiert‘.
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Fünfte Szene: Der Besuch des Gouverneurs M. de La Boudonnais (Der Gouverneur verspricht Paul lebenslange Freundschaft) Von der fünften Szene, die direkt links an der Ofennische ‚in medias res‘ beginnt, ist hier vor Ort im Vergleich mit Dufours kompletter Tapetenausführung nur die Hälfte des Geschehens zu sehen. Eigentlich handelt es sich um den Besuch des Gouverneurs im Haus von Virginies Mutter, der für Virginies Abreise nach Europa plädiert und bei Descourtis sowie normalerweise in Dufours Tapete in einer Freundschaftsumarmung mit Paul zu sehen ist.1212 Die beiden Männer fehlen hier allerdings und es schauen ‚nur noch‘ die drei sitzenden Frauen in Richtung des Ofens und der dahinter liegenden Prozessionsszene, wobei sich Virginie eng an ihre Mutter schmiegt. [Abb. 135] Da sich die erwartungsvolle Haltung der Frauen nun nicht mehr an den Besuch richtet sondern an das Dahinterliegende, ergibt sich hier im Raum eine neue Bezugsetzung zwischen dieser Sitzgruppe und der Lichtung mit Häusern und Hochzeitspaar. Der ‚Rückblick‘ auf die glücklich-feierliche Stimmung wirkt spannungsgeladen, denn hier entscheidet sich Virginies Schicksal: Das Mädchen schaut leicht ängstlich und hält sich an der Mutter fest, während die auf dem Baumstamm sitzende Margarethe aufgeregt gestikuliert. Virginie hat die Verklammerung mit Paul gegen die mit ihrer Mutter getauscht. Der gefällte Baum mit der Hacke sowie das gezäumte Pferd im Hintergrund verweisen dabei auf die Eroberungs- bzw. Kolonisierungsaktivitäten auf der Insel. Der vor dem gefällten Baum liegende Fidel schaut bereits in Richtung der nächsten, sich weiter links entwickelten Geschehnisse, mit denen sich wiederum die Stimmung auf der Tapete gänzlich ändern wird. Es fällt an der Stelle auf der Tapete bzw. im Niedersgegener Salon auf, dass sich im Vergleich mit der ‚vollständigen‘ Dufour-Tapete Verschiebungen – oder besser gesagt: Verklebungen – ergeben, die in ihrer Neu-Anordnung andere Beziehungen der Einzelszenen untereinander herstellen. Dadurch kommen den Betrachtenden diese Stellen eben nicht als Leerstelle oder als Bruch vor. Während beim Sklavenhalter keine inhaltliche Szene wegfällt, sondern zwischen ihn und die Kinder ein Fenster rückt und der Blick der Betrachtenden auf diese Weise zwischendrin auch auf die eigenen Besitzverhältnisse auf dem Schlossgut fallen kann, bevor er zur Tapete zurückkehrt, haben wir es hier nun mit der Auslassung des männlichen Teils der Sitzgruppe und insgesamt der Hälfte der fünften Szene zu tun. Dadurch
1212 Vgl. die Reihung der Szenen im Katalogteil bei Nouvel-Kammerer: Papiers Peints Panoramiques, wie Anm. 22, S. 266.
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Abb. 135 Paul und VirginieSalon auf Schlossgut Petry, Szene 5 (Detail) mit Bildausschnitt links neben der Ofennische.
wird die Aufmerksamkeit noch stärker auf die Figur der Virginie und ihre Wanderung vom männlichen Partner zur Mutter gelenkt.
Sechste Szene: Der Abend vor Virginies Aufbruch (Das Schiff liegt vor Anker) Die Zerrissenheit Virginies zwischen der Mutter bzw. mütterlicher Geborgenheit und dem brüderlichen Geliebten kommt in der sechsten Szene, in der sich auch die Dramatik am Übergang zur siebten Szene merklich steigert, noch stärker zum Ausdruck. Von der Sitzgruppe leicht abgesetzt, etwas weiter im Hintergrund, ist der Weg zum Strand zu sehen, auf dem sich Virginie angesichts des am anderen Ende der Bucht vor dem Hafen ankernden unheilbringenden Schiffes von ihren Liebsten verabschiedet. [Abb. 136] Wieder ist sie in der Paarung mit dem sie von hinten festhaltenden Paul dargestellt, der mit einer auf das Schiff zeigenden Geste auf das Schicksal vorausweist; ihre Mutter eilt heran und will sie umarmen, wobei das Mädchen auch mit ihr körperlich verbunden ist, indem sie ihr den linken Arm auf die Schulter legt und so ihre Entscheidung zu untermauern scheint.
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Abb. 136 Paul und VirginieSalon auf Schlossgut Petry, Szene 6 (Detail) mit Figurengruppe vor dem ankernden Unglücksschiff.
Der Übergang von der sechsten zur siebten Szene ist besonders stark, fast abrupt, markiert: Nach dem fast noch malerischen und beiläufig eingefügten Ausblick vom kleinen Strandabschnitt auf das Schiff, bleibt der Betrachterblick an einem hohen dunklen Felsen haften, hinter dem die Augenzeugen des Schiffbruchs und Todes des jungen Mädchens ihrer Verzweiflung Ausdruck verleihen. Die Zerrissenheit Virginies, von der eben schon die Rede war, verlagert sich dabei komplett in die Landschaft respektive die Naturelemente. Im zweiten Teil der sechsten Szene ist dies bereits spürbar, da das Wasser anfängt sich zu kräuseln und sich die ersten gelblichen Wolken langsam verdichten.
Siebte Szene: Virginie wird leblos am Strand aufgefunden (Der Tod Virginies) Der Felsen, der zu dem tragischen Ende überleitet, kann eher als eine Felslandschaft in sich bezeichnet werden, da er wiederum sehr zerklüftet ist, sich in alle Richtungen neigt und verschiedene Ebenen aufweist, auf denen etwas passiert. [Abb. 137] Die unterste Ebene, die sich ungefähr auf einer Höhe mit dem Meeresspiegel befindet, verstellt den Weg mit Steinen und macht ihn optisch im Gegensatz zu den hellen grasbewachsenen Lichtungen, die in den vorigen Szenen die Bühne bilden, schwer zugänglich. Auf der zweiten Ebene versammelt sich auf einem Plateau zum Meer hin eine Gruppe von Personen, die zu Augenzeugen des Schiffbruches werden. Auf dem mittleren Teil des
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Abb. 137 Paul und VirginieSalon auf Schlossgut Petry, Szene 7 mit Übergang zur/in die Eingangstür.
Plateaus, der eine kleine Fläche mit drei ins Meer ragenden ‚Fingern‘ bildet, ist Virginies Mutter zu sehen: sie ist auf die Knie gesunken, ihr Körper neigt sich nach hinten und sie hält sich den rechten Arm an die Stirn, während Pauls Mutter sie von vorne umfasst und eine weitere männliche Person sie von hinten stützt. Weiter im Vordergrund ist, mit der eleganten und im Wind offen wehenden Weste, der Gouverneur platziert. Nach oben hin öffnet sich der Felsen, sodass er zur einen Seite das Plateau mit den Figuren und zur anderen die Masten des Schiffes in der Bucht überwölbt. Seine dunkle, runde, zerfurchte Oberfläche setzt sich weiter oben im Himmelsbereich mit den bauschigen, dunkelgelben, sich zusammenballenden Wolken fort, die hier bedrohlich das Unwetter anzeigen. Dies tun ihrerseits auch die scharf nach links neigenden Pflanzen – sowohl die kleinen Büschel am Boden als auch die auf den Felsen gesetzten Bäume – und führen somit die Dramatik des Geschehens akzentuiert vor Augen. Diese Landschaft aus Felsen, schäumendem Meer und sich zusammenballenden Wolken sowie den sich stark neigenden Pflanzen variiert nochmals das Thema des Seestücks und der Erhabenheit in der (klassizistischen) Landschaftmalerei des späten 18. Jahrhunderts, wie sie in ihrem Einfluss auf Bildtapeten allgemein im zweiten Kapitel besprochen wurde. Die Szene wird so zu einer Art Pendant der vorgeschalteten sechsten Szene: Hier, rechts vom trennenden Felsen, liegt das Schiff malerisch und ruhig in der kleinen Bucht mit der Siedlung am Berghang, während es links vom Felsen bereits untergegangen ist und der Sturm das Meer und dessen ganze Einflusszone aufwühlt.
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Durch die Zusammenstellung von Meer, Wolken und Menschenfiguren wird in der Landschaftsmalerei eine Stimmungslandschaft mit Akzent auf ein menschliches Unterworfen-Sein gegenüber den Naturkräften gezeigt, wie es am Beispiel der Schriften Schillers und Schlegels sowie anhand von Poussins und Roberts Landschaften thematisiert wurde. Auf das Meer und die der Naturgewalt ausgesetzten Boote und Schiffe bezogen, lassen sich als Beispiele v.a. Vernet oder auch einige Jahrzehnte später dann Caspar David Friedrich anführen. Ihnen ging es in den Motiven der aufgewühlten See bzw. des Seesturms darum, eine Zuspitzung des Zusammenhangs von Verlorensein und Zuversicht, Imagination und Wieder-Holen des Verlorenen sowie eine ästhetische Erfahrung des Erhabenen herauszustellen. Vernets Bild „Ein Seesturm“ (1752) „ermöglichte den Betrachtern in den Salons das ästhetische Erleben eines schrecklichen Dramas, das in ihnen ein Gefühl des ‚Erhabenen‘ auslöste. Ein ähnliches, frühromantisches Naturerlebnis bot Bernardin de Saint-Pierre (1737–1814) den Lesern seines Erfolgsromans ‚Paul et Virginie‘ […]“,1213 und dieses Erlebnis bringt die Bildtapete nochmals einige Jahrzehnte später an die Wände – sicher nicht ganz zufällig auch zur Zeit Caspar David Friedrichs. Wir haben es also mit einer komplex ästhetisierten Landschaft zu tun, die nicht nur auf Philosopheme und Didaktiken der Landschaftsmalerei und deren Mittel, Erhabenheit angesichts der Naturgewalten zu evozieren, zurückgreift, sondern auch Bezüge innerhalb ihrer Szenerie herstellt, sodass die Meereslandschaft innerhalb eines Augenschweifens von malerischer Stille zu aufgewühlter Untergangsstimmung wechselt. Außerdem führt sie in dieser Anordnung und mit den hinzu gestellten Supraporten im Raum ein moralisches Programm im Bezugssystem von Liebe und Freundschaft vor. Besonders hervorzuheben ist die erneute Verschiebung/ ‚Verklebung‘ des Inhaltes, die hier im Raum an dieser prominenten Stelle stattfindet. Die Tapete setzt sich eigentlich mit dem untergehenden Schiffswrack sowie der achten Szene, in der Paul vor Virginies Grab betet, fort,1214 jedoch ist hier nun ein abruptes und gar nicht mehr an die Abmessungen der Wand angepasstes Ende zu sehen, das gerade noch den verzweifelt die Hände erhebenden Domingo in Rückenansicht sowie die Füße und das Gesäß einer knieenden Figur neben ihm zeigt. Die Betrachtenden können also weder das Schiffsunglück, das hier beklagt wird, noch die knieende Figur im Ganzen sehen, sondern drehen sich sofort zur Eingangstür und der Supraporte darüber, um dann bereits wieder am Anfang der Szenerie angelangt zu sein. Eine weitere erstaunliche Modalität ist die Anordnung der stehenden 1213 Wolfgang Wanko: „Von der Veränderung eines Ideals“, wie Anm. 245, hier S. 76. 1214 Vgl. Anm. 1212.
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und der knieenden Figur, denn ein genauer Blick auf die Standard-Ausführung Dufours zeigt, dass diese beiden Figuren genau andersherum angeordnet sind und eigentlich zunächst der knieende Mann, der mit einem Stock nach der im Wasser treibenden Virginie angelt, und dann vor ihm an der Spitze der Klippe erst Domingo dargestellt ist.1215 Hier ist Domingo von seinem Ursprungsort vorversetzt worden und somit hinter dem gerade noch erkennbaren kniienden Mann zu sehen. Insbesondere an dem Teil des Stockes zwischen seinen Waden, der von dem eigentlich hinter ihm angelnden Mann ausgehend hervorragt und hier seltsam deplatziert mit zur Darstellung kommt, lässt sich die Verschiebung seiner Position erkennen. Somit endet die Tapeten-Anordnung hier mit Domingos muskulösem Körper anstelle von Virginies Leiche oder der Grabszene. Zum einen ist ja schon festgestellt worden, dass sehr tragische oder unschickliche Motive, wie eine tote Figur, generell nicht direkt oder an zentraler Stelle in Bildtapeten dargestellt worden sind und zum anderen wird die nun dieses Teilkapitel abschließende Raum-Wirkungsanalyse noch einmal genauer zeigen, wie und warum sich das Narrativ von Virginies Tod so stark verschiebt. Festzuhalten bleibt hier noch, dass sich im Himmel und den sich ändernden Lichtverhältnissen eine Wendung ins Transzendente ankündigt, da sich der „Schiffbruch als Weg in die neue ewige Vereinigung des echten jenseitigen Paradieses entpuppt.“1216
Die ästhetische (Bühnen-)Wirkung und Neuerzählung von Paul und Virginie im Gesamtsetting des Raumes Der kleine Salon in Niedersgegen durchmischt seine Paul und Virginie-Erzählung mit drei weiteren Narrativen, die über die Supraporten mit den Tapetenbildern verkoppelt werden.1217 Die erste dieser Schnittstellen befindet sich gleich im Eingangsbereich: Der Raum wird genau zwischen der letzten angeschnittenen Tapetenbahn der Schiffbruch-Szene und der ersten Szene mit dem Tanz der Kinder betreten bzw. verlassen. Gerade durch den ‚abge-
1215 Vgl. ebd. 1216 Hinrich Hudde: Bernardin de Saint-Pierre, wie Anm. 1181, S. 30. Siehe auch die Vorsehung oder „Providence“ als Leitbild, S. 31. 1217
Von der Ausführung und Farbgebung her scheinen diese Supraporten
ebenfalls aus der Manufaktur Dufour zu stammen, allerdings gibt es keine gesicherten Kenntnisse über die als ‚Beiwerk‘ mitgelieferten Supraporten und ihre Entstehung oder Häufigkeit ihrer Verbreitung.
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trennten‘ Körper der auf dem Felsen knieenden, kaum noch sichtbaren Figur rechts nimmt der Betrachterkörper hier eine besondere Position ein, als ob er selbst den angeschnittenen Körper im Bild ausfüllen könne und neben dem verzweifelten Domingo zum Augenzeugen des Untergang-Geschehens werde. Die besonders ausgeprägte Linksbewegung der Wolkenformation, der Blicke und Gesten der Figuren und sich biegenden Bäume weist sofort den Weg nach links in Lesrichtung der Tapete, wobei die Familienszene über der Tür sowohl zum Verbindungsglied zwischen der tragischen und der harmonischen Szene zu beiden Seiten der Tür als auch zu einer Art ‚Stopper‘ bei der Lektüre der Tapete wird. Die Thematik der Supraporte nimmt augenfällig die Geschichte der beiden Mütter und ihrer sich liebenden Kinder unten im Raum wieder auf bzw. führt sie in variatio fort. Hier sind ebenfalls zwei Mütter zu sehen, die – wie es bei Frau von Latour und Margarethe der Fall ist – von unterschiedlichem Stand sind, da die vordere Figur ein etwas herrschaftlicheres Kleid und Kopfschmuck trägt und von der links leicht schräg hinter ihr sitzenden Figur, die ihr einen Arm auf die Schulter legt und mit dem anderen ihre Hand hält, gestützt und zudem bewundernd angeschaut wird. [Vgl. Abb. 122] Die Frauen sitzen – in auffälliger Ähnlichkeit zu der Säuglings-Supraporte im Telemach-Saal in Borghorst – auf einer Gartenbank in einem geschützten Raum, der dekorativ von sehr kleinen und an jeglichem Wildwuchs gehinderten, zurückgestuften Pflanzen sowie einer antiken Amphore, der großen Kinderwiege, einem Spinnrad und dem schlafenden Hund, der den Fidel von der Paul und Virginie-Tapete spiegelt, eingerahmt wird. Die beiden Säuglinge, auf dem Schoß der vorderen Mutter bzw. sich aus der Wiege heraushebend, küssen sich genau im Mittelpunkt der beiden Frauenkörper und es ergibt sich wiederum ein Rahmen aus den nackten Gliedmaßen der vier Figuren. Die Mutter hält vorne auf der Bank mit dem herabhängenden linken Arm einen Fuß des Babys fest und ‚schließt‘ somit die kreisförmige Umarmung von allen vier Figuren. Insbesondere die Spindel rechts im Bild verweist auf die Hausarbeit, die mit den Frauen, dem gemeinsamen Aufziehen ihrer Kinder und ihrer Freundschaft verkoppelt wird und die auch in der Tapete, und zwar gleich in der ersten Szene links unten, wieder vorkommt. Strukturell wird mit dieser Supraporte ein erstes Stadium der sich auf der Südseeinsel einrichtenden Frauen und ihrer Verbundenheit inklusive der bereits zwischen den Säuglingen aufkeimenden Liebe gezeigt, das in dem Tanz der (noch kleinen) Kinder in der ersten Tapetenzene und später dem adoleszenten Pärchen in den weiteren Szenen dann fortgesetzt wird. Die anderen beiden Supraporten befinden sich an der gegenüberliegenden Wand und rahmen somit die breite Tapetenszene mit der Auffindung der Kinder durch Domingo und Fidel ein. Mit diesen beiden Supraporten werden Episoden
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aus dem Leben des Bacchus, genauerhin aus seiner Kindheit, mit in den Raum gebracht. Zur rechten Seite bringt Merkur den kleinen Bacchus in die Obhut von drei Nymphen, die ihn in Empfang nehmen, und zur linken Seite sind fünf Nymphen aus dem Kreise der Amaltheia dabei zu sehen, wie sie eine Ziege behüten (wahrscheinlich Amaltheia selbst), die gerade den kindlichen Bacchus säugt. [Vgl. Abb. 128 und 129] Somit sind hier passend zur Tapetenszene in der Mitte – und zum Wendepunkt in der Paul und Virginie-Geschichte – die Themenfelder des Ausgesetzt-Seins, In-Obhut-Gebens und Versorgens aufgegriffen und die Mythologie des Bacchus mit der Liebesgeschichte der beiden Kinder in der Südsee verkoppelt. Dies ist einerseits ein sehr überraschendes Moment im Raumprogramm in Niedersgegen, denn ein bacchantisches Leben mit seinen Ausschweifungen und Weingelagen scheint mit den Didaktiken der Freundschaftsliebe, Treue und gesitteten Familienidylle nicht viel zu tun zu haben. Andererseits passen, wie gerade gezeigt, die Umstände der Kindheit von Bacchus wiederum zum Umfeld von Paul und Virginie. Zudem sind das Haus und der Schlosshof in der Nähe der pfälzischen Weinberge gelegen, so ergibt sich ein regional-kultureller Verweis auf die mit der konkreten Hauswirtschaft ‚drinnen‘ verwobenen ökonomischen Faktoren ‚draußen‘. Nach dem Blick auf die einzelnen Szenen und ihre Anordnung mit und zu den Supraporten wird nun eine Analyse des Gesamtsettings fällig, das so angelegt ist, dass es auf eine bestimmte Weise mit den BetrachterInnen interagiert. Wie in den obigen Ausführungen schon angeklungen war, besteht die Abfolge der sieben (oder genauer: sechseinhalb) Szenen aus einer Landschaftsdarstellung mit einem bühnenartigen Vordergrund, in den die Figuren bzw. der Plot gesetzt sind, einem hauptsächlich aus Naturelementen zusammengesetzten Mittelgrund und einem Hintergrund aus Gebirge und Himmel bzw. Wolken. Diese eher offene Landschaft – die aber dennoch im Hintergrund begrenzt wird und daher nicht ins Unendliche tendiert – hat die Tapete mit der Telemach-Tapete gemeinsam, ebenso wie die bewussten Schichtungen von Natur, Architektur und miteinander ins Verhältnis gesetzten Figuren(gruppen), die nicht wild und wuchernd ineinander verlaufen, sondern sehr geordnet und aufeinander bezogen über die Gesamtfläche verteilt sind. Hier sei auch daran erinnert, dass der Roman „Paul et Virginie“ in Folge bzw. als Teil von Bernardin de Saint-Pierres „Naturbeschreibungen“ erschienen war und außerdem im Romantext bereits sehr spezifische, mit moralischen Vorstellungen verknüpfte Beschreibungen der Flora und Fauna zu finden sind, wie das Eingangsszenario im „Wald über dem Walde […]“.1218 Hier finden sich
1218
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schon Schichtungen, als wenn sich also im Verlauf der Geschichte etwas offenbaren wird und muss,1219 das die LeserInnen im Akt des Lesens schrittweise durchdringen, wie es die BetrachterInnen und BewohnerInnen im Schlosshof-Salon mit realen Schritten und Kopfbewegungen tun. Dem Trieb, „tiefer in den ursachlichen Zusammenhang der Erscheinungen einzudringen“,1220 soll hier durch die Ästhetik der besonderen Anordnung(en) Raum gegeben werden – und zwar genau entsprechend den idealistisch-gesellschaftsphilosophischen Ansätzen, die sich bei Rousseau und Bernardin de Saint-Pierre sowie in der Gesellschaftstheorie und in biopolitischen Schriften finden. Eine besondere Dynamik entsteht im Abschreiten der Tapetenwände auch durch die zunehmende Ballung von Wolken, die als leichte Schäfchenwolken über der fröhlichen Tanzszene – der ‚Eintracht‘ – einsetzen und schließlich im tragischsten Moment in dicken, massiven Gebilden den Himmel verhängen. Durch die weiten Himmelsflächen im monochromen Braun-Gemisch wird die Konzentration des Betrachterblickes auf die Bühne weiter unten gelenkt und auf die Handlungen, die dort stattfinden. Dabei sind die Figuren jeweils so auf den bühnenartigen Plätzen bzw. Lichtungen positioniert und vom Hintergrund abgesetzt, dass man ihnen mit dem Blick wandernd gut folgen und am szenischen Geschehen teilhaben kann. Diese einzelnen Szenen sind jedoch wiederum durch hohe Bäume oder klare Einschnitte voneinander abgesetzt, wie durch die abfallende Landmasse und den Beginn des Meeres in Szene sechs, oder den riesigen Felsen mit den Wolkenansammlungen kurz vor Szene sieben. So wird eine Umerzählung durch Neuanordnung und eine Konzentration auf bestimmte Narrative vorgenommen. Immer wieder wird so die Paarung der Kinder hervorgehoben; in Szene vier werden sie sogar in einer Neuerfindung Dufours auf einer Sänfte wie Königskinder getragen und in einer Zuspitzung bis zur Szene sechs wird das junge Mädchen immer wieder als zwischen der Mutter und dem geliebten (Geliebten-)Freund pendelnd präsentiert. Das eigentliche Unglück wird sodann aus der Bildsprache verdrängt und in die Natur-Elemente hinein verlagert: Im Übergang von der rechten zur linken Seite des großen Felsens ist das Meer erst ruhig und das Schiff majestätisch darauf positioniert und wird dann zunehmend aufgewühlt, passend zu den Wolken und den gebogenen Felsteilen und Bäumen. In den Szenen davor wird die Dramatik lediglich aufgebaut, ist aber im Vergleich kaum als solche wahrnehmbar. Generell ist die Natur nicht, wie es mit der Thematisierung der Südsee und 1219 Siehe den Begriff der ‚Schichtung‘ bei Patricia Lambertus in der Einleitung der vorliegenden Arbeit. 1220 Fink-Ausgabe, S. 17.
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insularer Abgeschiedenheit hätte erwartet werden können, wildwüchsig und undurchdringlich, selbst nicht, wenn sie wie in Szene drei – als sich die Kinder verlaufen haben – zum temporären Gegner oder Unsicherheitsfaktor wird. Vielmehr werden einzelne Elemente, v.a. Palmen und Felsen oder auch Blätterbüschel, isoliert und erhalten sogar einen sehr eigenen Charakter, wie es in Szene drei bei den ausgeprägten nach unten weisenden Riesenwurzeln der rechten Palme oder dem zwischen Felsen gebändigten geometrisierten Wasserfall zu beobachten ist. Diese Elemente sind also sehr bewusst über die Fläche verteilt und mit den zwischen, mit und von ihnen lebenden Figuren in Beziehung gesetzt, indem sie diese einrahmen oder wie in der Tanzszene ihre Gegenstände tragen – oder sich auch, wie in dem Haus kurz vor der Ofennische, in die von ihnen erbaute Architektur einfügen bzw. davor schieben. Auch die Berge erfüllen eine klare Funktion im Gesamtbild, indem sie das Setting in den Tiefenraum hinein abgrenzen und ein Abdriften des Betrachterblickes in die Ferne verhindern. So werden die Einzelbühnen erst recht als in sich geschlossenes und verinseltes System wahrgenommen, das die Betrachtenden wieder auf sich und in ihren Realraum zurückwirft. Auch ist die Architektur – wenn man noch einmal das Anwesen des Sklavenhalters oder die beiden Häuser in der Sänften-Szene betrachtet – nicht etwa herrschaftlich und besonders verziert, wie es in den Szenen der Psyche-Tapete der Fall ist, sondern einfach gehalten und als Holz- oder Ziegelbau dargestellt, strohgedeckt und mit maximal einem Obergeschoss versehen. Das Setting ist offensichtlich ein einfacheres und auch anders mit der Natur interagierendes als das bei Psyche und Telemach – man denke hier an den imposanten Palast der Venus und die riesige Terrasse mit den Statuenreihen. Hier geht es, so lautet meine diese Beobachtungen zusammenfassende These, um eine mit visuellen Mitteln und als Raumprogramm umgesetzte ‚Einbürgerung‘ der von der europäischen Gesellschaft Ausgeschlossenen in die Südsee-Landschaft. Des Weiteren sollen die einzelnen gezeigten Stationen dieser ‚Reise‘ zu einer unauflösbaren Ganzheit von Mensch und Natur zusammengefügt werden – und zwar auf Basis einer mit Natürlichkeit gleichgesetzten Freundschaft und Treue innerhalb der Familie bis in die Kindheit und die dort zu verankernde ‚reine Form‘ der Freundschaftsliebe hinein. Im Roman geschieht dies u.a. über die Analogisierung der Handlung mit kosmischen Phänomenen, die in der Tapete auch in der Gestaltung des Himmels zum Ausdruck gebracht werden.1221 Auch Alexander von Humboldt spricht nicht von einzelnen
1221
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Siehe Hudde: Bernardin de Saint-Pierre, wie Anm. 1181, S. 23f.: „Die
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Erscheinungen der Natur als etwas von der menschlichen Gesellschaft Unabhängiges, sondern verbindet beides sofort über eine Rhetorik der Aneignung und der Verwandtschaft: „Da offenbart sich uns, den Bewohnern der nordischen Zone, von ungewohnten Pflanzenformen, von der überwältigenden Größe des tropischen Organismus und einer exotischen Natur umgeben, die wunderbar aneignende Kraft des menschlichen Gemüthes. […] Wir fühlen uns so mit allem Organischen verwandt, dass wir uns doch bald in dem Palmen-Klima der heißen Zone eingebürgert glauben.“1222 Die Exotik, die um 1800 so eine Faszination ausübte, wird also sofort schon in Bekanntes und sogar Verwandtes umcodiert, und in diesem Codierungsprozess wirkt die exotische Natur wie ein moralischer Spiegel, der ein menschliches ‚Verfehlen‘ zurückwirft und gegebenenfalls sanktioniert (Unwetter, Schiffbruch). Damit wird auch im Paul und Virginie-Setting das europäisch-philanthropische Wertesystem der Spätaufklärung sichtbar und das tropische Martinique zu einem europäischen Erziehungsort. Was die Landschaftskulisse und deren Stufungen, Korrespondenzen und Spiegelungen betrifft, konnten auch schon die auffälligen Gemeinsamkeiten mit dem Telemach hervorgehoben werden – allerdings funktioniert das Vor-Augen-Stellen der antikisierten Idylle hier bei Paul und Virginie anders. Der größte Unterschied zum Telemach und anderen Landschaftstapeten ist sicherlich die andere Farbskala, die hier nicht aus zarten Pastelltönen besteht, sondern in ernsten, gesetzten Braun- bzw. Sepiatönen abgestuft ist, die eine (historische) Distanz herstellen. In diesem zurückgenommenen und gedeckten Farbverlauf sowie den recht isoliert voneinander gezeigten Szenen weist die Tapete wiederum eine Gemeinsamkeit mit den Grisaille-Tableaus von Psyche auf, sodass ich sie in ihrer ästhetischen Wirkung als eine Mischform aus diesen beiden zuvor analysierten Tapetensettings betrachten würde. Dies bestätigt auch die eigentümliche Kombination einer exotischen Landschaft mit einer kalkuliert-geometrisierten Gesamtanordnung der Natur, die deutlich klassizistische Tendenzen zeigt, welche durch die drei Supraporten nochmals verstärkt werden. Die Absetzung und Bezugsetzung der Einzelelemente von- bzw. zueinander, die Geometrisierung und klare
Zeit wird im Bewusstsein der Hauptpersonen und im Roman überhaupt durch die kosmischen Umläufe bestimmt. Das unterstreicht den mythisch-urzeitlichen Charakter des Werkes“, und den „kosmische(n) Kreislauf“ im „Licht-Zeit-Bezug“. 1222 Kosmos, S. 11.
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Linienführung in den Szenen und v.a. auch die beschriebenen Haltungen und Kleider der Figuren lassen Paul und Virginie klassizistisch-geordnet wirken, sodass gerade nicht der Eindruck entsteht, man befände sich in einem exotischen Südsee-Regenwald. Hier möchte ich noch einmal das aufrufen, was in den Kapiteln 3.2 und 3.3.1 zur Formensprache und zu Raumprogrammen des Klassizismus gesagt wurde: In Abhebung zu überbordenden und ‚verschwenderisch‘ gebrauchten Verzierungen des Rokoko kam eine parallele Debatte zur Aufwertung des Ornaments – hauptsächlich der Arabeske – und zugleich übersichtlichen Strukturierung und Felderung der Wände auf. Diese lief auf eine Integration von klar umrissenen Hauptaussagen und deren verzierender Rahmung hinaus bzw. auf eine Art ökonomischen Umgangs mit der Dekoration: „Die edle Einfalt in den Umrissen zu suchen, hatte Winckelmann gefordert – eine Ökonomie, die ontologisch fundiert ist, da das Gegenstandskonzept und somit das Wesentliche des Werks sich im Umriss manifestiere, während die Farbe den Abriss nur nachträglich illuminiert.“1223 Es geht hier also auch um die „Ökonomie der Linie“1224 und darum, dass sich die einzelnen Elemente – hier genauerhin die Tapeten-Tableaus, Supraporten und Bordüren und auch die Übergänge zu Fenstern, Tür und Ofen – zu einem ‚sinnvollen Ganzen‘ im Sinne einer Gesamtaussage fügen. Laut der zahlreichen Schriften zur Autonomie der Kunst um 1800 bringen künstlerische Gestaltungen jeder Art ein „anthropologisches Formbedürfnis“ zum Ausdruck, „welches die Ästhetisierung des Alltags als ästhetische Erziehung rechtfertigt und das Ornamentale an der Würde der Kunst teilhaben lässt.“1225 Das Ornament innerhalb eines architektonisch-dekorativen Systems erhält aber auch eine „Lizenz zur Poesie“, sodass ihm neben jeder Ökonomie auch wiederum die Freiheit gesichert scheint – die literarisierten Wände der Bildtapetenräume haben an genau diesem Changieren zwischen den beiden Polen von Zurückhaltung/ Ökonomie und Freiheit/ Poesie teil. „In sich selbst vollendet, organisiert von einer inneren Zweckmäßigkeit“,1226 also mit einer Formensprache, in der nichts unmotiviert ist und die auf ein Ganzes abhebt, will sich auch die Paul und Virginie-Geschichte an den Wänden präsentieren.
1223
Sabine Schneider: „Zwischen Klassizismus und Autonomieästhetik der
Moderne“, wie Anm. 772, S. 344. 1224 Ebd. 1225 Ebd., S. 350. 1226 Ebd., S. 355.
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In dem Vollkommenheits- und Harmoniegedanken, der sowohl aus dem Forschungs- und Naturbetrachtungsdiskurs seit Humboldt bzw. schon seit Bernardin de Saint-Pierre, als auch aus der Aufklärungspädagogik Rousseaus und der Philanthropen in die konkrete Szenen-Ausgestaltung hineinwirkt, lässt sich zugleich eine Schnittstelle von klassizistischem und frühromantischem Denken festmachen. Die Korrespondenzen zwischen menschlichen Handlungen und Naturelementen, die in der Tanzszene auf dem Platz der ‚Eintracht‘ ihre wahrscheinlich deutlichste Verdichtung finden,1227 zielen darauf ab, alles mit allem in Verbindung stehend und als ein in sich bedeutsames Ganzes zu imaginieren. Dies ist auch der Grundgedanke, der hinter Humboldts Kosmos-Projekt steht, und entspricht Bernardin de Saint Pierres Ausführungen in den „Études“: „Das in Paul et Virginie wirksame Symmetriedenken leitet der Autor in den Études aus der Natur ab: ‚C’est cette consonnance universelle de formes qui a donné à l’homme l’idée de la symétrie.‘“1228 In diese Überlegungen zur Ästhetik von Paul und Virginie, zur klassizistischen Zurücknahme, Aneignung und Verwandtschaft sowie zu den Korrespondenzen von Natur und menschlichem Aufführen ist noch mit einzubeziehen, wie sich die Aufteilung der Einzelnarrative auf die Flächen und den Raum vollzieht und wie sich darin die Platzierung des ‚Personals‘ gestaltet. Die Tapetenszenen sind an sämtlichen Übergängen zur Decke und zum Boden bzw. dem Lambris hin von einer Bordüre gerahmt, die ebenfalls braun gehalten, aber noch dazu mit einer hellblauen Ornamentik versetzt ist, die als Kontrast wirkt und die Rahmung gut von den Szenen unterscheidet. Das Lambris ist als einfache, braun-verwaschene Marmorimitation gestaltet. Die ‚erdige‘ Wirkung des Tapetenprogramms wird noch durch die ebenfalls braunen Türen und Türpfosten unterstrichen; und während das Lambris optisch die Tapetenszenen stützt, werden die drei Supraporten wiederum von der leicht hervorspringenden Türabschlussleiste gestützt und an den drei Seiten von ihrem eigenen Bordürentyp – allerdings farblich genau passend zur Tapetenbordüre – begrenzt. Die Übergänge der Szenen zu den Türen, Fenstern und der Ofennische sind allerdings ‚fließend‘, d.h. nicht durch Bordüren eingerahmt. Dadurch ergibt sich ein ausgewogenes System, das sowohl ein fließendes Gleiten des Blicks ermöglicht und den Eindruck vermittelt, der durch die Tür kommende Betrachterkörper stiege direkt in die Szenerie ein oder die Figuren
1227
Was auch die Vorverlegung dieser im Roman später geschilderten
Stelle in das erste Bild der Tapete erklärt. 1228 Hinrich Hudde: Bernardin de Saint-Pierre, wie Anm. 1181, S. 19. In der Literatur der Romantik ist es ein beliebter Topos, von Korrespondenzen („Correspondances“) zwischen Naturerscheinungen und dem menschlichen Seelenzustand zu sprechen.
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kommunizierten direkt über Ofen und Fenster hinweg miteinander, als auch eine klare Begrenzung und Einteilung der Flächen vorgibt. Die Supraporten sind v.a. über die Thematik bzw. Motivik, aber auch die zum Gesamtprogramm passende und sie buchstäblich darin ‚einbindende‘ Bordürengestaltung mit der Tapete verbunden, jedoch farblich abgesetzt, da sie nicht in Sepia-, sondern in Grisailletönen gehalten sind. Diese an sich unterschiedlichen Narrative werden also trotz ihrer Verkopplung im Raum optisch nicht gleich behandelt. An dem Personal der Tapete ist nun auffällig, dass zum einen die beiden Mütterfiguren nie direkt mit den SklavInnen gruppiert bzw. neben diese gesetzt sind, während das aber für die Kinder in ihrer Beziehung zu Domingo und den anderen SklavInnen sehr wohl gilt – man beachte v.a. die Tanzsszene und die Sänftenszene. Zum anderen nehmen die SklavInnen gewissermaßen die Stelle von Dekorations- und Nebenfiguren ein, die das Setting charakterisieren, wie bei Telemach die Nymphen und bei Psyche die Dienerinnen und Schwestern. Werden die Sklaven-Figuren so in Abhebung zu erwachsenen Europäer(inne)n mit den Kindern bzw. Jugendlichen auf eine Stufe gestellt, und inwiefern lässt sich der Sklaverei-Diskurs mit dem Liebes- und Familienideal und auch mit der Bewirtschaftung des Schlosshofes in Niedersgegen in Verbindung sehen, da es sich grundsätzlich doch um verschiedene Ebenen der Vergesellschaftung handelt? Ein konzentrierter Blick auf diese Diskurse und auf die Art von Gemeinschaft/ Kleine Gesellschaft (petite société), die hier entworfen wird, soll schließlich die bis hierhin behandelten Aspekte ergänzen.
�.� Die Gefühlsgemeinschaft: eine ‚Ge-Wohnheit‘ zusammen zu leben Wie in den Tapetenszenen, sind auch im Roman schon die beiden Familien, die im Inselalltag zu einer Einheitsfamilie werden, „auf das Liebespaar hin konzipiert“,1229 und „[a]lle Personen, sogar der treue Hund, bilden eine so enge Gemeinschaft, dass sie allesamt sterben, sobald der Tod eines Mitglieds die prästabilierte Harmonie zerstört.“1230 Dabei ist dieses Liebespaar ein kindliches, ein Unschuldsparadigma verkörperndes, das in der Adoleszenz zwar von Leidenschaften ‚bedroht‘ erscheint (siehe die obigen Ausführungen zum nächtlichen Bad und zum aufkom-
1229 1230
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Hinrich Hudde: Bernardin de Saint-Pierre, wie Anm. 1181, S. 33. Ebd., S. 34.
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menden ‚Übel‘ der sexuellen Begierde, das Virginie befällt1231), diese jedoch im Verlauf der Geschehnisse bis hin zur ‚Erlösung‘ durch den Tod nie auslebt. Damit wird ein asexuelles Liebesideal in Gang gesetzt, „[d]ie Liebe zwischen Paul und Virginie ist somit nur möglich als Kinderliebe, als Fernliebe und als himmlische Liebe“,1232 wobei die damit eingebrachte Distanz nur auf das Körperliche bezogen ist, da ja eine auf einer größtmöglichen emotionalen Nähe basierende Seelenverwandtschaft erzählt wird. Dies ist auch auf der Telemach-Tapete ganz ähnlich gestaltet, die wie hier sexuell-ausschweifende Narrative und potenzielle Identifikationsangebote für die BetrachterInnen von der Ebene des Personals auf die Naturelemente verschiebt und dadurch einerseits verharmlost und andererseits als mit und durch Kunst kontrollierbar mythifiziert. Bei Paul und Virginie kommt jedoch eine weitere Stufe an Mythifizierung hinzu, da hier die Zivilisation selbst als VerführerIn Unordnung stiftet und mit Virginie eine „Variante des Themas der verfolgten Unschuld“ entworfen wird, „die sich schließlich nur in den Tod retten kann“, und auch zugleich der Stoff der römischen Virginia mit aktualisiert wird: „Die Welt der Zivilisation zerstört als Verführer das Naturparadies.“1233 Kindheit und Tod gehen in der Erzählung und v.a. auch in den acht Tapetenszenen schnell ineinander über mit dem Ziel, eine Seinsstufe zu erreichen, die man auf irdischem Boden und in einer vergesellschafteten Form nicht zu finden, der man jedoch mittels der reziproken Liebe zu einem passenden Gegenstück näher zu kommen glaubte. Dies drückt sich auch schon im Titel aus, der das Mädchen und den Jungen zusammenfügt – Paul et Virginie – und in der ersten Szene der Tapete in einen Fels geschrieben und somit in die Natur der Insel eingraviert ist. Diese spezifische Art der Liebe bzw. dieses Konstrukt funktioniert zu Beginn des frühen 19. Jahrhunderts generell als Schaltstelle zwischen Individuum und Gesellschaft und wird dann einige Jahrzehnte später bereits brüchig, wenn eine solche Gegenseitigkeit und Ergänzungsfantasie nicht mehr möglich scheint. Mit Paul und Virginie wurde indes ein Liebesmodell entworfen, das auch als ein ‚Weltversicherungsmodell‘ wirkt, indem es bis in den Tod hinein über Liebesmoralia Sinnhaftigkeit und ‚natürliche Emotionen‘ produziert, die letztlich für die ideale Gesellschaft als
1231 Siehe zu diesem Themenkomplex und seiner Verbindung mit der sensibilité: Ingrid Kisliuk: Le symbolisme du jardin et l’imagination creatrice dans Jean-Jacques Rousseau, Bernardin de Saint-Pierre et François-René de Chateaubriand, Michigan: London University Microfilms International 1976. Sie betont, es sei eben die sensibilité „qui fait comprendre à Virginie la correspondance entre ce qui se manifeste en elle, et ce qui l’environne“, und das „mal inconnu“ sei als „signe de la fin d’une phase de vie“ und Markierung einer „crise sexuelle“ aufzufassen, S. 123. 1232 Hinrich Hudde: Bernardin de Saint-Pierre, wie Anm. 1181, S. 58. 1233 Ebd., S. 80.
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Ganzes gebraucht werden. Dieses Modell ist nun mit dem Tod des Mädchens nicht etwa ausgelöscht, sondern wird dadurch gerade erst mythifiziert und perpetuiert. „Virginie transfigurée par la mort apparaît comme une sainte à valeur de modèle collectif, objet d’un culte dévotieux […].“1234 Hier findet also genau das cultural investment in die Frau statt, von dem bereits die Rede war1235 – Virginie wird zum Symbol für Werte wie Treue, Aufopferung und Unschuld und bis zum Schluss ist ihr Weg bzw. ihre persönliche Entfaltung „intégrée à la géographie insulaire […] l’histoire individuelle des deux amants se transforme en un mythe collectif […].“1236 Der Ort wird zusammen mit dem Mädchen und den durch sie ausgedrückten Werten mythifiziert, und obwohl es gerade der Ort des Anderen, eigentlich als nicht-europäisch Gemeinten ist, der hier entworfen wird, werden auf unterschiedlichen Ebenen immer wieder die eigenen (europäischen) Diskurse neu formuliert: „Mais l’Autre ne peut apparaître tel que sur le fond du Même et dans sa confrontation avec lui: la représentation de l’ailleurs implique la présence d’un monde de référence supposé connu. C’est dire que la perspective exotique n’appelle pas un simple transfert du discours au sein d’un espace autre qui en occuperait alors tout le champ, mais une véritable confrontation de deux espaces.“1237 Entsprechend kann sich der Ort Europa als „lieu corrompu de l’anti-nature“ formen und damit als Gegenpart zu „le site insulaire, lieu de la différence et ‚autre‘ de l’Europe“, denn dieser Ort wiederum erscheint „également comme le lieu d’une nature préservée, donc comme une possible instance de recours face à une civilisation dégradée.“1238 Das Autre auf der Tapete, das vorgeblich als Unschuldsbiotop einer sich alternativ zur korrumpierten Standesgesellschaft der Alten Welt entwickelnden Mikrogesellschaft entworfen ist, wird eigentlich – wie die Analysen der Szenen und der Raumästhetik zeigten – komplett mit europäischen Ideologemen verzahnt.
1234
Jean-Michel Racault: „Paul et Virginie et l’utopie: de la ‚petite société‘
au mythe collectif“: in: Studies on Voltaire and the eighteenth century, The Voltaire Foundation at the Taylor Institution, Nr. 242, Oxford: University of Oxford 1986, S. 419–471, hier S. 464. 1235 Vgl. die Forschung von Ludmilla Jordanova, wie Anm. 35. 1236
Jean-Michel Racault: „Paul et Virginie et l’utopie“, wie Anm. 1234, S. 465.
1237
Jean-Michel Racault: „Système de la toponymie et organisation de
l’espace romanesque dans Paul et Virginie“, in: Studies on Voltaire and the eighteenth century, wie Anm. 1234, S. 377–418, hier S. 400. 1238 Ebd., S. 401.
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Davon zeugen beispielsweise die durchgeometrisierte und der klassizistischen Einrichtungsdidaktik angepasse Anordnung der Bildelemente und Bildübergänge, aber auch die starke visuelle Präsenz der Klassenunterschiede bis hin zur schon unter Zeitgenossen heftig debattierten Sklavenfrage und dem Imperativ der Aneignung und Nutzbarmachung an sich fremder Gebiete, wie sie auch die landwirtschaftlichen Geräte und die ‚Ordnungsarbeit‘ der SklavInnen in der Tapete ausdrücken. Letztere hebt also das Kolonisierungsprojekt in der Südsee – das es letztlich ist, auch wenn die beiden Mütter aus der Paul und Virginie-Geschichte hierher fliehen mussten – und die Einteilung der Menschheit (und Markierung des Anderen, nicht-europäisch aussehenden und sozialisierten) als Wirtschaftsfaktor hervor. Die vor Ort dann für die eigenen Zwecke ausgebeuteten Subjekte werden also nicht aus der Bildsprache der Tapete verbannt, jedoch dienen die Didaktiken der Tapete ganz klar dazu, das Amoralische an diesem (wirtschaftlichen) Prozess zu verdecken und/oder zu überschreiben, indem der Geschlechterdiskurs und die oben näher charakterisierten Felder von Freundschaftsliebe, Tugend und Unschuld in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit geschoben werden. Der Mythos, der sich hier Szene um Szene verfestigt, ist dabei durchweg feminisiert und mit den am Ende des fünften Kapitels benannten Diskursen der Geschlechterformung und Ehevorstellungen hybridisiert. Die drei Supraporten, die sich um die Thematik des weiblichen Schutzes und der weiblichen Fürsorge drehen, unterstreichen dies zusätzlich.
Eine feminisierte Lebenssphäre: Die Frau als moralische Naht Gerade in der Verknüpfung des spezifischen Ortsentwurfes einer exotisch-gedachten und europäisch-modellierten Mikrogesellschaft und starken Dominanz idealisierter – und wiederum klassizistisch-zurückgenommener – Weiblichkeit kommt in Paul und Virginie wiederum das vorherrschende Liebesideal der Spätaufklärung und Frühromantik zum Ausdruck. Die Beziehungen und Verortungen des Personals funktionieren hier jedoch noch einmal anders als bei Telemach und Psyche. Trotz der genannten Ähnlichkeiten ist es in der Insel-Visualisierung zum Telemach so, dass ein Aufeinandertreffen, ja Eindringen einer Welt auf und in eine andere gezeigt wird (die männlich-erobernde auf bzw. in eine weiblich-mythifizierte Natur- und Festlichkeitswelt), während in Paul und Virginie anstelle dieses zu überwindenden Nicht-Hingehörens – einschließlich der damit zugleich verworfenen Erotik – eine in sich perfekte Mikro-Welt entworfen wird. Diese hebt aber erstens auch auf eine Liebe ohne erotische ‚Gefahren‘ ab und hat zweitens letztlich keinen Bestand.
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Sie bietet lediglich (in Variation des rettenden Sprungs von Telemach und Mentor ins Meer) eine dauerhafte ‚Erlösung‘ im Wasser mittels Schiffbruch an. Bei Psyche wiederum findet eine Formung und Anpassung der weiblichen Heldin bis zum ‚verdienten‘ Happy End statt, das hier emblematisch durch das Ehebett ausgedrückt wird. Weder Telemach noch Paul und Virginie bieten ein Ehebett oder ein so klares den bürgerlichen Ehevorstellungen entsprechendes Happy End an, arbeiten sich jedoch genauso am Thema der idealen Liebe und der Ehe (sozusagen ex negativo, aus einer ins Tragische laufenden Entwicklung heraus) ab. Die Tragik in Paul und Virginie ergibt sich aus dem gescheiterten alternativen Liebesmodell der unschuldigen bzw. Freundschaftsliebe, die in einer Zusammenführung, an einer Nahtstelle von harmonisierter Natur und moralisch (noch) nicht fehlgeleiteten Subjekten als möglich imaginiert wird. Die Basis dafür ist eine Mikrogesellschaft, die von Anfang an von Frauen moralisch ‚vernäht‘ wird,1239 denn diese Frauen können in der ihnen zugeordneten Rolle „not only be nature and culture, but can also link these two areas, performing the role of a moral suture.“1240 Die besondere Form, in der Natur und Moral sich mit Paul und Virginie an der Wand niederschlagen, sodass die Warte der Freundschaft und andere buchstäblich gewordene Philosopheme des Romans im Raum greifbar werden, bzw. das Liebesideal sich entsprechend verräumlichen kann, fügt sich in die Legitimierungsmaschine der Biopolitik und der Hygieniker bzw. der tonangebenden Moralisten ein: „To be totally effective, the physician must also be a moralist – we might say a psychologist – who seeks to perfect the private life, a legislator who tries to correct a national or social situation, and a healer of the various problems that affect man’s wellbeing in general.“1241 Frauen und Kinder erfüllen nun bei Paul und Virginie die Funktion von korrigierenden Subjekten, und letztlich ist es ihre Aufopferung – insbesondere die der jungen Virginie –, die als Korrekturmaßnahme herhält. Die Freundschaft als Schlüssel zu ,moralischem Adel‘ soll dabei eine erotische Liebe ersetzen und eine reinere und ganzheitlichere, ja sogar humanere Form der Liebe zwischen den Geschlechtern etablieren – wie es sich schon bei Kant findet, der feststellt:
1239
Zur Vernähung und weiblichem Körper siehe auch aktuell die Ausstel-
lung von Berlinde De Bruyckere: „Suture“, im Wiener Leopold Museum, 08.04. – 05.09.2016. 1240 Ludmilla Jordanova: Sexual visions, wie Anm. 35, S. 34. 1241 Elizabeth Haigh: Xavier Bichat, wie Anm. 372, S. 80.
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„Ohne Freund ist der Mensch ganz isoliert, durch die Freundschaft wird die Tugend im kleinen kultiviert.“1242 Die Verbindung von Moral, Tugend und Freundschaft als präferierte Form der Liebesbezeugung und -erzeugung im Alltag ist bei Rousseau der Dreh- und Angelpunkt aller Überlegungen zur Gesellschaft. Er entwickelt ein wiederum der Aufassung der Vertragstheoretiker gegenläufiges Konzept von Ehe, die bei ihm von einer Familie und näherhin einer Hausgemeinschaft untrennbar gedacht ist, und postuliert „eine grundsätzliche, qualitative Differenz von häuslicher und politischer Sphäre“. So wird also das Konzept von Ehe und Familie nicht mehr vertraglich begründet – im „Gesellschaftsvertrag“ heißt es entsprechend, die Familie sei ‚die älteste aller Gesellschaften und die einzig natürliche.‘“1243 Hier „wird deutlich, dass er die Familie als eine Vereinigung von qualitativ anderer Art verstanden wissen will, als sie der auf Vertragsschluss, d.h. auf Konvention beruhende und in diesem Sinn als ein künstliches Gebilde zu verstehende Staat darstellt.“1244 Bernardin de Saint-Pierre hat mit der Mikrogesellschaft auf Martinique gewissermaßen eine Idealgesellschaft „qualitativ anderer Art“ imaginiert, in der die sich in der europäischen Klassengesellschaft traditionell dem Willen anderer unterwerfenden Subjekte nun unter spezifischen Bedingungen gleichgestellt sind. Konkret sind also sowohl die beiden Kinder und die SklavInnen in ihrer Wohlgesonnenheit und Dankbarkeit einander als auch den ‚Eltern‘ bzw. den beiden Frauen gegenüber gleichgestellt. Untertänigkeit und Dankbarkeit sind miteinander verkoppelt und die Stellung von SklavInnen und Kindern rousseauistisch nivelliert.1245 Diese Gleichstellung findet ausschließlich über individuelle Gefühle statt, die als tugendhaft verallgemeinert werden, doch deren Äußerung keinen rechtlich begründeten Zustand erschaffen kann und soll. Dies entspricht exakt Rousseaus Vorstellungen:
1242
Immanuel Kant: „Freundschaft als Maximum der Wechselliebe“, in:
Klaus-Dieter Eichler (Hg.): Philosophie der Freundschaft, Leipzig: Reclam 1999, S. 127– 138, hier S. 137. 1243
Friederike Kuster bezieht sich auf das erste Buch im „Gesellschaftsvertrag“
von Rousseau, siehe: Rousseau – Die Konstitution des Privaten, wie Anm. 387, S. 32. 1244
Ebd. S. 35.
1245
Vgl. ebd., S. 34, zit. aus dem „Zweiten Diskurs“ von Rousseau: „Dies
bedeutet, dass von Kindschaft im Sinne der Untertänigkeit als einem lebenslangen Status, wie ihn die politischen Gegner als eine unhintergehbare Tatsache anführen, nur in Bezug auf eine daraus resultierende moralische, nicht aber rechtliche Verpflichtung gesprochen werden kann: Denn ‚die Dankbarkeit ist wohl eine Pflicht, der man nachkommen muss, nicht aber ein Recht, das man fordern kann.‘“
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„In der Kennzeichnung der Familie als einziger société naturelle im Contrat Social spiegelt sich also bereits die entscheidende Weichenstellung hin auf eine Familienkonzeption, die schließlich im bürgerlichen Modell der Familie als einer substantiell außerhalb der rechtlichen Sphäre stehenden Gefühlsgemeinschaft endgültige Gestalt annimmt.“1246 Die zentrale Position in dieser neu entfalteten Gefühlsgemeinschaft wird den Frauen zugeordnet, allerdings nicht als (Allein-)Entscheiderinnen: Männlichen Subjekten kommt auch weiterhin eine für die Erziehung von Paul und Virginie unerlässliche Rolle zu. Der – männliche! – Erzähler und Augenzeuge kommt bereits in der ersten Tapetenszene aus dem Hintergrund auf die Lichtung zu und ist später in der Verabschiedungsszene ebenfalls präsent, in der (in Niedersgegen nicht vorhandenen) Begräbnisszene ist er zudem ganz selbstverständlich Teil des kleinen Kreises der Hinterbliebenen. Ohne seine Erzählung wäre die Geschichte nicht bis in das Hier und Jetzt weitergetragen worden. Auch der Sklave Domingo, der die Kinder rettet, spielt eine aktive Rolle in deren Schicksal und wird zum Ersatzvater, während der die junge Virginie das erste Mal existentiell verängstigende Sklavenhalter eine weitere Erziehungsrolle übernimmt. Der Gouverneur als letztlicher Initiator der tragischen Reise Virginies und als verlängerter Arm Europas erfüllt ebenfalls eine zentrale Rolle, da Virginies Mutter allein nicht entscheidungsfähig ist und nun wiederum einen männlichen Mentor befragt. Wie auch Rousseau ordnet Bernardin de Saint-Pierre Frauen keine planenden, intellektuellen oder synthetisierenden Eigenschaften zu, sie sind vielmehr ausführende und dabei vorbildhafte Organe der Gesellschaft. Das Zurücktragen der Kinder in der Sänfte steht ganz bewusst in der Mitte der Tapetenszenerie und verdeutlicht ihr ‚Heimholen‘ in die (weibliche) Schutzhütte, wo sich „im Schutze der Behausung Möglichkeiten der Ausdifferenzierung des psychischen Innenraums eröffnen.“1247 Im „Zweiten Diskurs“ formuliert Rousseau: „Die Gewohnheit zusammen zu leben ließ die süßesten Gefühle, welche die Menschen kennen, entstehen; die Gattenliebe und die Elternliebe […].“1248 Haus, Wohnen und Gewohnheit werden so zu Produktionsfaktoren des hier beschriebenen (bürgerlichen) Liebeskonzeptes und zudem zum buchstäblichen Basislager „für einen gesellschaftlichen Regenerations-
1246 1247
Ebd., S. 36. Ebd., S 54.
1248
Ebd., zit. aus dem „Zweiten Diskurs“, S. 183: „Die Gewohnheit des Zusam-
menlebens ließ die zartesten Gefühle, die man unter Menschen kennt, entstehen: die Gattenliebe und die Elternliebe. Jede Familie wurde eine Gesellschaft im kleinen. Sie war um so inniger, weil gegenseitige Zuneigung und Freiheit ihre einzigen Bande waren.“
538
6. Paul und Virginie oder die Liebe im „Reich der Frauen“
prozess“,1249 sodass von der gerade bei Rousseau und seinen Anhängern vorgenommenen Trennung einer privaten und einer öffentlichen Sphäre eigentlich gar nicht die Rede sein kann.
Bernardin de Saint-Pierres ‚Biotop‘ der geschützten Kleinfamilie in der imaginierten Fremde: ‚affection‘ und Mitleid als Lernziele Wie gezeigt werden konnte, ist die Mikrogesellschaft auf Martinique, die auf der Tapete zu sehen gegeben wird, als ein Idealbild von der Familie als einer Gefühlsgemeinschaft und als „sozialer Schonraum“ konzipiert. Dieses Familienmodell ist „nicht allein negativ als rechtsfreier Raum, sondern zugleich positiv als ein unberührtes Areal menschlicher Beziehungsmöglichkeiten festgeschrieben“1250 und erscheint so als Korrekturmodus für einen ‚Außenzustand‘ von Entfremdung und Ungleichgewicht. Rousseau sieht als Antrieb hinter diesem Korrekturmodus das Mitleid, welches die Subjekte bewegt, für ihn „stellt das Mitleid, affection, die große natürliche Gegenkraft zum gesellschaftlichen amour-propre dar“.1251 Während also die Außenwelt der (korrumpierten) Gesellschaft durch eine auf sich selbst gerichtete Eigenliebe geprägt ist, wird die familiäre Gefühlsgemeinschaft von der Fähigkeit des Mitleidens und Mitempfindens bestimmt. So sind auch Paul und Virginie als füreinander, Domingo und selbst der Haushund für die Kinder, und die Mütter wiederum nicht nur für ihr eigenes Kind, sondern auch das jeweils andere (und ebenso sehr für ihre SklavInnen) mit-leidend inszeniert. Die Intensität dieses Grundgefühls geht sogar so weit, dass der Tod eines Mitglieds dieser Familie schließlich das Ende der erfüllten Existenz aller bedeutet. Was nun in den Szenen der Tapete besonders auffällig wird, sobald man diese vor dem gerade skizzierten Hintergrund liest, ist die Rolle der Frauen in der und für diese Art der Formung einer Gefühls- und Mitleidensgesellschaft: die Frauen, die dieses Reich in der Südsee aufgebaut und für das besondere soziale Klima dort gesorgt haben, sind keineswegs sich selbst ermächtigende und unabhängige Subjekte, sondern vielmehr kulturell geformte Leitbilder von Weiblichkeit und überdies ihrerseits von ‚nützlichen‘ Subjekten abhängig, die für die Kumulation und Sicherung ihrer Güter zuständig sind und ohne deren
1249 1250
Ebd., S. 18. Ebd., S. 154.
1251
Ebd., S. 165. Die Unterscheidung von amour-propre und amour de soi geht
auf Malebranche und die französischen Moralisten des 17. Jahrhunderts zurück.
539
Tapezierte Liebes — Reisen
Unterstützung alles zusammenbrechen würde. Diese Abhängigkeiten werden unter dem Freundschaftspostulat ‚verfreundlicht‘ und als Humanitätsexempel schlechthin dargestellt und somit parallel mit dem Liebes- und Eheideal naturalisiert und normalisiert. In der Gefühlsgemeinschaft gibt es also de facto nicht nur mitleidende Seelen, sondern auch „beseelte Werkzeuge“, die „ökonomisch Unselbständigen“,1252 welche dem Erwerb und der Anhäufung von Besitz und Prestige Vorschub leisten und einer anderen Klasse der Gesellschaft, der sie nicht angehören, zum Aufstieg verhelfen.1253 Die Beziehungsgefüge der emigrierten Europäerinnen mit den SüdseesklavInnen sind dafür ein in die imaginierte Fremde versetztes Beispiel, das aber besonders eindrücklich die europäischen Verhältnisse – und eben nicht das Leben in der Südsee – vor Augen führt. Die affection droht hier jeden Moment wieder in die ungewünschte affectation zu kippen, wie ich festhalten möchte, und vielleicht sind deshalb die Bilder von Paul und Virginie an der Wand nochmals bereinigt von konfliktandeutenden Elementen im Vergleich mit Bernardin de Saint-Pierres Roman oder den Rousseau’schen Ausführungen. Ähnlich auf ein Ideal hin geformt und dabei äußerst didaktisch funktioniert auch das bereits beschriebene Konzept der schönen Seele als ein mitempfindendes und alles Humane schlechthin symbolisierendes Wesen, als Fähigkeit nicht nur einen Menschen, sondern eigentlich alle lieben zu können. Die Seele als Bild und Vehikel eines ganzen Programms bürgerlich-aufgeklärten (Er -)Lebens funktioniert auch als Verbindungslinie von der Einbildungskraft bzw. dem Ort von Dichtung und literarisierten Wänden zur Biopolitik und zurück. Wo sie gebildet wird und sich tugenhaft verschönt – als junge Psyche, die auf die Probe gestellt wird und auch als erwachendes Potenzial in der bis zum Tod liebenden Virginie – scheint ein „Biotop menschlicher Glücksmöglichkeiten“1254 auf. Dieses ist, wie alle drei Bildtapeten erzählen, an den ‚Schoß der Familie‘ gebunden – und wiederum an die werkzeugähnlich integrierten Haushaltersubjekte, die aber mitnichten zu schönen Seelen avancieren könnten – und soll dort eigentlich erst das Tugendhaft-Gute hervorbringen. Die schönen Seelen der Tugend-Narrative, die hier untersucht werden, bilden sich stets in und mit der Familie, und wo dies nicht der Fall ist, werden sie von diesem Leitgedanken begleitet. Dieses Liebesmodell funktioniert immer als pars pro toto für das Humane (und moralisch Gute)
1252
Ebd., S. 121.
1253
Martin Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen, Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht 1959, siehe v.a. den Teil 2 zur Kumulation als einem bürgerlichen Etikett. 1254 S. 125.
540
Friederike Kuster: Rousseau – Die Konstitution des Privaten, wie Anm. 387,
6. Paul und Virginie oder die Liebe im „Reich der Frauen“
allgemein. Nur so kann Virginies Tod auch zum Auslöser einer Mythifizierung des Ortes, an dem die Geschichte sich abgespielt hat, werden; die aufopfernde Liebe zu Paul und zur Mikrogesellschaft, die sie verlassen hat, wird so post mortem zu einem Prinzip der aufopfernden und nicht-selbstgerichteten Liebe und reicht über die Individuen Paul und Virginie (und Margarethe wie auch Domingo) hinaus. Allerdings ist die in den Szenen der Tapete erzählte Geschichte auch die eines von Anfang an bedrohten Gleichgewichts, und hier gibt es auch kein Happy End wie bei Psyche und keine „alltäglich gelebte Intimität“.1255 Die Erziehungsarbeit, die hier geleistet wird, zeigt, wie sich Liebe und Alltagsbeziehungen gestalten ließen und sollten, wenn die (gesellschaftlichen) Voraussetzungen anders wären. Die Tapete bemüht sich entsprechend, Bilder des Glücks zu zeigen und die Verfehlung desselben nur anzudeuten. Gerade Virginie entzieht sich schließlich der gelebten Intimität und wird zur Chiffre für Aufopferung und (verklärendes) Andenken und zu einem weiteren Beispiel dessen, was der weiblichen Liebesfähigkeit als Fundament eines ganzen Gesellschaftsentwurfs zugemutet wurde. Diese Chiffrenbildung durch Bernardin de Saint-Pierre sowie, an diesen andockend, über drei Jahrzehnte später Dufours Manufaktur, führt Rousseaus Frauen- und Gesellschaftsentwurf und seine Mythenbildung der Liebe als „das Reich der Frauen“1256 fort. Es ist nun auf der Tapete besonders stark auf die Paarbildung und immer wieder auch die begleitende Treuesymbolik ausgerichtet; wobei diese Harmoniebilder durch die Supraporten nochmals um den Aspekt der Mütterlichkeit und mütterlichen Fürsorge ergänzt werden. Sogar das Thema des Bacchantischen wird in dieses Fürsorge-Modell eingegliedert bzw. zu einem Teil dieses Raumprogramms. In der Rousseau-Forschung ist die Verknüpfung von Mütterlichkeit und Aufopferung bereits intensiv untersucht worden: Da „die Mütter ihre Fürsorge auf ihre Familie zu beschränken haben, wenn diese das Glück erfahren soll, zögert Rousseau nicht, eine radikale Maßnahme vorzuschlagen: die Einschließung der Frauen“, stellt Elisabeth Badinter fest und schlussfolgert: „Rousseaus Frauenideal verlangt ‚Aufopferung und Eingeschlossensein‘ […].“1257 In Niedersgegen findet sich genau diese Verknüpfung in Form der Paarbildungs-Tapete und der Fürsorge-Supraporten und deren Auf-sich-Selbst-Verweisen innerhalb der guten Stube bzw. auf der raumstrukturellen Ebene, sowie, darüber hinaus,
1255 Ebd., S. 172. 1256 Ebd., S. 178, die Formulierung stammt von Rousseau aus dem „Brief an d’Alembert“. 1257
Elisabeth Badinter: Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahr-
hundert bis heute, übers. von Friedrich Griese, München: R. Piper & Co. 1981, S. 195.
541
Tapezierte Liebes — Reisen
auch auf der Ebene der Anlage des Hofes mit der nahe gelegenen Kapelle. Die Innenausstattung dieser Kapelle wies damals „zwei Ölgemälde des 18. Jh., jetzt in der Villa Bouvier, und zwar ein Opfer Isaaks des J. P. Sauvage v. J. 1738 und eine Himmelfahrt der Maria, beide i. J. 1910 restauriert“,1258 vor. Somit fand die Tapete wohl thematische Anklänge an die Opfer- und Erlösungsthematik in ebendieser Kapelle – einem sakralen Gebäude zur individuellen Andacht direkt neben dem Wohnhaus –, die es dann für den Wohn-Innenraum modifizieren und letzteren dadurch auch wiederum sakralisieren konnte. Die Zurücknahme von (unkontrollierter) Leidenschaft und gleichzeitige Mythifizierung einer aufopferungsbereiten, die eigenen Triebe unterdrückenden Weiblichkeit korrespondiert offensichtlich mit Häuslichkeit, mit der Übersichtlichkeit kleiner Innenräume und der auf den Tapeten dargestellten domestizierten Exotik, die gleichsam wieder eine domestizierte Erotik ist.1259 In einer Steigerung der Didaktiken von Telemach und Psyche findet sich allerdings in Paul und Virginie ein Unschuldsparadigma, das erst im Tod möglich und gänzlich einlösbar scheint, während die Tapetenszenen im Kontext des Raumgefüges in Niedersgegen gerade den Tod und die Grabszene nicht zeigen. Stattdessen erhält die Tür und mit ihr der Durchgang zum Leben auf dem Hofgut eine herausgehobene Position – die Betrachtersubjekte sind vor dem Schiffbruch und seinen Konsequenzen stets sicher und können die literarisierte und sakralisierte gute Stube gefahrlos wieder verlassen. Einzelne Bedeutungseinheiten der Tapete wie die mit den tanzenden Kindern kombinierte Hausarbeit in der ersten oder das Pärchen auf der Sänfte in der vierten Szene können zudem (mental) in das Alltagsleben bzw. die eigene Kleine Gesellschaft integriert und dort, als Teil der gelebten und aufgeführten „Mythen des Alltags“, wirksam werden.
1258
Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, bearbeitet von Ernst Wackenroder,
wie Anm. 1191, S. 131. 1259
Siehe auch mein Fazit am Ende des Kapitels 5.3. Dazu auch: Lieselotte
Steinbrügge: Das moralische Geschlecht. Theorien und literarische Entwürfe über die Natur der Frau in der französischen Aufklärung, Weinheim/Basel: Beltz 1987. Die abgeschottete Welt, die Rousseau in dem von Steinbrügge untersuchten Roman „Julie oder die neue Héloise“ entwirft, entspricht letztlich auch dem Entwurf des Südsee-Lebens von Paul und Virginie.
542
�. Schlussbetrachtung
�. Schlussbetrachtung Das bisher in der Kunst- und Designgeschichte nur sporadisch – meist anlässlich von Ausstellungen oder Diskussionen zur Landschaftsmalerei und zu klassizistischen Räumen – thematisierte Einrichtungsobjekt der französischen Bildtapete (Papier Peint) wurde auf den vorliegenden Seiten in den Mittelpunkt einer sehr detaillierten wissenschaftlichen Untersuchung gestellt. Diese ist das Ergebnis einer langen und intensiven Forschungsarbeit, die noch vor Beginn der Promotion mit meiner Masterarbeit zur Dufour’schen Amor und Psyche-Tapete1260 sowie einem Auslandssemester in Paris und dem Besuch der „Journées d’études Joseph Dufour“1261 in Tramayes ihren Anfang genommen hat. Die Tapetenforschung in Frankreich (und zunehmend auch in Deutschland) hat ein starkes Interesse daran, das Wissen über bisher unentdeckte, in situ oder in Archiven, Depots und Privathäusern weltweit vorhandene Exemplare zu erweitern und somit ihre Bestandsaufnahme zu gewährleisten. Zugleich soll dabei die spärliche Quellenlage zu ihrer Produktion, dem Vertrieb und den Anbringungspraktiken in den diversen Häusern und Schlössern verbessert werden. Gerade in den vergangenen Jahren gab es vermehrte Bemühungen, diese dem kunstinteressierten Publikum noch immer weitgehend unbekannten Papiers Peints als ein dringend zu erhaltenes Objekt von hohem historischen und ästhetischen Wert vorzustellen, zuletzt mit den Tagungen „Wände sprechen Bände“ 2010 in der Schweiz und „Wieder salonfähig“ 2013 in Kaub am Rhein.1262 Die detaillierte Analyse von – sowie wissenschaftliche Auseinandersetzung mit – ausgewählten Bildtapeten und v.a. die Herausarbeitung ihres immensen kulturwissenschaftlichen Aussage- und Wirkungspotenzials, die nur auf der Basis solcher Detailanalysen erfolgen kann, ist bisher jedoch ein komplettes Forschungsdesiderat geblieben. In den vorausgehenden sechs Kapiteln ist nicht nur ein Anfang des anspruchsvollen Projektes gemacht worden, diese Lücke zu schließen, sondern es wurde vielmehr eine völlig neue Sichtweise auf die Papiers Peints vorgeschlagen.
1260
Katharina Eck: Mythos und Eros: Joseph Dufours Bildtapete zur Amor und
Psyche-Fabel, eingereicht 2009 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, unveröffentlicht. 1261
Zum Tagungsband Joseph Dufour: Manufacturier de Papier Peint siehe
Anm. 14 der vorliegenden Arbeit. 1262 Siehe Anm. 37 und Anm. 23 der vorliegenden Arbeit.
543
Tapezierte Liebes — Reisen
Thesenfelder und Analyseachsen: Wesentliche Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit Die Analysen der ausgewählten Tapeten-Exemplare und ihrer Verortungen in unterschiedlichen Regionen und Häusern führten zu neuen Ergebnissen im Zusammenhang mit neuen Betrachtungsmöglichkeiten, die ich im Folgenden unter vier Hauptthesenfeldern kompakt zusammenfassen möchte: 1. Die betrachteten Bildtapeten sind Teil von Aussagekomplexen, die mit ihnen und durch sie entstehen, und die nicht statisch im Raum verankert und ‚für immer‘ dort fixiert sind. Vielmehr können sie als prozessual begriffen werden und in diesem Prozess dynamisierte (und dynamisierende) Räume schaffen. Die Tapetenszenen geben mehr als nur einzelne Bildinhalte zu sehen, die in ihrer chronologischen Abfolge eine Erzählung über die Wände hinweg leisten, wie etwa in meinem zweiten Tapetenbeispiel die Entführung der Psyche, auf die das Bad der Psyche in Amors Palast folgt und darauf wiederum die Entdeckung des schlafenden Amors etc., sodass die Geschichte (von Psyche) anhand spezifischer verbildlichter Momente im Raum inszeniert wird. Es werden zugleich Auffassungen von Körperlichkeit, von idealen Anordnungen der Architektur-Imitationen im Verhältnis zu (optisch) rahmenden oder stützenden Anteilen wie Bordüren, Lambris und Supraporten sowie auch des Weiteren Vorstellungen von Innen-Außen-Relationen und von Natur zu sehen gegeben. Mit solchen Techniken der Anordnung dieser Tapetenelemente untereinander und im Raum sind auf diese Weise auch Selbsttechniken der Subjekte1263 verbunden, die mit ihnen zusammenwohnen oder auch nur zeitweise mit ihnen interagieren. Es konnte mit dieser Arbeit also über eine Objektgeschichte der Bildtapete hinausgehend das Potenzial dieses Mediums als mitwirkendes Element einer Kultur- und Subjektformungsgeschichte freigelegt werden, die sich wiederum ganz zentral in bewohnten oder bewohn- und begehbaren Innenräumen vollzieht. Somit ist eine Machtposition der Tapeten in ihrer Funktion als Schnittstellenphänomen festzustellen, wenn sich situativ in einem Raum die betrachtenden Subjekte, die Tapetenszenerie in ihrer ästhetischen Anordnung und die Raumkonstellationen verknüpfen und dabei die oben benannten Aus-
1263 Michel Foucault, u.a. in: „Das Auge der Macht“, wie Anm. 24 der vorliegenden Arbeit.
544
�. Schlussbetrachtung
sagekomplexe1264 in Gang setzen, die in den konkreten Analysebeispielen auf Vorstellungen von Geschlecht und Partnerschaft abzielen. 2. Die Bildtapeten entfalten ihre Wirkungsmacht nicht ‚allein‘ aufgrund ihrer Bildinhalte und Narration oder der Entfaltung eines raumergreifenden illusionären Settings, sondern aufgrund eines Prozesses des In-Beziehung-Setzens respektive der Produktion von Beziehungsräumen in Verbindung mit Praktiken und Idealen des Sich-Einrichtens von (Bewohner-) Subjekten. Aus dem bereits Konstatierten folgt, dass ich nicht durchgängig mit der Analyse-Ebene der Beschreibung und Auswertung einzelner Tapetenszenen bzw. Gesamtszenerien operiert, sondern diese grundlegende Arbeit stets mit anderen Ebenen verknüpft habe. Dazu gehören v.a. die Betrachtung der konkreten Räume und Häuser, bzw. in weiterer Verbindung Wohn- und Wirtschaftsregionen, in denen die Tapeten verortet sind, sowie auch literaturwissenschaftliche Ansätze, auf die m. E. beim Thema der Narration und der Um- und Neu-Erzählung auf den Tapeten nicht verzichtet werden kann. Neben kunsthistorischen waren aber auch des Weiteren philosophisch-ästhetische Fragestellungen, die verwandte Bereiche wie die Landschaftsmalerei, aber auch Praktiken des Alltags, Entwürfe von Körperlichkeit und auch ganz allgemein performative Akte und das Sich-Aufführen auf einer „Bühne der Gesellschaft“1265 berühren, mit zu berücksichtigen. Wenn nun die Tapeten1266 als ein Beziehungs- und Bedeutungsgefüge zusammen mit Subjekten bzw. Subjektentwürfen, Raum- und Parcours-Anordnungen und gesellschaftlichen, nunmehr vor Ort aktualisierten Images und Codes untersucht werden, so kann erst dadurch ihr politisches Potenzial deutlich werden. Wer seine im Wohn- und Lebensalltag genutzten Interieurs mit Bildtapeten ausstattet, der oder die äußert sich mittels dieser Anordnungs-Entscheidungen: als Individuum, als Teil einer (sozial, kulturell geprägten) Gruppe, als Wohnsubjekt1267 mit spezifischen Bedürfnissen, imaginierten und idealiter
1264
Vgl. das Kapitel 2.1.
1265
Ausgehend von Beate Söntgens Reflexionen in „Bild und Bühne“ konnte
in Kap. 3.3 die dritte Analyseachse gebildet werden, anhand derer eine Auseinandersetzung mit der Performativität der Bildtapeten-Settings und dem Sich-Aufführen der Wohnsubjekte in Interieur und Alltag stattfinden kann. 1266
Die sich in ihren An-Ordnungen nochmals in narrative Elemente,
‚Beiwerk‘, implizite oder auch überraschende Übergänge und Bruchstellen an der Wand sowie den Gesamt-Bildraum unterteilen lassen. 1267 Siehe hierzu die Wohnforschung und Erforschung des vergeschlecht-
545
Tapezierte Liebes — Reisen
entworfenen Handlungsräumen und Prägungen. Die Tapeten-(An-)Ordnungen sind also niemals von diesen Prozessen und Codes isoliert, sondern immer ein Teil und Mitproduzent des so stattfindenden Sich-Äußerns und Sich-Einrichtens. Den Begriff der Prägung an dieser Stelle weiter denkend, kann man sagen, dass Objekt- und Subjektprägungen – materialiter oder am Korpus vorgenommene sowie kulturelle, historische oder psychische – ineinander gleiten, wie es jüngst die Vorträge der Bremer Konferenz zum Thema „Matratze/Matrize“ deutlich machten:1268 Die Matrize als Denkmöglichkeit von etwas Prägendem führt zur Matratze, die den menschlichen Körper formt und wiederum Abdrücke von ihm erhält, und die wieder zur formenden Matrize führt etc. Das in dieser Denk- und Kippfigur verdeutlichte Wechsel- und Spannungsverhältnis zwischen Formung bzw. Disziplinierung und Körper, Einwirken und Aus-Ruhen (-Halten), Kopieren und Weitertragen ist auch den Bildtapetenräumen inhärent: Die Holzmodeln wurden geformt und entsprechend bearbeitet; sie bedruckten und formten dann die wandhohen Bögen des (Träger-)Papiers, welches als Mit- und Weiterproduzent entsprechender Diskurse in den Bildtapetenräumen und Beziehungsgefügen die Bewohnersubjekte prägt. Dieser Prozess ist, wie schon festgestellt werden konnte, performativ und prinzipiell unabgeschlossen; er vollzieht sich innerhalb und als Teil von räumlich-situativ zum Ausdruck kommenden Machtstrukturen. Diese Zusammenhänge aufzuzeigen und auszuloten ist ein wichtiges Anliegen dieser Arbeit und impliziert ein stark transdisziplinäres Vorgehen, das die Methodik und die Ergebnisse der Bildanalysen aus der klassischen kunstwissenschaftlichen Forschung bzw. die kunstwissenschaftliche Annäherung an das zu beforschende Objekt mit Ansätzen benachbarter Disziplinen koppelt. Besonders fruchtbar waren hierfür kulturhistorische Betrachtungen wie beispielsweise die Thematik des Kopierens und Imitierens in Verbindung mit einer Konsumausrichtung des frühen 19. Jahrhunderts oder auch der Themenkom-
lichten Wohnens, zuletzt im von Irene Nierhaus und Andreas Nierhaus herausgegebenen Band Wohnen Zeigen, wie Anm. 52; zum bürgerlichen Wohnen und der Verschränkung von Wohnkonzepten und Literatur auch: Norbert Wichard: Erzähltes Wohnen, wie Anm. 53. 1268 Das Forschungsfeld wohnen+/–ausstellen in der Kooperation des Instituts für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik an der Universität Bremen mit dem Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender veranstaltete vom 15.–18. Mai 2014 die Internationale Tagung „Matratze/Matrize: Substanz und Reproduktion im Wohnen. Konzepte in Kunst und Architektur“ in Bremen. Der Tagungsband dazu erschien 2016: Irene Nierhaus und Kathrin Heinz: Matratze/ Matrize. Möblierung von Subjekt und Gesellschaft. Konzepte in Kunst und Architektur, Bielefeld: transcript 2016.
546
�. Schlussbetrachtung
plex der Hygiene und „Sorge um sich“,1269 in den wiederum auch psychosoziale und mentalitätsgeschichtliche Aspekte mit einfließen. Weiterhin bilden auch philosophische Fragestellungen mit Fokus auf der philosophischen Ästhetik und den gerade um eine Aufwertung der sinnlichen Wahrnehmung bemühten Philosophen aus Goethe-, Herder- und Schleiermacher-Kreisen – der europäischen Aufklärung und Frühromantik also – sowie der um 1800 so angeregten Debatte um die Landschaftsmalerei (und das Verhältnis von Individuen und Landschaft) eine besonders wichtige Folie für das Untersuchen von Bildtapeten. Als immer wieder nicht nur hilfreich, sondern geradezu notwendig erwiesen sich zudem die vorgenommenen Raumanalysen, über die das weite Feld der Raumwissenschaften, aber auch des gerade in der Kunstwissenschaft in den letzten Jahren verstärkt aufgenommenen performative turns in allen Beispielanalysen mit berücksichtigt wurde. Bild- und Raumanalysen wurden also nicht als separate, sondern als kaum trennbare Untersuchungsmethoden behandelt, weshalb auch statt von Bildtapeten vielfach von Bildtapeten-Anordnungen (im Raum), oder, direkter: Bildtapetenräumen die Rede war. Damit konnten diese Verknüpfungen auch begrifflich besser markiert werden. Über die Körperlichkeit, die in der vorliegenden Arbeit sowohl auf die Figurenmodellierung in den Tapeten als auch die sich an diesen orientierenden und mit ihnen auseinandersetzenden Betrachter- und Bewohnersubjekte bezogen ist, und das Konzept der Performanz spielen schließlich auch die Gender Studies mit hinein und insbesondere Ansätze von Judith Butler, die über das Sich-Aufführen und gleichzeitige Produzieren und Wieder-Bestätigen von Geschlechtsidentitäten nachdenkt.1270 In den entsprechenden Analysekapiteln wurden „Fragen nach geschlechtlichen und/ oder kulturellen Implikationen im und des Wohnen(s)“1271 mit verhandelt, und zwar auf Basis des von Irene Nierhaus entwickelten Display-Begriffs, der gerade in seiner Betonung des Situativen sehr geeignet ist, die Bildtapeten-Anordnungen als sich vollziehende und immer wieder neu produzierte Anordnungen von Wissens- und Machtkonstellationen zu verstehen. Durch den diskursanalytischen Fokus der vorliegenden Arbeit ist es dann erst möglich geworden, an die Erkenntnisse von u.a. Silke Wenk und Sigrid Schade, Irene Nierhaus, Cornelia Klinger oder auch der filmwissenschaftlich orientierten Giordana Bruno andockend,1272 und mit Foucaults Machtbegriff der
1269 1270
Michel Foucault, wie Anm. 73. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, wie Anm. 65.
1271
Katharina Eck und Astrid Silvia Schönhagen: „Imaginationsräume des
(bürgerlichen) Selbst“, wie Anm. 17, S. 17. 1272 Zu Wenk/ Schade: Studien zur visuellen Kultur, siehe Anm. 26; zu Nier-
547
Tapezierte Liebes — Reisen
„ökonomisch-politischen Einpflanzungen“1273 (auch im nur scheinbar privaten Wohnen) sowie Barthes’ Kritik an den „Mythen des Alltags“1274 arbeitend, die vorhandenden essentialistischen, naturalisierenden und (re-)mythifizierenden Elemente und Strategien der Bildtapeten-Displays aufzudecken und ansatzweise einer kritischen Re-Vision zu unterziehen. Der Disziplinenfächer, den ich währenddessen geöffnet habe, ist wiederum eine sehr dynamische Angelegenheit und eignet sich per se nicht dazu, die einzelnen Analyseergebnisse in der Forschungslandschaft dogmatisch festzuschreiben. Vielmehr war es mir ein Anliegen, diesen Fächer zu öffnen, an einigen Stellen wieder zu schließen und immer wieder an für Bildtapetenräume interessante und bisher unterbelichtete Fragestellungen anzudocken, die auch zukünftig wieder weiter aufgefächert werden können. Das Auffalten bzw. Entfalten, das auch in dem epistemologischen Begriff Mannigfaltigkeit, der eine besondere Rolle in dieser Arbeit spielte, steckt, hat so auch in meinem Denkund Schreibprozess seine Spuren hinterlassen. 3. Die untersuchten Bildtapeten beziehen sich alle auf Vorstellungen von Geschlecht und Partnerschaft in spezifischen kulturellen, epistemologischen und regionalen Kontexten des frühen 19. Jahrhunderts. Sie richten ihr Display daraufhin ein, welches wiederum die Wohnsubjekte ‚ein-richtet‘ und ‚ein-stellt‘. Aus den Dutzenden bis dato bekannten und teils in Museen und musealen Präsentationen der westlichen Welt schon gezeigten Bildtapeten galt es, einige wenige auszuwählen und einer detaillierten Analyse zu unterziehen, die Aufschluss zum Thema der Geschlechter- und Partnerschaftsdarstellungen der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts in Bildtapetendisplays geben können. Da sich die Liebesdiskurse und durch diese gebildeten Geschlechtercodierungen und -politiken seit dem späten 18. Jahrhundert v.a. in literarischen Texten und einer geradezu massenhaften Literaturproduktion und -zirkulation verankerten, waren für meine Auswahl die auf besonders beliebte Literaturvorlagen zurückgreifenden Tapeten der Manufaktur Dufour interessant.1275 Es mussten
haus wie ebd., und zu Klinger: „1800 – eine Epochenschwelle im Geschlechterverhältnis?“, wie Anm. 65. Zu Bruno: Atlas of Emotion, siehe Anm. 67. 1273 Anm. 169.
Siehe zu diesem Begriff Michel Foucault: „Das Auge der Macht“, wie
1274
Roland Barthes: „Mythen des Alltags“, wie Anm. 73.
1275 Aus Joseph Dufours Produktion stammt auch die für meine Masterarbeit (unveröffentlicht) relevante „Amor und Psyche“-Tapete.
548
�. Schlussbetrachtung
zudem Beispiele gewählt werden, die an verschiedenen Orten Deutschlands an der Wand und in relativ gutem Zustand zu finden sind, um zum einen sämtliche Details der einzelnen Tapetenbahnen entdecken und fotografisch festhalten und zum anderen die oben benannten Verknüpfungen kulturhistorischer, raum- und gendertheoretischer Art leisten zu können. Durch die Wahl der neben Amor und Psyche mit einbezogenen Telemach- und Paul und Virginie-Tapeten konnten dann auch unterschiedliche ästhetische Strukturen von Bildtapeten erkannt und analysiert werden, da es sich bei den ausgewählten Beispielen nicht unbedingt in erster Linie um „Landschafts“- oder „Panoramatapeten“ handelt. Die drei Beispiele wurden daraufhin untersucht, ob und inwiefern sie ähnliche Didaktiken der Paarbildung, Liebesempfindung und Partnerschaft modellieren, und dabei konnten bei allen ähnliche Bezüge zu Antikeidealen, Paradigmen der Ordnung und Mäßigung sowie Haltungen (im körperlichen Sinne wie auch als Geistes-Haltung) herausgearbeitet werden. In allen Tapetenszenerien und ihren Verortungen werden, so die Erkenntnis, Konzepte oder vielmehr regelrechte Leitvorstellungen von Körper, Ganzheit, Hygiene, Familie und Natur aufgeführt, näherhin als feste und sich selbst bestätigende Kategorien mit biopolitischen Auswirkungen auf Subjekte bis in ihren intimsten Lebensbereich hinein. Dabei sind diese Konzepte jedoch nicht etwa ‚direkt‘ in den Visualisierungen der Tapeten ersichtlich, sondern lassen sich an Verschiebungen festmachen, beispielsweise von der Ebene der Figuren auf die der Natur und Architektur und sogar auf das, was gerade nicht oder ex negativo dargestellt wird. Ein Begehren, das nicht mit dem vorherrschenden Konzept von Mäßigung und Selbstbeherrschung übereinstimmt, ist dennoch nicht ‚getilgt‘, sondern verschiebt sich auf andere Ebenen bzw. bleibt eventuell offen. Die vorliegende Forschungsarbeit zielt vor dem Hintergrund poststrukturalistischer Fragestellungen, wie sie sich beispielsweise bei der gegen eine Vorstellung von fixierter (Geschlechts-)Identität anschreibenden Judith Butler finden,1276 darauf, das Nicht-Dargestellte und Nicht-Inkludierte mit zu berücksichtigen oder zumindest auch Ein- und Ausschlusstaktiken in Tapeten- und Wohn-Anordnungen zu reflektieren. Es wurden im zweiten und dritten Kapitel drei Analyseachsen herausgearbeitet, die sämtliche Bild-, Wohn-, Subjektformungs- und Vergesellschaftungstaktiken, die verhandelt werden, strukturieren. Anhand der Achsen von – Natur und Naturalisierungen, – Bildersequenzen und Panoramablick, – Theatralität des Alltags und Bühne der Gesellschaft
1276
Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, wie Anm. 65.
549
Tapezierte Liebes — Reisen
können die für die Neu-Bewertung des Potenzials der Bildtapeten grundlegenden Aspekte systematisch und in einer sinnvollen Verknüpfung miteinander gekoppelt werden. Dabei war es mir sehr wichtig, diese Achsen nicht in aufeinanderfolgenden Kapiteln separat und separierend ‚abzuhandeln‘, gleichwohl sie schwerpunktmäßig etwas verteilt sind (die erste wurde v.a. im zweiten Kapitel, die zweite und dritte wurden dann v.a. im dritten Kapitel herausgearbeitet); sie konnten stattdessen in jedem der Kapitel immer wieder zum Tragen kommen und somit auch den zugrunde liegenden Anspruch der nicht-hierarchisierenden, Theorie und Bildanalysen verbindenden Erforschung markieren und einlösen helfen. 4. In den unterschiedlichen Beispielanalysen und Verknüpfungen konnte die vorliegende Arbeit zeigen, dass ein partielles Aufbrechen einer auf den ersten Blick für dieses Medium typisch scheinenden subsummierenden ‚Panoramatik‘ stattfindet, zugunsten einer Verschiebung vom panoramatischen zum programmatischen Zu-Sehen-Geben. Bevor nun ein zusammenfassender und auswertender Blick in die einzelnen Kapitel und deren Hauptfragestellungen geleistet werden soll, ist noch das vierte große Feld der sich durch die gesamte Arbeit ziehenden Thesenentwicklung zu benennen: Immer wieder ist in der Tapetenforschung von ‚Panoramatapeten‘ bzw. der Panoramawirkung der Papiers Peints die Rede. Im Teilkapitel 2.1.3 konnte ich diese Auffassung problematisieren und darauf hinweisen, dass die Tapezierung einer ununterbrochenen und weitestgehend ‚störungsfreien‘ Szenerie – zumeist landschafts- oder vedutenartig entworfen – in der Praxis kaum zu beobachten ist und somit eigentlich auch keine All-Ansicht gewährleistet wird. Sobald man das Gesamtsetting des Raums, in dem die Tapete ihre Wirkung entfaltet, und dessen ästhetische Strukturen mit in die Analyse einbezieht, unterscheidet sich das somit gegebene Display maßgeblich von einem Panorama in einer abgedunkelten Rotunde, das ein Subjekt quasi besichtigt und in einer architektonisch und physiologisch festgelegten Reihenfolge erkundet.1277 Anstelle einer vom Jetzt-Ort weg imaginierten zusammenhängenden Szene, auf die man sich ausschließlich und auch isoliert vom sonstigen Lebenskontext konzentriert, sind es hier eher bedeutungsvolle und durch die Vor-Einstellungen der BetrachterInnen mitbestimmte Figurationen, die inmitten des Alltags und aus immer wieder neuem Blickwinkel als Teil des Alltags zur Aufführung
1277
550
Vgl. Albrecht Koschorke: „Das Panorama“, wie Anm. 317.
�. Schlussbetrachtung
kommen. Mit einem panoramatischen im Sinne von ‚beherrschenden, alles zugleich erfassenden‘ Blick hängt dieses In-Beziehung-Setzen mit Bildtapeten insofern zusammen, als das Sehen und Raum-Ergreifen als ein geordnetes Sehen und ein von verschiedenen Ebenen der individuellen Erfahrung gelenktes Raumerleben modelliert ist. Dies impliziert aber auch, dass Brüche, Fragmentierungen, Teil-Bilder statt ganzer Ansichten und Übergänge, bspw. aus dem Fenster oder hin zu thematisch differierenden Supraporten, möglich sind, die ein ganz anderes Potenzial der Mitwirkung von Subjekten erfordern und freisetzen, und die dadurch gerade die von mir hervorgehobenen Anschlüsse an die Gesellschaft produzieren. Die Tapeten-Anordnungen bilden oft Felder, und zwar materialiter und formalästhetisch, aber auch thematisch, die mit den Epistemen der Gesellschaftsgestaltung und den biopolitischen Imperativen des beginnenden 19. Jahrhunderts zusammenwirken und als ein dynamisches Gefüge gesehen werden können. Diese Konstellationen schließen den Überblick und die Totalität eines momentanen Erfassens sicherlich ein, allerdings auch ein Stoppen und Zurückgleiten nicht aus. Die zwölf Szenen von Psyche geben so gut wie keinen Landschafts-Überblick, aber auch die Landschaft des Meeres bei Telemach sowie Paul und Virginie oder die Gestaltung von Wiesen und freien Flächen bei beiden Tapeten sind durch klare Begrenzungen und Fokussierungsangebote auf Einzelelemente charakterisiert. Wenn man von der Ankunft Telemachs und Mentors auf die Mammia-Bank hinüber schaut, verweilt der Blick dort zunächst und nimmt die Einzelelemente wahr, um dann wieder weiter zu reisen; und die Amor und Psyche-Zusammenstellung auf dem Bett oder Paul und Virginie auf der von Sklaven getragenen Sänfte kommen ebenfalls als für sich bedeutsames Motiv zur Geltung und rufen Wissens- und Erkenntnisformationen auf, die eher auf eine Zusammenschau als eine Übersicht abheben. Interessant ist hier insbesondere, was wie zusammengestellt wird und nicht der Überblick über die gesamte Besiedlung der Südseeinsel im Fall von Paul und Virginie oder alle Stationen Psyches und Telemachs. Hieraus lassen sich dann Thesen zum Prozess der Vergesellschaftung, an dem die Tapeten teilhaben, ableiten. Die ‚Programmatik‘ der Zusammenstellungen – welches Programm also im Alltag der Wohnsubjekte gespielt werden soll, oder noch radikaler: auf was diese programmiert werden sollen und was entsprechend auch nicht zu sehen sein darf – ist folglich der viel relevantere in der Bezeichnung ‚Panoramatik‘ enthaltene Wirkungsaspekt als das so viel diskutierte Panoramatische, das ja vorgeblich ‚alles‘ oder zumindest eine Vielheit zu sehen gibt.
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Begriffliche und (diskurs-)geschichtliche Einführung zur „Bildtapete“ und ihren Wirkungsweisen. Die Grundlagenarbeit im zweiten Kapitel Eine detaillierte Einführung zum Medium der Bildtapete und ihren potenziellen Wirkungsweisen mit dem Ziel des Anstoßes zur Neu-Betrachtung ihrer Geschichte (einschließlich der Geschichte ihrer Beforschung und wissenschaftlichen Bewertung) als einer Diskursgeschichte bietet das zweite Kapitel. Im Unterkapitel 2.1. werden unterschiedliche Gebrauchs- und Anwendungsaspekte der Tapetenbahnen im Interieur vorgestellt und es wird dabei ein konzeptueller Begriff der ‚Wanderungen‘ von Tapetendekoren in textiler, architekturaler und motivischer Hinsicht, also auf den drei historisch betrachtet für Wanddekore wichtigsten ästhetischen und programmatischen Wirkungsebenen, entwickelt. Damit wird bereits deutlich, dass die Praktiken der konkreten Tapetengestaltung im Sinne eines sich zueinander fügenden Raumprogramms nicht etwa bisherige Praktiken und Vorlieben komplett ablösen oder völlig andere Räume schaffen. Es ist weitaus sinnvoller, von einer Aufeinander-Bezogenheit der verschiedenen medialen Ebenen, Objekte und auch mit ihnen agierenden Subjektpositionen auszugehen und statt einer möglichst linearen Historisierung die stattfindende (Wieder-)Aufnahme, Aktualisierung und Umcodierung traditioneller Materialien und Motive in den Fokus zu nehmen.1278 Die Bildtapeten-Anordnungen sind, so die These, Produkte dieser Wanderungen, und sie sind darüber hinaus Teil von dispositären Anordnungen, wie sie Foucault thematisiert, und somit auch potenziell Ausdruck von „Gesagte[m] ebenso wohl wie Ungesagte[m] […]“.1279 Ihre Bedeutung lässt sich also erstens nicht unbedingt ‚direkt‘ aus den Motiven oder Figuren und Bildelementen ablesen, sondern erschließt sich erst bei näherem Blick auf die institutionellen, moralischen, literarischen usw. Rahmenbedingungen, und sie kann zweitens und daraus folgend auch erst im Verständnis eines Beziehungsgeflechtes mit den sie betrachtenden Subjekten erfasst werden. Es werden so im Verlauf dieses Kapitels und der ganzen Arbeit daher Schnittstellen von diesen Bildtapetenbahnen, Auffassungen von Landschaft und Natur, Formungen und Verhaltenscodes der Subjekte – die im Zuge der Aufklärung und Empfindsamkeit stark an Konzepte von Innerlichkeit und Selbstsorge rückgebunden werden – und ihrer Wohnsituation untersucht. Im Abschnitt 2.1.3 wird das Gestalten der Bildtapetenräume und das Leben in und mit ihnen entsprechend als Kulturtechnik herausgestellt, 1278 Mit dem Begriff der (motivischen, textilen und architekturalen) ‚Wanderungen‘ arbeite ich durchgängig, dazu hinführend siehe Kapitel 2.1.2. 1279 Michel Foucault: Dispositive der Macht, wie Anm. 100.
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�. Schlussbetrachtung
und dabei betont, dass mit den Kategorisierungen, die hiermit verbunden sind, auch immer wieder Ein- und Ausschlüsse produziert und wiederbestätigt werden. Es war mir wichtig zu hinterfragen, was eigentlich ein ‚Panorama‘ ist, was sich darin zeigt und was auch nicht, und inwiefern Wohnsubjekte schon durch Diskurse in- und außerhalb des Wohnens geprägt sind und nun im eigenen Innenraum weiter geprägt werden. An dieser Stelle meiner Untersuchung sind Bildtapetenräume also bereits als politisch wirksame und nicht nur rein dekorative Elemente im Wohnen (neu) definiert. Dabei muss der ‚Ordnung‘ in der An-Ordnung besondere Aufmerksamkeit gezollt werden, die sich erst in der Interaktion der Subjekte mit ihren Wänden und ihrem Raum ‚vollzieht‘. Es werden so bildräumlich Aufforderungen zu und Aufführungen von etwas politisch Richtigem und Geordnetem arrangiert, sodass hier das performative Moment besonders zu betonen ist. Von mir durchgängig verwendete Begriffe wie das In-Beziehung-Setzen sind so auch als Ausdruck des Prozessualen und daher wiederum konzeptuell zu verstehen. Wie und wodurch nun Ordnung entsteht oder sich vollzieht, und was als solche verstanden wird, konnte dann in den exemplarischen Analysen konkretisiert werden. Das bisher schon Gesagte zu Selbstentwürfen, Beziehungsräumen und (kollektiver) Identitätsbildung wird in Kapitel 2.2 noch weiter vertieft. Dass es auch im Wohnen um die Anwendung und Verbreitung von „Taktiken“ geht, die wiederum mit anderen vorherrschenden Alltagsgestaltungen zusammengedacht werden können und die sich mit den Tapetenbahnen diskursiv verknüpfen, zeigen die Beispiele von Zimmerbildern, Landschaftsmalerei und -theorie sowie Spazierengehen und Geschlechtercodierung in den Teilkapiteln 2.2.1 bis 2.2.3. Die genauere Bildanalyse von drei Zimmerbildern – Aquarellen von 1820 sowie der Zeit um 1840 und um 1850 – dient dazu, auf die im Bild mitgeteilte dominant fiction aufmerksam zu machen1280 und darauf, welche Sichtbarkeitspolitiken dieses Bildmedium des frühen 19. Jahrhunderts verfolgt. Es handelt sich dabei wohlgemerkt ebenso wie bei den Bildtapeten um ein als dekorativ und eher privates Empfindungsvehikel denn als hohe Kunst kategorisiertes Medium, das als kulturgeschichtliche Quelle oft unterschätzt wird. Gerade die Differenzen in der Ausgestaltung weiblicher und männlicher Figuren im Bildraum und in ihrer Zuordnung zu spezifischen Räumen und Objekten des Alltags lassen interessante Rückschlüsse über die Verkoppelung von bürgerlichen Werten des (Sich-)Einrichtens und der Selbstinszenierung mit biopolitischen, moralischen und in hohem Maße geschlechterdifferenzieren-
1280
Siehe zu dem Begriff von Silverman die Anm. 192 der vorliegenden
Arbeit.
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den „Einpflanzungen“ zu. Anhand der nunmehr aufgefächerten Analyseachsen der Natur und Naturalisierungen sowie Bildersequenzen und Panorama-Blick und der relevanten Diskurse, die sich auch im Hinblick auf den ‚Außenraum‘, die Natur und Gartengestaltung und damit verbunden auch in der Kunst mit der Aufwertung der Landschaftsmalerei bilden und verfestigen, kam ich auf die Schlüsselbegriffe der Einbildungskraft bzw. Imaginationsfähigkeit und Freiheit zu sprechen. Schrittweise zeigte ich, inwiefern Subjektformungspraktiken sich an solchen gerade auch von Künstlern, Philosophen und Literaten debattierten Kategorien orientieren und dabei untrennbar mit Idealen von Weiblichkeit und Männlichkeit verwoben sind. Der für die Gesamtarbeit als Gelenkstelle fungierende „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“ von Friedrich Schleiermacher verdeutlichte sodann, wie über solche Kategorien, Idealvorstellungen und „Einpflanzungen“ letztlich Anschließungen an die Gesellschaft, also eine Art utopisches Programm, ermöglicht werden sollten. In meiner Untersuchung docken die Bildtapetenräume genau an ein solches Programm an und formen es mit, und die drei nun konkret benannten Dufour’schen Tapeten stehen dabei jeweils für spezifische Richtungen und Modellierungen dieses Gesellschaftsdesigns.
Dufour’sche Paar-Anordnungen: Einübung und Er-Haltung von Subjektpositionen in Bezug zu tapezierten Interieurs. Die Grundlagenarbeit im dritten Kapitel Auch im dritten Kapitel ging es darum, das Sich-Einrichten der Wohnsubjekte und die naturalisierenden, idealisierenden Tendenzen in den Interieurs des frühen 19. Jahrhundert noch genauer theoretisch zu erfassen und die Bildtapetenräume innerhalb dieser Subjektivierungs- und Machtaushandlungsprozesse zu verorten. In Teil 3.1 wurden dafür zunächst die drei Bildtapeten, die im Fokus stehen, vorgestellt und die Auswahl inhaltlich und methodisch begründet: Die Paare und Paarungen, die aus dieser Produktion der Manufaktur Dufour hervorgehen, sind jeweils Chiffren für bestimmte idealisierende Liebesauffassungen, die dem Literaturkanon entnommen wurden und den Mythos der ‚Liebe in geordneten Bahnen‘ nun weitertrugen und an Wohnsubjekte vermittelten. Dabei führen die Paarungen Telemach–Calypso (mit der dritten Figur Eucharis dazwischen), Psyche–Amor und Paul–Virginie jeweils andere Schwerpunkte dieses Liebesideals vor Augen. Bei Telemach steht der Lernprozess des jungen, privilegierten Mannes im Vordergrund, der im Rahmen der idyllischen Insellandschaft insofern ‚bereinigt‘ wird, als die von Leidenschaft
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�. Schlussbetrachtung
und destruktiven beinahe-katastrophalen Ereignissen geprägte Episode auf der Insel der Calypso in eine Bildgeschichte der Mäßigung, festlichen Atmosphäre und Angemessenheit umcodiert und das schon im Vorlagentext von Fénelon verbreitete Prinzip der vernünftigen Liebe für den bürgerlichen Wohnraum des 19. Jahrhunderts visualisiert wird. Die aus der höfischen Literatur und ihren späterhin als hedonistisch bewerteten Liebesentwürfen entnommene ménage à trois wird in dieser Tapete zu einer ‚gemäßigten Dreiecksliebe‘. Mit Psyche wird gewissermaßen komplementär dazu der Lern- und Entwicklungsprozess der jungen (ebenfalls sozial privilegierten) Königstochter, die mit ihrer Schönheit die Eifersucht der Göttin Venus provozierte, nach der antiken apuleiischen Fabel sowie einem höfischen Epos von La Fontaine als Tapetenszenerie umgesetzt. Hier handelt es sich um eine andere Form von Szenerie, da keine durchgängige Landschaft, sondern größer modellierte Protagonisten-Figuren vor und in architektonischen Fantasie-Räumen vor Augen geführt werden. Es ergibt sich ein starker Akzent auf der Körperlichkeit der Figuren bis hin zu Details der Mimik und Gestik; eine Analyse dieser Tapete zeigte exemplarisch, wie über diese Figuren und Einzelszenen Vorstellungen von Weiblichkeit und (schöner) Seele verschmelzen konnten. Das Konzept der Seele ist seit dem späten 18. Jahrhundert in einen physiologisch-hygienischen Diskurs der sensibilité übergegangen und die spezifischen Anhaltspunkte ideal-weiblichen Ausdrucks und Verhaltens wurden auch, so meine These, über die Tapete und die dort visualisierte Figur der Psyche vermittelt. Diese wird u.a. in dieser Geschichte en papier zu einem Leitbild zunächst leicht verführbarer, schließlich aber geformter mütterlich-fürsorglicher Weiblichkeit, die wiederum als Voraussetzung für ein auf tugendhafter Liebe beruhendes Eheideal imaginiert wurde. Bei meinem dritten Beispiel, Paul und Virginie, handelt es sich ebenfalls um Leitbilder des Liebes- und Geschlechterdiskurses um 1800, allerdings nicht auf antiken mythischen Texten, sondern einem im Umkreis Rousseaus zu verortenden Roman von Bernardin de Saint-Pierre basierend. Das hier sichtbare Paar ist bereits zusammen aufgewachsen, und zwar in der ‚Fremde‘ einer exotischen Südseeinsel, sodass ein Rousseau’sches Ideal von Kinder- und Freundschaftsliebe in einer ‚unkorrumpierten‘ Gesellschaft entworfen wird. Diese erweist sich als Biotop bzw. Schutzraum und wird im Interieur der reise- und exotikbegeisterten Wohnsubjekte des 19. Jahrhunderts zusammen mit den bereits hervorgehobenen Geschlechtervorstellungen zum Dreh- und Angelpunkt eines diskursiven Geflechts aus Gesellschaftsutopie, Reinlichkeits- und Mäßigungsvorgaben, bis in den Tod dauernde Liebesfähigkeit und geschlechtlichen sowie ethnischen und sozialen Hierarchisierungen. Die ‚geordneten Bahnen‘, die hier bei allen drei Beispielen inhaltlich-motivisch ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt wurden, konnten und können aber nur
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aufgrund ihrer konkreten materiell-räumlichen Anordnung und der sich formenden Schnittstellen der Bildtapeten-Figurationen mit den sie betrachtenden Subjekten diskursiv und performativ wirksam werden. Dieser Aspekt wurde in den Teilkapiteln 3.2 und 3.3 noch weiter vertieft. Besonders wichtig war mir, an dieser Stelle die nicht nur schmückende oder zusätzliche Funktion der ornamentalen Tapetenelemente zu betonen: In den meisten Bildtapetenräumen kommen in Bezug zu den narrativen Bahnen noch papierne Bordüren, Lambris, Supraporten und/oder Friese zum Einsatz, die das Raumprogramm maßgeblich mit strukturieren und somit mehr als „ordnungsstiftende Prinzipien“ denn lediglich als Beiwerk gelten müssen. Diese Elemente nehmen also Einfluß auf die Wahrnehmung der Anordnungen im Raum und letztlich auf die Programmatik. Ein Beispiel aus den Analysekapiteln sind die Mütterund Bacchus-Supraporten des Paul und Virginie-Salons in Niedersgegen, die das Gesamtnarrativ deutlich in Richtung mütterliche Fürsorge und Obhut verschieben und dabei mit dem bacchantischen Thema andeutungsweise die Bedrohung familiärer Ordnung durch Ausschweifung bzw. Zügellosigkeit mit einbringen. Aber auch scheinbar weniger thematisch eindeutige Ornamente wie die pompejanische Sockelzone in Warendorf werden bedeutungsstiftend, wenn beispielsweise letztere eine Raumeinheit von Inka- und Telemach-Raum und dadurch eine antikisierte Wohnzone schafft, die sich von anderen Bereichen des Hauses abhebt. Solche in hohem Maße vom Mitwirken der Betrachtersubjekte abhängigen und sehr dynamischen Raumkonstellationen setzen performativ die Moritz’sche Vorstellung eines stets mit „Isolieren“ beschäftigten Menschen um, der also ganz selbstverständlich Elemente aus seiner Umgebung herauslöst um einen spezifischen Erkenntniswert aus ihnen ziehen zu können.1281 Indem ich diese Verknüpfung von Bildtapetenräumen, Wahrnehmungstheorien um 1800 und zudem Erziehungsmechanismen, die bereits auf Subjekte eingewirkt haben und im Raum aktualisiert werden, hergestellt habe, bin ich gleichermaßen auf einer anthropologischen und soziokulturellen Ebene meiner Untersuchung als auch auf der Ebene der Subjektivierungspraktiken und -politiken angelangt. Gerade auf der zweiten Ebene – die aber von der ersten untrennbar ist – wird eine für die Spätaufklärung und Romantik typische Vorstellung und sogar Aufforderung deutlich, dass sich Subjekte aktiv und in einem freien Spiel mit ihrer Umgebung auseinandersetzen sollen. Diese Subjektivierungsform des spielerisch aus seiner Imagination Neues schaffenden (und nicht etwa pas-
1281
Siehe zu Moritz und dem „isolierenden Subjekt“ insbesondere den
Abschnitt „Ornament-Paratexte und das isolierende Subjekt“ in Kapitel 3.2.1.
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�. Schlussbetrachtung
siv-unbeteiligten) Betrachters schlägt sich insbesondere in der ernsthaften Auseinandersetzung von Theoretikern und Ästhetikern mit der Arabeske nieder, die sich auch oftmals in Kombination mit den Bildtapeten findet. Hier erschien es mir gewinnbringend, noch näher auf raumtheoretische Konzepte einzugehen, um diese Schnittstelle von Bildtapeten-Räumen und sich mit ihnen auseinandersetzenden Subjekten auszuloten. Als hilfreich für eine Annäherung an die an einer Formung von Partnerschaftsidealen beteiligten Dufour’schen Tapeten haben sich Konzepte erwiesen, die auf einen Gefühlsraum bzw. einen (auch körperlich) erfahrbaren Erlebensraum hinarbeiten. Anhand unterschiedlicher Texte hierzu, wie beispielsweise von Bachelard und De Certeau, konnte ich weiterhin argumentieren, dass das In-Beziehung-Setzen mit Bildtapeten sehr stark an eine körperliche Präsenz und sinnliche Wahrnehmung von Subjekten gekoppelt ist. Diese führen einen möglichen Parcours erst einmal sich selbst bewegend aus bzw. schaffen ihn neu, sodass dabei auch immer Ein- und Ausschlussräume entstehen. Für meine Untersuchung, welche Raum-Ordnungen sich eigentlich ergeben, war in 3.3 eine Annäherung an das Sich-Aufführen entlang der dritten Analyseachse der Theatralität des Alltags und Bühne der Gesellschaft besonders wichtig. In einer Zusammenführung des Leibniz’schen Begriffs theatrum naturae et artis und des konkreten Vor-Augen-Bringens, um das sich v.a. Goethe sehr bemühte und das epistemisch bis in die Bildtapetenräume hinein wirkte, konnte ich den Begriff des theatrum domus et socialitatis, eines Theaters des Hauses und der Geselligkeit, prägen.1282 Dieser umfasst integrativ Innen- und Außenräume, momentanes Agieren und gesellschaftliche Vor-Prägungen sowie subjektives Empfinden und Handeln im Zeichen der Geselligkeit. Es wird so möglich, nicht mehr unbedingt von der Konstruktion eines von außen abgeschotteten anderen Raums innerhalb der eigenen Wände auszugehen, die gerade im 19. Jahrhundert zirkulierte, und sich dadurch die in dieser Forschungsarbeit thematisierten (bio-)politischen Machtwirkungen in eben solchen Innenräumen bewusst(er) zu machen.
1282
Siehe insbesondere S. 195 dieser Arbeit.
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Die exemplarischen Analysen: Die Paysage de Télémaque, Les Amours de Psiché et de Cupidon und Paul et Virginie in acht Bildtapeten-Räumen. Das vierte bis sechste Kapitel und ihre Reiserouten in Richtung Geschlechts- und Liebesdiskurs Die Kapitel vier bis sechs stellten nun nacheinander die zuvor eingeführten Dufour’schen Bildtapeten im Detail vor. Dabei ging es in allen drei Fällen zunächst darum, sie innerhalb der Kunst- und Kulturgeschichte zu verorten und dabei auch auszuloten, inwiefern das oft im Zusammenhang mit der Tapetenproduktion diskutierte Kopieren bzw. Imitieren (sowohl von Stoffen und Motiven ganz allgemein als auch von konkreten Figuren und Bildelementen) als eine Kulturpraxis und gerade dadurch besonders im Innenraum wirkmächtiger Anteil der Taktiken des Wohnens und der Subjektivierungstechniken gesehen werden kann. Die einzelnen Elemente der Tapeten wurden dann im jeweiligen Hauptteil dieser Kapitel genau analysiert, näherhin die Einzelszenen, wie sie im grundlegenden Katalog von Odile Nouvel-Kammerer definiert wurden, und auch zusätzlich noch einmal die Szenerie im Ganzen. In dieser Ausführlichkeit ist dies bisher noch nicht geschehen – vermutlich um das Beschreiben von ‚offensichtlich‘ erkennbaren und lediglich ‚dekorativ gesetzen‘ Kleinelementen zu vermeiden – allerdings führt nur dieses sehr detaillierte Vorgehen, wie die vorliegende Arbeit zeigen konnte, zu tiefergehenden Rückschlüssen auf das In-Beziehung-Setzen mit Bildtapeten. Weitere Unterkapitel verknüpften die Ergebnisse aus diesen ausführlichen Passagen mit den theoretischen Grundlagen aus den vorhergehenden Kapiteln. In Bezug auf den Telemach im vierten Kapitel wurden Beispiele von drei in situ vorhandenen Tapeten-Anordnungen in Häusern des industriell und landwirtschaftlich erfolgreichen Bürgertums bzw. des niederen Adels (Gut Borghorst, Remscheid-Lüttringhausen und Warendorf) vorgestellt. Ein besonderer Akzent lag hier auf der Verknüpfung der Landschaftmodellierungen mit der Wanderung bestimmter Sinninhalte zwischen den Ebenen Natur, Architektur und Figurenkonstellation. Weiterhin konnte eine jeweils auf die exemplarischen Beispiele ausgerichtete raumästhetische und geographisch-regionale Einordnung dieser ‚Inhalte‘ der Tapete stattfinden und schließlich – wieder auf eine allgemeine Analyseebene gebracht – von Körpermodellierungen und biopolitischen, einen Hygienediskurs mitformenden Denkfiguren, die durch die Tapeten-Anordnungen vermittelt werden, gesprochen werden. Im Psyche- Kapitel spielten letztere auch eine besonders wichtige Rolle; hier wurden mit vier größtenteils in situ vorhandenen Tapetenräumen die meisten
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�. Schlussbetrachtung
exemplarischen Beispiele verhandelt,1283 wobei die Bandbreite vom didaktisch angelegten Gärtnerhaus inmitten botanischer Anordnungen (Eisenach) über ein festliches Palais in einem Kurort und ein klerikales Palais und Wohnhaus von Fürstbischöfen (Bad Doberan und Eichstätt) bis hin zum Schloss eines einrichtungsbegeisterten Fürsten (Ellingen) reicht. Die Körpermodellierung, Subjektivierung und Geschlechterzuordnung erfährt hier, wie vertiefend gezeigt werden konnte, eine Zuspitzung auf das Konzept der schönen Seele bzw. Tugendseele hin, das aus der Literatur und aus philosophischen Ansätzen bei Schiller, Goethe und Schlegel hervor gegangen war. Entsprechend lag ein besonderes Augenmerk dieses Kapitels auf dem Prozess der Konstruktion einer Idealweiblichkeit. Obwohl die dritte der untersuchten Bildtapeten, Paul und Virginie, von der Liebesgeschichte zweier Kinder handelt, ist es auch hier v.a. ein cultural investment in die Frau, das vor Augen geführt wird, bzw. eine Didaktik eines weiblichen Gefühls- und Unschuldsparadigmas im Wohnraum. Von der nur schwer überhaupt noch auffindbaren Tapete hat sich ein Exemplar erstaunlich gut und in einer hochinteressanten Kombination mit unterschiedlichen papiernen Supraporten auf dem landwirtschaftlichen Schlossgut Petry nahe der luxemburgischen Grenze erhalten; der im dortigen Wohnhaus situierte Tapetenraum steht im sechsten Kapitel im Fokus. Diese im Vergleich mit den beiden vorigen Kapiteln, die mehrere Häuser bzw. Tapetenräume umfassten, deutlich kürzere Analyse ermöglichte es nun, sowohl in der materiell-ästhetischen Ausführung als auch in der Thematik und der Modellierung des Liebes- und Familiendiskurses eine Art Zusammenschau der Telemach’schen und Psyche-Analysen zu leisten. Dabei konnte aber auch die Spezifik dieser Tapetendidaktik im Dreieck von Reisen und Erobern, Heimkommen bzw. Einbürgern und Liebestreue – bis in den (romantisch-religiös codierten) Tod der weiblichen Opferfigur – herausgestellt und der Konnex von ‚Auf-den-ersten-Blick-Exotik‘ und Heimat- und Selbstformungsthematik, der bereits in der Warendorfer Raumeinheit von Inkasaal und Telemachsalon auftauchte, betont werden.
1283
Die Tapete zu „Amor und Psyche“ war eine der beliebtesten Bildtapeten
überhaupt und wurde in mehreren Neuauflagen immer wieder nachgedruckt.
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Fazit und Ausblick: Anschlusspotenziale der vorliegenden Arbeit an die weitere Erforschung von Bildtapetenräumen Wie dieser zusammenfassende Überblick aufzeigt, sind teils sehr heterogene Disziplinen und methodische Ansätze mit einbezogen worden, um sich dem In-Beziehung-Setzen, dem Display- und Aufführungscharakter und den vielfältigen Diskursformationen in und mit den Bildtapeten anzunähern. Entsprechend konnte und musste ich mich auf eine Auswahl der für die Liebes- und Partnerschaftsmodellierungen besonders interessanten und aussagekräftigen Beispiele konzentrieren, welche zudem von praktischen Faktoren bestimmt war, wie der Erreichbarkeit der Tapetenräume und deren Zustand sowie einem Minimum an Basisinformationen, die längst nicht für alle Tapeten überhaupt ansatzweise eruiert sind. Der neue Blickwinkel auf diese Inneneinrichtungsobjekte wurde nun an den drei Beispielen erprobt, wobei sich wiederum entsprechend viele Anschlussmöglichkeiten für die weitere (Er-)Forschung ergeben, von denen ich einige wenige, die mir sehr lohnenswert scheinen, anführen möchte: – In puncto Raumästhetik ließen sich Forschungsschwerpunkte setzen, die an meine Überlegungen zu Schnittstellen und Übergängen im Raum anknüpfen, wie die Übergänge zwischen Tapetenbildern und Fenstern oder Türen. Dabei kann man das Thema der paratextuellen Tapetenrahmungen beispielsweise durch Bordüren und Sockelzonen vertiefen, v.a. angesichts der Tatsache, dass diese Art von ‚Nebenproduktion‘ der Tapetenmanufakturen kaum erforscht ist und ich auch erst im Verlauf meiner Analysen darauf gestoßen bin, wie umfangreich und heterogen, und dabei gerade dem in Journalen und Ratgebern verbreiteten Geschmack angepasst, diese Raumelemente eigentlich sind. – Während die vorliegende Arbeit den Fokus auf literarische bzw. nach literarischen Vorlagen entstandene Bildtapeten gesetzt hat, wäre es sehr spannend, sich andere Themenfelder bzw. motivische Bearbeitungen in und auf diesen Tapeten anzuschauen. Denkbar sind beispielsweise Stadtansichten bzw. Veduten oder Darstellungen von Festivitäten oder von Schlachten. In einem nächsten Schritt könnten diese Analyseergebnisse dann mit den hier vorliegenden verglichen und das Feld des In-Beziehung-Setzens mit Bildtapeten erweitert werden. So sind mehr – oder vielleicht andere – Aussagen über die Didaktiken, die diese Tapeten vermitteln, und die Schnittstellen zu Betrachter- und Bewohnersubjekten möglich.
560
�. Schlussbetrachtung
– Die einzelnen Themenkomplexe kulturgeschichtlicher Art, die z.B. im dritten Kapitel in der vorliegenden Arbeit eingeflossen sind, wie das Kopieren, Imitieren und Sammeln, die Aspekte von (Sich-)Bilden und das Verhältnis von ‚Low‘ und ‚High‘ der Kunst(geschichtsschreibung) in Bezug auf die Inneneinrichtung würden, jeweils für sich auf verschiedene Bildtapeten-Anordnungen bezogen, hochinteressante selbstständige Forschungsthemen bilden. Hier könnten auch die immer wieder aufzufindenden Beschreibungen von tapezierten Interieurs in der Literatur bzw. literarischen und biografischen Texten gewinnbringend hinzugezogen werden1284 und so die Erkenntnis, was am Wohnen inmitten der Bildtapeten eigentlich wahrgenommen und wie eingeschätzt und bewertet worden ist, wiederum aus anderen medialen Konstellationen heraus erweitert werden. – In dieser Arbeit habe ich mich auf Bildtapeten- und Wohnanordnungen im deutschen Raum konzentriert, bzw. auf die Nutzung und Diskursivierung eines französischen Inneneinrichtungsmediums im deutschen Kontext. Sobald man sich jedoch in anderen geographisch-kulturellen Koordinaten bewegt, können die Erkenntnisse kultur- und mentalitätsgeschichtlicher Art auch variieren.1285 – Gerade die Tatsache, dass die Bildtapeten auch in die ‚Neue Welt‘ exportiert wurden (sowohl in den USA als auch Kanada waren sie sehr beliebt), lässt vermuten, dass sie hier als Einrichtungsmode der ‚Alten Welt‘ ein anderes Display und andere Beziehungsräume schaffen konnten. Es wären dann auch sicherlich noch ganz andere Tapeten zu entdecken,1286 und es könnte ein Projekt gestartet werden, schrittweise immer mehr Häuser und Tapetenexemplare aus verschiedenen Ländern und Regionen wie in einem Cluster zu erfassen und einer eingehenden Analyse zu unterziehen. – Die diskursgeschichtliche Betrachtung und Neubewertung der Bildtapeten könnte in einem größeren Forschungsprojekt noch in die Designgeschichte integriert werden, innerhalb derer das Wohnen mit Bildtapeten ein klares Foschungsdesiderat darstellt. Für das späte 19. Jahrhundert 1284 Siehe auch den Beitrag von Thümmler in Barbara von Orelli-Messerli (Hg.): Ein Dialog der Künste, wie Anm. 1. 1285
Je nach sozialer Schicht oder ökonomischen Faktoren z.B. können
sicherlich ganz andere Aussagen getroffen werden. Es gab bspw. auch Bildtapetenräume in Bauernhäusern und in England wiederum v.a. in Herrenhäusern der Schicht der landed gentry. 1286 Siehe das von Betje Black Klier vorgestellte Beispiel der „Bonapartist Utopia Tapete“, wie Anm. 310.
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gibt es zwar zahlreiche Untersuchungen, die auf Inneneinrichtung bzw. Interieurgestaltung abheben und dabei auch Tapeten in den Fokus stellen, gerade wenn es um die „Arts & Crafts“-Bewegung in England und die Tapetendesigns von William Morris geht, aber auch im Zusammenhang mit den ausgesprochen floralen und rankenden Jugendstil-Designs oder den flauschig-textilen Biedermeier-Einrichtungen. Jedoch findet sich, obwohl häufig von den Themen der Vereinbarkeit von Kunst und Leben und auch von Gender-abhängigen Designs und Ornamenten zu lesen ist, selten Forschung zu diesen Aspekten, die sich auf die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts konzentriert. Es wäre hier ein Bruch in der Auffassung von und im Umgang mit Geschlecht, Familie und Subjektformung zu untersuchen, der sich im 19. Jahrhundert zeigt, und zwar auch in der Interieurgestaltung. – Abgesehen von den mit den obigen Punkten einbezogenen Fächern der Soziologie, Designgeschichte und auch Literatur- und Kulturwissenschaft gibt es auch innerhalb der Medienwissenschaft einiges in Bezug auf die Bildtapeten und ihre Wirkungsweisen zu tun. Da diese Tapeten mit ihrer Sequentialität und der sich durch den Raum ziehenden Narration auch als szenisches Medium gelten, sind Berührungen mit dem Film bzw. einer filmischen Betrachtungsweise vorhanden. Zwar sitzen die BetrachterInnen hier nicht fixiert vor einem Bildschirm, sondern bewegen sich in einem Parcours, aber dennoch wäre es von großem Interesse, die intermedialen Schnittstellen genauer auszuloten. Man könnte dazu, ausgehend von der vorliegenen Arbeit, an der zweiten Analyseachse von Bildersequenzen und Panoramablick anknüpfen, und dabei auch auf den menschlichen Wahrnehmungsapparat und die im 19. Jahrhundert grundlegend neue Formung des Betrachterkörpers bzw. die Forderung von und nach ‚Mobilität‘ eingehen.1287 Da diese überblicksartige Aufzählung in sich bereits wieder auf viele Lücken verweist, die es noch zu füllen gilt, konnte deutlich werden, wie viel grundlegende Detailarbeit auf dem Feld – oder vielmehr den vielen Feldern – der Bildtapetenforschung noch zu leisten ist. Die sechs Kapitel dieser Arbeit stellen einen ersten Schritt zur kunst- und kulturgeschichtlichen – und insbesondere auf die so wichtigen und noch kaum erforschten Gender-Modellierungen 1287
Interessante Themen mit Bezug zu verschiedenen Bildmedien sind
bei der Tagung „The Mobile Spectator. Viewing on the Move“ an der University of Nottingham (4.–5. Juli 2014) zur Diskussion gestellt worden.
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�. Schlussbetrachtung
konzentrierten – Neubetrachtung dieses facettenreichen Mediums der Papiers Peints dar und sollen zur weiteren ebenso intensiven Auseinandersetzung mit ihnen einladen.
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Biblio grafie
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Bild nach weise
Abb. 1 © Patricia Lambertus. courtesy by Galerie Hübner & Hübner, Frankfurt am Main; Foto: Achim Kukulies, Düsseldorf Abb. 2, 3 © Patricia Lambertus. courtesy by Galerie Hübner & Hübner, Frankfurt am Main Abb. 4 © Lydiard House and Park, Museums and Heritage Swindon Borough Council Abb. 5 Les Charmettes, maison de Jean-Jacques Rousseau. ©Musées de Chambéry Abb. 6 Foto Schweizerisches Nationalmuseum, Foto-Nummer DIG-7467 Abb. 7: ©Wittelsbacher Ausgleichsfonds München Abb. 8 Foto Schweizerisches Nationalmuseum, Foto-Nummer DIG-7566 Abb. 9 © Musée d'art et d'histoire, Ville de Genève, Cabinet d'arts graphiques, N°inv. 19780071-11. Photo: Maurice Aeschimann
Abb. 19 © Jean-Manuel Salingue - Musée des BeauxArts de Rennes. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Musée des Beaux-Arts in Rennes Abb. 21 DP020210 - Painted Wallpaper, Homeside, Oare, Kent. @Historic England Archive Abb. 35 © Bildarchiv Foto Marburg Abb. 36 Canova, Antonio (1757–1822): Paolina Borghese come Venere vincitrice. Rome, Galleria Borghese. © 2017. Photo Scala, Florence - courtesy of the Ministero Beni e Att. Culturali Abb. 42 © bpk - Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte/Musée du Louvre, Dist. RMN Grand Palais/Pierre Philibert Abb. 76, 77, 78, 79 Image Bibliothèque nationale de France Abb. 80 © bpk - Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte/RMN - Grand Palais/Hervé Lewandowski
Abb. 10 © Kulturstiftung des Hauses Hessen, Museum Schloss Fasanerie, Eichenzell bei Fulda Abb. 11 Weilburg, Pariser Zimmer - Gerd Kaemmerling 2005; mit freundlicher Genehmigung der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen Abb. 15 Paretz, Schloss Paretz, Erdgeschoss, Gartensaal, R. 112/ Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg/ Hans Bach Abb. 18 © bpk - Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte/RMN - Grand Palais/Hervé Lewandowski
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Die Fotografien aus sämtlichen Tapetenräumen mit „Telemach“-, „Psyche“- und „Paul und Virginie“-Szenen stammen von der Autorin, die diese im Zuge ihrer Recherchen für die Dissertation im Zeitraum 2010–2014 angefertigt hat. Die abgebildeten Grundrisse sind ebenfalls im Zuge dieser Dokumentation der Räume und Bildtapetenszenen von der Autorin angefertig worden, sie dienen allein der Visualisierung der Verteilung der Tapetenbahnen im Raum und sind keine technischen Zeichnungen, daher nicht maßstabsgetreu angelegt. An folgenden Orten wurden Räume fotografisch dokumentiert © Katharina Eck Bürgerhaus in Warendorf/Klosterstraße 7: mit Dank für die organisatorische Unterstützung an Herrn Laurenz Sandmann, Fachwerkhaus Remscheid-Lüttringhausen: mit Dank für die organisatorische Unterstützung an Frau Uschi Motte, Herrenhaus Gut Borghorst: mit Dank für die organisatorische Unterstützung an Frau Caroline Odefey (ehem. Hatlapa), Thüringer Museum Eisenach/Teezimmer: mit Dank für die organisatorische Unterstützung an Frau Christina Arnold (Stadtverwaltung Eisenach/ Thüringer Museum Eisenach – Reuter-Wagner-Museum), Ovaler Saal im Großherzoglichen Palais in Bad Doberan: mit Dank für die organisatorische Unterstützung an Herrn Andreas Baumgart (Landkreis Rostock/Denkmalpflege), Sitzungssaal im Landratsamt Eichstätt/ehem. fürstbischöfliches Palais: mit Dank für die organisatorische Unterstützung an Frau Dr. Claudia Grund und Herrn Karl Zecherle (Historischer Verein Eichstätt e.V.), Residenz Ellingen: mit Dank für die organisatorische Unterstützung an Frau Ruth Messinger und Frau Maria Jentsch (Bayerische Schlösserverwaltung), Schlossgut Petry: mit Dank für die organisatorische Unterstützung an Familie Petry.
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