Kapitalistische Subjektivation: Das Subjekt des kybernetischen Kapitalismus zwischen Digitalisierung, Prekarisierung und Autoritarismus 9783839464236

Quantifizierung, Singularisierung, digitaler Kapitalismus - mit diesen Schlagwörtern wird in der soziologischen Zeitdiag

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German Pages 214 [215] Year 2022

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Inhalt
Kapitel 1
a. Der Ausgangspunkt: Digitalisierung und Autoritarismus im Brennglas der Coronakrise
b. Der Vorschlag: eine Theorie kapitalistischer Subjektivation
c. Das Programm der Arbeit Danksagungen
Kapitel 2
a. Digitalisierung, Singularisierung, Metrisierung?
b. Informatisierung und globale Arbeitsteilung
c. Pluralisierte Kulturindustrie und Kybernetisierung
d. Affektive Arbeit und die Landnahme des Sozialen
e. Säkulare Stagnation und verschärfte Verteilungskämpfe
Kapitel 3
a. Das Subjekt im Kapitalismus
b. Subjektivation und Widerspruch im Tausch
c. Subjektivation und Widerspruch in der Lohnarbeit
d. Subjektivation und Widerspruch im Recht
e. Identität und Widerspruch
Kapitel 4
a. Kapitalismus und Charakter
b. Vom autoritären zum narzisstischen Charakter
c. Wandel der Geschlechtscharaktere
d. Charakter und sozialer Ort im Gegenwartskapitalismus
e. Sozialcharaktere empirisch: Zwei Annäherungen
Kapitel 5
a. Subjektivation heute – nicht neu, aber anders
b. Sozialcharaktere im kybernetischen Kapitalismus: Drei Thesen
c. Kritik und Emanzipation
Literatur
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Kapitalistische Subjektivation: Das Subjekt des kybernetischen Kapitalismus zwischen Digitalisierung, Prekarisierung und Autoritarismus
 9783839464236

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Peter Schulz Kapitalistische Subjektivation

Sozialtheorie

Peter Schulz (Dr. phil.) lebt und arbeitet in Jena. Nach dem Studium der Soziologie, Politikwissenschaft und Philosophie promovierte er am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Peter Schulz

Kapitalistische Subjektivation Das Subjekt des kybernetischen Kapitalismus zwischen Digitalisierung, Prekarisierung und Autoritarismus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6423-2 PDF-ISBN 978-3-8394-6423-6 https://doi.org/10.14361/9783839464236 Buchreihen-ISSN: 2703-1691 Buchreihen-eISSN: 2747-3007 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Kapitel 1 Einleitung..................................................................... 7 a. Der Ausgangspunkt: Digitalisierung und Autoritarismus im Brennglas der Coronakrise ............................................ 7 b. Der Vorschlag: eine Theorie kapitalistischer Subjektivation .............. 16 c. Das Programm der Arbeit & Danksagungen.............................. 21 Kapitel 2 Kapitalismus heute.......................................................... a. Digitalisierung, Singularisierung, Metrisierung? ......................... b. Informatisierung und globale Arbeitsteilung ............................ c. Pluralisierte Kulturindustrie und Kybernetisierung ...................... d. Affektive Arbeit und die Landnahme des Sozialen ...................... e. Säkulare Stagnation und verschärfte Verteilungskämpfe................

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Kapitel 3 Die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation – Anrufung und Verdinglichung ................................................ 65 a. Das Subjekt im Kapitalismus ........................................... 65 b. Subjektivation und Widerspruch im Tausch............................. 83 c. Subjektivation und Widerspruch in der Lohnarbeit ...................... 89 d. Subjektivation und Widerspruch im Recht ...............................97 e. Identität und Widerspruch ............................................. 101

Kapitel 4 Die zweite Dimension kapitalistischer Subjektivation – Sozialcharakter ....... 107 a. Kapitalismus und Charakter............................................ 107 b. Vom autoritären zum narzisstischen Charakter ......................... 117 c. Wandel der Geschlechtscharaktere..................................... 124 d. Charakter und sozialer Ort im Gegenwartskapitalismus .................133 e. Sozialcharaktere empirisch: Zwei Annäherungen .......................140 Kapitel 5 Subjektivation und Subjektivierung im kybernetischen Kapitalismus ..........159 a. Subjektivation heute – nicht neu, aber anders ..........................159 b. Sozialcharaktere im kybernetischen Kapitalismus: Drei Thesen .........162 c. Kritik und Emanzipation ............................................... 173 Literatur ................................................................... 187

Kapitel 1 Einleitung

a. Der Ausgangspunkt: Digitalisierung und Autoritarismus im Brennglas der Coronakrise »Man erkennt die Strukturen deutlicher, die man in der spätmodernen Gesellschaft schon vorgefunden hatte und die sich nun noch einmal verstärken. Am Anfang der Coronakrise gab es sehr schnell den Diskurs nach dem Motto des ›alles wird ganz anders‹. Kurzfristig war es ja auch so. Dann hieß es mit Betonung auf der Zukunft, ›alles wird ganz anders werden‹. Das hatte mitunter den Unterton, dass auch alles anders werden sollte. Größtenteils war dies wohl ›wishful thinking‹« (Reckwitz in Hesse 2021). Als Fazit nach dem ersten Jahr der Coronakrise formulierte Andreas Reckwitz Ende Februar 2021 mit diesen Worten sein Eingangsstatement in einem Interview in der Frankfurter Rundschau. Er sprach dabei zwei für diese Arbeit konstitutiven Fragen an: Die Frage der Kontinuität und des Bruchs im sozialen Wandel einerseits, die Frage danach, ob alles ›ganz anders‹ werden sollte, andererseits. Die erste Frage ist für die in dieser Arbeit vorgeschlagene Theorie kapitalistischer Subjektivation zentral, da die Stabilität oder zeitliche Varianz dieser Subjektivation an dem jeweiligen Verständnis des sozialen Wandels und damit des Wandels des Kapitalismus hängt. Die zweite Frage ist zentral, da die hier vorgestellte Theorie kapitalistischer Subjektivation beansprucht, eine kritische Theorie zu sein, also eine Theo-

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rie, die parteilich mit dem Anspruch ist, dass alles ganz anders werden sollte. Und schließlich bildet das Zitat Reckwitz’ einen geeigneten Ausgangspunkt, da folgend die Theorie kapitalistischer Subjektivation zentral auch in Auseinandersetzung mit seiner Zeitdiagnose der Gesellschaft der Singularitäten entwickelt wird. Die Grundlagen und Forschung für diese Arbeit lagen jedoch bereits vor, bevor SARS-CoV-2-Infektionen sich zu einer weltweiten Pandemie ausweiteten, die auch das Arbeits- und Alltagsleben in Deutschland prägte. Diese Arbeit beruht auf einer Dissertation, die im Jahr 2019 eingereicht wurde und die die Rekonstruktion und Systematisierung der Theorie kapitalistischer Subjektivation zum Gegenstand hatte; ausgehend von den Arbeiten Karl Marx’ bis zur Kritischen Theorie des Instituts für Sozialforschung und darüber hinaus – etwa der feministischen Theorie Regina Becker-Schmidts oder der gegenwärtigen Rechtsextremismusforschung. Auch die Idee, diese Arbeiten auf Phänomene der Digitalisierung zu beziehen, bestand 2019 bereits. Die Pandemie und die mit ihr eintretende gesellschaftliche Krisensituation bildete mit ihrer Kombination von neuen Elementen (der Disruption des Alltags, dem Ad-hoc-Umstellen auf digitale Lehre) und von Bekanntem (etwa der eigenen prekären Beschäftigungsverhältnisse) aber nicht nur die unmittelbaren Bedingungen, unter denen diese Arbeit geschrieben wurde. Sie spitzte auch diejenigen gesellschaftliche Tendenzen zu und ließ sie zusammentreten, die auch in dieser Arbeit gemeinsam verhandelt werden: einerseits die Digitalisierung des Arbeits- und Alltagslebens, andererseits den Aufstieg autoritärer, antidemokratischer und irrationalistischer Politik. Entsprechend dazu soll diese Arbeit einen Beitrag leisten, diese Tendenzen als Phänomene einer gemeinsamen gesellschaftlichen Entwicklung zu verstehen. Die Phänomene sind dabei nicht neu und nicht erst mit der Coronakrise aufgetreten: Digitalisierte Arbeit und Freizeit, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und autoritäre Bewegungen waren auch vor der Coronakrise zentrale Themen der akademischen und me-

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dialen Diskussion, aber auch der Lebenswirklichkeit des Autors,1 sie erscheinen aber unter der – Anfang 2022 immer noch – gegenwärtigen Krise wie unter einem Brennglas. Mit der Coronakrise ging einerseits ein massiver Schub der Digitalisierung einher. Arbeit im home office, digitale Lehre in Schulen und Hochschulen, Onlineshopping, Streaming und das Aufrechterhalten freundschaftlicher und familiärer Kontakte über Videotelefonie dominierten zumindest für die Zeit der Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen das soziale Leben. Zugleich wurde deutlich, dass der soziale Ort, insbesondere in Hinblick auf die Beschäftigungsverhältnisse, bestimmend für die Erfahrung während des sogenannten Lockdowns war: Heimarbeit gab es in der Pflege, Lebensmittelproduktion und Logistik nicht, stattdessen einen massiven Anstieg der Arbeitslast – und in der Gastronomie bedeutete die Coronakrise entweder den Verlust der Anstellung oder ebenfalls verdichtete Arbeitsbelastung bei gleichzeitigem Infektionsrisiko, etwa bei den Lieferdiensten. In den Monaten und Jahren vor der Coronakrise waren für die Diskussion um Autoritarismus einerseits der Aufstieg der AfD als etablierter Bestandteil der politischen Landschaft in Deutschland, andererseits die antisemitischen und rassistischen Anschläge von Halle und Hanau prägend. Mit der Coronakrise traten dann mit sogenannten Coronarebellinnen2 beziehungsweise Querdenkerinnen ein neues Motiv autoritärer Proteste auf, das über das bisherige politisch-autoritäre Milieu

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Eine Lebenswirklichkeit in Thüringen, die unmittelbar vor dem Durchschlagen der Pandemie mit der Wahl Thomas Kemmerichs zum (kurzfristigen) Ministerpräsidenten Thüringens auch durch die Stimmen der Thüringer AfD unter Björn Höcke am 5. Februar 2020 von einer verschärften Diskussion um autoritäre Bewegungen geprägt war. Diese Arbeit verwendet das generische Femininum, mit der -in(nen)-Endung sind also je alle Geschlechter gemeint. In Fällen, in denen nur sozial-männliche Personen oder Gruppen bezeichnet werden sollen, findet das grammatische Maskulinum Anwendung. Für nur sozial-nichtmännliche Personen oder Gruppen wird das grammatikalische Femininum um ein Sternchen (-in*/-innen*) ergänzt.

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hinaus mobilisieren konnte. Auffällig war die Beteiligung von Kleingewerbetreibenden, deren Unternehmen gastronomische oder personenbezogene Dienstleistungen anboten und die von den Maßnahmen während des sogenannten Lockdowns spezifisch betroffen waren – auch hier wurde deutlich, dass der soziale Ort für die Bereitschaft, sich politisch autoritären Bewegungen anzuschließen, von Bedeutung ist. Gleichzeitig spitze die Coronakrise aber nicht nur vorhandene Tendenzen zu, sondern legte auch neue Entwicklungen frei. Die Pandemie machte eine stochastisch operierende Biopolitik sichtbar, in der Infektionsschutzmaßnahmen die Verbreitungswahrscheinlichkeit des Virus reduzieren sollten. Anders als Jürgen Link (1997) es für die 1990er Jahre beschreibt, wurden quantitative Entwicklungen medial nicht mehr in Bilder umgewandelt, wie er es unter anderem an der »Das Boot ist voll«-Metapher darstellt, die sich gegen die Aufnahme von Geflüchteten in den frühen 1990ern richtete. Stattdessen wurden massenmedial unmittelbar Zahlen dargestellt, in Tabellen oder Graphen aufbereitet – teils mit der Option, sich logarithmierte Skalen zu anzeigen zu lassen. Höchstens gefärbte Landkarten boten eine zahlenfernere visuelle Aufbereitung, die aber immer noch einer quantitativen Logik folgt. Zugleich brachen die Kontaktbeschränkungen mit einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die als Erlebnisgesellschaft (Schulze 2005) charakterisierbar war: Die Arbeit lief, teils ins home office verlagert, einigermaßen weiter, die Freizeit wurde radikal stillgestellt. Die Coronakrise erlaubte so einen Blick auf die Frage, ob die gesellschaftlichen Tendenzen seit den 1970er Jahren, die mit den Begriffen des Postfordismus und Neoliberalismus verbunden sind, ungebrochen fortlaufen, oder genauer: Welche Tendenzen fortlaufen, und welchen einen Bruch erleben. Sie aktualisiert damit die Diskussionen im Anschluss an die Weltwirtschaftskrise 2008 darüber, ob der Kapitalismus dabei ist, in eine neue Phase mit neuen Charakteristika überzugehen – ein Umbruch der verzögert erkennbar wird, ähnlich wie der Umbruch Anfang der 1970er Jahre, der erst in den 1980ern nach den Wahlen Magret Thatchers und Ronald Reagans gesellschaftlich sichtbar wurde. Um diese Fragen zu beantworten nimmt diese Arbeit ihren Ausgangspunkt bei soziologische Zeitdiagnosen, die in den letzten Jahren

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erschienen sind, die – für soziologische Werke zumindest – breit rezipiert wurden und die ihren Fokus auf Digitalisierungsprozesse sowie auf deren Effekte auf Gesellschaft und Subjekte legen. Sie sind von der geteilten These getragen, dass wir es gerade mit einem tiefgreifenden qualitativen Bruch in der Vergesellschaftung zu tun haben. Hierzu zählen zentral Reckwitz’ Die Gesellschaft der Singularitäten ebenso wie das Folgebuch Das Ende der Illusionen sowie Steffen Maus Das metrische Wir, die aus sehr ähnlichen Beobachtungen mit »Singularisierung« bzw. »Metrisierung« oberflächlich gegensätzliche Schlussfolgerungen ziehen. Reckwitz beobachtet in seiner Zeitdiagnose, dass, wohin »wir auch schauen in der Gesellschaft der Gegenwart[,] immer mehr […] nicht das Allgemeine, sondern das Besondere« (Reckwitz 2017: 7)3 erwartet wird. Diese Veränderungen vom industriellen Kapitalismus (ebd.: 8), der von Standardisierung und Normierung geprägt war, zur Gesellschaft der Singularitäten wird laut Reckwitz durch eine »digitale Revolution« (ebd.: 16) angetrieben. Maus Zeitdiagnose dagegen sieht die »Herausbildung einer Gesellschaft der Scores, Rankings, Likes, Sternchen und Noten«, kurz, »der allgegenwärtigen Soziometrie« (Mau 2017: 10). Beiden Diagnosen allerdings sind grundsätzliche Annahmen gemein, die sie auch mit verwandten Publikationen wie etwa Philipp Staabs Digitaler Kapitalismus teilen: Die Begründung des gesellschaftlichen Wandels in Prozessen der Digitalisierung, die Feststellung einer aufkommenden neuen Qualität der Vergesellschaftung, die sich grundsätzlich von der der Moderne unterscheidet und schließlich einen enge Verknüpfung von gesellschaftlicher Entwicklung und Veränderungen bei den Subjekten. Es findet laut Reckwitz und Mau ein »grundsätzlicher Wandel der Strukturen statt, in denen das Arbeitssubjekt sich formt und geformt wird« (Reckwitz 2017: 210), »[so]dass das spätmoderne Selbst sich grundlegend von jenem Sozialcharakter unterscheidet, der die klassische Moderne der Industriegesellschaften dominierte« (ebd.: 273). Diese neue Subjektivität ist grundsätzlich 3

Hervorhebungen in Zitaten sind hier und folgend stets die Übernnahme der Hervorhebung im Original.

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abhängig von den Prozessen der Digitalisierung, da, wenn »jede Aktivität und jeder Schritt im Leben aufgezeichnet, registriert und in Bewertungssysteme eingeschrieben wird«, die Subjekte – so Mau – »die Freiheit [verlieren], unabhängig von den darin eingelassenen Verhaltens- und Performanzerwartungen zu handeln« (Mau 2017: 13). Darin, wohin sich der von Reckwitz angesprochene Sozialcharakter entwickelt, unterscheiden sich die Diagnosen deutlich, wenn sie nicht sogar »spiegelverkehrt« (Wagner/Pritz 2018: 295) zueinander sind, wie es Greta Wagner und Sarah Miriam Pritz formulieren. Während Reckwitz eine Zunahme von Praktiken der Selbstdarstellung (Reckwitz 2017: 234) und eine »kuratiert[e]« (ebd.: 9) Lebensführung erwartet, sieht Mau durch Quantifizierung und Bewertung die Begünstigung eines »außengeleitete[n] Charakter[s]« (ebd.: 67) im Sinne David Riesmans. Im Vokabular der in dieser Arbeit herangezogenen sozialpsychologischen Konzepte des Sozialcharakters sieht Reckwitz eine Zunahme des Narzissmus, Mau dagegen des Konventionalismus. Wagner und Pritz schlagen vor, die Diagnosen Reckwitz’ und Maus als komplementäre »Beiträge zu einer Soziologie der Selbstoptimierung« (Wagner/Pritz 2018: 296) zu verstehen. An diese Perspektive anschließend sollen folgend beide Diagnosen, sowie die in ihnen erfassten gesellschaftlichen Entwicklungen und ihre spiegelbildlichen Beobachtungen zur Subjektivation in einem weiteren Sinne als Ausdruck eines Wandels im Gegenwartskapitalismus und seiner Subjektivation verstanden werden – eines Wandels, für den Selbstoptimierung ein ideologisches Leitbild ist, das den Anforderungen kapitalistischer Basisinstitutionen entspringt. Beide, Reckwitz und Mau, bewegen sich mit ihren Diagnosen zu gesellschaftlichem Wandel und Subjektform damit in einem Feld der sozialwissenschaftlichen Forschung, in der sich bereits zahlreiche Vorschläge der begrifflichen Bestimmung finden: »den ›Arbeitskraftunternehmer‹ von Voß und Pongratz, das in der negativen Dialektik von Autonomie und Herrschaft befangene Subjekt bei Dieter Sauer, Nick Kratzers ›Arbeitskraft in Entgrenzung‹ und Uwe Vormbuschs ›Accounting Man‹, aber auch [,] mit anderem theoretischem oder fachdisziplinären Hintergrund, […] Ulrich

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Bröcklings ›unternehmerisches Selbst‹, Boltanskis und Chiapellos ›Networker‹ oder Andreas Reckwitz ›kreativ-konsumtorisches Subjekt‹ und selbstverständlich Sennetts ›flexibler Mensch« (Eichler 2013: 290), aber auch das »hybride Selbst« – ebenfalls von Reckwitz (2006) –, der »employable man« bei Franz Schultheis (2011) oder das »erschöpfe Selbst« Alain Ehrenbergs (2015).4 Darüber hinaus gibt es Konzepte der Subjektivation im Rahmen von Forschungen zu »Aktivierung« (Lessenich 2008), »Dividualisierung« (Eversberg 2014) oder zu Autonomieanforderungen (Bohmann et.al. 2018). Gemeinsam ist ihnen die Idee einer zeitgenössischen Subjektform, deren Gestalt auf die Anforderungen und Strukturen der Arbeits- und Konsumwelt oder der gesamten, aber von der Ökonomie her entschlüsselten, Gesellschaft zurückgeht. Die Konzepte der Subjektivität weisen dabei deutliche Ähnlichkeiten auf, werden aber sehr unterschiedlich begründet (Eichler 2013: 291–298). Sie untersuchen dabei zumeist eine Veränderung in der Subjektform, die sich etwa in den letzten vierzig Jahren ereignet hat – also des Zeitraums, in dem die beschriebenen Digitalisierungsprozesse ebenso fallen wie der Wandel, der abhängig von der jeweiligen soziologischen Diagnose als Wandel vom Fordismus zum

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Diese Aufzählung macht auch deutlich, wie sehr das Feld der zeitdiagnostischen sozialwissenschaftlichen Vorschläge zur Subjektform, wie auch die Felder sozialwissenschaftlicher Zeitdiagnosen und Theorien insgesamt, männlich dominiert ist. Die deutsche Sozialwissenschaft ist nicht zuletzt durch ihre Rekrutierungsstruktur über eine lange Phase der befristeten, prekären Beschäftigungsverhältnisse im sogenannten ›Mittelbau‹ und die Besetzungsentscheidungen für Professuren durch mehrheitlich von männlichen Professoren besetzten Berufungskommissionen strukturell patriarchal, sodass sich für Frauen* eine Reihe von gläsernen Decken auf dem Weg zur entfristeten Professur ergeben. Gleichzeitig werden mit dem Anspruch der Begriffsbildung geschriebene Publikationen im Regelfall erst möglich, wenn solche sicheren Beschäftigungsverhältnisse erreicht sind. Diese Arbeit reproduziert diese Verhältnisse insofern, als die weite Mehrheit der zitierten und namentlich genannten Autorinnen Autoren sind. Sie ist also mit Vorsicht zu lesen.

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Postfordismus, der Moderne zur Post- bzw. Spätmoderne oder als die Dominanz des Neoliberalismus beschrieben wird. Die Idee einer spezifischen Subjektform, die mit der ökonomischen Struktur der Gesellschaft korrespondiert, ist dabei nicht neu, sondern begleitet die Soziologie seit ihren Ursprüngen. So arbeitete etwa Georg Simmel sowohl in seinem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben (Simmel 1995) als auch in der Philosophie des Geldes (Simmel 1989) – unter dem Abschnitt »Der Stil des Lebens« – die Subjektform heraus, die Urbanisierung und Verallgemeinerung der Geldwirtschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert hervorbrachte. Max Weber rekonstruierte in seiner Studie Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (Weber 2016) die Rationalisierung des Selbst- und Weltverständnisses im Protestantismus als Möglichkeitsbedingung für den Aufstieg des und als passförmig zum Kapitalismus. Und auch etwa Pierre Bourdieu (1987) untersucht mit dem Begriff des Habitus, wie die sozioökonomische Struktur Subjektivitäten produziert, die wiederum die Struktur stabilisieren. Der Prozess der Anpassung des Individuums an die Struktur wird in der Soziologie im Regelfall ›Subjektivierung‹ genannt und heutzutage anschließend an die Gouvernementalitätstheorie Michel Foucaults (2004) und anderen poststrukturalistischen Theoretikerinnen (Reckwitz 2008) theoretisiert. Diese fassen den Prozess der Subjektivitätsbildung als Effekt eines, begrifflich weit gefassten, Diskurses. Das Subjekt wird dabei als Ergebnis dieses Prozesses verstanden, der entsprechend meist ›Subjektivierung‹ genannt wird. In der Tradition Foucaults wird sie mit gesellschaftlicher Herrschaft gleichgesetzt und daher im Zuge der Kritik verworfen, ohne das Subjekt dabei systematisch vom Begriff des Individuums oder des Menschen zu unterscheiden. Foucault selbst setzt etwa das von ihm ersehnte Ende des Subjekts damit gleich, dass der »Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« (Foucault 1974: 462) Die an Foucault orientierten soziologischen Subjektivierungstheorien rekonstruieren über ihren Zugriff auf den Diskurs konkrete Anforderungsgestalten und Leitbilder an Subjekte detailliert und umfassend. Daher orientieren sich aber vor allem an aktuellen Verschiebungen in diesen Anforderungen, da solche Verschiebungen diskursiv sichtbar

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werden, während ihre gleichbleibende Basis diskursiv wenig thematisiert ist. Wo der Bezug zum Kapitalismus dezidiert hergestellt wird, erscheint die Subjektform zumeist als neoliberale Subjektivierung, also als Subjektivierungsweise eines bestimmten Regulationsregimes innerhalb des Kapitalismus. Das trifft sowohl auf die von Foucault rekonstruierten kapitalistischen Subjekte in seinen Gouvernementalitätsstudien zu (Stäheli 2008: 301) als auch auf die an sie anschließenden Studien, die sich entweder dezidiert mit dem Postfordismus beschäftigen (Opitz 2004), durch ihren Fokus auf zeitgenössische Wandlungsprozesse in den Subjektanforderungen den gesellschaftlichen Wandel im Neoliberalismus thematisieren (Reckwitz 2012) oder mit dem im Feld der (deutschsprachigen) Subjektivierungstheorien dominant gewordenen Begriff des »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2007) dezidiert beanspruchen, neoliberale Subjektivität darzustellen. Subjektivierungstheorien leisten damit, die konkrete Gestalten von Subjektivitäten und Sets von Anforderungen zu rekonstruieren – auch wenn die empirische Reichweite der rekonstruierten Leitbilder für die Subjektivität im Neoliberalismus teils fraglich bleibt (Petersen 2018). Ebenso gelingt es ihnen, die unterliegenden Verschiebungen in der Weise der Subjektivation zu rekonstruieren, wie etwa die Verschiebung von der Orientierung an einem starren »Protonormalismus« zur perfektionistischen Orientierung an einem »flexiblem Normalismus« (Link 1997). Die diesen Verschiebungen unterliegende, relativ stabile Struktur und ihren Effekt auf die Subjektivation dagegen bleibt meist unbeleuchtet und die Theorien haben selbst da, wo sie explizit kapitalistische Subjektivation beschreiben, ein unterkomplexes Verständnis kapitalistischen Wirtschaftens. Die Frage, die sich diese Arbeit stellt, soll dagegen die Frage sein, wie die Subjekte im gegenwärtigen Kapitalismus wegen des Kapitalismus geformt sind, um so den Zusammenhang zwischen den gleichbleibenden Elementen der Subjektivation mit ihren Veränderungen darstellen zu können. Der Anteil an der Subjektivität, der aus dem Kapitalismus resultiert, soll so in seiner Kontinuität wie seinem Wandel erfasst und beide Seiten sollen zueinander in ein Verhältnis gestellt werden. Damit soll eine Alternative zu poststrukturalistischen Subjektivie-

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rungstheorien formuliert werden, die mit diesen Theorien und ihren Erkenntnissen in Diskussion treten kann. Der Rückgriff auf Marx(istische Theorien), marxistische Psychoanalytiker und die Kritische Theorie soll dabei gleichzeitig einen Beitrag zur Aktualisierung der Sozialcharaktertheorie in Bezug auf den gegenwärtigen Kapitalismus und die Prozesse der Digitalisierung leisten. Gelingt es dieser Arbeit, diese Ansprüche zu erfüllen, leistet sie hoffentlich einen Beitrag sowohl zu soziologischen Forschungen im Feld der Arbeit und der Freizeit, des Konsums und der Digitalisierung als auch für die Autoritarismusforschung.

b. Der Vorschlag: eine Theorie kapitalistischer Subjektivation Den theoretischen Rahmen, den diese Arbeit zugrunde legt, um kapitalistische Subjektivation zu untersuchen, schließt an die Kritische Theorie in der Tradition Marx’ an. Sie tut dies, weil sie der Grundintuition folgt, dass, um etwas über kapitalistische Subjektivation sagen zu können, ein möglichst klarer Begriff vom Kapitalismus zum Ausgangspunkt genommen werden sollte. Dabei kann diese Arbeit nicht umfänglich darstellen, was Kapitalismus ist. Sie folgt in ihrem Kapitalismusverständnis Marx, dessen Grundbestandteile Rahel Jaeggi wie folgt bestimmt: »›Kapitalismus‹ ist also in dem hier interessierenden Zusammenhang die Bezeichnung für eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die sich historisch in Europa im Ausgang des Mittelalters mit der Ablösung der feudalen Ordnung entwickelt hat und im 18./19. Jahrhundert auf hohem technologischem Niveau und verbunden mit einer erheblichen Konzentration von Kapital als Industriekapitalismus weltweit dominant geworden ist. In systematischer Hinsicht lassen sich folgende Aspekte als charakteristisch für die kapitalistische Produktionsweise und die vom Kapitalismus geprägten Gesellschaften aufweisen: (1) das Privateigentum an Produktionsmitteln sowie die Trennung zwischen Produzenten und Produktionsmitteln, (2) die Existenz eines

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freien Arbeitsmarktes und (3) die Akkumulation von Kapital und, damit einhergehend, die Orientierung an der Verwertung des Kapitals, also am Gewinn statt am Bedarf […]. (4) Fungiert in einer kapitalistischen Gesellschaft typischerweise der Markt als Koordinierungsmechanismus für die Allokation sowie für die Distribution von Gütern« (Jaeggi 2013: 2). Der Kapitalismus ist dabei von Widersprüchen geprägt. Mit dem Begriff des Widerspruchs sind in dieser Arbeit in Bezug auf den Kapitalismus nicht äußere Widersprüche gemeint, die – so Jaeggi – durch »das Auftreten von Neuem« entstehen, das eine vorhandene gesellschaftliche Struktur, eine »Konstellation« (Jaeggi 2014: 388), problematisch werden lassen. Zwar ist es möglich, dass die kapitalistische Produktionsweise etwa durch eine Naturkatastrophe5 oder ein Subjekt durch einen zufälligen Unglücksfall problematisch werden, dieses Auftreten von Neuem von außen ist dem Kapitalismus gegenüber jedoch zufällig. Für diese Arbeit interessant sind Widersprüche als Ausdrücke der internen Widersprüchlichkeit des Kapitalismus, also einer »Konstellation von Gegensätzen, die in gegensätzlicher Einheit sind und daher die Form von Widersprüchen annehmen«, wie Gerhard Stapelfeld (2012: 42) den Begriff des Widerspruchs bei Georg Friedrich Wilhelm Hegel zusammenfasst. Einerseits macht diese interne Widersprüchlichkeit deutlich, »welches von den vielen Übeln dieser Welt sich in spezifischer Weise auf den Kapitalismus zurückführen lässt« und somit, ob es »tatsächlich etwas gibt, das am Kapitalismus intrinsisch falsch ist« (Jaeggi 2013: 1) Andererseits kann das spezifisch Kapitalistische an der Subjektivation herausgearbeitet werden, wenn es gelingt deutlich zu machen, dass die Subjektivation sich als Folge der Widersprüche, mit denen das Individuum konfrontiert wird, herausbildet. Schließlich erlaubt die Darstel5

Inwiefern heutzutage Naturkatastrophen noch als von außen einbrechend verstanden werden können, ist im Angesicht der Debatte um Anthropozän und Capitalozän (Moore 2016) strittig, aber zur Verdeutlichung der prinzipiellen Möglichkeit sein ein Sonnensturm oder anderes astronomisches Ereignis mit Effekt auf die Erde vorgestellt.

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lung einer internen, systemischen Widersprüchlichkeit auch die Formulierung einer Kritik, die keinen externen Standpunkt beanspruchen muss, sondern diesen inneren Widerspruch bei gleichzeitig vorhandener Forderung der Widerspruchsfreiheit zum Hebel einer immanenten Kritik (Jaeggi 2014: 277–301) werden lassen kann. Die gesellschaftlichen, internen Widersprüche des Kapitalismus betont diese immanente Kritik des Kapitalismus in Anschluss an Marx vor allem in Hinsicht auf die gesellschaftliche Reproduktion, die im Kapitalismus durch Gegensätze hindurch geschieht: Zentral für Marx ist dabei der Klassengegensatz von Arbeiterinnen und Kapitalistinnen und die konkurrenzförmigen Gegensätze zwischen den Einzelkapitalen, wie auch zwischen den Arbeiterinnen auf dem Arbeitsmarkt. Aber auch etwa der Gegensatz zwischen der Produktions- und der Zirkulationssphäre oder – im zweiten Band des Kapitals – der Gegensatz zwischen den verschiedenen Abteilungen des Kapitals sowie – in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie und Zur Judenfrage – den Gegensatz zwischen Ökonomie und Politik und damit zwischen Privatem und Öffentlichem werden von Marx kapitalismustheoretisch als solche internen Widersprüche diskutiert. Für diese Arbeit ist der Gegensatz zwischen Subjekt und Individuum, den Marx herausarbeitet, von besonderer Bedeutung. Die Unterscheidung zwischen Subjekt und Individuum wird von Marx getroffen, wenn er formuliert, dass »das Subjekt notwendig empirisches Individuum« ist und dieses »nur als leibliches Individuum existiert« (Marx 1956a: 234). Marx übernimmt diese Unterscheidung von Hegel, um einerseits die konkrete Form, die der einzelne Mensch in einer bestimmten Gesellschaft erlangt zu bezeichnen, und andererseits zu markieren, dass es am Individuum einen »unauflöslichen, empirischen Rest« (Eichler 2013: 66) gibt, der nicht in seiner Form als Subjekt aufgeht. Diese Unterscheidung bildet die Grundlage für eine Theorie kapitalistischer Subjektivation, da sie überhaupt erst erlaubt, zwischen dem Individuum als – um eine Formulierung von Marx zur Ware zu entwenden – »de[m] stofflichen Inhalt« des Subjekts und der Subjektivität als seiner »gesellschaftliche[n] Form« (Marx 1962: 50) zu differenzieren.

Einleitung

Zugleich wird damit einerseits deutlich, dass die Theorie kapitalistischer Subjektivation weder die gesamte Formation des Subjekts erklären soll, da weder die gesellschaftlichen Verhältnisse auf die kapitalistisch organisierte Reproduktion des Lebens zu reduzieren sind noch die vorgesellschaftlich-leiblichen Einflüsse und die individuellen Spezifika in der Subjektivität konkreter Menschen geleugnet werden sollen. Stattdessen soll und kann so der Anteil des Kapitalismus an der Subjektivation bestimmt werden. Andererseits wird erkennbar, dass Form und Inhalt, Subjekt und Individuum, in einen Gegensatz geraten können, da das Subjekt den Anforderungen von Tausch und Lohnarbeit entsprechen muss, ohne dass das Individuum als bedürftiges und leibliches Wesen dies unmittelbar kann. Ein Widerspruch, der für die Arbeiten der Kritischen Theorie zentral ist. Die Verbindung gesellschaftlicher Widersprüche mit der gesellschaftlichen Formung der Individuen als Subjekte macht deutlich, dass in objektiven, gesellschaftlichen Strukturen bedingte Widersprüche ihre »Aktualisierung« (Jaeggi 2014: 388) auf ihrer »subjektive[n] Seite« (ebd.: 389) erfordern. Schon Marx betont die Verschränkung subjektiver und objektiver Dimension des Gesellschaftlichen, sowohl beim Subjekt, das er als »ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« (Marx 1958: 6) bestimmt, als auch auf Seiten der kapitalistischen Struktur, da die »Waren […] nicht selbst zu Markte gehn« (Marx 1962: 99) können, also die Struktur immer nur durch das Handeln und Verhalten der Subjekte hindurch wirksam wird. Durch diese Verschränkung stellen die in der Praxis reproduzierten Widersprüche die sie reproduzierenden Subjekte vor Probleme, die diese lösen müssen. Lösungen führen dabei nicht – anders als es Marx selbst teilweise nahelegt – teleologisch zur Emanzipation, die »Interpretation des von Marx analysierten Widerspruchs als sowohl ›objektiv‹ wie ›subjektiv‹ sollte jedoch nicht so verstanden werden, als sei damit impliziert, oppositionelles Bewußtsein entstünde notwendigerweise; und noch weniger meint dies, die Emanzipation werde wie von selbst erreicht« (Postone 2003: 73).

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Die Widersprüche drängen zu ihrer Auflösung, aber diese Auflösung befreit die Individuen nicht zwingend oder auch nur wahrscheinlich; eine Erkenntnis, die die Kritische Theorie spätestens seit Erich Fromms Studie Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches (Fromm 1983) begleitet und zur Entwicklung der Theorie des autoritären Charakters führte. Im Anschluss an diese Überlegungen soll folgend eine Theorie kapitalistischer Subjektivation zum Ausgangspunkt genommen werden, die zwei Dimensionen unterscheidet: Die erste Dimension ist die Dimension der Anforderungen kapitalistischer Basisinstitutionen – Tausch, Lohnarbeit und damit zusammenhängend das Recht – denen Menschen entsprechen müssen, um innerhalb dieser Institutionen funktionsfähig zu sein. Diese Dimension setzt an, das Warum kapitalistischer Subjektivation zu erklären. Sie wird in Folge mit den Begriffen der Verdinglichung und der Anrufung analysiert, die für die repressive und produktive, die passivierende und aktivierende Seite der Subjektivation stehen, um so den Zusammenhang des Subjekts als Unterworfenes und als Akteur erfassen. Die zweite Dimension schließt an die Unterscheidung der marxistischen Psychoanalytiker zwischen biologischem Schicksal als Organismus, dem Sozialcharakter und dem Individualcharakter an und versteht den Sozialcharakter als diese zweite Dimension kapitalistischer Subjektivation. Sie versucht Antworten auf die Frage nach dem ontogenetischen Wie zu liefern, indem sie die Passförmigkeit sozialisatorischer Effekte zu den Anforderungen der ersten Dimension herausarbeitet. Zugleich liefert diese zweite Dimension Antworten darauf, wie Subjekte die Widersprüchlichkeit der Anforderungen aus der ersten Dimension subjektiv bewältigen. Wichtig zu beachten ist dabei, dass kapitalistische Subjektivation damit nicht die gesamte Subjektivität erklärt, und nicht einmal die gesamte gesellschaftliche Subjektivität. Das Thema des Geschlechtscharakters, also des Sozialcharakters des Patriarchats, wird in dieser Arbeit am Rande berührt insofern, als er nicht vom Kapitalismus unbeeinflusst ist, ohne dabei allerdings in ihm aufzugehen. Ebenso haben andere gesellschaftliche Herrschaftsformen – ohne dass dies Gegenstand

Einleitung

dieser Arbeit sein kann – ihre Anforderungen und damit ihre Effekte auf die Subjektivation. Der Begriff der Subjektivation soll einerseits die theoretische Differenz zu Subjektivierungstheorien im Anschluss an Foucault deutlich machen, indem sie betont, dass es um die Untersuchung einer spezifischen Subjektform geht, nicht um das Entstehen der Subjektform überhaupt, und dass nicht die Formung der Individuen, also das Subjekt überhaupt, sondern ihre spezifische Gestalt Gegenstand ihrer negativen Kritik ist. Andererseits und daran anschließend soll so das uneingelöste Versprechen der Subjektivierung, also der Realisierung der über die derzeitigen Verhältnisse hinausweisenden Potenziale des Subjekts, hingewiesen werden. Diese Subjektivierung, in der Menschen zu tatsächlichen Subjekten ihrer Geschichte werden, ist der Fluchtpunkt der Kritik, zu der diese Arbeit beitragen will.6

c. Das Programm der Arbeit & Danksagungen Im Folgenden soll in vier Kapiteln eine Theorie kapitalistischer Subjektivation des kybernetischen Kapitalismus entworfen werden. Dazu wird (in Kapitel 2.a) der Ausgang von den Zeitdiagnosen Reckwitz’ Die Gesellschaft der Singularitäten und Das Ende der Illusionen, sowie Maus Das metrische Wir gewählt, die durch Arbeiten Staabs und Simon Schaupps ergänzt werden. An ihre Beschreibungen des Gegenwart wird dann (in Kapitel 2.b-2.e) mit einer Darstellung des Kapitalismus angeschlossen, die die von Reckwitz und Mau beschriebenen Prozesse in eine breitere Diskussion einordnet und perspektiviert, um so zu einem gesättigten Begriff der gegenwärtigen Phase des Kapitalismus zu kommen. Diese Phase wird in dieser Arbeit als kybernetischer Kapitalismus gefasst, um

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Diese Unterscheidung verdankt die vorliegende Arbeit der unveröffentlichten Arbeit Formen und Grundlagen von Subjektivierung bei Theodor W. Adorno und Walter Benjamin von Magdalena Gerwien (2015), die Begriffe möglicher ›widerständiger Subjektivierung‹ bei Adorno und W. Benjamin herausarbeitet.

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die mit der Digitalisierung verbundenen Besonderheiten der gegenwärtigen kapitalistischen Subjektivation auf den Begriff zu bringen. Im Anschluss daran wird (in Kapitel 3) die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation in den Feldern des Tausches (Kapitel 3.b), der Lohnarbeit (Kapitel 3.c) und des Rechts (Kapitel 3.d) herausgearbeitet. In ihnen werden Veränderungen dieser relativ gleichbleibenden Grundlagen kapitalistischer Subjektivation in Bezug auf die von Reckwitz, Mau, Staab und Schaupp beschriebenen Prozesse skizzenhaft diskutiert. Im Anschluss daran wird (in Kapitel 4) die zweite Dimension kapitalistischer Subjektivation mit Rückgriff auf die Sozialcharaktertheorie der marxistischen Psychoanalytiker und der Kritischen Theorie dargestellt. Dazu wird (Kapitel 4.a) zunächst das Konzept des Sozialcharakters eingeführt, um dann (in Kapitel 4.b) darzustellen, inwiefern die Kritische Theorie selbst schon den Wandel des für sie gegenwärtigen Kapitalismus in der Theorie berücksichtigte. Ebenfalls wird (in Kapitel 4.c) die Vergeschlechtlichung kapitalistischer Subjektivation im Geschlechtscharakter und dessen Wandlungsprozesse diskutiert. Im Anschluss soll (in Kapitel 4.d) eine systematische Theorie des Sozialcharakters im Gegenwartskapitalismus als Gleichzeitigkeit dreier dominanter Sozialcharaktere in verschiedenen Zonen – sozialen Orten, abhängig von Einkommen und Beschäftigungsform – vorgeschlagen werden7 , die (in Kapitel 4.e) anhand von empirischen Befunden skizzenhaft plausibilisiert werden soll, ohne dass diese Skizze eine tatsächliche empirische Erforschung und Prüfung des Vorschlags ersetzen kann. Schließlich wird (in Kapitel 5) die Verbindung der entfalteten Theorie kapitalistischer Subjektivation zu den Diagnosen Maus und Reckwitz’ sowie des vorgeschlagenen Begriffs des kybernetischen Kapitalismus hergestellt, in dem (in Kapitel 5.b) drei – zugegebenermaßen spekulative – Thesen zum Sozialcharakter im kybernetischen Kapitalismus vorgestellt und daraus (in Kapitel 5.c) kritische Schlussfolgerungen gezogen werden. Die Hoffnung ist, dass dieser theoretische Vorschlag

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Dieser Vorschlag beruht auf dem Artikel Die Gleichzeitigkeit verschiedener Sozialcharaktere im zeitgenössischem Kapitalismus (Schulz 2020).

Einleitung

als Deutungsangebot zur empirischen Erschließung der Veränderungen und Kontinuitäten der Subjektivation in der Gegenwart beitragen und von ihr korrigiert werden kann. Entsprechend liegt der Schwerpunkt der kritischen Auseinandersetzung mit den Zeitdiagosen Reckwitz’ und Maus in den (Unter-)Kapiteln 2, 4.d und 5, während eine am Interesse für eine Theorie kapitalistischer Subjektivation geleitete Lektüre ihren Schwerpunkt auf die Kapitel 3 und 4 legen sollte. Für Leserinnen, die sich für das kritische Potenzial einer solchen Theorie interessieren, bietet es sich an, vor der Lektüre des restlichen Buchs einen Blick in das Abschlussunterkapitel zu werfen. Abschließend ist festzuhalten, dass diese Arbeit nicht ohne die Unterstützung und die Kritik einer Vielzahl von Personen möglich gewesen wäre, von denen die meisten hier ungenannt bleiben. Namentlich danken möchte ich den Kolleginnen des durch sie herzlichen und produktiven Arbeitszusammenhangs am Arbeitsbereich für allgemeine und theoretische Soziologie in Jena. Mein Dank gilt hierfür (in alphabetischer Reihenfolge) Ulf Bohmann, Stephan Brachat, Joris A. Gregor, Diana Lindner, Stephan Lorenz, Jörg Oberthür, Sebastian Sevignani, André Stiegler, Samuel Strehle und ganz besonders Sigrid Engelhardt. Darüber hinaus bot das gesamte Institut für Soziologie in Jena mit seinen vielfältigen und inspirierenden Diskussionszusammenhängen den Rahmen für meine akademischen Arbeiten, die – wie am zweiten Kapitel dieser Arbeit abzulesen ist – von diesen Diskussionen stark geprägt sind. Ich danke der Kolleg-Forscher_innengruppe Postwachstumsgesellschaften für ein halbjähriges Stipendium, im Zuge dessen diese Arbeit signifikante Fortschritte machte. Ebenso danke ich Hartmut Rosa und Tilman Reitz, den Betreuern und Gutachtern meiner Dissertation, aus der diese Arbeit hervorgegangen ist. Ein großer Dank gilt Laura Kaden, Micha Karpf, Jörg Oberthür, Christian Helge Peters und Mariana Schütt für inhaltliche Diskussionen von Teilen dieser Arbeit sowie Ina Braune und Marlen van der Ecker für Korrekturen und hilfreiche Hinweise.

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Kapitel 2 Kapitalismus heute

a. Digitalisierung, Singularisierung, Metrisierung? Prominente soziologische Zeitdiagnosen der letzten Jahre – im deutschsprachigen Raum etwa Maus Das metrische Wir und Reckwitz’ Die Gesellschaft der Singularitäten (beide von 2017) oder Staabs Digitaler Kapitalismus (von 2019) – beschreiben derzeitige Digitalisierungsprozesse als »digitale Revolution« (Reckwitz 2017: 16). Mit ihr gehe ein »grundsätzlicher Wandel der Strukturen […], in denen das Arbeitssubjekt sich formt und geformt wird« (ebd.: 201) ebenso einher wie eine veränderte Freizeitgestaltung, die einem »Diktat der Parametrisierung des Selbst« (Mau 2017: 173) unterworfen sei, die Erfassung des Subjekts also in allen Teilen des Alltagslebens eine neue Qualität gewinne. Mit diesem gesellschaftlichen Wandel, die von den Theoretikerinnen jeweils eng an Entwicklungen des Kapitalismus gekoppelt wird, finde auch eine tiefgreifende Veränderung der Subjektivation statt. Sie wird dabei zumeist kritisch als »Selbstverdinglichung« (Selke 2014: 274; Mau 2017: 176), gesehen und gehe mit der einer Entfremdung von einem privaten Kern-Selbst einher (Mau 2017: 173f.). Zwischen Kapitalismus und Subjektivation besteht also ein enger Zusammenhang, und daher ist es nötig, den zeitgenössischen Kapitalismus näher zu bestimmen. Daher es scheint naheliegend, von den beobachteten Digitalisierungsprozessen und damit auch den Diagnosen Maus, Staabs und Reckwitz’ auszugehen, um diesen Zusammenhang zu erschließen. Die Zeitdiagnosen von Mau und Reckwitz sind für das Pro-

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jekt einer Theorie kapitalistischer Subjektivation, dass in dieser Arbeit verfolgt wird, darüber hinaus deshalb von Interesse, weil sie einen Tiefenverlust der Subjektivität beschreiben, den sie als »Quantifizierung« (Mau 2017) oder »Singularisierung« (Reckwitz 2017) näher bestimmen. Sie betonen, dass Subjektivation zunehmend auf die Oberflächenerscheinung für andere ziele (Mau 2017: 82; Reckwitz 2017: 246). Schon 2007 beschrieb Ulrich Bröckling diese »Subjektivierung [als] Oberflächenbearbeitung« (Bröckling 2007: 243) – noch ohne Bezug auf Digitalität – als »kybernetisches Modell« (ebd.: 284) der Subjektivation. Folgend soll von den kritischen Diagnosen der Digitalisierung und ihrer Subjektivation bei Mau und Reckwitz ausgehend ein Begriff der Digitalisierung als Tendenz zum kybernetischen Kapitalismus (Schaupp 2016) entwickelt werden. Dazu werden folgend zunächst die Zeitdiagnosen von Reckwitz und Mau inklusive ihrer jeweiligen Thesen zur Subjektivation rekonstruiert, um in Anschluss die zeitgenössische Phase des Kapitalismus anhand der Unterpunkte Informatisierung der Kopfarbeit, Pluralisierung der Kulturindustrie, Emotionalisierung der Arbeit und Landnahme des Sozialen sowie der anhaltenden Wachstumskrise der Ökonomien in den kapitalistischen Zentren knapp dargestellt werden. Diese Darstellung dient einerseits dazu, die Grundlage für eine Theorie kapitalistischer Subjektivation, die den sozialen Ort der Subjekte berücksichtigt, zu bilden (siehe Kap. 4.d) und andererseits dazu, zu begründen, warum in Hinsicht auf die kapitalistische Subjektivation die gegenwärtige Phase des Kapitalismus als kybernetischer Kapitalismus begriffen wird. Das Konzept von Phasen des Kapitalismus ist dabei schon bei den herangezogenen Autoren angelegt: Reckwitz spricht von einem »strukturelle[m] Bruch […] durch die digitale Revolution« (Reckwitz 2017: 16) im Übergang von industrieller Moderne zur Spätmoderne, Mau koppelt seine Quantifizierungsdiagnose eng an »exponentiell wachsend[e] Möglichkeiten der Datenerzeugung und -verarbeitung« (Mau 2017: 11) und Staab unterscheidet »den digitalen Kapitalismus der Gegenwart […] systematisch […] von jenem ›nur‹ digitalisierten Kapitalismus, der die hoch entwickelten Ökonomien in den vergangenen siebzig Jahren immer stärker geprägt hat.« (Staab 2019: 52) Das Neue

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an der gegenwärtigen Situation sei dabei, so die drei Autoren übereinstimmend, dass mittlerweile auch analoge Praktiken mit Digitalität verknüpft seien (Reckwitz 2017: 233) und diese sich von einem bloßen »Werkzeug« zur »technologische[n] Umwelt« (ebd.: 237) entwickelt habe, sodass Digitalität ins Zentrum sowohl der Wertakkumulation als auch des Alltagslebens rückt. Reckwitz bestimmt das Neue an der gegenwärtigen Situation auf Grundlage der Unterscheidung zwischen der bürgerlichen Moderne, der organisierten Moderne und der Spätmoderne (Reckwitz 2017: 96–110). Für ihn beginnt dabei die bürgerliche Moderne Ende des 18. Jahrhunderts und entspricht der Aufstiegsphase der bürgerlichen Demokratie und des Konkurrenzkapitalismus – eine Phase, die Werner Sombart als Hochkapitalismus beschrieb (Sombart 1987: XII) und die ab ca. 1870 ihr Ende fand. An sie schließt zunächst der imperialistische Kapitalismus (Sohn-Rethel 2018a: 537f.) und in den 1920ern der Fordismus an, geprägt von »Massenproduktion wie […] Massenkonsum« (Reckwitz 2017: 100), aber auch »Massenkultur« (ebd.: 101). Reckwitz nennt diese Phase organisierte Moderne, ohne explizit auf Rudolf Hilferding zu verweisen, der (schon 1915) für diese Phase den Begriff des organisierten Kapitalismus (Hilferding 1982) prägte. Die Spätmoderne beginnt für Reckwitz in den 1970er Jahren mit dem Übergang von Fordismus zu Postfordismus, als mögliche Daten dienen das Ende des Bretton-Woods-Systems 1971, die Ölkrise 1973/1974 und die strukturelle »Sättigungskrise« (Reckwitz 2019: 148) des fordistischen Akkumulationsregimes; er verweist aber auch auf »die Etablierung eines allgemeingültigen und offenen sogenannten (IP-)Basisprotokolls im Jahr 1973« (Reckwitz 2017: 232) als Begründungsmoment des Internets. Die Spätmoderne ist nach Reckwitz durch eine »sozio-kulturelle Authentizitätsrevolution, getragen vom Lebensstil der neuen Mittelklasse; die Transformation der Ökonomie hin zu einer postindustriellen Ökonomie der Singularitäten; und die technische Revolution der Digitalisierung« (ebd.: 103) geprägt. In Reaktion auf die ökonomischen Krisen und technologischen Entwicklungen wie der Automatisierung (ebd.: 105) dehnte sich der tertiäre Sektor aus. Es entstanden sowohl

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neue einfache Dienstleistungstätigkeiten als auch neue Formen der Wissensarbeit und zugleich fand die tendenzielle Vollbeschäftigung des Fordismus ein Ende (Reckwitz 2019: 79f.), während die kulturelllebensweltliche Pluralisierung zu »veränderte[n] Konsumentenwünsche[n]« (ebd.: 150) führte. Staab ergänzt zu dieser Beschreibung den Übergang von ›digitalisiertem‹ zu ›digitalem Kapitalismus‹. Der ›digitalisierte Kapitalismus‹ – »ein System, in dem traditionelle Verwertungsprozesse sukzessive mit Informations- und Kommunikationstechnologien ergänzt wurden« (Staab 2019: 53) – entspricht dabei dem späten Fordismus und dem Postfordismus und seiner Automatisierungs- und Computerisierungsprozesse. Seine Etablierung verbindet Staab ebenfalls mit der Sättigungskrise in den 1970er Jahren (ebd.: 55), und betont, dass er zusätzlich von Globalisierungs- und Finanzialisierungsprozessen (ebd.: 61–67) geprägt ist. Mit dem Aufstieg des »Gafa-Komplexes« (ebd.: 36), also Konzernen wie Google, Amazon, Facebook und Apple, befindet sich diese Phase in etwa den letzten 15 Jahren im Übergang zum digitalen Kapitalismus. Das zentrale Geschäftsmodell dieser Konzerne wird von Staab als Profitgenerierung aus dem Eigentum an proprietären Märkten analysiert und beruht auf genau den Technologien, die auch Mau von einem Übergang zur »metrischen Gesellschaft« (Mau 2017: 107) sprechen lassen. Reckwitz’ Diagnose schließt mit der Diagnose des Übergangs zur Spätmoderne – die er als Übergang vom industriellen zum »kognitiv-kulturellen Kapitalismus« (Reckwitz 2019: 140) beschreibt – an etablierte soziologische Zeitdiagnosen an, die einen entscheidenden Umbruch analysieren, der seinen Ausgangspunkt und in den 1970ern hatte: Links Übergang von der Dominanz des Protonormalismus zur Dominanz des flexiblen Normalismus (Link 1997), Richard Sennetts Übergang zum flexiblen Kapitalismus (Sennett 1998) oder Hartmut Rosas beschleunigungstheoretischen Übergang von Moderne zu Spätmoderne (Rosa 2005). Staab und Mau hingegen sehen diesen Übergang bereits als Teil der Vorgeschichte der Gegenwart, die von einem erneuten Umbruch geprägt sei. Dieser aktuelle Umbruch greife die Prozesse,

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von denen der Postfordismus geprägt ist, teils auf und vertieft sie, teils lasse er aber auch neue Momente hinzutreten (siehe Tabelle 1).

Tabelle 1: Phasen des Kapitalismus in der soziologischen Zeitdiagnose

Um die Bedeutung der diagnostizierten Umbruchprozesse für die kapitalistische Subjektivation fassen zu können, unterscheidet diese Arbeit stärker kapitalismustheoretisch orientiert den Kapitalismus des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts ab dem Ende des ersten Weltkriegs in drei Phasen, die jeweils die dominante Form der Integration der Subjekte in den Kapitalismus begrifflich fassen sollen: organisierter, integrierter und differenzierter Kapitalismus. Für die Zeit vom Ende des ersten bis etwa zum zweiten Weltkrieg wird, anschließend an Hilferding, der Begriff des organisierten Kapitalismus vorgeschlagen. Hilferding hoffte noch darauf, dass der organisierte Kapitalismus eine friedliche Übergangsphase in den Sozialismus sei, beschrieb ihn aber schon als Kapitalismus, in dem weite Teile auch der Arbeiterinnen in organisierten Strukturen – am Arbeitsplatz, aber auch in der Freizeit und Politik – positiv in den Kapitalismus integriert werden, statt bloß durch Arbeit und materiellen Mangel negativ inte-

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griert zu sein. Durch den beginnenden Fordismus und die ebenfalls beginnende Industrialisierung der Landwirtschaft, durch den Achtstundentag und damit die Entstehung der Freizeit für die Arbeitenden sowie durch die (voranschreitende) Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts in den parlamentarischen Demokratien der kapitalistischen Zentren sind in ihm weite Teile der Bevölkerung organisiert und in die Gesellschaft einbezogen. Nach dem zweiten Weltkrieg und durch die sich durchsetzende Massenkultur und den Massenkonsum ging der organisierte in den integrierten Kapitalismus über, in der die Arbeitenden scheinbar reibungsfrei gesellschaftlich integriert wurden und eine oberflächliche Homogenisierung der Bedürfnisse und Lebensstile prägend war (Marcuse 1994; Schelsky 1965). Mit den Protesten rund um 1968 und den ökonomischen Veränderungen in Anschluss an die Krisen der 1970er pluralisierten sich die Konsum- und Identitätsangebote ebenso wie die Arbeitsbedingungen und die Integration durch soziale Absicherungen erodiert, sodass in dieser Arbeit der Postfordismus als differenzierter Kapitalismus bezeichnet wird. An diesen schließt, folgt man den aktuellen soziologischen Zeitdiagnosen, gerade eine neue Phase an, die hier provisorisch kybernetischer Kapitalismus genannt werden soll – eine Bezeichnung, die im Laufe dieses Kapitels hoffentlich erfolgreich begründet wird. Reckwitz, Mau und Staab beobachten teils die gleichen Wandlungsprozesse, kommen aber hinsichtlich ihrer Gesellschaftsbeschreibung als ›Gesellschaft der Singularitäten‹, als ›metrische Gesellschaft‹ und als ›digitaler Kapitalismus‹ zu unterschiedlichen Bestimmungen; und im Falle Reckwitz’ und Maus hinsichtlich der Subjektivation zu scheinbar gegensätzlichen Befunden. Folgend soll ausgehend von ihren Zeitdiagnosen eine Beschreibung des Gegenwartskapitalismus skizziert werden, die die Frage nach der gegenwärtigen kapitalistischen Subjektivation vorbereitet. Als ›Gesellschaft der Singularitäten‹ beschreibt Reckwitz die Gegenwartsgesellschaft, da sie in ihrer Produktion, Konsumtion und Subjektivation zunehmend auf das Besondere, nicht auf das Allgemeine orientiert ist (Reckwitz 2017: 7). »Während die industrielle Technik die Welt

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nur zu mechanisieren und standardisieren vermochte, forciert die digitale Technologie eine Singularisierung des Sozialen, der Subjekte und Objekte« (ebd.: 226). Sie erlaubt und fordert, dass sich Produkte wie Menschen durch ihre Besonderheit gegenüber anderen auszeichnen. Reckwitz’ Theorie liegt dabei die Unterscheidung zwischen dem standardisiert Allgemeinen und dem Besonderen zugrunde, er trifft aber auch eine Unterscheidung innerhalb des Felds des Besonderen: Er differenziert zwischen dem »Allgemein-Besondere[n]« (ebd.: 31), der »Idiosynkrasi[e]« (ebd.: 49) und den »Singularitäten« (ebd.: 50). Das Allgemein-Besondere bezeichnet dabei die konkrete Ausprägung eines Allgemeinen, ein Modell einer Serie etwa (ebd.), während die Idiosynkrasie dasjenige ist, was nicht durch irgendein Allgemeines begrifflich gefasst werden kann und gesellschaftlich inkommensurabel bleibt. Singularitäten finden ihren Platz zwischen diesen gegensätzlichen Formen des Besonderen, ihre Reproduktion erfolgt nicht (ausschließlich) durch die Form des Allgemeinen, geschieht aber dennoch gesellschaftlich. Beispiele Reckwitz’ dafür sind globale Großstädte als touristische Ziele oder anerkannte Kulturwaren – er nennt etwa die Filme Stanley Kubricks oder die Musik David Bowies – deren Wert aus ihrer Eigenqualität resultiere. Trotz der Überspitzung des Unterschieds zwischen industrieller Moderne und Spätmoderne ist Reckwitz’ Zeitdiagnose dahingehend überzeugend, dass im Zuge der Ausdifferenzierung des Massenkonsums die Integration von Idiosynkrasien und ihre Verwandlung in verwertbare Singularitäten (ebd.: 55) eine zunehmende Bedeutung gewinnt. Zu dieser Entwicklung tragen auch digital gesteuerte Produktionstechniken bei, die es erlauben, von der Serienproduktion abzuweichen. Auf der Subjektseite gehe die ›Gesellschaft der Singularitäten‹ mit »Singularitätsperformanzen« (ebd.: 72) einher. »In ihren Konsumpraktiken arbeiten die spätmodernen Subjekte an ihrem als authentisch empfundenen und inszenierten, je besonderen Lebensstil« (ebd.: 114), den sie vor sich und anderen präsentieren. Das Subjekt ist somit vor allem ein performatives Selbst: Wichtig ist nicht mehr die möglichst leistungsstarke Erfüllung vorgegebener Kriterien, sondern die Zusammenstellung »eines einzigartigen Profils von Kompetenzen und

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Potenzialen« (ebd.: 182). Reckwitz spricht daher vom spätmodernen Subjekt als »Profil-Subjek[t]« (ebd.: 204) und als Kuratorin ihrer selbst (ebd.: 295–298). Damit einher geht, dass das Subjekt keinen Anspruch an Kohärenz mehr erhebt, sondern »aus einzelnen unterschiedlichen Elementen – Modulen – zusammengesetzt« (ebd.: 245) ist, deren Disparatheit einen Teil der Singularität des Subjekts ausmachen. Reckwitz unterscheidet dabei »zwei Formen der digitalen Singularisierung des Subjekts« (ebd.: 244): die kulturelle Selbstinszenierung und die »maschinelle Singularisierung des Subjekts, die gewissermaßen ›hinter seinem Rücken‹« (ebd.) durch algorithmische Datenverarbeitung und personalisierte Angebote erfolgt. Letztere bezieht er in seine Analyse zwar ein, für die Singularisierungsthese ist aber das Geschehen auf der Vorderbühne der Digitalisierung zentral, weswegen für ihn das Internet vorrangig »Affektmaschine« (ebd.: 234) ist. Maus Zeitdiagnose der Metrisierung dagegen setzt vor allen an den Prozessen auf der Hinterbühne der Digitalisierung an. Er diagnostiziert den Übergang zu einer neuen Form der Vergesellschaftung, »in welcher der Modus des Kalkulativen in einer Art Landnahmeprozess die gesamte soziale Ordnung zu erfassen scheint« (Mau 2017: 40). Als Antriebsfaktoren dieser Entwicklung nennt er sowohl ökonomische und kulturelle Prozesse sowie Digitalisierungsprozesse. Die Quantifizierung, die Mau beschreibt, bildet als Mechanismus der Standardisierung (ebd.: 27) auch die Grundlage der industriellen Moderne insgesamt, beispielsweise durch Geld als Vergleichssystem von Waren, durch Industrienormen und durch staatliche Statistik (ebd.: 32–34). Im aktuellen Umbruch komme es laut Mau aber zu einer »Stärkung eines kompetitiven Modus der Vergesellschaftung« (ebd.: 65), in dem zunehmend durch nach oben offenen Skalierungen statt durch binäre Kodierungen Wertigkeit erfasst werde (ebd.: 115). »Scores, Rankings, Likes, Sternchen und Noten« fungieren zunehmend als »generativer Modus zur Herstellung von Differenz« (ebd.: 10), indem sie »Objekte oder Personen, deren Wert wir zuvor nicht oder nur diffus beziffern konnten, mit einem numerischen Ausdruck versehen« (Mau 2017: 261). Dieser Modus der Bewertung totalisiert sich laut Mau vom Ökonomi-

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schen aus auch auf »privateste Dinge wie Hobbys, Familienverhältnisse, Gemütslagen oder Gewohnheiten« (ebd.: 40). Auf der Seite des Subjekts führt die Quantifizierung laut Mau zu einer Atomisierung der Individuen auf der Basis ihrer »Separierung […] durch statistische Erkennung.« (ebd.: 272) »Wenn jede Aktivität und jeder Schritt im Leben aufgezeichnet, registriert und in Bewertungssysteme eingeschrieben wird, verlieren wir« – so Mau – »die Freiheit, unabhängig von den darin eingelassenen Verhaltens- und Performanzerwartungen zu handeln« (ebd.: 13); Konformismus und Konventionalismus (ebd.: 66f.) sind die Folge. Digitalisierungsprozesse bilden dabei den zentralen Baustein der Subjektivation zum metrischen Selbst, wie Mau am Beispiel von Self-Tracking-Anwendungen herausarbeitet (ebd.: 167–184). Die konstante Messung und damit einhergehende Metrisierung von Körperzustanden und Verhalten, die algorithmische Verarbeitung dieser Daten und vor allem deren Echtzeit-Feedback konstituieren ein »thermostatisches Steuerungssystem« (ebd.: 178), das Mau im Anschluss an Foucault als »Panoptikon seiner selbst« (ebd.: 251) beschreibt. Die andauernde Bewertung durch andere in social networks und Bewertungsapplikationen (ebd.: 139–165) sowie die Beobachtung von Nutzungsverhalten zur Content-Steuerung (ebd.: 146) betten dieses Panoptikon in das Soziale ein und fördern dadurch eine unbewusste Orientierung an metrisierten Normen. Für Mau folgt also aus den gleichen Prozessen der Digitalisierung im Gegenteil zu Reckwitz keine Singularisierung, sondern die »Reduktion der vielfarbigen Wirklichkeit auf eine begrenzte Zahl von Indikatoren« (ebd.: 227) an denen die Subjekte der Gegenwart sich eher unbewusst als gezielt orientieren. Auf den zweiten Blick ist die Diagnose der beiden Autoren aber weniger gegensätzlich: Auch Reckwitz beschreibt »Techniken der Quantifizierung« (Reckwitz 2017: 174), nennt die ›Gesellschaft der Singularitäten‹ gar »Valorisierungsgesellschaft« (ebd.: 14) und verweist ebenso wie Mau auf Rankings (ebd.: 67). Die Unterschiede zwischen Singularisierung und Quantifizierungen hängen im Hinblick auf die Subjektivation weit stärker an divergenten Beobachtungen gleicher Phänomene aus unterschiedlichen Blickrichtungen: Reckwitz betrachtet die Reaktion der Subjekte auf einen verschärften Wettbewerb

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auf der Vorderbühne der Digitalisierungsprozesse, während Mau die Prozesse auf der Hinterbühne und ihre Wirkung auf die Subjekte fokussiert. Gemeinsam ist ihnen dabei die Diagnose, dass das Subjekt zu einer bloßen Oberfläche wird, das in seiner Erscheinung für andere – durch andere beobachtet bzw. technisch gemessen – aufgeht. In dieser Beschreibung klingt das Leitbild des unternehmerischen Selbst nach, bei dem laut Bröckling »Subjektivierung […] Oberflächenbearbeitung« (Bröckling 2007: 243) ist. Bröcklings Diagnose des unternehmerischen Selbst ist hier deshalb von Bedeutung, weil er explizit den kybernetischen Charakter dieser Subjektivation benennt (ebd.: 284). Das unternehmerische Selbst ist geprägt von Evaluation, Life-Feedback und rekursiver Selbststeuerung (ebd.: 218, 236). Diese Prozesse bilden zugleich die Grundlagen für das data tracing und data processing (Reckwitz 2017: 20), die sowohl die metrische Quantifizierung als auch die »maschinelle Singularisierung« (ebd.: 73) betreiben. Mit letzterer bezeichnet Reckwitz – leider ohne es systematisch auszuarbeiten – den Prozess automatisierter Subjektivation beispielsweise in der personalisierten Werbung. In ihm wird letztlich die für seine Theorie zentrale Differenz zwischen der Logik des Allgemeinen und Besonderem aufgehoben, indem »[i]ntelligente Technologien […] nicht mehr nur wie in der industriellen Rationalisierung [standardisieren], sondern [auch] singularisieren« (ebd.: 74) und zugleich die hergestellte Singularität quantifiziert vergleichbar und verwertbar machen, sodass hier Reckwitz’ Diagnose mit der Maus konvergiert.

b. Informatisierung und globale Arbeitsteilung Die von Reckwitz konstatierte ›maschinelle Singularisierung‹ durch data tracing und die algorithmische Verarbeitung der erhobenen Daten verweisen darauf, dass seine Einordnung der ›Gesellschaft der Singularitäten‹ als »Wissensgesellschaft« (Reckwitz 2017: 117) den Kern des diagnostizierten Wandels verfehlt. Der Begriff der Wissensgesellschaft schließt für den deutschen sozialwissenschaftlichen Diskurs an den von Jürgen Habermas 1968 ver-

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öffentlichen Aufsatz Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ an. In ihm erklärt Habermas die Kritische Theorie in Gestalt von Herbert Marcuses Werk (Habermas 1968a: 58), der Dialektik der Aufklärung (ebd.: 83) und der Kritik der Politischen Ökonomie Marx’, für veraltet: »Seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts [gibt es ein] Anwachsen der interventionistischen Staatstätigkeit [und] eine wachsende Interdependenz von Forschung und Technik, die die Wissenschaften zur ersten Produktivkraft gemacht hat. Beide Tendenzen zerstören jene Konstellation von institutionellen Rahmen und Sub-Systemen zweckrationalen Handelns, durch die der liberal entfaltete Kapitalismus sich ausgezeichnet hatte. Damit entfallen relevante Anwendungsbedingungen für die Politische Ökonomie in der Fassung, die Marx ihr im Hinblick auf den liberalen Kapitalismus mit Recht gegeben hatte.« (Habermas 1968a: 74) Für Habermas tritt also neben die Arbeit die Wissenschaft, die eine eigenständige, »unabhängige« und »erste«, also tendenziell dominante, Quelle des Wertes wird, sodass entsprechend »die Anwendungsbedingungen für Marxens Arbeitswerttheorie entfallen« (Habermas 1968a: 79f.). Zugleich beschreibt er, dass die »Ideologie des freien Tausches« durch »eine Ersatzprogrammatik« abgelöst werde, die sich nicht am Tausch, sondern an der »kompensierenden Staatstätigkeit orientiert« (ebd.: 76), womit laut ihm auch die Grundlage für eine Kritik der Herrschaft in Gestalt der Kritik an den kapitalistischen Produktionsverhältnissen entfalle. Diese Veränderung hat für Habermas auch für die Subjektivation zentrale Bedeutung: Sie entspricht nicht mehr den Annahmen der Kritischen Theorie über »die autoritäre Persönlichkeit«, sondern ist in der Gegenwart von einer »Entstrukturierung des Über-Ich[s]« und »adaptive[m] Verhalten« (ebd.: 83) geprägt. Habermas bemerkt so zutreffend ein gegenüber dem 19. Jahrhundert verändertes Verhältnis des Kapitals zum Markt einerseits und der veränderten Integration von Wissenschaft in den Kapitalismus andererseits, die von einer zeitgenössischen Theorie des Kapitalismus erfasst sein müssen. Mit der zweiten These, der Wissenschaft als primärer Wertquelle im zeitgenössischen Kapitalismus, ist Habermas zu einem der Stichwort-

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geber für den Begriff der Wissensgesellschaft geworden. Mit ihm wird die von Habermas beschriebenen zunehmende Bedeutung von Wissenschaft für die Produktion aufgenommen und zu einem Leitbild für zukünftige Entwicklungen gemacht, während zugleich mit den Veränderungen einhergehende Prozesse, wie etwa die Prekarisierung von Wissensarbeit, verschleiert werden (Kreisky/Löffler 2016). Die Arbeitswelt in Industrie und Logistik, aber auch etwa in der Pflege ist zunehmend von in ihrer Entwicklung stark auf Wissensarbeit gründenden cyber-physikalischen Systemen geprägt, und das Smartphone ist aus dem Alltag der Menschen nicht mehr wegzudenken. Für Staab ist es aber gerade diese Integration der Digitalität in alle Lebensvollzüge, die an Stelle des »›nur‹ digitalisierten Kapitalismus« den »digitalen Kapitalismus« (Staab 2019: 53) treten lässt. Dieser ist zentral von der »Sekundärverwertung der in den jeweiligen Diensten auflaufenden Daten« (ebd.: 107) und der automatisierten, differenzierten Steuerung der Verbindung von Angebot und Nachfrage geprägt – sowohl bei der Kontrolle und Steuerung von Arbeitskraft (ebd.: 226–257) als auch auf digitalen Konsumgütermärkten (ebd.: 150–225) und sogar auf dem Finanzmarkt (ebd.: 74–149). Und auch mit Blick auf die Darstellungen Maus und Reckwitz’ wird deutlich, dass die veränderte Bedeutung von Wissen, Wissenschaft und Informationstechnologie in der Ökonomie besser mit dem Begriff der »Informatisierung« (Boes/Kämpf 2011) statt dem der Wissensgesellschaft zu fassen ist. Informatisierung ist ein Phänomen, das mit dem Industriekapitalismus seit seinem Beginn einhergeht – Mau verweist darauf, dass »kalkulative Praktiken« (Mau 2017: 32) den Kapitalismus von Anfang an prägten – und das zur Intensivierung und damit zur Produktivitätssteigerung der Kopfarbeit dient. Informatisierung bezeichnet dabei die systematische Erfassung und Zerlegung der Kopfarbeit, analog zur systematischen Erfassung und Zerlegung der Handarbeit in der Industrialisierung (Boes/Kämpf 2011: 320). Beide Prozesse sind in der Trennung von Kopf- und Handarbeit begründet, wobei die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts »gewissermaßen nur eine ›halbierte‹ Industrialisierung, eine Industrialisierung der Handarbeit« (ebd.: 316) war. Erst mit dem organisierten Kapitalismus – in Reaktion auf die Wirtschaftskri-

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sen Ende des 19. Jahrhunderts ebenso wie auf technologische Innovationen – gewann der Prozess kapitalistischer Informatisierung seine Dynamik. Es fand eine tendenzielle Proletarisierung der Intellektuellen statt, etwa indem Ingenieurinnen und Chemikerinnen lohnabhängige Beschäftigte großer Unternehmen wurden und zugleich die Handarbeit im Taylorismus direkt wissenschaftlich erfasst wurde, sodass sich ihre Trennung arbeitsteilig zuspitzte. Beide Prozesse prägen die Informatisierung des organisierten und integrierten Kapitalismus (ebd.: 323). Im Laufe der 1970er Jahre erlangte die Informatisierung eine neue Qualität, die zentral durch die veränderte Nutzung von Computern im kapitalistischem Wirtschaften bedingt ist: Die verschiedenen informatisierten Wissensbestände werden seitdem verknüpft, auf innovative Weise genutzt (Sevignani 2016: 22) und »bilden den Ausgangspunkt für die Etablierung eines neuen Rationalisierungstypus jenseits des Taylorismus« (Boes/Kämpf 2011: 324). Dieser neue Rationalisierungstyp überbrückt dabei die Trennung zwischen der Produktions- und der Zirkulationssphäre: »In comparsion to the Fordist stage of capitalist development, where relatively high wages for relatively broad social classes ensured the realisation of mass customised products, it is now possible in informational capitalism to calculate consumption and distribution from the very beginning as part of the genuine production process.« (Sevignani 2016: 23) Diese Veränderung bedeutete eine Umstellung der Unternehmenssteuerung. Während bisher die Produktion reaktiv an die Nachfrage angepasst wurde, ist nun eine prospektive Anpassung der Produktion möglich – was wiederum eine Flexibilisierung der Arbeitsvolumens und damit eine Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse von Teilen der Arbeiterinnen zur Folge hat (Holst 2011). Die Umstellung der Unternehmenssteuerung ist dabei eng mit der Finanzialisierung, also des Bedeutungsgewinns der Finanzmärkte und der Finanzierung der Produktion durch Fremdkapital, verknüpft. Im Anschluss an die Sättigungskrise am Ende des Fordismus ließen gesetzliche Deregulierungen neue Finanzmarktprodukte entste-

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hen (Staab 2019: 86f.). Sie bedingten den Zugewinn der Bedeutung von sogenanntem Risikokapital, also der Investition von Fremdkapital in innovationsbasierte Unternehmen (ebd.: 90–93). Finanzialisierung ist dabei eng verbunden einerseits mit Privatisierungs- und Landnahmeprozessen in ehemals dem kapitalistischen Markt entzogenen Sektoren (siehe Kap. 2.d), andererseits mit der Digitalisierung, sodass Staab von einem »koevolutionären Verhältnis« (ebd.: 98) von Digitalisierung und Finanzialisierung spricht: Einerseits erlaubten digitale Technologien eine enorme Beschleunigung des Finanzmarktes, andererseits »fließen in den USA rund 70 Prozent aller Risikokapitalinvestitionen in Informations- und Kommunikationstechnologien« (ebd.: 89) und treiben so den Prozess der Digitalisierung, und damit der computergestützten Informatisierung, an. Zugleich verschränkt diese computergestützte neue Stufe der Informatisierung die Konsumtion mit der Produktion unter dem Vorzeichen der Produktion. Die im integrierten Kapitalismus beginnende Produktion der Bedürfnisse durch die Kulturindustrie (siehe Kap 2.c) differenziert sich auf Zielgruppen aus, für die spezifische Waren produziert werden, anstatt wie bisher die Bedürfnisse an die vorhandene Warenproduktion anzupassen. Die Verschränkung von Produktion und Konsumtion weitet sich mit den Möglichkeiten der Datenerhebung im Internet so weit aus, dass die Bedürfnisproduktion und Zielgruppenerfassung an die Konsumentinnen selbst ausgelagert werden. Durch ihr unbezahltes Nutzungsverhalten in sozialen Netzwerken oder auf Suchmaschinenseiten selbst generieren sie die Daten, die zur Ware für die Anbieterinnen dieser sozialen Netzwerke und Suchmaschinen werden, sodass hier von »Prosumern« (Staab 2019: 56) bzw. »Prosumption« (Sevignani 2019) gesprochen wird, um die Inwertsetzung unbezahlter Freizeitaktivitäten zu bezeichnen. Schließlich verändert die computergestützte Informatisierung gegenwärtig auch die Gestalt der Kopfarbeit (Mau 2017: 243), sodass sich »Automatisierungsstrategien […] mehr und mehr auf mittlere Berufe und die unteren Stufen des betrieblichen Managements« (Staab 2019: 246) ausweiten. Neue Formen informationeller bzw. Wissensarbeit ent-

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stehen, die im informationellen Kapitalismus auf neue Weise erfasst werden: »Was die verschiedenen Suchbewegungen in Richtung eines ›neuen Typs der Industrialisierung‹ eint, ist das Ziel der Unternehmen, die Abhängigkeit vom einzelnen Beschäftigten und dessen konkreter Individualität zu reduzieren, ohne jedoch auf die Subjektivität im Arbeitsprozess zu verzichten. Im Kontrast zum Taylorismus, geht es also nicht darum, die subjektiven Potenziale der Beschäftigten ›auszuschalten‹ – vielmehr geht es um eine systematische und wiederholte Nutzung ihrer Subjektleistung.« (Boes/Kämpf 2011: 329) Kopfarbeit dient also nicht länger nur zur Informatisierung der Handarbeit als Voraussetzung für ihre systematische Anwendung und Intensivierung, wie es Georg Lukács in seiner Diagnose der Verdinglichung beschrieben hat (siehe Kap. 3.a und 3.b), sondern wird selbst von dieser erfasst. Mit der Erfassung gehen eine systematische Abwertung der Kopfarbeit und eine Veränderung der Arbeitsbedingungen für Kopfarbeiterinnen einher. Es kommt mit dem informationellen Kapitalismus zu einer »digitale[n] Prekarisierung« (Ehrlich et.al. 2017: 194), also einer Entsicherung der Arbeitsverhältnisse, die bis zu marginal bezahlter und auf kurzfristigen Einzelverträgen beruhender Heimarbeit im Rahmen von ›cloudwork‹ (Altenried 2017) reichen kann. Somit werden auch Arbeitsbereiche von Prekarisierungsprozessen erfasst, die, bevor es zur Informatisierung der Kopfarbeit kam, relativ sicher waren und »direkte personengebundene Kontrolle [hält] Einzug in die Arbeitswelten von Softwareingenieuren, Beschäftigten im mittleren Management, im Vertrieb, in Personal- und Werbeabteilungen.« (Staab 2019: 240f.) Dabei werden teilweise automatisierte Überwachungstechniken verwendet, die zur automatisierten Entsicherung der Arbeitsverhältnisse etwa in dynamischer Lohnregulation (ebd.: 243) führen. Im informationellen Kapitalismus nimmt die Kopfarbeit also zu und verliert zugleich ihre vormals privilegierte Position hinsichtlich der Arbeitsgestaltung, der Sicherheit und der Entlohnung der Arbeitsverhältnisse. Gleichzeitig steigt auch die Bedeutung von informationellem Wissen – und erzeugt damit tatsächlich die Schwierigkeit, dass Wissen

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als nicht-rivales und immaterielles Gut schwieriger in die Form des Privateigentums zu bringen ist als klassische Güter der industriellen Produktion (Butollo/Sevignani 2018: 261). Diese Schwierigkeit führt aber keineswegs zum Scheitern der Warenform und des Kapitalismus, sodass ein »Postkapitalismus« (Mason 2016) am Horizont des informationellen Kapitalismus aufscheinen würde, sondern zu neuen Gestalten der Ware, etwa in Patenten, Abonnements, Vermittlungs- und Wartungsdienstleistungen, oder der Ausnutzung von Netzwerkeffekten in Monopolstellungen (Staab 2019; Butollo/Sevignani 2018: 261). Die entstehenden Plattformen, die auf der Kontrolle über den Markt, den sie anbieten und den Zugriff auf die Daten der Nutzerinnen beruhen, sind dabei »wesensmäßig konsumzentrierte Organisationen.« (Staab 2019: 45). Ihr Profit besteht zentral auf der »Extraktion ökonomischer Renten« – laut Staab eine »Antwort auf Marktsaturierung und die damit zusammenhängende ›säkulare Stagnation« (ebd.: 220; siehe Kap. 2.e). Dennoch und auch wenn die geschilderten Entwicklungen für den zeitgenössischen Kapitalismus von zentraler Bedeutung sind, wäre es falsch, sie auf den Prozess der computer- und internetgestützten neuen Informatisierung zu reduzieren – »one cannot empirically speak of informational capitalism as a proper description for total society« (Sevignani 2016: 15), wie es etwa Reckwitz mit der ›Gesellschaft der Singularitäten‹ und tendenziell auch mit dem Begriff des ›kognitiv-kulturellen Kapitalismus‹ macht. Denn einerseits ist Digitalität selbst materiell und muss industriell hergestellt werden, andererseits gehen Verschiebungen von Industriearbeit hin zu personenbezogenen Dienstleistungen und informationeller Wissensarbeit in den Zentren des Kapitalismus mit einem Anwachsen der industriellen Arbeit in den sogenannten Schwellen- und Entwicklungsländern einher. Die Materialität der Digitalität wird deutlich, wenn man sich nicht nur vor Augen ruft, dass Milliarden Smartphones auch produziert und transportiert werden müssen, sondern dass »die Informationsund Kommunikationstechnologien bereits 2015 für etwa acht Prozent des weltweiten Elektrizitätskonsums verantwortlich« (Staab 2019: 79) waren. Cloud-Computing und die damit verbundene Vermietung von

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Serverkapazitäten verlagert diese Materialität und konzentriert sie bei Amazon, deren Amazon Web Services mehr als 30 Prozent des Internets hosten (ebd.: 192), lässt sie aber nicht verschwinden. Nicht zuletzt die materielle Kontrolle über Leitungsnetze (ebd.: 191) wie über mietbare Kapazitäten von KI-Chips (ebd.: 194) machen zentrale Mechanismen der Marktmacht der heutigen Digitalkonzerne aus. Die Herstellung von Milliarden Smartphones ebenso wie die übrige Materialität der Digitalität, von der Erz- und Kohlemine bis zur Halbleiter-Chipproduktion, beschäftigen heutzutage mehr Menschen denn je in der industriellen Produktion (Smith 2016: 114). Die Mehrheit von ihnen, 2010 waren es 79 Prozent, leben in sogenannten weniger entwickelten Regionen (Schmalz 2018: 39). Zahlen der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung machen deutlich, in welchem Umfang eine Verschiebung der industriellen Produktion in sogenannte Entwicklungs- oder Schwellenländer zu verzeichnen ist: Trugen diese bis 1979 noch unter 10 Prozent zur Gesamtmenge der weltweit exportierten Industrieprodukte bei, stieg der Anteil bis 2010 auf über 40 Prozent und befindet sich im weiteren Anstieg (Smith 2016: 53). Der Kapitalismus ist also weiterhin zentral als Industriekapitalismus zu beschreiben, der auf einer neuen internationalen Arbeitsteilung beruht, in der sich »heute Markenfirmen in den Zentren auf das Branding, die Forschung und den Vertrieb [spezialisieren], während Kontraktfertiger in der Semiperipherie und Peripherie die Produktion organisieren« (Schmalz 2018: 43). Diese Struktur wird durch Digitalisierungsprozesse gestützt: Computergestützte Technologien beschleunigen beispielsweise in der Textilindustrie das Design und seine Umsetzung in die industrielle Produktion (Papachristou/Bilalis 2015) und erfordern so zugleich eine entsprechende Spezialisierung. Insbesondere an China, in dem ein Fünftel aller Industriearbeiterinnen weltweit lebt (Schmalz 2018: 39) wird dabei deutlich, dass die globale Arbeitsteilung eine Ungleichzeitigkeit hinsichtlich der Form der Integration in den Kapitalismus und damit der kapitalistischen Subjektivation auch außerhalb der bisherigen kapitalistischen Zentren bedeutet: In den großen industriellen Betrieben – das prominenteste Beispiel sind die Fabriken der Foxconn Technology Group, in denen Elektronik-

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produkte gefertigt werden und die je Standort über 100.000 Arbeiterinnen beschäftigen, die direkt an den Fabrikstandorten in konzerneigenen Hochhäusern untergebracht sind (Ngai/Chan 2012: 394) – sind die Arbeitstätigkeiten konsequent taylorisiert, »[e]ach frontline worker specializes in one specific task and performs monotonous, repeitive motions at high speed« (ebd.: 401). Die Arbeiterinnen sind einem totalitär anmutendem Disziplinarregime unterworfen (ebd.: 397), welches an die Subjektivation des organisierten Kapitalismus erinnert (siehe Kap. 4.a). Zugleich entstand in China im Zuge der Entwicklung zum industriellen Zentrum der Welt auch eine neue Mittelschicht, die positiv in den Kapitalismus integriert wird. »Diese Integration läuft historisch zu einem guten Teil über materielle Sicherheit und Wohlstandsgewinne einzelner Bevölkerungsschichten« (Schmalz/Brand 2016: 99) und entspricht so für diese Schichten der Integration, wie sie im Gegenwartskapitalismus auch in den (bisherigen) kapitalistischen Zentren stattfindet.

c. Pluralisierte Kulturindustrie und Kybernetisierung Der Prozess der Informatisierung und die ihm zugrundeliegenden technologischen Entwicklungen haben entscheidende Bedeutungen für die kulturelle Sphäre und damit verbunden für die gesellschaftliche Produktion der Bedürfnisse. Wie schon dargestellt, erlaubte die computergestützte Informatisierung der Produktion die Etablierung eines neuen posttayloristischen Rationalisierungstyps und einen Wandel des Verhältnisses von Produktion und Konsumtion. Dabei handelte es sich um einen Prozess, der die Grundlage für die Differenzierung des Angebots an Konsumgütern bildete und der in zahlreichen soziologischen Diagnosen der Pluralisierung und Individualisierung von Ausdrucksformen oder Milieus seinen Ausdruck gefunden hat. So etwa prominent in Ulrich Becks Zeitdiagnose der Risikogesellschaft (Beck 2015) oder der Differenzierung der Milieus in Gerhard Schulzes Erlebnisgesellschaft (Schulze 2005) und dem eigenständigen Zweig der Lebensstilforschung (Schwenk 1996; Hartmann 1999; Rössel/Otte 2012).

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Die Digitalisierungsprozesse, die Reckwitz und Mau beobachten, vertiefen diesen Prozess, sodass etwa Reckwitz von einer »digitale[n] Kulturmaschine« (Reckwitz 2017: 106) spricht, in der Kulturprodukte als Singularitäten auftreten und singularisierend wirken – Mau spricht von einer »Hyperindividualisierung« (Mau 2017: 272). Diese ›Kulturmaschine‹, also die kommerzielle und industrielle Produktion von Kulturwaren, ist dabei jedoch ebenso wenig neu wie, dass die »digitale Kultur […] in erheblichem Maße eine Kultur der Visualität« (Reckwitz 2017: 235) ist. Diese Tendenz wird zwar durch das Smartphone und bildbasierte social networks wie Tumblr, Instagram und TikTok befördert, schließt aber an die Dominanz der Visualität in Kino, TV und Illustrierter an. Beides ist unter dem Begriff der ›Kulturindustrie‹ in der Kritischen Theorie des Instituts für Sozialforschung ab den 1930ern untersucht worden, der folgend skizziert werden soll. Darauf aufbauend wird die These entwickelt, dass die Kulturindustrie des integrierten Kapitalismus im Übergang zum differenzierten Kapitalismus ab den 1970er Jahren ebenfalls einen Formwandel zur pluralisierten Kulturindustrie II durchläuft, und gegenwärtig ein erneuter Wandel der Kulturindustrie – jetzt zur individualisierten Kulturindustrie III – stattfindet. Der Begriff der Kulturindustrie wird prominent in der Dialektik der Aufklärung entfaltet, seine Entwicklung beginnt aber schon in den 1930er Jahren. In der Zeitschrift für Sozialforschung spielt die Analyse moderner Kulturerscheinungen von Anfang an eine Rolle, etwa mit Adornos Aufsatz Zur gesellschaftlichen Lage der Musik 1932 und der empirischen Untersuchung Zum Problem der Freizeitgestaltung von Andries Sternheim, ebenfalls 1932. Sternheim weitet dabei die Analyse von der Musik auf die gesamte Freizeit aus, indem er die damals zentralen Freizeitgestaltungsformen »Sport, Kino, Rundfunk und Kleingärtnerei« (Sternheim 1980: 340) in den Blick nimmt. Für Sternheim wesentlich ist, dass mit der Erkämpfung des Achtstundentages nun Freizeit als soziales Phänomen auch für Arbeiterinnen auftritt, aber die »psychologischen Vorbedingungen für eine konstruktive Freizeitverwendung […] von den führenden Instanzen noch geweckt werden« (ebd.: 339) mussten, die Freizeit also ihre eigene Subjektivation erforderte.

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Die Analyse dieser Subjektivation führt Sternheim vor allem mittels der Beobachtung der Anpassungsfunktion der Freizeitinstitutionen durch und stellt dabei erstmals die These vor, dass massenmedial vermittelte Inhalte eine unmittelbare Identifikation mit den gesellschaftlichen Verhältnissen ermöglichen. 1936 – bereits im US-amerikanischen Exil – schließt Max Horkheimer an diese Beobachtungen unter dem Begriff der »Vergnügungsindustrien« (Horkheimer 1980b: 171) an, deren Funktionsmechanismus vor allem Adorno in Der Fetischcharakter der Musik und die Regression des Hörens 1938 und dann in der Dialektik der Aufklärung ausarbeitet. Aufgrund der Veränderungen des Kapitalismus verliert der Vater und damit die Familie als Subjektivationsinstanz an Bedeutung, an ihre Stelle tritt (teilweise) eine direkte Beziehung zur Kultur, die zeitgleich von der kapitalistischen Produktion erfasst wird. Der Begriff der Kulturindustrie bezeichnet also nicht nur die Industriezweige, die kulturelle Produkte herstellen und vermarkten, sondern einen Modus kapitalistischer Subjektivation, der neben und teils an die Stelle von Subjektivationsinstitutionen wie Familie und Religion tritt.1 Dabei betonen Horkheimer und Adorno jedoch, dass die kulturindustrielle Subjektivation nur ein Teil ist, »der moderne Arbeiter [wird, P.S.] in der Fabrik, im Kino und im Kollektiv« (Horkheimer/Adorno 1988: 43) subjektiviert und vom ›kulturindustriellen Kapitalismus‹ zu sprechen wäre falsch, da petrochemische, stahl- sowie energieerzeugende Industrien für den Kapitalismus zentral bleiben (ebd.: 130). Kulturindustrie meint also nicht nur – wenn auch zentral – Radio und Tonfilm (ebd.: 129), sondern den gesamten Zusammenhang der Kultur des integrierten Kapitalismus von der Werbung (ebd.: 171f.) über das Automobil (ebd.: 131) bis zu Psychopharmaka (ebd.: 113) und Freizeitvereinen (ebd.: 135); später werden auch durch Zeitungshoroskope (Adorno 2003a) und das Fernsehen (Adorno 2003b) unter dem Konzept analysiert. Die Voraussetzung für die Kulturindustrie bleibt die Freizeit, in die »zahlreiche Eigenschaften als nichtverwertbar« aus 1

Horkheimer und Adorno widersprechen damit Louis Althussers (2019: 66) These, dass die Schule die zentrale Sozialisationsinstanz ist, siehe dazu auch Kap. 3.e und 4.a.

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der Arbeit verdrängt werden: »Phantasie und Affekt, Triebbedürfnisse und Träume, Wünsche nach nichtreglementierter Kommunikation und Körperbetätigung.« (Breuer 1985: 46) Die Kulturindustrie greift nun dieses Verdrängte auf und befriedigt es warenförmig und standardisiert – Horkheimer und Adorno sprechen vom »Schematismus« (Horkheimer/ Adorno 1988: 131) der Kulturindustrie. Die durch die Arbeit verdrängten Bedürfnisse werden nun positiv befriedigt, dabei aber zugleich umgeformt, Kulturwaren und ihre Konsumentinnen gleichen sich zueinander passförmig an (ebd.: 144). Die Bedürfnisse und mit ihnen die Subjektivität der Konsumentinnen wird gemeinsam mit den Objekten ihrer Befriedigung produziert, sodass eine reibungslose Integration in den Kapitalismus erfolgt, in der die Kritische Theorie das Ausbleiben von Rebellion gegen die Verhältnisse begründet sieht. Ähnlich dazu betont Reckwitz, dass Singularitäten »Gegenstand der Gestaltung und Verfertigung, der Arbeit und Kreation, der Darstellung und Aufführung« (Reckwitz 2017: 68) sind und verweist auf die Filmproduktion als paradigmatisches Beispiel (ebd.: 69). Auch bei ihm sind Singularitäten gesellschaftlich produzierte Waren, die Bedürfnisse – er spricht von Affekten (ebd.: 70) – nicht nur befriedigen, sondern zugleich hervorbringen. Diese Produktion singulärer Kulturwaren ordnet er aber mit dem Begriff der »Kulturmaschine« (ebd.: 106) vollständig als Neuerung im Gegenwartskapitalismus ein. Diese Einordnung ist, wie oben argumentiert, verkürzt. Stattdessen soll folgend differenziert werden, wie mit der Entwicklung der Kulturindustrie in integriertem, differenzierten und Gegenwartskapitalismus die Momente, die Reckwitz beobachtet, auftreten und ineinandergreifen. Explizit verweist Reckwitz auf die Kulturindustrie, verwendet diesen Begriff aber eng geführt für die Film- und Unterhaltungsindustrie im Teil der fordistischen »Massenkultur« (ebd.: 101). Während diese insgesamt von Standardisierung und damit der ›Logik des Allgemeinen‹ geprägt gewesen ist, finden sich im Film bereits die Singularisierung von Filmen wie von Personen – in Gestalt der Stars (ebd.: 102). »Die organisierte Moderne vollzieht damit ihren eigenen Modernisierungsschub«, im Zuge dessen es zu einer »Extensivierung von Kultur, das heißt deren massenhafte[r] Verbreitung durch Konsum und Massenmedien«

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(ebd.) kommt, sodass »Kultur […] nun nicht mehr an den Staat, sondern an die Ökonomie gekoppelt« (ebd.: 101) wird. Diese Extensivierung und Ökonomisierung der Kultur geht mit einer Enthierarchisierung von Hoch- und Populärkultur einher, die zugleich beide verändert. Reckwitz ordnet dieses Phänomen der spätmodernen Kultur zu, Adorno beschreibt es aber schon für die Kulturindustrie der 1930er Jahre, von der er schreibt, dass es zu »einer Popularisierung des Hochkulturellen und der gleichzeitigen Intellektualisierung des Populären« (ebd.: 170) kommt, etwa durch das auszugsweise Spielen klassischer Symphonien im Radio oder das Entstehen von Museen als Orten der massenhaften Freizeitgestaltung. Mit der Enthierarchisierung geht die Globalisierung der Kultur in der Kulturindustrie einher, die Reckwitz unter dem Begriff der »Hyperkultur« (ebd.: 108) der Spätmoderne zuordnet. Er beschreibt eine Situation, in der man »problemlos kulturelle Versatzstücke aus indischer Spiritualität, italienischer Früherziehung, lateinamerikanischer Bewegungskultur und deutschem Ordnungssinn miteinander kombinieren« (ebd.: 301) kann. Dieses Phänomen trat allerdings bereits während des Fordismus auf und so beschreibt etwa Bertolt Brecht schon 1927 in seiner Kurzgeschichte Nordseekrabben oder Die moderne BauhausWohnung eine Wohnung, in der »amerikanische Liegestühle«, »Mahagonischränkchen«, »Curacao«, »Chartreuse«, und »eine leichte japanische Strohmatte« (Brecht 1997: 269) versammelt sind. All diese Prozesse der Extensivierung, Ökonomisierung, Enthierarchisierung und Globalisierung sind verbunden mit einer qualitativen Veränderung, die Reckwitz als »Konsumrevolution« (Reckwitz 2017: 100) in den 1920ern beschreibt: »Güter, die bisher primär instrumentellen Zwecken dienten, werden nun mehr und mehr kulturalisiert und erhalten eine narrativen, ästhetischen, expressiven oder ludistischen Selbstzweck« (ebd.: 100f.) – ein Phänomen, das Wolfgang Fritz Haug unter dem Begriff der »Warenästhetik« (Haug 2009) untersuchte (siehe Kap. 3.b). Es ist nicht zuletzt an das Aufkommen der Marke und ihrer eigenständigen Bewerbung gebunden (Reckwitz 2017: 58), die so zur Trägerin affektiver Bezüge wird. Die Waren insgesamt werden so in »Affektgüter« (ebd.: 113) transformiert, die ihren Gebrauchswert nicht

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mehr nur oder zentral aus ihrer materialen Nützlichkeit ziehen, sondern deren Nützlichkeit auf ihrer Popularität – Reckwitz spricht von der »Attraktivität des Attraktiven« (ebd.: 162) – beruht. Dieses Phänomen steht auch im Zentrum von Adornos Arbeiten zur Kulturindustrie. In seinem Aufsatz Über den Fetischcharakter der Musik und die Regression des Hörens beschreibt er 1938 einen Zusammenhang zwischen industriell produzierten Kulturwaren und ihren Konsumentinnen, den er als Konsum von Tauschwerten (Adorno 1980b: 330f.) versteht und der »die Existenz des Subjekts selbst […] fragwürdig« (ebd.: 321) werden lasse. Ausgangspunkt für den ›Konsum von Tauschwerten‹ bildet dabei, dass Kulturwaren ihren Warencharakter verschleiern und als reine Gebrauchswerte erscheinen; gerade das erlaubt es, an ihnen ihren Tauschwert, der an ihrer Popularität hängt, zu konsumieren (ebd.: 331). Adorno betont dabei, dass der ›Konsum des Tauschwerts‹ durch die materiale Gestalt der Kulturwaren – bei der Radiomusik etwa die Betonung des Melodiösen (ebd.: 328), die Standardisierung des Rhythmus und des Arrangements sowie der Isolierung von Reizmomenten und der Auftrennung von Kompositionen (ebd.: 324) – gezielt produziert werden. Zu dieser Produktion treten Marketing-Praktiken, etwa durch das ›Plugging‹, also die andauernde Wiederholung der Musik im Radio, um ihre Popularität zu vermitteln (Adorno 1980a: 27) oder durch die Musikverlage eingekaufte, positive Besprechungen im Musikjournalismus (ebd.: 31) als neues produktives Element hinzu. Adornos These des Konsums der Tauschwaren bedeutet also, dass die Hörerin, statt ihre leiblich fundierten Bedürfnisse an den Gebrauchswerten der Kulturwaren zu befriedigen, eine Befriedigung darin erlebt, sich mit dem Tauschwert der Kulturware zu identifizieren. Nicht die konkrete klangliche Gestalt des Musikstücks, sondern die (angenommene) Popularität, die durch die häufige Wiederholung des Stücks im Radio, seine positive Besprechung in der Presse und seine Einprägsamkeit suggeriert wird, wird als lustvoll empfunden. Der Konsum des Tauschwerts beruht auf einer Doppelstruktur, die nach Adorno eine »Identifikation der Hörer mit den Fetischen« (Adorno 1980b: 324), gemeint ist der Marx’sche Warenfetisch, bewirkt: Einerseits – hier schließt Adorno an Lukács (siehe Kap. 3.a) an – kann die

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Hörerin sich mit der Kulturware identifizieren, weil sie sich auf dem Arbeitsmarkt selbst als Ware erlebt. Andererseits erlaubt die Identifikation mit der populären Kulturware, am Erfolg des wertgeschätzten Musikstücks teil zu haben; und man schätzt es wert, weil es erfolgreich ist. Für Adorno gehen mit dieser Befriedigung subjektivierende Effekte einher, die er im Anschluss an Freuds Psychoanalyse als narzisstisch beschreibt (siehe Kap. 4.a). Wie beim Kapitalismus sind auch bei der Kulturindustrie die Kontinuitäten über verschiedene Phasen hinweg mit Wandlungsprozessen verbunden. Die von Reckwitz beschriebenen Singularisierungseffekte der Kulturindustrie, in denen sich verschiedene Subjekte durch differenzierten Konsum als besonders und unterschiedlich inszenieren, gehen auf einen Wandel der Kulturindustrie zurück, der in den 1960ern und 1970ern zu verorten ist. Zwar gab es ab den 1930er Jahren Marketing-Analysen, die auf die Konzepte differenzierter Zielgruppen zurückgriffen, aber erst am »Ende der ›dreißig glorreichen Jahre‹ [des Fordismus, P.S.] war die Versorgung der nivellierten Mittelstandsgesellschaft mit standardisierten, funktionalen Gütern mit konkreten Nutzenfunktionen (Haus/ Wohnung von hohem Ausstattungsniveau, Auto, Elektrogeräte, basale Gesundheitsversorgung, massentouristisch organisierte Fernreisen etc.), das heißt mit dem grundsätzlichen Komfort, den die industrielle Moderne bot, weitgehend abgeschlossen.« (Reckwitz 2019: 149) In Reaktion darauf differenzierte sich das Konsumangebot aus und die Inszenierung der Konsumwaren als Kulturwaren wurde zugleich bedeutsamer, sodass eine gezieltere Bewerbung über target audiences notwendig wurde, um die Passförmigkeit von Produkt und Identität herauszustellen. Die homogene Kulturindustrie I entwickelte sich zur pluralisierten Kulturindustrie II. Mit der Pluralisierung der Kulturindustrie ging ein weiterer Prozess einher: die Aufnahme gegenkultureller Motive in die Kulturindustrie. Ausgehend von der emblematisch mit dem ›summer of love‹ 1967 und den Protesten 1968 verbundenen Aufkommen von Jugend- und Subkulturen und ihren popmusikalischen Spielarten wurden – so Roger

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Behrens in Pop Mythos Pop – die zentralen Identitätsbilder der Gegenkultur Teil der Kulturindustrie. Die »besonderen, sich als widerständig oder subversiv, zumindest aber distinguiert verstehenden Popkulturen der Siebziger, Achtziger und frühen Neunziger« (Behrens 2015: 121), die subjektiv ein Ausdruck der Rebellion gegen den integrierten Kapitalismus waren, bildeten meist schon kurz nach ihrem Erscheinen den Fundus für die zentralen Motive der Kulturindustrie II. The Clash wurde, mit kurzem Vorlauf, 1976 gegründet und unterzeichneten im Januar 1977 einen Vertrag mit CBS Records über 100.000 Pfund, im Oktober 1977 veröffentlichten Crass ihr Debutalbum inklusive des Songs ›Punk is dead‹, der diese Vermarktlichungsprozesse kritisierte. Mit der Integration der jugendlichen Gegenkulturen wurden auch ästhetische Techniken, die aus der counter culture entstammen, wie etwa die Provokation (Back/Quaade 1993), aber auch die Collage und Rekombination (Reckwitz 2017: 242), zum Standardrepertoire der Kulturindustrie – spätestens mit den Werbekampagnen des Fotografen und Gestalters Olivero Toscani für die Modemarke Benetton in den späten 1980ern und frühen 1990ern, bei denen er, teils mit Pressefotos, reale sterbende oder leidende Menschen als Werbeträger verwendete. Widerstand und Subversion wurden so in die Kulturindustrie integriert und zum Kern »eines Modells von kultureller Emanzipation innerhalb der bestehenden kulturellen Ordnung, das die Befreiung vom gesellschaftlichen System propagiert (und unablässig und immer wieder versucht), ohne dieses System zu verändern; ein Modell, das den affirmativen Charakter der Kultur bestätigt, indem es die transzendierenden Elemente des Widerstands und der Subversion von einer kollektiven realen Gewalt zu einer individualisierten symbolischen Gewalt verschiebt« (Behrens 2015: 129). Mit Widerstand und Subversion wurde so auch die »Authentizität des Selbst« (Reckwitz 2017: 104) ein zentrales Motiv der Kulturindustrie, das sich dabei zur »Metaauthentizität« wandelt, die erzeugt wird, indem der »postmoderne Pop-Musiker […] seine Echtheit auf der Bühne ironisch dekonstruier[t]« und gerade »durch dieses souveräne Perfor-

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mancespiel« (ebd.: 139) authentisch erscheint. Zugleich führt die Aufnahme des Authentizitätsideals in die Kulturindustrie zur Verstärkung der Selbstkulturalisierung. Konsumentinnen machen sich »gewissermaßen selbst zu einem kulturellen Gut« (ebd.: 252), indem sie sich entlang kulturindustrieller Vorlagen inszenieren und mit entsprechenden Markenwaren ausstatten. Diese »Counterculture Industry«, wie es Gilad Padva (2016) formuliert, hat dabei durchaus progressive Momente, indem sie marginalisierte, gegenkulturelle Lebensformen normalisiert, wie er an homosexuellen Ästhetiken in Musikvideos der Pet Shop Boys und Lady Gaga exemplarisch herausarbeitet. Zugleich werden ihre Motive aber in die kapitalistische Subjektivation als Variation auf der Basis kommodifizierter Standardisierung integriert. Authentizität, Differenz, Subversion und Rebellion sind so zu zentralen Motiven der Kulturindustrie geworden, die ihre Pluralisierung auf Basis der Standardisierung ihrer Produkte ermöglicht, ohne die Standardisierung zu überwinden. Die Kulturindustrie gewinnt dadurch den Anschein von Individualität und ihre standardisierenden Effekte auf die Subjekte wirken auf sie in einer Form, die nicht im Widerspruch zu Ansprüchen an Selbstverwirklichung, Individualismus und Besonderheit zu stehen scheint. Damit wird deutlich, dass die These, dass die Kulturindustrie zentral auf der Standardisierung und Schematisierung ihrer Produkte beruht, wie Adorno sie insbesondere in seinen Arbeiten zum Radio herausarbeitet, nicht veraltet ist. Standardisierung und Schematismus bilden immer noch die Grundlage für oberflächliche Variationen – ein Phänomen, dass Adorno schon bei der Variation zwischen verschiedenen Musikstücken bei gleichzeitiger Standardisierung beschrieb (Adorno 1980a: 22). Zugleich hat die Kulturindustrie seit Adorno weitere Bereiche von »Wissen, geistiger und ästhetischer Arbeit« (Martin 2018: 180) erfasst und kann so als »erweitert[e] Kulturindustrie« (ebd.: 169) zutreffender den je bestimmt werden. Man kann also im differenzierten Kapitalismus von einer zugleich erweiterten und pluralisierten Kulturindustrie II sprechen. Sie findet sich auch bei Reckwitz, wenn er die »einfache Konsumgesellschaft der 1950er und 60er Jahre mit ihren standardisierten und funktionalen Massenprodukten [von der] entfalte-

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ten Konsumgesellschaft, deren Konsumenten auf differenzierte und singularisierte Güter setzen« (Reckwitz 2019: 151f.), unterscheidet. Zur erweiterten Kulturindustrie II gehören »die Architektur, die Werbung, die Kunst, das Kunsthandwerk, die Musik, Film und Video, das Design, die Mode, die darstellenden Künste, Computerspiele, Softwareentwicklung und Computerdienste, schließlich Medien aller Art, ob Print, Hörfunk, Fernsehen oder Online [und] auch die Branchen des Tourismus und des Sports (Publikumsund Individualsport)« (Reckwitz 2017: 115), aber auch das Essen, Wohnen, Reisen und die Bewegungskultur von Yoga über Tango bis zum Rafting (Reckwitz 2017: 309–327). Zu den Veränderungen im Übergang von integriertem zu differenziertem Kapitalismus und damit von der homogenen Kulturindustrie I zur erweiterten und pluralisierten Kulturindustrie II treten im Zuge der Digitalisierungsprozesse ab etwa den 2000ern, die Reckwitz, Mau und Staab untersuchen, weitere Veränderungen in der Produktion von Kulturwaren und der gesellschaftlichen Erfassung der Bedürfnisse hinzu, die eine erneute Phase der Kulturindustrie anzeigen. Während Adorno noch konstatiert, dass die Waren der Kulturindustrie nicht industriell produziert werden, kann dies heute für bestimmte Güter der Kulturindustrie zunehmend gelten: Sowohl in der Produktion von (Chart-)Popmusik als auch bei der Produktion von Serien und Filmen für TV, internetvermitteltem Streaming als auch für das Kino wird mittlerweile hoch arbeitsteilig vorgegangen und die Produktion an Konsumentscheidungen orientiert. Dies erfolgt bis hin zur digitalen Erfassung von Nutzungsverhalten auf Streamingdiensten, die sekundengenau auf die materielle Gestalt der Medieninhalte abgebildet werden kann und so die Produktionsentscheidungen für zukünftige Serien oder Filme prägt, ohne dass der Umweg über die Marktforschung nötig ist (Bellanova/Fuster 2018). Diese digitale und automatisierte Erfassung erlaubt eine – mit Reckwitz gesprochen – »maschinelle Singularisierung« (Reckwitz 2017: 73). Die Kulturware werden nicht mehr in Bezug auf Zielgruppen pluralisiert, sondern »Massen von Daten und Datenmassen – Big Data – lassen […] via allgemeiner Algorithmen be-

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sondere Profile einzelner Personen […] beziehungsweise und mutmaßlich: das besondere Profil jedes Einzelnen« (ebd.: 244) erstellen. An die Stelle der target group tritt so das Datenprofil der Einzelnen, die mit für sie spezifischen Inhalten versorgt werden kann. Das betrifft vor allem das Feld der Online-Werbung, aber auch Kaufempfehlungen etwa auf Amazon oder Konsumvorschläge auf Youtube oder Netflix. Ebenfalls neu ist, dass diese Prozesse in Echtzeit ablaufen und somit dem Subjekt ein unmittelbares Feedback des Nutzungsverhalten in der Veränderung seiner digitalen Umwelt bieten. Die in diesem Sinne individualisierte Kulturindustrie III ist der Funktionsmechanismus der von Reckwitz beschriebenen »Hyperkultur«, die »nicht kollektivistisch, sondern individualistisch ausgerichtet« (Reckwitz 2019: 38) ist. Damit ist sie auch die Grundlage der »Hyperindividualisierung«, die Mau (2017: 272) beobachtet und mit der er die Atomisierung des Sozialen beschreibt. Die der Einzelnen gegenübertretenden Kultur enthierarchisiert zugleich die einzelnen Kulturwaren und -formate, die sich nun »alle auf einer Ebene, die hochgradig plural ist« (Reckwitz 2017: 240) befinden. Das Arrangement, schon von Adorno anhand des Radioprogramms als zentral für die Kulturindustrie I analysiert, erfolgt nun nicht mehr standardisiert, sondern personalisiert. Zugleich verstärkt diese Personalisierung – und die Distributionsgeschwindigkeit, die digitale Kulturwaren erlauben – die kulturindustrielle Tendenz von »Gleichzeitigkeit, Neuartigkeit und Aktualisierung« (ebd.: 241), die sich aus der marktförmigen Konkurrenz um Aufmerksamkeit auf dem Kulturmarkt ergibt. Reckwitz schreibt mit Blick auf das Smartphone (ebd.: 238) der »digitale[n] Kultur« zu, »in erheblichem Maße eine Kultur der Visualität« (ebd.: 235) zu sein, die aufgrund der Zugangsmöglichkeiten zu sozialen Netzwerken und etwa der Selfie-Kultur von einer »Generalisierung der Rolle des Kulturproduzenten wie auch eine[r] Generalisierung der Rolle des Publikums« (ebd.: 239) geprägt ist. Während man von einer Generalisierung der Rolle des Publikums schon mit dem Beginn der Kulturindustrie sprechen kann – die Allgegenwart der Reklame und des Radios machen dies deutlich – und auch die Kulturindustrie I eine Kultur der Visualität war – Reklame, Kino, Illustrierte, später das Fernse-

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hen – ist die Generalisierung der Produzentinnenrolle tatsächlich eine Neuerung, die häufig mit dem Internet verbunden wird. Entgegen der Hoffnung, dass das Internet so zu einer Demokratisierung der Produktion von Kulturwaren beiträgt, ist diese Generalisierung aber eine Schein-Generalisierung: Zwar können potenziell alle Internetnutzenden Youtube-Kanäle oder Instagram-Accounts betreiben, aber die Aufmerksamkeit zentriert sich auf wenige sehr erfolgreiche Accounts, und die zahlreichen Schein-Produzentinnen der Accounts jenseits der Aufmerksamkeitskonzentration sind weniger autonome Produzentinnen als Prosumer sowohl von Daten, als auch im Kontext viraler Marketingkampagnen und Inszenierungstrends. Auch Reckwitz’ Optimismus, dass in der Gegenwart »Konsumenten als Publikum […] die Instanz [sind], die darüber entscheidet, ob das Werk innovativ ist« (Reckwitz 2019: 189) wird von der Marketing-Marktmacht großer Kulturwaren-Konzerne und ihrer Verwertung von Nutzungsdaten ad absurdum geführt. Die Erfassung des Nutzungsverhaltens bei digitalen Angeboten strukturiert auch das Feld der Werbung fundamental um. Mit der Möglichkeit, Nutzungsverhalten über Plattformen hinweg – durch Cookies, die über den Browser der Nutzerin gespeichert werden – zu beobachten und auszuwerten, mit dem intersubjektiven Vergleich von Nutzungsverhalten zur Prognose (etwa bei den Kaufempfehlungen bei Onlinehandelsunternehmen) und schließlich mit der Bündelung zahlreicher Nutzungsaspekte und sozialer Metadaten auf social networks wurden die Bedingungen der Werbung grundsätzlich verändert. Werbung muss nun nicht mehr bloß an eine allgemeine Öffentlichkeit oder eine Zielgruppe, der man gemeinsame Interessen unterstellt (etwa durch eine Annonce in einer Special-Interest-Zeitschrift), gerichtet werden, sondern sie kann auf Basis individuell zugeschriebener Konsumidentitäten direkt an einzelne Subjekte adressiert werden (Turow 2011). Dies erlaubte es nicht nur Konzernen wie Alphabet oder Meta – deren Geschäftsmodelle darauf beruhen, Nutzerinnen ihre Dienstleistungen kostenfrei zur Verfügung zu stellen, und sich die Vermittlung von Werbeflächen finanzieren – in die Riege der profitabelsten Unternehmen der Welt aufzusteigen (Staab 2019: 36–38),

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sondern differenziert die Subjektivation durch die Kulturindustrie auf Grundlage von data tracing und lernende Algorithmen, die hier als Subjektivationstechnologien zusammenlaufen. Werbung und damit eine Form der Produktion von Bedürfnissen richtet sich nun nicht mehr nur homogen an alle (wie im integrierten Kapitalismus) oder nach Zielgruppen und Milieus strukturiert (wie im Übergang zum differenzierten Kapitalismus), sondern direkt und in Echtzeit an einzelne Subjekte, die als Bündel von konsumrelevanten Merkmalen konzipiert werden, sodass sich die kapitalistische Subjektivation weiter ausdifferenziert. Diese Live-Feedback-Struktur als zentrales Moment in der Produktion des gegenwärtigen Kapitalismus – sowohl der Kulturindustrie III als auch im Zuge des aktuellen Schubs der Informatisierung und der Koppelung von Konsumtion und Produktion in der industriellen Produktion – legt es nahe, ihn als kybernetischen Kapitalismus zu bezeichnen, einen Begriff, den Schaupp (2016) vom Autorenkollektiv Tiqqun (2007: 41) übernommen und in die sozialwissenschaftliche Diskussion eingeführt hat. Gekennzeichnet ist der kybernetische Kapitalismus durch die Überwachung und Informatisierung von Lebensabläufen (Schaupp 2016: 110) und die Rückkoppelung der erhobenen Daten an diese Abläufe in Echtzeit (ebd.: 70, 111; Staab 2019: 230). Ziel der Optimierung ist nicht nur der Output, sondern auch der Prozess selbst (Schaupp 2016: 111) durch die eigene Lernfähigkeit. Die gesamte Formation des Gegenwartskapitalismus als kybernetischen Kapitalismus zu bezeichnen erscheint dabei als gerechtfertigt, weil nicht bloß die Überwachung von Nutzungsverhalten um personalisierte Angebote auszugeben in diesem Sinne kybernetisch abläuft, sondern auch »automatisiert[e] Produktionssteuerungssysteme […] die Produktion direkt an den Markt koppeln« (ebd.: 105), Rabattkartensysteme zur Erfassung von Kaufverhalten im analogen Einzelhandel weit verbreitet sind (ebd.), Werbeplätze in automatisierten Auktionen vergeben werden (Staab 2019: 112), im »Jahr 2019 […] algorithmisch veranlasste Investitionen etwa die Hälfte der US-amerikanischen Börsentransaktionen aus[machten]« (ebd.) und Sicherheitsbehörden algorithmische Datenverarbeitung für predictive policing nutzen (Schaupp 2016: 106).

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Ziel aller dieser Prozesse sind dabei »prädiktive Aussagen« (Staab 2019: 229), also letztlich die »Überwachung der Zukunft« (Schaupp 2016: 108), ihr Funktionsprinzip ist die unmittelbare Koppelung von Produktion und Kontrolle (ebd.: 89) – mit, wie in den Kapiteln 3–5 gezeigt wird, bedeutenden Auswirkungen auf die Subjektivation. Auch Reckwitz verweist darauf, dass digitale Technologien und die auf ihnen basierende ›Kulturmaschine‹ auf »kybernetischen, ›offenen Maschinen‹« (Reckwitz 2017: 227) beruhe, ebenso wie Mau den neuen Grad der »Reflexivität« (Mau 2017: 72) betont, der technisch vermittelt die Gegenwartsgesellschaft prägt. Die Kulturindustrie III ist also Ausdruck der allgemeinen Entwicklung des Kapitalismus, in dem »[s]eit dem Ende der 1960er Jahre und dank der Techniken die [die kybernetische Wissenschaft, P.S.] hervorgebracht ha[t], […] die zweite Kybernetik keine Laborhypothese mehr, sondern ein gesellschaftliches Experiment« (Tiqqun 2007: 29) ist. Folgt man Staab kann man konstatieren, dass diese gesellschaftliche Kybernetik circa ab 2008 aus ihrem Experimentalstadium heraus ist. Dass der kybernetische Kapitalismus aber nicht monotendenziell von Informatisierung und Digitalisierung von Arbeit und dem Konsum von Kulturgütern geprägt ist, soll folgend anhand des Konzepts der affektiven Arbeit und der Landnahme des Sozialen skizziert werden.

d. Affektive Arbeit und die Landnahme des Sozialen Phänomene wie flexible Arbeitszeiten, branchenübergreifende Prekarisierungstendenzen, Prosumption sowie die Ausdehnung, Pluralisierung und Kybernetisierung der Kulturindustrie wird von manchen Theoretikerinnen zum Ausgangspunkt genommen, um eine Auflösung der Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit insgesamt zu postulieren. Eva Illouz etwa spricht 2004 in ihrer Adorno-Vorlesung Gefühle im Zeiten des Kapitalismus (Illouz 2006) davon, dass während noch »der industrielle und sogar der fortgeschrittene Kapitalismus ein gespaltenes Selbst zugleich ermöglichten und verlangten, das reibungslos vom Bereich strategischer zum Bereich häuslicher Interaktion glitt, vom

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ökonomischen zum emotionalen«, sei im zeitgenössischem, ›emotionalen Kapitalismus‹ »die Kosten-Nutzen-Analyse aus dem kulturellen Repertoire des Marktes mittlerweile in fast allen privaten und häuslichen Interaktionen angewendet« und »es scheint zunehmend schwerer geworden zu sein, von einem Register des Handelns (etwa dem romantischen) in ein anderes zu wechseln (etwa in das ökonomische).« (ebd.: 168) Illouz konstatiert also eine Entgrenzung, die das ökonomische und das private Handeln einander angleicht. Hinsichtlich der Freizeit schließt sie damit an Adorno an, der schon für die Freizeit im Fordismus konstatierte, sie sei »an das Immergleiche, den Produktionsapparat [gekettet], auch dort, wie dieser sie beurlaubt« (Adorno 2003c: 436f.) und verallgemeinere die Verdinglichung, die für die tayloristische Lohnarbeit diagnostiziert wird (siehe Kap 3.b), bloß. Hinsichtlich der Arbeit ähnelt Illouz’ Betonung der emotionalen Komponente der Lohnarbeit dem Begriff der affektiven Arbeit in Michael Hardts und Antonio Negris Empire, die sie als Teil der immateriellen Arbeit, also dem Bereich der Produktion von Dienstleistungen und digitalen Gütern, verstehen. Deren Pointe ist, dass im zeitgenössischen Kapitalismus die immaterielle Arbeit »die führende Rolle der industrielle[n] Fabrikarbeit erschüttert [und] kommunikative, kooperative und affektive Arbeit […] stattdessen an erste Stelle« (Hardt/Negri 2002: 11) rückte. Wie dargestellt wurde, liegt dieser These eine Blindheit für globale Veränderungen in der Arbeitsteilung zugrunde. Aber auch für die kapitalistischen Zentren im differenzierten Kapitalismus hat emotionale oder affektive Arbeit nur für bestimmte Segmente der Arbeiterinnen eine zentrale Bedeutung angenommen: diejenigen, die im Segment personenbezogener Dienstleistungen arbeiten und diejenigen, die im Zuge der Informatisierung einem posttayloristischen Rationalisierungstyp unterworfen sind (Reckwitz 2019: 157). Auch Reckwitz betont, mit Blick auf personenbezogene Dienstleistungen und in Anschluss an Arlie Hochschild, die Rolle der »emotionalen Arbeit« (Reckwitz 2017: 133) im Gegenwartskapitalismus, die eine neue Form vertieften Zugriffs auf die Subjektivität der Arbeitenden verlangt. Er deutet dabei eine neue Form des Zugriffs auf die Freizeit an:

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Während die Freizeit im organisierten und integrierten Kapitalismus tendenziell überformt von den Normen der Arbeit und damit zu ihnen sekundär war (ebd.: 40f.), wie es auch Adorno beschreibt, wird sie nun zum Produktionsort der Besonderheit, die für die Verwertung in der Arbeit nötig ist. Die »Zeit der Nicht-Arbeit […] – das heißt das Alltagsleben – [erscheinen, P.S.] auch [als] ein Wachstumsfaktor […] und [enthalten] einen potentiellen Wert« (Tiqqun 2007: 75), wie es Tiqqun über den kybernetischen Kapitalismus formulieren. Auch Mau diagnostiziert, mit Blick auf die Durchsetzung aller Lebenspraktiken mit digitalen Technologien der Erfassung, eine Entgrenzung von Arbeit und Freizeit wie von Öffentlichkeit und Privatheit (Mau 2017: 232) und bezeichnet diese Entgrenzung als »ein[e] Art Landnahmeprozess[, der] die gesamte soziale Ordnung zu erfassen scheint.« (ebd.: 40). Diese Landnahme – ein Konzept, auf das sich auch Staab am Rande bezieht (Staab 2019: 268) – wird dabei auch als »Ökonomisierung des Sozialen« (Reckwitz 2019: 193, 2017: 107; Mau 2017: 42) bestimmt, die in Privatisierungsprozessen einerseits (Staab 2019: 267–269) und in einer verstärkten Nachfrage nach professionellen Tätigkeiten im Feld der Reproduktion andererseits (Reckwitz 2019: 157) gründet. Sie ist also ein Produkt der Re-Regulierung von Finanzmärkten und Staat – der Finanzialisierung – in Reaktion auf die Sättigungskrisen der 1970er einerseits und der veränderten Zusammensetzung der Arbeiterinnenschaft und der erhöhten Nachfrage nach Wissensarbeit als Ergebnis des technologischen Wandels andererseits. Mit dieser Veränderung einher geht eine Verschiebung im Verhältnis von Produktion und Reproduktion, die auch von Klaus Dörre und Tine Hauber als Landnahme verstanden wird und die sie – im Anschluss an Rosa Luxemburgs Imperialismustheorie – als innere Landnahmen des Sozialen (Haubner/Dörre 2011: 75) theoretisch spezifischer verstehen. In Die Akkumulation des Kapitals von 1913 analysiert Luxemburg das damalige Verhältnis zwischen den Zentren des Kapitalismus und seiner Peripherie unter dem Konzept der Landnahme: Der Kapitalismus sei, so Luxemburg, auf eine konstante Ausdehnung der Konsumtion angewiesen (Luxemburg 1990: 294) die durch die Expansion des Marktes auf vormals nichtkapitalistische Weltregionen realisiert wird, in denen

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neue »seltsamst[e] Mischformen« (ebd.: 318) zwischen kapitalistischer und nichtkapitalistischer Wirtschaft wie etwa die Plantagenwirtschaft oder die Fellachinnenwirtschaft entstehen. Entscheidend für die Landnahmetheorie ist dabei, dass Luxemburg postuliert, dass der Kapitalismus konstitutiv auf ein Außen angewiesen ist und die Aneignung dieses Außen nicht nur – wie bei Marx Analyse der »sogenannten ursprünglichen Akkumulation« (Marx 1962: 741) – historisch am Anfang des Kapitalismus steht, sondern ihn andauernd begleitet. Daran anschließend gehen Haubner und Dörre mit ihrer Theorie der Landnahme davon aus, dass ein »›reiner‹ Kapitalismus wahrscheinlich nicht überlebensfähig« (Haubner/Dörre 2011: 64) ist, da er »by no means able to reproduce itself exclusively from within itself« (Dörre 2011: 74) ist. Das Außen ist nun nicht für immer das Außen des Kapitalismus, sondern die kapitalistisch notwendige Expansion des Kapitals nutzt dieses Außen immer wieder als Terrain einer Landnahme (Dörre 2009: 36–46). Anders als Luxemburg, die das Außen als geografisch außerhalb der kapitalistischen Welt liegende Region fasst, geht Dörre anschließend an Burkhart Lutz (1984) davon aus, dass es sich auch um ein inneres Außen handeln kann, das bisher nicht verwertet wurde. Darüber hinaus stellt laut Dörre der Kapitalismus immer wieder neue Außenräume her, sodass es zu potenziell unendlich vielen Landnahmen kommen kann (Dörre 2009: 42). Dörre analysiert die Frauen zugeschriebene Hausarbeit unter diesem Theorem (Dörre 2011: 77), aber auch die Entstehung der Kulturindustrie kann als Landnahme der Kultur und Emotionalität verstanden werden. Landnahmen fungieren dabei für das Kapital immer als Bewältigungsstrategie der notwendigen Expansion, die in sich krisenhaft ist, sie dienen der »zeitweisen Stabilisierung von Ökonomie und Gesellschaft« (Haubner/Dörre 2011: 77). Dabei produzieren Landnahmen aber selbst wieder Krisenphänomene, etwa durch ihren »expansive[n] Zugriff auf das Arbeitsvermögen[, der] immer häufiger die individuellen Grenzen, die Körper, Biorhythmus und Psyche« (ebd.: 79) überschreitet, oder durch die intensive Vernutzung der Natur. Krisen, in denen durch »de-industrialization, economic decline, mass unemployment and poverty, yet another ›outside‹ is created […] which in a later phase

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of development become suitable as the objects and potential assets of new investment strategies.« (Dörre 2011: 77) Unter der Landnahme des Sozialen verstehen Dörre und Haubner nun die Rekonfigurationen des Verhältnisses kapitalistischer Produktion und gesellschaftlicher Reproduktion, im Zuge derer »überwiegend weibliche und unbezahlte […] Reproduktions-, Sorge- und Pflegearbeit« (Haubner/Dörre 2011: 67) kommodifiziert und schon bezahlte Arbeit etwa über die Privatisierung von Krankenhäusern der kapitalistischen Verwertung zugeführt wird. Analog zu Luxemburgs Beobachtung, dass die Landnahme nicht zwingend dazu führt, das Landgenommene dem Innen des Kapitalismus gänzlich anzugleichen, sondern dass neue hybride Formen der Produktion entstehen, lässt sich auch bei der Landnahme des Sozialen beobachten, dass neue hybride Formen der kapitalistischen Lohnarbeit entstehen. Haubner beschreibt sie in ihrer Studie Die Ausbeutung der sorgenden Gemeinschaft als »Care-Reserve«, die sich »sowohl [aus] brachliegende[n], exkludierte[n] als auch sozialpolitisch erschlossene[n] und ausgebeutete[n] ›Bevölkerungspotenziale[n]‹« zusammensetzt und etwa »pflegende Angehörige, freiwillig Engagierte, ehemalige Landzeitarbeitslose und migrantische Pflegekräfte« (Haubner 2017: 154) – vor allem Frauen – umfasst, die auf unterschiedliche Weise durch die Landnahme des Sozialen zugleich integriert und hinsichtlich ihrer Subjektposition differenziert werden. Strukturelle Möglichkeitsbedingung der Landnahme des Sozialen war dabei eine grundlegende Veränderung des Wohlfahrtsstaats des integrierten Kapitalismus. Im Zuge der steigenden Erwerbsarbeitsquote bei Frauen geriet der Wohlfahrtstaat unter Druck, wegfallende unbezahlte Hausarbeit – etwa in der Kindererziehung und Pflege Alter und Kranker – zu kompensieren (Haubner 2017: 181). Ab den 1990er Jahren reagierte der Staat darauf, indem er das Feld der Sorgetätigkeiten sowohl privatwirtschaftlich kommodifizierte als auch in die private Verantwortung der Angehörigen verlagerte (ebd.: 183), und ermöglichte so die Landnahme der Sorgetätigkeiten. Haubner versteht diese Entwicklung als Teil einer allgemeinen Tendenz zur »Aktivierung« (ebd.: 184), also der Umstellung der »wohlfahrtsstaatlichen Programmatik« von »der ›Staatsversorgung‹ zur Selbstsorge, von der öffentlichen zur privaten

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Sicherungsverantwortung, vom kollektiven zum individuellen Risikomanagement.« (Lessenich 2009: 163) Die Aktivierung ist, insbesondere im Feld der Arbeitsmarktpolitik und der Aktivierung von Arbeitslosen (Eversberg 2014: 86) als indirekte Landnahme zu verstehen, da sie ein Instrument der Kostensenkung für die Kapitalistinnen und des verschärften Zugriffs auf das Arbeitsvermögen der Arbeiterinnen darstellt. Parallel zu den dargestellten Prekarisierungstendenzen durch Informatisierung, Flexibilisierung und die hybride Integration von Sorgetätigkeiten in die Lohnarbeit lässt sich also eine Prekarisierung der gesellschaftlichen Integration der Arbeitslosen konstatieren. Die Kontroll- und Aktivierungsmaßnahmen gegenüber Erwerbslosen steigern letztlich die die Akzeptanz prekärer Lohnarbeitsverhältnisse: »Flexible Produktions- und Lebensweisen, deren Leitbilder Wettbewerb und Unternehmertum generalisieren, benötigen zur Aneignung gesellschaftlicher (Re-)Produktionsarbeit außerökonomischen Zwang. Und dieser Zwang, dem ausgegrenzte oder prekarisierte Gruppen unmittelbar ausgesetzt sind, spornt – paradoxerweise – gerade gesicherte Lohnabhängige an, in der eigenen Wettkampfbereitschaft nicht nachzulassen.« (Haubner/Dörre 2011: 91–92) Die Landnahme des Sozialen wirkt so zusätzlich differenziert auf den sozialen Ort der Subjekte und erfordert zugleich von bestimmten Gruppen von Arbeitskräften eine andere Subjektivität, da in ihren Arbeitstätigkeiten Emotionalität nicht mehr der aus dem Arbeitsprozess ausgeschlossene potenzielle Störfaktor, sondern eine in Wert gesetzte Kompetenz der Arbeitskraft ist.

e. Säkulare Stagnation und verschärfte Verteilungskämpfe Die beschriebenen Entwicklungen der Intensivierung der industriellen Produktion durch computergestützte Informatisierung, die Landnahme des Sozialen und der Umbau des Wohlfahrtstaats sind alle Reaktionen auf die Rezensionen Ende der 1960er und Anfang der

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1970er Jahre, die nach einer kurzen Phase keynesianischer Krisenpolitik mit der neoliberalen Re-Regulierungspolitik den Übergang vom integrierten zum differenzierten Kapitalismus begründeten (Nachtwey 2016: 48f.), die von Reckwitz, Mau und Staab – wie den meisten anderen soziologischen Theorien – als zentraler Umbruch benannt wird. Er umfasste umfangreiche Prozesse der Landnahme, zu denen neben der beschriebenen Landnahme des Sozialen und anderen Privatisierungsprozessen vormals staatlicher Infrastruktur, wie der Eisenbahnen, Telekommunikationsstrukturen und Energieproduktion, auch die steigende Privatverschuldung und die mit ihr einhergehende potenzielle Enteignung (Chakravartty/Silva 2012) gehören. Dennoch konnten die (zwischen 1950 und 1973) durchschnittlich bei 4,9 Prozent liegenden Wachstumsraten der Zeit des integrierten Kapitalismus nicht wieder erreicht werden und im Durchschnitt der OECD-Staaten sank das »durchschnittliche Wachstum […] von etwa vier Prozent zu Beginn der siebziger Jahre auf unter zwei Prozent in der jüngeren Vergangenheit« (Nachtwey 2016: 48). Entsprechend greift Staab den Begriff der »säkularen Stagnation« (Staab 2019: 220) auf, mit dem vor allem in Anschluss als keynesianische Wirtschaftstheorien eine Phase anhaltender Wachstumsschwäche bezeichnet (Nachtwey 2016: 44; Barth/Reitz 2016: 52), die vom Keynesianer Karl Georg Zinn als die »längste Krise des Industriekapitalismus« (Zinn 2016: 65) gedeutet wird. Zinn folgert aus dieser Beobachtung, dass der Kapitalismus in eine »neu[e] sozialökonomische Formation« (ebd.: 77) übergeht, die auch das Politische neu konfiguriert. Diese politische Bedeutung kommt der ›säkularen Stagnation‹ daher zu, da »bei einer stagnierenden kapitalistischen Wirtschaft auch die Möglichkeiten schrumpfen, Legitimation zu organisieren« (Barth/Reitz 2016: 53). Die positive Integration im integrierten Kapitalismus beruhte auf Demokratie, Wohlfahrtstaat und Massenkonsum als Grundlagen eines ›Überflusskapitalismus‹, der durch stagnierendes Wirtschaftswachstum n die Krise gerät. Unter diesen Bedingungen verschärfen sich die Verteilungskämpfe um das gesellschaftliche Mehrprodukt, sowohl zwischen den Einzelkapitalen als auch den Nationalstaaten in Interessenvertretung ihrer Volkswirtschaften, sowie schließlich

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zwischen den Klassen in Hinblick auf die Lohn- und Miethöhen sowie die Erhebung und Verwendung von Steuergeldern. Ein Kapitalismus mit stagnierenden Wachstumsraten wäre also von verschärften gesellschaftlichen Kämpfen und deren politischer Organisation geprägt. Zinn schlägt für die daraus resultierenden politischen Veränderungen den Begriff des »neofeudale[n] Kapitalismus« (Zinn 2016: 78) vor, den er in zwei Varianten bestimmt: In einer Variante wäre der Wohlfahrtsstaat zugunsten einer repressiven Kontrolle der Bevölkerung und verschärfter Ausbeutung und Enteignung abgelöst (ebd.), in der anderen träte der Staat als Umverteilungsinstanz für seine Klientel auf, und die Staatsquote an der Beschäftigung würde deutlich steigen (ebd.: 79f.). Thomas Barth und Reitz entwickeln mit dem »autoritäre[n] Neoliberalismus« (Barth/Reitz 2016: 53) eine ähnliche Prognose, die sich zwischen Zinns zwei Modellen positioniert. Ihr zufolge würde der Staat sich entdemokratisieren und »stärker auf Zwangs- als auf Konsensinstrumente« (ebd.) setzen. Zugleich würden Teile der Bevölkerung klientelistisch integriert, während durch »striktere Grenzziehungen zwischen Anspruchsberechtigten und Ausgeschlossenen« (ebd.) andere Teile der Bevölkerung exkludiert und bloß noch negativ integriert würden. In eine ähnliche Richtung geht Oliver Nachtweys 2016 erschiene Zeitdiagnose der Abstiegsgesellschaft, in der er beschreibt, wie Entdemokratisierungstendenzen und sozialer Abstieg im zeitgenössischen Kapitalismus »zu einer autoritären Strömung führen [können], die sich der liberalen Grundlagen unserer Gesellschaft entledigt.« (Nachtwey 2016: 233). Nachtwey analysiert damit – ebenso wie Wilhelm Heitmeyer im 2018 erschienenen Autoritäre Versuchungen (Heitmeyer 2018) – wie die Wachstumskrise des Kapitalismus und ihre Entdemokratisierungstendenzen ›von oben‹ mit dem Auftreten autoritärer Bewegungen ›von unten‹ zusammengreifen. Die Autoren formulieren damit Theorien des Zusammenhangs von Kapitalismus und Autoritarismus, die große Ähnlichkeiten mit der Rackettheorie aufweisen, die am Institut für Sozialforschung in den 1930er und 1940er Jahren diskutiert wurde. In ihr, entwickelt im Zuge der Analyse des Autoritarismus in Europa nach der Weltwirtschaftskrise 1929, beschreibt Horkheimer (1980a, 1980c) und im Anschluss an ihn Adorno (2003i: 217), wie die politische

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Herrschaft in einem Kapitalismus mit stagnierenden Wachstums- und Investitionsraten sich zu einem Kampf um den Staat und seine ökonomischen Ressourcen als Beute transformiert. Diese Beute wird von den staatlichen Eliten an das eigene Klientel im Tausch gegen Loyalität weitergegeben, während andere gesellschaftliche Gruppen gewaltsam vom Zugriff auf sie ausgeschlossen werden. Dieser Ausschluss produziert global, aber auch innergesellschaftlich gänzlich exkludierte Gruppen, die vom Staat – anders als die weiterhin positiv Integrierten – nicht nur Aktivierungs-, sondern auch Deaktivierungspolitiken unterworfen sind (Lessenich 2009: 138). Aktivierung und Deaktivierung greifen dabei ineinander, wie Christian Helge Peters es an dem Zusammenspiel von ›workfare‹ und ›prisonfare‹ und der ansteigenden Bedeutung von Exklusion durch Einsperrung im differenzierten Kapitalismus aufzeigt (Peters 2015: 103) und Haubner es an der Ausbeutung migrantischer Sorgearbeit herausarbeitet, bei der der Ausschluss von Rechten ein Grundbestandteil der Möglichkeitsbedingung ihrer Ausbeutung ist (Haubner 2017: 147). Die relative Deaktivierung und Exklusion findet sich aber etwa auch bei Geflüchteten, die abhängig von ihrem Aufenthaltsstatus etwa Deaktivierungen durch fehlende Arbeitserlaubnis (Kühne 2009) oder im Zuge der Residenzpflicht (Köhring 2004) fehlender Freizügigkeit in der Wohnortwahl unterworfen sind. Der kybernetische Kapitalismus reagiert auf die ›säkulare Stagnation‹ damit, dass er Ökonomien des Überflusses zu institutionalisieren versucht, indem er einerseits »Winner-take-all-Märkte« (Reckwitz 2017: 109) errichtet – Staabs Analyse des digitalen Kapitalismus zentriert proprietäre Märkte in der Plattformökonomie, in denen Netzwerkeffekte verwertet werden – und andererseits versucht, durch digitales Rechtemanagement (DRM) und Patente unknappe Güter wie Wissen oder Programme technisch und rechtlich zu verknappen. Beide Mechanismen wirken dabei polarisierend (ebd.: 159; Staab 2019: 224f.), sie verschärfen Verteilungsungleichheiten des differenzierten Kapitalismus. Die aktuellen soziologischen Zeitdiagnosen der Digitalisierung stimmen darin überein, dass die von ihnen untersuchten Prozesse verschärfend auf die »Polarisierung der Arbeitsverhältnisse« wie der »Klassen und Lebensstil[e]« (Reckwitz 2017: 109) wirken, die zu einer »verstärkten ge-

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sellschaftlichen Hierarchisierung« mit »Folgen für die Strukturierung und Legitimation sozialer Ungleichheit« (Mau 2017: 17; Staab 2019: 148) sowie verschärften Exklusionsmechanismen führen. Diese Momente des Gegenwartskapitalismus, die sich verallgemeinernde Informatisierung der Produktion und damit der Arbeit, die Pluralisierung, Individualisierung und Kybernetisierung der Kulturindustrie, die Landnahme des Sozialen, der Prekarisierung wie die verschärften Verteilungskämpfe um geringer werdende Wachstumsprofite, prägen die kapitalistische Subjektivation. Einige der Elemente, wie etwa die Pluralisierung der Kulturindustrie oder die Landnahme des Sozialen, entsprechen der postfordistischen Phase des Kapitalismus und ihrer differenzierten Integration. Andere, insbesondere die von Reckwitz, Staab und Mau beobachteten Phänomene, die mit der Digitalisierung der Arbeits- wie der Konsum- und Freizeitsphäre einhergehen, legen es nahe, auch für die Subjektivation von einer neuen Phase des Kapitalismus auszugehen. Diese neue Phase soll in dieser Arbeit, im Sinne einer Forschungshypothese, kybernetischer Kapitalismus genannt werden. Ihre Subjektivation ist – der hier vorgelegten Rekonstruktion der Momente des gegenwärtigen Kapitalismus folgend – von Prekarisierung, individualisierter Integration, dem vertieften Zugriff auf affektive Seiten des Subjekts und der Exklusion von Teilen der Bevölkerung geprägt.

Kapitel 3 Die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation – Anrufung und Verdinglichung

a. Das Subjekt im Kapitalismus Wenn die Gegenwartsgesellschaft (auch) als Form des Kapitalismus bestimmt werden kann, steht eine Subjektivationstheorie vor der Aufgabe, die Subjektivation, deren Veränderungen beispielsweise Reckwitz und Mau beobachten, (auch) als kapitalistische Subjektivation zu fassen. Sie muss dann die allgemeinen Aspekte kapitalistischer Subjektivation über die unterschiedlichen Formen oder Phasen des Kapitalismus ebenso erfassen wie die Spezifika der Subjektivation des gegenwärtigen Kapitalismus. Dazu kann sie im Feld der Subjektivierungs- bzw. Subjektivationstheorien auf verschiedene konzeptionelle Vorschläge zugreifen, von denen die an Foucault anschließende Subjektivierungstheorie einerseits und Theorien der Entfremdung und Verdinglichung in der zeitgenössischen Kritischen Theorie andererseits die beiden derzeit dominanten kritischen Perspektiven sind. Beide werden folgend knapp skizziert, um ihnen gegenüber einen dritten, in dieser Arbeit verfolgten Vorschlag abzugrenzen und herauszuarbeiten, der anschließend an Marx sowohl die produktive als auch die repressive Seite kapitalistischer Subjektivation theoretisch berücksichtigt. Die Gegensätzlichkeit zwischen diesen beiden Seiten und damit die Gegensätzlichkeit der Anforderungen der kapitalistischen Basispraktiken Tausch, Lohnarbeit und Recht selbst sind es, die die erste Dimension

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kapitalistischer Subjektivation prägen. Wie im anschließenden vierten Kapitel dargestellt wird, folgt aus diesen Gegensätzen zugleich die Anforderung an eine zweite Dimension kapitalistischer Subjektivation, die diese Gegensätze für die Subjekte bewältigbar macht. Auch wenn bei Klassikern soziologischer Theorie wie Weber (2016) oder Simmel (1989) Studien vorliegen, die Subjektivation in einen inneren Zusammenhang mit der kapitalistischen Wirtschaft gebracht haben, ist die Subjektivationsforschung weitgehend an der Gouvernementalitätstheorie Foucaults (2004) – und anderen poststrukturalistischen Theoretikerinnen (Reckwitz 2008) – orientiert. Sie fasst den Prozess der Subjektivation als Produkt eines, begrifflich weit gefassten, Diskurses. Das Subjekt wird dabei als Ergebnis eines Prozesses, der entsprechend meist Subjektivierung genannt wird, und in der Tradition Foucaults als Effekt gesellschaftlicher Herrschaft verstanden. Im Zuge der Kritik dieser Subjektivierung wird die Form des Subjekts als Ganzes verworfen, ohne es dabei systematisch vom Begriff des Individuums oder des Menschen zu unterscheiden. Foucault selbst setzt etwa das von ihm ersehnte Ende des Subjekts damit gleich, dass der »Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« (Foucault 1974: 462) Die an Foucault orientierten soziologischen Subjektivierungstheorien rekonstruieren über ihren Zugriff auf den Diskurs konkrete Anforderungsgestalten und Leitbilder an Subjekte detailliert und umfassend. Daher orientieren sie sich aber auch vor allem an aktuellen Verschiebungen in diesen Anforderungen, da diese diskursiv sichtbar werden, während ihre gleichbleibende Basis diskursiv wenig thematisiert ist. Wo dezidiert kapitalistische Subjektivation erforscht wird, erscheint sie zumeist als neoliberale Subjektivierung, also als Subjektivierungsweise eines bestimmten Regulationsregimes innerhalb des Kapitalismus. Das trifft auf die von Foucault rekonstruierten kapitalistischen Subjekte in seinen Gouvernementalitätsstudien zu (Stäheli 2008: 301). Es trifft aber auch auf die an sie anschließenden Studien zu, die sich entweder dezidiert mit dem Postfordismus beschäftigen (Opitz 2004), durch ihren Fokus auf zeitgenössische Wandlungsprozesse in den Subjektanforderungen den gesellschaftlichen Wandel im Neoliberalismus thema-

Die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation – Anrufung und Verdinglichung

tisieren (Reckwitz 2012) oder mit dem im Feld der (deutschsprachigen) Subjektivierungstheorien dominant gewordenen Begriff des ›unternehmerischen Selbst‹ (Bröckling 2007) dezidiert beanspruchen, neoliberale Subjektivität darzustellen. Bröckling versteht in seiner gleichnamigen Studie das Subjekt dabei im Sinne Foucaults als Produkt von Macht, die durch das Subjekt iteriert wird (ebd.: 20). Aus dieser Diagnose schlussfolgert er als Emanzipationsperspektive ein Konzept der Entsubjektivierung, dass darin besteht »rechtzeitig aufzuhören – und anderswo von Neuem zu beginnen« (ebd.: 297) und das letztlich unscharf bleibt. Durch ihren Fokus auf die Produktivität der Subjektivation sind die Subjektivierungstheorien sowohl stark darin, die konkrete Gestalten von Subjektivitäten sowie Sets von Anforderungen zu rekonstruieren – auch wenn die empirische Reichweite der rekonstruierten Leitbilder für die Subjektivität im Neoliberalismus teils fraglich bleibt (Petersen 2018) – als auch darin, die ihr unterliegende Verschiebungen in der Weise der Subjektivation zu rekonstruieren, wie etwa die Verschiebung von der Orientierung von einem starren ›Protonormalismus‹ zur perfektionistischen Orientierung an einem ›flexiblen Normalismus‹ (Link 1997). Die diesen Verschiebungen unterliegende Struktur und ihren Effekt auf die Subjektivation dagegen bleibt meist unbeleuchtet und die Theorien haben selbst da, wo sie explizit kapitalistische Subjektivation beschreiben, ein unterkomplexes Verständnis kapitalistischen Wirtschaftens. Ähnliches gilt für Arbeiten, die ebenfalls die Stoßrichtung haben, zeitgenössische Veränderungen der Subjektivitäten und Subjektivationsweisen zu rekonstruieren, dabei aber stärker empirisch vorgehen. Auch sie – wie etwa der Begriff des ›Arbeitskraftunternehmers‹ (Pongratz/Voß 2000), Forschungen zu ›Aktivierung‹ (Lessenich 2008), ›Dividualisierung‹ (Eversberg 2014) oder zu Autonomieanforderungen (Bohmann et.al. 2018) – sind ausgehend von ihrem empirischen Material stark an Veränderungen der kapitalistischen Wirtschaft sowie an konkreten Institutionen orientiert, nicht aber an den unterliegenden gleichbleibenden Strukturen. Mit den dargestellten Subjektivierungstheorien konkurrieren Theorien der Entfremdung und Verdinglichung. Anschließend an eine philosophische Debatte um Entfremdung seit Jean-Jacques Rousseau schlie-

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ßen sie meist an Marx an (Jaeggi 2005: 20–39; Henning 2015a), entweder mit Bezug auf seine Frühschriften und dort die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte oder mit Bezug auf seine Theorie des Warenfetischismus im ersten Band des Kapitals. Der Anschluss an Marx bietet dabei eine Verknüpfung mit einer Theorie des Kapitalismus, die es erlaubt, nicht bloß die Veränderungen in der Subjektivation, die aus einem neuen Regulationsregime resultieren, zu untersuchen, sondern auch die gleichbleibenden Grundlagen kapitalistischer Subjektivation in den Blick zu nehmen. Die Theorien der Entfremdung und Verdinglichung übernehmen dabei – und daran schließt diese Arbeit an – den Begriff des Subjekts und der Subjektivität von Hegel (Marx 1956a: 244). Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Begriffen soll einerseits anzeigen, dass Subjektivität, das heißt die konkrete »Bestimmung des Subjekts« (ebd.), die Form ist, die das Individuum in einer spezifischen gesellschaftlichen Struktur erlangt. In diesem Verständnis von Form und Inhalt muss das Individuum als Subjekt eine Form erlangen – da der Inhalt nicht ohne Form existieren kann –, diese Form variiert jedoch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen. Das Individuum bildet den stofflichen Inhalt des Subjekts, die Subjektivität ist seine gesellschaftliche Form. Zugleich geht das Individuum nicht vollständig in dieser gesellschaftlichen Form auf, über das Subjekt ragt das Individuelle als »unauflösliche[r], empirische[r] Rest« (Eichler 2013: 66) hinaus. Diese Unterscheidung zwischen Subjekt und Individuum bei Marx findet sich weiterentwickelt bei den marxistischen Psychoanalytikern der 1920er Jahre als Unterscheidung zwischen biologischem Schicksal als Organismus, dem Sozialcharakter und dem Individualcharakter (Bernfeld 2012a) und gewann bei Adorno mit dem Begriff des Nichtidentischen zentrale Bedeutung (Schnädelbach 1983). Mit diesem Begriff fasst die Kritische Theorie den Unterschied zwischen Individuum und Subjektivität als Widerspruch, der als eine zentrale Quelle gesellschaftlich bedingten Leides ausgemacht wird. Das Subjekt leidet – am prominentesten formuliert in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung und Adornos Negativer Dialektik – an der Abspaltung der Teile seiner Emotionen und Leiblichkeit, die in Tausch und Lohnarbeit

Die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation – Anrufung und Verdinglichung

nicht in Funktion gesetzt werden können. Für sie – und für Marcuse, zentral in Triebstruktur und Gesellschaft – ergab sich aus der Kritik des Widerspruchs von Subjekt und Individuum auch eine Verbindung zur Kritik des Geschlechterverhältnisses, in dem die moderne Subjektform als männlich identifiziert wurde, während die verdrängten Anteile des Individuums auf Frauen projiziert und so vergeschlechtlicht wurden (siehe Kap 4.c). Für diese Arbeit die Unterscheidung zwischen Individuum, Subjekt und Subjektivität(en) insofern von Bedeutung, als dass die Theorie kapitalistischer Subjektivation weder die gesamte Formation des Subjekts erklären soll – da die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht auf die kapitalistisch organisierte Reproduktion des Lebens zu reduzieren sind – noch die vorgesellschaftlich-leiblichen Einflüsse und die individuellen Spezifika in der Subjektivität konkreter Menschen geleugnet werden, aber der Anteil des Kapitalismus an der Subjektivation bestimmt werden kann. Mit der Differenzierung zwischen Individuum, Subjekt und Subjektivität(en) zielen Theorien, die auf diese Unterscheidung aufbauen im Gegensatz zu poststrukturalistischen Theorien zudem nicht auf die Abschaffung des Subjekts, sondern auf seine Verwirklichung als das Andere der Herrschaft (Beer/Sievi 2010: 9). Die Subjektivität ist durch die Gesellschaft geformt, die »Menschen sind aber nicht nur Vollzugsgehilfen der kapitalistischen bürgerlichen Gesellschaft«, sondern die »Subjektivität weist in einem Moment immer schon über die Verhältnisse bürgerliche[r] Gesellschaft hinaus.« (Zunke 2014: 31) An die Differenzierung zwischen Individuum und Subjekt schließen Theorien der Entfremdung und Verdinglichung an, die mit ihrem jeweiligen Kernbegriff beanspruchen, eine defizitäre Form der Subjektivität zu kritisieren. Der Maßstab der Kritik ist bei Theorien der Entfremdung – anschließend an das Marx’sche Gattungswesen – eine Anthropologie gelingenden Lebens (Henning 2015b: 459–492). Dies ist innerhalb der Gesellschaftswissenschaften der Grund, warum der Entfremdungsbegriff »nahezu aufgegeben worden [ist, da] er die Idee eines ›essentiellen Wesenskerns‹ oder zumindest einer idealen Lebensform vorauszusetzen scheint«, wie es Rosa (2009: 120) formuliert, der sich selbst dennoch für die Verwendung des Entfremdungsbegriffs stark

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macht. Und auch Jaeggi, die mit ihrer Dissertation Entfremdung 2005 die erneute Diskussion des Begriffs anstieß, konstatiert, dass sich »nicht unbefangen« »an die Theorietradition, mit der der Entfremdungsbegriff assoziiert ist« (Jaeggi 2005: 12), anschließen lässt und problematisiert ebenso die implizit in der Formulierung des Entfremdeten enthaltene Behauptung über das ideale Leben. Während Jaeggis Arbeit hier nicht weiter berücksichtigt wird, da sie eine sozialtheoretische Fassung des Entfremdungsbegriffs liefert, die von der konkreten Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse losgelöst wird und so auch nicht mehr mit einer Theorie des Kapitalismus verbunden ist – in ihrem Begriff von Entfremdung spielen Warentausch und Lohnarbeit daher auch nur eine randständige Rolle (Jaeggi 2005) – kann Rosas Arbeit hier als paradigmatisch für anthropologisch fundierte Entfremdungstheorien fungieren. Entfremdung wird von Rosa – schon 2005 in Beschleunigung – als gestörte Selbst- und Weltbeziehung verstanden, in der dem Subjekt keine gelungene Lebenspraxis mehr möglich ist (Rosa 2005: 352–390). In den Folgejahren arbeitet Rosa systematisch an seinem Begriff von Entfremdung (Rosa 2013) und kommt schließlich dazu, im Begriff der Resonanz eine anthropologische Begründung seiner Entfremdungsdiagnose zu formulieren (Rosa 2016). Entfremdung bedeutet nun das Scheitern von gelingenden Weltbeziehungen und damit die verstellte Verwirklichung der menschlichen Resonanznatur unter dem Einfluss gesellschaftlichem Beschleunigungsdrucks (ausführlicher dazu Peters/Schulz 2017); eine Konzeption, die im Hinblick auf die folgende Kritik analog zu Jürgen Habermas Kolonialisierungsthese zu kritisieren ist: Rosa ersetzt in der anthropologischen Grundlegung Interaktion und Verständigung durch Weltbeziehung und Resonanz, formuliert auf dieser Grundlage aber auch eine Kolonialisierungsthese. Durch diese Ersetzung schließt Rosas Entfremdungsbegriff deutlich erkennbarer an Entfremdungskritik in der anthropologisch bzw. ontologisch voraussetzungsreichen Traditionslinie Rousseaus und Martin Heideggers (Jaeggi 2005: 35–40; Henning 2015a: 35–58) als an Marx an. Im Gegensatz zum Begriff der Entfremdung beruht der Begriff der Verdinglichung auf deutlich überschaubareren anthropologischen

Die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation – Anrufung und Verdinglichung

Annahmen: Menschen sind keine Dinge, und diese beiden Arten von Entitäten verlangen eine je eigene Art, sie zu behandeln. ›Verdinglichung‹ kritisiert damit einen Subjektivationsprozess, der diese Differenz zwischen Menschen und Dingen negiert. Der Begriff der Verdinglichung ist zugleich der »›Paradigmakern‹« (Stahl 2011: 735) der Kritischen Theorie, und entsprechend wird folgend neben der Einführung des Verdinglichungsbegriffs durch Lukács vorrangig auf die »Reaktualisierungsversuche der Verdinglichungstheorie« (ebd.: 736) bei Habermas und Axel Honneth eingegangen. Adornos Auseinandersetzung mit dem Verdinglichungsbegriff wird hingegen im Anschluss erörtert, um von dort zu einer Theorie kapitalistischer Subjektivation zu gelangen, die diese nicht – wie die Entfremdungstheorien, aber auch Lukács, Habermas und Honneth – nach dem Modell des Übergriffs versteht. Lukács Begriff der Verdinglichung schließt an den Begriff des Warenfetischismus von Marx an (Jütten 2011b: 719). Unter Warenfetischismus versteht Marx eine Verkehrung, die Subjekte beim Tauschen in »Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht« (Marx 1962: 49) vollziehen. Der Wert der Ware, obwohl er selbst Resultat sozialer Praxis (der Lohnarbeit und des Tauschens) ist, erscheint der Tauschenden als »vorgefundene Voraussetzung seines Tuns« (Heinrich 2011: 207), der Wert wird der Ware quasinatürlich zugeschrieben – eine Verkennung, die sich in weiteren Fetischismen (von Geld, Zins, Kapital, Lohn) fortsetzt. In der Lesweise der Kritischen Theorie ist die Kritik der politischen Ökonomie auch eine Kritik der kapitalistischen Subjektivation, und Lukács begründet diese Lesweise in seinem Aufsatz Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats. In ihm analysiert er die Lohnarbeit unter dem Gesichtspunkt des Warenfetischismus: Unter Verdinglichung versteht Lukács die »Selbstobjektivierung, dieses Zur-Ware-Werden einer Funktion des Menschen« (Lukács 1967: 104) in der Lohnarbeit und schließlich die Selbstobjektivierung des Menschen insgesamt. Die Lohnarbeiterin muss sich als Eigentümerin ihrer Arbeitskraft und diese Arbeitskraft als Ware begreifen, um sie zu verkaufen. Dabei identifiziert sie sich mit ihrer Arbeitskraft und behandelt sich selbst

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als Ware; sie muss, um sich als Ware zu erfassen, von ihren individuellen Qualitäten abstrahieren. Dieser Entqualifizierung entspricht eine Quantifizierung, die mit Kalkulierbarkeit einhergeht (ebd.: 98f.). An die Quantifizierung schließen laut Lukács einige Effekte an: Das Selbst wird in verschiedene, quantifizierbare Teile zerlegt, die jeweils marktgerecht optimiert werden sollen. Dieses »Zerreißen des Subjekts« (ebd.: 100) führt dazu, dass der Mensch als ganzer nicht mehr auftaucht, sondern einzelne, quantifizierbare und optimierbare Fähigkeiten als berechnete Bestandteile des Arbeitsprozesses auftreten, die qualitativ nicht mehr von den Maschinen zu unterscheiden sind. Der ganze Mensch wird maximal als Fehlerquelle sichtbar, er selbst wird zur passiven Zuschauerin gegenüber dem, was ihm durch die Zerlegung wiederfährt (ebd.: 100f.) – und er nimmt sich selbst auch so war. Ausgehend von der Lohnarbeit – wobei Lukács neben der Fabrikarbeit etwa auch die Tätigkeiten von Journalistinnen als verdinglicht analysiert – weitet sich die Verdinglichung aus und erfasst laut Lukács das gesamte gesellschaftliche Leben (ebd.: 103). Die Marx’sche Analyse des Zum-Ding-Werdens sozialer Beziehungen im Wert der Ware wendet Lukács also als auch subjektiv vollzogene Verdinglichung der Akteure dieser sozialen Verhältnisse. Die Kritik dieser Theorie der Verdinglichung bei Habermas und Honneth setzt nun bei ihren Ursachen und ihrem normativen Gehalt an: Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns ist dabei als Rekonzeptionalisierung der Verdinglichungstheorie zu verstehen (Jütten 2011a: 701). Ausgehend von einem positiven Bezug auf die Diagnose Lukács’ setzt er dazu an der Gleichsetzung von Rationalisierung und Verdinglichung bei diesem an (Habermas 1995a: 478–488). Lukács könne – so Habermas – nicht mehr zwischen vernünftiger Rationalisierung und ihrem Umschlagen in widervernünftige Verdinglichung unterscheiden, während Habermas mittels seiner Kolonialisierungstheorie dies zu leisten beansprucht: Die vom ›System‹, etwa der Wirtschaft, auf die alltägliche Praxis der ›Lebenswelt‹ übergreifende instrumentelle Rationalisierung »destruiert die Sittlichkeit einer kommunikativ hergestellten Vernunft« (ebd.: 479). Den Gegensatz von System und Lebenswelt gründet Habermas darauf, dass menschliches Handeln nicht

Die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation – Anrufung und Verdinglichung

einseitig auf Arbeit (als Stoffwechsel mit der objektiven Natur) oder Interaktion (mit anderen Subjekten) zu reduzieren sei (Habermas 1968b: 33). Rationalisierung und damit auch Verdinglichung sei innerhalb der Arbeit unproblematisch und dort, wo Verdinglichung nicht auf die Lebenswelt übergreife, stelle sie dementsprechend keinen Gegenstand der Kritik dar. Gesetzlich und tariflich eingehegt habe die Lohnarbeit keine verdinglichende Wirkung mehr (Jütten 2011a: 709), wie sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch gesamtgesellschaftlich ihre Zentralität verliere. An Marx Maschinenfragment aus den Grundrissen anknüpfend diagnostiziert Habermas, dass »Technik und Wissenschaft zur ersten Produktivkraft [werden], womit die Anwendungsbedingungen für Marxens Arbeitswerttheorie entfallen« (Habermas 1968a: 79f.) und damit auch Lukács Theorie der Verdinglichung veraltet sei. Honneth richtet sich in seiner Verdinglichungsdiagnose sowohl gegen Lukács als auch gegen Habermas. Beiden wirft er vor, keine zureichende normative Basis für ihre Kritik auszuweisen (Honneth 2005: 25). An Habermas anschließend vertritt Honneth die These, dass gelingende Vergesellschaftung ein gewisses Maß Verdinglichung benötige und Verdinglichung in Teilbereichen der Gesellschaft nötig und zu begrüßen sei. Zudem unterscheidet sich Honneths Beurteilung des Rechts von Lukács. Wo das Recht bei Lukács noch Ausdruck der Verdinglichung war, sieht Honneth in der Rechtsperson eine unverdinglichte Form der Subjektivität. Er verbindet dabei den Begriff von Verdinglichung mit seiner Anerkennungstheorie (Honneth 1994) und entsprechend ist verdinglicht, wer nicht als Person anerkannt wird; Verdinglichung ist somit »Anerkennungsvergessenheit« (Honneth 2005: 62), da Anerkennung die stets notwendige Voraussetzung von Wahrnehmung und Interaktion sei. Auch Honneth vertritt daran anschließend eine Kolonialisierungsthese, nach der »[ü]berall dort, wo sich Praktiken des puren Beobachtens, Registrierens oder Berechnens von Menschen gegenüber ihrem lebensweltlichen Kontext verselbständigen, ohne noch in rechtlichen Beziehungen eingebettet zu sein, […] jene Ignoranz gegenüber der vorgängi-

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gen Anerkennung [entsteht], die hier als Kern aller intersubjektiven Verdinglichung beschrieben worden ist.« (Honneth 2005: 101) Somit ist auch für Honneth die verrechtlichte Lohnarbeit kein Gegenstand der Kritik und Honneths Verdinglichungskritik »it no longer view itself as a critique of socio-political relations in capitalism« (Chari 2010: 593–594). Habermas und Honneths kritisieren beide an Lukács, dass Verdinglichung bei ihm auf der normativen Basis eines Ideals wahrer Praxis beruht (Fechner 2012: 226–230). Lukács konzipiere Verdinglichung als Übergriff auf einen Menschen, der durch die Verdinglichung zerlegt, entqualifiziert usw. wird. Das Problem an ihrer Kritik ist dabei, dass sie auch ihre eigenen Theorien trifft. Habermas und Honneth – wie auch Rosa mit seiner Theorie der Entfremdung – konzipieren Verdinglichung als Übergriff einer pathologischen Form auf vorhandene, normativ wertvolle menschliche Praxis, formulieren also eine »Übergriffstheorie« (Schulz 2016: 54), in dem ein Konflikt im Subjekt daraus resultiere, dass kapitalistische Subjektivation in Form der Verdinglichung auf einen nichtkapitalistischen Subjektteil übergreift. Statt also kapitalistische Subjektivation ausgehend von Foucaults Gouvernementalitätstheorie oder einer Übergriffstheorie der Entfremdung bzw. Verdinglichung aus zu theoretisieren, möchte diese Arbeit eine Lesweise der Subjektivationstheorie bei Marx (und Lukács) vorschlagen, die weder einen emphatischen Bezug auf das Subjekt aufgibt noch seine kapitalistische Subjektivation zu einer bloß sekundären Pathologie erklärt. Gleichzeitig soll so sowohl die produktive Seite der Subjektivation, die die poststrukturalistischen Theorien betonen, wie die repressive Seite, die der Verdinglichungsbegriff fasst, theoretisch eingefangen und in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden. Ausgangspunkt für eine solche Lesweise ist dabei Adornos LukácsRezeption. Ihr stellt Adorno Lukács eine Verdinglichungsdiagnose entgegen, in der Verdinglichung als Folge gesellschaftlicher Trennungen verstanden wird, auf denen der Kapitalismus beruht. Adorno entwickelt seine Verdinglichungsdiagnose ebenfalls in einer Kritik an Lukács, bleibt dabei aber dessen Ausgangspunkt verbunden, Verdingli-

Die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation – Anrufung und Verdinglichung

chung aus dem Warenfetischismus kapitalistischer Gesellschaften zu erklären. Anstelle der Idee einer wahren menschlichen Praxis und ihrer Verdinglichung fokussiert Adorno jedoch das Verhältnis von Subjekt und Objekt (Quadflieg 2011: 705). Der Mensch ist dabei stets beides, Subjekt und Objekt – ersteres durch sein Reflexions- und Freiheitsfähigkeit, letzteres durch seine Leiblichkeit, deren Bedürfnisse und Verletzlichkeit (Adorno 2003d: 750) – und Verdinglichung ist ein Mechanismus und Effekt der Vereinseitigung dieser Doppelseitigkeit. Adornos Theorie der Verdinglichung zufolge werden im Kapitalismus und seinem Warenfetisch diese beiden Seiten des Individuums voneinander getrennt. Im Tausch erscheinen Menschen als vertragsfähige Subjekte, die von ihrer eigenen Leiblichkeit losgelöst zu sein scheinen. Sie müssen ihre Leiblichkeit verdrängen, zum einen, da auf dem Markt die Mittel zur Bedürfnisbefriedigung nur ge- und verkauft, aber nicht konsumiert werden können, zum anderen, da den Subjekten ihre eigenen Bedürfnisse in Gestalt der Waren als Objekte gegenübertreten die sie erst kaufen können müssen, um sie zu befriedigen. Als Subjekt muss das Individuum mit sich selbst identisch sein, d.h. seine Bedürfnisse kennen und sie seinem Willen wie seinen materiellen Konsummöglichkeiten unterwerfen – und alles, was dieser Identität nicht entspricht, ausblenden (Adorno 2003e: 69–75). Der Tausch wirkt dabei nicht bloß repressiv auf das Subjekt, indem er erfordert, die nichtidentischen Regungen zu verdrängen, sondern auch produktiv: Der Tausch fordert als Notwendigkeiten bestimmte »objektive Gedankenformen« (Marx 1962: 90), die von den Akteuren selbst erzeugt werden, aber – wie etwa der Warenfetisch – nicht als solche Produkte eigener Aktivität sondern als deren Voraussetzung erscheinen. Da der Tausch, wie auch die Lohnarbeit, von den einzelnen Individuen als Bedingungen ihres Überlebens immer schon vorgefunden wird, erscheinen auch die für sie notwendigen ›objektiven Gedankenformen‹ als Voraussetzung. Die Individuen müssen sich diesen Voraussetzungen anpassen, um sich an den Praktiken, die der Kapitalismus voraussetzt, beteiligen zu können. Mit Althusser, der Ideologie als Begriff von Praktiken, und nicht bloß von Ideen, untersucht hat, kann diese Anpassung mit dem Kon-

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zept der »Anrufung« (Althusser 2010: 88) gefasst werden: »Jede Ideologie ruft die konkreten Individuen als konkrete Subjekte an« sie funktioniert, indem »sie unter den Individuen (sie rekrutiert sie alle) Subjekte ›rekrutiert‹ oder die Individuen (sie transformiert sie alle) in Subjekte ›transformiert‹« (ebd.). Althusser arbeitet damit heraus, dass das, was ein Subjekt ausmacht davon bestimmt ist, von welcher Ideologie es angerufen wird: die Anrufung wirkt produktiv, sie bringt das Subjekt erst hervor. Er korrigiert damit die Theorie der Verdinglichung an einem zentralen Punkt, da die Subjektivation nach Althusser kein Übergriff auf ein schon vorhandenes Subjekt ist, sondern dieses durch die Anrufung erst hervorbringt. Zugleich unterwirft die Anrufung das so formierte Subjekt den Anforderungen, die in der Anrufung enthalten sind und erlaubt sich und andere Subjekte als Subjekte anzuerkennen (ebd.: 96). Die kapitalistische Subjektivation verfügt also über eine produktive und eine repressive Seite: Einerseits macht sie die Individuen zu Subjekten, die erst so innerhalb der vorgegebenen Praxisformen handlungsfähig sind – eine Handlungsfähigkeit, die nicht nur das Überleben ermöglicht, sondern auch über normative Überschüsse verfügt, wie später noch deutlich werden soll. Sie erzwingt, andere und sich selbst als Subjekte zu begreifen und naturalisiert damit die Anforderungen kapitalistischer Praxis und ihrer ›objektive Gedankenformen‹. Andererseits richten diese Anforderungen die Individuen einseitig zu und beschädigen sie; eine Beschädigung, mit dem Begriff der Verdinglichung thematisiert wird. Der Kapitalismus ist aus diesen theoretischen Perspektiven davon geprägt, eine Gesellschaft der Trennungen und Gegensätzen zu sein. Marx betont diese Trennungen im Kapital vor allem in Hinsicht der gesellschaftlichen Reproduktion, die im Kapitalismus durch Gegensätze hindurch geschieht: Den Klassengegensatz von Arbeiterinnen und Kapitalistinnen und der konkurrenzförmigen Gegensätze zwischen den Einzelkapitalen, aber etwa auch der Gegensatz zwischen der Produktions- und der Zirkulationssphäre oder – im zweiten Band des Kapitals – den zwischen den verschiedenen Abteilungen des Kapitals sowie – in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie und Zur Judenfrage – den Ge-

Die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation – Anrufung und Verdinglichung

gensatz zwischen Ökonomie und Politik und damit zwischen Privatem und Öffentlichem. Die Kritische Theorie nimmt daran anschließend den Gegensatz von Arbeit und Freizeit sowie Liebe und Freundschaft als (scheinbare) Gegenwelt zur kapitalistischen Gesellschaft in den Blick. Sie eröffnet so auf Grundlage der Kritik der Spaltung der Subjekt- und Objektseite des Individuums in abstraktes Subjekt und beherrschtem Körper – am prominentesten formuliert in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung und Adornos Negativer Dialektik – einerseits und der Kritik der Spaltung des Leibes in den Körper als enterotisiertes Arbeitsinstrument und das Genital als Fokuspunkt der Sexualität – zentral in Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft – einen Einbezug des Geschlechterverhältnisses in die Analyse des Kapitalismus als Gesellschaft der Trennungen. Die das Individuum und seinen Körper betreffenden Spaltungen, die notwendig sind, damit das Subjekt sich entsprechend der Anforderungen kapitalistischen Tauschs als autonomes Subjekt und den Anforderungen kapitalistischer Lohnarbeit als instrumentelles Objekt begreifen kann, werden vermittels der Projektion der Naturseite des Menschen auf Frauen vergeschlechtlicht, um so den Mann als bürgerliches Subjekt erscheinen zu lassen (Umrath 2019). Hierbei wird zugleich deutlich, dass mit den Trennungen des Kapitalismus auch Auf- und Abwertungen einhergehen, die für den Kapitalismus funktional sind. Die Identifikation der Frau mit der Natur, die es erlaubt, dass der Mann als abstraktes, von seiner Natur unabhängiges Subjekt erscheint, erfordert zugleich, die faktische Abhängigkeit von den Sorgetätigkeiten der Frau zu verschleiern, indem diese abgewertet (Horkheimer/Adorno 1988: 264) und etwa nicht als produktive Arbeit anerkannt werden. Die Spaltung und Abwertung findet dabei im Kapitalismus gegenüber alledem statt, was für die kapitalistische Verwertung nicht funktional ist, etwa Sorgetätigkeiten, die sich nicht ausreichend verwerten lassen oder bestimmten Emotionen wie etwa der Traurigkeit, die selbst unter den Bedingungen emotionaler Arbeit nicht als affektive Arbeit fungieren können. Roswitha Scholz hat für diesen systematischen Zusammenhang den Begriff der »Wert-Abspaltung« (Scholz 2011) eingeführt, um deutlich zu machen, dass die Abspal-

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tung des Nicht- oder Noch-nicht-Verwertbaren ebenso ein Strukturprinzip des Kapitalismus ist wie die Inwertsetzung des Verwertbaren. Die durch die Abspaltung negativ bestimmten Elemente finden dann etwa im Bild der Weiblichkeit – als fürsorgend, emotional, naturnah, schwach usw. – ihre positive Bestimmung, die entsprechend der Veränderungen der Integration etwa von Sorgetätigkeiten in den Kapitalismus einem Wandel unterworfen sind und bilden so die Grundlage geschlechtsspezifischer Charaktere (siehe Kap. 4.c). Der Kapitalismus ist aber auch über seine interne, gegensätzliche Struktur in Sphären (Produktion-Zirkulation, Arbeit-Freizeit, Ökonomie-Politik, Öffentlich-Privat) und seine systematische Verknüpfung mit Geschlecht durch die vergeschlechtlichte Wert-Abspaltung hinaus durch Trennungen strukturiert. Schon Marx betonte die Rolle der Kolonialisierung und Sklaverei für die Entstehung des Kapitalismus im Rahmen seiner Analyse der sogenannten ursprünglichen Akkumulation (Marx 1962: 779–787) und Luxemburg untersucht in Die Akkumulation des Kapitals, ihrer Studie zum Imperialismus, dass die sogenannte ursprüngliche Akkumulation als eine andauernde zu verstehen ist, und der Kapitalismus ein dauerhaftes Verhältnis zu nicht-kapitalistischen Produktionsweisen eingeht. Entscheidend hierbei ist, dass nicht-kapitalistische Produktionsweisen nicht einfach nur vom Kapitalismus eingesaugt werden, sondern Luxemburg herausarbeitet, wie sie als inneres Außen in den Kapitalismus integriert werden und neue »seltsamst[e] Mischformen« (Luxemburg 1990: 312) wie Plantagenwirtschaft und Integration von Fronarbeitsprodukten in den Weltmarkt entstehen, die auf gewaltsamer Aneignung beruhen. Die Möglichkeit, die Analysen der internen Spaltungen und Abwertungen in der Kritischen Theorie mit der Analyse Luxemburgs der andauernden ursprünglichen Akkumulation und der Angewiesenheit des Kapitalismus auf einem (inneren) Außen zu verknüpfen, bieten neuere Landnahmetheorien, wie sie etwa von David Harvey (2004) oder Dörre (2009) vorgelegt wurden. Sie beschreiben die Prozesse ›innerer Landnahmen‹, wenn etwa staatlich finanzierte Infrastruktur privatisiert wird oder durch veränderte Pflegegesetzgebungen private Sorgetätigkeiten in Wert gesetzt werden, ohne gänzlich kapitalisiert zu werden (siehe Kap. 2.d).

Die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation – Anrufung und Verdinglichung

Auch im ›inneren Innen‹ der kapitalistischen Produktion mit ihrer bezahlten Arbeit ist und war der Kapitalismus immer differenziert strukturiert, und entsprechend ist die an Marx anschließende Klassentheorie nicht bloß eine Theorie des Klassengegensatzes zwischen Kapital und Arbeitenden, sondern auch eine Theorie der Klassenlage (van der Linden 2018). Die Theorie kapitalistischer Subjektivation im Anschluss an Marx fokussierte jedoch zunächst die Gemeinsamkeiten, die die Subjektivation durch Tausch, Lohnarbeit und Recht auszeichnet. Erst mit einer Theorie der zweiten Dimension der kapitalistischen Subjektivation, des Sozialcharakters, wurden mit dem Begriff des »sozialen Ort[s]« von Siegfried Bernfeld (2012a) die Unterschiede in der kapitalistischen Subjektivation nach Klassenlage zum Gegenstand der Theorie. Der Prozess der inneren Trennung und Abwertung im Kapitalismus ist dabei nicht nur vergeschlechtlicht und nach Berufstätigkeiten strukturiert: Über rassistische Zuschreibungen, die in bestimmten Aspekten, etwa der Zuschreibung von höherer Emotionalität und Naturnähe, den sexistischen Zuschreiben entsprechen, sind die kapitalistischen Spaltungen auch rassifiziert (Kreckel 1989; Bommes 2004). Der Kapitalismus ist also nicht bloß als gegenüber den Individuen gleichgültige Wirtschaftsweise zu verstehen, sondern als in seiner konkreten Gestalt als Gesellschaft der Trennungen, die zugleich Herrschaftsachsen strukturell mit dem Kapitalismus und seiner Reproduktion verkoppeln. Der Kapitalismus ist nie rein im Sinne der Marx’schen Beschreibung seines ›idealen Durchschnitts‹, sondern immer »dirty capitalism« (Buckel 2015) und als solcher in seiner Gegenwart zu verstehen. Diese Trennungen und Abwertungen bezieht Nancy Fraser auf die Wandlungsprozesse des Gegenwartskapitalismus und rekonstruiert, dass der Übergang von integriertem zu differenzierten Kapitalismus mit einer Verschiebung der Grenze zwischen verwerteter und abgespaltener Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens, also mit einer neuen Welle der Landnahme einherging (Fraser 2017). Sie geht dabei ebenfalls von der andauernden ursprünglichen Akkumulation durch Enteignungen aus und betont, dass die Voraussetzung für die Akkumulation durch Enteignung – statt bloß durch die Ausbeutung in der

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Lohnarbeit – im intergierten Kapitalismus ein nichtanerkannter politischer Status, also etwa der Ausschluss von der Staatsbürgerschaft, war. In ihrer Kapitalismusanalyse gerät damit die Rolle des Staats einerseits, die Rolle von Rassifizierungen als Begründungen für die Exklusion von Rechten andererseits in den Blick (Fraser 2016). Über den Blick auf die – sexistischen und rassistischen – Begründungen von Exklusion gelingt es ihr, die Kämpfe um Anerkennung, wie sie etwa Honneth zur Voraussetzung seiner Theorie macht (Honneth 1994), auf den Kapitalismus und seine Trennungen zurück zu beziehen (Fraser/Honneth 2003). Während diese Anerkennungskämpfe mit dem Ziel der Integration den organisierten und integrierten Kapitalismus prägten, indem auch tatsächlich zunehmende Teile der Bevölkerung in gleicher Form – über gewerkschaftlich erkämpfte, verrechtlichte Lohnarbeit, parlamentarische Demokratie, Massenkonsum, Nationalismus und scheinbar klassenlose Kulturindustrie (siehe Kap. 2.c) – in den Kapitalismus integriert wurden, wenn auch die ungleiche Verteilung von Ressourcen weiterhin sexistisch und rassistisch strukturiert war, »erleben wir seit den achtziger Jahren eine Umkehrung dieser Entwicklung.« (Dörre 2006: 7) Mit Robert Castel (2000) argumentiert Dörre hinsichtlich der Integration, das im differenzierten Kapitalismus das Verhältnis von Subjekt und Kapitalismus nicht mehr tendenziell gleichförmig für alle lohnabhängigen Teile der Bevölkerung gleichermaßen erfolgt, sondern sich drei sogenannte Zonen1 herausbilden: »Die Zone der Entkoppelung umfasst die von regulärer Erwerbsarbeit dauerhaft Ausgeschlossenen. Die oberen und mittleren Ränge der Arbeitsgesellschaft sind noch immer in einer – allerdings schrumpfenden – Zone der Integration mit formal gesicherten Normbeschäftigungsverhältnissen angesiedelt. Dazwischen expandiert eine Zone der Prekarität mit heterogenen Beschäftigungsformen, die sich dadurch

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Eine ähnliche Dreiteilung schlägt etwa auch Alain Touraine vor, demnach »30 Prozent […] völlig desintegriert, 30 Prozent […] prekär gefährdet [sind und] nur 40 Prozent […] in gesicherten Verhältnissen [leben].« (Heitmeyer 2018: 40)

Die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation – Anrufung und Verdinglichung

auszeichnet, dass sie oberhalb eines kulturellen Minimums nicht dauerhaft Existenz sichernd ist.« (Dörre 2006: 8) Dörre differenziert diese drei Zonen noch einmal in Unterzonen hinsichtlich der »(Des-)Integrationspotenziale von Erwerbsarbeit«: Die Zone der Integration umfasst vier Unterzonen. Die stabile »Gesicherte Integration« und die »Atypische Integration«, die mit hoher Selbsttätigkeit und Eigenengagement verbunden wird, bilden dabei die zwei Unterzonen aus subjektiv gelingender Integration, während die Unterzonen der »Unsichere[n]« und »Gefährdete[n] Integration« Zonen der Formen gefährdeter Integration beschreiben (Dörre 2006: 8). Die Zone der Prekarität unterteilt er in drei Unterzonen, betont aber, dass die Situation in ihr »subjektiv höchst unterschiedlich bewertet« wird, während die Zone der Entkoppelung in zwei Unterzonen unterteilt ist, die Unterzone der »Überwindbarer[n] Ausgrenzung« (ebd.) und die Unterzone der gänzlich Exkludierten. Für diese Arbeit wird dieser Punkt zentral, da der gegenwärtige Kapitalismus nicht mehr davon geprägt ist, dass es eine allgemeine Form der Integration in den Kapitalismus gibt,2 sondern, dass abhängig vom sozialen Ort unterschiedliche Integrationsweisen vorhanden sind. Der Kapitalismus seit den 1970er Jahren ist so als differenzierter Kapitalismus zu verstehen und erfordert entsprechend eine differentielle Theorie kapitalistischer Subjektivation, und die kapitalistische Subjektivation des integrierten Kapitalismus trifft auf zunehmend kleinere Teile der Bevölkerung, in der Zone der Integration, zu. Unsichere Arbeitsverhältnisse, der Abbau des Wohlfahrtstaats, aber auch die Ausdehnung der Akkumulation durch Enteignung auf größere Teile der Bevölkerung, etwa über den Mechanismus der Privatverschuldung (Fraser in Fraser/Jaeggi 2018: 103), dehnen die relative Exklusion von dieser Subjektivation aus, auch wenn die Rassifizierung weiterhin die zentrale Strukturierungsform der Enteignung und damit der Prekarisierung 2

Die auch zu Hochzeiten des integrierten Kapitalismus nie universell war, wie die Kritische Theorie etwa in ihrem Randgruppentheorem reflektiert (Marcuse 1984b: 144; Adorno 2008: 53), aber die für diese Phase des Kapitalismus eine zutreffenden Universalisierungstendenz beschreibt.

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bildet (ebd.: 104). Inwiefern sich diese differenzierte Subjektivation im Zuge der Entwicklungen, die den Übergang zu einem kybernetischen Kapitalismus prägen, verändert, soll im Zuge des Fortgangs dieser Arbeit untersucht werden. Dazu soll zunächst die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation in und durch die Basispraktiken des Kapitalismus – den Äquivalententausch von Geld gegen Ware, die Lohnarbeit und das bürgerliche Recht – untersucht werden. Diese erste Dimension, in der das Subjekt reflexiv, aber unbewusst auf die Anforderungen der genannten grundlegenden Praktiken des Kapitalismus reagiert, wird ausgehend von den Bestimmungen Marx’ im ersten und am Anfang des zweiten Kapitels des ersten Bandes des Kapitals und an ihn anschließenden Theorien Lukács, Isaak I. Rubins und des Rechtstheoretikers Jewgeni B. Paschukanis dargestellt. Dabei soll deutlich werden, wie ihre gegensätzlichen Anforderungen die kapitalistische Subjektivation als widersprüchliche Subjektivation aus produktiver Anrufung und repressiver Verdinglichung konstituieren. Die Subjektivation ist weiterhin geprägt von der Selbsterfahrung des Subjekts als Privateigentümerin (im Warentausch) und als Ware (auf dem Arbeitsmarkt) bzw. Objekt eines fremden Willens (in der Lohnarbeit). Die daraus resultierenden Gegensätze stehen aber für das jeweilige Subjekt in einem unterschiedlichen Verhältnis, je nachdem wie es in und über diese Praktiken integriert ist – etwa weil auf Märkten ein unterschiedliches Maß an Autonomie abhängig von unterschiedlichen finanziellen Ressourcen realisiert werden kann oder weil die konkrete Form der Arbeit einen verschiedenen Grad an subjektiven Eigentätigkeiten wie etwa Kreativität erfordert. Die Differenzierung der Integration nach Zonen, wie sie Castel und Dörre vorschlagen, erlaubt es, theoretisch zu fassen, dass spätestens im differenzierten Kapitalismus die Unterschiede nun so weit auseinanderfallen, dass in der zweiten Dimension kapitalistischer Subjektivation unterschiedliche Bewältigungswege – verschiedene Sozialcharaktere – für Subjekte verschiedener Zonen naheliegend sind und somit nicht mehr von einem einzelnen dominanten Charakter des gegenwärtigen Kapitalismus gesprochen werden kann (siehe Kap. 4.d).

Die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation – Anrufung und Verdinglichung

b. Subjektivation und Widerspruch im Tausch Der Tausch, oder genauer der Äquivalententausch von Ware gegen Geld, ist die grundlegende Praxis des Kapitalismus und als solche auch der Ausgangspunkt für die Theorie kapitalistischer Subjektivation. Einerseits sind alle Menschen im Kapitalismus mittel-, die meisten aber unmittelbar, in sie involviert, da die Reproduktion des individuellen Lebens nahezu unmöglich autark und ohne Arbeitsteilung erfolgen kann. Andererseits ist sie grundlegend, weil die anderen Basispraktiken auf ihr beruhen. Folgerichtig bildet auch die Analyse des Tauschs und seiner Subjektivation bei Marx – der berühmte Abschnitt zum Warenfetischismus – den Angelpunkt der rekonstruierten Theorien zur ersten Dimension kapitalistischer Subjektivation. Im Kapital analysiert Marx, ausgehend von der Trennung der Arbeiterinnen von den Mitteln zur Produktion ihrer Lebensmittel, Tausch (und Lohnarbeit) als Lebensnotwendigkeiten. Als solche erscheint der Tausch und seine Anforderungen den Menschen, obwohl sie sie erst in ihrer praktischen Beteiligung herstellen, als Voraussetzung ihres eigenen Lebens und damit als Eigenschaft der Praxis und ihrer materiellen Träger – der Waren und des Geldes – statt als Menschgemachtes. Um diesen Zusammenhang zu beschreiben verwendet Marx den Begriff des Fetischs, analog zum religiösen Fetisch, dessen Produktcharakter ebenfalls verkannt wird. Neben den Verkennungen, die die Ware und das Geld betreffen, begründet der Warenfetisch eine andere, die Subjekte selbst betreffende Verkennung. Dadurch, dass Wert den Waren zugeschrieben wird, statt ihn als gesellschaftliches Verhältnis zu verstehen, erscheinen auch die Subjekte – als Produzentinnen, Wareneignerinnen und Konsumentinnen – als voneinander Unabhängige, die sich erst im Akt des Tauschens vergesellschaften. Der einzelne Mensch erscheint sich selbst und anderen also als Grundeinheit der Gesellschaft. Im Anschluss an den Warenfetischismus untersucht Marx am Anfang des zweiten Kapitels des ersten Bands des Kapitals dann den Kern der Tauschsubjektivation: Das Subjekt wird im Tausch als frei, selbstidentisch, autonom, gleich und abstrakt angerufen. Diese Anrufung resultiert aus den Anforderungen des Marktes. Frei müssen die Subjekte

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auf dem Markt insofern sein, als das sie sich »zueinander als Personen verhalten [müssen, P.S.], deren Willen in jenen Dingen haust« und die sich »nur vermittelst eine[s] beiden gemeinsamen Willensakts sich die Fremde Ware aneigne[n]« (Marx 1962: 99) können. Subjekte müssen also Trägerinnen eines eigenen, freien Willens sein und müssen die Freiheit haben, diesem Willen gemäß Tauschakte eingehen oder auch verweigern zu können. Zudem müssen sie insofern als Trägerinnen eines eigenen Willens erscheinen, als dass ihre Willensakte verlässlich erscheinen müssen – sie müssen also als Subjekte auftreten, die sich ihre eigenen Triebregungen unterwerfen können, um so die praktische Kontinuität des Willens über die Zeit zu gewährleisten. Mit der Vorstellung des Subjekts als mit freiem Willen ausgestattet ist schon die praktische Abstraktion von den eigenen Triebregungen verbunden; das Subjekt erscheint schon als selbstidentisches Subjekt. Selbstidentität über die Zeit benötigt das Subjekt, weil Tauschakt und Konsum zeitlich auseinanderfallen (Sohn-Rethel 2018b: 234f.), der Tausch also zur Realisierung zukünftiger Bedürfnisbefriedigung dient. Selbstidentität zu einem Zeitpunkt benötigt es, da im Individuum widerstrebende Bedürfnisse bestehen können, die im Rahmen einer Willensentscheidung vereindeutigt werden müssen. Die Selbstidentität begründet also die Autonomie, insofern das freie Subjekt nicht heteronom von seinen Trieben bestimmt sein darf, um im Tausch funktionsfähig zu sein. Im Tausch erscheinen die Menschen aber auch als voneinander autonom, indem sie sich »wechselseitig als Privateigentümer anerkennen« (Marx 1962: 99), also die vorgängige wechselseitige Abhängigkeit in der arbeitsteiligen Produktion ausblenden müssen. Dabei verknüpft Marx Anerkennung und Privateigentum und macht so deutlich, dass Kämpfe um Anerkennung Kämpfe gegen Heteronomie sind, die auf die Integration in die kapitalistische Gesellschaft zielen – und folgerichtig von Ausgeschlossenen geführt werden. Schließlich erscheinen die Subjekte im Tausch nur als »Repräsentanten der Ware und daher als Warenbesitzer« (ebd.: 100) und sind als solche einander gleich, sofern sie über Waren oder Geld verfügen, unabhängig von ihren individuellen Eigenarten. Wie schon ausgeführt,

Die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation – Anrufung und Verdinglichung

kommt diese Gleichheit nur unmittelbar zur Geltung, während mittelbar die ungleichen Ausstattungen mit Ressourcen durchaus in Bezug auf Eigenschaften des Individuums, etwa Geschlecht oder Ethnizität, strukturiert und nachträglich legitimiert werden. Zugleich bildet die Begründung der kapitalistischen Subjektivation auf Gleichheit aber die normative Kraft des Universalismus, der von Kämpfen gegen die strukturellen Ungleichheiten beansprucht wird. Füreinander treten Menschen so nur als abstrakte Subjekte, als »ökonomische Charaktermasken« auf, die »die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse« (ebd.: 100) sind. Die Subjekte erscheinen einander also nicht nur als gleich, sondern auch als gleichgültig, was ihre individuellen Eigenschaften angeht, von denen der Tausch und seine Subjektivation abstrahiert. Von den Ungleichheiten, sei es unterschiedlichen Fähigkeiten oder Bedürfnissen, wird abgesehen und die Gleichheit wird als formale Gleichheit so zu einer Reproduktionsform realer Ungleichheit. Die Tauschsubjektivität, die Marx rekonstruiert, ist von einer Reihe von Widersprüchen geprägt, die Rubin (2010) in seinen Studien zur Marxschen Werttheorie herausarbeitet. Einerseits steht die reale Heteronomie durch die Abhängigkeit von der arbeitsteiligen Produktion im Widerspruch zur formalen Autonomie der Tauschsubjektivität. Der Anspruch, sich als freies, autonomes und gleiches Subjekt im Tausch zu realisieren gerät in Widerspruch damit, dass der Tausch als notwendige Bedingung des eigenen Lebens vorgefunden wird, ohne dass über diese Bedingung ebenfalls frei, autonom und gleich entscheiden werden kann (Rubin 2010: 225). Andererseits gerät der Tausch als scheinbar punktuelle und sekundär zur eigenen Existenz eingegangene Handlung in Widerspruch zu seiner realen Kontinuität, da der Tausch als andauernde Zirkulation notwendig für die individuelle und gesellschaftliche Reproduktion ist (ebd.: 231) – die Bedürfnisse werden durch einen erfolgreichen Tauschakt immer nur temporär gestillt. Der Antwort auf die Anrufung als Subjekt durch den erfolgreichen Tausch steht die Objektivierung durch seine Bedingungen, über die nicht verfügt werden können, sowie durch die eigene Leiblichkeit, die ständig neues Tauschen erzwingt, entgegen.

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Dieser Widerspruch betrifft alle Subjekte im Kapitalismus, wenn auch auf hoch unterschiedliche Weise, abhängig von den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen: In der Zone der Integration reichen sie im Regelfall, um die Bedürfnisse ohne große Verzögerung und ohne entscheidendes Abwägen zwischen ihnen zu stillen, und so lässt sich die Anrufung als Subjekt immer wieder realisieren und die Verdinglichung kann zwar nicht aufgehoben, aber doch immer wieder durch neue Kaufakte suspendiert werden (Bauman 2009). Ein Versprechen, dass in der Bewerbung von Konsumprodukten häufig aufgenommen wird, indem sie einen normativen und affektiven Überschuss gegenüber dem rein funktionalen Gebrauchswert verspricht. Adorno beschrieb dieses Phänomen schon in den 1930ern in Der Fetischcharakter der Musik und die Regression des Hörens und versuchte es in seiner These des ›Konsums des Tauschwerts‹ zu fassen, da er beobachtete, dass bei Musik nicht ihre klangliche Gestalt, sondern ihre am Marktwert gemessene Beliebtheit die Bedürfnisse der Konsumenten befriedigte (siehe Kap. 2.c). Das Zur-Ware-Werden von Kultur ist im Massenkonsum tendenziell verallgemeinert, da den Waren und ihren Verpackungen eine ästhetische Gestaltung gegeben wird, die »bei dem Betrachter den Besitzwunsch […] erregen und ihn so zum Kauf […] veranlassen« (Haug 2009: 23) soll, wie es W.F. Haug in der Kritik der Warenästhetik formuliert. »Diese Anreize können nach dem Kauf Teil des Gebrauchswerts werden – etwa, wenn man mit der Marke seine Autos angibt« (Reitz 2008: 9) und entwickeln so, wie insbesondere der Rolle der Marke bei Textilien zu beobachten ist, einen eigenständigen Gebrauchswert, der über die Anreizfunktion hinausgeht. Diese »Affektgüter« (Reckwitz 2017: 113) nehmen im kybernetischen Kapitalismus eine zentrale Bedeutung in der Subjektivation ein. An diese Bedeutung schließt Gernot Böhme an, indem er von einem »Inszenierungswert« (Böhme 2016: 27) spricht und mit ihm die Unterscheidung zwischen Bedürfnissen und Begehrnissen verbindet. Begehrnisse sind dabei Bedürfnisse, »die dadurch, dass man ihnen entspricht, nicht gestillt sind, sondern vielmehr gesteigert werden.« (Böhme 2016: 101). Mit dem Begriff der Begehrnisse versucht Böhme zu fassen, dass das Subjekt sich tatsächlich im Tausch als frei und autonom realisieren

Die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation – Anrufung und Verdinglichung

kann – sofern ausreichend Geld für einen andauernden und subjektiv nicht entscheidend eingeschränkten Konsum zur Verfügung steht, das Bedürfnis also zum Begehrnis wird und seine Befriedigung auf Dauer gestellt wird. Im Kaufakt tritt gestützt von der Warenästhetik eine vorgeschossene Befriedigung des Bedürfnisses ein, da in der Kaufentscheidung und -fähigkeit schon Autonomie realisiert wird. Der Vorschuss wird im Konsum des Produkts – zumindest potenziell – nicht vollständig eingeholt, etwa da seine Qualität nicht dem in der Werbung Versprochenen entspricht, insbesondere da, wo Qualitäten ohne konkreten Bezug zum Gebrauchswert des Produkts versprochen wurden. Wenn etwa ein Automobil Freiheit verspricht, die nicht in seiner technischen Gestalt eingelassen ist, oder ein Bodyspray Attraktivität, die sein Geruch ebenso wenig bewirken kann, ist eine gewisse Enttäuschung im Konsum erwartbar. Für die Phase zwischen Kauf und der relativen Enttäuschung im Konsum ist das Bedürfnis jedoch befriedigt und darin der subjektive Widerspruch temporär aufgehoben. Der Konsum schiebt also den Widerspruch auf und entlastet so von ihm – als Konsumismus potenziell auf Dauer, sofern ausreichend Geld für den andauernden Konsum vorhanden ist. Im kybernetischen Kapitalismus gewinnt der Inszenierungswert darüber hinaus eine weitere Funktion: Die gelingende Autonomierealisation im Konsum war schon vor der Digitalisierung durch ihre soziale Anerkennung stabilisiert, die das Subjekt für die Präsentation von Markenwaren, wie Kleidung, Automobile usw., erlangen konnte. Für diese, bisher mehr oder weniger diffuse oder auf den sozialen Nahraum begrenzte, Anerkennung bieten im kybernetischen Kapitalismus soziale Netzwerke dezidierte Funktionen – Likes für Bildinszenierungen, auf denen mit der über das Smartphone verallgemeinerten Verfügbarkeit von Fotokameras das scheinbar alltägliche Leben in Selbstportraits inszeniert wird (Möhring 2020). Diese Funktionen konstituieren dabei aber nicht nur eine Möglichkeit, Autonomie über den Inszenierungswert zu realisieren und liefern die Absatzgrundlage für neue Smartphone-Generationen, deren technische Neuerungen weitgehend über leistungsstärkere Kameras und Displays sowie zugehörige Akkumulatoren gewährleistet werden, sondern bilden auch ein

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zentrales Motivationselement für Prosumer (siehe Kap. 2.b). Um die Datenerhebung und -verwertung zu ermöglichen, müssen die Nutzerinnen eine möglichst hohe Aktivität auf der jeweiligen Plattform aufweisen. Begehrnisse im Sinne Böhmes, die durch ihre Erfüllung nicht befriedigt, sondern gesteigert werden, bieten dafür die ideale Grundlage, und entsprechend sind die sozialen Netzwerke in ihrer Nutzungsoberfläche so gestaltet, dass sie eine andauernde Nutzung belohnen und stimulieren. Sie bieten damit die ideale Grundlage die Perspektive, durch Konsumentscheidungen seine Autonomie und damit seinen Subjektstatus zu reproduzieren, zu stützen und zu stärken. Reichen hingegen die Ressourcen nicht oder ist eine Unsicherheit hinsichtlich der Stabilität des materiellen Reproduktionsniveaus gegeben, wie in Teilen der Zone der Prekarität und in der Zone der Exklusion, müssen Subjekte ihre Bedürfnisse stets gegeneinander abwägen beziehungsweise ihnen entsagen. Sie erleben sich im Tausch als unfrei, heteronom und ungleich gegenüber den Subjekten, die von den Konsummöglichkeiten impliziert und von Influencern oder Werbung dargestellt und angerufen werden. Im sozialen Feld eröffnet sich mit die Simulation erfolgreichen Konsums (durch ästhetische Nachahmung oder gefälschte Markenprodukte) zumindest die Möglichkeit, in ein Spiel der Anerkennungssimulation einzutreten, tatsächlich kann die Heteronomie jedoch nur temporär suspendiert werden, indem über dem Niveau der eigenen ökonomischen Ressourcen konsumiert wird und dafür gegebenenfalls auf Formen der Privatverschuldung zurückgriffen wird. Diese konstituiert ihrerseits wieder ein besonders heteronomes Tauschverhältnis, indem die Tauschsubjektivation mit ihrer Freiheit, Autonomie und Gleichheit in eine Schuldnerinnensubjektivation kippt, die ein unfreies, heteronomes und ungleiches Subjekt in einer asymmetrischen Machtsituation konstituiert.3 Diese geringeren Möglichkeiten des Konsums und damit der sind dabei entscheidend für die 3

Die kapitalistische Subjektivation durch Privatverschuldung ist bisher wenig ausgearbeitet, Vorschläge dazu finden sich bei Maurizio Lazzarato (2012), Tayyab Mahmud (2012) und Miranda Joseph (2014).

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›Lokalisierung‹ der Triebstruktur im ›sozialen Ort‹ und somit für die Ausbildung des Sozialcharakters – in ihr ist die Pluralität der dominanten Sozialcharaktere (siehe Kap. 4.d) angelegt.

c. Subjektivation und Widerspruch in der Lohnarbeit Der Tausch und seine Subjektivation sind auch für die Lohnarbeit grundlegend, da sie durch den Tausch der Arbeitskraft gegen Geld begründet ist. Zugleich bestimmt die Arbeitskraft und ihre Eigenarten gegenüber anderen Waren die Besonderheit der Subjektivation in der Lohnarbeit. Lebensmittel – von der Nahrung bis zur Markenkleidung und dem Computerspiel – sind mit dem Individuum über seine Bedürftigkeit verknüpft, die in seiner Leiblichkeit verankert ist,4 die Arbeitskraft dagegen ist zwar ebenso leiblich, aber im Arbeitsvermögen verankert. Mit Arbeitsvermögen ist die spezifisch menschliche Eigenschaft bezeichnet, über die eigenen unmittelbaren Bedürfnisse hinaus zu produzieren. Für Marx ist diese Eigenschaft, »frei vom physischen Bedürfniß [zu] producier[en]« (Marx 2009: 91) in den ökonomischphilosophischen Manuskripten der Ausgangspunkt seiner Theorie des Gattungswesens, und auch im Kapital bildet sie die Grundlage für die Möglichkeit der Mehrwertproduktion. Zugleich erlaubt sie laut Marx dem Menschen, der Welt frei gegenüberzutreten, weil der Mensch diese Welt nicht nur als Mittel zur Befriedigung unmittelbarer Bedürfnisse ansehen muss. Sie bildet so die Grundlage für Reflexivität und damit Bewusstsein ebenso wie für Individualität (ebd.: 90). Mit dem Verkauf der Arbeitskraft werden dementsprechend nicht nur die körperlichen und kognitiven Fähigkeiten temporär unter einen fremden Willen gestellt, sondern auch der Kern dessen, was die menschli-

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Das gilt ebenso für körperliche Bedürfnisse im engeren Sinne wie für Bedürfnisse nach Markenkleidung und Computerspiele, deren Befriedigung ebenfalls leibliche Effekte, etwa auf die Konzentration von Neurotransmittern im Gehirn, hat.

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che Individualität ausmacht wird in der Lohnarbeit objektiviert und angewendet. In den ökonomisch-philosophischen Manuskripten macht Marx im Anschluss an seine Theorie des Gattungswesens diese Objektivierung zum Gegenstand seiner Theorie der Entfremdung. Im Kapitalismus treten Lohnarbeiterinnen die Produkte und damit der Ausdruck des menschlichen Arbeitsvermögens als fremdes Eigentum gegenüber, das sie kaufen müssen; und auch die Anwendung dieses Arbeitsvermögens in der Lohnarbeit ist fremdbestimmt. Aufgrund dieser doppelten Fremdheit bezeichnet Marx mit dem Begriff der Entfremdung eine Enteignung, die die eigentätige Vergegenständlichung des Arbeitsvermögens in das fremdbestimmte Mittel des eigenen Überlebens verwandelt (ebd.: 88). Für das Subjekt resultiert aus der Verkehrung auch eine »Selbstentfremdung« (ebd.: 89), da ihm in der Lohnarbeit seine Eigenschaften und seine Eigenständigkeit enteignet als Eigenschaften eines fremden Prozesses und – im Produkt – als Objekt, über den es keine Kontrolle hat, entgegentreten. In Anschluss an dieses Konzept der Entfremdung analysiert Marx die Effekte der Entfremdung für das Subjekt als Trennung, Fixierung und Fragmentierung. Die Trennung von eigenem Willen und Arbeitsvermögen – das mit einem eigenen Willensakt verkauft, dann aber unter einem fremden Willen gestellt ist – erlaubt es, dass das Arbeitsvermögen in eine einseitige Form fixiert wird, die die Arbeiterinnen »geistig und leiblich zur Maschine her[ab]drückt« (ebd.: 21) anstatt zu ihrer Entfaltung beizutragen. Der fremde Wille, dem die Arbeitskraft unterstellt ist, zielt nicht auf ihre Entfaltung, sondern auf die profitorientierte Produktion und ihr entsprechende Effizienzkriterien. Effekt der Fixierung ist, dass dem Menschen seine Eigenschaften nicht mehr als Beitrag zu dieser Entfaltung erscheinen, sondern fragmentiert einzelne Kompetenzen sind, die über die Verkaufbarkeit der Arbeitskraft entscheiden. Ausgehend von Marx’ Theorie des Warenfetischismus hat Lukács in seinem Aufsatz Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats die Subjektivation in der Lohnarbeit als Theorie der Verdinglichung ausgearbeitet (siehe Kap 3.a). In ihr beschreibt er mit dem Begriff der Verdinglichung, dass »die Tätigkeit des Menschen sich ihm selbst ge-

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genüber objektiviert, zur Ware wird« (Lukács 1967: 98) und der Mensch sich selbst als Objekt erscheint. Auch Lukács beschreibt die Verdinglichung als Trennung, Fixierung und Fragmentierung. Anschließend an die Abstraktion der Tauschsubjektivation konstatiert Lukács, dass das Zur-Ware-Werden des Arbeitsvermögens auf einer Abstraktion beruht, in der von subjektiven Besonderheiten zugunsten der im Arbeitsprozess erforderten Eigenschaften abgesehen wird. Mit Adorno kann man sagen, im Arbeitsprozess wird das Leibliche – sowohl die Bedürfnisse, die während der Arbeit nicht befriedigt werden können als auch die Individualität, die für die Arbeit gleichgültig ist – als Nichtidentisches verdrängt, und mit Marcuse, dass diese Verdrängung den Leib selbst einer Trennung unterwirft, da er in der Arbeit nur als Arbeitskörper instrumentalisiert erscheint, während die Bedürfnisse und insbesondere das Erotische aus der Arbeit ausgeschlossen werden. Die in der Arbeit angewendete Seite der Trennung wird Lukács zufolge entsprechend über ihre Quantifizierung und Rationalisierung nach fremdbestimmten Gesichtspunkten fixiert und gesteigert, während die Spontaneität der Arbeiterinnen vom Arbeitsprozess gänzlich ausgeschlossen wird. Sie geraten daher in eine »kontemplativ[e] Haltung« (Lukács 1967: 100), in der sie sich passiv zurückziehen und gleichsam den im Arbeitsprozess angewandten Fähigkeiten ihres Bewusstseins und Körpers zusehen, wie sie verwendet werden. In der passiven Beobachtung erscheinen sie sich selbst als fragmentiert – Lukács spricht vom Zerreißen des Subjekts – da es einzelne Fähigkeiten sind, die in den Arbeitsprozess instrumentell integriert werden, während ihr Selbst als Ganzes unsichtbar bleibt. Lukács hat bei seiner Analyse die tayloristische Fabrikarbeit vor Augen, in der »die menschlichen Eigenschaften und Besonderheiten des Arbeiters immer mehr als bloße Fehlerquellen« (ebd.) erscheinen, verwendet sie aber zugleich als Grenzfall hinsichtlich der Suspendierung der Spontaneität in der Lohnarbeit. Er kontrastiert die tayloristische Lohnarbeit mit den Arbeitsbedingungen der Journalistin, bei der »gerade die Subjektivität selbst, das Wissen, das Temperament, die Ausdrucksfähigkeit« (ebd.: 111) in Dienst genommen wird. Lukács’ Pointe ist dabei, dass die Journalistin und generell Lohnarbeitsverhältnisse, in denen

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auch Eigenaktivität eingefordert wird, eine ausweglosere Verdinglichung darstellen: Die Journalistin ist (wie alle anderen Arbeiterinnen, die in nicht komplett taylorisierten Arbeitsverhältnissen ihre eigene Subjektivität einbringen) dem Widerspruch unterworfen, zugleich den eigenen Willen in der Lohnarbeit aktiv einzusetzen und einem fremden Willen unterworfen zu sein. Sie kann daher der Objektivierung weniger distanziert gegenüberstehen und sich weniger über diese Objektivierung aufklären, da sie ihre Autonomie und Spontaneität scheinbar in der Lohnarbeit verwirklicht. Demgegenüber wird der Widerspruch zwischen dem eigenaktiven Subjekt und dem passiven Objekt in der Lohnarbeit in Arbeitsverhältnissen, in denen die eigene Autonomie stärker ausgeschlossen ist, eher als Widerspruch zwischen den Sphären der Lohnarbeit und der Freizeit verstanden. Ausgangspunkt für das Entstehen der Freizeit5 waren die Kämpfe der Arbeiterinnen um eine Tagesarbeitszeitbegrenzung, wie sie Marx etwa im ›Kampf um den Normalarbeitstag‹ darstellt. Durch die Durchsetzung des Achtstundentages und die Notwendigkeit von Konsumzeit für den aufkommenden Massenkonsumkapitalismus (Nowotny 1990: 121) ergab sich mit dem organisierten Kapitalismus eine Zweiteilung des Tages, die keine Entsprechung in vorkapitalistischen Formen der Sozialität hatte. Der Tauschsubjektivation entsprechend erscheint die Freizeit – im Gegensatz zur heteronomen, objektivierenden Lohnarbeit – als Sphäre, in der durch Konsum die eigene Autonomie realisiert werden kann; und beispielsweise Habermas und Honneth betrachten entsprechend ihrer Übergriffstheorie diese Sphärentrennung (siehe Kap. 3.a), sofern sie institutionell abgesichert und so die Freizeit als eigenständige Sphäre gesichert ist, als hinreichend, um Verdinglichung für unproblematisch zu halten. Was sie dabei verkennen ist, dass die Arbeiterinnen die Subjektivation der Lohnarbeit selbstständig auf die Freizeit übertragen. Der Schlüssel zur Verallgemeinerung der Verdinglichung ist die Lohnform 5

Die Ausführungen zur Freizeit beruhen zum Teil auf Passagen aus meinem Artikel Lifelogging – Projekt der Befreiung oder Quelle der Verdinglichung (Schulz 2016: 56–59).

Die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation – Anrufung und Verdinglichung

als Zeitlohn (Marx 1962: 565–573), also der Verkauf der Arbeitskraft als Arbeitszeit einerseits, die Überwachung der Arbeitsleistung nach Zeit und ihre Steigerung durch Intensivierungsprozesse während der Lohnarbeit andererseits. Durch die Verdinglichung wird Zeit und Geld als ineinander konvertierbar wahrgenommen. Zeit als Arbeitszeit ist wertschaffend und als solche (für die Arbeiterinnen) knapp und (für das Kapital) begehrt. Die Zeit nimmt also die Züge des Geldes an (Laermann 1988: 328f.), sowohl dahingehend, dass die Zeit quantifiziert, als lineare Zeit gehandhabt wird (Postone 2003: 310–329), als auch hinsichtlich der Zuschreibung von Wert. Diese Form der Zeitwahrnehmung unter Zeitknappheit führt dazu, so Klaus Laermann, dass Zeit »die einzige Dimension [ist], in der es auch im Alltag jedermann freisteht, den Kapitalisten zu spielen« (Laermann 1988: 330). Auf die entstandene Freizeit übertrugen die Arbeiterinnen nun Zeitstrukturen der Arbeitszeit. Dank Zeitlohn und Intensivierung hatten die sie »einen Sinn für die Knappheit ihrer Zeit« (Deutschmann 1983: 331) entwickelt, den sie auf die Freizeit anwandten: Die Zeit der Arbeiterinnen war, so belegte es ihnen der Zeitlohn und die Sicherstellung intensiven Arbeitens, wertvoll. Die Freizeit war die Zeit, in der sie über diesen Wert selbst verfügen konnten und verfügten. Derart wurde Freizeit nicht zu einem Raum der Freiheit, sondern war von Beginn an »das Immergleiche, den Produktionsapparat [gekettet], auch dort, wo dieser sie beurlaubt« (Adorno 2003c: 436f.). In ihr »wiederholen sich allgemein die Formen des Produktionsprozesses«, sie ist der Zeitlogik des Kapitals unterworfen: »Freizeit verlangt ausgeschöpft zu werden« (Adorno 2003f: 155). Freizeit erscheint als ›Fortsetzung der Arbeit mit anderen Mitteln‹ in der die Arbeiterinnen zwar nicht dem Produktionsregime der jeweiligen Kapitalistin unterworfen sind, wohl aber der Verwertungslogik in der Gestalt eines »Freizeittakts« (Kurz 2005: 656) selbst. Die effiziente Ausschöpfung der Freizeit in einer Art und Weise, die dem intersubjektiven Vergleich standhält, erscheint den Arbeiterinnen so als Sachzwang analog zu den Bedingungen des Tausches und der Lohnarbeit. Damit überträgt sich auch die Unterscheidung zwischen Bedürfnissen und Fähigkeiten in die Freizeit, und zwar hinsichtlich der Frage, ob ihre Anwendung eine rationale und effiziente

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Nutzung der Freizeit bedeutet. Die Zerlegung und Quantifizierung der verdinglichenden Lohnarbeit wird als Selbstverdinglichung in die Freizeit übertragen, in der man die Kapitalistin seiner selbst spielt, die Laermann diagnostizierte. Entspricht die Sphärentrennung von Lohnarbeit und Freizeit dem organisierten und integrierten Kapitalismus, ist der differenzierte Kapitalismus von einer Lockerung und Pluralisierung der Freizeitgestaltung, einer Aufweichung der strikten Trennung von Arbeit und Freizeit und in bestimmten Unterzonen sogar von einer »tendenzielle[n] Aufhebung der Trennung von Arbeit und Nicht-Arbeit« gekennzeichnet, die aber keine Entdifferenzierung, sondern der »Zugriff des Kapitals auf die gesamte Lebenszeit der Individuen« (Nies/Sauer 2011: 53) ist. Die Einübung der effizienten Selbstkontrolle der Zeitverwendung und ihr Verständnis als Investition ermöglichten die Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse – insbesondere dort, wo die aktive Eigentätigkeit in hohem Maße auch in der Lohnarbeit gefordert ist. Im differenzierten und kybernetischen Kapitalismus finden wir die Entgrenzung also insbesondere in der Unterzone der atypischen Integration und der in ihren Beschäftigungsverhältnissen an ihr angelehnten Teilen der Zone der Prekarität, also vor allem bei personenbezogenen Dienstleistungen, mit dem Idealtyp des akademischen ›Unternehmers seiner Selbst‹, mit einem entgrenzten – und entsprechend der Journalistin in Lukács Diagnose: verschleierten – Widerspruch zwischen Autonomie und Objektivierung. Mit der automatisierten Steuerung geht im kybernetischen Kapitalismus eine Informatisierung der Kopfarbeit einher (siehe Kap. 2.b), die vormals sichere Beschäftigungsverhältnisse prekarisiert. Zugleich entstehen neue, prekäre Dienstleistungstätigkeiten, etwa in der Pflege oder Logistik (Reckwitz 2019: 157). Unternehmen, deren Geschäftsmodelle auf digitalen Plattformen beruhen (Staab 2019), und die so Scheinselbstständige, die etwa Personenbeförderungsdienstleistungen anbieten, an Kundinnen vermitteln oder digitale produktive Tätigkeiten über Systeme der clickwork entlohnen (Altenried 2017), schaffen neue hochprekäre Beschäftigungsmodelle in den kapitalistischen Zentren, die sich auf eine vollständigen Entgrenzung von Arbeit und Freizeit stützen.

Die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation – Anrufung und Verdinglichung

In der Unterzone der gesicherten Integration dagegen erscheint der Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Freizeit. Während Subjekte in der Unterzone der atypischen Integration vermutlich zu einer individualistischen Realisierung der subjektiven Ansprüche in Arbeit und Konsum neigen, bietet für Subjekte in der Unterzone der gesicherten Integration die Realisierung in kollektivierenden Formen, in denen die Selbstverdinglichung in der Freizeit nachvollzogen wird, aber sie unter den Kollektivwillen gestellt wird, eine stärker an die Wirklichkeit ihrer kapitalistischen Subjektivation anknüpfende Form – sei es im Pauschaltourismus, im Verein, im Fußballstadion oder in autoritären politischen Bewegungen. Zwei weitere Differenzierungsweisen sind die Verdinglichung zum einen durch Arbeitslosigkeit, zum anderen durch unbezahlte Hausarbeit. In der staatlichen Verwaltung der Arbeitslosigkeit, die im Rahmen der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik (siehe Kap. 2.d) ebenfalls als Instanz kapitalistischer Subjektivation fungiert, drückt sich der Widerspruch zwischen Autonomie und Heteronomie (Bohmann/Lindner 2018) im ›Fördern und Fordern‹ aus. Am Beispiel des deutschen Systems von ALG I und II zeigt sich, wie Fortbildungen, Eingliederungsvereinbarungen und Sanktionen für verschiedene Arbeitslose, abhängig von ihrer Qualifikation, ihrer bisherigen Erwerbsbiografie und diskriminierenden Zuschreibungen, subjektivierend wirken. Die unbezahlte Hausarbeit ist durch ihre repetitive Form besonders heteronom und verdinglichend, wie etwa Simone de Beauvoir herausstellt, die konstatiert, dass es »wenig Aufgaben [gibt], die der SisyphusQual verwandter sind als die Hausfrauenarbeit.« (Beauvoir 1968: 428) Im Zuge der Integration der Frauen in die Erwerbsarbeit bei gleichzeitiger weiterhin asymmetrisch vergeschlechtlicht verteilten unbezahlten Hausarbeit (Hobler et.al. 2017) sind Frauen einer zweiseitigen Anrufung und Verdinglichung unterworfen. Die ihrerseits kritisch an die Kritische Theorie anschließende feministische Theorie Becker-Schmidts fasst diese Struktur mit dem Begriff der »doppelte[n] Vergesellschaftung« (Becker-Schmidt 1987):

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»Nach wie vor werden Frauen dahin sozialisiert, die Aufgaben der sozialen Reproduktion zu übernehmen – sowohl die Regeneration von Angehörigen durch psychische und physische Versorgung als auch die Aufzucht und Erziehung der nächsten Generation. Diese gesellschaftliche Arbeit wird in der Regel an die Familie delegiert – und so bleibt diese Institution auch ein wesentlicher Bezugspunkt in der sozialen Verortung von Frauen. Gleichzeitig gehört in historischer Perspektive ihr Arbeitsvermögen zum Bestand des gewerblichen Arbeitskräftereservoirs.« (Becker-Schmidt 1987: 23) Becker-Schmidt folgert aus dieser doppelten Integration und diesem doppelten sozialen Orts der Frauen die »größere Widersprüchlichkeit« (Becker-Schmidt 1991: 394) der weiblichen Subjektivität, zumal die Anrufungen als Hausfrau und Mutter einerseits und als Lohnarbeiterin andererseits zueinander direkt in Widerspruch geraten können und in der häuslichen Sorgearbeit geforderte Formen des Arbeitsvermögens auf dem Arbeitsmarkt zugleich schlechter entlohnt und geringer anerkannt werden (Becker-Schmidt 1998: 107; siehe auch Kap. 2.d). Die ebenfalls von Beauvoir analysierte Tendenz, das Eingesperrt-Sein in die häusliche Sphäre durch die Autonomierealisation am eigenen Körper mittels Mode und Make-Up zu realisieren (Beauvoir 1968: 515), ist, erfasst durch die Kulturindustrie, zu einer Anrufung an weibliche Subjekte und im kybernetischen Kapitalismus zum Bestandteil digitaler Identitätspraktiken geworden. Zugleich lässt sich aber beobachten, dass auch der männliche Körper im kybernetischen Kapitalismus zunehmend »vom unmarkierten Standard […] (auch) zum Objekt neuerer Vorstellungen von Fitness und Schönheit« wird, wie Corinna Schmechel (2016: 174) anhand von digitalen SelftrackingPraktiken herausarbeitet. Mit ihnen werden Praktiken als männlich erschlossen, die bisher als weiblich konnotiert galten, etwa die Diät und das Zählen von Kalorien. Der kybernetische Kapitalismus verändert also die Integration der Leiblichkeit aller Geschlechter.

Die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation – Anrufung und Verdinglichung

d. Subjektivation und Widerspruch im Recht Da der Tausch darauf beruht, dass Menschen einander als freie, autonome, selbstidentische und gleiche Subjekte gegenübertreten, benötigt er Rahmenbedingungen, die sicherstellen, dass Freiheit, Autonomie und Gleichheit sowie die Identität der Willenserklärung im Tausch mit dem tatsächlichen Akt des Austausches gewahrt bleiben. Kurz: Der Markt benötigt Recht und Staat, um den Subjektstatus der Beteiligten – notfalls mit Gewalt – zu schützen und Kaufverträge einklagbar zu machen. Die Tauschsubjektivation setzt also unmittelbar die Anrufung voraus, die Althussers berühmtes Beispiel aufzeigt: »Man kann sich diese Anrufung anhand des Typs der banalsten alltäglichen Anrufung vorstellen, wie sie etwa von der Polizei […] erfolgt: ›He, sie da!‹« (Althusser 2010: 88). Individuen müssen als Subjekte darauf verpflichtet sein (oder mit polizeilicher Gewalt darauf verpflichtet werden), die staatliche Sicherstellung der Verträge anzuerkennen, auch wenn diese in ihre Autonomie eingreift. Das freie und autonome Subjekt muss also zugleich seine Unfreiheit und Heteronomie gegenüber dem Recht und dem Staat – und dessen potenzieller Gewalt – anerkennen. Marx analysiert diesen Widerspruch in Zur Judenfrage als »Spaltung des Menschen in den öffentlichen und in den Privatmenschen« (Marx 1956b: 356f.), in Citoyen und Bourgeois, wobei beide vom Individuum abstrahieren, letzterer im Sinne der Tauschabstraktion, ersterer, da er sich unabhängig von seinem individuellen Willen dem – im Staat und seinen Gesetzen ausgedrückten – allgemeinen Wollen unterwerfen muss. Der sowjetische Rechtswissenschaftler Paschukanis schließt 1924 in Allgemeine Rechtslehre und Marxismus an diese »Teilung der Gesellschaft in Bürgerliches und Politisches« (Paschukanis 1929: 14) an und untersucht – ausgehend von Marx Arbeit zum Warenfetischismus – den »Rechtsfetischismus« (ebd.: 96). Zeitgleich wie Lukács geht er also ebenfalls auf den Anfang des Kapitals zurück, um in der jungen Sowjetunion die Frage zu stellen, warum »die alten Denkgewohnheiten noch immer eine erstaunliche Zähigkeit aufweisen.« (ebd.: 5) Vom Warentausch ausgehend untersucht er das hinter ihm liegende

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Rechtsverhältnis zwischen den Tauschpartnerinnen, das Privatrecht, um die Rechtssubjektivation zu bestimmen. Diese wiederholt nun die Bestimmungen des Subjekts durch die Tauschsubjektivation: Auch das Rechtssubjekt ist frei, unabhängig und gleich, da alle Tauschpartnerinnen auf die gleiche Weise in der Lage sein müssen, Anspruch auf ihr Recht zu erheben, und ihnen das Recht unabhängig von ihren individuellen Besonderheiten zukommen muss. Das Recht vollzieht die Tauschabstraktion nach, um den Tausch als Grundlage der gesellschaftlichen Synthesis – wie Alfred Sohn-Rethel (2018b) es formuliert – zu gewährleisten. Die Freiheit des Subjekts bildet schließlich den Kern der Rechtssubjektivation, und Paschukanis geht so weit, Rechtssubjekt und Freiheit synonym zu verstehen. Die »Kategorie des Subjekts [ist] allgemeinerster Ausdruck dieser Freiheit« (Paschukanis 1929: 88) selbst, da die freie Entscheidung, seinen Willen einzusetzen, Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Rechten im Privatrecht ist. Die kapitalistische Subjektivation im Recht scheint so nur die Verdoppelung der Subjektivation im Tausch zu sein. Da sie aber nicht über die Realität als Wareneigentümerin abgesichert ist, sondern durch den Staat, der den Zugriff auf Rechte gewährt und gewährleistet, gewinnt das Recht, wie Sonja Buckel herausarbeitet, eine relative Unabhängigkeit. Es ist »relational autonom« (Buckel 2008: 122), da es formal eben nicht vom Eigentum an Waren oder Geld abhängt, sondern davon unabhängig den Subjekten zukommt. Selbst gegenüber dem Staat erlangt es eine relative Unabhängigkeit, die »richterliche Unabhängigkeit, die Notwendigkeit einer juristischen Argumentation und die spezifischen Verfahren folgen einer juristischen und keiner politischen Logik« (ebd.). Das Recht unterwirft so die einzelnen Subjekte unter die ihm eigene Logik, die die Logik des Warentausches wiederholt, ohne unmittelbar mit ihr identisch zu sein. Es bietet damit nicht nur einen »Aufschub der Macht« (ebd.: 123), da es – zur Gewährleistung des Tausches – verspricht, die Einzelne vor physischer Gewalt zu schützen (Honneth 1994: 284), sondern die Subjektivation des Rechts liefert auch die Grundlage für die praktische Kritik an ungleichen, partikularen und unfreien realen Verhältnissen (ebd.: 244). Zugleich ist aber festzuhalten, dass das Recht nicht einfach »pathologische Nebeneffekte« (Habermas 1995b:

Die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation – Anrufung und Verdinglichung

283) hat, sondern von einer grundsätzlichen »Dialektik der Rechtsform« (Buckel 2008: 122) geprägt ist. Schon Paschukanis konstatiert diese Dialektik in dem Widerspruch zwischen der formalen Unabhängigkeit des Rechtssubjekts einerseits, seiner realen Abhängigkeit andererseits. Sie ist nicht bloß als Gegensatz zwischen dem Recht einerseits und Ökonomie und Staat andererseits zu verstehen, wie es etwa Habermas impliziert, sondern zeigt sich innerhalb der Rechtspraxis selbst, etwa durch den ressourcenbedingt unterschiedlichen Zugriff auf Rechtsbeistände oder an realen Ungleichheiten orientierten unterschiedlichen Praktiken polizeilicher Ermittlung und der auf ihnen beruhenden Rechtsprechung (Oberwittler/Lukas 2010). In keinem Teil des Rechts wird diese Widersprüchlichkeit deutlicher als im Strafrecht, so das an ihm zugleich deutlich wird, wie der Widerspruch auch die Subjektivation des Rechts prägt. Paschukanis versteht das Strafrecht zunächst als Übertragung des Äquivalenzprinzips des Tauschs auf die Strafe. Die »Schwere eines jeden Verbrechens [wird] auf irgendeiner Wage gewogen und in Monaten oder Jahren Gefängnishaft ausgedrückt« (Paschukanis 1929: 151), damit so nachträglich ein Tauschakt zwischen Verbrecherin und Staat hergestellt wird, indem Verbrechen und Strafe in ein Äquivalenzverhältnis gebracht werden. So können das Verbrechen und seine Bestrafung als beidseitiger Willensakt verstanden werden, und Gesetze sind öffentlich, damit die potenzielle Verbrecherin wissen kann, welchen Tausch sie mit dem Verbrechen eingeht. Die zwangsweise Unterordnung der Verbrecherin unter die Autorität hält damit die Anrufung durch das Recht aufrecht, in der die Subjekte, die das Recht nicht brechen die Rahmenbedingungen des angesprochenen Willensaktes anerkennen: Mit ihrer Anerkennung der Autorität erkennen sie ebenfalls an, dass das Recht freie, unabhängige und gleiche Subjekte voraussetzt und ihnen entsprechend verfährt. Die reale gesellschaftliche Ungleichheit ebenso wie die Ungleichheit in der Rechtsprechung werden als unwesentlich gegenüber der formalen Gleichheit des Rechts akzeptiert. Die Identifikation mit der Autorität vermittels des Rechts und seiner Subjektivation wird gestützt durch das öffentliche Recht – das Paschukanis (1929: 79) als drittes analysiert – und durch die politischen

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Grundrechte in Demokratien. Durch sie wird das Subjekt als Bürgerin als frei, unabhängig und gleich auch gegenüber dem Staat und letztlich als Autorin der Gesetze angerufen, sodass deren heteronome Voraussetzung in der Form der kapitalistischen Tauschsubjektivation verschleiert ist. Das Recht beansprucht, allen Mitgliedern der Gesellschaft gleichermaßen zuzukommen, und entsprechend ist die Exklusion vom Recht – wie schon Paschukanis Verweis auf Einwanderungsgesetze, die Menschen wie Waren »als Objekt behandel[n]« (Paschukanis 1929: 91), andeutet – von grundlegender Bedeutung für die kapitalistische Subjektivation; und »Rechtlosigkeit [ist] gleichbedeutend mit dem Ausgeschlossensein aus eben diesen Gesellschaften« (Buckel 2008: 120). Während historisch Frauen und Nicht-Weiße vom Recht ausgeschlossen waren,6 bilden im differenzierten Kapitalismus vorrangig Migrantinnen die Unterzone der radikalen Exklusion, die als Nicht-Staatsbürgerinnen oder Illegalisierte von grundlegenden Rechten ausgeschlossen sind und denen das Recht nicht subjektivierend, sondern bloß objektivierend gegenübertritt. Aber auch die – im differenzierten Kapitalismus quantitativ zunehmende – Exklusion durch Einsperrung schließt Gefangene von grundlegenden Rechten aus, wie etwa der Freizügigkeit und der Vertragsfreiheit beim Verkauf ihrer Arbeitskraft; und zugleich ist die Wahrscheinlichkeit, Gefangene zu werden, hochgradig nach Klassenlage sowie rassifiziert strukturiert (Peters 2015: S. 97ff.). Die Transformation einzelner digital vermittelter Dienstleistungen in eine integrierte digitale Umwelt, die im kybernetischen Kapitalismus stattfindet (siehe Kap. 2.a), eröffnet eine potenziell grundlegende Veränderung der Rechtssubjektivation. Staab diagnostiziert als »spezifische Entwicklungsrichtung westlicher Gesellschaften« (Staab 2019: 295) die Umwandlung von Rechtssubjektiven zu Konsumentinnen von Services. Der Zugang zu basalen Infrastrukturen ist nicht mehr über den Staatsbürgerinnen gewährte Anrechte gewährleistet, sondern wird

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Ein Ausschluss, der partiell immer noch andauert, wie die anhaltenden Kämpfe um die Verfügungsgewalt von Frauen über ihren Körper zeigen.

Die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation – Anrufung und Verdinglichung

als Service denjenigen gewährt, die den allgemeinen Geschäftsbedingungen zustimmen und von den Plattform-Eignerinnen nicht ausgeschlossen werden (ebd.). Diese Tendenz zeigt sich bisher vorrangig durch die Debatten um Ausschlüsse von hate speech oder um die Sichtbarkeit nackter, weiblicher bzw. weiblich gelesener Körper auf sozialen Netzwerken. Aktuell entwickelt sich in China mit dem ›social credit system‹ ein Überwachungssystem, das verschiedenste Aspekte des menschlichen Verhaltens hinsichtlich seiner sozialen (Un-)Erwünschtheit bewerten und auswerten soll, um so eine individuelle Quantifizierung des Wohlverhaltens eines Subjekts zu erstellen, zu einem »reputational state« (Dai 2018: 4), der staatliches und wirtschaftliches Handeln an dieser quantifiziert erfassten ›Reputation‹ ausrichten soll. Die direkte Erfassung des Handelns eines Subjekts – von der Verlässlichkeit fristgerechter Zahlungen (ebd.: 18) über Straftaten bis zu Plagiaten während des Studiums (ebd.: 2) – soll genutzt werden, um Subjekte mit nicht hinreichender ›Reputation‹ etwa von staatlichen Arbeitsplätzen, Krediten, aber auch dem Reisen mit Hochgeschwindigkeitszügen, der Nutzung von Golfplätzen oder der Anmeldung ihrer Kinder auf Privatschulen auszuschließen (ebd.: 33). Die Absicht ist, dieses bisher freiwillige System verpflichtend und generell anzuwenden, und spätestens dann ist von einer neuen Form der Integration zu sprechen, die die Subjektivation durch das Recht zunächst ergänzt, perspektivisch aber ersetzen kann. In ihr wird die von Staab beobachtete Tendenz des Übergangs von Rechten zu Anrechten von staatlicher Seite aus realisiert. Setzt diese Tendenz sich durch, wäre von einer neuen Form kapitalistischer Subjektivation zu sprechen, die Elemente der kapitalistischen Subjektivation in den Massenorganisationen des organisierten Kapitalismus mit den technischen Möglichkeiten des kybernetischen Kapitalismus verbindet.

e. Identität und Widerspruch Die kapitalistische Subjektivation ist – so konnte in diesem Kapitel hoffentlich gezeigt werden – von Widersprüchen geprägt, die in

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strukturellen Gegensätzen begründet sind: Das Auseinandertreten von Produktion und Reproduktion, Tausch und Konsum, Arbeit und Freizeit schlägt sich in den Geschlechterverhältnissen nieder, aber auch in der Gegensätzlichkeit des produktiven und repressiven Teils kapitalistischer Subjektivation, von Anrufung und Verdinglichung. Aber auch innerhalb der Subjektivation im Tausch, Lohnarbeit und Recht sind Gegensätze eingeschlossen. In der Tauschsubjektivation ist dem Subjekt die Genese seiner Form aus dem Tausch verschleiert. Wie der Fetischismus die gesellschaftlichen Verhältnisse als Natureigenschaften von Dingen erscheinen lässt, erscheint dem Subjekt seine Bewusstseinsform als ahistorisch und damit natürlich. Die Autonomie, zu der das Tauschsubjekt angerufen wird, findet ihre Grenze so in ihrer eigenen Naturalisierung, da der heteronorme Ursprung der eigenen Subjektivität nicht erkannt wird. Zudem formiert der Tausch nicht nur Subjekte, die sich selbst als autonom erscheinen, sondern er erscheint ihnen auch als von den Subjekten Unabhängiges. Den Subjekten tritt ihre »eigne gesellschaftliche Bewegung [in der] Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren« entgegen; und diese Bewegung wird als »gewaltsam« (Marx 1962: 89) spätestens dann erfahren, wenn die Befriedigung der Bedürfnisse im Tausch mangels eigener Zahlungsfähigkeit oder mangels zahlungskräftiger Nachfrage scheitert. Das Subjekt ist also zugleich Objekt des Tauschs als gesellschaftlichem Verhältnis, das scheinbar unabhängig von ihm ist, und so hat das »in der kapitalistischen Gesellschaft konstituierte Individuum […], wie die Ware, einen Doppelcharakter.« (Postone 2003: 254; Adorno 2003e: 69) In der Lohnarbeit ist das Subjekt einem fremden Willen unterworfen und erscheint verdinglicht. Schon Lukács verweist aber darauf, dass in der Lohnarbeit im Regelfall auch ein gewisses Maß an Autonomie und Eigentätigkeit gefordert wird. Er verwendet ihre radikale Suspendierung im Taylorismus als Grenzfall der Verdinglichung (Lukács 1967: 99) und kontrastiert diesen Fall mit den Arbeitsbedingungen der Journalistin, bei der »gerade die Subjektivität selbst, das Wissen, das Temperament, die Ausdrucksfähigkeit« (ebd.: 111) in Dienst genommen

Die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation – Anrufung und Verdinglichung

wird. Lukács Pointe ist dabei, dass die Journalistin bzw. Lohnarbeitsverhältnisse, in denen auch Eigenaktivität eingefordert wird, eine ausweglosere Verdinglichung darstellen: Die Journalistin (und jede andere Arbeiterin, die nicht in komplett taylorisierten Arbeitsverhältnissen ihre eigene Subjektivität einbringt) muss die gegensätzlichen Anforderungen ihrer Lohnarbeit zugleich erfüllen und leidet einerseits in stärkerem Maße an ihrer Verdinglichung, da sie der Objektivierung weniger distanziert gegenübersteht, andererseits kann sie sich über sie weniger aufklären, da sie ihre Subjektivität in der Lohnarbeit verwirklicht, statt dass sie in die Freizeit verbannt ist. Das Recht schließlich ruft Subjekte zugleich als autonom an und fordert von ihnen eine grundsätzliche Akzeptanz ihrer Heteronomie gegenüber dem Staat, der das Recht durchsetzt. Die Gegensätzlichkeit der Anforderungen wird dabei für die Subjekte zu einem Widerspruch, da sie Adorno zufolge zugleich dem Identitätsprinzip unterworfen sind, das der kapitalistischen Vergesellschaftung im Tausch und daher auch in der Lohnarbeit entspricht. Das Tauschprinzip verlangt als »Identifikationsprinzip« (Adorno 2003g: 149) von den Subjekten, dass sie einheitlich mit sich selbst sind, da sie nur so als verlässliche Vertragspartnerinnen für den Tausch (der Waren und der Arbeitskraft) auftreten können – insbesondere dort, wo Kauf- und Verkaufsakte auseinanderfallen oder der Konsum von der übersituativen Identität der Verkäuferin abhängt. Augenfällig wird dies in der Lohnarbeit, wo mit dem Arbeitsvertrag vorausgesetzt wird, dass der Wille, seine Arbeitskraft einem fremden Willen unterzuordnen, jeden Morgen mit dem Weckerklingeln Bestand hat und etwaige andere Bedürfnisse (wie etwa das Liegenbleiben-Wollen) verdrängt werden. Diese Selbstidentität, die die Subjekte gewaltsam verinnerlicht haben, stiftet zugleich ihre Subjektform und stellt das Subjekt in Frage: »Ihre eigenen Vernunft, welche bewußtlos wie das Transzendentalsubjekt, durch den Tausch Identität stiftet, bleibt den Subjekten inkommensurabel, die sie auf den gleichen Nenner bringt: Subjekt als Feind des Subjekts.« (ebd.: 22) Das Subjekt ist dadurch zugleich als Subjekt mit sich selbst identisch, als auch dem gesellschaftlichen Prozess ausgeliefert und dadurch »zum bloßen Objekt erniedrigt«

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(ebd.: 180) – damit unidentisch mit sich selbst, da Subjekt und Objekt zugleich, was der Selbstidentität widerspricht. Diesen Widerspruch an sich selbst versucht das Subjekt zu verdrängen (ebd.: 306f.) und findet hierfür verschiedene Formen. Mit Anrufung und Verdinglichung als Effekte kapitalistischer Subjektivation durch die Anforderungen der Basispraktiken – Tausch, Lohnarbeit, Recht – ist jedoch nur die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation, dargestellt, die in der Erfüllung der Anforderungen dieser Praktiken liegt. Sie beantwortet nicht die Frage, wie die Subjekte einerseits in der Lage sind, diese Anforderungen tatsächlich auch zu erfüllen, und andererseits, wie die Widersprüchlichkeit der Anforderungen bewältigt werden kann. Die Praktiken und ihre Ideologie stellen nur die Forderung bereit, liefern aber keine Hilfestellung, sie zu erfüllen. Diese Hilfestellung findet sich in der Sozialisation der Subjekte und der Ideologie bestimmter Sozialisationsinstanzen – »ideologischen Staatsapparaten« in Althussers (2010) Vokabular. Ihre Funktion für die kapitalistische Subjektivation hat als einer der ersten Weber in seiner prominenten Studie die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapitalismus untersucht, in der er herausarbeitet, inwiefern der Protestantismus die Quelle für eine »anerzogene geistige Eigenart« (Weber 2016: 32) war, die Subjekte befähigte, die Anforderungen der kapitalistischen Praxis zu erfüllen. Althusser betont die Vielzahl dieser Sozialisationsinstanzen im Kapitalismus, und nennt neben der organisierten Religion vorrangig Familie und Schule, aber auch Justiz, Politik sowie den ideologischen Staatsapparat »der Information (Presse, Radio, Fernsehen usw.)« sowie den »kulturelle[n] ISA (Literatur, schöne Künste, der Sport usw.).« (Althusser 2010: 55) Die erstgenannten Sozialisationsinstanzen – Familie, Religion, Schule, zum Teil die Strafjustiz – waren es auch, die für marxistische Psychoanalytiker in den 1920ern und 1930ern die zentralen Untersuchungsobjekte waren, als diese die im folgenden Kapitel dargestellte Theorie des Sozialcharakters entwickelten. An sie schloss die Kritische Theorie des Instituts für Sozialforschung an, rückte aber – in den 1930ern beginnend, aber vor allem in den 1940ern im US-amerikani-

Die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation – Anrufung und Verdinglichung

schen Exil – die Sozialisation durch Massenmedien und Kultur unter dem Begriff der Kulturindustrie ins Zentrum ihrer Arbeiten zum Sozialcharakter. Die Sozialisation und ihr Produkt, der Sozialcharakter, stellen die zweite Dimension kapitalistischer Subjektivation dar.

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Kapitel 4 Die zweite Dimension kapitalistischer Subjektivation – Sozialcharakter

a. Kapitalismus und Charakter Mit der bisher dargestellten ersten Dimension ist die kapitalistische Subjektivation noch nicht hinreichend bestimmt. Mit ihr lassen sich zwar die notwendigen Anforderungen an die Subjektivität im Kapitalismus systematisch darstellen und es lässt sich aufzeigen, dass ihnen zu entsprechen überlebensnotwendig für Subjekte im Kapitalismus ist. Gleichzeitig handelt es sich bei der kapitalistischen Subjektivität aber entsprechend der gesellschaftlichen Widersprüche um eine widersprüchliche Subjektivität. Die Frage, wie genau diese Subjektivität gesellschaftlich vermittelt wird und wie die Subjekte mit den daraus resultierenden subjektivierten Widersprüchen umgehen, erklärt die erste Dimension jedoch nicht. Mit Blick auf die erste Dimension der kapitalistischen Subjektivation lässt sich also nur sagen, dass ein bestimmtes Selbst- und Fremdbild angenommen werden muss, um innerhalb kapitalistischer Basisinstitutionen zu funktionieren. Die Frage, »wie sich ›die Realabstraktion aus der bewußtlosen Funktionalität bloßer Handlungen in Bewußtseinsform‹ übersetzt« (Kettner 2012: 384), beantwortet sie aber nicht. In der Geschichte der von Marx ausgehenden kritischen Theorien kapitalistischer Subjektivation wurde dies besonders in den 1920ern deutlich, in der das Scheitern der Revolution in Mitteleuropa ebenso

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wie ihre Entwicklung im ehemals zaristischen Russland die Beschäftigung mit der kapitalistischen Subjektivität befeuerten. Eine kleine Gruppe »marxistisch orientierter Psychoanalytiker« (Dahmer 1973: 9) zog dazu die dynamische Theorie der Subjektivität aus der Psychoanalyse Sigmund Freuds heran, um mit seiner Konzeptionalisierung der Psyche das ›wie‹ der kapitalistischen Subjektivation zu erklären. Sie schlossen dazu an Freuds Beschreibungen der Entwicklung der menschlichen Psyche im Kindesalter an, betonten aber gegen ihn, dass »[j]ede Gesellschaftsform […] nicht nur ihre eigene ökonomische und politische, sondern auch ihre spezifische libidinöse Struktur [hat]« (Fromm 1989a: 34), es also eine gesellschaftliche, und damit historisch variable Subjektivation gibt. Der Kerngedanke der marxistischen Psychoanalytiker ist dabei, dass es spezifische Vermittlungsinstitutionen kapitalistischer Subjektivation gibt. Sie machten für den organisierten Kapitalismus ihrer Gegenwart vier zentrale Vermittlungsinstanzen aus: die Kleinfamilie, die professionelle Erziehung, die Religion und die Strafjustiz. Wie bei Freud steht dabei die familiäre Sozialisation auch bei ihnen an erster Stelle, da sich in ihr in einem Prozess einer konflikthaften Aneignung, der nicht bruchlos verläuft, die Form der Subjektivität von den Eltern auf das Kind überträgt. Dieser Prozess ist Bestandteil der kapitalistischen Subjektivation, da – so Fromm in seinem Teil der Studien über Autorität und Familie – der »Familienvater […] zwar dem Kind gegenüber (zeitlich gesehen) der erste Vermittler der gesellschaftlichen Autorität, aber (inhaltlich gesehen) […] nicht ihr Vorbild, sondern ihr Abbild [ist].« (Fromm 1989b: 149) Über die professionelle Erziehung, etwa in der Schule, wird dieses Verhältnis zur Autorität verallgemeinert, sodass es wiederum Vorlage für die Anpassung an gesellschaftliche Verhältnisse liefern kann. Religion und Strafjustiz hingegen werden von den marxistischen Psychoanalytikern vorrangig als Vermittlungsinstitutionen für Passivität und Akzeptanz von Entsagungen und Ohnmacht verstanden, die gleichzeitig Ersatzbefriedigungen bereitstellen. Ergebnis der Sozialisation durch die Vermittlungsinstitutionen ist den marxistischen Psychoanalytikern zufolge vorrangig der autoritäre Charakter. Diese

Die zweite Dimension kapitalistischer Subjektivation – Sozialcharakter

These wird in den folgenden Abschnitten vor dem Hintergrund der Entwicklung des Charakters nach Freud näher dargestellt. Ausgangspunkt der Entwicklung des Charakters ist bei Freud (1992a) dabei, dass die Psyche zunächst nicht differenziert und unbewusst ist, sie ist damit zunächst identisch mit dem Es der psychoanalytischen Theorie. Das Es weiß nichts von der Außenwelt und will alle Bedürfnisse, seine Triebe, sofort befriedigt wissen. Erst die Tatsache, dass die Außenwelt nicht alle Triebbedürfnisse sofort befriedigt und auch der »Versuch der Befriedigung auf halluzinatorischem Wege« (Freud 1992b: 32) scheitert, zwingt die Psyche, die Realität wahrzunehmen. Anstatt die Unlust auszublenden, wird die Realität wahrgenommen und als potenziell lust- oder unlustbringend beurteilt; anstelle der Unlust motorisch zu entfliehen, beginnen Individuen absichtsvoll mit der Realität zu interagieren. Der Teil der Psyche, der mit der Außenwelt (über die Wahrnehmung) Kontakt hat, verändert sich. Die eindringenden Reize, werden in diesem oberflächlichen Teil der Psyche nur kurzfristig psychisch repräsentiert und so entsteht das Bewusstsein (Freud 1992c: 211), während nur bestimmte Reize tiefer in der Psyche langfristige Repräsentation als Erinnerungen finden. An diese Differenzierung schließt Freud die Differenzierung von Ich und Es (Freud 1992a: 264) an, wobei dem Ich spezifische Funktionen zukommen. Das Ich ist die Instanz, die zwischen dem vom Lustprinzip regierten Es und der Außenwelt vermittelt, wobei es letztlich ebenso wie das Es die Befriedigung der Triebe zum Ziel hat. Da aber Triebe und Realität nicht automatisch zusammenpassen, können Ich und Es in Konflikt geraten: Im Es zielen Triebe ungehindert darauf, befriedigt zu werden, auch wenn es real nicht möglich ist. Das Ich dagegen will in seiner Kenntnis der Außenwelt die unmittelbaren Befriedigungsversuche nicht zulassen, weil sie Unlust bedingen würden, daher organisiert es Gegenbesetzungen, um Triebe zu verdrängen (Freud 1992d: 106f.). Die Gegenbesetzungen sind zunächst aus den Selbsterhaltungstrieben gespeist, eine Reihe psychischer Mechanismen springen ihnen aber bei. Ein zentraler Mechanismus dafür ist die Identifizierung, in der das Ich »seine Gestalt [ändert] und objektähnlich wird« (Fenichel 1998a: 93). Das

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Ich bildet sich einem Triebobjekt nach, damit sich der Trieb statt an der Außenwelt am Ich befriedigen kann (Freud 1992a: 269), so der potenzielle Konflikt mit der Außenwelt vermieden wird und das Ich mit der Triebenergie des nun auf ihn gerichteten Sexualtriebs versehen wird. Identifizierungen sind zugleich der Ausgangspunkt für »eine Differenzierung innerhalb des Ichs, die Ich-Ideal oder Über-Ich zu nennen ist« (ebd.: 267), das eine eigene psychische Struktur wird. Das Über-Ich ist eine Art in die eigene Psyche hineingeholte Autorität. Einerseits springt es dem Ich bei, um unerwünschte Triebe des Es abzuwehren, damit sie gar nicht erst zu Handlungen werden, die dann von der tatsächlichen Autorität bestraft werden könnten, andererseits bildet es als Ichideal, das der Autorität nachgebildet ist, ein innerpsychisches Objekt, auf das der eigene Trieb gerichtet werden kann. Entscheidend hierbei ist, dass »solche Ersetzung [gemeint sind Identifizierungen, P.S.] einen großen Anteil an der Gestaltung des Ichs hat und wesentlich dazu beiträgt, das herzustellen, was man seinen Charakter heißt« und der »Charakter des Ichs ein Niederschlag der aufgegebenen Objektbesetzungen ist« (ebd.: 268). Das Ich gewinnt also im Laufe seiner Entstehung eine spezifische Struktur, den Charakter. Im Zuge der Ausbildung des Charakters verliert das Ich dabei einen Teil seiner Flexibilität und entwickelt relativ starre Verhaltensformen, weswegen in der Psychoanalyse von Ichschwäche (Fenichel 1998b) gesprochen wird: Je starrer das Ich ist, desto schlechter kann es auf die sich wandelnde Realität reagieren und sich gegenüber dem Es durchsetzen. Der Charakter ist dabei von den individuellen Erlebnissen des Kindes geprägt, hat aber – aufgrund der strukturellen Bedingungen dieser Erlebnisse – einen gesellschaftlichen Anteil, der Sozialcharakter genannt wird. Die marxistischen Psychoanalytiker übernehmen Freuds Theorie des Charakters und wenden sie auf gesellschaftstheoretische Fragen an. Nicht mehr die möglichst exakte Erfassung der Struktur der Psyche eines Subjekts in ihrer Individualität als Hilfsmittel der klinischen Praxis, sondern die Gemeinsamkeit der Subjektivität der Mehrzahl der Menschen zur Beantwortung ihrer Leitfrage – in Wilhelm Reichs Worten: Warum »die Mehrheit der Hungernden nicht stiehlt und die

Die zweite Dimension kapitalistischer Subjektivation – Sozialcharakter

Mehrheit der Ausgebeuteten nicht streikt« (Reich 1980: 34) – bildet das Interesse des marxistischen Psychoanalytiker. Als zweite Dimension kapitalistischer Subjektivation beschreibt der Sozialcharakter also eine bestimmte Struktur der Psyche, die innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse funktional ist, deren Reproduktion von den gesellschaftlichen Verhältnissen begünstigt wird und die von dem Individualcharakter einerseits wie von den biologischen Gemeinsamkeiten der Menschen andererseits abgegrenzt wird (Bernfeld 2012a). Für diese Theorie ist dabei zunächst der Begriff des autoritären Charakters aufzuschließen. Er wurde von Reich und Fromm zu einer gesellschaftstheoretischen Kategorie entwickelt:1 Mit seinem Werk Charakteranalyse legt Reich 1933 die erste umfassende Darstellung der charakterologischen Psychoanalyse vor, die zugleich den Begriff des Charakters auch auf ›normale‹ Subjekte, d.h. Subjekte, die nicht an ihrer psychischen Struktur leiden, ausdehnt. Der Charakter wird dabei zum Begriff der spezifischen Form kapitalistischer Subjektivität, da die »Gesellschaftsordnung sich diejenigen Charakter schafft, die sie zu ihrem Bestande benötigt«. (Reich 1997: 13) Den von Freud beschriebenen, neurotischen, ichschwachen Charakter bezeichnet Reich dabei als »masochistische[n] Charakter«, (ebd.: 280) da er seine Aggression aus Angst vor dem Zuwendungsentzug durch die (väterliche wie staatliche) Autorität nach innen wendet. Er unterwirft sich der Herrschaft, um seine Angst vor der Strafe des Verlassenwerdens zu bewältigen. Dieser Masochismus geht laut Reich zugleich mit einem Sadismus gegen Unterlegene einher, der lustvoll genossen wird. Fromm greift den masochistischen Charakter in seinem Teil der Studien über Autorität und Familie 1936 auf und verallgemeinert ihn, indem er betont, dass »der masochistische Charakter – in jenen nicht-pathologischen Erscheinungsformen – […] weitgehend derjenige der Mehrzahl

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Zunächst verwenden beide ihn noch ganz im Sinne Freuds zur Beschreibung von Krankheitsbildern, etwa in Reichs Schriften Zwei narzißtische Typen (Reich 1983b) und Der triebhafte Charakter (Reich 1983a) oder Fromms ersten charakterologischen Schrift Die psychoanalytische Charakterologie… (Fromm 1989c).

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der Menschen unserer Gesellschaft« (Fromm 1989b: 170) ist. Er betont dabei die Entstehung des masochistischen Charakters aus der Gewalt (ebd.: 146) und der (gesellschaftlich vermittelten) Angst vor ihrer Wiederholung. Je ichschwächer das Subjekt einerseits und je größer die Rationalität der Angst im Angesicht materieller Not andererseits ist, desto größere Macht entfaltet sie und stützt die Orientierung an Autoritäten (ebd.: 156ff.). Fromm geht davon aus, dass der »autoritär-masochistisch[e] Charakter« (ebd.: 178) für seine Reproduktion der andauernden Anlehnung an gesellschaftliche Autoritäten bedarf (ebd.: 147). Ohne diese gesellschaftliche Stabilisierung würde nach Fromm das Über-Ich des ›normalen‹ masochistischen Charakters »mehr oder weniger verschwinden« (ebd.), da es »selbst nicht stark und stabil genug« ist, »um die ihm vorgeschriebenen Aufgaben zu leisten« (ebd.: 148); das Über-Ich des autoritären Charakters ist also auch schwach.2 Es ist abhängig von der andauernd drohenden Sanktion gesellschaftlicher Gewalt – offen, ideologisch vermittelt über Angst und Schuld oder in der Form der »schier hoffnungslose[n] Abhängigkeit, an die sich das Individuum anpaßt, indem es eine sado-masochistische Charakterstruktur entwickelt.« (ebd.: 174) Die Abhängigkeit begründet sich in der Befriedigung, die in der Identifikation mit dem Ideal, dem Führer der Masse, der Nation oder der Rasse liegt, in der sich das Subjekt als autonom und mächtig erlebt (ebd.: 179). Der Masochismus geht dabei mit Sadismus einher. Fromm begründet das teilweise Umschlagen des Masochismus in Sadismus nicht, es bieten sich aber zwei Vermutungen an: Einerseits im erwähnten Anlehnungsbedürfnis an die Autorität, sodass der autoritäre Charakter masochistisch ›nach oben‹ ist, um selbst keine Strafe auf sich zu ziehen, sadistisch ›nach unten‹, den Machtlosen gegenüber, um an der Macht der Autorität teilzuhaben. Den Machtlosen – Fromm nennt

2

Anders als das des von Freud untersuchten, pathologischen neurotischen Charakters, der ein starkes Über-Ich hat, und an der Triebhemmung leidet, die das Über-Ich durchsetzt.

Die zweite Dimension kapitalistischer Subjektivation – Sozialcharakter

als Beispiele dafür, wie Machtlose identifiziert werden, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, Sexismus sowie strukturellen Antisemitismus (ebd.: 172ff.) – werden dazu alle schlechten, unmoralischen Eigenschaften zugeschrieben, damit sich der autoritäre Charakter frei von ihnen fühlen kann. Andererseits lässt sich vermuten, dass der autoritäre Charakter, der nicht nur über ein schwaches Ich, sondern auch über ein schwaches Über-Ich verfügt, den rein masochistischen Triebverzicht nicht durchsetzen kann und der partiellen sadistischen Ersatzbefriedigung bedarf. Nach der Trennung des Instituts für Sozialforschung von Fromm 1938 übernimmt Adorno die Federführung hinsichtlich der sozialpsychologischen Arbeiten des Instituts und arbeitet in dieser Rolle in einem Forschungsprojekt des Instituts und der University of California, um eine empirische mixed-methods Studie zum Antisemitismuspotenzial in der US-amerikanischen Bevölkerung durchzuführen. Das Konzept des autoritären Charakters wurde dazu operationalisiert, um die Grundlage der sogenannten F-Skala für die quantitative Erhebung des Autoritarismus-Potenzials von Subjekten zu bilden. Den Kern der F-Skala bilden dabei, wie bei Fromm, die beiden Dimensionen der autoritären Aggression und autoritären Unterwürfigkeit. Hinzu tritt die dritte grundlegende Dimension des Konventionalismus, die die Rigidität des ichschwachen Subjekts und die Orientierung seines Über-Ichs an gesellschaftlichen Autoritäten fasst. Zugleich drückt der Konventionalismus als gleichrangige dritte Dimension einerseits die veränderte Forschungsfrage aus – die F-Skala soll das ›potenziell faschistische‹ Subjekt messen, das in den Vereinigten Staaten der Zeit nicht politisch autoritär auftreten muss – und andererseits reflektiert es auf Veränderungen im dominanten Charakter des fordistischen Massenkonsum-Kapitalismus. Auf diese drei basalen Dimensionen bauen die übrigen Dimensionen der F-Skala zur Projektivität, Stereotypie, Anti-Intrazeption, dualistischem Denken, Aggression und rigider Sexualmoral (Adorno 1995: S. 53-61) an. Im Anschluss an die empirischen Daten entwickelt Adorno in den Studien zum autoritären Charakter eine Typologie, deren Typen jeweils den Anteil des Sozialcharakters an der Psyche der untersuchten Subjekte

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beschreiben sollen. Fälle mit hohen Werten auf der F-Skala werden von Adorno dabei fünf bzw. sechs Typen zugeordnet – den Konventionellen, den Autoritären, dem Rebellen und dem Psychopathen, dem Spinner und den Manipulativen (ebd.: 319ff.) – während sich die Fälle mit niedrigen F-Werten in fünf Typen aufteilen – den Starren, den Protestierenden und den Impulsiven Vorurteilsfreien sowie den Ungezwungenen und den Genuin Liberalen (ebd.: 339ff.), von denen nur die beiden letzten ichstarke Charaktere sind. Bemerkenswert an der Typologie ist, dass nicht wie vielleicht zu erwarten alle Typen der Fälle mit hohen F-Skala-Werten dem autoritären Charakter zuzuordnen sind. Dem klassischen autoritären Charakter entsprechen nur je ein Typ mit hohen und ein Typ mit niedrigen Werten auf der F-Skala: der Autoritäre (ebd.: 322) und der Starre Vorurteilsfreie, der ein Autoritärer ist, der derzeit einer liberalen Autorität folgt (ebd.: 339f.). Versucht man die Typologie nach psychoanalytischen Gesichtspunkten zu sortieren, ordnen sich die Typen in drei Kategorien entsprechend der Position, die das Über-Ich in ihrer psychischen Struktur einnimmt. In der ersten Kategorie finden sich fünf Typen wieder, die über ein eigenständiges, von der gesellschaftlichen Autorität relativ unabhängigen Über-Ich verfügen. Sie lassen sich hinsichtlich der Frage, ob das Über-Ich triebhemmend und stark oder triebbejahend und schwach ist einerseits, nach der Frage ob ein starkes oder schwaches Ich vorliegt andererseits differenzieren. Im ersten Quadranten (triebhemmendes Über-Ich, schwaches Ich) findet sich der zwangsneurotische Protestierende Vorurteilsfreie, im zweiten (triebbejahendes Über-Ich, schwaches Ich) finden sich der Impulsive Vorurteilsfreie und der Rebell, die sich hinsichtlich ihrer destruktiven Tendenzen unterscheiden (ebd.: 328). Im dritten Quadranten (triebhemmendes Über-Ich, starkes Ich) findet sich der klassische ichstarke Charakter des Genuin Liberalen und im vierten (triebbejahendes Über-Ich, starkes Ich) der Ungezwungene Vorurteilsfreie. In der zweiten Kategorie sammeln sich drei Typen, die ichschwach sind und über ein autoritätsanlehnendes Über-Ich verfügen, einerseits der Autoritäre und der Starre Vorurteilsfreie mit gefestigtem und rigidem Über-Ich, andererseits der Konventionelle, der über ein schwaches

Die zweite Dimension kapitalistischer Subjektivation – Sozialcharakter

und ungefestigtes Über-Ich verfügt, das er unmittelbar durch gesellschaftliche Konventionen substituiert. Die dritte Kategorie umfasst schließlich diejenigen Typen mit einem sehr schwachen oder ganz ohne Über-Ich – diejenigen, die psychoanalytisch gesprochen die ödipale Situation3 nicht bewältigt haben. Bei ihnen erfolgt die »Objektwahl auf narzißtischer Grundlage« (Böckelmann 1998: 65), das bedeutet, ihr Begehren bezieht sich auf die äußere Wirklichkeit insofern, als dass dadurch das eigene, begehrte Ichideal bestätigt werden kann, während die Wirklichkeit dort, wo sie das eigene Ichideal in Frage stellt, ausgeblendet wird. Bei ihnen handelt es sich also um narzisstische Charaktere im engeren Sinne. Der erste Typ der Kategorie ist der Manipulative, dessen Libido einen destruktiven Objektbezug hat und dessen narzisstische Regression psychoanalytisch gesprochen auf die späte analsadistische Phase erfolgt; er weist dabei eine schizophrene Tendenz auf (Adorno 1995: 335). Der Zweite ist der Psychopath, dessen Regression ebenfalls auf die analsadistische Phase, dort aber vorrangig auf den Wunsch zu zerstören, nicht zu beherrschen, erfolgt. Der dritte und am weitesten von der Ichstärke entfernte Typ ist der Spinner, der eine paranoiden Tendenz, (ebd.) eine rein narzisstischen Ich-Libido ohne realen Objektbezug aufweist, und dessen Regression dementsprechend in die orale Phase erfolgt, in der Ich und Außenwelt nicht differenziert sind. Diese narzisstischen Typen sowie der Konventionelle sind für die Analyse der Änderungen des dominanten Sozialcharakters die interessantesten: Der Konventionelle orientiert sich stark an gesellschaftlichen Konventionen, die er als Ersatz für sein ungefestigtes und daher schwaches Über-Ich nutzt (ebd.: 314, 319), nur durch sein Anschmiegen an gesellschaftliche Konventionen ist die Triebverdrängung gewährleistet

3

Auf den Theorieapparat Freuds kann in diesem Text nur in der Form von Verweisen eingegangen werden. Eine knappe Darstellung der ödipalen Situation findet sich in Das Ich und das Es (Freud 1992a: 270f.), hilfreich für den Einstieg ist Das Vokabular der Psychoanalyse von Jean Laplance und Jean-Betrand Pontalis (1973).

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– die von Fromm konstatierte Schwäche des Über-Ichs (Fromm 1989b: 148) liegt bei ihm also gesteigert vor.

Tabelle 2: Charaktertypologie der Studien zum autoritären Charakter (Adorno 1995) Kategorie I: Eigenständiges Über-Ich Ichstarke Typen:

Ichschwache Typen:

Triebhemmendes Über-Ich

Triebbejahendes, schwaches Über-Ich

Genuin Liberaler

Ungezwungener Vorurteilsfreier (VF)

Protestierender VF

Impulsiver VF (keine destruktiven Tendenzen) Rebell (destruktive Tendenzen)

Kategorie II: Autoritätsanlehnendes Über-Ich Triebhemmendes, rigides Über-Ich

Triebhemmendes, schwaches Über-Ich

Autoritärer & Starrer VF

Konventioneller

Kategorie III: Sehr schwaches oder fehlendes Über-Ich Narzisstischer Regress auf anale Stufe mit Wunsch…

…zu kontrollieren

Manipulativer

…zu zerstören

Psychopath

Narzisstischer Regress auf orale Stufe

Spinner

Die Kritische Theorie des Instituts für Sozialforschung greift das Konzept des autoritären Charakters für seine Theorie kapitalistischer Subjektivation also auf, beobachtet im integrierten Kapitalismus aber zugleich den Verfall der Bedeutung der gehabten Vermittlungsinstitutionen zugunsten der von ihnen so bezeichneten Kulturindustrie (siehe Kap. 2.c). Durch sie vermitteln sich laut Kritischer Theorie die Anforderungen kapitalistischer Subjektivation – entsprechend der uniformen

Die zweite Dimension kapitalistischer Subjektivation – Sozialcharakter

Integration in den Kapitalismus ihrer Zeit – direkt gesellschaftlich, ohne den Umweg über individuelle Erziehungsleistungen, auf die Subjekte.

b. Vom autoritären zum narzisstischen Charakter Aus dem Bedeutungsverlust von Familie, Erziehung und Religion folgerte die Kritische Theorie eine Veränderung der dominanten Charakterstruktur im integrierten Kapitalismus. Sie liefert damit keine Korrektur der Theorie des autoritären Charakters, sondern vertritt die These, dass der autoritäre Charakter den Anforderungen des organisierten Kapitalismus angemessen war, die Theorie des autoritären Charakters wird also selbst historisiert. Der autoritäre Charakter war kompatibel zu körperlich anstrengender Arbeit, die in der fordistischen Industriearbeit häufig stark standardisiert war, sowie zu einem geringen Lohnniveau und heteronomer betrieblicher Disziplin (Bernfeld 2012b), wie sie für den organisierten Kapitalismus prägend war. In der Lohnarbeit wie dem Tausch waren die Objektivierungs- und Verdinglichungserfahrungen gegenüber der Anrufung der eigenen Autonomie dominant, die eigene Leiblichkeit wurde zugleich als arbeitender Körper in die Produktion integriert und als bedürftiger Leib von ihr ausgeschlossen. Dem organisierten Kapitalismus und seinen Arbeitsverhältnissen war also ein Sozialcharakter angemessen, der Entsagungen und Gehorsam verband und lustvoll besetzte. Der autoritäre Charakter bewältigt den Widerspruch zwischen Heteronomie und Autonomie dabei in der Unterordnung unter ein handelndes Kollektiv, das die Realisierung der Autonomie versprach, und wird so subjektive Grundlage autoritärer Bewegungen. Der autoritäre Charakter – vermittelt durch die patriarchale Kleinfamilie, autoritäre Erziehungskonzepte und eine religiös vermittelte, rigide Sexualmoral – bietet diesen Verarbeitungsweg durch seine Kombination autoritärer Unterwürfigkeit in der Eigengruppe und Aggression gegen Schwächere, die von der Eigengruppe ausgeschlossen werden. Der autoritäre Charakter erlaubt also eine gesellschaftlich funktionale

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Form des Masochismus, weil sein Über-Ich4 die Triebunterdrückung allein nicht sicherstellen kann. Daher lehnt sich der autoritäre Charakter einerseits an herrschende Autoritäten an, die seinem Über-Ich beispringen, und andererseits bietet ihm die autoritäre Aggression Ersatzobjekte, auf die sich seine Triebe richten können, erlaubt also eine realitätstaugliche, sadistische Ersatzlust. Im integrierten Kapitalismus, also etwa ab Ende des zweiten Weltkrieges, veränderte sich jedoch einerseits die Integrationsform, an die Stelle von Familie, professioneller Erziehung und Religion traten zunehmend die Kulturindustrie und der Massenkonsum. Der Lebensstandard stieg zumindest im Zentrum des Kapitalismus und Entsagungen wurden weniger, entsprechend spricht Marcuse von einer »Überflussgesellschaft« (Marcuse 1984a: 41). Andererseits verändern sich die dominanten Arbeitsverhältnisse, womit die Erleichterung und relative Reduktion industrieller Lohnarbeit zugunsten von proletarisierter Kopfarbeit und personenbezogenen Dienstleistungen einherging. Die erste Reflexion dieser Veränderungen im Sozialcharakter ist die Betonung der Dimension des Konventionalismus im Erhebungsinstrument der F-Skala und Adornos Typologie der Ergebnisse dieser Erhebung, in der der ›Konventionelle‹ auftritt. Dieser verfügt wie die unmittelbar dem autoritären Charakter entsprechende Typen über ein schwaches Ich bei gleichzeitig schwachem Über-Ich, ist also auch an die Anlehnung an eine gesellschaftliche Autorität angewiesen. Sein Über-Ich ist aber weniger Produkt einer autoritären Erziehung als einer frühen Integration in die gesellschaftliche Bedürfnisproduktion durch die Kulturindustrie, es ist daher ungefestigt und weniger rigide. Der Konventionelle sucht also weniger eine Autorität, die sein Über-Ich unterstützt, als vielmehr ein Substitut für die fehlende Orientierung durch das Über-Ich.

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Anders als der pathologische masochistische Charakter mit seinem moralischen Masochismus, aber auch anders als Zwangsneurotikerinnen, deren gegenüber der Gesellschaft eigenständiges Über-Ich die pathologischen Formen bedingt.

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In der Kritischen Theorie wird anschließend an diesen Typ eine generelle Verschiebung vom autoritären Charakter zu einem neuen, »unterwürfige Typ[en]« (Horkheimer 1991: 147) diagnostiziert, der in dieser Arbeit als konventioneller Charakter bezeichnet wird. Im integrierten Kapitalismus muss dieser Charakter weniger Entsagungen lustvoll besetzen als vielmehr die Heteronomie gegenüber anonymen Herrschaftsstrukturen und ihrer Komplexität bewältigen. Er bietet dafür den Weg der tendenziell unmittelbaren Identifizierung mit den Konventionen – die Kritische Theorie fasst dieses Phänomen in Begriffen wie denen der Halbbildung und Eindimensionalität und betont, dass der konventionelle Charakter unselbstständiger und tiefer vergesellschaftet ist als vorherige Charaktere (Adorno 2003h; Marcuse 1994). Eine ähnliche Diagnose findet sich bei Riesman mit dem »außengeleiteten Charakter« (Riesman 1989), der sich – ausgehend von der geringeren Bedeutung von Entsagung und harter körperlicher Arbeit – statt an der Entsagung von der Bedürfnisbefriedigung zunehmend an der Bewertung durch andere Menschen und daher stark an Normen und Konventionen orientiert. Der Wandel der Arbeitsverhältnisse setzte sich im postfordistischen Kapitalismus ab den 1970er Jahren zugunsten von personenbezogenen Dienstleistungen und der veränderten Bedeutung des Körpers als Arbeitsinstrument fort – weg von körperlich anstrengenden Tätigkeiten hin zu einer größeren Rolle von Emotion und Affekt in der Arbeit (siehe Kap. 2.d). Zugleich pluralisierten und differenzierten sich die Identifikationsangebote der Kulturindustrie und die Konsummöglichkeiten (siehe Kap. 2.c). Diese Entwicklung wurde etwa von Christopher Lasch mit The Culture of Narcissism von 1979 sowie Sennett mit Authority von 1980 und The Corrosion of Character von 1998 beschrieben. In Deutschland diagnostizierte Frank Böckelmann schon 1966 in Die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit diese Entwicklung, indem er Marcuses Arbeiten aus Triebstruktur und Gesellschaft und Der eindimensionale Mensch mit dem Konzept des autoritären Charakters verband und dabei einer Kritik unterzog. Ausgangspunkte sind für Böckelmann der Verfall der Bedeutung und der Autorität der Familie zugunsten von »Massenkommunika-

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tionsmittel[n] wie Fernsehen und comic strips« (Böckelmann 1987: 34), die zunehmende Automatisierung industrieller Produktion, der Bedeutungsverlust repressiver Sexualmoral aufgrund von Urbanisierung und Erziehungsreformen (ebd.: 36) sowie die Produktion von Bedürfnissen im Massenkonsumkapitalismus (ebd.: 40). Aus ihnen folgend konstatiert er, dass der »Puritanismus […] vom ›consumerism‹ abgelöst« (ebd.: 42) wird. Der consumerism benötigt eine weniger unterdrückende Triebstruktur, die wiederum durch die veränderte Erziehungssituation geschaffen wird; ein neuer Charakter entsteht. Die Erziehungssituation »schrumpft« durch den Wegfall verbietender, väterlicher Autorität und die kindlichen Bedürfnisse werden umfänglicher befriedigt – sie ist laut Böckelmann »immer ausschließlicher auf die Mutter-Kind-Beziehung« (ebd.: 44) fokussiert, zugleich ist die Kindheit aber durch frühen Konsum kulturindustrieller Medieninhalte (ebd.: 45) geprägt. Beides führt nach Böckelmann zu »einer gewissen Fixierung in der oralen« (ebd.: 48) Phase und begründen »eine grundsätzlich narzißtische Disposition« (ebd.: 50). Der consumerism greift auf diese Disposition zu und bestärkt sie, indem er konstant Bedürfnisse und ihre Befriedigung produziert, ohne eine Distanznahme zu erfordern oder zu ermöglichen. Diese Diagnosen werden von zeitgenössischen Theorien des Sozialcharakters aufgegriffen, etwa von Felix Gruber 2010 in seinem Aufsatz Der flexible Sozialcharakter oder von Lutz Eichler 2013 mit System und Selbst. Eichler knüpft an die Diagnosen Böckelmanns, Lash und Sennetts an (Eichler 2013: 220). Für ihn ist der »postfordistische Sozialcharakter« (ebd.: 486) ein narzisstischer Charakter. Flachere Hierarchien und höhere Autonomie und Selbstdisziplinierung im Betrieb begünstigen den narzisstischen Charakter (ebd.: 245), der nach Anerkennung strebt und die Enttäuschung dieses Strebens narzisstisch verarbeitet (ebd.: 480). Da im Narzissmus die Abhängigkeit von anderen verleugnet wird, schafft sich dieser Charakter selbstbestätigende Strukturen der imaginierten Anerkennung, etwa im Konsum. Ein neuer narzisstische Charakter gewinnt so an Bedeutung, der sich vom autoritären Charakter dahingehend unterscheidet, dass er auf Konsum statt auf Entsagung und auf narzisstischer Ausblendung statt

Die zweite Dimension kapitalistischer Subjektivation – Sozialcharakter

auf sadistischer Abwehr des Anderen beruht. Vom konventionellen Charakter und dessen Primat der Normenerfüllung vor der Triebbefriedigung unterscheidet ihn dagegen seine stark triebbejahende Orientierung auf Konsum und Distinktion in der pluralisierten Kulturindustrie, die Momente der Gegenkultur aufgenommen hat (Behrens 2015). Ist der konventionelle Charakter mit Riesman als außengeleiteter Charakter zu beschreiben, der sich zu den Konventionen als Zentrum bezieht, sind dem narzisstischen Charakter seine gesellschaftlich produzierten Bedürfnisse Zentrum seiner eigenen Welt. Der Gegensatz von Außenund Innengeleitetheit ist (wenn auch nicht im emphatischen Sinne) für den narzisstischen Charakter aufgehoben, da die Grenze zwischen Innen- und Außenwelt für ihn ihre Bedeutung verliert. Der zeitgenössische narzisstische Charakter konstituiert also in Konsum und Praktiken der Identitätsproduktion eine scheinbar wiederhergestellte Einheit von Selbst und Welt. Die Einheit wird dabei – anders als beim Spinner (Adorno 1995: 335) – realitätstauglich, da sie materiell durch Konsum hergestellt wird. Über den Konsum hinaus kann die Einheit aber auch etwa durch die Beteiligung in einer spektakulären, »simulativen Demokratie« (Blühdorn 2013) hergestellt werden, in der Autonomieansprüche und ihre Realisierung passförmig zueinander, aber mit geringem Realitätsbezug repräsentiert sind. Sein narzisstischer Charakter rührt nicht wie beim Spinner aus der realitätsuntauglichen Projektion, sondern der realitätstauglichen Herstellung von Objekten, die die Projektion bestätigen und um das spezifische Subjekt gruppiert sind. Schon Adorno untersuchte diese wechselseitige Bestätigung gesellschaftlich produzierter Subjektivität und ihrer Triebobjekte unter dem Begriff des Konsums von Tauschwerten (Adorno 1980b), der sich um das Zentrum der Waren der Kulturindustrie konzentriert (siehe Kap. 2.c). Stefanie Graefe arbeitet aber heraus, dass eine »besonders komplexe Form der konsumtiven Selbstsimulation […] potenziell auch dort vor[liegt], wo Verbraucher*innen sich für ökologischen oder ethisch korrekten Konsum entscheiden: Man muss nicht daran glauben, damit wirklich etwas verändern zu können, um die

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Selbstinszenierung als ethisch verantwortliches Konsumsubjekt zu genießen« (Graefe 2016: 206) Sie schließt so an die Integration scheinbar subversiver oder rebellischer Motive in die Kulturindustrie an (siehe Kap. 2.c) und dadurch wird es möglich, auch ethisches oder politisches Engagement dahingehend zu untersuchen, inwiefern es Effekt und Reproduktionsort narzisstischer Charaktere ist. Parallel mit dem Wandel vom autoritären zum konventionellen und dann narzisstischen Charakter beschreibt die Kritische Theorie einen Wandel der Ideologie, also des »System[s] von Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen«, die »Resultat historischer Prozesse wie des sozialen Zeitgeschehens« sind und zugleich »individuelle Bedürfnisse« befriedigen sowie eine »Funktion bei der Anpassung des Individuums an die Gesellschaft erfüllen« (Adorno 1995: 2f.). Der autoritäre Charakter ist noch auf eine die gesellschaftliche Realität verklärende Ideologie als »Mystifikation der kapitalistischen Produktionsweise« und »Freiheitsillusionen« (Marx 1962: 562) angewiesen, um die Entsagungen und Heteronomie zu bewältigen und in seinem kollektivistischen Versuch, Autonomie zu realisieren, unterzuordnen. Der konventionelle Charakter dagegen befriedigt seine gesellschaftlich produzierten Bedürfnisse erfolgreich, und die herrschende Ideologie muss die Entsagung nicht mehr rechtfertigen, sondern ist nur noch als »überhöhte Verdoppelung […] des ohnehin bestehenden Zustands« (Adorno 2003j: 476) notwendig. Für den narzisstischen Charakter wandelt sich die Funktion der Ideologie erneut. Eine in ihren Inhalten einheitliche Ideologie ist unter den Bedingungen des differenzierten Kapitalismus und seiner pluralisierten Kulturindustrie, die Elemente der Gegenkultur aufgenommen hat, nicht mehr möglich und wäre für die egozentrische, scheinbare SelbstWelt-Verschmelzung auch nicht tauglich. Stattdessen bildet die Ideologie sich anhand von Motiven aus, die verschieden konkretisiert werden können – etwa Authentizität, Differenz und Subversion. Neben diesen Motiven, die für den narzisstischen Charakter von Bedeutung sind, ist das Motiv der Positivität zentral. Schon Adorno konstatierte in der Negativen Dialektik, dass »die Ideologie heute mehr

Die zweite Dimension kapitalistischer Subjektivation – Sozialcharakter

denn je den Gedanken zur Positivität« (Adorno 2003g: 30) ermuntert. Positivität als solche ist eine Grundlage der Kulturindustrie, da es die »subjektive Basis für die Einreihung der Kunst unter die Konsumgüter« ist, durch die die »beschämende Differenz zwischen der Kunst und dem Leben, das sie leben und in dem sie nicht gestört werden wollen, weil sie den Ekel sonst nicht ertrügen, […] verschwinden [soll]« (Adorno 2003k: 32), wie Adorno es in der Ästhetischen Theorie formuliert. Die Positivität als solche überträgt sich als Prinzip in der erweiterten Kulturindustrie auf die gesamte Lebensführung, und die simulative Identität von Leben und Ideal wird Praxis des narzisstischen Charakters. In den Analysen Adornos und auch Marcuses geschieht dies noch durch die Verdrängung von negativ konnotierten Emotionen zugunsten von »Fun« (Horkheimer/Adorno 1988: 149) oder der Reduktion von »Liebe auf romance« (ebd.: 148). Die Verdrängung der romantisch-leidenden Individualität zugunsten der Orientierung an gesellschaftlich vorhandenen und kulturindustriell vermittelten Rahmungen, hat auch heutzutage hohe Bedeutung, wie die Studien Illouz’ (2007, 2012) zur Warenform der Liebe im zeitgenössischen Kapitalismus darstellen. Zugleich können aber auch andere Emotionalitäten durch das Motiv der Positivität gefasst und integriert werden. In der Aufwertung von Achtsamkeit (Huppertz 2017), aber auch von Wut und Zorn etwa in rechter Politik (Peters/Görlich 2017) oder der Introvertiertheit5 die derzeit zu beobachten ist, ist ihre Anerkennung als Eigenwert, entsprechend der Positivität als solcher, zu beobachten. Gleichzeitig können diese Emotionen in Abgrenzung zum als oberflächlich kritisierten ›fun‹ zugleich geeignet sein, auch die Motive der Authentizität, Differenz und Subversion auszudrücken.

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Ein bisher wenig beforschtes Phänomen, das sich in Ratgeberliteratur wie etwa Marti Olsen Laneys The Introvert Advantage: How Quiet People Can Thrive in an Extrovert World von 2002, Laurie Helgoes Introvert Power. Why Your Inner Life is Your Hidden Strength von 2008, Susan Cains Quiet – The Power of Introverts in a World that can’t stop Talking von 2012 oder Sophia Demblings The Introvert’s Way: Living a Quiet Life in a Noisy World – ebenfalls von 2012 – und einer sich über soziale Netzwerke wie tumblr und Instagram organisierenden Szene ausdrückt.

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Ausgehend davon, dass die Kulturindustrie immer noch die dominierende Vermittlungsinstitution ist, und Familie und die professionelle Erziehung nicht vollständig von ihr ersetzt sind, aber sowohl in sie eingebettet als auch von ihr auch überformt, ist von einer andauernden Bedeutung des narzisstischen Charakters auszugehen. Viele zeitgenössische Tendenzen lassen den narzisstischen Charakter funktional für kapitalistische Anforderungen erscheinen, etwa die zunehmende Emotionalisierung der Arbeit, die Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse, die Entgrenzung von Arbeit und Freizeit und der Pluralisierung von Konsum und Kulturindustrie (siehe Kap. 2). Zugleich wirken diese Entwicklungen aber nicht gleichermaßen für alle Subjekte im Gegenwartskapitalismus. Bevor der ›soziale Ort‹ des Sozialcharakters und die Gleichzeitigkeit mehrerer dominanter Sozialcharaktere aber entwickelt werden soll, soll auf die zweite Seite des Sozialcharakters eingegangen werden: Den Geschlechtscharakter.

c. Wandel der Geschlechtscharaktere Nicht nur der Sozialcharakter als zweite Dimension kapitalistischer Subjektivation, auch die Geschlechtscharaktere sind im Übergang vom integrierten zum differenzierten Kapitalismus einem Wandel unterworfen. Unter Geschlechtscharakter wird in Anschluss an die Freud’sche Psychoanalyse der Teil des Charakters verstanden, der sich geschlechtsspezifisch – bedingt durch geschlechtsspezifische Erziehung, aber auch durch Orientierung an gleichgeschlechtlichen Vorbildern und der Beobachtung insbesondere gegengeschlechtlicher Intimbeziehungen, etwa der Eltern oder in den Medien – differenziert ausprägt. Der Wandel ist einerseits, für den weiblichen Geschlechtscharakter, mit dem Begriff der doppelten Vergesellschaftung und andererseits, für den männlichen Geschlechtscharakter, mit den Begriffen der Krise und der Pluralisierung von Männlichkeit zu fassen. Folgend soll daher – anschließend an die Forderungen der Kritischen Feministischen Theorie von Becker-Schmidt und Gudrun-Alexi Knapp (Becker-Schmidt 1998)

Die zweite Dimension kapitalistischer Subjektivation – Sozialcharakter

– der Wandel der Geschlechtscharaktere ausgehend von deren Widersprüchlichkeit sowie in Hinsicht auf das Gemeinsame von Geschlechtsausdrücken und -praktiken, knapp rekonstruiert werden. Der Zusammenhang zwischen geschlechtlicher und kapitalistischer Subjektivation wurde im Anschluss an Marx erstmals vom Institut für Sozialforschung hergestellt. Leo Löwenthal entwickelte 1936 im Aufsatz Das Individuum in der individualistischen Gesellschaft die These, dass (bürgerliche) Frauen, da sie von der Produktion und dem Tausch weitgehend ausgeschlossen sind, »nicht in demselben Ausmass wie die Männer unter das Diktat der Konkurrenz« (Löwenthal 1980: 349) gerieten und daher der kapitalistischen Subjektivation entzogen seien. Adorno reagierte darauf mit einer Kritik Löwenthals (Umrath 2019: 111). Seine These ist, dass Frauen nur negativ in den Kapitalismus integriert seien, so lange sie nicht vollständig in die grundlegenden Praktiken des Kapitalismus involviert sind. Solange sie also etwa tatsächlich nicht lohnarbeiteten, oder ihr Ehemann an ihrer statt das juristische Recht hatte, Arbeitsverträge einzugehen, und somit direkt über die Arbeitskraft der Frau verfügte, war die Sphäre der Tätigkeit der Frau tendenziell auf Haushalt und Familie eingeschränkt. Entsprechend formte sich ein Geschlechtscharakter, der die durch die kapitalistische Subjektivation verdrängten Elemente – Heteronomie, Naturnähe, Schwäche, Schönheit, Empfindsamkeit usw. – verband und ein Negativbild der (männlich-)kapitalistischen Subjektivität bildete (Adorno 2003f: 105). Adorno verbindet mit dieser Diagnose eine scharfe Kritik der patriarchalen Gesellschaft, der »tatsächliche[n] Knechtschaft der Frau« (Horkheimer/ Adorno 1988: 114) und sowohl des weiblichen als auch des männlichen Geschlechtscharakters – wobei letzterer mit dem autoritären Charakter zusammenfällt.6 Mit der positiven Integration durch vollständige juristische Gleichberechtigung und ökonomischer Integration der Arbeitskraft im Zuge des integrierten und differenzierten Kapitalismus bilden die Anforderungen kapitalistischer Subjektivation, die diesem Geschlechtscha6

Ausführlich zur Theorie des Geschlechts in der Kritischen Theorie siehe Barara Umraths (2019) Buch Geschlecht, Familie, Sexualität.

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rakter widersprechen, auch für Frauen die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation. Gleichzeitig »werden Frauen [nach wie vor] dahin sozialisiert, die Aufgaben der sozialen Reproduktion zu übernehmen« (Becker-Schmidt 1987: 23) sowie mit dem ausgeschlossenen Anderen – Natur, Sensibilität, Schönheit, Ohnmacht – identifiziert. Durch die steigende Erwerbsarbeitsquote bei Frauen, die Landnahme des Sozialen, aber auch die Pluralisierung der Kulturindustrie und der Aufnahme gegenkultureller, in diesem Fall feministischer, Motive (siehe Kap. 2; Scholz 2015: 44–48) bei gleichzeitiger ungleicher Verteilung der unbezahlten Reproduktionsarbeit an Frauen (Peuckert 2012; Koppetsch/Speck 2015) und ideologischer Verkoppelung von Sorgetätigkeiten und Frauen ist der weibliche Geschlechtscharakter also mehr denn je als »doppelte Vergesellschaftung« (Becker-Schmidt 1987) zu erfassen. Frauen sind in »doppelter Weise in das soziale Gefüge eingebunden« (ebd.: 20): Sie werden einerseits angerufen, den Anforderungen kapitalistischer Subjektivation, die bisher männlich konnotiert sind, zu entsprechen, andererseits aber angerufen, auch die zu diesen gegensätzlichen Anforderungen, die im weiblichen Geschlechtscharakter gefasst waren, zu erfüllen. Frauen stehen so vor dem Problem, einerseits männlich konnotierten Anrufungen ausgesetzt zu sein, und gleichzeitig ihre Weiblichkeit in der Übernahme von und Identifikation mit Sorgetätigkeiten und femininer Selbstinszenierung aufrechtzuerhalten – und den Widerspruch zwischen beidem zu bewältigen. Der weibliche Geschlechtscharakter im differenzierten Kapitalismus ist so von einer vertieften Widersprüchlichkeit (Becker-Schmidt 1991: 394) geprägt, die noch drängender wird, wenn man berücksichtigt, dass Frauen überproportional in personenbezogenen Dienstleistungen tätig und so deren Entgrenzungsanforderungen ausgesetzt (Nickel 2007) sowie überdurchschnittlich häufig in prekären Beschäftigungsverhältnissen beschäftigt sind (Dörre 2007: 295). Die tiefe Widersprüchlichkeit bedingt die »endlosen Varietät und [zugleich, P.S.] monotone Ähnlichkeit« (Knapp 1992: 291), in der sich der weibliche Geschlechtscharakter im differenzierten Kapitalismus ausdrückt, da die grundlegende Widersprüchlichkeit der doppelten Vergesellschaf-

Die zweite Dimension kapitalistischer Subjektivation – Sozialcharakter

tung auf zahlreichen Wegen (die dazustellen den Umfang dieser Arbeit sprengen würde) zu bewältigen versucht werden kann. Auch der männliche Geschlechtscharakter ist (bzw. männliche Geschlechtscharaktere sind) von einem grundlegenden Widerspruch geprägt, der aber darauf beruht, die der Weiblichkeit zugeschriebene Seite zu verdrängen, um den Widerspruch so zu bewältigen. Ein Widerspruch, der sich bis in das Somatische zieht und so das »Sexualitätsdilemma« (Pohl 2004: 225) prägt. Es wird dadurch konstituiert, dass der Mann zugleich die Vorstellung der eigenen Autonomie aufrechterhalten will, das Begehren nach einer anderen Person aber die Wiederkehr der verdrängten Abhängigkeit von anderen bedeutet. Um die Abhängigkeit zu verdrängen, ohne der (Hetero-)Sexualität zu entsagen, projiziert er einerseits die Abhängigkeit auf die Frau und wertet sie ab, und andererseits versucht er, sie sich als Objekt anzueignen, um die Abhängigkeit zu bewältigen (ebd.: 133) – der männliche Geschlechtscharakter, durch einen Widerspruch begründet, ist entsprechend grundlegend mit Misogynie und dem Potenzial zu sexualisierter Gewalt verbunden, aber auch von Härte gegen sich selbst und seinen Körper geprägt, die aber im differenzierten Kapitalismus unterschiedliche Formen annehmen kann. Mit der Veränderung der Erwerbsarbeit, der Informatisierung, dem Bedeutungsgewinn personenbezogener Dienstleistungen und zunehmend prekärer Arbeitsverhältnisse (siehe Kap. 2.b) sowie dem Entstehen und der Ausdehnung des Massenkonsumkapitalismus und der Kulturindustrie (siehe Kap. 2.c) gerät der männliche Geschlechtscharakter in eine Krise (Scholz 2015: 244f.). Seine Funktionalität hinsichtlich der Anforderungen kapitalistischer Subjektivation nimmt ab und zudem wird ihm durch die steigende Frauenerwerbsarbeitsquote wie die erkämpfte Emanzipation der Frauen die Familie als Ort männlicher Herrschaft teilweise entzogen. Diese Krise des männlichen Geschlechtscharakters führt, so die hier vertretene These, nicht zu einem »modularisierte[n] Mann« (Böhnisch 2018: 198), der seine Identität patchworkartig formiert, sondern zu einer Pluralisierung von männlichen Geschlechtscharakteren, die für verschiedene Zonen des differenzierten Kapitalismus dominant sind. Folgend sollen, im Anschluss an Raewyn Connells Der gemachte Mann vier männliche Geschlechtscharaktere be-

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stimmt werden: eine rationalisierte, eine traditionelle, eine hedonistische, sowie eine sorgende Männlichkeit. Connell schließt in ihrer Arbeit an die Psychoanalyse (Connell 2015: 53–57), hinsichtlich der marxistischen Psychoanalytiker insbesondere an Reich7 und an die Studien zum autoritären Charakter des Instituts für Sozialforschung an (ebd.: 63). Ihre Kritik an Reich und dem Institut für Sozialforschung ist dabei, dass ihnen eine feministische Perspektive und daher die Möglichkeit fehle, den Androzentrismus ihrer Arbeit und somit den autoritären Charakter als männlichen Charakter zu erkennen. Zudem sieht Connell die gesellschaftstheoretische Charakterologie insgesamt skeptisch, da man auf »das Geschlechtsverhältnis unter Männer[n] achten [muss], um die Analyse dynamisch zu halten, damit die Vielfalt an Männlichkeiten nicht zu einer bloßen Charaktertypologie erstarrt, wie man das bei Erich Fromm und seiner ›autoritären Persönlichkeit‹ beobachten konnte.« (ebd.: 130) Entsprechend beschreibt sie mit der von ihr begrifflich geprägten ›hegemonialen‹, ›komplizenhaften‹ und ›marginalen‹ Männlichkeit keine Charaktertypen, sondern relationale Positionen im Feld der Männlichkeit (ebd.: 130–133). Connells Analyse nimmt aber gleichzeitig die »Veränderung von Männlichkeit« (ebd.: 151) im zeitgenössischen Kapitalismus in den Blick, im Zuge derer sich »[i]nnerhalb der hegemonialen Männlichkeit […] eine Polarität zwischen Dominanz und technischem Expertentum« (ebd.: 257) entwickelte. Die Polarisierung ist durch die Rationalisierung der Arbeitstätigkeiten im Fordismus bedingt und führte laut Connell dazu, dass »Gewalt und Zügellosigkeit – symbolisch, aber auch im bestimmten Maß tatsächlich – in die Kolonien verbannt« (ebd.) wurde. Die Polarisierung innerhalb des Feldes der Männlichkeit und die

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Connell macht die Bedeutung dieses Anschlusses an die marxistische Psychoanalyse deutlich, indem sie Reich als »vielleicht originellste[n] Kopf unter den linken Psychoanalytikern in der Zwischenkriegszeit« bezeichnet und seinen »Versuch, die ökonomische Analyse des Marxismus und die Freud’sche Sexualwissenschaft zu verbinden« als »brillant[e] Ideologiekritik« (Connell 2015: 63) lobt.

Die zweite Dimension kapitalistischer Subjektivation – Sozialcharakter

Verdrängung der (körperlichen) Gewalt und Dominanz aus dem Zentrum der Gesellschaft zugunsten einer rationaleren Männlichkeit wird folgend als Grundlage der Ausbildung einer Pluralität von männlichen Geschlechtscharakteren verstanden, ohne die Dynamik, die Connell betont, auszublenden: Welcher männliche Geschlechtscharakter in welcher Situation Hegemonie beanspruchen kann, hängt nicht zuletzt von der Verortung im differenzierten Kapitalismus ab und ist keinesfalls statisch vorherbestimmt. Grundlage aller männlichen Geschlechtscharaktere bleiben dabei die Anforderungen kapitalistischer Subjektivation und ihre Identifikation mit dem Männlichen: Männlichkeit gilt als »rational«, »instrumentell«, »Wissenschaft und Technik [sind] kulturell eindeutig als männliche Bereiche definiert« und Männlichkeit »bezieht einen Teil ihrer Vorherrschaft aus dem Anspruch, die Macht der Vernunft zu verkörpern« (ebd.: 225). Connell beobachtet im postfordistischen Kapitalismus nun einen Wandel der Männlichkeit hin zu einer rationalisierten Männlichkeit, die mit dem Entstehen einer »neue[n] Mittelschicht« (ebd.: 230) und der Informatisierung der Arbeit verbunden ist. Der aktive Einsatz des eigenen Körpers als Macht- und Arbeitsinstrument tritt zurück hinter die bloße Kontrolle des Körpers, damit dieser nicht als Störfaktor bei der Kopfarbeit fungiert, aber zugleich in der Freizeit als Genussinstrument zur Verfügung steht. Die Inszenierung von körperlicher Stärke und Härte gegenüber anderen und sich selbst tritt zurück hinter ein rationalisiertes Selbst- und Leibverhältnis. Der Idealtyp dieser Männlichkeit wird von Connell bei Angestellten und Managern in der Finanzindustrie untersucht und als »transnational business masculinity [bezeichnet, P.S.]. Diese Männlichkeit wird als flexibel, kalkulierend und egozentrisch beschrieben […] Ihr Entstehungshintergrund sind Neoliberalismus und Globalisierung« (Meuser/Müller 2015: 12). Neben der neuen, rationalisierten Männlichkeit untersucht Connell in ihrer Studie Arbeitslose und deren »protestierende Männlichkeit« (Connell 2015: 168). »Protestierende Männlichkeit ist eine marginalisierte Form von Männlichkeit, die Inhalte der hegemonialen Männlichkeit aufgreift, diese aber im Kontext der Armut modifiziert« (ebd.: 173), in-

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dem sie auf die traditionelle Männlichkeit und ihre Körperlichkeit und Affektivität zurückgreift. Connell beschreibt, wie »diese jungen Männer […] auf ein Gefühl der Machtlosigkeit [reagieren], sie erheben Anspruch auf einen Teil der Macht, die auf ihr Geschlecht bezogen ist und treiben männliche Gepflogenheiten (Schwulenklatschen, wildes Motorradfahren) ins Extrem« (ebd.: 170) – wobei die Einschränkung auf junge Männer dem empirischen Material der Studie geschuldet ist. Schließlich untersucht Connell Männer aus der Umweltbewegung (ebd.: 180) und findet dort eine Männlichkeit vor, die von der Nicht-Verdrängung von Verletzbarkeit und Verbundenheit (ebd.: 186), sowie einem Ideal des persönlichen Wachstums (ebd.: 187) und der Emotionalität (ebd.: 192) geprägt ist. Connell betont, dass es sich auch bei dieser Form der Männlichkeit, die im Selbstanspruch häufig kritisch gegenüber der rationalisierten wie der traditionellen Männlichkeit ist, weniger um eine Überwindung als mehr um eine Modernisierung von Männlichkeit handelt (ebd.: 199). Folgend soll diese Männlichkeit, die auf die Veränderungsprozesse, die durch ›1968‹ angestoßen wurden, in zwei Varianten dargestellt werden: Die erste Variante bezeichne ich als hedonistische Männlichkeit. Sie ist um das Ideal des persönlichen Wachstums und die Emotionalität zentriert, während sie Verletzbarkeit und Verbundenheit tendenziell verdrängt oder nur situativ zulässt. Aus der Gegenkultur rund um 1968 hervorgegangen, ist die hedonistische Männlichkeit eng mit individualistischen Selbstverwirklichungskonzepten und kreativem Selbstausdruck verknüpft und versteht sich häufig als »Projektemacher« (Scholz 2015: 108f.), die ein »reproduktionsorientiertes Arbeitshandeln« (ebd.: 246) in dem Sinne aufweisen, dass sie eine individuelle Balance zwischen (entgrenzten) Arbeitsanforderungen und Autonomierealisierung in der Freizeit anstreben, während sie Sorgetätigkeiten ausblendet.8

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Cornelia Koppetsch und Sarah Speck stellen in ihrer Studie Wenn der Mann kein Ernährer mehr ist heraus, dass gerade dieser Männertyp trotz verbaler Bekundungen seltener eine paritätische Verteilung der Sorgearbeit realisiert als traditionellere Männlichkeiten (Koppetsch/Speck 2015).

Die zweite Dimension kapitalistischer Subjektivation – Sozialcharakter

Die zweite Variante ist die sorgende Männlichkeit. Sie zentriert Verbundenheit und Emotionalität und ist ebenfalls auf das Motiv des persönlichen Wachstums orientiert, das aber stärker übersituativ und intersubjektiv, etwa in der Familie, realisiert wird. Während in der kritischen Männlichkeitsforschung diese (für)sorgende Männlichkeit häufig emphatisch als Überwindung von Männlichkeit insgesamt verstanden wird (Scholz/Heilmann 2017, 2019), sollen hier im Anschluss an Lothar Bönisch »sorgende Männer« (Böhnisch 2018: 182) als bestimmte Form verstanden werden, wie im differenzierten Kapitalismus Männlichkeit realisiert wird. Sorgende Männlichkeit erhebt weiterhin den Anspruch, »der Situation ›Herr [zu] werden« und »sie ›mannhaft‹ zu meistern« (ebd.: 183), während zugleich, sofern möglich, unattraktive Sorgetätigkeiten an Frauen delegiert werden. Sorgende Männlichkeit bleibt so einerseits in »männlichen Bewältigungsmustern« (ebd.: 185) von Krisen verhaftet, wie Bönisch in Bezug auf alleinerziehende Väter formuliert, greift andererseits wo möglich selektiv auf Sorgetätigkeiten zu und realisiert das Bedürfnis des individuellen Wachstum etwa im Spielen mit dem eigenem Kind oder im Kochen, während das Putzen oder Waschen weiterhin nicht von Männern beansprucht, sondern Frauen zugeschrieben wird (Peuckert 2012). Während die Flexibilisierung der Sexualmoral die Entkriminalisierung und partielle Entstigmatisierung von schwuler und lesbischer Sexualität zur Folge hatte, erschütterte dies den männlichen Geschlechtscharakter nicht grundlegend, auch, weil es zu einer anpassenden ›Normalisierung‹ schwuler Männlichkeiten kam, wie sie etwa Connell beobachtet (Connell 2015: 283–287) – die aber auch etwa schon vom italienischen Schwulenaktivisten und an Marcuse anschließenden Theoretiker Mario Mieli Anfang der 1970er Jahre beklagt wird (Mieli 2018). Die Aufhebung der Unterdrückung der Homosexualität führte nicht zu einer Erschütterung der (heterosexuellen) Männlichkeit, sondern zur Ausbildung schwuler Männlichkeiten entsprechend der geschilderten Varianten des männlichen Geschlechtscharakters, ohne, dass dabei Männlichkeit als solche hinterfragt wurde. Während die Erfolge der Schwulenbewegung diese Normalisierung für schwule Männlichkeiten zur Folge hatte, war die Ausgangssituation

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der Lesbenbewegung eine andere. Aufgrund der Verknüpfung von Patriarchat und Verfügungsgewalt über den weiblichen Körper und die weibliche Sexualität durch Männer konnte eine lesbische Perspektive nicht unmittelbar auf die Aneignung weiblicher Geschlechtscharaktere zielen und es bildete sich eine lesbische Identität im Gegensatz zum weiblichen Geschlechtscharakter heraus (Hark 1989), die auf geschlechtlich kodierte Dichotomien – etwa in den Identitäten von butch und femme – zurückgriff, ohne diese ungebrochen zu übernehmen.9 Mit der tendenziellen Normalisierung weiblicher Homosexualität griffen aber auch Normalisierungsprozesse lesbischer Weiblichkeit, sodass lesbische, explizit nicht weibliche Identitäten derzeit in einer Krise sind (Kuhnen 2017), die einerseits in der geringeren gesellschaftlichen Exklusion weiblicher Homosexualität und andererseits in den Fortschritten der Emanzipationsbestrebungen gegen Sexismus, Patriarchat und Geschlechtscharaktere begründet sind: Mit der dritten Welle der feministischen Bewegung und der queer theory als Theorie der organischen Intellektuellen dieser Bewegung wurde die Kritik an der zweigeschlechtlichen Ordnung insgesamt sichtbarer und sozial wirksam, sodass Geschlecht jenseits von Mann und Frau sozial – zumindest in bestimmten Nischen der Gesellschaft – möglich wurde. Genderqueere und nicht-binäre Geschlechtsidentitäten (Richards/Bouman/Barker 2017) bilden zwar bisher keinen in der Breite relevanten Rahmen für Geschlechtssozialisation – und damit für die Ausbildung von Geschlechtscharakteren – aber bieten eine fundamental kritische Bezugnahme auf den je eigenen Geschlechtscharakter wie auf die zweigeschlechtliche Ordnung insgesamt.10 Währenddessen haben die Kämpfe von intergeschlechtlichen Menschen um ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit 9

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Wobei insbesondere um die Übernahme femininer Praktiken und Inszenierungen innerhalb der Szene Konflikte geführt wurden und werden, auch um Formen lesbischen Sexismus gegenüber femmes (Fuchs 2009). Damit geht notwendig auch eine praktische Kritik der »Monosexualität« (Mieli 2018) eiher, wie sie in den 1970ern schon von schwulen Theoretikern in Anschluss an Marcuse formuliert wurde, da mit der Pluralisierung der gesellschaftlich möglichen Geschlechter die Zuordnenbarkeit des Begehrens in Homo- oder Heterosexualität nicht aufgeht (Callis 2014).

Die zweite Dimension kapitalistischer Subjektivation – Sozialcharakter

(Gregor 2015) mittlerweile in Deutschland zumindest zur Anerkennung einer dritten Geschlechtsoption im Personenstandsregister geführt, sodass Geschlecht jenseits von Mann und Frau (begrenzt) staatlich anerkannt ist. Inwiefern die Effekte dieser Emanzipationsbewegung eine Normalisierung zu für die kapitalistische Gesellschaft funktionale Geschlechtscharaktere bewirken, lässt sich derzeit nicht vorhersagen. Ihre Integration durch partikularistische Identitätspolitiken11 , die individualisierte Identitäten in ihr Zentrum stellen und so für narzisstische Charaktere einen Anerkennungsraum eröffnen ist denkbar. Ebenso ist aber denkbar, dass sie nicht-normalisiert die Heterosexualität und damit letztlich auch die Konstitution des Primats der genitalen Sexualität insgesamt (Marcuse 1965; Mieli 2018) in Frage stellen, die die Grundlage aller Geschlechtscharaktere und der für kapitalistische Arbeit und Konsum nötige Enterotisierung des übrigen Körpers und der instrumentellen Herrschaft über das eigene Selbst (siehe Kap. 3) darstellen.

d. Charakter und sozialer Ort im Gegenwartskapitalismus Die Pluralisierung der männlichen Geschlechtscharaktere weist auf eine Entwicklung auch bezüglich des dominanten kapitalistischen Sozialcharakters im differenzierten Kapitalismus hin. In den Analysen der marxistischen Psychoanalytiker und der Kritischen Theorie war der autoritäre Charakter zugleich der Geschlechtscharakter traditioneller Männlichkeit und beide waren durch die gleiche Verknüpfung von Härte gegen sich selbst, Entsagungen und sadistischer Ersatzbefriedigung geprägt. Die Transformation des Geschlechtscharakters hin zur rationalisierten Männlichkeit und ihre Funktionalität für postindustrielle Arbeitsverhältnisse und den Massenkonsumkapitalismus entspricht der Transformation zum konventionellen Charakter, seiner

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Diese Form der Identitätspolitik ist von den Kämpfen der Ausgeschlossenen um körperliche Unversehrtheit und Integration in die Gesellschaft – wie sie etwa von Schwarzen, Frauen, Queers, Trans*- und Inter*personen geführt wurden und werden – zu unterscheiden (van Dyk/Dowling/Graefe 2017).

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Verdrängung der körperlichen Gewalt und starken Orientierung an den herrschenden Normen. Die hedonistische Männlichkeit korrespondiert wiederum mit dem narzisstischen Charakter und der Verschiebung der Autonomieansprüche auf den Konsum und die Freizeit; das gilt auch für die sorgende Männlichkeit, wie die selektive Übernahme von Sorgetätigkeiten deutlich macht, die den Widerstand ausblendet, den die Wirklichkeit der eigenen Bedürfnisbefriedigung entgegenbringt. Dass, wie etwa Connells Studie zeigt, diese Männlichkeiten im zeitgenössischen Kapitalismus parallel auftreten, lässt vermuten, dass der autoritäre und der konventionelle Charakter keineswegs durch den narzisstischen Charakter abgelöst wurden, sondern im differenzierten Kapitalismus alle drei Sozialcharaktere zugleich gesellschaftliche Bedeutung haben. Die Theorie der Gleichzeitigkeit verschiedener Sozialcharaktere erlaubt auch, die Beobachtung des Umschlagens von narzisstischer Normal- zu autoritärer Krisenform in Einklang mit der gesellschaftstheoretischen Charakterologie zu bringen, die aufgrund der Bedeutung der Sozialisation von relativ statischen Charakteren ausgehen muss: Ein solches Umschlagen nimmt Eichler in seiner Theorie an und verdoppelt dazu das Verhältnis von autoritärem zu narzisstischem Charakter. Einerseits löst im Zuge des Übergangs zum Postfordismus der narzisstische den autoritären Charakter als dominanten Sozialcharakter ab, andererseits ist das »Verhältnis zwischen Narzissmus und Autoritarismus […] eines von Normalpathologie und Krise« (Eichler 2013: 246) und der narzisstische Charakter kann in seine autoritäre Form umkippen, sofern die narzisstische ›Reparatur‹ des Anerkennungsmangels – etwa aus Gründen fehlender Möglichkeiten zum erfolgreichen Konsum – scheitert. Einen ähnlichen Gedanken gibt es auch in der Rechtsextremismusforschung: die »narzisstische Plombe« (Decker et.al. 2014: 70). Mit ihr wird in der Mitte-Studie des Forscherinnenteams um Oliver Decker und Elmar Brähler versucht, ihre Befunde, die eine Minderheit mit hohen Rechtsextremismus-Einstellungswerten als Ausdruck des autoritären Charakters ausweisen, mit der Idee des autoritären Charakters als dominantem Sozialcharakter zu verbinden. Ähnlich wie bei Eichler ist die These dabei, dass die Gesellschaft sich »durch ökonomische

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Teilhabe« (ebd.: 63) legitimiert und diese Legitimation den autoritären Charakter verdeckt. Der autoritäre Charakter kommt somit erst da zum Tragen und wird erst dann messbar, wo »sich die Plombe« (ebd.: 70) löst, weil an die Stelle der verlorenen ökonomisch vermittelte Teilhabe »etwas anderes her [muss], was den Selbstwert stabilisiert und zur ökonomischen Regression gesellt sich die psychische: die bekannte autoritäre Dynamik wird freigesetzt.« (ebd.: 71) Durch das Hinzuziehen der Arbeiten Connells zum Geschlechtscharakter und des Zonenmodells Castels (siehe Kap. 3.a) kann die These formuliert werden, dass es nicht nur einem dominanten Sozialcharakter im Gegenwartskapitalismus gibt: Narzisstische und autoritäre Charaktere existieren im differenzierten Kapitalismus parallel zueinander, und die von ihnen nahegelegten Bewältigungswege entsprechen unterschiedlichen gegenwärtig vorhandenen Ideologien – etwa dem liberalen Leistungsindividualismus und dem kollektivistischen Autoritarismus. Abhängig von der gesellschaftlichen Integrationskraft des Massenkonsums und der Kulturindustrie, die nicht zuletzt auf den Teilhabemöglichkeiten durch Konsum und damit den ökonomischen Ressourcen der Subjekte beruht, kann sich die Reichweite und Attraktivität dieser Ideologien verändern. Es ist also der konventionelle Charakter, gleichsam zwischen dem narzisstischen und dem autoritären Charakter stehend, der im ›Normalfall‹ unproblematisierter Prosperität dem narzisstischen Charakter ähnelt und sich im ›Krisenfall‹, in dem die Integrationskraft von Massenkonsum und Kulturindustrie sinken, an den autoritären Charakter und seine Ideologien anlehnt. Der beschriebene Umschlag betrifft also nicht alle Subjekte im differenzierten Kapitalismus, sondern nur jene, die dem konventionellen Charakter entsprechen. Ausgehend von These der Parallelität verschiedener Sozialcharaktere stellt sich die Frage nach der Lokalisierung ihrer Triebstruktur, also nach ihrem sozialen Ort (Bernfeld 2012a), an dem die Sozialisationsbedingungen einen bestimmten Sozialcharakter nahelegen. Schon die marxistischen Psychoanalytiker betonten die Klassenspezifik der von ihnen beobachteten (pathologischen) Charaktere, etwa des triebhaften Charakters, den Reich im Gegensatz zum triebgehemmten Charakter

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in der Arbeiterinnenklasse verortet (Reich 1983a). Adorno, der in seiner Typologie in den Studien zum autoritären Charakter auf die Arbeiten der marxistischen Psychoanalytiker zurückgreift, macht – zumindest bei einzelnen seiner Typen – Andeutungen zum sozialen Ort: Der ›Spinner‹ findet sich eher bei den von Arbeit und Konsum Ausgeschlossenen (Adorno 1995: 332), ebenso ist der ›Rebell‹ ein Phänomen der »Randbereich[e] der Gesellschaft« (ebd.: 331). Der ›Autoritäre‹ findet sich dagegen eher in integrierten, aber unzufriedenen Positionen, der ›Konventionelle‹ eher bei gesellschaftlich gut integrierten und zufriedenen Menschen (ebd.: 324). Adorno klärt diesen Zusammenhang leider nicht systematisch auf, und die Kritische Theorie betont die Homogenisierungstendenz des integrierten Kapitalismus, während sie die Entwicklung einer Subjektivationstheorie des sozialen Orts vernachlässigt. Mit Rückgriff auf die Bedeutung des Wandels der Arbeit, der Beschäftigungsverhältnisse und der Pluralisierung der Kulturindustrie (siehe Kap. 2) lassen sich die Charaktere jedoch verorten: Während der autoritäre Charakter von den Entsagungen und der nötigen Beherrschung des Körpers als Arbeitsinstrument geprägt ist, setzt der konventionelle und mehr noch der narzisstische Charaktere eine positive Integration und gesellschaftliche Produktion der Bedürfnisse voraus, die im Konsum befriedigt werden können. Zugleich entspricht der Bedeutungsverlust des Körpers als Arbeitsinstrument in posttayloristischer Industriearbeit und personenbezogenen Dienstleistungen der geringeren Bedeutung sadistischer Ersatzlust bei diesen beiden Charakteren. Der narzisstische Charakter schließlich ist in seinem Entgrenzungs- und Individualisierungsbedürfnis passförmig zu jenen postfordistischen Arbeitstätigkeiten, die ein hohes Maß an Eigenengagement, Kreativität, Individualität, Emotionalität und Selbststeuerung erfordern, die dem konventionellen Charakter widersprechen. Setzt man diese Gleichzeitigkeit von autoritärem, konventionellem und narzisstischem Charakter in ein Verhältnis zu dem Zonenmodell Castels (siehe Kap 3.a) entsprechend ihrer Funktionalität, ergibt sich eine soziale Verortung der Sozialcharaktere (siehe Tabelle 3). Der narzisstische Charakter ist dabei der dominante Charakter in der Unterzo-

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ne der atypischen Integration, die von entsprechenden Arbeitsverhältnissen geprägt ist, sowie der an ihr orientierten Teile der Unterzonen unsichererer Integration und entsprechenden Teilen der Zone der Prekarität, etwa bei prekären Akademikerinnen, sofern diese die aus der Prekarisierung resultierende Angst erfolgreich bewältigen können. Der konventionelle Charakter ist weiterhin der dominante Charakter in der Unterzone der gesicherten Integration, etwa bei gewerkschaftlich gut abgesicherten Facharbeiterinnen der Metallindustrie oder Beamtinnen und Angestellten im öffentlichen Dienst, sowie an ihnen orientierten Unterzonen der unsicheren Integration und den entsprechenden Teilen der Zone der Prekarität.

Tabelle 3: Zonen (Dörre 2006) und dominante Sozialcharaktere

Der autoritäre Charakter findet sich dagegen als dominanter Sozialcharakter dort, wo körperliche – fordistisch-industrielle oder handwerkliche – Tätigkeiten die Arbeit bestimmen sowie aus Prekarisierung oder Exklusion resultierende Angst eine bedeutende Rolle spielt, da sein Masochismus wie Sadismus nicht zuletzt der Angstbewältigung dienen (Fromm 1989b). Er findet sich in Unterzonen mit struktureller

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Abstiegsangst sowie in der Zone der Exkludierten, die von der Integration durch Massenkonsum und Kulturindustrie tendenziell ausgeschlossen und auf die Vermittlungsinstitutionen des organisierten Kapitalismus – Familie, Religion, professionelle Erziehung und Strafjustiz – verwiesen sind. »In besonders drastischen Fällen findet die gesellschaftliche ›Integration‹ ironischerweise nur noch über administrative Kontrollagenturen (Jobcenter u.a.) statt« (Heitmeyer 2018: 178), in denen Arbeitslosigkeit verwaltet wird und dieser Verwaltung spezifische Subjektivationspraktiken (Bohmann/Lindner 2018) entspringen. Die Vermittlungsinstitutionen geraten dabei insbesondere in der Zone der Exklusion unter spezifischen gesellschaftlichen Anforderungsdruck, wie sich an Debatten um die Integration von Migrantinnen ablesen lässt: Vermittlungsinstitutionen der professionellen Erziehung und Strafjustiz werden als Instrumente der Integration diskutiert, während die Vermittlungsinstitutionen Familie und Religion häufig – unter dem Schlagwort der drohenden Parallelgesellschaft – als ungeeignet, aber wirksam, problematisiert werden (Brettfeld/Wetzels 2007). Analog zur Situation, die die marxistischen Psychoanalytiker in der Zwischenkriegszeit vor Augen hatten und die die Grundlage ihrer Untersuchungen war, finden sich die gesellschaftlich Exkludierten – insbesondere (Post-)Migrantinnen – dabei in einer Lage, in der die traditionelle Familienordnung in die Krise gerät, wie Mahrokh Charlier (2019) herausarbeitet. Die traditionelle Autorität des Vaters verfällt unter dem Eindruck des symbolischen wie ökonomischen Machtverlustes durch seine gesellschaftliche Exklusion (ebd.: 72f.), sodass es häufig zu einer Orientierung zur Religiosität (ebd.: 76) kommt, die eine alternative Form bietet, die »primäre Mutterbindung« (ebd.: 77) zu überwinden und zugleich die autoritätsanlehnende Struktur des Charakters reproduziert. Charlier diagnostiziert zugleich, dass die Schule im differenzierten Kapitalismus »mit ihrer antiautoritären, Autonomie und Selbstbestimmung betonenden Haltung« (ebd.: 74) auf die (Re-)Produktion des narzisstischen Charakters angelegt ist, dafür aber bei den Exkludierten nicht auf die nötigen familiären und ökonomischen Voraussetzungen trifft. An ihre Stelle tritt biografisch daher zunehmend

Die zweite Dimension kapitalistischer Subjektivation – Sozialcharakter

die Strafjustiz als staatliches Angebot einer strafenden Ersatzautorität (Fromm 1989d). In Bezug auf den männlichen Geschlechtscharakter lässt sich analog eine Verortung entsprechend des Zonenmodells vermuten. Hegemoniale Männlichkeit wird bei Connell als ›transnational business masculinity‹ beschrieben, und entsprechend findet sich rationalisierte Männlichkeit vorrangig in den gesicherten Unterzonen der Integration und der an ihr orientierten Teilen der Zone der Prekarität. Traditionelle Männlichkeit findet sich überall dort, wo die Arbeitsverhältnisse des organisierten Kapitalismus noch weitgehend intakt sind – also vor allem da, wo in der Zone der Integration fordistisch-industrielle und handwerkliche Arbeitstätigkeiten vorherrschend sind – sowie dort, wo Männer von der möglichen Teilhabe von rationalisierter Männlichkeit ausgeschlossen sind, also in der Zone der Exklusion und Teilen der Zone der Prekarität. Hedonistische Männlichkeit dagegen ist verknüpft mit flexibilisierten Beschäftigungsverhältnissen, wie sie in der Unterzone atypischer Integration und an ihr orientierten Teilen der Zone der Prekarität zu finden ist. Die sorgende Männlichkeit dagegen findet sich voraussichtlich vorrangig in der Zone der Integration, deren sichere positive Integration in den Kapitalismus ökonomische und symbolische Ressourcen bereitstellt, um sich als Mann Sorgetätigkeiten zuzuwenden, ohne dadurch in der eigenen Männlichkeit verunsichert zu werden. Dass in diesem Kapitel der kybernetische Kapitalismus und seine Effekte auf den Sozial- und Geschlechtscharakter bisher keine Rolle spielten, hat zwei Gründe. Einerseits weist der Sozialcharakter eine Trägheit gegenüber der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf: Der Charakter ist entscheidend durch die Sozialisation in der Kindheit und Jugend bestimmt und besitzt eine relative Starrheit. Mit ihm ragen also auch immer Effekte vergangener Sozialisationsbedingungen in die Gegenwart hinein, die in ihr – abhängig vom Tempo gesellschaftlicher Veränderung etwa der Arbeitsverhältnisse – zunehmen dysfunktional werden können. In der Gegenwart haben wir es also weitgehend mit Sozialcharakteren zu tun, die im integrierten oder differenzierten Kapitalismus formiert wurden. Andererseits sind Aussagen

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über den Sozialcharakter des kybernetischen Kapitalismus weitgehend spekulativ, da auch die empirische Forschung notwendig eine gewisse Trägheit aufweist. Diese Spekulation über den Sozialcharakter des kybernetischen Kapitalismus soll zunächst hinten angestellt werden (sie findet sich in Kap. 5.b), und stattdessen eine Annäherung an eine empirische Prüfung der hier präsentierten Thesen zur Pluralität dominanter Sozialcharaktere im differenzierten Kapitalismus versucht werden.

e. Sozialcharaktere empirisch: Zwei Annäherungen Um die bisher hypothetischen Überlegungen zur Gleichzeitigkeit dominanter verschiedener Sozialcharaktere mit empirischen Befunden abzugleichen, wird folgend zunächst ausführlicher die Studie Flucht ins Autoritäre des Forscherinnenteams um Oliver Decker und Elmar Brähler von 2018 vorgestellt werden. Anschließend wird die Studie Bioökonomie als Einsatz polarisierter sozialer Konflikte von Dennis Eversberg aus dem Jahr 2020 genutzt, um erneut zu versuchen, die gesellschaftstheoretische Charakterologie, die hier vorgeschlagen wurde, anhand von empirischen Befunden zu prüfen. Das Zentrum der Studie Flucht ins Autoritäre bildet eine quantitative Befragung zu Einstellungen im Feld Rechtsextremismus und Autoritarismus in Deutschland. Die Autorinnen beziehen sich in ihrer theoretischen Rahmung dabei deutlich auf die Arbeiten des Instituts für Sozialforschung (Decker 2018), indem sie in je einem Item die Dimensionen der autoritären Aggression, der autoritären Unterwürfigkeit und des Konventionalismus abfragen (Decker/Schuler/Brähler 2018: 121). Zusätzlich beziehen sie sich auf Honneths Theorie der Anerkennung (Decker/Yendell/Brähler 2018: 163), die sie in drei Items zur Anerkennung als »Bürger/in«, als »tätiger Mensch« und als »Person« (Decker/Schuler/Brähler 2018: 130) operationalisiert wird, die die drei Dimensionen der Anerkennung bei Honneth abbilden sollen.12 12

Wobei bei der Korrelation von empfundener Nicht-Anerkennung und Autoritarismus unklar bleibt, ob die Ergebnisse dahingehend zu interpretieren sind,

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Außerdem verwenden sie drei Items zur »Verschwörungsmentalität« (ebd.: 123), und drei Items der Autoritarismusskala Detlef Oesterreichs zur Offenheit oder Verschlossenheit gegenüber Fremdem und Differentem. Diese Items zur Erhebung von Autoritarismus kombinieren Decker und Brähler mit dem aus der Psychologie stammenden Gießen-Test (Decker et.al. 2018: 66) sowie Items zum sozio-ökonomischen Hintergrund der Befragten. Die Befragungsergebnisse sind dabei hinsichtlich der Demokratiekompatibilität der Befragten ernüchternd: Manifeste Zustimmung zum Item der autoritären Aggression (»Unruhestifter sollten deutlich zu spüren bekommen, dass sie in dieser Gesellschaft nicht erwünscht sind«) findet sich bei 64,6 Prozent der Befragten, während weitere 21 Prozent »etwas zu[stimmen]« (ebd.: 121). Das Item zur autoritären Unterwürfigkeit (»Menschen sollten wichtige Entscheidungen in der Gesellschaft Führungspersonen überlassen«) findet 23,3 Prozent manifeste und 33,3 Prozent latente Zustimmung, dem Item zum Konventionalismus stimmen 70,9 Prozent etwas oder ziemlich zu (ebd.). Bei den drei Items der Verschwörungsmentalität erreichen 30,7 Prozent der Befragten eine mittlere Zustimmung (stimmen also im Schnitt den Aussagen mehr als nur etwas zu) (ebd.: 123) und nur 24,3 Prozent lassen sich als offen für Andere(s) charakterisieren, während 20,6 Prozent als verschlossen gelten (ebd.: 125). Neben dieser hohen Verbreitung autoritärer Einstellungen erinnert ein weiterer Befund an die Arbeiterinnen- und Angestellten-Studie des Instituts für Sozialforschung (Fromm 1983) Ende der 1920er Jahre: »unabhängig von der politischen Orientierung [sind] autoritäre Aggressionen, Konventionalismus und Verschwörungsmentalität. Die autoritäre Unterwürfigkeit ist allerdings bei denen, die sich als politisch links verorten, sehr selten.« (Decker/Schuler/Brähler 2018: 126)

dass Nicht-Anerkennung Autoritarismus befördert, oder dass sich Autoritäre Befragte seltener anerkannt fühlen (Decker/Schuler/Brähler 2018: 131).

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Die Neigung zum Autoritarismus ist also nicht auf die politisch rechts orientierte Befragte eingeschränkt. Auch die Besonderheit, dass autoritäre Unterwürfigkeit selten bei sich politisch links verortenden Befragten zu finden ist, ist vermutlich eher auf die Formulierung des Frage-Items zurückzuführen bzw. darauf, dass bei linken Autoritären wahrscheinlich der von Fromm beobachtete negativ-autoritäre Typ, der gegen jede Autorität irrational rebelliert und sie damit – mit umgekehrten Vorzeichen – anerkennt (Fromm 1989b: 185) häufiger auftaucht als der positiv-autoritäre Typ. Auch wenn Decker und Brähler die Verwendung des Begriffs des Typs, Charakters oder der Persönlichkeit explizit ablehnen (Decker/ Schuler/Brähler 2018: 132) und stattdessen vom »autoritärem Syndrom« (ebd.) sprechen, findet sich in ihrem, zusammen mit Julia Schuler verfassten Kapitel Das autoritäre Syndrom heute eine Typologie, die systematisch auf die hier entwickelte Charaktertypologie beziehbar ist.13 Zwar lassen sich die neun ›Syndrome‹, die die Autorinnen durch eine Clusteranalyse (ebd.: 132) identifizieren, nicht unmittelbar mit Sozialcharakteren identifizieren. Allerdings können die in der Studie bestimmten »zwei Typen (oder Syndrome) mit demokratischer Orientierung, drei mit Anfälligkeit für autoritäre Fluchten und vier ausgeprägt autoritäre Typen« (ebd.) – quer zu ihrer eigenen Anordnung entlang ihrer Demokratiekompatibilität – anhand der von den Autorinnen vorgelegten Beschreibungen mit der in dieser Arbeit entwickelten Typologie dominanter Sozialcharaktere im differenzierten Kapitalismus ins Verhältnis gesetzt werden. Decker, Brähler und Schuler beschreiben dabei neun Syndrome, die sie in die drei Kategorien einordnete, in denen sich jeweils die »de-

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Bereits in der ersten ›Mitte-Studie‹ Vom Rand zur Mitte kombinierten Decker und Brähler den Frageapparat der Konsensusgruppe zu Rechtsextremismus mit einem damals vier Items umfassenden Fragebogen zu autoritärer Aggression und Unterwürfigkeit sowie Fragen zur Erziehungserfahrung und dem Gießen-Test und bildeten so mittels einer Clusteranalyse 15 Typen (Decker/Brähler 2006: 131–132). Den Zusammenhang ihrer Befunde von 2006 und 2018 untersuchen sie jedoch leider nicht.

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mokratische[n], ambivalente[n] und autoritäre[n] Syndrome« (ebd.: 131) finden. Zu den demokratischen Syndromen zählen dabei ›die Konservativen‹ und ›die Performer‹, zu den ambivalenten ›die Angepassten‹, ›die jungen Entgrenzten‹ und ›die Stabilitätsorientierten‹ und zu den autoritären Syndromen ›die Unterwürfigen‹, ›die neu-rechte Funktionselite‹, ›die paranoiden Konformisten‹ und ›die verschlossen Konventionellen‹, Die Autorinnen legen zu ihnen jeweils eine »Interpretation« bzw. »Montage« (ebd.: 134) vor, die es erlaubt, Vermutungen hinsichtlich des im jeweiligen Syndrom dominanten Sozialcharakters vorzunehmen: Unter den demokratischen Syndromen umfassen die ›Konservativen‹ 14 Prozent des Samples und in ihrer Beschreibung wird hervorgehoben, dass sie »keine außergewöhnliche Offenheit« aufweisen und »Differenzerfahrungen […] von ihnen nicht gesucht [werden]«; sie »erfahren viel Gratifikation durch ihre Mitmenschen«, sind »durchaus anpassungswillig«, »zeigen wenig Neigung zu ungehemmten Verhalten« und sind »an Ordnung orientiert« (ebd.: 135). »Die Beachtung von sozialen Normen und Erwartungen ist ihnen ein hohes Gut« (ebd.: 136) und entsprechend ist es naheliegend, in ihrer Beschreibung den konventionellen Charakter zu erkennen. Die ›Performer‹ machen 14,8 Prozent der Befragten aus. Im Gegensatz zu den ›Konservativen‹ »sind [sie] überzeugt, ihr Schicksal selbst in den Händen zu halten«, und »beschreiben sich als sehr geachtet und beliebt« (ebd.). Sie ziehen ihre Gratifikation ebenfalls aus sozialen Kontakten, erfahren aber in allen Dimensionen Anerkennung (ebd.) und »persönliche Erfolge und ein aufregendes Leben sind für sie von größerer Bedeutung« (ebd.: 137), darüber hinaus meiden sie Konflikte und suchen harmonische Verhältnisse – ihre größte Übereinstimmung haben sie somit mit dem narzisstischen Charakter. Während die ›Konservativen‹ hauptsächlich die SPD und die CDU wählen, tendieren die ›Performer‹ zu den Grünen und der FDP. Bei den ambivalenten finden sich ebenfalls Syndrome, in denen sich der konventionelle bzw. narzisstische Charakter rekonstruieren lässt. Die ›Angepassten‹ (9,6 Prozent) vermeiden, anders als die ›Performer‹, »Erfahrungen mit Differenz, also mit unbekannten Menschen und fremden Ideen« und zeichnen sich durch »Fantasiearmut« (ebd.: 138)

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sowie betonten Konventionalismus aus. Sie werden durchgehend als durchschnittlich – in ihrer Geselligkeit, ihrer empfundenen Anerkennung und anderem – beschrieben (ebd.: 139) und sind selten manifest rechtsextrem eingestellt. Formell vertreten sie universalistische Werte, zugleich ist bei ihnen aber die Ablehnung von universeller Gleichheit am größten (ebd.). Sie lassen sich also mit konventionellen Charakteren identifizieren, die sich sowohl an demokratische wie auch zu autoritäre Werten anlehnen können; politisch tendieren sie zu Volksparteien und wählen entsprechend je nach Region derzeit die CDU, SPD oder die Linke (ebd.). Ihnen ähneln die ›Stabilitätsorientierten‹ (10,9 Prozent), hinter denen sich gleichsam ängstlichere konventionelle Charaktere vermuten lassen. »Die Stabilitätsorientierten zeigen eine sehr geringe Bereitschaft, öffentlich oder in Gruppen eine eigene abweichende Meinung zu äußern« (ebd.: 142) und »vermeiden die Verletzungen von sozialen Erwartungen und Normen«; sie »verorte[n] sich [wie] kaum ein anderer Typ politisch […] klar in der Mitte. Allerdings haben sie auch eine Tendenz, den Nationalsozialismus zu verharmlosen und geben ihren Antisemitismus in der Umwegkommunikation preis.« (ebd.: 143) Das dritte der ambivalenten Syndrome, die ›Entgrenzten‹ (7,7 Prozent), dagegen erinnern an die ›Performer‹ und den narzisstischen Charakter. Sie sind »[g]egenüber neuen Ideen und spontanen Menschen […] aufgeschlossen[,] erleben sich aber trotzdem eher als konfliktvermeidend« (ebd.: 140). Sie sind unsicher, konfliktscheu, legen »großen Wert auf Selbstbestimmung« und »Harmonie« (ebd.: 141) und sind zugleich die am wenigsten autoritären Befragten des Samples, weisen aber hohe Werte bei den Items der Verschwörungsmentalität auf (ebd.) – was an Adornos Beschreibungen des ›Spinners‹ erinnert, also an einen Charaktertypen mit oralnarzisstischen Zügen (siehe Kap. 4.a). Drei der autoritären Syndrome (die ›Unterwürfigen‹, die ›neu-rechte Funktionselite‹ und die ›verschlossen Konventionellen‹ mit zusammen 27,3 Prozent) entsprechen mit ihren hohen Autoritarismuswerten, ihrer geringer Offenheit, ihrer gering empfundenen Anerkennung und ihren überdurchschnittlichen Werten rechtsextremer Einstellungen dem autoritären Charakter. Mit

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»Ausnahme der neu-rechten Funktionselite finden sich unter den autoritären Typen vor allem Menschen mit geringer Bildung und subalternen beruflichen Positionen. Dieser Befund deckt sich mit denen anderer Studien, die zu dem Ergebnis kamen, dass sich ein resigniert-autoritäres soziales Milieu eher in der vormaligen Arbeiterschaft findet bzw. bei Modernisierungsverlierern.« (Decker/Schuler/ Brähler 2018: 152) Zu den autoritären Syndromen gehört darüber hinaus ein viertes Syndrom, die ›paranoiden Konformisten‹ (14,7 Prozent). Sie entsprechen eher dem konventionellen Charakter, da sich bei ihnen ein hohes Maß an Konventionalismus mit geringer autoritärer Aggression verbindet, und sie es »vehement ab[lehnen], Gewalt als Mittel zur politischen Durchsetzung einzusetzen, [es aber] begrüßen […], wenn andere Gewalt anwenden« (Decker/Schuler/Brähler 2018: 149). Dieser letzte Typ verortet sich dabei politisch rechts, tendiert aber bei Wahlentscheidungen eher zu Parteien der Mitte wie der SPD. Decker, Schuler und Brähler geben zu allen Syndromen eine Einordnung hinsichtlich ihrer Beschäftigungsverhältnisse und beruflichen Qualifikation an, sodass Aussagen hinsichtlich ihrer Integration in den differenzierten Kapitalismus möglich sind, auch wenn sich leider keine Angaben zur Prekarität der jeweiligen Beschäftigungsverhältnisse finden. Während sich bei ›Performern‹ und ›Jungen Entgrenzten‹ vorrangig Berufsgruppen der Zonen der Integration – insbesondere der Atypischen Integration – finden lassen, erstrecken sich die Syndrome, die dem konventionellen Spektrum entsprechen, über alle Zonen. Die Syndrome des autoritären Charakters teilen sich dagegen auf: Während die ›neu-rechte Funktionselite‹ der Zone der Integration zugehört, finden sich in den beiden anderen Syndromen des autoritären Charakters niedriger qualifizierte Tätigkeiten, die entsprechend wahrscheinlicher zur Zone der Prekarität oder der Exklusion gehören. So zugeordnet lässt sich die Gleichzeitigkeit mehrere dominanter Sozialcharaktere quantifizieren: knapp die Hälfte der Befragten gehören zu Syndromen im Spektrum des konventionellen Charakters, ein gutes Viertel zu denen des autoritären Charakters und ein knappes

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Viertel zu denen des narzisstischen Charakters. Die Subjekte, die den Syndromen des konventionellen Charakters entsprechen, sind daher in unterschiedlichem Maße stabil in den differenzierten Kapitalismus integriert (vor allem die ›Konservativen‹) oder tendieren gen Autoritarismus (vor allem die ›paranoiden Konformisten‹), abhängig von ihrer ökonomischen und kulturellen Integration. Diese jeweiligen Prozentzahlen sind dabei nicht als Anteil des jeweiligen Charakters an der Bevölkerung zu verstehen, sondern bilden das Spektrum ab, in dem der jeweilige Charakter der dominante Sozialcharakter ist. Insbesondere das Spektrum der ›Konservativen‹ dürfte auch Subjekte umfassen, die in der Typologie Adornos ›Genuin Liberale‹ oder ›Protestierende Vorurteilsfreie‹ gewesen wären, während sich bei den ›Performern‹ vermutlich auch einzelne ›Impulsive‹ und ›Ungezwungen Vorurteilsfreie‹ finden lassen. Dabei ist anzunehmen, dass erstere im Zuge der repressiven Entsublimierung eher an Bedeutung verloren haben, während dadurch zugleich, zusammen mit der Frauenemanzipation und der damit verbundenen Veränderung von Elternschaft, der ichstarke ›Ungezwungene Vorurteilsfreien‹ eventuell begünstigt wurde. Darüber hinaus finden sich schon in Adornos Typologie marginale, tendenziell gesellschaftlich pathologisierte Charaktere: Dies betrifft vor allem die Typen des ›Rebellen‹, ›Psychopathen‹ und ›Spinners‹, die allesamt von Adorno durch ein sehr schwaches oder gänzlich fehlendes Über-Ich und einen narzisstischen Regress gekennzeichnet sind (siehe Kap. 4.a). Die Entwicklung des narzisstischen Charakters und seine Passform zur pluralisierten Kulturindustrie folgend dürften diese Typen eher an Bedeutung gewonnen haben. Die These der Pluralisierung des dominanten Sozialcharakters im differenzierten Kapitalismus erlaubt es also, die Befunde der zeitgenössischen Rechtsextremismusforschung, wie beispielhaft den Mitte-Studien, zu deuten. Darüber hinaus ermöglicht sie, sowohl den sozialen Ort und damit Arbeits- und Lebensbedingungen in einen ursächlichen Zusammenhang mit Autoritarismuspotenzialen zu stellen als auch die beobachtete Pendelbewegung der vermeintlichen gesellschaftlichen Mitte aufzuklären.

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Tabelle 4: Syndrome der Autoritarismusstudie (Decker/Brähler 2018) Narzisstisches Spektrum (22,5 %)

Konventionelles Spektrum (49,4 %)

Autoritäres Spektrum (27,3 %)

Performer (Dem) (14,8 %) »Selbstständige, freie Berufe, leitende und qualifizierte Angestellte, Beamtinnen und Beamte im mittleren, gehobenen und höheren Dienst« (136)

Konservative (Dem) (14,0 %) »Leitende und qualifizierte Angestellte, Beamte im gehobenen Dienst« (135)

Neu-rechte Funktionselite (Aut) (12,9 %) »Selbstständige, einfache und qualifizierte Angestellte, Beamtinnen und Beamte im mittleren, gehobenen und höheren Dienst, seltener Arbeiterinnen und Arbeiter« (146)

Stabilitätsorientierte (Amb) (10,9 %) »Einfache Angestellte und Beamte im mittleren und höheren Dienst« (142)

Junge Entgrenzte (Amb) (7,7 %) »höchster Bildungsabschluss, Selbstständige, Freiberufler, qualifizierte Angestellte« (140)

Angepasste (Amb) (9,6 %) »Sozialdemokratisch geprägte Arbeiterschaft und einfache Angestellte« (138)

Verschlossene Konventionelle (Aut) (9,2 %) »Niedrige formale Bildung, einfache Arbeiterinnen und Arbeiter, Facharbeiterinnen und Facharbeiter, einfache und mittlere Angestellte, aber auch Beamtinnen und Beamten aller Dienstklassen« (149)

Paranoide Konformisten (Aut) (14,7 %) »Niedriges Bildungsniveau, einfache, mittlere und qualifizierte Angestellte, Beamte im mittleren und gehobenen Dienst, Facharbeiterinnen und Facharbeiter« (148)

Unterwürfige (Aut) (5,2 %) »Klassisch proletarisches Milieu, einfache Angestellte, Arbeiterinnen und Arbeiter, keine Leitungs- und qualifizierten Tätigkeiten, unterdurchschnittliche Bildung […], mehr Erfahrung mit Arbeitslosigkeit« (144)

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Eine ähnliche Oppositionsstellung wie die, die in der Rechtsextremismusforschung beobachtet wird, zeigt sich in der aktuellen Auseinandersetzung um Fragen des Umwelt- und Klimaschutzes. Und ähnlich der Arbeiten der Mitte-Studie liegt zu diesem Themenfeld mit Dennis Eversbergs Bioökonomie als Einsatz polarisierter sozialer Konflikte? eine differenzierte quantitativ-empirische Studie zu Einstellungen und Praktiken in der deutschen Bevölkerung vor, die es erlaubt, »sozial-ökologisch[e] Mentalitätsmuster« (Eversberg 2020: 7) zu rekonstruieren. Im Herbst 2018 befragte Eversberg 2017 Personen über 14 Jahren zu »umweltrelevanten politischen Themen, […] alltäglichen Praxismustern, ihre[r] Betroffenheit von Schadstoff- und Lärmbelästigung und ihren soziodemographischen Merkmalen« (ebd.) mit 21 Items zu Haltungen zu allgemeinpolitischen und persönlichen Fragen, 14 Items zum Umweltbewusstsein (ebd.: 15) sowie mit Items zu soziodemographischen Kenndaten. Auf Basis dieser erhobenen Daten wurden mittels einer Faktorenanalyse insgesamt acht Dimensionen gebildet, die sich jeweils als »eine Disposition, also eine durch soziale Erfahrung erworbene innere Neigung der Befragten« (ebd.: 8) interpretieren lassen. Mittels mehrerer Clusteranalysen identifizierte Eversberg in diesem mehrdimensionalen Feld insgesamt elf »Syndrome« (ebd.), die sich wiederum in »drei größeren Lagern – einem ökosozialen, einem liberal-steigerungsorientierten und einem regressiv-autoritären Lager – gruppieren« (ebd.) ließen, und die er in drei verschiedenen Varianten präsentiert. Wie die Mitte-Studien verbindet auch Eversberg das von ihm identifizierte regressiv-autoritäre Lager mit einem »autoritären Potentia[l]« und betont dessen »schwerpunktmäßig[e] sozialstrukturell[e] Verortung« (ebd. 90). Somit deutet er also eine Theorie des sozialen Orts des Autoritarismuspotenzials in der Tradition der Theorie des autoritären Charakters an, weist aber zugleich darauf hin, dass es auch uneindeutige Syndrome, insbesondere im Bereich prekärer Lebensund Arbeitsbedingungen gibt (ebd.). Folgend sollen die drei Lager und die zugehörigen Syndrome, die Eversberg in der ersten der drei Cluster-Modelle identifiziert, skizziert werden, um sie anschließend auf die schon vorgestellte gesellschaftstheoretische Charakterologie zu beziehen.

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Das eindeutig mit der Charakterologie in Beziehung zu setzende Lager ist dabei das »Regressiv-autoritär[e] Lager« (ebd.: 101), das – je nach Cluster-Modell – »bis zu 25 Prozent« (ebd.: 90) der Befragten umfasst. Seine Mitglieder sind von konservativen bis reaktionären Haltungen geprägt. Sie haben » eine starke Prekaritätswahrnehmung, eine deutliche Neigung zur Abwehr gegen Veränderungen und zum Festhalten an einer wachstumszentrierten Weltsicht« (ebd.: 102) und beziehen sich positiv auf ein Bild von Gesellschaft und Wirtschaft, das den organisierten und integrierten Kapitalismus idealisiert (ebd.: 101f.). Eversberg charakterisiert den sozialen Ort des Lagers dabei als weitgehend deckungsgleich mit den Zonen der Gesellschaft, in denen der autoritäre Charakter dominant ist: »Die (offen oder verdeckt) antiökologischen Positionierungen der Cluster dieses Lagers wurzeln in denselben autoritären und veränderungsfeindlichen Grunddispositionen wie die oftmals nationalistischen, xenophoben und gegen soziale Diversität gerichteten Haltungen zu anderen Themen. Seiner sozialen Zusammensetzung (Konzentration rechts und unten im sozialen Raum), den habituellen Syndromen wie auch dem Umfang von etwa einem Viertel der Befragten nach ist das regressiv-autoritäre Lager damit in etwa deckungsgleich mit dem »enttäuscht-autoritären« gesellschaftspolitischen Lager, das Vester beschreibt« (Eversberg 2020: 102). Das Syndrom der ›Pseudoaffirmativen Beharrung‹, das diesem Lager zugehört, ist dabei deutlich erkennbar autoritär. Es ist geprägt von einer »regelrechte[n] Aversion gegen Diversität und als deviant empfundene Lebensweisen« (Eversberg 2020: 65) und äußert sich häufig negativ über Zuwanderung, »nicht selten unter Verwendung von Formulierungen, die Abwehr oder auch Ressentiment verraten« (ebd.: 66). Insgesamt weisen seine Mitglieder eine »deutlich von Ängsten und Gefühlen der Bedrohung geprägte Weltwahrnehmung [auf], die in erster Linie auf gefühlte Gefahren durch schwer fassbare Personengruppen mit unterstellt bösartigen Motiven projiziert« (ebd.), wie Eversberg ganz im Sinne der Autoritarismusstudie beschreibt. Sozioökonomisch handelt es sich bei den Mitgliedern des Syndroms vorrangig um ältere

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(ehemals) fachlich qualifiziert Tätige (ebd.: 68). Das Syndrom des ›Ideologischen Antiökologismus‹ wird relativ ähnlich beschrieben, zeichnet sich aber durch »eine besonders aggressive Abwehrhaltung gegen sozialökologisches Gedankengut, die sich in einer Kombination antiökologischer und veränderungsfeindlicher Dispositionen sowie einer gegen liberal-individualistische und kosmopolitische Haltungen zielenden antikonsumistischen Einstellung ausdrückt« (ebd.: 80), aus. Das Syndrom bildet sich also aus jenen Subjekten mit autoritärem Charakter, die ihrem Autoritarismus eine manifest politische Form gegeben haben, in der sowohl die masochistische Verzichtshaltung als auch die sadistische Ersatzlust politisch eingebettet werden. Die sadistische Aggression des autoritären Charakters wird in Eversbergs Untersuchung unter anderem daran erkennbar, dass »Produkte aus fairem Handel […] von auffällig wenigen Befragten dieser Cluster bevorzugt [werden], und sie […] sich zu sehr hohen Anteilen von 30 Prozent und mehr gegen die volle Gleichstellung von Homosexuellen aus[sprechen].« (ebd.: 81) Befragte, die dem Syndrom zugeordnet sind, sehen sich selbst als gesellschaftlich benachteiligte Gruppe (ebd.) und interpretieren die Gesellschaft mittels eines »für hierarchie- und autoritätsgebundene Mentalitäten typischen ›Patron-Klient‹-Muster[s]« (ebd.: 82). Sozioökonomisch finden sich in diesem Cluster »deutlich mehr Beschäftigte in manuellen Tätigkeiten als im Schnitt, und die einfachen und fachqualifizierten Berufe machen zusammen mit 70 Prozent einen besonders hohen Anteil aus.« (ebd.: 83) Das Syndrom der ›Überforderten Regression‹, dem dritten Syndrom, das dem autoritären Charakter zuzuordnen ist, ist »stark geprägt durch ein Gefühl der erlebten Benachteiligung und der erheblichen subjektiven Überforderung mit wahrgenommenen gesellschaftlichen Veränderungen, das sich vor allem in einer sehr starken Prekaritätswahrnehmung ausdrückt.« (ebd.: 59) Es ist das Syndrom mit der im Schnitt niedrigsten formellen Bildung (ebd.: 61) und seine Mitglieder sind weitgehend in der Zone der Exklusion zu verordnen. Das »Ökosozial[e] Lager« (ebd.: 91) und das »Liberal-Steigerungsorientiert[e] Lager« (ebd.: 96) liegen dagegen quer zu den Zonen dominanter Sozialcharaktere. Das ökosoziale Lager setzt sich aus »überwiegend

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mit hohen Bildungsressourcen ausgestatteten Bevölkerungsteilen« mit »klar pro-ökologischen Einstellungsmuster[n]« (ebd.: 91) zusammen. Darin finden sich zwei Syndrome: das ›ökosoziale Aktivbürgertum‹ und das ›individualistische Aktivmilieu‹, die in ihrer Beschreibung Parallelen zum narzisstischen Charakter aufweisen und »die zusammen etwa 20 Prozent des Samples ausmachen« (ebd.), und darüber hinaus das »zufrieden-ökosoziale Syndrom«, dass »rund 12 Prozent der Befragten« (ebd.: 94) umfasst und einen konventionellen Charakter vermuten lässt. Das ›Ökosoziale Aktivbürgertum‹ und das ›Individualistisches Aktivmilieu‹ sind von hoher formeller Bildung geprägt, »Anzeichen für einen überdurchschnittlich großen materiellen Wohlstand gibt es indes trotz der hohen durchschnittlichen Bildung kaum« (ebd.: 38). In diesen Syndromen ist bewusster Konsum weit verbreitet (ebd.: 37), und die »individualistische Grundhaltung und der Fokus auf konsumtive Praktiken bedeuten eben auch, dass die eigenen subjektiven Wünsche zum zwar gestaltbaren, aber prinzipiell fraglos legitimem Prinzip des Handelns erhoben werden.« (ebd.: 42) Entsprechend des narzisstischen Charakters wird also im Zuge individueller Handlungsmöglichkeiten eine widerspruchsfreie Beziehung zur Welt hergestellt oder imaginiert. Diese Subjekte stellen sich also »gesellschaftlichen Wandel als die Summe kleiner alltäglicher Veränderungen vo[r] und [suchen] ihn auf dem Weg über eine ›verallgemeinerungsfähige‹ eigene Alltagspraxis« (ebd.: 40) – wobei es bei Teilen des Syndroms auch ein differenzierteres Verständnis gesellschaftlichen Wandels gibt. Das Syndrom der ›Ökosoziale Zufriedenheit‹ dagegen weist eine stärkere Tendenz zur weniger abweichendem Verhalten auf, »Fleisch wird typischerweise eher selten gegessen, aber gänzlich fleischlose Ernährungsweisen sind deutlich seltener als bei beiden anderen ökosozial orientierten Typen. Vielfliegerei kommt kaum vor, aber erneut ist auch keine signifikant geringere Flugaktivität als im Mittel aller Befragten festzustellen.« (ebd.: 45) Damit einher geht die Orientierung auf die Verantwortung anderer statt auf individuelle Verantwortung (ebd.: 44): Gesetzliche Regelungen werden individuellem Aktivismus gegenüber bevorzugt (ebd.: 45). Diese Eigenschaften weisen auf einen konventionellen Charakter hin, der zwar eine Sensibilität für ökologische Fragen

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aufweist, deren Bearbeitung aber über eine Transformation der orientierungsstiftenden Konventionen wünscht. Sozioökonomisch ist dieses Syndrom »deutlich mehrheitlich (um zwei Drittel) [von, P.S.] ›Angestellten‹-Tätigkeiten‹« geprägt, »manuelle Tätigkeiten dagegen sind selten.« (ebd.: 46) Das ›Liberal-Steigerungsorientierte Lager‹ ist das heterogenste Lager, da es die bisher gesellschaftlich hegemoniale Position hinsichtlich der untersuchten ökologischen Fragen vertritt. Es ist entsprechend zu erwarten, dass narzisstische Charakter und konventionelle Charaktere in ihm ähnliche Verhaltensweisen und Einstellungsmuster aufweisen, so lange die eigene und die gesellschaftliche Situation nicht als krisenhaft erlebt wird. Solange die »Erzeugung und Bedienung immer weitreichender Konsumwünsche bei großen Teilen der Bevölkerung« erfolgreich erscheint und »jene Kompensationen […] gewährleiste[t ist], die es braucht, um die dauerhafte Leistungsbereitschaft und -fähigkeit der Arbeitskräfte angesichts steigender Anforderungen sicherzustellen« (ebd.: 97), treten die einzelnen Syndrome als gemeinsamer gesellschaftlicher Block auf. Dennoch lassen sich anhand der unterschiedlichen Orientierung an Individualismus und Konservativismus die Syndrome hinsichtlich ihres dominanten Sozialcharakters verorten. Alle drei Syndrome »schein[en] ein merkwürdiges Zwischenstadium in der Auseinandersetzung von Teilen der wohlsituierten und gut gebildeten Wohlstandsmilieus mit der keimenden Einsicht in die Nicht-Nachhaltigkeit der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen und ihrer eigenen gewohnten Praktiken einzufangen: Das Bewusstsein der ökologischen Gefahren und der Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Umsteuerns ist da, doch wird die Konfrontation mit deren möglichen Konsequenzen für das eigene Leben vermieden, indem die Flucht in den Technikoptimismus angetreten wird.« (Eversberg 2020: 56) Das Syndrom der ›Zufriedenen Nichtnachhaltigkeit‹ mit seiner »hohe[n] Identifikation mit (technisch induzierter) sozialer Dynamik, schneller Veränderung und Grenzüberschreitung sowie das damit verbundene Selbstbild als weltoffene und lebensbejahende Person«

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(Eversberg 2020: 56) ist dabei von individuellen Verwirklichungsbestrebungen entsprechend dem narzisstischen Charakter geprägt, es besteht mehrheitlich aus hochqualifizierten Beschäftigten. Die Syndrome ›Zufriedene Trägheit‹ und ›Ökosoziale Ignoranz‹ dagegen ist antikonsumistisch eingestellt, wobei »der Antikonsumismus sich als Positionierung gegen ein übereifriges Hinterherlaufen hinter wahrgenommenen Trends und für allenfalls bedächtige, wohl abgewogene Veränderungen der eigenen Praxis verstehen lässt« (ebd.: 51). In dieser Ablehnung ist der konventionelle Charakter zu erkennen, da die ›Trends‹ als Bedrohung für die Orientierungsleistung der Konventionen wahrgenommen werden. Die Befragten des Syndroms sind »moderat konservati[v]« (ebd.: 52) und mit ihrer gesellschaftlichen Situation zufrieden. Entsprechend erwarten sie von politischen Akteuren, dass sie den Status quo sichern, »ohne dass dadurch die eigene Lebensweise in irgendeiner Weise berührt wird.« (ebd.: 53) Zwar sind sie häufig rassistisch begründet gegen Einwanderung eingestellt, aber als »Klientel für rechte Verweigerungskräfte wie die AfD kommen Menschen mit solchen Einstellungen wahrscheinlich eher nur im Einzelfall in Frage« (ebd.). Die AfD wird zu sehr als gesellschaftlicher Unruhefaktor wahrgenommen, der dem Konventionalismus dieses Syndroms entgegensteht. Sozioökonomisch finden sich in diesem Syndrom Personen mit mittleren oder gehobenen Bürotätigkeiten, Angestellte und Beamte. Schließlich tritt als zehntes Syndrom das ›Strukturkonservative Umweltbewusstsein‹ hinzu, das in Eversbergs Modell keinem der drei Lager zugeordnet ist. Dieses Syndrom wird von ihm als weitgehend durchschnittlich beschrieben, es weist einen »geringen Anteil von Vegetarier:innen/Veganer:innen« auf und schreibt dem eigenen Auto »eine ungebrochen hohe subjektive Bedeutung« (ebd.: 47) zu, ohne explizit antiökologisch eingestellt zu sein. Auch politisch weist es »fast gar keine Auffälligkeiten« außer eines »schwachen Indiz für eine eher konservative Weltsicht« (ebd.: 48) auf. Auch sozioökonomisch nimmt es eine mittlere gesellschaftliche Position ein und ist in allen Merkmalen konventionell. Aufgeteilt auf andere Syndrome sind im hier herangezogenen Modell 1 der Clusterrechnung Personen, die in den anderen Modellen ein

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»antitransformatorisch-aktivbürgerliche[s] Einstellungsmuster« (ebd.: 58) bilden. Sie umfassen die sozioökonomisch bestgestellten Teile der Bevölkerung (ebd.: 72) und an ihnen wird für Eversberg deutlich, dass »die progressiv-neoliberalen Kräfte nicht nur ihre – zumindest hierzulande mutmaßlich ohnehin immer wacklig gewesene – Hegemonie verloren haben, sondern sogar in Auflösung begriffen sein könnten. Damit ist nicht unbedingt gesagt, dass die Eliten nun bruchlos zur autoritär-nationalistischen Rechten überwechseln, aber es stellt sich doch die Frage, wie eine Neukonfiguration der Kräfte aussehen wird. Das wird an den beiden nun gefundenen Syndromen deutlich: Zwar gehen sie nicht per se in gesteigertem Maße mit xenophoben und reaktionär-nationalistischen Haltungen einher, sondern zumindest im Fall der Antiökologischen Erfolgsorientierung eher mit individualistisch-liberalen gesellschaftspolitischen Vorstellungen.« (Eversberg 2020: 72) Ihre Gemeinsamkeit in den Befragten dieses Einstellungsmusters ist, dass sie »eine Art Klassenbewusstsein der oberen Klassen, eine mit dem liberalen Individualismus durchaus nicht unvereinbare verstärkte Orientierung auf die Verteidigung der eigenen Privilegien sowie ein sozialer Darwinismus« (Eversberg 2020: 73) auszeichnet. Eversberg schlägt als Deutung vor, dass »[m]öglicherweise – und mit solchen Deutungen ist große Vorsicht geboten – […] das Vorhandensein dieser Syndrome ein Indiz für eine defensive Verhärtung von Teilen der gesellschaftlichen Eliten und einer Hinwendung zu Formen der exklusiven Solidarität [ist], die auch hin zu roher Bürgerlichkeit tendieren können – wobei der grundsätzliche gesellschaftspolitische Liberalismus einstweilen eine offene autoritär-nationalistische Kehrtwende eher unwahrscheinlich macht.« (Eversberg 2020: 73) Im Modell 1 teilen sich die Befragten dieses Clusters auf andere Cluster auf, und sie entsprechen sozioökonomisch wie hinsichtlich ihrer politischen Position teils den ›Performern‹ der Mitte-Studie, teils den ›Konservativen‹ und teils der ›neu-rechten Funktionselite‹. Hieran wird deut-

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lich, dass der Sozialcharakter keineswegs unmittelbar in Mentalitäten oder politische Positionen zu übersetzen ist – Menschen verhalten sich durch, aber auch zu ihrem Charakter ebenso wie zu ihrem sozialen Ort; und durch beide hindurch vermittelten sich ökonomische wie psychische Interessen auf vielfältige Weise. Dennoch lässt sich eine Beziehung zwischen den Syndromen Eversbergs und der gesellschaftstheoretischen Charakterologie herstellen: Fasst man die Syndrome aus dem Modell 1 von Eversberg anhand der dargestellten Gesichtspunkte zusammen, ergeben sich Spektren dominant narzisstischer, konventioneller und autoritärer Charaktere, die sich anhand ihres sozialen Ortes bestimmen und anhand der Studie quantifizieren lassen. Das narzisstische Spektrum umfasst etwa ein Drittel der Befragten, das autoritäre Spektrum etwa ein Viertel, während das konventionelle Spektrum mit guten 40 Prozent das größte ist. Im Vergleich zur Mitte-Studie ist das narzisstische Spektrum deutlich größer (dort waren es 22 Prozent), während die anderen beiden Spektren entsprechend kleiner, in ihrer Relation aber stabil sind. Das autoritär-regressive Lager, das Eversberg identifiziert, rekrutiert sich tatsächlich aus dem Spektrum, in dem der autoritäre Charakter der dominante Sozialcharakter sein dürfte. Die anderen beiden Lager sozial-ökologischer Mentalitäten – das sozialökologische und das individualistisch-steigerungsorientierte Lager – rekrutieren sich aus den beiden Spektren, in denen der narzisstische Charakter und der konventionelle Charakter dominant sein dürften. Beides ist auf den derzeitigen politischen Konflikt um das Themenfeld Ökologie zurückzuführen. Für narzisstische Charaktere können sowohl proökologischen Positionen entgegenstehender Konsumismus als auch proökologischer Konsum und Aktivismus Anerkennung und Selbstbestätigung bieten bzw. Störungen des Harmoniebedürfnisses im sozialen Nahfeld bedingen. Für konventionelle Charaktere dagegen ist derzeit keine eindeutige Orientierung an der hegemonialen Position hinsichtlich ökologischer Fragen möglich, da gerade »in zunehmenden Auseinandersetzungen um Windkraft, Ernährung oder um die Zukunft des Verkehrs […] immer deutlicher [wird], wie stark in der Bevölkerung die Haltungen zu diesen Fragen auseinandergehen« (Eversberg 2020:

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Kapitalistische Subjektivation

4) und eine Orientierung an der gesellschaftlichen Konvention derzeit – da sie umkämpft ist – nicht unmittelbar möglich ist.

Tabelle 5: Cluster sozial-ökologische Mentalitäten (Eversberg 2020) Narzisstisches Spektrum (33 %)

Konventionelles Spektrum (42 %)

Autoritäres Spektrum (24 %)

Zufriedene Nichtnachhaltigkeit (LS) (13 %) »Zufriedene Trägheit und Zufriedene Beharrung sind besonders häufig bei Personen anzutreffen, die in mittleren oder gehobenen Bürotätigkeiten arbeiten, hoch qualifizierte Jobs kommen hier mit deutlich über einem Drittel gehäuft vor.« (54f.)

Zufriedene Trägheit (LS) (11 %) »Zufriedene Trägheit und Zufriedene Beharrung sind besonders häufig bei Personen anzutreffen, die in mittleren oder gehobenen Bürotätigkeiten arbeiten, hoch qualifizierte Jobs kommen hier mit deutlich über einem Drittel gehäuft vor.« (54f.)

Pseudoaffirmative Beharrung (RA) (8 %) »ein[e] älter[e] arbeitnehmerisch[e] Mitte mit eher veralteter, moderater Schulbildung und beruflicher Qualifikation. Eine sehr große Mehrheit hat Volksbzw. Hauptschulabschlüsse oder die mittlere Reife, Hochschulabschlüsse sind mit bis zu 10 Prozent selten. Um 40 Prozent sind in Rente, etwa ein Viertel sind oder waren (Fach-)Arbeiter:innen, überdurchschnittliche Anteile arbeite(te)n in fachqualifizierten Tätigkeiten. Auch Selbständige sind häufiger vertreten als im Durchschnitt.« (68)

Ökosoziale Zufriedenheit (ÖS) (12 %) »Die aktuell oder früher ausgeübten Berufe werden deutlich mehrheitlich (um zwei Drittel) als »Angestellten«Tätigkeiten angegeben – erneut wahrscheinlich zu großen Anteilen personenbezogene Dienstleistungen –, manuelle Tätigkeiten dagegen sind selten.« (46)

Die zweite Dimension kapitalistischer Subjektivation – Sozialcharakter

Ökosoziales Aktivbürgertum (ÖS) (11 %) »Anzeichen für einen überdurchschnittlich großen materiellen Wohlstand gibt es indes trotz der hohen durchschnittlichen Bildung kaum« (38)

Ökosoziale Ignoranz (LS) (8 %) »Der Bildungsgrad entspricht jeweils in etwa dem gemäß der Altersstruktur Erwartbaren – für die Ökosoziale Ignoranz liegt er damit über dem Durchschnitt […] Besondere Schwerpunkte bei den Berufsgruppen gibt es kaum – entsprechend der Alters- und Einkommensstruktur sind bei der Ökosozialen Ignoranz hoch qualifizierte […] Jobs minimal häufiger.« (78)

Ideologischer Antiökologismus (RA) (8 %) »Im Cluster Ideologischer Antiökologismus indes finden sich mit gut einem Viertel deutlich mehr Beschäftigte in manuellen Tätigkeiten als im Schnitt, und die einfachen und fachqualifizierten Berufe machen zusammen mit 70 Prozent einen besonders hohen Anteil aus.« (83)

Individualistisches Alternativmilieu (ÖS) (9 %) »Das verweist darauf, dass solche Haltungen vor allem in sozialen Gruppen mit recht hoher Bildung, aber geringen ökonomischen Ressourcen (Beschäftigte in Bildungs- und Kulturberufen, interpersonelle Dienstleistungen, häufig in Teilzeit) vorkommen« (43)

Strukturkonservatives Umweltbewusstsein (nZ) (11 %) »Das mittlere Bildungsniveau ist moderat – Hauptschulabschlüsse sind deutlich häufiger, Hochschulabschlüsse etwa halb so häufig wie im Schnitt. Vergleichsweise selten kommen diese Einstellungsmuster bei Hochqualifizierten und Beamten vor, häufig ist gerade die Prekäre Sozialorientierung indes bei Befragten, die einfachen und manuellen Tätigkeiten nachgehen/gingen. Deutlich erhöht ist auch der Anteil von Erwerbslosen.« (50)

Überforderte Regression (RA) (8 %) »Rund die Hälfte der Befragten hat die Hauptschule besucht, sehr wenige verfügen über Abitur oder Hochschulabschlüsse« (61)

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Kapitalistische Subjektivation

Die Pendelbewegung des konventionellen Charakters, wie sie im Kontext der Rechtsextremismusforschung beschrieben wurde, erfasst diesen nicht en bloc, sondern milieuspezifisch unterschiedlich stark und gegebenenfalls in unterschiedlicher Richtung. Insgesamt gelangt die Deutung der Befunde der Autoritarismusstudie und der Studie Eversbergs zu ähnlichen Befunden. Lassen sich von den Befragten der Autoritarismusstudie 22,5 Prozent dem narzisstischen Spektrum zuordnen, sind es in Eversbergs Studie 33 Prozent, während das konventionelle Spektrum 49,4 bzw. 42 Prozent und das autoritäre Spektrum 24 bzw. 27,3 Prozent der Befragten umfasst. Beide Studien verorten dabei die Syndrome, die den jeweiligen Spektren zuzuordnen sind, auf ähnliche Weise anhand der Arbeitstätigkeiten, die – soweit es in der nachträglichen Interpretation möglich ist – den Zonen des differenzierten Kapitalismus wie erwartet zuordnen lassen. Die Subjekte im narzisstischen Spektrum weisen überdurchschnittlich hohe formale Bildung auf und leisten häufig Kopfarbeit in höher qualifizierten Dienstleistungsberufen, während die Subjekte im autoritären Spektrum keine hohe formale Bildung aufweisen und häufig körperlich arbeiten. Das Konventionelle Spektrum ist sowohl hinsichtlich der Bildung als auch der Arbeitstätigkeiten dazwischen angesiedelt, umfasst Facharbeiterinnen, Angestellte und Beamtinnen.

Kapitel 5 Subjektivation und Subjektivierung im kybernetischen Kapitalismus

a. Subjektivation heute – nicht neu, aber anders In Kapitel 2 ist es hoffentlich gelungen, darzustellen, dass der Gegenwartskapitalismus als neue Phase zu begreifen ist, die zumindest hinsichtlich der kapitalistischen Subjektivation als kybernetischer Kapitalismus verstanden werden kann. Kapitel 3 sollte die Grundlagen einer Theorie kapitalistischer Subjektivation dargestellt haben, auf der diese Arbeit basiert. Dabei handelt es sich um die funktionalen Anforderungen an Subjekte im Kapitalismus, denen sie entsprechen müssen, um in den basalen Praktiken des Tauschs, der Lohnarbeit und der Rechtsform agieren zu können. Mit dem Sozialcharakterkonzept soll die zweite Dimension der kapitalistischen Subjektivation dargestellt sein. Sie erlaubt es den Subjekten, auf die Anforderungen des Kapitalismus, die die erste Dimension kapitalistischer Subjektivation konstituieren, zu reagieren. Zugleich wird mit dieser zweiten Dimension der Wandel der dominanten Sozialcharaktere – und des Zusammenwirkens kapitalistischer Subjektivation mit dem Geschlechtscharakter – vom organisierten Kapitalismus des frühen 20. Jahrhunderts über den integrierten Kapitalismus des Nachkriegsfordismus bis zum differenzierten Kapitalismus im Neoliberalismus beschrieben, und so Kontinuität und Wandel kapitalistischer Subjektivation in einen systematischen Zusammenhang zu stel-

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Kapitalistische Subjektivation

len. So sollte der Gegensatz von der Betonung der Besonderheit des Gegenwartskapitalismus (in Kapitel 2) und der Betonung der gleichbleibenden Grundlagen für die kapitalistische Subjektivation (in Kapitel 3) ist in der dargestellten Theorie des Sozialcharakters (in Kapitel 4) hoffentlich aufgehoben worden sein. Der Antwort auf die diesem Buch vorangestellte Frage nach der kapitalistischen Subjektivation im kybernetischen Kapitalismus ist damit der Boden bereitet worden, ohne dass sie bisher beantwortet wurde. Das folgende fünfte Kapitel liefert nun zumindest die Skizze einer Antwort auf die Frage, wie sich die kapitalistische Subjektivation in der Gegenwart verändert. Diese Skizze soll zugleich die oberflächlich gegensätzlichen Beschreibungen der Subjektivation bei Reckwitz und Mau, Singularisierung und Metrisierung, einbetten und sozial verorten. Zugleich ist vorliegende Entwurf dieser Antwort weniger eindeutig und zugespitzt als bei Reckwitz, da sie den Gegenwartskapitalismus als eine neue Phase des Kapitalismus und nicht als seine Ablösung durch etwas ganz Anderes versteht. Die Veränderung der Subjektivation ist dementsprechend graduell, nicht disruptiv, und eher durch Begriffe der Tendenz zu beschreiben – der Untergang des Subjekts, wie es aus dem Fordismus oder Postfordismus bekannt ist, steht durch Prozesse der Kybernetisierung nicht bevor. Zugleich soll diese Arbeit aber auch nicht so verstanden werden, dass die kritischen Warnrufe etwa von Mau nicht angebracht seien. Diesem kritischen Impetus entsprechend schließt das Kapitel mit Überlegungen zur Subjektivierung – also der Ermächtigung der Subjekte gegenüber gesellschaftlichen Prozessen – unter den Bedingungen des kybernetischen Kapitalismus und seiner Subjektivation ab. Dabei folgt es der Linie der Kritik sowohl der dieser Arbeit zugrundeliegenden Theorien kapitalistischer Subjektivation und des Sozialcharakters als auch der Arbeiten Reckwitz’ und Maus – aber auch Staabs. Die Theorie des Sozialcharakters ist systematisch mit einer Kritik des Autoritarismus verknüpft, und entsprechend ist auch diese Arbeit als ein Beitrag dazu zu verstehen, die Handlungsräume für antiautoritäre Theorie und Praxis im kybernetischen Kapitalismus auszuloten.

Subjektivation und Subjektivierung im kybernetischen Kapitalismus

Im dritten Kapitel wurde schon angedeutet, welche Elemente des kybernetischen Kapitalismus als neuer Phase in der kapitalistischen Subjektivation Effekte auf die subjektivierten Widersprüche haben und wie diese Effekte aussehen (könnten). Die Informatisierung der Kopfarbeit, die Entgrenzung der Arbeit und die zunehmende Prekarisierung, die individualisierte Integration durch die Kulturindustrie III, der vertiefte Zugriff auf die affektiven Seiten des Subjekts in der Lohnarbeit sowie die zunehmende Exklusion bestimmter Bevölkerungsgruppen (siehe Kap. 2) bestimmen die konkrete Form, in der Subjekte in die Widersprüche der ersten Dimension kapitalistischer Subjektivation gestellt sind. Unter den Bedingungen digitaler, individualisierter Umwelten mit ihrer Dominanz der Visualität (Reckwitz 2017: 235) gewinnt der Inszenierungswert an Bedeutung und zudem eine – in likes und Reichweite – explizit quantifizierbare Dimension (Mau 2017: 261). Zugleich ist für die von den Möglichkeiten des krisenfreien Konsums Ausgeschlossenen die Heteronomie des Tausches verschärft (siehe Kap. 3.b). In der Subjektivation in der Lohnarbeit verschärfen sich im kybernetischen Kapitalismus die gegenläufigen Tendenzen: Einerseits nimmt unter den Bedingungen digitalisierter Kopfarbeit die Entgrenzung von Arbeit und Freizeit zu, andererseits entsteht ein neues Feld kybernetisch-fordistischer Dienstleistungstätigkeiten etwa in der Logistik. Die Zunahme affektiver Arbeit und der durch digitale Identitätspraktiken in der Freizeit beförderte Zugriff auch auf den männlichen Körper als Objekt der Gestaltung und ästhetischen Optimierung dürften darüber hinaus die Entwicklung des männlichen Geschlechtscharakters mitbestimmen. In der kapitalistischen Subjektivation durch das Recht ist zentral, dass die – historisch immer nur tendenzielle – Integration aller Subjekte im integrierten Kapitalismus durch verschärfte und neue Formen der Exklusion abgelöst ist, sodass Subjekte nicht positiv, sondern negativ in die Rechtsform integriert sind. Eine Ablösung der Rechtsform für tendenziell alle Subjekte durch die Zunahme von digitalen Umwelten, in denen statt Anrechten Services die Grundlage der Subjektivation

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bilden, wie Staab (2019: 295) es diagnostiziert, ist bisher dagegen spekulativ und nicht prägend für die kapitalistische Subjektivation.

b. Sozialcharaktere im kybernetischen Kapitalismus: Drei Thesen An diese Beobachtungen und die Theorie des Sozialcharakters anschließend werden folgend mit Rückgriff auf die Überlegungen von Reckwitz und Mau drei zugegebenermaßen spekulative Thesen darüber formuliert, was mit den dominanten Sozialcharakteren im kybernetischen Kapitalismus passieren könnte: 1) die Annäherung der Form des konventionellen Charakter an die des narzisstischen Charakters bei gleichzeitiger Flexibilisierung der jetzt kybernetischen Konventionen; 2) ein Wandel des autoritären und konventionellen Charakters, bei dem beide stärker Züge des narzisstischen Charakters übernehmen bei gleichzeitiger Ausdehnung der Zone des konventionellen Charakters; und 3) ein Formwandel des autoritären Charakters unter der Bedingung der Differenzierung der Zone, in der er dominant ist, womit Veränderungen im männlichen Geschlechtscharakter verbunden sind. Diese Thesen sind dabei weder einander ausschließend noch gänzlich zueinander passförmig, sondern beschreiben verschiedene, teilweise gegenläufige Tendenzen der pluralen und gegensätzlichen Entwicklungen hin zum kybernetischen Kapitalismus – wobei sich erst retrospektiv beurteilen lassen wird, wie sich die in den drei Thesen beschriebenen Tendenzen in ihrer Wirkmacht zueinander verhalten. Die erste These, die die Annäherung der Form des konventionellen Charakters an die des narzisstischen Charakters bei gleichzeitiger Flexibilisierung der jetzt kybernetischen Konventionen behauptet, bezieht sich dabei weitgehend auf die Arbeit Maus. In Das metrische Wir macht Mau deutlich, wie die Strukturen des kybernetischen Kapitalismus eine neue Form des Konventionalismus begünstigen. Er nimmt dabei explizit Bezug auf die Darstellung des konventionellen Charakters, die Riesman unter dem Begriff des »außengeleitete[n] Charakter[s]« (Mau 2017: 67) vorgelegt hat. Durch die algorithmische Auswertung von big

Subjektivation und Subjektivierung im kybernetischen Kapitalismus

data und die Schaffung digitaler Umwelten werde das »metrische Wir […] Erwartungen und Zwänge hervor[rufen], denen wir uns kaum noch entziehen können.« (ebd.: 69) Insbesondere quantitativ formulierte Ratings und Rankings konstituieren ein »Regime der Durchschnitte« (ebd.: 252), an dem sich Subjekte orientieren und dem sie entsprechen sollen und wollen. Anders als die Konventionen des integrierten Kapitalismus, an denen sich der konventionelle Charakter orientierte, liefert die kybernetische Konvention jedoch eine individuelle Ausdifferenzierung. Ganz im Sinne des flexiblen Normalismus Links ist der Maßstab, der als Über-Ich-Ersatz dient, relational und steigerungslogisch angelegt. Der kybernetischen Konvention zu entsprechen, erfordert also andauernde Leistung und Aktivierung (ebd.: 79). Der konventionelle Charakter des kybernetischen Kapitalismus orientiert sich somit nicht mehr an statischen und allgemeinen Konventionen, sondern an individuell zugeschnittenen und stets relativen Steigerungsnormen. Diese Individualisierung der Norm lässt ihn zwar oberflächlich wie der narzisstische Charakter wirken, der konventionelle Charakter wird jedoch – ebenso wie im integrierten Kapitalismus – von seiner Überforderung bei gleichzeitiger Ich- wie Über-Ich-Schwäche und Triebverzicht geprägt. Die Orientierung an den individualisierten Steigerungsnormen dient als Ersatz für ein eigenes Über-Ich und soll Kräfte zur Hemmung der Triebe mobilisieren; aus Angst, sonst gesellschaftliche Teilhabe zu verlieren. Dieser Bezug zu individualisierten Steigerungsnormen unterscheidet ihn vom narzisstischen Charakter, dessen Individualisierung hedonistisch motiviert ist. In dieser These bleiben konventioneller und narzisstischer Charakter ihren Triebkräften und ihrem sozialen Ort nach getrennt, in ihrer Erscheinungsform sind sie aber beide in digitale Umwelten eingebettet: Der konventionelle Charakter bezieht sich auf seine digitale Umwelt, in dem er Bewertungen und Quantifizierungen als zu erfüllende Konventionen versteht. Der narzisstische Charakter bezieht sich dagegen auf sie, indem er sich an den individuellen Vorhersagen und der Produktion seiner Konsum- und Anerkennungsbedürfnisse orientiert und sie affirmiert. Er kann so eine narzisstische Kränkung

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vermeiden, da seine Bedürfnisse immer schon den Konsumangeboten entsprechen und daher auch erfüllt werden. Die erste These beschreibt also den Wandel des konventionellen Charakters hin zu einem kybernetisch-konventionellen Charakter, der sich nicht mehr an den expliziten Normen der Gesellschaft, sondern an den impliziten Normen der digitalen Umwelt orientiert, in der er sich bewegt, sodass er dem narzisstischen Charakter ähnlich scheint, da beide auf digital vermittelte Anerkennung verwiesen sind. Die zweite These postuliert einen Wandel des autoritären und konventionellen Charakters. Beide Charaktere übernehmen verstärkt Züge des narzisstischen Charakters; gleichzeitig dehnt sich die Zone des konventionellen Charakters aus. Wie die erste These geht diese Überlegung von der Beobachtung kybernetisierter, digitaler Umwelten aus. Sie stellt aber eine generelle Verschiebung in der Subjektivation hin zu Elementen des narzisstischen Charakters bei gleichzeitiger Verkleinerung der Zone, in der der narzisstische Charakter selbst dominant ist, fest. Reckwitz betont diese Entwicklung stärker als Mau, in dem er einen neuen »Habitus samt Sozialfigur heran[ziehen]« sieht, »den mobilen Nutzer (User)« (Reckwitz 2017: 229). Die damit einhergehende Einbettung in digitale Umwelten und die Verwischung der Selbst-Welt-Grenze, die auch Mau (2017: 41) beschreibt, lässt Nutzerinnen »Prosumer« (Schaupp 2016: 122; Staab 2019: 217) sowohl der Daten, die die Verwertungsgrundlage vieler Internetkonzerne sind, aber auch ihrer eigenen Bedürfnisse und der Echokammern ihrer Konsumpräferenzen (Mau 2017: 278) werden. Die digitalen Umwelten der Nutzerinnen reagieren zunehmend auf das Nutzungsverhalten und passen den präsentierten, digitalen Weltausschnitt konstant an dieses Nutzungsverhalten an, ohne die dahinterliegenden Mechanismen dieser Anpassung transparent zu machen. Da diese, algorithmisch automatisiert, Kaufakte oder Verweildauer auf der jeweiligen Plattform zum Ziel haben, produzieren sie an den bisherigen Präferenzen orientierte und prädiktiv extrapolierte Räume, in denen Widerspruch zu den Interessen, Bedürfnissen und Ansichten der jeweiligen Nutzerin unwahrscheinlicher wird: sogenannte Echokammern. Diese Echokammern oder ›filter bubbles‹ (Reckwitz 2017: 264) begünstigen und befördern eine narzisstische Struktur, in der das Subjekt nur

Subjektivation und Subjektivierung im kybernetischen Kapitalismus

mit jenen Weltausschnitten konfrontiert wird, die das eigene Anerkennungsbedürfnis stützen und keine Kränkung hervorrufen. Zugleich führt die Informatisierung der Kopfarbeit, die im kybernetischen Kapitalismus technisch und organisatorisch möglich wird, zu einer Verkleinerung der Zone des narzisstischen Charakters, da »nichtmanuelle, kognitiv anspruchsvolle Tätigkeiten, die bislang nur schwer zu überwachen waren, in den Kontrollfokus« (Mau 2017: 243) geraten. Insbesondere Staab beschreibt diese Informatisierung der Kopfarbeit (siehe Kap. 2.b) sowohl bei schlecht bezahlten Dienstleistungen (Staab 2019: 60) als auch bei »mittlere[n] Berufe und [den] unteren Stufen des betrieblichen Managements« (ebd.: 246) eindrücklich. Statt individueller Entscheidungen und Verhandlungsgeschick, bei dem anerkennungsorientierte und intrinsisch motivierte narzisstische Charaktere funktional für die Anforderungen des Arbeitslebens waren, hält mit automatisiert-algorithmisierter Steuerung so im kybernetischen Kapitalismus ein neuer Fordismus Einzug (Mau 2017: 246), für den der konventionelle Charakter und die neuen, kybernetisch differenzierten Konventionen funktional sind. Die Konventionen treten dabei auch hier nicht mehr explizit auf, sondern »mittels prädiktiver Analytik [werden] sogar jene Wünsche transparent [ge]macht, die die jeweilige Person noch gar nicht direkt zum Ausdruck gebracht hat« (Staab 2019: 232) und wirken so präreflexiv. Scheinbar entspricht damit die Situation des konventionellen Charakters der vom narzisstischen Charakter angestrebten Welt-Selbst-Verschmelzung, zugleich ist der konventionelle Charakter aber nicht auf individuelle Selbstverwirklichung orientiert, sondern auf Normenerfüllung. Er strebt nach quantifizierbarer und damit Sicherheit suggerierender Anerkennung für seine Leistung und Konventionalität, während der – in einer kleineren Zone nicht automatisierbarer Kopfarbeit weiterhin dominanter – narzisstische Charakter qualitative und resonante (Rosa 2016) Anerkennung sucht.1

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Dieser Zusammenhang mag die Tendenz zur kulturkritischen Ablehnung von digitalen Kommunikations- und Informationstechnologien in bestimmten Teilen der Gesellschaft, in denen der narzisstische Charakter funktional ist, als Abwehrkampf dieses Charakters erhellen.

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Der narzisstische Charakter steht dabei nicht außerhalb des kybernetischen Kapitalismus, und daher ist für ihn die »Doppelstruktur von weltzugewandter Selbstentfaltung und mitlaufender sozialer Statusinvestition […] grundsätzlich spannungsgeladen« (Reckwitz 2017: 342). Die dem Narzissmus eigene grundsätzliche Anfälligkeit für Enttäuschungen (ebd.: 344) dürfte sich im kybernetischen Kapitalismus also noch steigern. Reckwitz’ Diagnose, dass verglichen »mit älteren Maßstäben gelungener Lebensführung – das schlichte Überleben, das moralisch prinzipienfeste Leben, der soziale Respekt innerhalb der Gemeinschaft oder ein hoher Lebensstandard – […] dieser Maßstab [des authentischen, resonanten Lebens, P.S.] jedoch sehr viel volatiler, subjektiver, emotionaler und damit fragiler« (ebd.: 346) ist, dürfte für den narzisstischen Charakter des kybernetischen Kapitalismus in noch höherem Maße gelten. Der narzisstische Charakter muss den latenten Gegensatz zwischen authentisch-resonanter und quantifizierter Anerkennung konstant bewältigen, ohne dass der Erfolg dieser Bewältigung und damit die Vermeidung einer Enttäuschung garantiert ist. Im kybernetischen Kapitalismus, so die zweite These, verringert sich also der Bereich, in dem der narzisstische Sozialcharakter eine funktionale Subjektivation bietet durch die zunehmende Informatisierung der Kopfarbeit – zugleich verallgemeinern sich aber bestimmte Aspekte des narzisstischen Sozialcharakters. Die dritte These besagt, dass es zu einem Formwandel des autoritären Charakters unter der Bedingung der Differenzierung der Zone, in der er dominant ist, kommt. Die ersten beiden Thesen fokussierten die Zone der Integration und insbesondere die Unterzone der atypischen Integration, sowie an ihnen orientierte Teile der Zone der Prekarität, und somit hauptsächlich Arbeitsfelder, in denen Kopfarbeit stattfindet. Die dritte These reflektiert die Veränderungen der Handarbeit unter den Bedingungen des kybernetischen Kapitalismus. Darüber hinaus finden sich aber insbesondere in der Zone der Prekarität, aber auch in den Unterzonen der unsicheren und gefährdeten Integration drei Typen körperlicher Arbeit. Den ersten Typ bilden die traditionellen Formen körperlicher Arbeit in Teilen der Industrie und vor allem des Handwerks, auf denen zwar ein gewisser Digitali-

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sierungsdruck hinsichtlich der Arbeitsorganisation durch digital vermittelte Kommunikation und der digitalen Dokumentation der Arbeit lastet, die aber in ihrem Kern keine große Veränderung gegenüber dem organisierten Kapitalismus, geschweige denn eine Kybernetisierung erleben. Für sie ist der autoritäre Charakter weiterhin funktional, denn er reguliert weiterhin leibliche Entbehrungen und den produktiven Einsatz des Körpers, der für diese Arbeitstätigkeiten zentral sind. Den zweiten Typ bilden körperlich anstrengende und schlecht entlohnte Tätigkeiten in der care work, wie etwa der Erziehung und Pflege (siehe Kap. 2.d). Einerseits scheint auch für sie der autoritäre Charakter in seiner Aufwertung von Entsagung funktional zu sein, andererseits bedient und erfordert der direkte fürsorgende Kontakt zu anderen Menschen in der Arbeit bestimmte Aspekte wie die Orientierung an Anerkennung und die Entgrenzung zwischen Selbst und Welt, die vom narzisstischen Charakter bekannt sind. Der Sadismus nach unten, der dem autoritären Charakter zu eigen ist, ist für Tätigkeiten im Feld der care work dagegen nicht oder nur sehr begrenzt funktional. Passförmig sind hier also Charaktere, die Entsagungsbereitschaft und gesellschaftlichen Masochismus mit Fürsorgebereitschaft verbinden; eine Kombination, die im klassischen weiblichen Geschlechtscharakter vorliegt – und entsprechend werden Tätigkeiten im Feld der care work auch weitgehend von Frauen ausgeübt. Der dritte Typ entsteht etwa in Logistiktätigkeiten, aber auch in Bereichen der Produktion, mit kybernetisch überwachten, stark fordistisch regulierten Tätigkeiten. Diese unterwerfen die Arbeiterinnen einer anonymen Autorität – man denke an die kybernetische Steuerung im Warenlager von Versandhandelskonzernen wie Amazon, das dahingehend als Pionierunternehmen des kybernetischen Kapitalismus verstanden werden kann (Butollo/Ehrlich/Engel 2017). Der klassische autoritäre Charakter mit einer Orientierung auf Führungsfiguren ist für diesen Bereich veraltet. Vor diesem Hintergrund wäre empirisch zu untersuchen, ob hier ein Sozialcharakter entsteht, der Entsagungsbereitschaft und gesellschaftlichen Masochismus mit einer Orientierung an sachlich erscheinenden Autoritäten verknüpft. Alternativ wäre denkbar, dass dieses Tätigkeitsfeld ohne einen funktionalen Sozialcharakter aus-

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kommt, da die kybernetische Steuerungsleistung und die unmittelbare Herrschaft am Arbeitsplatz zusammen mit der Angst vor gesellschaftlicher Exklusion ausreichend sind, um Arbeiterinnen von der Rebellion abzuhalten. Wäre dies der Fall, wäre erstmals seit Beginn des 20. Jahrhunderts systematisch eine Reduktion der Integration durch Lohnarbeit zu beobachten, sodass bestimmte Subjekte auch in den kapitalistischen Zentren vorrangig negativ – durch Entsagung und Mangel – in den Kapitalismus integriert sind, wie es im Kapitalismus des 19. Jahrhunderts der Regelfall war. Die Subjektivation autoritärer Charaktere ist jedoch in allen Fällen von der Einbettung in digitale, kybernetische Umwelten in der Freizeitund Konsumsphäre geprägt, die die Subjektivation früh mitbestimmen und sich teils an den digitalisierten Erscheinungsformen des narzisstischen und konventionellen Charakters orientieren. Simon Strick analysiert in Rechte Gefühle einen Wandel in den Ausdrucks- und Produktionsformen des autoritären Charakters im »digitalen Faschismus« (Strick 2021), in denen Affekte politisiert und kollektiviert werden (ebd.: 71). Die Affekte, die Strick in seiner Untersuchung begegnen, sind nicht nur oder nicht zentral von Aggression geprägt. Stattdessen zeigt eine »emotionalisiert[e] Männlichkeit […] eine veränderte Affektpolitik der Alternativen Rechten« (ebd.: 176): weinende Männer, die ihre autoritären Einstellungen mit zur Schau gestellter emotionaler Betroffenheit verbinden. Diese Affekte werden in ihrer Kollektivierung wieder mit Aggression aufgeladen, aber bemerkenswert ist, dass der autoritäre Charakter emotionale Betroffenheit, Einsamkeit und Minderwertigkeitsempfinden (ebd.: 232–248) zum Ausdruck bringt und dafür innerhalb seiner community anerkannt wird. Damit orientiert er sich also an Praktiken, die im Kontext der Identitäts- und Betroffenheitspolitik (siehe Kap. 5.c) mit dem narzisstischen Charakter verbunden schienen. Ähnliche Beobachtungen erlaubt das Phänomen des Incels – also Männern, die ihre fehlende gegengeschlechtliche sexuelle Praxis beklagen und zumeist der Frauenemanzipation die Schuld dafür zuschreiben – der in digitalen Umwelten emotionale Betroffenheit beansprucht und zugleich zu dem autoritären Charakter eigenen Sadismus greifen und Gewalt gegen Frauen ausüben kann (Kracher 2020). Eine Veränderung

Subjektivation und Subjektivierung im kybernetischen Kapitalismus

des autoritären Charakters, der gewisse Züge des narzisstischen Charakters übernimmt, ist damit dringend auch charakterologisch und kapitalismustheoretisch untersuchenswürdig. Zugleich besteht kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen prekärer gesellschaftlicher Position und autoritärem Charakter. Wie die dargestellten drei Typen der Handarbeit zeigen, ist die »neue Unterklasse« aus »einfachen Dienstleistern, semiqualifizierten Industrieberufen, prekär Beschäftigten, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern« (Reckwitz 2017: 279), die Reckwitz beschreibt, also hinsichtlich ihrer Subjektivation fragmentiert, auch wenn sie entsprechend seiner Beschreibung insgesamt als »prekäre Klasse, […] eine Klasse mit strukturell unsicheren Lebensbedingungen« (Reckwitz 2019: 103) zu begreifen ist. Seine Zuschreibung, dass »nicht Selbstverwirklichung oder Statusinvestition, sondern […] Selbstdisziplin« (Reckwitz 2017: 352) die zentrale Rolle für die Bewältigung der Widersprüche ihrer Lebenssituation einnimmt, trifft dabei ungebrochen nur auf den ersten Teil, und damit den klassisch autoritären Charakter zu. Reckwitz’ These, dass die »Beziehung zur Arbeit (falls vorhanden) seitens der neuen Unterklasse rein instrumentell« (ebd.) sei, ist ebenfalls unzutreffend verallgemeinert. Sowohl bei handwerklich Arbeitenden wie bei Care-Arbeiterinnen findet sich Werkstolz und Identifikation mit der Arbeit, bei Letzteren ist dies sogar eine systematisch funktionale Eigenschaft, um die konstante Mobilisierung insbesondere affektiver Arbeit zu gewährleisten. Das diese ›Unterklasse‹ als Ganze die Trägerin des ›Kulturessentialismus‹ ist (Reckwitz 2019: 45), also exkludierende Bezüge auf Kultur, Rassismus und Autoritarismus aufweist, und entsprechend etwa zur AfD tendiert (ebd.: 128), ist ebenfalls verallgemeinert. Differenzierte Studien zum Wahlverhalten nach Berufsgruppen liegen bisher leider nicht vor. Die in vorfordistischen, handwerklichen und fordistisch-industriellen Formen der körperlichen Arbeit Tätigen dürften aber tatsächlich Trägerinnen der »in Teilen der Unterklasse kultivierten Geschlechterideale – vor allem von ›echter‹, authentischer Männlichkeit und Weiblichkeit« (ebd.: 106) – sein. Abgekoppelt von der konventionell-narzisstischen Norm des kybernetischen Kapitalismus legen sie einen »Rückzug in lokale Gemeinschaften, in ›Parallelgesellschaften‹ einheimischer

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oder migrantischer Provenienz, die ihre kollektive Identität pflegen« (ebd.) zur Bewältigung der Entsagungen und relativen Exklusion nahe. In diesen bleibt als männlicher Geschlechtscharakter traditionelle Männlichkeit funktional. Insgesamt sind, was den Geschlechtscharakter angeht, traditionelle Männlichkeit ebenso wie hedonistische und sorgende Männlichkeit (siehe Kap. 4.c) in ihren jeweiligen, potenziell schrumpfenden Zonen, von den Effekten der Kybernetisierung nur begrenzt betroffen. Hier sind vor allem den Weisen der Selbstinszenierung traditioneller Männlichkeit in digitalen Umwelten und den daraus resultierenden Effekten auf die jeweiligen Körperpraktiken Veränderungen zu erwarten. Für die rationalisierte Männlichkeit ist dagegen – analog zum Wandel des konventionellen zum kybernetisch-konventionellen Charakter – die größte Veränderung zu erwarten, da der Körper nun nicht mehr nur Störobjekt bei der Arbeit und Genussinstrument in der Freizeit ist (siehe Kap. 3.c), sondern auch als Inszenierungsobjekt und -mittel in digitalen Umwelten auftreten muss. Der weibliche Geschlechtscharakter dagegen war auch vor der Digitalisierung diesen Inszenierungsanforderungen ausgesetzt. Bei ihm sind Differenzierungen des Geschlechtscharakters vorrangig an ökonomische und kulturelle Ressourcen gekoppelt, die es erlauben, den Widerspruch doppelter Vergesellschaftung zu bewältigen. Striktere Formen weiblichen Geschlechtscharakters sind daher in den Zonen der Prekarität und Exklusion und teils in Unterzonen, in denen der konventionelle Charakter dominant ist, zu erwarten, während mit hinreichenden Ressourcen auch hedonistischere, weniger an gesellschaftlichem Masochismus orientierte Formen der Weiblichkeit funktional sind. Reckwitz beobachtet eine Dreiteilung der Sozialisation in der Erziehung entsprechend der Zonen des differenzierten Kapitalismus. Sie ist im Groben auch für den kybernetischen Kapitalismus gültig. »Der spätmoderne Erziehungsstil steht […] in mehrfacher Hinsicht der Erziehung zum sozial angepassten Kind« – und damit zum konventionellen Charakter – »entgegen« und ist stattdessen »ein Singularisierungsprogramm des Kindes.« (Reckwitz 2017: 331) Er ist aber nur in der von Reckwitz so bezeichneten neuen Mittelklasse – geprägt von akademischen Dienstleistungsberufen – durchgesetzt, in denen das »Kind […] nun als

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ganz einzigartiges Ensemble von Begabungen, Potenzialen und Eigenheiten, zu deren Entfaltung es ermuntert werden soll« (ebd.: 331f.), begriffen wird. Dort wird ihm zugleich mit positiver Anerkennung begegnet, es wird mit individualisierten Weltausschnitten »positiv« und »spielerisch in Berührung« (ebd.: 332) gebracht und gleichzeitig gegen andere Teile der Welt abgeschirmt – die Erziehung zum Narzissmus, wie sie etwa Böckelmann diagnostizierte (siehe Kap. 4.b), wird so gestärkt. Parallel dazu bietet die professionelle Erziehung eine Basisversorgung an Erziehung zum Konventionalismus, die »Schule unterwirft sich auf dieser Ebene einem quasiindustriellen Standardisierungsimperativ« (ebd.: 333). Sie wirkt für Reckwitz »zunächst wie ein retardierendes Element innerhalb der Gesellschaft der Singularitäten« (ebd.), liefert aber so für die breite Zone, in der der konventionelle Charakter dominant und funktional ist, die passende Sozialisation. Teile der ›neuen Mittelklasse‹ in den Zonen des narzisstischen Charakters ziehen Privatschulen mit alternativen, weniger standardisierten Konzepten für ihre Kinder vor, die »›respektable‹ Unterklasse« dagegen »achtet bei der Erziehung auf strikte Disziplin, auch vor dem Hintergrund der ›schlechten Gesellschaft‹« (ebd.: 356), ist also von klassischer Erziehung zum autoritären Charakter geprägt. Überformt werden diese Erziehungsbemühungen von medialer und peer-Erziehung, die zunehmend von digitalen Umwelten geprägt ist, in denen kybernetischer, flexibler Konventionalismus und individualisierte Echokammern, die vor narzisstischer Kränkung schützen, zugleich prägende Effekte haben. Die kapitalistische Subjektivation im kybernetischen Kapitalismus ist also weiterhin von einer Pluralität der dominanten Sozialcharaktere geprägt, bei denen die größten Veränderungen bei der Gestalt des konventionellen Charakters zu erwarten sind, der die Form eines kybernetisierten, metrisch-konventionellen Charakters annimmt und dessen Zone sich gleichzeitig ausdehnt. Der autoritäre und der narzisstische Charakter behalten jedoch weiterhin ihre Bedeutung. Die Rolle eines masochistisch-fürsorglichen, strukturell weiblichen Charakters als funktional für die care work gälte es zu untersuchen. Schließlich finden sich schon in Adornos Typologie marginale, tendenziell gesellschaftlich pathologisierte Charaktere: Dies betrifft

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bei Adorno sowohl die Typen des Rebellen, des Psychopathen und des Spinners, die allesamt durch ein sehr schwaches oder gänzlich fehlendes Über-Ich und einen narzisstischen Regress gekennzeichnet sind. (Adorno 1995: 328ff.) Die Entwicklung des narzisstischen Charakters und seine Passform zur pluralisierten Kulturindustrie folgend dürften diese Typen im Gegenwartskapitalismus eher an Bedeutung gewinnen. Adorno betont, dass diese Typen eine spezifische Funktion in autoritären Bewegungen zukommt, da sie – weniger starr als der Autoritäre und tief in konspiratives Denken verstrickt – zu gewalttätigen Vorkämpfern des Autoritarismus werden können. Der rechtsterroristische Tätertyp von Christchurch, Poway und Halle ist vermutlich unter dieser Perspektivierung zu begreifen. Die Integration dieser marginalisierten Sozialcharaktere in politische Bewegungen wird dabei durch digitale Technologien begünstigt und greift in ihre Subjektivation entscheidend ein. Am Beispiel des Täters der antisemitischen und rassistischen Anschläge von Halle wird das an der Selbst-Gamification seiner Taten im Stile von Computerspielen und der digital vermittelten Darstellung seiner Tat (Harrendorf/Müller/Mischler 2020: 417), aber auch seiner politischen Radikalisierung in Bezug auf digital vermittelte Konzepte deutlich. Letztere spielen für den zeitgenössischen politischen Autoritarismus eine zunehmend bedeutende Rolle (Strick 2021). Die Tendenz des kybernetischen Kapitalismus, individualisierte digitale Umwelten zu schaffen, verstärkt dabei die Differenzierung der Subjektivation durch den sozialen Ort und seine Arbeits- und Lebensbedingungen sowie die Abkoppelung des politischen Autoritarismus in Echokammern. Vor allem aber erlaubt sie die Verknüpfung räumlich vereinzelter Subjekte in digital vermittelten Gruppen, die politisch potenziell radikalisierend wirken (Neumann et.al. 2019). Insbesondere Antisemitismus und Konspirationismus werden dabei zum Teil von den kybernetischen Strukturen der Sozialen Medien verstärkt (Rieder/Matamoros-Fernández/Coromina 2018), da sie der »Ökonomie der Aufmerksamkeit« (Franck 2007), die Grundlage für das Geschäftsmodell dieser Plattformen bietet, entspricht. Dass sie allerdings nicht im digitalen oder dem analog-privaten Raum verbleiben zeigen nicht nur Taten wie etwa in Halle, sondern auch die Proteste

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gegen die Maßnahmen zur Eindämmung von SARS-CoV-2 in Deutschland oder die Rolle, die die QAnon-Verschwörungstheorie in politischen Mobilisierungen in den USA eingenommen hat (Garry et.al. 2021). Durch Konspirationismus und Antisemitismus immunisieren Subjekte sich gegen alle Kritik, indem diese Kritik selbst der Verschwörung zugeschrieben wird. Kritik wird, als Waffe des Bösen gedeutet, in das Wahnbild eingegliedert und erklärt, bevor ihr Inhalt zur Kenntnis genommen wird. Die Kritikerinnen sind im konspirationistischen Weltbild Verblendete, die die Wahrheit noch nicht erfasst haben, oder im Zweifelsfall selbst Agentinnen der Verschwörung. Auch die vorliegende Arbeit dürfte für Konspirationistinnen aufgrund ihres theoretischen Rahmens unter das Verdikt des ›cultural marxism‹ fallen, ein derzeit populärer Begriff im Kontext klassisch antisemitischer Weltverschwörungstheorien. Er entstand in den 1990ern in den USA (Jamin 2018) und wurde etwa von Anders Breivik für die angebliche, gesteuerte ›Islamisierung‹ Europas und vom US-amerikanischen rechten Vordenker Pat Buchanan für die ›De-Christianisation‹ der USA verantwortlich gemacht (Grumke 2004: 177). Die zugrundeliegende Vorstellung ist dabei, dass ein Kreis zumeist jüdischer Theoretikerinnen – die Vertreter der Kritischen Theorie, aber etwa auch Judith Butler – über Multiplikatorinnen in der Politik und den Medien die Zersetzung der weißen und/oder christlichen westlichen Welt organisiert haben, indem sie für Migration und Homosexualität sowie gegen sexistische Geschlechterrollen theoretisiert haben.

c. Kritik und Emanzipation Von diesem Befund aus könnte man vermuten, dass kapitalistische Subjektivation insgesamt der Kritik einen schlechten Stand bereitet. Trotzdem soll im Folgenden eine Kritik kapitalistischer Subjektivation versucht werden, die sich nicht auf die Seite der Identität des Subjekts stellt und bloß die Symptome der Widersprüchlichkeit als gesellschaftliche Pathologien kritisiert, sondern sowohl die Widersprüche als auch den Identitätszwang zu ihrem Gegenstand macht. Dazu werden nach

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einer Abgrenzung dieser Form der Kritik von anderen Weisen, Kritik und die subjektivierte Widersprüchlichkeit im Kapitalismus ins Verhältnis zu setzen – erneut ausgehend von Reckwitz – gesellschaftliche Felder der Kritik ausgemacht um dann zu skizzieren, welche Gestalt Kritik und Emanzipation im Feld der Erziehung, Kunst und Politik annehmen kann, wenn sie die Widersprüchlichkeit der Subjekte zu ihrem Angelpunkt macht. Da die Subjektivation selbst auf subjektivierten Widersprüchen beruht und diese sogleich verdrängt, um die vom Subjekt geforderte Selbstidentität zu verteidigen (siehe Kap. 3.e), stößt eine solche Kritik, die sich nicht auf die Seite der Identität stellt, potenziell auf Abwehrreaktionen. An ihre Stelle kann stattdessen als Alltagskritik der Subjekte, aber auch in politischen und theoretischen Argumentationen, eine Kritikform treten, die durch die gegenwärtige Gleichzeitigkeit von Elementen und Subjektivationen des organisierten, integrierten und differenzierten Kapitalismus ermöglicht wird. Ihre normativen Bezugspunkte sind dann je bestimmte Elemente dieser Gleichzeitigkeit, die gegen andere Elemente gestellt werden. Das geschieht beispielsweise in Bezug auf das Leitbild einer scheinbar besseren Vergangenheit, etwa in den ›goldenen Jahren‹ des fordistischen, integrierten Kapitalismus, der nicht in dem Maße von Prekarisierung und Verunsicherung geprägt gewesen sein soll, oder in Bezug auf die Errungenschaften, die der (scheinbaren) Vergangenheit gegenüber erreicht wurden, wie beispielsweise im Transhumanismus. In beiden Varianten wird dabei häufig der digitalen Technologie eine prägende gesellschaftliche Kraft für diesen Verfall beziehungsweise diesen Fortschritt zugeschrieben, Technikpessimismus und -optimismus ersetzen eine differenzierte Auseinandersetzung. Der gegenwärtige Widerspruch wird so historisiert und Geschichte wird als Verfalls- oder Entwicklungsgeschichte und entsprechend Emanzipation als Rekonstitution oder als historischer Fortschritt imaginiert, anstatt die innere Verbundenheit der gegensätzlichen Momente als Widerspruch zu erfassen. Der Wider-

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spruch als solcher wird dabei unerkennbar, weil der eigene Standpunkt, von dem aus die Kritik entworfen wird, ihr selbst unsichtbar bleibt.2 Dabei bietet die Widersprüchlichkeit selbst aber zugleich zumindest die Möglichkeitsbedingung für eine radikale Kritik der eigenen Subjektivität und der Verhältnisse. Denn durch die eigene Widersprüchlichkeit ist das Subjekt nicht auf einen monolithischen Standpunkt festgelegt, von dem aus es sich zu den gesellschaftlichen Verhältnissen und sich selbst verhält. Stattdessen ist es in der Lage, den blinden Fleck der Kritik zu verschieben. Der Standpunkt und damit die Perspektive des Subjekts sind zumindest potenziell fragmentiert. In der Bewegung durch die Widersprüchlichkeit hindurch kann das Subjekt nun in der Kritik diese Fragmente zusammensetzen, und so die gesellschaftlichen Verhältnisse als Ganze in den Blick nehmen: Sie können als Verhältnisse erkannt werden, die das Subjekt objektivieren und Heteronomie (re-)produzieren, aber auch als Verhältnisse, die individualistische Autonomie fordern und ein entsprechendes atomistisches Selbstbild fördern; so kann schließlich der innere Zusammenhang der widersprüchlichen Aspekte der Subjektivität Gegenstand der Kritik werden. Diese Kritik zu entfalten bedeutet zugleich, dass das widersprüchliche Subjekt zum »Subjekt des Widerspruchs« (Stapelfeldt 2012: 196) wird. Subjekt des Widerspruchs zu werden bedeutet dabei jedoch nicht, eine »Lebensform« zu entwickeln, »die Widersprüche und Ambivalenzen nicht als aufzulösende Probleme wahrnimmt, sondern als eine zu akzeptierende Gelegenheit, zu der man reflexiv Distanz nimmt« (Reckwitz 2019: 235), wie es Reckwitz in Das Ende der Illusionen implizit vorschlägt. Für ihn böte eine theoretisch in einer Kombination aus Psychoanalyse, Buddhismus und antiker Stoa (ebd.: 236f.) fundierte Form des Subjekts »eine weniger enttäuschungsanfällige Lebensform« (ebd.: 238). Er schlägt damit letztlich einen subjektivierten Umgang mit den

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Diese Situiertheit der Kritik – entsprechend des situierten Wissens bei Donna Haraway (2001) – kann unter Ausblendung des Widerspruchs nicht reflektiert werden, während die Widersprüchlichkeit zum Ausgangspunkt der Kritik zu machen genau diese Reflexion erzwingt.

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Widersprüchen vor, denen gegenüber das Subjekt eine Resilienz aufweist, anstelle die gesellschaftlichen Strukturen, die diese Widersprüche erst bedingen, zu verändern. Dieses Konzept der individuellen Resilienz anstelle der Veränderung der gesellschaftlichen Ursachen ist selbst kybernetisch – es beruht auf der Idee der anpassenden Steuerung in einer nicht kontrollierbaren Umwelt – und stellt somit zwar tatsächlich eine leidärmere Subjektivität im kybernetischen Kapitalismus dar, aber keine Kritik dieser.3 Um Subjekt des Widerspruchs zu werden, müssen die Subjekte stattdessen die in ihnen subjektivierten Widersprüche ergreifen, anstatt sie zu vereinseitigen und zu projizieren, um durch sie hindurch kritisch praktisch zu werden. Nicht das bloße Aushalten der Widersprüchlichkeit, sondern ihre praktische Bearbeitung ist es, was in der vorliegenden Arbeit als Übergang vom widersprüchlichen Subjekt zum Subjekt des Widerspruchs verstanden wird, die praktisch erreicht werden muss. Theorie als Kritik – wie es Marx in Bezug auf die Religionskritik formuliert, die den Ausgangspunkt der Kritik insgesamt bildete – »enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch, damit er sich um sich selbst und damit um seine wirkliche Sonne bewege.« (Marx 1956c: 379) Der Prozess der Enttäuschung ist dabei ganz im umgangssprachlichen Sinne auch ein unerfreulicher, leidvoller Prozess. Die Enttäuschung hat zugleich aber ermöglichenden, produktiven Charakter, da sie die Widersprüchlichkeit nicht nur in das Bewusstsein hebt, sondern zugleich ihre gesellschaftliche Bedingtheit aufklärt. Kritik – so Reich – »macht stummes Leiden laut, schafft neue und verschärft vorhandene Widersprüche, bringt die Menschen in die Lage, ihre Situation nicht mehr ertragen zu können. Sie schafft aber gleichzeitig eine Abfuhr:

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Siehe dazu auch Graefes (2019) Kritik des Resilienzkonzepts im zeitgenössischen Kapitalismus.

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die Möglichkeit des politischen Kampfes gegen die gesellschaftlichen Ursachen des Leides.« (Reich 1980: 253) Dieses Leid ist es auch, das der Angelpunkt der Kritischen Theorie des Instituts für Sozialforschung bildet, für die »Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, […] Bedingung aller Wahrheit« (Adorno 2003g: 29) ist. Entsprechend ist eine Kritik, die das widersprüchliche Subjekt zum Ausgangspunkt, Gegenstand und zur Adressatin hat, eine Kritik, die sich Angeboten der Bewältigung des Widerspruchs enthält, »nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt« (Marcuse 1994: 268), da die progressive Überwindung des Widerspruchs eine Frage der Praxis ist, die von der Kritik nicht vorweggenommen werden kann. Auch wenn Reckwitz wie dargestellt selbst eine andere Perspektive auf die Emanzipation von kapitalistischer Subjektivation hat, ist seine Bestimmung der Praxisfelder für diese Emanzipation dennoch instruktiv: In Anschluss an seine Unterscheidung zwischen ›Kulturalisierung I‹ und ›Kulturalisierung II‹, die bei ihm die globalisierte »Hyperkultur« (Reckwitz 2019: 36) der Kulturindustrie III einerseits und den »Kulturessentialismus« (ebd.: 42) rechter Kultur- und Identitätspolitik andererseits bezeichnen, schlägt Reckwitz selbst eine dritte Form der Kulturalisierung vor. Entgegen der beiden derzeit dominanten Formen der Kulturalisierung, die beide »auf das Besondere und Einzigartige, auf das Singuläre bezogen« (ebd.: 55) sind, schlägt er einen »Kulturuniversalismus« (ebd.: 56) vor. Dieser bezieht sich kritisch auf den Universalismus und soll so »das Universale und das Heterogene zusamme[n]denken« und »das Allgemeine nicht als etwas Vorgegebenes […] betrachten, sondern als einen Prozess der Arbeit am Allgemeinen.« (ebd.: 57). Der Bezug auf den Universalismus ist dabei zentral, da er ein »solches Allgemeines der Kultur den Wert der Persönlichkeitsentfaltung, der Gleichberechtigung der Geschlechter, der Familie und der Solidarität« (ebd.: 58) betonen und stützen könnte. Auf der Grundlage dieser Allgemeinheit könnte individuelle Besonderheit gegen den Zwang zur Singularisierung wie gegen die Homogenität des Charakters erstritten werden. Reckwitz macht dabei als zentrale Sphären einer solchen Arbeit am Allgemeinen neben Politik und Recht die Medien, sowie »Bildungs- und

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Kulturinstitutionen« (ebd.: 59) wie Museen sowie die Schulen (ebd.: 60) aus. Damit trifft er die Praxisfelder, die auch die Kritische Theorie zentral für die emanzipatorische Subjektivierung stellt: Erziehung, Kunst, und Politik. Reckwitz’ Ideal ist dabei Erziehung als »Arbeit am kulturell Allgemeinen« (ebd.: 60), in der das Aushalten und Reflektieren von Heterogenität erlernt werden soll. Seine Vorstellungen zur Erziehung ähneln damit denen der Kritischen Theorie, die in Tradition der marxistischen Psychoanalytiker stehen und durch zwei Elemente geprägt sind: Im Anschluss an Fenichel die Erziehung zur Ichstärke (Fenichel 1998b) und in Anschluss an Reich die Erziehung zu einer geringeren Triebunterdrückung (Reich 1980). In Anschluss an Bernfeld (1973) betont die Kritische Theorie dagegen, dass Erziehung jeweils funktional für die gesellschaftlichen Verhältnisse ist und auch in gewissem Maße sein muss (Adorno 2003h). Im kybernetischen Kapitalismus bedeutet das, dass Bildung im emanzipatorischen Sinne gegen die beschriebenen Tendenzen der – psychoanalytisch gesprochen – Ichschwächung antreten muss, die funktional für Subjekte in kybernetischen, digitalen Umwelten ist. In der Typologie der Studien zum autoritären Charakter beschreibt Adorno dabei mit dem ›Ungezwungenen Vorurteilsfreien‹ einerseits, mit dem ›Genuin Liberalen‹ andererseits zwei unterschiedliche Varianten von relativer Ichstärke. Der ›Ungezwungene Vorurteilsfreie‹ ist nicht destruktiv, frei von Ticketmentalität, wertet andere Menschen nicht ab, kann »sich selbst hingeben, ohne fürchten zu müssen, sich zu verlieren« (Adorno 1995: 350) und seine libidinösen Objektbesetzungen relativ frei abziehen und auf neue Objekte richten. Entsprechend müssen seine Triebregungen von ihm in sehr geringem Maße unterdrückt werden. Zugleich ist er durch einen »extreme[n] Widerwille[n], Entscheidungen zu treffen« (ebd.) gekennzeichnet. Anders der ›Genuin Liberale‹, der mit einem »starken Sinn für Autonomie und Unabhängigkeit« (ebd.: 353) keine Entscheidungsschwäche aufweist. Entsprechend beurteilt Adorno den ›Ungezwungenen Vorurteilsfreien‹ auch als Typ, der keinesfalls Faschist werden würde, aber von dem auch kein Engagement gegen den Faschismus zu erwarten sei (ebd.: 351). Der ichstarke ›Genu-

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in Liberale‹ dagegen leistet vermutlich Widerstand, ist aber zugleich »[u]nsicher-zurückhaltend […] dem Sexuellen gegenüber« (ebd.: 356). Es scheint so, als wenn die ausgeprägte Fähigkeit, selbstständig zu urteilen, mit einem gewissen Maß von Triebhemmung einhergeht, während umgekehrt die nicht-repressive Triebstruktur des ›Ungezwungenen Vorurteilsfreien‹ mit einer Schwächung der Urteilsfunktion korrespondiert. Letzterer wird von Adorno dadurch beschreiben, dass er »sich vielmehr so [gibt], als lebte[er] bereits in einer nicht repressiven, wahrhaft menschlichen Gesellschaft« (ebd.: 350). Die wenigen Hinweise über die Erziehung des ›Ungezwungen Vorurteilsfreien‹ deuten auf eine nicht-repressive und nicht-patriarchale Erziehung hin – sodass man vermuten kann, dass der gesellschaftliche Wandel seit den 1940er Jahren die Subjektivation zum ›Genuin Liberalen‹ seltener, den ›Ungezwungen Vorurteilsfreien‹ aber gegebenenfalls weniger selten gemacht hat. Verallgemeinert verweisen die beiden Typen auf das Paradox, dass emanzipatorische Erziehung zur Bewältigung der derzeitig herrschenden Verhältnisse befähigen sollte, damit Handlungsfähigkeit in den bestehenden Verhältnissen erfordert und im Sinne Marcuses, (1984d) zugleich ein Vorgriff auf die befreiten Verhältnisse sein sollte, dadurch aber eventuell zu weniger widerständigen Subjekten führt. Der ›Ungezwungen Vorurteilsfreie‹ wäre dementsprechend – sofern mit ausreichend ökonomischen Mitteln ausgestattet – im kybernetischen Kapitalismus mit seinen Konsum- und Aktivitätsangeboten nicht notwendig rebellisch oder subversiv, der ›Genuin Liberale‹ dagegen stünde zwar der Kybernetisierung entgegen, aber einer konservativen Kulturkritik an ihr zunächst näher als einer emanzipatorischen Perspektive. Als Praxisfeld, das vom Paradox der Erziehung entlastet ist, erscheint in der Kritischen Theorie die Kunst, die bei Reckwitz – musealisiert – auch »in Form der Erinnerungskultur, der Zukunftsgestaltung, der ästhetischen Irritation oder der Thematisierung gegenwärtiger Probleme« zur »Arbeit am Allgemeinen« (Reckwitz 2019: 60) beitragen soll. Kunst bietet, als moderne, autonome Kunst, einen von der gesellschaftlichen Funktionalität freigestellten Möglichkeitsraum (Adorno 2003k). Kunst ist damit aber zugleich – als inneres Anderes der kapi-

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talistischen Vergesellschaftung – dem Druck ausgesetzt, als Enklave der temporären Entlastung in Anspruch genommen zu werden. In Bezug auf das Subjekt des Widerspruchs bedeutet das, dass Kunst die Möglichkeit bietet, den Widerspruch zum Ausdruck zu bringen und das Nichtidentische zu seiner Geltung kommen zu lassen, während die alltägliche Praxis dazu gerade keine Möglichkeit bietet. Zugleich kann Kunst aber auch eine Sphäre sein, in der das Erleben von Identität gesucht wird, das von der subjektivierten Widersprüchlichkeit zu entlasten verspricht. Kulturindustrielle Kunst ist demgegenüber funktional, gerade weil sie dieses Identitätserleben ermöglicht und es durch ihre Standardisierung und ihren Schematismus bestärkt, um ihre eigene Konsumierbarkeit zu erleichtern. Zugleich reproduziert die Kulturindustrie, damit sie ihre eigene ökonomische Funktion erfüllt, eine kapitalistische Subjektivität, die ihre eigene wie die gesellschaftliche Widersprüchlichkeit verdrängt, anstatt sie zu ihrem Ausgangspunkt zu machen. In der pluralisierten Kulturindustrie II mit ihrer Integration der Subversion und der individualisierten Kulturindustrie III des kybernetischen Kapitalismus ist die Trennung zwischen funktionsloser autonomer Kunst und Kulturindustrie nicht mehr haltbar – die jedoch schon zu Adornos Zeiten etwa durch die Übertragung von als autonomer Kunst entstandener klassischer Musik im Radio (Adorno 1980a) nur analytisch war. Sowohl subversive Untergrundkunst als auch die als Hochkultur geltende klassische Musik oder musealisierte Malerei können als Events in die Kulturindustrie integriert werden; und werden es in Festivals und Ausstellungen zu Publikumsmagneten des touristischen Stadtmanagements. Losgelöst von ihrer Herkunft als autonome Kunst und ihrer Werkgestalt werden sie von den Subjekten als Erlebnis-Highlights konsumiert und in den »kulturelle[n] Aktivismus« (Reckwitz 2017: 298) der von Reckwitz beschriebenen neuen Mittelklasse integriert. Da andersherum die Werkgestalt die Rezeption der Kunst nicht völlig determinieren kann, ist auch die kulturindustrielle Produktion nicht gänzlich davon abgeschlossen, zum Ausdrucksort des Widerspruchs zu werden.

Subjektivation und Subjektivierung im kybernetischen Kapitalismus

In Bezug auf Popmusik etwa spüren die Analysen von Franz Apunkt Schneider sowie Martin Büsser eine Kunst am Rande der Kulturindustrie und innerhalb ihrer Formen – dem Pop – nach, die die Widersprüchlichkeit des Subjekts nicht verdrängt. Schneiders »Ästhetik der Verkrampfung« (Schneider 2015) und Büsser, dessen popmusikalische Analysen von einer Emphase der ästhetischen Ambivalenzen und Brüche getragen waren (Büsser 2011: 111), grenzen dabei ihr Konzept einer emanzipatorischen Gestalt der Kunst von identitäts(re)produzierenden Formen der Musik ab, die auch für sie das Feld der kulturindustriellen Popmusik dominieren.4 Politik als drittes Praxisfeld ist nach Reckwitz derzeit von dem Gegensatz zwischen Kulturalisierung I (der spätmodernen, globalisierten Hyperkultur und ihren politischen Repräsentantinnen) und der Kulturalisierung II und damit dem Kulturessenzialismus, der politisch häufig als Nationalismus auftritt, geprägt. Was er dagegen mit einer »dritten Form der Kulturalisierung« (Reckwitz 2019: 54) und einer am »Modell eines Kulturuniversellen« (ebd.: 55) orientierten Politik beschreibt, die Heterogenität weder auslöscht noch überhöht, sondern in ein Universales einbettet, ist für die Kritische Theorie eine Politik, die darauf zielt, ein Subjekt des Widerspruchs auszubilden. Sie muss – im Unterschied zur Kunst – einen doppelten Widerspruch zu ihrem Gegenstand machen: Den subjektivierten Widerspruch ebenso wie die Widersprüche zwischen den Subjekten. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Widersprüchen wird an den aktuellen Diskussionen um eine »neue Klassenpolitik« (Friedrich/Redaktion analyse & kritik 2018) deutlich: In Reaktion auf den Bedeutungsgewinn und die Wahlerfolge rechtsautoritärer Parteien wird auf »die Bereitschaft von De-Klassierten, Arbeiter*innen und/oder Unterschichten […] rechts zu

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Büsser führt seine Kritik der identitären Musik vor allem an den subkulturellen Genres Oi!, Neue deutsche Härte und Neofolk aus (Büsser 2001), während Schneider den deutschen popkulturellen Mainstream von frei.wild über Heinz Rudolf Kunze bis Tomte und Tocotronic kritisiert (Schneider 2015). Dass Widersprüchlichkeit allein kein Garant für emanzipatorische Kunst ist, wird aber etwa im Neofolk erkennbar (Gerwien/Schulz 2020).

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wählen« (van Dyk/Dowling/Graefe 2017: 411) mit der Forderung einer Veränderung linker Politik reagiert. »Die Annahme, dass eigentlich nachrangige Minderheitenanliegen von ›der‹ Linken problematischer Weise zu Kernproblemen erklärt würden« (ebd.: 412) wird mit dem Ruf nach einem »Linkspopulismus« (Bock/Goes 2018: 121) verbunden. Er soll der sich nicht mehr »auf Kämpfe gegen kulturelle Diskriminierung konzentrier[en]« sondern »den eigentlich wichtigeren Kampf gegen ökonomische Ausbeutung« (van Dyk/Dowling/Graefe 2017: 413) zentrieren, um – mit einem positiven Bezug auf die Situation im integrierten Kapitalismus – die für linke Parteien verlorengegangene Industriearbeiterinnenschaft zu adressieren. Dieser Klassenpopulismus wird dabei in Gegensatz zur Identitätspolitik (ebd.: 416) gebracht, ersterer verspricht eine homogenisierende und kollektivierende Mobilisierung gegen gesellschaftliche Eliten (Bock/Goes 2018: 125), während letzterer zugeschrieben wird, partikularistisch und individualisierend symbolische Bedürfnisse zu befriedigen. Silke van Dyk, Emma Dowling und Stefanie Graefe diagnostizieren in ihrem Artikel Rückkehr des Hauptwiderspruchs? dabei eine zentrale Differenz, die mit dem Begriff der Identitätspolitik im Regelfall verschleiert wird. Verschleiert wird die Differenz zwischen den Kämpfen um Anerkennung durch Exkludierte, die – sich etwa gegen Rassismus und Sexismus richtend – weniger Identitätspolitik als Kämpfe gegen reale Gewaltverhältnisse sind (van Dyk/Dowling/Graefe 2017: 417) und andererseits Identitätspolitik im engeren Sinne, bei der »die Betonung partikularer Identitäten zum Selbstzweck [wird] und […] ihren politischen Impuls [verliert], die Partikularität der weiß-männlich-heterosexuell affizierten ›Normalität‹ zu überwinden und auf diese Weise eine Basis für gemeinsame soziale Kämpfe zu schaffen« (van Dyk/Dowling/Graefe 2017: 416). So treten also drei Formen linker Politik auf, die vor dem Hintergrund der Theorie differenzieller kapitalistischer Subjektivation in ihrem Verhältnis zu bestimmen sind. Die erste Form umfasst die Kämpfe der Exkludierten, die auf eine Integration in die gesellschaftlichen Verhältnisse, und damit etwa auf die Einlösung der Ansprüche der Tausch-

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und Rechtssubjektivität frei und gleich zu sein, zielen. Die zweite Form umfasst die Kämpfe derer, die – in der Unterzone der gesicherten Integration und an ihr orientierten Teilen der Zone der Prekarität – durch tayloristische oder körperlich-handwerkliche Arbeitstätigkeiten geprägt sind und für die ein konventioneller oder autoritärer Charakter funktional ist. Für diese Sozialcharaktere bietet die linkspopulistische Imagination eines homogenen Kollektivs, das sich gegen ›die Eliten‹ abgrenzt – im Zweifelsfall aber auch gegenüber Geflüchteten repressiv auftritt (Dörre 2018: 115) – eine Form, den subjektivierten Widerspruch zu bewältigen. Die dritte Form ist die Identitätspolitik im engeren Sinne, die partikulare, individualisierende Identitäten in ihr Zentrum stellt und so als Bewältigungsform des narzisstischen Charakters attraktiv für Subjekte aus der Unterzone der atypischen Integration und der an ihr orientierten Teile der Zone der Prekarität ist.5 Die zweite und dritte Form linker Politik scheitert damit daran, der Angst entgegenzutreten, die aus den gesellschaftlichen Verhältnissen resultiert und für die Ausbildung und Stabilisierung des autoritären und konventionellen Charakters zentral ist. Sie scheitert aber auch daran, dem »chaotischen Charakter« (Fromm 1989b: 179) der unüberschaubaren und anonymen Verhältnisse (Adorno 1995: 190) durch eine praktisch vermittelbare Analyse der Verhältnisse bewältigbar zu machen. Stattdessen bietet sie verkürzte und falsche Vereinfachung – ob im Klassenpopulismus über die Feindschaft gegen tatsächliche oder vermeintliche Eliten (Bock/Goes 2018: 121) oder in der Identitätspolitik über sprachpolitische Tickets (Barthold 2018: 78). Die auch von van Dyk, Dowling und Graefe kritisierte Variante der Identitätspolitik verhält sich affirmativ zu der Tendenz des kybernetischen Kapitalismus, da sie individualisierte Subjektivation passförmig zu konsumierbaren Angeboten – in diesem Fall von Identitäten – ganz im Sinne Reckwitz’ Singularisierung produziert. Dagegen ist die populistische Klassenpolitik im besten Falle veraltet, da die »Gussformen für solidarische Kollektivierung« (Mau 2017: 272) des integrierten 5

Katja Barthold (2018) beschreibt die politischen Effekte dieser charakterlichen Differenz sehr plastisch.

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Kapitalismus nicht mehr funktionieren, zu groß sind die Differenzierungen zwischen Arbeitstätigkeiten und Lebensbedingungen. Stattdessen braucht es zur Überbrückung der Differenzen eine »[t]ransformative, nicht konservierende Klassenpolitik« (Dörre 2018: 114), die Solidarität als nichtidentifikatorische Praxis realisiert – auch in Bezug auf die kapitalistische Subjektivität. Anders als die angesprochenen Varianten des Klassenpopulismus und der Identitätspolitik darf sie nicht als Bewältigungsform des Widerspruchs fungieren, sondern muss von der Widersprüchlichkeit der Subjekte und zwischen den Subjekten ausgehen, um sie auf ihre gesellschaftliche Bedingtheit aufklären. Nicht die (kollektive oder individuelle) Identität, die den Widerspruch verdrängt, sondern die gemeinsame Ablehnung der Verhältnisse, die den Widerspruch erzeugen, muss der Ausgangspunkt emanzipatorischer Politik sein. Auf sie aufbauend kann die Solidarität mit der wechselseitigen Verschiedenheit wie mit der eigenen Nichtidentität das Verbindende sein, das kapitalistische Subjektivitäten nicht fortschreibt, sondern überwindbar macht. Diese Analyse muss dabei auch die kapitalistische Subjektivation in ihrer Widersprüchlichkeit – und damit den inneren Zusammenhang etwa von Heteronomie und derzeitiger Autonomie – zum Gegenstand machen und insbesondere die scheinbare Autonomie, die sich in entgrenzten Arbeitsverhältnissen wie in Freizeitpraktiken im kulturindustriellen Konsum von Subversion und Authentizität, kritisieren. Zugleich darf sie diese Kritik scheinbarer Autonomie nicht von deren partikularer Klassenlage lösen und – wie tendenziell in der Gesellschaft der Singularitäten – falsch verallgemeinern. Denn Arbeits- und Lebensbedingungen in der Zone der Entkoppelung und Teilen der Zone der Prekarität sind von augenscheinlicher Heteronomie und Exklusion geprägt, und auch Teile der Zone der Integration sind durch klassische Arbeitsverhältnisse, deren Form dem integrierten Kapitalismus entspringt, bestimmt. Konkret lassen sich Ansätze für eine Politik revolutionärer Subjektivierung vom Widerspruch aus etwa im Feminismus beobachten (der jedoch zugleich eines der Hauptfelder von Identitätspolitik ist): Über die innerfeministischen Kämpfe gegen Exklusion, etwa von schwarzen

Subjektivation und Subjektivierung im kybernetischen Kapitalismus

Feministinnen (van Dyk/Dowling/Graefe 2017: 417) oder von femininen Lesben (Fuchs 2009) bis zur Diskussion um bezahlte und unbezahlte Sorgetätigkeiten wird Solidarität statt Identität organisiert. Und nicht zuletzt wird in den Debatten um Identitäten und Verunsicherungen der sexuellen Identität und des Begehrens durch nichtbinäre Geschlechtsidentitäten, nichtmonosexuelle Begehrensformen und nichtmonogame Liebespraktiken eine praktische Auseinandersetzung ermöglicht, die einen Weg zu der von Marcuse anvisierten »neue[n] Sensibilität« (Marcuse 1984c: 261) und zur Überwindung der repressiven Geschlechtscharaktere insgesamt bahnen könnte. Zugleich geht mit dem kybernetischen Kapitalismus aber auch eine digitale queere Identitätspolitik einher, die durchaus ambivalente Effekte hat. Sie zielt nicht auf die Solidarisierung mit dem Anderen im Sinne der von Reckwitz anvisierten Orientierung am Kulturuniversellen oder auf ein Subjekt des Widerspruchs, sondern verfestigt Identitätskategorien anstatt sie aufzuweichen. Die durch diese queere Identitätspolitik erkämpften Pluralisierung von Kategorien ist dabei ein unmittelbar leidmindernder Fortschritt gegenüber der »patriarchale[n], dualistische[n] Geschlechterkultur [die] vom 18. Jahrhundert bis weit ins 20. Jahrhundert hinein« (Reckwitz 2017: 338) dominant war, ist aber zugleich nicht – oder zumindest nicht zwingend – kritisch gegenüber Identitätslogik und Spaltung entlang von Differenzen selbst. Diese Ambivalenz wiederum ist eine Eigenschaft von emanzipatorischer Politik im kybernetischen Kapitalismus insgesamt. Dessen Durchdringung der Lebenswelt führt dazu, dass er »sich oftmals nur noch herausfordern [lässt], indem man sich auf [seine] numerische Semantik einlässt« (Mau 2017: 212) und für alternative Kategorien kämpft. Mau beschreibt es an Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt (ebd.: 210), es lässt sich aber ebenso an den Kämpfen um Anerkennung anderer Kategorien der geschlechtlichen Identität und der sexuellen Orientierung exemplifizieren. Die Gegen-Subjektivierung, die Aufhebung des Charakters, kann also keine alleinige Aufgabe der Theorie sein – Charaktere ändern sich nicht durch theoretische Auseinandersetzungen – sondern die Bedingungen des subjektivierten Widerspruchs müssen praktisch aufgeho-

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ben werden. Allgemeingesellschaftlich bedeutet das die Aufhebung der Aufspaltung des gesellschaftlichen Lebens in Sphären, denen einseitig die Realisierung einer Seite des Widerspruchs zugeschrieben wird. Die Trennung zwischen dem Subjekt und seiner Leiblichkeit wie die Trennung des Leibs in den Körper als Arbeitsinstrument und die genitale Sexualität, die Trennung zwischen Demokratie und wirtschaftlicher Ordnung und letztlich die Trennung zwischen Produzentinnen und ihren Produktionsmitteln sind dabei die für die Subjektivation zentralen, widersprüchlichen Spaltungen. Für die digitalen Infrastrukturen des kybernetischen Kapitalismus heißt das neben der Ausbildung von digitaler Medienkompetenz eine veränderte Gestalt der digitalen Umwelten, um sich ihnen gegenüber produktiv-aneignend verhalten zu können, eine nicht-privatwirtschaftliche Organisationsform der digitalen Infrastrukturen sowie eine gesamtgesellschaftliche Demokratisierung der Lebensbedingungen (siehe dazu ausführlicher Schulz/Sevignani 2019). Der Prozess der Aufhebungen dieser Trennungen – in Bildung, Kunst und vorrangig Politik – ist Subjektivierung im emphatischen Sinne und schafft so selbst in der eigenen Praxis wie in der eigenen Subjektivität Platz für das Nichtidentische; er zielt darauf, dass jede »ohne Angst verschieden sein kann.« (Adorno 2003f: 114)

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Soziologie Naika Foroutan

Die postmigrantische Gesellschaft Ein Versprechen der pluralen Demokratie 2019, 280 S., kart., 18 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4263-6 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4263-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4263-6

Maria Björkman (Hg.)

Der Mann und die Prostata Kulturelle, medizinische und gesellschaftliche Perspektiven 2019, 162 S., kart., 10 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4866-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4866-3

Franz Schultheis

Unternehmen Bourdieu Ein Erfahrungsbericht 2019, 106 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4786-0 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4786-4 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4786-0

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Soziologie Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)

Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten

2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7

Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf

Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2

Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018 2019, 246 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4474-6

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